Der Einigungsvertrag zwischen völkerrechtlichem Vertrag und nationalem Gesetz: Untersuchungen zur Bestandskraft des Vertrags über die Herstellung der Einheit Deutschlands [1 ed.] 9783428482955, 9783428082957

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Der Einigungsvertrag zwischen völkerrechtlichem Vertrag und nationalem Gesetz: Untersuchungen zur Bestandskraft des Vertrags über die Herstellung der Einheit Deutschlands [1 ed.]
 9783428482955, 9783428082957

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THOMAS HOCH

Der Einigungsvertrag zwischen völkerrechtlichem Vertrag und nationalem Gesetz

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 677

Der Einigungsvertrag zwischen völkerrechtlichem Vertrag und nationalem Gesetz Untersuchungen zur Bestandskraft des Vertrags über die Herstellung der Einheit Deutschlands

Von

Thomas Hoch

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hoch, Thomas: Der Einigungsvertrag zwischen völkerrechtlichem Vertrag und nationalem Gesetz : Untersuchungen zur Bestandskraft des Vertrags über die Herstellung der Einheit Deutschlands / von Thomas Hoch. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zum. öffentlichen Recht ; Bd. 677) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08295-8 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-08295-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Norm für Bibliotheken

Für Ingrun

Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 1994 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg i.Br., angenommen wurde. Literatur und Rechtsprechung wurden bis September 1994 berücksichtigt. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Rainer Wahl, meinem Doktorvater, der die Arbeit nach Kräften gefördert hat. Ohne seine Unterstützung wäre die Erstellung der Dissertation nicht möglich gewesen. Daneben möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Thomas Würtenberger für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens bedanken. Dank gebührt ferner Herrn Ministerpräsidenten und Bundesminister a.D. Lothar de Maizière sowie Herrn Ministerialdirigenten im Bundesjustizministerium Dr. Lutz Gusseck. Beide haben mir in ausführlichen Gesprächen die Positionen der DDR und der Bundesregierung während der Verhandlungen zum Einigungsvertrag erläutert und so wesentlich zum Entstehen der Arbeit beigetragen.

Dortmund, im Oktober 1994

Thomas Hoch

Inhaltsverzeichnis

Teil 1 Einleitung §1: Problemstellung

17

§ 2: Die politische Diskussion

22

§3: Gang der Darstellung

25

Teil 2 Die Rechtsnatur des Einigungsvertrags vor dem 3. Oktober 1990 §4: Die Rechtsnatur deutsch-deutscher Verträge am Beispiel des Grundlagen Vertrags. . . . I.

Die Ansicht der DDR zum Grundlagenvertrag

28 29

II. Der Grundlagenvertrag aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts und der bundesdeutschen Wissenschaft

30

§5: Die Bedeutung dieses Ansatzes für den Einigungsvertrag

34

Teil 3 Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt § 6: Fortgelten des Vertrags

39

§ 7: Die Bindungswirkung des Vertrags für den Gesetzgeber im geeinten Deutschland Grundlegende Aussagen I.

Bindung über das Völkerrecht

41 42

II. Bindung des einfachen Gesetzgebers über den Grundsatz vom Vorrang der Verfassung

43

10

nsverzeichnis

III. Bindung über den Grundsatz "pacta sunt servanda" § 8: Die Bindungswirkung in früheren Eingliederungsverträgen I.

Die Stellung des Verlagsrechts in anderen Ländern

46 47 47

II. Die Novemberverträge von 1870

49

1. Historischer Sachverhalt

49

2.

Inhalt der Sonderrechte

50

3. Sicherung der Sonderrechte

51

4. Schlußfolgerungen

54

5. Die Annexion Elsaß-Lothringens

55

III. Die Rückgliederungen des Saarlandes

56

1. Die Rückkehr zu Deutschland im Jahre 1935

56

2. Die Rückgliederung des Jahres 1957 - Historischer Sachverhalt

58

3. Inhalt des Saarvertrags

59

4.

60

Schlußfolgerungen

IV. Der Erwerb Helgolands 1890

61

V. Zusammenfassung

63

§ 9: Die Rechtslage unter dem Grundgesetz I.

Sonderrechte im Verfassungstext

64 64

II. Die Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge am Beispiel des Konkordatsurteils. 65 1. Die Ansichten in der Lehre

65

2. Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts

68

III. Die Bindungswirkung staatsrechtlicher Verträge am Beispiel des bayerisch-coburgischen Vertrags von 1920

69

1. Die Coburg-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

69

2. Die Meinungen der Literatur

71

IV. Die Bindungswirkung im kommunalen Bereich

72

§ 10: Ergebnis und Schlußfolgerungen für den Einigungsvertrag

74

I.

Stellungnahme zur ΒindungsWirkung durch Vertragsrecht

74

nsverzeichnis

II. Folgerungen für den Einigungsvertrag - Die Bedeutung der Artt. 44,45 Abs. 2 . . .

77

III. Die Besonderheiten bei der Frage einer möglichen Bindung des Landesgesetzgebers

84

Teil 4 Bindung des Gesetzgebers an einzelne Normen des Einigungsvertrags § 11 : Kriterien zur Feststellung einer möglichen Bestandskraft

87

§ 12: Normen ohne Bestandskraft I.

92

Sonderregelungen wegen Reformbedürftigkeit oder Zweckwegfalls des Bundesrechts

.92

II. Sonderregelungen wegen völkerrechtlicher Implikationen

94

III. Sonstige Bestimmungen des Einigungsvertrags ohne (aktuelle) Bindung des Gesetzgebers § 13: Übergangsregelungen zur Anpassung der Verhältnisse

96 99

§ 14: Die Regelungen für das Zivilrecht

102

§ 15: Berufs- und ausbildungsbezogene Bestimmungen

106

I.

Die materiellen Vereinbarungen in Art. 37

II. Die prozessuale Durchsetzung der vertraglichen Bindung

106 110

§ 16: Die Bestimmungen zur Rehabilitierung und Kassation

112

§ 17: Die Verfassungsänderungen im Einigungsvertrag

117

I.

Die Präambel, Artt. 23 und 146 GG

118

II. Die Stimmenverhältnisse im Bundesrat - Art. 51 Abs. 2 GG

119

III. Die befristeten Sonderregelungen in Art. 143 Abs. 1, 2 GG

121

§18: Die Ausnahmebestimmung des Art. 6 EV

123

§ 19: Art. 7 EV und die Finanzverfassung des Grundgesetzes

124

I.

Die Regelung im Einigungsvertrag und spätere Änderungen

II. Die Bedeutung der Revisionsklauseln III. Vertrags- und verfassungsrechtliche Aspekte zur Änderbarkeit des Art. 7

124 125 128

12

nsverzeichnis

IV. Der Sonderfall des Art. 7 Abs. 5

130

V. Zusammenfassung bezüglich der Änderbarkeit der Artt. 4 - 7

131

§ 20: Die Eigentumsregelung I.

132

Bindung durch Art. 41 Abs. 3

134

II. Bindung durch Artt. 135 a Abs. 2,143 Abs. 3 GG

140

III. Völkerrechtliche Bindung durch den Brief der Außenminister

142

§ 21: Gesetzgebungsaufträge I.

147

Die Problematik des einfachgesetzlichen Ranges der Aufträge

II. Das vertragliche Element bei den Gesetzgebungsaufträgen § 22: Die Förderungszusagen im Einigungsvertrag I.

Die Kulturklausel in Art. 35

151 153 156 158

II. Die Reichweite der übrigen Förderungszusagen

161

§ 23: Die Änderung bestandsfester Bestimmungen über die Anwendung der 'clausula rebus sie stantibus'

164

I.

164

Generelle Bedeutung der clausula

II. Der Tatbestand der clausula rebus sie stantibus

166

1. Die grundlegende Veränderung der äußeren Umstände

167

2. Die Unzumutbarkeit als Folge der Umstandsänderung

168

III. Die Rechtsfolgen der clausula rebus sie stantibus

171

§ 24: Bindung des Gesetzgebers auch ohne Vertrag? Das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzprinzip I.

173

Die Rückwirkung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

174

II. Die Anwendung des Vertrauensschutzprinzips auf den Einigungsvertrag

178

Teil 5 Zusammenfassung und Schluß Literaturverzeichnis

192

Abkürzungsverzeichnis a.A.

andere(r) Ansicht

a.F.

alte(r) Fassung

Abs.

Absatz

Abschn.

Abschnitt

AK

Reihe Alternativkommentare, Kommentar zum Grundgesetz

Ani.

Anlage

Anm.

Anmerkung

Art.

Artikel

AuR

Arbeit und Recht

BAbfG

Gesetz über die Vermeidung und Entsorgung von Abfällen

Bay. GVB1.

Gesetz- und Verordnungs-Blatt für den Freistaat Bayern

BayVBl.

Bayerisches Verwaltungsblatt

BayVerf

Verfassung für den Freistaat Bayern

BB

Betriebs-Berater

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGBl. (I+II)

Bundesgesetzblatt (Teil I und II)

BGE

Entscheidungen des (schweizerischen) Bundesgerichts

BImSchG

Bundes-Immissionsschutzgesetz

BK

Bonner Kommentar zum Grundgesetz

BR-Drucks.

Verhandlungen des Deutschen Bundesrates - Drucksachen

BT-Drucks.

Verhandlungen des Deutschen Bundestages - Drucksachen

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerfGG

Gesetz über das Bundesverfassungsgericht

BVerwGE

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts

BVG

Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz

can.

Kanon

CDU

Christlich Demokratische Union

CIC

Codex Iuris Canonici

CSU

Christlich Soziale Union

DA

Deutschland-Archiv

DDR

Deutsche Demokratische Republik

14

Abkürzungsverzeichnis

ders.

derselbe

Diss.

Dissertation

DöV

Die öffentliche Verwaltung

dt.

deutsch(e)

DtZ

Deutsch-deutsche Rechts-Zeitung

DVB1.

Deutsches Verwaltungsblatt

EA

Europa-Archiv

ebda.

ebenda

EGBGB

Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche

Erstbearb.

Erstbearbeitung

ESVGH

Entscheidungssammlung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichtshofs BadenWürttemberg mit Entscheidungen der Staatsgerichtshöfe beider Länder

EuGRZ

Europäische Grundrechte

EV

Einigungsvertrag

EWG

Europäische Wirtschafts-Gemeinschaft

f.

folgende

FDP

Freie Demokratische Partei

ff.

fortfolgende

FS

Festschrift

GB1.-DDR

Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

GjS

Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften

GO BW

Gemeindeordnung des Landes Baden-Württemberg

GOBT

Geschäftsordnung des Deuschen Bundestages

HdbStR

Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 7 Bände

HGrG

Gesetz über die Grundsätze des Haushaltsrechts des

Hrsg.

Herausgeber

HS

Halbsatz

I.C.J. Reports

International Court of Justice, Reports of judgments,

ICLQ

International Comparative Law Quaterly

Jarass/Pieroth

Grundgesetz-Kommentar, herausgegeben von Hans D.

Bundes und der Länder

advisiory opinions and orders

Jarass und Bodo Pieroth

Abkürzungsverzeichnis

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts

JR

Juristische Rundschau

JuS

Juristische Schulung

JZ

Juristen Zeitung

Kap.

Kapitel

LKV

Landes- und Kommunalverwaltung

LVerf

Landesverfassung

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

M/D

Maunz/Dürig: Grundgesetz-Kommentar, herausgegeben von Theodor Maunz und Günter Dürig

MD

Ministerialdirektor

MdB

Mitglied des Bundestages

NJ

Neue Justiz

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Denkschrift

Denkschrift der Bundesregierung zum Einigungsvertrag

Nr.

Nummer

NRW

Nordrhein-Westfalen

OVG

Oberverwaltungsgericht

p.

page

PDS

Partei des demokratischen Sozialismus

PrGS

Preußische Gesetzsammlung

Prot.

Protokoll

Randnr.

Randnummer

RGBl.

Reichsgesetzblatt

RGZ

Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen

RVerf

Reichsverfassung (von 1871)

S.

Seite

s.o.

siehe oben

s.u.

siehe unten

Sachgeb.

Sachgebiet

SchwJblntR

Schweizerisches Jahrbuch für Internationales Recht

seil.

scilicet

SED

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

SGB

Sozialgesetzbuch

SGb

Die Sozialgerichtsbarkeit

Sp.

Spalte

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

StGB-DDR

Strafgesetzbuch der DDR

16

Abkürzungsverzeichnis

StPO-DDR

Strafprozeßordnung der DDR

StVG

Straßenverkehrsgesetz

StWG

Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft

SZ

Süddeutsche Zeitung

taz

Die Tageszeitung

UNO

Vereinte Nationen

VG

Verwaltungsgericht

VGH BW

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württembergs

vgl.

vergleiche

vM

Grundgesetz-Kommentar in 3 Bänden, herausgegeben von

VV

Versailler Vertrag

VVDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen

Ingo von Münch und Philip Kunig

Staatsrechtslehrer VwVfG

Verwaltungsverfahrensgesetz

WRV

Weimarer Reichsverfassung

WVK

Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge

ZaöRV

Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht

ZG

Zeitschrift für Gesetzgebung

ZGB-DDR

Zivilgesetzbuch der DDR

zit.

zitiert

und Völkerrecht

Erster Teil

Einleitung1 § 1: Problemstellung Nach wie vor steht der Einigungsvertrag als rechtliches Fundament der deutschen Einheit im Mittelpunkt zahlreicher juristischer Abhandlungen.2 Angesichts der Vielzahl seiner Regelungen, die nahezu alle Bereiche des Rechtslebens betreffen, erscheint dieser Befund nicht verwunderlich. Insgesamt ergibt sich bislang der Eindruck, daß man trotz mancher Mängel im großen und ganzen in beiden Teilen Deutschlands mit der rechtlichen Grundlage der deutschen Einheit zufrieden sein kann. Das schließt nicht aus, daß an einzelnen Bestimmungen oder deren praktischer Umsetzung bis heute zum Teil heftige Kritik geübt wird. Diese reicht bis hin zum Vorwurf des Vertragsbruchs. Derartige Angriffe hätten sich die beiden Unterzeichner ersparen können, denn ein Vertrag, erst recht in der jetzt vorliegenden umfassenden Form, war zur Herstellung der staatlichen Einheit nicht erforderlich. Das Beitrittsverfahren nach Art. 23 Satz 2 GG a.F., das durch den starken Vereinigungsdruck seitens der DDRBevölkerung in den Mittelpunkt geraten war, sah lediglich die Inkraftsetzung des Grundgesetzes vor, nach herrschender Meinung durch ein Bundesgesetz.3 Danach wäre eine umfangreiche Überleitungsgesetzgebung des jetzt gesamtdeutschen Gesetzgebers erforderlich gewesen, was auf bundesdeutscher Seite durchaus für einen gangbaren Weg gehalten wurde. 4 Bis in die Schlußphase der 1

Artikel ohne Angabe bezeichnen solche des Einigungs Vertrags.

2

Die historische und politische Dimension der deutschen Einheit kann an dieser Stelle nicht im einzelnen nachgezeichnet werden. Statt dessen sei hingewiesen auf E. Jesse/A. Mitter (Hrsg.): Die Gestaltung der deutschen Einheit, mit Aufsätzen zu diesem Komplex und einer kommentierten Bibliographie. 3

H.D. Jarass in Jarass/Pieroth, 1. Aufl., Art. 23/Randnr. 3.

4

Vgl. Bundesinnenminister Schäuble, Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 10. Sitzung am 4. Juli 1990, S. 344C. 2 H(')ch

18

1. Teil: Einleitung

Vertragsverhandlungen hinein war dies die allen Beteiligten präsente Alternative für den Fall des Scheiterns der Gespräche. Die Motive, welche die DDR-Regierung bewogen haben, Vertragsverhandlungen vorzuschlagen, 5 waren doppelter Natur. Zum einen konnte sie als Vertragspartner einen viel stärkeren Einfluß auf den Inhalt des Vertrags nehmen, zum anderen war der Vertrag die einzige Möglichkeit für die DDR, Beitrittsbedingungen festzulegen, die auch nach dem staatlichen Untergang der DDR nicht durch eine westdeutsche Majorität im Parlament geändert werden konnten: Auf Grund der Bevölkerungszahlen verfügen die Vertreter des Beitrittsgebiets im Parlament nicht einmal über eine Sperrminorität gegen Verfassungsänderungen. Das macht deutlich, wie sehr den DDR-Vertretern an einer rechtlich bindenden und dauerhaften Sicherung der Interessen ihrer Bevölkerung gelegen sein mußte. Das Ziel der Interessenvertretung stand von Anfang an für die DDR-Regierung im Mittelpunkt ihrer Bemühungen um den Einigungsvertrag. 6 Ob es erreicht werden konnte, wird zu untersuchen sein. Fest steht jedenfalls, daß der Ausgangspunkt der Gegenseite durch die Verhandlungsdelegation der Bundesrepublik erkannt und ausdrücklich akzeptiert worden ist. 7 Auf bundesdeutscher Seite ist die Bereitschaft zum Vertragsschluß schwieriger zu begründen. Zum einen mußte man Forderungen der DDR berücksichtigen, die man schon aus psychologischen Gründen nicht rundweg ablehnen konnte; zum anderen barg eine vertragliche Vereinbarung in einem derart hochpolitischen Umfeld per se die Gefahr späterer Vorwürfe des Vertragsbruchs, die zwangsläufig auf den stärkeren und fortbestehenden Partner Bundesrepublik zurückfallen mußten. Schließlich band sich die Regierungsmehrheit bei einer solchen Gesamtlösung auch bei Entscheidungen auf der Ebene des einfachen Rechts an die Zustimmung der SPD-Opposition, da die Verfassungsänderungen in Art. 4 eine Zwei-Drittel-Mehrheit für den gesamten Vertrag erforderlich machten.

5

Die Initiative ging von der DDR aus; vgl. Bundesinnenminister Schäuble, Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 10. Sitzung am 4. Juli 1990, S. 344 B; Denkschrift der Bundesregierung zum Einigungsvertrag, BT-Drucks. 11/7760, S. 355ff. (356). 6 Prot, des DDR-Ministerrates, 17. Sitzung am 16. Juli 1990, S. 3; 23. Sitzung am 2. Aug. 1990, S. 4. Unrichtig daher N. Horn, Das Zivil- und Wirtschaftsrecht im neuen Bundesgebiet, S. 53, wonach die Parteien - also beide - keine stärkere Bindung als an einfaches Bundesrecht wollten. 7 Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S. 355; W. Schäuble, Der Vertrag, S. 125. Vgl. auch die Äußerungen von Staatssekretär Kinkel, Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 10. Sitzung am 4. Juli 1990, S. 341 C, Bundesinnenminister Schäuble, ebda. S. 344 B.

§ 1: Problemstellung

19

Für das Verfahren des Einigungsvertrags sprach dagegen die nur über eine Paketlösung zu erzielende zeitliche Beschleunigung. Trotz der erforderlichen Einigung mit der SPD-Opposition konnte man so eine zeitaufwendige Debatte über jede Einzelmaßnahme vermeiden. 8 Gleichzeitig sorgte der Hinweis auf das notwendige Zustandekommen einer großen Koalition dafür, auch Sonderwünsche aus dem eigenen Lager rasch zurückdrängen zu können.9 Darüber hinaus war die Gefahr, sich unerwünschter Forderungen seitens der DDR-Regierung ausgesetzt zu sehen, wegen des inneren Zustandes der DDR und des damit verbundenen ungleichen Gewichts der Verhandlungspartner gering. Im Gegenteil war gerade die Schwäche der DDR für die Bundesregierung ein Grund, sich mit Vertragsverhandlungen einverstanden zu erklären. Man wollte das Selbstverständnis der DDR-Bevölkerung berücksichtigen und den Eindruck eines Anschlusses vermeiden. 10 Angesichts dieser Ausgangsposition liegt ein Vergleich mit der Reichsgründung von 1870/71 nahe, bei der ebenfalls die einschlägige Verfassungsnorm keine Notwendigkeit eines Vertrages statuierte, 11 die Machtverhältnisse ähnlich einseitig verteilt waren und dennoch die sogenannten Novemberverträge abgeschlossen wurden. Bismarck wählte diesen Weg zur Herstellung der Reichseinheit, da er die langfristigen Folgen einer Einigung unter Zwang bedachte. Ihm kam es insbesondere auf eine Zustimmung Bayerns an, so daß wegen des dortigen Partikularismus in besonderem Maße ein vorsichtiges Vorgehen geboten erschien. Dementsprechend wollte Bismarck die Initiative der süddeutschen Staaten abwarten, um sich nicht des Verdachts einer Überrumpelungspolitik auszusetzen.12 Die Parallelen zum Jahre 1990, als man in der Bundesrepublik die langfristigen psychologischen Folgen für den ohnehin schwächeren Teil berücksichtigen mußte 13 , treten klar zutage.

8 § 82 Abs. 2 GOBT untersagt Änderungsanträge bei der Gesetzgebung nach Art. 59 Abs. 2 GG. Dieses Verfahren war verfassungsgemäß, vgl. BVerfGE 82, 316ff. 9

W. Schäuble, Der Vertrag, S. 135, 156.

10

B. Schmidt-BleibtreUy Die Eingliederung der neuen Bundesländer und ihrer Gemeinden in die Finanzordnung des Grundgesetzes, in K. Stern (Hrsg.): Deutsche Wiedervereinigung, Band 1, S. 161 ff. (161). 11 Art. 79 Abs. 2 der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. Apr. 1867 (BGBl. S. 2ff.) lautete: "Der Eintritt der Süddeutschen Staaten [...] erfolgt [...] im Wege der Bundesgesetzgebung." 12 13

E.R. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 727ff.

Vgl. hierzu etwa MdB Däubler-Gmelin (SPD), Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 10. Sitzung am 4. Juli 1990, S. 357 B. 2*

20

1. Teil: Einleitung

Von Bedeutung für den Einigungsvertrag ist ferner die Erkenntnis Bismarcks, daß der Beitritt der süddeutschen Staaten ein unumkehrbarer Schritt war, während die von ihnen ausgehandelten Sonderrechte wenigstens politisch zur Disposition standen und stets verhandelbar waren. In diesem Sinne war Bismarck im Jahre 1870 bereit, "selbst erhebliche Gegenstände der Bundesgesetzgebung" von der Geltung in Bayern auszuschließen. "Die Zeit müßte dann nachhelfen, das Ueberschreiten des Rubikon wäre immer gewonnen." 14 In dem Gedanken Bismarcks spiegelt sich das Thema dieser Arbeit. Gefragt wird, was nach dem unumkehrbaren Akt der Selbstauflösung der DDR von dieser über den Einigungsvertrag ins geeinte Deutschland hinübergebracht werden konnte und dort rechtlichen Bestand hat. Rechtlich bindende Sonderregelungen für das Beitrittsgebiet setzen voraus, daß der Vertrag überhaupt über den 3. Oktober 1990 hinaus fortgilt. Hier berühren sich die Probleme der Rechtsnatur deutsch-deutscher Verträge und der Existenz völkerrechtlicher Verträge nach dem Untergang eines Vertragspartners als Völkerrechtssubjekt. Gilt der Vertrag fort, bindet er mittels seiner Gesetzeskraft zumindest Exekutive und Judikative. Offen ist hingegen, ob auch eine Bindung des gesamtdeutschen Gesetzgebers an die vertraglichen Vereinbarungen eingetreten ist. Dieser Frage kommt in der Arbeit zentrale Bedeutung zu; die Rechtslage in bezug auf eine Bindung des pouvoir constitué und der Landesgesetzgeber wird in gesonderten Kapiteln behandelt. Besteht nicht wenigstens eine Bindung des einfachen Gesetzgebers, ist der Unterschied zur Überleitungsgesetzgebung marginal; jedenfalls hätte die DDR-Regierung keine definitive rechtliche Absicherung ihrer Interessen erreicht. Andererseits scheint festzustehen, daß der Einigungsvertrag nicht insgesamt als großes Reservat betrachtet werden kann, da sonst wegen der Vielzahl von Bestimmungen in den Anlagen in Zukunft eine Bundesgesetzgebung praktisch unmöglich würde. 15 Erwähnung findet zu Recht die unterschiedliche Interessenlage der Vertragspartner. Während der untergehende Teil darauf drängt, möglichst viele bestandsfeste Sonderrechte auszuhandeln, kann der fortbestehende Teil kein Interesse daran haben, seine

14 Aus einem Telegramm an Werthern vom 24. Sept. 1870; zit. nach E. Scheler (Hrsg.): Otto von Bismarck - Werke in Auswahl, Band 4, S. 543. 15

So auch H. Weis, Verfassungsrechdiche Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, AöR 116 (1991), S Iff. (15).

§ 1 : Problemstellung

21

Handlungsfreiheit über Gebühr einzuschränken. 16 Zudem spricht die angesichts der Stoffülle und des Zeitdrucks fast notwendigerweise gegebene Unvollkommenheit des Vertrags für die Möglichkeit späterer Nachbesserungen durch den Gesetzgeber. 17 Bei der Erörterung des Problems der Bestandskraft wird die Frage nach der Rechtsnatur des Einigungsvertrags nach dem Beitritt zu stellen sein. Nach herrschender Meinung hat er seinen auch-völkerrechtlichen Charakter verloren und ist Teil des Staatsrechts der Bundesrepublik geworden. 18 Entscheidend dürfte sein, mit welchem Rang der Vertrag in die bundesdeutsche Normenhierarchie einzuordnen ist. Zu erinnern ist daran, daß der Vertrag insgesamt mit verfassungsändernder Mehrheit angenommen wurde, jedoch nur ein Artikel eine ausdrückliche Grundgesetzänderung enthält. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, daß ein Verlust des völkerrechtlichen Charakters nichts über den möglichen Fortbestand des vertraglichen Elements aussagt. Es fragt sich also, ob der Grundsatz "pacta sunt servanda", der als solcher eine Selbstverständlichkeit enthält 19 , auf den Einigungsvertrag über den 3. Oktober 1990 hinaus Anwendung findet. Schließlich ist zu erörtern, ob von einer rechtlich verbindlichen Zusage auch Bereiche erfaßt werden können, die den Vertragspartner DDR als solchen allenfalls am Rande betreffen, jedoch dessen Bürger unmittelbar berühren. Dies gilt beispielsweise für die berufs- und ausbildungsbezogenen Bestimmungen des Einigungsvertrags, anhand derer dieses Problem exemplarisch besprochen wird. Selbst wenn die rechtliche Bedeutung des Einigungsvertrags kaum zu gering veranschlagt werden kann, ist dessen politische Relevanz wahrscheinlich noch größer. Selbst wenn sich in bestimmten Fragen die Änderbarkeit des Vertrags ergeben sollte, bedeutet das nicht, daß die Verhandlungen in diesen Fragen umsonst gewesen sind. Es darf nicht vergessen werden, daß der Vertrag in jedem Fall politische Zusagen enthält, deren Durchsetzbarkeit in der öffentlichen Diskussion im Einzelfall leichter möglich sein kann, als wenn man sich vor den

16

H. Weis, s. 14.

17

B. Schmidt-Bleibtreu, Der Einigungsvertrag in seiner rechtlichen Gestaltung und Umsetzung, in K. Stern/B. Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.): Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Band 2, S. 57ff. (60). 18

Statt aller: E. Klein, Der Einigungsvertrag - Verfassungsprobleme und -auftrage -, DöV 1991, S. 569ff. (571). 19

C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 69f.

22

1. Teil: Einleitung

Schranken des Bundesverfassungsgerichts auf die Rechtsverbindlichkeit des Vertrags beriefe. Fest steht allerdings auch, daß sich die DDR-Regierung gerade in der Frage des Bestands der Vorschriften nicht nur auf politische Erklärungen verlassen wollte. Angesichts der westdeutschen Majorität in der Legislative wollte man den Bestand zumindest einiger wichtiger Bereiche des Vertrags rechtlich und damit gleichzeitig politikunabhängig sichern. Inwieweit dies gelungen ist, sollen die folgenden Kapitel zeigen.

§ 2: Die politische Diskussion Auf den ersten Blick mag es erstaunen, daß das hier aufgeworfene Problem bei den Verhandlungen in beiden deutschen Parlamenten nur sporadisch erörtert wurde, obwohl sich bei der Annahme einer Bestandskraft langfristige Folgewirkungen ergeben können. Eine Erklärung hierfür liegt in der ohnehin herrschenden Zeitnot bei den parlamentarischen Beratungen und der Tatsache, daß die Verhandlungen im Zeichen des heraufziehenden Wahlkampfes standen, so daß Wahlrechtsfragen und politisch brisante Themen wie die Abtreibungsregelung zunehmend in den Mittelpunkt rückten. Untersucht man die Aussagen zur Dispositionsbefugnis des gesamtdeutschen Gesetzgebers bezüglich des durch den Einigungsvertrag geschaffenen Rechts, so ergibt sich, daß die politisch Verantwortlichen die rechtlichen Folgen ihres Handelns nur unzureichend erkannt haben. Daß politische Interessen hinter den jeweiligen Aussagen stehen, ist dabei zu berücksichtigen. DDR-Ministerpräsident de Maizière ging von einer langfristigen und bestandskräftigen Sicherung der im Einigungsvertrag vereinbarten Sonderrechte für das Beitrittsgebiet aus. In diesem Sinne faßte er in der ersten Lesung des Einigungsvertrags in der Volkskammer zusammen: "Nur mit dem Einigungsvertrag wird die Möglichkeit eröffnet, Rechte für die Bürger der fünf neuen Länder auch für die Zeit zu wahren, wenn es den Vertragspartner DDR nicht mehr geben wird. Ein Überleitungsgesetz statt eines Einigungsvertrages [...] hätte diese Möglichkeit der Rechts Währung in unverantwortlicher Weise vergeben."20

§ 2: Die politische Diskussion

23

De Maizière unterschied also Vertrag und Überleitungsgesetzgebung nicht nach dem Zustandekommen der Normen 21 , sondern nach ihrem Bestand in der Zukunft, der Zeit nach dem Beitritt. Auch ein Überleitungsgesetz hätte Bindungswirkung gegenüber Exekutive und Judikative entfaltet; eine Differenzierung hinsichtlich des zukünftigen rechtlichen Bestands kann man mithin nur vornehmen, wenn man dem Vertrag wenigstens in Teilen eine Bestandskraft gegenüber dem einfachen Gesetzgeber zubilligt. Auch Günter Krause hielt die Ziele der DDR-Regierung im Vertrag für verwirklicht: Der Text enthalte zwei eindeutige Generalklauseln 22, wonach in wichtigen Bereichen DDR-Recht bestehenbleibt und nicht durch neue Gesetze geändert wird. 2 3 Demgegenüber erklärte der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Wagner lapidar: "Der Gesetzgeber hat die Möglichkeit zur Korrektur [seil, des im Einigungsvertrag Vereinbarten]". 24 In diese Richtung gehen auch Äußerungen der Volkskammerabgeordneten Gysi (PDS) und Schulz (Bündnis 90) sowie der niedersächsischen Ministerin Schoppe. Sie meinten, der gesamtdeutsche Gesetzgeber könne die Vereinbarungen mit einfacher Mehrheit lösen. 25 Ebenfalls hier einzuordnen ist die Ansicht der Abgeordneten Funke (FDP): Danach ist der Einigungsvertrag - "mit Ausnahmen" - revidierbar. 26

20 Aus der stenographischen Niederschrift der Volkskammer vom 6. Sept. 1990; zit. nach Deutscher Bundestag (Hrsg.): Auf dem Weg zur deutschen Einheit, Band 5, S. 160f. 21

Wobei die größeren Mitspracherechte beim Vertrag für die DDR-Regierung ebenfalls eine nicht zu vernachlässigende Größe darstellten, denn ein Überleitungsgesetz wäre aller Voraussicht nach erst nach dem Untergang der DDR vom gesamtdeutschen Gesetzgeber verabschiedet worden. Wegen der MehrheitsVerhältnisse in Bundestag und Bundesrat wäre der Einfluß ostdeutscher Vertreter auf den Gesetzestext wesentlich geringer gewesen. 22

Gemeint sind offenbar die Artt. 44,45 Abs. 2.

23

G. Krause, "Dann geht es bergauf', Interview mit dem DDR-Staatssekretär, Der Spiegel 1990, Heft 33, S. 25ff. (27). 24

Plenarprotokoll des Bundesrats, 618. Sitzung am 7. Sept. 1990, S. 467 A.

25

Alle Zitate finden sich - in entsprechender Reihenfolge - bei Deutscher Bundestag (Hrsg.): Auf dem Weg zur deutschen Einheit, Band 5, S. 296, 214, 99f. 26 Prot, des BT-Rechtsausschusses 11/95, Sitzung am 19. Sept. 1990, S. 22. Als eine solche Ausnahme nannte sie die in der Durchführungsvereinbarung zum Einigungsvertrag (BGBl. 1990 II, S. 1239ff.) geregelte Vergütung der Volkskammerabgeordneten für die Zeit nach dem Beitritt.

24

1. Teil: Einleitung

Im Gegensatz dazu warnte Bundesjustizminister Engelhard im Ausschuß Deutsche Einheit vor den gegebenenfalls sehr langfristigen Folgen einer vertraglichen Bindung. "Was dort [seil, im Vertrag] einmal vereinbart worden ist, bleibt uns bis weit, weit in die Zukunft hinein." 27 Wolfgang Schäuble schreibt zur Fortgeltung des Vertrags: "Die im Staatsvertrag vereinbarten Rechte und Pflichten sind in ihrem Bestand unabhängig von der Fortexistenz der Vertragsparteien. Diese Rechtslage ist in Art. 45 Abs. 2 28 ausdrücklich in den Vertrag aufgenommen worden."29

Differenzierend und zum Teil widersprüchlich erscheinen dagegen seine Äußerungen zur Dispositionsbefugnis des einfachen Gesetzgebers. Einerseits hält er die vertragliche Verpflichtung der Bundesrepublik bereits mit dem Erlaß des Zustimmungsgesetzes für erfüllt 30 und folglich Änderungen durch den Gesetzgeber grundsätzlich für möglich 31 ; andererseits erklärt er eine Streichung des Art. 17 (Rehabilitierung) für ausgeschlossen und nennt die Artt. 2Iff. (Öffentliches Vermögen und Schulden) als Beispiele für solche Rechte, die die neuen Länder im Rahmen des Art. 44 (Rechtswahrung) geltend machen können. Von Interesse ist hier auch, daß er nach eigenen Angaben die bei den Vertragsverhandlungen geäußerten Bedenken der DDR-Vertreter mit dem Hinweis zu zerstreuen versucht hat, das Bundesverfassungsgericht würde nach der Vereinigung über die Einhaltung des Vertrags wachen. 32 Dies weist auf eine Bindung auch der Legislative hin, denn wäre nur die Exekutive über den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes gebunden, läge die "Wächterfunktion" bei den Instanzgerichten. Im Gegensatz dazu steht wiederum seine Auffassung zu dem Recht der DDR, das nach Art. 9 Abs. 2 in Verbindung mit Anlage I I des Vertrags Bundesrecht geworden ist: hier sei eine Änderung möglich. 33

27

Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 10. Sitzung am 4. Juli 1990, S. 373 A.

28

Die Vorschrift ordnet an: "Der Vertrag bleibt nach dem Wirksamwerden des Beitritts als Bundesrecht geltendes Recht." 29

W. Schäuble, Der Einigungsvertrag, ZG 1990, 289ff. (296).

30

Das Protokoll des Ausschusses Dt. Einheit vermerkt hier - wohl berechtigten - Widerspruch bei der SPD, 15. Sitzung am 9. Aug. 1990, vgl. S. 470 D. 31

Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 15. Sitzung am 9. Aug. 1990, S. 470 C, D.

32

W. Schäuble, Der Vertrag, S. 26, 135.

33

Vgl. - in entsprechender Reihenfolge - Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 17. Sitzung am 6. Sept. 1990, S. 546 B, S. 562 C, S. 545 B.

§ 3: Gang der Darstellung

25

Schließlich vertritt Staatssekretär Kinkel zur Frage der zwischen 1945 und 1949 enteigneten Grundstücke, eine Rückgabe an die ehemaligen Eigentümer sei bindend ausgeschlossen.34 Die offizielle Auffassung der Bundesregierung findet sich in der amtlichen Denkschrift zum Einigungsvertrag. Danach wird in Art. 45 Abs. 2 klargestellt, "daß das hierdurch geschaffene Bundesrecht durch den Bundesgesetzgeber geändert werden kann. Der Gesetzgeber hat dabei allerdings die im Vertrag vorgesehenen Regelungen zu beachten, durch die besondere Rechte auf Dauer garantiert werden (vergleiche Art. 41 Abs. 3) oder durch die im Interesse einer schrittweisen Anpassung der unterschiedlichen Verhältnisse besondere Fristen vereinbart worden sind."35

Angesichts der dargestellten Meinungsvielfalt sind Zweifel angebracht, ob die Denkschrift das Problem erschöpfend behandelt. Rechtliche Relevanz kommt der Schrift keinesfalls zu 3 6 , zumal völkerrechtliche Verträge nur von beiden Parteien gemeinsam ausgelegt werden können. 37 Daneben kann der Hinweis auf die Denkschrift eine dogmatische Begründung für die eine oder andere Auffassung nicht ersetzen. Bei den oben genannten Äußerungen der Politiker klingt regelmäßig der Gedanke des ursprünglichen Vertragscharakters einerseits oder andererseits der der Transformation in ein normales Bundesgesetz an, was man aus Art. 45 Abs. 2 glaubt ableiten zu können. Dabei scheint die Annahme naheliegend, daß der Einigungsvertrag - um es zunächst zurückhaltend zu formulieren - zwischen den beiden extremen Positionen liegt.

§ 3: Gang der Darstellung Die Arbeit versucht die aufgeworfenen Fragen zu beantworten, indem sie zunächst nach der Rechtsnatur des Vertrags vor dem Beitritt fragt. Es geht mithin um die Besonderheit deutsch-deutscher Verträge, so daß ein Vergleich

34

Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 16. Sitzung am 22. Aug. 1990, S. 513 D.

35

Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S. 377.

36

A. A. SG Berlin, SGb 1992, S. 52Iff. (522).

37

W. Heintschel v. Heinegg, Auslegung völkerrechtlicher Verträge, in K. Ipsen (Hrsg.): Völkerrecht, S. 120f.

26

1. Teil: Einleitung

mit dem Grundlagenvertrag geboten erscheint. Dabei wird auf eine Darstellung der Deutschland-Theorien und eine Untersuchung ihrer etwaigen Be- oder Mißachtung im Einigungsprozeß verzichtet. Diese Theorien dienten zur rechtlichen Absicherung einer politischen Position und wurden zunehmend weniger beachtet, je mehr sich ein Standpunkt, nämlich der vom Fortbestand der deutschen Nation, durchsetzte. Folglich hatte die Bundesregierung im 2+4-Prozeß keine Bedenken, auch die DDR als für das entstehende Gesamtdeutschland mitspracheberechtigt anzusehen.38 Entscheidend für diese Arbeit sind die Veränderungen in der Rechtsnatur des EinigungsVertrags, die mit dem Beitritt am 3. Oktober 1990 entstanden sind. Zu berücksichtigen ist, daß die DDR als Völkerrechtssubjekt untergegangen ist, dies aber den vertraglichen Charakter des Einigungsvertrags unberührt läßt. Änderungen könnten sich insoweit jedoch über Art. 45 Abs. 2 ergeben, der seinerseits in engem Zusammenhang mit Art. 44 steht. Logisch vorrangig wird allerdings die Frage zu erörtern sein, ob der Einigungsvertrag überhaupt noch Geltung beanspruchen kann. Daran anschließend versucht die Arbeit, den Aspekt der Dispositionsbefugnis des gesamtdeutschen Gesetzgebers unter Berücksichtigung einiger grundsätzlicher Möglichkeiten einer Bindung zu behandeln. Danach wird rechtshistorisch gefragt, ob und woraus bei früheren Eingliederungsverträgen eine Bindungswirkung abgeleitet wurde. Anschließend wird anhand der Konkordatsund der Coburg-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Bindung des Gesetzgebers an Verträge unter dem Grundgesetz untersucht. Hier werden unterschiedliche Ansätze deutlich, und es ist zu klären, welche Folgerungen für den Einigungsvertrag zu ziehen sind. Nach der Anwendung dieser Grundsätze auf den Einigungsvertrag als Ganzes soll die gestellte Frage differenzierend bei verschiedenen Einzelvorschriften des Vertrags erörtert werden. Dabei werden einige wichtige Bestimmungen ausführlich für sich besprochen; bei anderen wird versucht, sie nach geeigneten Kriterien in Gruppen zusammenzufassen, um für die gesamte Gruppe eine Antwort auf das Bestandskraftproblem zu finden.

38 Insoweit liegt eine Mißachtung des Gedankens der Identitätstheorie vor; vgl. D. Blumenwitz, Der Vertrag vom 12. 9. 1990 über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, NJW 1990, S. 304Iff. (304If.).

Zweiter Teil

Die Rechtsnatur des Einigungsvertrags vor dem 3. Oktober 1990 Der Einigungsvertrag steht in der Tradition mehrerer deutsch-deutscher Verträge, die ihren Beginn 1972 mit dem Grundlagenvertrag hatte. Sowohl politisch als auch juristisch war die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zur DDR in der Bundesrepublik sehr umstritten. Daran änderte auch die ständige Betonung der Besonderheit dieser Beziehungen durch die Bundesregierung nichts. Während die politische Opposition recht bald, nicht zuletzt auf Grund des klaren Wählervotums von 1972, die Ergebnisse der von der Regierung Brandt initiierten Ostpolitik im Grundsatz akzeptierte, blieb das juristische Problem bis zum Ende der staatlichen Existenz der DDR ungelöst. Ursächlich hierfür war, daß die von der Bundesrepublik reklamierten Besonderheiten im Verhältnis zur DDR zu reinen (und oftmals lästigen) Formalitäten verkamen und selbst deren Durchsetzung, wie der Honecker-Besuch von 1987 verdeutlichte, immer problematischer wurde. Die Frage, was denn substantiell Besonderes an den Beziehungen zur DDR war, war zunehmend schwieriger zu beantworten. In Anlehnung an die bekannten Deutschland-Theorien kann man formulieren: Das Dach des Deutschen Reiches wurde immer luftiger, das Fundament sackte immer mehr weg.1 Als sehr wichtig sollte sich allerdings im Sommer 1989 erweisen, daß man in der Bundesrepublik gemäß den Vorgaben des verfassungsgerichtlichen Urteils zum Grundlagenvertrag 2 formell weder auf die Rechtsposition vom Fortbestehen der deutschen Nation noch auf die gemeinsame Staatsangehörigkeit verzichtet hat. Eine Wiedervereinigungspolitik ohne diese rechtliche Ausgangsbasis hätte schwerlich so schnell zum Erfolg führen können.

1

Nach I. von Münch, Deutschland: gestern - heute - morgen, NJW 1991, S. 865ff. (868).

2

BVerfGE 36, Iff.

28

2. Teil: Die Rechtsnatur des EV vor dem 3. Okt. 1990

Um die Rechtsnatur des Einigungsvertrags vor der staatlichen Einigung zu erfassen, ist ein Blick in die Geschichte der deutsch-deutschen Verträge erforderlich. Nach einem kurzen Überblick über die zum Grundlagenvertrag vertretenen unterschiedlichen Auffassungen wird gefragt, ob sich eine der damals vertretenen Ansichten auf den Einigungsvertrag vor dem Beitrittsdatum übertragen läßt.

§ 4: Die Rechtsnatur deutsch-deutscher Verträge am Beispiel des Grundlagenvertrags Der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR vom 21. Dezember 1972 gehörte, solange er gültig war, zu den umstrittensten Kapiteln im deutschen Staatsrecht. Einigkeit bestand in der Bundesrepublik lediglich in bezug auf die Schwierigkeit einer rechtlichen Würdigung 3 ; im Vergleich zum Vertragspartner standen sich die Ansichten sogar zum Teil diametral gegenüber. Die Differenzen mit der DDR über die Auslegung des Vertrags resultierten zu großen Teilen daraus, daß beide Seiten mit dem Vertrag eine völlig unterschiedliche Zielsetzung verfolgten und die Formulierung des Vertragstextes so gewählt wurde, daß jeweils die Erreichung der Ziele proklamiert werden konnte. Die Bundesregierung wollte weg von der Erstarrung in der Deutschland-Politik 4 ; für die DDR ging es im wesentlichen um die Anerkennung als Völkerrechtssubjekt auf der Weltbühne.

3 K. Stern, Der Staatsvertrag im völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Kontext, in ders./ß. Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.): Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Band 1, S. 21. 4 Dementsprechend sprach Bundeskanzler Brandt zum Abschluß der Vertrags Verhandlungen vom gebrochenen Eis im Verhältnis der beiden deutschen Staaten; zit. nach I. von Münch (Hrsg.): Dokumente des geteilten Deutschland, Band 2, S. 320.

§ 4: Die Rechtsnatur deutsch-deutscher Verträge

29

I. Die Ansicht der DDR zum Grundlagenvertrag

Gemäß ihrer Zielsetzung, mit dem Grundlagenvertrag den Durchbruch zur weltweiten Anerkennung zu schaffen, hat die DDR den Vertrag stets als "normalen völkerrechtlichen Vertrag" 5 interpretiert. Es wurde von offizieller Seite durchgehend betont, der Vertrag regele definitiv die (rein) völkerrechtlichen Beziehungen zwischen zwei souveränen Völkerrechtssubjekten. Für diese Ansicht wurde vorgetragen, man könne den Vertrag nur auf Grundlage des Vertragstextes selbst und der Zusatzdokumente auslegen.6 Nach DDR-Sicht war damit insbesondere der von der Bundesregierung übergebene Brief zur deutschen Einheit rechtlich irrelevant. Konsequenterweise wurde der Brief im Ratifizierungsprozeß nicht berücksichtigt und erschien nicht im Gesetzblatt der DDR. Zusätzlich wies man unter Berufung auf den völkerrechtlichen Effektivitätsgrundsatz die Behauptung vom rechtlich fortbestehenden Deutschen Reich als Fiktion zurück. 7 Nach 1949 seien zwei neue Völkerrechtssubjekte entstanden; der Vertrag bestätige dieses, da beide Staaten sich gemeinsam zur Beachtung der UN-Charta (Art. 2) verpflichtet hätten. Folglich existiere auch kein gemeinsames deutsches Volk mehr, das als Träger eines Selbstbestimmungsrechts in Frage käme. Das Volk der DDR habe vielmehr auf Grund seines Selbstbestimmungsrechts gehandelt.8 Die Rechtsauffassung der DDR zum Grundlagenvertrag diente letztlich zur Absicherung der Ansicht, daß zwei voneinander unabhängige Staaten entstanden seien und ein Wiedervereinigungsprozeß ausscheide. Bemerkenswert ist, daß die Reaktion der DDR auf das Grundvertragsurteil lange auf sich warten

5

SED-Generalsekretär Honecker, Neues Deutschland vom 29. Mai 1973; zit. nach Presse und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Der Grundlagenvertrag vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 373f. Vgl. auch St. Brauburger, Stichwort: Deutsche Einheit, in W. Weidenfeld/K.R. Körte (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Einheit, S. 130ff. (131). 6 DDR-Außenminister Winzer am 13. Juni 1973 vor der Volkskammer; zit. nach Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Der Grundlagenvertrag vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 367. 7

P.A. Steiningen zit. nach W. Völkel, Grundlagenvertrag, DA 1974, S. 140 ff. (141). 8

Zur Reaktion der DDR auf das Karlsruher Urteil zum

P.A. Steiningen zit. nach W. Völkel, S. 143.

30

2. Teil: Die Rechtsnatur des EV vor dem 3. Okt. 1990

ließ 9 und dann weniger heftig ausgefallen ist, als zu erwarten gewesen wäre. Eine plausible Erklärung geht dahin, daß die DDR zunächst sprachlos überrascht gewesen sei, dann aber doch glaubte, ihrer Sache sicher sein zu können. 10

I I . Der Grundlagenvertrag aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts und der bundesdeutschen Wissenschaft

Die im 36. Band der amtlichen Sammlung vertretenen Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts ist hinlänglich bekannt. Sie hat zu zahlreichen Stellungnahmen Anlaß gegeben. Im hier gegebenen Zusammenhang interessieren hauptsächlich die Ausführungen des Gerichts zur Rechtsnatur des Vertrags. Es sollen daher im folgenden nur die wesentlichen Grundaussagen zu dieser Thematik in Erinnerung gerufen werden. Das Bundesverfassungsgericht urteilte, der Vertrag enthalte sowohl völkerwie staatsrechtliche Elemente. Es wurde anerkannt, daß es sich der Art nach um einen völkerrechtlichen Vertrag handele; dem Inhalt nach würden jedoch "Inter-se-Beziehungen" geregelt. 11 Damit bezog sich das Gericht auf einen Begriff, der eine bestimmte Entwicklungsphase des British Commonwealth kennzeichnete. Die Inter-se-Doktrin besagte, "that those relations between countries of the Commonwealth [...] were neither international relations nor governed by International Law." 1 2 Den letzten Halbsatz machte sich das Gericht allerdings nicht zu eigen: der Vertrag habe Geltungskraft wie jeder andere völkerrechtliche Vertrag, und auf seine Auslegung sei primär Völkerrecht anwendbar. 13 Der Inter-se-Charakter wurde insbesondere aus der besonderen rechtlichen Nähe

9

Erst am 16. Aug. 1973 erschien im "Neues Deutschland" ein Kommentar zum Urteil vom 31.

Juli. 10

W. Völkely

11

BVerfGE 36, Iff., 6. Leitsatz.

12

J.E.S. Fawcett, The British Commonwealth in International Law, S. 144.

13

BVerfGE 36, Iff. (23).

S.148.

§ 4: Die Rechtsnatur deutsch-deutscher Verträge

31

der zwei Staaten abgeleitet, da beide Teile eines noch fortbestehenden deutschen Gesamtstaates seien. 14 Wie kaum eine andere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat das Urteil zum Grundlagenvertrag Kritik in der Wissenschaft gefunden. Diese setzte an bei den vom Gericht vertretenen Deutschland-Theorien 15 und bezweifelte zum Teil auch die Haltbarkeit der Theorie vom rechtlichen Doppelcharakter des Vertrags. 16 Allerdings blieben die Stimmen, es sei eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik erfolgt 17 , in der Minderheit. Weitgehender Konsens bestand lediglich dahingehend, daß der Vertrag jedenfalls nicht ausschließlich staatsrechtlich zu deuten sei. Das Völkerrecht kann mithin bei der Berücksichtigung der deutsch-deutschen Beziehungen vor dem Beitrittsdatum nicht von Anfang an ausgeschaltet werden. 18 Strittig war jedoch, ob der Grundlagenvertrag tatsächlich durch das Stichwort Gemengelage zwischen Völker- und Staatsrecht hinreichend definiert wurde. Dabei wurde insbesondere gefragt, ob und gegebenenfalls welche staatsrechtlichen Elemente, die den besonderen Charakter des Vertrags ausmachen sollten, aus diesem selbst abzuleiten seien. Hinzu kam die historische Entwicklung in den siebziger und achtziger Jahren, in denen fast alle politischen Beobachter von einer noch sehr lange andauernden deutschen Spaltung ausgingen. Da die Zeiten eines geeinten Landes immer weiter zurücklagen und wegen der politischen Konstellation in Europa auch kein gemeinsames Deutschland in Sicht war, gingen viele davon aus, man müsse dieser normativen Kraft des Faktischen Rechnung tragen. Nach Bernhardt war die Gemengelage zwar noch diskutabel, aber nicht mehr nachweisbar. 19 Das Gericht sah 1972 die Besonderheit in den Beziehungen allein wegen der Vertragsparteien per se als gegeben an. Unter Bezugnahme auf seine Deutsch-

14

BVerfGE 36, Iff. (23).

15

Das Gericht habe die These der Identität mit der mit ihr unvereinbaren Dachtheorie zu einem "unbekömmlichen juristischen Brei" vermengt; U. Scheuner, Die staatsrechtliche Stellung der Bundesrepublik, DöV 1973, S. 58Iff. (583). 16 U. Scheuner, S. 583, der daraufhinweist, daß stets zwei Partner zur Anerkennung besonderer Inter-se-Prinzipien gehören. 17

So R. Bernhardt, Diskussionsbeitrag, in G. Zieger (Hrsg.): Fünf Jahre Grundvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts, Symposium 2. - 4. Okt. 1978, S. 41 f. 18

/?. Bernhardt, Deutschland nach 30 Jahren Grundgesetz, VVDStRL 38, S. 7ff. (23).

19

R. Bernhardt, S. 24.

32

2. Teil: Die Rechtsnatur des EV vor dem 3. Okt. 1990

land-Theorie erklärte es, der Vertrag sei zwischen zwei Staaten geschlossen, die Teile eines immer noch existierenden Gesamtdeutschland mit einem einheitlichen Staatsvolk seien. 20 Diese Auffassung wurde allerdings, ob haltbar oder nicht, keinesfalls Vertragsbestandteil. 21 Auch die berühmte Dissensklausel22 aus der Präambel des Grundlagenvertrags hilft hier nicht weiter. Auf Grund der Klausel konnte die Bundesrepublik zwar weiterhin ihre These vom besonderen Charakter der Beziehungen vertreten. Mit der gleichen Berechtigung konnte die DDR dagegen auf ihrer Position beharren. Einigkeit herrschte dahingehend, daß das Spezifikum des Vertrags nicht darin gesehen werden konnte, daß dieser einer anderen Rechtsordnung als der des Völkerrechts unterstellt worden ist. Von vornherein auszuscheiden war die Möglichkeit, die Parteien wollten den Vertrag der Rechtsordnung eines Paktstaates unterstellen. Auch die Überlegung Wenglers wurde zurückgewiesen, wonach der Vertrag möglicherweise einer von den Parteien neu geschaffenen "Minirechtsordnung" angehöre. 23 Zutreffend wurde argumentiert, es fehle an einer entsprechenden Parteivereinbarung, da jedenfalls die DDR einen völkerrechtlichen Vertrag abschließen wollte. 24 Auch in Karlsruhe wurde der Vertrag als völkerrechtlicher bewertet, hier besonders unter Berufung auf Art. 2 des Vertrags, wonach die Charta der Vereinten Nationen das Verhältnis der Staaten bestimmte.25

20

BVerfGE 36, Iff. (23).

21

Eine Bindung der DDR an die Rechtsansicht des Bundesverfassungsgericht, die das Gericht möglicherweise im letzten Abschnitt des Urteils (S. 36) zum Ausdruck bringen wollte, ist von der Wissenschaft einhellig und mit scharfen Worten zurückgewiesen worden: "Kein seriöser Völkerrechtler könnte die hier kritisierten Urteilsausfiihrungen als auch nur einigermaßen zutreffend unterschreiben." , B. Simma, Der Grundlagenvertrag und das Recht der völkerrechtlichen Verträge, AöR 100 (1975), S. 4ff. (19, Anm. 49). 22

"...unbeschadet der unterschiedlichen Auffassungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage...". 23 W. Wengler, Gutachten über die Vereinbarkeit des Grundlagenvertrages mit dem Grundgesetz, abgedruckt in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Der Grundlagenvertrag vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 9Iff. 24 H.H. Mahnke y Die besonderen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten, in G. Zieger (Hrsg.): Fünf Jahre Grundvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts, Symposium 2. - 4. Okt. 1978, S. 145ff. (153). 25

BVerfGE 36, Iff. (24).

§ 4: Die Rechtsnatur deutsch-deutscher Verträge

33

Schließlich ist versucht worden, den Sondercharakter über die im Vergleich zu anderen völkerrechtlichen Verträgen unüblichen Vertragselemente zu bestimmen. Hierzu zählen die Übereinstimmung, daß die Rechte der Siegermächte fortbestehen, die Vereinbarung, Ständige Vertretungen statt Botschaften zu errichten, die Einigung, den Handel als Binnenhandel zu betrachten und der Konsens beider Staaten darüber, daß Staatsangehörigkeitsfragen durch den Vertrag nicht berührt sind. 26 Aus all diesen Funkten folgt allerdings objektiv keine Vereinbarung eines Sondercharakters der Beziehungen. Zwar mag die Klausel, Ständige Vertreter statt Botschafter auszutauschen, unüblich sein, sie jedoch als vertragliches Zugeständnis der DDR zur Existenz auch staatsrechtlicher Beziehungen zu werten, ginge zu weit. 27 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß objektiv im Vertrag die Besonderheit der Beziehungen an sich nicht vereinbart worden ist. Alle Erklärungen der DDR weisen auf das Gegenteil hin. Die staatsrechtliche Lage hat sich durch den Grundlagenvertrag für die Bundesrepublik allerdings nicht verändert. 28 Auf Grund der Dissensklausel war es der Bundesrepublik subjektiv möglich, ihrerseits auch nach dem Abschluß des Vertrags von der Besonderheit der Beziehungen zur DDR auszugehen und sich international entsprechend zu verhalten. 29 Gleichzeitig wurde die Rechtslage Deutschlands völkerrechtlich einer politischen Interpretation zugänglich. 30 Praktisch relevant wurde dies hauptsächlich in Fällen von DDR-Flüchtlingen in den osteuropäischen Botschaften

26

Vgl. - in entsprechender Reihenfolge - Artt. 9, 8 und 7 (in Verbindung mit dem Berliner Abkommen über den Interzonenhandel vom 20. Sept. 1951) des Vertrags sowie die Protokollerklärungen beider Seiten zur Staatsangehörigkeitsfrage. 27

G. Ress, Die Rechtslage Deutschlands nach dem Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972, S. 194ff. 28

R. Barthperger, Die Rechtslage Deutschlands, S. 44.

29

Vgl. J. Hacker, Stichwort: Grundlagenvertrag, in W. Weidenfeld/K.R. Körte (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Einheit, S. 349ff. (352). Schweisfurth weist darauf hin, daß vor der UNO-Generalversammlung weder die Auffassung der DDR-Vertreter noch die der Bundesrepublik von irgend jemandem als vertragswidrig gerügt worden ist; Th. Schweisfurth, Die völkerrechtlichen Aussagen des Grundvertragsurteils, in G. Zieger (Hrsg.): Fünf Jahre Grundvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts, Symposium 2. - 4. Okt. 1978, S. 241ff. (249). 30

3 Hoch

/?. Bartlsperger,

S. 3.

34

2. Teil: Die Rechtsnatur des EV dem 3. Okt. 1990

der Bundesrepublik, da nach der im Völkerrecht geltenden nationality rule jeder Staat nur Schutz für seine eigenen Angehörigen ausüben darf. 31

§ 5: Die Bedeutung dieses Ansatzes für den Einigungsvertrag Die Bundesrepublik hat ihre Rechtsauffassung vom besonderen Charakter der deutsch-deutschen Beziehungen im Vorfeld des Einigungsvertrags nicht revidiert. 32 Dafür bestand für sie auch kein Grund, da sie in ihrer Grundthese vom Fortbestand einer einheitlichen deutschen Nation durch die Entwicklung bestätigt worden ist. Eine Konsequenz dieses Gedankens war beispielsweise, daß für die Verhandlungen zum Abschluß des Einigungsvertrags federführend das Innenministerium zuständig war. Gleichzeitig hat die Bundesregierung den auch-völkerrechtlichen Charakter des Einigungsvertrags nicht geleugnet.33 Angesichts des parallel laufenden 2+4-Prozesses, in dem die bundesdeutsche Seite die Gleichordnung von Bundesrepublik und DDR auch in Fragen akzeptiert hat, die das ganze Deutschland betreffen 34, wäre ein Abstreiten der völkerrechtlichen Komponente kaum möglich gewesen. Auch die DDR hat früh nach den Umwälzungen die These von den besonderen Beziehungen übernommen. So erschien in der gemeinsamen Erklärung von Ministerpräsident Modrow und Bundeskanzler Kohl nach ihrem Treffen vom 20. Dezember 1989 das Wort von den "historisch bedingten Besonderheiten der Beziehungen zwischen den beiden Staaten"35. Es folgte das Modrow-Konzept "Für Deutschland, einig Vaterland" am 1. Februar 1990 36 , mit dem er seinen 31 K. Doehring, Die Anwendung der Regeln der völkerrechtlichen Sukzession nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, in R. Wildenmann (Hrsg.): Nation und Demokratie, S. 1 Iff. (17); G. Ress, S. 206. 32

Gleiches gilt für das Bundesverfassungsgericht, das in BVerfGE 82, 316ff. (320) ebenfalls die im Grundlagenvertragsurteil eingenommene Position bekräftigt hat. 33 34

Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S. 377.

D. BlumenwitZi Deutschland, S. 3042.

Der Vertrag vom 12. 9. 1990 über die abschließende Regelung in bezug auf

35

Zit. nach /. von Münch (Hrsg.): Dokumente zur Wiedervereinigung Deutschlands, S. 68f.

36

Abgedruckt in I. von Münch (Hrsg.): Dokumente zur Wiedervereinigung Deutschlands, S.

79ff.

