Der Blick von außen: Die Darstellung von Englishness und ihre Funktionalisierung in deutschen Geschichten englischer Literatur. Dissertationsschrift 9783899714562, 3899714563

Geschichten englischer Literatur sind unerlässliche und bewährte Hilfsmittel in der deutschen Anglistik. Literarhistorie

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Der Blick von außen: Die Darstellung von Englishness und ihre Funktionalisierung in deutschen Geschichten englischer Literatur. Dissertationsschrift
 9783899714562, 3899714563

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Formen der Erinnerung Band 33

Herausgegeben von Jürgen Reulecke und Birgit Neumann

V&R unipress

Klaus Scheunemann

Der Blick von außen

Die Darstellung von ›Englishness‹ und ihre Funktionalisierung in deutschen Geschichten englischer Literatur

V&R unipress

Gedruckt mit Unterstützung des Sonderforschungsbereiches 434 »Erinnerungskulturen« der Justus-Liebig-Universität Gießen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89971-456-2

© 2008, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Titelbild: Die britische Flagge; mit freundlicher Unterstüzung durch Martin Gänselein

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

DANKSAGUNG.................................................................................................. 9 I. EINLEITUNG: THEMENSTELLUNG, THEORETISCHE GRUNDLAGEN UND ZIELSETZUNG ................................................................................................. 11 1.

Literaturgeschichten und kulturelles Gedächtnis......................... 21

2.

Deutsche Geschichten der englischen Literatur: Ein erster Überblick..................................................................................... 25

3.

Literaturgeschichten als Medien der Konstruktion von Fremdbildern und der Identitätsstiftung ...................................... 29

II. VON DER MITTE DES 19. JAHRHUNDERTS BIS ZUM ERSTEN WELTKRIEG ... 45 1.

DIE GESCHICHTE DER ENGLISCHEN LITERATUR (1856) VON HERMANN HETTNER: LITERATURGESCHICHTE ALS IDEENGESCHICHTE ....................................................................... 47

2.

EDUARD ENGELS GESCHICHTE DER ENGLISCHEN LITTERATUR (1883): DIE ERSTE UMFASSENDE DEUTSCHE GESCHICHTE ENGLISCHER LITERATUR .............................................................. 57 Die besonderen Merkmale von Engels Literaturgeschichte ........ 57 England als ›germanischer Bruder‹ Deutschlands....................... 74 Abgrenzung von Frankreich........................................................ 78 Die Darstellung von Englishness bei Engel ................................ 82 Freiheitsliebe ............................................................................... 83 Natürlichkeit und Realismus ....................................................... 85 Humor ......................................................................................... 86 Nationalbewusstsein.................................................................... 87 Sekundäre Merkmale von Englishness........................................ 88 Einfluss der Puritaner auf den Nationalcharakter........................ 89 Zwischenfazit .............................................................................. 92

5

Inhalt

3.

CARL WEISERS ENGLISCHE LITERATURGESCHICHTE (1902): DIE ÜBERBLICKSDARSTELLUNG..........................................................99 Die besonderen Merkmale von Weisers Literaturgeschichte.......99 Die Funktionen von Weisers Literaturgeschichte......................107

III. LITERATURGESCHICHTEN IM DRITTEN REICH.........................................113 1.

WALTER F. SCHIRMERS GESCHICHTE DER ENGLISCHEN LITERATUR (1937): NEUTRALITÄT UNTER DEM HAKENKREUZ ....115 Die besonderen Merkmale von Schirmers Literaturgeschichte .115 Deutschland und Frankreich ......................................................127 Schirmers zurückhaltender Stil..................................................133 Schirmers Darstellung der Englishness .....................................136 Kelten, Angelsachsen und Normannen......................................136 Allgemeine Aspekte von Englishness........................................138 Nationalbewusstsein ..................................................................140 Freiheitsliebe .............................................................................144 Bereitschaft zur Integration fremder Einflüsse ..........................145 Praktisches Denken und Pragmatismus .....................................146 Zwischenfazit.............................................................................147

2.

PAUL MEIßNERS ENGLISCHE LITERATURGESCHICHTE (1937– 39): DIE NATIONALSOZIALISTISCHE LITERARHISTORIE ..............155 Die besonderen Merkmale von Meißners Literaturgeschichte ..155 Bezüge zu Deutschland..............................................................166 Vergleich zu Frankreich ............................................................170 Elemente der nationalsozialistischen Ideologie .........................173 Rassenideologie .........................................................................174 Antisemitismus ..........................................................................177 Antikapitalismus ........................................................................180 Antikommunismus.....................................................................181 Ablehnung von Psychoanalyse und ›Intellektualismus‹ ............183

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Inhalt

Jugendkult ................................................................................. 185 Übermensch............................................................................... 186 Meißners Darstellung der Englishness ...................................... 189 Englische Mentalität.................................................................. 190 Nationalbewusstsein.................................................................. 195 Imperialismus ............................................................................ 197 Religiosität ................................................................................ 201 Sinn für das Praktische und Nützlichkeitsdenken ..................... 205 Ausgleichsstreben...................................................................... 206 Bereitschaft zur Integration fremder Einflüsse.......................... 207 Zuschreibung ethnisch bedingter Merkmale ............................. 208 Iren......................... ................................................................... 209 Schotten..................................................................................... 210 Kelten ........... ............................................................................. 211 Zwischenfazit ............................................................................ 212 IV. LITERATURGESCHICHTEN NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG ................. 219 1.

EWALD STANDOPS UND EDGAR MERTNERS ENGLISCHE LITERATURGESCHICHTE (1967): DIE ERSTE GROßE NACHKRIEGSGESCHICHTE .......................................................... 221 Die besonderen Merkmale der Literaturgeschichte von Standop und Mertner............................................................................... 221 Bezüge auf Deutschland und Frankreich................................... 232 Verweise auf die germanischen Wurzeln Englands .................. 233 Bewertung französischer Einflüsse ........................................... 233 Die Darstellung von Englishness............................................... 234 Nationalbewusstsein.................................................................. 236 Common Sense.......................................................................... 239 Nützlichkeitsdenken und Pragmatismus.................................... 241 Naturgefühl und Natürlichkeit................................................... 242 Sekundäre Merkmale von Englishness...................................... 243 Zwischenfazit ............................................................................ 246

7

Inhalt

2.

HANS ULRICH SEEBERS ENGLISCHE LITERATURGESCHICHTE (1991): LITERATURGESCHICHTE ALS GESCHICHTE DER MODERNISIERUNG ......................................................................251 Die Besonderheiten von Seebers Literaturgeschichte................251 Die Darstellung von Englishness bei Seeber .............................259 Zwischenfazit.............................................................................264

3.

DIE GESCHICHTE DER ENGLISCHEN LITERATUR (2004) VON PETER ERLEBACH, BERNHARD REITZ UND THOMAS MICHAEL STEIN: LITERATURGESCHICHTE ALS GATTUNGSGESCHICHTE .....267

V. SCHLUSSBETRACHTUNG ..........................................................................279 VI. LITERATUR .............................................................................................291 1.

Untersuchte Literaturgeschichten ..............................................291

2.

Weitere verwendete Literatur ....................................................291

8

Danksagung

Diese Arbeit wäre ohne das Zutun einer ganzen Reihe von Personen niemals entstanden. Daher ist es nur recht und billig, an dieser Stelle meine Dankbarkeit auszudrücken. An erster Stelle muss mein Doktorvater Prof. Dr. Dr. Herbert Grabes genannt werden. Er hatte überhaupt erst die Idee und das Vertrauen, dass ich eine Dissertation schreiben könnte. Prof. Grabes stand mir mit gutem Rat zur Seite und sorgte mit seinem höflichen und aufrichtigen Interesse (und ohne mich unter Druck zu setzen) dafür, dass ich die Arbeit innerhalb der geplanten Zeit fertig stellte. Großer Dank gebührt auch dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Gießener Sonderforschungsbereich 434 »Erinnerungskulturen«, in dessen Rahmen diese Arbeit entstanden ist. Besonders Prof. Dr. Jürgen Reulecke und Dr. habil. Birgit Neumann waren durch ihr Engagement maßgeblich für die finanzielle Absicherung verantwortlich, ohne die dieses Buch nicht erschienen wäre. Weiterhin möchte ich meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Raimund Borgmeier für seine freundlichen und aufmunternden Worte danken sowie den weiteren Mitgliedern meiner Prüfungskommission – Prof. Dr. Annette Simonis und PD Dr. Michael Wagner. Ganz besonderer Dank gebührt Prof. Dr. Marion Gymnich für ihre wertvollen Ratschlägen und Verbesserungsvorschlägen. Auch den freundlichen und zuvorkommenden Mitarbeitern von V&R unipress möchte ich meinen Dank aussprechen. Neben der ›akademischen‹ Unterstützung durch die oben genannten Personen war mir mein privates Umfeld ein starker Rückhalt in der Zeit meiner Promotion. Daher möchte ich meinem Freundeskreis danken, der mir moralisch den Rücken stärkte, wann immer dies notwendig war, meinem Bruder Peter (einen besseren großen Bruder kann man sich kaum wünschen) sowie – an erster Stelle – meinen Eltern Karin und Wolfgang Scheunemann, ohne deren Unterstützung diese Arbeit kaum möglich gewesen wäre. Vielen Dank Euch allen.

Bad Nauheim, Februar 2008

Klaus Scheunemann

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

I. Einleit ung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

Im Zuge der zunehmenden kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Anglistik haben in den letzten Jahren auch die Konzepte ›nationale Identität‹ und ›Englishness‹ in der anglistischen Forschung immer mehr an Bedeutung gewonnen. Das zeigen die zahlreichen anglistischen Publikationen, die sich mit Entwürfen von Englishness in literarischen Werken unterschiedlicher Autoren und Epochen beschäftigen.1 Henke (2005: 115) definiert nationale Identität aus heutiger Sicht wie folgt: »Nationale Identität ist […] nicht als ein Produkt genetischer, klimatischer oder ähnlicher Eigenschaften anzusehen, sondern als ein diskursiver Effekt, d. h. als das Resultat bestimmter Redeweisen und damit verbundener Praktiken, welche sich aus dem Begehren nach einer solchen kollektiven Einheit speisen.« Diese im Kern konstruktivistische Definition ist sowohl auf Englishness als Selbstbild wie auch als Fremdbild anwendbar.2 Es ist auffällig, dass sich in den zahlreichen Publikationen zum Thema Englishness nur selten genaue Definitionen davon finden, was Englishness eigentlich ausmacht. Gervais (1996) schreibt zu dieser Problematik: Some recent work on ›Englishness‹, such as Coll’s and Dodd’s useful collection of essays, gives the impression that it is something we now have sewn up, something to look back on and estimate. Yet ›Englishness‹ is only an interesting subject if we feel sufficiently close to it to have trouble in pinning it down. If we know what we mean by it before we begin to write there is no point in writing about it. (Gervais 1996: 274)

Für diese Untersuchung wird jedoch ein Arbeitskonzept von Englishness benötigt, damit entsprechende Funde identifiziert und eingeordnet werden können. Eine einfache und brauchbare Definition, die in dieser Arbeit Verwendung finden soll, liefert Ward: »Englishness is the attribution of characteristics, habits, customs and traditions to the English as a people which makes them distinctive from other groups of people« (Ward 1998: 3).

1 Vgl. hierzu stellvertretend für viele andere Frankel (1997), Parker (2003) und Ganteau (2004). Vgl. auch das Buch Deutsche erfahren England von Müller-Schwefe (2007), in dem untersucht wird, welches Englandbild die Deutschen im 19. Jahrhundert hatten und wie dieses sich veränderte. 2 Diese Definition von Englishness ist selbstverständlich nicht diejenige, die von den Verfassern deutscher Geschichten englischer Literatur aus dem 19. und vom Beginn des 20. Jahrhunderts zugrundegelegt wird. Diese sahen bestimmte, als typisch englisch empfundene Charakterzüge nicht als Konstrukt, sondern als Fakt an.

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

Die Konzepte Englishness und ›nationale Identität‹3 stellen nicht nur zentrale Themen der gegenwärtigen anglistischen und kulturwissenschaftlichen Forschung dar, sondern haben auch die Diskurse in anderen kulturellen Bereichen in den letzten Jahrzehnten mit geprägt, was damit zusammenhängt, dass Fremd- und Selbstbilder ohnehin im Wesentlichen diskursiv und medial erzeugt werden.4 So thematisieren und problematisieren etwa erfolgreiche Romane wie England, England (1998) von Julian Barnes und English Music (1992) von Peter Ackroyd Entwürfe nationaler Identität, und auch in Bezug auf Politik, populäre Musik (Stichwort Britpop) oder dem so genannten heritage film (vgl. Voigts-Virchow 2004) wird dieses Thema gerne aufgegriffen. Wenngleich sich auch literarische Texte mit der Englishness auseinandersetzen, ist doch angesichts des Wandels in der Medienlandschaft gerade der Einfluss der neuen Medien auf die Konstruktion von Fremdbildern und Selbstbildern nicht zu unterschätzen, wie Miller (2002: 9) ausführt: Printed literature used to be a primary way in which citizens of a given nation state were inculcated with the ideals, ideologies, ways of behavior and judgment that made them good citizens. Now that role is being increasingly played, all over the world, for better of for worse, by radio, cinema, television, VCRs, DVDs, and the Internet.

Den neueren Medien kommt also heute die Rolle zu, die früher primär von der Literatur erfüllt wurde und die auch in Literaturgeschichten zum Teil explizit thematisiert wird. Wenngleich nationale Identität und Englishness vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten bereits wiederholt im Blickpunkt literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung standen, weisen sie noch immer großes Potential für weitere Untersuchungen auf, wie die vorliegende Arbeit am Beispiel deutscher Geschichten englischer Literatur demonstrieren möchte.5 Literaturgeschichten gehörten bislang nicht zu den Werken, die im Zentrum der Auseinandersetzung mit Englishness 3 Zum engen Zusammenhang von Englishness und ›nationaler Identität‹ vgl. Mergenthal (2003: 9): »In contemporary Britain, the question of national identity appears to have been formulated, in particular, as the question of ›Englishness‹.« 4 Vgl. hierzu Maletzke (1996: 121): »Den Medien fällt eine Funktion zu, die für den einzelnen wie für die ganze Gesellschaft von größter Bedeutung ist: Medien vermitteln Sekundärerfahrung, und dadurch erweitern sie den Bereich dessen, was dem Menschen an Wissen, Einsichten, Kenntnissen, Erfahrungen zur Verfügung steht. Durch Sekundärerfahrung überwindet der Mensch die Beschränkung auf das Hier und Jetzt. […] So gesehen sind die Medien großartige Instrumente, um mehr von der Welt zu erfahren, als durch Primärerleben möglich ist. Was wüßten wir denn von fernen Ländern und vergangenen Zeiten, gäbe es keine Medien?« 5 Auf die anhaltende Bedeutung dieser Problematik weist auch Sommer (2003: 149) hin, wenn er feststellt: »Die Frage nach dem ›typisch Englischen‹ und seiner Funktion im nationalen Diskurs wird der anglistischen Kulturwissenschaft auch weiterhin erhalten bleiben.«

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

gestanden haben. Wer jemals eine Literaturgeschichte in den Händen hatte und einige Seiten gelesen hat, wird aber kaum daran zweifeln können, dass in Literaturgeschichten nicht ausschließlich auf die Literatur als ästhetisches Phänomen eingegangen, sondern darüber hinaus auch ein Eindruck von einem Land vermittelt wird. Schon allein durch die Darstellung des kulturellen und historischen Hintergrundes, vor dem literarische Werke entstanden, entwickelt sich ein Bild von Land und Leuten, das durch Informationen über Autoren und deren Lebensumstände ergänzt wird. Liefert der Verfasser der Literaturgeschichte dazu noch explizite Kommentare über das, was seiner Meinung nach ›typisch‹ für die jeweilige Nationalliteratur ist, ist auch der letzte Zweifel daran beseitigt, dass eine Literaturgeschichte ein ganz spezifisches Bild nicht nur einer Literatur, sondern auch einer Kultur zu vermitteln vermag. Eine Tendenz zur expliziten Charakterzuschreibung ist vor allem in den Literaturgeschichten aus der Zeit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu beobachten. Das betrifft sowohl Darstellungen der eigenen Literatur, wenn beispielsweise Deutsche über die deutsche Literatur schreiben, als auch die Darstellungen einer fremden Literatur. Die Darstellung einer ›fremden‹ Kultur/Literatur ist in diesem Zusammenhang problematischer als die der eigenen, weil die Leser einer Literaturgeschichte nicht zwangsläufig persönlichen Kontakt zu dem anderen Land haben müssen, die Bilder einer fremden Kultur, die eine Literaturgeschichte vermittelt, also oftmals nicht anhand eigener Erfahrungen überprüft werden können.6 Es gibt bislang lediglich einige wenige Arbeiten, die sich mit der Konstruktion von Englishness in englischen Literaturgeschichten beschäftigt haben. So untersuchen z. B. Nünning (2001) sowie Grabes und Sichert (2005) die Bedeutung englischer Literaturgeschichten im Prozess der Herausbildung von nationaler Identität sowie der Vermittlung dessen, was als ›typisch englisch‹ gilt. Dabei kommen sie zu dem Ergebnis, dass Literaturgeschichten maßgeblich zur Stabilisierung und Verbreitung von Englishness beitragen können: »By representing and sustaining a mythology of core values, English histories of the national literature have stabil ized the very terms by which English national identity was and is conceived« (Nünning 2001: 82). Die genannten Studien beschäftigen sich jedoch ausschließlich mit englischen Literaturgeschichten, die von englischen Literaturwissenschaftlern verfasst wurden. Dass eine Geschichte der eigenen Nationalliteratur zur Festigung des Selbstbildes der Engländer beitragen kann, erscheint plausibel. Schließlich zählen Literaturgeschichten, ebenso wie historiographische Werke, zu jenen Textsorten, die das kulturelle Gedächtnis prägen und festschreiben: Sie

6 Vgl. Jahnke (1975: 119): »Aus dem Rückkopplungsmodell ergibt sich die Konsequenz, daß Fremdbilder während der Interaktion verändert werden, man lernt ›mit anderen Augen‹ zu sehen, man wertet Informationen neu.« Diese Rückkoppelung und die damit einhergehende Neubewertung findet nicht statt, wenn keine Interaktion mit der anderen Kultur erfolgt.

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

tragen zur Etablierung des Kanons bei, aber auch, auf allgemeinerer Ebene, zur Perpetuierung von Vorstellungen nationaler Identität.7 Während englische Geschichten der englischen Literatur aufgrund ihres Bezugs zum Selbstbild Konzepte von Englishness vertreten, tragen Vorstellungen von englischer nationaler Identität in anderssprachigen Geschichten der englischen Literatur zur Etablierung eines Fremdbildes bei. Letzterer Aspekt ist bislang noch nicht untersucht worden. Die vorliegende Arbeit soll dazu beitragen, diese Forschungslücke zu schließen, indem sie Vorstellungen vom ›typisch Englischen‹ in ausgewählten deutschen Geschichten der englischen Literatur herausarbeitet und diese Entwürfe von Englishness auf ihre Funktionen hin befragt. Beschäftigt man sich mit Geschichten der englischen Literatur, die von Wissenschaftlern anderer Nationalitäten verfasst wurden – also Vertretern der Auslandsanglistik –, und zudem auch in anderen Sprachen, dann geht es bei der Auseinandersetzung mit Englishness vordergründig um Fremdbilder. Gerade wenn man dabei die diachrone Perspektive berücksichtigt, also die sich in Abhängigkeit von historischen und kulturellen Veränderungen wandelnden Vorstellungen von ›dem Fremden‹, wird jedoch deutlich, dass die Darstellung von Fremdbildern durchaus auch im Zusammenhang mit dem Selbstbild zu sehen ist. Inwiefern wird das englische Selbstbild durch die Linse des kulturellen, theoretischen und politischen Hintergrunds der deutschen Autoren betrachtet und somit gebrochen dargestellt? Um es einfacher auszudrücken: Welches Bild zeichnen deutsche Geschichten englischer Literatur aus verschiedenen Zeiten von den Engländern und von dem, was ›typisch englisch‹ ist? Und welche Verfahren werden eingesetzt, um diese Fremdbilder zu konstruieren? Auf diese und ähnliche Fragen möchte die vorliegende Arbeit eine Antwort geben. Wenn man sich mit Selbst- und Fremdbildern beschäftigt, muss man sich unweigerlich auch mit den psychologischen Mechanismen von Informationsverarbeitung und Wahrnehmung auseinandersetzen, folgt doch die Konstruktion des Eigenen wie auch des Fremden bestimmten Grundprinzipien und wird damit dem menschlichen Bedürfnis nach Orientierung in der Umwelt gerecht. In dieser Hinsicht liefert die Studie Interpersonale Wahrnehmung (1975) von Jahnke wertvolle grundlegende Einsichten. Zur Wahrnehmung des Individuums stellt Jahnke fest: Wahrnehmungsleistungen liefern dem Individuum orientierende Erfahrungen über seine Umwelt, sie unterrichten über die äußere Realität, über Tatbestände und Ereignisse. Auf die soziale Interaktion bezogen ermöglicht die Wahrnehmung anderer Menschen das Erkennen ihrer Eigenarten, ihrer Gewohnheiten und Ziele und bestimmt damit das gegenseitige Verhalten. Dabei ist Erkenntnis und Erfahrung immer Erfahrung von etwas, die Erfahrung gibt ihren Gegenstand nicht unmittelbar und vollständig wieder, sondern vermittelt lediglich eine Bedeutung des Gegenstandes oder Ereignisses aus der Perspektive

7 Auf das Verhältnis von Literaturgeschichten zum kulturellen Gedächtnis wird später noch ausführlicher eingegangen werden.

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung des Wahrnehmenden; sie teilt uns also nur mit, was der Gegenstand für uns ist, bzw. wie er uns erscheint. (Jahnke 1975: 8f.)

Jahnke betont in obigem Zitat den selektiven und subjektiv verzerrten Charakter jeglicher menschlicher Wahrnehmung. Diese Wahrnehmungsleistung geschieht meist unterbewusst und unreflektiert, dennoch – oder gerade deshalb – sind interpersonale Wahrnehmungsprozesse »von kaum zu überschätzender Bedeutsamkeit […] im täglichen Leben, in der Interaktion von Individuen, Gruppen und Völkern« (ebd.: 9). Ehe man sich darüber klar wird, hat man sich schon eine Meinung über ›die Franzosen‹, ›die Russen‹ oder ›die Engländer‹ gebildet – und in vielen Fällen bestand nicht der geringste persönliche Kontakt zu diesen Menschen.8 Denn meist erhalten wir Informationen über andere Nationen nicht aus persönlichem Erleben, sondern ›aus zweiter Hand‹, d. h. durch ein breites Spektrum unterschiedlicher Medien. Zu diesen Informationsquellen zählen auch Literaturgeschichten. Trotz der unvermeidlichen subjektiven Verzerrung von Fremdwahrnehmungen ist jedoch nicht automatisch davon auszugehen, dass die Bilder, die wir uns von anderen machen, grundsätzlich falsch sind. Unabhängig davon, ob sie zutreffend sind oder nicht, stellen Fremdbilder den Kern von vielen gesellschaftlichen Problemen dar, von Fremdenhass, Rassismus und Feindbildern. Diese Probleme und die Fremdbilder, auf denen sie beruhen, können im schlimmsten Fall über Generationen hinweg bestehen bleiben. Dies verweist auf die Permanenz von Fremdbildern. Es ist geradezu charakteristisch für solche Bilder, nicht einfach wieder zu verschwinden, sondern im kulturellen Gedächtnis haften zu bleiben.9 Dies ist die Folge einer Perpetuierung dieser Fremdbilder, entweder durch direkte, mündliche Weitergabe von Generation zu Generation oder durch die Wiederho-

8 Jahnke (1975: 69) gibt ein Beispiel dafür, wie wenig es braucht, um sich ein Bild von anderen zu machen: »Selbst wenn wir nur wenige Informationen über einen Menschen aufnehmen, formt sich bereits ein mehr oder weniger vollständiges Bild. Wenn in einem Gespräch z.B. von einem Arzt die Rede ist, wenn dessen Verhalten einem Patienten gegenüber beschrieben wird, seine Reaktionen auf Problemsituationen, oder seine Reaktion auf Kritik an seinem Verhalten geschildert wird, dann wird sich leicht feststellen lassen, daß Zuhörer, die diesen Mann nie persönlich kennenlernten, nach diesem Gespräch auch andere als die beschriebenen Verhaltensweisen und ›Eigenschaften‹ dieser Person zu kennen glauben.« 9 Vgl. Jahnke (1975: 71): »Die vorherige Stellungnahme, die Tatsache, daß man sich bereits festgelegt hatte (der sog. ›commitment‹-Faktor), erschwert notwendige Korrekturen des Eindrucks von Personen genau wie bei Einstellungen und Meinungen.« Jahnkes Feststellung bezieht sich freilich auf die individuelle Ebene. Da aber einerseits kollektive Fremdbilder letzten Endes auf das Individuum einwirken und von diesem in unterschiedlichem Grade weitergegeben werden und andererseits Individuen fremder Nationalität meist als Teil des Ganzen – als mehr oder weniger ›typische‹ Vertreter ihrer Nationalität – wahrgenommen werden, dürfen die psychologischen Prozesse auf individueller Ebene nicht ignoriert werden.

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

lung in Medien unterschiedlicher Art.10 In Bezug auf Literaturgeschichten findet die Weitergabe von Fremdbildern insbesondere von einer Generation von Akademikern an die nächste statt, werden doch Literaturgeschichten in erster Linie im Wissenschaftsbetrieb und in der akademischen Ausbildung als Grundlagentexte herangezogen. Angesichts des unterbewussten Charakters von Fremdbildern sowie der aus ihnen resultierenden gesellschaftlichen Problemlagen ist es wichtig, die Quellen unserer Fremdbilder auszumachen, sich darüber klar zu werden, dass Fremdbilder vermittelt werden, wie dies geschieht und wie diese aussehen. Auch hinsichtlich ihrer Bedeutung im Wissenschaftsbetrieb erscheint es angeraten, sich diesen Fragen zu stellen. Denn auch im Wissenschaftsbetrieb werden keineswegs nur objektive Eindrücke wiedergegeben, sondern, wie in anderen Diskursen auch, letztlich subjektive Fremdbilder vermittelt. Eine selbstreflexive Literatur- und Kulturwissenschaft muss sich kritisch mit den eigenen Vorannahmen über ihren Gegenstand, d. h. die fremde Kultur, auseinandersetzen. Mit einer der dominant in der Wissenschaftslandschaft verorteten Quellen für Fremdbilder wird sich diese Arbeit beschäftigen: mit Literaturgeschichten. Ihnen kommt im Vergleich zu anderen nichtfiktionalen Textsorten eine ganz besondere Bedeutung zu: Als wissenschaftliche Texte beanspruchen sie, nachprüfbar zu sein, und ihnen fällt damit eine höhere Autorität zu als beispielsweise journalistischen Texten. Zudem überdauern sie beispielsweise Zeitungen, die aufgrund ihres Anspruchs auf Aktualität täglich neu aufgelegt werden, um ein Vielfaches und wirken deshalb teilweise über Jahrzehnte auf die Formung eines Fremdbildes ein. Selbst im Vergleich zu wissenschaftlichen Artikeln und Monographien ist Literaturgeschichten aufgrund ihres Charakters als Nachschlagewerk tendenziell eine höhere Autorität zuzusprechen. Zwar berufen sich Literaturgeschichten bei der Konstruktion von Englishness auch auf die Darstellung historischer und politischer Zusammenhänge, zumeist stützen sich Aussagen über den Nationalcharakter aber auf die literarischen Texte. Der Gedanke, über die Literatur eines Landes auf die Wesenszüge oder den ›Nationalcharakter‹ seiner Einwohner schließen zu können, ist nicht erst in unseren Tagen entstanden. Er war gerade im 19. Jahrhundert eines der Hauptinteressen der vergleichenden Literaturwissenschaft, wie Fischer ausführt: »Die Littérature comparée [besaß] seit den Tagen ihrer Etablierung als akademischer Disziplin u. a. ein auffallendes ›völkerpsychologisches‹ Interesse, das von dem Gedanken an die Gründung einer Psychologie comparée des peuples begleitet wurde« (Fischer 10 Zur diachronen Stabilität von Fremdbildern schreibt Maletzke (1998: 110): »Images von Völkern und Kulturen sind im allgemeinen sehr stabil. So werden manche Stereotype nahezu unverändert von Generation zu Generation weitergegeben. Stabilität ist jedoch nicht gleichzusetzen mit Stillstand; auch Images unterliegen einem Wandel. Dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden: Zum einen können sich Images ganz allmählich, fast unmerklich verändern im Zuge des sozialen Wandels in einer Gesellschaft. Zum anderen gibt es gelegentlich dramatische Ereignisse, die die internationalen und interkulturellen Images beeinflussen, manchmal sogar in erstaunlich kurzer Zeit.«

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

1981: 16). Dass in der Literatur eines Landes Wesenszüge der Einwohner zum Ausdruck kommen können, ist also bereits im 19. Jahrhundert bedacht und ausgiebig im Fachgebiet der Komparatistik untersucht worden, wie Fischer aufzeigt, wenn er rhetorisch fragt: […] welche anderen Resultate hätte wohl eine Literaturwissenschaft hervorbringen können, die noch immer zu großen Teilen im Gefolge deterministischer Milieutheorien das literarische Material unterschiedlicher nationaler Provenienz entweder aus der nationalen Psychologie seiner Autoren beschrieb, ja das Aussehen und die angenommene nationale Besonderheit jeder Einzelliteratur sogar unmittelbar aus dieser ableitete, oder vice versa von dem Korpus der nationalen Literatur und seiner einzelnen Glieder auf den Nationalcharakter, an dessen Existenz man noch nicht zweifeln wollte, rückschloß: eine solche Literaturwissenschaft mußte zwangsläufig zum ImageProduzenten par excellence avancieren. Sie war die konsequente Folge eines Denkens, das seinen Beginn mit der Aufspaltung der Literatur in abgekapselte nationale Blöcke nahm. (Fischer 1981: 104)

Die Literaturwissenschaft des 19. Jahrhunderts sah es somit als weitestgehend erwiesen an, dass sich das ›Wesen‹ oder der ›Nationalcharakter‹ eines Landes selbstverständlich auf dessen Autoren auswirken musste, deren Werke dann wiederum als Beleg für den Nationalcharakter herangezogen werden konnten. Dabei wurde die Existenz eines Nationalcharakters als Fakt und keineswegs als Konstrukt angesehen.11 Wissenschaftsgeschichtlich ist folglich festzustellen, »daß in der Frühgeschichte der komparatistischen Imagologie die Existenz von Nationalcharakteren als gegeben und – worum es ihren Vertretern u. a. zu tun war – als beschreibbar erachtet wurde« (ebd.). Die Beschäftigung mit der Literatur eines Landes diente damit nicht nur dem Zweck, diese literaturkritisch zu analysieren, sondern vor allem dem Nachweis des Nationalcharakters sowie dessen Eigenschaften mittels der schriftlichen Erzeugnisse eines Landes. Es ist davon auszugehen, dass diese Annahmen über den Zusammenhang zwischen Literatur und Nationalcharakter auch in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ihren Niederschlag finden. Wie und in welchem Maße dies in deutschen Geschich-

11 Maletzke (1996: 44f.) gibt folgende Definition des Nationalcharakters und weist gleichzeitig auf die Probleme einer Verallgemeinerung hin: »Das Konzept vom Nationalcharakter basiert auf der Annahme, daß die Menschen einer Nation sich in den Grundmustern ihres Erlebens und Verhaltens sowie ihrer Persönlichkeit gleichen oder doch ähneln und sich so von Menschen anderer Nationen abheben. Diese These gerät jedoch ins Wanken, sobald man große komplexe, in sich stark differenzierte Nationen oder Gesellschaften ins Auge faßt. Dann erkennt man nämlich sehr schnell, daß der Spielraum konkreter Erscheinungsformen außerordentlich groß ist; und das heißt, daß es mit der Gleichheit der Menschen oder auch nur mit der Ähnlichkeit nicht weit her ist – sowohl auf der Gruppen- als auch auf der Individualebene.«

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

ten englischer Literatur geschieht, soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden.12 Die Imagologie ist jener Bereich der Komparatistik, dessen Arbeitsfeld früher im Nachweis der Existenz von Nationalcharakteren gesehen wurde. Damit trug sie zur Verfestigung dieser Vorstellungen bei. Heute beschäftigt sich die Imagologie allerdings mit der kritischen Betrachtung und Widerlegung dieser Vorstellungen. Der Gegenstandsbereich der Imagologie wird von Fischer wie folgt umrissen: Der zentrale Gegenstand der komparatistischen Imagologie sind nationenbzw. völkerbezogene Images, die sich erklären lassen als solche Aussagen, die auf Nationen, Völker und ihre kulturellen und geistigen Leistungen gemünzt sind und diese in ihrer Gesamtheit mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Aussagen typisieren wollen. […] In der Regel sind die gemeinten Aussagen solche, die im Zuge einer punktuell ansetzenden Beobachtung des Besonderen zu dessen ›Erklärung‹ bzw. ›Erkenntnis‹ auf das Allgemeine (das ›Nationaltypische‹) zurückgreifen, indem sie sich mehr oder weniger fragwürdiger Abstraktionen bedienen, die in nicht wenigen Fällen bereits vor den getroffenen Aussagen bekannt waren und als solche zum Zwecke der nationaltypisierenden Bewertung auf erneute Darstellungen des Besonderen aufgepfropft bzw. diesen übergestülpt werden. Die Träger dieser Images, dieser Bilder vom andern Land usw., sind einzelne Individuen, unter Umständen aber auch Gruppen. Im letztgenannten Fall muß es selbstverständlich problematisch bleiben, inwieweit es überhaupt zulässig sein kann, von kollektiv getragenen Images zu sprechen, von Images, die also z. B. den gemeinsamen ›Besitz‹ einer nationalen Gruppe ausmachen sollen. (Fischer 1981: 20)

Der erste von Fischer angesprochene Punkt – die Erklärung des ›Besonderen‹ (also eines bei einem Autor beobachteten Charakterzuges) durch das Allgemeine (den ›Nationalcharakter‹) – erweist sich für die Literaturgeschichtsschreibung als besonders bedeutsam, erscheint es doch zumindest fragwürdig, inwieweit ein englischer Autor als Repräsentant einer wie auch immer gearteten Englishness gelten kann. Dieser Tatsache tragen durchaus auch die Verfasser von Literaturgeschichten Rechnung. Aber obwohl die meisten englischen Autoren in deutschen Geschichten englischer Literatur gar nicht als Beispiele für Englishness angeführt werden, gerät die grundsätzliche Annahme der Existenz eines englischen Nationalcharakters seitens deutscher Literaturwissenschaftler zumindest bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts überhaupt nicht ins Wanken. Die von ihnen angeführten Beispiele für den englischen Nationalcharakter werden dabei als Bestätigung für das Vorhandensein typisch englischer Charakterzüge gesehen, wenngleich die Autoren oder Werke, die als typisch für England beschrieben werden, nur einen 12 Ein Beispiel für diesen Ansatz ist das Vorwort von Bleibtreus Geschichte der englischen Litteratur in der Renaissance und Klassicität (1887: iv), in dem er erklärt: »Nicht durch pragmatische Geschichtsschreibung mit ihrer Aneinanderreihung der Handlungen kann uns wahres Verständnis für eines Volkes Eigenart reifen. – Dies vermag allein eine analytische, das Historische und Kulturhistorische heranziehende Litteraturgeschichte.«

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

kleinen Teil des gesamten Kanons bilden und somit objektiv betrachtet eben nicht typisch sind. Im 19. Jahrhundert sahen vergleichende Literaturwissenschaftler die Existenz von Nationalcharakteren nicht nur als gegeben, sondern vielfach sogar als biologisch begründbar an (Fischer 1981: 31), und diese Annahme wurde im frühen 20. Jahrhundert mit noch größerem Nachdruck vertreten. Fischer schreibt über ein 1913 in Frankreich erschienenes und 1929 in deutscher Übersetzung veröffentlichtes Buch von Fernand Baldensperger, dass zum Zeitpunkt dieser Erklärung die Literaturwissenschaften – nicht nur, aber vor allem in Deutschland, wo sie [Baldenspergers Schrift] im Jahre 1929 veröffentlicht wurde – nicht selten ein völkisches oder sogar rassisch-biologistisches Verständnis von Nationalliteratur entwickelten, um damit, gewollt oder ungewollt, Trägerfunktionen selbst extrem-nationalistischer Ideologien zu übernehmen. (Fischer 1981: 109)

Der Übergang von einem deterministisch-rassischen zu einem ideologisch bedingten rassistischen Denken müsste folglich auch für die deutschen Geschichten englischer Literatur aus dem Zeitraum der 30er bis Mitte der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts zu beobachten sein, so eine der Hypothesen der vorliegenden Arbeit. Obwohl es durchaus auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts vereinzelte kritische Stimmen bezüglich der vermeintlichen Existenz eines Nationalcharakters gab (Fischer 1981: 32), kam es erst Anfang der 1950er Jahre zu einem grundsätzlichen Umdenken im Bereich der Komparatistik (vgl. Fischer 1981: 33). Bis dahin allerdings hatte sich […] nicht viel geändert an der leichtfertigen Neigung, von der Literatur eines Volkes auf die psychische Eigenart desselben rückzuschließen und somit die Literatur gleichsam als Dokument anzusehen, aus dessen jeweiliger Eigenart sich ›wissenschaftlich‹ und mehr oder weniger stichhaltig die Sonderart von Nationen und Völkern ablesen ließe. (ebd.)

Genau diese diachronen Entwicklungsschritte – also die Dokumentation eines Volkscharakters im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine zunehmend rassistische Ausprägung sowie die Abwendung von einer solchen Haltung seit den 1950er Jahren – sollten sich auch in den zu untersuchenden deutschen Geschichten der englischen Literatur nachweisen lassen, so eine Arbeitshypothese der vorliegenden Dissertation. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts versucht die Komparatistik, und mit ihr die Imagologie, Annahmen über einen Nationalcharakter kritisch zu hinterfragen und zu widerlegen, wie Hugo Dyserinck in seiner Einführung in die Komparatistik feststellt: Gerade aufgrund ihres ständigen Kontakts mit Kollektivurteilen hat die Komparatistik gelernt, hier höchste Vorsicht an den Tag zu legen, und somit ist auch keine Forschung letzten Endes besser geeignet, die Stichhaltlosigkeit so mancher Theorien zu ›Volkstum‹, ›völkischer Eigenart‹. ›Seele der Völker‹ usw. aufzudecken als jene literarische Imagologie, die besser als jede andere Disziplin zeigen kann, auf welche Weise solche Meinungen (die in der Tat

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung nicht selten im ›Freiraum‹ der Literatur ihre Ursprünge haben) überhaupt zustande kommen können. (Dyserinck 1977: 1)

Eng verbunden mit diesem Wandel in der Komparatistik hinsichtlich ihrer Prämissen sowie ihrer Zielsetzung ist die völlige Diskreditierung jeglichen rassischen und rassistischen Gedankenguts in der deutschen Wissenschaft durch die unseligen Vorgänge unter der Herrschaft der Nationalsozialisten. Während bis 1945 die deutschen Geschichten der englischen Literatur rassisch motivierte Aussagen treffen müssten, sollten diese nach 1945 völlig aus Neuerscheinungen und aus den – durchaus anzutreffenden – Neuauflagen älterer Literaturgeschichten verschwunden sein. Diese zu erwartende Veränderung im Umgang mit dem Fremden geht auch einher mit einem sich wandelnden wissenschaftlichen Anspruch, der verallgemeinernde Simplifizierungen ablehnt und mehr Objektivität und Neutralität fordert. Was die Dekaden vor 1945 betrifft, so ist für die Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg zu erwarten, dass sich die Kriegsgegnerschaft Englands und Deutschlands in irgendeiner Weise in den Literaturgeschichten niederschlägt.13 Eine vorbehaltlos feindliche Haltung deutscher Anglisten gegenüber England innerhalb deutscher Geschichten englischer Literatur ist hingegen selbst zu Hochzeiten der anglophoben Stimmung wohl kaum zu erwarten. Denn die eingehende Beschäftigung mit einem anderen Land und dessen Literatur, die für das Verfassen einer Literaturgeschichte notwendig ist, verlangt ein gewisses Maß an Begeisterung und Sympathie. Daher ist kaum anzunehmen, in deutschen Geschichten der englischen Literatur, die nach dem Ersten Weltkrieg erschienen, auf offene Feindschaft gegenüber England zu stoßen. Trotzdem sind vor allem für den Zeitraum um den Ersten Weltkrieg vermehrt kritische Bemerkungen zur englischen Literatur zu erwarten, denn immerhin haben sich – gemäß den damaligen, vom Rassengedanken geprägten Überzeugungen – die germanischen Engländer mit den romanischen Franzosen gegen ihre ›germanischen Brüder‹ aus Deutschland verbündet. An dem Wandel des Englandbildes durch die oben genannten Faktoren ließe sich also eine Ver-

13 Vgl. Mommsen (2004: 10): »In kultureller Hinsicht führte der Krieg zu einer Versäulung der europäischen Nationalkulturen gegeneinander. Es kam zu einem ›Krieg der Geister‹, der die intellektuellen Eliten gegeneinander engagierte und das Wissen um die Gemeinsamkeiten Europas weithin aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängte. Die hieraus resultierenden Folgen haben bis in die 1950er Jahre hinein nachgewirkt.« Den Beginn einer antienglischen Haltung in Deutschland konstatiert Mommsen für die Jahre direkt vor Beginn des Ersten Weltkrieges (ebd.: 25): »Die Ankündigung einer britischen Intervention für den Fall eines deutschen Angriffs auf Frankreich, formuliert in der Mansion House-Rede Lloyd Georges im Juli 1911, […] löste […] in Deutschland eine Flutwelle anglophober Stimmungen aus, die nun auch die Konservativen erfassten. ›Das deutsche Volk weiß jetzt, wo der Feind steht‹, erklärte Ernst v. Heydebrand und der Lasa, der Führer der konservativen Reichstagsfraktion, sehr zur Irritation der politischen Leitung, und durch die Öffentlichkeit ging ein Sturm der Entrüstung über die Einmischung Großbritanniens in den Konflikt.«

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1. Literaturgeschichten und kulturelles Gedächtnis

änderung des kulturellen Gedächtnisses nachweisen, zu dessen schriftlichen Manifestationen Literaturgeschichten letztendlich zählen. 1. Literaturgeschichten und kulturelles Gedächtnis Wie bereits eingangs erwähnt wurde, ist die Rolle von Literaturgeschichten bei der Vermittlung von Bildern einer anderen Nation – im Gegensatz zur Bedeutung der Literatur selbst – bisher meist unterschätzt oder gar völlig außer Acht gelassen worden. Auf den ersten Blick mag dies verständlich sein, denn Literaturgeschichten gehören nicht zu den Werken, die in der Bevölkerung allzu weite Verbreitung finden, richten sie sich doch in erster Linie an ein Spezialpublikum. Zudem werden sie für gewöhnlich nicht komplett gelesen, sondern besitzen vielmehr Referenzcharakter – d.h. Leser (vor allem Studenten) schlagen in der Regel nur bestimmte Passagen nach, die für sie gerade relevant sind. Die meisten Nutzer von Literaturgeschichten finden sich zweifelsohne an den Universitäten, und das auch nur in den entsprechenden Philologien. Hinzu kommen noch die privat Interessierten, die sich – über das eigentliche literarische Werk hinausgehend – durch Literaturgeschichten ein besseres Bild von einem Autor und seinem kulturellen Hintergrund machen wollen.14 Diese beiden Gruppen zusammengenommen machen nur einen Bruchteil der Bevölkerung aus, und der Einfluss von Literaturgeschichten auf das kulturelle Gedächtnis mag entsprechend gering eingeschätzt werden. Doch gerade durch die neuralgische Positionierung an den Universitäten, an denen die geistige Elite eines Landes ausgebildet wird, die später oft selbst in Lehrberufen auf weite Kreise der Gesellschaft einwirkt, erlangen die von Literaturgeschichten vermittelten Fremdbilder eine nicht zu unterschätzende Bedeutung und Streubreite. Bedenkt man zudem, dass Jahnke Faktoren wie »Autorität, Prestige und Glaubwürdigkeit des Kommunikators« (Jahnke 1975: 71) bei der gesellschaftlichen Wirkung der Bildvermittlung hervorhebt, unterstreicht dies die Bedeutung von Literaturgeschichten noch zusätzlich. Denn als Akademikern – und in der Regel renommierten Wissenschaftlern – werden den Verfassern von Literarhistorien alle drei genannten Eigenschaften zugeschrieben. So haben denn auch deutsche Geschichten der englischen Literatur wohl dazu beigetragen, Bilder von ›den Engländern‹ zu prägen oder zu perpetuieren. Schon die große Anzahl deutscher Geschichten englischer Literatur verrät, dass die Deutschen seit jeher ein besonderes Verhältnis zur englischen Literatur hatten und dass in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert eine rege anglistische Forschung bestanden hat. Einer der Gründe für die Vorliebe für englische Literatur ist sicherlich die große Popularität der Werke Shakespeares, die in Deutschland durch das Theater sowie in jüngerer Zeit zunehmend durch Film und Fernsehen vermittelt

14 Vgl. hierzu das Kapitel zur Literaturgeschichte von Eduard Engel, der in seinem Vorwort explizit interessierte Laien als primäre Zielgruppe nennt.

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

und von breiten Schichten rezipiert wurden.15 Man darf behaupten, dass, mit Ausnahme vielleicht der französischen, über keine andere Literatur derart viele Literaturgeschichten im deutschsprachigen Raum erschienen sind wie über die englische. Und dabei war und ist es völlig unüblich, bereits existierende englischsprachige Literarhistorien zu übersetzen. Nein, die Deutschen schreiben mit großer Begeisterung regelmäßig selbst über die englische Literatur. Die Faszination für die englische Literatur seitens der Deutschen ist ein zusätzlicher Grund, die deutschen Geschichten der englischen Literatur näher unter die Lupe zu nehmen. Welches Bild vermitteln sie von England und den Engländern? Ist – in Anbetracht der Gegnerschaft in zwei Weltkriegen – ein Wandel dieses Fremdbildes festzustellen? Und was sagt das Bild, das Deutsche in Literaturgeschichten von den Engländern entwerfen, letzten Endes über sie selbst aus? Dies sind nur einige der Kernfragen, auf die diese Arbeit Antworten zu liefern versuchen wird. Angesichts der zahlreichen englischen Literaturgeschichten, die die deutsche Anglistik hervorgebracht hat, stellt sich die grundsätzliche Frage, warum nicht einfach englische Literaturgeschichten ins Deutsche übersetzt werden. Wenn es um die reine Darstellung der Literatur ginge, wäre dies eine legitime Option. Da dem aber nicht so ist und regelmäßig von Deutschen verfasste Geschichten der englischen Literatur erscheinen, muss es dafür auch Gründe geben. Der wohl wichtigste liegt im Selbstverständnis der deutschen Anglistik, die sich der englischen Literatur seit jeher mit eigenen Methoden angenommen hat und dies voraussichtlich auch in Zukunft tun wird und sollte – so zumindest die Forderung von Grabes (1997: 36): It cannot be the aim of German Anglistik […] to be an unavoidably miniature or second rate imitation of English Studies in Britain or the United States, although some colleagues behave as if it should be that way. Auslandsanglistik, English Studies from outside, can only make a genuine contribution to an understanding of another culture if it operates from within the tradition of its own culture, thus adding a further perspective.

Dass deutsche Anglisten durchaus zu anderen Ergebnissen in der Wertung bestimmter Autoren oder Epochen gelangen, mag an der Perspektive des außenstehenden Betrachters liegen, aber auch an der unterschiedlichen Methodik, da sich

15 Vgl. zur besonderen Bedeutung der Shakespeare-Rezeption in Deutschland Erken (1992: 717f.): »In keinem anderen Land auf dem Kontinent hat Shakespeare eine so paradigmatische Bedeutung erlangt wie in Deutschland, und kein ausländischer Dichter ist hier so sehr zum Anreger, Leitbild und Mythos geworden wie Shakespeare. Sein Name war eine Parole, bevor man seine Werke kannte, sein ›Genie‹ eine Berufungsinstanz, bevor man seine Kunst gründlicher zu studieren unternahm. Die Erkenntnis seines Schaffens entband zugleich produktive Kräfte und verband sich mit einem Kult, in dem Bewunderung und Selbstgenuß nahe beieinander lagen. Die deutsche ShakespeareRezeption neigte von Anfang an zu einer Idolisierung, die sich zuletzt auf ihre Selbstdarstellung ausdehnte.«

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1. Literaturgeschichten und kulturelles Gedächtnis

die Traditionen der deutschen und der englischen Literaturgeschichtsschreibung in mancher Hinsicht unterscheiden.16 Englischen Literaturgeschichten liegt beispielsweise ein sehr viel breiterer Literaturbegriff zugrunde als deutschen. Neben den üblichen ›literarischen‹ Werken aus den Gattungen Erzähltext, Drama und Lyrik finden hier auch die Texte von Historikern, Philosophen, Politikern, Theologen und sogar Naturwissenschaftlern Berücksichtigung. Zeitschriften, Pamphlete und Essays werden ebenfalls behandelt, so dass die allermeisten englischen Literaturgeschichten nahezu den Eindruck einer Schrifttumsgeschichte erwecken. Die Gründe hierfür liegen in den Anfängen der englischen Literaturgeschichtsschreibung im 16. Jahrhundert, in der zwei unterschiedliche Modelle – kurz ausgedrückt Quantität und Qualität – miteinander konkurrierten und zwischen denen »dann im 19. Jahrhundert ein Kompromiß gebildet wurde« (Grabes/Sichert 2005: 381). Dieser Kompromiss hatte den Zweck, »durch Quantität zu beeindrucken und zugleich die Großen, vor allem Chaucer, Spenser, Shakespeare, Milton, Dryden, Pope und Scott, gebührend zu feiern« (ebd.: 383) – nicht zuletzt mit dem Ziel, als Kolonialmacht den kolonisierten Völkern die Größe englischer Kultur demonstrieren zu wollen. Ab dem späten 18. Jahrhundert, genauer seit Thomas Wartons History of English Poetry, waren englische Literaturgeschichten eher »histories of written national culture rather than pure histories of literary discourse in a narrower sense« (Grabes 2004a: 2). Ganz anders sieht es in deutschen Literaturgeschichten aus: Hier werden neben dem, was in Deutschland gemeinhin unter Literatur verstanden wird – also Erzähltext, Drama, Lyrik – allenfalls noch philosophische Werke berücksichtigt. In deutschen Literaturgeschichten hängt die Würdigung eines Werkes primär von Form, Wirkung und ästhetischem Wert ab. Das ist auch ersichtlich an den Einträgen oder Kapiteln zu einzelnen Autoren in deutschen Literaturgeschichten: Hier wird überwiegend auf die künstlerischen Vorzüge eines Werkes eingegangen und weniger auf die Biographie des Autors. In englischen Literaturgeschichten findet sich dagegen meist ein so genannter ›life and letters-approach‹, d. h. eine im Prinzip gleichrangige Beschäftigung mit dem Lebenslauf eines Autors und seinen Werken (Nünning 2001: 67) mit einer Vorliebe für konkrete Fakten und einer Abneigung gegen Verallgemeinerungen und Abstraktionen (ebd.: 77). Für die Mentalität der Autoren oder die Form ihrer Werke interessieren sich englische Literaturwissenschaftler ebenfalls nicht besonders (ebd.: 61). Sie gehen viel eher auf den individuellen Charakter von Autor und Werk ein (ebd.: 62) und zielen zudem darauf ab, 16 Vgl. Maurer (2005: 7) im Vorwort seines Buches Kleine Geschichte Englands zu einem der grundsätzlichen Probleme des Historikers (und damit auch des Literaturhistorikers): »[…] jeder Historiker, der sich mit einer anderen Nation als seiner eigenen befaßt, [fußt] zwangsläufig auf der fremden nationalen Tradition; er greift zu einem Gutteil auf die historischen Forschungen des betreffenden Landes zurück. […] Freilich führt der Blick von außen gelegentlich zu Akzentuierungen und Wertungen, die sich den eigenen nationalen Traditionen verdanken: Es geht um eine ›Kleine Geschichte Englands‹ für deutsche Leser.«

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

die Vorstellungen von einer englischen Nation und englischen Grundwerten im nationalen Bewusstsein zu etablieren (ebd.). Darüber hinaus haben die englischen Verfasser von Literaturgeschichten seit jeher einen erzählenden Darstellungsmodus gegenüber dem abstrakten Theoretisieren deutscher Literaturwissenschaftler vorgezogen (ebd.: 80). Im Hinblick auf die Theorie der Literaturgeschichtsschreibung unterscheiden sich deutsche und englische Literaturgeschichten somit fundamental, was einer der Gründe dafür sein mag, dass deutsche Anglisten es vorziehen, selbst über die englische Literatur zu schreiben, anstatt schon vorhandene englische Literaturgeschichten zu übersetzen. Es gibt zwei weitere mögliche Gründe für das Schreiben deutscher Geschichten der englischen Literatur, die unmittelbar mit der Thematik von Selbst- und Fremdbild zusammenhängen: Erstens könnte der Verfasser zu ideologischen Zwecken ein bestimmtes Englandbild vermitteln wollen. Dies lässt sich zumindest bei einigen Literaturgeschichten älteren Datums durchaus überzeugend nachweisen, wie im Analyseteil der Arbeit zu zeigen sein wird. Zweitens kann der Verfasser in seine Literaturgeschichte – im Gegensatz zu einer übersetzten englischen – das Selbstbild der Deutschen einbringen, um Identität zu stiften. Literaturgeschichten entstehen nicht in einem Vakuum. Sie werden erstens notwendig vom geistigen Klima ihrer Zeit, zweitens durch den Dialog mit der anglistischen Forschung beeinflusst, und drittens stehen sie stets in einer wissenschaftsgeschichtlichen Tradition und speziell in einer Tradition der Literaturgeschichtsschreibung. Ihre Verfasser können gar nicht anders, als sich auf vorhergehende Literaturgeschichten und die in ihnen erfolgte Auswahl von Werken und Autoren zu beziehen. In Anbetracht der unglaublichen Menge an literarischen Werken wäre ein Mensch allein wohl unmöglich in der Lage, alles selbst zu lesen, geschweige denn sich eingehend mit jedem einzelnen Roman, Drama oder Gedicht zu befassen. Folglich sind die Verfasser von Literaturgeschichten gezwungen, zumindest teilweise auf Informationen aus vorhergehenden Literaturgeschichten zurückzugreifen. Wird dieses Vorgehen wiederholt, bildet sich eine Traditionslinie in der Beurteilung von Autoren, ihren Werken sowie der Epochen, in denen sie entstanden sind, heraus. Auf diese Weise entwickeln sich Traditionen der Literaturgeschichtsschreibung, und auch der in den letzten Jahrzehnten heftig umstrittene Kanon ist ein Teil dieser Tradition. Neben kulturellem Wissen, das sich unmittelbar auf die Literatur bezieht, tradieren Literaturgeschichten aber auch Informationen über den außerliterarischen Kontext. Schließlich handelt es sich bei Literaturgeschichten nie um reine Bibliographien oder Inhaltsangaben literarischer Werke, sondern sie beschäftigen sich zusätzlich mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund, vor dem die Literatur entstand. In ihnen »werden die Informationen über die Literatur mit solchen über die allgemeine Nationalgeschichte und/oder Geistes- und Kulturgeschichte eng verknüpft« (Grabes/Sichert 2005: 387), und zumindest für die englischen Literaturgeschichten ist zu beobachten,

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2. Deutsche Geschichten der englischen Literatur: Ein erster Überblick dass die Literaturgeschichten als Wissensspeicher und Instrument der Erinnerungskultur über die Literatur hinaus ein zwar mehr oder minder umfangreiches, aber insgesamt beträchtliches allgemeinhistorisches, kulturhistorisches, ideengeschichtliches und kunsthistorisches Wissen präsentieren und so mit in Erinnerung halten. (ebd.)

Damit stellen Literaturgeschichten, auch in Bezug auf den außerliterarischen Bereich, einen wichtigen, schriftlich fixierten Teil des kulturellen Gedächtnisses und eine spezielle Form der Geschichtsschreibung dar.17 Eine gedächtnisstiftende Funktion in Bezug auf das deutsche kulturelle Gedächtnis lässt sich nicht nur bei eigenen, nationalen Literaturgeschichten, sondern auch bei deutschen Geschichten englischer Literatur erkennen. Denn von Deutschen in deutscher Sprache geschriebene Literaturgeschichten tragen auch zur Verankerung der englischen Literatur in der Erinnerungskultur der Deutschen bei. So sind Literaturgeschichten beispielsweise mitverantwortlich dafür, William Shakespeare und seine Werke im deutschen kulturellen Gedächtnis zu halten.18 Dabei fungieren Literaturgeschichten nicht nur als passive Wissensspeicher, sondern sie dienen gleichzeitig, in einer aktiven Funktion, in Forschung und Lehre der didaktischen Informationsvermittlung (vgl. Grabes/Sichert 2005: 387). Die Funktion als Wissensspeicher betrifft vor allem den Kanon, den die Literaturgeschichten präsentieren und fortschreiben, also die Auswahl an Autoren und Werken, die für erinnerungswürdig gehalten werden. Durch ihren bewahrenden Charakter sorgen Literaturgeschichten dafür, »bei wechselnden literaturkritischen Trends das Wissen auch um solche Autoren und Werke in der kollektiven Erinnerung zu halten, die gerade nicht en vogue sind« (ebd.: 388). Für diese Arbeit ist die Diskussion über den traditionellen Kanon nur insofern von Bedeutung, als aus dem in deutschen Geschichten englischer Literatur etablierten und perpetuierten Kanon indirekt Rückschlüsse auf die nationale Identitätsbildung und politische Überzeugungen möglich sind.19 Denn durch eine Identifikation mit bzw. Distanzierung von bestimmten Autoren und Werken sowie deren literaturwissenschaftliche Bewertung können sich eigene politische und soziale Wertvorstellungen offenbaren. 2. Deutsche Geschichten der englischen Literatur: Ein erster Überblick Insgesamt wurden bis heute etwa zwei Dutzend deutsche Geschichten englischer Literatur veröffentlicht, welche ein recht beachtliches Korpus bilden. Diese Veröffentlichungen beschränken sich nicht allein auf das 20. Jahrhundert, denn 17 Vgl. Grabes (2004: 129): »The second insight resulting from a historical study of literary histories is that they present not only literary, but also cultural transformations.« 18 Vgl. zur Shakespeare-Rezeption in Deutschland exemplarisch Erken (1992). 19 Dem Kanon wird seitens seiner Kritiker ein ausgrenzender Charakter zugeschrieben, und ihm wird nachgesagt, er sei »ein Ausdruck und Verbreitungsinstrument nationaler, rassistischer und geschlechtsspezifischer Überlegenheitsattitüde« (Grabes/Sichert 2005: 390). Vgl. zum Konzept ›Kanon‹ und zur Kanondebatte Winko (2004).

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

bereits im 19. Jahrhundert findet sich eine eigenständige Tradition der Literaturgeschichtsschreibung. So erschienen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in relativ regelmäßigen Abständen neue deutsche Geschichten der englischen Literatur; längere, mehrere Jahrzehnte umfassende Lücken in dieser Veröffentlichungsgeschichte lassen sich nicht feststellen. Für eine rege Rezeption der deutschen Geschichten englischer Literatur spricht zudem, dass etliche Literaturgeschichten mehrere Auflagen erlebten. Zwar gibt es einige wenige, wie die von Bleibtreu (1923) und Frahne (1947), die nur einmal aufgelegt wurden; viele andere Literaturgeschichten aus dem 19. und 20. Jahrhundert wurden hingegen in mehreren Auflagen über Jahrzehnte hinweg rezipiert. Ein besonders prominentes Beispiel hierfür bildet die Geschichte der englischen Litteratur von Eduard Engel (1883) mit zehn Auflagen bis 1929. Da im Rahmen dieser Arbeit angesichts der großen Zahl der in Frage kommenden Werke nicht alle Literaturgeschichten Berücksichtigung finden können, muss eine Auswahl getroffen werden. Diese orientiert sich vor allem an zwei Kriterien: Zum einen soll eine möglichst gleichmäßige Abdeckung des Untersuchungszeitraums erzielt werden, um Entwicklungen in der Literaturgeschichtsschreibung sowie in den dort dargestellten Konzepten von Englishness angemessen erfassen zu können. Zum anderen werden in erster Linie Literaturgeschichten herangezogen, die eine möglichst weite Verbreitung bzw. Rezeption fanden. Darüber gibt die Anzahl der Auflagen einer Literaturgeschichte Aufschluss. So werden aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwei besonders erfolgreiche Literaturgeschichten, von 1856 bzw. 1883, untersucht, da diese mit sieben bzw. zehn Auflagen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein rezipiert wurden. Nicht alle ausgewählten Werke entsprechen jedoch beiden Kriterien. Die während der Zeit des Nationalsozialismus erschienene Literaturgeschichte von Carl Meißner etwa wurde nach dem Krieg in dieser Form nicht neu aufgelegt. Sie erweist sich jedoch als so aufschlussreich für den Zeitgeist, dass sie dennoch in dieser Arbeit Berücksichtigung finden muss. Ausgewählt wurden letztlich: – Hermann Hettner. Geschichte der englischen Literatur: von der Wiederherstellung des Königthums bis in die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, 1660–1770. Braunschweig: Vieweg, 1856 (7 Auflagen bis 1913). – Eduard Engel. Geschichte der englischen Litteratur. Von ihren Anfängen bis auf die neueste Zeit. Leipzig: Elischer, 1883 (10 Auflagen bis 1929). – Carl Weiser. Englische Literaturgeschichte. Leipzig: Göschen, 1902 (4 Auflagen bis 1914). – Walter F. Schirmer. Geschichte der englischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Halle: Niemeyer, 1937 (6 Auflagen bis 1983). – Paul Meißner. Englische Literaturgeschichte. Berlin/Leipzig: de Gruyter, 1937–39 (1 Auflage). – Ewald Standop/Edgar Mertner. Englische Literaturgeschichte. Heidelberg: Quelle & Meyer, 1967 (5 Auflagen bis 1992).

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2. Deutsche Geschichten der englischen Literatur: Ein erster Überblick

– Ulrich Seeber (Hrsg.). Englische Literaturgeschichte. Stuttgart: Metzler, 1991 (4 Auflagen bis 2004). – Peter Erlebach/Bernhard Reitz/Thomas Michael Stein. Geschichte der englischen Literatur. Stuttgart: Reclam 2004 (2 Auflagen bis 2007). Wie schon die obige Liste andeutet, ist hinsichtlich der Verfasserschaft von Literaturgeschichten in den letzten Jahrzehnten ein interessanter Trend zu beobachten. Wurde vor dem Zweiten Weltkrieg eine Literaturgeschichte in der Regel von einem einzelnen Autor verfasst, kam es nach dem Krieg immer häufiger dazu, dass mehrere Autoren gemeinsam eine Literarhistorie verfassen oder dass sogar, wie im Fall der von Seeber herausgegebenen Literaturgeschichte, nahezu jedes Kapitel von einem anderen Autoren verfasst wird. Dabei schreibt in der Regel jeder der Autoren primär über sein Spezialgebiet innerhalb der englischen Literatur. Bei den hier untersuchten Werken ist dies bei drei Literaturgeschichten der Fall: Ewald Standop und Edgar Mertner verfassten gemeinsam eine Literaturgeschichte, ebenso Peter Erlebach, Bernhard Reitz und Michael Stein; Ulrich Seeber fungierte sowohl als Herausgeber als auch als einer der Autoren. Jeder der ausgewählten Literaturgeschichten wird im Verlauf dieser Arbeit ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem auf ihre jeweiligen Besonderheiten eingegangen sowie das in ihr konstruierte Englandbild analysiert werden wird. Da Entwicklungen im Englandbild und in der Literaturgeschichtsschreibung in deutschen Geschichten der englischen Literatur aufgezeigt werden sollen, erscheint eine chronologische Behandlung der Literaturgeschichten angeraten. Zudem erlaubt die chronologische Anordnung es auch, Traditionslinien und Weiterentwicklungen in der deutschen Anglistik herauszuarbeiten. Innerhalb der einzelnen Kapitel werden jene Aspekte der Literaturgeschichten untersucht, die für diese Arbeit besonders interessant sind. Zu diesen gehören: Periodisierung, Zusammensetzung und Präsentation des Kanons; zugrunde gelegte literaturwissenschaftliche Konzepte; implizit und explizit vermitteltes Englandbild. Auf die genannten Aspekte und deren Implikationen wird im Folgenden noch näher eingegangen werden. Dass die Literaturgeschichtsschreibung in der deutschen Anglistik in den letzten 150 Jahren rege war, wird auch daran deutlich, dass in den letzten Jahrzehnten neue Formen der Darstellung der englischen Literaturgeschichte erprobt wurden. Seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zeichnen sich in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung etwa eine erhöhte Tendenz zur Theoretisierung und eine stärkere Fokussierung auf bestimmte Themen und Kontexte ab.20 Ein Beispiel für »das Experiment einer anderen Literaturgeschichte« (Schabert 1997: xii) bildet Ina Schaberts Englische Literaturgeschichte aus der Sicht der Geschlechterforschung (1997) sowie der Fortsetzungsband Englische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts (2006). Theoretisierung, Kontextualisierung und thematische Fokussierung in dieser und anderen Literaturgeschichten neueren Datums gehen oft mit 20 Stierstorfer (2002: 118) sieht diese Tendenz als Gegenreaktion zum New Criticism, der »jeglichen Kontext[…] ›neben‹ oder ›hinter‹ dem literarischen Werk [ausblendet].«

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

einer ausgeprägten Selektivität einher.21 Anders als in traditionellen Literaturgeschichten wird in diesen neuen Typen von Literaturgeschichten nicht mehr eine Gesamtschau der englischen Literaturgeschichte angestrebt, sondern es werden bewusst spezifische Akzente gesetzt. Zwar muss letztlich jede Literaturgeschichte selektiv verfahren, aber in den Literaturgeschichten des neuen Typus wird diese Selektivität offengelegt, kritisch reflektiert und anhand von expliziten Kriterien vorgenommen. Schabert erklärt in diesem Sinne zu Literaturgeschichten allgemein und zur Zielsetzung ihres Buches im Besonderen: So wählt […] jede Literaturdarstellung einen Zugang, einige wenige Perspektiven aus, um das Material sichten und überschaubar darstellen zu können. Oft ist dies einfach die herkömmliche, kanonisierte Sehweise, über deren Besonderheit, Enge und Parteilichkeit gar nicht mehr, zumindest nicht laut, nachgedacht wird. Das vorliegende Buch hingegen wählt bewusst aus und zeigt bestimmte Zusammenhänge auf. Es erzählt Literaturgeschichte als Geschichte eines Dialogs zwischen Männern und Frauen – zwischen Autoren und Autorinnen, Leserinnen und Lesern, Kritikern und Kritikerinnen. (Schabert 2006: xii)

Die Selektivität, die notwendig für jede Literaturgeschichte kennzeichnend ist, wird also in den neuen, alternativen Literaturhistorien offen gelegt und nicht zuletzt im Interesse einer Abgrenzung von traditionellen Literaturgeschichten offensiv vertreten. Weitere Beispiele für Literaturgeschichten mit einer in dieser Form veränderten Prämisse sind Vera Nünnings Kulturgeschichte der englischen Literatur22 (2005) sowie Ansgar Nünnings bewusst selektive Eine andere Geschichte der englischen Literatur (1996), die einzelne Epochen und Gattungen näher beleuchtet, andere dafür völlig außer Acht lässt. Das Aufkommen dieses neuen Typus von Literaturgeschichten ist sehr interessant und sicherlich der Untersuchung wert, aber da diese Literarhistorien sich hinsichtlich ihrer Prämisse von den ›traditionellen‹ Vertretern unterscheiden und somit ein Vergleich mit der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung problematisch erscheint, werden sie hier nicht behandelt. Neben den soeben skizzierten neuen Tendenzen in der Literaturgeschichtsschreibung werden aber auch nach wie vor Literaturgeschichten des tradi21 Interessanterweise ergaben Recherchen über englische Literaturgeschichten aus der ehemaligen DDR, bei denen eine Fokussierung auf sozialistische Tendenzen in der englischen Literatur zu erwarten wäre, lediglich einen Treffer: Phyllis Mary Ashrafs Buch Englische Arbeiterliteratur vom 18. Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg (1979). Und bei diesem handelte es sich um eine Übersetzung aus dem Englischen. 22 Vera Nünning stellt die Prämisse dieser Literaturgeschichte folgendermaßen dar: »Für die Auswahl der im Folgenden erörterten Gegenstände und Werke sind zwei Prinzipien maßgeblich: Zum einen geht es um die Beziehung zwischen Literatur und epochenspezifischen Kulturthemen, d.h. solchen Themen, die zur jeweiligen Zeit intensiv debattiert wurden und daher Aufschluss über die Besonderheiten der Zeit geben. Zum anderen orientiert sich die Auswahl an der Relevanz und Wirkmächtigkeit der jeweiligen Inhalte für die Gegenwart.« (2005: viif.)

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3. Literaturgeschichten als Medien der Konstruktion von Fremdbildern und der Identitätsstiftung

tionellen Typus veröffentlicht, die bei aller unausweichlichen Selektivität doch eine Gesamtschau der Entwicklung der englischen Literatur anstreben. 3. Literaturgeschichten als Medien der Konstruktion von Fremdbildern und der Identitätsstiftung Es wurde eingangs schon betont, dass Literaturgeschichten zur Formung des kulturellen Gedächtnisses beitragen. In ihnen werden Auffassungen von der Vergangenheit, von literarischen, historischen und kulturellen Entwicklungen, aber auch Fremd- und Selbstbilder festgeschrieben. Überzeugungen aus ihrer Entstehungszeit werden in Literaturgeschichten schriftlich fixiert, verbreitet, an nachfolgende Generationen weitergegeben und damit in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben. Der Einfluss, den Literaturgeschichten als Gedächtnismedien haben können, hängt wesentlich mit der Autorität zusammen, die ihnen als Referenzwerken im Wissenschaftsbetrieb zugeschrieben wird. Bei der gedächtnisstiftenden Funktion von Literaturgeschichten ist auch zu bedenken, dass zwischen den einzelnen Literaturgeschichten eine Traditionslinie bestehen kann: Verfasser von Literaturgeschichten werden vielfach von den Werken ihrer Vorgänger beeinflusst und wirken ihrerseits auf ihre eigenen Nachfolger, so dass sich mit der Zeit eine Tradition der Literaturgeschichtsschreibung herausbildet. Diese zeigt sich in Ähnlichkeiten hinsichtlich der Zusammensetzung des Kanons, der Periodisierung, der Darstellung von Autor und Werk sowie dem Bild, das von der eigenen oder einer fremden Kultur gezeichnet wird. Die Funktionen, die deutsche Geschichten der englischen Literatur haben können, sind dabei mannigfaltig: Sie können Fremdbilder vermitteln, die eigene Identität definieren, zu einer mentalen Abgrenzung von anderen Ländern beitragen oder einen didaktischen Anspruch haben. All diese Funktionen, die sich teilweise gegenseitig bedingen können und nicht immer ganz trennscharf sein müssen, bedürfen der näheren Erläuterung. Zunächst sollen die Fragen untersucht werden, was Fremdbilder sind und warum und wie sie überhaupt in Literaturgeschichten vermittelt werden können.23 23 Der Begriff ›Fremdbilder‹ wird oft synonym zu den Begriffen ›Vorurteil‹ und ›Stereotyp‹ verwendet. Zur Definition letzterer Begriffe vgl. Zimbardo/Gerrig (1999: 436): »Als Vorurteil bezeichnet man eine gelernte Einstellung gegenüber einem Zielobjekt, bei der negative Gefühle (Abneigung oder Angst) und negative Annahmen (Stereotype) beteiligt sind, die als Rechtfertigung für die Einstellung dienen.« Jahnke (1975: 76f.) definiert hingegen drei Arten von Stereotypen relativ neutral: »1. Stereotype als Zusammenfassung angeblich typischer Eigenschaften von Gruppen (kulturelle Objektivationen). 2. Stereotype als individuelle Annahmen und Erwartungen. 3. Stereotype als verhaltensrelevante kognitive Schemata. So verstanden sind Stereotype sowohl aus mittelbaren oder unmittelbaren sozialen Beziehungen hervorgegangene, als aus soziale Beziehungen bestimmende Konstrukte aufzufassen [sic]. Es ist allerdings noch keineswegs ausreichend geklärt, wie handlungsrelevant z. B. globale gruppenbezogene Vorstellungsbilder im konkreten Einzelfall sind. Mit den herkömmlichen Methoden ermittelte Stereotype sind daher eher als regelhafte Erwartungsbilder aufzufassen, wobei

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

Ganz simpel ausgedrückt erfassen Fremdbilder, wie eine Gruppe von Menschen eine andere sieht und welche Eigenschaften und Verhaltensweisen den anderen zugeschrieben werden. Fremdbilder bestehen also im Prinzip aus Merkmalsbündeln, die diachron relativ stabil, aber auch variabel sein können. Die diesen Merkmalsbündeln zugrunde liegenden »Wahrnehmungsurteile« beziehen sich, so Jahnke, nicht nur auf emotionale Zustände, sondern häufig auf relativ überdauernde Eigenschaften. Während Gefühle und Affekte als vorübergehende Phänomene aufgefaßt werden, gehen wir meist von der Annahme aus, daß jeder Mensch in seiner individuellen Eigenart durch Eigenschaften gekennzeichnet ist, die sich in seinem Verhalten durch eine gewisse Gleichförmigkeit über die Zeit und über verschiedene Situationen hinweg manifestieren. (1975: 88f.)

Diese Feststellung bezieht sich zunächst auf Prozesse, die im Individuum ablaufen.24 Die Existenz von überindividuell verbreiteten Konzepten wie Englishness, unter denen verschiedene Individuen annähernd das gleiche verstehen, legt jedoch nahe, dass diese Prozesse innerhalb einer sozialen Gruppe oder Nation zu ähnlichen Ergebnissen führen. Es liegt in der Natur des Menschen, sich ein Bild der ›Anderen‹ zu machen und ihnen überdauernde Eigenschaften zuzuschreiben, wobei Vorstellungen zum Tragen kommen, die von Mitgliedern einer Gruppe geteilt werden können. Gerade weil diese Bilder innerhalb einer Gruppe zirkulieren, müssen sie nicht unbedingt durch direkten Kontakt mit ›dem Fremden‹ entstanden sein; viel öfter formen sich Fremdbilder durch indirekte Vermittlung, also durch die Medien oder das Hörensagen. Deutsche Geschichten englischer Literatur tragen zur Konstruktion und Zirkulation von Fremdbildern innerhalb des deutschen Kulturkreises bei. In ihrer Konstruktion eines Fremdbildes sind sie aber auch Einflüssen durch das Selbstbild der Engländer ausgesetzt, denn die Literaturgeschichtsschreibung in England geht durchaus selbst von der Existenz einer spezifischen Englishness der eigenen LiteAusnahmen durchaus im Bereich des Möglichen liegen. Wenn jemand ›den Deutschen‹ vor anderen Nationen als sehr ›arbeitsam‹ einschätzt (Buchanan und Cantril 1953), dann wird ihm die Vorstellung eines ›faulen‹ Deutschen kaum Schwierigkeiten machen, und es ist zu fragen, ob global gewonnene Stereotype nicht durch die verwendete Methode notwendig überprägnante Abstraktionen darstellen, die die konkrete Interaktion vielleicht weniger bestimmen, als wertende Stellungnahmen und Meinungen, die sich während des Kontakts fluktuierend bilden.« Das zeigt, dass der Begriff ›Stereotyp‹ durchaus nicht unbedingt negativ besetzt sein muss. Da in der Allgemeinheit die Begriffe ›Vorurteil‹ und ›Stereotyp‹ aber eher negativ konnotiert sind, wird hier von ihrem weiteren Gebrauch weitestgehend abgesehen. 24 Die Bedeutung des Individuums für kollektive Prozesse definiert Hansen (2000: 157) folgendermaßen: »Kultur wird von Kollektiven getragen. Diese aber bestehen aus einzelnen Individuen, die insofern als die letztendlichen Träger der Kultur anzusehen sind.« Da es sich bei der Entstehung von Fremdbildern um einen in der Kultur verankerten Prozess handelt, ist auch dabei das Individuum als ›der letztendliche Träger anzusehen‹.

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3. Literaturgeschichten als Medien der Konstruktion von Fremdbildern und der Identitätsstiftung

ratur aus und stellt dies in eigenen Literaturgeschichten auch so dar (vgl. Nünning 2001: 58).25 Die deutschen Verfasser werden also, sofern sie mit englischen Literarhistorien vertraut sind – wovon in der Regel auszugehen sein dürfte –, schon dort mit einem vorgeformten Selbstbild der Engländer konfrontiert. Dieses wird dann in der einen oder anderen Form in eigenen, deutschen Literaturgeschichten weitertransportiert, oder es erfolgt zumindest eine Reaktion darauf. Bei der Formulierung von Fremdbildern nehmen vor allem die Autoren älterer Literaturgeschichten kein Blatt vor den Mund: Bestimmte Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen englischer Autoren werden als ›typisch englisch‹ bezeichnet, und historische sowie kulturelle Entwicklungen – die ebenfalls immer in Literaturgeschichten geschildert werden – werden teilweise mit dieser Englishness begründet. Wie die Analysekapitel zu den einzelnen Literaturgeschichten noch zeigen werden, ist das Bild, das von den Engländern in deutschen Geschichten der englischen Literatur vermittelt wird, in den seltensten Fällen negativ, sondern meist positiv oder doch zumindest neutral. Bei der Konstruktion von Fremdbildern, die in Literaturgeschichten zu beobachten ist, muss zwischen drei Ebenen unterschieden werden. Erstens können Autoren typisch englische Charaktereigenschaften zugeschrieben werden, so dass sie selbst zu Musterbeispielen für Englishness werden. Zweitens können Werke als charakteristisch für England dargestellt werden. Solche Annahmen stellen eine logische Konsequenz der im 19. Jahrhundert allgemein verbreiteten Annahme eines Volkscharakters dar, als dessen Ausdruck unter anderem die Literatur angesehen wurde. Drittens schließlich können historische und kulturelle Entwicklungen als nahezu unausweichliche Folge der Englishness erklärt werden. Eine Zuschreibung von Charaktereigenschaften geschieht nicht zufällig, sondern kann durchaus absichtlich erfolgen. In der in der Zeit des Dritten Reiches entstandenen Literaturgeschichte von Meißner etwa wird die ideologische Funktionalisierung der Zuschreibung von Charaktereigenschaften sehr deutlich, wie in Kapitel III.2 zu zeigen sein wird. Über die Identifizierung von Englishness in Bezug auf Autoren, Werke oder historische und kulturelle Entwicklungen hinaus lassen sich aber auch aus der Auswahl und Gewichtung von Autoren und Epochen zumindest indirekt Rückschlüsse auf das Konzept von Englishness ziehen. Die Auswahl von Autoren und Epochen definiert hierbei, was die englische Literatur ausmacht, und damit zwangsläufig auch, was charakteristisch für England ist. Des Weiteren kann sich auch die Benennung von literarhistorischen Epochen als aussagekräftig erweisen, da schon die Bezeichnung einer Periode Aufschluss

25 Beispielhaft hierfür ist Rogers (2001: v) im Vorwort der Oxford Illustrated History of English Literature: »The Englishness of English literature is not just the product of some broad political, social, or cultural influences; it is an artistic fact, a phenomenon to be explored with the help of rhetoric and criticism, just like the nature of tragedy or the essence of the fictive. A main aim of this volume is to help the reader explore the great treasury of English literature in the light of that fact.«

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

darüber geben kann, was als wichtig im Hinblick auf die Definition von Englishness erachtet wird.26 So werden etwa durch die Bezeichnung ›Viktorianisches Zeitalter‹ schon bestimmte Assoziationen hervorgerufen, die an England geknüpft sind, während die Bezeichnung ›Romantik‹ wohl kein Englandbild evoziert, sondern den Akzent eher auf gesamteuropäische Entwicklungen legt. Die Epocheneinteilung ist nicht ausschließlich abhängig von werkimmanenten Aspekten, sondern mindestens ebenso von der Bedeutung, die der Verfasser einer Literaturgeschichte kulturellen Gegebenheiten beimisst, sowie davon, was als markant und typisch für eine Epoche erachtet wird. Das können ganz unterschiedliche Aspekte sein. In englischen Literaturgeschichten findet sich zum Beispiel fast immer die Epoche des Viktorianismus, weil die von den Engländern als bedeutsam empfundene lange Blütezeit ihres Empires vor allem mit ihrer Königin Viktoria identifiziert wird – auch in Bezug auf die Literatur. Weitere Epochen werden ebenfalls nach Monarchen benannt, wieder andere eher nach einzelnen bedeutenden Autoren oder politischen Ereignissen. In deutschen Literaturgeschichten herrscht im Gegensatz zu englischen eine Epocheneinteilung nach kunsthistorischen Richtungen wie Klassizismus oder Barock vor. Wenn nun deutsche Autoren über die englische Literatur schreiben, welchen Ansatz wählen sie? Orientieren sie sich an der deutschen Tradition der Epocheneinteilung, oder wählen sie vielmehr Epochenbezeichnungen und -einteilungen, die auf die englische Tradition abgestimmt sind, wie beispielsweise die Epoche der Restauration? Ist letzteres der Fall, so können sich aus den gewählten Epochenbezeichnungen bereits Rückschlüsse darauf ziehen lassen, was deutsche Autoren für so bedeutend an der englischen Geschichte und Kultur halten, dass sie Epochen darüber definieren und damit implizit auch, was für sie so spezifisch ›englisch‹ ist. Wenn in Literaturgeschichten mittels der soeben explizierten Verfahren Fremdbilder konstruiert werden, dann kommen dabei vielfach zugleich auch Selbstbilder zum Tragen – und zwar sowohl Selbstbilder der Engländer als auch Selbstbilder der Deutschen. Dass Fremdbilder und Selbstbilder in literaturgeschichtlichen Darstellungen Hand in Hand gehen, ist auf den grundsätzlichen, konzeptuellen Zusammenhang zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung zurückzuführen. Bei Selbstbildern handelt es sich um Vorstellungen, die ein Individuum bzw. eine Gruppe von Menschen – im Zusammenhang dieser Arbeit die Menschen einer Nation – von sich selbst hat. Selbstbilder sind für die vorliegende Untersuchung aus zweierlei Gründen von Bedeutung: Einerseits kann die Art und Weise, wie sich die Engländer sehen und dementsprechend in ihren eigenen Literaturgeschichten präsentieren, durchaus Auswirkungen auf ihre Darstellung in deutschen

26 Zur Definition des literaturgeschichtlichen Grundbegriffs ›Epoche‹ vgl. Nünning (1998: 9): »Der Epochenbegriff bezeichnet (mehr oder weniger große) Zeiträume, Entwicklungseinheiten oder Phasen einer Literaturgeschichte, innerhalb derer viele Werke bestimmte geistesgeschichtliche, thematische, formale oder stilistische (›Epochenstil‹) Ähnlichkeiten aufweisen.«

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3. Literaturgeschichten als Medien der Konstruktion von Fremdbildern und der Identitätsstiftung

Geschichten englischer Literatur haben; andererseits gibt die Darstellung der Engländer und der Englishness in deutschen Geschichten englischer Literatur auch – direkt oder indirekt – Aufschluss über das Selbstbild der Deutschen. Für dieses Phänomen ist der Begriff des ›Ethnozentrismus‹ von großer Wichtigkeit. Dieser besagt, dass Menschen dazu tendieren, andere Völker aus der Sicht der eigenen Kultur und anhand der eigenen Normen und Werte wahrzunehmen und zu beurteilen. Die eigene Kultur ist folglich der Maßstab, an dem sich alle anderen messen lassen müssen (vgl. Maletzke 1996: 23). Wie in den Analysekapiteln zu zeigen sein wird, geben die Bewertungen englischer Charakterzüge oft auch Aufschluss über das Selbstbild der Verfasser deutscher Geschichten englischer Literatur. Selbstbilder können sich zum einen in der Darstellung einzelner typischer Charakterzüge konkretisieren (z.B. im englischen Pragmatismus), zum anderen können sie sich aber auch zu komplexeren Verkörperungen des Nationalcharakters verdichten. Beispiele hierfür sind der ›Deutsche Michel‹ oder der englische ›John Bull‹: He [der ›Deutsche Michel‹] belongs to the curious representations of the nation, not as a country or state, but as ›the people‹, which came to animate the demotic political language of the nineteenth-century cartoonists, and was intended (as in John Bull and the goateed Yankee – but not in Marianne, image of the Republic) to express national character, as seen by the members of the nation itself. Their origins and early history are obscure, though, like the national anthem, they are almost certainly first found in eighteenth-century Britain. (Hobsbawm 1983b: 276)

Im Rahmen dieser Arbeit wird u.a. zu überprüfen sein, ob und wie das Selbstbild des John Bull auch für die deutschen Geschichten der englischen Literatur übernommen wird.27 Wenn Literaturgeschichten Selbstbilder wie das des John Bull aufgreifen, dann verweist dies bereits auf die zunächst vielleicht abwegig klingende Möglichkeit, dass Literarhistorien auch zur politischen Identitätsstiftung beitragen können.28 Dieses Funktionspotential von Literaturgeschichten soll im Folgenden näher beleuchtet werden. 27

Zu der Figur des ›John Bull‹ vgl. Gelfert (1999: 197): »Die Figur war von Dr. Arbuthnot kreiert worden, als er 1712 mit einer Sammlung von Pamphleten unter dem Titel The History of John Bull zu Felde zog. 1727 brachten Pope und Swift in ihren Miscellanies die Pamphlete in veränderter Fassung neu heraus. Seitdem ist John Bull der Inbegriff des bürgerlichen Engländers. Schon im ersten Pamphlet wird er als ein ehrlicher, freimütiger, mutiger, trinkfester, zuweilen streitsüchtiger und immer streitbarer Mann beschrieben, der der Obrigkeit die Stirn bietet und dennoch für law and order ist.« 28 Vor allem die bürgerlichen Engländer erkannten sich selbst und ihre Nation im John Bull wieder. Diese Manifestation eines Nationalcharakters übte zudem eine große Anziehungskraft auf junge Deutsche in der zweiten Hälte des 18. Jahrhunderts aus, wie Buruma (1998: 59) beschreibt: »More and more, especially after the French Revolution, English liberties were described by the English themselves as not only ancient but natu-

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

Dass Literatur zur politischen Identitätsbildung eingesetzt werden kann und auch tatsächlich eingesetzt wurde, ist hinlänglich bekannt. Im 19. Jahrhundert betrachtete man beispielsweise in England die eigene Literatur als probates Mittel, die Kolonialvölker den eigenen Vorstellungen entsprechend zu erziehen. Die Literatur spielte also eine wichtige, aktive Rolle bei der Vermittlung von Werten und politischer Identität und wurde bewusst zum Nutzen der Kolonialmächte in der kolonialen Schulbildung eingesetzt, wie Thomas Babbington Macaulays »Minute on Indian Education« (1835) belegt. In seiner Parlamentsrede über Indien sieht er die Bevölkerung nach erfolgreicher Erziehung mittels englischer Literatur als »Indian in blood and colour, but English in taste, in opinions, in morals, and in intellect« (Macaulay 1995 [1835]: 430). Gymnich schreibt zur Bedeutung von literarischen Texten und von Literaturcurricula im Kontext kolonialer Bildungspolitik: European literary texts, often the very texts that construct and perpetuate pejorative images of the colonized, were utilized as a crucial part of colonial education, in this way serving in a very direct manner as instruments of colonialist control. In the colonies the education system was set up in accordance with the values and the cultural heritage of the colonizer. Thus, colonial school curricula not only made the teaching of the language of the colonizer obligatory, but also the teaching of European sciences, European history and European literature. (Gymnich 2005a: 128)