§ 5: Die Bedeutung dieses Ansatzes für den EV

35

Plan einer "Vertragsgemeinschaft" vom 17. November 1989 revidierte 37 , und danach, am 2. März 1990, der Brief Modrows an Gorbatschow, in dem er die Sowjetunion bat, bei den Verhandlungen zur Wiedervereinigung bezüglich der Eigentumsordnung von ihren Rechten als Siegermacht Gebrauch zu machen. 38 Schließlich gab die DDR mit der Präambel des Verfassungsgrundsätzegesetzes vom 17. Juni 1990 ein positives Bekenntnis zur staatlichen Einheit Deutschlands ab. 39 Vorher war bereits die alte Präambel der DDR-Verfassung mit ihrem Wort vom "Volk der Deutschen Demokratischen Republik" aufgehoben worden. 40 Dennoch erscheint es nicht als sicher, daß die veränderten Grundüberzeugungen der DDR allein eine andere Bewertung der Rechtsnatur als beim Grundlagenvertrag rechtfertigen. Damit dem Vertrag objektiv ein Doppelcharakter zukommen kann, müssen sich Völker- und staatsrechtliche Elemente aus dem Vertragstext selbst ableiten lassen. Eine ausdrückliche Festlegung auf einen Doppelcharakter des Vertrags ist nicht erfolgt. Lediglich mit der Inkraftsetzungsformel in Art. 45 Abs. 1 wurde eine spezifisch deutsch-deutsche Formulierung verwandt, die von dem abweicht, was sonst völkerrechtlich üblich ist. Angesichts der speziellen Materie eines Einigungsvertrags wäre eine rechtliche Feststellung dessen, was faktisch evident ist (Fortbestehen der deutschen Nation; Besonderheit der Beziehungen), absurd gewesen. Daher wurde die Rechtsnatur des Vertrags bei den Verhandlungen auch nicht thematisiert. 41 Somit stellt sich die Frage, ob sich aus dem Vertragstext selbst objektive Anhaltspunkte dafür ergeben, daß es sich bei dem Einigungsvertrag um einen Vertrag sui generis handelt. Dies wäre zweifellos dann der Fall, wenn die Parteien den Vertrag für die Zeit bis zum Beitritt einer anderen Rechtsordnung als der des Völkerrechts unterwerfen wollten. Zwar wäre es möglich gewesen, den

37

Hier war noch vom "Volk der DDR", vom "uneingeschränkten Respektieren beider Staaten" und von "kooperativer Koexistenz" die Rede; Ministerpräsident Modrow am 17. Nov. 1989 vor der Volkskammer, zit. nach /. von Münch (Hrsg.): Dokumente zur Wiedervereinigung Deutschlands, S. 33ff. (33, 56). 38

Vgl. /. von Münch (Hrsg.): Dokumente zur Wiedervereinigung Deutschlands, S. 112f.

39

DDR-GB1.1 S. 299ff.

40

§ 1 des Gesetzes vom 5. Apr. 1990; DDR-GB1.1 S. 221.

41

B. Schmidt-Bleibtreu, Der Staats vertrag in seiner rechtlichen Gestaltung und Umsetzung, in K. Stern/B. Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.): Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Band 1, S. 52. Hier findet sich auch ein Hinweis, daß die DDR das Verhältnis nach wie vor als völkerrechtliches betrachtete. 3*

36

2. Teil: Die Rechtsnatur des EV dem 3. Okt. 1990

Vertrag schon vom Ratifizierungszeitpunkt an der bundesdeutschen Rechtsordnung zu unterstellen; wenn Art. 45 Abs. 2 jedoch festlegt, daß der Vertrag mit dem Beitritt als Bundesrecht fortgilt, folgt daraus zwingend, daß er zuvor nicht innerhalb dieses rechtlichen Rahmens gestanden hat. Im übrigen fehlt der erkennbare Wille der Parteien, den Vertrag nicht dem Völkerrecht zu unterstellen, weswegen die grundsätzliche Vermutung zur Geltung dieser Rechtsordnung greift. Ebenfalls nicht überzeugen können Versuche, nur aus der Materie des Vertrags auf Besonderheiten seiner Rechtsnatur zu schließen. Zwar trifft es tatsächlich zu, daß die staatliche Einigung zuvor regelmäßig durch besondere Beziehungen zwischen den beiden Staaten gekennzeichnet ist, rechtlich zwingend ist dies keineswegs. Schlösse die Bundesrepublik den gleichen Vertrag mit Frankreich, wäre dieser unstreitig rein völkerrechtlicher Natur. Zu berücksichtigen ist jedoch folgendes: Bereits durch den Staatsvertrag sind staatsrechtliche Strukturen begründet worden. Die DDR hat wesentliche Souveränitätsrechte an die Bundesrepublik abgetreten, hier insbesondere an die Bundesbank und an den Gesetzgeber. 42 Ferner wurden unter anderem gemeinsame Regierungsausschüsse vereinbart. 43 Zwar braucht eine Währungsunion nicht zwingend zu einem staatsrechtlichen Verhältnis zweier Staaten zu führen 44 ; hier besteht jedoch die Besonderheit, daß die staatliche Einigung als zweiter Schritt intendiert ist. 45 In der Präambel des Staatsvertrags wurde ausdrücklich auf Art. 23 GG a.F. Bezug genommen, so daß eine völkerrechtliche Bindung beider Seiten zu diesem Weg der Vereinigung entstanden ist. 4 6 Schließlich ist Art. 2 Abs. 1 des Staatsvertrags zu erwähnen, der bereits zur Geltung wesentlicher Verfassungselemente des Grundgesetzes in der DDR geführt hat. Insofern ist die Position der Bundesrepublik von der Gemengelage zwischen Völker- und Staatsrecht durch den Staatsvertrag zu einem Faktum geworden, 42 Nach Art. 3 Satz 2 2. HS Staatsvertrag galten die von der DDR in Kraft zu setzenden Rechtsvorschriften der Bundesrepublik in der jeweils gültigen Fassung. Die Volkskammer verlor dadurch die Änderungskompetenz über wichtige Rechtsgebiete. 43

Vgl. Art. 8 des Staatsvertrags.

44

Dies zeigt das Beispiel Belgiens und Luxemburgs.

45

J.A. Frowein, Die Verfassungslage Deutschlands im Rahmen des Völkerrechts, VVDStRL 49, S. 7ff. (25). 46

K. Stern, Der Staatsvertrag im völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Kontext, S. 43.

§ 5: Die Bedeutung dieses Ansatzes für den EV

37

das die DDR durch den Abschluß des Staatsvertrags mitgeschaffen und anerkannt hat. Für den Einigungsvertrag kommt noch hinzu, daß er auf einen Beitritt der DDR nach Art. 23 GG a.F. ausgelegt ist. Die Beitrittserklärung in der Volkskammer wurde rund einen Monat vor der Ratifizierung des Einigungsvertrags abgegeben. Damit wurde durch die DDR im Vertrags werk selbst anerkannt, daß sie Teil eines im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fortbestehenden Gesamtdeutschland war. Wäre sie anderer Auffassung gewesen, hätte sie nicht den Weg über Art. 23 GG nehmen können. Mithin kann man zusammenfassen, daß anders als beim Grundlagenvertrag die Theorie vom Doppelcharakter des Vertrags und seiner besonderen Rechtsnatur nicht allein die subjektive Rechtsauffassung der Bundesrepublik war, sondern mit Zustimmung der DDR als objektiv vereinbart angesehen werden kann. 47 Im Gegensatz zur Situation beim Grundlagenvertrag, als die Bundesrepublik eher defensiv argumentieren mußte, ihre Ansicht vom Doppelcharakter des Vertrags sei mit seinem Inhalt auch vereinbar, gehen nun beim Einigungsvertrag beide Seiten davon aus, es handele sich um einen Vertrag mit besonderem Charakter. Die voranstehenden Feststellungen sind für das dogmatische Problem der Rechtsnatur des Einigungsvertrags von Bedeutung. Die Veränderungen in der Rechtsnatur des Einigungsvertrags nach dem Beitritt vollziehen sich ausgehend von einer rechtlichen Natur sui generis, die sowohl Völker- als auch staatsrechtliche Elemente enthält. Die praktischen Auswirkungen dieses Ergebnisses sind, wie auch beim Theorienstreit zum Grundlagenvertrag, gering. Wie bereits gesagt, unterstand der Vertrag dennoch bis zum Beitritt dem Völkerrecht. Weiterhin hatte er die Rechtsnatur sui generis nur für ganze zwei Wochen zwischen der Ratifizierung in Bundestag und Volkskammer am 20. September und dem Beitritt am 3. Oktober 1990. Angesichts dieser kurzen Dauer haben sich die Vertragsparteien nicht mehr der Mühe unterzogen, ihr Verhältnis für den zu

47

A.A. O. Kimminich, wonach der Einigungs vertrag ein rein völkerrechtlicher Vertrag sei, Disussionsbeitrag, in K. Stern, Deutsche Wiedervereinigung, Band 1, S. 16f. So auch K. Doehring, Bindungen der Bundesrepublik Deutschland an das Grundgesetz bei Abschluß des Einigungsvertrages mit der DDR (A) und die Bestandskraft des Einigungs Vertrages (B), in R. Wildenmann (Hrsg.): Nation und Demokratie, S. 2Iff. (21). Rein staatsrechtlichen Charakter hat der Einigungsvertrag dagegen nach A. Graf von Schliefen, Die Wiedervereinigung Deutschlands - Die Legende von der Vorbedingung, in B. J. Sobotka (Hrsg.): Burgen, Schlösser, Gutshäuser in MecklenburgVorpommern, S. 149ff. (156).

38

2. Teil: Die Rechtsnatur des EV dem 3. Okt. 1990

überbrückenden Zeitraum zu regeln. Alle Regelungen des EinigungsVertrags mit Ausnahme der Grundgesetzänderungen erlangen ihre rechtliche Bedeutung erst mit Wirksamwerden des Beitritts.

Dritter Teil

Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

§ 6: Fortgelten des Vertrags Mit der Wiedervereinigung ging die DDR als Völkerrechtssubjekt unter. 1 Legt man die allgemeinen Vorschriften des Völkerrechts zugrunde, so muß man trotz der im einzelnen sehr umstrittenen Regelungen2 der Staatensukzession in völkerrechtliche Verträge davon ausgehen, daß zumindest die Verträge der Partner, die zu einem Rechtssubjekt verschmelzen, untergehen. 3 Der Sache nach leuchtet es ein, daß für den Einigungsvertrag etwas anderes gelten muß. Dem Ziel der DDR-Regierung, Sonderrechte auszuhandeln, die auch nach dem Untergang des Staates DDR im gemeinsamen Deutschland fortgehen 4, konnte nur ein Vertrag dienen, der auch über den 3. Oktober 1990 hinaus Gültigkeit hat. Der Einigungsvertrag verfolgt dieses Anliegen in Art. 45 Abs. 2, worin ausdrücklich die Fortgeltung des Vertrags nach Wirksamwerden des Beitritts angeordnet wird. Ob der Hinweis auf diese Bestimmung allein ausreichend ist, 1

Allg. Meinung: Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S. 356; U. Drobnig, Das Schicksal der Staatsverträge der DDR nach dem Einigungsvertrag, DtZ 1991, S. 76ff. (78); E. Klein, Stichwort: Deutschlands Rechtslage, in W. Weidenfeld/K.R. Körte (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Einheit, S. 226ff. (227). 2 Bezeichnend ist die Kapitelüberschrift bei St. Oeter, German Unification and State Succession, ZaöRV 51 (1991), S. 349ff.: The Chaotic Status of State Succession. Siehe auch K. Doehring, Die Anwendung der Regeln der völkerrechtlichen Sukzession nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. 3 A.R. Anker, Der Einigungsvertrag, seine Rechtsqualität und die Grenzen seiner Abänderbarkeit, DöV 1991, S. 1062ff. (1063). 4

Vgl. etwa die Regierungserklärung von Ministerpräsident de Maizière vor der Volkskammer vom 19. Apr. 1990; zit. nach /. von Münch (Hrsg.): Dokumente zur Wiedervereinigung Deutschlands, S. 198.

40

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

um das Weitergelten des Vertrags begründen zu können, erscheint fraglich. Wenn nämlich die DDR untergeht, erfaßt der damit grundsätzlich verbundene Untergang ihrer

völkerrechtlichen

Verträge

selbstverständlich auch den

Schlußartikel 45 Abs. 2. Ohne weiteres von der Hand zu weisen ist die Bemerkung also nicht, nach der Art. 45 Abs. 2 dem Versuch ähnelt, sich am eigenen Schöpfe aus dem Sumpf zu ziehen.5 Das nach wie vor rechtskräftige bundesdeutsche Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag würde in diesem Fall die Anwendung eines Nullum anordnen.6 Letztlich greifen diese Überlegungen allerdings ins Leere. Die Argumentation fußt einseitig darauf, daß im Beitrittszeitpunkt die DDR und mit ihr alle ihre Verträge untergehen. Für exakt den gleichen Augenblick, also "mit dem Wirksamwerden des Beitritts", ordnet Art. 45 Abs. 2 jedoch die Fortgeltung des Einigungsvertrags an. Offensichtlich schließen sich beide Alternativen gegenseitig aus. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß Eingliederungsverträge regelmäßig für die Zeit "danach" geschlossen werden. So liegt es auch hier: Eine Vielzahl der Rechtsfolgen, die der Einigungsvertrag anordnet, entsteht erst "mit Wirksam werden des Beitritts". Da kaum anzunehmen ist, daß die Vertragsparteien den Einigungsvertrag ohne rechtliche Relevanz ausstatten wollten, ist Art. 45 Abs. 2 so auszulegen, daß er eine logische Sekunde vor dem Untergang aller Verträge der DDR Wirksamkeit erlangt. Der Wille der Vertragspartner spricht eindeutig für eine Fortgeltung des Einigungsvertrags. Auf bundesdeutscher Seite hielt man dies für so selbstverständlich, daß man Art. 45 Abs. 2 nur deklaratorischen Gehalt zubilligen wollte. Hat man ihn dennoch in den Vertragstext aufgenommen, so geschah dies unter Berücksichtigung des besonderen Regelungsinteresses der DDR. 7

5

A.R. Anker, S. 1065.

6

Jedenfalls dann, wenn man der Vollzugslehre folgt, nach der das Vertragsgesetz den Befehl zur innerstaatlichen Anwendung des völkerrechtlichen Vertrags gibt. Anders ist das Ergebnis nach der Transformationstheorie, wonach das Vertragsgesetz ein innerstaatliches Spiegelbild der völkerrechtlichen Regelung schafft. Nach diesem Ansatz ergibt sich eine Verdoppelung des Vertragsinhalts mit jeweils unterschiedlicher Rechtsquelle. Der Einigungsvertrag gilt danach in dem Zustimmungsgesetz fort. Vgl. R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 195f., mit Hinweisen zu beiden Theorien. 7

W. Schäuble, Der Einigungsvertrag, S. 296f.

§ 7: Die Β indungsWirkung des Vertrags - Grundlegende Aussagen

41

Zum gleichen Ergebnis kommt man, folgt man der Theorie von Frowein, wonach es eine rechtliche Kategorie der Eingliederungsverträge gibt, die grundsätzlich nach dem Untergang eines Vertragspartners fortgelten. 8 Art. 45 Abs. 2 sieht bezüglich des Weitergeltens keine Einschränkungen vor. Der Vertrag wird daher mit allen Anlagen, Protokollerklärungen und der Vereinbarung zur Durchführung und Auslegung des Einigungsvertrags vom 18. September 1990 zu einer gültigen Rechtsquelle im geeinten Deutschland. Dieses gilt, unbeschadet der noch zu behandelnden Möglichkeit des gesamtdeutschen Gesetzgebers, den Vertrag zu verändern, zeitlich unbegrenzt.

§ 7: Die Bindungswirkung des Vertrags für den Gesetzgeber im geeinten Deutschland - Grundlegende Aussagen Nachdem die Frage der Fortgeltung des Vertrags geklärt ist, muß als Konsequenz eine Bindung von Exekutive und Judikative an die Normen des Einigungsvertrags angenommen werden. Ausgehend von der andauernden Gültigkeit des Vertrags läßt sich das Problem der fortdauernden Bindung des gesamtdeutschen Gesetzgebers an die Vereinbarungen dagegen nicht lösen. Dieser Aspekt ist, wie bereits oben angedeutet wurde, ausgesprochen umstritten. Vorrangig ist zu fragen, woraus sich eine Bindungswirkung für den gesamtdeutschen Gesetzgeber ergeben könnte. Von vornherein ausscheiden kann man eine staatsrechtliche Einschränkung der Abänderbarkeit auf Grund des Wiedervereinigungsgebots: Dessen Inhalt war zwar, daß die faktische Teilung nicht vertieft werden darf und sie zu überwinden ist. 9 Da aber die Rechtsgrundlagen des Gebots im Grundgesetz durch den Einigungsvertrag gestrichen worden sind 10 , scheiden Nachwirkungen dieses Satzes auf die heutige Rechtslage aus.

8 J.A. Frowein, (1970), S. Iff. (10). 9

A.R. Anker, S. 1066.

10

GG.

Der Eingliederungsvertrag im Völkerrecht und im Staatsrecht, ZaöRV 30

Art. 4 regelt die Änderung der Präambel und des Art. 146 sowie die Streichung des Art. 23

42

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

I. Bindung über das Völkerrecht

Wie bereits oben erwähnt, hat der Einigungsvertrag mit dem Beitritt seinen auch-völkerrechtlichen Charakter verloren und ist Teil der innerstaatlichen Rechtsordnung des Bundesrepublik geworden. 11 Damit scheint eine Bindung des Gesetzgebers an den Vertragstext über die Rechtsordnung des Völkerrechts ausgeschlossen. Etwas anderes käme nur dann in Betracht, wenn das Völkerrecht auch innerhalb des Bundesstaates zur Anwendung kommen könnte. Für die Bundesrepublik hat das Bundesverfassungsgericht solche Ansätze mehrfach abgelehnt.12 Für diese Auffassung spricht die engere Integration der einzelnen Länder des Bundesstaates und der damit verbundene Verdrängungseffekt des völkerrechtlichen durch das bundesstaatliche Modell. 1 3 Zu prüfen bleibt aber die Möglichkeit einer analogen Anwendung des Völkerrechts. Dabei ist davon auszugehen, daß sich Völkerrecht um so weniger anwenden läßt, je weiter die Entwicklung zum Einheitsstaat fortgeschritten ist. In der Präambel des Grundgesetzes findet sich das Wort vom "Deutschen Volk", was eine be wußte Ablehnung eines durch Bündnis zustandegekommenen Staatswesens bedeutet.14 Der Parlamentarische Rat hat einen bestimmten Grad an Einheitlichkeit mithin als gegeben unterstellt. Berücksichtigt man weiter die zunehmende Tendenz zur Vereinheitlichung seit 1949 15 , so verschwindet der Raum zur Anwendung des Völkerrechts völlig. Im übrigen setzt jede Analogie eine planwidrige Lücke voraus. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch zu Recht darauf hingewiesen, daß das Bund-Länder-Verhältnis im Grundgesetz abschließend geregelt ist. 16

11 E. Klein, Der Einigungsvertrag, S. 571; a.A. H. Wagner, Zur weiteren Verbindlichkeit des Einigungsvertrages, DtZ 1992, S. 142f. (142). Wagner übersieht jedoch, daß unter den Vertragsparteien Einigkeit herrschte über die ausschließliche Geltung der bundesdeutschen Rechtsordnung ab dem Beitrittsdatum. Dies wird in Art. 45 Abs. 2 zum Ausdruck gebracht. 12

BVerfGE 1,14ff. (51); BVerfGE 34, 216ff. (232).

13

A. Bleckmann, Völkerrecht im Bundesstaat? Gedanken zum zweiten Coburg-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Januar 1973, SchwJblntR 29 (1973), S. 9ff. (41). 14

Th. Maunz in M/D, Präambel/Randnr. 29.

15

Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 92, Randnr. 221; HP. Schneider, Die bundesstaatliche Ordnung im vereinigten Deutschland, NJW 1991, S. 2448ff. (2449). 16

BVerfGE 1, 14ff.(52).

§ 7: Die indungsirkung des Vertrags - Grundlegende Aussagen

43

Eine Bindung des gesamtdeutschen Gesetzgebers infolge des ursprünglichen völkerrechtlichen Charakters des Einigungsvertrags besteht somit nicht; es kommt allenfalls eine Bindung an bestimmte Inhalte des Einigungsvertrags auf Grund anderer Verträge, namentlich des 2+4-Vertrags, in Frage. 17

I I . Bindung des einfachen Gesetzgebers über den Grundsatz vom Vorrang der Verfassung

Das Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag wurde mit verfassungsändernden Mehrheiten beschlossen. Dies war wegen der Grundgesetz-Änderungen in Art. 4 unstreitig erforderlich. Falls auch andere Vorschriften des Einigungsvertrags Verfassungsrang hätten, wäre der gesamtdeutsche einfache Gesetzgeber an diese Regelungen gebunden. Wenn Art. 45 Abs. 2 anordnet, der Vertrag gelte als Bundesrecht fort, so folgt daraus, daß er Teil der innerstaatlichen Rechtsordnung geworden ist, was wiederum bedeutet, daß er dem Bundesverfassungsrecht untersteht, soweit er nicht selbst Verfassungsrang hat. 18 Letzteres kann man nicht ohne weiteres unter Verweis auf den Ausdruck "Bundesrecht" in Art. 45 Abs. 2 leugnen, denn dieser wird grundsätzlich weit interpretiert und umfaßt sämtliche von dem Rechtssetzungsprogramm des Bundes erlassenen Rechtsvorschriften, also auch das Grundgesetz. 19 Entsprechend wird der Begriff in den Artt. 25 und 31 GG verstanden. 20 Im Einigungsvertrag wird der Terminus "Bundesrecht" dagegen nur ein weiteres Mal in Art. 8 verwandt, und hier ergibt sich aus dem Zusammenhang eindeutig, daß damit nicht die Rangstufe des Verfassungsrechts gemeint ist, sondern nur das einfache Recht. Auch für Art. 45 Abs. 2 wird der Begriff Bun-

17

Dazu siehe unten § 20 III.

18

E. Klein, Der Einigungsvertrag, S. 571.

19

W. Schmitt Glaeser, Stichwort: Bundesrecht, in H. Tilch (Hrsg.): Münchener Rechts-Lexikon, Band 1, S. 767. 20

Vgl. etwa B. Pieroth in Jarass/Pieroth, Art. 31/Randnr. 2.

44

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

desrecht in der amtlichen Denkschrift grundsätzlich als einfaches Bundesrecht ausgelegt.21 Andererseits wäre es möglich gewesen, nur dem Art. 4 isoliert in dem Verfahren nach Art. 79 Abs. 1, 2 GG zuzustimmen, und den Einigungs vertrag im übrigen in der Form eines einfachen Bundesgesetzes zu ratifizieren. Statt dessen wurde bewußt die Notwendigkeit geschaffen, die Verpflichtung aus Art. 79 Abs. 2 GG zu einer Zustimmung mit Zwei-Drittel-Mehrheit für den gesamten Vertrag zu beachten. Merten erörtert in diesem Zusammenhang, ob es ranggleiches Verfassungsrecht außerhalb des Verfassungstextes geben könne. 22 Er kommt rechtsvergleichend mit Blick auf Österreich und rechtshistorisch mit Bezug auf die Weimarer Republik zu dem Ergebnis, daß eine solche Möglichkeit teilweise besteht. Für das Grundgesetz sei dies jedoch durch Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG ausgeschlossen. Der Parlamentarische Rat wollte mit dieser Norm eine be wußte Abkehr von der im Kaiserreich und der Weimarer Republik möglichen "Durchlöcherung der Verfassungssätze" 23 vollziehen. 24 Das Grundgesetz stellt mithin die Regel auf, daß Verfassungsänderungen nur durch Verfassungstextänderungen möglich sind. Zwar enthält Art. 24 GG eine Ausnahme von diesem Grundsatz, durch die letztlich Verfassungsdurchbrechungen durch einfaches Bundesgesetz möglich werden 25 , doch ist diese Vorschrift auf den Einigungsprozeß nicht anwendbar. Darüber hinaus wirft Stern die Frage auf, ob "man nicht überhaupt Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG gegenüber völkerrechtlich veranlaßten Grundgesetzänderungen außer Anwendung lassen will." 2 6 Gegen eine solche Ansicht wird zu Recht der Wille des Parlamentarischen Rates (s.o.) vorgebracht. Zudem wäre die rechtsstaatliche Bestimmtheit gefährdet, da gerade bei völkerrechtlichen Verträgen oftmals unklar sein kann, ob eine unverbindliche Absichtserklärung oder 21

Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S. 377; vgl. auch oben bei § 2.

22

D. Merten, Grundfragen des Einigungsvertrages unter Berücksichtigung beamtenrechtlicher Probleme, S. 52ff. 23

P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reichs, Band 2, S. 39.

24

D. Merten, Grundfragen des Einigungsvertrages unter Berücksichtigung beamtenrechtlicher Probleme, S. 53; vgl. auch Th. Maunz in M/D, Art. 25/Randnr. 23. 25 26

BVerfGE 58, Iff. (36); B.-O. Bryde in vM, Ait. 79/Randnr. 12.

K. Stern, Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit, in ders JB. Schmidt-Bleibtreu Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Band 2, S. 3ff. (390·

(Hrsg.):

§ 7: Die ΒindungsWirkung des Vertrags - Grundlegende Aussagen

45

eine bindende Vertragsbestimmung vorliegt. 27 Unklarheiten über den Inhalt der Verfassung sollten durch Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG aber gerade vermieden werden. Auch das besondere Verfassungsänderungsverfahren nach Art. 79 Abs. 1 Satz 2 GG greift nicht ein. 28 Somit sind allein Verweisungen vom Grundgesetz auf außerverfassungsrechtliche Normen zulässig, wie sie etwa in Artt. 140, 143 Abs. 3 GG zu finden sind. Für den Einigungsvertrag mit Ausnahme seines Art. 4 bleibt folglich nur der Unterverfassungsrang, so daß sich eine Bindung des Gesetzgebers nicht über den Grundsatz vom Vorrang der Verfassung ableiten läßt. In die gleiche Richtung weist für die Staatszielbestimmungen im Einigungsvertrag 29 die Überlegung, daß auch der Gesetzgeber offenbar nicht vom Verfassungsrang dieser Bestimmungen ausgegangen ist. Die Empfehlung in Art. 5, über die Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz zu diskutieren, macht keinen Sinn, hätten die genannten Bestimmungen in den Artt. 3Iff. formellen Verfassungsrang. 30 Daraus folgt a maiore ad minus, daß die zahlreichen Überleitungsbestimmungen und Maßgaben bei der Einführung von Bundesrecht ebenfalls keinen Verfassungsrang haben. Der in der amtlichen Denkschrift geäußerten Auffassung ist daher insoweit zuzustimmen. Auch die Staatspraxis geht vom Unterverfassungsrang des Einigungsvertrags aus. 31 Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, daß der Einigungsvertrag über Art. 45 Abs. 2 Teil der innerstaatlichen Rechtsordnung geworden ist und mit Ausnahme seines Art. 4 in der Normenhierarchie unter dem Verfassungsrecht steht. Gegenteilige Bemühungen der D D R 3 2 sind gescheitert. Über den verfassungsrechtlichen Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes ist die Exekutive an die

27

D. Merten, Grundfragen des Einigungsvertrages unter Berücksichtigung beamtenrechtlicher Probleme, S. 57. 28 Bereits die Erfüllung der sachlichen Voraussetzungen ist zweifelhaft; jedenfalls fehlt es an der "unerläßlichen Ergänzung des Wortlautes des Grundgesetzes"; vgl. D. Merten, Grundfragen des EinigungsVertrages unter Berücksichtigung beamtenrechtlicher Probleme, S. 63ff. 29

Beispielsweise in den Artt. 31 Abs. 1, 33 Abs. 1, 34 Abs. 1.

30

So auch D. Merten, Verfassungsprobleme der Versorgungsüberleitung, S. 90.

31

Der Einigungsvertrag wurde bereits mehrfach durch einfaches Gesetz geändert; vgl. stellvertretend das Hemmnisbeseitigungsgesetz, das Regelungen in Anlage II des Einigungsvertrags änderte; BGBl. 1991 I, S. 766ff. 32 vgl. ι de Maizière, "Ich mache keine Sperenzchen", Interview mit dem DDR-Ministerpräsidenten, Der Spiegel 1990, Heft 31, S. 18ff. (20).

46

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

Bestimmungen des Einigungsvertrags gebunden. Gleichzeitig werden allerdings die Bedenken größer, ob der Vertrag auch die Legislative bindet und spätere Änderungen verhindert.

I I I . Bindung über den Grundsatz "pacta sunt servanda"

Über Art. 25 GG ist der völkerrechtliche Grundsatz "pacta sunt servanda" als allgemeine Regel des Völkerrechts Teil der innerstaatlichen Rechtsordnung der Bundesrepublik geworden. 33 Nachdem die Frage früher sehr umstritten war, ist es heute ganz herrschende Meinung, daß die allgemeinen Regeln des Völkerrechts dem Rang nach über den einfachen Gesetzen, jedoch unter dem Verfassungsrecht stehen.34 Insofern könnte man überlegen, ob über das Vehikel der innerstaatlichen Rechtsnorm "pacta sunt servanda" wenigstens einfachgesetzliche Änderungen des Einigungsvertrags verhindert werden könnten. Eine solche Argumentation wird von der herrschenden Meinung aber zu Recht zurückgewiesen. Der Grundsatz "pacta sunt servanda" verwandelt die einzelnen Normen völkerrechtlicher Verträge nicht ebenfalls in allgemeine Regeln des Völkerrechts, 35 vielmehr hängt der Rang des Vertragsinhalts vom Rang des Zustimmungsgesetzes ab. 36 Andernfalls wäre es möglich, daß zahlreiche spezielle Regeln des Völkerrechts, nämlich die vertraglich vereinbarten, dem innerstaatlichen Recht vorgingen, was offenbar von Art. 25 GG nicht gewollt wird. Es bleibt somit zunächst bei dem Grundsatz "lex posterior derogat legi priori". Eine Bindungswirkung des gesamtdeutschen Gesetzgebers an die Normen des Einigungsvertrags über Art. 25 GG abzuleiten, ist nicht möglich.

33

Allg. Meinung; vgl. BVerfGE 31, 145ff. (178); Th. Maunz in M/D, Art. 25/Randnr. 20.

34

BVerfGE 37, 271ff. (279); H.D. Jarass in Jarass/Pieroth, Art. 25/Randnr. 6. Für eine frühere Ansicht vgl. etwa E. Menzel in BK, Art. 25 (Erstbearb.), S. 10, wonach es "gar nicht zweifelhaft sein kann, daß die allgemeinen Regeln des Völkerrechts selbst dem Verfassungsrecht vorgehen." 35

BVerfGE 31, 145ff. (178); O. Rojahn in vM, Art. 25/Randnr. 38, M. Zuleeg in AK, Art. 25/Randnr. 25; a.A. W. Grewe, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, VVDStRL 12, S. 129ff. (149). 36

H.D. Jarass in Jarass/Pieroth, Art. 25/Randnr. la.

§ 8: Die Bindungswirkung in früheren Eingliederungsverträgen

47

§ 8: Die Bindungswirkung in früheren Eingliederungsverträgen In der deutschen wie in der internationalen Verfassungsgeschichte ist ein Eingliederungsvertrag wie der hier vorliegende nichts grundsätzlich Neues. Es lassen sich historische Vorbilder für die verschiedensten Arten solcher Verträge finden. Besonders wichtig sind die völkerrechtlichen Eingliederungsverträge, da die Parallele zum Einigungsvertrag hier am nächsten liegt. In diesem Bereich sind die Novemberverträge von 1870 und der deutsch-französische Vertrag zur Eingliederung des Saarlandes von 1956 zu nennen. Ferner gibt es Eingliederungsverträge auf Länderebene, wie beispielsweise den durch die Verfassungsgerichtsentscheidungen berühmt gewordenen Vertrag zwischen Bayern und Coburg. Schließlich existieren zahlreiche im Zuge der Gemeindereform entstandenen Eingliederungsverträge. Im folgenden soll untersucht werden, welche Schlußfolgerungen aus der Behandlung dieser Verträge für den Einigungsvertrag und insbesondere für eine Bindungswirkung des gesamtdeutschen Gesetzgebers gezogen werden können. Begonnen wird mit den Novemberverträgen, da diese völkerrechtlicher Art sind und durch sie wie beim Einigungsvertrag die Existenz eines Vertragspartners als Völkerrechtssubjekt beendet wurde. Zuvor sollen aber noch kurz einige Beispiele für die Problematik aus dem internationalen Bereich gestreift werden.

I. Die Stellung des Vertragsrechts in anderen Ländern

In Großbritannien war vor einigen Jahren ein etwas absonderlich anmutender Fall zu entscheiden, in dem es um den Rang der Act of Union, dem Zustimmungsgesetz zu dem Vereinigungsvertrag zwischen England und Schottland von 1707 ging. Daß der Act of Union fortgilt, stand fest; fraglich war, ob er durch späteres Gesetz verdrängt werden konnte. 37 Konkret ging es darum, ob Elisabeth II. in Schottland als Elisabeth I. Königin sei, weil die erste Elisabeth vor der Union nur in England regiert hatte. Die Klage im sogenannten Royal-

37

K. Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Band 1, S. 28.

48

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

Numarals-Case 38 wurde abgewiesen wegen fehlender Aktivlegitimation und auch, weil der Act of Union über diese Problematik keine Aussage machte. Obwohl dieser Fall atypische Besonderheiten aufweist, zeigt er doch die grundlegende Tendenz, daß sich britische Gerichte sehr schwer tun, die Rechte untergegangener Rechtssubjekte gegen das nunmehr gemeinsame Parlament zu stützen. Ursächlich hierfür ist der verfassungsrechtliche Grundsatz der "parliamentary supremacy", wodurch die Fälle der Nichtigkeit eines Gesetzes ohnehin stark reduziert werden. Dem folgend erkennt die Praxis allenfalls eine moralische Bindung an den Act of Union an. 39 Ähnlich verfahren Gerichte in ehemals britischen Kolonien. Ein australisches Gericht entschied, daß eine Beschränkung der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes durch einen Vertrag nicht möglich sei 40 , und aus Indien sind ebenfalls Fälle bekannt, in denen sich Gerichte zwar an einen Vertrag, aber auch an spätere abändernde Gesetze gebunden fühlten. 41 Schließlich wird auch in Frankreich der Eingriff des Gesetzgebers in Verträge wegen dessen umfassender Souveränität für möglich gehalten.42 Anders ist die Rechtslage in der Schweiz, in der der Vorrang des interkantonalen Vertragsrechts vor dem kantonalen Gesetzesrecht anerkannt ist. Das abweichende Gesetz ist jedoch nicht nichtig, sondern wird für die Dauer der Gültigkeit des Vertrags nur suspendiert. 43 Für das österreichische Recht wird von Rill die Auffassung vertreten, die Vertragserfüllung sei ein bundesverfassungsrechtliches Gebot. Dies führt faktisch zu einem Vorrang des Vertragsrechts bei Gliedstaatsverträgen, da vom Vertragsrecht abweichendes, später erlassenes Landesrecht "mit Rücksicht auf die ipso iure mit dem Inkrafttreten des Vertrages begründete Bindung der Legislative, für die Vertragserfüllung zu sorgen,

38

Mac Cormick v. Lord Advocate, [1953] Scots Law Times 255; zit. nach K. Loewenstein, S.

70. 39

K. Loewenstein, S. 28f. Vgl. auch S. 70, wo sich ein Hinweis auf die parallele Entwicklung in den USA im Zusammenhang mit den Indianer-Verträgen findet. 40 Kean v. The Commonwealth of Australia, Federal Law Report 5 [1963] 432; zit. nach J.A. Frowein, Der Eingliederungsvertrag im Völkerrecht und im Staatsrecht, S. 8f. 41 S.K. Agrawala, The Doctrine of Act of State and the Law of State Succession in India, ICLQ 12(1963), p. 1399ff. (1402f.). 42 43

Vgl. J.A. Frowein, Die Bindung des Gesetzgebers an Verträge, S. 303.

W. Schaumann, Verträge zwischen Gliedstaaten im Bundesstaat, VVDStRL 19, S. 86ff. (110, 128f.); BGE 81 I 351ff. (358ff.); vgl. auch D. Zech, Verträge zwischen Gliedstaaten im Bundesstaat, S. 215, 304f.

§ 8: Die Bindungswirkung in früheren Eingliederungsverträgen

49

bundesverfassungswidrig und damit der verfassungsgerichtlichen Verwerfung ausgesetzt"44 ist. Als Resultat dieses knappen Überblicks ist zu konstatieren, daß das Problem im Ausland unterschiedlich gelöst wird. Dabei fällt auf, daß die eher zentralistisch organisierten Staaten wie Frankreich oder Großbritannien - und die übrigen in der englischen Rechtstradition stehenden Länder - dem Vertragsrecht nur geringe Bedeutung zukommen lassen, während die Bundesstaaten Schweiz und Österreich eine wesentlich vertragsfreundlichere Rechtsordnung kennen. Dies mag daran liegen, daß im Bundesstaat eine Beschränkung der Allmacht des Bundesgesetzgebers ohnehin eine Selbstverständlichkeit darstellt und man deswegen auch eine Bindung an Vertragsrecht eher hinzunehmen geneigt ist. Ob diese Feststellungen in ähnlicher Weise auf die bundesstaatlich organisierte Bundesrepublik zutreffen, soll im folgenden zuerst rechtshistorisch und danach mit Blick auf die Rechtslage unter dem Grundgesetz erörtert werden.

II. Die Novemberverträge von 1870

1. Historischer Sachverhalt

Durch die Bundesverträge mit Baden und Hessen, Bayern und Württemberg vom 15., 23. und 25. November 1870 45 traten die süddeutschen Staaten dem 1867 gegründeten Norddeutschen Bund bei oder gründeten gemeinsam mit diesem - die Rechtslage ist nach wie vor streitig 46 - das Deutsche Reich. Diese Verträge änderten die Verfassungen der Vertragsparteien, da sie im Norddeutschen Bund eine Abschwächung der preußischen Hegemonie bewirkten und für die süddeutschen Staaten die Aufgabe der staatlichen Souveränität bedeute-

44

HP. Rill, Gliedstaatsverträge, S. 491,644.

45

E.R. Huber, Dokumente, Band 2, Nr. 219, 220, 223.

46

Im Kaiserreich herrschend war die Ansicht, ein Beitritt habe stattgefunden; dagegen mit gewichtigen Argumenten E.R. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 760ff. m.w.N. für beide Ansichten. Letztlich überzeugt die Meinung Hubers allerdings nicht, vgl. R. Wahl, Die deutsche Einigung im Spiegel historischer Parallelen, Der Staat 1991, S. 181ff. (197, 203). 4 Hiich

50

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

ten. 47 Die am 1. Januar 1871 in Kraft getretene Verfassung des Bundes bestand somit aus mehreren Teilen, den genannten Verträgen und ihren Schlußprotokollen, sowie dem Beschluß über die Einführung der Bezeichnungen Kaiser und Reich. 48 Die Verträge erklärten einheitlich die Verfassung des Norddeutschen Bundes zur Verfassung des Reiches, enthielten aber zusätzlich von den Ländern ausgehandelte Reservatrechte. Diese Sonderrechte hatten somit zunächst Verfassungsrang. Wegen der Unübersichtlichkeit dieser aus mehreren Teilen bestehenden Verfassung begann man bald nach dem Beitritt der süddeutschen Staaten mit einer Überarbeitung, die allerdings nur redaktionelle Veränderungen vorsah. 49 Es gelang jedoch nicht, die gesamte Reichsverfassung in einer Urkunde zusammenzufassen. Insbesondere wurden die Schlußprotokolle zu den Verfassungsverträgen, die zahlreiche Sonderregelungen zugunsten der süddeutschen Staaten enthielten, nicht in den Verfassungstext übernommen. 50

2. Inhalt der Sonderrechte

Mit Laband sind drei Gruppen von Sonderrechten zu unterscheiden: 51 Es gab zunächst Ausnahmen von der grundsätzlichen Kompetenzregelung der Reichsverfassung zugunsten der süddeutschen Staaten. So galt beispielsweise die Gesetzgebung des Reichs über das Immobiliarversicherungswesen oder die Heimat- und Niederlassungsverhältnisse nicht in Bayern. Viele Autoren vertraten die Ansicht, daß nur auf die Sonderrechte dieser Untergruppe die Bezeichnung Reservatrecht zuträfe. 52 Schließt man sich dem an, ist der Terminus für die

47

E.R. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 745.

48

E.R. Huber, Dokumente, Band 2, Nr. 232.

49

E.R. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 756f.

50

K. Kröger, Einführung in die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte (1806-1933), S. 92f.

51

P. Laband, Der Begriff des Sonderrechts nach Deutschen Reichsrecht, in G. Hirth (Hrsg.): Annalen des Deutschen Reichs 1874, Sp. 1487ff. (1508). Hier findet sich auch eine Auflistung aller Reservatrechte, ebenso in ders., Das Staatsrecht des deutschen Reiches, Band 1, S. 118ff. 52

Vgl. etwa P. Laband, Der Begriff des Sonderrechts nach Deutschen Reichsrecht, Sp. 1508. Dies wurde in neuerer Zeit von Th. Maunz in M/D, Art. 138/Randnr. 2, übernommen.

§ 8: Die Bindungswirkung in früheren Eingliederungsvertragen

51

zweite Gruppe, den Mitgliedschaftsrechten, ungeeignet. Zu diesen organisatorischen Sonderrechten zählten etwa das Recht Preußens auf das Präsidium des Bundes, Art. 11 RVerf, oder Rechte auf Zugehörigkeit zu bestimmten Bundesratsausschüssen. Schließlich gab es Sonderrechte finanziellen Inhalts.

3. Sicherung der Sonderrechte

Die meisten der von den süddeutschen Staaten ausgehandelten Sonderrechte wurden in die Verfassung vom 16. April 1871 aufgenommen und durch Art. 78 Abs. 2 abgesichert, der eine Änderung dieser Rechte nur mit Zustimmung des betroffenen Staates ermöglichte. Dabei war die Reichweite des Art. 78 Abs. 2 RVerf sehr umstritten. 53 Entscheidend ist jedoch, daß für die in die Verfassung aufgenommenen Sonderrechte der Art. 78 Abs. 2 RVerf der einzige - und ausreichende - Bestandsschutz war. Daß diese Sonderrechte ursprünglich per Vertrag vereinbart worden waren, spielte in der Wissenschaft keine Rolle mehr. 54 Konsequenterweise ging man mit dem Erlöschen der Reichsverfassung nach der Revolution von 1918/19 auch vom Erlöschen dieser Sonderrechte aus. Wie bereits angedeutet, wurden bestimmte Sonderrechte nicht in die Verfassung vom 16. April 187 1 5 5 aufgenommen. Es handelt sich dabei um Rechte, die in den Schlußprotokollen der Novemberverträge enthalten waren. § 3 des Verfassungsgesetzes vom 16. April 1871 regelte die Fortgeltung dieser Protokolle. Den Grund für die Nichtaufnahme dieser Rechte in die Verfassungsurkunde sah man in dem "teils vorübergehenden, teils erläuternden, teils administrativen Charakter" 56 dieser Rechte. Andere Sonderrechte wurden erst im Fall eines Bedingungseintritts relevant und wohl deswegen nicht in die Verfassungsurkunde

53 Streitig war insbesondere, ob die Vorschrift auch die sogenannten Organisationsprivilegien schützt, wie etwa die ständige bayerische Mitgliedschaft im Heeresausschuß oder das bayerische Recht auf den Vorsitz im Auswärtigen Ausschuß; vgl. G. Meyer/G. Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, S. 702. m.w.N. 54 Die meisten Autoren differenzierten nach verfassungsmäßigen und vertragsmäßigen Sonderrechten. Letztere waren solche, die nicht in die Verfassung aufgenommen worden sind. Vgl. G. Meyer/G. Anschütz, S. 704; J.B. Kittel, Die bayerischen Reservatrechte, S. 18, 20.

4*

55

ER. Huber, Dokumente, Band 2, Nr. 261.

56

Motive zum Verfassungsgesetz vom 16. Apr. 1871; zit. nach J.B. Kittel, S. 21.

52

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

übernommen: So galt das Reservatrecht Bayerns auf dem Gebiet des Immobiliarversicherungswesens nur für den Fall, daß sich das Reich (zukünftig) mit dieser Materie befasen werde. 57 Schwierig zu beantworten ist die Frage, wie die Bestandskraft der Schlußprotokolle gesichert werden sollte. Sie waren, wie die ganze Verfassung nach dem 1. Januar 1871 sowohl Verfassung wie auch Vertrag. Da § 3 des Verfassungsgesetzes die Unberührtheit dieser Rechte anordnete, hätte es nahe gelegen, ihre Bestandskraft ebenfalls als verfassungsrechtlich abgesichert anzusehen und Art. 78 Abs. 2 RVerf per Analogie auf diese Sonderrechte zu erstrekken. Tatsächlich gingen zahlreiche Wissenschaftler von der Anwendbarkeit des Art. 78 Abs. 2 RVerf auf alle Sonderrechte (=iura singulorum) aus. 58 Andere meinten, daß Art. 78 Abs. 2 RVerf sich nur auf die Sonderrechte der Reichsverfassung (= iura singularia) beziehe.59 Der Fortbestand der Reservatrechte wurde allerdings allgemein angenommen.60 Entscheidend ist, daß beide Auffassungen nicht die verfassungsrechtliche Absicherung als Wirksamkeitsvoraussetzung für ein Sonderrecht verlangten. Auch die Vertreter der zuerst genannten Ansicht, die Art. 78 Abs. 2 RVerf für anwendbar hielten, sahen in dieser Vorschrift nur eine an sich unnötige Festschreibung eines allgemeinen Grundsatzes. 61 Dabei beriefen sie sich insbesondere auf die Äußerungen handelnder Politiker 62 und auf die entsprechenden Formulierungen in den Schlußprotokollen. 63 Für die andere Ansicht war Art. 78

57 IV. des Schlußprotokolls zum Bundesvertrag mit Bayern vom 23. Nov. 1870; vgl. E.R. Huber, Dokumente, Band 2, Nr. 221. 58 A. Arndt, Verfassung des Deutschen Reichs, S. 370; M. von Seydel, Commentar zur Verfassungsurkunde für das Deutsche Reich, S. 421; beide m.w.N. 59

G. Meyer/G. Anschütz, S. 705; O. Nirrnheim y Der Begriff des Reservatrechts im Sinne der Verfassung des Deutschen Reiches, AöR 25 (1909), S. 579ff. (621). 60

J.A. Frowein, Der Eingliederungsvertrag im Völkerrecht und im Staatsrecht, S. 3.

61

M. von Seydel, S. 419; P. Laband, Der Begriff des Sonderrechts nach Deutschen Reichsrecht, Sp. 1523. 62 63

Wiedergegeben bei M. von Seydel, S. 421-424.

Der Inhalt des späteren Art. 78 Abs. 2 RVerf wurde im Protokoll zum Bundesvertrag mit Baden und Hessen Nr. 8 "allseitig als selbstverständlich angesehen"; vgl. E.R. Huber, Dokumente, Band 2, Nr. 219.

§ 8: Die Bindungswirkung in früheren Eingliederungsverträgen

53

Abs. 2 RVerf ohnehin nicht anwendbar, so daß diese die Bestandskraft der Rechte direkt aus deren Vertragscharakter ableitete.64 Die Tatsache, daß die Bestandskraft der Sonderrechte in den Schlußprotokollen nicht aus der Verfassung abgeleitet wurde, hatte zur Folge, daß die Gültigkeit dieser Rechte über 1918/19 hinaus vertreten wurde: In den sechziger Jahren war streitig gewesen, ob Rechte Bayerns bezüglich des Immobiliarversicherungswesens65 noch fortgelten. Dies hatte das bayerische Innenministerium unter Berufung auf den Vertragscharakter des Protokolls behauptet. Demgegenüber vertrat Bachof die Ansicht, die Redaktion der Verfassung vom 18. April 1871 könne nichts daran ändern, daß es sich um eine durch Vereinbarung zustande gekommene Verfassung handele und somit auch die Protokolle formell und materiell Verfassungsrecht seien. Folglich seien diese Bestimmungen mit der Revolution 1918/19 außer Kraft getreten. 66 Für diese Ansicht scheint zu sprechen, daß sich andernfalls die als weniger wichtig erachteten Bestimmungen der Schlußprotokolle als bestandfester erweisen könnten, als die in die Reichsverfassung aufgenommenen Reservatrechte. Letztere sind unstreitig spätestens mit Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung unwirksam geworden, während ein Außerkrafttreten vertragsmäßiger Rechte schwieriger zu begründen ist. Das Argument, eine höhere Bestandsfestigkeit der Schlußprotokolle könne 1870 nicht gewollt worden sein, überzeugt allerdings nicht: Die Verfassung von 1871 hatte einen Ewigkeitsanspruch 67, so daß jeder Gedanke an eine stärkere Bestandskraft der Schlußprotokolle, die dadurch sozusagen noch "ewiger" geworden wären, absurd angemutet hätte. Man kann sich also schwerlich auf den Willen der Verfassungsgeber berufen; dieser pflegt die Folgen einer Revolution gegen seine Verfassung nicht einzukalkulieren und hat sich regelmäßig über die Folgen einer solchen Entwicklung gar keinen Willen gebildet. Entgegen Bachof hing die Bestandskraft des Reservatrechts nicht von der Gültigkeit der Reichsverfassung ab (s.o.). Im Ergebnis dürfte Bachof dennoch zuzustimmen sein. Nach drei fundamentalen Umwälzungen in Deutschland und

64

G. Meyer/G. Anschütz, S. 705.

65

Protokoll, Ziffer IV; vgl. E.R. Huber, Dokumente, Band 2, Nr. 221.

66

O. Bachof, Verfassungsrecht vergeht, Reservatrecht besteht?, FS Walter Will, S. 1 Iff. (27f.).

67

Die Präambel charakterisiert die Verfassung als "ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes [...]"; vgl. E.R. Huber, Dokumente, Band 2, Nr. 261.

54

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

95 Jahren spricht manches für die Anwendung der "clausula rebus sie stantibus" 68 . Der Rechtsstreit endete mit einem Vergleich.

4. Schlußfolgerungen

Fest steht, daß im Kaiserreich die Existenz von außerhalb der Verfassung stehenden Reservatrechten anerkannt war. Das Prinzip, daß diese nicht ohne Zustimmung des betroffenen Landes abgeändert werden durften, wurde nicht aus der Verfassung abgeleitet. Wenn zum Teil Art. 78 Abs. 2 RVerf für anwendbar gehalten wurde, so betrachtete man diese Vorschrift als Ausfluß eines allgemeingültigen Gedankens, der aus dem Vertragscharakter der Sonderrechte folgte und diesen per se anhaftete. Auch über die Reservate hinaus spielte das Zustandekommen der Verfassung im Vertragswege in der Verfassungspraxis des Kaiserreichs eine bedeutende Rolle. Nach Bismarck war der einleitende Satz der Verfassung, welcher das bündische Element herausstellt, "die verfassungsmäßige Definition des Reiches". 69 Daß die vertraglichen Elemente der Verfassung insbesondere die Arbeit des Bundesrates als Organ der Vertragspartner beeinflußten 70, überrascht in diesem Zusammenhang nicht. Für den Einigungsvertrag bedeutet die Anerkennung vertraglicher Reservate, daß die dauerhafte Existenz von Sonderrechten zugunsten der neuen Länder nicht unter Berufung darauf bestritten werden kann, es fehle eine verfassungsmäßige Absicherung der Nichtänderbarkeit. Vielmehr kann der vertragliche Ursprung als solcher Bindungswirkungen auslösen. Ferner schaffen die Verträge einen Präzedenzfall in der deutschen Rechtsgeschichte; die Erweiterung eines Bundesstaates durch Beitritt anderer Teile Deutschlands71 war 1990 keine Premiere. Dazu kommt der auch für den Einigungsvertrag charakteristische Wechsel in der Rechtsnatur von einem völkerrechtlichen zu einem rein staats-

68

Siehe dazu unten, § 23.

69

Reichstagsrede vom 9. Juli 1879, zit. nach H. Bauer, Die Bundestreue, S. 40f.

70

H. Bauer, S. 41f. m.w.N.

71

Vgl. Art. 23 Satz 2 GG a.F

§ 8: Die Bindungswirkung in früheren Eingliederungsverträgen

55

rechtlichen Vertrag an einem bestimmten Beitrittsstichtag. 72 Schließlich gibt es ein Vorbild, wonach Sonderrechte wegen ihres Vertragscharakters als bestandsfest galten. Problematisch erscheint jedoch, aus diesem historischen Vorbild endgültige Ergebnisse für die Bestandskraft und Abänderbarkeit des Einigungsvertrags abzuleiten. Dies liegt daran, daß die süddeutschen Staaten 1870 qualitativ wesentlich höhere Rechte aushandeln konnten als die DDR 1990. Die wichtigsten Sonderrechte 1870 waren Ausnahmen von Verfassungsbestimmungen, besondere Mitgliedschaftsrechte und Ausnahmen von der Reichskompetenz. 1990 wurde das geänderte Grundgesetz mit einer wichtigen Ausnahme, die eine Abweichung zum Nachteil des Beitrittsgebiets enthält 73 , komplett eingeführt. Der Großteil des Einigungsvertrags besteht daraus, Ausnahmebestimmungen und Maßgaben bei der Einführung einfachen Gesetzesrechts festzulegen. Zum Teil wurde neues Recht geschaffen, wie etwa mit dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen. 74 Der entscheidende Unterschied zur Verfassung von 1871 ist, daß diese Sonderbestimmungen unter dem Verfassungsrecht stehen75, während die Schlußprotokolle neben der Reichsverfassung standen.76 Wegen dieses grundsätzlich unterschiedlichen Charakters ist eine abschließende Bewertung nicht möglich.

5. Die Annexion Elsaß-Lothringens

Nur am Rande gestreift werden sollen die sich im Zusammenhang mit der Abtretung Elsaß-Lothringens an das Deutsche Reich ergebenden Aspekte. Im

72 Vgl. F. Giese, Bundesstaatsgründung einst und jetzt, FS 10 Jahre Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, S. 63ff. (b6). 73 Art. 7 regelt die Finanzverfassung abweichend vom Grundgesetz. Die weitere Ausnahme, wonach Art. 131 GG keine Anwendung findet (Art. 6 EV), ist von geringer praktischer Relevanz. 74

Ani. II, Kap. III, Sachgeb. B, Abschn. I, Nr. 5, BGBl. 1990 II, S. 1159ff.; geändert durch Gesetz vom 22. März 1991, BGBl. I S. 766ff. 75 Andernfalls wäre eine verfassungsrechtliche Absicherung, wie in Artt. 135a Abs. 2, 143 GG geschehen, nicht erforderlich. 76

Bis zur Redaktion der Reichsverfassung waren sie gleichrangiger Teil des Vertragswerks, und in § 3 des Verfassungsgesetzes wurde ihre Unberührtheit durch dieses Gesetz festgestellt (s.o.).

56

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

Präliminar-Friedensvertrag vom 26. Februar 1871 77 hatte Frankreich der Verschiebung seiner Landesgrenze nach Westen zustimmen müssen. Die Aufnahme des Gebiets in das Reich als Reichsland Elsaß-Lothringen erfolgte durch Gesetz vom 9. Juli 187 1 7 8 . In diesem Fall ergeben sich zwar auch die Fragen des Aufeinanderpralls zweier Rechtsordnungen 79, Sonderrechte zugunsten des Gebiets innerhalb der Rechtsordnung des Reichs wurden allerdings nicht vereinbart 80 . Es galt das Recht des Siegers, was trotz der Proklamation einer "Wiedervereinigung" zu einer lang andauernden Benachteiligung des Reichslandes führte. Erst 1911 erhielt Elsaß-Lothringen eine Verfassung und wurde gleichberechtigter Gliedstaat des Deutschen Reichs. 81

I I I . Die Rückgliederungen des Saarlandes

1. Die Rückkehr zu Deutschland im Jahre 1935

Durch den Versailler Vertrag (VV) von 1919 82 wurde das Saarland als politische Einheit aus ehemals preußischen und bayerischen Gebieten geschaffen und dem Völkerbund treuhänderisch unterstellt. In § 2 der Anlage zu den einschlägigen Artt. 45ff. V V wurde Frankreich das Eigentumsrecht auf die saarländischen Kohlelager zugesprochen. Art. 49 V V ordnete nach Ablauf einer Frist von 15 Jahren eine Volksabstimmung der Saarbevölkerung an, "sich für diejenige Staatshoheit zu entscheiden, unter welche sie [seil, die Bevölkerung] zu treten wünscht". Durch die Treuhandverwaltung des Völkerbundes wurde

77

RGBl. S. 215ff.

78

RGBl. S. 212f.

79

Französisches Recht galt grundsätzlich fort; vgl. E.R. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 4, S. 440. 80

Eine geringwertige Ausnahme kann in der Bestimmung gesehen werden, die den Betroffenen ermöglichte, Elsaß-Lothringen unter Mitnahme des Vermögens in Richtung Frankreich zu verlassen. 81

Gesetz vom 31. Mai 1911; RGBl. S. 225ff.

82

RGBl. S. 687ff.

§ 8: Die Bindungswirkung in früheren Eingliederungsverträgen

57

das Saarland rechtlich nicht aus dem deutschen Staatsverband herausgelöst. Dies wäre erst 1935 bei anderem Abstimmungsergebnis möglich gewesen.83 Am 13. Januar 1935 entschieden sich 90,73 % der Saarbevölkerung für die Vereinigung 84 mit Deutschland; die Souveränitätsbegrenzung wurde wieder aufgehoben. Für das hier zu verfolgende Ziel enthält die Rückgliederung von 1935 kaum einen Aspekt, aus dem bei vergleichender Betrachtung Lehren zu ziehen wären. Die Bevölkerung hatte sich ohne Wenn und Aber für eine Rückkehr zu Deutschland ausgesprochen, eine Verhandlung über Sonderrechte war nicht vorgesehen. Erst recht dachte man nicht an den Abschluß eines Eingliederungsvertrags. Die Verträge mit Frankreich vom 3. Dezember 1934 und 18. Februar 1935 85 behandelten hauptsächlich Fragen der Währungsumstellung und den Rückkauf französischen Staatseigentums an unbeweglichem Vermögen im Saarland, insbesondere den Kohlebergwerken, dessen Eigentum der Versailler Vertrag Frankreich zugesprochen hatte. Geringe besondere Zusicherungen Deutschlands wurden lediglich in dem Schreiben vom 3. Dezember 1934 86 an den Präsidenten des vom Völkerbund eingesetzten Ratsausschusses für das Saargebiet gemacht, in dem für den Fall eines deutschen Abstimmungserfolgs allen interessierten Personen binnen eines Jahres die Ausreise aus dem Saarland unter Mitnahme des Vermögens gestattet wurde. Innerstaatlich wurde die Eingliederung auf denkbar einfache Weise vollzogen: In zwei Gesetzen vom 30. Januar 1935 87 wurden das Amt eines Reichskommissars für die Rückgliederung des Saarlandes geschaffen, die Einführung von Reichsgesetzen auf dem Verordnungswege ermöglicht 88 und dem Saarland acht Abgeordnete im Reichstag zugesprochen, die von Hitler persönlich zu ernennen waren. Da dem nationalsozialistischen Regime unentziehbare Sonder-

83 W. Fiedler, Die Rückgliederungen des Saarlandes an Deutschland - Erfahrungen für das Verhältnis zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR?, JZ 1990, S. 668ff. (670). 84

Hoheitsrechtlich: den Verbleib.

85

RGBl. 1935 II, S. 126ff., 135ff.

86

RGBl. 1935 II, S. 125.

87

RGBl. I S. 66ff.

88

Zum hohen Tempo der Rechtsangleichung vgl. W. Herrn, Die verfassungsrechtliche Lage des Saarlandes während der Übergangszeit, S. 17.

58

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

rechte für einen Staatsteil ohnehin wesensfremd gewesen wären, kann diese Form der Einverleibung nicht überraschen.

2. Die Rückgliederung des Jahres 1957 - Historischer Sachverhalt

89

Nachdem Frankreich 1945 die Besatzungsmacht im Saarland übernommen hatte, begann es recht bald damit, die Abtrennung dieses Gebiets vom Deutschen Reich zu betreiben. Auf Druck französischer Stellen 90 wurde am 15. Dezember 1947 eine Verfassung verabschiedet, die diese Politik bestätigte. In der Präambel der Saarverfassung wurden die politische Unabhängigkeit des Saarlandes vom Deutschen Reich und seine wirtschaftliche Anlehnung an Frankreich proklamiert. Zwar endete mit Inkraftsetzen der Verfassung das Besatzungsregime, das Saarland wurde aber nicht souverän, denn die Franzosen hatten sich wesentliche Rechte vorbehalten. 91 Eine demokratische Legitimation konnte diese Verfassung nicht für sich beanspruchen. 92 Auch von französischer Seite wurde die Situation nach 1947 zum Teil als illegal empfunden. 93 Mit dem deutsch-französischen Saarabkommen vom 23. Oktober 1954 94 sollte ein europäisches Statut für das Saarland geschaffen werden. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und dem Saarland sollten ausgebaut werden, die Partei- und Vereinszulassung sowie das Versammlungsrecht wurden liberalisiert; schließlich sollte nicht mehr Frankreich allein, sondern ein der Westeuropäischen Union verantwortlicher Europäischer Kommissar für die auswärtigen Angelegenheiten und die Verteidigung des Saarlandes zuständig sein. Als entscheidend sollte sich erweisen, daß die Saarbevölkerung zur Ab-

89 Einen Überblick gibt W. Thieme, Die Entwicklung des Verfassungsrechts im Saarland von 1945 bis 1958, JöR 9 (1960), S. 423ff. 90

Die französischen "Richtlinien" für die Saarverfassung sind abgedruckt bei R. Stöber (Hrsg.): Die saarländische Verfassung vom 15. Dezember 1947 und ihre Entstehung, S. 2f. 91

W. Thieme, Die Entwicklung des Verfassungsrechts im Saarland von 1945 bis 1958, S. 429f.

92

W. Thieme, Die Entwicklung des Verfassungsrechts im Saarland von 1945 bis 1958, S. 449f.

93

G. Héraud , Le Statut politique de la Sarre dans le cadre du rattachement économique à la France, Revue Générale de Droit International Public 1948, p. 186ff. (193). 94

BGBl. 1955 II, S. 296ff.; vgl auch BVerfGE 4, 157ff.

§ 8: Die Bindungswirkung in früheren Eingliederungsverträgen

59

Stimmung über das Statut zu den Urnen gerufen wurde. Eine Mehrheit von 67,7 % der Bevölkerung lehnte das Statut am 23. Oktober 1955 ab, was allseits als Wille zur Rückkehr zu Deutschland aufgefaßt wurde. 95 Nach diesem Ergebnis hat die französische Regierung die politische Rückgliederung des Saarlandes an Deutschland schnell akzeptiert. Sie hat jedoch versucht, ihrem Land möglichst weitreichende wirtschaftliche Vorteile zu sichern. 96 Es folgten erneute Verhandlungen zwischen Deutschland und Frankreich, die mit dem Saarvertrag vom 27. Oktober 1956 97 abgeschlossen wurden. Parallel dazu wurden im Hinblick auf die zu erwartende Eingliederung durch den saarländischen Landtag eine Reihe vorbereitender gesetzgeberischer Anpassungsmaßnahmen getroffen. 98

3. Inhalt des Saarvertrags

99

In Art. 1 wurde das Grundgesetz mit Wirkung vom 1. Januar 1957 im Saarland eingeführt. Gleichzeitig wurden zahlreiche, insbesondere wirtschaftliche Fragestellungen betreffende Übergangsregelungen zugunsten Frankreichs vereinbart. So ist das französische Wirtschaftsrecht erst mit Ende der vereinbarten Übergangszeit außer Kraft getreten. 100 Während dieser Periode vertrat Frankreich das Saargebiet in internationalen Konferenzen bezüglich Zoll- und Währungsfragen. Entsprechende Abkommen Frankreichs fanden auch im Saargebiet Anwendung. Auch wurden die deutsche Staatsgewalt und die Geltung des Grundgesetzes für die Übergangszeit beschränkt. 101

95

Zur Volksabstimmung vgl. Κ Altmeyer, Die Volksbefragung an der Saar vom 23. Oktober 1955, EA 1956, S. 9049ff. 96

R.H. Schmidt, Saarpolitik 1945 - 1957, Band 3, S. 517.

97

BGBl. II, S. 1587ff.

98

Vgl. W. Herrn, S. 26f.

99

Einen Überblick gibt L. Dischler, Das Saarland 1956 - 1957, Die Rückgliederung: Darstellung mit Dokumenten. 100

P. Krause, Verfassungsentwicklungen im Saarland 1958 bis 1979, JöR 29 (1980), S. 393ff.

(400). 101

Vgl. W. Thieme, Gesetzgebung über das Saarland während der Übergangszeit, JR 1957, S. 40Iff. (401).

60

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

Die Übergangsregelungen wurden zwischen Deutschland und Frankreich vereinbart, das nationale Eingliederungsgesetz 102 war demgegenüber von geringerer Bedeutung. 103

Das einzugliedernde Gebiet hatte staatsrechtlich die

Verfassung von vereinigungsfeindlichen Vorschriften zu befreien, seine Regierung wurde bei den Vertragsverhandlungen umfassend konsultiert. Partner eines völkerrechtlichen Eingliederungsvertrags wurde es jedoch nicht.

4. Schlußfolgerungen

Anders als 1956 wurde 1990 das untergehende Gebiet Vertragspartner der Bundesrepublik. Die spezifischen Probleme des Einigungsvertrags, nämlich die Bindungswirkung des Vertrags nach Untergang eines Vertragspartners, stellten sich damals nicht. Vertragspartner war das fortbestehende Frankreich, das gegebenenfalls völkerrechtlich die Beachtung der ausgehandelten Sonderbestimmungen verlangen konnte. 104 Die Dispositionsbefugnis des bundesdeutschen Gesetzgebers war insoweit beschränkt. 105 Die Sonderrechte wurden nach 1957 mithin rein völkerrechtlich gesichert. Eine völkerrechtliche Sicherung des Einigungsvertrags hätte mit den Siegermächten als Garantiemächte erreicht werden können. Ein solcher Schritt wurde jedoch nicht gegangen. Dennoch waren die Ereignisse der Jahre 1956 bis 1959 Vorbild für die Verhandlungsführer beim Einigungsvertrag, zeigten sie doch, wie schwierig sich die Einführung nationalen Rechts selbst in ein relativ kleines Gebiet erweisen kann, das zudem die gleiche Wirtschaftsordnung hatte. 106 Stark diskutiert war 102

BGBl. 1956 I, S. 101 Iff.

103

R. Wahl, Die deutsche Einigung im Spiegel historischer Parallelen, S. 200.

104

Die über den 1. Jan. 1957 hinaus fortdauernde Gültigkeit dieses Vertrags war unstreitig; vgl. F. Münch, Stichwort: Saargebiet, in H.J. Schlochauer (Hrsg.): Wörterbuch des Völkerrechts, Band 3, S. 146ff. (147). 105 ψ Widhofer,

Die Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik Deutschland, S. 67.

106 Bemerkenswerterweise wurde das Bundesrecht trotz - oder gerade wegen - der fundamentalen Unterschiede in der ehemaligen DDR im Grundsatz uno actu eingeführt, während dieses Verfahren mit einer Negativliste im Saarland erst mit Ende der Übergangszeit verwendet worden ist (BGBl. 1959 I, S. 313ff.). Über die Gründe: W. Schäuble, Aufbau des Rechtsstaates in den neuen Bundesländern, FS Herbert Helmrich y S 143ff. (149ff); ders., Der Einigungsvertrag, S. 299; ders., Der Vertrag, S. 14.

§ 8: Die Bindungswirkung in früheren Eingliederungsvertrgen

61

damals die Frage, inwieweit Art. 23 Satz 2 GG a.F. die schrittweise Inkraftsetzung des Grundgesetzes ermögliche und zeitweilige Abweichungen von der Verfassung legitimieren könne. 107 Dies wurde von der herrschenden Meinung unter Berufung auf das Saarurteil 108 zwar grundsätzlich bejaht, dennoch haben es die Vertragspartner beim Einigungsvertrag - wegen Qualität und Quantität der Abweichungen wohl sinnvollerweise - vorgezogen, "auf Nummer sicher" zu gehen, und den Art. 143 Abs. 1, 2 ins Grundgesetz eingeführt. 109 Somit konnte der Saarvertrag im Einigungsprozeß zwar bei der Problematik herangezogen werden, inwieweit eine verfassungsrechtliche Absicherung der Sonderregelungen erforderlich ist. Daneben waren die Erfahrungen aus der rechtlichen Integration des Saarlandes bei der konkreten Ausgestaltung des Einigungsvertrags von großem Nutzen. In der Frage der Absicherung seiner Bestandskraft gegenüber dem änderungsbereiten Gesetzgeber konnte er allerdings kein Vorbild sein.

IV. Der Erwerb Helgolands 1890 1 1 0

Auch bei dem Erwerb der Nordseeinsel Helgoland vor gut einhundert Jahren sind zugunsten der Inselbewohner einige Sonderrechte festgeschrieben worden. Die Rechte wurden in dem völkerrechtlichen Vertrag mit Großbritannien 111 festgelegt, der zugleich den Rechtsgrund für den Erwerb der Insel bildete. In Art. X I I des Vertrags wurde die Übergabe der Insel an Deutschland geregelt. Zugleich wurden einige Sonderrechte für die Inselbevölkerung vereinbart. Zu-

107

G. Halstenberg, Die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes über die Eingliederung des Saarlandes vom 23. Dezember 1956, S. 24ff., W. Widhofer, S. 80ff.; beide m.w.N. 108

BVerfGE 4,157ff.

109

Die verfassungsrechtliche Absicherung der Eigentumsregelung in den Artt. 135a Abs. 2, 143 Abs. 3 GG war in jedem Fall erforderlich, da hier eine nicht nur zeitweilige Abweichung vom Grundgesetz vorgesehen ist. 110 Vgl. H.P. Ipsen, Bemerkungen zu Helgolands eigentümlicher Rechtsgeschichte, SchleswigHolsteinische Anzeigen 1981, S. 169ff.; ders., Helgoland 100 Jahre deutsch, DöV 1990, S. 581ff. 111 Vertragstext bei M. Bahnen (Hrsg.): Quellen zur Deutschen Außenpolitik im Zeitalter des Imperialismus 1890 - 1911, Nr. 10, S. 23ff.; Art. XII findet sich vollständig bei J. Hohlfeld, Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart, Band 2, Nr. 3, S. 8ff.

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3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

gunsten der Helgoländer regelt Ziffer 4 des Artikels XII, wenn auch nicht unbedingt präzise, daß die heimischen Gesetze und Gebräuche möglichst bestehen bleiben sollten. Eindeutiger waren die Regelungen, die die vor Vertragsschluß Geborenen von der Wehrpflicht in Deutschland befreiten, sowie die Verpflichtung des Reichs, den Zolltarif auf der Insel bis zum Jahre 1909 nicht zu ändern. Schließlich handelten die Briten noch Anlegerechte für ihre Fischereiflotte aus. Innerstaatlich bedurfte die Wehrpflichtregelung der Umsetzung, was durch § 3 des Eingliederungsgesetzes 112 geschah. Die rechtshistorische Situation weist Parallelen zum vorherigen Kapitel auf, der Saarrückgliederung. Die rechtliche Absicherung der wenigen Sonderrechte erfolgte völkerrechtlich; Großbritannien konnte die Beachtung des Vertrags im Rahmen der Rechtsordnung des Völkerrechts verlangen. Die Helgoländer selbst wurden nicht Vertragspartner. Ergänzend sei auf eine Ausnahmebestimmung für Helgoland in der Weimarer Reichsverfassung hingewiesen. Als die Helgoländer Verhandlungen mit Großbritannien androhten, um sich wieder dessen Hoheit zu unterstellen, wurde am 6. August 1920 Art. 178 Abs. 2 Satz 3 in die Reichsverfassung aufgenommen 1 1 3 , der die Beibehaltung des überkommenen, mit demokratischen Grundsätzen nur schwerlich zu vereinbarenden Helgoländer Gemeindewahlrechts ermöglichte. Diese Besonderheiten endeten erst bei der Gemeindewahl am 16. März 1930. Ein Sonderrecht im oben definierten Sinne war dies nicht: Der Artikel legalisierte lediglich ähnlich wie Art. 143 GG heute die Abweichung von Bestimmungen der Reichsverfassung; das traditionelle Gemeindewahlrecht selbst wurde in einem jederzeit änderbaren einfachen Gesetz beschlossen.114

112

RGBl. 1890, S. 201 i.

113

RGBl. S. 1566.

114

Gesetz vom 11. Dez. 1920; PrGS. S. 541.

§ 8: Die Bindungswirkung in früheren Eingliederungsverträgen

63

V. Zusammenfassung

Angesichts der Gebietsänderungen, die Deutschland seit 1867 erfahren hat, ist es nicht erstaunlich, daß ein Eingliederungsvertrag wie der Einigungsvertrag kein Unikat ist. Er hatte Vorbilder, auch im internationalen Bereich, was in den wenigen Monaten des Jahres 1990 von erheblicher Bedeutung war. Diese Vorbilder waren insbesondere für die Regelungen des rechtlichen Alltags, also bei der Einführung der einfachen Gesetze von Bedeutung. Zwar hat man sich gleich für das im Saarland erst 1959 verwandte Prinzip der Negativliste 115 entschieden, doch konnte die Einführung von Bundesrecht nur so schnell gehen, weil man überhaupt Erfahrungen mit einer solchen Materie hatte. Ebenfalls nicht überraschen kann, daß es bei grundsätzlichen Fragen, zu der auch das Problem der rechtlichen Absicherung der vereinbarten Vertragsbestimmungen gehört, erhebliche Unterschiede zu den aufgezählten Parallelfällen gab: Anders als Helgoland und faktisch das Saarland war die DDR des Jahres 1990 rechtlich wie tatsächlich souverän. Die Sowjetunion war längst nicht mehr der "große Bruder", der auf alles ein Auge warf. Damit schied ein Vereinigungsmodell wie im Saarland aus: Beiden deutschen Staaten konnte nicht daran gelegen sein, die internationalen Bezüge der Einheit dadurch zu erweitern, daß man die Siegermächte zu Garantiemächten für den Einigungsvertrag gemacht hätte. Damit hätte nur die Gefahr weiterer Verzögerungen durch den hinhaltenden Widerstand einzelner Staaten bestanden. Zudem ging es hier um prinzipielle Souveränitätserwägungen. Gleichzeitig war die DDR trotz ihrer politischen Selbständigkeit nicht mehr lebensfähig. Mit Wegfall von Mauer und Staatsideologie hatte sie ihre Existenzberechtigung verloren; hinzu kam, daß die Mehrheit der Bevölkerung ihren weiteren Bestand auch nur für eine Übergangszeit ablehnte. In diesem politischen Klima vermochte die DDR-Regierung nicht mehr wie die Südstaaten 1870 eine Reihe von Sonderrechten auszuhandeln, die qua Verfassung oder auf sonst eindeutige Weise abgesichert waren. Wie bereits gesagt, können auch aus

115 Dies bedeutet, daß der Einigungsvertrag in Anlage I auflistet, welche Teile des Bundesrechts nicht oder nur mit Maßgaben in den neuen Ländern in Kraft gesetzt werden. Bei allen bisherigen Eingliederungen wurde zunächst zu Beginn positiv festgelegt, welche Teile des Rechts erstreckt werden sollten. R. Grawert, Rechtseinheit in Deutschland, Der Staat 30 (1991), S. 209ff. (217ff.); R. Wahl, Die deutsche Einigung im Spiegel historischer Parallelen, S. 204f.

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3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

dieser nächstliegenden Parallele keine endgültigen Schlüsse auf die genannte Problematik beim Einigungs vertrag gezogen werden. Das Ergebnis des historischen Teils der Arbeit kann dahingehend zusammengefaßt werden, daß Sonderrechte für bestimmte Landesteile gegenüber der Zentralgewalt in Deutschland eine rechtliche Tradition haben. Eine Bestandskraft des Einigungs Vertrags wäre nichts grundsätzlich Neues. Festzuhalten ist ferner, daß die historischen Eingliederungsverträge für die Beteiligten des Jahres 1990 eine wertvolle Quelle bildeten, insbesondere hinsichtlich der grundlegenden Methodik der Vertragsgestaltung. Gleichzeitig wird man aus dem rechtshistorischen Vergleich keine direkten Schlußfolgerungen auf die Bestandskraft des Einigungsvertrags ziehen können. Dafür weist die Vereinigung von 1990 zu große Unterschiede in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht auf.

§ 9: Die Rechtslage unter dem Grundgesetz

I. Sonderrechte im Verfassungstext

Im Grundgesetz findet sich mit einer Ausnahme kein Sonderrecht, das, vergleichbar mit der Reichs Verfassung von 1870/71, ein Land oder mehrere bevorzugt behandelt. Die Ausnahme enthält Art. 138 GG, der Änderungen des "Süddeutschen Notariats" von der Zustimmung der Regierungen dieser Länder abhängig macht. Damit knüpft Art. 138 GG an Art. 78 Abs. 2 RVerf an, ohne allerdings mit dieser Vorschrift vergleichbar zu sein. Während nämlich Art. 78 Abs. 2 RVerf eine Selbstverständlichkeit enthielt, die auch den pouvoir constitué band 116 , geht man bei Art. 138 GG allgemein von einer Bindung nur des einfachen Gesetzgebers aus. Eine Abschaffung des Art. 138 GG selbst bleibt möglich. Bemerkenswerterweise wird dies gerade damit begründet, daß das Sonderrecht nicht vertraglich abgesichert wurde. 117

116

Was nicht ausschließt, daß die Reservatrechte 1918/19 durch das Handeln des revolutionären pouvoir constituant untergegangen sind. 117 Th. Maunz in M/D, Art. 138/Randnr. 3; J. Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in HdbStR IV, § 98, S. 517ff. (Randnr. 134, Fußnote 347).

§ 9: Die Rechtslage unter dem Grundgesetz

65

Durch die neu eingefügten Artt. 135 a Abs. 2, 143 GG wurde kein selbständiges Sonderrecht geschaffen. Die Vorschriften dienen vielmehr nur der verfassungsrechtlichen Absicherung der ausgehandelten Vertragsbestimmungen. 118

I I . Die Bindungswirkung völkerrechtlicher Verträge am Beispiel des Konkordatsurteils

Beim sogenannten Konkordatsstreit 119 ging es um ein Normenkontrollverfahren, das der Bund gegen das Land Niedersachsen angestrengt hatte. Das Land hatte ein Schulgesetz erlassen, das gegen Bestimmungen des Reichskonkordats von 1933 verstieß. Fraglich war, ob das Konkordat überhaupt noch Geltung beanspruchen konnte, und falls ja, ob es Niedersachsen zu binden vermochte. Für das Thema dieser Arbeit sind weniger die Spezifika des Konkordatsstreits als vielmehr die generellen Erwägungen zum Verhältnis von Vertrags- und Gesetzesrecht relevant. Dennoch erscheint zum besseren Verständnis eine kurze Erwähnung der kirchenrechtlichen Besonderheiten geboten.

1. Die Ansichten in der Lehre

Schwierigkeiten bereitet bereits die rechtliche Einordunung der Staatskirchenverträge. Nachdem das Verhältnis zwischen Staat und Kirche früher grundsätzlich anders definiert worden ist 1 2 0 , entwickelte sich im säkularisierten Staat die heute unbestrittene Meinung, daß es sich bei solchen Vereinbarungen

118 M. Herdegen, S. 15, 18, 23; a.A. R. Steinberg, Die Verfassungsmäßigkeit des Restitutionsausschlusses sowjetzonaler Enteignungen im Einigungsvertrag, NJ 1991, S. Iff. (6). Steinberg vertritt, Art. 143 Abs. 3 GG entzöge dem einfachen Gesetzgeber die Dispositionsbefugnis über die Eigentumsregelungen. Dagegen sprechen allerdings Wortlaut und Stellung des Art. 143 Abs. 3. 119

BVerfGE 6, 309ff.

120

A. Frhr. von Campenhausen in von Mangoldt/Klein, Art. 140/Randnr. 49 m.w.N.

5 Hoch

66

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

um echte Verträge handele. 121 Die Konkordate werden dabei als echte oder zumindest quasi-völkerrechtliche Verträge bezeichnet, während die evangelischen Kirchenverträge mangels Eigenschaft der Landeskirchen als Völkerrechtssubjekt nur allgemein dem öffentlichen Recht zugeordnet werden. Eine andere rechtliche Beurteilung ergibt sich auf Grund dieses Unterschiedes nicht. 1 2 2 Diesem Ansatz folgend vertritt die herrschende Meinung zum Problem der fortdauernden Geltung von Vertragsrecht nach Inkraftsetzung eines abweichenden Gesetzes, es könne für Kirchenverträge nichts anderes gelten als allgemein für völkerrechtliche Verträge. 123 Dort wird vertreten, entscheidend sei der Rang des Zustimmungsgesetzes, so daß dem Vertragsrecht regelmäßig einfachgesetzliche Natur zukommt. 124 Zu unterscheiden ist mithin zwischen dem innerstaatlichen Können, das den Vertragsbruch ermöglicht 125 , und dem vertragsrechtlichen Dürfen. 126 Für die Anwendung dieser Grundregel im Bereich der Staatskirchenverträge wird auf die politische Wirklichkeit verwiesen, in der einseitiges staatliches Abrücken vom Vertragstext keine Seltenheit ist. 1 2 7

121

A. Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in HdbStR VI, § 138, S. 47Iff. (Randnr.

68). 122 4 F r h r v o n Campenhausen in von Mangoldt/Klein, Art. 140/Randnr. 50; A. Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, Randnr. 68f.; hier auch Nachweise für Versuche, den Verträgen eine andere Rechtsnatur zu geben. 123 K. Obermayer, Staatskirchenrecht im Wandel, DöV 1967, S. 9ff. (15); A. Frhr. von Campenhausen in von Mangoldt/Klein, Art. 140/Randnr. 58. 124

R. Herzog in M/D, Art. 20/Randnr. VI, 20; H. D. Jarass in Jarass/Pieroth, Art. 25/Randnr.

la. 125 Gegenüber dem Zustimmungsgesetz gilt innerstaatlich der allgemeine Grundsatz des Vorrangs des späteren Gesetzes. 126 127

Vgl. A. Höllerbach, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, VVDStRL 26, S. 57ff. (82).

Nachweise bei A. Frhr. von Campenhausen in von Mangoldt/Klein, Art. 140/Randnr. 55. Vereinzelt geblieben ist die weitergehende Auffassung, die Verträge selbst verlören ihre Wirksamkeit, "wenn und soweit ihnen eine lex posterior die gesetzliche Deckung entzogen hat", H. Quaritsch, Kirchenvertrag und Staatsgesetz, Hamburger FS Friedrich Schack, S. 125ff. (139). Quaritsch hatte ausgehend von den rechtsstaatlichen Grundsätzen vom Vorrang von Verfassung und Gesetz argumentiert, der Vertrag wäre rechtsstaatswidrig, erwiese er sich gegenüber dem späteren Gesetz als bestandskräftig. Für die Gegenmeinung: U. Scheuner, Kirchenverträge in ihrem Verhältnis zu Staatsgesetz und Staatsverfassung, in ders., Schriften zum Staatskirchenrecht, S. 355ff. (370f.).

§ 9: Die Rechtslage unter dem Grundgesetz

67

Die Gegenauffassung ist insbesondere von Hollerbach vertreten worden, der vom Primat des Vertragsrechts vor dem einfachen Gesetzesrecht ausgeht. 128 Er verweist auf die Vorschriften einiger Landesverfassungen 129, die Ausdruck dieser Rechtsüberzeugung seien. Ferner sei der Vorrang des Vertragsrechts Wille der Parteien. 130 Schließlich wird ein rechtfertigender Grund für die Abweichung von der Grundregel in der besonderen Eigenart der Staatskirchenverträge gesehen.131 Diese stünden unter dem Schutz der Verfassung und seien deshalb dem einfachen Gesetzgeber entzogen. 132 Die Auffassung hat sich nicht durchsetzen können: Der Hinweis auf die Vorschriften der Landesverfassungen ist wenig hilfreich, denn man kann ebenso gut argumentieren, ihre ausdrückliche Verankerung im Verfassungstext beweise gerade, daß im allgemeinen etwas anderes gilt. Auch der Hinweis auf den Parteiwillen erweist sich als problematisch. Natürlich will keine Partei, daß "gegen sie" Vertragsbruch begangen wird. Wegen der vertraglichen Bindung darf man folglich keinen Vertragsbruch begehen. Entscheidend ist jedoch, ob der Staat sich einseitig seines rechtlichen Könnens begeben w i l l . 1 3 3 Dies kann man nur bei Aufnahme einer entsprechenden Vorschrift in die Verfassung annehmen. Daß die Besonderheiten der Staatskirchenverträge allein eine abweichende Regelung von dem sonst üblichen Grundsatz rechtfertigen können, erscheint angesichts der "Grundvorstellungen von der Hoheit des Staates und der ihm vom Volke anvertrauten Entscheidungsmacht"134 als zweifelhaft. Gegen einen "verfassungsnahen Rang" der Verträge spricht schließlich, daß nicht ersichtlich ist, wie die Verträge zu diesem Rang kommen sollten. Die herr-

128

A. Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, S. 159f.; so auch A. Erler, Kirchenrecht, S. 119. 129

Art. 23 Abs. 2 LVerf NRW, Art. 67 Satz 2 LVerf Hessen.

130

Am Rande erwähnt sei can. 3 CIC, in dem die Kirche für ihren Rechtsbereich den Vorrang des Vertragsrechts anordnet. 131

Nach Hollerbach sind diese "Verträge sui generis"; Α. Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, S. 101; ders., Die Kirchen unter dem Grundgesetz, S. 83. 132 A. Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, S. 158; ders., Die Kirchen unter dem Grundgesetz, S. 83. 133

Es wird weitergehend vertreten, dies sei gar nicht möglich; vgl. K. Obermayer, S. 15.

134

U. Scheuner, Kirchenverträge in ihrem Verhältnis zu Staatsgesetz und Staatsverfassung, S.

369. 5*

68

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

sehende Lehre wendet daher bei Kirchenstaatsverträgen zu Recht den allgemeinen Grundsatz vom Vorrang der abweichenden lex posterior an.

2. Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts

Im Konkordatsurteil ist das Bundesverfassungsgericht der herrschenden dualistischen Lehre gefolgt. Es erkannte die fortdauernde völkerrechtliche Gültigkeit des Konkordats und damit die Bindung der Bundesrepublik an den Vertragstext an. 1 3 5 Aus dieser völkerrechtlichen Bindung könne jedoch keine innerstaatliche Bindung der jetzt nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes zuständigen Länder abgeleitet werden. Auch der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ändere hieran nichts. Im Gegenteil erachte das Grundgesetz eine verfassungsrechtliche Bindung des Gesetzgebers an das Vertragsrecht nicht für erforderlich. 136 Etwas anderes folgt nach Ansicht des Gerichts ebenso wenig aus Art. 25 GG: "Besondere vertragliche Vereinbarungen [...] genießen diese Vorrangstellung [seil, des Art. 25 GG] nicht. Der Gesetzgeber hat also die Verfügungsmacht über den Rechtsbestand auch dort, wo eine vertragliche Bindung besteht, sofern sie nicht allgemeine Völkerrechtssätze zum Gegenstand hat." 1 3 7 Für den Einigungsvertrag weist das Konkordatsurteil damit in eine Richtung, die eher gegen die Möglichkeit bestandsfester Sonderregelungen spricht.

135

BVerfGE 6, 309ff. (330ff.).

136

BVerfGE 6, 309ff. (363); die Entscheidung wurde bestätigt in BVerfGE 41, 88ff. (120f.) und in VGH BW ESVGH 17, 172ff. (175); a.A. Friesenhahn in der abweichenden Meinung zum Konkordatsurteil. Danach verbietet das Verfassungsprinzip der Rechtsstaatlichkeit einen Vertragsbruch; vgl. E. Friesenhahn, Zur völkerrechtlichen und innerstaatlichen Geltung des Reichskonkordats, Gedächtnisschrift für Hermann Conrad, S. 151 ff. (157). 137 BVerfGE 6, 309ff. (363); diese Ansicht entspricht der heute ganz herrschenden Meinung zu Art. 25 GG, s.o. § 7 III; sie war allerdings früher nicht unumstritten: So leitete Kaufmann aus Art. 25 GG den Primat des völkerrechtlichen Vertragsrechts ab; E. Kaufmann, Normenkontrollverfahren und völkerrechtliche Verträge, Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, S. 445ff. (453).

§ 9: Die Rechtslage unter dem Grundgesetz

69

I I I . Die Bindungswirkung staatsrechtlicher Verträge am Beispiel des bayerisch-coburgischen Vertrags von 1920

1. Die Coburg-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

Die Freistaaten Coburg und Bayern schlossen am 14. Februar 1920 einen Staatsvertrag 138 über die Vereinigung Coburgs mit Bayern. 139 Der Vertrag trat am 1. Juli 1920 in Kraft. Die Städte Coburg und Neustadt 140 klagten später für den untergegangenen Freistaat Coburg Rechte aus dem Eingliederungsvertrag vor dem Bundesverfassungsgericht ein. Neben wichtigen prozessualen Ausführungen, in denen das Gericht seine bereits im Schulstreit NRW - Lippe entwikkelte Rechtsprechung 141 fortführte, hatten die Karlsruher Richter grundsätzlich über die Bindungswirkung des Eingliederungsvertrages unter dem Grundgesetz zu entscheiden. Sie betrachteten den Kontrakt als nach wie vor gültig und den bayerischen Gesetzgeber grundsätzlich bindend; andernfalls hätten sie nicht in eine Prüfung der angegriffenen Maßnahmen einsteigen können, weil dann keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen des bayerischen Gesetzgebers bestanden hätten. 142 Das Gericht folgte insoweit einer Entscheidung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich aus dem Jahre 1925. 143 Für den Vergleich mit dem Einigungsvertrag ist entscheidend, worauf diese Bindung beruht und wie weit sie reicht.

138 Wenn im folgenden von "Staatsverträgen" die Rede ist, sind niemals völkerrechtliche Verträge, sondern immer nur solche zwischen verschiedenen Gliedstaaten eines Bundesstaates gemeint. 139

Bay. GVBl. S. 335ff.

140

Im dritten Verfahren kamen einige umliegende Gemeinden als Kläger hinzu.

141

BVerfGE 3, 267ff.; 4, 250ff.

142

Wie hier J.A. Frowein,

Der Eingliederungsvertrag im Völkerrecht und im Staatsrecht, S.

lOf. 143 RGZ 112, Anhang S. 21ff.; vgl. auch RGZ 115, Anhang S. Iff. (6): "Das heißt, er [seil, der Staatsvertrag] ist Vertrag geblieben und kann als solcher trotz seiner Eigenschaft als Gesetz vom Reiche nicht durch ein neues Gesetz abgeändert werden."

70

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

Die Bindung kann nur auf Art. 182 BayVerf 1 4 4 oder auf dem vertraglichen Charakter der angesprochenen Regelungen an sich beruhen. Eine andere Möglichkeit besteht nicht. Das Gericht geht offenbar von letzerem aus: Es erkennt, daß kein Rechtsgrund ersichtlich sei, nach dem der bayerische Staat nicht mehr aus dem Vertrag verpflichtet sein sollte. Art. 182 BayVerf wird lediglich als ergänzendes Argument herangezogen. 145 Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Der Vertrag war nicht Teil der formellen Verfassung Bayerns in Zeiten der Weimarer Republik und ist nicht mit dieser durch die Gleichschaltung der Länder 1933 außer Kraft gesetzt worden. Von der fortdauernden Gültigkeit des Vertrags ging auch die bayerische Staatspraxis nach 1945 aus. Noch vor Inkraftsetzen der bayerischen Verfassung - und damit eine vertragliche Bindung anerkennend - hob der Ministerpräsident am 7. Juni 1946 die während der NSZeit vertragswidrig angeordnete Einkreisung der Stadt Neustadt auf. 1 4 6 Schließlich spricht gegen eine Bindung des Gesetzgebers mittels Art. 182 BayVerf, daß das Vertragsrecht nach allgemeiner Auffassung über diese Bestimmung nicht in den Rang von formellem Landesverfassungsrecht gehoben wird. 1 4 7 Es bleibt also dabei, daß das Gericht auf Grund des Zustandekommens der Eingliederung im Vertragswege und der damit verbundenen Geltung der Regel "pacta sunt servanda" eine Bindung des bayerischen Gesetzgebers für möglich gehalten hat. Daß die Einkreisung Neustadts letztlich bestätigt wurde, bedeutet keinen Widerspruch. Das Gericht wendete die clausula rebus sie stantibus 148 an, was die These vom Vorrang des Vertragsrecht nur stützt.

144

"Die früher geschlossenen Staats vertrage [...] bleiben in Kraft."

145

BVerfGE 22, 22Iff. (234).

146

Vgl. BVerfGE 34, 216ff. (222).

147

H. Zacher in Κ Schweiger/F. Knöpfte (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 182/Randnr. 2. Auch aus der Entstehungsgeschichte folgt, daß mit dem Artikel eine Änderung des bestehenden Rechtszustandes nicht beabsichtigt war; vgl. H. Reis, Konkordat und Kirchen vertrag in der Staatsverfassung, JöR 17 (1968), S. 165ff. (300ff.). 148

Einzelheiten zur clausula unten bei § 23.

§ 9: Die Rechtslage unter dem Grundgesetz

71

2. Die Meinungen der Literatur

In der Weimarer Republik ging die herrschende Lehre im Gegensatz zur oben dargestellten Rechtsauffassung des Staatsgerichtshofs davon aus, daß eine abweichende lex posterior Vertragsrecht beseitigen könne. Jellinek meinte, vertragliche Vereinbarungen zwischen Ländern seien zwar politisch, aber nicht rechtlich bindend. 149 Gleicher Ansicht war im Zusammenhang mit dem bayerisch-coburgischen Staatsvertrag Nawiasky mit einem argumentum e contrario dahingehend, daß in einzelnen Vorschriften des Vertrags ausdrücklich die Änderung an die Zustimmung coburgischer Organe geknüpft worden ist. Auch nach Nawiasky bestehen lediglich moralisch-politische Bindungen. 150 Nach 1949 wird dieser Ansatz weiterhin vielfach vertreten. So meint Krüger, jeder Vertrag stehe unter dem Vorbehalt künftiger Gesetzgebung. Als Hoheitsträger könne der Staat gar nicht anders, als bei Vertragsabschlüssen zumindest stillschweigend eine entsprechende Bedingung zu machen. 151 Nach Schneider ist ein Landesgesetz, das einem Staatsvertrag widerspricht, vertragswidrig, aber nicht nichtig. Die Nichtigkeit folge auch nicht aus dem Grundsatz der Bundestreue, da mit dem Vertrag ein besonderes, über die Geltung dieses allgemeinen Satzes hinausgehendes Verhältnis geschaffen werde. 152 Folglich besteht nach Schneider ein Vorrang der lex posterior. Im Bereich der Verwaltungsabkommen, die ein Akt von Exekutivorganen seien, vertritt Grawert die gleiche Ansicht. Der Vorrang des späteren Gesetzes folge aus Art. 20 Abs. 3 GG, der jede Verwaltungstätigkeit für gesetzesabhängig erkläre. 153 Diese Argumentation erscheint überzeugend, ist jedoch nicht ohne weiteres auf Staatsverträge zu beziehen. Als Fazit ergibt sich, daß Bauer die herrschende Ansicht in der Literatur zutreffend in dem Satz zusammenfaßt: 149

W. Jellinek, Revolution und Reichsverfassung, JöR 9 (1920), S. Iff. (71).

150

H. Nawiasky, Bayerisches Verfassungsrecht, S. 41 f.

151

H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 79.

152

H. Schneider, Verträge zwischen Gliedstaaten im Bundesstaat, VVDStRL 19, S. Iff. (15). Ebenso: W. Rudolf, Kooperation im Bundestaat, HdBStR IV, § 105, S. 1091ff. (Randnr. 55). Für den Einigungsvertrag erkennt Schneider die Möglichkeit einer vertraglichen Bindung des Gesetzgebers dagegen an, siehe H. Schneider, Die Einführung des Bundesrechts in die neuen Bundesländer, FS Herbert HelmricK S. 155ff. (161). 153

R. Grawert, Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern in der Bundesrepublik Deutschland, S. 128f; so auch G. Kisker, Kooperation im Bundesstaat, S. 218.

72

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

"Der Bund kann jederzeit jeden Vertrag, den er mit einem oder mehreren Ländern geschlossen hat, durch ein Gesetz 'beseitigen'..."154. Bauer selbst vertritt eine andere Ansicht. Nach ihm besteht ein verfassungsrechtlicher Grundsatz von Treu und Glauben, dessen Derivate die Pflicht zur Vertragstreue und die Pflicht zur Bundestreue sind. 1 5 5 Zudem sei es ein unzulässiges venire contra factum proprium, einen Vertrag ohne ernstlichen Bindungswillen zu schließen. 156 Daher sei eine Lösung vom Vertrag nur zulässig, wenn ein "wichtiger Grund" vorliegt, dessen Vorhandensein an bestimmte Voraussetzungen geknüpft wird. 1 5 7 Auch Isensee bejaht eine Pflicht zur Vertragstreue, die er aus dem Gleichheitssatz als Folge der bundesstaatlichen Ordnung ableitet. 158

IV. Die Bindungswirkung im kommunalen Bereich

Im Zuge der Kommunalreform wurden insbesondere in den siebziger Jahren zahlreiche Gemeinden zusammengelegt und folglich viele Gemeindegrenzen verändert. Es soll hier die Situation in Baden-Württemberg umrissen werden, da dieses Land die Form des freiwilligen Eingemeindungsvertrags gefördert hat und sich deswegen die Probleme dieser Arbeit hier eher stellen als beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, wo größtenteils per Gesetz eingemeindet worden ist. Hinzu kommt, daß Baden-Württemberg neben finanzieller Unterstützung solche Zusammenschlüsse auch durch die großzügige Genehmigung von besonderen Zusagen der aufnehmenden an die untergehende Gemeinde unterstützt hat. 1 5 9 Dieses Verfahren war erfolgreich: Bis zum Januar 1975 hatten

154

E. Bauer, Die Bestandskraft von Verträgen zwischen Bund und Ländern, S. 32.

155

In diesem Sinne auch BVerwGE 50, 137 (145).

156

E. Bauer, S. 108f.

157

E.Bauer, S. 101.

158

J. Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, Randnr. 143.

159

H. Seeburger, Typische Rechtsprobleme im Zusammenhang mit Eingemeindungsverträgen; insbesondere bei der Gemeindereform Baden-Württemberg, S. 8.

§ 9: Die Rechtslage unter dem Grundgesetz

73

88,8 % der Gemeinden freiwillig auf ihre Selbständigkeit verzichtet und nur in 255 Fällen mußten gesetzliche Zwangsmaßnahmen angewandt werden. 160 Wie auf der höheren Ebene des Völkerrechts verliert die untergehende Gemeinde ihre Eigenschaft als Rechtssubjekt, und die neue Gemeinde wird als Rechtsnachfolgerin Trägerin aller Rechte und Pflichten. Daraus wurde teilweise gefolgert, vertragliche Zusagen an die untergehende Gemeinde entfielen infolge Konfusion. 161 Zudem wurde auf die umfassende Kompetenz des neugebildeten Gemeinderats verwiesen. Dem läßt sich aber entgegenhalten, daß §§ 27 Abs. 5, 73 GO BW ausdrücklich die Änderbarkeit bestimmter Zusagen anordnen, der Gesetzgeber also im Grundsatz vom Gegenteil ausgegangen ist. 1 6 2 Ferner gilt der Grundsatz "pacta sunt servanda" auch im öffentlichen Recht. 163 Bemerkenswerterweise gibt es zur Problematik des Eingemeindungsvertrags bislang, soweit ersichtlich, kaum Rechtsprechung. Dies liegt wohl hauptsächlich daran, daß die Aufsichtsbehörden versucht haben, ohne Einschaltung des Rechtswegs den Konsens zwischen den Vertragsparteien wieder herzustellen. Mangels einschlägiger Entscheidungen wird auf die Diskussionen in Rechtsprechung und Literatur zur Bestandskraft von Staatsverträgen gegenüber einem abweichenden Gesetz verwiesen. 164 Was dies bedeutet, muß offenbleiben, da die Rechtslage dort - wie gezeigt - umstritten ist. Fest steht damit nur, daß das Konfusionsargument ins Leere geht: Bei den Staats Verträgen geht auch die Meinung, die eine Bindungswirkung ablehnt, nicht von einem sofortigen Untergang des Vertrags im Vereinigungszeitpunkt aus, sondern vertritt lediglich den Vorrang eines späteren abweichenden Gesetzes.

160

M. Bulling , Die Verwaltungsreform in Baden-Württemberg, DöV 1975, S. 329ff. (333).

161

H. Klüber, Eingemeindungsverträge, DöV 1973, S. 325ff. (331).

]6 2

H.

Seeburger, S. 92f.

163

§ 60 VwVfG gestattet eine Lösung von den vertraglichen Verpflichtungen nur unter engen Voraussetzungen. 164

H. Seeburger, S. 88ff.

74

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

§ 10: Ergebnis und Schlußfolgerungen für den Einigungsvertrag

I. Stellungnahme zur Bindungswirkung durch Vertragsrecht

Die Untersuchung belegt, daß die Problematik der Bindungswirkung von Verträgen in Wissenschaft und Rechtsprechung keinesfalls eindeutig geklärt ist. Auch die ausländischen Rechtsordnungen verfahren hier nicht einheitlich. Die Lehre hat im Anschluß an Theorien aus der Weimarer Zeit größtenteils eine ΒindungsWirkung des Gesetzgebers an Vertragsrecht abgelehnt. Dieses Ergebnis ist für völkerrechtliche Verträge bis heute praktisch unumstritten; hier besteht eine Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht. Im Bereich der Staatsverträge sieht sich die herrschende Lehre in jüngerer Zeit Angriffen gegenüber; sie widerspricht zudem der ständigen Rechtsprechung. Die Coburg-Entscheidungen wurden in bezug auf die grundsätzlich fortdauernde Bindung von Länderstaatsverträgen durch zwei Entscheidungen zum Vertrag zwischen Preußen und Waldeck-Pyrmont 165 bestätigt. Die Rechtsprechung hat jedoch in keiner Entscheidung eine Begründung für die unterschiedliche Behandlung von völkerrechtlichen und Staatsverträgen gegeben. Im folgenden soll versucht werden, einen Grund für die Differenzierung zu finden. Deren Motiv ist gerade im Falle des Einigungs Vertrags von entscheidender Bedeutung: Der Rechtscharakter dieses Vertrags ist nicht eindeutig festzulegen und hat zudem mit dem Beitritt eine Veränderung erfahren. Vor dem 3. Oktober 1990 ähnelte der Einigungs vertrag eher einem völkerrechtlichen Vertrag, danach eher einem binnenstaatlichen Staats vertrag. 166 Erst mit Kenntnis des Grundes der unterschiedlichen Behandlung von völkerrechtlichen und Binnenstaatsverträgen wird man daher sagen können, wie der Einigungsvertrag bezüglich der Bindungswirkung zu behandeln sein wird. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Vertragstypen liegt darin, daß die völkerrechtlichen Verträge einen Bezug zum internationalen Recht ausweisen, während bei den Staatsverträgen Vertrag und die Umsetzung durch das

165

Vertrag vom 29 Nov. 1921, PrGS 1922, S. 37ff.; BVerfGE 42, 345ff.; 62, 295ff.

166

Siehe oben § 5.

§ 10: Ergebnis und Schlußfolgerungen für den EV

75

Zustimmungsgesetz unter dem Dach des Grundgesetzes stehen. Folglich kann das Gericht hier mit Wirkung inter partes auch den vertraglichen Rechtskreis prüfen. Davon machte es in den Coburg-Entscheidungen Gebrauch: Die erste und dritte Entscheidung sind in der Begründetheitsprüfung durch höchstrichterliche Auslegungen bestimmter Vertragsklauseln geprägt 167 ,

in dem zweiten

Coburg-Urteil nimmt das Gericht ein Recht zur Auslegung der ungeschriebenen Vertragsklausel 'rebus sie stantibus' in Anspruch. 168 Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts beschränkt sich also nicht allein auf das jeweilige Zustimmungsgesetz; vielmehr ist auch der Vertrag selbst Teil des innerstaatlichen Rechts. Dagegen besteht auf der Ebene des Völkerrechts keine Kompetenz eines nationalen Gerichts zu einer beide Parteien bindenden Auslegung des Vertrags. Die Rechtsordnung des Völkerrechts liegt außerhalb des nationalen Verfassungsrechts. Einseitige Auslegungserklärungen - und nichts anderes ist die Auslegung durch das Verfassungsgericht eines Vertragspartners - sind nach allgemeiner Auffassung unbeachtlich. Die Kompetenz zur Auslegung steht nur den Parteien gemeinsam zu oder, bei entsprechender Vereinbarung, einem Schiedsgericht wie dem Internationalen Gerichtshof. 169 Zudem bestimmt Art. 46 WVK, daß ein Staat sich grundsätzlich nicht darauf berufen kann, die Zustimmung zu einem Vertrag sei wegen eines Verstoßes gegen innerstaatliches Recht nichtig. In die Sphäre des innerstaatlichen Rechts dringt der völkerrechtliche Vertrag dagegen nur mittels des Zustimmungsgesetzes. Wenn der Vertrag selbst "außen vor" bleibt, kann das Gericht nicht den Vertrag, sondern allein das Zustimmungsgesetz prüfen. In bezug auf das isolierte Zustimmungsgesetz ist damit innerstaatlich notwendigerweise die normale lex-posterior-Situation gegeben. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach auch völkerrechtliche Verträge ausgelegt, jedoch bereits in frühen Entscheidungen verdeutlicht, daß sich deren Wirkung nur auf den innerstaatlichen Bereich erstreckt, nicht aber auf die völkerrechtliche Ebene. 170 Eine Wirkung der Entscheidungen inter partes tritt mithin nicht ein, was auch durch § 31 Abs. 1 BVerfGG verdeutlicht wird, wonach die Entscheidungen des Gerichts nur nationale Organe binden. 167

BVerfGE 22, 22Iff. (234ff.); 38, 23Iff. (238ff.).

168

BVerfGE 34, 216ff. (Leitsätze 2 und 3).

169

W. Heintschel v. Heinegg, S. 120f.

170

BVerfGE 1, 35Iff. (371); 1, 396ff. (413). Vgl. auch BVerfGE 6, 309ff. (326f.).

76

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

Somit bleibt ein völkerrechtlicher Vertrag existent, auch wenn das Bundesverfassungsgericht das Zustimmungsgesetz für nichtig erklären sollte. Die Gegenüberstellung ergibt daher, daß beim Konkordatsurteil das Gericht über den vertraglichen Rechtskreis nicht abschließend judizieren konnte; es hatte nicht über den Vertragsbruch zu befinden, denn dieser Aspekt gehörte zum Völkerrecht und stand somit nicht unter dem Grundgesetz. Anders liegt es hingegen bei den Coburg-Entscheidungen. Hier berücksichtigt das Gericht das vertragliche Zustandekommen der Vereinbarung sowie den Vertragsbruch durch ein abweichendes Gesetz und kommt zu einem grundsätzlichen Vorrang des Vertragsrechts. 171 Diese Differenzierung ist konsequent: Wenn nicht der Vertrag, sondern nur das einfache Zustimmungsgesetz unter dem Dach des Grundgesetzes stehen, ist nicht einzusehen, warum das Grundgesetz durch einen Primat des Vertragsrechts diesem Vertrag besonderen Schutz zukommen lassen sollte. Überträgt man diesen Gedanken auf die Staatsverträge, so wird deutlich, warum hier eine Berücksichtigung des vertraglichen Zustandekommens geboten erscheint. Dennoch ist zu diskutieren, ob nicht auch bei den Staatsverträgen das im Zusammenhang mit dem Konkordatsstreit angeführte Argument greift, wonach man bei der Frage einer Änderung des Vertrags durch eine lex posterior zwischen rechtlichem Können und Dürfen zu unterscheiden habe. Die Schlußfolgerung ging dahin, daß der Bund zwar keinen Vertragsbruch begehen dürfe, sich jedoch nicht seines Könnens begeben wollte. 1 7 2 Damit stünde die Bindungsnorm als solche bei Staatsverträgen zur Disposition des Gesetzgebers. 173 Dem ist zweierlei entgegenzuhalten: Zum einen leugnet diese Ansicht, daß es Staatsverträge im rechtlichen Sinne überhaupt gibt, denn Verträgen ist zwingend eine Bindung der Parteien an den Vertragstext immanent. 174 Wäre jeder Vertrag wie ein normales Gesetz abänderbar, bildete ein Vertragsschluß letztlich nur ein besonderes Gesetzgebungsverfahren mit Beratung durch eine soge171 Im Gegensatz dazu die Begründung von Frowein: Die "eindeutige" ΒindungsWirkung auch gegenüber dem Gesetzgeber bestehe wegen der Besonderheit der Eingliederungsverträge, "die den letzten Rest von Staatlichkeit auf der Seite des untergegangenen Landes" (vgl. BVerfGE 22, 22Iff. [230]) bilden; vgl. J.A. Frowein, Die Bindung des Gesetzgebers an Verträge, S. 304f. 172

Vgl. oben § 9 II 1.

173

E. Bauer, S. 33.

174

Zutreffend C. Schmitt, S. 70: "Niemand wird darüber streiten, daß Verträge gehalten werden müssen; der Streit betrifft nur Zweifel und Meinungsverschiedenheiten darüber, ob in concreto überhaupt ein Vertrag vorliegt [...]."

§ 10: Ergebnis und Schlußfolgerungen für den EV

77

nannte Vertragspartei. Zum zweiten ist die Frage, ob der Bund bei Vertragsschluß auf seine Macht, den Vertrag ändern zu können, verzichten will, bei Staatsverträgen dann irrelevant, wenn hier sein Dürfen verfassungsgerichtlich geprüft werden kann. Verfassungsrechtlich anerkannt ist der Satz, wonach ein späteres das frühere Gesetz derogiert. Der in innerstaatliches Recht transformierte Vertrag kann mithin geändert werden. Unzutreffend ist es hingegen, allein das Zustimmungsgesetz zu betrachten, wenn auch der Vertrag in seiner ursprünglichen Gestalt Teil der innerstaatlichen Rechtsordnung geworden ist. 1 7 5 Der Vertragscharakter selbst vermag eine Ausnahme von der oben genannten Grundregel zu begründen, da er dem Gesetzgeber das Ändern verbietet. Anders als auf der Ebene des Völkerrechts ist dieses Verbot bei Staatsverträgen sowohl theoretisch wie praktisch mit dem Grundgesetz durchzusetzen. Das so gefundene Ergebnis deckt sich mit der Rechtsauffassung im Kaiserreich zu den Schlußprotokollen der November-Verträge und mit der ständigen Rechtsprechung.

II. Folgerungen für den Einigungsvertrag - Die Bedeutung der Artt. 44,45 Abs. 2

Seinen völkerrechtlichen Charakter hat der Einigungsvertrag mit dem Beitritt der DDR am 3. Oktober 1990 verloren. Der Untergang der DDR als Völkerrechtssubjekt vermag aber nicht den "vertraglichen Rechtskreis" gleichsam auszulöschen. Dieser besteht nach wie vor neben dem Zustimmungsgesetz. Insoweit wird die DDR als weiterbestehendes Rechtssubjekt fingiert. 176 Etwas anderes könnte sich für den Einigungsvertrag aus Art. 45 Abs. 2 ergeben, welcher zwei Aussagen enthält. Neben die bereits erörterte Anordnung des Fortgehens tritt die Regelung, wie der Vertrag fortgilt, nämlich als Bundesrecht. Damit stellt sich die Frage, ob aus dieser Formulierung der Untergang des ver-

175

Dies übersieht D. Merten, Verfassungsprobleme der Versorgungsüberleitung, S. 92, und kommt so zur vollständigen Änderbarkeit des Einigungsvertrags. 176

K. Stern, Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit, S. 28.

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3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

traglichen Elements folgt. Dies wird teils ohne Begründung 177 , teils unter Berufung auf die Denkschrift zum Einigungsvertrag bejaht 178 , die im Grundsatz von einer Änderbarkeit des Vertrags ausgeht. Ferner sei ein entsprechender Parteiwille zu vertraglichen Bindungen nicht deutlich geworden. Dem ist entgegenzuhalten, daß ein Parteiwille, den ursprünglichen vertraglichen Charakter vollständig abzustreifen, ebenfalls nicht ersichtlich ist. Zwar liegt es nahe, den Schlußartikel des Einigungsvertrags in einer Weise auszulegen, daß dort der Vertrag in ein normales Bundesgesetz transformiert wird. Man käme so zur Anwendung des Satzes vom Vorrang des späteren Gesetzes. Diese Auslegung ist indes nicht zwingend, der Wortlaut ermöglicht auch Alternativen. Der Terminus "Bundesrecht" in Art. 45 Abs. 2 kann durchaus im umfassenden Sinne verstanden werden. Hätten die Parteien im oben beschriebenen Sinne handeln wollen, wäre eine ausdrückliche Transformation in ein "Bundesgesetz" treffender gewesen. Die Weite des Ausdrucks "Bundesrecht" ermöglicht demgegenüber den Fortbestand des vertraglichen Charakters. 179 Angesichts der damit verbundenen Folgen für die Bestandskraft des Einigungsvertrags hätte es einer eindeutigeren Formulierung bedurft, um bereits unter Hinweis auf den Wortlaut jede andere Auslegung zurückweisen zu können. Auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift spricht gegen eine umfassende einfache Änderbarkeit des Einigungsvertrags: Ursprünglich hatten die DDR-Vertreter vorgeschlagen, dem gesamten Vertrag Verfassungsrang zu geben. Dahinter stand das Ziel zu vermeiden, daß Sonderregelungen für die DDR durch einfache, sich möglicherweise ändernde Parlamentsmehrheiten modifi-

177 I. von Münch, Deutschland: gestern - heute - morgen, NJW 1991, S. 865ff. (868). Die Bedenken, daß dies den untergegangenen Vertragspartner rechtlos stellen könnte, versucht v. Münch unter Hinweis auf die Mitgliedschaft von Vertretern aus den neuen Ländern in Bundestag und Bundesrat zu entkräften. Im übrigen führe das Ziel der Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse ohnehin aus der Antinomie der Vertragspartnerschaft heraus. Diese Argumentation ist sehr bedenklich: Bei aller Einigkeit über ein Ziel (hier: Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse) kann die Wahl des besten Weges äußerst umstritten sein, und bei der Frage, ob der Einigungsvertrag zur Disposition steht, geht es regelmäßig um eine vertragliche Zusicherung der Benutzung bestimmter Wege. Es ist auch verständlich, daß man die DDR-Vertreter nicht unter Hinweis auf die Mitgliedschaft im gesamtdeutschen Parlament von ihrer Politik des Setzens möglichst bestandsfester Normen im Einigungsvertrag abbringen konnte; wegen der Mehrheitsverhältnisse dort mußten sie eine vertragliche Bindung der Bundesrepublik anstreben; s.o. § 2. 178 179

So AR. Anker, S. 1065.

So etwa E. Klein, Der Einigungsvertrag, S. 571, wonach Art. 45 Abs. 2 den Vertrag (!) als Bundesrecht dem Grundgesetz unterstellt.

§ 10: Ergebnis und Schlußfolgerungen für den EV

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ziert werden können. 180 Der Idee, dem gesamten Vertrag mit all seinen spezifischen Übergangsbestimmungen Verfassungsrang einzuräumen, konnte die Bundesregierung nicht zustimmen. Dies bedeutet aber nicht, daß sie es insgesamt abgelehnt hätte, Reservatrechte in bestimmten Bereichen zu akzeptieren. Da sich die DDR wiederum nicht allein auf die Coburg-Rechtsprechung verlassen wollte, sondern auf einer vertraglichen Regelung dieser grundsätzlichen Frage beharrte, kam es "unter Berücksichtigung des besonderen Regelungsinteresses der D D R " 1 8 1 zu der unglücklichen Kompromißformel des Art. 45 Abs. 2. Den Intentionen der Vertragspartner wäre durch den von der Bundesregierung vorgeschlagenen Verzicht auf jede Regelung 182 vermutlich besser gedient gewesen. Andererseits ermöglicht auch der Wortlaut des Art. 45 Abs. 2, den Willen der Kontrahierenden zu erfüllen. Diesem Ergebnis schließt sich die herrschende Meinung an, die nach dem Untergang des Völkerrechtssubjekts DDR ebenfalls vom Fortbestehen des Einigungsvertrags als Staatsvertrag ausgeht.1** Man kann sich zur Stützung der These von der Transformation in ein Bundesgesetz nicht auf die Denkschrift berufen 184 , denn sie ist in dieser Frage nicht frei von Widersprüchen. Nach der Denkschrift bestehen vertragliche Bindungen bei der Eigentumsregelung und bei befristeten Vorschriften. Wenn Art. 45 Abs. 2 tatsächlich den ihm vielfach gegebenen Sinn hätte, den Einigungsvertrag vollständig in ein einfaches Bundesgesetz zu transformieren, wäre jede vertragliche Bindung ausgeschlossen.185 Der Hinweis auf die Denkschrift erscheint auch deshalb als problematisch, da diese keine offizielle Auslegung ist,

180 L. de Maizière , "Ich mache keine Sperenzchen", Interview mit dem DDR-Ministerpräsidenten, Der Spiegel 1990, Heft 31, S. 18ff. (20). 181

W. Schäuble, Der Einigungsvertrag, S. 296f.

182

Was stillschweigend die Anerkennung der Coburg-Rechtsprechung bedeutet hätte.

183

U. Fastenrath, Die Bindungswirkung des Einigungsvertrages am Beispiel der Richterüberprüfung in Mecklenburg-Vorpommern, DtZ 1991, S. 429ff. (430); M. Herdegen, S. 6; E. Klein, Der Einigungsvertrag, S. 571. 184 185

So aber U. Fastenrath, S. 430.

Man könnte eine Bindung an die Eigentumsregelung unmittelbar aus Art. 41 Abs. 3 herleiten, wobei selbst dies problematisch wäre, denn, die Richtigkeit der These von der Transformation in ein Bundesgesetz vorausgesetzt, hätte auch Art. 41 Abs. 3 nur einfachgesetzlichen Charakter. Dieser Ansatz versagt jedoch spätestens dann, wenn man in seinem Rahmen eine vertragliche Bindung an die befristeten Vorschriften zu konstruieren versucht.

80

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

die ein Gültigkeitsmonopol beanspruchen kann. 1 8 6 Dies gilt um so mehr, als es sich allein um die Sicht eines Vertragspartners handelt. Die Ansicht der ehemaligen DDR-Regierung bei Vertragsschluß muß bei einer Auslegung ebenfalls Berücksichtigung finden. Diese liest Art. 45 Abs. 2 - verständlicherweise - anders. 187 Zudem nivelliert diese Ansicht zu Unrecht den Unterschied eines paktierten Beitritts zum Modell der Überleitungsgesetzgebung. Daß die DDR sich für den vertraglichen Weg entschieden hat und die Bundesrepublik diesen mitgegangen ist, kann nicht unberücksichtigt bleiben. 188 Fastenrath verweist zusätzlich auf Art. 44 1 8 9 , den er als Hinweis auf eine Änderungsmöglichkeit einigungsvertraglicher Vorschriften ohne Berücksichtigung vertraglicher Bindungen versteht. Wäre der Bund an den Vertrag gebunden, wäre die Vorschrift überflüssig, da sich dann bereits aus der vertraglichen Position ein Klagerecht für die neuen Länder ergäbe. 190 An diesem Satz ist zutreffend, daß er Art. 44 für obsolet hält. Tatsächlich hat man bei der Formulierung dieses Artikels die Coburg-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde gelegt 191 , worin das Gericht ein Klagerecht der Selbstverwaltungskörperschaften nach Untergang des betreffenden Vertragspartners auch ohne ausdrückliche Positivierung im Vertrag anerkannt hatte (s.o.). 192 Daraus

186

A. A. SG Berlin, SGb 1992, S. 521ff. (522).

187

Vgl. oben § 2.

188 \yj e hj e r υ Schulze-Fielitzy Art. 35 EinigungsV - Freibrief für eine Bundeskulturpolitik?, NJW 1991, S. 2456ff. (2456). Zutreffend auch E. Klein, Bundesstaatlichkeit im vereinten Deutschland, in Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission (Hrsg.): Die Wiedervereinigung und damit zusammenhängende Rechtsprobleme, S. 23ff. (37). Klein spricht sich gegen die Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers aus, da sonst die vertragliche Absicherung des Vereinbarten sinnlos wäre. 189

"Rechte aus diesem Vertrag zugunsten der Deutschen Demokratischen Republik oder der in Art. 1 genannten Länder können nach dem Wirksamwerden des Beitritts von jedem dieser Länder geltend gemacht werden." 190

U. Fastenrath, S. 430.

191

So ausdrücklich Bundesinnenminister Schäuble, Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 17. Sitzung am 6. Sept. 1990, S. 562 C. In diesem Sinne auch die Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S. 377. 192 In Konsequenz dieses Gedankes hat die Bundesregierung die Notwendigkeit eines Ausführungsgesetzes zu Art. 44 zutreffend verneint; BT-Drucks. 12/5084. Bereits aus der CoburgRechtsprechung (vgl. BVerfGE 22, 22Iff. [229]) ergibt sich, daß Streitigkeiten zwischen den Ländern, vertreten durch die Landesregierungen, und dem Bund über die Mißachtung von vertraglichen Verpflichtungen aus dem Einigungsvertrag als "andere öffentlich-rechtliche Streitigkeiten" nach Art 93 Abs. 1 Nr. 4 GG vor dem Bundesverfassungsgericht auszutragen sind.

§ 10: Ergebnis und Schlußfolgerungen für den EV

81

allerdings zu folgern, dies sei ein Indiz gegen vertragliche Bindungen, erscheint verfehlt, da gerade die Coburg-Rechtsprechung vom Gegenteil ausgegangen ist. ι » Rechtliche Relevanz kommt Art. 44 dagegen nach Ansicht Doehrings zu. Er leitet daraus die Transformation des EinigungsVertrags in einen Bund-LänderVertrag ab und kommt so, da ein solcher Vertrag als öffentlich-rechtlich zu qualifizieren sei, für die Bestandskraft zur Anwendung des Gedankens aus § 60 V w V f G . 1 9 4 Danach könnte eine Seite die Anpassung des Vertrags verlangen oder diesen kündigen, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse wesentlich geändert haben und ein Festhalten am Vertrag unzumutbar geworden ist. Gegen diesen Ansatz bestehen allerdings Bedenken, da Art. 44 in erster Linie prozeßrechtlicher Natur ist. 1 9 5 Jedenfalls sind mittels dieses Artikels die neuen Länder nicht Rechtsnachfolger der DDR und daher auch nicht Vertragspartner der Bundesrepublik geworden. Dies wäre jedoch die Voraussetzung für einen Bund-Länder-Vertrag. Zuzugeben ist den genannten Auffassungen allerdings, daß das Ergebnis einer vertraglichen Bindung an alle Teile des Vertrags von den Parteien nicht gewollt worden ist. Die Vertragspartner befanden sich zwischen der Skylla der Willkür 1 9 6 des gesamtdeutschen Gesetzgebers und der Charybdis seiner Ohnmacht. 197 Wollte man bei allen Vorschriften den Vertragscharakter betonen, so wäre angesichts der Fülle der gesetzlichen Änderungen, Maßgaben und Übergangsregelungen eine Rechtsfortbildung im geeinten Deutschland entscheidend gehemmt. Verträte man, der Einigungs vertrag sei insgesamt ein einfaches Bundesgesetz, wäre das von der DDR angestrebte und von der Bundesrepublik akzeptierte Ziel der Vertragsverhandlungen, die Grundfragen der Einheit bindend festzuschreiben 198, verfehlt worden.

193

Wie hier H. Wagner, S. 142f.

194

K. Doehring, Bindungen der Bundesrepublik Deutschland an das Grundgesetz bei Abschluß des Einigungsvertrages mit der DDR (A) und die Bestandskraft des Einigungsvertrages (B), S. 23 25. Grundlegend zur Bestandskraft öffentlich-rechtlicher Verträge: P.-M. Efstratiou, Die Bestandskraft des öffentlichrechtlichen Vertrages. 195

W. Schäuble, Der Einigungsvertrag, S. 297.

196

So hätte es jedenfalls die DDR-Regierung empfinden müssen.

197

Vgl. E.Bauer, S. 96.