Dieses Beispiel verdeutlicht die Bedeutung von Literatur bei der politischen Identitätsbildung und verweist zumindest indirekt auch bereits auf eine mögliche Rolle der Literaturgeschichtsschreibung in diesem Kontext, leisten doch Literaturgeschichten einen entscheidenden Beitrag zur Etablierung des Literaturkanons und damit auch zur Selektion jener Texte, die z. B. im kolonialen Bildungssystem als ›typisch englisch‹ vermittelt wurden. Damit sind die Möglichkeiten, wie Literaturgeschichten zur politischen Identitätsbildung beitragen können, aber noch nicht erschöpft.

ral; not the result of skeptical philosophy, increased knowledge, and sound reasoning, as Voltaire thought, but of the nature of the English people. John Bull was an insular fellow, and proud of it, but also democratic, in a populist way. Proud of his Saxon origins and his constitutional liberties, he hated artifice, which was French, and loved spontaneous, unadorned virtue, which was English. The oppressive Gallophile aristocracy was ›Norman‹, the proud, free authentic people were ›Saxon‹. This idea of nationhood was so attractive to many young Germans in the 1760s and 1770s that they took it over. It was a double-edged thing, however, this translation from one nationalism to another, for if the promotion of John Bull was part of a struggle to expand political rights, it contained a great deal of racialism too. Shakespeare was one of its main icons, admired in Germany both for the universality of his genius and the authenticity of his roots.«

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3. Literaturgeschichten als Medien der Konstruktion von Fremdbildern und der Identitätsstiftung

Es können grundsätzlich drei Wege unterschieden werden, wie Literaturgeschichten politisch identitätsstiftend wirksam werden können:29 erstens durch die Vermittlung politischer Werte, zweitens durch Abgrenzung von anderen und drittens durch die ›Erfindung von Tradition‹. Diese drei Punkte sind eng verknüpft mit der Nationalismusforschung, die die nationale Identität als »imaginatives Konstrukt« ansieht, an dem »die Erinnerungskultur nicht unwesentlich beteiligt ist – und zwar gerade auch der nationale Literaturkanon« (Grabes/Sichert 2005: 379). Sinn und Zweck des Nationalismus ist es, Identität zu schaffen, indem die Gemeinsamkeiten innerhalb einer Bevölkerung betont werden, oder, wie es Kedourie ausdrückt: »The inventors of the doctrine tried to prove that nations are obvious and natural divisions of the human race, by appealing to history, anthropology, and linguistics« (Kedourie 1994: 53). Die Suche nach Identität scheint einem individuellen und kollektiven Bedürfnis zu entspringen, das es zu befriedigen gilt (vgl. Nairn 1994: 71). Nationalistisches Denken ist besonders deutlich beim Aufkommen der modernen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert zu beobachten, die oft vor dem Problem standen, eine heterogene Bevölkerung zu einem politischen Ganzen formen zu müssen, um ihren Fortbestand zu sichern. Gemeinsamkeiten mussten also definiert werden, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen:30 Since […] it is quite obvious that there are very few groups in the world today whose members can lay any serious claim to a known common origin, it is not actual descent that is considered essential to the definition of an ethnic group but a belief in a common descent. (Brass 1994: 83)

Da die tatsächliche ethnische Abstammung als verbindendes Merkmal in den meisten Nationen also nicht in Frage kam, mussten andere Gemeinsamkeiten gefunden oder, wenn nötig, erfunden werden, was Eric Hobsbawm mit seinem Begriff der ›Invented Tradition‹ definiert: We should not be misled by a curious, but understandable paradox: modern nations and all their impedimenta generally claim to be the opposite of novel, namely rooted in the remotest antiquity, and the opposite of constructed, namely human communities so ›natural‹ as to require no definition other than self-assertion. Whatever the historic or other continuities embedded in the modern concept of ›France‹ and ›the French‹ – and which nobody would seek to deny – these very concepts themselves must include a constructed or ›in29 Zudem können Stereotypen auch soziale Identität schaffen, wie Maletzke (1996: 110) ausführt: »Außerdem dienen gemeinsame Stereotype der Identifikation mit der Gruppe und dem sozialen Zusammenhalt.« 30 Eine besondere Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Shakespeare-Rezeption in Deutschland, wie Erken (1992: 738) bemerkt: »Die Erwartung, daß die systematische Pflege Shakespeares und seine Verbreitung in allen Klassen des Volks zur ›Hebung patriotischer Gesinnung‹ beitragen und die Nation der ersehnten Freiheit und Einheit näherbringen könne, charakterisierte […] die Anstrengungen, die wenige Jahre vor der deutschen Reichsgründung zur Gründung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft führten.«

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung vented‹ component. And just because so much of what subjectively makes up the modern ›nation‹ consists of such constructs and is associated with appropriate and, in general, fairly recent symbols or suitably tailored discourse (such as ›national history‹), the national phenomenon cannot be adequately investigated without careful attention to the ›invention of tradition‹. (Hobsbawm 1994: 76)

Literaturgeschichten – vor allem solche älteren Datums – tragen zur ›invention of tradition‹ bei, indem sie eine durchgängige Entwicklungslinie für Literatur und Kultur aufzeigen bzw. konstruieren und damit nahe legen, dass ein Land auf eine viel längere Geschichte zurückblicken kann, als es als Nation eigentlich existiert. Die erste der drei oben genannten Möglichkeiten – die Vermittlung politischer Werte in Literaturgeschichten – ist in der Regel relativ einfach im Text festzumachen, vor allem in Literaturgeschichten, die vor dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht wurden: Der Verfasser erläutert und bewertet in unterschiedlichen Graden an Explizitheit das politische System des anderen Landes (hier England) und urteilt über die generelle politische Haltung der Bevölkerung sowie die Auswirkungen dieser Haltung. In solchen Erläuterungen und Bewertungen schlagen sich häufig politische Wertvorstellungen nieder, die auch den Einfluss des politischideologischen Klimas der Entstehungszeit der Literaturgeschichte erkennen lassen.31 D. h. in solchen Fällen kommt es nicht nur zu Aussagen über das Andere, sondern implizit auch über das Eigene. Das läuft, vereinfacht gesagt, nach dem Prinzip ab: ›Was machen die Engländer, und wie finden wir das?‹ Aspekte des politischen Bereichs, die als positiv bewertet werden, können dem deutschen Leser sogar als nachahmenswertes Vorbild vorgestellt werden. Verurteilt der Verfasser der Literaturgeschichte die politischen Vorgänge in England (z. B. die Herrschaft der Puritaner), so dient dies hingegen als abschreckendes Beispiel für deutsche Leser. Oft, gerade in Literaturgeschichten neueren Datums, wird aber auch auf eine Wertung verzichtet – in diesem Fall fungiert die Schilderung politischer Haltungen und Ereignisse lediglich als Hintergrund für die Entstehung literarischer Werke. Dies ist auch der Grund, weshalb der politische Bereich in deutschen Geschichten englischer Literatur niemals gänzlich ausgeklammert wird. Die zweite Möglichkeit der politischen Identitätsstiftung innerhalb einer Literaturgeschichte ist die Abgrenzung vom Anderen. Damit ist zunächst gemeint, dass der deutsche Nationalcharakter durch die Gegenüberstellung mit dem, was man als typisch für England erachtet, näher definiert wird. Eine weitere, komplexere, Möglichkeit für politische Identitätsstiftung auf dem Wege einer Abgrenzung vom Anderen ist die im Rahmen dieser Untersuchung mehrfach beobachtete Neigung 31 Dies ist z.B. bei Literaturgeschichten zu beobachten, die im England des 19. und frühen 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurden, wie Stierstorfer (2002: 126) feststellt: »Wenngleich gerade die englische Literaturgeschichte in der historischen Perspektive als Instrument eines nicht selten zum Hurrah-Patriotismus entarteten Nationalgefühls oder eines kolonialen Machtinstruments zu identifizieren ist, sollte dahinter doch auch das ausgesprochen positive Potential der Gattung nicht verkannt werden.«

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3. Literaturgeschichten als Medien der Konstruktion von Fremdbildern und der Identitätsstiftung

von deutschen Literaturwissenschaftlern, anhand des Vergleichs mit der englischen Kultur und Literatur negativ über Frankreich zu urteilen. Die Franzosen wurden in Literaturgeschichten bis zum Zweiten Weltkrieg bisweilen feindselig beäugt, was politisch – gemäß dem Satz ›Ein gemeinsamer Feind eint‹ – als sinnvoll erachtet wurde.32 Hobsbawm verweist in diesem Zusammenhang auf die Feindschaft, die Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg von deutscher Seite allgemein entgegengebracht wurde, und bezeichnet Deutschland als »a nation relying for its self-definition to so great an extent on its enemies, external and internal« (Hobsbawm 1983b: 279).33 Die dritte Möglichkeit der politischen Identitätsstiftung durch Literaturgeschichten hängt unmittelbar mit dem von Hobsbawm geprägten Begriff der ›Invented Tradition‹ zusammen. Damit ist nicht die Tradition der Literaturgeschichtsschreibung gemeint, sondern Folgendes: ›Invented tradition‹ is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past. In fact, where possible, they normally attempt to establish continuity with a suitable historic past. (Hobsbawm 1983a: 1)

Was dieses Konzept mit Literaturgeschichten und der Formung von politischer Identität zu tun hat, wird deutlich, wenn Hobsbawm an späterer Stelle genauer auf die verschiedenen ›Typen‹ der ›erfundenen Tradition‹ eingeht. Diese sind nämlich größtenteils auf Literaturgeschichten anwendbar, freilich in erster Linie auf Geschichten der eigenen Nationalliteratur. Wie die Analysen in den nachfolgenden Kapiteln jedoch noch zeigen werden, tragen durchaus auch deutsche Geschichten englischer Literatur zu einer identitätsstiftenden ›Invented Tradition‹ bei, verweisen sie doch oft auf deutsche literarische und kulturelle Traditionen. Wenngleich also der Schwerpunkt auf der Auseinandersetzung mit einer fremdkulturellen (d. h. der englischen) Tradition liegt, werden gerade in älteren Literaturgeschichten über Vergleiche mit deutschen Autoren, Werken und Traditionslinien identitätsstiftende Bezüge zur deutschen Kultur(geschichte) hergestellt. Somit lassen sich zwei der drei von Hobsbawm differenzierten Typen der ›erfundenen Traditi-

32 Dies lässt sich auch psychologisch erklären, wie ein interessantes Experiment aus dem Jahr 1959 zeigt, in dem zwei Gruppen Jugendliche – die ›Adler‹ und die ›Klapperschlangen‹ – ihren inneren Gruppenzusammenhalt durch die Feindschaft zu der jeweils anderen Gruppe noch stärkten (Zimbardo/Gerrig 1999: 437). 33 Auch für die Engländer war die Abgrenzung von Frankreich ein wichtiger Aspekt des Selbstbildes, wie Purchase (2006: 38) ausführt: »To many conservative Victorians, Frenchness was decadent because it represented everything that was antithetical to Britishness. With their ›foreign‹ cultural and religious attitudes, and worse, their exotic language and stereotypically relaxed sexual attitudes, the French were what the British had defined themselves against for centuries.«

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

on‹ auch für deutsche Literaturgeschichten der englischen Literatur geltend machen, wenn auch nur auf indirektem Wege: They [›invented traditions‹] seem to belong to three overlapping types: a) those establishing or symbolizing social cohesion or the membership of groups, real or artificial communities, b) those establishing or legitimizing institutions, status or relations of authority, and c) those whose main purpose was socialization, the inculcation of beliefs, value systems and conventions of behaviour. (ebd.: 9)

Sowohl Typ a als auch Typ c sind von Bedeutung im Kontext von Literaturgeschichten. Es wurde schon davon gesprochen, dass Literaturgeschichten durch positive oder negative Darstellung von Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen eine normbildende Funktion ausüben können, was bei Hobsbawm unter Typ c beschrieben ist. Hierzu passt auch die von Macaulay propagierte Verwendung von Literatur im kolonialen Bildungssystem, die durch die Vermittlung von Denkarten politisch identitätsstiftend wirken kann. Typ a hingegen bezieht sich eher auf ein Gruppenzusammengehörigkeitsgefühl, das bis zur Stiftung von nationaler oder politischer Identität reichen kann. Durch eine ständige Wiederholung angeblich englischer Eigenarten und Charakterzüge in einer Folge von Literaturgeschichten mit beispielhaften ›Belegen‹ dafür von der frühesten englischen Literatur an entsteht der Eindruck eines über die Jahrhunderte hinweg relativ stabilen Nationalcharakters, der sowohl kulturelle als auch politische Identität erzeugt. Wenn nun in deutschen Geschichten englischer Literatur durch einen Vergleich mit englischen Verhältnissen oder Nationalcharakteristika kontinuierlich Parallelen zu deutschen Gegebenheiten gezogen werden, so hat dies auch für Deutschland eine traditionsstiftende und identitätsbildende Wirkung – wenn diese Wirkung auch natürlich nicht in gleichem Maße im Vordergrund steht wie in Geschichten der eigenen Literatur. Die Wiederholung, die einen der Eckpfeiler der ›Invented Tradition‹ bildet, findet zwar auch bereits innerhalb einer einzigen Literaturgeschichte statt, entfaltet ihrer volle Wirkung aber erst in der Abfolge einer ganzen Reihe von Literaturgeschichten über einen längeren Zeitraum hinweg. In jeder Literaturgeschichte wird mehr oder minder explizit eine Vorstellung vom englischen Nationalcharakter konstruiert. Aufgrund des tendenziell konservativen Charakters von Literaturgeschichten werden oftmals gleiche oder ähnliche Bilder vom Nationalcharakter erzeugt, und damit wird das Konstrukt ›Englishness‹ letztlich verfestigt. Der Nationalcharakter ist somit ein Konstrukt von Literaturgeschichtsschreibern, die einerseits auf eine Tradition Bezug nehmen und sie andererseits fortschreiben. Der Konstruktcharakter der Englishness wird besonders deutlich, wenn in Literaturgeschichten unterstützende Belege (Werke und Autoren) besonders hervorgehoben werden und Widersprüchliches unkommentiert bleibt oder sogar völlig ausgelassen wird (vgl. Nünning 2001: 73). Aufgrund ihres Beitrags zu einer ›Invented Tradition‹ (im Sinne Hobsbawms) sind Literaturgeschichten also von einiger Bedeutung für die nationale Identitäts-

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3. Literaturgeschichten als Medien der Konstruktion von Fremdbildern und der Identitätsstiftung

bildung, oder, wie Ansgar Nünning schreibt: »The images and stories projected by national literary histories were instrumental in what one might call the imaginative forging of nationhood and empire« (Nünning 2001: 81). Auch Hobsbawm selbst unterstreicht die Bedeutung, die den Verfassern von Literaturgeschichten und den von ihnen konstruierten Vorstellungen von Nationalcharakteren beim Prozess der historischen Legitimierung bestimmter nationaler oder kultureller Vorstellungen zukommt: The element of invention is particularly clear here, since the history which became part of the fund of knowledge or the ideology of nation, state or movement is not what has actually been preserved in popular memory, but what has been selected, written, pictured, popularized and institutionalized by those whose function it is to do so. (Hobsbawm 1983a: 13)

Selbstverständlich ist es möglich, dass sich die Verfasser von Literaturgeschichten über ihre Rolle bei der Formierung nationaler Identität gar nicht im Klaren sind. Aber auch wenn die Verfasser von Literaturgeschichten nicht bewusst selbst am Aufbau eines Selbstbildes mitwirken, ist davon auszugehen, dass sie unter Umständen überkommene, ›erfundene‹ Selbstbilder fraglos übernehmen und weiter verbreiten, da sie durch ihren eigenen kulturellen Hintergrund geprägt sind und Selbst- wie auch Fremdbilder einen wichtigen Teil des kulturellen Wissens ausmachen. So lässt sich über die Rolle der Verfasser von Literaturgeschichten wie auch über die anderer Historiographen bei der Konstruktion von Selbstund Fremdbildern feststellen: all historians, whatever else their objectives, are engaged in this process inasmuch as they contribute, consciously or not, to the creation, dismantling and restructuring of images of the past which belong not only to the world of specialist investigation but to the public sphere of man as a political being. (ebd.)

Auf die identitätsstiftende Funktion des Kanons,34 der ja den wichtigsten Teil einer Literaturgeschichte ausmacht, geht unter anderem Aleida Assmann in ihren erinnerungstheoretisch ausgerichteten Schriften ein. Assmann weist der Kanonbildung eine »unmittelbare Wirkung auf Lebenspraxis und Selbstbilder« (Assmann 1998: 59) zu und sieht sogar die bedeutendste Funktion des Kanons in der Identitätsbildung: Solange es einen Kanon und damit eine Vorauswahl verbindlicher Texte gibt, gibt es auch deren Normativität, die eine besondere Art der Lektüre erfordert; kanonische Texte werden, ob freiwillig gewählt oder in Bildungsinstituten gequält, ins Gedächtnis und in die Körper geschrieben. Der Kanon ist ein Prä-

34 Herbert Grabes und Margit Sichert (Grabes/Sichert 2005: 380) liefern eine zweckmäßig kurze Definition des Begriffs Kanon: »Dabei ist unter Kanon das hierarchisch differenzierte Korpus jener Autoren und Werke zu verstehen, die unter den sehr viel zahlreicheren überkommenen Schriften und ihren Verfassern für würdig befunden wurden, als Beiträge bzw. Beiträger zur Nationalliteratur in Erinnerung gehalten zu werden.«

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung gewerk der Identität, ob man dies will oder nicht, ob man dies anerkennt oder nicht. (ebd.)

Ein Kanon (und damit auch eine Literaturgeschichte) stellt mit einer klaren Hierarchie die besten Autoren und deren Werke heraus. In Literaturgeschichten lässt sich diese Hierarchie besonders deutlich an quantitativen Kriterien ablesen. Die Qualität und gesellschaftliche Bedeutung bestimmter Werke, aber auch die Produktivität des Autors können zudem als vorbildlich dargestellt werden und erscheinen damit als Norm, an der sich zukünftige Generationen messen lassen müssen. Der Kanon kann somit in seiner verschriftlichten Form in Literaturgeschichten auf die kulturelle Identität seiner Leserschaft einwirken.35 Der in Literaturgeschichten angebotene Kanon weist eine klare Hierarchie auf, von den ausführlichst besprochenen Spitzenautoren auf der obersten Ebene bis hin zu den Autoren, die gerade noch kursorisch mit ihrem Namen Erwähnung finden. Um diese Hierarchisierung systematisch erfassen zu können, wird diese Arbeit sich auf die von Grabes und Sichert erarbeiteten vier Hierarchieebenen stützen (Grabes/Sichert 2005: 384). Diese umfassen auf der obersten Ebene den Spitzenkanon, der den allerwichtigsten Autoren, wie z. B. Shakespeare oder Milton, vorbehalten ist. Diesen ›Spitzenautoren‹ wird meist ein ganzes Kapitel oder zumindest ein großer Teil eines Kapitels gewidmet. Die zweite Ebene besteht aus dem so genannten Umgebungskanon, der schon deutlich mehr Autoren umfasst als der Spitzenkanon. Die hier besprochenen Autoren, zu denen beispielsweise oft Jonathan Swift oder Daniel Defoe gehören, werden immer noch für wichtig erachtet, man gesteht ihnen allerdings nicht die Bedeutung oder den Platz zu, der dem Spitzenkanon eingeräumt wird. Autoren, die zumindest noch knapp mit einer kleinen Auswahl ihrer Werke besprochen werden, bilden die dritte Hierarchieebene. Auf der vierten und untersten Ebene finden sich nur noch reine Aufzählungen von Autoren, bei denen eventuell noch eines ihrer wichtigsten Werke erwähnt wird, über das der Leser aber meist nichts Weiteres erfährt. Bezüglich englischer Literaturgeschichten lassen sich bei einer diachronen Betrachtung von Literaturgeschichten vor allem in Bezug auf die unteren drei Hierarchieebenen Veränderungen hinsichtlich der Zusammensetzungen ausmachen (vgl. Grabes/Sichert 2005: 284). Der Spitzenkanon hingegen bleibt in englischen Literaturgeschichten über die Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte erstaunlich stabil, wie Grabes und Sichert (ebd.) feststellen. Der Umgebungskanon fällt allerdings 35 Vgl. auch Isers Auffassung von der Funktion literarischer Werke als ›cultural capital‹, die sich darin zeigt, dass bereits seit dem 19. Jahrhundert kanonisierte Texte als ein »imaginary museum of literary masterpieces« (Iser 1996: 15) gesehen werden. Als ›cultural capital‹ hat der Kanon eine identitätsstiftende Bedeutung: »It was […] [the] attempt to salvage artistic achievements from oblivion that made the treasure-house into such a conspicuous ideal of the cultural attitude prevailing throughout the nineteenth century. As a place of detached enchantment, the imaginary museum of literature gave humankind the chance to gaze at itself in the mirror of its achievements made tangible in history.« (ebd.)

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3. Literaturgeschichten als Medien der Konstruktion von Fremdbildern und der Identitätsstiftung

schon erheblich variabler aus, »weil er deutlich auf Tendenzen in der Literaturkritik reagiert« (ebd.). Zwischen dem Umgebungskanon und der dritten Hierarchieebene ist die Fluktuation der Autoren besonders groß. Am wenigsten fest ist der Kanon auf der vierten und untersten Ebene (ebd.: 385). Einige wenige Autoren steigen im Laufe der Zeit von der vierten Hierarchieebene in eine höhere auf, andere Autoren verschwinden völlig aus dem Kanon. Es wird zu überprüfen sein, inwieweit diese Beobachtungen bezüglich englischer Literaturgeschichten auch auf deutsche Geschichten der englischen Literatur zutreffen. Im Rahmen dieser Arbeit werden für die Autoren des Spitzen- und Umgebungskanons zuweilen die ihnen gewidmeten Seitenzahlen genannt, um die Gewichtung innerhalb einer Literaturgeschichte zu verdeutlichen. Der aufmerksame Leser mag sich darüber wundern, wenn ein Autor in einer Literaturgeschichte mit einer Seitenanzahl im Spitzenkanon angesiedelt wird, die in einer anderen Literaturgeschichte lediglich für beispielsweise die dritte Ebene gereicht hätte. Hierbei ist zu bedenken, dass die deutschen Geschichten der englischen Literatur, die nie auch nur annähernd die Größenordnung einer der vielbändigen englischsprachigen Literaturgeschichten erreichen, einen recht unterschiedlichen Umfang aufweisen. Die Einordnung eines Autors in eine der Hierarchieebenen erfolgt deshalb in Relation der ihm gewidmeten Seiten zum Gesamtumfang einer Literaturgeschichte sowie der Breite des in ihr dargebotenen Kanons. In Eduard Engels Literaturgeschichte ist beispielsweise Thomas Chatterton mit acht Seiten im Umgebungskanon angesiedelt. Diese Seitenzahl hätte ihm bei Paul Meißner die unumschränkte Spitzenposition im Kanon beschert. Zu untersuchen ist der Kanon im Zusammenhang dieser Arbeit vor allem hinsichtlich der Bedeutung, die die einzelnen Hierarchieebenen für die Darstellung des Fremdbildes der Engländer haben. Ist es lediglich der Spitzenkanon, der das ›typisch Englische‹ zeigt, oder auch der Umgebungskanon sowie die dritte und vierte Hierarchieebene? Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, wirken in deutschen Geschichten englischer Literatur Fragen der Identitätsbildung und Konstruktionen von Englishness in vielfältiger Weise zusammen. Bei reinen Übersetzungen englischer Literaturgeschichten käme kein vergleichbares identitätsstiftendes Potential zum Tragen. Hier würde man als Außenstehender lediglich einen Eindruck vom Selbstbild der Engländer erhalten. Schreibt aber ein deutscher Autor über die englische Literatur, fließen unweigerlich sein Selbstbild und sein kulturell geprägtes Voraussetzungssystem – und damit die deutsche politische und kulturelle Identität – in sein Werk mit ein. Ein deutscher Autor bewertet die englische Literatur mit seinen eigenen kulturellen Maßstäben (und kommt mitunter zu ganz anderen Ergebnissen als englische Literaturwissenschaftler), wobei allerdings vorauszusetzen ist, dass ein deutscher Anglist, der eine Literaturgeschichte verfasst, in der Regel über ein beträchtliches Maß an interkultureller Kompetenz verfügt und ihm somit englische Sichtweisen nicht völlig fremd sind. Aufgrund dieser interkulturellen Kompetenz vermittelt er einen Einblick in ein fremdes, nämlich das englische, kulturelle Gedächtnis. Die Art und Weise, wie der Verfasser einer Literatur-

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I. Einleitung: Themenstellung, Theoretische Grundlagen und Zielsetzung

geschichte die fremde – in diesem Fall die englische – Literatur und Kultur sowie das englische Selbstbild beschreibt, gibt immer Aufschluss über das Eigenbild dieses Verfassers. Denn die Aspekte, die er für besonders wichtig hält, die Charakterzüge der Engländer, die er bewundert oder verurteilt, die Werke und Autoren, die er lobt oder verteufelt, die Eigenschaftsaussagen, die er trifft, geben zumindest implizit Aufschluss über seine eigenen Präferenzen, die ja zum Teil von der eigenen Kultur und dem damit einhergehenden Selbstbild geprägt sind. Jahnke schreibt in diesem Sinne über Eigenschaftsaussagen: »Jemandem begegnen und ihn als ›nett‹ oder ›kontaktscheu‹ einschätzen, bedeutet offensichtlich gleichzeitig etwas über die eigenen Beziehungen zu dieser Person, über die eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Wertungen zu verraten« (Jahnke 1975: 15). Der Zusammenhang zwischen Selbst- und Fremdbild macht es umso interessanter, die Permanenz des Fremdbildes bzw. dessen Wandlungen zu untersuchen. Bleibt es in all seinen Facetten über die Jahrzehnte gleich, oder ändert sich die Darstellung einzelner ›typisch englischer‹ Charakterzüge? Antworten auf diese Frage können Rückschlüsse auf die deutschen Verfasser von Geschichten der englischen Literatur und auf Veränderungen im kulturellen Klima in Deutschland zulassen. *** Abschließend sollen noch einmal die drei zentralen Ziele dieser Arbeit zusammengefasst werden. Das erste Ziel besteht darin, die Konzepte von Englishness, die in den ausgewählten Literaturgeschichten vermittelt werden, differenziert herauszuarbeiten und auf die Einflüsse zu befragen, die sich in den sich wandelnden Konzepten niederschlagen. Zu diesen Einflüssen gehören insbesondere die folgenden: ein grundlegender Wandel in den Prämissen der Komparatistik, von einer im Wesentlichen positivistischen Auffassung von nationaler Identität hin zu einem konstruktivistischen Verständnis; die Diskreditierung rassisch-biologisch anmutender Erklärungsmuster eines Nationalcharakters nach dem Zweiten Weltkrieg; die Entwicklung der wissenschaftlichen Standards in Richtung eines stärkeren Strebens nach Objektivität und Neutralität, die nicht zuletzt durch eine zunehmende Selbstreflexivität im Bezug auf den Wissenschaftsbetrieb wie auch hinsichtlich des Umgangs mit ›dem Fremden‹ begünstigt wurde; die massiven Veränderungen der politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Großbritannien im Untersuchungszeitraum, bedingt durch Faktoren wie die Gegnerschaft in zwei Weltkriegen sowie konkurrierende machtpolitische Ansprüche oder den Aussöhnungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg; ein Wandel in der Bedeutung der Medien und ihres Einflusses auf die öffentliche Meinungsbildung. Aufgrund der diversen soeben genannten Einflussfaktoren, so eine Grundthese der vorliegenden Arbeit, wird es möglich sein, eine diachrone Entwicklungslinie im Hinblick auf die Darstellung von Englandbildern in deutschen Geschichten der englischen Literatur nachzuweisen. Das zweite Ziel der nachfolgenden Untersuchung ist eine Analyse des Spektrums von Funktionen, die der Darstellung des Englandbildes in deutschen Ge-

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3. Literaturgeschichten als Medien der Konstruktion von Fremdbildern und der Identitätsstiftung

schichten englischer Literatur zugeschrieben werden können und die über einen rein deskriptiven Anspruch hinausgehen. Es lassen sich vor allem drei zentrale Funktionen identifizieren, die in den einzelnen Literaturgeschichten unterschiedlich stark zum Tragen kommen. Literaturgeschichten als Medien des kulturellen Gedächtnisses perpetuieren nicht nur kulturelles Wissen über literarische Werke und deren Autoren, sondern auch über den historischen und kulturellen Hintergrund der Literatur – und damit letztlich auch über das, was als typisch für das jeweilige Land gilt. Folglich erfüllen deutsche Geschichten englischer Literatur, auch speziell bezogen auf Konzepte von Englishness, erstens eine grundlegende, gedächtnisstiftende Funktion, indem sie kulturelles Wissen über ein anderes Land in das eigene kulturelle Gedächtnis inkorporieren. Diese Funktion ist bereits erfüllt, sobald ein deutscher Verfasser eine Geschichte englischer Literatur schreibt. Mitunter ist darüber hinaus zweitens eine deutliche politisch-ideologische Funktionalisierung bei der Darstellung von Englishness zu erkennen. Zu den Indikatoren für eine politisch-ideologische Funktionalisierung zählen außer expliziten Wertungen auch sprachlich-rhetorische Faktoren. Neben der politisch-ideologischen Funktion der Darstellung von Englishness besteht eine weitere, spezifischere politische Funktion in einem Beitrag zur Schaffung nationaler deutscher Identität durch einen Vergleich mit und eine Abgrenzung von einer anderen Nation. Bei dem zugrunde gelegten Textcorpus handelt es sich natürlich in erster Linie um einen Vergleich zwischen England und Deutschland. Aber auch die Auseinandersetzung mit einem dritten Land – nämlich Frankreich – und speziell die Abgrenzung von den Franzosen spielt immer wieder eine wichtige Rolle. Denn indem die Differenzen zwischen England und Frankreich betont werden, kann auch die deutsche nationale Identität schärfer konturiert werden. Eine dritte Funktion der Darstellung von Englishness besteht gerade nicht in der bewussten Abgrenzung von ›dem Anderen‹, sondern in einer Vermittlung von Verständnis für ›das Andere‹ sowie dem didaktischen Anspruch, ›das Andere‹ zu erklären und zu analysieren. Diese interkulturelle Vermittlungsfunktion liegt im Anspruch der deutschen Anglistik als Fremdsprachenphilologie begründet. Das dritte Untersuchungsziel ist ein wissenschaftsgeschichtliches. Literaturgeschichten, als Teilaspekt des anglistischen wissenschaftlichen Diskurses, und speziell die Konstruktion von Englishness in den Literaturgeschichten, sollen gleichsam als Seismograph für die Entwicklung der deutschen Anglistik und ihrer Relation zu Großbritannien vom 19. Jahrhundert bis heute aufgefasst werden. Dies betrifft in erster Linie die Schlussfolgerungen, die aus den ersten beiden Arbeitszielen gewonnen werden können, aber zudem auch Teilaspekte der Literaturgeschichtsschreibung wie Kanon, Periodisierung und die Gewichtung von Autor und Werk. In dem Maße, in dem eine einzelne Literaturgeschichte als Archiv literarischer Texte dient, können deutsche Geschichten englischer Literatur in ihrer Gesamtheit die Veränderungen innerhalb des Fachs dokumentieren und für die Nachwelt erhalten.

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II. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

In diesem Abschnitt werden drei deutsche Geschichten englischer Literatur betrachtet, die in der Zeit zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des 20. Jahrhunderts erschienen sind. Zunächst wird die Geschichte der englischen Literatur von Hermann Hettner aus dem Jahr 1856 untersucht, eine der ersten deutschen Geschichten englischer Literatur. Darauf folgt eine Analyse der Geschichte der englischen Litteratur, die Eduard Engel im Jahr 1883 veröffentlichte. Die dritte und letzte in diesem Abschnitt untersuchte Literarhistorie ist Carl Weisers Englische Literaturgeschichte aus dem Jahr 1902. Während Hettners Literaturgeschichte durch ihren interessanten literaturtheoretischen Ansatz auffällt, sind die Werke von Engel und Weiser von traditioneller Machart. Vor allem bei Engel ist das in der Einleitung dieser Arbeit geschilderte Bemühen festzustellen, durch Vergleiche mit England und eine Distanzierung von Frankreich ein Gefühl der nationalen Identität bei der deutschen Leserschaft herzustellen. Die Literaturgeschichte Weisers ist hingegen eher auf den rein didaktischen Zweck der Wissensvermittlung ausgerichtet.

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1. Die Geschichte der englischen Literatur (1856) von Hermann Hettner Literaturgeschichte als Ideengeschichte

1. Die Geschichte der englischen Literatu r von Hermann Hettner (1856)

Die Geschichte der englischen Literatur von Hermann Hettner von 1856 gehört zu den frühesten deutschen Geschichten der englischen Literatur überhaupt. Hettners Werk umfasst nur einen recht kurzen Zeitraum der englischen Literatur, wie schon der Untertitel von der Wiederherstellung des Königthums bis in die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, 1660–1770 ankündigt. Dennoch erscheint es sinnvoll, sie im Rahmen dieser Arbeit zu berücksichtigen. Der Grund liegt in der Natur von Hettners Werk: Seine Literaturgeschichte ist in vielerlei Hinsicht untypisch (wie noch aufzuzeigen sein wird) und hebt sich derart von späteren Literaturgeschichten ab, dass sie im Interesse des Aufzeigens von diachronen Entwicklungen der deutschen Anglistik hier nicht unterschlagen werden kann. Ein weiterer Grund für die Berücksichtigung von Hettners Literaturgeschichte liegt im anhaltenden Erfolg des Werkes begründet: Es wurde in insgesamt sieben Auflagen veröffentlicht, wobei deren letzte fast sechzig Jahre nach der Erstveröffentlichung erschien (1913). Damit weist Hettners Geschichte der englischen Literatur zwar nicht die meisten Auflagen, wohl aber eine längere Wirkungsgeschichte auf als jede andere deutsche Geschichte der englischen Literatur und wird bis deutlich ins 20. Jahrhundert hinein rezipiert. Es handelt sich bei Hettners Werk nicht um eine Übersetzung englischer Vorlagen, sondern um die Bewertung englischer Literatur nach den Maßstäben der deutschen Literaturgeschichte. Dadurch weichen die Urteile, die Hettner über englische Autoren und Werke fällt, recht häufig von dem englischer Literaturwissenschaftler ab. Ein Beispiel hierfür ist Hettners Bewertung von Laurence Sterne: Es ist unverantwortlich, wenn die heutigen Engländer, in ihrer spröden Zurückhaltung durch die offene Derbheit Sterne’s verletzt, jetzt so gern die unleugbaren Schwächen Sterne’s einseitig in den Vordergrund stellen. Wir dürfen über der Schale den Kern nicht vergessen. Und der Kern in Sterne ist seine unergründliche Gemüthstiefe, die, ganz im Gegensatz zu Swift, auch in den herbsten Erfahrungen nie die gläubige Liebe verliert. (Hettner 1856: 480)

Mit eigenen Bewertungen und eigenen Kriterien hinsichtlich Persönlichkeit und Schaffen englischer Autoren lässt sich für die deutsche Anglistik also offenbar schon Mitte des 19. Jahrhunderts ein eigenständiges Profil vermuten, wie Hettners Literaturgeschichte exemplarisch zeigt. Im Vorwort seiner Geschichte der englischen Literatur legt Hettner sein Verständnis von Literaturgeschichte in folgenden Worten dar: »Bibliographische

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1. Die Geschichte der englischen Literatur (1856) von Hermann Hettner

Vollständigkeit ist hier nirgends beabsichtigt. Die Literaturgeschichte ist nicht Geschichte der Bücher, sondern die Geschichte der Ideen und ihrer wissenschaftlichen und künstlerischen Formen« (vi). Diese Auffassung von der Funktion einer Literaturgeschichte schlägt sich auch in der Gliederung von Hettners Werk nieder: Völlig gleichwertig sind für die von ihm gewählten zeitlichen Abschnitte Wissenschaft und Dichtung einander gegenübergestellt. Eine solch starke Berücksichtigung wissenschaftlicher Schriften ist für deutsche Literaturgeschichten äußerst ungewöhnlich, und selbst in englischen Literaturgeschichten, die durchaus wichtige wissenschaftliche Werke berücksichtigen, wird diesen niemals die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt wie den traditionellen literarischen Gattungen. Aufgrund des begrenzten Zeitrahmens sowie des ungewöhnlich intensiven Eingehens auf die Wissenschaft eignet sich Hettners Werk hinsichtlich der Aspekte Kanon und Periodisierung nicht für einen Vergleich mit anderen deutschen Geschichten englischer Literatur. Eines ist an dem von Hettner vertretenen Kanon aber dennoch bemerkenswert: Obwohl seine Literaturgeschichte lediglich den Zeitraum von 1660–1770 behandelt, tritt William Shakespeare immer wieder prominent in den Vordergrund. Am deutlichsten geschieht dies in einem Kapitel, das Hettner ›Garrick und die Wiedererweckung Shakespeare’s‹ nennt. In diesem erweist Hettner dem in England berühmten Shakespeare-Schauspieler seine Reverenz (505) und berichtet gleichzeitig von einer sich wandelnden Rezeption Shakespeares. Dieser – so berichtet Hettner – war nämlich lange vernachlässigt worden und wurde erst durch Garricks Spiel wieder allgemein gewürdigt (506). Und obwohl Shakespeares Dramen zunächst nur in veränderter Form aufgeführt wurden, sei »die verwöhnte Menge« doch »vor der vollen und ganzen Riesengröße Shakespeare’s [zurückgeschreckt]« (509); trotzdem habe »der große Dichter […] wieder im Herzen des Volks seine Stätte gefunden« (ebd.). Einen signifikanten Wandel in der Shakespeare-Rezeption sieht Hettner aber nicht nur in England, sondern auch in Deutschland: Dieser Umschwung in der englischen Shakespearebetrachtung ist um so beachtenswerter, da ziemlich gleichzeitig auch die deutsche Literatur, und zwar von England ganz unabhängig, zur liebevollsten Erkenntnis und Nacheiferung Shakespeare’s getrieben wurde. Hier wie dort war der Kampf gegen die steife Engherzigkeit der französischen Tragik die treibende Kraft. Aus dem reichen Bronnen Shakespeare’s trank die gesammte neuere Dichtung den Trank der Verjüngung. (509)

Mit dieser Würdigung des großen englischen Dichters belegt Hettner sowohl die Ehrerbietung, die Shakespeare im Deutschland des 19. Jahrhunderts genoss, dokumentiert aber gleichzeitig einen starken Wandel im kulturellen Gedächtnis der Engländer und der Deutschen bezüglich der Bedeutung, die Shakespeare für die Entwicklung der Literatur insgesamt beigemessen wird. Hettners Literaturgeschichte ist auch aus zwei weiteren Gründen bemerkenswert und unterscheidet sich von den anderen in dieser Arbeit untersuchten Literaturgeschichten aus dem Zeitraum bis zum Zweiten Weltkrieg: Zum einen schreibt

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1. Die Geschichte der englischen Literatur (1856) von Hermann Hettner

Hettner dem englischen Nationalcharakter so gut wie nie einen Einfluss auf Biographie und Werk englischer Autoren zu; zum anderen dient seine Beschäftigung mit der englischen Literatur kaum dazu, eine Abgrenzung von Frankreich zu betonen. Einen neutralen Standpunkt nimmt Hettner in seinem Werk trotzdem nicht ein. Vielmehr beurteilt er das Leben und die Werke von Autoren sowohl aus ästhetischer als auch aus moralischer Sicht. Vor allem geht es Hettner aber darum, die Entwicklung von Ideen und die gegenseitige intellektuelle ›Befruchtung‹ Englands, Frankreichs und Deutschlands aufzuzeigen. Dieser Aspekt ist für Hettner von so übergeordneter Bedeutung, dass alle anderen möglichen Funktionen seiner Literaturgeschichte – z. B. die bewusste Vermittlung eines Englandbildes, die politische Identitätsbildung oder die Abgrenzung von Frankreich – dahinter zurückstehen. Nicht umsonst hat Hettner seiner Einleitung ein Zitat Kants vorweg gestellt, das da lautet: »Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein; wohl aber in einem Zeitalter der Aufklärung« (1). Damit umreißt Hettner den Fokus seiner Literaturgeschichte, die die englische Aufklärung im Kontext einer europäischen geistesgeschichtlichen Entwicklung beleuchten soll. Hettner sieht in England, Frankreich und Deutschland die drei »großen Kulturvölker« Europas, die sich geistesgeschichtlich in einem Dialog miteinander befinden und die sich gegenseitig durch Ideenaustausch immer neue Impulse für die geistige Entwicklung geben (3). Während diese drei Länder sich in ihren Rollen als Ideengeber oder -empfänger häufig abwechselten, sind alle anderen Länder für Hettner zweitrangig – deren Literaturen bezeichnet er als »nur empfangend und nachahmend« (10). England spricht er für die Zeit der Aufklärung eine führende Rolle in diesem Austauschprozess und damit im europäischen Geistesleben zu. Dort, so meint Hettner, hatten die meisten großen Ideen ihren Ursprung, wurden dann von Frankreich aufgegriffen, von wo sie aufgrund der weitreichenden Bedeutung der französischen Sprache in die Welt weitergetragen wurden (4). In Anlehnung an Macaulay erklärt Hettner Frankreich zum »Dolmetscher zwischen England und der Menschheit« (ebd.). Im weiteren Verlauf der Aufklärung wurde dann nach Hettner Deutschland vom Schüler zum Lehrer und überflügelte in Bildung, Kunst und Wissenschaft England und Frankreich (6). Hettner vergleicht in diesem Zusammenhang Goethe und Schiller mit Shakespeare und erklärt ihre Dichtung für »so tief und rein menschlich und so durch und durch im höchsten Sinn dichterisch«, wie es seit Shakespeare keinem Poeten mehr geglückt sei (ebd.). Wie diese kurze Zusammenfassung einiger Kernpunkte seiner Einleitung zeigt, geht es Hettner darum, die ideengeschichtlichen Einflüsse aufzuzeigen, die auf die englische Literatur einwirkten, aber auch von ihr auf andere Literaturen ausgingen. Die Einflüsse Frankreichs auf England werden dabei weder pauschal gutgeheißen noch verurteilt, sondern durchgängig auf individueller Basis bewertet. Daher kann man Hettner nicht unterstellen, die Beschäftigung mit der englischen Literatur dazu zu nutzen, die Bedeutung und den Wert der französischen Kultur

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1. Die Geschichte der englischen Literatur (1856) von Hermann Hettner

herabzuwürdigen, wie es in späteren deutschen Geschichten der englischen Literatur bisweilen zu beobachten ist (vgl. hierzu Grabes 2004a: 17). Ein Zitat bezüglich der Restaurationskomödie belegt die vergleichsweise neutrale Haltung Hettners: Das Lustspiel war der getreue Spiegel und Abdruck seiner Zeit. Es war nur darum so ganz entsetzlich ausschweifend und sittenlos, weil die ganze Zeit so ausschweifend und sittenlos war. Das England der Restauration ist von einer Verderbtheit und Liederlichkeit, daß man fast versucht sein möchte, das Frankreich unter Ludwig XIV. und der Regentschaft in Vergleich mit ihm beneidenswerth unschuldig zu nennen. (98)

An anderer Stelle verurteilt Hettner die Forderung John Drydens, die englische Tragik müsse »Shakespeare’sche[n] Geist« mit »französischer Form« verbinden (79). Dieses Experiment musste nach Hettners Ansicht misslingen, und die Zeit Drydens »konnte weder mit Shakespeare noch mit Corneille in wirklichen Wetteifer treten; denn sie hatte weder für den einen noch für den anderen das volle Verständnis« (80). Hier verurteilt Hettner nicht den französischen Einfluss per se, sondern vielmehr das unvollständige Verständnis, das die englischen Dramatiker für ihre französischen Vorbilder hatten. Ebenso wird Frankreich implizit aufgewertet, wenn Hettner den von ihm viel zitierten Macaulay dafür rügt, Addisons Cato mit vielen Stücken Corneilles und Racines auf eine Stufe zu stellen oder sogar für besser zu halten (253). Das Bild, das Hettner in blumigem Stil und durchsetzt von zahlreichen Anekdoten von England und seine Autoren zeichnet, ist vielschichtig und wenig generalisierend. Eigenheiten der Autoren und Merkmale ihrer Schriften werden in der Regel nicht mit dem englischen Nationalcharakter erklärt, sondern auf historische und gesellschaftliche Entwicklungen zurückgeführt. Eines der wenigen Gegenbeispiele ist Hettners Bemerkung über den Erfolg Shakespeares und dessen Zeitgenossen. Diese charakterisiert Hettner als »durch und durch ursprünglich und volksthümlich« sowie verwurzelt »im innersten Grunde der englischen Volksphantasie« (53) und scheint ihnen damit eine gewisse Zeitlosigkeit zu attestieren. Meist situiert Hettner die englischen Autoren jedoch im Rahmen ihrer Zeit. So charakterisiert er z. B. John Milton als »Kind des englischen Puritanerthums« (54), dessen Bedeutung zunächst vom »Günstling des Tages« Samuel Butler übertroffen worden sei (64). Dieser hatte mit seinem Sir Hudibras, einer beißenden Parodie auf die Puritaner, den Nerv der Zeit getroffen, und obwohl auch Hettner die Puritaner und ihre Methoden kritisiert (65), bewertet er Butlers Hudibras wenig wohlwollend. Das Werk sei damals wohl erfolgreich gewesen, nun aber »völlig veraltet« und »unerträglich langweilig« (66). Auch die englischen Kritiker verschont Hettner nicht. Diese hätten »selbstgefällig« den Hudibras neben Don Quixote gestellt und damit dem englischen Werk einen schlechten Dienst erwiesen (ebd.). Nicht nur in Bezug auf Autoren und deren Werke hält sich Hettner mit biologisch-rassischen Erklärungsmodellen zurück, die – wie im Eingangskapitel erläutert – im 19. Jahrhundert von vergleichenden Literaturwissenschaftlern propagiert

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1. Die Geschichte der englischen Literatur (1856) von Hermann Hettner

wurden. Auch den Ablauf der englischen Geschichte versucht er nicht als zwingende Folge englischer Eigenart darzustellen. So urteilt er beispielsweise über die Puritaner: Die Puritaner hatten sich durch ihr steifes und mürrisches Wesen im Laufe ihrer Herrschaft lächerlich und verhaßt gemacht. Es erging ihnen, wie es noch immer einer jeden bürgerlichen Gewalt ergangen ist, die, ihre Schranken verkennend, plump in das Gewissen der Menschen eingreift, und Glauben und Frömmigkeit durch Polizeimittel erzwingen zu können meint. Sie hatten ein Volk von Heiligen schaffen wollen und hatten ein Volk von Spöttern und Wüstlingen geschaffen. Macaulay hat sowohl in seiner englischen Geschichte wie an mehreren Orten seiner Abhandlungen ebenso beredt als eingehend geschildert, wie auf eine Zeit der übertriebensten Strenge als natürlicher Rückschlag eine Zeit der wildesten Zügellosigkeit folgte. (65)

Die Puritaner sind für ihn nur eine gesellschaftliche Strömung, die er aufgrund ihres Vorgehens und Verhaltens scharf verurteilt, und keine Manifestation spezifisch englischer Eigenschaften. Genauso kritisiert Hettner aber auch die »Zügellosigkeit«, in die England nach dem Ende der Puritanerherrschaft verfiel. Und auch diesen moralischen Verfall sieht er nicht im Wesen der Engländer begründet, sondern betrachtet ihn als logische Reaktion auf die vorhergehenden Repressionen sowie einen zu raschen Wechsel der Verfassungsform. Vor allem letzteren macht Hettner verantwortlich für die Sittenlosigkeit, die der Rückkehr des Königtums folgte: Und wie der Hof, so war mit wenigen Ausnahmen das ganze Volk. Rascher Wechsel der Dynastien und der Verfassungsform ist für die Sittlichkeit eines Volkes immer ein Unglück. Wir selbst konnten uns in unseren eigenen Tagen zur Genüge überzeugen, wie grade die hervorragendsten Feldherren und Staatsmänner sich nicht das mindeste Bedenken daraus machten, zuerst der französischen Revolution, dann Napoleon und zuletzt Ludwig XVIII. oder, um die allerneusten Ereignisse zu erwähnen, zuerst den Bourbonen, dann dem Julikönigthum, dann der Republik und ebenso dem neuen Kaiserreiche mit gleichem Eifer und gleicher Treue ihre Dienste zu widmen. (99)

Mit keinem Wort bezeichnet Hettner die mit Empörung geschilderte Sittenlosigkeit als im englischen Wesen verankert. Sie ist für ihn eine Folge gesellschaftlichen und politischen Wandels. Darüber hinaus belegt das Zitat, dass Hettner nicht einseitig Kritik an englischen Verhältnissen übt, sondern stattdessen Überlegungen zu generellen Auswirkungen politischer Ereignisse anstellt, ohne Schuldzuweisungen vorzunehmen. Hettner legt die gleichen Bewertungsmaßstäbe an England und Frankreich an, so dass eine politische Funktionalisierung von Hettners Literaturgeschichte im Sinne der Identitätsbildung durch Abgrenzung von anderen Ländern weitgehend auszuschließen ist. Hettner bewertet englische Autoren differenziert abwägend nach ästhetischen und moralischen Kriterien und kann dabei zu unterschiedlichen, sich widersprechenden Ergebnissen kommen. So schildert er beispielsweise, welche Bedeutung ein Autor in dessen eigener Zeit hatte, und stellt dem gegenüber, wie derselbe

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1. Die Geschichte der englischen Literatur (1856) von Hermann Hettner

Autor zu Hettners Zeit rezipiert wird. Einen starken Bedeutungswandel stellt Hettner beispielsweise bei Samuel Johnson fest: »[Er] ist der Gottsched der englischen Literatur. In seiner Blüthezeit übte er eine Herrschaft, die einer unumschränkten Dictatur glich; und jetzt wird er fast allgemein belacht und bespöttelt« (420). Und über John Dryden schreibt Hettner: Dryden ist unserem Opitz, dem Dichter der ersten schlesischen Schule, sehr ähnlich. Heut ist er kaum noch lesbar. Auf seine Zeit übte er den gewaltigsten Einfluss. Auch Dryden ist, wie Opitz, ohne alle schöpferische Phantasie; er bleibt, insoweit er nicht Dramatiker ist, rein verstandesmäßig im Lehrhaften und Satirischen stecken; aber auch er führt, wie Opitz, mit grundsätzlicher Bewußtheit ein neues Formgesetz ein und wird damit der Begründer einer neuen, lange nachwirkenden Dichterschule. (68)

Neben der Bedeutung eines Autors für die Entwicklung der Literatur ist für Hettner dessen ästhetisches Vermögen ein weiteres wichtiges Bewertungskriterium, wie an obigem Zitat zu erkennen ist. Der Textauszug gibt allerdings noch Aufschluss über einen anderen bemerkenswerten Aspekt: Hettner stellt immer wieder Parallelen zwischen englischen und deutschen Autoren her – durchaus auch zum Nachteil letzterer. Indem er nämlich Dryden mit Opitz vergleicht, kritisiert er explizit auch den deutschsprachigen Autor. Hettner beschäftigt sich also nicht mit der englischen Literatur, um die deutsche im Vergleich besser aussehen zu lassen, sondern viel wichtiger ist für ihn die ästhetische Bewertung der Literatur. Zugleich eröffnen solche Bezüge zur deutschen literarischen Tradition ein Potential zur Identitätsstiftung in Bezug auf die deutsche Kulturgeschichte. Dass Hettner aus seinen künstlerischen Vorlieben keinen Hehl macht, wird deutlich, wenn er zu der Sammlung altenglischer und schottischer Balladen von Thomas Percy begeistert ausruft: Man hatte so lange in trockener Dürre geschmachtet; hier sprang aus reicher Quelle der erquickende Lebenstrank; hier war wieder frische Natürlichkeit, unbefangene Empfindung, derb zugreifende Handlung. Das alte Regelsystem wurde in seinen innersten Grundfesten erschüttert. Was kümmern uns die Pope und Boileau? Natur, Natur! Frische und fröhliche Ursprünglichkeit, – das ist das Geheimnis der Dichtung. (431)

Wie aus den meisten der bereits gegebenen Beispiele schon ersichtlich wird, spart Hettner nicht mit expliziter Kritik und emphatischem Lob. Mit der Kritik zielt Hettner meist entweder auf das ästhetische Vermögen der englischen Schriftsteller oder aber auf den moralischen Gehalt ihres Lebenswandels und ihrer Werke. Wie eng diese beiden Bewertungskriterien zusammenhängen, zeigt ein Zitat Hettners über die Unwahrscheinlichkeit von Swifts Gulliver’s Travels: »Dies ist wieder ein schlagender Beweis für die alte bewährte Lehre, daß, was unsittlich und unvernünftig, auch immer unkünstlerisch ist. Schon Boileau sagte, nur in der Wahrheit ist Schönheit« (333). Trotzdem unterscheidet Hettner meist zwischen den Kriterien ›moralischer Gehalt‹ und ›künstlerischer Wert‹ und kann folglich durchaus zu ambivalenten Bewertungen gelangen. Das wird nirgends deutlicher

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1. Die Geschichte der englischen Literatur (1856) von Hermann Hettner

als in Hettners Kapiteln über die Restaurationsdramen. Hier stellt er die Tragödie der Komödie gegenüber: [H]ier [in der Komödie] wurde […] die alte volksthümliche Ueberlieferung der Form nicht gewaltsam durchbrochen und aufgehoben. Das giebt dieser Dichtung von Hause aus mehr Frische und Ursprünglichkeit. Während die Tragik dieser Zeit gekünstelt und daher meist leer und kalt ist, ist in der Komik viel Witz, Scherz und ächte Lustigkeit, viel treffende Satire, Lebendigkeit der Charaktere und Situationen, ein glücklicher und geistreicher Dialog. (96)

Diesem grundsätzlichen Lob für die englische Restaurationskomödie auf künstlerischem Gebiet steht Hettners harsche Kritik an deren moralischem Gehalt gegenüber: Und doch ist dies Lustspiel in vieler Hinsicht noch weit unerquicklicher als das Trauerspiel. Es ist von einer wahrhaft empörenden Frechheit und Liederlichkeit des Inhalts. Kein Mensch, der nicht diese englischen Lustspieldichter der Restaurationszeit gelesen hat, kann sich eine Vorstellung davon machen, wie Zoten und Anstößigkeiten dieser Art jemals über die Bühne gehen konnten. Und was das Schlimmste ist, wir haben hier nicht die gesunde sinnliche Derbheit, die auch in Aristophanes und Shakespeare oft zu den dreistesten Wagnissen schreitet, sondern das prickelnde und beizende Raffinement herzloser Absichtlichkeit. (96f.)

Die Unterscheidung zwischen künstlerischem Wert und moralischem Gehalt, die in den obigen Zitaten auf allgemeinerer, die gesamte Gattung betreffender Ebene geschieht, wendet Hettner auch auf individuelle Autoren an. D. h. er kann durchaus einen Autor für dessen künstlerisches Können loben, ihn aber gleichzeitig für moralisch Anstößiges tadeln. Hettners Bemerkungen zu William Wycherley sind dafür ein guter Beleg. Ihn geißelt Hettner als »durch und durch ein Lump« (105), dessen späteres Leben »eine unentwirrbare Kette von Thorheiten, Schlechtigkeiten und Unglücksfällen« war (ebd.). Trotzdem ist die heftige Kritik an Wycherleys Persönlichkeit und Schaffen erstaunlich differenziert und um Würdigung der Leistung seiner Werke bemüht: Und diese sittlichen Mängel rächen sich auch künstlerisch; die Motivierungen sind oft sehr unwahrscheinlich, oft sogar unmöglich. Trotzdem aber ist nicht zu leugnen, daß die Charakterzeichnung scharf und lebendig ist und die Handlung rasch fortschreitend. Man kann es begreifen, wie ein leichtfertiges Geschlecht an diesen leichtfertigen, aber spannenden Stücken sein Behagen finden konnte. (107)

Obwohl Hettner moralische und ästhetische Bewertungen trennt, spielen doch erstere für ihn letztlich die ausschlaggebende Rolle bei der Gesamtbeurteilung von Autoren. Das wird deutlich an seinem Urteil über William Congreve, denn »litte nicht auch er aufs schmachvollste an dem Makel der schändlichsten Sittenverderbnis, so würde er unbedingt zu den größten Lustspieldichtern aller Zeiten gehören« (108). Diese Einschätzung unterstreicht Hettner, indem er Congreve auf lediglich zweieinhalb Seiten seiner Literaturgeschichte abhandelt. John Locke

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1. Die Geschichte der englischen Literatur (1856) von Hermann Hettner

hingegen, dessen als moralisch einwandfrei geschilderter Lebenswandel bei Hettner keinen Anstoß erregt, wird deutlich ausführlicher untersucht. Locke, den Hettner als »Newton der Philosophie« (140) beschreibt, widmet der Literaturgeschichtler ein eigenes Kapitel. Auf zwanzig Seiten werden das Leben Lockes sowie dessen philosophische und wissenschaftliche Leistungen beleuchtet. Das Beispiel John Lockes ist aber nicht nur deshalb interessant, weil es für den Beleg eines Zusammenhanges zwischen moralischer Unbedenklichkeit und quantitativer Würdigung in Hettners Literaturgeschichte dienen kann. Mit zwanzig Seiten Biographie und Analyse gehört Locke bei Hettner in den absoluten Spitzenkanon. Lediglich Jonathan Swift (28 Seiten) und Daniel Defoe (24 Seiten) werden ausführlicher behandelt. Selbst dem bedeutenden John Milton gesteht Hettner nur vergleichsweise bescheidene zwölf Seiten zu. Und Alexander Pope, den man in England immer noch »nennt und rühmt« (242), der aber auch dort kaum noch gelesen wird (243), tut Hettner gar auf sieben Seiten als »geschichtliche Merkwürdigkeit« (242) ab. Die Positionierung eines Wissenschaftlers und Philosophen im literarischen Spitzenkanon ist – selbst in Anbetracht des zeitlich begrenzten Rahmens von Hettners Literaturgeschichte – höchst ungewöhnlich. Allerdings ist dieser Umstand eine logische Konsequenz von Hettners Konzeptualisierung seiner Literaturgeschichte als Ideengeschichte, in der er der Wissenschaft genausoviel Raum zugesteht wie der Literatur im engeren Sinne. Unter dieser Prämisse beschäftigt sich Hettner ausführlich mit Themenbereichen wie den Naturwissenschaften, dem Deismus, der Staatstheorie, der Philosophie, den Freimaurern, den Moralisten, der Politik und Volkswirtschaft, dem Materialismus und der Kunstwissenschaft. Am Beispiel der politisch motivierten Junius-Briefe demonstriert Hettner die unterschiedlichen Literaturauffassungen in Deutschland und England:36 Der nichtenglische Leser, der heute diese Briefe in die Hand nimmt, kann sich leicht versucht fühlen, sie für nichts weiter als für sehr bissige, wild grausame, wenn auch sehr witzige Pasquille zu halten. Jedoch ist es eine unleugbare Thatsache, daß die Engländer selbst nach wie vor diese Juniusbriefe unter die klassischen Werke ihrer Literatur rechnen und sie noch heut mit der lautesten Befriedigung wieder und wieder lesen. Der glänzende Stil allein reicht nicht hin, diese Thatsache zu erklären, so kühn und hinreißend, so beredt und kunstvoll er immerhin sein mag. Der tiefere Grund liegt vielmehr darin, daß diese Briefe eine durchschlagend prinzipielle Bedeutung haben. Sie wurzeln im Lebensnerv der englischen Verfassung; in der Vertheidigung der Wahlfreiheit, der freien Presse und der freien Gerichtsbarkeit. (360)

Hettner folgt, indem er alle schriftlichen Werke berücksichtigt, die er für gesellschaftlich, literarisch oder wissenschaftlich bedeutsam hält, eindeutig der englischen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung. Diese weitet er aber noch aus durch die Beleuchtung der wichtigsten zeitgenössischen Geistesströmungen, wie 36 Die Junius-Briefe spielen auch in anderen deutschen Geschichten englischer Literatur eine Rolle und werden an späterer Stelle dieser Arbeit noch ausführlicher erörtert.

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1. Die Geschichte der englischen Literatur (1856) von Hermann Hettner

sie selbst für englische Literaturgeschichten unüblich ist. Mit dieser ausführlichen Darstellung von Geistesströmungen und ihrer Einflüsse auf Literatur und Gesellschaft kommt Hettner dem heutigen Konzept einer Literaturgeschichte als Kulturgeschichte bereits sehr nahe.

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883) Die erste umfassende deutsche Geschichte englischer Literatur

2. Eduard Engels Geschich te der englischen Litteratu r (1883)

Die besonderen Merkmale von Engels Literaturgeschichte Eine neue Geschichte der englischen Litteratur bedarf deshalb vielleicht keiner besonderen Entschuldigung, weil es auffallenderweise in Deutschland an einem Buche wie diesem fehlt. Ausser dem kurzen Leitfaden von Scherr gibt es kein deutsches Werk, welches die gesamte schöne und schönwissenschaftliche Litteratur Englands bis in die neueste Zeit auf Grund der Quellen behandelt und die kritischen Urteile durch Proben belegt. (Engel 1883: v)

Wie in obigem Zitat behauptet, stellt die von Eduard Engel im Jahr 1883 veröffentlichte Geschichte der englischen Litteratur in der Tat die erste umfassende deutsche Geschichte englischer Literatur dar, die auch mit Textbeispielen arbeitet. Die vorher in Deutschland erschienenen Literarhistorien befassten sich entweder nur mit einem bestimmten Zeitraum – wie die von Hermann Hettner – oder mit einer spezifischen Gattung – wie die Geschichte der englischen Poesie von Alexander Büchner aus dem Jahr 1855. Die recht ausführliche Geschichte der englischen Litteratur von Bernard ten Brink erschien in zwei Bänden (veröffentlicht 1877 und 1893) zwar zum Teil schon vor Engels Literaturgeschichte und beinhaltet ebenfalls Textbeispiele, sie endet aber bereits mit dem Tode Henry Howards, dem Earl of Surrey, im Jahr 1543, und umfasst damit bei weitem nicht den gesamten Zeitraum englischer Literaturgeschichte. Engels Ansatz, die gesamte englische Literatur anhand von Textbeispielen zu untersuchen und zu bewerten, scheint auch kommerziell erfolgreich gewesen zu sein: Seine Literaturgeschichte wurde immerhin in zehn Auflagen bis ins Jahr 1929 veröffentlicht und weist damit von allen deutschen Geschichten englischer Literatur die größte Auflagenanzahl auf. Die Prämissen seiner Literaturgeschichte legt Engel im Vorwort sehr deutlich dar: Seine Literaturgeschichte richtet sich nicht an die ›Kenner‹ der Materie – »namentlich [die] Professoren der englischen Philologie« (v) –, sondern sie ist in der Absicht geschrieben, der gebildeten deutschen Leserwelt, soweit sie sich für die Litteratur Englands interessirt, ein Begleitwerk zu der eigenen Lektüre englischer Schriftsteller zu liefern und auf das Hervorragendste aufmerksam zu machen. (ebd.)

Engel versteht sein Werk also nicht so sehr als Forschungsbeitrag zur Anglistik, sondern vielmehr als Leitfaden und Ergänzung zum Lesen von Literatur für

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883)

Interessierte.37 Auch die Rolle eines Wissensspeichers, eines Archivs für alle englischen Autoren und deren Werke hat Engel seiner Literaturgeschichte nicht zugedacht. Er möchte vielmehr das Beste der englischen Literatur vorstellen, wie folgende Bemerkung unterstreicht: Worauf es bei den stets höher anwachsenden Ansprüchen an das litterarhistorische Wissen ankommt, ist, dass man endlich einmal beginnt, das Überflüssige und Wertlose, was sich von einer Litteraturgeschichte in die andere fortschleppt, entweder ganz wegzulassen oder es als überflüssig und wertlos zu bezeichnen. (ebd.)

Engel spricht damit gleich zwei zusammenhängende Probleme an, die auch die moderne Literaturwissenschaft beschäftigen. Engel kritisiert die – von ihm so wahrgenommene – bisherige Rolle der Literaturgeschichten als reine ›Bewahrinstanz‹ aller literarischen Werke, unabhängig von deren ›Wert‹. Er möchte entsprechend seines Urteils den Kanon neu gestalten, d. h. er möchte kenntlich machen, welche Werke/Autoren noch immer die Aufmerksamkeit der Leserschaft verdienen, welche Autoren zwar wichtig für die Entwicklung der Literatur waren, aber nicht mehr lesenswert sind, und welche Autoren seiner Meinung nach völlig aus dem Kanon verbannt werden sollten.38 Er ist sich – dies wird in seinen Äußerungen implizit deutlich – nicht nur völlig im Klaren über die Selektivität des Kanons, er fordert sie sogar, und zwar nach dem Kriterium des literarischen ›Wertes‹ eines Werkes.39 Damit spricht Engel schon 1883 die Rolle von Literaturgeschichten bei der Vermittlung/Bewahrung von Wissen einerseits und den Konstruktcharakter des Kanons andererseits explizit an. Der Charakter des Kanons als urteilsbegründete Auswahl schlägt sich in seiner von Engel präsentierten Zusammensetzung nieder. Da Engel eine Selektion anstrebt, ist sein Kanon mit insgesamt etwa 160 Autoren zum einen wesentlich klei37 Welch hohe Meinung Engel vom literarischen Vorwissen interessierter deutscher Leser hat, macht folgende Aussage bezüglich der Figurencharakteristik in den Dramen Shakespeares klar: »Es wäre lohnend, aber im Rahmen dieses Buches untunlich, Stück für Stück darauf hin durchzugehen. Wir müssen eine gewisse, ja sogar eine ziemlich eingehende Kenntnis wenigstens aller bedeutenderen Dramen Shakspeare’s bei unsern Lesern voraussetzen und wir wissen, dass dies deutschen Lesern gegenüber keine ungerechtfertigte Voraussetzung ist.« (176) 38 Ein Beispiel hierfür ist Engels Bewertung der Essays von Francis Bacon: »Man spricht heute noch sehr viel von Bacon’s Essays, aber man liest sie nicht mehr und – man tut wol daran. Dergleichen ist gut genug für die Litterarhistoriker« (107). Folglich ist Bacon nach Engels Meinung zwar wichtig genug, in Literaturgeschichten verewigt zu werden, eine Lektüre seiner Essays durch den modernen Leser hält er jedoch für unnötig. 39 An späterer Stelle formuliert Engel die Intention seiner Literaturgeschichte noch einmal in anderen Worten: »Getreu unserer Aufgabe, die Leser nur mit solchen Schriften eingehender zu beschäftigen, welche zum Zwecke des litterarischen Genusses noch heute die nähere Bekanntschaft lohnen, fassen wir uns über die philosophischen Prosaiker dieser Periode kurz.« (105)

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Die besonderen Merkmale von Engels Literaturgeschichte

ner als der anderer, den gesamten Zeitraum englischer Literatur umfassenden Literaturgeschichten; zum anderen finden sich so gut wie keine reinen Autorennennungen (d. h. reine Erwähnungen eines Autors, evtl. noch mit einem seiner wichtigeren Werke), denn da Engel sich möglichst ausschließlich mit den bedeutenderen Autoren auseinandersetzt, muss er der Betrachtung ihrer Werke zwangsläufig auch Raum zugestehen. Folglich entfällt in Engels Literaturgeschichte die im Eingangskapitel besprochene vierte Hierarchieebene derjenigen Autoren, die lediglich genannt werden. Um die von Engel entworfene Autorenhierarchie angemessen zu differenzieren, wird in diesem Kapitel trotzdem mit vier Hierarchieebenen gearbeitet. Die vierte Ebene bilden jedoch in diesem Fall nicht die reinen Autorennennungen, sondern die Autoren, denen lediglich ein Minimum an Raum gewidmet wurde. Den Spitzenkanon bildet bei Engel eine Gruppe von acht Autoren (die quantitative Grenze wurde in diesem Fall bei zehn oder mehr Seiten pro Autor festgelegt). William Shakespeare nimmt hierbei mit 43 Seiten (immerhin ein Sechzehntel des Gesamtumfangs von Engels Literaturgeschichte) mit großem Abstand die Spitzenposition ein. Ihm folgt auf Rang zwei mit gut dreißig Seiten Lord Byron. Dieser ist in englischen Literaturgeschichten für gewöhnlich nicht im Spitzenkanon zu finden, sehr wohl aber in vielen älteren deutschen Werken.40 Geoffrey Chaucer und John Milton nehmen mit je 23 Seiten ebenfalls eine prominente Position in Engels Spitzenkanon ein, zu dem man noch Robert Burns, Percy Bysshe Shelley, Edmund Spenser und Alexander Pope zählen kann, obwohl ihnen mit je zwischen zehn und dreizehn Seiten deutlich weniger Raum gegeben wird. Im Umgebungs40 Darüber, dass Byron in englischen Literaturgeschichten nicht die ihm angemessene Würdigung erfahren habe, ist Engel äußerst erbost: »Auf dem Gebiet der ästhetischen Kritik haben die Engländer zwar nie sehr Hervorragendes geleistet, aber ein solcher Bankrott des Verständnisses für Poesie, wie er bei der Beurteilung Byron’s in England bis auf unsere Tage sich bekundet, ist geradezu unfassbar. Es ist, als hätten die Engländer kein Organ für Byron, als litten sie unter einer völligen Lähmung des Geschmackes an Poesie, sobald es sich um Byron’s Würdigung handelt« (418). Zur Rezeption Byrons in Europa und Deutschland vgl. Cochran (2004), Pointner (2004), Blaicher (2001) und Hoffmeister (1983). Blaicher (2001: 9) schreibt in seinem Vorwort über die Bedeutung Byrons für Deutschland: »Für die Deutschen im 19. Jahrhundert war Byron ein Vorkämpfer der Freiheit in Europa und in dieser Hinsicht ein Instrument des Schicksals. Wie ein Sturm schien er, das ›Vermoderte zerschmetternd‹, die Welt zu durchbrausen und den unterdrückten Völkern neue Lebensluft zu bringen. Er galt nicht nur als der ›Bannerträger der politischen Poesie‹, sondern als der große Modernisierer in der europäischen Literatur überhaupt. Im 20. Jahrhundert verblaßte sein Ruhm in Deutschland, und dem allgemeinen Publikum sind seine Werke kaum bekannt.« In Karl Bleibtreus Literaturgeschichte ist Byron mit sechzig Seiten Text sogar der bedeutendste Autor vor Shakespeare (knapp dreißig Seiten), was Bleibtreu in seinem Vorwort allerdings damit begründet, dass er Byron wieder den ihm gebührenden Platz in der deutschen Geschichte der englischen Literatur einräumen wolle, was bei dem Genie Shakespeare nicht mehr nötig sei (Bleibtreu 1923: 3ff.).

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883)

kanon, zu dem hier 23 Autoren zählen, denen mindestens drei Seiten gewidmet werden, finden sich Jonathan Swift, Alfred Tennyson, John Dryden, Thomas Babbington Macaulay, Daniel Defoe, Charles Dickens, William Wordsworth, Elizabeth Browning und George Eliot. Damit siedelt Engel relativ viele Autoren seiner eigenen Gegenwart an prominenter Stelle an. Auf der dritten Hierarchieebene finden sich insgesamt 50 Autoren, denen jeweils mehr als eine und bis zu drei Seiten Text zugedacht wird, darunter so bekannte Namen wie John Donne, Thomas Gray, Henry Fielding, Samuel Coleridge, Benjamin Disraeli, John Locke und Thomas Carlyle. Die vierte Hierarchieebene setzt sich aus 78 Autoren zusammen, denen Engel jeweils bis zu einer Seite widmet. Hier finden sich z. B. neben Roger Ascham, Francis Bacon und Anthony Trollope mit Jane Austen und Charlotte Brontë Autorinnen, die in späteren Literaturgeschichten einen höheren Rang einnehmen werden. Die Rolle von weiblichen Autoren für die englische Literatur wird von Engel in besonderer Weise hervorgehoben. Ihnen widmet er ein eigenes Unterkapitel, in dem er ihre große Bedeutung für die Literatur Englands unterstreicht: In keinem Litteraturlande nehmen schriftstellernde Frauen eine so unbestrittene Stellung neben den Männern ein, wie in England. Während man auch heute noch in Deutschland eine Frau, die es mit der Feder dem Manne gleichtun will, für mehr oder weniger ausser Reih und Glied betrachtet, gehört die Schriftstellerin in England, und zwar in stets zunehmendem Maasse, zu den gleichbürtigen Mitgliedern der litterarischen Welt. (499)

Die Bedeutung, die Engel Autorinnen zuspricht, spiegelt sich auch darin wieder, dass immerhin zwei von ihnen, Elizabeth Browning und George Eliot, in seinem Umgebungskanon zu finden sind. Von ihnen sagt er: »Vielleicht wird nach einem Jahrhundert keine Zeile dieser Dichterinnen mehr leben; aber zu der Erfüllung der modernen Poesie Englands mit idealem Gehalt haben sie sehr viel beigetragen, und aus der Geschichte der Litteratur unseres Jahrhunderts sind sie nicht wegzudenken« (507). Damit spricht Engel schon im 19. Jahrhundert einen wichtigen Aspekt der heutigen feministischen Literaturwissenschaft und der Gender Studies an – die angemessene Berücksichtigung von Autorinnen im literarischen Kanon.41 41 Zur Zielsetzung der feministischen Literaturwissenschaft vgl. Beinroth et al. (2001: 168f.): »Die f[eministische] L[iteraturtheorie] basiert nicht auf einer einheitlichen und geschlossenen theoretischen Position, sondern auf einer Vielzahl von inzwischen sehr differenzierten Methoden, mit denen aus weiblicher Perspektive die Darstellung von Frauen in literar. Texten sowie die Lit.produktion und Lit.rezeption von Frauen erforscht wird. […] Ab Mitte der 1970er Jahre widmete sich die f.L. auch der Kritik und Revision […] des vor dem Hintergrund männlicher Werturteile gebildeten literar. Kanons. Das Ziel war, eine Kontinuität weiblichen Schreibens aufzudecken, wobei Uneinigkeit bestand, ob bislang mißachtete Werke von Frauen in den vorhandenen Kanon zu integrieren seien oder ob sich die f.L. gänzlich von der bestehenden Tradition lossagen und einen ›Gegenkanon‹ nach eigenen Kriterien bilden soll.« Den Untersuchungsge-

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Die besonderen Merkmale von Engels Literaturgeschichte

Engel folgt mit der relativen Breite seines Literaturbegriffs der englischen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung. Unter der Bezeichnung der »schönwissenschaftlichen Litteratur« (576) finden Historiker, Politiker und Denker nicht wenig Beachtung. So ist mit Thomas Babbington Macaulay ein Historiker im Umgebungskanon vertreten, und John Locke, Benjamin Disraeli und Thomas Carlyle finden immerhin ihren Platz auf der dritten Hierarchieebene. Die Entscheidung darüber, welche Wissenschaftler er in seiner Literaturgeschichte berücksichtigt, begründet Engel folgendermaßen: »Wir können uns in dem engen Rahmen dieses Buches natürlich nur mit denjenigen Vertretern der englischen Wissenschaft eingehender beschäftigen, die in ihren Werken zugleich Bereicherungen der Litteratur geliefert haben« (572). Gemeint sind damit stilistische ›Bereicherungen‹, und der Stil ist, zumindest was wissenschaftliche Arbeiten angeht, damit für Engel ebenso wichtig wie der bedeutsame Inhalt. Die Schwierigkeit, zu entscheiden, ob ein Werk die Literatur wirklich bereichert hat, ist Engel durchaus bewusst, denn er gibt zu: Die Grenze freilich lässt sich hierbei sehr schwer ziehen: wir nehmen an, dass ein Werk wie Darwin’s Origin of the Species (1859) auch in der Geschichte der englischen Litteratur noch nach hundert Jahren mit Ehren genannt werden wird; vielleicht dann nicht mehr so sehr wegen seiner wissenschaftlichen Bedeutung wie um seiner stilistischen Klarheit willen. (573)

Obiges Zitat zeigt zudem, dass Engel mit der englischen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung vertraut ist, die auch wissenschaftliche Autoren zu ihrem weit gefassten Kanon zählt. Durch seine vergleichsweise ausführliche Berücksichtigung der englischen Presse übertrifft Engel in der Breite seines Literaturbegriffs sogar noch seine englischen Kollegen. Zwar gehen auch englische Literaturgeschichten regelmäßig auf einzelne Zeitschriften oder Journalisten ein, Engel jedoch widmet der generellen Rolle und Bedeutung der englischen Presse für Gesellschaft und Staat ein Unterkapitel, bewertet sie ausnehmend positiv und vergleicht ihren bedeutenden Einfluss auf die Politik mit der Situation in anderen europäischen Ländern. Engels Loblied auf die englische Pressefreiheit sowie seine Bemerkung »England ist das einzige grössere Land Europas mit wirklicher Presse-

genstand der Gender Studies beschreiben Feldmann und Schülting (2001: 218) wie folgt: »G[ender] St[udies] analysieren das hierarchische Verhältnis der Geschlechter […], wie es sich in den verschiedenen Bereichen einer Kultur manifestiert. Grundannahme dabei ist, daß sich Funktionen, Rollen und Eigenschaften, die Männlichkeit bzw. Weiblichkeit konstituieren, nicht kausal aus biologischen Unterschieden zwischen Mann und Frau ergeben, sondern gesellschaftliche Konstrukte und damit veränderbar sind. Die Gegenstände und Methoden der G.St. sind von denen der feministischen Theorie […] nicht immer eindeutig zu trennen.«

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883)

freiheit« (587) lassen erkennen, dass er die Engländer um diese Errungenschaft beneidet.42 Eine Frage bezüglich der weiter oben bereits angesprochenen Forderung Engels nach mehr Selektivität stellt sich jedoch: Wenn seine Literaturgeschichte die erste ist, die die zeitliche Gesamtheit der englischen Literatur in umfangreicherer Weise abdeckt, wogegen richtet sich dann sein Vorwurf, dass ›Überflüssiges‹ und ›Wertloses‹ von »einer Litteraturgeschichte in die andere fort[ge]schleppt« (v) werde? Engel kann sich damit entweder auf die bis dahin in Deutschland erschienenen Werke beziehen, die sich wie Hettners Literaturgeschichte lediglich mit einem zeitlich begrenzten Ausschnitt der englischen Literatur beschäftigten.43 Oder er spricht damit die Tradition der Literaturgeschichtsschreibung grundsätzlich an – in England, aber auch in anderen europäischen Ländern. Da Engel auch eine Geschichte der deutschen Litteratur (1906) sowie eine Geschichte der französischen Litteratur, von ihren Anfängen bis auf die neueste Zeit (1882) veröffentlichte, ist davon auszugehen, dass er nicht nur mit Geschichten englischer Literatur vertraut war, sondern auch über den Tellerrand der Anglistik hinausblicken konnte.44 Folglich kann sich seine Forderung nach mehr Selektivität durchaus auf Literaturgeschichten generell beziehen. Die Kriterien, anhand derer Engel entscheidet, welcher Autor erinnerungswürdig ist und welcher nicht, findet er primär durch das Studium von Quellen. Als »Quellen dieses Buches« dienen ihm »fast ausschließlich die Werke der darin behandelten Autoren« (vi). Diese Bemerkung Engels deutet schon an, dass es sich bei seiner Literaturgeschichte um eine ausgesprochen werkzentrierte Arbeit handelt. Diese Annahme wird bestätigt, wenn er darauf hinweist, [d]ass es völlig unausführbar ist, in einem handlichen Bande mit der Litteraturgeschichte eines Volkes zugleich eine Geschichte der Politik, der Kunst, der gesamten Kultur desselben zu liefern […]. Es ist nur so viel über die begleitenden Umstände, unter welchen die Litteraturwerke erschienen, und nur so viel über die persönlichen Verhältnisse der Autoren gesagt worden, wie zum Verständnis ihrer Werke oder des Urteils über dieselben unumgänglich erforderlich schien. (vi)

42 Zum Ende seines Abschnittes über die englische Presse schließt sich Engel dem Lob des englischen Historikers Pebody an: »›Sie ist eine der rühmlichsten, eine der reinsten und eine der edelsten Institutionen Englands‹« (591). 43 Hettners Kanon ist mit 73 Autoren allerdings nur etwa halb so groß wie der von Engel präsentierte. Dabei ist zu beachten, dass Hettners als Ideengeschichte konzipierte Literaturgeschichte eine völlig andere Zusammensetzung bezüglich des Kanons aufweist, da Hettner die Wissenschaft noch viel stärker betont als Engel. 44 Wie Engels englische Literaturgeschichte wurde auch seine Arbeit zur französischen Literatur insgesamt zehn Mal (bis 1927) aufgelegt. Seine deutsche Literaturgeschichte scheint sich noch viel besser verkauft zu haben – sie erlebte bis 1918 ganze 29 Auflagen.

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Die besonderen Merkmale von Engels Literaturgeschichte

Engel macht damit zweierlei deutlich: Erstens schenkt er den literarischen Werken deutlich mehr Aufmerksamkeit als dem kulturellen Kontext ihrer Entstehung; zweitens gesteht er aber implizit ein, dass die Werke doch nicht völlig von Aspekten wie der Kultur, der Politik oder dem persönlichen Hintergrund eines Autors zu trennen sind. Diesen Zusammenhang erörtert Engel wie folgt, wobei er sich dezidiert von zu seiner Zeit gängigen Ansichten distanziert: In letzter Zeit hat sich mehr und mehr die Ansicht festgesetzt, als sei die Litteratur eines Volkes nichts als ein Ausfluss seiner allgemeinen Kulturbedingungen und als könne man auf Grund der vermeintlichen Kenntnis dieser Kulturbedingungen die Meisterwerke der Poesie gewissermaassen mathematisch konstruiren. Der Verfasser dieses Buches wagt völlig entgegengesetzter Ansicht zu sein; er glaubt, dass die Litteratur, wenigstens die welche sich eingräbt in den Volksgeist und lebenzeugend weiter lebt, ihrerseits die sogenannte Kultur eines Volkes machen hilft, nicht umgekehrt. Die grossen Poeten sind von keiner Zeit und darum von aller Zeit. Die vergänglichen Werke des Tages mögen nichts sein als Äusserungen des jeweiligen Kulturzustandes einer Nation; die anderen entziehen sich der Erklärung des Woher. Shakspeare’s Dramen sind verständlich auch ohne genaue Beschreibung des Globe-Theaters, und Robert Burns’ Gedichte gewinnen wenig an Wert oder an Deutlichkeit durch eine Kenntnis der Bodenbeschaffenheit Schottlands und durch das Studium der Sitten der Schotten. All diese Nebensächlichkeiten lernt man durch die Litteraturkunde von selbst nebenher; ohne die Kenntnis der Werke der Schriftsteller vermag der gelehrteste Kulturgeschichtsmathematiker nicht das mindeste über den Geist derselben zu erraten, so wenig wie er aus der intimsten Kenntnis unserer jetzigen Kultur weissagen kann, wess Geistes der grosse Dichter der nächsten Zukunft sein wird, der vielleicht jetzt unter uns lebt. (vif.)