198

W. Schäuble, Der Vertrag, S. 125; für die DDR-Regierung vgl. Ministerpräsident de Maizière, oben § 2. 6 Hoch

82

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

Das Problem wird auch in der Denkschrift erkannt. Zwar sieht sie in Art. 45 Abs. 2 die Klarstellung der Änderbarkeit des Einigungs Vertrags durch den Bundesgesetzgeber. Gleichzeitig wird jedoch ausgeführt, der Gesetzgeber habe "Regelungen zu beachten, durch die besondere Rechte Dritter auf Dauer garantiert werden oder durch die [...] besondere Fristen vereinbart worden sind." 1 9 9 Diese Rechtsfolge kann sich nur ergeben, solange man jedenfalls nicht nur von der Transformation in ein einfaches Gesetz ausgeht; der Einigungsvertrag nimmt zwischen Vertrag und Gesetz eine Zwitterstellung ein. Dies kann nur bedeuten, daß die Weite des Wortlauts von Art. 45 Abs. 2 bezüglich der Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers beide Antworten zuläßt. Die Bundesregierung vertritt in der Denkschrift letztlich, daß Art. 45 Abs. 2 die ΒindungsWirkung für den Vertrag insgesamt weder pauschal anordnet noch pauschal verhindert. Damit käme man zu einer differenzierenden Betrachtung, bei der jede einzelne Vorschrift daraufhin zu prüfen ist, ob sie nur einfaches Bundesgesetz ist oder wegen ihres vertraglichen Ursprungs einer Änderung durch den einfachen Gesetzgeber entzogen ist. 2 0 0 Zudem ist zu berücksichtigen, daß Art. 45 Abs. 2 in engem Zusammenhang zu Art. 44 steht, der durch die Aufnahme der CoburgRechtsprechung in den Vertrag einen Hinweis auf die fortbestehende Vertragsnatur und eine Bindungswirkung des Gesetzgebers gibt. 2 0 1 Gleichzeitig ist Art. 44 aber bewußt einschränkend formuliert, indem er nur Rechte zugunsten der DDR oder der neuen Länder erfaßt. Damit wird verhindert, daß der Vertrag zu einem Hemmschuh für die Rechtsfortbildung in Deutschland wird; gleichzeitig erreicht man, daß der untergehende Vertragspartner seiner Rechtsposition auch für die Zukunft sicher sein kann. Für die weitere Untersuchung kommt es mithin entscheidend darauf an, ob der jeweilige Vertragsbestandteil zugunsten der DDR eingefügt worden ist. Das nur auf den ersten Blick einleuchtende argumentum e contrario zu Art. 41 Abs. 3 bildet keinen überzeugenden Einwand gegen die Möglichkeit vertraglicher Bindungen: Teilweise wird vertreten, aus der ausdrücklichen Verpflichtung der Bundesrepublik, keine Rechtsvorschriften zu erlassen, die der Gemeinsamen Erklärung zur Regelung offener Vermögensfragen widersprechen, folge, daß der gesamtdeutsche Gesetzgeber ansonsten frei über den Eini-

199

Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S. 377.

200 pür eine differenzierende Betrachtungsweise auch M. Kleine-Cosack, Anwaltliche Berufsverbote auf dem Prüfstand, NJ 1994, S. 246ff. (247). 201

So zutreffend E. Klein, Der Einigungsvertrag, S. 571.; a.A. U. Fastenrath, s.o.

§ 10: Ergebnis und Schlußfolgerungen für den EV

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gungsvertrag disponieren kann. 2 0 2 Die Argumentation scheitert jedoch daran, daß der Vertrag eine größere Zahl von Vorschriften enthält, für die die Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers ausdrücklich angeordnet wird. 2 0 3 Es gibt also zwei denkbare Gegenschlüsse, die sich wechselseitig ausschließen. Zudem ist nicht ersichtlich, warum die Bundesregierung der Gegenseite in vielen, insbesondere finanzintensiven Bereichen in zum Teil harten Verhandlungen Zugeständnisse hätte abringen sollen, wenn sie doch davon ausgegangen wäre, später in jedem Fall Änderungen vornehmen zu können. Allein mit den politischen Bedenken, die zweifellos auch gegen eine Zusage mit mentalem Rücknahmevorbehalt sprechen, läßt sich das nicht begründen. Die Ansicht einer begrenzten fortbestehenden vertraglichen Bindung an den Einigungsvertrag hat den Vorzug, daß sie vom Wortlaut gedeckt ist, dem Willen der Parteien entspricht und das einzig sinnvolle Ergebnis bringt, da Allesoder-Nichts-Lösungen als unhaltbar erscheinen. Sie soll daher im folgenden zugrunde gelegt werden. 204 Vertritt man, Art. 45 Abs. 2 lasse die Frage der Bestandskraft offen, so bedeutet dies gleichzeitig, daß es auf die einzelne Vorschrift ankommt, ob sie auch als Vertragsrecht oder allein als einfaches Gesetzesrecht fortgilt. Entscheidend dafür dürfte sein, ob die konkrete Vorschrift von den Parteien als vertragliche Vereinbarung oder als Gesetz bei Gelegenheit des Vertragsschlusses in den Einigungs vertrag aufgenommen worden ist. 2 0 5 Ob insoweit der Denkschrift ebenfalls zuzustimmen ist, eine Bindung bestehe nur an Art. 41 und an befristete Regelungen, muß hier noch offengelassen werden. Abschließend ist die Reichweite des Art. 45 Abs. 2 zu untersuchen. Fastenrath will die Vorschrift nur auf den eigentlichen Vertragstext anwenden, nicht hingegen auf die Anlagen, da sonst ein Widerspruch zu Art. 9 Abs. 4, 5 möglich werde. Dort wird in Anlehnung an Artt. 124f. GG geregelt, wie fortgeltendes DDR-Recht in die Kompetenzordnung des Grundgesetzes einzugliedern ist. 202 So wohl D. Wilhelm, Wiedervereinigung und Verfassungsgerichtsbarkeit, in D.C. Umbach/Th. Clemens (Hrsg.): Bundesverfassungsgerichtsgesetz, S. 1 Iff. (Randnr. 49f.). 203

Vgl. Ait. 6, Ait. 233 §§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 2, 5 Abs. 2 sowie Art. 232 § 4 Abs. 1 Satz 2 EGBGB; Ani. I, Kap. III, Sachgeb. B, Abschn. II, Nr. 1; BGBl. 1990 II, S. 944f. 204 Abzulehnen ist dagegen die Auffassung des SG Berlin, SGb 1992, S. 52iff., wonach eine Änderung des Einigungsvertrags grundsätzlich möglich ist, jedoch nur durch ausdrückliche Modifizierung des Vertragstextes. Ein zwingendes Erfordernis einer Textänderung besteht weder bei Verträgen noch bei Gesetzen. Es ist nicht einzusehen, warum eine ausdrückliche Textänderung dann beim Einigungsvertrag, der zwischen Vertrag und Bundesgesetz steht, erforderlich sein soll. Gegen das SG Berlin auch D. Merten, Verfassungsprobleme der Versorgungsüberleitung, S. 91.

205 wie hier E. Klein, Bundesstaatlichkeit im vereinten Deutschland, S. 37. 6*

84

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

Soweit durch Art. 9 Abs. 4, 5 für Bestimmungen in den Anlagen zum Einigungsvertrag die Fortgeltung als Landesrecht angeordnet wird, liegt tatsächlich ein Widerspruch zu Art. 45 Abs. 2 vor, der die Fortgeltung des Einigungs Vertrags als Bundesrecht anordnet. Zieht man aus diesem Gegensatz dieselben Schlußfolgerungen wie Fastenrath, so bedeutet das, daß vertragliche Bindungen an Regelungen in den Anlagen ausscheiden. Mithin stünden auch die Maßgaben bei der Einführung von Bundesrecht und die Befristungen, deren Aushandeln einen wesentlichen Teil der Vertragsverhandlungen darstellte, zur ständigen Disposition des Gesetzgebers. Dies wird nicht einmal in der sonst nur wenige vertragliche Elemente anerkennenden Denkschrift so gesehen (s.o.). Fastenrath ist darin zuzustimmen, daß der Art. 9 in bezug auf seine Kompetenzregelungen lex specialis zu Art. 45 Abs. 2 ist. Insoweit kann die Norm Vorrang beanspruchen. Art. 45 Abs. 2 ist jedoch nicht - jedenfalls nicht in erster Linie - dazu bestimmt, Bund-Länder-Kompetenzen auszugleichen, sondern dazu, einen Ausgleich zwischen den vertraglichen Elementen und den gesetzlichen zu ermöglichen. Diese Frage regelt Art. 9 nicht, so daß die SchlußVorschrift des Vertrags insoweit auch auf die Anlagen Anwendung finden kann.

I I I . Die Besonderheiten bei der Frage einer möglichen Bindung des Landesgesetzgebers

In vielfältiger Weise wird die Gesetzgebungsarbeit in den neuen Ländern durch den Einigungsvertrag beeinflußt. In diesem Kapitel soll geklärt werden, inwieweit in den Landesparlamenten vom Vertrag abweichendes Recht geschaffen werden darf. Soweit der Einigungsvertrag Bundesrecht enthält, stellen sich die Fragen dieser Arbeit nur begrenzt. Gleich, ob man der These von einer Bindung infolge des vertraglichen Charakters folgt oder nicht, so besteht diese für den Landesgesetzgeber in jedem Fall über Art. 31 GG. Vom Einigungsvertrag abweichendes Landesrecht ist daher, soweit dieser Bundesrecht enthält, nichtig. Wie schon im vorhergehenden Kapitel angedeutet, wurde im Einigungsvertrag auch Landesrecht geschaffen, das mit der Entstehung der neuen Länder am

§ 10: Ergebnis und Schlußfolgerungen für den EV

85

3. Oktober 1990 206 in diesen galt. Dadurch entstehen kompetenzrechtliche Probleme, die an der Gültigkeit der landesrechtlichen Bestimmungen zweifeln lassen. Landesrecht wurde in diesem Fall durch das Zustimmungsgesetz zum Vertrag gesetzt, welches seinerseits ein Bundesgesetz ist. Zwar ist unbestritten, daß der Bund völkerrechtlich den Vertrag ohne Berücksichtigung innerstaatlicher Kompetenzschranken schließen durfte; diese sind jedoch bei der innerstaatlichen Umsetzung zu beachten.207 Grundsätzlich ist ein Gesetz, daß von einem unzuständigen Organ erlassen wurde, nichtig. Abweichend davon hat das Bundesverfassungsgericht im sogenannten Warteschleifenurteil eine aus Art. 23 Satz 2 GG a.F. und der Natur der Sache folgende Kompetenz für den Bundesgesetzgeber angenommen.208 Der Bund durfte danach die "unaufschiebbaren gesetzgeberischen Aufgaben" im Zusammenhang mit dem Beitritt unter Abweichung von den Kompetenzbestimmungen erfüllen. Zum gleichen Ergebnis gelangt man, wenn man berücksichtigt, daß der Einigungsvertrag auch Teil des DDR-Rechts geworden ist, und eine Fortgeltung über eine erweiternde Auslegung des Art. 9 Abs. 3 annimmt. 209 Neben dem Kompetenzproblem ist zu klären, ob eine Bindung des Landesgesetzgebers überhaupt möglich ist. Die neuen Länder waren weder die Vertragspartner der Bundesrepublik noch sind sie die Rechtsnachfolger der D D R . 2 1 0 Folglich können sie nicht in Anspruch genommen werden, Pflichten der DDR aus dem Vertrag zu erfüllen. Eine Bindung über das Verfassungsrecht 206 Als Entstehungstermin war ursprünglich der 14. Oktober ins Auge gefaßt worden; das Ländereinführungsgesetz wurde insoweit durch den Einigungsvertrag geändert, BGBl. 1990 II, S. 855ff. (1150). 207

U. Fastenrath, S. 431.

208

BVerfGE 84, 133ff.(148).

209

So U. Fastenrath, S. 432. Art. 9 Abs. 3 besagt, daß das nach der Unterzeichnung des Vertrags geschaffene DDR-Recht nur dann fortgilt, wenn es zwischen den Vertragsparteien vereinbart worden ist. Die erweiternde Auslegung erscheint bei Berücksichtigung des Schutzzweckes von Art. 9 Abs. 3 als überzeugend: Die Vorschrift sollte verhindern, daß die Volkskammer in letzter Minute Recht schafft, das ungeprüft Bestandteil der bundesdeutschen Rechtsordnung wird. Die Gefahr besteht jedoch nicht bei Regelungen, die direkt im Einigungsvertrag enthalten sind. 210 Rechtsnachfolgerin ist - in begrenztem Umfang - die Bundesrepublik; vgl. Wissenschaftliche Dienste des Bundestags, Thema: Beitritt der DDR bzw. deren Länder nach Art. 23 S. 2 GG, S. 50; so auch BVerfGE 84, 133ff. (147) in bezug auf die Position als Arbeitgeber gegenüber den im Öffentlichen Dienst Beschäftigten. Allerdings findet keine Universal-, sondern nur eine Einzelsukzession statt, wobei deren Reichweite umstritten ist. Einzelheiten bei Β. v. Hoffmann , Internationales Privatrecht im Einigungsvertrag, IPRax 1991, S. Iff. (5ff.). BGH NJW 1991, S. 2498ff. (2500) lehnt einen Übergang der Dienstpflichten der untergegangenen DDR auf die Bundesrepublik im Bereich der Spionage ab.

86

3. Teil: Änderungen der Rechtslage durch den Beitritt

der ehemaligen DDR läßt sich ebenfalls nicht ableiten, da die Länder erst mit dem Beitritt und dem damit verbundenen Untergang der DDR entstanden sind. Somit kommt allein eine Bindung mittels des Staatsrechts der Bundesrepublik und an bundesdeutsche Vertragspflichten in Betracht. Eine Bindung der Gliedstaaten eines Bundesstaates ist völkerrechtlich anerkannt. 211 Somit käme man zu einer Bindung an das Landesrecht, das auch vertraglichen Charakter hat. Indes ist zu betonen, daß dieser Fall kaum je praktische Relevanz haben wird. Zum einen ist fraglich, ob es im Vertrag überhaupt Landesrecht gibt, das seinen ursprünglichen vertraglichen Charakter bewahrt hat, zum anderen ist folgendes zu berücksichtigen: Eine Bindung der neuen Länder ist nur möglich, da sie Teil des Vertragspartners Bundesrepublik geworden sind; gleichzeitig sind dieselben Länder nach Art. 44 dazu berufen, die Rechte der untergegangenen DDR zu wahren. Mißachtete also ein Land eine bindende Vertragsklausel, so wäre es selbst (neben den anderen neuen Ländern) zur Rechtswahrung berufen. Eine Klagemöglichkeit der anderen neuen Länder wird regelmäßig nicht gegeben sein, da diese durch landesrechtliche Regelungen in einem Nachbarland nicht in eigenen Rechten betroffen sind. Daß eines der neuen Länder sich selbst verklagt, ist ebenfalls auszuschließen, da In-sich-Prozesse unzulässig sind. Damit kommt man im Ergebnis zwangsläufig zu einer unbegrenzten Dispositionsbefugnis der Landesparlamente über das durch den Einigungsvertrag geschaffene Landesrecht.

211

U. Fastenrath, S. 429.

Vierter

Teil

Bindung des Gesetzgebers an einzelne Normen des Einigungsvertrags

§ 11: Kriterien zur Feststellung einer möglichen Bestandskraft Im letzten Kapitel wurde festgestellt, daß die Frage der Bestandskraft einigungsvertraglicher Vorschriften gegenüber einer abweichenden lex posterior nicht pauschal zu beantworten ist. Vielmehr läßt Art. 45 Abs. 2 diesen Aspekt offen. Im folgenden soll versucht werden, Kriterien zu entwickeln, mit deren Hilfe die Beantwortung der zu behandelnden Frage bei den einzelnen Vorschriften erleichtert wird. Der Einigungsvertrag nimmt zwischen den üblichen Kategorien Vertrag oder Gesetz eine Zwitterstellung ein. Bestimmte Regelungen hätten zweifellos auch mit Zustimmung der DDR Bestandteil einer Überleitungsgesetzgebung sein können. Bei anderen wiederum wollte sie eine vertragliche Bindung durchsetzen. Nachdem einmal die Entscheidung für einen Vertrag gefallen war, wäre eine daneben stehende Überleitungsgesetzgebung wenig sinnvoll gewesen. Eine ausdrückliche Trennung beider Bereiche hätte zudem nur politischen Streit darüber provoziert, wo was zu regeln sei. Daher wurden im Vertrag die Grundbedingungen der Einheit abschließend festgelegt, was für diese Arbeit bedeutet, daß sie in bezug auf die Änderbarkeit einzelner Vorschriften danach differenzieren muß, ob diese vertraglich vereinbart oder als quasi-einfachgesetzliche Regelungen bei Gelegenheit des Vertrags aufgenommen worden sind. Die Frage lautet folglich, ob die jeweilige Bestimmung eher vertraglich oder eher gesetzlich geprägt ist, was im zweiten Falle hieße, daß sie mit einer lex posterior aufgehoben werden könnte. Im Zusammenhang mit Art. 4 ist dieser

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

88

Satz dahingehend zu modifizieren, daß es zur Änderung der Vereinbarungen in Art. 4 in jedem Fall eines verfassungsändernden Gesetzes bedarf. Die Bindung des Gesetzgebers ist nur dann mehr als rein politischer Natur, wenn sie sich aus dem Vertragstext selbst ableiten läßt. Die objektive Auslegung von Verträgen, welche in Zweifelsfällen dem Text gegenüber der ausschließlichen Berücksichtigung des Parteiwillens Vorrang einräumt, ist heute herrschend in der Völkerrechtswissenschaft. 1 Sie liegt auch den Artt. 3Iff. W V K zugrunde. Ein Grund, warum beim Einigungsvertrag infolge seines rein staatsrechtlichen Charakters nach dem Beitritt (s.o.) etwas anderes gelten sollte, ist nicht ersichtlich. Die Auslegung hat mithin beim Wortlaut zu beginnen. Eine vertragliche Bindung des Gesetzgebers kann grundsätzlich nur dann bestehen, wenn es sich bei dieser Bestimmung um eine im Beitrittsgebiet geltende Sonderregelung handelt. Sofern in Ost- und Westdeutschland gleiches Recht gilt, hat der Gesetzgeber die Möglichkeit, dieses mit Wirkung für ganz Deutschland zu verändern. Der größere Teil des Bundesrechts, der pauschal übergeleitet worden ist, gilt somit im Beitrittsgebiet in der jeweils gültigen Fassung. Der Gedanke, daß auf diesen Rechtsgebieten eine vertragliche Zusage im Hinblick auf den Bestand der am 3. Oktober 1990 gültigen Gesetzesfassung erfolgt sein könnte, ist abzulehnen. Ihm steht der Grundcharakter des Einigungsvertrags entgegen: Der Beitritt zum Grundgesetz nach Art. 23 Satz 2 GG a.F. und damit die grundsätzliche Übernahme der bundesdeutschen Rechtsordnung waren Vorgaben, welche sich aus der Beitrittserklärung der Volkskammer vom 23. August 1990 ableiteten. Diese grundlegenden Feststellungen waren im Einigungsvertrag nicht mehr zu treffen; hier ging es vielmehr um die Modalitäten des Beitritts und damit um spezielle Regelungen für das Beitrittsgebiet. Soweit der Vertrag festlegt, daß Bundesrecht im Westen und in den neuen Ländern gleichermaßen gilt, kommt daher eine Bindungswirkung für den Gesetzgeber nicht in Betracht. 2 Festzuhalten ist allerdings, daß der Vertrag in seinen Anlagen beinahe ausschließlich Sonderregelungen enthält. Die Betonung allein des Sondercharak-

1 2

W. Heintschel v. Heinegg, S. 122.

Im übrigen galt gleiches, also die Übernahme der jeweils gültigen Version eines bundesdeutschen Gesetzes, für die Rechtsnormen, die die DDR nach dem Staatsvertrag in Kraft zu setzen hatte. Obwohl die DDR zu diesem Zeitpunkt noch ein Völkerrechtssubjekt war, waren in Bonn erfolgende Gesetzesänderungen nach Ani. II, I Nr. 2 des Staatsvertrags automatisch auch in der DDR gültig. Vereinbart wurde lediglich die Unterrichtung durch die Bundesrepublik und die Einholung einer Stellungnahme.

§ 11 : Kriterien zur Feststellung der Bestandskraft

89

ters einer Norm als Voraussetzung für deren Bestandskraft führt daher kaum weiter. Eine erste Eingrenzung des Kreises folgt jedoch aus der Feststellung, daß bei landesrechtlichen Vorschriften im Einigungsvertrag die Dispositionsbefugnis des Landesgesetzgebers zumindest faktisch uneingeschränkt besteht.3 Die Frage der Bestandskraft einigungsvertraglicher Normen ist im Kern deshalb so problematisch, weil divergierende Interessen beider Verhandlungspartner zu berücksichtigen sind. Der DDR ging es um eine möglichst weitgehende und rechtlich verbindliche Vereinbarung über die Grundbedingungen der Vereinigung, während die Bundesregierung naturgemäß die Handlungsfähigkeit des künftigen gesamtdeutschen Gesetzgebers wie der Exekutive bedenken mußte. Ihrer Interessenlage entsprach daher, die Zahl der vertraglichen Vereinbarungen mit Bestandskraft gegenüber einer lex posterior strikt zu begrenzen. Gleichzeitig konnte der Vertragspartner DDR bei allem Interesse an einer rechtlichen Absicherung des Ausgehandelten seine Position nicht schrankenlos verfechten, denn ihm mußte ebenfalls an der Handlungsfähigkeit des zu bildenden gesamtdeutschen Parlaments gelegen sein. Daneben trugen auch die tatsächlichen Machtverhältnisse zwischen den Vertragspartnern dazu bei, für die Bundesregierung unerwünschte Ergebnisse weitgehend zu vermeiden. Eine Bindung des Gesetzgebers wird mit Recht als problematisch empfunden.4 Je weiter die Beschränkung der Legislative reicht, desto mehr wird eine der zentralen Funktionen des Gesetzes, Mittel zur Durchsetzung politischer Zielvorstellungen zu sein5, beeinträchtigt. Das kann zur Folge haben, daß das Parlament als Verkörperung des hypothetischen Volkswillens 6 nicht mehr in der Lage ist, diesen durchzusetzen. Aus dem Demokratieprinzip folgt, daß Veränderungen des Volkswillens und damit politischer Zielvorstellungen wenigstens möglich sein müssen.7 Zudem können sich Normen angesichts wandelnder Lebensumstände und Wertanschauungen sowie neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse immer als untauglich erweisen, so daß auch unter diesem Aspekt dem Gesetzgeber Spielraum gelassen werden sollte.8 Andererseits zeichnet

3

Siehe oben § 10 III.

4

Vgl. etwa D. Wilhelm, Randnr. 50. BVerfGE 48,403 (415).

5

H H. Klein, Aufgaben des Bundestages, HdbStR II, § 40, S. 341ff. (Randnr. 17).

6

Κ Stern, Staatsrecht II, § 26 I 1 b, S. 39.

7

Κ Hesse, Verfassungsrecht, Randnr. 143.

8

H. H. Klein, Randnr. 16.

90

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

einen Vertrag gerade die Bindung an seinen Inhalt aus; der Vertragspartner soll dauerhaft wissen, woran er ist. Dies ist bei Vereinigungsverträgen von besonderer Bedeutung, da es die letzte Chance für den untergehenden Teil ist, seine Rechte selbständig zu vertreten. Zudem ist zu bedenken, daß eine Beschränkung künftiger Gesetzgebung in anderen Fällen ebenfalls hingenommen wird, etwa in Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbot. 9 Für und gegen die Bestandskraft eines Eingliederungsvertrags sprechen also verschiedene grundsätzliche Argumente von hohem Gewicht. Erforderlich wird somit eine Abwägung. Dabei stellt man beim Einigungsvertrag fest, daß die Gewichtung der Argumente höchst unterschiedlich ausfallen kann, je nach dem, für welche konkrete Einzelbestimmung sie vorgenommen wird. Dies hat seine Ursache in dem unterschiedlichen Regelungsgehalt der einzelnen Vorschriften. Beispielsweise besteht das Problem der Anerkennung von DDRSchul-, Hochschul- und Berufsabschlüssen zwar in einer großen, aber doch endlichen Zahl von Fällen; der betroffene Personenkreis ist begrenzt. Andere Sonderregelungen sind befristet; die Spanne reicht dabei von einigen Tagen bis zu mehreren Jahren. Abhängig vom Normgehalt fallen somit die grundsätzlich anzuerkennenden Argumente für die Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers verschieden stark ins Gewicht. Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob dem Gesetzgeber durch die Feststellung der Bestandskraft die Dispositionsbefugnis dauerhaft oder nur in begrenztem Umfang entzogen wird. Gleichzeitig ist das Interesse der DDR an einer rechtlich abgesicherten Regelung der Grundfragen der Vereinigung nicht einheitlich stark zu bewerten. Vorschriften, die unbefristet und in einer unbegrenzten Zahl von Fällen gültig sind, haben zumeist nicht Grundfragen der Vereinigung zum Inhalt, sondern einen darüber hinausgehenden Regelungsgehalt. Spezifische Interessen der neuen Länder gegenüber dem Gesamtstaat während des Vereinigungsprozesses werden darin im allgemeinen nicht angesprochen. Das Bestehen solcher Sonderinteressen ist aber eine unentbehrliche Voraussetzung für die Bestandskraft: Anerkennt man, daß Beschränkungen der Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers grundsätzlich zu vermeiden sind, so kann nur ein spezielles Interesse eines Vertragspartners legitimieren, daß man in Ausnahmefällen diese negativen Folgen in Kauf nimmt.

9 Siehe unten bei § 24; vgl. auch G. Kisker, Vertrauensschutz im Verwaltungsrecht, VVDStRL 32, S. 149ff. (179): "Von der politischen Gemeinschaft fordert das Verfassungsrecht, daß sie eine gewisse Behinderung des neuen Kurses durch Relikte aus der Zeit des alten Kurses erträgt."

§ 11 : Kriterien zur Feststellung der Bestandskraft

91

Neben diesen eher formalen Erwägungen sind die Gründe zu berücksichtigen, warum bestimmte Bereiche abweichend von der Grundregel der Artt. 8, 9 durch Übergangsnormen geregelt wurden. Im Vertrag und in den Erläuterungen der Bundesregierung 10 findet sich eine Vielzahl von Motiven. Anhand dieser Aussagen soll im folgenden der Versuch unternommen werden, die Frage der Änderbarkeit für größere Gruppen von Vorschriften aus den Anlagen zu klären. Der NichtÜberleitung von Bundesrecht steht dabei regelmäßig die Fortgeltung entsprechenden DDR-Rechts gegenüber; aus logischen Gründen kann die Frage der Bestandskraft für diese parallelen Bestimmungen nur einheitlich beantwortet werden. Zusammenfassend bleibt festzustellen: Je begrenzter der Anwendungsbereich einer Norm ist, desto eher werden darin unmittelbar im Zusammenhang mit der Vereinigung entstehende Fragen geregelt. Daraus lassen sich zwei Vermutungen ableiten, die nicht immer, aber doch regelmäßig gelten: Einmal folgt aus dem starken Vereinigungsbezug ein besonderes Interesse der ehemaligen DDR am Bestand dieser Vorschriften. Sie wollte wenigstens die unmittelbare Eingliederung der neuen Länder und ihrer Bürger absichern. 11 Zweitens wird bei derartigen Bestimmungen eine Beschränkung der Handlungsfähigkeit des Parlaments nur in begrenztem Maße vorkommen. Sobald der Vereinigungsprozeß abgeschlossen ist, verlieren diese Normen ihren Zweck, und der Gesetzgeber wird wieder frei. Je weiter eine Norm über den unmittelbaren Zeitraum des Vereinigungsprozesses hinaus Anwendung findet, desto eher wird es sich nicht um eine Regelung zur Eingliederung des Beitrittsgebiets handeln, sondern stattdessen um eine allgemeine Regel, die bei Gelegenheit des Einigungsvertrags geschaffen wurde. Bei derartigen Normen verringert sich das berechtigte Sonderinteresse der DDR, während andererseits die Nachteile einer Beschränkung der gesetzgeberischen Dispositionsbefugnis in besonders gravierender Weise zutage treten. Aus diesen Gründen spricht bei den Bestimmungen, die dauerhafte Gültigkeit haben und bei Gelegenheit des Einigungs Vertrags vereinbart worden sind 12 , eine Vermutung für die Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers. Das Gegenteil

10

BT-Drucks. 11/7817.

11

Prot, des DDR-Ministerrates, 17. Sitzung am 16. Juli 1990, S. 3; 23. Sitzung am 2. Aug. 1990, S. 4. 12

Ein Beispiel hierfür ist die Bestimmung des 3. Oktober zum Tag der Deutschen Einheit, Art. 2 Abs. 2.

92

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

gilt für Regelungen, die ganz unmittelbar einen Bezug zum Vereinigungsprozeß aufweisen. Durch diese Vermutung läßt sich allerdings nur das Regel-Ausnahme-Verhältnis klären, jedoch führt sie zu keiner abschließenden Bewertung. Hinzu kommen muß der Wille der Vertragspartner, die jeweilige Bestimmung bestandsfest auszugestalten. Nach den bislang gefundenen Ergebnissen kommt eine vertragliche Zusage der Bestandskraft nur bei Normen in Betracht, die auf das Beitrittsgebiet beschränktes Bundesrecht enthalten und denen das wesentliche Ziel zugrunde liegt, Sonderinteressen des Beitrittsgebiets im Vereinigungsprozeß zu wahren. Liegen diese Voraussetzungen vor, muß abgewogen werden, ob bei Berücksichtigung dieser berechtigten Interessen die damit verbundene Beschränkung der Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers hinzunehmen ist. In den folgenden Kapiteln wird zunächst untersucht, ob sich bei bestimmten Normgruppen einheitliche Aussagen zur Bestandskraft machen lassen; die Gruppierungen orientieren sich dabei an den Gründen für die Aufnahme dieser Bestimmungen in den Einigungsvertrag. Anschließend werden besonders bedeutsame Vorschriften, wie etwa die Verfassungsänderungen oder -abweichungen und die Eigentumsregelung, gesondert untersucht.

§ 12: Normen ohne Bestandskraft

I. Sonderregelungen wegen Reformbedürftigkeit oder Zweckwegfalls des Bundesrechts

Relativ einfach ist die Frage nach einer Bindung des Gesetzgebers für die Vorschriften zu beantworten, in denen Bundesrecht abweichend von der generellen Aussage in Artt. 8, 9 deshalb nicht übergeleitet worden ist, weil es für reformbedürftig gehalten wurde. Gilt DDR-Recht fort, da man ein Handeln des künfigen Gesetzgebers abwarten will, ist eine Beschränkung dessen Handlungsfähigkeit schon gedanklich ausgeschlossen. In diese Rubrik fallen das

§ 12: Normen ohne Bestandskraft

93

Abtreibungsrecht 13, das Insolvenzrecht, das Rechtsanwalts- und Notarrecht 14 sowie der Schutz des Bodens durch das Umweltstrafrecht. 15 Der Gedanke gilt in gleicher Weise in Fällen, in denen die Vertragspartner die Konsequenz aus einem Verfassungsgerichtsurteil gezogen haben. Auch hier ist es die - allgemeiner formuliert - Schwäche des Bundesrechts, die das Motiv für die Übergangsregelung bildet. Insbesondere wurden viele Normen, in denen nach Arbeitern und Angestellten differenziert wird, im Gefolge von BVerfGE 82, 126 zur Verfassungswidrigkeit von § 622 BGB nicht übergeleitet. 16 Schließlich kommt eine Bestandskraft von vornherein nicht in Betracht, wenn DDR-Recht lediglich bis zum bereits beschlossenen Zeitpunkt des Inkrafttretens eines bundesdeutschen Reformgesetzes fortgelten sollte. 17 Bei anderen Bestimmungen ist die Vorläufigkeit der Sonderregelung in den Anlagen damit begründet worden, der Gesetzgeber solle nicht präjudiziell werden. Es handelt sich teilweise um Materien, bei denen wegen ihrer Komplexität in der Kürze der Zeit eine umfassende Vereinbarung nicht möglich war. Auch hier sollte dem Parlament mithin ein Freiraum belassen und nicht entzogen werden. Eine Beschränkung der Handlungsfähigkeit scheidet angesichts solcher Intentionen aus. Dies gilt für die Übergangsregelungen betreffend die Stasi-Unterlagen 18, Vorschriften auf dem Gebiet des gewerblichen Rechts13

Vgl. Art. 31 Abs. 4 Satz 1: "Es ist Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers, spätestens bis zum 31. Dezember 1992 eine Regelung zu treffen, die den Schutz vorgeburtlichen Lebens und die verfassungskonforme Bewältigung von Konfliktsituationen schwangerer Frauen [...] besser gewährleistet, als dies in beiden Teilen Deutschlands derzeit der Fall ist." Aus der Formulierung folgt eindeutig, daß bereits vor dem 31. Dez. 1992 die Möglichkeit zur Änderung des Abtreibungsrechts bestand. Der Gesetzgeber hat diesen Auftrag des Einigungsvertrags nicht in der vorgegebenen Zeit erfüllt, da es bislang nicht gelungen ist, eine verfassungskonforme Lösung zu finden, vgl. BVerfGE 88,203ff. 14

K. Kinkel, Der Aufbau des Rechtsstaats in den neuen Bundesländern, AnwBl. 1991, S. 353ff.

(357). 15

Vgl. BT-Drucks. 11/7817, S. 8, 65.

16

Dies gilt für § 616 Abs. 2, 3 BGB, einige Vorschriften aus dem HGB, das Gesetz über die Fristen für die Kündigung von Angestellten und Teile des Lohnfortzahlungsgesetzes. Vgl. in dieser Reihenfolge BT-Drucks. 11/7817, S. 36, 54, 136. 17 Zu dieser Gruppe gehören das Ausländerrecht, die mit Blick auf das Betreuungsgesetz erfolgten Maßgaben in Art. 231 § 1 EGBGB und das Rentenrecht. Das Rentenrecht ist seit dem 1. Jan. 1992 bundeseinheitlich im SGB-VI geregelt. 18

Der Gesetzgeber war bei der mittlerweile erfolgten umfassenden Regelung im Stasi-Unterlagengesetz frei; der Einigungs vertrag hatte ausdrücklich nur eine Empfehlung ausgesprochen und geregelt, daß die in ihm enthaltenen Vereinbarungen rein vorläufigen Charakter haben; vgl. Ani. I, Kap. II, Sachgeb. B, Abschn. II, Nr. 2 b); BGBl. 1990 II, S. 912.

94

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

schutzes19 und der Kriegsfolgenregelungen 20, das Unterhaltsvorschußgesetz 21, das Gräbergesetz 22, die Promillegrenzen für Alkohol im Verkehr 23 und das Wohnungsbelegungsgesetz24. Die Kriegsfolgenregelungen wurden auch deshalb nicht übergeleitet, da ihr ursprünglicher Zweck 45 Jahre nach Kriegsende nicht mehr erreichbar war. Vollständig obsolet geworden sind durch die Vereinigung Gesetz und Verordnung über innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe 25 . Diese Bestimmungen bleiben aus sachlichen Gründen abgeschafft, ohne daß es dazu einer vertraglichen Bindung bedarf.

II. Sonderregelungen wegen völkerrechtlicher Implikationen

Nach Art. 11 gelten Verträge der alten Bundesrepublik grundsätzlich im inzwischen vergrößerten Deutschland fort. Damit bestätigen die Vertragsparteien die Geltung des völkerrechtlichen Grundsatzes der "beweglichen Vertragsgrenzen". 26 Soweit die Anwendung dieser Regel ihrerseits einen Völkerrechts verstoß, namentlich eine Verletzung des 2+4-Vertrags, bedeuten würde, muß ausnahmsweise die Anwendbarkeit einzelner Verträge auf Westdeutschland beschränkt bleiben. Daher wurden bestimmte Verträge und die dazugehörigen

19

Vgl. Ani. I, Kap. III, Sachgeb. E, Abschn. II, Nr. 1, § 13; BGBl. 1990 II, S. 962.

20

Ani. I, Kap. IV, Sachgeb. A, Abschn. I, II; BGBl. 1990 II, S. 964ff. Die Vorschriften wurden zum Teil vollständig von der Überleitung ausgeschlossen, da sie ihren Zweck nicht mehr erfüllen können, zum Teil mit der Befristung bis zum 31. Dez. 1991, um den Gesetzgeber bei der Generalbereinigung des Kriegsfolgenrechts nicht zu präjudizieren. Vgl. BT-Drucks. 11/7817, S. 101. 21

Ani. I und II, jeweils Kap. X, Sachgeb. H, Abschn. I, Nr. 1; BGBl. 1990 II, S. 1093, 1220.

22

Ani. I, Kap. X, Sachgeb. H, Abschn. III, Nr. 11; BGBl. 1990 II, S. 1096. Der Gesetzgeber soll Zeit für eine den Interessen der neuen Länder entsprechenden Gesetzesnovelle haben. 23 § 24 a StVG, der die 0,8 Promille-Grenze statuiert, wurde nach Ani. I, Kap. XI, Sachgeb. B, Abschn. III, Nr. 1 a) (BGBl. 1990 II, S. 921) nicht übergeleitet. 24

Ani. II, Kap. XIV, Abschn. III; BGBl. 1990 II, S. 1230.

25

Ani. I, Kap. III, Sachgeb. C, Abschn. II, Nr. 5 (bzw. Abschn. I, Nr. 2); BGBl. 1990 II, S. 957 (bzw. 954). 26

Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S. 362.

§ 12: Normen ohne Bestandskraft

95

Vertragsgesetze der Bundesrepublik von meist militärischer Bedeutung 27 nicht übergeleitet. Im Gegensatz dazu lag der Grund für die Maßgabe zum Gesetz zum deutsch-österreichischen Konkursvertrag 28 darin, daß gerade die Anwendung des Vertrags auch im Beitrittsgebiet sichergestellt werden sollte. 29 Da das Recht der Staatensukzession in völkerrechtliche Verträge in den Einzelheiten sehr umstritten ist, war die Rechtslage in bezug auf die Verträge der ehemaligen DDR weniger eindeutig. Die Vertragspartner haben daher in Art. 12 keine abschließende Regelung vereinbart, sondern lediglich das Verfahren der Entscheidungsfindung festgelegt: Die Bundesrepublik wird die Frage mit den jeweiligen Vertragspartnern der DDR unter Berücksichtigung "der Interessenlage der beteiligten Staaten [...] sowie nach den Prinzipien einer freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Grundordnung" 30 erörtern. Um dem nicht vorzugreifen, wurde die Fortgeltung von einigen DDR-Rechtsnormen im Beitrittsgebiet angeordnet, die auf alten völkerrechtlichen Verträgen der DDR beruhen. Es handelt sich um die Fortgeltung von § 84 StGB-DDR 31 sowie um die Schaffung einer rechtlichen Grundlage, damit Unternehmen im Beitrittsgebiet nötigenfalls zur Erfüllung der Verpflichtungen aus den Außenwirtschaftsbeziehungen der ehemaligen DDR gezwungen werden können 32 . Aus dem gleichen Grund wurden einzelne handelsrechtliche Bestimmungen der Bundesrepublik nicht übergeleitet, soweit sie mit völkerrechtlichen Verträgen der ehemaligen DDR nicht zu vereinbaren waren. 33 Insbesondere aus der vorsichtigen Formulierung des Art. 12 wird deutlich, daß die Frage der Fortgeltung völkerrechtlicher Verträge weniger ein Problem

27 Vgl. Ani. I, Kap. I; BGBl. 1990 II, S. 908f. Ferner wurden Verträge nicht übergeleitet, die das Verhältnis der Bundesrepublik zu den drei Westmächten in der Nachkriegszeit regelten. 28

Ani. I, Kap. III, Sachgeb. A, Abschn. III, Nr. 18; BGBl. 1990 II, S. 935.

29

Problematisch war dies, da in den neuen Ländern die Konkursordnung nicht gilt (s.o.). Die Maßgabe erstreckt die Geltung des Zustimmungsgesetzes zum Konkursvertrag auch auf das Beitrittsgebiet, in dem die Gesamtvollstreckungsordnung gilt. 30 Mittlerweile hat sich die Bundesrepublik in einer Vielzahl von Fällen mit dem Drittstaat über das Erlöschen der alten DDR-Verträge verständigt. Angaben bei G. Schuster, Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1990, ZaöRV 52 (1992), S. 828ff. (1042f.). 31 Ani. II, Kap. III, Sachgeb. C, Abschn. I, Nr. 1; BGBl. 1990 II, S. 1168. Die Vorschrift regelt die Nichtverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und beruht auf einem internationalen Abkommen, das von der DDR ratifiziert worden war. 32

Ani. II, Kap. V, Sachgeb. E, Abschn. II, Nr. 1; BGBl. 1990 II, S. 1202.

33

Ani. I, Kap. III, Sachgeb. D, Abschn. III, Nr. 1 b) und 5; BGBl. 1990 II, S. 959f.

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

96

des Interessenausgleichs zwischen der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR darstellt, als vielmehr eines zwischen dem entstehenden größeren Deutschland und den Vertragspartnern eines ehemals selbständigen Teilstaates. Die Rechtseinheit wurde auf den genannten Gebieten nicht sofort hergestellt, um zuvor mit den Vertragspartnern verhandeln zu können und so einen Bruch des Völkerrechts zu vermeiden. Die angesprochenen Regelungen beruhen somit letztlich auf politischer Rücksichtnahme gegenüber Dritten und der unklaren völkerrechtlichen Rechtslage. Ein besonderes Interesse der ehemaligen DDR an der dauerhaften Fortgeltung einer der genannten Normen stand nicht zur Diskussion. Da es das wesentliche Motiv für die Aufnahme dieser Vorschriften in den Einigungsvertrag war, Zeit für Verhandlungen mit Dritten zu gewinnen, scheidet die Vereinbarung der Bestandskraft dieser Vorschriften seitens der beiden deutschen Vertragspartner aus. Der Gesetzgeber kann selbst völkerrechtlich gültige Verträge innerstaatlich abändern 34; es ist kein Grund ersichtlich, warum er sich dieses Rechts begeben sollte bei Verträgen der ehemaligen DDR, deren Gültigkeit zumindest umstritten ist. Folglich ist durch den Einigungsvertrag keine Bindung an diese Bestimmungen eingetreten.

I I I . Sonstige Bestimmungen des Einigungsvertrags ohne (aktuelle) Bindung des Gesetzgebers

Über die aufgelisteten Bestimmungen hinaus ist die Fragestellung nach einer möglichen Bindung des Gesetzgebers bei einer Vielzahl von Normen des Einigungsvertrags obsolet; zum Teil war sie dies von Anfang an, zum Teil ist sie es geworden. Bei diesen Normen kann folglich auf eine eingehende Erörterung verzichtet werden. Die Gründe, warum der hier behandelte Aspekt bei den aufzuzählenden Bestimmungen bedeutungslos ist, sind sehr unterschiedlicher Natur. Evident ist die mittlerweile eingetretene Bedeutungslosigkeit bei den Regelungen, die nur für die (kurze) Übergangszeit bis zur Wahl der Länderparla-

34

Siehe oben die Erläuterungen zur Änderbarkeit des Reichskonkordats, § 9 II.

§12: Normen ohne Bestandskraft

97

mente und des gesamtdeutschen Bundestags Gültigkeit hatten. 35 Nach Bildung der Landesregierungen und dem Zusammentreten des 12. Bundestages haben diese Sonderbestimmungen jeden Regelungsgehalt verloren. In engem Zusammenhang zu dieser Gruppe stehen einige Vorschriften, die ihren sachlichen Grund meist darin finden, daß die DDR bis zum Beitritt ein zentralistisch ausgerichteter Staat war und die neuen Länder zum Beitrittsdatum organisatorisch und finanziell nicht in der Lage waren, aus dem Stand föderale Strukturen zu entfalten. Hier sind insbesondere - aber nicht nur - zeitlich befristete Hilfen für die neuen Länder und besondere soziale Leistungen zu nennen.36 Dabei ist allerdings zu klären, was gilt, sofern die im Einigungsvertrag genannten Fristen verlängert worden sind. Konkret wird diese Frage etwa beim Ausschluß der Eigenbedarfskündigung für Wohnraum. 37 Die Antwort ergibt sich aus dem oben Festgestellten: Eine Bindungswirkung für den Gesetzgeber kann nur bestehen, wenn eine Vorschrift nach wie vor vertraglichen Charakter hat. Vertraglich zugesichert hatte die Bundesrepublik gegenüber der DDR die Geltung der Ausnahmebestimmungen nur bis zu dem im Einigungsvertrag genannten Zeitpunkt. Falls die Bestimmungen einseitig verlängert worden sind, erfolgte dies auf gesetzlicher Grundlage; eine vertragliche Bindung scheidet aus. Daher ist der Gesetzgeber allenfalls bis zu dem im Vertragstext genannten Zeitpunkt gebunden. Bei einer Reihe von Bestimmungen ist dieser Termin bereits erreicht, weswegen eine mögliche Zusage der Bestandskraft spätestens jetzt keine Wirkung mehr entfaltet. An spätere Gesetze, durch die einigungsvertragliche Fristen verlängert werden, kann der Gesetzgeber allenfalls über das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzgebot gebunden sein. 38

35 Art. 15 Abs. 1 - Regelung bis zur Bildung der Länder; Art. 16 - Regelung bis zur Bildung einer gesamtberliner Landesregierung; Art. 42 - Entsendung von Abgeordneten in den 11. Bundestag; Art. 43 - Übergangsvorschrift für den Bundesrat bis zur Bildung von Landesregierungen. 36 Art. 14 - Gemeinsame Einrichtungen der Länder für Übergangszeit; Art. 15 Abs. 3, 4 - Verwaltungshilfe bei der Durchführung von Fachaufgaben; Kostenregelung; Art. 30 Abs. 2, 3 - Regelungen im Bereich Arbeit und Soziales; Art. 31 Abs. 3 - Kostenbeteiligung des Bundes bei Tageskrippen; Art. 36 - Rundfunk; Art. 38 Abs. 2-4 - Übergangsregelung bis zu Entscheidungen der Länder im Bereich Wissenschaft und Forschung; Art. 39 Abs. 3 - Förderung des Behindertensports durch Bund. 37 Nach der Fassung des Einigungsvertrags wäre die Frist nach Art. 232 § 2 Abs. 3 EGBGB am 31. Dez. 1992 ausgelaufen, sie wurde jedoch durch Gesetz bis Ende 1995 verlängert. Die derzeit gültige Fassung des EGBGB ist abgedruckt in BGBl. 1994 I, S. 2494ff. 38

7 Hoch

Einzelheiten dazu unten bei § 24.

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

98

Erledigt sind ferner die Artt. 2 Abs. 1 und 5, da Bundestag und Bundesrat mit ihren Entscheidungen zur Hauptstadtfrage und der Einsetzung einer Kommission zur Behandlung der Verfassungsfragen die im Einigungsvertrag genannten Verpflichtungen erfüllt haben. Eine weitere Beschränkung des zu behandelnden Stoffes ergibt sich daraus, daß dem Bundesgesetzgeber unabhängig von der Frage Vertrag oder Gesetz aus verfassungsrechtlichen Gründen die Kompetenz fehlt, bestimmte Bereiche des Vertrags im Wege eines einfachen Gesetzes zu ändern. Hierzu zählen die Artt. 13, 14, worin der Übergang von Einrichtungen der DDR in die Trägerschaft des Bundes oder der neuen Länder angeordnet wird. Was in die Trägerschaft der neuen Länder übergegangen ist, kann ihnen durch eine einfache lex posterior nicht entzogen werden. Dies beruht allerdings nicht auf dem vertraglichen Element der genannten Artikel, sondern auf der föderativen Ordnung des Grundgesetzes. Aus einem ähnlichen Grund entzieht sich auch Art. I 3 9 einer Änderung durch den Gesetzgeber. Der Beitritt selbst erfolgte durch die Erklärung der Volkskammer vom 23. August 1990 40 , so daß Art. 1 nur regelt, daß nicht die DDR als Ganzes, sondern die dort genannten Länder Teile der Bundesrepublik werden. Eine Änderung dieser Bestimmung führte somit automatisch zu einer Neugliederung des Bundesgebietes, was nur im Verfahren nach Art. 29 GG zulässig ist. 41

39

"Mit dem Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990 werden die Länder [folgt Aufzählung] Länder der Bundesrepublik Deutschland.!...]" 40

Der Wortlaut dieser Erklärung ist u.a. abgedruckt in Deutscher Bundestag (Hrsg.): Auf dem Weg zur deutschen Einheit, Band 4, S. 286. 41

Eine Ausnahme gilt nach Art. 5 für den Raum Berlin/Brandenburg.

§13: Übergangsregelungen zur Anpassung der Verhältnisse

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§ 13: Übergangsregelungen zur Anpassung der Verhältnisse Zahlreiche Normen des Einigungs Vertrags dienen nach Angaben der Bundesregierung als Übergangsregelungen im engeren Sinne. Darunter sollen hier solche Vorschriften verstanden werden, deren primäres Ziel die Gewährleistung einer möglichst reibungslosen Anpassung der tatsächlichen Verhältnisse im Beitrittsgebiet an die bundesdeutsche Rechtsordnung darstellt. Gemeinsam ist den im folgenden aufgelisteten Vorschriften, daß an ihren dauerhaften Bestand nicht gedacht ist. Auch wenn die Fristen für die Geltung der Sonderregelungen unterschiedlich bemessen sind oder zum Teil sogar ganz fehlen, ist doch ihre Ablösung durch eine in ganz Deutschland geltende Regelung von den Vertragsparteien im Grundsatz beschlossen worden. Somit tragen diese Bestimmungen regelmäßig organisatorischen und technischen Problemen während der Übergangszeit Rechnung; man könnte sie daher als rein "technische" Übergangsregelungen bezeichnen. Zu den wesentlichen Gründen für den Erlaß dieser Bestimmungen zählen die fehlenden Länderstrukturen im Beitrittsgebiet, die (sich auch daraus ergebenden) Abweichungen im Behördenaufbau und in vielen Bereichen das fehlende Fachpersonal. Besonders intensive Eingriffe waren bei der Überleitung des Rechtspflegerechts 42 erforderlich. Darüber hinaus wurden Maßgaben unter anderem in folgenden Bereichen mit derartigen organisatorischen oder technischen Notwendigkeiten begründet: -bei der Geltung des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes in den beigetretenen Ländern, -beim Personenstandsgesetz, -im Melderecht, -im Polizeiwesen, -bei der Führung des Grundbuchs und der Schiffsregister, -bei der Lebensmittelkontrolle, -im Sozialhilferecht und -im Verkehrsrecht. 43

42

Einzelheiten bei P. Rieß/H. Hilger y Das Rechtspflegerecht des Einigungs Vertrages. Vgl. auch das Rechtspflegeanpassungsgesetz vom 26. Juni 1992, BGBl. I S. 1147ff. Dazu: P. Rieß, Das Gesetz zur Anpassung der Rechtspflege im Beitrittsgebiet, DtZ 1992, S. 226ff. 43

7*

Vgl. dazu BT-Drucks. 11/7817, S. 3, 4, 49, 161f., 164f.

100

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

Da sich die Vertragsparteien über das Ziel der vollständigen Herstellung der Rechtseinheit auf diesen Gebieten geeinigt hatten, kann es nur noch darum gehen, ob der in den behandelten Bestimmungen vereinbarte Weg disponibel ist oder vertraglich festgeschrieben wurde. Behandelt wird somit die Frage, ob der Übergang in diesem Bereich beschleunigt oder verlangsamt werden kann oder vollständig andere Optionen denkbar sind als im Einigungsvertrag vereinbart. Dabei helfen die bislang gefundenen Kriterien nur sehr bedingt weiter. Insbesondere ist fraglich, auf welche Weise eine der wesentlichen Voraussetzungen für eine vertragliche Bindungswirkung, ein berechtigtes Sonderinteresse des Verhandlungspartners DDR am Bestand einer Norm, ermittelt werden kann. Anhand des Bereichs der Rechtspflege wird deutlich, daß meist zwei Ansätze denkbar sind: Man könnte das objektive Interesse der DDR darin sehen, eine möglichst langfristige Geltung der Sonderregelungen durchzusetzen, um einen schonenden Anpassungsprozeß zu gewährleisten oder andererseits argumentieren, es müsse auf eine rasche Übernahme des rechtsstaatlichen und leistungsfähigen bundesdeutschen Rechtspflegesystems gerichtet sein. Die These, wonach unbefristete Normen grundsätzlich nicht bestandsfest sind, ist in diesem Kapitel ebenfalls nicht hilfreich. Die These stützt sich darauf, daß bei solchen Vorschriften im Zweifel die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Vorrang beanspruchen kann und gleichzeitig in diesen Vorschriften keine Fragen mit spezifischem Vereinigungsbezug geregelt werden; deswegen spricht die Vermutung gegen ein besonderes Interesse der DDR am Bestand dieser Vorschriften. Diese Argumente passen nicht auf die hier zu besprechenden Vorschriften. Aus dem Fehlen der Befristung kann man nicht schließen, es sei an ihren dauerhaften Bestand gedacht; vielmehr wollte man nur ein Terminprognose vermeiden, wann auf einem bestimmten Gebiet die Rechtseinheit spätestens hergestellt sein würde. Daher wäre es auch unzutreffend, aus der fehlenden Befristung den Mangel eines unmittelbaren Vereinigungsbezugs zu folgern. Für die Frage nach der Änderbarkeit der Normen in der Übergangszeit - nur für diese wurden sie geschaffen - lassen sich somit aus der Tatsache der Befristung keine passenden Aussagen ableiten. Aussichtsreicher zur Klärung der aufgeworfenen Frage erscheint die Berücksichtigung des Grundes, warum die Vorschriften in den Vertrag aufgenommen worden sind. Eine bessere Anpassung an die bundesdeutsche Rechtsordnung und die Erleichterung des Übergangs sollten erreicht werden. Das Ziel der vollen Herstellung der Rechtseinheit war mithin vorgegeben; zu entscheiden war über den bestgeeigneten Weg zur Erreichung dieses Zieles. Gleichzei-

§13: Übergangsregelungen zur Anpassung der Verhältnisse

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tig muß man sich vergegenwärtigen, daß die Annahme einer vertraglich gesicherten Bestandskraft dieser Bestimmungen jede andere Lösungsmöglichkeit eines Sachproblems verhindern kann. Angesichts der sich rasch verändernden tatsächlichen Lage in der ehemaligen DDR mußten die Parteien damit rechnen, daß sie nicht in allen Sachfragen auf Anhieb den Stein der Weisen finden. Es erscheint daher als abwegig anzunehmen, daß sie eine Anpassung der Übergangsnormen an die sich ändernde Situation definitiv ausschließen wollten. Dies gilt um so mehr, als wegen des auf den Vertragsverhandlungen lastenden Zeitdrucks eine Prognose bezüglich der praktischen Tauglichkeit jeder einzelnen Maßnahme nicht möglich war. Bei Berücksichtigung dieser Umstände erscheint ein grundsätzlicher Ausschluß einer Änderung infolge einer vertraglichen Bindungswirkung als unangemessen. Soweit ersichtlich, ist dies auch von niemandem vertreten worden. Allerdings bleibt fraglich, unter welchen Voraussetzungen Veränderungen vorgenommen werden dürfen. Auf Grund des Zwecks der hier behandelten Normen kommt die Möglichkeit der Veränderung infolge gewandelter äußerer Umstände in Betracht. Damit stellt sich das weitergehende Problem, wer zur Feststellung der Notwendigkeit einer Anpassung berechtigt sein soll. Grundsätzlich kommt dafür nur der jeweils kompetente Gesetz- oder Verordnungsgeber in Betracht, der bei einer Veränderung per se auch über deren Notwendigkeit entscheidet. Soweit der Bund zuständig ist, ergibt sich folglich die Situation, daß ein Vertragspartner allein die Veränderung der einer Norm zugrundeliegenden äußeren Umstände feststellen kann. Man mag dies mit Blick auf die besonderen Umstände bei einem Vereinigungsvertrag als unvermeidbar hinnehmen und ferner darauf verweisen, daß in den Organen des Bundes nunmehr auch Vertreter aus den neuen Ländern mitwirken. Andererseits muß auch berücksichtigt werden, daß für jedes spezielle Sachproblem ein bestimmtes Lösungsverfahren vertraglich vereinbart worden ist. Dieses Verfahren ist von beiden Seiten legitimiert worden und erhält allein dadurch ein hohes Gewicht. Willkürliche Änderungen bei unveränderter tatsächlicher Problemlage scheiden infolgedessen aus. Es geht also darum, bei grundsätzlicher Anerkennung der Dispositionsfreiheit des Gesetzgebers eine Lösung zu finden, die auch das vertragliche Element der Vereinbarungen berücksichtigt. Man darf nicht vergessen, daß gerade die hier behandelten Bestimmungen in der schwierigen Phase des Übergangs für die Bevölkerung von besonderem Gewicht sein können. Genau derselbe Um-

102

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

stand, die Problematik des Übergangs, führt andererseits dazu, daß unbedingt ein Mindestmaß an Flexibilität erhalten bleiben muß. Der dritte Teil der Arbeit hatte zum Ergebnis, daß in der Frage der Bestandskraft des Einigungsvertrags ein angemessener Ausgleich der divergierenden Interessen stattzufinden hat. Dieser Grundsatz bedeutet im vorliegenden Fall, daß Änderungen der in diesem Kapitel behandelten Vorschriften dann möglich sind, wenn sie infolge gewandelter äußerer Umstände im Einigungsprozeß unabweisbar notwendig werden. Aus dem fortwirkenden vertraglichen Element folgt, daß der Bund eine besondere Begründungslast trägt, inwiefern er die tatsächliche Situation in einer Weise für verändert hält, daß noch vor Herstellung der vollen Rechtseinheit vom vereinbarten Weg abgewichen werden muß. 44 Abgesehen von dieser Begründungslast ist für die erforderlichen Modifikationen auf die allgemeinen Vorschriften zu verweisen: Der jeweils kompetente Gesetz- oder Verordnungsgeber hat die ihm als erforderlich erscheinenden Maßnahmen zu verabschieden. Eine Beschränkung dahingehend, daß nur bestimmte Veränderungen zulässig sind, enthält der Einigungsvertrag nicht.

§ 14: Die Regelungen für das Zivilrecht Ein besonders wichtiger Teil des Einigungsvertrags behandelt die Frage, welche Rechtsordnung in zivilrechtlichen Streitigkeiten Anwendung findet. Der Grundsatz ergibt sich aus Art. 8: Vor dem 3. Oktober 1990 galt im Beitrittsgebiet das DDR-Recht, seitdem gilt Bundesrecht. Sofern in den einzelnen Bereichen dieser allgemeinen Regel gefolgt wurde, steht das Recht zur Disposition des Gesetzgebers.45 Zu erörtern sind damit allein die Fälle, in denen Teile des DDR-Rechts über den Beitrittstermin hinaus fortgelten oder im Einigungsvertrag selbst für die neuen Länder ein spezielles Sonderrecht ausgehandelt

44 Eine ausdrückliche Begründungslast ist beispielsweise auch in § 2 Abs. 2 StWG und in Art. 190 EWG-Vertrag vorgesehen. Die hier gegebene Verpflichtung ist somit zwar nicht der Regelfall, aber auch keine einzigartige Konstruktion. 45

Siehe oben § 11.

§ 14: Die Regelungen für das Zivilrecht

103

worden ist. Nicht behandelt werden dabei die befristeten Sonderregelungen, deren Frist inzwischen abgelaufen ist. 4 6 Zu untersuchen sind somit -die Fortgeltung des DDR-Rechts im Arbeitsrecht im Bereich der Lohnfortzahlung und des Kündigungsschutzes, -der Ausschluß bestimmter Kündigungsgründe im Mietrecht, -die Fortgeltung der §§ 312ff. ZGB-DDR für die Kleingartenmietverträge, -die aus der dem BGB fremden Anerkennung von Gebäudeeigentum folgenden Bestimmungen, -die Sonderregelungen im Bereich des elterlichen Sorgerechts, insbesondere die NichtÜberleitung der BGB-Vorschriften über die Amtspflegschaft und -die Vereinbarung über das volle Erbrecht des nichtehelichen Kindes. 47 Die Auflistung zeigt, daß die Sonderregelungen nicht bei abgelegenen Vorschriften des Zivilrechts vereinbart worden sind, sondern im Gegenteil bei Normen, die für den einzelnen von zentraler Bedeutung sein können. Dabei wurde versucht, der besonderen Situation im Beitrittsgebiet Rechnung zu tragen. Zum Teil standen allerdings andere Motive im Mittelpunkt, die eine Bindung des Gesetzgebers von vornherein ausschließen. Das gilt unter anderem für die meisten arbeitsrechtlichen Vorschriften: Bezüglich der Lohnfortzahlung und bei Teilen des Kündigungsschutzes bestehen keine materiellen Unterschiede zum Bundesrecht 48, allerdings wird auf die verfassungswidrige Unterscheidung von Arbeitern und Angestellten verzichtet. Der Grund für die Aufnahme dieser Bestimmungen in den Vertragstext liegt in der Reformbedürftigkeit des Bundesrechts. Die Bestandskraft dieser Normen ist folglich abzulehnen. 49 Daneben liegt auch bei den sachenrechtlichen Vorschriften sowie den Kleingartenmietverträgen keine vertragliche Zusage mit Blick auf den Bestand

46 Das gilt für den Ausschluß der Totalentmündigung im Beitrittsgebiet schon vor Inkrafttreten des Betreuungsgesetzes am 1. Jan. 1992, für die nachträglichen Wahlmöglichkeiten im ehelichen Namens- und Güterrecht und für die Regelung über den Lauf der Fristen in bezug auf einen Antrag des nichtehelichen Kindes auf Ehelicherklärung; vgl. Artt. 231 § 1, 234 §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 2, 12 EGBGB. 47

Vgl. Ani. Abs. 2, Kap. VIII, Sachgeb. A, Abschn. II, III, jeweils Nr. 1 a); BGBl. 1990 II, S. 1207, für die arbeitsrechtlichen Vorschriften sowie in dieser Reihenfolge die Artt. 232 §§ 2 Abs. 2, 4; 233; 234 § 11, 230 I; 235 § 1 Abs. 2 EGBGB. Einen genaueren Überblick über den Inhalt der Regelungen gibt U. Magnus, Deutsche Rechtseinheit im Zivilrecht - die Übergangsregelungen, JuS 1992, S. 456ff. Siehe auch N. Horn, Das Zivil- und Wirtschaftsrecht im neuen Bundesgebiet. 48

Die §§ 115aff. ZGB-DDR sind weitgehend inhaltsgleich mit den Bestimmungen des Lohnfortzahlungsgesetzes. 49

Siehe oben § 12 I.