Die Kritik Engels an der Annahme eines quasi-mathematischen Zusammenhangs zwischen der Kultur einer Zeit und den in dieser Zeit entstandenen literarischen Werken richtet sich explizit gegen den französischen Literaturwissenschaftler Hippolyte Taine und seine Geschichte der englischen Literatur (1863). In diesem Werk geht Taine, zumindest laut Engel, folgendermaßen vor: »Sein System besteht darin, uns den Kulturzustand irgendeines Zeitabschnittes sehr anschaulich zu schildern und dann mit apodiktischer Sicherheit daraus zu schliessen, vermittels a + b = c, dass aus den und den Kulturbedingungen sich die und die Dichtung notwendig entwickeln musste« (166). An dieser Herangehensweise stört Engel vor allen Dingen, dass sie einer Ausnahmeerscheinung wie Shakespeare in keiner Weise gerecht zu werden vermag, denn das Wesen eines Genies ist es, gerade »nicht das Produkt seiner Zeit« (ebd.) zu sein.45 Mit dieser Ansicht greift Engel 45 Am Beispiel von Robert Burns, der mit über dreizehn Seiten zum Spitzenkanon gehört, erklärt Engel in deutlichen Worten noch einmal seine Auffassung vom Verhältnis zwischen Autor und Kultur: »Die grossen Dichter machen die Kultur eines Volkes, nicht macht die Kultur, welche sie bei der Geburt umgibt, die grossen Dichter! Über Jahrtau-

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883)

das berühmte Diktum Ben Jonsons über Shakespeare auf, der verkündete, dass jener von keiner Zeit und deshalb von aller Zeit sei. Am besten demonstriert folgendes Zitat, in dem Engel sich dem englischen Historiker Carlyle anschließt, seine Auffassung von Geschichte und Literaturgeschichte: Gegenüber der immer beliebter werdenden Auffassung aller Geschichte als eines Resultats der Massen, wonach z. B. Litteraturgeschichte nicht die Geschichte der grossen Schriftsteller, sondern des grossen Publikums sein soll, hat Carlyle den Mut gehabt die aristokratische Wahrheit auszusprechen: ›Universalgeschichte, die Geschichte dessen was der Mensch auf Erden vollbracht hat, ist im Grunde die Geschichte der grossen Männer, welche hier gewirkt haben.‹ (577)

Mit unverhohlenem Ärger konstatiert Engel, dass Taines Literaturgeschichte »von den Franzosen, folglich auch von den Deutschen, für das Beste gehalten wird, was man über den Gegenstand schreiben könne« (ebd.). Damit richtet sich Engels Ablehnung nicht nur gegen Taine und seine Anhänger in Frankreich, sondern genauso gegen deutsche Literaturwissenschaftler, die Taine nacheifern.46 Engel kritisiert folglich implizit auch eine zu große Beeinflussung Deutschlands durch für ihn abwegige französische Ideen. Allerdings kann Engels Unmut gegenüber den französischen Literaturwissenschaftlern auch damit zusammenhängen, dass diese sich wenig lobend über Shakespeare äußern: Nur in Frankreich hat die oberflächliche und bornirte Anschauung noch Anhänger von Ruf, welche in Shakspeare nichts besseres sehen, als einen zuweilen, vielleicht sogar oft, ohne Plan, ohne Kunstabsicht, sinnlos, taumelnd, halbtrunken das Richtige treffenden Naturburschen. Die Race dieser Menschen ohne Organ für Shakspeare ist keineswegs mit Voltaire ausgestorben. (166)47 sende wird man die Kulturgeschichte unserer Zeit nach den dann als einzige Zeugen übrig gebliebenen Dichterwerken schreiben, und so sollte man sich jetzt schon an die Auffassung gewöhnen, dass die Litteratur die Kultur erklärt, nicht umgekehrt.« (399) 46 Mit dieser Kritik kann Engel unter anderem auf Karl Bleibtreu zielen, der ab 1887 eine mehrbändige englische Literaturgeschichte verfasste sowie im Jahr 1923 ein einbändiges Werk über die englische Literatur veröffentlichte. In letzterem drückt er besonders deutlich seine Bewunderung für die Arbeit Taines aus und wendet dessen Literaturtheorie von ›race & moment‹ in seiner eigenen Literaturgeschichte an (Bleibtreu 1923: 26). Bleibtreus Befürwortung der Theorie Taines war vermutlich auch Engel bekannt. 47 Shakespeares Werke entsprachen nicht den in Frankreich und anderen romanischen Ländern geltenden strengen Regeln für die Dichtung. Dort herrschte »ein strikt normatives poetologisches System, das des Klassizismus« (Hempfer 1992: 746). Die französischen Kritiker – allen voran Voltaire – monierten zahlreiche ›Fehler‹ an Shakespeares Werken: »Mit den Regeln, gegen die Shakespeare verstößt, sind nicht nur die drei Einheiten gemeint, sondern auch die Stil- bzw. Gattungstrennung und das Prinzip des Dekorum, wonach Komik und Tragik sich nicht in ein- und demselben Werk finden dürfen, wonach in der Tragödie nur hochgestellte Personen mit einer ihrer Würde entsprechenden, feierlichen Sprache erscheinen dürfen, ein ›noblesse‹-Ideal, das nicht nur Vulga-

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Die besonderen Merkmale von Engels Literaturgeschichte

Obiges Zitat kann zwar rein auf die Literaturwissenschaft gemünzt sein, es macht aber auch den kulturellen Gegensatz zwischen England und Deutschland auf der einen und Frankreich auf der anderen Seite deutlich, was einerseits Deutschland von Frankreich abgrenzt, andererseits die Ähnlichkeit im Denken der Engländer und Deutschen hervorhebt. Denn einzig in Frankreich wird eine Ausnahmeerscheinung wie Shakespeare nicht als solche anerkannt.48 Nach dieser Kritik Engels an der französischen Literaturwissenschaft soll nachfolgend weiter auf die Strukturen seiner Literaturgeschichte eingegangen werden. Indem Engel die größten Poeten als Ausnahmeerscheinungen darstellt, die losgelöst von ihrem kulturellen Hintergrund und ihrer Zeit zu betrachten sind, spricht er dem romantischen Geniegedanken das Wort. Die Mehrzahl der Autoren fällt allerdings nicht in die Kategorie des ›Genies‹, und bei diesen Autoren schlägt sich nach Engels Ansicht durchaus ihr gesellschaftliches und kulturelles Umfeld in ihren Werken nieder. Deshalb kommt Engel nicht umhin, doch zumindest ein

rismen, Kolloquialismen und obszöne Anspielungen als der ›bienséance‹ zuwiderlaufend ausschließt, sondern auch die Artikulation jeglicher Kreatürlichkeit als ebenso ungeziemend verpönt wie die direkte Darstellung drastischer Handlungen auf der Bühne. Daneben wurden Shakespeare kleinere ›Kunstfehler‹ wie Anachronismen, historische und geographische Unstimmigkeit, mangelhafte Durchkomposition seiner Werke (unnötige Wiederholungen, die Handlung nicht vorantreibende Szenen usw.), zu große Zahl der Figuren, Unwahrscheinlichkeit der Intrige, Ignorierung der ›liaison des scènes‹ (das ›clear-stage‹-Prinzip der elisabethanischen Bühne war natürlich unbekannt) vorgeworfen« (Hempfer 1992: 748). Diese Kritik schwächte sich im Laufe der Romantik zwar ab, viele der genannten Punkte wurden Shakespeare aber auch noch im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorgeworfen. Für eine ausführlichere Darstellung der französischen Shakespeare-Rezeption vgl. Hempfer (1992). 48 Engel gibt zu bedenken, dass die künstlerischen Unzulänglichkeiten Shakespeares durch den Publikumsgeschmack seiner Zeit zu erklären sind (vgl. 174). Allzu harsche Kritik an Shakespeare lässt Engel aber von keiner Seite gelten. Er tadelt in scharfem Ton sowohl englische Kritiker wie Ben Jonson (167) als auch deutsche wie Roderich Benedix (174). Besonders hart geht Engel mit der Behandlung ins Gericht, die Shakespeare im 19. Jahrhundert in England erfuhr. Um einen Eindruck von Engels Stil und Verachtung zu vermitteln, soll der Absatz hier in voller Länge wiedergegeben werden: »In England hat man einen ›expurgirten Shakspeare‹ gedruckt, – wohl bekomms! In demselben England – zum Glück in England allein – ist gegen Shakspeare auch der Vorwurf der Irreligiosität erhoben worden. Herr W.J. Birch (natürlich ein Geistlicher) hat in seinem Buch: An inquiry into the philosophy and religion of Shakspeare (1848) sich der Mühe unterzogen, aus dem Dichter das Schlimmste zu machen, was es für einen Durchschnittsengländer geben kann: einen nicht bibelgläubigen, gutanglikanischen Menschen! Dass er zu diesem frommen Zwecke, der ihm die Mittel heiligte, absichtliche Textfälschungen vornahm, und dass er die Äusserungen der Bösewichter in Shakspeare’s Stücken ohne weiteres als des Dichters eigne Ansichten verzeichnete, charakterisirt diese kritische Büberei und Dummdreistigkeit genugsam« (175). Beachtenswert ist in diesem Textauszug auch die Betonung der Religiosität der ›Durchschnittsengländer‹.

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883)

Mindestmaß an außerliterarischen Informationen zu bieten. Diese dienen aber keineswegs der Erklärung, warum bestimmte literarische Werke verfasst wurden, sondern lediglich dem besseren Verständnis dieser Werke. Denn Engel sieht die Funktion der Literaturgeschichte ganz klar in der reinen Darstellung und nicht in Erklärungsversuchen: Der Verfasser denkt über die Aufgabe der Litteraturgeschichte ganz demütig und bescheiden. Sie soll sich nicht anmaassen, altklug davon zu reden, warum es so und nicht anders hat kommen müssen; sie soll sich daran begnügen zu erforschen, wie es gekommen ist. (vii)

Da Engel betont, wie gering der Einfluss der jeweiligen Zeit auf die großen Dichter sei, kann er der in seiner Literaturgeschichte vertretenen Periodisierung keine große Bedeutung beimessen. Epochen und Perioden werden schließlich primär gebildet, um die Ähnlichkeiten literarischer Werke aufzuzeigen, die durch Geistesströmungen, höfische Traditionen und Vorlieben oder historische Ereignisse bedingt sein können.49 Bestreitet man diese Einflüsse jedoch, wie Engel es tut, kann eine Periodisierung im Prinzip nur noch das didaktische Ziel haben, mit Hilfe der historischen Verortung von Autoren und Werken eine verbesserte Memorierbarkeit zu erzeugen. Entsprechend unterteilt Engel seine Literaturgeschichte in nur wenige so genannte ›Abschnitte‹, bei denen er sich an Jahrhunderten, historischen Epochen sowie Geistesströmungen orientiert. Folgende Titel werden von Engel für seine insgesamt sieben Abschnitte der englischen Literatur gewählt: ›VII.–XV. Jahrhundert‹; ›Das Zeitalter der Renaissance‹; ›Die Zeit der Bürgerkriege‹; ›Das Zeitalter der Königin Anna, Georgs I. und Georgs II. (XVIII. Jahrhundert, I. Hälfte)‹; ›Die Rückkehr zur Natur (XVIII. Jahrhundert, II. Hälfte)‹; ›Das XIX. Jahrhundert – I. Die Dichter‹; ›Das XIX. Jahrhundert – II. Die Prosaiker‹. Zusätzlich beinhaltet Engels Literaturgeschichte noch einen achten Abschnitt über die Literatur Nordamerikas (USA). Die von Engel gewählten Epochen und ihre Bezeichnungen orientieren sich in ihrer Gesamtheit weder an der deutschen noch an der englischen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung. Zwar nehmen zwei Epochenbezeichnungen Bezug auf die englische Geschichte, Hinweise auf ein zugrunde liegendes Englandbild geben die Bezeichnungen jedoch nicht, denn weder die Bürgerkriege noch die drei Monarchen Anna, Georg I. und Georg II. sind wohl als typisch für den englischen Nationalcharakter anzusehen. An der Gliederung Engels fällt auf, dass er der jüngeren Vergangenheit deutlich mehr Platz einräumt als der älteren englischen Literatur. Während er die Zeit vom 7. bis zum 17. Jahrhundert in drei Abschnitten auf 280 Seiten untersucht, 49 Zum Sinn der Epochenbildung vgl. Göbel (2001: 146): »E[pochen] bezeichnen Zeiträume in der Geschichte oder Lit.geschichte, die sich im Vergleich zum Vorher und Nachher als relativ homogen darstellen und zumeist durch eine Reihe von Trennereignissen […] begrenzt sind. In der Lit-wissenschaft erlaubt die Einteilung in E. ein sinnvolles Gespräch über langfristige Veränderungen von Gattungen und literar. Formen sowie über Diskurse, welche die Lit. beeinflussen.«

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Die besonderen Merkmale von Engels Literaturgeschichte

widmet er dem 18. und dem 19. Jahrhundert jeweils zwei Abschnitte und insgesamt 320 Seiten. Diese Diskrepanz ist zwar mit der sich stetig erhöhenden Literaturproduktion im 18. und 19. Jahrhundert erklärbar, kann aber auch als Konsequenz aus Engels Forderung gesehen werden, sich von ›Überflüssigem‹ und ›Wertlosem‹ in der Literatur zu trennen. Es ist relativ naheliegend, dass Engel die neueren literarischen Werke im Vergleich zu älteren als relevanter für seine Zeit ansieht. Aber bei geringem zeitlichen Abstand zwischen Werkveröffentlichung und literaturgeschichtlicher Bewertung fällt es schwer zu entscheiden, ob ein Werk zukünftig von Belang sein wird oder nicht. Daher fällt Engels Kanon zwangsläufig für die jüngere Zeit breiter aus, denn die Gefahr, über etwas hinwegzugehen, was sich später doch als wichtig erweisen könnte, ist groß. Mit zunehmender zeitlicher Distanz hingegen fällt die Bewertung literarischer Werke leichter, denn bestehen diese aufgrund ihrer Qualitäten den so genannten ›test of time‹, sind sie zweifelsfrei wertvoll genug, um dauerhaft Eingang in den Kanon zu finden. Ein weiterer Grund für den relativ geringen Umfang des ersten Jahrtausends literarischen Schaffens in England findet sich in folgender, selbst auferlegter Beschränkung Engels: Diese Geschichte der englischen Litteratur wird nur diejenigen Werke in den Kreis ihrer Betrachtung ziehen, welche in englischer Sprache abgefasst sind. Die altbritische Barden-Poesie in celtischer Sprache fällt nicht unter den Be griff der englischen Nationallitteratur, und nur mit dieser haben wir es in dem vorliegenden Buche zu tun. Denn Englands Sprache des öffentlichen Lebens wie der Litteratur ist die englische, und die Schriftsteller aus anderen Sprachgebieten haben, soweit sie überhaupt in Betracht kommen können, sämtlich englisch geschrieben. Der Irländer Thomas Moore und der Schotte Walter Scott sind englische Dichter. (3)

Engel macht es sich einfach, wenn er ausschließlich englischsprachige Werke als zur englischen Nationalliteratur gehörend ansieht. Durch diese Definition entfallen sämtliche Werke in keltischer, lateinischer, walisischer und französischer Sprache, die zu verschiedenen Zeiten auf den britischen Inseln verfasst wurden. Es mag zutreffen, dass seit langer Zeit das Englische die Sprache des öffentlichen Lebens ist, die anderen genannten Sprachen spielten aber ebenfalls zeitweise eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen bzw. kulturellen Leben Englands. Engel definiert englische Nationalliteratur als Literatur in englischer Sprache, so dass Iren, Schotten und Waliser – sofern sie englisch schreiben – ebenfalls zum englischen Literaturkanon gehören. Logisch ausgeweitet müssten allerdings auch die Autoren aus anderen englischen Sprachräumen (aktuelle und ehemalige Kolonien) in Engels Literaturgeschichte Berücksichtigung finden. Und tatsächlich widmet Engel – wie bereits erwähnt – einen ganzen Abschnitt seines Buches der Literatur US-amerikanischer Autoren. Hier nennt Engel neben der Sprache ein weiteres Kriterium, das für das Entstehen einer Nationalliteratur unabdingbar ist: das der politischen Unabhängigkeit. Von der Literatur der USA schreibt Engel,

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883)

diese habe erst seit der Unabhängigkeit von England einen »eigenartigen nationalen Charakter« (603) entwickelt. Die Literatur der englisch-kanadischen Kolonien hingegen sei völlig abhängig von England, denn »erst muss eine Nation politisch unabhängig sein, ehe sie es litterarisch ist« (606). Die enge Beziehung zwischen literarischem Schaffen und nationaler Unabhängigkeit, die Engel hier herstellt, lässt sich vor dem Hintergrund des erstarkenden Nationalismus in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erklären. Mehrere weitere Aspekte in Engels Literaturgeschichte sind beachtenswert. Zuvorderst fällt Engels Tendenz zu überaus deutlich formulierten Urteilen ins Auge, und zwar sowohl bezüglich englischer Autoren wie auch über die englische Literaturwissenschaft. Er nimmt in seiner Kritik kein Blatt vor den Mund und verfällt dadurch manchmal in überschwängliches Lob, manchmal in beleidigende Verachtung. Dabei beschränkt sich Engel nicht allein auf Autoren und ihre Werke, sondern er verschont auch Gestalten des politischen Lebens oder der Literaturkritik nicht. Über König Heinrich VIII. trifft er beispielsweise folgendes vernichtendes Urteil: Dieser blutbespritzte Herrscher, eine widrige Mischung aus einem eitlen Pamphletisten, einem mordsinnigen Blaubart und einem wankelmütigen Tyrannen, hat unter seiner Regirung die Neuentfaltung des dichterischen Geistes Englands gesehen, aber ihm gebührt kein Dank dafür. (93)

Und an anderer Stelle heißt es: Die unglückliche Gemahlin Heinrichs VIII., Anna Boleyn, war seine [Sir Thomas Wyatts] Muse; um sie musste er im Tower alle Schrecken eines hochnotpeinlichen Prozesses über sich ergehen lassen, bis seine Unschuld selbst für den argwöhnischen Weiberschlächter und Dichtermörder sonnenklar bewiesen ward. (99)

An diesen Beispielen wird deutlich, dass Engel neben schriftstellerischen Qualitäten auch das Verhalten einzelner Persönlichkeiten bewertet und die moralische Integrität dabei eine große Rolle spielt.50 Engel moralisiert, trennt dabei aber – wie 50 Insgesamt scheint Engel eine gewisse Abneigung gegen englische Monarchen zu hegen. Die meisten prominenten englischen Staatsoberhäupter kritisiert er für deren körperliche oder moralische Mängel. Seine Haltung zu Heinrich VIII. ist bereits geschildert worden. Zu Elisabeth I. schreibt er: »Auch im ferneren Verlauf der Dichtungen lässt Spenser hinter seinen Idealgestalten Belphöbe, Britomart, Mercilla, und wie die nebelhaften Schönen sonst noch heissen, die jungfräuliche Königin hervorschauen, die mit ihren damals 60 Jahren notorisch ein Ausbund weiblicher Hässlichkeit gewesen« (115). Bezüglich Jakobs I. bemerkt er: »Jakob I. schickte ihn [Sir Walter Raleigh] aus feiger Liebedienerei gegen die spanische Diplomatie aufs Schaffot: die unenglischste Tat jenes widerlichen Monarchen« (119). Und weiter: »In den Sammlungen machen sich meist die Litteraturgeschichtsberühmtheiten ungebührlich breit, oder es drängen sich solche gottverlassenen Poetaster vor wie der König Jakob I. von England (Jakob VI. von Schottland), der sich und den man damals für einen Dichter hielt. Da Litteraturgeschichte auch einigermassen Litteraturgericht ist, stehe hier das bekannteste Opus des königlichen Pedanten

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Die besonderen Merkmale von Engels Literaturgeschichte

auch Hettner – meist klar zwischen literarischem Können und sittlichem Verhalten eines Autors. Es ist ihm bei seiner Literaturkritik völlig gleich, ob ein Autor sich klar zu christlichem oder moralisch einwandfreiem Gedankengut bekennt. Ihm geht es nur um den künstlerischen Wert eines Werkes. Hierin unterscheidet sich Engels Ansatz der Literaturgeschichtsschreibung grundlegend von dem seiner zeitgenössischen englischen Kollegen, und er gelangt folglich auch zu anderen Bewertungen der Autoren. Das wird nirgends so deutlich wie am Beispiel des von ihm gerühmten Robert Burns, der in englischen Literaturgeschichten für Engels Geschmack zu stiefmütterlich behandelt wird. Von ihm schreibt Engel: Noch eine Seite in Robert Burns verdient Beachtung: er war einer der freiesten Menschen, die je in England geatmet haben, frei in seinen politischen Ansichten, frei in seiner religiösen Überzeugung. Die Engländer, ihre Litterarhistoriker immer voran, verziehen ihm das letztere am wenigsten. (410)

Wie noch aufzuzeigen sein wird, hegt Engel grundsätzlich große Bewunderung für den Freiheitssinn der Engländer. Die puritanischen Einflüsse auf die Gesellschaft (s. unten) sorgten allerdings dafür, dass dieser Freiheitssinn sich nicht auf die Religion erstreckte. Folglich kritisiert Engel die Defizite der englischen Literaturkritiker, die »alle […] von jenem bornirten kritischen Cant befangen [sind], der einen Dichter nicht nach seiner Schöpferkraft, sondern nach seiner Frömmigkeit abschätzt« (593), womit die englische Literaturwissenschaft, in »gewissen Dingen […] unzurechnungsfähig« (411) sei. Vom Stand der englischen Literarhistorie allgemein hat Engel auch keine höhere Meinung: Geradezu kläglich stehen die Engländer als Litterarhistoriker da. Nicht ein englisches Werk über englische Litteraturgeschichte können wir mit gutem Gewissen empfehlen, während unsere Eigenliebe uns erlaubt, mit Freuden auf so ausgezeichnete Werke wie die bekannten von Hettner und Büchner […] und auf das praktische Handbüchlein von J. Scherr hinzuweisen. Wie sie auch heissen mögen die Litteraturgeschichten englischer Verfasser, sie sind ohne irgendeine Ausnahme nicht nur skandalös mangelhaft für Leute, die eine Anstalt wie das British Museum zu ihrer Verfügung haben, sondern vor allem wertlos vom Standpunkt moderner Kritik. (593)51

als abschreckendes Exempel, – eine deutsche Übersetzung lohnt es nicht –: [Textbeispiel]. Solcher schauderhaften Pasquille auf die Poesie hat er eine ganze Sammlung verübt! Das Urteil des Ministers Heinrichs IV. von Frankreich, Sully, über König Jakob I. ist sehr grob, aber sehr wahr; er nannte ihn ›den gelehrtesten Esel von Europa‹« (201f.). Auch von Königin Viktoria scheint Engel nicht viel zu halten; wie am Ende dieses Kapitels noch geschildert wird, macht er die Monarchin zumindest indirekt verantwortlich für den von ihm konstatierten Niedergang der englischen Literatur während ihrer Herrschaft. 51 Henry Morley, einen der bekannteren frühen englischen Literaturgeschichtler, bezeichnet Engel als »Verfasser verschiedener wertloser Bücher zur englischen Litteraturgeschichte« (583f.). In England selbst waren Morleys First Sketches of English Literature

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883)

Die Urteile englischer Literaturwissenschaftler sind also für Engel keineswegs vorbildlich und damit bindend;52 vielmehr kommt er aus seiner Außenperspektive der deutschen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung teilweise zu ganz anderen Bewertungen. So findet sich z. B. Percy Bysshe Shelley in Engels Spitzenkanon wieder, obwohl er in englischen Literaturgeschichten der Zeit meist nur eine unbedeutende Rolle spielt.53 Zumindest im Bereich der Dichtung stellt Engel der englischen Kritik sogar ein völlig vernichtendes Urteil aus und spricht ihr indirekt jedwede Kompetenz ab. Die Einordnung Elizabeth Brownings (19. Jahrhundert) als »grösste Dichterin aller Zeiten und Völker« (504) durch die englische Literaturwissenschaft ist für ihn »einer der zahllosen sprechenden Beweise« (505) für deren »Urteilslosigkeit in poetischen Dingen« (ebd.).54 So scharf Engels negative Urteile ausfallen, so überschwänglich zeigt er seine Bewunderung, die in manchen Fällen geradezu in Heldenverehrung ausartet. Beispielsweise schreibt er zu Sir Thomas Wyatt: »Aber ein ganzer Mann war auch Wyatt; das bewies sein kühnes Auftreten gegen den Minister Wolsey« (99f.). Und noch viel größer ist Engels Bewunderung für Sir Philip Sidney, der für ihn neben Wyatt auch eine jener glänzenden, sympathischen Männererscheinungen [war], an denen kein Zeitalter englischer Literatur so reich gewesen wie das 16. Jahrhundert. Surrey ins Feinere übersetzt, ein adliger Gentleman in Tun, Denken aus dem Jahr 1873 allerdings äußerst beliebt und ein enormer kommerzieller Erfolg (vgl. hierzu Sichert 2001). 52 In Anbetracht der von ihm empfundenen Unfähigkeit der Engländer, gute Gesamtdarstellungen ihrer Literatur zu verfassen, schreibt er: »Die Geschichte ihrer Litteratur im Zusammenhange zu schreiben, haben die Engländer bisher anderen Völkern überlassen« (593). Dies ist vielleicht sogar der Hauptgrund für Engel und die deutsche Anglistik jener Zeit, eigene Geschichten englischer Literatur zu schreiben. Überspitzt formuliert können die Engländer keine guten Literaturgeschichten mit nachvollziehbaren Bewertungen von Autoren und Werken verfassen, deshalb müssen es die Deutschen oder die Franzosen tun. Sogar die Literaturgeschichte des von Engel scharf kritisierten Franzosen Taine ist trotz ihrer Fehler »hoch über alles zu setzen, was von Engländern an Litteraturgeschichten geleistet worden« (594). 53 Als Gründe für den mangelnden Erfolg der ›Geistesgenossen‹ von Byron in England vermutet Engel: »Vielleicht lag es daran, dass die Byronianer sich zu wenig Mühe gaben, mit Engländern englisch zu empfinden und zu sprechen.« (473) 54 Zur Bewertung Elizabeth Barrett Brownings in der englischen Literaturgeschichte vgl. Mermin (1989: 1): »Elizabeth Barrett Browning is for the most practical purposes the first woman poet in English literature.« Mermin erklärt zur Bedeutung Brownings nach deren Tod im Jahr 1861: »She was agreed to have been the greatest of women poets« (246) und bestätigt damit Engels Beobachtungen. Allerdings war das Ansehen Brownings bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stark gesunken, wie Mermin berichtet: »Her significance as a Victorian poet has been obscured in this century by her erasure from all but the most unselective literary histories and her exclusion from academic anthologies« (2). Vgl. hierzu auch Stone (1995).

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Die besonderen Merkmale von Engels Literaturgeschichte und Dichten, ein Ritter ohne Furcht und Tadel, von edelstem Geschlecht und dennoch seinen Ruhm als Mann der Feder dem tapfer erfochtenen Lorber als Kriegsheld vorziehend, der Verteidiger der Dichtkunst, der edelherzige Beschirmer und Wohltäter der Dichter, – und mit 34 Jahren von der Wunde des Schlachtfeldes dahingerafft, noch sterbend mit seinen Freunden im Gespräch über die höchsten Fragen des Menschenlebens begriffen. (101)

Die tiefe Bewunderung, die Engel für die von ihm besonders geschätzten englischen Autoren empfindet, kann sehr schnell in vernichtende Aussagen übergehen, wenn jemand Kritik an diesen ›Helden‹ äußert. So reagiert Engel ausgesprochen aggressiv auf den Versuch einer amerikanischen Literaturkritikerin, die Bedeutung Shakespeares – Engels größtem ›Literaturhelden‹ überhaupt – zu schmälern: Der alberne, neulich gewagte Versuch einer Amerikanerin, der natürlich bei der Heerdennatur der modernen Menschheit zahlreiche Zustimmung in Amerika fand, Francis Bacon zum Dichter der Dramen Shakspeare’s zurechtzudeuteln, gehört ins Irrenhaus und hat auch so ähnlich geendet. (107f.)

Zwar ist Engel voll des Lobes für Shakespeare, in dessen Werken er überall »Wahrhaftigkeit« (144) und »die unbestechliche Wahrheit des Genius« (ebd.) findet. Aber nichtsdestotrotz findet er auch künstlerische Mängel in den Schriften Shakespeares: Gegen viele Kunstregeln hat Shakspeare gesündigt. Um das herauszufinden, bedurfte es nur eines mässigen Theaterregisseurgehirns – zugegeben. Die Fehler seines Stils, die Nachlässigkeiten seiner Charakterschilderung, die Naivetäten seiner Bühnentechnik kennt heute fast jeder Schulknabe. (143)

Aber trotz dieser Mängel betont Engel, dass Shakespeares Werke »einen nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil des Kunstlebens« (143) ausmachen, und zwar »bei allen zivilisirten Nationen« (ebd.) rund um den Globus. Und an anderer Stelle macht Engel klar, dass die Fehler bei Shakespeare auf die Einflüsse seiner Zeit zurückzuführen sind und nicht auf ihn selbst: »Shakspeare’s Tugenden sind sein eigen, Shakspeare’s Gebrechen gehören seinem Zeitalter« (141). Welch überragende Bedeutung Engel dem größten englischen Dichter auch für das deutsche kulturelle Gedächtnis beimisst, zeigt folgendes Zitat, das bei weitem das überschwänglichste Lob für einen Dichter in Engels Literaturgeschichte darstellt: Es mag sehr subjektiv klingen – und in Deutschland fordert man vom Litterarhistoriker die sogenannte ›Objektivität‹ –, aber der knappste Ausdruck für das, was uns die hundertfach wiederholte und eigentlich unaufhörliche Lektüre Shakspeare’s eingeflösst, lautet: Kein anderer Dichter gibt uns so sehr das Gefühl der sittlichen Erhebung, der Reinigung vom Kleinlichen des flüchtigen Tageslebens, des Besserwerdens. In diesem Sinne und ohne jede flache Absicht waltet die Kunst ihres einzigen Amtes, welches sie neben dem des Schönseins hat: dass sie den Menschen moralisch über sich selbst hinaus steigere, ihn mit der Demut seiner eigenen Winzigkeit und doch mit dem Stolze durchdringe, von derselben Gattung zu sein mit dem unbegreiflichen Künstler. In so hohem Maasse wie bei Shakspeare haben wir bei keinem Dichter dieses Gefühl empfunden, – ja selbst nicht am Busen der Natur, nicht im Waldesrau-

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883) schen und nicht beim Ozeanbrausen, eine gleich weihevolle Stimmung verspürt, als wenn wir erschüttert das Buch sinken liessen nach dem Genusse solcher Wunderwerke wie ›Othello‹, ›Romeo und Julia‹, ›König Lear‹, ›Coriolan‹, ›Julius Cäsar‹, ›Macbeth‹, ›Hamlet‹, ›Der Sturm‹. – Solche Stimmung nennen manche Menschen ›Shakspearomanie‹ und meinen damit etwas ganz besonders Niederträchtiges gesagt zu haben; die Shakspearomanen in dem oben umschriebenen Sinne tauschen nicht mit ihren Spöttern. (142f.)

Obiges Zitat gibt neben der zeitgenössischen Bedeutung Shakespeares Aufschluss über Engels Kunstauffassung und auch darüber, was Engel von der Forderung nach ›Objektivität‹ in Literaturgeschichten hält. Das Zitat belegt ebenfalls, dass Shakespeare für Engel nicht nur der größte englische Dichter ist, sondern in seiner Wirkung auf den Leser auch der global bedeutendste Literat. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Shakespeare keineswegs als prototypischer Engländer dargestellt wird. Zwar äußert Engel, dass Shakespeares Dramen die »lebensvollste Kundgebung des altenglischen Volksgeistes« (144) seien, aus denen »das fröhliche Lachen des lustigen alten Englands zum letzten und zum hellsten Male« (ebd.) ertöne; ein Musterbeispiel für Englishness ist er für ihn aber nicht. Das wäre auch nicht im Sinne Engels, denn dieser erklärt im Hinblick auf hypothetische Deutschlandreisen Shakespeares: »Die deutsche Forschung sähe gern den Dichter, den sie Deutschland zu eigen gemacht hat wie nur irgendeinen heimischen Dichter, auch leibhaftig auf deutscher Erde wandeln« (149). Und dass er Shakespeare zuschreibt, »den Schmerz des Daseins empfunden« (165) zu haben sowie »die Verzweiflung über die Nichtigkeit alles Erdgeschaffenen« (ebd.), erinnert sehr stark an das im 19. Jahrhundert weit verbreitete deutsche Konzept vom Weltschmerz – damit macht Engel ihn zumindest dem Naturell nach schon fast zu einem Deutschen. Die enorme Bedeutung Shakespeares für die Literatur Englands wird schon allein durch die Länge des ihm gewidmeten Kapitels in Engels Literaturgeschichte deutlich. In diesem Kapitel findet sich auch ein vierseitiger Unterpunkt mit dem Titel ›Shakspeare in Deutschland‹, der die große Rolle des Dichters für das kulturelle Gedächtnis der Deutschen belegt. Hier schildert Engel die Verdienste Deutschlands um die Ehrung und Wertschätzung Shakespeares und seines Schaffens. Die Ehrungen für den Dichter stehen nach Engel in Deutschland keineswegs hinter denen in England zurück, sondern übertreffen diese in einigen Bereichen sogar noch.55 Das folgende Zitat verdeutlicht noch einmal, dass Engel in Shakespeare 55 Engel schreibt zur Wertschätzung Shakespeares in Deutschland: »Wir haben […] seiner eigenen Nation vieles von Shakspeare aufgraben helfen, was sie selbst mit oder ohne Schuld achtlos hat verschütten lassen. Deutschland hat seine Shakspeare-Gesellschaft so gut wie England; es hatte seine Shakspeare-Feier im Jahre 1864, die an Intensität die englische Säkularfeier überbot, insofern als bei uns das Theater eine grössere geistige Macht ist als in England und jedes Theater damals sein Bestes tat, den fremden Dichter zu ehren. Deutschland hat sogar etwas, was England unseres Wissens noch entbehrt: eine eigene Zeitschrift für Shakspeare-Kunde: das Shakspeare-Jahrbuch.« (181)

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Die besonderen Merkmale von Engels Literaturgeschichte

nicht nur einen englischen Dichter sieht, sondern ihn auch als Teil des deutschen kulturellen Gedächtnisses beansprucht: »Shakspeare ist eben für uns Deutsche mehr als ein nationalenglischer Dichter; wir nehmen von ihm ein grosses Stück für uns in Anspruch, denn wir haben ihm ein grosses Stück unserer besten geistigen Kräfte geopfert« (181). Das schlug sich auch darin nieder, dass »kein fremdes Element so ausserordentlich einflussreich auf die Entwicklung Lessings, Schillers, Herders und Goethes gewesen ist, wie die Bekanntschaft mit Shakspeare« (183). Ein letzter interessanter Aspekt ist die offensichtliche Abneigung Engels gegen klassische Einflüsse auf Sprache und Literatur. So lobt er Roger Ascham (16. Jahrhundert) dafür, dass dessen Gelehrsamkeit in den klassischen Sprachen »aber seinem gesund-englischen Schriftstellertum durchaus nicht im Wege« stand (106), denn »klassische Wendungen werden von ihm oft mit Glück englisiert« (107). Dies ist vermutlich eine Folge der in Deutschland seit Herder verbreiteten romantischen Bewunderung für eine ›volksnahe‹ und ›natürliche‹ Sprache bei gleichzeitiger Ablehnung allzu formaler ›Künstlichkeit‹ in der Dichtung.56 Die Kritik an zu großer ›Künstlichkeit‹ tritt besonders deutlich bezüglich Edmund Spensers (16. Jahrhundert) The Shepherd’s Calendar hervor: Der Schäferkalender zeigt zwar auch schon die wunderbare sprachliche Begabung Spenser’s, aber von wahrer Poesie findet sich in diesen gekünstelten und barocken Eklogen nicht mehr als in den meisten ähnlichen Dichtungen der englischen und anderer Litteraturen. […] Wir hatten bei der Betrachtung der Sidney’schen Arcadia gesehen, wie um das Ende des 16. Jahrhunderts die verlogene Schäferlichkeit durch ganz Europa Mode geworden, – jene wunderliche Art der Naturschwärmerei, die aus der sogenannten ›Natur‹ einen grüntapezirten Salon machte. Dem 16. Jahrhundert mit seiner immerhin grösseren Naivetät mochte diese anempfundene Schäferpoesie noch einigermassen leidlich zu Gesichte stehen, – das Wiederaufleben derselben im 18. Jahrhundert hat etwas unsäglich Lächerliches. (109f.)

Der Ablehnung jeder Art von Künstlichkeit steht bei Engel die Bewunderung für echte Gefühle und ›Wahrheit‹ gegenüber. So herb er die Werke kritisiert, die seinem Verständnis von guter Literatur nicht entsprechen, so blumig fällt seine Schwärmerei aus, wenn sie es tun. Spensers Gedicht Epithalamium beschreibt Engel beispielsweise als »frei« von »allem allegorischen Wust« (111), »dass es ein reines menschliches Fühlen in einer Sprache wie Orgelton und Glockensang aussingt« (ebd.), »dass man aus jeder Strophe hört, wie sie nicht einer gemachten, sondern einer wahren, tiefen Empfindung entquollen ist« (ebd.), und dass das Gedicht »trotz der glutvollen Sinnlichkeit« von »makellose[r] Keuschheit« (ebd.) sei.

56 Zur Sprachtheorie Herders vgl. Heise (1998) und Owren (1990). Buruma (1998: 59) schreibt zu Herders Bemühungen um eine ›volksnahe‹ Sprache: »He was a great gatherer of folk songs and popular tales. His goal was to find the authentic voice of the German Volk.”

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883)

England als ›germanischer Bruder‹ Deutschlands Ein Aspekt von Engels Literaturgeschichte fällt bei der Lektüre immer wieder ins Auge: sein Bemühen, Parallelen zwischen Deutschland und England herzustellen. Die Nähe, die Engel zwischen Deutschland und England sieht, wird gleich im ersten Kapitel seiner Literaturgeschichte deutlich. Er erklärt die Einwanderung von Germanen, vor allem des friesischen Volksstammes der Angeln, zum entscheidenden Faktor für die zukünftige Entwicklung Englands, denn diese Einwanderer waren es, »welche dem Lande und der Sprache den Namen und den Charakter gegeben« (4). Die Besatzung durch römische Truppen hingegen hatte nach Engel außer vier Sprach- bzw. Namensfragmenten keinerlei Spuren hinterlassen (4). Der Abzug der Römer Anfang des 5. Jahrhunderts war dafür das Signal für eine »Überflutung Englands durch deutsche Eroberer« (5). Engel bezweifelt die Theorie, die Briten selbst hätten die Friesen zur Abwehr der Pikten ins Land gebeten, und zwar alleine mit dem Grund, »bei einem reisigen Volke wie den Friesen bedurfte es aber gewiss solcher Einladung nicht; sie kamen von selber […] und blieben trotzig auf dem einmal in Besitz genommenen Boden« (5). Diese Aussage Engels ist ein Indiz dafür, für wie wichtig die Zuschreibung von Volks- oder Nationalcharakteristika im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gehalten wurde. Engel braucht gar keinen wissenschaftlichen Beleg für seine Behauptung, denn für ihn erklärt sich die Handlungsweise der Friesen wie selbstverständlich aus deren Charakter. Engel demonstriert anhand zweier Punkte, warum er die germanischen Einwanderer für den einheimischen Kelten überlegen hält: Zum einen drängten sie die keltische Sprache derart zurück, dass von dieser laut Engel nur ganz vereinzelte Überbleibsel im Englischen nachzuweisen sind (5). Zum anderen blieben die Friesen nahezu unbeeindruckt von der späteren Eroberung durch die Normannen auf ihrem Grund und Boden. »Und dort wohnen ihre Nachkommen noch heute, nachdem sie die einzige spätere Invasion Englands, durch die Normannen, kraft ihrer niederdeutschen Zähigkeit zu ihrem Segen gestaltet« (5). Bezüglich der normannischen Invasion betont Engel, »dass es Germanen waren, welche das germanische England unter ihre Botmäßigkeit brachten« (8), und die Sprache »englisch, d. h. germanisch« (ebd.) geblieben sei. Zwar folgte der Eroberung durch die Normannen eine Zeit der Knechtschaft für die nun beherrschten Sachsen, aber die kulturelle Akklimatisierung ließ nicht lange auf sich warten. Verschiedenste Faktoren brachten es zuwege, dass die hochfahrenden Eroberer, die französischen Verächter englischer Sitte und Sprache, in fast ebenso kurzer Zeit so gute Engländer wurden, wie sie vordem aus skandinavischen Germanen zu französischen Romanen geworden waren. […] Die nahe Berührung mit einem germanischen Volk, die räumliche Entfremdung von dem romanischen Hinterlande Frankreich und vor allem der nicht sehr große Abstand zwischen der Kulturstufe der Engländer und Normannen zur Zeit der Eroberung – dies waren die wesentlichen Ursachen, weshalb die Normannen von ihren besiegten Feinden englisiert wurden, nicht aber das Umgekehrte geschah. (9)

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England als ›germanischer Bruder‹ Deutschlands

Einzig die von den normannischen Eroberern mitgebrachte Sprache hatte größeren Einfluss auf England. Sie beschleunigte nach Engels Ansicht einen ohnehin schon bestehenden Prozess zur Vereinfachung der englischen Sprache, und »so geschah es, dass das Französische mehr wie ein förderliches Gährungsmittel bei der Fortbildung des Englischen wirkte denn wie ein feindliches, verdrängendes Element« (10). Aber auch den Einfluss des Französischen auf die englische Sprache weiß Engel zu relativieren. Er verwendet mehrere Seiten seiner Literaturgeschichte darauf, anhand der Untersuchung eines amerikanischen Sprachforschers (Marsh) zu belegen, dass der prozentuale Anteil germanischer Wörter in der englischen Literatur den der romanischen um ein Vielfaches übertrifft und »dass gerade die unentbehrlichsten und sich am häufigsten wiederholenden Teile der Sprache […] deutsch sind« (13). Engel betont, dass das schon im 11. Jahrhundert litterarisch hochentwickelte Englische siegreich aus dem Sprachenkampf hervorgegangen [war] und […] von der besiegten Sprache sich nur das angeeignet [hatte], was, ohne den eigenen Geist zu ändern, einen Schmuck und eine Bereicherung desselben darstellte. (10)

Und er unterstreicht, wie »ungemein einflusslos das Normannische auf die Litteratursprache Englands gewesen« ist (14), gibt aber wenig später doch zu, dass zumindest die Wörter lateinischen Ursprungs, die von den Normannen ins Land gebracht wurden, »unschätzbare Bereicherungen« (17) für die englische Sprache darstellten.57 Allerdings blieb für Engel die englische Grammatik – »das Blut und das Leben der Sprache« (ebd.) – von diesen Einflüssen relativ unberührt, und so überdauerte das Englische als germanische Sprache (12). Engel verwendet viel Raum darauf, seine Wertschätzung des Englischen als Poesiesprache zu verdeutlichen, und er betont, dass »die richtige Würdigung der englischen Sprache […] mit der Wertschätzung der eigenen Muttersprache sehr wohl zu vereinbaren ist« (19). Neben einem langen Zitat Jakob Grimms, das nahezu prophetisch die zunehmende Wichtigkeit des Englischen als Weltsprache vorhersagt (19),58 stellt Engel fest, dass »bezüglich der Reime z. B. […] das Engli57 Die Linguisten Baugh und Cable (1993: 105) bewerten die normannische Invasion etwas anders als Engel: »Toward the close of the Old English period an event occurred that had a greater effect on the English language than any other in the course of its history. This event was the Norman Conquest in 1066. […] In particular it [the English language] would have lacked the greater part of that enormous number of French words that today make English seem, on the side of vocabulary, almost as much a Romance as a Germanic language. The Norman Conquest changed the whole course of the English language.« 58 Zumindest ein Teil des Zitats Jakob Grimms (Über den Ursprung der Sprache. Berlin: 1852) zur überragenden internationalen Bedeutung des Englischen soll hier wiedergegeben werden: »Ja die englische Sprache, von der nicht umsonst auch der grösste und überlegenste Dichter der neuen Zeit im Gegensatz zur klassischen alten Poesie, ich kann natürlich nur Shakspeare meinen, gezeugt und getragen worden ist, sie darf mit vollem Recht eine Weltsprache heissen und scheint gleich dem englischen Volk ausersehen,

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883)

sche weitaus das Deutsche [übertrifft]« (18). Und denjenigen, die »an dem musikalischen Klange der englischen Dichtersprache zu zweifeln« wagen, unterstellt Engel »eine mangelhafte Ausbildung des inneren Ohres« (19). Neben ihren ästhetischen Vorzügen schildert Engel auch den globalen Einfluss der englischen Sprache, und er bemerkt eine »zunehmende Neigung der anderen europäischen Sprachen, ihre ›Fremdwörter‹ jetzt mehr dem Englischen als dem Französischen zu entlehnen« (18). Insgesamt vermitteln Engels Ausführungen den Eindruck, dass das Französische in seiner Bedeutung quasi auf dem absteigenden Ast ist und von der englischen Sprache, die er deutlich als germanische darstellt, überflügelt wird. Durch die Hervorhebung des Erfolgs der ursprünglich germanischen Einwanderer gegenüber den einheimischen Kelten sowie den normannischen Eroberern, die Schilderung der Bedeutung des Englischen als Dicht- und Weltsprache und die häufige Nennung der historisch inkorrekten Bezeichnung ›deutsch‹ für die Angelsachsen verfolgt Engel offenbar zwei Ziele: Erstens möchte er die Überlegenheit der Germanen gegenüber anderen Völkern demonstrieren; zweitens versucht er, wie bereits im Eingangskapitel beschrieben, eine durchgehende gemeinsame Tradition der Deutschen zu konstruieren – die Friesen des 5. Jahrhunderts sind für ihn schon Deutsche, und die Engländer sind die Nachkommen dieser Deutschen. Damit trägt Engel potentiell zur Identitätsbildung seiner deutschen Zeitgenossen bei, die auf diese Weise auf ihre eigene, mit England geteilte deutsche Vergangenheit hingewiesen werden sollen. Komplementär dazu bemüht sich Engel, die Einflüsse Frankreichs auf England als minimal darzustellen. Durch die Betonung des germanischen Charakters der Engländer und die Negierung französischer Einflüsse findet in Engels Literaturgeschichte eine Annäherung Deutschlands an England bei einer gleichzeitigen Distanzierung beider Länder von Frankreich statt. Ein aussagekräftiges Beispiel für die schon belächelnde Herabwürdigung französischer Einflüsse und die Betonung der Nähe Englands zu Deutschland ist Engels Bemerkung zu den letzten verbliebenen normannischen Sprachresten in Englands viktorianischer Hofkultur: »Wenn noch heute am Hofe einer hannöverschen Königin bei feierlichen Gelegenheiten unverständliche alte normannische Formeln im Gebrauche sind, so ist das eine harmlose Spielerei ohne jede Bedeutung« (10f.). Nicht nur in Sprache und Geschichte hebt Engel die kulturelle Nähe Englands zu Deutschland hervor; auch im Bereich der Literatur selbst verweist er immer wieder auf Parallelen zwischen beiden Ländern. Beispiele hierfür finden sich schon im zweiten Kapitel seiner Literaturgeschichte. Hier betont Engel die Rolle, die König Alfred der Große für sein Volk spielte: »Gleich Karl dem Grossen wurde König Alfred zum Schulmeister seines Volkes, darin jenem überlegen, dass er

künftig noch in höherem Maasse an allen Enden der Erde zu walten. Denn an Reichtum, Vernunft und gedrängter Fuge lässt sich keine aller noch lebenden Sprachen ihr an die Seite setzen, auch unsere deutsche nicht, die zerrissen ist, wie wir selbst zerrissen sind, und erst manche Gebrechen von sich abschütteln müsste, ehe sie kühn mit in die Laufbahn träte.«

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selbst die Abfassung von Schriften in die Hand nahm, aus welchen Geistliche wie Laien ihr Wissen bereichern konnten« (28). Die Aussage, bei dem Angeln-König habe es sich um einen edlen Mann und weisen Volksfürsten gehandelt (ebd.), wird durch die Gleichsetzung Alfreds mit Karl dem Großen implizit auch auf den ›deutschen‹ Monarchen übertragen. Aber nicht nur Alfreds Funktion für England, auch sein Stil wird zur deutschen Literatur in Relation gesetzt, denn er befleißigte sich eines »echtdeutsche[n] Märchenton[s]« (29). An anderer Stelle bemerkt Engel bezüglich Sir John Maundevilles, dass dieser »als einfacher Rittersmann […], echt germanisch, in die weite unbekannte Welt« (36) zog. Engel erkennt damit die schon für die Friesen konstatierte Reiselust auch bei diesem Autor des 14. Jahrhunderts, also etwa 900 Jahre nach der Einwanderung der Germanen in England. Auch Verweise auf deutsche Autoren finden sich häufig genug, womit Engel hervorhebt, wie ähnlich Engländer und Deutsche sich sind. Bezüglich eines als Textbeispiel gegebenen Gedichtes von Thomas Occleve (14./15. Jahrhundert) fragt Engel: »Erinnert das nicht an unseres Walthers von der Vogelweide Klage um Reinmar den Alten?« (83). Ein besonders prominentes Beispiel für die gemeinsamen germanischen Wurzeln Englands und Deutschlands findet Engel in William Shakespeare, dem er die »echt germanische Neigung« nachsagt, »gerade in den Becher des bittersten Schmerzes einen Tropfen sarkastischer Laune zu tröpfeln« (171). Engel sieht Shakespeare denn auch als »genialsten Vertreter« (ebd.) dieser Neigung, »die seit dem Nibelungenliede aller germanischen Litteratur anhaftet« (ebd.). Germanische Züge findet Engel ebenfalls in der englischen Lyrik des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, und er nutzt seine Schilderung ihres damaligen Zustandes zudem noch für einen Seitenhieb gegen Frankreich: Ganz so arm freilich, wie die gleichzeitige französische Litteratur an erwähnenswerter Lyrik, ist die englische nie gewesen; der starke Drang, ein einfaches, inniges Fühlen auch einfach und innig auszusingen, war bei den englischen Dichtern nie ganz tot zu machen; dem konnte der Euphuismus, der Concettismus und ähnliche verschnörkelnde -ismen zwar eine falsche Richtung anweisen, aber der germanische Sinn für Naturwahrheit leuchtete stets wieder durch den höfischen, modischen Firniss hervor. (201)

Gerade weil Engel immer wieder die Nähe Deutschlands zu England unterstreicht, verwundert es ihn umso mehr, dass die Engländer scheinbar nie Gleiches empfunden haben. Dies stellt Engel vor allem an der Rezeption deutscher Literatur in England fest: [Es] sei jedoch bemerkt, dass die Wirkung der Bekanntschaft mit deutscher Poesie in England nie so nachhaltig geworden ist, wie seiner Zeit der Einfluss der französischen Litteratur. Es herrscht in dem uns durch Abstammung und Sprache so nahe verwandten Volke eine unerklärliche geistige Trägheit gegenüber fremden Litteraturen, und speziell die deutsche hat sich bei ihm durchaus keiner besonderen Pflege zu erfreuen. (485)

Dies bedeutet für Engel jedoch nicht, dass die Engländer ihre germanischen Wurzeln abgeschüttelt hätten. Tatsächlich sind die germanischen Elemente der

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englischen Sprache fast die einzigen Lichtblicke in der von Engel insgesamt als poesielos bezeichneten viktorianischen Epoche. So schreibt er zu Alfred Tennyson: »[E]r hat die dichterische Rede um eine Menge kerniger, alter Wendungen bereichert und hat namentlich ihren germanischen Charakter kräftig vertreten« (512). Und zu Algernon Charles Swinburne bemerkt er: »Gleich Tennyson hat auch Swinburne dem germanischen (sächsischen) Element des Englischen seine schönsten Bereicherungen der Sprache zu danken« (322f.). Am Ende seiner Geschichte der englischen Literatur geht Engel noch einmal ausführlich auf die literarischen Wechselbeziehungen »zwischen den beiden grossen Völkern desselben Stammes, den Deutschen und den Engländern« (595) ein, und er steht dem Einfluss englischer Literatur auf die deutsche ausgesprochen wohlwollend gegenüber: »Mehr als von irgendeiner anderen Litteratur darf die deutsche ohne Schaden für ihre Eigenart sich von der englischen beeinflussen lassen, und wenn es auch unserem Stolz peinlich sein mag zu sehen, wie wenig England uns für die Liebe zu seiner Litteratur durch Gegenseitigkeit dankt« (595). Dass gerade dieser Aspekt Engels Schlussworte motiviert, legt nahe, dass eines der Hauptziele seiner Literaturgeschichte im Aufzeigen der geistigen Nähe der beiden ›germanischen Brüder‹ besteht, bei gleichzeitiger Abgrenzung von Frankreich, zumal Engel darauf verweist, Lessing habe »mit Waffen aus der englischen Litteratur […] die Alleinherrschaft des Franzosentums bei uns gebrochen« (595f.). Abgrenzung von Frankreich Wie in obigem Abschnitt schon mehrfach angesprochen, betont Engel häufig die Differenzen zwischen England und Frankreich. Allerdings konstatiert er auch positive Einflüsse Frankreichs auf die englische Literatur. Ein Beispiel für letzteres findet sich in Engels Bewertung Geoffrey Chaucers. Obwohl sich Engel im ersten Kapitel seiner Literaturgeschichte bemüht, den normannischen Einfluss auf England als möglichst gering zu veranschlagen, tritt dieser bei seinem Kapitel über Chaucer doch deutlicher zutage. Chaucer nimmt für Engel eine Schlüsselstellung in der Entwicklung Englands ein: »Was Dante für das Italienische, war Chaucer für das Englische: der Dichter, der durch ein Werk allgemeinster Beliebtheit seine Nation an eine einheitliche Schriftsprache gewöhnte und sie dadurch geistig erst zu einer Nation machte« (55). Dass Chaucer normannische Vorfahren hatte, half nach Engels Ansicht dabei, aus ihm den »Begründer der englischen Nationallitteratur« (55) zu machen. Denn in Chaucer erhielt auch der normannische Adel den Dichter nach seinem romantischen Herzen, den Engländer, der, selbst aus normannischem Geschlecht, alle guten Eigenschaften der beiden Volksstämme in glücklichster Mischung in sich vereinigte. Chaucer darf durch die dichterische wie sprachliche Eigenart seiner Schöpfungen als der Friedensapostel gelten, der dem langen Hader zwischen Sächsisch und Normannisch ein Ende setzte, indem er die beiden scheinbar feindseligen Strömungen in das Bette eines so einheitlichen Dichtwerkes, wie die Canterbury-Erzählungen, zusammenleitete. Bei Chau-

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Abgrenzung von Frankreich cer, dem Engländer in jedem Zoll, finden sich mehr französische Wörter als bei irgendeinem seiner Zeitgenossen; die Mischung von germanischen und romanischen Bestandteilen in seinen Dichtungen entspricht nahezu dem Verhältnis, welches noch heute die sprachliche Analyse des Englischen ergibt. Er war sprachlich normannischer als die Dichter vor ihm, und dennoch, oder gerade darum, ist er der erste grosse englische Dichter im modernen Sinne. (56)

Es ist erstaunlich, welche enorme Bedeutung Engel der Sprache für die Schaffung nationaler Identität beimisst. Genauso erstaunlich ist es auch, dass Engel am Anfang seiner Literaturgeschichte betont, wie gering der normannische Einfluss auf England gewesen sei, Chaucer wenige Seiten später aber nachsagt, »alle guten Eigenschaften der beiden Volksstämme« (ebd.) in sich zu vereinen und zum ersten großen englischen Nationaldichter geworden zu sein. An anderer Stelle lobt Engel noch einmal »die Kunst, mit welcher dieser robustenglische Dichter sich alle poetischen Vorteile der Südländer, ihre Stoffe wie ihre Formen, anzueignen und zu etwas Neuem zu verarbeiten weiss« (76). Engel gesteht den Normannen also indirekt einen viel größeren Einfluss auf die Englishness zu, als er offen zugeben möchte. Diese Diskrepanz lässt folgenden Schluss zu: Engel als Deutscher will einen stärkeren Einfluss Frankreichs auf die Engländer nicht zugeben, Engel als Literaturwissenschaftler muss ihn eingestehen. Welche Charakterzüge Chaucer schlussendlich zu einem »Engländer in jedem Zoll« machen, lässt er leider offen. Oftmals dient Frankreich Engel als Folie, von der sich England und sein künstlerisches Schaffen abhebt. Die Rolle, die adelige Dichter in der Zeit der frühen Renaissance in Frankreich und England spielten, bietet Engel Gelegenheit für eine Gegenüberstellung: Adelige also, Männer des Hofes waren es, welche die neue Epoche englischer Dichtung heraufführten. Wie 50 Jahre später in Frankreich durch Malherbe, einen Hofmann Heinrichs IV., die ›klassische‹ Zeit der französischen Poesie eingeleitet wird, so durch Surrey die Zeit der Kunstpoesie Englands. Nur hat der unvertilgbare litterarische Nationalsinn die englische Dichtung jener Zeit vor dem Schicksal bewahrt, welchem ihre französischen Zeitgenossen, die Schule Ronsard’s, anheimfielen: der unvolkstümlichen Hingabe an halbverstandenes Fremde. (94f.)

Obiges Beispiel demonstriert einerseits, wie Engel Rückbezüge auf den englischen Nationalsinn nutzt, um negativ über Frankreich zu urteilen. Andererseits wird deutlich, wie eng die Aspekte des englischen Nationalsinns und der Abgrenzung von Frankreich oft verknüpft sind. Die beiden angesprochenen Punkte treten auch deutlich hervor, wenn Engel die literarische Bedeutung von Henry Howard weiter beschreibt: […] die Nachahmung der Italiener [hat] bei Surrey keinen ungünstigen Einfluss auf seine gutenglisch gebliebene Sprache geübt […]. Surrey hat wesentlich dazu beigetragen, das Englische von den im 15. Jahrhundert aus der Gelehrtensprache eingeschlichenen Latinismen und anderen Geschmacklosigkeiten zu säubern, – auch in dem Punkte nationaler als die ›Gallogriechen‹ der französischen Schule Ronsard’s. (97)

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883)

Hier verurteilt Engel nicht fremdsprachliche Einflüsse per se, sondern kritisiert, wie mit ihnen umgegangen wird. Weil die Franzosen seiner Ansicht nach nicht über einen so ausgeprägten Nationalsinn wie die Engländer verfügten, sei ihre Dichtsprache von schlechterer Qualität als die der Engländer, die fremde Einflüsse meist problemlos in ihre Sprache und Dichtung zu integrieren wussten. Aber nicht allen Engländern spricht Engel diese Fähigkeit zu. Sein Urteil über John Lilly, auf dessen Stil französische Einflüsse in für Engels Geschmack unvorteilhafter Weise einwirkten, fällt entsprechend hart aus: Es handelt sich nämlich um eine wahre Gliederverrenkung zu Gunsten eines gequälten, witzig sein sollenden Geistreichelns, dessen bombastische, abgeschmackte Unnatur in den damaligen Hofkreisen auf willige Leser traf. Lilly war für England der Vertreter des zu Ende des 16. Jahrhunderts ganz Europa, besonders alle Höfe, heimsuchenden Geistes der Künstelei, der von Frankreich (durch Ronsard’s Schule) ausgehend, in Spanien sich als ›Gongorismus‹, in England als ›Euphuismus‹, in Deutschland etwas später als Lohenstein’scher Schwulst so unangenehm und poesiewidrig wie nur möglich geberdete. (135)

Engel scheint vor allem die ›Unnatürlichkeit‹ der Einflüsse Ronsards anzugreifen; seine Kritik an dem Franzosen und dessen Stil, der (nach Engels Ansicht) auf viele europäische Literaturen unvorteilhaft einwirkte, kann aber auch als Kritik an französischen Einflüssen allgemein verstanden werden. Diesen negativen Urteilen über Frankreich stehen aber auch positive Bewertungen der französischen Literatur gegenüber. Vor allem auf dem Gebiet der philosophischen Schriften scheint Engel, zumindest im Einzelfall, Frankreich wesentlich höher einzuschätzen als England. Bezüglich der Essays von Francis Bacon etwa schreibt er: Sie [die Essays] stehen sogar der Form nach höher als durch ihren Inhalt, der sich über ein ziemlich seichtes philosophisches Raisonnement selten erhebt. Um sich einen Maassstab zur Beurteilung von Bacon’s Stil zu gewinnen, lese man vorher oder nachher die ›Essays‹ seines französischen Zeitgenossen Montaigne: beide sind gelehrte, belesene, in allen möglichen alten Klassikern bewanderte Männer des Jahrhunderts der Renaissance, aber während bei Montaigne die klassische Bildung nur dazu diente, seinen guten gallischen Geist in umso feinere Spitzen auszuschleifen, hat sie aus Bacon, dem seiner Anlage nach tieferen Denker, einen recht nüchternen Pedanten gemacht. (107)

Diese negative Einschätzung eines englischen Philosophen und die im Vergleich dazu positive Bewertung eines Franzosen steht im Einklang damit, dass im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts in Deutschland das spekulative Denken entstand und ab dem 19. Jahrhundert die deutsche Philosophie allgemein recht wenig von den englischen Denkern hielt.59 Engels Urteil demonstriert auch, dass 59 Zum gewandelten Verhältnis der deutschen Philosophie gegenüber der englischen vgl. Gelfert (1998: 151): »Als Kant durch Hume nach eigenen Worten ›aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt‹ wurde, galten die englischen Denker als die Pioniere einer

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Abgrenzung von Frankreich

er Frankreich und seine Literatur nicht pauschal als unterlegen betrachtet, sondern im Einzelfall entscheidet. Dadurch kann Engel durchaus zu Bewertungen gelangen, die Frankreich gegenüber England bevorzugen. Nicht nur auf dem Gebiet der Philosophie, auch auf dem des Theaters sieht Engel Frankreich oft im Vorteil gegenüber England. So schreibt er über das Theaterwesen insgesamt: [D]ie allgemeine Gunst, welche das Theater in Frankreich zu allen Zeiten genossen hat, ward der englischen Bühne nicht zuteil. – Auch heute, um weit vorzugreifen, bekundet sich der Unterschied zwischen der litterarischen Entwicklung Englands und Frankreichs durch nichts so augenfällig wie durch die Blüte des Theaters hier, durch den völligen Verfall desselben dort. (121)

Nach dieser allgemeinen Bemerkung geht Engel näher auf spezifische Merkmale englischer und französischer Dramen aus dem 14. und 15. Jahrhundert ein und trifft wiederum ein Urteil, das deutlich zu Gunsten Frankreichs ausfällt: Im Grossen und Ganzen müssen wir sagen, dass das älteste englische Theater von wahrer Poesie herzlich wenig aufweist. An Naivetät freilich bietet es genug, aber an dramatischem Gehalt nicht viel. Zwischen den französischen und den englischen Stücken des 14. und 15. Jahrhunderts ist eine tiefe Kluft: die französische Bühne jener Zeit übertrifft die mit ihr aus gleicher Wurzel erblühte englische an Zartheit der Empfindung wie an künstlerischer Durchbildung der poetischen Formen. (123)

Es wäre, wie Aussagen wie die obige bezeugen, falsch, zu behaupten, Engel würde in seiner Literaturgeschichte alles Französische schlecht heißen, um im Gegensatz dazu England und Deutschland gut aussehen zu lassen. Für eine solche Vorgehensweise ist Engel doch zu sehr Literaturwissenschaftler, der ja immerhin auch mit seiner französischen Literaturgeschichte seine Vertrautheit mit Deutschlands romanischem Nachbarn hinreichend bewiesen hat. Wenn Engel Frankreich zu England und Deutschland in Kontrast setzt, geht es ihm nicht darum, die französische Literatur insgesamt zu verunglimpfen, sondern er möchte die kulturelle und mentale Nähe der beiden germanischen Länder betonen. Über diesen Zweck verliert er nicht seine wissenschaftliche Verpflichtung als Literaturwissenschaftler aus den Augen und spricht Lob dort aus, wo er es für angebracht hält, wie z. B. dem französischen Theater des 14. und 15. Jahrhunderts.

ganz neuen, modernen Philosophie. Damals hatten die Deutschen das Gefühl, als Zwerge auf den Schultern englischer Riesen zu stehen. Auch Goethe bezeichnete 1783 die Engländer noch als seine Lehrmeister. Aber schon um die Wende zum 19. Jahrhundert schlug den englischen Denkern von deutscher Seite unverhohlene Verachtung entgegen. Engländer galten auf einmal als ›erbärmliche Empiriker‹, wie Crabb Robinson 1802 an seinen Bruder nach Hause schreibt. Und Friedrich Schlegel nennt die Briten eine ›zwischen Merkantilität und Mathematik geteilte Nation‹.«

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883)

Die Darstellung von Englishness bei Engel In seiner Literaturgeschichte verweist Engel regelmäßig auf Eigenschaften und Züge, die nach seiner Auffassung typisch für die Engländer sind. Auf manche dieser Charaktereigenschaften geht er häufiger ein, auf andere seltener, so dass sich insgesamt ein recht deutliches Bild davon ergibt, was Engel unter Englishness versteht. Manchmal finden sich bei Engel aber auch Aussagen über Autoren oder Werke, die diesen einen englischen Charakter nachsagen, dabei aber offen lassen, was genau diesen Charakter ausmacht. So befindet er: »Auch das Tierepos fand früh in England nach französischen Vorbildern, aber in volkstümlicher, gutenglischer Art seine Bearbeitung« (38); oder: »Ganz national-englisch ist das Epos vom König Horn und seiner Geliebten Rimhild, aus dem 13. Jahrhundert, – ebenso wie die Sage von Havelock dem Dänen« (ebd.). Ähnliche Aussagen über den typisch englischen Charakter literarischer Werke, die unerläutert bleiben, finden sich auch bezüglich der Canterbury Tales von Geoffrey Chaucer. Diese sind für Engel »ein echtnationales Werk, trotz der fremden Quellen, aus denen der Dichter geschöpft hat« (66), und die »fremden Stoffe«, die Chaucer als Inspiration dienten, sind auf »gutenglische Art« (67) von Chaucer bearbeitet worden. Auch Charles Dickens (19. Jahrhundert) gehört für Engel zu den typisch englischen Autoren, ohne dass dies näher begründet würde. Engel geht auf die Beliebtheit dieses Autors in Deutschland ein, bemerkt aber: »Dabei ist gerade Dickens in allen seinen Schriften völlig Engländer, genauer gesagt: Londoner« (548).60 Ob sich dieses Urteil über Dickens lediglich auf den Schauplatz vieler Romane des Autors bezieht oder ob es darüber hinausgehende Implikationen hat, bleibt offen. Aussagen dieser Art – also ein Deklarieren von Gattungen, Werken oder Autoren als typisch englisch ohne nähere Erläuterung – suggerieren, dass Engel glaubt, es gäbe bereits ein fest etabliertes und allgemein bekanntes Englandbild im Bewusstsein der deutschen Leserschaft, so dass er es gar nicht nötig hat, seine Bewertungen zu erläutern. Zum Teil schreibt Engel einzelnen Autoren einen spezifischen Schreibstil zu, den er für typisch englisch hält. Einen besonders markanten Charakter englischer Schrifterzeugnisse stellt Engel an folgenden Beispielen in den Vordergrund: Schon bei den Übersetzungen, die Alfred der Große im 8. Jahrhundert anfertigte, erkennt Engel einen englischen Charakter: »Die dem Original eingestreuten metrischen Stellen, die sogenannten ›Metra des Boëthius‹, hat Alfred gleichfalls metrisch übersetzt, aber natürlich in nationalenglischen Formen: stabreimenden, freirhythmischen Versen, wobei viel aus dem Eignen hinzugedichtet ward« (29). Engel suggeriert mit seiner Feststellung eine ungebrochene Tradition englischer 60 Ein Gegenbeispiel stellt der schottische Historiker Thomas Carlyle (19. Jahrhundert) dar. Von ihm schreibt Engel, er sei erfüllt gewesen mit »deutscher Philosophie und deutschem Individualismus« (577) und habe sich eines einzigartigen Stils befleißigt, der von anderen als »gar kein Englisch, sondern eine Mischung aus Englisch, Schottisch und Deutsch« (ebd.) beschrieben worden sei.

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Die Darstellung von Englishness bei Engel

Nationaldichtung bis zurück ins 8. Jahrhundert. Bezüglich der philosophischen Schriften David Humes (18. Jahrhundert) geht Engel genauer auf die Eigenheiten zumindest des wissenschaftlichen englischen Schreibstils ein: »Toland und Collins waren beim Deismus stehen geblieben; Hume riss auch diese Schranke ein, aber nach englischer Art: zurückhaltend in der Form, dafür um so rücksichtsloser in der Beweisführung« (382). Auch Henry Thomas Buckle (19. Jahrhundert) ist für Engel beispielhaft für den englischen Schreibstil, »denn Buckle’s Stil ist wie der der meisten Engländer sehr klar« (580). Ein direkter Zusammenhang zwischen der Positionierung eines Autors im Kanon und seiner Beispielhaftigkeit für Englishness ist an obigen Beispielen nicht wirklich nachzuweisen, handelt es sich doch bei Chaucer mit 23 Seiten um einen Autor des Spitzenkanons, während Dickens mit lediglich fünf Seiten im Umgebungskanon angesiedelt ist. Freiheitsliebe In Unabhängigkeit und Freiheit sieht Engel Ideale, die für England überaus typisch sind und für die er zahlreiche literarische Beispiele findet. Es ist zumindest auf den ersten Blick erstaunlich, dass Engel den ersten deutlichen Literaturbeleg für das typisch englische Streben nach Unabhängigkeit und Freiheit in der schottischen Literatur findet. Dass er unter englischer Literatur alles versteht, was in englischer Sprache auf den britischen Inseln verfasst wurde, hat Engel allerdings schon im Vorwort seiner Literaturgeschichte hervorgehoben. Anhand von John Barbours The Bruce (14. Jahrhundert) demonstriert Engel diese Ansicht auch in der Praxis: Aus diesem Geiste der Unabhängigkeit heraus ward auch jener wunderbare Hymnus an die Freiheit gedichtet, der an einer Stelle des Epos ohne zwingende Veranlassung wie ein Trompetenstoss die Erzählung unterbricht, ein herrliches Denkmal ältester schottischer, und somit eigentlich auch englischer Litteratur, denn in gutem Englisch ist dieses Freiheitslied des 14. Jahrhunderts geschrieben, welches in keiner Litteratur Europas aus jener frühen Zeit seines gleichen hat. (85)

John Skelton ist für Engel der nächste in einer langen Reihe von Dichtern, die für ihn beispielhaft für den englischen Freiheitssinn sind, denn »Skelton [hielt] die einfachen Formen des volkstümlichen Bänkelsängerliedes und damit die Kraft des Altenglischen fest. Seine Satiren sind das Kühnste, was in so früher Zeit englischer Freiheitssinn gegen Herrschsucht und Rechtlosigkeit gewagt« (92). Mit der – indirekten – Verbindung, die Engel zwischen volkstümlicher Form und freiheitlichem Inhalt herstellt, suggeriert er, dass es sich bei der Freiheitsliebe um ein im englischen Volk grundsätzlich verankertes Charakteristikum handelt. Ausgerechnet die Puritaner, die Engel an anderer Stelle höchst negativ beurteilt (worauf später noch eingegangen wird), dienen ihm als Beispiel für die charakteristisch englische Liebe zur persönlichen Freiheit. Engel erklärt:

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883) Wo viel Schatten, da ist auch viel Licht; so wäre es denn einseitig und ungerecht, wollte man die Zeit des Puritanismus lediglich als eine der Heuchelei und der Plattheit darstellen. […] Die Tüchtigkeit im Felde, im Parlament und in der Verwaltung soll jenen Männern, die ihr Leben für eine im Grunde gute Sache einsetzten, niemand streitig machen. Es muss daran erinnert werden, dass der Krieg gegen einen wortbrüchigen König unter der puritanischen Bevölkerung der Städte Erscheinungen der opferwilligen Begeisterung hervorgerufen hat, ganz wie in Preussen zur Zeit der Freiheitskriege gegen Napoleon I. […] Durch all die Mummerei der biblisch-hebräischen Gebarung und Sitte leuchtet doch der Grundzug des englischen Volkscharakters hindurch: die Liebe zur persönlichen Freiheit, dieser echtgermanische Zug, der leider vielen andern germanischen Stämmen frühzeitig abgewöhnt wurde. (221f.)

Die Kennzeichnung der persönlichen Freiheitsliebe als nicht nur typisch englisch, sondern auch typisch germanisch rückt England genauso in die Nähe Deutschlands, wie das Aufzeigen der Parallelen in der Stimmung der Bevölkerungen Englands und Preußens während ihrer freiheitlich motivierten Konflikte. Bedenklich findet Engel allerdings, dass die Puritaner zuerst begeistert für ihre eigene persönliche Freiheit eintraten, nach ihrer Machtübernahme aber »so intolerant gegen Andersgläubige wie nur je die spanische Inquisition« (213) vorgingen. Unter anderem von diesem Umstand rührt wohl Engels grundsätzlich harsche Kritik an den Puritanern her. Auch William Cowper ist für Engel ein hervorragendes Beispiel für die englische Freiheitsliebe: »Als richtiger Engländer schwärmt er nicht für eine inhaltlose oder vieldeutige Phrase, sondern für das männliche Freisein von der Willkür der Menschen« (365). Engel führt als Belege für diese Einschätzung Cowpers Gedichte The Task (364) und Table-Talk (ebd.) an. Mit drei Seiten Textumfang ist Cowper ein Autor der dritten Hierarchieebene – ein Beleg dafür, dass Engel auch Autoren der unteren Hierarchieebenen als beispielhaft für englische Charaktereigenschaften erachtet. Die Bedeutung des Begriffs ›Freiheit‹ für England macht Engel auch am Beispiel Edmund Burkes deutlich. Dieser sprach sich im englischen Parlament gegen den Krieg mit den amerikanischen Kolonien aus. Voller Bewunderung erklärt Engel, »worin der Kern von Englands Grösse liegt« (369) und was der Unterschied ist »zwischen englischer und französischer Freiheits-Beredsamkeit« (ebd.): »Hinter allen Reden der Freiheitsmänner des französischen Konvents lauerte das Henkerbeil, drohte die Gewalt; im englischen Parlament sprachen freie Männer zu freien Männern und ihre einzigen Waffen waren das Recht und das begeisterte Wort« (ebd.). Als weiteren Beleg für die in England herrschende Freiheitsliebe führt Engel die Junius-Briefe an, denen er gut fünf Seiten widmet.61 Diese obrig61 Zu den Junius-Briefen vgl. McCracken (1979: 14): »The Letters of Junius […] are best read as history-and-literature. They should be seen within their social context – a context which was modified by the letters themselves, as Junius harassed the ministers, incited the opposition in Parliament to action, and aroused the passions of his readers –

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Die Darstellung von Englishness bei Engel

keitskritischen Schriften verteidigten unter anderem die Pressefreiheit als Wächterin der Rechte der Engländer, und Engel nutzt den gelassenen Umgang der englischen Obrigkeit mit dieser Kritik zu einem Vergleich mit Frankreich und Deutschland: Man bedenke, dass damals in Frankreich Ludwig XV. mit Hilfe der Bastille regirte, und fragt sich, was selbst unter dem erleuchteten, dem philosophischen Könige Friedrich von Preussen Drucker und Verfasser solcher Briefe für ein Schicksal erfahren hätten, – und dann würdige man den Zustand der Freiheit Englands im 18. Jahrhundert unter einem seiner absolutistischsten Herrscher! (372)

Obige Textstellen machen deutlich, dass englischer Freiheitssinn und die daraus resultierenden politischen und persönlichen Freiheiten vielleicht jene Aspekte von Englishness sind, die Engel am tiefsten beeindrucken. Die enge Verknüpfung der Begriffe ›Freiheit‹ und ›Größe‹ am Beispiel Englands ist eine kaum versteckte Mahnung Engels, dass auch in anderen Ländern (und hier ist wohl vor allem Deutschland gemeint) wahre Größe nur durch entsprechende persönliche Freiheiten, vor allem die freie Meinungsäußerung, erreicht werden kann. Der Vorbildcharakter Englands für Engels deutsche Leserschaft tritt an keinem anderen Punkt so deutlich zutage wie bezüglich des englischen Freiheitssinnes. Natürlichkeit und Realismus Weitere, von Engel ebenfalls häufig festgestellte Charakterzüge der Engländer stellen ihre Natürlichkeit bzw. ihr Realismus dar. Diese findet Engel vor allem bei Chaucer, den er als »glänzendsten dichterischen Zeugen aus der Zeit des ›merry old England‹, in welcher die Menschen noch so natürlich sprachen, wie sie dachten und handelten« (71), lobt. Auch an dieser Stelle wird wieder deutlich, welche große Bedeutung Engel der Sprache als Schlüssel zur Mentalität beimisst. Als Konsequenz der von ihm geschätzten Natürlichkeit erkennt Engel in vielen von Chaucers Werken einen besonderen Stil: […] bei ihm ist alles derb, geradezu, das schlimmste Wort steht für die schlimme Sache, – während bei Boccaccio ein zierlicher Wortschwall die innere Unanständigkeit verdeckt und so aus der gesundsinnlichen Derbheit eine den äusseren Schein, aber auch nur diesen, achtende Lüsternheit macht. (71)

Engel zieht offensichtlich eine, bisweilen auch unfein wirkende, Natürlichkeit der Heuchelei vor. Dass es sich bei der Natürlichkeit, und mit ihr der Derbheit, um ein zeitlich konstantes Merkmal der Engländer handelt, ist für Engel keine Frage, »lassen doch die Engländer von heute, trotz ihrer offiziellen puritanischen Tugendhaftigkeit, Chaucer noch immer gelten als einen ihrer grössten Dichter« (71).

and, at the same time, they should be read with a literary sensitivity to the means by which Junius creates his effects as he tries to alter his political world.« Als Autor der zwischen 1768 und 1772 veröffentlichten Briefe gilt Philip Francis (ebd.: 9).

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Die Werke Chaucers sind es auch, die Engel zu einer Gegenüberstellung des ›natürlichen‹ englischen mit dem ›unnatürlichen‹ französischen Stil nutzt. Die »gutenglische Realistik« (72), die von Engel bei Chaucers Canterbury Tales beobachtet wird, steht im Gegensatz zu Chaucers früheren Werken. Denn vorher »huldigte er einem romantischen Idealismus, einer Phantasie- und Gefühlsschwelgerei, die oft ins Süssliche, Unnatürliche und namentlich in Manier ausartete« (72). Den Grund hierfür macht Engel schnell aus, denn »wie konnte das anders sein, bei einem Dichter, dessen erste dichterische Leistung in der Umarbeitung des Romans von der Rose bestand, [eines] allegorischen Werkes aus dem französischen 13. Jahrhundert« (72). Noch klarer tritt Engels Abneigung gegen einen französischen Stil, wenn schon nicht gegen Frankreich selbst, zutage, wenn er ein weiteres Werk Chaucers kritisiert: »Eine andere Dichtung, Das Haus des Ruhms, ist eine ziemlich steife Allegorie, wohl das am wenigsten in Chaucerischem Sinne gedichtete Werk. Französische allegorische Vorbilder haben ihn auf solche Abwege gelockt« (74). Hiermit stellt Engel ›englische Natürlichkeit‹ ›französischer Unnatürlichkeit‹ gegenüber – zum Nachteil Frankreichs und indirekt zum Vorteil der Deutschen, die als Germanen nach damaliger Ansicht den Engländern viel näher stehen als ihren romanischen Nachbarn. Diese Charakternähe Deutschlands zu England klingt auch an, wenn Engel von »der glücklichen Mischung aus Derbheit und poetischer Anmut« spricht, »die Luthers Bibelübersetzung zu einer bleibenden Fundgrube deutscher Sprache macht« (78). Realismus ist für Engel ebenfalls ein wichtiges Charakteristikum von Shakespeares Werken: »Sein Realismus wurzelte in der engsten Berührung mit dem englischen Volksleben« (162). Engel betont, Shakespeare habe Begriffe, Figurennamen und Charakterschilderungen in hohem Maße Anregungen aus dem englischen Alltag zu verdanken, ohne dabei in Alltäglichkeit und »Mittelmäßigkeiten« (ebd.) verfallen zu sein. Humor Ein ganz spezifischer Humor gehört für Engel ebenfalls zu den prägnantesten Eigenschaften der Engländer. John Lydgate (14./15. Jahrhundert) ist für Engel ein frühes Beispiel für den englischen Humor. Während Lydgates epische Gedichte »heute vor Langeweile unlesbar« sind, zeichnen sich »die derbkomischen kleineren Dichtungen des Mönches von Bury« als »von echtem Volkshumor erfüllt« (84) aus. Derbheit scheint für Engel ein typisches Merkmal englischen Humors zu sein. In einigen der Dichtungen Spensers (16. Jahrhundert) findet Engel Belege hierfür: »zahlreiche Stellen selbst der Feenkönigin sind voll derben englischen Humors und tragen nicht wenig dazu bei, die Eintönigkeit der allegorischen Erzählung zu unterbrechen« (114). Dass in der englischen Sprache das Wort humour nicht immer dem deutschen Begriff ›Humor‹ entspricht, darüber stolpert Engel hinsichtlich seiner Bewertung der Werke von Ben Jonson, dem er einen eklatanten Mangel an Humor vorwirft:

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Die Darstellung von Englishness bei Engel Ben Jonson hat zwei Stücke geschrieben, welche den ›Humor‹ im Titel führen; aber er selbst war der frostigste, humorverlassenste Poet von Gottes Ungnaden. Kaum dass man bei der Lektüre seiner sogenannten besten Komödien auch nur den Mund zu einem Lächeln verzieht, – vollends zu jenem herzerwärmenden Lachen, wie wir es Shakspeare so oft verdanken, kommt es niemals. Seine ›Lustigkeit‹ hat nichts gemein mit Shakspears’s aus Kinderlachen und Mannesfreude gemischtem Humor; sie ist verbissen, ätzend, menschenfeindlich. Nach beendeter Lektüre einer Jonson’schen Komödie ist unser Kopf müde, unser Herz leer und im Munde haben wir einen bittern Erdgeschmack. Shakspeare’s Humor behält allezeit etwas Versöhnliches, – Ben Jonson’s Spassmacherei grollt mit sich und der ganzen Menschheit. (189)

Es ist wahrscheinlich, dass Engel in diesem Fall das Konzept der ›humours‹ missverstanden und mit ›Humor‹ verwechselt hat. Zur Zeit Ben Jonsons glaubte man nämlich, dass das Temperament eines Menschen physiologisch durch den relativen Anteil von vier Körperflüssigkeiten (den ›humours‹) bestimmt wurde, wodurch alle Menschen in die psychologischen Kategorien Sanguiniker, Melancholiker, Choleriker und Phlegmatiker eingeteilt werden konnten.62 Trotz seines Irrtums glaubt Engel, es bei Jonson mit einer Art des Humors zu tun zu haben, die er als definitiv untypisch für England bewertet. Das ist insofern bemerkenswert, als es sich bei Jonson mit gut acht Seiten immerhin um einen Autor des Umgebungskanons innerhalb Engels Literaturgeschichte handelt. Der Autor selbst wird also als recht bedeutend angesehen, seine Art des ›Humors‹ jedoch als viel weniger beispielhaft (nämlich gar nicht) für England geschildert als derjenige Lydgates, der mit einer Drittelseite gerade mal in der vierten und letzten Hierarchieebene zu finden ist. Daraus lässt sich folgern, dass bedeutendere Autoren keineswegs immer auch die besten Beispiele für Englishness liefern, bzw. typisch englische Charaktereigenschaften von deutschen Literaturgeschichtsschreibern nicht unbedingt aus der Mentalität der prominentesten englischen Literaten abgeleitet werden. Nationalbewusstsein Das Nationalbewusstsein der Engländer gehört zu den Eigenschaften, die von Engel seltener genannt werden als von anderen Autoren deutscher Geschichten 62 Das Oxford English Dictionary (1989) definiert humour in diesem Zusammenhang wie folgt: »In ancient and mediæval physiology, one of the chief fluids (cardinal humours) of the blood (blood, phlegm, choler, and melancholy or black choler), by the relative proportions of which a person’s physical and mental qualities and disposition were held to be determined.« Das aus den humours resultierende temperament wird folgendermaßen beschrieben: »In mediæval physiology: The combination of the four cardinal humours […] of the body, by the relative proportion of which the physical and mental constitution was held to be determined; known spec. as animal temperament; also, the bodily habit attributed to this, as a sanguine, choleric, phlegmatic, or melancholic temperament.«

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883)

englischer Literatur (wie beispielsweise Schirmer). Eine der frühesten Manifestationen für ein ausgeprägt demokratisches Nationalbewusstsein der Engländer sieht Engel in den Schriften William Langlands aus dem 14. Jahrhundert. Langland wendet sich »gegen eine wesentliche Institution der katholischen Kirche, […] und zwar ohne theologische Spitzfindigkeiten, vielmehr mit einer starken Gabe nationalen und demokratischen Zorns« (79). Demokratie und Monarchie sieht Engel dabei nicht als miteinander im Widerspruch stehend an, denn er sagt Langland eine »gutköniglich-demokratische Gesinnung« (81) nach. Wie eng für Engel englisches Nationalbewusstsein mit einer englischen Abneigung gegen Frankreich zusammenhängt, macht seine Bewertung einiger Werke von Lawrence Minot aus dem 14. Jahrhundert deutlich: »In Minot’s Liedern ist viel Volkstümliches. Sie lesen sich wie echte Soldatenmarschierlieder und atmen einen so selbstbewussten englischen Patriotismus und Franzosenhass, wie sie nur je im 18. Jahrhundert zu finden sind« (82). Nationalsinn stellt Engel auch zu Zeiten Shakespeares fest. Dem John of Gaunt, einer der Figuren aus Richard II., habe Shakespeare »die wundervollen Worte inbrünstiger Vaterlandsliebe auf die Lippen gelegt […], welche jeder Engländer kennt wie wir die Wacht am Rhein« (160). Interessant ist hierbei, dass Engel eine überaus deutliche Parallele zu Deutschland zieht, was das Nationalbewusstsein angeht. Das mag auch der Grund dafür sein, dass Engel die Vaterlandsliebe nicht viel öfter als typisch englische Eigenschaft hervorhebt – zumindest den Deutschen schreibt er diese Eigenschaft ebenfalls zu. Daher liegt der Schluss nahe, dass Engel diese Eigenschaft nicht als distinktives Merkmal der Englishness einschätzt. Sekundäre Merkmale von Englishness Einige weitere Merkmale von Englishness werden von Engel nur selten erwähnt, und sie spielen demnach für sein Konzept des englischen Nationalcharakters offenbar nur eine untergeordnete Rolle. Zu diesen Eigenschaften gehören der gesunde Menschenverstand, ein gewisser Sinn für Naturschönheit sowie einige weitere Aspekte. Vor allen anderen ist »Chaucer, der Dichter mit dem gesunden englischen Menschenverstande« (68) in Engels Augen ein Musterbeispiel für common sense. Dieser Charakterzug findet sich auch zu Zeiten Shakespeares, denn dieser schrieb laut Engel für die »breiten Volksmassen, an deren gesunden Menschenverstand und warmherzige Naivetät er sich überwiegend wendet« (151). Erst viel später, mit Elizabeth Brownings Versroman Aurora Leigh aus dem 19. Jahrhundert, führt Engel wieder ein Beispiel für den englischen common sense an. Die namengebende Protagonistin des Versepos ist seiner Ansicht nach besonders gut gelungen, und er beschreibt ihren Charakter mit den Worten: »ein echtenglischer Menschenver stand hält ihrem Idealismus das heilsame Gegengewicht« (506). Eine Eigenschaft, die Engel nicht direkt als typisch englisch bezeichnet, auf die er aber doch hin und wieder verweist, ist der Sinn für Naturschönheit. Dieser, wie

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Die Darstellung von Englishness bei Engel

»überhaupt nur die Achtsamkeit auf die Natur« (202), habe England »immer wieder […] vor jenem gänzlichen Versiegen der lyrischen Quellen bewahrt […], welche Frankreichs Litteratur unter den Ludwigen so dürr machte trotz des klassischen Dramas« (ebd.). Den Erfolg mancher Autoren in England sieht Engel schon allein darin begründet, dass der Stil ihrer Werke seiner Meinung nach bestimmten Aspekten der englischen Mentalität entspricht. Ein Beispiel hierfür ist der Philosoph John Locke. Über ihn schreibt Engel: »In England hatte er sogleich Geltung erlangt; kam doch seine menschenverständliche, nüchterne, utilitaristische Weltauffassung einem echtenglischen Charakterzuge entgegen« (223). In diesem Zitat werden gleich drei Aspekte dessen genannt, was Engel als typisch für den englischen Charakter ansieht. Weitere Eigenschaften findet Engel bei Samuel Coleridge (18./19. Jahrhundert): »In ihm steckt viel von der altenglischen Lebensfrohheit und Tüchtigkeit« (484). Einfluss der Puritaner auf den Nationalcharakter Kein anderer Einfluss hat den Charakter seiner englischen Zeitgenossen aus der Sicht Engels so sehr geprägt wie der der Puritaner. Das wird schon allein durch die Häufigkeit entsprechender Bemerkungen Engels an den verschiedensten Stellen seiner Literaturgeschichte deutlich. Durch die Herrschaft der Puritaner und ihren auch in der Folge großen Einfluss auf das englische Bürgertum änderte sich die Mentalität der Engländer in vielen Belangen nachhaltig bis in Engels Gegenwart. Das zeigt, dass Engel – zumindest hinsichtlich einiger englischer Charaktereigenschaften – nicht von einer Unveränderbarkeit dieser Züge ausgeht, sondern sie in diachronem Wandel sieht. Von diesem Wandel war vor allem das englische Empfinden für Religion und Moral betroffen, was auch zu einer veränderten Rezeption und Bewertung literarischer Werke führte. Bezüglich des Vorwurfs der ›Unanständigkeit‹ einiger Dramen Shakespeares verweist Engel zunächst auf die Mentalität der Engländer im 16. Jahrhundert: Reifen Männern wird die Derbheit des Dichters vielleicht manchmal peinlich sein, aber sie werden ihn deshalb schwerlich für unmoralisch erklären. Dass Shakspeare’s Zeitgenossen in dem Punkt gröber besaitete Seelen besassen, weiss jeder, der sich um die Kulturgeschichte des 16. Jahrhunderts auch nur oberflächlich gekümmert hat. (174)

Im 19. Jahrhundert sieht die Sache dagegen schon erheblich anders aus: Zu dieser Zeit versuchte ein englischer Geistlicher, Shakespeare als unmoralisch und unreligiös darzustellen und »aus dem Dichter das Schlimmste zu machen, was es für einen Durchschnittsengländer geben kann: einen nicht bibelgläubigen, gutanglikanischen Menschen!« (175). Die Vorstellungen von Moral und Religion des ›Durchschnittsengländers‹ haben sich also innerhalb von 300 Jahren radikal gewandelt. Engel macht hierfür direkt den Einfluss der Puritaner auf Staat und Gesellschaft verantwortlich. Den Puritanern ist es nach Engels Ansicht auch zu ver-

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883)

danken, dass sich ein völlig neues Merkmal von Englishness herausgebildet hat: der so genannte ›englische cant‹. Dessen Ursache sieht er in der Geschichte Englands, genauer gesagt im Kampf der Puritaner gegen die Königstreuen, der für Engel ein »Ringen zweier Lebensanschauungen« (211) war:63 Ganz ist jener Kampf noch heute nicht ausgetragen; aus dem lauernden Zwiespalt zwischen Puritanismus und kavaliermässigem Lebensgenuss ergibt sich das, was unter dem technischen Ausdruck ›englischer cant‹ jedem so unangenehm bekannt ist, der sich mit englischer Geschichte und Litteratur eingehender befasst hat. (211f.)64