104

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

der Bestimmungen vor, da die Parteien ausdrücklich die Möglichkeit einer anderweitigen gesetzlichen Regelung vereinbart haben. 50 In bezug auf die übrigen zivilrechtlichen Regelungen ist zu berücksichtigen, daß sie ausschließlich für die Altfälle gelten. So gilt etwa für Mietverträge und die familienrechtlichen Verhältnisse, die nach dem Beitritt begründet werden, in vollem Umfang das BGB. Daraus folgt, daß die Dispositionsbefugnis des gesamtdeutschen Gesetzgebers nur in beschränktem Maße beeinträchtigt wird. Daneben ist ferner die Frage nach einem besonderen Interesse der DDR am Bestand dieser Bestimmungen von Bedeutung. Bei zivilrechtlichen Normen läßt sich das Interesse schwerlich am Schutz der eigenen Bürger festmachen. Das Beispiel des Mietrechts zeigt, daß ein Vorteil für eine Seite im Zivilrecht meist für die andere einen Nachteil bedeutet. Allerdings ist jede Regierung frei, im Rahmen ihrer Kompetenz beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge auf die Umsetzung ihrer politischen Vorstellungen zu dringen. Die DDR-Regierung hat stets die soziale Komponente des Mietrechts deutlich betont. 51 Insoweit liegt die Forderung eines besonderen Bestandsschutzes für diese Bestimmungen nahe. Allein daraus, daß die oben aufgelisteten Vereinbarungen der offiziellen DDR-Regierungspolitik nahekamen, kann allerdings nicht auf ihre Bestandskraft geschlossen werden. Es ist auch die Haltung des Vertragspartners Bundesrepublik zu berücksichtigen, der sich grundsätzlich gegen eine Einschränkung der Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers wenden mußte. Die Bundesrepublik hat mit der Durchsetzung eindeutiger Formulierungen im sachenrechtlichen Teil und bei den Kleingartenmietverträgen ihre Position verdeutlicht. In diesen Bereichen wollte sie sich offenbar nicht dauerhaft binden. 52

50

Vgl. Art. 233 §§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 2, 5 Abs. 2 sowie Art. 232 § 4 Abs. 1 Satz 2 EGBGB. Die Änderung von schuld- und sachenrechtlichen Bestimmungen erfolgte inzwischen durch zwei Gesetze vom 21. Sept. 1994, BGBl. I S. 2457ff. und 2538ff. 51

Bereits in der Koalitionsvereinbarung der Regierung de Maizière und in dessen Regierungserklärung wurden die Probleme des Mieterschutzes angesprochen; vgl. I. von Münch (Hrsg.): Dokumente zur Wiedervereinigung Deutschlands, S. 170f., 176,202. 52 Man wollte endgültige Regelungen wegen der Unsicherheiten in tatsächlicher Hinsicht vermeiden, vor allem, weil man wußte, daß solche Entscheidungen bei unerwünschten Effekten nur schwer zu korrigieren sind. Es hätten sich nämlich sofort die Fragen nach der Zulässigkeit der späteren Änderung oder einer Entschädigung gestellt. Vgl. S. Leutheusser-Schnarrenberger, Die Bereinigung des Sachenrechts in den neuen Bundesländern, DtZ 1993, S. 34ff. (34).

§ 14: Die Regelungen für das Zivilrecht

105

Es ist fraglich, ob der Gegenschluß zulässig ist, wonach bei allen anderen zivilrechtlichen Bestimmungen eine Bindung gegeben ist. Grundsätzlich ist bei einer derartigen Annahme Vorsicht geboten: Die Bundesrepublik hat sich in Art. 41 Abs. 3 verpflichtet, die zentralen Passagen der Eigentums Vereinbarung nicht zu verändern. Daraus könnte man im Gegenschluß folgern, der gesamte Rest des Einigungsvertrags sei durch einfaches Gesetz änderbar. Folglich schließen sich die denkbaren Gegenschlüsse aus Art. 41 Abs. 3 oder den EGBGB-Vorschriften wechselseitig aus; sie neutralisieren sich gewissermaßen gegenseitig. Dies gilt jedenfalls, soweit man sie auf den gesamten Einigungsvertrag beziehen will. Damit ist allerdings nicht ausgeschlossen, daß dem argumentum e contrario wenigstens bezüglich der Vorschriften des EGBGB Überzeugungskraft zukommt. Dafür spricht die konkrete Verhandlungssituation beim Einigungsvertrag. Die Texte in den Anlagen wurden größtenteils in Gesprächen zwischen den jeweiligen Fachressorts der beiden deutschen Regierungen ausgehandelt. Da eine umfassende Redaktion des Vertrags durch die Verhandlungsführer infolge der Zeitnot nicht mehr stattfinden konnte, muß man bei der Auslegung berücksichtigen, welchen Sinngehalt jede einzelne Verhandlungsrunde den von ihr betreuten Vorschriften geben wollte. Daher erscheint trotz der aus dem Zusammenhang mit Art. 41 Abs. 3 abgeleiteten Bedenken der Gegenschluß zulässig, soweit er sich auf die zivilrechtlichen Bestimmungen beschränkt. Für dieses Ergebnis spricht ferner, daß der Anwendungsbereich der zivilrechtlichen Übergangsbestimmungen begrenzt ist (s.o.). Im Sinne eines angemessenen Interessenausgleichs ist der Gesetzgeber folglich in seiner Disposition in bezug auf die genannten Bestimmungen beschränkt.

106

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

§ 15: Berufs- und ausbildungsbezogene Bestimmungen

I. Die materiellen Vereinbarungen in Art. 37

Von hoher Bedeutung für den einzelnen Bürger sind naturgemäß die berufsund bildungspolitischen Bestimmungen des Einigungsvertrags. Als Grundnorm ist Art. 37 einschlägig, wonach alle in der ehemaligen DDR erworbenen oder staatlich anerkannten schulischen, beruflichen und akademischen Abschlüsse im Gebiet der neuen Länder fortgelten. Die Geltung der Abschlüsse im Westteil der Bundesrepublik knüpft Art. 37 Abs. 1 Satz 2 an die Gleichwertigkeit der entsprechenden Abschlüsse mit denen im Westen. Die Anlagen zum Einigungsvertrag enthalten einige Konkretisierungen des in Art. 37 Vereinbarten. So wird für die Rechtsanwälte ausdrücklich die Gleichstellung der in West- und Ostdeutschland arbeitenden Juristen angeordnet. 53 Durch die Vernachlässigung der Ausbildungsunterschiede soll ein Beitrag zum "möglichst raschen Zusammenwachsen der Gebiete des vereinigten Deutschlands" geleistet werden. 54 Wie bei den Rechtsanwälten wird auch bei den Patentanwälten55 ein in der ehemaligen DDR erzielter Abschluß in ganz Deutschland anerkannt. Gleichfalls geregelt ist die Fortgeltung bestehender Berechtigungen für Handwerker, Wirtschaftsprüfer und Schornsteinfeger 56 sowie für Ärzte, Zahnärzte, Hebammen und Krankenpfleger. 57 Bei anderen Berufsgruppen wird eine vorläufige Anerkennung der Abschlüsse ausgesprochen und zusätzlich bestimmt, daß die endgültige Anerkennung bei erfolgreicher Teilnahme an einem Lehrgang nicht versagt werden 53

Ani. I, Kap. III, Sachgeb. A, Abschn. II, Nr. 2; BGBl. 1990 II, S. 921. Dadurch wird eine Verweigerung oder Entziehung der Anwaltszulassung wegen Unwürdigkeit nicht betroffen. Kritisch hierzu: M. Kleine-Cosack, Anwaltliche Berufsverbote auf dem Prüfstand, NJ 1994, S. 246ff. 54

BT-Drucks. 11/7817, S. 14.

55

Ani. I, Kap. III, Sachgeb. A, Abschn. III, Nr. 11; BGBl. 1990 II, S. 932.

56

Ani. I, Kap. V, Sachgeb. B, Abschn. III, Nr. 1 a), 2 a), 3 b); BGBl. 1990 II, S. 999f.

57

Ani. I, Kap. X, Sachgeb. D, Abschn. II, Nr. 1 g), 2 d), 4 a), 5 a); BGBl. 1990 II, S. 1075ff. Für Ärzte und Zahnärzte gilt zudem: Waren die Zulassungen beschränkt, so gelten die Beschränkungen ebenfalls fort. Zulassungen für Ärzte werden nur anerkannt, wenn sie vor dem 30. Juni 1988 erteilt worden sind. Ansonsten muß der Kandidat eine achtzehnmonatige Tätigkeit als Arzt in abhängiger Stellung nachweisen, um eine voll gültige Approbation zu erhalten.

§ 15: Berufs- und ausbildungsbezogene Bestimmungen

107

darf. Eine derartige Regelung gilt beispielsweise für Steuerberater, die zwischen dem 6. Februar 1990 und dem 1. Januar 1991 bestellt worden sind 58 , und für Fahrlehrer. 59 Besonderheiten gelten für Richter und Staatsanwälte. Sie dürfen ihre Tätigkeit nur im Beitrittsgebiet ausüben60 und müssen entgegen der allgemeinen Regel des Art. 37 Abs. 1 Satz 1 in einer Probezeit ihre fachliche Eignung nachweisen.61 Ähnlich wie bei diesen Gruppen wird auch bei den übrigen Angestellten im öffentlichen Dienst und bei den Beamten ein Nachweis der fachlichen Qualifikation während einer Probezeit verlangt; andernfalls bleiben eine Kündigung oder eine Entlassung aus dem Dienst möglich. 62 In den meisten Fällen verzichtet der Einigungsvertrag allerdings auf eine Konkretisierung der Generalklausel des Art. 37 Abs. 1 Satz 2 bezüglich der Anerkennung eines Abschlusses im Westen. Eine Klärung dessen, was als gleichwertig zu gelten habe, erfolgte mit dem "Beschluß zur Feststellung der Gleichwertigkeit von Bildungsabschlüssen" durch die Kultusministerkonferenz vom 10. - 11. Oktober 1991. 63 Auf Grund dieser Vereinbarung werden in der Praxis rund 80 % der DDR-Hochschulabschlüsse als gleichwertig anerkannt 64; die in einem Land erfolgte Feststellung gilt in allen Bundesländern. 65 Die großzügige Anerkennung der DDR-Hochschulabschlüsse durch die Kultusministerkonferenz bedeutet, daß man sich faktisch dem Entwurf der DDRRegierung für die einigungsvertraglichen Regelungen im Bildungsbereich weitgehend angenähert hat. Dieser ging von der grundsätzlichen Anerkennung

58

Ani. I, Kap. IV, Sachgeb. B, Abschn. II, Nr. 9 c); BGBl. 1990 II, S. 970. Die Frist für das endgültige Erlöschen der vorläufigen Bestellung ist gegenüber dem Einigungsvertrag durch Art. 23 Nr. 2 des Steueränderungsgesetzes vom 25. Febr. 1992 (BGBl. I S. 297ff. [328f.]) um drei Jahre bis zm 31. Dez. 1997 verlängert worden. 59 Ani. I, Kap. XI, Sachgeb. B, Abschn. III, Nr. 8 b), c); BGBl. 1990 II, S. 1103. Im Zusammenhang mit der Anerkennung der Fahrlehrerausbildung vgl. VG Hamburg, DtZ 1991, S. 320. 60

Ani. I, Kap. III, Sachgeb. A, Abschn. III, Nr. 8 a), z) cc); BGBl. 1990 II, S. 929, 931. Ermöglicht wurde allerdings eine Tätigkeit als Verfassungsrichter; Ani. I, Kap. III, Sachgeb. F, Abschn. III, a); BGBl. 1990 II, S. 963. 61

Ani. I, Kap. III, Sachgeb. A, Abschn. III, Nr. 8 k), z) cc); BGBl. 1990 II, S. 929, 931.

62

Ani. I, Kap. XIX, Sachgeb. A, Abschn. III, Nr. 1 IV, 3 b); BGBl. 1990 II, S. 1140f.

63

Vgl. Informationen Bildung und Wissenschaft, Heft 10/1991, S. 137.

64

Nach SZ vom 25. Apr. 1992, S. 77.

65

Informationen Bildung und Wissenschaft, Heft 10/1991, S. 137.

108

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

aller DDR-Abschlüsse im gesamten Bundesgebiet aus. Auf den Gebieten, auf denen in den alten Ländern Staatsexamina erforderlich sind, sollten die DDRDiplome gleichbehandelt werden. Nur ausnahmsweise sollten zusätzliche Qualifikationen notwendig werden, wobei der Erwerb "bei Beachtung vorhandener Berufserfahrungen ermöglicht [wird] oder durch eine Eignungsprüfung nachgewiesen" werden kann. 66 Die Bundesregierung setzte demgegenüber die Voraussetzung der Gleichwertigkeit durch, so daß die Gültigkeit der DDR-Abschlüsse in den alten Bundesländern einer vorherigen Prüfung unterliegt. Dieses Kriterium findet nach § 92 Abs. 2, 3 BVG ebenfalls Anwendung bei der Anerkennung der Abschlüsse von Vertriebenen und Flüchtlingen. 67 Der Beschluß der Kultusministerkonferenz nimmt dem Bestandskraftproblem bei den berufs- und ausbildungsbezogenen Bestimmungen des Einigungsvertrags von seiner Relevanz. Die nach dem Grundgesetz für den Bildungsbereich zuständigen Länder haben durch ihre Vereinbarung verdeutlicht, daß sie die Vorgaben des Einigungsvertrags akzeptieren und nicht an eine gesetzgeberische Änderung denken. Dennoch soll diese Möglichkeit kurz erörtert werden, zumal im Einigungsvertrag selbst auf bestimmte Berufsgruppen bezogene Regelungen enthalten sind (s.o.). Der Wortlaut der berufs- und ausbildungsbezogenen Bestimmungen enthält keine Hinweise für oder gegen eine bindende Zusage seitens der Bundesrepublik. Auch aus der systematischen und der historischen Auslegung ergeben sich keine brauchbaren Ansätze. Entscheidend ist mithin, welchen Zweck die vorliegenden Regelungen verfolgen. Grundsätzlich denkbar ist sowohl eine definitive wie eine vorläufige Regelung dieses Sachproblems. Zwar ist zu berücksichtigen, daß gesetzgeberisches Handeln beinahe ausschließlich nur vorläufige Lösungen erzielt, da Änderungen aus den zuvor angesprochenen Gründen möglich bleiben müssen. Für eine definitive Lösung spricht jedoch bei der Anerkennung der Abschlüsse entscheidend, daß die Bürger wissen müssen, woran sie in dieser für sie elementaren Frage sind. Dazu gehört auch das Wissen, welche Fortbildungsmaßnahmen gegebenfalls erforderlich sind, um in dem erlern-

66 Entwurf der DDR-Regierung zum Einigungsvertrag, aus Prot, des DDR-Ministerrates, 24. Sitzung am 8. Aug. 1990, S. 77. 67

Erörtert wird das Merkmal der Gleichwertigkeit bei OVG Hamburg, DtZ 1991, S. 314 (Anerkennung der DDR-Ausbildung zur Kinderkrankenschwester; bejahend).

§ 15: Berufs- und ausbildungsbezogene Bestimmungen

109

ten Beruf weiterarbeiten zu können. 68 Diese Aspekte sprechen dafür, daß die Vertragspartner hier zu einer definitiven Lösung kommen wollten. Daneben sind die unterschiedlichen grundsätzlichen Anliegen der Vertragspartner hinsichtlich des Bestandskraftproblems zu beachten. Dabei ergibt sich folgendes Bild: Die DDR-Regierung hat bereits in der Frühphase der Verhandlungen zum Einigungsvertrag diesem Themenkomplex eine hohe Bedeutung zugemessen.69 Ihr Interesse an einer rechtlich bindenden Regelung kann angesichts der großen Zahl der betroffenen Bürger angenommen werden. 70 Der Vertragsentwurf der DDR unterstreicht ebenfalls, daß die Regierung de Maizière sich auf diesem Gebiet besonders stark für die Belange "ihrer" Bevölkerung einsetzen wollte. Stellt man dem das Anliegen der Bundesrepublik an der Sicherung der Handlungsfähigkeit der für Bildungsfragen zuständigen Länderparlamente und -regierungen entgegen, so ist festzustellen, daß diese in ihrer Entscheidungsfreiheit nur begrenzt beeinträchtigt werden. Die Regelungen betreffen lediglich die Anerkennung von Abschlüssen und Ausbildungsgängen in der ehemaligen DDR. Also ist der jeweils zuständige Gesetzgeber in der Regelung künftiger Abschlüsse frei. Da andererseits die Bestimmungen einen deutlichen Vereinigungsbezug haben und ein erhebliches Interesse der DDR-Regierung deutlich geworden ist, ist im Ergebnis eine bindende vertragliche Zusage der Bundesrepublik festzustellen. Der Beschluß der Kultusminister vom Oktober 1991 (s.o.) belegt zusätzlich, daß die Staatspraxis in der Bundesrepublik an den Vereinbarungen nicht rütteln wollte.

68

Vgl. etwa die Regelung für die Ärzte, deren Zulassung nach dem 30. Juni 1988 erteilt worden ist; Ani. I, Kap. X, Sachgeb. D, Abschn. II, Nr. 1 g); BGBl. 1990 II, S. 1076. 69 Schon einen Monat vor Inkrafttreten des Staatsvertrags sind diese Fragen durch DDR-Staatssekretär Krause in einem informellen Papier angesprochen worden; vgl. W. Schäuble, Der Vertrag, S. 137. 70

Dahingehend auch die Vorgaben der DDR-Regierung für die Vertrags Verhandlungen; vgl. Prot, des DDR-Ministerrates, 17. Sitzung am 16. Juli 1990, S. 8.

110

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

II. Die prozessuale Durchsetzung der vertraglichen Bindung

Neben der materiellen Rechtslage stellt die prozessuale Durchsetzung der Bindung des Gesetzgebers bei den berufs- und ausbildungsbezogenen Bestimmungen ein besonderes Problem dar. Anders als beispielsweise bei finanziellen Förderzusagen zugunsten der DDR oder der neuen Länder haben die berufsbezogenen Regelungen im Einigungsvertrag einen unmittelbaren Bürgerbezug und sind für den einzelnen von erheblicher Relevanz. Bei diesen Bestimmungen handelt es sich mithin um Normen zugunsten der Bürger, wobei jedoch die Zusage ihrer Bestandskraft gegenüber dem Vertragspartner DDR abgegeben wurde. Fest steht, daß sich die betroffenen Bürger gegenüber Verwaltung und Gerichten auf die sie begünstigenden Regelungen berufen können, solange sie Bestand haben. Fraglich ist dagegen, ob auch Rechte der Bürger gegenüber dem Gesetzgeber bestehen. Das hier umrissene Problem der prozessualen Durchsetzbarkeit der Bestandskraft von Bestimmungen zugunsten der durch die DDR repräsentierten Bürger entsteht im Einigungsvertrag bei weit mehr als nur den berufsbezogenen Bestimmungen. Es wird hier stellvertretend für diese Problematik im gesamten Einigungsvertrag erörtert. Gegen ein Recht betroffener Bürger, den Bestand bindender Bestimmungen des Einigungsvertrags einfordern zu können, spricht, daß aus völkerrechtlichen Verträgen grundsätzlich nur die jeweiligen Vertragspartner berechtigt und verpflichtet sind. Dieser Grundsatz wurde in den Einigungsvertrag übernommen. Nach dessen grundlegender Konzeption stellt der Vertrag eine Vereinbarung zwischen den beiden deutschen Staaten dar. Das folgt aus dessen ursprünglicher Rechtsnatur als quasi-völkerrechtlichem Vertrag. Ganz unabhängig vom Inhalt einer einzelnen Norm wurde die vertragliche Zusage bezüglich einer Bindung des künftigen Gesetzgebers dem Partner des völkerrechtlichen Vertrags, also der DDR, gegeben. Inhaber der sich aus der Garantie des Bestands einer vertraglichen Klausel ergebenden Rechtsposition war die DDR; nunmehr sind es die neuen Länder. Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn es sich bei Art. 37 um eine Vertragsnorm zugunsten Dritter handelt, die den Bürgern unmittelbar eigene Rechte einräumt. Art. 44, wodurch die Rechtswahrung ausdrücklich den Ländern übertragen wird, steht dem jedoch entgegen. Auch die Denkschrift geht davon aus, daß in Anknüpfung an die Coburg-Rechtsprechung des Bundesver-

§ 15: Berufs- und ausbildungsbezogene Bestimmungen

111

fassungsgerichts die Rechte "von den Selbstverwaltungskörperschaften prozessual geltend gemacht werden können, die als Repräsentanten der untergegangenen Deutschen Demokratischen Republik angesehen werden können" 71 . Folglich kann ein einzelner die Mißachtung bindender Vertragsbestimmungen nicht rügen. Eine Ausnahme enthält Art. 18 Abs. 2, worin den durch ein Strafgericht der DDR Verurteilten "durch diesen Vertrag

[...] ein eigenes Recht eingeräumt"

wird, eine gerichtliche Kassation herbeizuführen. 72 Da Art. 18 Abs. 2 das subjektive Recht des Bürgers ausdrücklich betont, bestätigt diese Vorschrift im Gegenschluß die voranstehende Feststellung, wonach der einzelne grundsätzlich keine unmittelbaren eigenen Rechte aus dem Einigungsvertrag ableiten kann. Damit werden die Bürger in den neuen Ländern nicht rechtlos gestellt. Solange die Regelungen zu ihren Gunsten Bestand haben, können sie sich darauf berufen. Sie haben nur nicht das Recht, auf Grund einer vertraglichen Bindung die Unabänderlichkeit einer Norm prozessual geltend zu machen. Wenn Art. 44 für den betroffenen Bürger in bezug auf die Bestandskraft keine durchsetzbare Rechtsposition einräumt, so ist fraglich, wer an ihrer Stelle bei den hier erörterten Bestimmungen mit unmittelbarem Bürgerbezug Rechte geltend machen kann. Nach Art. 44 können die neuen Länder nur die Rechte geltend machen, die zu ihren oder der ehemaligen DDR Gunsten in den Vertrag aufgenommen worden sind. Damit kommt es darauf an, ob die Vorschriften zugunsten der Bürger gleichzeitig Normen zugunsten der DDR im Sinne von Art. 44 sind. Dabei wird man von der Zielsetzung eines Eingliederungsvertrags ausgehen müssen, wonach die Regierung eines untergehenden Staatswesens nur noch die Interessen ihrer Bürger vertreten kann. Eigene elementare Interessen konnte das Völkerrechtssubjekt DDR schon deshalb nicht haben, weil durch den Einigungsvertrag dessen Untergang besiegelt wurde. Daher wird man Art. 44 nicht zu eng interpretieren dürfen. Eine Differenzierung zwischen einer Begünstigung der Bürger und einer Begünstigung des untergehenden Staates ist nicht geboten. Im Gegenteil wird man als Rechtsvorschrift zugunsten der DDR im Sinne von Art. 44 ansehen müssen, was zugunsten der durch die DDR repräsentierten Bürger bindend zugesagt worden ist. Daher können die neuen Länder einen Vertragsbruch durch ein vom Einigungsvertrag abwei71 72

Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S. 357.

Hervorhebungen vom Verfasser. Die Vorschrift wird allerdings nach § 27 Nr. 1 des Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes nicht mehr angewandt, da das Gesetz eine eigene Regelung der Kassation geschaffen hat; siehe unten bei § 16.

112

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

chendes späteres Gesetz auch bei den hier diskutierten Regelungen des Einigungsvertrags rügen. Für die prozessualen Bestimmungen im einzelnen können die in der CoburgRechtsprechung entwickelten Grundsätze herangezogen werden. Im Konfliktfall würde es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit zwischen dem Bund und einem oder mehreren der neuen Länder im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG handeln.73 Nach § 71 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG kommt als Antragsteller nur eine der Landesregierungen aus den neuen Ländern in Betracht. Zu beachten ist, daß die Landesregierung nach §§71 Abs. 2, 64 Abs. 3 BVerfGG den Antrag auf Wahrung der Rechte aus dem Einigungsvertrag binnen sechs Monaten nach Verkündung eines vom Einigungsvertrag abweichenden Gesetzes gestellt haben muß. 74 Als Fazit dieser Überlegungen ergibt sich, daß die bindende Zusage der Unabänderlichkeit einer Bestimmung ein Recht zugunsten der ehemaligen DDR im Sinne von Art. 44 ist, auch wenn inhaltlich durch die - unangreifbare Norm Einzelpersonen begünstigt werden. Die neuen Länder, nicht jedoch die betroffenen Bürger, können insoweit die Rechte der untergegangenen DDR prozessual geltend machen. Andererseits können die neuen Länder mangels eigener Betroffenheit nicht die Anerkennung eines einzelnen Abschlusses einklagen.

§ 16: Die Bestimmungen zur Rehabilitierung und Kassation In den Artt. 17, 18 Abs. 2 wird der Versuch unternommen, die politische Strafjustiz in der DDR in einer für ihre Opfer angemessenen Weise zu bewältigen. Im einzelnen enthält Art. 17 Satz 1 die Absichtserklärung, daß unverzüglich eine gesetzliche Grundlage zur Rehabilitierung der "Opfer einer politisch motivierten Strafverfolgungsmaßnahme oder sonst einer rechtsstaats- und verfassungswidrigen gerichtlichen Entscheidung" geschaffen wird. Nach der Protokollnotiz zum Einigungs vertrag werden durch Art. 17 auch diejenigen Perso-

73 74

BVerfGE 22, 221ff. (229).

Zum Beginn des Fristenlaufs vgl. BVerfGE 24, 252ff. (258); 67, 65ff. (70); Th. Clemens in D.C. Umbach/Th. Clemens, BVerfGG, §§ 63, 64/Randnr. 151.

§ 16: Rehabilitierung und Kassation

113

nen erfaßt, die in rechtsstaatswidriger Weise in eine psychatrische Anstalt eingewiesen worden sind. 75 Die in Art. 17 Satz 1 avisierte gesetzliche Regelung wurde wenige Tage nach Unterzeichnung des Einigungsvertrags durch die Volkskammer auf einer ihrer letzten Sitzungen geschaffen. Die DDR-Regierung konnte allerdings in der Vereinbarung zur Durchführung und Auslegung des Einigungsvertrags nur durchsetzen, daß in Ausfüllung des Art. 9 Abs. 3 der Teil des Gesetzes, der die strafrechtliche Rehabilitierung regelt, in Bundesrecht überführt wird. 7 6 Nicht übernommen wurden die Bestimmungen zur Rehabilitierung von Besatzungsunrecht sowie die verwaltungsrechtliche und die berufliche Rehabilitierung. 77 Die Bundesregierung lehnte dies ab, um die Belastungen des Fiskus überschaubar zu halten. 78 Inzwischen wurden diese Fragen allerdings durch das Erste 79 und Zweite 8 0 SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes geregelt. Im Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz wurde in Ausfüllung des Art. 17 Satz 2 der finanzielle Umfang der mit der strafrechtlichen Rehabilitierung verbundenen Wiedergutmachung festgesetzt. Danach wird grundsätzlich eine Entschädigung von D M 300,- pro Haftmonat gewährt; wer bis zum 9. November 1989 seinen Wohnsitz im Beitrittsgebiet hatte, erhält zusätzlich D M 250,- pro Monat. Das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz normiert die verwaltungsrechtliche und die berufliche Rehabilitierung. Zusätzlich zur Möglichkeit der Rehabilitierung statuierte der Einigungsvertrag in Art. 18 Abs. 2 das Recht eines jeden Bürgers, der durch ein Strafgericht der DDR verurteilt wurde, eine gerichtliche Kassation der rechtskräftigen Ent-

75

Protokollnotiz Nr. 10, BGBl. 1990 II, S. 906.

76

Art. 3 Nr. 6 der Vereinbarung vom 18. Sept. 1990, BGBl. II S. 1240.

77

Umfassend: M. Amelung/R. Brüssow/L-W. Kassation. 78

Keck/K.

Kemper/V.

Mehle, Rehabilitierung un

Th. Ammer, Rehabilitierung der Justizopfer des SED-Regimes, DA 1991, S. 900ff. (901).

79

Erstes Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht vom 29. Okt. 1992, BGBl. I S. 1814ff. Dazu: M. Bruns/M. Schröder/W. Tappert, Bereinigung von Justiz-Unrecht der DDR: Das neue Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz, 3 Teile, NJ 1992, S. 394ff., 436ff., 485ff. 80 Zweites Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht vom 23. Juni 1994, BGBl. I S. 138Iff. Dazu: W.-J. Lehmann/O. Tritt/K. Wimmer, Das Zweite Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht, NJ 1994, S. 350ff. Kritisch: J. Roth/G. Saathoff/J. Vom Stein, Das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, DA 1994, S. 449ff.

8 Hoch

114

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

Scheidung herbeizuführen. Anders als bei der Rehabilitierung war die Schaffung eines neuen Gesetzes zur Ausfüllung dieser Bestimmung nicht erforderlich. Vielmehr wurde das 6. Kapitel der DDR-StPO in Geltung belassen und gleichzeitig festgelegt, daß nicht allein der Staatsanwalt, sondern auch der Verurteilte die Kassation beantragen kann. 81 Rechtsfolge der erfolgreichen Kassation war nach § 321 Abs. 1 DDR-StPO die Aufhebung und Abänderung oder die Rückverweisung der angefochtenen Entscheidung.82 Mittlerweile wurde der gesamte Komplex der Rehabilitierung und Kassation durch die beiden Unrechtsbereinigungsgesetze umfassend neu geregelt. 83 Die Neuregelung scheint ein Indiz für eine Staatspraxis zu sein, die von der Änderbarkeit der Artt. 17, 18 Abs. 2 ausgeht. Eine solche Annahme wäre jedoch unrichtig. Das Unrechtsbereinigungsgesetz bewirkt zwar verfahrensrechtliche Änderungen, erhält aber für einen in der DDR Verurteilten der Sache nach die Optionen der Artt. 17, 18 Abs. 2. Es erkennt die Ziele der beiden Verfahren an und will deren Erreichung durch die Verfahrenserleichterungen fördern. 84 Durch die Neufassung wird also letztlich die Position der Opfer verbessert. 85 Bereits der Bundestagsausschuß "Deutsche Einheit" hatte bei den parlamentarischen Beratungen zum Einigungsvertrag erklärt: "Im Lichte von Art. 17 bleibt es dem Gesetzgeber vorbehalten, die getroffenen Rehabilitierungsregelungen zu überprüfen und neu zu regeln. Die Überprüfung bleibt nicht auf die in Art. 17 genannten Fälle beschränkt." 86 Dieser Zusatz geht auf eine Initiative des Abgeordneten Bernrath (SPD) zurück, der zugrunde lag, daß die ursprüng-

81

Ani. I, Kap. III, Sachgeb. A, Abschn. III, Nr. 14 h); BGBl. 1990 II, S. 934.

82

Kassationsverfahren begannen bereits kurz nach der Wende in der DDR. So wurde am 5. Jan. 1990 das Urteil vom 26. Juli 1957 gegen Walter Janka und andere wegen Boykotthetze vom Präsidium des Obersten Gericht der DDR aufgehoben, DtZ 1990, S. 31 f. Statt einer aufwendigen Einzelfallprüfung wäre alternativ möglich gewesen, alle Urteile, durch die Menschen wegen bestimmter Straftatbestände verurteilt worden sind, ex lege für nichtig zu erklären. Beispielsweise wurde dieses Verfahren in Ungarn gewählt und ein Gesetz erlassen, das die einschlägigen politischen Straftatbestände auflistet; vgl. G. Brunner, Diskussionsbeitrag, in K. Stern (Hrsg.): Deutsche Wiedervereinigung, Band 2, Teil 2, S. 120f. 83 Vgl. insgesamt zu Fragen der Rehabilitierung den Kommentar von W. Ρfister/W. habilitierungsrecht.

Mütze, Re-

84 Begründung der Bundesregierung zum Gesetzentwurf, BR-Drucks. 483/91, S. 28f. Daß keine einschneidende materielle Änderung erfolgen sollte, verdeutlicht auch § 26 Abs. 1 des Gesetzes, wodurch bereits anhängige Kassationsverfahren in das neue Verfahren überführt werden. 85

M. Bruns/M. Schröder/W.

86

BT-Drucks. 11/7931, S. 18.

Tappert, S. 490.

§ 16: Rehabilitierung und Kassation

115

liehe Regelung zahlreiche rehabilitierungswürdige Anlässe nicht erfaßte. 87 Der Ausschuß dachte also allein an eine Erweiterung der Rehabilitierung. Deutlich wird aus diesen Umständen zumindest, daß man nicht von einer Staatspraxis ausgehen kann, die über die einigungsvertraglichen Vereinbarungen hinweggeht. Bei der Untersuchung einer möglichen Bestandskraft der Artt. 17, 18 Abs. 2 ist zu bedenken, daß durch das Rehabilitierungsgesetz und die Fortschreibung der §§ 31 Iff. DDR-StPO die Artt. 17, 18 Abs. 2 in wesentlichen Teilen ausgefüllt wurden. Es fehlte lediglich die in Art. 17 Satz 2 vorgesehene Entschädigungsregelung. Zwar ist es eine übliche Vorgehensweise, Grundzüge einer Vereinbarung festzulegen, die später ausfüllungsbedürftig sind. Die Besonderheit liegt hier jedoch darin, daß in demselben Dokument Grundsatz und Detailregelung enthalten sind. Insofern drängt sich die Frage auf, warum man überhaupt die Artt. 17, 18 Abs. 2 in den Vertrag aufgenommen hat. Bei Art. 17 kann man zur Erklärung auf den Umstand verweisen, daß bei Unterzeichnung des Einigungsvertrags die Verabschiedung eines Rehabilitierungsgestzes noch ausstand. Auf Art. 18 Abs. 2 paßt dieser Einwand nicht. Es spricht eine Vermutung dagegen, daß die Parteien eine überflüssige Vorschrift in den Vertragstext aufnehmen. Also muß dem Art. 18 Abs. 2 eine über die Bestimmungen in der Anlage hinausgehender Regelungsge-halt zukommen. In Betracht kommt eine vertragliche Zusage der Bundesrepublik, die Kassationsvorschriften in ihren Grundzügen unangetastet zu lassen. Neben der Überlegung, daß Art. 18 Abs. 2 sonst obsolet wäre, weist der Wortlaut der Bestimmung auf eine vertragliche Bindung hin: In Art. 18 Abs. 2 wird das Recht zur Kassation "durch diesen Vertrag" eingeräumt. Mithin wird das für eine Bestandskraft der Vorschrift erforderliche vertragliche Element ausdrücklich angesprochen. Im Zusammenhang mit Art. 17 hat Bundesminister Schäuble eine Bindung des künftigen Gesetzgebers ausdrücklich anerkannt. 88 Schließlich spricht gegen einen rein gesetzlichen Charakter der Vorschriften, daß nach § 27 Nr. 1 des Ersten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht Art. 18 Abs. 2 nicht mehr angewendet wird. Handelte es sich um ein einfaches Gesetz, hätte die Aufhebung der Bestimmung nahegelegen.

87 88

Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 19. Sitzung am 18. Sept. 1990, S. 632, C, D.

Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 17. Sitzung am 6. Sept. 1990, S. 546 B: "Der künftige Gesetzgeber [...] wird durch das Zustimmungsgesetz nur nicht verpflichtet, darüber [seil. Art. 17] hinauszugehen, während er sich insoweit - mit dem Zustimmungsgesetz - verpflichtet." 8*

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

116

Neben diesen Hinweisen sollen auch die allgemeinen Kriterien in bezug auf eine mögliche vertragliche Zusage berücksichtigt werden. Dabei gilt es einmal, ein Sonderinteresse der ehemaligen DDR am Bestand der Vorschriften festzustellen. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, daß alle Aspekte der Vergangenheitsbewältigung, also auch die Rehabilitierung zu Unrecht verurteilter Personen, für die DDR-Regierungen in der Übergangszeit von höchster Priorität waren. Bereits am 15. November 1989 stellte das DDR-Justizministerium erste Rehabilitierungsgrundsätze auf. 89 Die Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes verzögerte sich jedoch und gelang erst nach der Unterzeichnung des Einigungsvertrags. Gleichzeitig verlangte die Volkskammer per Beschluß, das Rehabilitierungsgesetz gemäß Art. 9 Abs. 3 nachzuverhandeln, um dessen Fortgeltung als Bundesrecht zu sichern. 90 Neben den Details aus der Entstehungsgeschichte weist das Gesetz in seinem Vorspruch selbst auf die hohe politische Relevanz hin, die es enthält: Danach ist die Rehabilitierung ein wesentliches Element der Politik zur Erneuerung der Gesellschaft, des Staates und des Rechts in der DDR. Verfolgt werden rechtsstaatliche und humanistische Anliegen. 91 Das Gesetz sollte ideelle Wirkung haben und zugleich Anspräche auf materielle Wiedergutmachung begründen. Die hohe politische Bedeutung des Gesetzes hat die Bundesrepublik dadurch anerkannt, daß sie bei dessen Übernahme in Bundesrecht den Vorspruch in Geltung belassen hat. 92 Bereits zuvor war man sich im Bundestagsausschuß "Deutsche Einheit" über die Sensibilität dieses Bereichs einig. 93 Schließlich ergeben sich keine derart negativen Folgen aus der Einschränkung des künftigen Gesetzgebers, daß man bei einer Abwägung der gegenseitigen Interessen eine vertragliche Zusage in Zweifel ziehen könnte. Problematisch wäre allenfalls eine unabsehbare Haushaltsbelastung durch das Rehabilitierungsgesetz geworden. Dieser Bereich wurde jedoch ausgeklammert und erst später durch ein Bundesgesetz geregelt. 89 Vgl. W. P fis ter, Rehabilitierungsrecht, in G. Brunner u.a. (Hrsg.): Rechtshandbuch Vermögen und Investitionen in der ehemaligen DDR, Band 1, Syst. Darst. IV, Randnr. 4. 90

W. Pfister,

91

GB1.-DDR 19901, S. 1459.

Randnr. 11 ; vgl. auch M. Amelung u.a., S. 29.

92

Zum Versuch einer historischen Aufarbeitung des SED-Unrechts durch den Bundestag siehe den Abschlußbericht der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland", BT-Drucks. 12/7820. 93

Vgl. Bundesinnenminister Schäuble, Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 17. Sitzung am 6. Sept. 1990, S. 546 C.

§17: Die Verfassungsänderungen im EV

117

§ 17: Die Verfassungsänderungen im Einigungsvertrag Wie bei den meisten Bestimmungen des Einigungsvertrags findet sich auch bei den Verfassungsänderungen kein ausdrücklicher Hinweis auf besondere vertragliche Elemente. Der neue Verfassungstext enthält kein Indiz, daß die in Art. 4 geänderten Grundgesetz-Artikel einer erneuten Änderung entzogen sein sollten. Damit ist die Vermutung naheliegend, daß für die Möglichkeit von Veränderungen nichts anderes gilt, als bei anderen Grundgesetz-Änderungen auch: Sie stehen ihrerseits zur Disposition des pouvoir constitué. Ferner ist zu berücksichtigen, daß dieser bei Verfassungsänderungen nur an die ihm im Rahmen der Verfassung selbst gesteckten Grenzen gebunden ist. Das Grundgesetz entzieht nur durch Art. 79 Abs. 3 bestimmte Bereiche einer Änderung, die durch die in Art. 4 geregelten Belange nicht betroffen sind. Daraus kann man allerdings nicht folgern, daß vertragliche Bindungen an einen Verfassungstext per se unmöglich sind. Wenn die Bundesrepublik tatsächlich vertragliche Garantien gegeben hat, werden dadurch alle ihre Organe gebunden. Dies gilt grundsätzlich auch für den verfassungsändernden Gesetzgeber. 94 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß durch Art. 4 paktierte Verfassungsänderungen vorgenommen wurden. Man hat bewußt darauf verzichtet, über die Verfassungsänderungen gesondert abzustimmen. Nach der Rechtsprechung und der hier vertretenen Auffassung ist der Gesetzgeber an den Inhalt staatsrechtlicher Eingliederungsverträge nach dem Untergang eines Vertragspartners grundsätzlich gebunden. Das spricht gegen die Dispositionsbefugnis des pouvoir constitué. Argumentiert man so, greift auch der Hinweis auf Art. 79 Abs. 3 GG nicht. Zwar ist der Gegenschluß zwingend, daß von Verfassungs wegen alles geändert werden kann, was nicht in Art. 79 Abs. 3 GG einer Änderung entzogen worden ist. Das hier problematisierte Änderungsverbot wäre den durch Art. 4 vorgenommenen Verfassungsänderungen jedoch nicht von Verfassungs wegen, sondern als Folge ihrer Vertraglichkeit immanent. Wegen der unterschiedlichen Herleitung vermag Art. 79 Abs. 3 GG zur Lösung dieser Frage nichts beizutragen. Als ein wesentliches Kriterium zur Beantwortung der Frage nach der Bestandskraft wurde bereits der Grund für die Aufnahme einer einzelnen Vorschrift in den Einigungsvertrag genannt. Im Bereich der Verfassungsänderun-

94

So auch J.A. Frowein, Die Bindung des Gesetzgebers an Verträge, S. 305.

118

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

gen fällt auf, daß sie durch sehr unterschiedliche Überlegungen motiviert sind. Anhand von Art. 4 wird damit exemplarisch die Vielzahl verschiedenster Interessen deutlich, die es beim Einigungsvertrag zu berücksichtigen galt. Im folgenden soll durch Auslegung der einzelnen Verfassungsänderungen ermittelt werden, inwieweit der verfassungsändernde Gesetzgeber in seiner Dispositionsbefugnis eingeschränkt ist.

I. Die Präambel, Artt. 23 und 146 GG

Auf Grund der fortbestehenden Rechte der Siegermächte mußten die beiden deutschen Vertragsparteien die im 2+4-Vertrag eingegangenen Verpflichtungen hinsichtlich des Inhalts der gesamtdeutschen Verfassung beachten.95 Da die Siegermächte ihr Einverständnis andernfalls nicht gegeben hätten, wurde es erforderlich, das Grundgesetz seines expansiven Inhalts zu entkleiden und Deutschland somit als in bezug auf Gebietsansprüche saturiert auszuweisen.96 Mithin führten im wesentlichen außenpolitische Gründe zu einer Änderung der Präambel 97, einer Streichung des Art. 23 GG und hätten eigentlich auch zu einer Abschaffung des Art. 146 GG führen müssen. Indes wurde Art. 146 GG aus innenpolitischen Gründen nicht abgeschafft, sondern ihm durch Verfassungsänderung ein neuer - schwer zu ergründender - Sinn gegeben. Fragt man nach dem Eigeninteresse der DDR oder der Bundesrepublik an der Streichung des Art. 23 GG und der Entfernung des Wiedervereinigungsgedankens aus der Präambel und dem Schlußartikel, so wird man schwerlich fündig. Theoretisch können die Vertragsparteien in einem völkerrechtlichen Vertrag zugunsten Dritter auch auf die außenpolitischen Interessen nicht beteiligter Staaten in einer Weise Rücksicht nehmen, daß sie im Einigungsvertrag die Un95 Zwar bestanden noch keine rechtlichen Pflichten, da der 2+4-Vertrag später als der Einigungsvertrag unterzeichnet und ratifiziert wurde, doch standen die Vorgaben aus dem 2+4-Vertrag für die deutsche Verfassung politisch bereits fest. 96 Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S. 357. So auch Κ Kinkel, Deutsche Rechtseinheit - eine Standortbestimmung, NJW 1991, S. 340ff. (341); W. Schäuble, Zur Wiedervereinigung Deutschlands, WM 1990, S. 1781. 97 Das politische Ziel der Beruhigung der Nachbarn, insbesondere Polens, wird vor allem deutlich im neuen Schlußsatz der Präambel: "Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk."

§17: Die Verfassungsänderungen im EV

119

abänderlichkeit dieser Bestimmungen vereinbaren. Das wäre jedoch eine Ausnahme, für die es Hinweise geben müßte, die hier fehlen. Gegen eine solche Konstruktion spricht auch, daß durch den 2+4-Vertrag die Siegermächte sich einen eigenen völkerrechtlichen Anspruch auf die zitierten Verfassungsänderungen verschafft haben.98 Da der Einigungsvertrag im Interesse der DDR geschlossen wurde, kommt eine vertragliche Bindung insbesondere dann in Betracht, wenn die jeweilige Bestimmung im Interesse der DDR aufgenommen worden ist. Bei den benannten Verfassungsänderungen, die hauptsächlich infolge des politischen Drucks der Siegermächte vorgenommen wurden, handelt es sich somit um typische Regelungen aus Anlaß des Vertrags. Daraus folgt, daß der Einigungsvertrag der rückwärts gerichteten Änderung der Präambel oder gar einer Wiedereinführung des Art. 23 a.F. GG nicht entgegensteht. Es läge allerdings ein Bruch des 2+4-Vertrags vor.

I I . Die Stimmenverhältnisse im Bundesrat - Art. 51 Abs. 2 GG

Die Änderung des Art. 51 Abs. 2 GG war durch die "Wahrung der Ausgewogenheit der Stimmrechtsverhältnisse" 99 motiviert. Aus dieser Formulierung wird deutlich, daß es sich - wenigstens nach Ansicht der Initiatoren der Neuregelung - weniger um eine Veränderung als um die Sicherung des Status quo handelte. Die Sperrminoriät der großen Länder gegen Verfassungsänderungen sollte erhalten bleiben. 100 Auch bei Art. 51 Abs. 2 GG läßt sich kaum ein eigenes Interesse der DDR an der Modifikation erkennen. Die entstehenden Länder im Beitrittsgebiet gehören nicht zu den großen, so daß die Erhöhung der Stimmenzahl der großen Länder zu ihren Lasten geht. Es drängt sich jedoch die Frage auf, ob Art. 51 Abs. 2 GG insofern bindend ist, als er weitere Veränderungen der Stimmenverhältnisse insgesamt oder nur zu Lasten der neuen Länder ausschließt.

98

Art. 1 Abs. 4 des Vertrags über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. September 1990; BGBl. II S. 1317ff. 99 Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S. 357. Ausführlicher zur Entstehungsgeschichte: J. Jekewitz, Die Stimmenverteilung im Bundesrat nach dem Einigungsvertrag, Recht und Politik 1991, S. 97ff. 100

E. Klein, Der Einigungsvertrag, S. 573; J. Jekewitz, S. 107.

120

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

Eine entsprechende Frage wurde bereits nach 1870 erörtert. Art. 6 der Verfassung des Norddeutschen Bundes regelte die Stimmenzahl "nach Maßgabe der Vorschriften für das Plenum des ehemaligen Deutschen Bundes". Bei den Verträgen mit Baden, Hessen und Württemberg wurde dieses Prinzip übernommen und lediglich die sich daraus ergebende Stimmmenzahl festgestellt; Bayern dagegen wurden sechs statt eigentlich vier Stimmen zugestanden. Zum Problem der Änderbarkeit des Art. 6 RVerf wurden damals alle denkbaren Varianten vertreten. Anschütz bejahte die Möglichkeit einer Novellierung, da kein Sonderrecht zugunsten eines Landes vorläge. Auch die sechs Stimmen Bayerns seien keine Ausnahme, sondern der verfassungsrechtliche Regelfall. 101 Für diese Auffassung sprach, daß Art. 6 nach der Redaktion der Reichsverfassung lediglich die einzelnen Stimmen auflistete, jedoch nicht mehr den oben zitierten Bezug zum Deutschen Bund enthielt, der eigentlich hätte zu nur vier Stimmen für Bayern führen müssen. Die Gegenmeinung berief sich auf Art. 78 Abs. 2 RVerf 1 0 2 und kam so zu einer generellen Unabänderlichkeit der Stimmrechtsverhältnisse. 103 Vermittelnd vertrat Laband, daß Art. 6 grundsätzlich änderbar sei, jedoch Bayern solange seiner bevorzugten Stellung nicht beraubt werden dürfe, wie an diesem Prinzip der Stimmenverteilung festgehalten werde. 104 Bei der Untersuchung des Art. 51 Abs. 2 GG muß der bereits nach 1870 beobachtete Gedanke Berücksichtigung finden, daß ein Sonderrecht die Abweichung vom Regelfall voraussetzt. Art. 51 Abs. 2 GG enthält indes eine allgemeingültige Regel, die für neue und alte Länder gleichermaßen Anwendung findet. Das einzige Kriterium für die Stimmenzahl im Bundesrat ist die Einwohnerzahl. Auch in der Entstehungsgeschichte findet sich kein Hinweis, daß den neuen Länder die vier oder - im Falle Mecklenburg-Vorpommerns - drei Stimmen vertraglich zugesichert sein sollten. Ein sachlicher Grund für eine solche Bevorzugung gegenüber den alten Ländern ist zudem nicht ersichtlich. Für eine vollständige Unantastbarkeit des Art. 51 Abs. 2 GG fehlt ebenfalls jeder

101

G. Meyer/G. Anschütz, S. 703 m.w.N. für beide Auffassungen.

102

"Diejenigen Vorschriften der Reichsverfassung, durch welche bestimmte Rechte einzelner Bundesstaaten in deren Verhältnis zur Gesamtheit festgestellt sind, können nur mit Zustimmung des berechtigten Bundesstaates abgeändert werden." 103

M. von Seydel, S. 135. Ebenso A Arndt, S. 370.

104

P. Laband, Der Begriff des Sonderrechts nach Deutschen Reichsrecht, Sp. 151 Of.

§17: Die Verfassungsänderungen im EV

121

Hinweis. Daraus folgt, daß mit den entsprechenden Mehrheiten eine erneute Änderung der Stimmenverhältnisse im Bundesrat möglich ist. 1 0 5

I I I . Die befristeten Sonderregelungen in Art. 143 Abs. 1,2 GG

Eine speziell auf den Einigungsprozeß bezogene Verfassungsänderung findet sich in der Einführung des Art. 143 Abs. 1, 2 in das Grundgesetz. Dabei geht es um die temporäre verfassungsrechtliche Absicherung von an sich verfassungswidrigem Bundesrecht, das nur im Gebiet der neuen Länder g i l t . 1 0 6 Ob es sich dabei um übergeleitetes Bundesrecht oder fortgeltendes DDR-Recht handelt, ist irrelevant. Inhaltliche Vorgaben für die künftige Gesetzgebung enthält Art. 143 Abs. 1, 2 GG nicht. 1 0 7 Inzwischen ist die in Absatz 1 genannte Frist abgelaufen, so daß gemäß Art. 143 Abs. 2 GG Recht in den neuen Bundesländern nur noch von den Abschnitten II, V i l i , Villa, IX, X und X I des Grundgesetzes 108 abweichen darf. Art. 143 Abs. 2 GG ist bis zum 31. Dezember 1995 befristet. Der Grund für die Differenzierung der Fristen in den Absätzen 1 und 2 war, daß man möglichst rasch eine Übereinstimmung des Rechts mit dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes herbeiführen wollte und andererseits glaubte, eine Abweichung von den Organisationsnormen der Verfassung für längere Zeit hinnehmen zu können. 109 Striche ein verfassungsändernder Gesetzgeber vor dem Fristablauf den Art. 143 Abs. 2 aus dem Grundgesetz, drohte zahlreichen einfachgesetzlichen Aus105

Wie hier J. Jekewitz, S. 97.

106 V g l Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S. 359. Daß Art. 143 Abs. 1, 2 GG nur für Bundesrecht gelten, folgt aus Art. 9 Abs. 1, wonach DDR-Recht als Landesrecht nur fortgilt, sofern es mit dem Grundgesetz ohne Berücksichtigung des Art. 143 GG in Einklang steht. 107

Protokoll zum Einigungsvertrag Nr. 4; BGBl. 1990 II, S. 905f.

108

Dabei handelt es sich um die Abschnitte Bund und Länder, Ausführung der Bundesgesetze und Bundesverwaltung, Gemeinschaftsaufgaben, Rechtsprechung, Finanzwesen und Übergangsund Schlußbestimmungen. 109 V. Busse, Das vertragliche Werk der deutschen Einheit und die Änderungen von Verfassungsrecht, DöV 1991, S. 345ff. (350). Insbesondere die Abtreibungsproblematik war eine wichtige Ursache für zwei unterschiedlich lange Fristen in Art. 143.

122

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

nahmeregelungen das Verdikt der Verfassungswidrigkeit. Daher muß eine solche Maßnahme als politisch völlig unwahrscheinlich gelten. Dennoch soll kurz die theoretische Möglichkeit erörtert werden. Geht man vom Wortlaut aus, so findet sich bei Art. 143 Abs. 2 GG wie bei den anderen Verfassungsänderungen in Art. 4 kein Hinweis auf eine Beschränkung der Dispositionsbefugnis des pouvoir constitué. Ein wesentlicher Unterschied zu den bisher besprochenen Verfassungsänderungen besteht aber darin, daß Art. 143 Abs. 2 GG nicht isoliert betrachtet werden kann. Ohne "verfassungswidrige" Gesetze in den Anlagen zum Einigungsvertrag wäre die Vorschrift obsolet und mit ihr die Frage ihrer Änderbarkeit. Der Verfassungsartikel hat mithin einen engen Bezug zu den im Einigungsvertrag enthaltenen einfachgesetzlichen Übergangsregelungen. Unterstellt man, daß die Anlagen Regelungen enthalten, an die der Bundesgesetzgeber vertraglich gebunden ist 1 1 0 , so folgt daraus für den Vertragspartner Bundesrepublik eine Pflicht, nichts zu tun, was die vertraglichen Vereinbarungen gefährden könnte. Eine Gefahr für den Bestand von Sonderregelungen in den Anlagen läge nach einer Streichung des Art. 143 Abs. 2 GG zweifellos vor. Eine Verkürzung der Fristen oder eine Streichung des Art. 143 Abs. 2 GG kommt mithin nicht in Frage. Gegen das hier gefundene Ergebnis könnte geltend gemacht werden, daß die Bindung an eine Verfassungsnorm von Bestimmungen abhängig gemacht wird, die dem Rang nach unter dem Verfassungsrecht stehen. Es wäre tatsächlich unzulässig, wenn das einfache Recht als in bezug auf den verfassungsändernden Gesetzgeber bindungsbegründend herangezogen würde; dies geschieht allerdings nicht. Die Bindung ergibt sich nicht aus den einfachgesetzlichen Bestimmungen, sondern aus dem fortbestehenden vertraglichen Charakter der Verfassungsnorm selbst. Die Bundesrepublik hat vertraglich garantiert, einzelne Übergangsregelungen für bestimmte Zeit durch Art. 143 Abs. 2 GG vor dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit zu schützen. Diese Bindung besteht fort, so daß Art. 143 Abs. 2 GG nicht durch verfassungsänderndes Gesetz gestrichen werden kann. 111

110 Dazu siehe unten; die Denkschrift geht von einer Bindung an die befristeten Sonderregelungen aus, BT-Drucks. 11/7760, S. 377. 111

Die Artt. 135 a Abs. 2, 143 Abs. 3 GG sollen wegen ihres Bezugs zur Eigentumsregelung in diesem Zusammenhang erörtert werden. Siehe unten § 20 II.

§ 18: Die Ausnahmebestimmung des Art. 6 EV

123

§ 18: Die Ausnahmebestimmung des Art. 6 EV Die Artt. 6 und 7 des Einigungsvertrags enthalten zwei Ausnahmen zu dem in Art. 3 normierten Grundsatz der völligen Inkraftsetzung des Grundgesetzes im Beitrittsgebiet. Derartige Ausnahmebestimmungen werden von der herrschenden Meinung für zulässig gehalten, da Art. 23 Satz 2 GG a.F. nicht die Inkraftsetzung des Grundgesetzes uno actu verlangte. Vielmehr war allein entscheidend, daß der geschaffene Zustand näher beim Grundgesetz steht, als der zuvor bestehende.112 Gleichzeitig stehen die Artt. 6, 7 nicht im Verfassungsrang 113 , so daß die Inkraftsetzung wie beim Verfahren nach Art. 23 Satz 2 GG a.F. durch einfaches Bundesgesetz nachgeholt werden könnte. Etwas anderes könnte sich nur als Folge einer vertraglichen Bindung ergeben. Nach Art. 6 wird Art. 131 GG "vorerst" nicht in Kraft gesetzt. Durch Art. 131 GG wurden die Rechtsverhältnisse der öffentlich Bediensteten nach dem zweiten Weltkrieg geregelt. Gleichzeitig werden die im Zusammenhang mit dieser Verfassungsvorschrift erlassenen einfachen Gesetze vom Inkrafttreten nach Art. 8 ausgenommen.114 Der ursprüngliche Zweck des Art. 131 GG, eine rechtsgleiche Wiederverwendung der Betroffenen im öffentlichen Dienst zu erreichen, kann wegen des hohen Lebensalters des Personenkreises nicht mehr erreicht werden. 115 Dennoch ist die Bedeutung dieser Sonderregelung nicht zu negieren, da in der ehemaligen DDR eine wohl fünfstellige Zahl von Menschen lebt, die durch die versorgungsrechtlichen Bestimmungen der Ausführungsgesetze zu Art. 131 GG erfaßt würde. 116 Der Wortlaut des Art. 6 enthält einen relativ klaren Hinweis auf die Dispositionsbefugnis des gesamtdeutschen Gesetzgebers. Nach Art. 23 Satz 2 GG a.F. erfolgte die Inkraftsetzung des Grundgesetzes durch einfaches Bundesge-

112 BVerfGE 4, 157ff. (170); K. Stern, Der Staatsvertrag im völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Kontext, S. 37f.; R. Scholz in M/D, Art. 143/Randnr. 8. 113

Siehe oben § 7 II.

114

Ani. 1, Kap. II, Sachgeb. B, Abschn. I; BGBl. 1990 II, S. 911.

115

Nach den Erläuterungen der Bundesregierung zu den Anlagen zum Einigungsvertrag war dies ein Grund für die Ausnahmeregelung; BT-Drucks. 11/7817, S. 2. 116 D. Merten, Grundfragen des Einigungsvertrages unter Berücksichtigung beamtenrechtlicher Probleme, S. 72; Bundesinnenminister Schäuble, Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 17. Sitzung am 6. Sept. 1990, S. 544 C.

124

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

setz. Wenn Art. 6 den Art. 131 GG "vorerst" von der Inkraftsetzung ausschließt, so kann das nichts anderes bedeuten, als daß dem Bundesgesetzgeber die Kompetenz gegeben wird, die Inkraftsetzung zu einem in sein Belieben gestellten Zeitpunkt nachzuholen. Dabei kann aus dem "Vorerst" auch eine Verschiebung "ad Calendas graecas" werden 117 ; nach Art. 6 bleibt offen, ob und wann diese vorgenommen wird. Leitet der Gesetzgeber später den Art. 131 GG über, entfällt der Zweck des Art. 6, weswegen der Einigungsvertrag hier zur Disposition des Gesetzgebers steht. 118

§ 19: Art. 7 EV und die Finanzverfassung des Grundgesetzes

I. Die Regelung im Einigungsvertrag und spätere Änderungen

Von wesentlich größerer Bedeutung als Art. 6 ist für die neuen Länder Art. 7, der Abweichungen von der Finanzverfassung zu ihrem Nachteil enthält. 119 Finanzielle Auswirkungen haben insbesondere die Bestimmungen in Art. 7 Abs. 3, wonach der Umsatzsteueranteil der neuen Länder auf einen geringeren Prozentsatz des ihnen eigentlich zustehenden Teils gesenkt wird und wonach ein gesamtdeutscher Finanzausgleich nicht stattfindet. Die Regelung wurde von den alten Bundesländern zum Zwecke der Besitzstandswahrung durchgesetzt. 120 Dazu kommen weitere Ausnahmebestimmungen in Art. 7 Abs. 2: Nach

117 So zutreffend D. Merten, Grundfragen des Einigungsvertrages unter Berücksichtigung beamtenrechtlicher Probleme, S. 68. 118

Zu dem verfassungsrechtlichen Problem, ob der Gesetzgeber die Regelungen in Kraft setzen muß, vgl. D. Merten, Grundfragen des Einigungsvertrages unter Berücksichtigung beamtenrechtlicher Probleme, S. 68. Merten kommt zu dem Ergebnis, daß die Ausnahme nur durch Art. 143 Abs. 1 GG legitimiert werden kann. Damit hätten die Bestimmungen bis spätestens zum 31. Dez. 1992 übergeleitet werden müssen. Nach Scholz ist Art. 131 GG bis spätestens zum 31. Dez. 1995 in Kraft zu setzen; dies folge aus einer verfassungskonformen Auslegung des Art. 143 Abs. 2 GG; R. Scholz in M/D, Art. 143/Randnr. 14. 119 Auch beim Saarbeitritt hat es erhebliche Abweichungen von der Finanzverfassung des Grundgesetzes gegeben; vgl. R. Wendt, Finanzverfassung und Art. 7 Einigungsvertrag, in K. Stern (Hrsg.): Deutsche Wiedervereinigung, Band 1, S. 213ff. (215f.). 120

Vgl. Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S. 358.