Doch die puritanischen Einflüsse sind in den Augen Engels nicht nur für ein gewisses Maß an Scheinheiligkeit seiner englischen Zeitgenossen verantwortlich; die Herrschaft der Puritaner hatte auch enorm große Einflüsse auf den englischen Nationalcharakter insgesamt, auf die Kunst und auf das Kunstverständnis. Auf mehreren Seiten seiner Literaturgeschichte zeichnet Engel ein düsteres Bild Englands während und nach der Puritanerherrschaft; er vergleicht den Übergang zwischen dem elisabethanischen Zeitalter und der Zeit der puritanischen Dominanz mit einem extremen Klimawandel (213), der einen Wandel der englischen Mentalität nach sich zog: Die Redensart vom ›lustigen alten England‹ bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts ist kein leeres Wort; aus der ganzen Litteratur, aus Künsten, Trachten, Sitten und Gebräuchen des englischen Volkes leuchtet sie hervor jene Lustigkeit, welche das Jenseits nicht verspottet, aber das Diesseits nicht verachtet. Der Sieg des Puritanismus verrückte den moralischen Schwerpunkt des menschlichen Lebens; er erfüllte die Menschen mit Ekel gegen die Erde und zugleich mit Angst vor der Hölle. – Er hat aber noch etwas anderes zuwege gebracht: einen Wandel im englischen Volksgeist, wie er so einschneidend bei keiner Nation vorgekommen sein möchte. Der Puritanismus hat die Engländer nahezu hebraisiert. Nicht dass er sie mit dem wahren Geiste der Bibel erfüllt hat, – nein, aber er hat eine Schicht äusserlichen Bibeltums auf ihre Sprache und ihr Volksleben gelegt, welche nur sehr allmählich jetzt abgestreift wird. (212) 63 Was Engel grundsätzlich von den Puritanern hält, demonstriert folgendes Zitat, in dem er die Wiedereinführung der Monarchie in England kommentiert: »Der Jubel, unter welchem des enthaupteten Stuart Sohn im Jahre 1660 in seine getreue Hauptstadt London einzog, verkündete, wie furchtbar der bleierne, lebens- und kunstfeindliche Puritanismus auf dem Volke gelastet hatte; und die tolle Ausgelassenheit, welcher die Schriftsteller unter Karl II. huldigten, klang wie ein Hohn auf die geschmacklose Nachäfferei alttestamentlichen Lebens und hebräisch-pharisäischer Sprech- und Denkweise, wie sie 25 Jahre lang England näselnd und plärrend und heuchelnd beherrscht hatte« (213). 64 An anderer Stelle bezeichnet Engel »den heuchlerischen Cant« als »Erblaster des angelsächsischen Stammes« (551). Das Oxford English Dictionary definiert den Begriff cant in diesem Zusammenhang folgendermaßen: »Affected or unreal use of religious or pietistic phraseology; language (or action) implying the pretended assumption of goodness or piety.«

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Die Darstellung von Englishness bei Engel

Der rapide und nachhaltige Wandel des englischen Charakters, wie er von Engel geschildert wird, belegt indirekt Engels Auffassung, dass der Nationalcharakter veränderbar ist. Das, was als typisch für England angesehen wird, kann durch soziale oder historische Geschehnisse modifiziert werden und ist nicht etwa auf ewig festgeschrieben. Wie sehr die Puritaner das geprägt haben, was zu Engels Zeit Englishness ausmachte, zeigt folgendes Zitat: Dass die Poesie keinen anderen Zweck haben könnte, als schön zu sein und das Menschenherz mit Schönheit und mit Freude an der Schönheit zu erfüllen, den Gedanken fasst ein puritanisches Gemüt nicht. Bis auf den heutigen Tag macht dieser Gedanke den Engländern Schwierigkeiten, und in ihren litterarhistorischen wie ästhetischen Werken mischen sich in die Beurteilung der höchsten der Künste alle möglichen Bedenken der Nützlichkeit, Frömmigkeit und Respektabilität. Vorweg sei schon jetzt bemerkt, dass von den grossen Kulturvölkern keines auf einer niedrigeren Stufe der ästhetischen Kritik steht, keines auch weniger befriedigende Darstellungen seiner eigenen Litteratur besitzt, als das englische. Die Ästhetik der Engländer kennt seit den Tagen des Puritanismus kaum einen anderen kritischen Maassstab für poetische Dinge als den: enthält die Dichtung nichts gegen die 39 Glaubensartikel? ist sie wohlanständig? ist sie ›moralisch‹? (215)

Unzweifelhaft versteht Engel die puritanischen Einflüsse auf England als schwere Hypothek für den Umgang mit der Kunst sowie die Doppelmoral und das Nützlichkeitsdenken des 19. Jahrhunderts als direkte Folge der Puritanerherrschaft. Und ganz nebenbei erklärt Engel in obiger Abrechnung mit der englischen Literaturkritik auch, was er von englischen Literaturgeschichten hält – nämlich gar nichts. Da Engel die englische Literaturkritik so scharf verurteilt und sie nicht für voll nimmt, darf man schließen, dass er mit seiner eigenen Literaturgeschichte in keiner Weise der englischen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung folgt. Doch nicht nur in literarischen Fragen machen sich für Engel negative Langzeitfolgen der Puritanerherrschaft bemerkbar; auch auf philosophischem und wissenschaftlichem Gebiet erweist sich die Religiosität für ihn als Hemmschuh: Es ist in England nie dahin gekommen, dass die skeptische Philosophie der Locke, Toland, Collins, Hume die ganze Gesellschaft und fast die ganze Litteratur beherrscht hat, wie das durch Voltaire und seine Schule in Frankreich geschah; an dem Bibelchristentum Englands scheiterten alle Versuche der Philosophen des 18. Jahrhunderts, wie ja auch alle Errungenschaften der neueren Wissenschaft, soweit sie sich an englische Namen knüpfen, überall grösseren Einfluss üben als in England selbst. (383)

Dass Engel der englischen Auffassung von Religion eher kritisch gegenüber steht, zeigt er auch am Beispiel Edward Gibbons (18. Jahrhundert). Diesem bescheinigt Engel »gewaltige Verdienste um die künstlerische Behandlung der Geschichtsschreibung« (383), »staunenswerte Gelehrsamkeit und Ausdauer« (ebd.) sowie ein »tiefes Verständnis für die Lebensgeschichte eines grossen Reiches« (ebd.). Doch all dies zählt für die englischen Kritiker nichts, denn »die englische Kritik hält alldem das eine Wort ›infidel‹ (Ungläubiger) entgegen, welches in

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883)

England seinen Mann gesellschaftlich tötet« (ebd.). Den Grund für Gibbons Ächtung sieht Engel in der feindseligen Haltung des Autors gegenüber dem Christentum (384). Dass in England ein brillanter Literat aufgrund seiner religiösen Überzeugungen gesellschaftlich geschnitten werden kann, erfüllt Engel mit Verwunderung, und er begeistert sich, wenn der Schotte Robert Burns (18. Jahrhundert) gegen »das alte Puritanergift Englands: die moralische Splitterrichterei« (400) aufbegehrt und »Stupidität und Heuchelei« (ebd.) anprangert. Sehr zum Verdruss Engels hat aber auch Burns für seine kritische Haltung und seine angebliche Unmoral »reichlich gebüsst« (399), und »die meisten seiner Biographen und Kritiker lassen ihn noch heute dafür büssen« (ebd.), indem sie »ein Sittengericht über einen längst verstorbenen grössten Dichter, an dem uns doch einzig seine Werke interessiren« (ebd.), abhalten.65 Religion – oder ihr Fehlen – hat folglich für Engel keinen Platz bei der Bewertung von Literatur. Auch ein anderer von Engel geschätzter Dichter, nämlich der mit elf Seiten ebenfalls im Spitzenkanon angesiedelte Percy Bysshe Shelley, wird nach Engels Auffassung in England aus religiösen Gründen nicht angemessen gewürdigt: »Man hat Shelley als den Dichter des Atheismus bezeichnet; in England bekreuzigt man sich bei seinem Namen und schreckt damit die litterarischen Kinder wie mit dem schwarzen Mann« (453). Dies führt Engel direkt auf den Einfluss der Puritaner zurück (ebd.) und lässt ihn zu der Ansicht gelangen: »Manchmal überkommt Einen beim Studium der englischen Litteratur das Gefühl, als verdiene England seine grossen Dichter nicht« (458). Die obigen Beispiele unterstreichen den überaus engen Zusammenhang, den Engel zwischen Nationalcharakter und Literaturkritik eines Landes sieht. Trotz ihrer von Engel deutlich kritisierten Religiosität haben die Engländer einzelne Autoren hervorgebracht, die diesem Bild nicht entsprachen und in ihren Schriften dagegen aufbegehrten. Da diese Autoren deswegen in ihrem eigenen Land wenig geschätzt werden, muss – so scheint es Engel zu sehen – ein unvoreingenommener Außenstehender für eine objektive Bewertung sorgen – in diesem Fall der Deutsche Eduard Engel als Stellvertreter der deutschen Anglistik. Zwischenfazit Die Analyse von Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur hat mehrere interessante Ergebnisse zutage gefördert. Er zeichnet ein differenziertes Bild davon, was er für typisch für England und die englische Literatur hält. Dabei bedient er sich nur selten der Diktion der gegen Ende der 19. Jahrhunderts in 65 Engel äußert sich wenig lobend über die moralisierenden Standards, die zu seiner Zeit in England an Dichtung angelegt werden: »Die neueste englische Lyrik benimmt sich […] ganz vorschriftsmäßig nach der Hausordnung eines Mädchenpensionats: sie gibt sich mehr und mehr den Anschein, als sei die Liebe ›a very wicked thing‹, wie es in einem Quäkerliede heisst; Gott hat aber diese englische Lyrik gestraft mit dem Fluch der ledernsten, saftlosesten Langeweile« (408).

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Zwischenfazit

Deutschland aufkommenden Rassenideologie. Seltene Beispiele hierfür sind Engels Bemerkungen zu Shakespeares Herkunft: »Mütterlicherseits hatte er Normannenblut in den Adern, also eine ähnlich gute Mischung wie bei Chaucer« (148), sowie zu Benjamin Disraeli: »Leicht ist ihm seine Laufbahn, als Schriftsteller wie als Politiker, überhaupt nicht geworden; nur seine eiserne Zähigkeit, die beste Eigenschaft seines Stammes, hat ihn endlich ans Ziel gebracht« (563). Für Engel scheinen schon fertig ausgeformte Fremdbilder zu bestehen, deren Validität dann anhand derjenigen englischen Autoren nachgewiesen und untermauert wird, die diesem Bild entsprechen. Dabei spielt es keine Rolle, welcher Hierarchieebene ein Autor aufgrund seines literarischen Schaffens zugeordnet wird. Lord Byron, der gleich nach Shakespeare der zweitwichtigste Autor in Engels Spitzenkanon ist, wird von diesem sogar als »bis in Kleinigkeiten […] unenglisch« (417) beschrieben, weil Byron weltbürgerlich und »frei von jeder insularen Beschränktheit« (ebd.) gewesen sei und die »glühende Liebe für sein Vaterland« (ebd.) ihn nicht davon abgehalten habe, seinem »heftigen Hass gegen dessen kunst- und poesiefeindlichen Heuchelgeist der Neuzeit« (ebd.) immer wieder Ausdruck zu verleihen. Die Positionierung innerhalb des Kanons korreliert also bei Engel nicht mit einer Ausprägung typisch englischer Charakterzüge. Auffällig ist, dass Engel zur Darstellung englischer Merkmale überwiegend ältere Autoren und Texte aus Mittelalter und Renaissance heranzieht. Im Zusammenhang mit den von ihm betonten puritanischen Einflüssen liegt der Schluss nahe, dass er die ›eigentliche‹ englische Mentalität für durch die Puritaner ›verfälscht‹ hält, so dass bei den englischen Zeitgenossen Engels viele frühere Ausprägungen von Englishness gleichsam mit religiöser Patina überdeckt wurden. Engel ist der einzige Verfasser einer deutschen Geschichte englischer Literatur, der eine diachrone Veränderung der Englishness – eben durch den starken Einfluss der Puritaner – derart deutlich konstatiert. Engel scheint seine Literaturgeschichte primär aus drei Gründen verfasst zu haben: erstens aus seinem Bedürfnis heraus, die englische Literatur mit deutschen Maßstäben zu bewerten, zweitens, um der interessierten deutschen Leserschaft einen Leitfaden durch die englische Literatur zu bieten, und drittens, um die enge Verwandtschaft Englands mit Deutschland zu betonen. Engels erster Grund hängt mit seiner Auffassung zusammen, die englische Literaturkritik sei einfach nicht kompetent genug, ihre eigene Literatur angemessen zu beurteilen. Diese Auffassung liefert nicht nur das Hauptargument für die Existenz von Engels Literaturgeschichte, sondern auch grundsätzlich die Daseinsberechtigung einer eigenständigen deutschen Anglistik. Engels zweiter Grund hat mit der Leseerwartung seines deutschen Publikums zu tun, die er am Beispiel von Henry Fieldings Tom Jones erläutert: Für deutsche Leser, deren Neigung ja heute überwiegend darauf gerichtet ist, aus der Litteratur Kulturgeschichte zu lernen, ist Tom Jones das rechte Buch: es enthält ein Stück englischen Lebens so frisch, so von Wahrheit zuckend, als

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883) vergönne ein Wundergeschick uns, während einiger Stunden leibhaftig in der Vergangenheit zu leben. (390)

Engel weist in seiner Literaturgeschichte oft gerade auf jene literarischen Werke hin, die dem deutschen Leser einen Einblick in die englische Kulturgeschichte ermöglichen – ein Ansatz, der in Deutschland scheinbar aus der Komparatistik auf eine breite Leserschaft übergesprungen ist. Drittens betont Engel immer wieder die gemeinsamen germanischen Wurzeln Englands und Deutschlands. Dies geschieht zum einen, um beide Länder vom romanischen Frankreich zu distanzieren; zum anderen dient dies der Identitätsbildung der Deutschen, denen anhand des englischen Vorbildes und ›Bruders‹ bestimmte Werte und Eigenschaften, wie Freiheitsliebe, näher gebracht oder gar als germanisches Erbe wieder ins Bewusstsein gerufen werden sollen.66 Insofern wird für Engel das Fremdbild der Engländer fast zu einem Selbstbild der Deutschen; zumindest aber verschwimmen durch die betonten germanischen Wurzeln beider Länder bisweilen die Grenzen zwischen Fremd- und Selbstbild. Diese Strategie Engels – das Herstellen einer Traditionslinie für bestimmte Eigenschaften und Werte von der fernen (germanischen) Vergangenheit bis in die Gegenwart – gehört mitunter zu dem, was Hobsbawm unter der im Eingangskapitel erläuterten ›Invented Tradition‹ versteht. Wie die noch folgenden Bemerkungen zu Engels Einschätzung der literarischen Gattungen des viktorianischen Zeitalters zeigen werden, bewertet Engel primär die ästhetische Qualität von Literatur. Zwar spielen andere Erwägungen, wie die Betonung der nahen Verwandtschaft von England mit Deutschland beispielsweise, durchaus eine Rolle, aber nicht die Hauptrolle. Dazu ist Engel zu sehr Literaturwissenschaftler. Bei aller Wertschätzung für England und dessen Vorbildcharakter für die Deutschen in vielen Dingen (wie der Pressefreiheit), geht Engel nicht so weit, rundweg alles zu loben, was von dort kommt. Im Gegenteil – Engel bewertet die zeitgenössische Literatur Englands (also die viktorianische Epoche) ausnehmend negativ: Es muss mit bündigen Worten gesagt werden, dass von allen grossen Litteraturvölkern der Erde in diesem Augenblick England das unfruchtbarste an poetischen Leistungen irgendwelches höheren Kunstwertes ist. […] Es ist ein Zustand in England eingetreten, wie er kaum je dort geherrscht hat: der eines vollkommenen Versiegens der poetischen Quellen. (508)

Diese Generalabrechnung differenziert Engel, indem er auf die einzelnen Literaturgattungen eingeht. So befindet er zur Prosa der viktorianischen Epoche:

66 Zur enormen Bedeutung Englands und seiner Errungenschaften für Deutschland sowie ihren diachronen Wandel vgl. Gelfert (1998: 166f.): »Bis Kriegsende [Zweiter Weltkrieg] war England für liberale Deutsche das, was es schon für deutsche Republikaner des 18. Jahrhunderts war: das fortschrittliche Vorbild für die eigene ›verspätete Nation‹. Jetzt aber, wo sich auch die Deutschen zu den westlichen Werten bekennen, ist England für sie ein ganz normaler Staat in Europa.«

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Zwischenfazit Wir werden in dem folgenden Abschnitt sehen, dass die Regirungszeit der Königin Victoria auch in der Prosa das Aussterben der grossen Talente bedeutet, und dass die überwiegende Zahl der bedeutenden Prosaiker (Erzähler wie Historiker), die während dieser Zeit gestorben sind, ihre litterarische Tätigkeit mit Erfolg begonnen hatten, bevor die Königin den Tron bestieg. Was unter ihr an grossen Schriftstellern blühte, war zumeist das Erbe aus dem ersten Drittel dieses Jahrhunderts. Der Zustand der Prosa-Litteratur in England ist heute um kein Haar besser als der der Poesie. (509)

In der Tat wird zum Beispiel der heute wohl bekannteste Prosa-Autor der viktorianischen Epoche, Charles Dickens, von Engel ausnehmend positiv dargestellt.67 Vielleicht auch deswegen, weil Dickens die sozialen Missstände seiner Zeit anprangerte: Er hätte Bände voll moralisierender Traktate schreiben können gegen das Unwesen der englischen Privatschulen, gegen die Kostspieligkeit und Langsamkeit des englischen Gerichtsverfahrens, gegen die Barbarei der Schuldhaft, gegen die Heuchelei in jeder Gestalt, gegen die Gleichgiltigkeit der Reichen angesichts des furchtbaren Elends des englischen Proletariats, gegen die englische Sonntagsfeier und all die vielen Schäden, an denen England – gleich manchen anderen Ländern – krankt. (549)68

Neben der Prosa und den sozialen Zuständen kritisiert Engel auch – und vielleicht sogar vor allem – den Zustand der englischen Bühne unter Königin Viktoria. Ein Indiz für die seiner Meinung nach beträchtlichen Defizite des englischen Theaters sieht Engel allein schon in der Tatsache, dass Shakespeares Stücke im England jener Zeit ein Schattendasein führten: »Das klassische Drama, namentlich das Shakspeare’sche, hat in London keine Stätte beständiger Pflege. In Berlin wird Shakspeare häufiger gespielt als in London!« (532)69 Und für die zeitgenössischen Dramen in England hat Engel rein gar nichts übrig:

67 Charles Dickens begann mit seinen Veröffentlichungen im Jahr 1836, also ein Jahr bevor Viktoria den Thron bestieg. Damit gehört auch Dickens für Engel zu den Autoren, die vor dem Beginn der viktorianischen Ära »ihre litterarische Tätigkeit mit Erfolg begonnen hatten«. 68 Engel bescheinigt Dickens und seinen Romanen einen entscheidenden Einfluss auf die englische Gesellschaft: »Dickens [hat] den Anstoss gegeben zu den zahllosen Betätigungen ›praktischen Christentums‹, deren kein Land der Erde mehr aufzuweisen hat als England, obgleich es bisher von Staats- wie christlichen Sozialisten verschont geblieben ist« (551). 69 Engels Einschätzung seiner Gegenwart wird durch die spätere Forschung bestätigt. Zur Shakespeare-Rezeption im England des 19. Jahrhunderts schreibt Hantsch (1992: 697): »Charakteristisch für die dem Augustan Age folgenden Epochen erscheint die Tatsache, daß Shakespeare – seiner eigenen Theaterwirklichkeit entfremdet, an die neue nicht oder ungenügend adaptierbar – ausschließlich als Lesetext im Rezeptionskontinuum wirkt.« Zur enormen Beliebtheit Shakespeares im Deutschland jener Zeit vgl. Erken (1992: 735ff.).

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883) Die Bühnendramen […] sind in England von einer derartigen Albernheit und Geschmackswidrigkeit, dass die dümmsten französischen Vaudevilles eines Pariser Theaters vierten Ranges, ja selbst viele Berliner Possen noch Litteratur im Vergleich mit dem sind, was sich in England Drama zu nennen wagt und allabendlich alle Plätze der Londoner Theater füllt. (529)

Und weiter: Nirgends ist die Kluft zwischen Litteratur und Theater, die auch in Deutschland immer weiter klafft, so gross wie in England. Wir könnten das moderne englische Theater so gut gänzlich unberücksichtigt lassen, wie etwa das Programm von Schaubuden, ohne eine Lücke im Überblick über die neuere Litteratur zu verschulden; aber die Betonung der völligen Wertlosigkeit des modernen Theaters gehört mit zu dem Bilde des Verfalls der englischen Litteratur unter der Königin Victoria. (530)70

Obwohl das Theater zu Königin Viktorias Zeiten nach Engels eigenen Angaben ein äußerst zahlreiches Publikum anzog, wurde es in der deutschen wie englischen anglistischen Forschung nicht ernst genommen. Erst in jüngster Zeit finden sich Untersuchungen, die sich mit dem viktorianischen Drama beschäftigen, denn vom kulturwissenschaftlichen Standpunkt ist es durchaus von Interesse, was sich die Menschen jener Zeit anschauten, auch wenn die künstlerische Qualität der Theaterstücke kritisiert werden kann.71 Für Engel hat England mit der viktorianischen Epoche einen Punkt erreicht, an dem wahre Kunst gar nicht mehr erkannt, geschweige denn geschätzt wird. So hat auch ein Künstler wie Algernon Charles Swinburne in England einen schweren Stand, denn »Swinburne ist ein höchst origineller Dichter und der grösste englische Verskünstler. Seine Originalität wird ihm in einem Lande wie England und in einer Zeit wie der Victorianischen Ära zu einem schweren Vergehen angerechnet« (522). Hierfür macht Engel zumindest zum Teil das englische »Backfischpublikum« (527) mit seiner »Heuchelei und Prüderie« (ebd.) verantwortlich. Engels Kritik richtet sich vorwiegend gegen den englischen Mittelstand, und mit Genugtuung beschreibt er folglich den Angriff auf das Mittelstandsleben, den William Makepeace Thackeray mit seinem Roman Vanity Fair führt: 70 Engel nennt auch einzelne Autoren, um seine Abneigung gegen das viktorianische Drama deutlich zu machen. Zum Dramatiker Henry James Byron, »diese[m] Liebling des Londoner Philisteriums« (532), schreibt er beispielsweise: »Wir denken nicht hoch vom Stande des deutschen Theaters und sehr niedrig vom Geschmack des deutschen Theaterpublikums, – doch glauben wir nicht, dass solche untermittelmässigen Sudeleien wie die von Herrn [Henry James] Byron sich in Deutschland so ausschliesslich auf der Bühne behaupten könnten« (532). 71 Stellvertretend für das neu erwachte Interesse am viktorianischen Drama vgl. den Aufsatz von Tönnies (2005) »Das viktorianische Theater als Populärkultur«. Dass zuvor vernachlässigte Epochen und Gattungen nun zum Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen werden, ist ein Beleg für eine kulturwissenschaftliche Neuperspektivierung der deutschen Anglistik.

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Zwischenfazit Unbarmherzig ist Thackeray mit diesem verhätschelten Kinde des neueren englischen Romanes umgegangen: der ›ehrbare‹, der ›tüchtige‹, und wie des auch anderswo gepriesenen Mittelstandes Lobestitel lauten, – bei Thackeray wird die ganze philiströse, niedrige, zum Guten zu faule, zum Schlechten zu feige Mittelstandsmoral dem hochverehrten Publico an einer Anzahl nicht übertriebener Exemplare vorgeführt. (556)72

Diese Gesamtbewertung der viktorianischen Epoche seitens Engels ist aus zweierlei Gründen besonders interessant. Erstens übt er zwar scharfe Kritik an der Prüderie und Heuchelei des englischen Mittelstandes; als Bestandteil von Englishness bezeichnet er diese Eigenschaften aber nicht. Vielmehr entsteht der Eindruck, als sähe Engel die viktorianische Ära als ›unenglisch‹ an. Das steht im völligen Widerspruch zur jetzigen Bewertung dieser Periode. Heute wird die Zeit der Herrschaft von Königin Viktoria – vor allem von den Engländern selbst – geradezu als paradigmatisch ›englisch‹ angesehen. Dieser spätere Bewertungswandel hängt mit dem zweiten Grund zusammen, der Engels Einschätzung dieser Epoche so aufschlussreich macht: Im Jahr 1883 – dem Jahr der Veröffentlichung seiner Literaturgeschichte – befindet er sich selbst noch mitten in der Periode, die er beurteilt.73 Damit fehlt ihm die in der Literaturwissenschaft – wie auch in der Geschichtswissenschaft – so wichtige zeitliche Distanz zum Untersuchungsobjekt. In nahezu allen Literaturgeschichten ist zu beobachten, dass der Kanon immer breiter und undifferenzierter wird, je mehr sich die Literaturgeschichte der Gegenwart nähert.74 Denn für einen Literaturwissenschaftler ist es nahezu unmöglich, bei einem zeitgenössischen Werk korrekt vorherzusagen, ob es den ›test of time‹ bestehen 72 Zur Bedeutung Thackerays aus der Sicht des 20. Jahrhunderts vgl. Colby (1979) und Ferris (1983: Preface): »Thackeray is an obscure major novelist. Rivaling Charles Dickens at a time when the novel was central to English culture as at no period before or since, Thackeray entered the mainstream of literary history, shaping the sensibility of writers as diverse as Anthony Trollope and Walter Pater. But he has travelled less successfully into the twentieth century than his great rival whose genius continues to excite both popular and academic interest.« 73 Zur Periodisierung der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts vgl. V. Nünning (2004: 10): »Dass Königin Viktoria von 1837 bis 1901 regierte und ihr Tod somit fast mit dem Ende des Jh.s zusammenfiel, veranlasst etliche Kritiker, vom 19. Jh. als ›viktorianischem Zeitalter‹ zu sprechen. Allerdings ist es streng genommen irreführend, Romane, die vor 1837 geschrieben wurden, als ›viktorianisch‹ zu bezeichnen. Für Werke, die zwischen 1811 und 1820 erschienen, hat sich der Begriff Regency Novel eingebürgert, weil zu dieser Zeit der damalige Prince of Wales für seinen geistig verwirrten Vater George III. die Regentschaft übernahm; für die Zeit zwischen 1820 und 1837 hat sich keine eigene Bezeichnung durchgesetzt.« 74 Warum die zeitliche Distanz zum untersuchten Stoff für den Literaturwissenschaftler so wichtig ist, legt Müller (1982: 221) dar: »Welche ›Geschichten‹ der Literaturhistoriker identifiziert und gegenüber anderen heraushebt, hängt davon ab, daß er weiß, ›wie es weiterging‹ und ins komplexe Beziehungsgeflecht Linien einzuzeichnen vermag, die ihren Fluchtpunkt in einer späteren Zeit haben.«

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2. Eduard Engels Geschichte der englischen Litteratur (1883)

wird oder nicht. Das ist ein Grundproblem der Literaturwissenschaft, das Engel auf seine ganz eigene Art und Weise löst – er befindet die gesamte Epoche für so schlecht, dass es sich für ihn erübrigt, sie differenziert darzustellen. Zuletzt ist noch die Einschätzung Engels bezüglich der Bedeutung der Gattung des Romans von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse: »Die Romane Scott’s gehören zu dem eisernen Bestande unserer litterarischen Bildung. Viele derselben sinken allmählich in das grosse Meer der Vergessenheit, welches aus der Litteratur zuerst die Romane verschlingt« (540). Entgegen dieser Prognose sind es heute jedoch zumeist gerade Romane, die sich allgemeiner Bekanntheit erfreuen. Und gerade aus der von Engel viel gerügten viktorianischen Epoche ist der Roman die prominenteste Gattung.75 Dies ist ein Beleg für den allgemeinen Wandel in der Rezeption von Literatur: Heute ist der Roman für viele die wichtigste Literaturgattung, während zu Engels Zeiten die Lyrik der Gipfel der Literatur war.

75 Zur heutigen Popularität des viktorianischen Romans vgl. Vera Nünning (2004: 169): »[Die] Präsenz des Viktorianismus in englischsprachigen Romanen und Filmen der Gegenwart beweist nachdrücklich, welche ungebrochene Faszination von der Literatur und Kultur des 19. Jh.s ausgeht. Dies ist nicht zuletzt auf das breite Spektrum von populären Romanen und Romanzen dieser Epoche zurückzuführen.«

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3. Carl Weisers Englische Literaturgeschichte (1902): Die Überblicksdarstellung

Die besonderen Merkmale von Weisers Literaturgeschichte Die Englische Literaturgeschichte von Carl Weiser, die im Jahr 1902 erstmals veröffentlicht wurde, gehört mit lediglich 175 Seiten Umfang (inklusive Namensund Sachregister) zu den kürzesten deutschen Geschichten englischer Literatur. Allein das macht sie für diese Untersuchung schon interessant, denn es ist zu erwarten, dass die ohnehin innerhalb von Literaturgeschichten notwendige Selektion bei Weiser noch einmal forciert und somit ein ›Konzentrat eines Konzentrats‹ präsentiert wird. Ein weiterer Faktor, der Weisers Literaturgeschichte für diese Arbeit relevant macht, ist der Umstand, dass sein Buch in der Sammlung Göschen erschien. Diese Reihe der Göschen’schen Verlagsbuchhandlung in Leipzig umfasste zahlreiche Werke aus den unterschiedlichsten Bereichen: Neben Schriften über Elektrotechnik, Finanzwissenschaft, Ethik, Differentialrechnung, Eddalieder und viele andere Themen erschien auch eine umfangreiche Serie zur Literaturgeschichte Deutschlands, Italiens, Russlands, Griechenlands und zahlreicher anderer Länder und Sprachräume. Mit einem relativ geringen Preis von 80 Pfennigen sowie ihrem übersichtlichen Umfang richteten sich die Bücher offensichtlich an ein breiteres Publikum. Vor allem Studenten konnten sich die Bändchen aufgrund ihres günstigen Preises zulegen, während die umfangreicheren und damit teureren Literaturgeschichten für Studierende in der Regel wohl nur über Universitätsbibliotheken zugänglich waren.76 Der recht geringe Umfang sowie der Überblickscharakter von Weisers Literaturgeschichte luden zudem dazu ein, das Werk komplett zu lesen, statt nur bestimmte Epochen oder Autoren nachzuschlagen, wie es bei der Nutzung längerer Literaturgeschichten meist der Fall sein dürfte. Durch diese intensivere Rezeption konnte das von Weiser vermittelte Bild von Englishness theoretisch auf eine größere Leserschaft einwirken als das in anderen Literaturgeschichten dargestellte. Dass Weisers Literaturgeschichte bis ins Jahr 1914 immerhin viermal aufgelegt wurde, lässt auf einen Verkaufserfolg schließen. Interessant ist, dass Weisers Büchlein über die englische Literatur nach 1914 nicht weiter veröffentlicht wurde. Ein Zusammenhang mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in diesem Jahr, in dem sich England und Deutschland als Feinde gegenüberstanden, ist zwar spekulativ, aber nicht völlig auszuschließen.

76 Die Sammlung Göschen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts initiiert wurde, wird bis auf den heutigen Tag im Verlag de Gruyter fortgeführt und richtet sich vor allem an ein wissenschaftliches, genauer: studentisches, Publikum.

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3. Carl Weisers Englische Literaturgeschichte (1902): Die Überblicksdarstellung

Über das seinem Werk zugrunde liegende Konzept von Literaturgeschichte gibt Weiser leider nicht explizit Auskunft. Während Hettner deutlich macht, wie er seine Literaturgeschichte anlegt (Literaturgeschichte als Ideengeschichte), und Engel klar beschreibt, was für ihn die Rolle der Literaturgeschichte an sich sein sollte, verzichtet Weiser fast völlig auf eine offene Darlegung seiner Position. Welches Konzept Weiser hinsichtlich seiner Gliederung verfolgt, lässt er gänzlich offen, und die Überschriften seiner 22 Kapitel lassen – bis auf eine leichte Dominanz von gattungsbezogenen Titeln – auch kein wirkliches System erkennen. Bemerkenswert ist, dass Weiser seine Literaturgeschichte nicht nur in Kapitel, sondern auch in insgesamt 188 Paragraphen untergliedert. Weimer (1989) sieht darin ein Überbleibsel der alten Literaturwissenschaft und Geschichtsschreibung, in der selten Perioden gebildet wurden, die einen inneren Zusammenhang aufwiesen, sondern einzelnen Ereignissen oder Autoren jeweils ein Paragraph gewidmet wurde, was eine Einordnung in einen größeren Zusammenhang erübrigte.77 Vielleicht ist bei Weiser die Untergliederung in Paragraphen dafür verantwortlich, dass seine Kapitelüberschriften eher willkürlich gewählt zu sein und kaum einem nachvollziehbaren System zu folgen scheinen78 – es ist möglich, dass die Paragraphen in Weisers Literaturgeschichte die primäre Unterteilung darstellen, aus der sich danach erst die einzelnen Kapitel ergeben. Lässt diese Beobachtung alleine keine Schlüsse auf die von Weiser zugrunde gelegten Konzepte zu, so finden sich innerhalb seines Buches doch vereinzelte, versteckte Hinweise auf sein Verständnis von Literaturgeschichte, Literaturwissenschaft und damit zusammenhängenden Bereichen des diachronen Rezeptionswandels und des Geniegedankens. Am Eingang seines Kapitels über Walter Scott macht sich Weiser z. B. Gedanken über den diachronen Wandel der Rezeption von Literatur sowie das Genie, dessen Bedeutung für die Nachwelt einem solchen Wandel widersteht: Zu wiederholten Malen sehen wir in der Geschichte und Literaturgeschichte, wie eine große Bewegung, die eine ganze Generation erhebt und durchzittert, sich in einem einzigen Manne konzentriert, in seinen Taten und Werken zum Ausdruck gelangt. Spätere Geschlechter haben oft Mühe, die Begeisterung zu 77 Vgl. Weimer (1989) zur Aufteilung von Literaturgeschichten in Paragraphen: »Je energischer oder mechanischer die Einteilung in Paragraphen, ein Erbstück der Litterärhistorie und der alten Geschichtsschreibung überhaupt, geübt wird, desto mehr zerstückelt sich natürlich auch der Zusammenhang der zu erzählenden Geschichte, und desto nötiger werden Surrogate, die zur Kompensation dieses Schadens dienen können. […] Besonders wichtig und nützlich für die Rettung des Zusammenhangs scheinen dabei immer noch die eigentlich unvermittelten Hinweise auf die politische und Herrschergeschichte zu sein« (284). 78 Einige Beispiele für die recht willkürliche Benennung der Kapitel durch Weiser sind ›Alt- und mittelenglische Periode‹, ›Anfänge des Dramas‹, ›Lyriker und Epiker des 16. Jahrhunderts‹, ›Bacon‹, ›Das Zeitalter der großen Rebellion‹ und ›Das Zeitalter der Königin Anna. Pope. Swift. Die Essayisten‹.

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Die besonderen Merkmale von Weisers Literaturgeschichte begreifen, die dem Wirken des Gottbegnadeten von seinen Zeitgenossen gezollt wurde; der Bewegung entrückt, vermögen sie dieselbe und die sie begleitende Erschütterung der Gemüter nicht mehr nachzuempfinden. Ähnlich ergeht es uns heute mit der Romantik und mit der romantischen Dichtung; die meisten Erzeugnisse derselben sind vergessen, viele haben den Spott späterer Geschlechter erdulden müssen. Der Begriff ›romantisch‹, der unsere Urgroßeltern wie ein magisches Wort durchschauerte, ist gleichbedeutend mit ›überspannt‹, ›phantastisch‹ geworden. Nur die eine hehre Dichtergestalt, in der sich die ganze Bewegung wie in keinem andern Poeten verkörperte, ragt in die Neuzeit herein und fordert noch von den Epigonen den Tribut, der dem Genie und großem Wollen allezeit gebührt. (119)

Wie in dieser Äußerung deutlich wird, war die Wahrnehmung der Epoche der Romantik einem mehrfachen Wandel unterworfen: Zu ihrer Zeit gefeiert, einige Generationen später belächelt und heutzutage eher neutral eingeschätzt, ohne große Zu- oder Abneigung.79 Bezüglich Scott verwendet Weiser den Begriff des ›Genies‹, lässt in obigem Zitat aber noch offen, was er darunter versteht. An anderer Stelle wird er deutlicher. Zu Chaucer schreibt er: War auch Chaucer bei seinen ersten poetischen Versuchen von den gleichen Fesseln [der Nachahmung französischer Vorbilder] beengt, so sprengte sie doch sein Genius im späteren Wirken; er befestigte und bereicherte den Wortschatz, brachte […] aus dem Italienischen neue Stoffe und neue Formen herüber und rang sich schließlich zu jener Ursprünglichkeit des Schaffens empor, welche den echten Dichter kennzeichnet. (33)

Das Erschaffen großer Literatur ist nach Weisers Dafürhalten aber nicht vom Genie allein abhängig. Während Engel die Meinung vertritt, dass ein echtes Genie unabhängig von seiner Zeit wirkt, ist Weiser gegenteiliger Ansicht. Zu Shakespeare schreibt er beispielsweise: »[Er] war bei all seiner genialen Begabung ein Kind seiner Zeit, die sich nirgends so deutlich widerspiegelt wie in seinen Dramen« (65f.). Folglich schlagen sich für Weiser Faktoren wie Gesellschaft und Kultur auch in Werken von Genies nieder. Aber nicht nur das – die Kultur einer Zeit kann sogar dazu führen, dass sich ein großes Talent nicht zur vollen Blüte entwickelt, wie Weiser am Beispiel des Restaurationsdramatikers William Congreve argumentiert: Wäre Congreve nur in einem minder verderbten Zeitalter geboren worden, so fänden seine Dichtungen heute ihren Platz neben Shakespeare, Milton und Byron [also in Weisers Spitzenkanon]; so aber, geboren und erzogen in einer Ära der ärgsten Sittenlosigkeit, teilte er ihre ganze Frivolität, und seine Lustspiele waren schon eine Generation nach ihrem Erscheinen von der Bühne und aus der Literatur verschwunden – vergessen bis auf die Namen. (85)

79 Eine ähnliche Veränderung der Literaturrezeption beobachtet Weiser auch bei den Allegorien: »Unserem Jahrhundert ist das Gefallen, das jenes Zeitalter an Allegorien fand, kaum verständlich; schon die Inhaltsangabe solcher Dichtungen ermüdet uns. Immerhin verdienen mehrere Dichter aus dieser Zeit unsere Beachtung« (39).

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3. Carl Weisers Englische Literaturgeschichte (1902): Die Überblicksdarstellung

Damit vertritt Weiser eine gänzlich andere Ansicht als Engel, der das Genie in nahezu völliger Unabhängigkeit von seiner Zeit sieht. Und Weiser geht sogar noch weiter – für ihn sind bestimmte kulturelle und historische Voraussetzungen sogar notwendig, um große Literaten hervorzubringen: Wie vor einem jeden Frühling Stürme ins Tal brausen und die Natur das Werk ihrer Verjüngung damit beginnt, daß sie die Elemente in tobendem Aufruhr gegeneinander kämpfen läßt, so geht auch jedem Aufschwung in der Literatur eine Zeit stürmischen Tobens und Gärens vorher, und die Geister, die da auftauchen, scheinen eher berufen, in himmelstürmendem Trotz alles Bestehende zu zerstören, als Neues und Großes aufzubauen. In der deutschen Literatur hat eine ähnliche Periode die bezeichnende Benennung Sturm und Drang gefunden; Stürmer und Dränger sind es auch, welche die Blütezeit des englischen Dramas einleiten: Kyd, Greene, Marlowe und, alsbald sie alle überstrahlend, von den einen bewundert, von den anderen beneidet und gehaßt – der junge Shakespeare. (56)

Obiges Zitat verrät nicht nur einiges über Weisers Auffassung von der Wechselwirkung zwischen großen Literaten und ihrer Zeit, es lässt auch Schlüsse auf das von ihm vertretene Literaturmodell zu: Weiser geht von einem zyklischen Verlauf der Literaturentstehung aus – auf eine »Blüteepoche« (ebd.) folgt eine Zeit der Stagnation oder des Niedergangs; diese dauert an, bis sich genügend Kräfte finden, um gegen das Bestehende aufzubegehren, und diesem ›Sturm‹ folgt wieder eine Blüte. Ein vergleichbares Modell der literaturgeschichtlichen Dynamik findet sich bei Engel, trotz seiner breiteren Ausführungen zu Literatur und Literaturgeschichte, nicht. Nicht nur bezüglich des Geniegedankens und der Umstände der Entstehung großer Literatur unterscheiden sich Weiser und Engel; auch auf einem anderen, viel grundsätzlicheren Gebiet sind sie konträrer Ansicht. Aufbau und Werkauswahl von Weisers Literaturgeschichte zeigen nämlich, dass sich sein Verständnis von englischer Literatur deutlich von dem Engels unterscheidet: Während Engel englische Literatur definiert als Literatur, die in englischer Sprache verfasst worden ist, zählt für Weiser alles zur englischen Literatur, was auf den britischen Inseln geschrieben wurde. Engel definiert die englische Literatur also über die Sprache, Weiser über die Geographie. Während bei Engel der Einschluss amerikanischer Autoren daher durch seine Definition abgedeckt ist, ist es bei Weiser merkwürdig, dass er das letzte seiner 22 Kapitel amerikanischen Autoren widmet. Diese fallen nämlich nach seiner Definition englischer Literatur nicht in seinen Untersuchungsbereich. Beide Definitionen verstehen dagegen irische und schottische Autoren als zur englischen Literatur gehörend. Durch sein Verständnis von englischer Literatur berücksichtigt Weiser zudem noch Werke in keltischer, lateinischer und französischer Sprache. Er beginnt seine Darstellung mit den Kapiteln ›Keltische Vorzeit‹, ›Die angelsächsische Literatur‹ und ›Alt- und mittelenglische Periode‹ und behandelt darin Werke und Autoren, die bei Engel per Definition nicht zur englischen Literatur gehören. Daher verwundert es nicht, dass der von

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Die besonderen Merkmale von Weisers Literaturgeschichte

Weiser präsentierte Kanon zwar kleiner ist als der Engels, durch die größere diachrone Ausdehnung aber teilweise andere Autoren Berücksichtigung finden. Weisers Kanon ist mit etwa 115 Autoren lediglich um ein Drittel kleiner als der von Engel präsentierte. Dieser vergleichsweise große Kanon Weisers mag überraschen – man bedenke, dass Engels Literaturgeschichte mehr als den dreifachen Umfang derjenigen Weisers hat, Engels Kanon aber nicht übermäßig umfangreicher ist. Allerdings hat Engel – gemäß seiner Forderung, nur die wirklich bedeutenden Autoren zu untersuchen – auf reine Autorennennungen verzichtet. Diese Kategorie umfasst bei Weiser aber 40 Autoren, so dass bei ihm lediglich ca. 75 Autoren eingehender betrachtet werden (verglichen mit den gut 160 bei Engel). Diese Zahlen belegen, dass Weiser im Vergleich zu Engel eine noch rigidere Auswahl dessen trifft, was er für die Essenz der englischen Literatur hält. Im Spitzenkanon, zu dem hier Autoren gehören, denen mehr als vier Seiten Text gewidmet werden, finden sich bei Weiser lediglich fünf Autoren: William Shakespeare ist mit zehn Seiten der bedeutendste Autor, gefolgt von Geoffrey Chaucer mit sechs Seiten sowie Walter Scott, George Gordon Byron und John Milton (je zwischen vier und fünf Seiten). Damit weist der Spitzenkanon Weisers eine große Ähnlichkeit mit dem Engels auf: Shakespeare unangefochten an der Spitze, Milton und Chaucer ebenfalls in prominenten Positionen und Byron – typisch für Deutschland – gleichfalls vertreten. Veränderungen gibt es allerdings auch. So hat bei Weiser Sir Walter Scott seinen Weg in den Spitzenkanon gefunden, während Pope, Spenser, Burns und Shelley in den Umgebungskanon abgestiegen sind. Der Umgebungskanon (mehr als eine und bis zu vier Seiten) umfasst bei Weiser mit 26 Autoren in etwa ebenso viele Literaten wie bei Engel. Seine Zusammensetzung ist in beiden Literaturgeschichten – bis auf die schon erwähnten Verschiebungen zwischen Spitzenkanon und Umgebungskanon – nahezu identisch. Bemerkenswert ist nur, dass einige bekannte Autoren wie Daniel Defoe und William Makepeace Thackeray, die bei Engel noch im Umgebungskanon zu finden sind, bei Weiser auf die dritte Hierarchieebene abgesunken sind. Diese beinhaltet bei Weiser 44 Autoren, denen jeweils bis zu einer Seite Text eingeräumt wird. Hier finden sich mit George Eliot, Felicia Hemans und Elizabeth Barrett Browning die ersten Autorinnen. Die vierte Hierarchieebene mit reinen Namensnennungen besetzt Weiser, wie schon erwähnt, mit insgesamt 40 Autoren. Der von Weiser präsentierte Kanon weist eine ähnliche thematische Breite auf wie der in Engels Literaturgeschichte dargestellte: Auch Weiser berücksichtigt Philosophen, Politiker und Historiographen, lässt aber Naturwissenschaftler außen vor. So finden sich mit Thomas Carlyle und Thomas Babbington Macaulay gleich zwei Historiker und Essayisten in Weisers Umgebungskanon. Der Philosoph Sir Francis Bacon, die Politiker William Pitt d. Jüngere, James Fox und Edmund Burke sowie der Kunsthistoriker und Kritiker John Ruskin schaffen es bei Weiser immerhin auf die dritte Hierarchieebene, ebenso wie David Hume, Edward Gibbon und Matthew Arnold. Weiser folgt mit der Einbeziehung dieser Autoren – ganz wie Engel – eher der englischen als der deutschen Tradition der Literaturge-

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3. Carl Weisers Englische Literaturgeschichte (1902): Die Überblicksdarstellung

schichtsschreibung, wenn auch nicht vollends, da bei ihm Naturwissenschaftler wie Charles Darwin keine Berücksichtigung finden. Ein weiterer Aspekt, in dem sich Weiser der englischen Tradition annähert, ist der des ›life and letters‹-Ansatzes. In englischen Literaturgeschichten wird der Biographie eines Autors oft genauso viel Platz eingeräumt wie der Betrachtung seiner Werke. Ähnlich geht Weiser vor, und er unterscheidet sich damit deutlich von Engel. Vor allem bei wichtigeren Autoren (d. h. denen des Spitzen- und Umgebungskanons) berichtet Weiser ausführlich über deren Leben, während Engel betont, seinen Lesern nur das für das Verständnis ihrer Werke allernötigste Hintergrundwissen über Literaten zu bieten. Beispielhaft für Weisers Vorgehen ist das, was er über Sir Francis Bacon schreibt. Zunächst schildert Weiser auf einer halben Seite (71) das Leben des Autors, dann auf einer weiteren halben Seite kurz die Bedeutung, die er für die Entwicklung der Gattung des Essays in England hatte (72). Die Informationen über Autor und Werk können aber auch durchaus vermischt werden. Ein weiteres Beispiel soll hier einen Eindruck von dieser Methode Weisers vermitteln: James Thomson (1700–1748) wuchs in der südschottischen Grafschaft Roxburgh auf. Mit dem Manuskripte des ›Winter‹ in der Tasche, kam der arme Poet 1725 nach London. Im nächsten Jahre veröffentlichte er mit Popes Unterstützung den ›Winter‹ und in rascher Folge bis 1730 die anderen Jahreszeiten. Ihren Abschluß bildet eine schwungvolle Hymne an die Gottheit. Die ganze Dichtung ist in Blankversen abgefaßt. Durch die Vermittlung hoher Gönner wurde Thomson zum Aufseher der Kleinen Antillen ernannt; doch kam die so leicht erlangte Wohlhabendheit seinem Talente nicht zugute. Denn seine in den Jahren 1730 bis 1747 verfaßten Dichtungen stehen den Jahreszeiten weit nach, und wenn auch einzelne seiner Tragödien (wie Alfred mit dem eingeschalteten, heute gleich God Save the Queen als Nationalhymne betrachteten Rule Britannia) eine Zeitlang mit Erfolg aufgeführt wurden, so hat sich doch keine auf der Bühne oder in der Literatur behaupten können. In seinem Todesjahre veröffentlichte Thomson die Allegorie The Castle of Indolence (Das Schloß der Trägheit); sie ist in Spensers Manier, wie auch im Versmaß der Fairy Queen verfaßt, fand jedoch wenig Anklang. (101f.)