§19: Art. 7 EV und die Finanzverfassung des GG

125

Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 findet keine Deckungsquotenberechnung statt 121 , eine Maßnahme, die im Ergebnis den Bund gegenüber den alten Ländern begünstigt, für die neuen Länder dagegen kaum Auswirkungen hat. 1 2 2 Art. 7 Abs. 2 Nr. 2 hat organisatorische Gründe und hängt damit zusammen, daß in den neuen Ländern keine Gemeindeeinkommenssteuerstatistik existiert 123 ; Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 stärkt die Stellung der Gemeinden in den neuen Ländern. In sachlichem Zusammenhang zu diesen Abweichungen von der Finanzverfassung steht schließlich Art. 7 Abs. 5, welcher die Leistungen des Fonds "Deutsche Einheit" zwischen den neuen Ländern und dem Bund in einem Verhältnis von 85 zu 15 verteilt. Als Folge des immensen Finanzbedarfs der neuen Länder wurden die dargestellten Vereinbarungen des Einigungsvertrags bereits kurz nach der Wiedervereinigung geändert: Art. 7 Abs. 3 wurde insoweit modifiziert, als nach den Beschlüssen der Ministerpräsidenten vom 28. Februar 1991 die Begrenzung des Umsatzsteueranteils aufgegeben worden ist. Zudem wurde Art. 7 Abs. 5 Nr. 2 geändert, indem der Bund auf seinen 15%-Anteil am Fonds "Deutsche Einheit" verzichtete. 124 Die Einbeziehung in den Finanzausgleich findet allerdings nach wie vor nicht statt. 125

II. Die Bedeutung der Revisionsklauseln

Die dargestellte Entwicklung scheint eindeutig für die Änderbarkeit des Art. 7 zu sprechen. Dies gilt um so mehr, als die Vereinbarung in Artt. 7 Abs. 3 Satz 4 und 7 Abs. 6 zwei Revisionsklauseln enthält, die ausdrücklich die Überprüfbarkeit der Finanzbestimmungen normieren. Indes ist zu bedenken, daß die 121

Entgegen Art. 106 Abs. 3 Satz 4, Abs. 4 GG.

122

P. Selmer, Die bundesstaatliche Finanzverfassung und die Kosten der deutschen Einheit, in K. Stern (Hrsg.): Deutsche Wiedervereinigung, Band 1, S. 189ff. (191); so auch B. Schmidt-Bleibtreu, Diskussionsbeitrag, ebda. S. 247. 123

Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S. 360.

124

Zu der Entwicklung seit dem Einigungsvertrag vgl. W. Patzig, Zwischen Solidität und Solidarität; Die bundesdeutsche Finanzverfassung in der "Übergangszeit", DöV 1991, S. 578ff. (584ff.) 125

Insgesamt ergibt sich aus diesen Maßnahmen eine zusätzliche Unterstützung von etwa 31 Mrd. DM bis 1994; K. Stollreither, Das vereinigte Deutschland, S. 86.

126

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

bisherigen Modifikationen ausschließlich zugunsten der neuen Länder erfolgten und diese daher keinen Anlaß hatten, auf dem vertraglich Vereinbarten zu beharren. Es ist davon auszugehen, daß auch 1995 die Wirtschaftskraft der neuen Länder noch nicht Westniveau erreicht haben wird 1 2 6 ; nach jetziger Regelung wird allerdings dann Art. 107 Abs. 2 GG wirksam, so daß ein gesamtdeutscher Finanzausgleich stattzufinden hat. Legt man den Stand nach der Vereinigung zugrunde, würden alle Westländer mit Ausnahme von Bremen ausgleichspflichtig 127 , weswegen ein erheblicher politischer Druck möglich erscheint, die neuen Länder erst später am Finanzausgleich zu beteiligen. Der Druck würde dann noch größer, wenn sich - was derzeit sehr wahrscheinlich anmutet - Bund und Länder nicht oder nicht pünktlich auf die zum 1. Januar 1995 vorgesehene Finanzreform 128 einigen könnten. In diesem Zusammenhang soll gefragt werden, ob eine Veränderung des Einigungsvertrags zu Lasten des Beitrittsgebiets möglich ist. Das wäre dann nicht der Fall, wenn die Vereinbarungen einen Stand der Integration der neuen Bundesländer in die Finanzverfassung enthalten, der nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die verfassungsrechtlichen Implikationen des Problems können nur angedeutet werden 129 , hier stehen die vertragsrechtlichen Aspekte im Vordergrund. Dabei ist das Augenmerk zunächst auf die Revisionsklausel in Art. 7 Abs. 6 zu lenken. Danach werden bei "grundlegender Veränderung der Gegebenheiten [...] die Möglichkeiten weiterer Hilfe" für die neuen Länder geprüft. Die Existenz einer derartigen Klausel unterstreicht zunächst das vertragliche Zustandekommen der Vereinbarung, da Gesetze per se zur Disposition stehen und die Klausel dann überflüssig wäre. Gleichzeitig wird durch sie eine Änderung ermöglicht, die nach dem Untergang der DDR allein vom Vertragspartner Bundesrepublik vorgenommen werden kann. Das macht deutlich, daß der Vertrag an dieser Stelle stark gesetzesähnlichen Charakter bekommt. Dabei hat al-

126 Wie hier St. Korioth, 1048ff. (1057). 127

Die Finanzausstattung der neuen Bundesländer, DVB1. 1991, S.

St. Korioth, S. 1053.

128 vgl § 2 Abs. 2 zu Art. 31 des Vertragsgesetzes zum Staatsvertrag. 129 Zum Teil werden bereits gegen die jetzige Regelung in Art. 7 verfassungsrechtliche Bedenken vorgetragen. Diese bestehen gegen die Anwendung des Art. 143 Abs. 1, 2 GG, der nur einschlägig ist, "soweit und solange infolge der unterschiedlichen Verhältnisse die völlige Anpassung an die grundgesetzliche Ordnung noch nicht erreicht werden kann." Gleichzeitig wird auf die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem Bundesstaatsprinzip hingewiesen; vgl. P. Selmer, S. 195. In jedem Fall sei eine weitere Distanzierung der neuen Länder von der Finanzverfassung ausgeschlossen, ders. S. 196.

§ 19: Art. 7 EV und die Finanzverfassung des GG

127

lerdings die Prüfung gemeinsam mit den neuen Ländern zu erfolgen, weswegen sie im Sinne des bündischen Prinzips auf partnerschaftliche Verständigung und Kompromiß ausgerichtet sein muß. 1 3 0 Das typisch hoheitliche Element eines Gesetzes wird dadurch wieder beschränkt. Von besonderem Interesse für mögliche Änderungen ist, daß die Klausel ihrem Wortlaut nach Veränderungen nur in eine Richtung zuläßt. Der Ausdruck "Hilfe" ist zwar unpassend, wenn es um die Anwendung der grundgesetzlichen Ordnung geht; er sollte wohl zum Ausdruck bringen, daß auch andere Maßnahmen neben einer Reduktion der dargestellten Ausnahmebestimmungen möglich sind. Aus dem Zusammenhang ergibt sich aber, daß an Maßnahmen zu Lasten des Beitrittsgebiets nicht gedacht ist. In Kombination mit der Betonung des vertraglichen Elements durch die Revisionsklausel spricht dies dafür, daß Veränderungen des Art. 7 zu Lasten des Beitrittsgebiets ausgeschlossen sind. Andererseits enthält Art. 7 Abs. 3 Satz 4 eine spezielle Revisionsklausel für diesen Absatz, die auf Initiative der alten Bundesländer in den Vertrag aufgenommen worden ist. 1 3 1 Im Gegensatz zu Art. 7 Abs. 6 wird hier nicht ausdrücklich festgestellt, in welche Richtung verändert werden darf. Es sprechen allerdings erhebliche Bedenken gegen die - ohnehin nur theoretische - Möglichkeit, den Vertrag hier zu Lasten der neuen Länder zu verändern, wie ein Blick auf die Genese der Revisionsklausel belegt. Auch die alten Länder bezweifelten die unzureichende Finanzausstattung der neuen Bundesländer nicht. 132 Der hohe Finanzbedarf war zwischen Bund und Ländern unstreitig, umstritten war allein, wer dafür aufzukommen habe. Dabei sahen sich die alten Bundesländer vielfach dem Vorwurf ausgesetzt, sie betrieben eine Verweigerungshaltung. 133 Vor diesem Hintergrund ist die Revisionsklausel als Versuch zu verstehen, diese Kritik zu widerlegen, und war von vornherein nicht dazu gedacht, eine Änderung zu Lasten der neuen Länder zu ermöglichen. Mithin können die Revisionsklauseln nicht als stützendes Argument herangezogen

130

Vgl. BVerfGE 72, 330ff. (396).

131

BT-Drucks. 11/7841, S. 5.

132

Vgl. etwa NRW-Ministerpräsident Rau, Prot, der 618. Sitzung des Bundesrates am 7. Sept. 1990, S. 460f. 133

E. Klein, Der Einigungsvertrag, S. 573; weitere Nachweise zur Kritik an der Politik der alten Bundesländer gibt W. Patzig, S. 579.

128

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

werden, wenn es um die Veränderung des Einigungsvertrags zu Lasten der neuen Länder geht. 134

I I I . Vertrags- und verfassungsrechtliche Aspekte zur Änderbarkeit des Art. 7

Auf Grund der Überlegungen im letzten Abschnitt kann noch keine abschließende Aussage zur Bestandskraft des Art. 7 getroffen werden. Nach Art. 7 gilt die Finanzverfassung im Beitrittsgebiet nur mit erheblichen Ausnahmen. Es könnte unabhängig von den Revisionsklauseln die Möglichkeit bestehen, den geplanten Zeitpunkt der vollen Geltung der Verfassung hinauszuschieben. Anders formuliert geht es um das grundlegende Problem, ob der Einigungsvertrag inhaltlich und zeitlich das Höchstmaß an Sonderregelungen in bezug auf das Beitrittsgebiet enthält. Die Alternative wäre die Möglichkeit der Schaffung neuen Sonderrechts oder die Verlängerung bereits bestehender befristeter Sonderregelungen. 135 Ein längerfristiger Ausschluß der neuen Länder von der Finanzverfassung ist unzulässig, wenn übergeordnete Überlegungen entgegenstehen. Nach Lage der Dinge könnten dies vertragsrechtliche und verfassungsrechtliche Gesichtspunkte sein. Besteht ein vertragliches Element, folgt daraus, daß nach Ablauf der in Art. 7 genannten Frist definitiv die Finanzverfassung des Grundgesetzes vollständig im Beitrittsgebiet gilt. Für ein vertragliches Element spricht Art. 7 Abs. I . 1 3 6 Die Vorschrift ist neben Art. 3 1 3 7 überflüssig, es sei denn, man legt

134 Abweichungen zugunsten der neuen Länder sind ohnehin möglich. Nach Art. 44 können nur die neuen Länder Änderungen des Einigungsvertrags unter Verletzung vertraglicher Zusicherungen widersprechen. Ein solcher Widerspruch dürfte bei Novellierungen zugunsten der neuen Länder ausbleiben. 135

W. Schäuble, Der Vertrag, S. 155, erwähnt Überlegungen, durch ein "Vorschaltgesetz" die Geltung bereits eingeführten Bundesrechts zeitweilig auszusetzen. 136 Art. 7 Abs. 1 regelt, daß die Finanzverfassung im Beitrittsgebiet gilt, soweit der Einigungsvertrag nichts anderes bestimmt. 137 Art. 3 regelt, daß das Grundgesetz im Beitrittsgebiet gilt, soweit der Einigungsvertrag nichts anderes bestimmt.

§ 19: Art. 7 EV und die Finanzverfassung des GG

129

sie dahingehend aus, daß zusätzliche oder verlängerte Abweichungen von der Finanzverfassung bindend ausgeschlossen werden sollen. Ferner spricht das Gesamtziel des Vertrags gegen die Möglichkeit, die Unterschiede in beiden Teilen Deutschlands zu vertiefen: Der Einigungs vertrag wurde mit dem grundlegenden Ziel geschaffen, eine umfassende Rechtseinheit in Deutschland herzustellen. 138 Das Verfahren der Negativliste bei der Einführung des Bundesrechts zeigt, daß dieses Ziel möglichst schnell und umfassend erreicht werden sollte. Zwar wurden einzelne Sonderregelungen inzwischen verlängert; hier geht es jedoch um die weiterführende Frage, ob die Herstellung der Rechtseinheit auf einem zentralen Gebiet mit Verfassungsbezug gegen den Willen der betroffenen und nach Art. 44 klagebefugten Landesregierungen verzögert werden kann. Vertragliche Bestandskraft enthalten die Vorschriften des Einigungsvertrags nur in bezug auf solche Regelungen, die zugunsten der untergegangenen DDR aufgenommen worden sind. Soweit das spezifische Sonderinteresse für den Verhandlungspartner DDR nicht gegeben war, fehlt es an der Voraussetzung für eine Sondervereinbarung. Dies verdeutlicht Art. 44, der die neuen Länder lediglich dazu ermächtigt, vertragliche Rechte zugunsten der ehemaligen DDR oder zu ihren Gunsten geltend zu machen. Damit scheidet ein vertraglicher Bestandsschutz bei Art. 7 Abs. 2 aus, da diese Ausnahmebestimmungen für die neuen Länder indifferent sind (s.o.). Soweit allerdings unmittelbar die Finanzausstattung der neuen Länder betroffen ist, liegt das Sonderinteresse der DDR auf der Hand. Dies gilt für Art. 7 Abs. 3: Wenn die Regelung für die neuen Länder auch nachteilig ist, so läßt sich daraus dennoch eine Zusage ableiten, daß darüber hinausgehende Nachteile ausbleiben. Mit Art. 7 Abs. 1 ist gleichzeitig das verfassungsrechtliche Element angesprochen, das der hier ins Auge gefaßten Änderung zum Nachteil der neuen Länder entgegenstehen könnte. Verfassungsrechtlich ist nach allgemeiner Auffassung der Bund zur Gleichbehandlung aller Länder verpflichtet. 139 Das Bundesverfassungsgericht leitet diese Pflicht aus dem Bundesstaatsprinzip und dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz ab. 1 4 0 Gesetze, die diese Grundsätze mißachten, sind verfassungswidrig. Etwas anderes gilt nach dem Einigungsvertrag

138

R. GrawerU Rechtseinheit in Deutschland, S. 222.

139

Dazu J. Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, Randnr. 129ff.

140

BVerfGE 72, 330ff. (404); vgl. auch BVerfGE 41, 29Iff. (308).

9 Hoch

130

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

nur, soweit das Grundgesetz noch nicht vollständig im Beitrittsgebiet eingeführt worden ist. Im Bereich der Finanzverfassung gilt das Grundgesetz endgültig und vollständig, wenn die Fristen des Art. 7 abgelaufen sind, ohne daß es dazu eines besonderen staatlichen Aktes bedarf. Daher kommt eine Verlängerung der Fristen per Gesetz einer partiellen Außerkraftsetzung des Grundgesetzes gleich, was grundsätzlich unzulässig ist. 1 4 1 Da selbst die Notstandsverfassung keine Ungleichbehandlung der Länder deckt, werden spätestens Anfang 1995 die in Art. 7 niedergelegten Abweichungen von der Finanzverfassung wegen der Verletzung von Verfassungsgeboten unzulässig, so daß die Möglichkeit der Verlängerung dieser Abweichungen ausscheidet.142 Da die Verfassung somit Sonderregelungen zu Lasten der neuen Länder untersagt, soweit sie über das im Einigungsvertrag Vereinbarte hinausgehen, ergänzt dies die vertragliche Zusicherung.

IV. Der Sonderfall des Art. 7 Abs. 5

Schwieriger zu beantworten ist die gestellte Frage im Rahmen von Art. 7 Abs. 5, nach dessen Wortlaut allein die Verteilung der Leistungen des Fonds "Deutsche Einheit" geregelt wird. Nachdem der Bund auf seinen 15%-Anteil verzichtet hat, fließen die Leistungen jetzt insgesamt den neuen Ländern zu. Problematisch ist allerdings, ob durch die Verteilungsregelung die vorgesehende Höhe der Fondsleistungen vertraglich zugesichert ist. Dagegen spricht die Einrichtung des Fonds durch ein einfaches Gesetz. 143 Dieses Gesetz bildete zum Teil die Umsetzung der vertraglichen Verpflichtung aus Art. 28 Abs. 1 StaatsV; der Staatsvertrag statuierte allerdings nur eine Zahlungspflicht bis einschließlich 1991. Die darüber hinausgehenden Leistungen waren aus damaliger Sicht freiwillige Zuwendungen an einen fremden Staat. Dennoch kommt eine vertragliche Pflicht zur Leistung des vorgesehenden Betrags in voller Höhe in Betracht, da die Fondsmittel die Gegenleistung waren, welche der DDR-Regierung den Verzicht auf die volle Einbeziehung in die Finanzverfassung ermög141

Eine Ausnahme bilden lediglich die Artt. 115 a-1 GG.

142

Wie hier R. Eckertz, Der gesamtdeutsche Finanzausgleich im System des geltenden Verfassungsrechts, DöV 1993, S. 28Iff. (285). 143

Vgl. § 2 zu Art. 31 des Vertragsgesetzes zum Staatsvertrag.

§ 19: Art. 7 EV und die Finanzverfassung des GG

131

lichten. Dieser Zusammenhang wird unterstrichen durch die Stellung der Regelung als fünfter Absatz des Art. 7, der mit "Finanzverfassung" überschrieben ist. Im übrigen genießen die neuen Länder Vertrauensschutz im Hinblick darauf, daß die Leistungen des Fonds in vorgesehener Höhe ausgezahlt werden. Nach Sinn und Zweck des Art. 7 Abs. 5 wäre ein gegenteiliges Verhalten, also etwa die Kürzung der Fondsleistungen, unzulässig.

V. Zusammenfassung bezüglich der Änderbarkeit der Artt. 4 - 7

Auf Grund der vorangegangenen Überlegungen ergibt sich das Fazit, daß die Regelungen des Art. 7 nicht zu Lasten der neuen Länder verändert werden dürfen. Dies folgt sowohl aus verfassungsrechtlichen wie aus vertragsrechtlichen Gesichtspunkten. Veränderungen zugunsten des Beitrittsgebiets sind schon deshalb möglich, weil allein die neuen Länder mit der Wahrung der ausgehandelten Rechte beauftragt sind. Vereinbarungen wie in Art. 7 Abs. 2, die für die neuen Länder indifferent sind, können unter vertragsrechtlichen Aspekten verändert werden. Da es nicht um Sonderinteressen der ehemaligen DDR geht, scheidet eine besondere Zusage der Bestandsfestigkeit an den früheren Vertragspartner insoweit aus. Ebensowenig bestandsfest ist die Regelung des Art. 6, da sie ausdrücklich den Gesetzgeber zu abweichenden Maßnahmen ermächtigt. Die eigentlichen Verfassungsänderungen des Art. 4 stehen im wesentlichen zur Disposition des pouvoir constitué. 144 Dies folgt wie bei Art. 7 Abs. 2 daraus, daß keine spezifischen Interessen des Beitrittsgebiets geregelt sind. Eine Ausnahme ergibt sich für Art. 143 Abs. 2 GG, da diese Regelung den Zweck verfolgt, an sich verfassungswidrige Regelungen auf einfachgesetzlicher Ebene abzusichern. Seiner Verpflichtung bezüglich des Bestands der einfachgesetzlichen Sonderrechte darf sich der Bund nicht dadurch entziehen, daß er mit der Abschaffung des Art. 143 Abs. 2 GG die Nichtigerklärung der Sonderrechte durch das Bundesverfassungsgericht ermöglicht. Art. 5, der die gesetzgebenden Körperschaften des vereinigten Deutschland anregt, sich mit im einzelnen aufgelisteten Verfassungsänderungen zu befassen, hat nach seinem eindeutigen

144

y*

So auch E. Klein, Bundesstaatlichkeit im vereinten Deutschland, S. 37.

132

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

Wortlaut nur empfehlenden Charakter. Damit scheidet eine vertraglich statuierte Rechtspflicht i m Sinne einer Befassungspflicht a u s . 1 4 5

§ 20: Die Eigentumsregelung A m naheliegendsten scheint eine vertragliche Bindung des gesamtdeutschen Gesetzgebers an die Eigentumsregelung 1 4 6 des Einigungs Vertrags zu sein. Dabei wurde durch Art. 41 Abs. 1 die zunächst rechtlich u n v e r b i n d l i c h e 1 4 7 Gemeinsame E r k l ä r u n g 1 4 8 der beiden deutschen Regierungen zum Bestandteil des Vertrags erhoben. Die Erklärung stellt i m Zusammenhang m i t der Eigentumsproblematik folgende Grundsätze auf: "Die Enteignungen auf besatzungsrechtlicher bzw. besatzungshoheitlicher Grundlage (1945 bis 1949) sind nicht mehr rückgängig zu machen. [...] Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland [...] ist der Auffassung, daß einem künftigen gesamtdeutschen Parlament eine abschließende Entscheidung über etwaige staatliche Ausgleichsleistungen vorbehalten bleiben muß."149 Dagegen w i r d in Fällen, in denen die Enteignung nach Staatsgründung der D D R vorgenommen worden ist, i m Regelfall das Eigentum dem Enteigneten oder seinen Erben zurückgegeben. Etwas anderes gilt nach Art. 41 Abs. 2, wenn das betroffene Grundstück für dringende Investitionszwecke benötigt

145

A.A. R. Wahl, Die Verfassungsfrage nach dem Beitritt, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1990, S. 468ff. (470). Wahl nimmt eine Rechtspflicht zur loyalen Umsetzung dieser Empfehlungen an. Dagegen spricht jedoch, daß eine Empfehlung allein beratenden Charakter hat und sich gerade dadurch von einem verpflichtenden Befehl abgrenzt. Wie hier D. Wilhelm, Randnr. 18. 146 Dokumente zur Behandlung der Eigentumsfrage in der ehem. DDR von der Zeit nach dem 2. Weltkrieg bis zur Wiedervereinigung sind zusammengetragen bei G. Fieberg/H. Reichenbach, Enteignung und offene Vermögensfragen in der ehemaligen DDR, 2 Bände.

147 vgl Staatssekretär Kinkel, Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 7. Sitzung am 15. Juni 1990, S. 256 D. 148 149

Anlage III des Einigungsvertrags, BGBl. 1990 II, S. 1237f.

Der Ausschluß der Rückgabe für die Enteignungen von 1945 bis 1949 gilt auch für OstBerlin; KG DtZ 1991, S. 298f. Rechtsvergleichend sei hingewiesen auf die Untersuchungen des Instituts für Ostrecht, Rückgabe oder Entschädigungen in den osteuropäischen Staaten, ROW 1992, S. 321 ff. mit Darstellungen der Rechtslage in der ehem. CSFR, in Ungarn, Polen, Slowenien, Kroatien, Rumänien und Rußland.

§ 20: Die Eigentumsregelung

133

wird. Diese Vereinbarungen werden durch das mit dem Einigungsvertrag erlassene "Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen" 150 konkretisiert. Inzwischen wurde das Vermögensgesetz bereits mehrfach geändert 151 , doch bewegten sich die Änderungen inhaltlich in Richtung auf die von der damaligen DDR-Regierung vertretene Position, die eine Entschädigungslösung bevorzugte. 152 Trotz vielfacher Kritik hielt der Gesetzgeber allerdings am Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung" bei den nach 1949 Enteigneten fest. Ursächlich hierfür war neben verfassungsrechtlichen Bedenken insbesondere die Furcht vor unabsehbaren finanziellen Belastungen, die eingetreten wären, hätte man in allen Fälle entschädigen müssen. 153 Mit dem Versuch einer Rückabwicklung der Enteignungen beschreitet die Bundesrepublik historisch gesehen neue Pfade. Ein vergleichbares Problem entstand in Frankreich nach der endgültigen Niederlage Bonapartes. Damals kehrten mit den Bourbonen viele Adelige und andere Gegner der Revolution nach Frankreich zurück und verlangten die Herausgabe ihres während der Revolution enteigneten Eigentums. Insgesamt ging es um 457000 Konfiskationsfälle. 154 Nach heftigem politschen Streit ging der Kompromiß zu Lasten der Alteigentümer; zurückgegeben wurden nur die Ländereien, die nicht an einen

150

BGBl. 1990 II, S. 1159ff.

151

Die Neufassung des Vermögensgesetzes durch das Gesetz vom 3. Aug. 1992 findet sich in BGBl. I S. 1446ff. Insbesondere sollten durch Verfahrenserleichterungen die Investitionen in den neuen Ländern gefördert werden. So wurden beispielsweise die Fristen für Alteigentümer erheblich gekürzt, in denen Einwände gegen Vorhaben eines neuen Investors vorgetragen werden konnten. Die Literatur zum Vermögensgesetz und dessen Änderungen ist kaum noch zu überschauen. An dieser Stelle kann nur verwiesen werden auf das Handbuch von G. Brunner u.a. (Hrsg.): Rechtshandbuch Vermögen und Investitionen in der ehemaligen DDR; sowie die Monographie von W. Försterling, Recht der offenen Vermögensfragen. 152

Ein Mehr an Rückgabefällen gegenüber der ursprünglichen Regelung des Vermögensgesetzes gibt es durch die Änderung des § 1 Abs. 8 lit. a. Eine Ausnahme vom Ausschluß der Rückgabe gilt danach für solche Personen, die bereits in der NS-Zeit und während der Jahre 1945-1949 noch einmal enteignet worden sind. Die neuen Länder haben dieser Änderung nicht nach Art. 44 widersprochen. 153 W. Schäuble, Der Vertrag, S. 255ff. Vgl. auch L. Claussen, Der Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung", NJ 1992, S. 297ff.

154 Yg| djg kurze Übersicht bei W. Graf Vitzthum, Das Bodenreform-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Analyse und Kritik, in K. Stern (Hrsg.): Deutsche Wiedervereinigung, Band 2, Teil 1, S. 3ff. (3f.). Als weitere historische Beispiele zur nicht vollzogenen Rückabwicklung von Unrechtshandlungen nennt G. Püttner, Diskussionsbeitrag, ebda. S. 27, die Weigerung Bremens, nach dem 2. Weltkrieg die katholischen Volksschulen wiederherzustellen, und den Reichsdeputationshauptschluß, der auch über 1815 hinaus Bestand hatte.

134

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

Neueigentümer gegeben worden waren. 155 Alle übrigen Fälle wurden durch Gesetz von 1825 mit fast 1 Millarde Francs entschädigt. Das war zwar für damalige Verhältnisse viel Geld, besiegelte jedoch zugleich den Bestand der Enteignungen. Letztlich gelang es allerdings auf diesem Wege, eine soziale Befriedung Frankreichs herbeizuführen. 156 Ein ähnliches Beispiel der Herstellung des Rechtsfriedens durch den Einsatz finanzieller Mittel wird aus der Antike von Cicero überliefert. 157 Nachdem in der Stadt Sicyon eine 50 Jahre andauernde Tyrannei beendet werden konnte, kehrten die geflohenen Alteigentümer zurück, und es entstanden ebenfalls Besitzstreitigkeiten. Im Gegensatz zu den Bourbonen nach 1815 und der deutschen Lösung des Jahres 1990 wurde dieser Streit durch einen gewissen Arat aus Sicyon geschlichtet, indem er beiden Seiten Geld anbot und dadurch auch einige der Alteigentümer ihren Grund und Boden zurückerhielten.

I. Bindung durch Art. 41 Abs. 3

Um einen Konsens bei der Regelung der Eigentumsfrage wurde zwischen den Parteien besonders heftig und intensiv gerungen. Beide Seiten konnten darauf verweisen, daß die Vorschläge des Gegenüber zu erheblichen Ungerechtigkeiten 158 führen mußten, sei es, daß die willkürlichen Konfiskationen nach dem Krieg rechtskräftig blieben, sei es, daß Menschen, die über viele Jahre Haus und Grundstück als ihre Heimat angesehen hatten, diese verlieren sollten.

155

Noch weitergehend hatte es in der Verfassung vom 4. Juni 1814 geheißen: "Toutes les propriétés sont inviolables, sans aucune exception de celles, qu'on appelle nationales, la loi mettant aucune différence entre elles." Zit. nach R. Wahl, Die deutsche Einigung im Spiegel historischer Parallelen, S. 207. 156 So der Historiker André Gain·, zit. nach R. v. Thadden, Restauration und napoleonisches Erbe, S. 224, Fußnote 81. 157

M. Tullius Cicero, De officiis II, 81/82. Siehe dazu B. Wienand, Rechtsphilosophische Anmerkungen zur Behandlung offener Vermögensfragen in der Pflichtenlehre von M. Tullius Cicero und im Vermögensgesetz, ZRP 1992, S. 284ff. 158 Zum Konflikt, welche Lösung als gerecht angesehen werden kann, vgl. einerseits B. Wienand und andererseits R. Wassermann/K. Märker, Rechtstatsächliche Anmerkungen zur Behandlung der offenen Vermögensfragen, ZRP 1993, S. 138ff.

§ 20: Die Eigentumsregelung

135

Auf Grund letztgenannter Befürchtungen war die psychologische Bedeutung einer für die Bevölkerung in den neuen Ländern annehmbaren Vereinbarung kaum zu unterschätzen 159; folglich war auch das Interesse der DDR-Regierung an einer bindenden Sonderregelung immens. Die Vorbehalte der Bundesregierung bestanden nur zum Teil aus den prinzipiellen Bedenken gegen eine Beschränkung der Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers. Immerhin ist dieser Aspekt nicht zu vernachlässigen, da es hier um eine endgültige und nicht nur eine befristete Entscheidung ging. Im Vordergrund stand auf westdeutscher Seite jedoch das Ziel, die rechtsstaatswidrigen Enteignungsmaßnahmen nicht nachträglich zu legalisieren. Es bildete sich ein harter Interessengegensatz heraus, so daß als Ausweg nur ein politisch zu erklärender, aber in der Sache zweifelhafter 160 Kompromiß blieb. Bezüglich der Frage nach der Bestandskraft dieser Vereinbarung besteht im Vergleich zum übrigen Einigungsvertrag die Besonderheit, daß man nicht allein auf allgemeine Auslegungskriterien zurückgreifen muß. Vielmehr haben die Parteien eine ausdrückliche Regelung in den Vertrag aufgenommen. Nach Art. 41 Abs. 3 verpflichtet sich die Bundesrepublik, keine Rechtsvorschriften zu erlassen, die der Gemeinsamen Erklärung widersprechen. Auch das zeigt die besondere Bedeutung, die dieser Komplex bei den Verhandlungen spielte. Art. 41 Abs. 3 kann den ihm innewohnenden Zweck allerdings nur dann erreichen, wenn er nicht seinerseits durch eine lex posterior abgeschafft werden kann. Unterstellt man einen rein einfachgesetzlichen Charakter dieser Norm, wird zweifelhaft, ob Art. 41 Abs. 3 die Eigentums Vereinbarung hinreichend gegen spätere abweichende Bundesgesetze schützt. Immerhin bliebe dann die Möglichkeit einer Abschaffung von Art. 41 Abs. 3 selbst im Räume.

159

Aus Sicht der DDR-Regierung handelte es sich bei der Eigentumsfrage um "sozialen Sprengstoff ersten Ranges", vgl. L. de Maiziere, Rückgabe von Eigentum - Wiedergutmachung oder neues Unrecht?, in B. J. Sobotka (Hrsg.): Burgen, Schlösser, Gutshäuser in Mecklenburg-Vorpommern, S. 136ff. (137). 160 Worm der ein anderes Ergebnis rechtfertigende Unterschied liegt, je nach dem, ob ein Grundstück 1946 unter der Verantwortung Stalins oder 1950 unter Ulbricht enteignet wurde, bleibt unklar. Akzeptiert man den Gedanken vom besonderen Schutzbedürfnis der neuen Besitzer als grundlegend für den Ausschluß der Restitution, erscheint der Kompromiß als inkonsequent: Wurde nach 1949 enteignet, können dennoch Konflikte mit einem Alteigentümer entstehen, wohingegen dieser bei einer Enteignung vor 1949 sein Eigentum selbst dann nicht zurückerhält, wenn der spezifische Interessengegensatz gar nicht besteht, weil sich das Grundstück in Staatshand befindet. Eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung liegt jedoch nach BVerfGE 84, 90ff. nicht vor.

136

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

Die vergleichbare Fragestellung auf der Verfassungsebene bei Art. 79 Abs. 3 GG belegt die Unsicherheit der Bindung künftiger Gesetzgebung durch Art. 41 Abs. 3. Dort wird zwar von der herrschenden Meinung aus Gründen der Normlogik vertreten, Art. 79 Abs. 3 sei seinerseits nicht aufhebbar 161 ; es gibt allerdings auch eine relativ starke Gegenposition. 162 Diese weist unter anderem darauf hin, daß eine Norm sich nicht auf sich selbst beziehen kann. 1 6 3 Der Gedanke führt übertragen auf den Einigungsvertrag dazu, daß sich Art. 41 Abs. 3 nicht selbst gegen eine Streichung durch einen späteren Gesetzgeber schützen kann. Nach dieser Ansicht gibt es folglich keine Zusicherung, wonach die Bundesrepublik keine Rechtsvorschrift erläßt, die Art. 41 Abs. 3 widerspricht. Die Bestimmung wäre auch nicht sinnlos, nähme man die Möglichkeit ihrer Abschaffung an. Man könnte sie als Ausdruck einer politischen Bindung sehen. Entscheidend ist somit, ob die Endgültigkeit der Vereinbarung zur Eigentumsproblematik der DDR gegenüber vertraglich zugesichert worden ist. Dafür spricht, daß die Grundzüge nicht in Gesetzesform geregelt worden sind, sondern der Gemeinsamen Erklärung durch Art. 41 Abs. 1 rechtliche Relevanz gegeben worden ist. Daneben ist Art. 41 Abs. 3 trotz der voranstehenden Ausführungen nicht unbeachtet zu lassen; statt dessen erhält die Norm erst durch die Betonung des vertraglichen Elements der Vereinbarung ihre eigentliche Bedeutung. Eine Verpflichtung zu einem bestimmten Verhalten des Gesetzgebers kann die Bundesrepublik als Staat nur einem Vertragspartner gegenüber eingehen. Daß die Verpflichtung auf unbestimmte Dauer besteht, folgt aus der Formulierung des Satzes im Futur. Sie gilt damit unbedingt und unbefristet. In der Entstehungsgeschichte finden sich weitere Belege dafür, daß die Parteien einem künftigen gemeinsamen Gesetzgeber diese Materie endgültig entziehen wollten. Diese Absicht hatte insbesondere die DDR-Seite, die schon sehr früh als sich eine Wiedervereinigung am politischen Horizont abzeichnete den Bestand der Eigentumsverhältnisse und die Gültigkeit der vorgenommenen Enteignungen reklamiert hatte. So wandte sich bereits Anfang März 1990 Ministerpräsident Modrow an Michail Gorbatschow und bat die Sowjetunion, "mit ihren Rechten als Siegermacht des zweiten Weltkrieges in bezug auf ein späteres Gesamtdeutschland sowie unter Nutzung ihres bedeutenden internationalen Einflusses für die Sicherung der Eigentumsverhältnisse" in der DDR einzu161

Statt vieler: K. Stern, Staatsrecht I, § 4 II 2 a, S. 115f. m.w.N.

162

Am ausführlichsten: H.-U. Evers in BK, Art. 79 Abs. 3/Randnr. 133ff.

163

H.-U. Evers in BK, Art. 79 Abs. 3/Randnr. 133.

§ 20: Die Eigentumsregelung

137

treten. 164 Auch die große Koalition unter Lothar de Maizière hat dieses politische Ziel übernommen. 165 Im Gegensatz dazu wurde in der Bundesrepublik vielfach davon ausgegangen, die als willkürlich und rechtsstaatswidrig empfundenen Enteignungen 166 soweit als möglich zurückzunehmen. Man sah in ihnen nichts Erhaltenswertes für die gemeinsame gesamtdeutsche Zukunft. 1 6 7 Nach eigenen Aussagen hätte die Bundesregierung, "wenn es nur irgendwie gegangen wäre", auf eine Rücknahme aller Enteignungen gedrängt. 168 Angesichts dieses Interessengegensatzes wurde die Eigentumsproblematik zu einem der schwierigsten Themen bei den Verhandlungen. 169 Hinzu kam, daß auch die Interessen der Sowjetunion, auf deren Anordnungen als Besatzungsmacht die Enteignungen zurückgingen, Berücksichtigung finden mußten. Daraus kann man allerdings nicht folgern, die Gemeinsame Erklärung und Art. 41 Abs. 3 hätten rein außenpolitische Bedeutung gehabt und seien allein mit Rücksicht auf sowjetische Interessen in den Vertrag aufgenommen worden. Dagegen spricht schon Satz 2 von Nr. 1 der Gemeinsamen Erklärung, wonach die Regierungen der Sowjetunion und der DDR keine Möglichkeit sehen, die damals getroffenen Maßnahmen zu revidieren. 170

164

Schreiben vom 2. März 1990; zit. nach /. von Münch (Hrsg.): Dokumente zur Wiedervereinigung Deutschlands, S. 112f. (113). 165 Entsprechende Hinweise finden sich in der Koalitionsvereinbarung und in der Regierungserklärung von Ministerpräsident de Maizière ; vgl. /. von Münch (Hrsg.): Dokumente zur Wiedervereinigung Deutschlands, S. 163ff. (176) und S. 190ff. (195). Vgl. auch L. de Maizière, "Ich mache keine Sperenzchen", Interview mit dem DDR-Ministerpräsidenten, Der Spiegel 1990, Heft 31, S. 18ff. ( 19).

166 yg| stellvertretend die Persönlichen Erklärung zahlreicher Abgeordneter der CDU/CSU nach § 31 GOBT bei der Abstimmung über das Einigungsvertragsgesetz, in Deutscher Bundestag (Hrsg.): Auf dem Weg zur deutschen Einheit, Band 5, S. 594ff. 167

R. Wahl, Die deutsche Einigung im Spiegel historischer Parallelen, S. 207.

168

Vgl. Staatssekretär Kinkel, Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 7. Sitzung am 15. Juni 1990, S. 258 D; ders., BT-Drucks. 11/7880, S. 12f., in einer Antwort auf eine Anfrage des Abgeordneten Lowack (CDU/CSU). 169 So Bundesminister Seiters, Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 7. Sitzung am 15. Juni 1990, S. 253 B. 170

Hervorhebung vom Verfasser. Unrichtig daher N. Horn, S. 63. Ausgehend von seiner Prämisse folgert Horn, Art. 41 Abs. 3 habe nur den Charakter einer politischen Absichtserklärung, da bei einer Änderung keine Rechte der DDR betroffen wären. Wie hier auch BVerfGE 83, 162ff. (174).

138

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

Die Entstehungsgeschichte zeigt, daß es sich bei der Gemeinsamen Erklärung um eine zunächst heftig umstrittene Regelung handelt, die durch einen typischen Kompromiß gekennzeichnet ist. Bei der Übernahme der Erklärung in den Vertrag wurde allseits davon ausgegangen, daß die Vereinbarung in der Zukunft jedenfalls nicht zuungunsten der DDR-Position verändert werden dürfe. Eine weitere Zurückdrängung der Rückgabefälle zur Förderung der Investitionsbereitschaft wird indes für möglich gehalten und hat auch schon stattgefunden (s.o.). Wortlaut und Entstehungsgeschichte belegen damit, daß eine dauerhafte Bindung der Bundesrepublik an die Vereinbarungen der Gemeinsamen Erklärung beabsichtigt war. Ein anderer Sinn, als dieses Ziel zu erreichen, ist bei Art. 41 Abs. 3 nicht ersichtlich. Damit ist der Inhalt der Gemeinsamen Erklärung der Disposition des Bundesgesetzgebers entzogen. 171 Für dieses Ergebnis spricht auch die Staatspraxis der Bundesrepublik: Beim Entwurf des Vermögensrechtsänderungsgesetzes wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die neuen Länder sogenannte Vorfahrtsregelungen bereits beim Hemmnisbeseitigungsgesetz konsentiert hätten. 172 Daneben ist ein Schreiben des Bundeskanzleramtes bekannt geworden, in dem mit Blick auf das Restitutionsverbot ausgeführt wird, es müßte "zunächst Gewißheit darüber bestehen, daß sämtliche neuen Bundesländer (einschließlich Berlin) bereit wären, einer entsprechenden Änderung des Einigungsvertrages zuzustimmen". 173 Folglich wird ein aus dem Einigungsvertrag hergeleitetes Mitspracherecht der neuen Länder als Rechtswahrer in bezug auf die Eigentumsproblematik anerkannt. Damit ist die Reichweite einer Bindung der Bundesrepublik allerdings weiterhin ungeklärt. Teilweise wird vertreten, die Ziffer 1 der Erklärung, welche 171

Wie hier R. Mötsch, Sachgründe für den Restitutionsausschluß bei besatzungsrechtlichen Enteignungen (1945-1949), DtZ 1994, S. 19f. (20). H. Schneider, Die Einführung des Bundesrechts in die neuen Bundesländer, S. 161. Α. Α. H. Sendler, Restitutionsausschluß verfassungswidrig?, DöV 1994, S. 40Iff. (403). 172 BT-Drucks. 12/2480, S. 38. Ebenso die Bundesregierung in ihren Erläuterungen zu den Anlagen zum Einigungsvertrag, BT-Drucks. 11/7831, S. 1. 173 Schreiben vom 14. Juli 1993, zit. nach £>. Blumenwitz, Die besatzungshoheitlichen Konfiskationen in der SBZ, BayVBl. 1993, S. 705ff. (706, Fußnote 14). Die Formulierung des Bundeskanzleramtes ist insoweit ungenau, als Art. 44 eine ausdrückliche Zustimmung der neuen Länder nicht verlangt. Eine Änderung des Einigungsvertrags ist bereits dadurch möglich, daß sich die neuen Länder passiv verhalten und ihre Vetorechte aus Art. 44 nicht wahrnehmen. Aus diesem Grunde ist die Neufassung des § 1 Abs. 8 lit. a VermG entgegen Blumenwitz kein Beleg für eine Staatspraxis, die bei Änderungen im Rahmen der offenen Vermögensfragen keine Sonderrechte der neuen Länder anerkennt.

§ 20: Die Eigentumsregelung

139

vom Bestand der Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage ausgeht, erfasse nicht alle Enteignungen in der Zeit vom Kriegsende bis zur Gründung der DDR. Vielmehr seien die Enteignungen insbesondere vom Sommer 1946, die durch Gesetze und Verordnungen der Länder in der sowjetischen Besatzungszone erfolgt sind, wegen ihrer "deutschrechtlichen Grundlage" von der Gemeinsamen Erklärung nicht betroffen. 174 Der These, daß es sich bei den Enteignungen der Jahre 1945 bis 1949 zumindest teilweise um Akte deutscher Staatsgewalt handelte, wird zuzustimmen sein 175 ; entscheidend ist jedoch, ob diese entgegen der oben dargestellten Ansicht nicht doch durch das Tatbestandsmerkmal "besatzungshoheitlich" erfaßt werden. Bejaht man dies mit der herrschenden Meinung 1 7 6 , kommt man zu dem Ergebnis, daß Enteignungen bis zur Staatsgründung der DDR keinesfalls rückgängig zu machen sind; nach der Gegenansicht sind besatzungshoheitliche Enteignungen nur solche, die auf Durchführungsverordnungen der sowjetischen Militäradministration zurückzuführen sind. 1 7 7 Für die erstgenannte Ansicht spricht der erklärte Parteiwille 178 , durch die Ziffer 1 der Gemeinsamen Erklärung alle Enteignungen bis zur Staatsgründung der DDR zu erfassen. Es findet sich kein Hinweis, daß die Verhandlungspartner vom Bestand einer dritten "deutschrechtlichen" Gruppe von Enteignungen ausgegangen sind. Vielmehr sollte durch die Differenzierung nach besatzungsrechtlichen und besatzungshoheitlichen Enteignungen ausgedrückt werden, daß es sich teils um Akte der Militäradministration, teils um Akte deutscher Organe handelte. 179 Zudem ist bei der Subsumtion der betreffenden Enteignungen un174

Th. Schweisfurth, Entschädigungslose Enteignungen von Vermögenswerten (Betrieben) auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, BB 1991, S. 28Iff. (287). Kritisch auch D. Rauschning, Beendigung der Nachkriegszeit mit dem Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, DVB1. 1990, S. 1275ff. (1284). 175 BVerfGE 2, 181ff. (199f.); K. Stern, Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit, S. 44, Fußnote 125. 176

P. Badura, S. 1260; H.-J. Papier, Verfassungsrechtliche Probleme der Eigentumsregelung im Einigungsvertrag, NJW 1991, S. 193ff. (194); W. Graf Vitzthum, S. 7f. 177

D. Rauschning, S. 1284.

178

Vgl. den Klammerzusatz "1945 bis 1949" im Text der Erklärung; stellvertretend für die zahlreichen Äußerungen in diesem Sinne sei hingewiesen auf Bundesinnenminister Schäuble, Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 15. Sitzung am 9. Aug. 1990, S. 465 B. 179 BT-Drucks. 11/7831, S. 3; vgl. auch den Vortrag der Bundesregierung in BVerfGE 84, 90ff. (109).

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

140

ter den Begriff "besatzungshoheitlich" zu bedenken, daß die Maßnahmen dem erklärten Willen der Besatzungsmacht entsprachen. 180 Die oben angeführte Meinung ist daher abzulehnen; die Bundesrepublik hat sich vertraglich verpflichtet, den Bestand aller Enteignungen vom Kriegsende bis zum 7. Oktober 1949 zu wahren. 181

II. Bindung durch Artt. 135 a Abs. 2,143 Abs. 3 GG

Von hoher Relevanz für die Eigentumsregelung sind die Verfassungsvorschriften in den Artt. 135 a Abs. 2 und 143 Abs. 3 GG. Diese Bestimmungen dienen zur verfassungsrechtlichen Absicherung des in der Gemeinsamen Erklärung Vereinbarten. Eine Bindung des einfachen Gesetzgebers ist indes nach dem klaren Wortlaut der Verfassungsnormen nicht Ziel der Artt. 135 a Abs. 2, 143 Abs. 3 GG. 1 8 2 Teilweise wird vertreten, daß die Eigentumsregelung nicht verfassungswidrig sei, so daß den genannten Verfassungsnormen nur klarstellende Funktion zukäme 183 ; da die herrschende Meinung diese Position jedoch nicht teilt, konnten die Vertragspartner sie nicht zugrunde legen, wollten sie "auf Nummer Sicher gehen". Der Zusammenhang mit der Eigentumsregelung, der bei Art. 143 Abs. 3 GG auf der Hand liegt, ist bei Art. 135 a Abs. 2 GG weniger deutlich. Art. 135 a Abs. 2 GG erlaubt, bestimmte Verbindlichkeiten der DDR nicht oder nicht vollständig zu erfüllen. Von dieser Regelung werden insbesondere Ausgleichs- und Entschädigungspflichten betroffen, die durch die Enteignungen entstanden sein könnten. Der Gesetzgeber soll unabhängig von Art. 14 bei der Regelung dieser Fragen einen Gestaltungsspielraum erhalten. 184

180

So auch BVerfGE 84,90ff. (114).

181

Dieses ausschließlich zeitbezogene Kriterium zur Auslegung der Begriffe "besatzungsrechtlich" und "besatzungshoheitlich" wird auch im Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz vom 27. Sept. 1994 (BGBl. I S. 2624ff.) zugrunde gelegt. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung begründet den zeitlichen Ansatz mit der rechtlichen und faktischen Abhängigkeit deutscher Stellen von der sowjetischen Besatzungsmacht; BT-Drucks. 12/4887, S. 30. 182

Wie hier D. Wilhelm, Randnr. 12f.

183

H. Weis, S. 27f.

184

Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S. 359.

§ 20: Die Eigentumsregelung

141

Auf Grund dieser Verfassungsänderungen beschränkte sich die Überprüfung des Restitutionsausschlusses für die Enteignungen zwischen 1945 und 1949 durch das Bundesverfassungsgericht auf die Frage, ob Artt. 135 a Abs. 2, 143 Abs. 3 GG die Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 GG verletzen und damit verfassungswidriges Verfassungsrecht sind. Nachdem das Gericht diese Frage verneint hatte, brauchte es in eine Überprüfung des Art. 41 EV nicht mehr einzusteigen. 185 Zum Teil wird auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts versucht, eine Verfassungswidrigkeit des Restitutionsausschlusses zu konstruieren. Dazu wird die These vertreten, die DDR sei politisch in einem desolaten Zustand gewesen und hätte die Forderung nach einer NichtRückgabe in den genannten Fällen niemals durchsetzen können. Der Ausschluß der Rückgabe sei unter Billigung der Bundesregierung mit Blick allein auf westdeutsche Fiskalinteressen erfolgt und daher verfassungswidrig. 186 Diese Argumentation ist historisch und juristisch unzutreffend. Zwar war die DDR-Regierung in der Tat zunehmenden Schwierigkeiten ausgesetzt, ihre Handlungsfähigkeit zu bewahren, doch ist daran zu erinnern, daß die Bundesregierung auf eine Zweidrittelmehrheit des Einigungsvertrags in Volkskammer, Bundestag und Bundesrat bedacht sein mußte. Zudem ist es nicht verfassungswidrig, sondern durch den vom Grundgesetz gewährleisteten Verhandlungsspielraum gedeckt, daß die Bundesregierung ihre Verhandlungsstärke nicht voll ausgespielt und auf einer "bedingungslosen Kapitulation" der DDR bestanden hat. Dies hätte dem Gerede von einem Anschluß der DDR zweifellos neue Nahrung gegeben. Es galt gerade bei der emotional geführten Eigentumsdebatte, die langfristigen psychologischen Folgen eines rücksichtslosen Durchsetzens der eigenen Verhandlungsposition zu bedenken. 187 Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der gefundenen Regelung in der Eigentumsfrage ist trotz nicht endender Proteste aller Voraussicht nach abschließend geklärt worden. 188 Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, würde

185

BVerfGE 84, 90ff.

186

A. Graf von Schliefen,

S. 153ff.

187

Daß es sich bei der Eigentumsfrage um "sozialen Sprengstoff ersten Ranges" handelte (vgl. L. de Maizière, Rückgabe von Eigentum - Wiedergutmachung oder neues Unrecht?, S. 137), dürfte kaum eine falsche politische Einschätzung gewesen sein. Vgl. zur grundsätzlichen Beachtung psychologischer Folgen einer Verhandlungsstrategie beispielsweise MdB Däubler-Gmelin (SPD), Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 10. Sitzung am 4. Juli 1990, S. 357 B. 188

Die Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde bestätigt durch BVerfG DtZ 93, S. 275; siehe auch BVerwG DtZ 93, S. 352.

142

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

sich der verfassungsändernde Gesetzgeber zur Abschaffung der die Vereinbarung absichernden Art. 135 a Abs. 2, 143 Abs. 3 GG entschließen. Eine solche Grundgesetzänderung wäre jedoch gegen den Willen der neuen Länder nicht möglich, wenn der Verbleib dieser Grundgesetzartikel im Einigungsvertrag bindend zugesagt worden ist. Die Frage nach der Änderbarkeit der Artt. 135 a Abs. 2 und 143 Abs. 3 GG stellt sich ähnlich wie bei Art. 143 Abs. 1, 2 GG. Hier wie dort geht es um rein absichernde Verfassungsbestimmungen. Daher kann insoweit auf oben verwiesen werden. Die Bundesrepublik ist vertraglich an die Bestimmungen des Art. 41 gebunden. Sie hat daher alles zu unterlassen, was eine Erfüllung der vertraglichen Pflichten beeinträchtigen könnte. Damit ist auch die Entfernung der verfassungsrechtlichen Stütze aus dem Grundgesetz unzulässig. Wie oben bereits festgestellt, geht der Einwand fehl, die Dispositionsbefugnis des Verfassungsgesetzgebers würde unzulässig durch eine Vorschrift mit geringerem Rang begrenzt. Die Begrenzung folgt vielmehr daraus, daß es sich um paktierte Verfassungsbestimmungen handelt, welche - wenn auch nur mittelbar - spezifische Sonderinteressen betreffen, die der untergegangene Vertragspartner geltend gemacht hat. Daher sind die Bestimmungen der Artt. 135 a Abs. 2 und 143 Abs. 3 GG einer Änderung entzogen. Etwas anderes gilt nur, falls es im Rahmen von Art. 146 GG zu einer vollständig anderen Verfassung für die Bundesrepublik kommen sollte. Der Vertragspartner DDR hat dem in Art. 146 GG formulierten Vorbehalt, der letztlich den Bestand der gesamten Verfassung in Frage stellt, ausdrücklich zugestimmt. Im übrigen erscheint eine Bindung des pouvoir constituant grundsätzlich unmöglich.

I I I . Völkerrechtliche Bindung durch den Brief der Außenminister

Abweichend von den übrigen Vereinbarungen des Einigungsvertrags besteht bei der Eigentumsregelung die zusätzliche Möglichkeit, daß eine Bindung der Bundesrepublik auch durch den "Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" 189 entstanden sein könnte. Im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Vertrags haben die beiden deutschen Außenminister ihren

189

BGBl. 1990 II, S. 1317ff.

§ 20: Die Eigentumsregelung

143

Kollegen der Siegermächte einen Brief überreicht, dessen Ziffer 1 auf Art. 41 Abs. 1, 3 und die Gemeinsame Erklärung hinweist. 190 Eine völkerrechtliche Bindung der Bundesrepublik setzt voraus, daß dieser Brief Rechtsverbindlichkeit erlangt hat, was allerdings zweifelhaft ist. Unstreitig ist der Brief der Außenminister weder Teil des 2+4-Vertrags geworden noch ist neben dem 2+4-Vertrag ein weiterer völkerrechtlicher Vertrag in Form eines Briefwechsels zustande gekommen. Hierfür fehlt es an einem bestätigenden Antwortschreiben der Siegermächte als Adressaten des Gemeinsamen Briefes. 191 Damit kann allerdings noch nicht von der Unverbindlichkeit des Briefes ausgegangen werden. Der Brief kann grundsätzlich auch als einseitiges Rechtsgeschäft eine völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik begründen. Das gilt vor allem dann, wenn erst durch die Übergabe des Briefes die Sowjetunion zur Unterzeichnung des Gesamtvertrags bewegt werden konnte. Die Verbindlichkeit eines einseitigen Versprechens hängt davon ab, ob der versprechende Staat die Erklärung mit Rechtsbindungswillen abgegeben hat. 1 9 2 Dies festzustellen fällt besonders schwer, da die beiden deutschen Staaten hinsichtlich der Eigentumsfrage unterschiedliche Positionen vertreten haben, welche sich auf ihre Ansichten zur rechtlichen Relevanz des gemeinsamen Briefes ausgewirkt haben. Ministerpräsident de Maizière erklärte vor der Volkskammer und als amtierender Außenminister der DDR bei der Vertragsunterzeichnung den Brief für verbindlich. 193 Demgegenüber hatte die Bundesregierung zunächst versucht, die rechtliche Bedeutung des Briefes möglichst zu begrenzen; er wurde von Außenminister Genscher weder bei der Vertragsunterzeich-

190

Bulletin der Bundesregierung Nr. 109/1990 vom 14. Sept. 1990, S. 1156f.

191

D. Rauschning, S. 1284. D. Blumenwitz, Zu den völkerrechtlichen Schranken einer Restitutions- oder Ausgleichsregelung in der Bundesrepublik Deutschland, DtZ 1993, S. 258ff. (258). 192 193

D. Blumenwitz, Die besatzungshoheitlichen Konfiskationen in der SBZ, S. 710.

Volkskammersitzung am 20. Sept. 1990; zit. nach Deutscher Bundestag (Hrsg.): Auf dem Weg zur deutschen Einheit, Band 5, S. 274. Die Rede anläßlich der Vertragsunterzeichnung ist abgedruckt bei Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland. Die Verhandlungen über die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit, S. 57ff. (61 f.). Die DDR-Regierung hatte von Anfang an eine auch völkerrechtlich verbindliche Festschreibung der Eigentumsvereinbarung angestrebt, vgl. U Albrecht, Die Abwicklung der DDR, S. 14.

144

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

nung noch vor dem Bundestag erwähnt. 194 Zudem wurde er nach der Ratifizierung des 2+4-Vertrags durch das gesamtdeutsche Parlament nicht im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Es handelte sich seitens der Bundesregierung allerdings eher um diplomatische Versuche, die Bedeutung des Briefes herunterzuspielen, als um ein ausdrückliches Leugnen einer völkerrechtlichen Bindung. Diese Sichtweise wird bestätigt durch eine spätere Äußerung des Justizministers Kinkel, worin er in bezug auf die Enteignungen zwischen 1945 und 1949 davon spricht, daß "wir [seil, die Bundesrepublik] uns in den 2+4-Verhandlungen und im Zusammenhang mit dem Vertrag in einer ganz bestimmten Weise verpflichtet haben". 195 Der Wortlaut des Briefes weist demgegenüber scheinbar in die Richtung rechtlicher Unverbindlichkeit: Danach teilen die beiden deutschen Regierungen den Siegermächten lediglich mit, was sie bereits in den Verhandlungen dargelegt haben. Der rein beschreibende Charakter des Briefes 196 wird auch dadurch gestärkt, daß er die Gemeinsame Erklärung zur Regelung offener Vermögensfragen wörtlich zitiert, was durch die Anführungszeichen kenntlich gemacht worden ist. 1 9 7 Andererseits kann auch eine reine Mitteilung rechtliche Bedeutung haben 198 , so daß der Hinweis auf den Wortlaut allein das Problem nicht löst. Ferner ist zu berücksichtigen, daß der Brief aus Anlaß des Vertrags über die Regelung der äußeren Aspekte der deutschen Einheit verfaßt wurde. Die Unantastbarkeit der Enteignungsmaßmahmen stellt dagegen einen inneren Aspekt und mithin einen Fremdkörper dar. Daraus kann allerdings nicht gefolgert werden, es sei zur Erreichung einer rechtlichen Relevanz eine eindeutigere Formulierung geboten gewesen, denn die Sowjetunion hat die Tatsache einer mögli-

194

Beide Erklärungen finden sich in Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland. Die Verhandlungen über die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit, S. 5Iff., 8Iff. 195

Äußerung gegenüber dem Rheinischen Merkur vom 10. Jan. 1992, S. 4.

196

So K. Doehring, Zur Regelung der Eigentumsfragen im Einigungsvertrag zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR, in R. Wildenmann (Hrsg.): Nation und Demokratie, S. 27ff. (32). 197

MD Kastrup, Prot, des BT-Rechtsausschusses 11/96, Sitzung am 4. Okt. 1990, S. 15.

198

Λ. Verdross/B.

Simma erwähnen beispielhaft die Notifikation des Kriegsausbruchs, S. 426.

§ 20: Die Eigentumsregelung

145

chen Überprüfung ihrer Maßnahmen als Besatzungsmacht nie als rein innere Angelegenheit Deutschlands akzeptiert. 199 Es kommt mithin darauf an, wie der betroffene Vertragspartner Sowjetunion den Brief verstehen durfte. Man könnte argumentieren, daß die Sowjetunion von den Widerständen in der Bundesrepublik gegenüber einer völkerrechtlich verbindlichen Zusage gewußt habe. Die daraufhin gewählte Form der Mitteilung durch einen einseitigen Brief sei bewußt unverbindlich gehalten, weswegen sich die Sowjetunion nicht auf einen Vertrauensschutztatbestand berufen könne. Eine solche Schlußfolgerung ginge jedoch zu weit, da andererseits die Bundesrepublik auf Grund einer Vielzahl diplomatischer Aktivitäten 2 0 0 erkennen konnte, welchen Wert die Sowjetunion darauf legte, daß die von ihr zu verantwortenden Maßnahmen als Besatzungsmacht nicht nachträglich dem Verdikt der Rechtswidrigkeit ausgesetzt werden. Zudem war die DDR als zweiter Unterzeichner des Briefes anderer Ansicht als die Bundesregierung, was einen Vertrauensschutz zugunsten der Sowjetunion verstärkt. Für die Sowjetunion bestand ein bedeutsamer Zusammenhang zwischen dem Abschluß des 2+4-Vertrags und der Übergabe des Gemeinsamen Briefes. Wie die Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht einräumte, hat sie diese Sichtweise der Sowjetunion erkannt und akzeptiert, denn nach eigenen Angaben wurde der Brief übergeben, um den sowjetischen Forderungen entgegenzukommen und dadurch die Zustimmung der Sowjetunion zum 2+4-Vertrag zu erreichen. 201 Die Verbindung zwischen der Übergabe des Briefes und der Unterzeichnung des 2+4-Vertrags verdeutlicht ferner die Tatsache, daß es die ursprüngliche Forderung der Sowjetunion war, eine Vereinbarung über die Rechtmäßigkeit ihrer Maßnahmen als Besatzungsmacht als vertragliche Verpflichtung in das abschließende Dokument über die Souveränität Deutschlands aufzunehmen. 202 Das hatte die deutsche Seite abgelehnt 203 und sich mit dieser 199 Ihrer Ansicht nach handelte es sich um Kriegsfolgen und somit um einen äußeren Aspekt; vgl. L. de Maizière , Rückgabe von Eigentum - Wiedergutmachung oder neues Unrecht?, S. 139. 200 Vgl. R. Kiessler/F. Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken, S. 182ff.; J. Wasmuth, Zur Verfassungswidrigkeit des Restitutionsausschlusses für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage, NJW 1993, S. 2476ff.; Pressemitteilung der Bundesregierung vom 2. Sept. 1994, Nr. 327/94. 201

BVerfGE 84, 90ff. (109).

202

D. Blumenwitz, Die besatzungshoheitlichen Konfiskationen in der SBZ, BayVBl. 1993, S. 705ff. (712f.). 203

10 Hoch

MD Kastrup, Prot, des BT-Rechtsausschusses 11/96, Sitzung am 4. Okt. 1990, S. 15.

146

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

Haltung durchgesetzt, sich jedoch gleichzeitig zur Übergabe des Gemeinsamen Briefes verpflichtet. Daraus und aus der zeitlichen Komponente 204 wird deutlich, daß die beiden deutschen Außenminister durch den Gemeinsamen Brief die Sowjetunion zur Unterzeichnung des Vertrags veranlaßt haben. Er wurde mithin für die Gegenseite bei Vertragsschluß Teil der Geschäftsgrundlage. Selbst wenn der Brief nicht unmittelbar zum Inhalt des 2+4-Vertrags gehörte, hat er somit eine völkerrechtliche Bedeutung. 205 Trotz ihrem Bemühen, den Brief nicht aufzuwerten, spricht sich die Bundesregierung bemerkenswerterweise nie ausdrücklich gegen derartige Erwägungen aus. Sie zieht sich vielmehr darauf zurück, der Brief habe die deutsche Rechtslage nicht verändert. 206 Das ist zutreffend, wenn man wie hier von einer durch den Einigungs vertrag entstandenen Bindung des Gesetzgebers hinsichtlich der Nichtrückgabe des zwischen 1945 und 1949 enteigneten Eigentums ausgeht. Das Ergebnis deckt sich mit der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs. Der IGH nimmt relativ großzügig eine völkerrechtliche Bindung an einseitige Erklärungen an. Beim Rechtsstreit zwischen Australien und Frankreich um die Kernwaffenversuche im Südpazifik berücksichtigte der IGH ein Kommuniqué des französischen Präsidenten, eine Erklärung desselben anläßlich einer Pressekonferenz, eine Äußerung des Verteidigungsministers in einem Fernsehinterview und die Rede des Außenministers vor der UNO-Generalversammlung und sah Frankreich im Ergebnis als völkerrechtlich gebunden an. 2 0 7 "An undertaking of this kind, if given publicly, and with an intent to be bound, even though not made within the context of internatinal negotiations, is binding." 208 Damit besteht eine völkerrechtliche Bindung der Bundesrepublik. Von diesem Ergebnis geht auch das Bundesverfassungsgericht aus: Es stellte die Ungleichbehandlung von vor und nach dem 7. Oktober 1949 enteigneten Alteigentümern fest, lehnte es aber gleichzeitig ab, die Ungleichbehandlung als 204

Die Übergabe des Briefes erfolgte unmittelbar vor der Unterzeichnung des Vertrags.

205

Nach Art. 62 Nr. 1 a) WVK kann eine grundlegende Änderung eines Umstands als Grund für einen Rücktritt vom Vertrag geltend gemacht werden, wenn das Vorhandensein des Umstands eine wesentliche Grundlage für die Zustimmung der Parteien zur vertraglichen Bindung bildete. 206

MD Kastrup, S. 15, 18.

207 vgl ausführlich zu diesem Fall J. Leutert, Einseitige Erklärungen im Völkerrecht, S. 63ff. 208

I.C.J.-Reports 1974, p. 472.

§21: Gesetzgebungsaufträge

147

willkürlich zu bezeichnen. Als sachlicher Grund für die unterschiedlichen Rechtsfolgen wurde unter anderem auf die sowjetischen Forderungen hingewiesen. 209 Sollte der Gesetzgeber eine abweichende Regelung treffen, wäre dies zwar kein direkter Vertragsbruch, könnte aber der Gegenseite die Möglichkeit geben, sich auf einen Wegfall der Geschäftsgrundlage zu berufen. 210 Eine Mißachtung des Briefes könnte letztlich den Bestand des 2+4-Vertrags gefährden. So unwahrscheinlich eine solche Entwicklung ist, kann doch der Bundesrepublik nicht daran gelegen sein, in dieser sensiblen Frage ohne Not politische Diskussionen zu entfachen. 211 Somit erweist sich die politische Bindung der Bundesrepublik an den Inhalt des Briefes als noch bedeutsamer als dessen rechtliche Relevanz, die allerdings auch nicht unterschätzt werden darf. Die rechtliche Bindung besteht bezüglich aller Enteignungen der Jahre 1945 bis 1949. Unzulässig wäre es, das Interesse der Sowjetunion nur soweit zu berücksichtigen, daß bestimmte "positive Anliegen der Enteignungen" gewahrt werden. 212 Damit käme man zu einer Prüfung der besatzungsrechtlichen Maßnahmen, was die Sowjetunion durch den Brief gerade verhindern wollte.

§ 21: Gesetzgebungsaufträge Der Einigungsvertrag enthält insbesondere in seinem siebenten Kapitel verschiedene Bestimmungen, in denen die Vertragsparteien dem zu bildenden gesamtdeutschen Gesetzgeber die legislative Lösung von Sachfragen aufgegeben haben. Durch diese Vorschriften soll der Gesetzgeber in zentralen Feldern der Politik zum Handeln veranlaßt werden. Im einzelnen statuiert der Einigungsvertrag die Aufträge,

209

BVerfGE 84,90ff.

210

Wie hier D. Blumenwitz, Zu den völkerrechtlichen Schranken einer Restitutions- und Ausgleichsregelung in der Bundesrepublik Deutschland, DtZ 1993, S. 258ff. (259f.). 211 In diesem Sinne auch Bundesjustizminister Kinkel gegenüber dem Rheinischen Merkur vom 10. Jan. 1992, S. 4. 212

10*

So aberN. Horn, S. 68.

148

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

-das Arbeitsvertrags- und das Arbeitszeitrecht sowie den Arbeitsschutz neu zu regeln (Art. 30 Abs. I ) , 2 1 3 -die Vermögensaufteilung auf die einzelnen Träger der Sozialversicherung durch Gesetz festzulegen (Art. 30 Abs. 4 Satz 2), -die Einzelheiten der Überleitung der Renten- und Unfallversicherung gesetzlich zu regeln (Art. 30 Abs. 5), -die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen weiterzuentwickeln (Art. 31 Abs. 1), -die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gestalten (Art. 31 Abs. 2), -eine gesamtdeutsche Lösung des Problems um den § 218 StGB zu finden (Art. 31 Abs. 4 Satz 1), -die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß das Niveau der stationären Versorgung im Beitrittsgebiet zügig und nachhaltig verbessert und der Situation im übrigen Bundesgebiet angepaßt wird (Art. 33 Abs. 1), -die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und die Einheitlichkeit der ökologischen Lebensverhältnisse auf hohem, mindestens jedoch dem in der Bundesrepublik Deutschland erreichten Niveau zu fördern (Art. 34 Abs. I).214

In ihrer Entstehungsgeschichte waren viele dieser Gesetzgebungsaufträge Kompromisse, mit denen die Bundesregierung weitergehenden Forderungen der DDR entgegenkommen wollte. Die DDR-Regierung hatte bereits in der Koalitionsvereinbarung vom 12. April 1990 der Sozial-, Gesundheits- und Frauenpolitik breiten Raum gewidmet. 215 Gleichzeitig sah sie sich im Einigungsprozeß als Anwalt ihrer, größtenteils sozial schwächeren, Bürger. 216 Im Gegensatz zur DDR, die bestimmte soziale Errungenschaften bewahren wollte, zögerte die Bundesrepublik, sich vor allem bei finanzintensiven Programmen rechtsverbindlich festzulegen. Daneben wurde die Zeit zu knapp, um in diesen Bereichen noch solide ausgehandelte Regelungen zu finden. Viele der Gesetz-

213

Siehe dazu BT-Drucks. 12/6752. In dem Entwurf eines Arbeitsschutzrahmengesetzes beruft sich die Bundesregierung ausdrücklich auf den Gesetzgebungsauftrag in Art. 30. 214 Der in Art. 17 (Rehabilitierung) enthaltene Auftrag an den Gesetzgeber wurde oben (§ 16) gesondert erörtert. 215

Abgedruckt bei /. von Münch (Hrsg.): Dokumente zur Wiedervereinigung Deutschlands,

S. 170ff. 216 Prot, des Ministerrats der DDR, 17. Sitzung am 16. Juli 1990, S. 7, 23. Sitzung am 2. Aug. 1990, S. 4. Vgl. auch DDR-Finanzminister W. Romberg, "DDR-Interessen nicht hinreichend eingebracht", Interview in taz vom 8. Aug. 1990.

§21: Gesetzgebungsaufträge

149

gebungsaufträge sind aus politischen Gründen in den Einigungsvertrag aufgenommen worden, damit das Vertragswerk überhaupt Äußerungen zu diesen Bereichen enthält. Man wollte so der Opposition die Möglichkeit verbauen, wahlkampftaugliche Schlagzeilen zu formulieren. Die politischen Motive nehmen den Gesetzgebungsaufträgen nichts von ihren rechtlichen Relevanz. Dennoch ist die Regelungsdichte der genannten Aufträge geringer als bei den übrigen Vorschriften des Einigungsvertrags. Dies hat seine Ursache zu einem Großteil in der Unverbindlichkeit der Formulierung dieser Bestimmungen. Daher ist zunächst - über die eigentliche Frage dieser Arbeit nach der Bestandskraft hinaus - der Aspekt des Regelungsgehalts der Gesetzgebungsaufträge anzusprechen. Weitgehend anerkannt ist die rechtliche Relevanz von Gesetzgebungsaufträgen, soweit sie direkt im Verfassungstext enthalten sind. 2 1 7 Sie sind mehr als bloße Programmsätze. 218 Allerdings ist die verpflichtende Kraft der Aufträge unterschiedlich groß, je nachdem, ob der Verfassungsrechtssatz zeitliche Grenzen setzt oder sonstige Vorgaben enthält. 219 Bei hinreichend eindeutiger Formulierung kann einem Auftrag derogierende Kraft gegenüber dem einfachen Gesetzesrecht zukommen, wenn der Gesetzgeber seiner Pflicht nicht in angemessener Zeit nachkommt. 220 Dabei ist allerdings stets der Gestaltungsspielraum der Legislative zu berücksichtigen, insbesondere wenn der Auftrag unbestimmte Rechtsbegriffe enthält. 221 Ferner leitet das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung Aufträge an den Gesetzgeber aus der Verfassung ab, wenn es die Unvereinbarkeit einer Norm mit den Grundgesetz feststellt, ohne gleich die Nichtigkeit der Bestimmung aussprechen zu wollen. Das Gericht verfährt unter anderem dann so, wenn die Nichtigerklärung der Norm einen rechtsfreien Raum schüfe, der 217

Vgl. Th. Würtenberger, Stichwort: Staatszielbestimmungen, Verfassungsaufträge, in Ergänzbares Lexikon des Rechts 5/720, S. 6f.; J. Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, AöR 107 (1982), S. 15ff. (22); R. Walecki, Die Normsetzungspflicht des Gesetzgebers und ihre Erzwingbarkeit, S. 8Iff. 218

BVerfGE 8, 157ff. (181). Für Art. 109 Abs. 2 GG: A. Möller (Hrsg.): Kommentar zum Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, S. 63. 219

K. Stern, Staatsrecht I, § 4 II 3 i, S. 122.

220

BVerfGE 8, 157ff. (157) zu Art. 6 Abs. 5 GG.

221

Bei der Verpflichtung von Bund und Ländern nach Art. 109 Abs. 2 GG, "den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen", geht A. Möller, S. 65, daher von einer sehr erschwerten, wenn nicht völlig ausgeschlossenen gerichtlichen Nachprüfbarkeit aus.

150

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

seinerseits von Verfassungs wegen nicht gewollt sein kann. 2 2 2 Daneben findet man auch Appell- oder Warnentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen es die Verfassungsmäßigkeit einer Bestimmung vorläufig noch bejaht und gleichzeitig die Legislative auf die Notwendigkeit baldigen Handelns hinweist. Rechtlich zwingende Folgen haben diese Entscheidungen nicht, tatsächlich wird der Gesetzgeber sie sinnvollerweise beachten. 223 Im Einigungsvertrag sind die Gesetzgebungsaufträge unmittelbar im Vertragstext enthalten. In welchem Maße die Legislative durch die Bestimmungen gebunden wird, hängt vom genauen Wortlaut des jeweiligen Auftrags ab. Der verpflichtende Charakter der Vorschriften läßt sich nicht mit dem Hinweis leugnen, der Einigungsvertrag spreche nur von einer "Aufgabe" des Gesetzgebers, nicht von einem Auftrag oder einer Verpflichtung. 224 Der Ausgangspunkt der Überlegungen muß sein, daß das, was in einem rechtsverbindlichen Text steht, auch rechtsverbindlichen Charakter hat. Rein politische Erklärungen bilden, soweit überhaupt möglich, eine Ausnahme, die durch den Wortlaut eindeutig belegt sein muß. Dessen eingedenk wird man nicht zu dem Ergebnis kommen können, die Formulierung von der Aufgabe des Gesetzgebers schließe per se jede Rechtsverbindlichkeit aus. Folglich gilt, daß eine Rechtsverbindlichkeit jedenfalls nicht grundsätzlich zu negieren ist. Entschieden werden kann die Frage allerdings nur unter Berücksichtigung des gesamten Wortlauts einer Bestimmung. Bevor dieser genauer untersucht wird, ist auf die Besonderheit einzugehen, daß die Gesetzgebungsaufträge des Einigungsvertrags nicht Verfassungsrang einnehmen, sondern nur einfachgesetzlichen Charakter haben. Dies gilt ungeachtet der verfassungsändernden Mehrheiten, mit denen Bundestag, Bundesrat und Volkskammer dem Eini-

222 Beispielsweise hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Mutzenbacher-Entscheidung § 9 Abs. 2 GjS für verfassungswidrig erklärt und dennoch dessen vorläufige Fortgeltung wegen der überragenden Bedeutung des Jugendschutzes angeordnet. Dem Gesetzgeber wurde eine Vierjahresfrist eingeräumt, um eine verfassungsgemäße Regelung herbeizuführen, BVerfGE 83, 130ff. (154). Zu anderen Fällen der bloßen Unvereinbarkeitsfeststellung vgl. E. Klein in E. Benda/E. Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, § 36, Randnr. 1181 ff. ; Ä'. Vogelsang, Der Übergangsbonus, DVB1. 1989, S. 962ff. (963f.). 223 Vgl. hierzu E. Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Randnr. 1193ff. Siehe auch die Untersuchung von M. Kleuker, Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichts. 224 Dazu tendierend aber W Däubler, Ein Arbeitsvertragsgesetz?, AuR 1992, S. 129ff. (129). Im Gegensatz dazu geht die Denkschrift trotz des Wortes "Aufgabe" beispielsweise bei Art. 31 Abs. 4 von einer Verpflichtung des Gesetzgebers aus, BT-Drucks. 11/7760, S. 371.

§21: Gesetzgebungsaufträge

151

gungsvertrag zugestimmt haben. 225 Daher kann die zuvor kurz dargestellte herrschende Meinung zu den verfassungsimmanenten Gesetzgebungsaufträgen nicht ohne weiteres auf den Einigungsvertrag übertragen werden.

I. Die Problematik des einfachgesetzlichen Ranges der Aufträge

Auf den ersten Blick erscheint es fragwürdig, ob der einfache Gesetzgeber seinen Nachfolger durch Aufträge zu binden vermag. Nach Art. 20 Abs. 3 GG bindet der Vorrang des Gesetzes grundsätzlich nur die Exekutive und die Judikative. Demgegenüber steht die Vermutung für die Pflichtenfreiheit des Gesetzgebers. 226 Dennoch enthält das Bundesrecht Ausnahmen: So verpflichtet § 1 Satz 1 StWG Bund und Länder, die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten, und § 1 Satz 2 HGrG verlangt, daß Bund und Länder ihr Haushaltsrecht nach den Grundsätzen des HGrG regeln. Der Inhalt dieser Bestimmungen ändert nichts an deren einfachgesetzlichem Charakter 227 ; dennoch besteht nach herrschender Meinung eine Bindung aller Organe von Bund und Ländern und damit auch der Parlamente. 228 Begründet wird dies damit, das Gesetz dürfe nicht zu einer sanktionslosen politischen Deklamation verkommen. 229 Man kommt so zu einer einfachgesetzlichen Bindung des Gesetzgebers. Diese Möglichkeit ist anerkannt, solange das bindende Gesetz in Geltung ist. Fraglich ist allerdings, ob die Wirkung von § 1 StWG so weit reicht, daß mit der Vorschrift gleichzeitig die lex-posterior-Regel außer Kraft gesetzt wird. Stern verneint; in dieser Frage gebe es nur ein politisches Argument, wonach

225

Siehe oben § 7 II.

226

Th. Maunz, Verfassungsaufträge an den Gesetzgeber, BayVbl. 1975, S. 601ff. (601).

227

K. Stern, Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, DöV 1967, S. 657ff. (658). 228

Für § 1 StWG: A. Möller, S. 86; K. Stern, in dersJP. Münch/K.-H. Hansmeyer, Stabilitätsgesetz, S. 68, 145. Vgl. auch R. Herzog in M/D, Art. 20/Randnr. VI, 23; R. Walecki, S. 146. 229

K. Stern, Stabilitätsgesetz, S. 145.

152

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

der Gesetzgeber seine Deklamationen nicht selbst unbeachtet lassen könne. 2 3 0 Rechtliche Bindungen in bezug auf den Bestand eines Auftrags entstehen danach nicht. Für diese Ansicht spricht insbesondere, daß andernfalls ein Parlament über die vier Jahre hinaus, während der es demokratisch legitimiert ist, Einfluß nehmen könnte. Das soll jedoch, wie auch § 125 GOBT belegt, nach Möglichkeit verhindert werden. Nach dieser Bestimmung gelten am Ende der Wahlperiode des Bundestages alle Vorlagen als erledigt. Der neue Bundestag soll seine Arbeit möglichst unvorbelastet angehen können. Zudem ist kein vernünftiger Grund ersichtlich, warum bei den einfachgesetzlichen Bindungsnormen vom Grundsatz des Vorrangs des neueren Gesetzes abgewichen werden sollte. Aus dem Demokratieprinzip abgeleitete Bedenken erregt die Bindung durch einfache Gesetze also nur deshalb nicht, weil der Gesetzgeber stets die Dispositionsbefugnis über die ihn beschränkenden Normen hat; er kann mithin seine Dispositionsfreiheit durch den Erlaß eines neuen förmlichen Gesetzes zurückerlangen. Somit ist die Selbstbindung der Parlamente durch einfache Gesetze freiwilliger Natur, da man die jeweiligen Normen stets durch eine lex posterior abschaffen könnte. Es zeigt sich, daß die höhere Durchschlagskraft von Gesetzgebungsaufträgen im Verfassungsrang weniger damit zusammenhängt, daß nur die Verfassung den einfachen Gesetzgeber zu einem Tun verpflichten kann, als vielmehr damit, daß die Verfassung nicht zur Disposition der Legislative steht. Könnte der Gesetzgeber - aus welchen Gründen auch immer - § 1 StWG nicht verändern, wäre diese Vorschrift hinsichtlich des Grades ihrer Bindung mit Art. 109 Abs. 2 GG gleichzusetzen,231 denn solange sie in Kraft sind, sind beide Normen als ius strictum beachtlich. Einer Verpflichtung durch einen Gesetzgebungsauftrag kann sich die Legislative mithin nicht unter Hinweis auf den einfachgesetzlichen Rang eines Auftrags entziehen; es steht ihr jedoch grundsätzlich frei, sich von der Verpflichtung mittels einer lex posterior zu befreien. Allerdings besteht im Fall des Einigungsvertrags die Möglichkeit, daß für den Gesetzgeber wegen

230 K. Stern, Stabilitätsgesetz, S. 145; a A. R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze, DVB1. 1970, S. lOlff. (105): Nach Breuer gehen ältere Programmgesetze den Ausführungs- oder Normalgesetzen vor, es sei denn, sie werden ausdrücklich geändert oder suspendiert. 231 Inhaltlich geht § 1 StWG sogar über Art. 109 Abs. 2 GG hinaus: Art. 109 Abs. 2 betrifft nur die Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern, während § 1 StWG alle wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen erfaßt.

§21: Gesetzgebungsaufträge

153

einer vertraglichen Gebundenheit die Verabschiedung einer lex posterior ausscheidet. Für die Gestaltungskraft der im Einigungsvertrag enthaltenen Gesetzgebungsaufträge bedeutet dies, daß deren Unterverfassungsrang dann unbeachtlich ist, mithin eine nicht aufzulösende Bindung des Gesetzgebers besteht, wenn dieser auf Grund des vertraglichen Elements nicht befugt ist, die Vorschriften zu verändern.

II. Das vertragliche Element bei den Gesetzgebungsaufträgen

Entscheidend ist folglich ebenso wie bei der Untersuchung der übrigen Bestimmungen des Einigungsvertrags in den vorherigen Kapiteln, ob die Gesetzgebungsaufträge ihre Wirksamkeit mit fortbestehendem vertraglichen Charakter entfalten oder lediglich einfachgesetzlich geprägt sind. In jedem Fall sind sie geltendes Recht, das die Legislative bindet. Bedeutsam ist die Alternative allerdings für die Frage, ob sich der Gesetzgeber dieser Bindung durch den Erlaß eines abweichenden Gesetzes entziehen kann. Mögliche vertragliche Elemente sind mittels der oben festgelegten Kriterien zu ermitteln. Wie bereits angedeutet, kristallisiert sich bei diesen Bestimmungen in besonderer Weise das grundlegende Problem der divergierenden Interessenlage beider Vertragspartner in bezug auf die Bestandskraft heraus. Während die DDR ursprünglich eindeutige und rechtsverbindliche Regelungen verlangte, sah sich die Bundesrepublik dazu nicht in der Lage, vor allem wegen der unabsehbaren finanziellen Folgen. Als Ergebnis fand sich ein politischer Kompromiß, der weitgehende Festlegungen vermied, ohne allerdings vollständig auf Regelungen in diesen Bereichen zu verzichten. Man wird den Gesetzgebungsaufträgen daher nicht ausschließlich politischen Charakter zubilligen können. Da sie in den Vertragstext aufgenommen worden sind, nehmen sie grundsätzlich an dessen Rechtsverbindlichkeit teil. Für die Bestandskraft ist von wesentlicher Bedeutung, ob durch den einzelnen Auftrag an den künftigen Gesetzgeber Sonderinteressen des Beitrittsgebiets im Einigungsprozeß gewahrt werden sollten. Die Wahrung von Sonderinteressen setzt voraus, daß der Gesetzgebungsauftrag wenigstens ungefähre Zielvorgaben enthält, die von der DDR-Regierung als Wahrer der Interessen der Bürger im Beitrittsgebiet geteilt wurden. Keine Bestandskraft genießen somit die

154

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

Gesetzgebungsaufträge, die keine weiteren Festlegungen enthalten. Bei ihnen ist nicht zu entscheiden, ob sich die Neuregelung zugunsten oder zu Lasten des Beitrittsgebiets auswirken wird, so daß spezielle Interessen nicht gewahrt werden. Das gilt besonders für die in Art. 30 Abs. 4, 5 enthaltenen Aufträge, die Vermögensaufteilung auf die einzelnen Träger der Sozialversicherung durch Gesetz festzulegen und die Einzelheiten der Überleitung der Renten- und Unfallversicherung gesetzlich zu regeln. 232 Trotz der gegebenen Zielvorgaben ist die Bestandskraft des Gesetzgebungsauftrags im Zusammenhang mit dem § 218 StGB (Art. 31 Abs. 4) problematisch, da man von einem Sonderinteresse des Beitrittsgebiets an der Neuregelung kaum wird sprechen können. Im Gegenteil haben sich beinahe alle politischen Vertreter in der ehemaligen DDR für den Bestand der dort geltenden Fristenlösung ausgesprochen. Für sie bedeutete der vereinbarte Auftrag an den gesamtdeutschen Gesetzgeber, über eine Gesetzesnovelle abstimmen zu müssen, obwohl sie das alte Recht der Fristenlösung weitgehend für akzeptabel hielten. Bei dieser Ausgangsposition kann ein Sonderinteresse der ehemaligen DDR am Bestand gerade dieses Auftrags nicht angenommen werden. Daran ändert auch nichts, daß der erste Versuch des Gesetzgebers zur Erfüllung des Auftrags durch Verabschiedung eines Gesetzes zu den §§ 218ff. StGB gescheitert ist, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Neuregelung weitgehend für verfassungswidrig erklärt hatte. 233 Besondere Interessen des Beitrittsgebiets werden ausdrücklich nur in den Artt. 33 Abs. 1, 34 Abs. 1 angesprochen, welche den Gesetzgeber beauftragen, das Niveau der stationären Versorgung der Bevölkerung im Beitrittsgebiet und das Niveau des Umweltschutzes nachhaltig zu verbessern. Daneben stehen die Fälle, in denen die DDR immerhin die Festschreibung des Handlungsbedarfs durchsetzen konnte. Durch die Gesetzgebungsaufträge in Artt. 30 Abs. 1,31 Abs. 2 wurde die bundesdeutsche Rechtsordnung indirekt als nicht optimal und

232

Vgl. Artt. 30 Abs. 4 Satz 2, 30 Abs. 5. Allerdings hatte der Gesetzgeber bei der Überleitung der Rentenversicherung die Vorgaben in Art. 30 Abs. 5 Satz 2 und 3 zu beachten. 233

BVerfGE 88, 203ff.

§21: Gesetzgebungsaufträge

155

verbesserungsbedürftig bezeichnet, 234 ohne daß Einzelheiten eine möglichen Novellierung festgelegt wurden. Erforderlich ist eine Abwägung der Interessen beider Vertragspartner, um die mögliche Bestandskraft feststellen zu können. Wesentliches Argument gegen die Unabänderlichkeit des Einigungsvertrags war die damit verbundene Beschränkung der Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers. Diesem ist das Bestandsschutzinteresse des untergehenden Vertragspartners gegenüberzustellen. Anders als bei den übrigen Bestimmungen des Vertrags ergibt sich bei den Gesetzgebungsaufträgen die Besonderheit, daß sie den Gesetzgeber für die Dauer ihres Bestands ohnehin binden. Da die politischen Motive für ihre Aufnahme in den Einigungsvertrag unbeachtlich sind, ist es geradezu der Zweck dieser Normen, eine Bindung herbeizuführen. Der dem Vertrag zustimmende Gesetzgeber hielt eine derartige Bindung seines Nachfolgers trotz der damit verbundenen grundsätzlichen Bedenken in diesem Fall offenbar für hinnehmbar; andernfalls hätte er den Vertrag ablehnen müssen. Zu dieser Haltung wird zweifellos beigetragen haben, daß die sich aus den Aufträgen ergebenden Bindungen wegen des unbestimmten Inhalts der Bestimmungen sehr lockerer Natur sind. Wenn mit der Zustimmung zum Einigungsvertrag über eine Bindung des Gesetzgebers entschieden worden ist, erscheint es widersprüchlich, den vertraglichen Charakter dieser Bestimmungen mit dem Argument abzulehnen, der Legislative solle ihre Dispositionsfreiheit belassen werden. Dieses Ergebnis ist auch deshalb hinzunehmen, weil die Legislative nach wie vor einen weiten Gestaltungsspielraum hat. Die Formulierungen der einzelnen Aufträge legen ihr kaum Fesseln an. Wie die in den Artt. 30, 31, 33 und 34 angesprochenen Ziele erreicht werden sollen, liegt weiterhin in der Kompetenz des gesamtdeutschen Gesetzgebers. Lediglich beim Umweltschutz sind dem Gesetzgeber mit der Pflicht, das Vorsorge-, das Verursacher- und das Kooperationsprinzip zu beachten, bestimmte - recht weite - Grenzen gesetzt. Dadurch, daß die Gesetzgebungsaufträge kaum nähere Vorgaben enthalten, werden sie allerdings nicht wertlos. Immerhin können die neuen Länder unter Berufung auf den Vertragstext verlangen, daß überhaupt Maßnahmen zur Er-

234

Art. 30 Abs. 1 verlangt eine einheitliche Neukodifizierung des Arbeitsvertrags- und Arbeitszeitrechts sowie eine zeitgemäße Regelung des Arbeitsschutzes; Art. 31 Abs. 2 fordert den Gesetzgeber auf, die Rechtslage bei der Erwerbstätigkeit von Müttern und Vätern unter dem Gesichtspunkt der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gestalten.

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

156

reichung der gesetzten Ziele ergriffen werden. Damit können sie im Vorfeld einer Parlamentsentscheidung eine politische Diskussion erzwingen, bei der nicht ausgeschlossen ist, daß sie an Eigendynamik gewinnt. Bedenkt man, wie schwer es rein faktisch sein kann, bestimmte Themen als entscheidungsbedürftig auf die Tagesordnung zu setzen, ist eine Rechtsstellung, die es ermöglicht, gesetzgeberische Aktivitäten zu verlangen, nicht zu gering zu veranschlagen. Diese Rechtsstellung nehmen die neuen Länder unabhängig davon, ob man der hier vertretenen Ansicht vom vertraglichen Charakter der genannten Gesetzgebungsaufträge folgt, jedenfalls solange ein, wie die Bestimmungen als geltendes Recht nicht verändert worden sind. 2 3 5 Eine derartige Initiative ist politisch völlig unwahrscheinlich, so daß man vermutlich auch in der Zukunft die Beachtung der Gesetzgebungsaufträge vom gesamtdeutschen Gesetzgeber wird verlangen können, ohne die umstrittene Frage einer fortbestehenden vertraglichen Bindung erörtern zu müssen.

§ 22: Die Förderungszusagen im Einigungsvertrag Eine vergleichbare Problematik wie bei den im vorherigen Kapitel behandelten Gesetzgebungsaufträgen entsteht im Hinblick auf die im Einigungsvertrag enthaltenen Zusagen, bestimmte Entwicklungen im Gebiet der neuen Länder - zumeist finanziell - zu fördern. Auch hier kann der Handlungsspielraum des Gesetzgebers nicht ohne Berücksichtigung der Frage nach der Regelungsdichte der Förderzusagen in der gültigen Fassung des Einigungsvertrag erörtert werden. Alle Förderungszusagen, mit Ausnahme der Errichtung des Fonds "Deutsche Einheit" 236 , sind nicht näher quantifiziert, so daß die dadurch gezogenen Grenzen für den Vertragspartner Bundesrepublik sehr weit sind. Andererseits spricht aus den zuvor genannten Gründen eine Vermutung dagegen, die im folgenden behandelten Regelungen als rein politische Willenserklärungen und damit als rechtlich unverbindlich einzustufen.

235

Siehe oben § 21 I.

236

Errichtet durch § 2 zu Art. 31 des Vertragsgesetzes zum Staatsvertrag. Näheres oben bei

§ 19 IV.

§ 22: Die Förderungszusagen im EV

157

Verzichtet wird auf eine nähere Behandlung der Förderungszusagen in Art. 38 Abs. 2 Satz 4, 2. H S 2 3 7 und Art. 39 Abs. 3 2 3 8 . Diese Garantien waren bis zum 31. Dezember 1991 bzw. 1992 befristet; eine vertragliche Verpflichtung besteht daher jetzt nicht mehr. Gleiches gilt für die vertraglich garantierte Verwaltungshilfe im Bereich des Umweltrechts. Durch den Einigungs vertrag wurden § 10 a BImSchG und § 8 a BAbfG geschaffen 239; danach muß ein Antragsteller die Stellungnahme einer Behörde aus den alten Bundesländern beibringen, so daß die erst im Aufbau befindlichen Behörden im Beitrittsgebiet von der zum Teil sehr komplizierten Prüfung innerhalb des umweltrechtlichen Genehmigungsverfahrens entlastet werden. Der Einigungsvertrag hatte die Ausnahmebestimmungen bis Ende 1992 befristet. Zwar sind die Fristen per Gesetz bis zum 31. Dezember 1994 240 verlängert worden, jedoch bedeutet das keine Verlängerung einer vertraglichen Gebundenheit des Gesetzgebers. 241 Diese ist mit Ende des vertraglich vereinbarten Zeitraums 1992 abgelaufen. Bei der Suche nach vertraglichen Bindungen können ferner solche Vorschriften unberücksichtigt bleiben, die an sich Selbstverständliches aus Gründen der politischen Opportunität wiederholen. Daß bei Bund-Länder-Abkommen im Sinne von Art. 91 b GG nach dem 1. Januar 1991 242 die neuen Länder angemessen zu berücksichtigen sind, brauchte nicht mehr - wie dennoch in Art. 38 Abs. 5 geschehen - vertraglich festgeschrieben zu werden. 243 Eine derartige Verpflichtung folgt bereits aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung der Länder. 244 Die Länder können sich zwar wegen ihrer

237 Der Bund garantierte eine Mitfinanzierung der wissenschaftlichen Institute im Beitrittsgebiet, um sicherzustellen, daß die bis dahin erfolgte Bewertung der Institute durch den Wissenschaftsrat (vgl. Art. 38 Abs. 1 Satz 2) und die Umsetzung ihrer Ergebnisse nicht durch einen finanziellen Zusammenbruch dieser Einrichtungen unterlaufen werden; Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S. 376. 238

Unterstützung des Behindertensports durch den Bund.

239

Ani. I, Kap. XII, Sachgeb. A, Abschnitt II, b); BGBl. 1990 II, S. 1114 und Sachgeb. D, Abschnitt II, a); BGBl. 1990 II, S. 1117. 240 Gesetz zur Verlängerung der Verwaltungshilfe vom 26. Juni 1992, BGBl. I S. 1161. Allerdings wurde die zwingende Inanspruchnahme der Verwaltungshilfe in eine Sollvorschrift geändert. 241

Siehe oben bei § 12.

242

Nach Art. 7 Abs. 4 gelten die Artt. 91 a, 91b und 104 a Abs. 3, 4 GG erst ab diesem Datum.

243

Zutreffend hier die Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S. 376, die ebenfalls nur klarstellenden Charakter annimmt. 244

Vgl. BVerfGE 72, 330ff. (404).

158

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

sich aus Art. 19 Abs. 3 GG ergebenden fehlenden Grundrechtsfähigkeit nicht auf ein subjektives Grundrecht berufen; das Gleichbehandlungsprinzip wird in diesem Fall jedoch nicht aus Art. 3 GG, sondern aus der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes abgeleitet. 245 Wenn der Bund also Vereinbarungen nach Art. 91 b GG schließt, muß er alle interessierten Länder berücksichtigen. 2 4 6 Zwar ist auf Grund des Beitritts eine Sondersituation entstanden, doch müssen sich Bund und Länder bemühen, möglichst rasch den verfassungsrechtlichen Normalzustand der gleichberechtigten Berücksichtigung aller Länder auch in diesem Bereich zu gewährleisten. Da dies nach der Konzeption und der tatsächlichen Ausgestaltung des Art. 91 b GG nur über Verhandlungen erreicht werden kann, ist deren Festschreibung in Art. 38 Abs. 5 obsolet. Ähnliche Überlegungen finden Anwendung auf Art. 28 Abs. 1: Daß die Regelungen des Bundes zur Wirtschaftsförderung auch im Beitrittsgebiet gelten, ist ebenfalls ein selbstverständliches Gebot des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsprinzips.

I. Die Kulturklausel in Art. 35

Art. 35 enthält eine vertragliche Aussage zu Fragen der Kultur im vereinigten Deutschland. In Absatz 1 formulieren die Vertragspartner in einer Art Präambel 247 ein Bekenntnis zur Kultur als einer wesentlichen Grundlage für die Einheit der Deutschen in Vergangenheit und Zukunft. Daneben enthält Art. 35 Abs. 2 eine Zielvorgabe, wonach die kulturelle Substanz in den neuen Ländern keinen Schaden nehmen darf. Die Frage nach dem juristischen Sinn dieser Bestimmung ist denkbar schwierig. 248 Dies liegt einmal an den unbestimmten Rechtsbegriffen des Art. 35 Abs. 2: Was gehört zur kulturellen Substanz, wann

245

J. Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, Randnr. 132f.

246

So auch Th. Maunz in M/D, Art. 91 b/Randnr. 35, H.C.F. Liesegang in vM, Art. 91 b/Randnr. 6. 247 Zutreffend M. Kilian, Die Erhaltung der kulturellen Substanz der neuen Bundesländer in Art. 35 II EinigungsV, LKV 1992, S. 241ff. (242). 248

P. Häberle, Das Problem des Kulturstaates im Prozeß der deutschen Einigung - Defizite, Versäumnisse, Chancen, Aufgaben, JöR 40 (1991), S. 291ff. (321).

§ 22: Die Förderungszusagen im EV

159

liegt ein Schaden vor? Dazu kommt das Problem, ob aus der Vorschrift eine Rechtspflicht zum Handeln folgt. Als Adressat einer möglichen Rechtspflicht käme grundsätzlich nur der Bund in Betracht. Das ergibt sich zwingend daraus, daß beide Alternativen vertraglicher oder gesetzlicher Charakter des Art. 35 - nicht auf die neuen Länder bezogen sein können: Eine vertragliche Verpflichtung der neuen Länder scheidet aus, da diese weder Unterzeichner des Einigungsvertrags noch Rechtsnachfolger der DDR sind. Als einfaches Bundesgesetz wäre Art. 35 Abs. 2, unterstellt man, er solle eine Rechtspflicht für die Länder begründen, verfassungswidrig: Die umfassende Kulturhoheit der Länder läßt jedenfalls kein Gesetz des Bundes zu, das Verpflichtungen für die Länder begründet. Schon eine Rechtspflicht des Bundes zum Handeln - nimmt man dies als Ergebnis der Auslegung an - könnte verfassungsrechtlich nur mit der Ausnahmesituation der deutschen Einheit für eine Übergangszeit begründet werden. 249 Des weiteren ist zu untersuchen, welche Art des Handelns durch den Bund in Betracht kommen könnte. Sicherlich ist nicht gemeint, daß der Bund kulturelle Unternehmungen, womöglich per Gesetz, verordnet. Ein derartiges Kulturverständnis ist mit einem freiheitlich demokratischen Staatswesen nicht in Einklang zu bringen. Im Gegenteil wollten sich die Vertragspartner von diesem totalitären Ansatz, der in der DDR verfolgt worden ist, gerade distanzieren. Nach dem in der Bundesrepublik herrschenden Grundkonsens kann staatliche Kulturpolitik sich stets nur darauf beschränken, die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Kultur möglichst unabhängig von staatlichem Einfluß gedeiht. 250 Es gibt keine Anzeichen dafür, daß jemand bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag eine andere Form staatlichen Handelns im Kulturbereich gewollt hat. 2 5 1

249 Von der unabweisbaren Verfassungswidrigkeit des Art. 35 Abs. 7 geht H. Schulze-Fielitz, Art. 35 EinigungsV - Freibrief für eine Bundeskulturpolitik?, NJW 1991, S. 2456ff. (2459) aus; hier auch weitere Bemerkungen zu den Kompetenzbestimmungen im Kultusbereich. Die Verfassungswidrigkeit des Art. 35 Abs. 7 wird nach Bundesinnenminister Schäuble allerdings durch Art. 143 GG vermieden, Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 17. Sitzung am 6. Sept. 1990, S. 559 A. Dagegen hält Schulze-Fielitz Art. 143 GG für nicht anwendbar, da die Protokollnotiz zu Art. 35 ausdrücklich erklärt: "Die grundgesetzliche ZuständigkeitsVerteilung zwischen Bund und Ländern bleibt unberührt." (BGBl. 1990 II, S. 906). 250

M. Kilian, S. 242.

160

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

Folglich steht fest, daß als Adressat einer möglichen Rechtspflicht nur der Bund in Frage kommt und als geschuldete Handlung allenfalls das Setzen angemessener Rahmenbedingungen. Diese Bedingungen lassen sich unterteilen in solche gesetzlicher und solche finanzieller Art. Gesetze kann der Bund nur erlassen, soweit er zuständig ist. Die Gesetzgebungszuständigkeiten des Grundgesetzes konnten und sollten durch Art. 35 nicht verändert werden. Da der Bund im Kultusbereich kaum Zuständigkeiten inne hat 2 5 2 , scheidet folglich ein Gesetzgebungsauftrag als Inhalt des Art. 35 Abs. 2 aus. Somit bleibt als einzige Möglichkeit eine Rechtspflicht des Bundes, finanziell zum Erhalt der kulturellen Substanz in den neuen Ländern beizutragen. Für eine solche Auffassung spricht vor allem die Formulierung des Art. 35 Abs. 2, wonach die kulturelle Substanz keinen Schaden nehmen darf. 2 5 3 Bei einer reinen Absichtserklärung hätte der Text wohl lauten müssen: "...soll keinen Schaden nehmen". Andererseits ist die Frage der Finanzierung in drei der sieben Absätze des Art. 35 ausdrücklich angesprochen. In Art. 35 Abs. 4, 6 wird eine Mitfinanzierung des Bundes "nicht ausgeschlossen" und auch Art. 35 Abs. 7 enthält lediglich eine Kann-Bestimmung bezüglich der Mitfinanzierung einzelner kultureller Maßnahmen im Beitrittsgebiet. Offensichtlich sollte ein zu stark zentralistischer Aspekt im Kulturbereich vermieden werden. 254 Der Wortlaut dieser Bestimmungen spricht damit gegen eine Pflicht des Bundes, finanziell helfen zu müssen. Gleichzeitig sind die Absätze 4, 6, und 7 mit ihren eindeutigen Aussagen zu den Fragen der Finanzierung leges speciales zu dem generalklauselartigen Art. 35 Abs. 2. Etwas anderes käme nur dann in Betracht, wenn das Können der Absätze 4, 6, 7 durch Absatz 2 sich zu einem Müssen verdichtete. Damit würde allerdings insgesamt die Bedeutung des Art. 35 überschätzt. Stets wurde seitens der Bun-

251

Viele Volkskammer-Abgeordnete hatten bereits große Bedenken vor einer finanziellen Künstlerförderung; der Staatseinfluß auf die Kunst sollte nach den schlechten Erfahrungen aus der Zeit der SED-Herrschaft unbedingt begrenzt werden; vgl. die dahingehende Äußerung von MdB Baum (FDP), Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 17. Sitzung am 6. Sept. 1990, S. 559 C. 252 Nach Art. 74 Nr. 5 GG gehört der Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung in das Ausland zur konkurrierenden Gesetzgebung; daneben gibt es nur noch ungeschriebene Bundeszuständigkeiten im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik. 253

So M. Kilian, S. 242.

254

Zutreffend P. Häberle, S. 322.

§ 22: Die Förderungszusagen im EV

161

desregierung auf die grundgesetzlichen Zuständigkeiten hingewiesen und damit angedeutet, daß man sich nicht in besonderer Weise verpflichten w i l l . 2 5 5 Sollte die DDR etwas anderes gewollt haben, konnte sie sich, wie der eindeutige Vertragswortlaut ergibt, bei den Verhandlungen in dieser Frage nicht durchsetzen. Wenn der Bund eine Mitfinanzierung nicht ausschließt, kann dies nur bedeuten, daß er zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch keine bindende Erklärung abgeben, sondern vielmehr später einzelfallbezogen entscheiden wollte. 2 5 6 Für dieses Ergebnis spricht auch die Diskussion im Ausschuß "Deutsche Einheit". 2 5 7 Mithin wird durch Art. 35 eine Förderung des Bundes im Kulturbereich zwar ermöglicht, aber nicht zur Rechtspflicht. Damit erübrigt sich die Frage, ob der Artikel eher vertraglich oder eher einfachgesetzlich geprägt ist.

I I . Die Reichweite der übrigen Förderungszusagen

Von größerer rechtlicher Bedeutung sind die Zusagen in Art. 15 Abs. 2, 28 Abs. 2, 32 Satz 2 und 34 Abs. 2. Darin geht es um Hilfen beim Aufbau der Landesverwaltungen 258, die Vorbereitung konkreter Maßnahmenprogramme zur Beschleunigung des wirtschaftlichen Wachstums und des Strukturwandels, die Förderung der Freien Wohlfahrtspflege und der Freien Jugendverbände im

255 Denkschrift, BT-Drucks. 11/7760, S.356; Bundesinnenminister Schäuble, Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 17. Sitzung am 6. Sept. 1990, S. 558 C. 256 A.A. Af. Kilian, S. 244; ob Kilian den Bund vertraglich für verpflichtet hält, bleibt unklar; jedenfalls nimmt er eine sich aus der Summe der Artt. 20, 28, 134, 135 Abs. 1 GG in Verbindung mit der Präambel des Grundgesetzes ergebende und weiterbestehende gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes für die Folgen der deutschen Teilung und die Schaffung der Einheit an. Unabhängig von der Frage der verfassungsrechtlichen Herleitung (man könnte auch das Prinzip der Bundestreue gegenüber den neuen, schwächeren Ländern herausstreichen) spricht im Ergebnis vieles für eine solche Verantwortung des Bundes. Allerdings können darüber die Zuständigkeitsregeln des Grundgesetzes nicht ausgehebelt werden: Es gibt also keine verfassungsrechtliche Pflicht des Bundes, Länderaufgaben wahrzunehmen, sondern nur eine, die neuen Länder möglichst rasch in einen Stand zu setzen, ihre Zuständigkeiten selbständig wahrnehmen zu können. 257 Vgl. MdB Baum (FDP), Prot, des Ausschusses Dt. Einheit, 17. Sitzung am 6. Sept. 1990, S. 559 B. Baum bezeichnete die Vereinbarung als ausfüllungsbedürftig und als Signal; er ging also nicht davon aus, daß eine rechtsverbindliche Entscheidung bereits gefallen sei. 258 Siehe hierzu R. Pitschas (Hrsg.): Rechtsvereinheitlichung und Verwaltungsreform in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland; J. Hoesch, Probleme beim Verwaltungsaufbau in den neuen Ländern, DtZ 1992, S. 139.

II Hoch

162

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung und um ökologische Sanierungs- und Entwicklungsprogramme in den neuen Ländern. 259 Obwohl eine ausdrückliche Änderung oder gar Abschaffung dieser Garantien durch ein Bundesgesetz als politisch irreal gelten kann, soll kurz auf die Möglichkeit eingegangen werden. Sie ist zu verneinen, wenn der Bund sich bei diesen Zusagen vertraglich gebunden hat. Dafür spricht zunächst, daß die Bestimmungen in unmittelbarem Zusammenhang zu Beitritt und Einigungsprozeß stehen. Die Hilfsgarantien beziehen sich auf den Verwaltungsaufbau, die Wirtschaft und die Umwelt. Diese Themenbereiche bezeichnen einige der elementaren Probleme in den neuen Ländern, so daß ein Sonderinteresse am Bestand dieser Zusagen ohne weiteres angenommen werden kann. Auf der anderen Seite gibt es keine gleichwertigen Gesichtspunkte, die gegen eine vertragliche Bindung sprechen. Die Nachteile einer bindenden Verpflichtung kommen kaum zur Geltung, da die Zusagen hinsichtlich der Qualität und Quantität der Hilfen keine näheren Aussagen enthalten. Auf Grund des vertraglichen Charakters dieser Vorschriften scheidet ihre Änderung mithin aus. Von praktisch erheblich größerer Bedeutung ist dagegen die Frage, wozu die bestehenden Regelungen überhaupt verpflichten. Deren Unbestimmtheit wurde bereits erwähnt. Zunächst werden alle Organe des Bundes verpflichtet, die Erfüllung der Förderungszusagen zu gewährleisten. In praxi wird diese Aufgabe anders als bei den Gesetzgebungsaufträgen den Bundesministerien und ihrem Verwaltungsapparat zufallen. Das Parlament ist allerdings insoweit involviert, als es die erforderlichen Haushaltsmittel zur Durchführung der Hilfen gewähren muß. Entscheidend ist jedoch die Frage, ob eine bestimmte Intensität der Hilfe rechtlich abgesichert ist. Dazu wird man zunächst feststellen müssen, daß mit den Zusagen bestimmte Ziele verbunden sind, zu deren Erreichung sich die Bundesrepublik verpflichtet hat. Die Hilfen müssen also derart beschaffen sein, daß sie geeignet sind, in angemessener Frist die mit ihnen verbundenen Ziele zu erreichen. Das bedeutet, daß die Maßnahmen der Sondersituation in den neuen Ländern angepaßt sein müssen. Bei der Bemessung der Leistungen muß der Zweck der Vorschriften, die Schwierigkeiten in der Übergangszeit mög259 In Umsetzung dieser Verpflichtungen wurden beispielsweise das "Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost" und ein Aktionsprogramm "Ökologischer Aufbau" geschaffen; vgl. Bulletin der Bundesregierung Nr. 19, 25/1991 vom 22. Febr. bzw. 12. März 1991, S. 133f., 177ff.

§ 22: Die Förderungszusagen im EV

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liehst rasch überbrücken zu helfen, berücksichtigt werden. Daraus folgt, daß den neuen Ländern ein Mehr an Leistungen versprochen worden ist, als sie die alten Länder beziehen. Falls die Leistungen gleich bemessen wären, wäre entgegen der vertraglichen Zusage die besondere Problematik der neuen Länder nicht hinreichend berücksichtigt worden. Gleichzeitig sind die Bestimmungen so auszulegen, daß sie Unterstützungshandlungen festschreiben, die über allgemeine Fördermaßnahmen hinausgehen. Der Bund darf also einem entsprechenden Begehren der Landesregierungen im Beitrittsgebiet nicht mit dem Hinweis auf die allgemeinen Leistungen aus dem Fonds "Deutsche Einheit" begegnen. Weitergehende Bindungen, die gegebenenfalls gerichtlich einklagbar wären, bestehen allerdings nicht. Geht man nämlich von einer Rechtspflicht des Bundes aus, die Unterstützungen so zu bemessen, daß die in den Artt. 15 Abs. 2, 28 Abs. 2, 32 Satz 2 und 34 Abs. 2 angesprochenen Ziele erreicht werden können, so bedeutet dies nichts anderes als die Pflicht zu einer Prognoseentscheidung, die nur in begrenztem Maße justiziabel ist. Das Bundesverfassungsgericht kennt drei Grade der Kontrolldichte, mit denen es Prognoseentscheidungen des Gesetzgebers überprüft. Diese reichen von einer Evidenz- über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensiven inhaltlichen Kontrolle. 260 Entscheidend für den Grad der Überprüfung ist die Grundrechtsintensität des Sachgebiets, das der Gesetzgeber mittels einer Prognoseentscheidung regelt. 261 Da die neuen Länder sich nach Art. 19 Abs. 3 GG nicht auf Grundrechte berufen können, bedeutet dies, daß eine intensive inhaltliche Kontrolle dahingehend, ob die vorgesehenen Hilfen geeignet sind, die vorgegebenen Ziele zu erreichen, ausscheidet. Nachzuweisen, daß eine Prognoseentscheidung evident unrichtig oder auch nur unvertretbar war, dürfte in der Praxis schwerfallen. Damit einher geht die Zunahme des Beurteilungsspielraums des Gesetzgebers, was wiederum eine Lockerung der vertraglichen Bindung bedeutet. Eine einmal getroffene Entscheidung bedeutet allerdings nicht das Ende der vertraglichen Bindung. Vielmehr bleibt der Bund zur Hilfe bei der Erreichung der vertraglich postulierten Ziele verpflichtet. Damit korrespondiert die verfassungsgerichtlich anerkannte Pflicht des Bundes, die Prognoseentscheidung ständig zu überprüfen und gegebenenfalls die als unrichtig erwiesene Prognose

260 BVerfGE 50, 290ff. (333) mit Nachweisen aus der früheren Rechtsprechung des Gerichts. 261 Vgl. K. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, FS Hans Huber, S. 26Iff. (267).

Il*

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4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

zu korrigieren. 262 Je nach Stand der verfügbaren Information kann die verfassungsgerichtliche Nachprüfung einer Prognoseentscheidung somit zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Dennoch dürfen die Grenzen der Gewaltenteilung durch das Bundesverfassungsgericht nicht verletzt werden, so daß mangels hinreichend konkreter Ausgestaltung der Förderzusagen dem Bund ein weiter Ermessensspielraum bei der Entscheidung darüber verbleibt, wie und wo er Maßnahmen auf den Gebieten Verwaltungsaufbau, Wirtschaft und Umwelt ergreift.

§ 23: Die Änderung bestandsfester Bestimmungen über die Anwendung der 'clausula rebus sie stantibus'

I. Generelle Bedeutung der clausula

Der Einigungsvertrag wird in seinen bestandsfesten Teilen getragen durch das Prinzip 'pacta sunt servanda'. Obwohl der Vertragspartner DDR untergegangen ist, hat die nunmehr größere Bundesrepublik die vertraglichen Bestimmungen getreulich zu befolgen. Mit den Coburg-Entscheidungen ist klargestellt, daß eine Mißachtung der Pflicht zur Vertragstreue gegebenenfalls durch das Bundesverfassungsgericht sanktioniert werden kann. Zu bedenken ist indes, daß das Prinzip 'pacta sunt servanda' zur Folge haben kann, einen vertraglichen Zustand zu zementieren. Wenn Anpassungen an veränderte äußere Umstände nicht möglich sind, können Situationen entstehen, die zumindest einen Vertragspartner überfordern. In Konsequenz dieses Gedankens hat die Bundesregierung bei den Vertragsverhandlungen darauf gedrungen, die Flexibilität des künftigen Gesetzgebers zu wahren und die starre Regel 'pacta sunt servanda' nicht in jedem Fall zur Anwendung kommen zu lassen. Die Arbeit hat belegt, daß nicht alle Teile des Einigungsvertrags nach dem Beitritt weiterhin mit vertraglicher Bestandskraft ausgestattet sind. Aber auch bei den vertragsrechtlich fortgeltenden Bestimmungen des Einigungsvertrags ist eine Änderung nicht gänzlich ausgeschlossen. Vielmehr kann im Einzelfall die clau262

BVerfGE 25, Iff. (13); BVerfGE 50, 290ff. (335, 352, 377f.).

§ 23 : Änderung bestandsfester Bestimmungen über die clausula

165

sula rebus sie stantibus eingreifen, um das formelle Vertragsrecht zu durchbrechen. 263 Sinn der clausula ist es, ungerechtfertigte Belastungen zu vermeiden, indem sie den rechtlichen Rahmen dafür bietet, von einer unzumutbaren vertraglichen Verpflichtung loszukommen. 264 Als Rechtsinstitut kann die clausula auf eine lange Tradition zurückblicken 265 , gleichzeitig ist sie allen Bereichen des Vertragsrechts immanent. 266 Auch wenn die Bezeichnungen für das Rechtsinstitut wechseln, kann der der clausula zugrundeliegende Gedanke, daß 'pacta sunt servanda' zwar die Regel ist, nicht aber in jedem Fall das letzte Wort sein kann, mittlerweile als allgemein akzeptiert angesehen werden. Die clausula bildet somit eine Ausnahme zu der dem Vertrag immanenten Regel 'pacta sunt servanda'. 267 Dabei muß der Anwendungsbereich der clausula genau umrissen und begrenzt werden, damit sie nicht zu einem "fadenscheinigen Rechtsmäntelchen" 2 6 8 des Vertragsbruchs verkommt. In besonderer Weise gilt dies im Völkerrecht, da gerade hier Verstöße gegen einen Vertrag unter Berufung auf das angebliche Eingreifen der clausula nur schwer zu ahnden sind. Folglich ist Art. 62 WVK, der die clausula im Völkerrecht positiviert, bewußt einschränkend formuliert. Das beginnt bereits damit, daß in Absatz 1 grundsätzlich festgestellt wird:

263

Nach R. Köbler, Die "clausula rebus sie stantibus" als allgemeiner Rechtsgrundsatz, S. 1,3, hat die clausula somit auch friedensbewahrende Funktion, da sie dem Rechtssprichwort "summum ius, summa iniuria" abhilft. 264

Eine hohe Bedeutung für den Einigungsprozeß hatte die clausula im Zusammenhang mit den DDR-Flüchtlingen in Ungarn im Jahre 1989. Der ungarische Außenminister Gyula Horn erklärte am 14. Sept. 1989, daß sich sein Land wegen "grundlegender Änderung der Umstände" vom Vertrag mit der DDR von 1969 lösen müsse. Damals hatte sich Ungarn verpflichtet, die Flucht von DDR-Bürgern in den Westen zu verhindern. Zitat nach H. Quaritsch, Eigenarten und Rechtsfragen der DDR-Revolution, VerwArch 83 (1992), S. 314ff. (327). 265 vgl. die dogmengeschichtliche Untersuchung von M. Rummel, Die "clausula rebus sie stantibus". 266

Dies belegt die aktuelle Dissertation von R. Köbler, vgl. Fußnote 263.

267

BVerfGE 34, 216ff. (230); H Pott, Clausula rebus sie stantibus, S. 61, hier auch Nachweise zu anderen dogmatischen Ansätzen. 268 So W. Schneider, Die völkerrechtliche Clausula rebus sie stantibus und Art. 19 der Völkerbundssatzung, S. 89. Generell läßt sich sagen, daß die frühere Literatur diesem Rechtsinsitut zum Teil ausgesprochen skeptisch gegenüberstand; vgl. die Nachweise bei H. Pott, S. 37ff.

166

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

"Eine grundlegende Änderung der beim Vertragsschluß gegebenen Umstände, die von den Vertragsparteien nicht vorausgesehen wurde, kann nicht als Grund für die Beendigung des Vertrags oder den Rücktritt von ihm geltend gemacht werden [...]",

um erst danach fortzufahren "[...] es sei denn a) das Vorhandensein jener Umstände bildete eine wesentliche Grundlage für die Zustimmung der Vertragsparteien, durch den Vertrag gebunden zu sein, und b) die Änderung der Umstände würde das Ausmaß der auf Grund des Vertrags noch zu erfüllenden Verpflichtungen tiefgreifend umgestalten."

Nach Art. 62 Abs. 2 W V K ist die Berufung auf die clausula stets ausgeschlossen bei Grenzverträgen und in den Fällen, in denen eine Vertragspartei die Änderung der Umstände selbst herbeigeführt hat. Da der Einigungsvertrag nicht mehr der Rechtsordnung des Völkerrechts untersteht, scheidet eine direkte Anwendung des Art. 62 W V K aus. Das Bundesverfassungsgericht hat die Anwendung von Völkerrecht auf Staatsverträge strikt abgelehnt und vielmehr die clausula als ungeschriebenen Bestandteil des Bundesverfassungsrechts gekennzeichnet.269 Als solcher kann sie auf den Einigungsvertrag Anwendung finden, der dem Rang nach unter dem Verfassungsrecht der Bundesrepublik steht. In welchem Fall die clausula konkret beim Einigungsvertrag zur Anwendung kommen könnte, läßt sich unmöglich vorhersagen. Erforderlich wäre ein Bild über die künftige Entwicklung im vereinigten Deutschland, was jedoch rein hypothetisch bleiben müßte. Es soll daher im folgenden nur versucht werden, abstrakt den Tatbestand und die Rechtsfolgen der clausula darzustellen, um Inhalt und Schranken dieses Rechtsinstituts zu umreißen.

I I . Der Tatbestand der clausula rebus sie stantibus

Nach der im Coburg-Fall vertretenen Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts kommt eine Anwendung der clausula nur in Betracht,

269 BVerfGE 34, 216ff. (231). Das Gericht ist allerdings nicht ganz konsequent, wenn es sich gleichzeitig auf eine Entscheidung des Staatsgerichtshofs von 1925 beruft, worin völkerrechtliche Ansätze zur Anwendung der clausula zu erkennen sind; RGZ 112, Anhang S. 2Iff. (28).

§ 23: Änderung bestandsfester Bestimmungen über die clausula

167

"wenn sich die Verhältnisse, die im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bestanden haben, mittlerweile grundlegend geändert haben und angesichts dieser Veränderung das Festhalten am Vertrag oder an einer Einzelvereinbarung innerhalb des Vertrags für den Verpflichteten unzumutbar geworden ist". 270

Voraussetzung für die Anwendung der clausula ist somit das gleichzeitige Vorliegen zweier Kriterien.

1. Die grundlegende Veränderung der äußeren Umstände

Beim ersten Merkmal des clausula-Tatbestandes, der grundlegenden Änderung der Verhältnisse, ist es nicht erforderlich, daß sich die Parteien ausdrücklich oder stillschweigend auf den Bestand bestimmter Umstände als Voraussetzung für den Bestand des Vertrags geeinigt hatten. Im Gegensatz zum Wegfall der Geschäftsgrundlage, für deren Eingreifen eine solche Einigung erfolgt sein muß, wählt das Gericht bei der clausula einen objektiven Ansatz. 271 Auf das, was die Parteien taten oder dachten, kommt es nicht an. Der Tatbestand beim Wegfall der Geschäftsgrundlage ist somit wesentlich enger als der der clausula. Das Bundesverfassungsgericht geht, indem es ein subjektives Element bei der clausula leugnet, über die Formulierung in Art. 62 Abs. 1 W V K hinaus. Dort kommt als weiteres Erfordernis hinzu, daß das Vorhandensein der geänderten Umstände eine wesentliche Grundlage für die Zustimmung der Vertragsparteien gebildet habe, durch den Vertrag gebunden zu sein. Auf diese beim Parteiwillen ansetzende Komponente verzichtet das Bundesverfassungsgericht. Eine gewisse Annäherung beider Positionen wird allerdings dadurch erreicht, daß bei der Anwendung von Art. 62 Abs. 1 W V K an das Vorhandensein des subjektiven Elements keine allzu strengen Anforderungen gestellt werden. Der betreffende Umstand muß den Parteien bei Vertragsschluß nicht akut bewußt gewesen sein; es genügt vielmehr fiktiv, daß die Par-

270

BVerfGE 34, 216ff. (232); bestätigt durch BVerfGE 42, 345ff. (358).

271

Vgl. für die Ablehnung eines Wegfalls der Geschäftsgrundlage: BVerfGE 34, 216ff. (230).

168

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

teien ihn als bedeutend angesehen hätten, hätten sie sich überhaupt über diesen Punkt Gedanken gemacht. 272 Zu klären bleibt, wann von einer grundlegenden Änderung der Umstände ausgegangen werden kann. Dabei ist offen, ob das Attribut "grundlegend" überhaupt zur Klärung des Tatbestandes beizutragen vermag. Eine genauere Begriffsbestimmung ist schwierig, so daß sich meist nur Umschreibungen finden. Danach sollen die Umstandsänderungen von entscheidender oder größerer Bedeutung sein bzw. fundamental, schwerwiegend, wesentlich, radikal, außergewöhnlich oder tiefgreifend. 273 Aus der Unmöglichkeit einer genaueren Eingrenzung folgert Köbler die Unnötigkeit des Attributs "grundlegend". Hier seien Wertungen erforderlich, die besser zu dem zweiten Tatbestandsmerkmal der clausula, der Unzumutbarkeit, paßten. 274 Dagegen spricht jedoch, daß man dann die hinreichende Schwere der Folge prüfen müßte, um daraus abzuleiten, ob deren Ursache - die Veränderung der äußeren Umstände - den tatbestandlichen Anforderungen genügt. Dies erscheint als methodisch unzulässig. 275 Zudem stärkt das Attribut "grundlegend" den Ausnahmecharakter der clausula rebus sie stantibus; schon deswegen sollte an ihm festgehalten werden. Es zeigt nämlich, daß geringfügige Änderungen nicht ausreichen, um vom Grundsatz 'pacta sunt servanda' abzurücken.

2. Die Unzumutbarkeit als Folge der Umstandsänderung

Ähnlich unpräzise wie das Stichwort "grundlegend" ist auch das Merkmal "unzumutbar" als Schlüsselwort der zweiten Tatbestandsvoraussetzung. Eine genauere Bestimmung dieses Begriffs ist bisher nicht gelungen, obwohl er

27 2 H. Pott, S. 97 m.w.N. Wenn man wie Pott zusammenfaßt: "Erforderlich ist somit, daß die Änderung Umstände betrifft, die mit dem Vertrag in einer bedingenden Beziehung stehen ohne selbst eine Bedingung des Vertrages zu sein. Vollkommen außerhalb des Vertrages liegende Umstände sind unerheblich.", dann wird fraglich, ob überhaupt noch ein Unterschied zum objektiven Ansatz des Bundesverfassungsgerichts besteht. 273

Nach H. Pott, S. 87; hier auch die Belege für die genannten Charakterisierungen.

27 4

R. Köbler, S. 212.

275

Zutreffend H. Pott, S. 91.

§ 23: Änderung bestandsfester Bestimmungen über die clausula

169

zahlreich in allen Gebieten des deutschen Rechts anzutreffen ist. 2 7 6 Wie die Zumutbarkeit (oder Unzumutbarkeit) festzustellen ist, hat der Gesetzgeber meist der Rechtsprechung überlassen. Nur § 2331 a Abs. 1 Satz 2 BGB formuliert im Bereich des Pflichtteilrechts, daß eine Abwägung der Interessen beider Teile zu erfolgen hat. 2 7 7 Über das Erfordernis der Interessenabwägung besteht auch dort Einigkeit, wo dies nicht ausdrücklich positiviert worden ist. Es dürfen also nicht nur die erhöhten Lasten der einen Partei beachtet werden, die die Aufhebung des Vertrags verlangt, sondern die Interessen der Gegenseite an der Aufrechterhaltung des Vertrags müssen ebenfalls einbezogen werden. Dabei ist grundsätzlich auf die Interessen zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses abzustellen; sollte sich infolge der Veränderung äußerer Umstände eine Äquivalenzstörung in der vertraglichen Beziehung ergeben, so dürfen die Vorteile, die einer Partei unverhofft und ungerechtfertigterweise zukommen, nicht als besonderes Interesse am Bestand des Vertrags in die Abwägung eingehen. Nach der Regel 'pacta sunt servanda' wird nur ein Einstehen für das bei Vertragsschluß bestehende Interesse des Partners verlangt. Bei der Auslegung der clausula als Ausnahme zu diesem vertragsrechtlichen Grundsatz kann mithin nichts anderes zugrunde gelegt werden. Auch die völkerrechtliche Literatur stützt sich auf den Zumutbarkeitsbegriff, obwohl dieser in Art. 62 W V K keine Verankerung gefunden hat. Das dortige Tatbestandsmerkmal der tiefgreifenden Umgestaltung der noch zu erfüllenden Verpflichtungen läßt sich jedoch ohne Rückgriff auf den Zumutbarkeitsbegriff kaum klären. 278 Darüber hinaus werden die Grundsätze der Billigkeit und Gerechtigkeit herangezogen, um im Völkerrecht die Anwendung der clausula einzugrenzen und einen einseitigen Rechtsmißbrauch zu vermeiden. 279 Es müsse zu einer nicht nur quantitativen, sondern qualitativen Änderung der vertraglichen Verpflichtungen kommen, um die clausula anwenden zu können: "The change must have increased the burden of the obligations to be executed to the

276

Vgl. die Nachweise bei /?. Köbler, S. 221.

277

"Stundung kann nur verlangt werden, soweit sie dem Pflichtteilsberechtigten bei Abwägung der Interessen beider Teile zugemutet werden kann." (Hervorhebungen vom Verfasser). 278

Vgl. etwa H. Pott, S. 98, 100, 102; R. Köbler, S. 217f.

279

Vgl. W. Röhls, Die Voraussetzungen der Clausula Rebus Sic Stantibus im Völkerrecht,

S. 65f.

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

170

extent of rendering the performance something essentially different from that originally undertaken." 280 Für das deutsche Recht wurde es vom Bundesverfassungsgericht als unzumutbar angesehen, die Länder Bayern und Niedersachsen an der konsequenten Durchführung ihrer Gemeinde- oder Gerichtsreform zu hindern und sie an "antiquierten Sonderrechten" 281 festzuhalten. Zu einem anderen Ergebnis kam der Staatsgerichthof im Jahre 1925 bei der Anwendung der clausula rebus sie stantibus. Damals ging es um einen Vertrag zwischen Preußen und Bremen über einen Gebietstausch. Das von Bremen erworbene Gebiet sollte der Hafenerweiterung in Bremerhaven dienen; Preußen setzte in dem Vertrag durch, daß in dem an Bremen übertragenen Gebiet keine der Hochseefischerei dienenden Betriebe oder Einrichtungen angesiedelt werden dürfen. Um von dieser Begrenzung loszukommen, berief sich Bremen auf die clausula. Die bei Vertragsschluß erwartete Zunahme der Handelsschiffahrt war insbesondere nach dem Kriegsausgang 1918 ausgeblieben, weswegen Bremen Hochseefischerei betreiben wollte. Der Staatsgerichthof lehnte sowohl eine Aufhebung wie eine Anpassung des Vertrags ab, und zwar unter Berufung auf die preußischen Interessen am Vertrag. Preußen hatte seine Fischereihäfen in Geestemünde und Lehe schützen wollen, und dieses Ziel, so der Staatsgerichthof, dürfe nicht durch eine Anpassung des Vertrags in sein Gegenteil verkehrt werden. 282 Im Falle einer Anwendung des clausula-Tatbestands auf den Einigungsvertrag wäre zu bedenken, daß man dort wohl noch nicht von einem "antiquierten Sonderrecht" sprechen kann, wie es das Bundesverfassungsgericht im CoburgFall getan hat (s.o.). Zwar unterliegt die Anwendung der clausula keiner zeitlichen Grenze, doch wird die Wahrscheinlichkeit, daß eine "clausula-Situation" eintritt um so größer, je weiter man sich vom Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung entfernt. Daher ist zur Zeit bei einer Berufung auf die clausula äußerste Zurückhaltung geboten.

280 Fisheries Jurisdiction (United Kingdom v. Iceland), Jurisdiction of the Court, Judgment, I.C.J.-Reports 1973, p. 3ff. (21). 281

BVerfGE 34, 216ff. (235). Zu weiteren Einzelheiten des Falls siehe oben § 9 III 1. Der zweite Fall vor dem Bundesverfassungsgericht war sehr ähnlich gelagert: Dabei wehrte sich die Stadt Bad Pyrmont unter Berufung auf den Eingliederungsvertrag Waldeck-Pyrmonts mit Preußen gegen die Auflösung ihres Amtsgerichts; BVerfGE 42, 345ff. 282

RGZ 112, Anhang S. 21ff. (32).

§ 23 : Änderung bestandsfester Bestimmungen über die clausula

171

Schließlich ist mit Blick auf den Einigungsvertrag zu klären, ob eine grundlegende Umstandsänderung auch in dem Nichteintritt eines erwarteten Ereignisses bestehen kann. Dann könnte die clausula beispielsweise dann in Betracht kommen, wenn der oftmals angekündigte wirtschaftliche Aufschwung in den neuen Ländern noch lange auf sich warten läßt. Für das Völkerrecht wird dies unter Berufung auf den restriktiven Charakter von Art. 62 W V K abgelehnt. 283 Man wird jedoch sagen müssen, daß ein Festhalten am Vertrag für eine Partei zu einer genauso unzumutbaren Belastung werden kann, wenn sich eine erwartete Änderung der Umstände ausbleibt, wie wenn sich eine unerwartete Umstandsänderung einstellt. Insofern leuchtet der grundsätzliche Ausschluß dieser Fallgruppe zumindest bei Binnenstaats Verträgen nicht ein. Andererseits wird in solchen Konstellationen meist schon ein Wegfall der Geschäftsgrundlage vorliegen 284 , so daß es auf die Anwendung der clausula nicht mehr ankommt.

I I I . Die Rechtsfolgen der clausula rebus sie stantibus

Die klassische Rechtsfolge der clausula ist die Aufhebung des Vertrages. Davon geht die Wiener Vertragsrechtskonvention aus, wenn sie grundsätzlich von der Beendigung des Vertrags oder der Möglichkeit des Rücktritts als Ergebnis einer berechtigten Berufung auf die clausula ausgeht. Erst in Art. 62 Abs. 3 W V K wird als zusätzliche Alternative die Suspendierung genannt. Ob darüber hinaus eine Anpassung des Vertrags als mögliche Rechtsfolge in Betracht kommt, ist in der völkerrechtlichen Literatur umstritten. Für das deutsche Staatsvertragsrecht gelten nach der Coburg-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts andere Regeln: Eine Aufhebung aller vertraglichen Verpflichtungen als Folge einer Anwendung der clausula wird ausdrücklich abgelehnt: "Die clausula entbindet nicht ohne weiteres von der unzumutbar gewordenen vertraglichen Verpflichtung oder gar von der Bindung an den

283 284

H. Pott, S. 83.

Notwendigerweise haben sich in einem solchen Fall die Vertragsparteien konkrete Vorstellungen über die erwartete Änderung der Umstände gemacht, was nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Voraussetzung für die Anwendung dieses Rechtsinstituts ist.

172

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

Vertrag im Ganzen." 285 Vielmehr bildet nach dieser höchstrichterlichen Entscheidung die Anpassung der vertraglich eingegangenen Pflichten an die veränderten äußeren Umstände die primäre Rechtsfolge. Gleichzeitig statuiert das Gericht eine Pflicht zu ernsthaften Verhandlungen der Parteien über eine mögliche Anpassung. 286 Das läßt sich mit einem Rückgriff auf die rechtliche Basis der clausula, den Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens, gut begründen. Ziel dieser Verhandlungen soll zunächst eine angemessene Milderung der vertraglich übernommenen Verpflichtungen sein. Erst wenn eine Milderung ausscheidet, soll die Möglichkeit eines Ausgleichs in Geld geprüft werden, um das vertragliche Gleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung aufrecht zu erhalten. 287 Danach stellt sich dieser Geldanspruch, der seiner Rechtsnatur nach weder Schadensersatz noch Entschädigung ist 2 8 8 , als eine Art modifizierter Erfüllungsanspruch dar, der an die Stelle der ursprünglichen, infolge der Veränderung der Umstände unzumutbar gewordenen Leistungsverpflichtung tritt. Über einen Geldersatz anstelle der Vertragserfüllung sollen ebenfalls Verhandlungen zwischen den Parteien stattfinden. Scheitern diese oder verhält sich eine Partei von Anfang an nicht als verhandlungsbereit, so sah sich das Bundesverfassungsgericht unter Berufung auf § 72 Abs. 1 Nr. 3 BVerfGG als befugt an, einen Geldausgleich nach eigenem Ermessen zu bestimmen. Das Gericht sprach - sogar ohne entsprechenden Parteiantrag - der eingekreisten Stadt Neustadt bei Coburg 6 Millionen Mark und der Stadt Bad Pyrmont für den Verlust des Amtsgerichts 1 Million Mark als Trostpflaster zu.

285

BVerfGE 34,216ff. (232).

286

BVerfGE 42, 345ff. (362).

287

BVerfGE 34, 216ff. (233).

288

BVerfGE 34, 216ff. (237).

§ 24: Das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzprinzip

173

§ 24: Bindung des Gesetzgebers auch ohne Vertrag? Das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzprinzip Die vorliegende Arbeit untersucht die Bestandskraft des Einigungsvertrags am Schnittpunkt von völkerrechtlichem Vertrag und nationalem Gesetz. Bisher wurde ausschließlich auf die aus den vertragsrechtlichen Elementen folgenden Einschränkungen der Dispositionsbefugnis der Legislative hingewiesen. Auf Grund seiner Schlußbestimmung ist der Einigungsvertrag aber gleichzeitig nationales Gesetz geworden. Er steht mit Ausnahme seines Art. 4 unter dem Verfassungsrecht. Die Schranken, die das Grundgesetz dem einfachen Gesetzgeber setzt, sind vielfältiger Natur. Als selbstverständlich kann gelten, daß das neue Recht formell und materiell verfassungsgemäß sein muß. Hier steht das neue Recht für sich auf dem Prüfstand des Grundgesetzes. Das alte Recht spielt nur eine untergeordnete Rolle insofern, als es fortbesteht, sollte sich die Änderung als verfassungswidrig erweisen. Ausnahmsweise kann sich eine Gesetzesnovelle gerade wegen des alten Rechts, in diesem Fall also wegen des paktierten Rechts, als verfassungswidrig erweisen: Diese Situation liegt vor, wenn das alte Recht einen Vertrauenstatbestand schuf, den der Gesetzgeber bei einer Novellierung zu berücksichtigen hatte. Die Regeln der Rückwirkung gelten auch für den Einigungsvertrag. Dagegen könnte allenfalls sprechen, daß völkerrechtliche Verträge eigentlich eine alleinige Angelegenheit der Vertragsparteien sind. Änderungen werden inter partes ausgehandelt, so daß grundsätzlich die besondere Schutzwürdigkeit einer Seite, die dem Rückwirkungsverbot zugrundeliegt, nicht gegeben sein kann. Dieser Normalfall wäre dann gegeben, wenn der Einigungsvertrag ausschließlich vertragsrechtlicher Natur wäre. Die Abweichung von der vertragsrechtlichen Normalität beginnt jedoch bereits in dem Moment, in dem einer der Vertragspartner untergeht. Ein weiterer Beleg für die grundsätzliche Geltung der Rückwirkungsregeln ergibt sich aus Art. 45 Abs. 2: Auch wenn diese Vorschrift nicht überinterpretiert werden darf, so besagt sie doch, daß der Einigungsvertrag in Teilen rein einfachgesetzlicher Natur ist. Eine Änderung des Vertrags ist damit, wenn überhaupt, nur noch durch ein einfaches Bundesgesetz möglich. Daß dieses Gesetz an das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot gebunden ist, bedarf keiner näheren Begründung.

174

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

Der verfassungsrechtliche Aspekt einer Bindung des Gesetzgebers durch das Rückwirkungsverbot soll im folgenden genauer untersucht werden. Es geht mithin um die Frage, ob durch den Einigungsvertrag Vertrauenspositionen geschaffen wurden, die der gesamtdeutsche Gesetzgeber bei künftigen Änderungen zu beachten hat. Da ein detailliertes Eingehen auf alle Ansichten zur Rückwirkungsproblematik den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, soll im wesentlichen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

zugrunde

gelegt werden. Diese wird zunächst kurz referiert; danach soll ihre Anwendbarkeit auf einige Punkte des Einigungsvertrags besprochen werden.

I. Die Rückwirkung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht vertritt in seiner neueren Rechtsprechung zur Rückwirkung keine einheitliche Linie. Während der Erste Senat an der traditionellen Auffassung festhält 289 , hat der Zweite vor kurzem eine Wende vollzogen und versucht, neue Grundsätze auf diesem Gebiet aufzustellen. Einigkeit herrscht dahingehend, daß zwei unterschiedliche Formen der Rückwirkung zu trennen sind. In einer Grundsatz-Entscheidung, der der Erste Senat bis heute folgt, hat das Bundesverfassungsgericht 1960 entschieden, eine echte Rückwirkung liege "nur vor, wenn das Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift." Davon zu unterscheiden sei die unechte Rückwirkung, welche anzunehmen ist, wenn ein Gesetz "nur auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt." 2 9 0 Gemeinsame Voraussetzung ist also die Annahme einer Rechtsänderung; unterschieden werden die beiden Fallgruppen danach, ob es sich um abgewickelte oder nicht abgeschlossene Tatbestände handelt. Diese Rechtsprechung ist in der Literatur vielfach auf Kritik gestoßen, ohne

289

Diese ist ausführlich dargestellt bei B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 25ff.

290

BVerfGE 11, 139ff. (145f.).

§ 24: Das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzprinzip

175

daß es allerdings gelang, überzeugende Gegenmodelle zu entwerfen. 291 Das Gericht entwickelte seinen Ansatz fort und kam zu einem Regel-AusnahmeVerhältnis, wonach die echte Rückwirkung grundsätzlich unzulässig, die unechte grundsätzlich zulässig sei. Daneben bildeten sich Typisierungen zur Abgrenzung von echter und unechter Rückwirkung heraus. 292 Die Unzulässigkeit der echten Rückwirkung leitete das Bundesverfassungsgericht aus dem Rechtsstaatsprinzip ab, welches als wesentliches Element die Rechtssicherheit enthalte, was wiederum für den Bürger Vertrauensschutz bedeute. Das dem geltenden Recht entsprechende Handeln müsse von der Rechtsordnung mit allen ursprünglich damit verbundenen Rechtsfolgen anerkannt bleiben. Die grundsätzliche Verfassungswidrigkeit der echten Rückwirkung kennt Ausnahmen, wenn das Vertrauen des einzelnen nicht schutzwürdig ist oder die Individualinteressen zurückstehen müssen. Das Bundesverfassungsgericht bildete in ständiger Rechtsprechung einen Ausnahmekatalog, wonach die Rückwirkung ausnahmsweise zulässig sei, wenn -der Bürger mit der Neuregelung rechnen mußte, -die bisherige Rechtslage unklar und verworren war, -die bisherige Regelung ungültig war, -zwingende Gründe des Allgemeinwohls die Rückwirkung rechtfertigen oder -durch die Rückwirkung keine oder nur geringe Nachteile für den Bürger entstehen.293 Von größerer praktischer Relevanz ist dagegen die unechte Rückwirkung. Das überrascht nicht, da angesichts der Regelungsdichte viele neue Gesetze auf Sachverhalte und Rechtsbeziehungen treffen, die bereits in der Vergangenheit entstanden sind, aber noch fortbestehen. 294 Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung hat der Gesetzgeber hier ebenfalls den Grundsatz des Vertrauensschutzes zu beachten. Dieser wird wie bei der echten Rückwirkung aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet, allerdings werden vielfach die Grundrechte

291

Bemängelt wurde insbesondere die Untauglichkeit einer Unterscheidung nach echter und unechter Rückwirkung; vgl. B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 79ff., 381; vgl. auch H. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, HdbStR III, § 60, S. 21 Iff. (Randnr. 13) m.w.N. 292 vgl β. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 380. 293

Vgl. BVerfGE 13, 261ff. (272); 18, 429ff. (439); 30, 367ff. (387ff.); 72, 200ff. (258ff.).

294

H. Maurer, Randnr. 42.

176

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

als spezielle Ausprägungen des Rechtsstaatsgedankens zur Prüfung herangezogen. Insbesondere gilt dies für die Artt. 12, 14, 2 Abs. 1 GG (als Auffanggrundrecht) und das grundrechtsgleiche Recht in Art. 33 Abs. 5 G G 2 9 5 . Soweit der Schutzbereich eines Grundrechts nicht betroffen ist, greift das Bundesverfassungsgericht auf das Rechtsstaatsprinzip als Wurzel des Vertrauensschutzgedankens zurück. 296 Es nimmt dann eine Abwägung zwischen "dem Ausmaß des Vertrauensschadens des einzelnen und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit" 297 vor. Somit kommt es im Einzelfall darauf an, wie schutzwürdig das Vertrauen des Individuums ist und wie sehr das Allgemeinwohl eine rasche Einführung der Gesetzesnovelle verlangt. Damit beiden Seiten möglichst weitgehend Rechnung getragen wird, wird die Lösung häufig in einer Übergangsgesetzgebung gesucht, die das Vertrauen des Bürgers nicht enttäuscht und dennoch dem gesetzgeberischen Willen weitgehend zur Durchsetzung verhilft. 298 Wie bereits angedeutet, hat der Zweite Senat die soeben dargestellte Differenzierung nach echter und unechter Rückwirkung aufgegeben. Nach dessen neuer Rechtsprechung entfaltet eine Rechtsnorm nur dann Rückwirkung, "wenn der Beginn ihres zeitlichen Anwendungsbereichs normativ auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm rechtlich existent, d. h. gültig geworden ist." 2 9 9 Davon zu unterscheiden sei die "tatbestandliche Rückanknüpfung" in Fällen, bei denen eine Vorschrift künftige Rechtsfolgen von Tatsachen aus der Zeit vor ihrer Verkündung abhängig mache. Für ihre Beurteilung seien die Grundrechte maßgebend; dabei "fließen allerdings die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes, der Rechtsstaatlichkeit, aber auch der Verhältnismäßigkeit [...] ein." 3 0 0 Von einem einheitlichen Oberbegriff der Rückwirkung, wie ihn der Erste Senat vertritt, hat sich der Zweite ausdrücklich gelöst. 301

295

Dazu: B. Pieroth/B.

296

Vgl. H. Maurer, Randnr. 44ff.

297

BVerfGE 24, 220ff. (230f.); ähnlich in BVerfGE 30, 392ff. (404); 55, 185ff. (204).

298

Zum Übergangsrecht vgl. B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 7Iff.

299

BVerfGE 63, 343ff. (353).

300

BVerfGE 72, 200ff. (241ff.).

301

BVerfGE 72, 200ff. (243): Er vermag keinerlei verfassungsrechtliche Maßstäbe aufzuzei-

gen.

Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, Randnr. 1129f.

§ 24: Das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzprinzip

177

Die Rechtsprechung des Zweiten Senats erfährt durch die Literatur differenzierende Stellungnahmen. Gewürdigt wird die größere Klarheit, die hinsichtlich der (echten) Rückwirkung eingetreten sei. Entschieden sei jetzt, daß es auf eine Einwirkung auf die in der Vergangenheit entstandenen Rechtsfolgen ankomme. 302 Insgesamt kommt die herrschende Lehre jedoch zu dem Ergebnis, daß die neuere Rechtsprechung des Zweiten Senats kaum weniger Fragen aufwerfe als die traditionelle Formel. Zudem seien in der Sache kaum andere Ergebnisse festzustellen. 303 Der Streit um die Rückwirkung ist also noch nicht ausgestanden und soll hier nicht weiter verfolgt werden. Statt dessen ist nach der Bedeutung des Rückwirkungsverbots für den Einigungsvertrag zu fragen. Sollte sich eine gesetzliche Änderung des Vertragsrechts aus diesem Grund als unzulässig erweisen, so ergäbe sich eine Situation, bei der der Gesetzgeber in einer ähnlichen Weise an den Vertrag gebunden wäre, wie er es - zum Teil - infolge des Satzes "pacta sunt servanda" ist. Somit überschneiden sich die Kreise des Vertragsund des Verfassungsrechts auch bei der Frage einer Bindung des Gesetzgebers. Dennoch bestehen gewichtige Unterschiede. Eine Änderung des bestandskräftigen vertraglichen Teils des Einigungsvertrags wäre ein Bruch des Kontrakts und damit letztlich eine Angelegenheit der Vertragspartner. Die Rechte der DDR hat der Vertrag in Art. 44 den neuen Ländern übertragen. Grundsätzlich können nur diese die Beachtung des Vertrages einklagen, so daß die prozessuale Geltendmachung der Rechte auch zu einer politischen Entscheidung wird, die die Landesregierungen zu treffen haben. 304 Bei der Rückwirkung wird insbesondere durch die Betonung der Grundrechte als Maßstab für den praktisch häufigsten Fall der unechten Rückwirkung 305 deutlich, daß es hier um eine Bindung des einfachen Gesetzgebers durch Verfassungsrecht geht, so daß jeder, der die prozeßrechtlichen Voraussetzungen erfüllt, im Ergebnis eine Änderung des Vertrags verhindern kann.

302 Früher wurde zum Teil auf die Lebenssachverhalte abgehoben; vgl. B. Pieroth, Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundsatz des Vertrauensschutzes, JZ 1990, S. 279ff. (280), ders., Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 32f. 303

H. Maurer, Randnr. 15; B. Pieroth, Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundsatz des Vertrauensschutzes, S. 280f. A.A. K. Vogel, Rechtssicherheit und Rückwirkung zwischen Vernunftrecht und Verfassungsrecht, JZ 1988, S. 833ff. (837): Vogel spricht von einer dramatischen Wendung. 304

Siehe oben § 15 II.

305 oder, in der Terminologie des 2. Senats, der tatbestandlichen Rückanknüpfung. 12 Höch

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Andererseits ist der soeben angedeutete Extremfall - aus Gründen des Vertrauensschutzes ist schlechterdings jede Änderung verfassungswidrig - kaum denkbar. Entscheidend ist der Inhalt der Novelle, wobei der Gesetzgeber etwa durch eine großzügige Übergangsregelung das Verdikt der Verfassungswidrigkeit vermeiden kann. Insoweit besteht ein Unterschied zur vertraglichen Bindung. Dort ist völlig unabhängig vom Inhalt der Novelle eine einseitige Veränderung gegen den Willen der anderen Seite ein unzulässiger Vertragsbruch. Einseitige Veränderungen scheiden in jedem Fall aus. 306 Da gleichzeitig ein Änderungsvertrag nach dem Untergang der DDR ebenfalls nicht möglich ist, geht die Lösung des Problems in der Praxis dahin, ein Bundesgesetz zu erlassen, nachdem die neuen Länder signalisiert haben, ihre Rechte nicht nach Art. 44 geltend zu machen. 307 Obwohl am Ende der Berufung auf 'pacta sunt servanda' oder das Rückwirkungsverbot als gemeinsames Ergebnis der Bestand des alten Rechts stehen kann, zeigt sich anhand der dargestellten Unterschiede der grundsätzlich andere Ansatz, der zur Aufrechterhaltung des vertraglich Vereinbarten führt. Daß beide Ansätze nebeneinander bestehen können, hat seine Ursache in den unterschiedlichen Rechtsnaturen, die der Einigungsvertrag als Vertrag und Gesetz in sich vereinigt.

II. Die Anwendung des Vertrauensschutzprinzips auf den Einigungsvertrag

Bei Änderungen des Einigungsvertrags muß wie bei jeder Gesetzesänderung ein berechtigtes Interesse des Bürgers am Bestand der vertraglichen Normen in Relation gesetzt werden zum Interesse der Allgemeinheit an der Durchsetzung notwendiger Änderungen. Im folgenden können nur einige im Zusammenhang mit dem Einigungs vertrag häufig auftauchende Gesichtspunkte erörtert werden; da Hypothesen über die Entstehung künftiger Problemfelder nicht möglich sind, kann die Rückwirkungsproblematik nicht bezüglich jeder einzelnen Vertragsklausel abschließend behandelt werden. 306 Etwas anderes gilt nur, falls der Tatbestand der clausula erfüllt ist (s.o.). 307

Vgl. BT-Drucks. 12/2480, S. 38.

§ 24: Das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzprinzip

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Wie bei der Untersuchung der vertraglichen Β indungsWirkung stellt sich bei der Erörterung des Rückwirkungsverbots das Problem, daß der Einigungsvertrag eine Vielzahl unterschiedlicher Vorschriftentypen enthält. Nicht alle betreffen den Bürger in gleichem Maße. Zahlreiche Übergangsvorschriften dienen allein dem Aufbau der Verwaltung in den neuen Ländern oder der Arbeitsfähigkeit der Behörden bis zum Erlaß der erforderlichen Landesgesetze. Ein Rückwirkungsverbot gegenüber dem Bürger kommt bei derartigen Bestimmungen regelmäßig nicht in Betracht: Wie gezeigt, wird die Unzulässigkeit der Rückwirkung aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem damit verbundenen Vertrauensschutzgedanken abgeleitet. Damit sind Änderungen solcher Gesetze stets möglich, soweit deren Inhalt nicht zur Grundlage von Entscheidungen und Dispositionen der Bürger werden kann. 308 Da der Bürger gegenüber den reinen Organisationsnormen regelmäßig kein Vertrauen investiert, ist die Legislative in ihren Entscheidungen frei. Etwas anderes kann nur gelten, soweit man auch das Vertrauen staatlicher Einrichtungen in den Bestand sie betreffender Gesetze für schutzwürdig hält. Zum Teil wird dies angenommen, da der Vertrauensschutz nicht nur ein Problem des grundrechtlichen Individualrechtsschutzes sei, sondern ein Strukturproblem des ganzen Systems. Ein Dispositionsschutzinteresse der öffentlichen Gewalt läßt sich danach aus dem Gedanken der Rechtssicherheit ableiten. 309 Auch nach dieser Ansicht muß jedoch bei der erforderlichen Interessenabwägung von den Trägern öffentlicher Gewalt eher als vom Bürger ein Zurückstehen erwartet werden, da die öffentliche Hand auf "die Spielregeln des Systems eingeschworen" 310 ist. Die herrschende Meinung lehnt einen Vertrauensschutz für staatliche Einrichtungen mit überzeugenden Argumenten prinzipiell ab. Der Grundgedanke des Vertrauensschutzes als eine Einrichtung für den Staatsbürger gegenüber

308

Zutreffend R. Herzog in M/D, Art. 20/Randnr. VII, 66.

309

So G. Kisker, Vertrauensschutz im Verwaltungsrecht, VVDStRL 32, S. 149ff. (168, 170); Kisker beruft sich beispielhaft auf die Überlastung der Finanzämter infolge massenhafter Einsprüche gegen vermeintlich verfassungswidrige Steuerbescheide. Hier könne ein Vertrauensschutz der öffentlichen Hand in den Bestand der Steuergesetze Abhilfe schaffen. Allerdings räumt Kisker ein, daß das Gewähren eines Dispositionsschutzes letztlich die unerwünschte Folge haben könne, "daß derjenige, der die Steuergesetze macht, von vornherein weiß, daß auch verfassungswidrige Steuergesetze Geld bringen" (S. 170). 310

12=

G. Kisker, S. 170.

4. Teil: Bindung an einzelne Normen des EV

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dem ihm überlegenen Staat spreche dagegen.311 Wegen dieses Einwands kommt ein Vertrauensschutz für die öffentliche Gewalt nicht in Betracht. Eine weitere Grenze für ein mögliches Rückwirkungsverbot wurde bereits angedeutet. Der Gesetzgeber wird in seiner Dispositionsfreiheit nur gehindert, falls ein einzelner tatsächlich Entscheidungen im Vertrauen auf den Bestand der alten Rechtslage gefällt hat. Die bloße Möglichkeit der Enttäuschung schutzwürdigen Vertrauens reicht nicht aus; in diesen Fällen hat die Durchsetzung des Willens des demokratisch legitimierten Gesetzgebers Vorrang. Zusätzlich hat die Disposition des Bürgers von einer gewissen Erheblichkeit zu sein, da andernfalls der Βagatellvorbehält eingreift, der als Ausnahme von der grundsätzlichen Unzulässigkeit eines Gesetzes mit (echter) Rückwirkung anerkannt ist (s.o.). Neben diesen allgemeinen Erörterungen des Vertrauensschutzgedankens sollen im folgenden einzelne konkrete Aspekte, die für den Einigungsver-trag von besonderer Bedeutung sind, angesprochen werden: Es geht zunächst darum, daß der Vertrag eine Änderung der in ihm enthaltenen Regelungen zum Teil ankündigt oder doch erwarten läßt. Dies gilt insbesondere in Fällen, in denen dem gesamtdeutschen Gesetzgeber ausdrücklich die Kompetenz zur Änderung bestimmter Vorschriften gegeben wird. 3 1 2 Primäre Bedeutung dieser Bestimmungen war es, vertragliche Bindungen an den Inhalt der Übergangsbestimmungen auszuschließen; gleichzeitig wirken sie allerdings vertrauenshemmend. Wenn die Änderbarkeit einer Regelung ausdrücklich normiert wird, muß der Bürger meist mit einer Änderung rechnen. Damit liegt einer der Ausnahmetatbestände vor, die sogar ein Gesetz mit echter Rückwirkung zu legitimieren vermögen. Ein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand dieser vertraglichen Sondervorschriften liegt somit nicht vor. Eine weitere Spezialität des Einigungsvertrags ist die hohe Zahl der befristeten Vorschriften. Das bereits vorweg angekündigte Auslaufen eines Gesetzes findet sich meist bei Bestimmungen, die den besonderen Anpassungsschwierigkeiten des Beitrittsgebiets an die bundesdeutsche Rechtsordnung begegnen

311

BVerwGE 23, 25ff. (30); so auch BVerwGE 27, 215ff. (217f.); 60, 208ff. (211). Ebenso H. Maurer, Randnr. 7, Fußnote 18. 312

Vgl. etwa Artt. 232 § 4 Abs. 1 Satz 2, 233 §§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 2, 5 Abs. 2 EGBGB.

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sollen. Die Befristungen des Vertrags haben unterschiedliche Dauer; einzelne Regelungen sind bereits verlängert worden. 313 Unstreitig dürfte bei diesen Normen sein, daß es ein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand der Übergangsvorschriften nach Ablauf der zwischen den Vertragsparteien vereinbarten oder vom gesamtdeutschen Gesetzgeber verlängerten 314 Frist nicht geben kann. Somit wirkt die Befristung für die "Zeit danach" vertrauenshemmend. Problematisch ist allerdings, ob die Frist während ihres Laufs in besonderem Maße vertrauensbildenden Charakter hat. Diese Fragestellung ist in zwei bekannten höchstrichterlichen Entscheidungen behandelt worden - mit unterschiedlichen Ergebnissen. Im ersten Fall klagten Unternehmer gegen das Deutsche Reich, nachdem das Parlament auf zehn Jahre befristete Einfuhrerleichterungen für Gefrierfleisch bereits nach zwei Jahren zurückgenommen hatte. Zahlreiche Investitionen wie der Bau von Kühlhäusern in den Seehäfen hatten sich nach der kurzfristigen Rücknahme als unrentabel erwiesen; der Streitwert bei diesem Prozeß betrug 53 Millionen Reichsmark. Das Reichsgericht sprach den investierenden Unternehmern das alleinige Risiko in bezug auf eine Änderung der Gesetzgebung zu. Zudem sei der Gesetzgeber "selbstherrlich und an keine anderen Schranken gebunden als diejenigen, die er sich selbst in der Verfassung oder in anderen Gesetzen gezogen hat. Bloß um einer Befristung des Gesetzes willen eine solche Schranke anzunehmen, [...] verbietet sich." 3 1 5 Dagegen vertrat das Bundesverfassungsgericht in der Berlinhilfe-Entscheidung, daß durch die Befristung in § 15 Abs. 2 B H G 3 1 6 ein besonderer Vertrauenstatbestand geschaffen worden sei. 3 1 7 Das Vertrauen des Bürgers in den Bestand einer solchen Gesetzeslage sei nicht geringer als in den Fällen der un-

313

S.o. bei § 13.

314

Hier zeigt sich erneut der grundlegende Unterschied zwischen einer vertraglichen Bindung des Gesetzgebers und einer Beschränkung über das Rückwirkungsverbot: Die vertragliche Bindung endet mit Ablauf der ursprünglich im Text des Einigungsvertrags vereinbarten Frist; einfachgesetzliche Verlängerungen dieser Fristen können indessen noch zu einer aus der Verfassung folgenden Beschränkung der Legislative führen. 315

RGZ 139, 177ff. (189).

316

Nach dem Berlin-Ultimatum durch die Sowjetunion von 1958 hatte die Bundesregierung im Berlinhilfegesetz eine auf fünf Jahre (bis zum 31. Dez. 1964) befristete Umsatzsteuerbefreiung erlassen. 317

BVerfGE 30, 392ff. (392, 404). Auch der Gefrierfleischfall würde heute wohl anders entschieden.

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echten Rückwirkung von Gesetzen. Somit kam das Gericht zu einer Abwägung zwischen den Individual- und den Gemeinschaftsinteressen; es gab allerdings im konkreten Fall dem Anliegen des Gesetzgebers bezüglich einer raschen Durchsetzung des parlamentarischen Willens den Vorrang. Die Entscheidung fand in der Wissenschaft ein geteiltes Echo: Während zum Teil die Anwendung der Rückwirkungsgrundsätze ganz abgelehnt wurde 3 1 8 , stimmten andere dem Ansatz des Gerichts zu und rügten nur, es habe nicht die richtigen Konsequenzen gezogen. Die besondere Bestandsschutzintensität der Zusage sei nicht hinreichend beachtet worden. 319 Abstrahiert man vom vorliegenden Fall, wird als streitentscheidend die Frage deutlich, ob aus der Befristung eine Zusage, daß ein Gesetz höchstens, aber auch mindestens bis zum Stichtag gilt, abgeleitet werden kann. Das Problem läßt sich nur durch eine Auslegung im Einzelfall lösen, was wiederum eine Berücksichtigung der Ziele des Gesetzes erfordert. Bezweckt ein Gesetz beispielsweise, private Investitionen zu fördern, so muß es sich der Gesetzgeber gefallen lassen, daß eine Befristung von den Beteiligten als Vorgabe für eine unternehmerische Kalkulation verstanden wird. Wenn dann Vertrauen betätigt wird, ist es grundsätzlich als schützenswert anzuerkennen. Andererseits zeigt ein fiktives Gegenbeispiel, daß nicht jedes vorzeitige Aussetzen einer befristeten Bestimmung automatisch gegen das Rückwirkungsverbot verstößt: Falls etwa der Gesetzgeber die befristete Kronzeugenregelung vor Fristablauf abschaffen würde, wird sich ein Straftäter kaum mit der Auffassung durchsetzen können, er habe darauf vertrauen dürfen, diese Vergünstigung auch noch im nächsten Jahr in Anspruch nehmen zu können. Er hat bei Geltung des Gesetzes kein Vertrauen investiert und keine Dispositionen getroffen, die schutzwürdig wären. Wegen der Vielzahl der befristeten Bestimmungen im Einigungsvertrag ist eine differenzierende Auffassung geboten. Entscheidend ist, ob die einzelne Norm den Zweck verfolgt, dem Bürger als Grundlage für Dispositionen zu dienen. In diesen Fällen dürfte die Auslegung eine Zusage ergeben, deren Rücknahme insbesondere dann unzulässig ist, wenn der einzelne im Vertrauen auf

318 v g i etwa 5. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 353, Fußnote 251 m.w.N. 319 G. Kisker, S. 164; Ähnlich auch H. Maurer, Randnr. 59, der die Grundsätze der echten Rückwirkung heranziehen will. Dafür, daß eine Befristung regelmäßig eine Zusage des Bestands der Vorschrift bis zum Ablauf der Frist enthalte, vgl. P. Selmer, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 32, S. 261.

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den Bestand des Gesetzes zukunftsbezogene Entscheidungen getroffen hat. 3 2 0 Dabei sind allerdings stets die Bedenken gegen eine Überstrapazierung der Rechtsprechung vom Rlickwirkungsverbot zu beachten. Es geht hierbei um die gleichen negativen Folgen einer Bindung des Gesetzgebers wie sie bei der Bestandskraft einzelner Normen infolge des vertraglichen Elements angesprochen worden sind. Eine Ausweitung des Vertrauensschutzes kann zu einer Behinderung der legislativen Tätigkeit führen, während gleichzeitig wegen des Tempos der wirtschaftlichen, industriellen, bevölkerungspolitischen und zivilisatorischen Entwicklung permanentes gesetzgeberisches Handeln erforderlich wird; zudem besteht die Gefahr eines politischen Immobilismus. 321 Eine abschließende Stellungnahme zum Problem des Vertrauensschutzes beim Einigungsvertrag ist nicht möglich. Es können hier nur ungefähre Tendenzen aufgezeigt werden; ein genaues Ergebnis kann jeweils nur im Einzelfall durch Auslegung ermittelt werden. Wesentlich dafür ist, welche Ziele der Gesetzgeber durch die Fristsetzung verfolgt hat. Wollte er durch zeitweilige Vergünstigungen zu einem gewünschten Verhalten anregen, so wird man ein grundsätzlich schutzwürdiges Vertrauen des Bürgers in den Bestand dieser Norm bis zum Fristablauf nicht leugnen können. Gleiches gilt, wenn die Frist dazu diente, Anpassungsschwierigkeiten für den einzelnen zu vermeiden. Bei den Übergangsregelungen ohne Bürgerbezug kommt eine Beschränkung des Gesetzgebers ohnehin nicht in Betracht (s.o.). Daneben gilt wiederum der Bagatellvorbehalt; betrifft eine Änderung den Bürger nur in sehr geringem Maße, ist sie auch mit echter Rückwirkung zulässig.

320 So auch W. Leisner, Das Gesetzesvertrauen des Bürgers, FS Friedrich (296); B. Weber-Dürler, Vertrauensschutz im öffentlichen Recht, S. 276f. 321

Berber, S. 273ff.

F. Ossenbühl, Vertrauensschutz im sozialen Rechtsstaat, DöV 1972, S. 25ff. (31f.).

Fünfter Teil

Zusammenfassung und Schluß Ziel dieser Arbeit war es, die Rechtsnatur des Einigungs Vertrags nach dem Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik näher zu bestimmen. Als unmittelbare Folge daraus ergab sich die Frage, ob und inwieweit der gesamtdeutsche Gesetzgeber an die vertraglichen Vereinbarungen gebunden ist. Zur Ermittlung des rechtlichen Ausgangspunkts war zunächst zu klären, zu welchem Vertragstyp der Einigungsvertrag vor dem Beitritt gehörte, um daran anschließend die Veränderungen zum 3. Oktober 1990 untersuchen zu können. Der Vertrag war in der kurzen Zeit zwischen Ratifizierung und Beitritt ein Vertrag sui generis. Er unterscheidet sich insofern von früheren deutsch-deutschen Verträgen, als über den Charakter des Einigungsvertrags als Vertrag eigener Art zwischen den Parteien Konsens herrschte, während beim Grundlagenvertrag ausdrücklich die divergierenden Auffassungen beider Seiten in der Präambel angesprochen werden mußten, um den Abschluß des Vertrags nicht an diesem Punkt scheitern zu lassen. Dies hatte zur Folge, daß der Grundlagenvertrag objektivrechtlich betrachtet völkerrechtlicher Natur war: Die Vermutung, daß Verträge zweier Staaten, die sich auf die UNO-Charta berufen, stets völkerrechtlicher Art sind, konnte nicht widerlegt werden, da eine Einigung auf einen anderen Rechtscharakter nicht erfolgte. Allerdings konnte die Bundesrepublik unter Berufung auf die Dissensklausel in der Präambel subjektiv etwas anderes vertreten, ohne sich vertragsbrüchig zu machen. Bereits im Vorfeld des Einigungsvertrags hatte die Regierung unter Lothar de Maizière die deutschlandrechtlichen Positionen der DDR radikal verändert. Sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR gingen nicht nur politisch, sondern auch rechtlich vom Bestehen staatsrechtlicher und völkerrechtlicher Strukturen in ihrem Verhältnis zueinander und damit auch von einer besonderen Rechtsnatur des Einigungs Vertrags aus. Ohne die Anerkennung staatsrechtlicher Elemente hätte ein Vertrag, der auf einen Beitritt nach Art. 23 GG a.F.

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ausgelegt war, nicht geschlossen werden können. Das bedeutet jedoch nicht, daß der Vertrag vor dem 3. Oktober 1990 einer anderen Rechtsordnung als der des Völkerrechts unterstanden hätte. Daß der Einigungsvertrag nicht zur Rechtsordnung der Bundesrepublik gehörte, ergibt sich im Gegenschluß aus Art. 45 Abs. 2; da es keinerlei Hinweise auf eine dritte Möglichkeit gibt, bleibt es beim Völkerrecht als rechtlichem Dach für den Einigungsvertrag. Gerade der auch-völkerrechtliche Charakter des Einigungsvertrags hatte zur Folge, daß Zweifel entstanden, ob der Vertrag nach dem Beitritt überhaupt noch geltendes Recht darstellte. Dies war entsprechend der Regel, daß Verträge untergehender Staaten ihre rechtliche Existenz einbüßen, fraglich geworden. Nach dem Untergang der DDR hatte der Vertrag unstreitig jeden völkerrechtlichen Charakter abgestreift. Da die Parteien in Art. 45 Abs. 2 die Fortgeltung des Vertrags als Bundesrecht angeordnet haben, greift die Regel vom Erlöschen der Verträge für den Einigungsvertrag nicht ein. Als Zwischenergebnis ergab sich, daß der Vertrag über den Beitritt hinaus fortgilt, jedoch nicht als völkerrechtlicher Vertrag, sondern als Teil des Bundesrechts. Als Teil des geltenden Rechts ist der Vertrag zweifellos von Exekutive und Judikative zu beachten. Zu untersuchen war, ob darüber hinaus eine Bindung der Legislative eingetreten ist. Abzulehnen waren die Möglichkeiten einer Bindung des Gesetzgebers über das Völkerrecht, über den Grundsatz vom Vorrang der Verfassung und über Art. 25 GG in Verbindung mit der allgemeinen Regel des Völkerrechts "pacta sunt servanda". Daneben kam nur noch eine Bindung als Rechtsfolge eines fortbestehenden vertraglichen Elements in Betracht. Im rechtshistorischen Teil der Arbeit wurde gezeigt, daß eine Bindung des Gesetzgebers an einen Eingliederungsvertrag keine singuläre Erscheinung ist. Die Bindungen in früheren Eingliederungsverträgen beruhten auf unterschiedlichen Rechtsgründen, weswegen nicht immer direkte Schlußfolgerungen auf die Situation des Einigungsvertrags möglich waren. Dies gilt beispielsweise für die Verträge mit Frankreich 1956 in bezug auf das Saarland oder den HelgolandSansibar-Vertrag mit Großbritannien von 1890. Da in diesen Fällen nicht das einzugliedernde Gebiet selbst Vertragspartner wurde, sondern ein als Völkerrechtssubjekt fortbestehender dritter Staat, behielten die Verträge ihre völkerrechtliche Rechtsnatur und waren auf dieser Ebene für Deutschland verpflichtend. Anders, und damit vergleichbar mit 1990, war die Ausgangsposition bei den sogenannten Novemberverträgen von 1870, die zur Gründung des Deutschen

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5. Teil: Zusammenfassung und Schluß

Reichs führten. Die süddeutschen Staaten gingen im Reich auf. Die in den Verträgen vereinbarten Reservatrechte wurden in der Staatspraxis anerkannt, und zwar gerade wegen ihres Vertragscharakters. Insofern wurde hier eine deutsche Verfassungstradition begründet, die eine Bindung späterer Gesetzgebung an den Inhalt von Eingliederungsverträgen anerkennt. Diese Rechtsauffassung wurde unter dem Grundgesetz durch die CoburgRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt. Anders als bei völkerrechtlichen Verträgen nebst ihren Zustimmungsgesetzen wurde in diesem Fall die Geltung der lex-posterior-Regel abgelehnt. Daraus folgt, daß der Gesetzgeber grundsätzlich an den Inhalt eines Eingliederungsvertrags gebunden ist; etwas anderes gilt nur, wenn der Tatbestand der clausula rebus sie stantibus erfüllt ist. Begründen läßt sich dies sowohl mit einer genauen Unterscheidung von völkerrechtlichen und Staatsverträgen, als auch mit dem besonderen Charakter der Eingliederungsverträge. In jedem Fall gilt für den Einigungsvertrag auf Grund seines Zustandekommens im Vertragswege nicht uneingeschränkt die Regel vom Vorrang des späteren Gesetzes. Art. 45 Abs. 2 verfolgt zwar das Ziel, eine zu weitgehende Beschränkung des gesamtdeutschen Gesetzgebers zu vermeiden; gleichzeitig waren sich die Vertragspartner einig, daß bestimmte Bereiche des Einigungsvertrags mit Bestandskraft gegenüber einem abweichenden Gesetz ausgestattet sein sollten. Erforderlich wurde somit eine genaue Untersuchung der einzelnen Bestimmungen des Vertrags. Da die Frage der Bestandsfestigkeit bei den Verhandlungen zwar global angesprochen, aber nicht im Detail erörtert worden war, mußten zunächst Maßstäbe ermittelt werden, anhand derer die Bindung oder Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers in bezug auf die einzelne Norm festgestellt werden konnte. Ausgangspunkt der Überlegungen war, daß das Offenhalten des Problems in Art. 45 Abs. 2 einen angemessenen Interessenausgleich unter den Vertragspartnern ermöglichen sollte. Die DDR-Regierung sah sich als Anwalt ihrer Bürger, für die sie vor dem staatlichen Untergang und angesichts der schwierigen Umstrukturierungen in den neuen Ländern möglichst weitgehende Zusagen und Sicherheiten aushandeln wollte. Die Bundesregierung mußte darauf bedacht sein, eine zu weitgehende Einschränkung von Handlungsspielräumen für die Zukunft zu vermeiden. Damit kommt eine vertragliche Bestandskraft nur dann in Betracht, wenn es sich um eine Sonderregelung zugunsten des Beitrittsgebiets im Rahmen des Vereinigungsprozesses handelt; andernfalls fehlt es an einem legitimen Interesse der neuen Länder, als Rechts wahrer nach Art. 44 auf den Bestand der Be-

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Stimmung zu pochen. Sofern die Auslegung ergibt, daß eine Vorschrift zugunsten der ehemaligen DDR in den Vertrag aufgenommen worden ist, ist deren Interesse an der Bestandskraft abzuwägen gegenüber den Nachteilen, die eine Beschränkung der Dispositionsbefugnis zwangsläufig mit sich bringt. Dabei überwiegt das Interesse des untergehenden Teils regelmäßig dann, wenn die Beschränkung des Gesetzgebers nicht dauerhaft gilt und die damit verbundenen Nachteile folglich begrenzt sind. Bei befristeten Vorschriften für die Übergangszeit spricht somit vieles für einen fortbestehenden vertraglichen Charakter und damit für die Unabänderlichkeit. Entscheidend ist allerdings der Zweck der einzelnen Norm. Durch dieses Ergebnis wird ein angemessener Ausgleich der Interessen beider Seiten erzielt. Insbesondere wird der Handlungsspielraum des gesamtdeutschen Gesetzgebers nicht zu sehr eingeschränkt, da die Bundesregierung auf Grund der tatsächlichen Machtverhältnisse bei den Vertragsverhandlungen ihr unangenehme Zugeständnisse weitgehend vermeiden konnte. Legt man die in der Arbeit entwickelten Maßstäbe an, so findet sich zunächst eine Vielzahl von Bestimmungen, bei denen eine Bindung des Gesetzgebers ausscheidet. Dies gilt für die Regelungen, die mit Blick auf die Reformbedürftigkeit des Bundesrechts oder mit Blick auf völkerrechtliche Verpflichtungen gegenüber dritten Staaten in den Vertrag aufgenommen worden sind. Hier besteht kein Sonderinteresse des Beitrittsgebiets. Das gleiche gilt für die Verfassungsänderungen mit Ausnahme der Einführung der Artt. 135 a und 143 GG, die zur verfassungsrechtlichen Absicherung der Eigentumsregelung und anderer sonst verfassungswidriger Übergangsbestimmungen dienen. Bei einigen Bestimmungen ergibt sich die Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers direkt aus dem Vertragstext. So wurde bei den sachenrechtlichen Vorschriften des EGBGB bereits ein Vorbehalt hinsichtlich späterer Änderungen vereinbart. Gleiches gilt für Art. 6, wonach Art. 131 GG vorerst nicht in Kraft gesetzt wird. Auch die Regelungen zur Finanzverfassung in Art. 7 enthalten zwei Dispositionsklauseln. Hier ergibt sich jedoch aus Vertrags- und verfassungsrechtlichen Gründen die Besonderheit, daß Änderungen nur zugunsten der neuen Länder möglich sind. Bestandsfest sind die berufs- und ausbildungsbezogenen Vorschriften, die Bestimmungen zur Rehabilitierung und Kassation sowie die Eigentumsregelung, soweit sie eine Rückgabe der zwischen 1945 und 1949 enteigneten Grundstücke ausschließt. In allen Fällen hat die DDR ein legitimes Sonderinteresse an einer vertraglichen Absicherung geltend gemacht. Die Nachteile einer beschränkten Handlungsfähigkeit des Parlaments können zumindest bei

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den erstgenannten Sachgebieten hingenommen werden, da sie sich jeweils nur auf einen begrenzten Personenkreis beziehen und die Regelungen daher in absehbarer Zeit auslaufen werden. Anders ist es bei der Eigentumsregelung, die deswegen äußerst umstritten war. Die jetzt getroffenen Vereinbarungen wirken fort auf die Erben; zudem ist das Eigentum an Grund und Boden für den Bürger von erheblicher Bedeutung, so daß besonders scharfe Interessengegensätze auszuräumen waren. Hier ergibt sich die vertragliche Gebundenheit aus der eindeutigen Erklärung in Art. 41 Abs. 3; zudem besteht eine völkerrechtliche Bindung Deutschlands durch den Gemeinsamen Brief der Außenminister im Rahmen des 2+4-Vertrags. Zwischen den Polen der Änderbarkeit mittels einer lex posterior und einer vertraglichen Gebundenheit stehen viele oft befristete Bestimmungen, die den besonderen Problemen in der Übergangszeit Rechnung tragen sollen. Den Vertragsparteien war bewußt, daß bei diesen Detailregelungen flexible Reaktionen auf die rasanten Veränderungen im Beitrittsgebiet möglich bleiben mußten. Andererseits wurden die im Vertragstext vorgesehenen Lösungen gemeinsam vereinbart; sie haben durch die Zustimmung der Volkskammer eine besondere Legitimation erhalten. Der gesamtdeutsche Gesetzgeber darf sich wegen des Erfordernisses der Flexibilität darüber hinwegsetzen, soweit tatsächlich eine Anpassung der Normen an veränderte äußere Umstände erforderlich ist. Um einen gewissen Schutz der DDR-Interessen zu gewährleisten, unterliegt der Gesetzgeber einer besonderen Begründungslast; er muß verdeutlichen, warum die vertraglich vereinbarte Regelung den veränderten Umständen nicht mehr gerecht wird. Bei den Gesetzgebungsaufträgen ist ebenfalls zu differenzieren. Soweit Ziele postuliert werden, die DDR-spezifische Sonderinteressen behandeln, kann der gesamtdeutsche Gesetzgeber die Vorschriften nicht mittels einer lex posterior verändern; er bleibt gebunden. Daraus folgt letztlich eine Pflicht zur Umsetzung der Aufträge. Da die Vorschriften allerdings ohne Fristen und detaillierte Vorgaben formuliert sind, ist die Legislative in der Art und Weise, wie sie die Umsetzung vornimmt, nur in sehr begrenzter Weise gebunden. Immerhin besteht eine Verpflichtung dahingehend, auf die Erreichung der in den Gesetzgebungsaufträgen postulierten Ziele hinzuwirken. In ähnlicher Weise gilt dasselbe für die im Einigungsvertrag enthaltenen Förderzusagen. Soweit die Auslegung des Vertrags ergibt, daß tatsächlich eine Zusage vorliegt, sind Legislative und Exekutive vertraglich daran gebunden. Daher müssen sie alles daransetzen, die mit den Förderzusagen angesprochenen

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Ziele in angemessener Zeit zu erreichen. Ob die Unterstützungen qualitativ und quantitativ ausreichend sind, ist von den handelnden Organen durch eine Prognoseentscheidung zu ermitteln. Diese ist gerichtlich wegen des weiten Ermessenspielraums der Legislative nur begrenzt nachprüfbar, so daß sich faktisch auch hier eine nur lockere vertragliche Bindung ergibt. Steht als Ergebnis der Auslegung fest, daß der Gesetzgeber an eine Vereinbarung gebunden ist, bedeutet die Verabschiedung einer abweichenden lex posterior einen Vertragsbruch. Nach Art. 44 könnte jedes der neuen Länder ein solches Vorgehen vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen. Gemäß den in der Coburg-Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen würde es sich um ein verfassungsgerichtliches Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG in Verbindung mit §§ 13 Nr. 8, 71 f. BVerfGG handeln. Danach müßte der Antrag für die neuen Länder durch eine der Landesregierungen gestellt werden, und zwar innerhalb einer Frist von 6 Monaten, nachdem das vom Einigungsvertrag abweichende Gesetz verkündet worden ist, §§ 71 Abs. 2, 64 Abs. 3 BVerfGG. Eine vertragliche Bindung des Bundesgesetzgebers steht in jedem Fall unter dem Vorbehalt der clausula rebus sie stantibus. Ob die Voraussetzungen für das Eingreifen der clausula vorliegen, wird gegebenenfalls vom Bundesverfassungsgericht überprüft. Soweit die Auslegung ergibt, daß eine rein einfachgesetzliche Bestimmung gegeben ist ohne besondere vertragliche Zusicherungen, ist der Gesetzgeber in der Änderung grundsätzlich frei. Allerdings kann sich aus dem verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbot bei diesen Vorschriften eine gewisse Bindung ergeben. Daß sowohl eine vertragliche als auch eine verfassungsrechtliche Bindung über das Rückwirkungsverbot nebeneinander möglich sind, folgt aus der besonderen Rechtsnatur des Einigungsvertrags, einer Mischung aus Bundesgesetz und Vertrag.

Im deutschen Einigungsprozeß ist nach den Feiertagen und der Euphorie der Jahre 1989/90 nunmehr der Alltag eingekehrt. Nicht alle Hoffnungen und Wünsche, die an den Fall der Berliner Mauer geknüpft waren, konnten bislang erfüllt werden. Sehr groß sind die wechselseitigen Irritationen über Mentalitätsunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen, wie sie nach vierzig Jahren divergierender Lebenserfahrungen entstanden sind. Dennoch wäre es verfehlt, den Einigungsvertrag als Verursacher dieser Probleme verantwortlich zu machen. Zweifellos ist der Vertrag in Teilen verbesserungswürdig; ex post würde

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man vielleicht einiges anders regeln. Eine faire Beurteilung muß jedoch bei der Situation der Beteiligten ex ante ansetzen. Unter unglaublichem Zeitdruck mußten verschiedenste Interessen gebündelt und Kompromisse erzielt werden, und zwar bis in die Einzelheiten der Rechtsordnung hinein. Vor diesem Hintergrund wird man den Einigungsvertrag als ein tragfähiges Fundament für die rechtlichen Grundbedingungen der deutschen Einheit zu würdigen wissen. Diese Einschätzung gilt, obwohl die DDR-Regierung mit Ausnahme der Eigentumsvereinbarung nicht erreichen konnte, rechtlich verbindliche Sonderregelungen gegen den Willen der Bundesrepublik durchzusetzen. Zumeist ist es der Bundesregierung gelungen, die Fristen im Einigungsvertrag kurz zu fassen oder nur sehr unbestimmte Formulierungen im Vertragstext durchzusetzen etwa bei den Gesetzgebungsaufträgen oder bei den Förderzusagen -, so daß nur wenig Greifbares herausgekommen ist, auf das sich die neuen Länder vor Gericht berufen könnten. Insofern spiegelt die vorliegende Arbeit zur Bestandskraft des Einigungsvertrags die tatsächliche Stärke der Verhandlungsparteien wider. Andererseits muß dem Eindruck entgegen getreten werden, die DDR-Regierung sei bei den Verhandlungen übervorteilt worden. Viele wichtige Bereiche wurden einvernehmlich geregelt, ohne daß dies besonders ins öffentliche Bewußtsein gedrungen wäre. Man denke hier nur an die Anerkennung gleichwertiger Berufsabschlüsse. Zudem war die Verhandlungsposition der Bundesregierung, sich bei vertraglichen Vereinbarungen mit unabsehbaren finanziellen Auswirkungen zurück zu halten, wohl begründet, wie die ohnehin katastrophale Entwicklung der öffentlichen Haushalte zeigt. Schließlich muß darauf hingewiesen werden, daß das Gegenteil von Sonderrecht nicht Rechtlosigkeit ist. Obwohl der Einigungsvertrag nicht allzu viele bestandsfeste Reservatrechte zugunsten der neuen Länder enthält, sind die Länder im Beitrittsgebiet dennoch nicht rechtlos gestellt, sondern befinden sich durch die Mitwirkung im Bundesrat und die Mitgliedschaft ostdeutscher Abgeordneter im Bundestag in einer rechtlichen und politischen Position von erheblicher Bedeutung. Die Stärke der neuen Länder ergibt sich nicht nur aus der ΒindungsWirkung einzelner Normen des Einigungsvertrags. Das Gerede von einem Anschluß der DDR ist jedenfalls abwegig. Was die vielbeschworene Mauer in den Köpfen betrifft, so kann man nur hoffen, daß sie mit der Zeit durch gegenseitiges besseres Kennenlernen überwunden wird. Der Abriß dieser mentalen Mauer läßt sich jedoch durch keinen Vertrag, gleich welcher Gestalt, anordnen.

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Ob die in der vorliegenden Arbeit behandelte Problematik - eine vertragliche Bindung des Gesetzgebers an den Einigungsvertrag - jemals das Bundesverfassungsgericht beschäftigen wird, ist nicht abzusehen. Im Sinne eines möglichst harmonischen Einigungsprozesses möchte man wünschen, daß bestehende Verpflichtungen auch in Zukunft erfüllt werden 1, um damit ein erneutes Aufbrechen des innerdeutschen Ost-West-Konflikts vor den Schranken des Bundesverfassungsgerichts zu vermeiden. Fest steht allerdings, das haben die Coburg-Entscheidungen gezeigt, daß Eingliederungsverträge ein zähes Leben führen. Es wird daher noch lange dauern, bis der Einigungsvertrag endgültig aus der Rechtspraxis verschwindet und Teil der deutschen Rechtsgeschichte wird.

1

Teilweise wurde bereits der Vorwurf des Vertragsbruchs erhoben; vgl. etwa die Schrift der PDS/LL (Hrsg.): Verletzungen und Aushöhlungen des Einigungs Vertrages. Der Text hat, was nicht überraschen kann, eine deutlich politische Ausrichtung. Allerdings stellt nicht jedes Handeln, das man politisch kritisieren mag, im juristischen Sinne einen Vertragsbruch dar.

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Literaturverzeichnis

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