Typisch für das Vorgehen Weisers ist es außerdem, so gut wie nie zu Textbeispielen zu greifen – das wäre bei dem geringen Umfang seiner Literaturgeschichte bei dem gleichzeitig recht beachtlichen Kanon auch kaum möglich. Er beschränkt sich stattdessen meist auf Bemerkungen zu Rezeption und Stil erwähnter Werke und gibt gelegentlich auch den Inhalt einer Schrift wieder. Dies geschieht zumeist in ein oder zwei Sätzen, manchmal aber auch ausgesprochen ausführlich, wie z. B. bei Scotts poetischer Erzählung The Lady of the Lake (120ff.). Bei seinem Spitzenautor William Shakespeare, dem »hervorragendste[n] Dramatiker der Weltliteratur« (58), verliert Weiser hingegen nicht mehr als je einen Satz zum Inhalt der Dramen – vielleicht ein Indiz dafür, dass in Deutschland die Kenntnis der Dramen Shakespeares allgemein vorausgesetzt wird. Neben Stil, Inhalt und Rezeption erläutert Weiser meist noch die literarischen Einflüsse, die bei der Entstehung

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Die besonderen Merkmale von Weisers Literaturgeschichte

eines Werkes eine Rolle spielten, sowie die Bedeutung des Werkes für die zukünftige Gattungsentwicklung. Kritisch steht Weiser dagegen dem Ansatz gegenüber, aus den Werken Rückschlüsse auf die Persönlichkeit eines Autors ziehen zu wollen, wie folgender Textbeleg zeigt: Nun ist wohl von mehreren hervorragenden Literarhistorikern der neueren Zeit der Versuch gemacht worden, aus seinen Werken eine Charakteristik Shakespeares abzuleiten. So bestechend dieser Vorgang auch ist und so leicht unsere Phantasie geneigt sein mag, aus den anziehendsten Gestalten seiner Dramen seine eigene erstehen zu lassen, so zögern wir doch, diesen Weg zu betreten und aus dem Gebiete der realen Literaturgeschichte uns in das der Fiktion zu verirren. (59)80

Indem Weiser sich von einer Gleichsetzung eines Autors mit dessen Figuren distanziert, vertritt er relativ früh einen der wichtigsten Grundsätze der modernen Literaturwissenschaft. Trotz seiner offensichtlichen Ablehnung des in obigem Zitat beschriebenen Ansatzes anderer Literaturwissenschaftler greift Weiser mitnichten zu so harten Worten wie Engel. Auch in seiner Beurteilung von Autoren, Werken und Epochen ist Weiser wesentlich zurückhaltender als Engel. Wirklich Abschätziges oder gar Beleidigendes sucht man in seiner Literaturgeschichte nahezu vergebens. Allenfalls milder Tadel findet sich von Zeit zu Zeit, so z. B. bei Byron, der sich »in einen Strudel von Vergnügungen [stürzte], die seiner unwürdig waren und denen seine Konstitution nicht gewachsen war« (128). Einzig bezüglich der Restauration reicht Weisers Einschätzung in ihrer Deutlichkeit an die Verurteilungen Engels heran. So gelangt Weiser beim Vergleich der Zustände vor und nach der Revolution zu folgendem Urteil: »Gegen die Sittenlosigkeit der Restauration und die schamlose Entweihung der Schaubühne, wie sie auf das puritanische Regime folgte, war das Zeitalter Karls I. noch sehr moralisch zu nennen« (ebd.). Und zur Restauration selbst schreibt er: So schamlos hat sich die Gemeinheit wohl noch nie auf der Bühne breitgemacht, wie in dieser Epoche; als gälte es, das durch die Schließung der Theater unter Cromwell Versäumte nachzuholen, überboten sich die einzelnen Autoren an Rohheit. Eine neue Generation dramatischer Dichter, zum Teil ein wahres Kotgeschlecht, ersteht: in ihren Komödien ist das Gemeine nicht mehr eine Zutat, ein Mittel zum Zwecke, das Publikum zu unterhalten, es ist selbst Endzweck und Inhalt geworden, die Tugend hat jeden Anwert verloren und dient nur mehr zum Gespötte, das Laster triumphiert unverhüllt. (80f.)

Obwohl Weiser den allgemeinen moralischen Zustand der englischen Bühne zur Zeit der Restauration so scharf verurteilt, findet er doch in künstlerischer Hinsicht Grund zu Lob:

80 Wie auch Engel verspottet Weiser die Literaturwissenschaftler, die daran zweifeln, dass Shakespeare seine Dramen wirklich selbst geschrieben hat (68).

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3. Carl Weisers Englische Literaturgeschichte (1902): Die Überblicksdarstellung Über die Menge geringerer Autoren erhebt sich die Trias: Congreve, Wycherley, Farqhar, der erstgenannte unstreitig ein Dichter von hoher und vielseitiger Begabung, dessen Ruhm ganz England erfüllte und über dessen Grenzen hinausreichte. An Talent mangelte es übrigens auch den anderen nicht: die Fabel in ihren Stücken ist witzig erdacht, der Dialog von sprühender Lebhaftigkeit, die Charakteristik keck und treffend – nur zu treffend. (81)

Weiser trennt folglich klar zwischen dem Charakter eines Autors und dessen künstlerischen Fähigkeiten. Für ihn besteht in seiner Literaturgeschichte also kein Grund zum Moralisieren – auch Werke, die den sittlichen Anstand verletzen, können künstlerische Vorzüge aufweisen. Weiser macht diese Trennung von Kunst und Moral an späterer Stelle noch einmal deutlich, wenn er einige Überzeugungen des Kritikers und Kunsthistorikers John Ruskin belächelt: Daß er als reicher Mann stets im Wagen reiste und die Eisenbahnfahrt perhorreszierte, mag hingehen; daß er aber im fabrikreichsten Lande Europas den Bau von Eisenbahnen verpönte, weil ›sie das holde Antlitz der Natur entstellen‹, ist einfach komisch. So auch, wenn er in seinen Lectures on Art die These aufstellt, daß nur ein sittlicher Charakter schöne Kunstwerke schaffen könne, und den Vergleich mit der Lerche zieht, deren frischer herzerquickender Gesang einer unschuldsvollen Brust entspringt. (162f.)

Gemäß dieser Prämisse – der Trennung von Kunst und Moral – kommt Weiser zu ganz anderen Bewertungen der Restaurationsdramatiker als Engel. Auch die Autoren der viktorianischen Epoche werden von Weiser und Engel unterschiedlich beurteilt. Wo Engel beispielsweise unversöhnlich gegen die Missstände der viktorianischen Gesellschaft wettert, erwähnt Weiser diese nur zu dem Zweck, die Themenwahl der Romanautoren jener Zeit zu erklären und den Einfluss von Autoren wie Charles Dickens zu demonstrieren. Zur positiven Wirkung der Romane Dickens schreibt er: In Nicholas Nickleby geißelt er die elende Verfassung der englischen Privatschulen: die Verbesserung des Volksunterrichts in den folgenden Jahrzehnten läßt sich ebenso auf diesen Roman zurückführen, wie die Abschaffung unerträglicher Mißbräuche im Gefängniswesen auf die Pickwickier. (137)

Und auch die viktorianische Literatur insgesamt wird von Weiser anders beurteilt als von Engel. Während Engel nämlich die viktorianische Ära als literarischen Tiefpunkt in der englischen Geschichte sieht, stellt Weiser eine ganze Reihe von Autoren vor, deren Dramen und Romane er als durchaus gelungen beschreibt (z. B. die Werke Edward Bulwer Lyttons, Charles Kingsleys und George Eliots). Mit keinem Wort stellt Weiser diese Epoche pauschal als literarisch minderwertig dar. Diese grundverschiedene Beurteilung der viktorianischen Epoche durch Engel und Weiser kann natürlich ihren Ursprung in unterschiedlichen Literaturgeschmäckern haben. Sie kann sich aber ebenso daraus erklären, dass Engel seine Literaturgeschichte noch mitten in jener Ära schrieb, Weiser sein Buch jedoch etwa 20 Jahre später, am Ende der viktorianischen Epoche, veröffentlichte – der zeitliche Abstand, der Engel fehlt, ist bei Weiser wenigstens minimal vorhanden. Weiser

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Die Funktionen von Weisers Literaturgeschichte

kann damit Entwicklungslinien erkennen, die Engel noch verborgen geblieben sind. Die Entwicklungslinien der unterschiedlichen literarischen Gattungen sind es auch, welche Weiser neben den Autoren selbst am meisten interessieren. Das deutet sich schon in der Gliederung an, die Weisers Literaturgeschichte zugrunde liegt: Viele seiner Kapitel beziehen sich auf spezifische Gattungen einer bestimmten Zeit – so z. B. ›Lyriker und Epiker des 16. Jahrhunderts‹ oder ›Romanschriftsteller des 18. Jahrhunderts‹. Eine durch feste Kriterien geregelte Epochenbenennung ist in Weisers Literaturgeschichte hingegen nicht zu beobachten. Er arbeitet sich vielmehr über die Entwicklung der Gattungen und die für diese besonders wichtigen Autoren von der keltischen Literatur bis in seine Gegenwart vor. Für eine Unterteilung der englischen Literatur in Perioden finden sich nur rudimentäre Hinweise, so z. B. ›Vorläufer der Romantik. Die Seeschule‹ oder ›Das Zeitalter der Königin Anna. Pope. Swift. Die Essayisten‹ oder ›Das Drama der Restauration. John Dryden‹. Auf besondere, verbindende Merkmale der Literatur dieser Epochen geht Weiser kaum oder überhaupt nicht ein. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Weisers Englische Literaturgeschichte primär eine Gattungsgeschichte ist. Diese Erkenntnis verfestigt sich noch dadurch, dass Weiser bei der Darstellung der von ihm untersuchten Autoren deren Werke penibel nach Gattungen ordnet, wie beispielsweise bei Scott. Interessanterweise erklärt Weiser an einer Stelle, welche der Literaturgattungen seiner Meinung nach für den Leser und – so erscheint es zumindest – auch für ihn selbst am interessantesten sind: Der Roman schildert gleich dem Drama den Kampf einer großen Menschennatur gegen äußere oder innere Feinde; da das Leben in Wirklichkeit ein Kampf ist, haben diese beiden Dichtungsarten vor allen anderen das voraus, daß sie sich von der Wirklichkeit nicht weit entfernen, daß Wahrheit und Dichtung sich in ihnen berühren. Das Interesse des Lesers wird ungleich stärker herausgefordert, als durch lyrische Ergüsse oder heroische Epen. […] Es ist bezeichnend für den Charakter der Engländer, daß sie auf diesem Gebiete [der Entwicklung des Romans] vorangingen; denn hier entstanden der Reihe nach die ersten Abenteuer-, Familien-, realistischen, historischen und sozialen Romane. (94f.)

Für Weiser scheinen nicht Lyrik und Epik die für den Leser ansprechendsten Gattungen zu sein, sondern Drama und Roman. Damit vertritt er eine deutlich andere Meinung als Engel, für den gerade die Lyrik die bedeutendste Literaturgattung überhaupt ist. Die Funktionen von Weisers Literaturgeschichte Nachdem die literaturwissenschaftlichen Aspekte von Weisers Literaturgeschichte untersucht wurden, sollen nun das von Weiser vermittelte Englandbild und dessen Funktionen beleuchtet werden. Anders als Engel betont Weiser nicht, dass die Engländer ein germanisches Volk sind und damit den ethnischen Hinter-

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3. Carl Weisers Englische Literaturgeschichte (1902): Die Überblicksdarstellung

grund mit den Deutschen teilen. Es findet sich bei Weiser nur eine Stelle, an der überhaupt erwähnt wird, dass die Engländer Germanen sind. Die Bemerkung bezieht sich auf die Dichtung der Angelsachsen: Wir unterscheiden vor allem, wie dies ja bei fast allen germanischen Literaturen der Fall ist, eine heidnische und eine christliche Dichtung der Angelsachsen. […]. Außer solchen, allen germanischen Völkern geläufigen Sprüchen sind uns aus der ältesten Zeit nur Bruchstücke von Sagen erhalten, die gleichfalls die Zusammengehörigkeit der Angelsachsen mit den süd- und ostwärts wohnenden teutonischen Völkern beweisen. (13)

Dass Weiser den germanischen Hintergrund der Engländer so wenig betont, mag mit seiner differenzierten Beurteilung unterschiedlicher (germanischer) Stämme zusammenhängen, die sich im Lauf der Zeit in England ansiedelten. Während er die Angelsachsen ausgesprochen positiv bewertet, stoßen die Normannen bei ihm auf wenig Bewunderung. So befindet Weiser bezüglich der Angelsachsen anerkennend, »daß das Angelsächsische am Ausgang des 9. Jahrhunderts neben dem Lateinischen und Griechischen die vornehmste Kultursprache Europas« (17f.) war, ihr Hauptdichter Kynewulf »echt national in Sprache und Form« (18) schrieb und selbst im Verfall des angelsächsischen Staates »die alte Tapferkeit in einzelnen siegreichen Gefechten gegen die Dänen« (20) noch einmal aufflammte. Die Normannen werden dagegen negativ bewertet: Die Ansiedelung in der Normandie hatte »die alte Eroberungs- und Kampfeslust […] noch gesteigert durch den Einschlag gallischen Blutes« (21), so dass die »normannischen Usurpatoren« (22) nach der Invasion Englands eine »Willkürherrschaft« (ebd.) errichteten. Weiser erläutert die Art der normannischen Herrschaft noch näher: »Einzig auf die Macht des Stärkeren pochend, dem Beispiel ihres Anführers folgend in Rücksichtslosigkeit und Roheit, nahm und raubte jeder Normanne, was ihm gefiel« (ebd.). Bei dieser so unterschiedlichen Beurteilung verschiedener germanischer Stämme scheint es nicht Weisers Absicht zu sein, alle Germanen als Teil einer einzigen, großen ›Stammesfamilie‹ darzustellen. Es ist aus seiner Literaturgeschichte auch nicht zu erkennen, dass er England in besondere Nähe zu Deutschland rücken möchte, indem er auf die gemeinsamen germanischen Wurzeln beider Länder verweist. Man könnte zwar argumentieren, dass er die Normannen negativ darstellt, weil diese durch ihren Aufenthalt in Frankreich ›romanisiert‹ worden wären, womit schließlich Frankreich negativ beurteilt würde. Aber für eine Distanzierung von Frankreich finden sich in Weisers Literaturgeschichte so gut wie keine Belege. Dort, wo er Frankreich oder Teile der französischen Gesellschaft kritisiert, geschieht dies nicht in allgemeiner Weise, sondern im zeitlichen Kontext. Scharfe Kritik an Frankreich übt Weiser nur ein einziges Mal, wenn er sich über die Sitten am Hof Ludwigs XIV. äußert: Karl II. hatte im Exil nichts vergessen und nichts Gutes gelernt. Die Vorliebe für französisches Wesen, die er zurückbrachte, war bei einem englischen Re-

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Die Funktionen von Weisers Literaturgeschichte genten an und für sich etwas Unerhörtes; aber die am französischen Hofe zu der Zeit herrschende Schamlosigkeit sagte seinem jegliches sittlichen Haltes entbehrenden Charakter zu, und er fand leider nirgends Widerspruch, als er sie an seinen Hof verpflanzte. Der englische Hochadel, welcher unter der Republik jede Bedeutung im Staatsleben eingebüßt hatte, verstand sich leichten Sinnes zu Schranzendiensten, wie sie zu Versailles die Träger der erlauchten Namen Ludwig XIV. leisteten […]. So hielt denn mit der Wiedereinsetzung der Stuarts die ganze Verderbtheit des französischen Hofes ihren Einzug in London, und nur zu willfährig folgte die Literatur auf der schlüpfrigen Bahn nach. (80)

Diese einzelne Textstelle genügt jedoch nicht für den Nachweis einer generell frankophoben Haltung Weisers, zumal er an anderer Stelle bezüglich der normannischen Überfälle im Europa des Mittelalters England gegenüber Deutschland und Frankreich lobend hervorhebt: Kriegs- und seetüchtig von jeher wagten sie nun Beutezüge nach den Küsten Deutschlands und Frankreichs, für deren Bewohner die ›Nordmänner‹ = Normannen um so mehr ein Schrecken wurden, als schwache einheimische Könige ihnen nicht die Spitze zu bieten wagten. So ward ihnen dort schimpflicherweise Tribut bewilligt, hier eine ganze Halbinsel, die spätere Normandie, abgetreten. In England hatten sie nicht so leichtes Spiel. (17)

Eine Funktionalisierung der Darstellung der engen Verwandtschaft zwischen England und Deutschland zum Zweck einer gleichzeitigen Distanzierung von Frankreich, wie Engel sie zum Teil praktiziert, ist also bei Weiser nicht zu belegen. Genauso wenig vermittelt Weiser ein besonders ausgeprägtes Bild von Englishness. Die einzige Stelle, an der Weiser in seiner Literaturgeschichte überhaupt ausführlich auf typisch englische Charakterzüge und Eigenheiten eingeht, ist die, an der er die allmähliche Verschmelzung der Normannen mit den Angelsachsen beschreibt: So entstand denn, durch historische Ereignisse ermöglicht und beschleunigt, aus den feindlichen Völkern der Angelsachsen und der Normannen die englische Nation, und der Volkscharakter weist noch heute deutlich die Haupteigenschaften jener Völker auf: er hat vom Angelsachsen das Festhalten an alten, lieben Bräuchen, die Gastlichkeit und Freude an Gelagen und derber Lustbarkeit, die hohe Bildungsfähigkeit geerbt, vom Normannen den wagemutigen Sinn, die rücksichtslose Behauptung ererbter oder erworbener Rechte, die Ritterlichkeit und Freude an der Jagd. (24)

An späteren Stellen finden sich nur noch vereinzelte Hinweise auf einige dieser oben aufgelisteten Eigenschaften, meist ohne dass Weiser jedoch noch einmal explizit darauf hinweist, dass es sich dabei um typisch englische Merkmale handelt. Tut er es doch, relativiert er diese Zuschreibung von Charaktermerkmalen entweder zeitlich oder örtlich. Hinsichtlich der Dramen Shakespeares befindet er beispielsweise: »Dem Engländer jener Tage ging ein derber Spaß über alles, die schlüpfrigsten Reden erregten auf der Bühne keinen Anstoß« (66); und bezüglich

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3. Carl Weisers Englische Literaturgeschichte (1902): Die Überblicksdarstellung

der Naturliebe bei Oliver Goldsmith schreibt er: »Hier kommt jene Naturschwärmerei zum Durchbruch, die ein Kennzeichen dieses Zeitalters [des 18. Jahrhunderts] ist« (105). Sind die beiden vorherigen Beispiele für englische Charakteristika zeitlich relativiert, begrenzt Weiser die folgende örtlich, und zwar auf die Einwohner Londons: »Mit seltener Diskretion vernichtete nun [Thomas] Moore [nach Byrons Tod] alle auf Byrons intimere Angelegenheiten bezüglichen Teile und bereitete damit den skandalsüchtigen Londonern eine arge Enttäuschung« (134). Andere, nicht relativierte Bemerkungen Weisers zur Englishness finden sich nur ausgesprochen selten und lassen sich an einer Hand abzählen. So bemerkt er hinsichtlich der Einflüsse der spanischen und italienischen Literatur auf die englische: »Der schmiegsame Geist der Briten nahm alle diese Eindrücke auf und verarbeitete sie, doch läßt sich nicht leugnen, daß er daneben vieles Ursprüngliches schuf« (51). Diese Aussage weist auf die Bereitschaft der Engländer hin, fremde Einflüsse zu integrieren – eine Eigenschaft, die in späteren Literaturgeschichten an Bedeutung gewinnen wird. Über die Rezeption von Byrons Childe Harold’s Pilgrimage schreibt er: »Dieses merkwürdige Gedicht entfesselte einen Enthusiasmus, wie man ihn dem englischen Volke gar nicht zugetraut hätte« (126). Die Verwunderung, die Weiser über die unerwartete Begeisterungsfähigkeit der Engländer empfindet, passt auch zu einer Beobachtung bezüglich der Rezeption der Werke Kiplings: »Rudyard Kipling […] glückte es, die sonst so spröde öffentliche Meinung der Engländer im Sturm zu erobern« (160). Die Englishness wird also in diesen Fällen nicht an den Werken selbst festgemacht, sondern im Zusammenhang mit der Rezeption thematisiert. Schließlich beobachtet Weiser auch den Nationalstolz, der von Engel weit deutlicher betont wird: »Den englischen Nationalstolz teilte er [Shakespeare] mit seinen Landsleuten« (67). Der Humor hingegen, der in anderen deutschen Geschichten englischer Literatur bisweilen als typisch für die englische Literatur erkannt wird, wird von Weiser gar nicht als Teil der Englishness gesehen. Wohl verweist er bei einzelnen Autoren wie Chaucer (37), Swift (91) und Smollet (99) auf den humorvollen Gehalt ihrer Werke, eine typisch englische Eigenschaft macht er daraus jedoch nicht. Dafür findet Weiser aber einen anderen, neuen Aspekt der Englishness: Er schreibt den Engländern mehrfach eine »besondere Veranlagung und Vorliebe« (56) für das Drama zu. In dieser Bemerkung klingt wiederum an, dass Weiser Gattungen generell besondere Aufmerksamkeit schenkt. Weiser verweist zwar ausgesprochen selten auf für Engländer typische Charakteristika, er geht aber doch davon aus, dass die Einwohner eines Landes eine bestimmte Mentalität aufweisen. Diese Überzeugung lässt sich neben den obigen Textstellen auch anhand Weisers Bemerkung zum Iren Oliver Goldsmith belegen: »Von irischer Abkunft, besaß er die charakteristischen Hauptzüge seiner Landsleute in hohem Maße: grenzenlosen Leichtsinn, Trägheit und Gutmütigkeit« (104). Wenn Weiser also fest vom Vorhandensein eines englischen Nationalcharakters (wie auch von Nationalcharakteren insgesamt) ausgeht, jedoch nur ausgesprochen selten auf diesen verweist, kann ausgeschlossen werden, dass es ihm in seiner

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Die Funktionen von Weisers Literaturgeschichte

Literaturgeschichte primär um die Vermittlung eines spezifischen Englandbildes an seine Leser geht – ansonsten würde er bedeutend mehr Wert darauf legen, das Fremdbild der Engländer deutlicher herauszuarbeiten. Auch versucht er nicht, Deutschland von Frankreich zu distanzieren oder England als ›germanischen Bruder‹ Deutschlands darzustellen. Zwar stellt er durchaus Bezüge zur deutschen Literatur her, aber nur zum Vergleich oder Aufzeigen von Einflüssen.81 Da er zudem höchst selten einzelne Aspekte der Englishness hervorhebt oder sie gar als vorbildlich lobt, ist seine Literaturgeschichte auch nicht dazu geeignet, seiner deutschen Leserschaft bestimmte englische Charakterzüge als vorbildlich näher zu bringen. Da nun deutlich gemacht wurde, welche Funktionen Weisers Literaturgeschichte nicht erfüllt, bleibt nur noch ein Schluss übrig: Der einzige Zweck, den Carl Weiser mit dem Verfassen seines Buches verfolgte, ist tatsächlich der, dem Leser einen knappen Überblick über die englische Literatur zu bieten. Völlig ungefärbt von persönlichen Ansichten ist Weisers Englische Literaturgeschichte aber trotzdem nicht. Seine Bewertung Englands und seiner Literatur ist um einiges positiver und viel zurückhaltender mit harschen Urteilen als die Engels. Nicht aus Zufall beginnt Weiser sein Buch mit einer ausführlichen Lobpreisung der landschaftlichen, klimatischen und agrarischen Vorzüge Englands (7). Weiser mag England und seine Literatur, und das will er den Lesern seiner Literaturgeschichte auch vor Augen führen. Damit erfüllt seine Literaturgeschichte in besonders deutlicher Weise die Funktion interkultureller Vermittlung.

81 So stellt er Bezüge zwischen Goethe und Robert Burns (107) sowie Edward Bulwer Lytton (107) her, und er beschreibt den deutschen Einfluss auf die Dichter der Seeschule Wordsworth, Coleridge und Southey (115). Deutsche Einflüsse auf den Stil Thomas Carlyles und seiner Nachahmer bewertet Weiser negativ (143).

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III. Literaturgeschichten im Dritten Reich

Mit der Geschichte der englischen Literatur von Walter F. Schirmer aus dem Jahr 1937 und dem mehrbändigen Werk von Paul Meißner mit dem Titel Englische Literaturgeschichte aus den Jahren 1937–39 erschienen zeitgleich zwei deutsche Geschichten der englischen Literatur. Da zu dieser Zeit die Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland gefestigt war und die Nazi-Ideologie neben vielen anderen Lebensbereichen auch die wissenschaftliche Forschung und Lehre beeinflusste, sollte sich dieser Einfluss in den Literaturgeschichten von Meißner und Schirmer nachweisen lassen. Überraschenderweise könnten die beiden Literarhistorien unterschiedlicher nicht sein, denn während Meißner den nationalsozialistischen Überzeugungen das Wort redet, bleibt Schirmer völlig unpolitisch und neutral. Der Vergleich der beiden Literaturgeschichten zeigt nicht nur, wie ein solches Werk ideologisch funktionalisiert werden kann, sondern auch, dass es unter den deutschen Anglisten jener Zeit Literaturwissenschaftler gab, die – im besten Sinne – wissenschaftlich blieben und nicht zu Parteiideologen wurden.

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1. Walter F. Schirmers Geschichte der englischen Literatur (1937) Neutralität unter dem Hakenkreuz

1 Walter F. Sch irmers Geschichte der englischen Literatur (1937)

Die besonderen Merkmale von Schirmers Literaturgeschichte Walter F. Schirmers Geschichte der englischen Literatur erschien im Jahr 1937 – zu einer Zeit also, in der der Nationalsozialismus nahezu alle Bereiche der deutschen Gesellschaft kontrollierte. Da der nationalsozialistische Einfluss sich auch bis in die Universitäten erstreckte, ist von einer Literaturgeschichte aus dieser Zeit zu erwarten, dass sich zumindest einige Eckpfeiler der Nazi-Ideologie, wie Antisemitismus oder Kommunismusfeindlichkeit, in ihr bemerkbar machen. Zudem müsste sich die Einstellung gegenüber England, die in den Literaturgeschichten älteren Datums oft sehr positiv ausfiel, durch die Gegnerschaft im Ersten Weltkrieg einerseits sowie einen ideologischen Wandel andererseits deutlich abkühlen, denn, wie Hausmann (2003: 15) feststellt: Insbesondere die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstandene Wesenskunde, die statt Annäherung an die Nachbarn die Abgrenzung von ihnen betonte, wirkte sich als verhängnisvoll aus und schuf ein anti-englisches Klima, das es so im 19. Jahrhundert nicht gegeben hatte.

Es ist folglich damit zu rechnen, dass Schirmer die noch von Engel betonte, in den gemeinsamen germanischen Wurzeln begründete geistige Nähe Deutschlands und Englands weniger hervorhebt oder überhaupt nicht mehr thematisiert. Und da »das Verhältnis der Deutschen zu den Engländern […] trotz der ›Schmach von Versailles‹ über lange Zeit wesentlich positiver und entspannter [war] als das zu den Franzosen« (Hausmann 2003: 17), müsste sich die schon bei Engel zu beobachtende Abgrenzung von Frankreich noch intensivieren. Keiner der soeben genannten Punkte lässt sich in Schirmers Geschichte der englischen Literatur nachweisen. Das ist unerwartet und außergewöhnlich, aber durch Schirmers biographischen Hintergrund, nämlich durch seine bekannt unpolitische Haltung, erklärbar: Zum Nachfolger des früh verstorbenen Dibelius wurde 1932 Walter F. Schirmer aus Tübingen berufen, der wiederum ein höchst angesehener Vertreter seines Fachs und damit ein würdiger Nachfolger von Brandl und Dibelius war, jedoch ganz andere Interessen verfolgte. Er war unpolitisch und hielt sich in der bald anbrechenden NS-Zeit so weit wie möglich aus der Politik heraus. (Hausmann 2003: 169)

Zumindest zum Teil wurde Schirmers Bemühen um Neutralität dadurch begünstigt, dass einer seiner Assistenten über beste NS-Kontakte verfügte und sei-

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1. Walter F. Schirmers Geschichte der englischen Literatur (1937)

nen Chef nach außen hin abschirmte (ebd.). Folglich schrieb Schirmer in sehr nüchternem, äußerst neutralem Stil über die englische Literatur, ohne in irgendeiner Weise nationalsozialistisches Gedankengut zu vermitteln. Der Erfolg gab Schirmer Recht, denn seine Literaturgeschichte wurde nicht nur zu ihrer Zeit »sehr positiv aufgenommen« (ebd.), sondern auch nach dem Krieg bis ins Jahr 1983 insgesamt sechs Mal in erweiterter Form aufgelegt, was unmöglich gewesen wäre, wenn sie ideologisch belastet gewesen wäre. Bei den Neuauflagen sind weite Teile der Erstauflage unverändert übernommen worden, was auf ihren unideologischen Charakter hinweist. Leider stellt Schirmer seiner englischen Literaturgeschichte keine Einleitung voran, in der er Stellung zu seinem Literaturgeschichtskonzept nimmt. Die Fragen, was eigentlich grundsätzlich zur Literatur gehört und was englische Literatur ist – ob er also die englische Literatur geographisch wie Weiser oder aber sprachlich wie Engel definiert –, bleiben in Anbetracht des Fehlens expliziter Reflexionen zur Literaturgeschichtsschreibung zunächst unbeantwortet. Bei genauerer Lektüre finden sich in Schirmers Literaturgeschichte jedoch Hinweise, die bei der Beantwortung dieser Fragen helfen. So schließt Schirmer neben Engländern auch Schotten, Iren und Waliser in seine Literaturgeschichte mit ein. Dies weist auf eine geographische Definition englischer Literatur hin. Diese Annahme wird dadurch erhärtet, dass Schirmer zumindest der schottischen Literatur eine zeitweilige Unabhängigkeit bescheinigt, sie aber dennoch in seiner Literaturgeschichte berücksichtigt: Verwandte, aber doch gesonderte Wege ging die Literatur in Schottland. In den politische Selbständigkeit erstrebenden schottischen Kriegen sprach sich das erstarkende Nationalgefühl in einer historischen Dichtung aus, die volkstümliche Helden wie Wallace und Bruce in den Mittelpunkt stellte. (171)

Da Schirmer die schottische Literatur des 15. Jahrhunderts trotz der weitgehenden Selbstständigkeit Schottlands zu jener Zeit mit einschließt, macht er die Zugehörigkeit zur englischen Literatur offenbar nicht von politischen Gegebenheiten abhängig. Auch definiert Schirmer die englische Literatur nicht rein sprachlich, denn er zählt neben in englischer Sprache geschriebenen Texten auch lateinische und französische Schriften zu seinem Kanon. Schirmers Definition von englischer Literatur ist also geographischer Natur, das heißt alles, was auf den britischen Inseln geschrieben wurde, gehört für ihn zur englischen Literatur. Konsequenterweise inkludiert Schirmer denn auch nicht die amerikanische Literatur, wie dies Weiser in seiner Literaturgeschichte praktiziert.82 82 Mit seiner geographischen Definition englischer Literatur folgt Schirmer weitgehend dem, was auch in der englischen Literaturgeschichtsschreibung üblich ist. Vgl. hierzu Rogers (2001: vif.): »We have devoted the limited space at our disposal to what could be called, by a reasonable common-sense usage, the literature in English of the British people. It is, literally, an insular definition, but if one has to draw lines somewhere, coastlines are the least arbitrary.« Auffällig ist allerdings, dass Schirmer mit seiner Be-

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Die besonderen Merkmale von Schirmers Literaturgeschichte

Die Breite von Schirmers Literaturbegriff ist erstaunlich: Neben den gängigen literarischen Gattungen Lyrik, Epos, Drama und Roman finden in seiner Literaturgeschichte auch Textsorten wie Urkunden und Gesetze (40), Übersetzungen (41), Bußordnungen und Predigten (42), historische Werke (54ff.), staatliche Verwaltungsschriften (63), Liedsammlungen (88), Wörterbücher (94) und Heiligenleben (96) Berücksichtigung. Schirmer folgt mit dieser breiten Auslegung des Literaturbegriffs ganz der englischen Literaturgeschichtstradition – und zwar in noch stärkerem Maße als die Literaturgeschichten Engels und Weisers. Fast könnte man meinen, Schirmer würde unter englischer Literatur alle schriftlichen Texte verstehen, die jemals in England verfasst worden sind. Doch eine umfassende Schrifttumsgeschichte ist Schirmers Buch nicht, denn auch er zieht eine klare Trennlinie zwischen der Gesamtheit schriftlicher Texte und einem enger gefassten Literaturbegriff. Einige wenige Bemerkungen zu einzelnen Werken oder Gattungen lassen eine nähere Definition von Schirmers Literaturbegriff zu, also davon, was für ihn Literatur im engeren Sinne ist. Zum Beispiel schreibt er zu Gerefa, einem Werk aus dem 11. Jahrhundert sowie einigen anderen protowissenschaftlichen Werken: Das Buch vom klugen Amtmann besteht fast nur aus Aufzählungen, und die Herbarien, Steinbücher und Rezeptsammlungen sind nur als Übergang zu den Anfängen wissenschaftlicher Literatur bedeutsam. Mit Literatur im eigentlichen Sinne haben sie nichts mehr zu tun. (44)

Gerefa erfüllt aufgrund seines Inhalts und seiner Darstellungsverfahren offenbar nicht die Kriterien für Literatur. Trotzdem verzichtet Schirmer nicht auf die Erwähnung solcher Werke, er markiert sie lediglich als nicht-literarisch. Damit verfolgt er zumindest am Beginn seiner Literaturgeschichte eine Doppelstrategie: Er liefert Ansätze zu einer breit gefächerten Schrifttumsgeschichte bei gleichzeitiger Hervorhebung der tatsächlich literarischen Werke. Ein wenig deutlicher wird Schirmers Literaturbegriff anhand einer Bemerkung zu den historiographischen Werken des 15. Jahrhunderts: Brut und Londoner Chronik sind als geschichtliche und literarische Werke nicht mit der humanistisch gefärbten Historiographie zu vergleichen, aber es sind die gelesensten Geschichtswerke der Zeit, die ebenso für das Erwachen eines historischen Sinnes im Bürgertum Zeugnis ablegen, wie dafür, daß die Trennung von Erdichtetem und Tatsächlichem noch nicht statthat. Es sind die letzten Geschichtswerke, die in die eigentliche Literatur hineingehören, die selbst Literatur sind, so wie es einst Geoffreys Historia war. (188f.)

Obigem Zitat ist zu entnehmen, dass Schirmer unter Literatur im engeren Sinne solche Werke versteht, die zumindest zum Teil fiktionalen Charakter haben, und nicht etwa Schriften, die nur Tatsachen wiedergeben. Solange also Geschichtswerke nicht völlig wissenschaftlich nach modernem Verständnis sind, gehören sie für Schirmer zur Literatur. Geradezu als Prototyp des literarischen Geschichtsrücksichtigung lateinischer und französischer Texte über die in England gängige Definition von englischer Literatur hinausgeht.

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werks scheint Schirmer die Historia Regum Britanniae (1135) von Geoffrey of Monmouth zu betrachten, jenen Text, der unter anderem zur wichtigsten Quelle für die mittelalterliche Artusepik wurde. Diese Abgrenzung von fiktionalen und nicht-fiktionalen und damit nicht-literarischen Texten gilt nicht nur für historiographische Werke, sondern für wissenschaftliche Schriften insgesamt, wie folgende Beobachtung Schirmers demonstriert: Gleichzeitig mit der im 17. Jahrhundert sich vollziehenden Ausbildung der Einzelwissenschaften – wofür Newtons Abspaltung der Naturwissenschaft von der Philosophie beispielhaft ist – wählte sich diese ihr eigenes, von dem der allgemeinen Literatur verschiedenes Publikum. Je mehr damit auch die Philosophie, obgleich nun englisch geschrieben und oft in künstlerischer Art dargestellt, die im Mittelalter bestehende enge Bindung mit der allgemeinen Literatur löste, um so mehr wurde die Dichtung mit philosophischem Stoff belastet. (296)

Diese Bemerkung Schirmers zeigt allerdings auch, dass er mit zwei unterschiedlichen Literaturbegriffen arbeitet – zum einen mit dem engeren der ›allgemeinen Literatur‹, zum anderen mit einem weiter gefassten Begriff, der auch noch rein wissenschaftliche Werke umfasst. Obwohl er immer wieder darauf verweist, dass bestimmte Gruppen von Werken nicht zur ›allgemeinen Literatur‹ gehören, schenkt er diesen doch Beachtung. Schirmer folgt dieser schon am Beginn seiner Literaturgeschichte angelegten Doppelstrategie bis ins 19. Jahrhundert, wie der nachstehende Kommentar andeutet: »Während die in der neueren Zeit aufblühenden Literatur- und Geschichtsdarstellungen durch Ausbildung und Verschärfung eigener Methoden sich zu einer Literatur- und Geschichtswissenschaft verselbständigten, blieb der Essay innerhalb der Literatur im engeren Sinne« (527). Trotz dieser Feststellung widmet Schirmer neben der zu erwartenden Betrachtung der Essayisten zusätzlich dem Historiker Macaulay sowie anderen Historiographen einen ganzen Abschnitt. Obwohl er mit zwei unterschiedlich weit reichenden Literaturbegriffen arbeitet, ist Schirmers Literaturgeschichte keine wirkliche Schrifttumsgeschichte, denn viele Bereiche des Schrifttums, wie beispielsweise moderne Gesetzestexte, Tageszeitungen und praktische Handbücher bleiben auch unter dem weiteren seiner Literaturbegriffe unberücksichtigt. Selbst mit seinem enger gefassten Literaturbegriff geht Schirmer allerdings weit über das hinaus, was die deutsche Tradition der Literaturgeschichtsschreibung unter Literatur versteht. Wurde bis jetzt untersucht, welche Werke Schirmer überhaupt berücksichtigt, soll nun beleuchtet werden, welche Qualitäten ein Werk aufweisen muss, um ausführlicher betrachtet zu werden. Hierbei hilft eine deutlich wertende Bemerkung Schirmers zu den puritanischen Predigern des 17. Jahrhunderts weiter: Ein strenger Calvinist wie John White bringt in ernster Predigt Trunkenheitsbeispiele und Geschichtchen, die an die volkstümliche Predigt der Bettelmönche erinnern. Das ist kein literarischer Gewinn, und die überwältigende Pre-

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Die besonderen Merkmale von Schirmers Literaturgeschichte digtmasse der späteren Puritaner, der Presbyterianer und Independenten […] ist ohne künstlerische Bedeutung. (350)

Literatur muss also künstlerisch von Belang sein, um in Literaturgeschichten nicht nur erwähnt, sondern auch ausführlicher behandelt zu werden. Was Schirmer allerdings unter ›künstlerisch‹ oder ›Kunst‹ versteht, wird erst durch ein weiteres Zitat, diesmal zu John Bunyans Pilgrim’s Progress, klar: Den Hauptanteil an dieser künstlerischen Bedeutung hat die von Bunyan als praktisches Mittel zur Veranschaulichung gebrauchte Allegorie, denn da er notgedrungen Dinge und Menschen seiner Umgebung und nicht begrifflich schattenhafte Versinnlichungen der Tugenden und Laster schilderte, wirkt seine Darstellung wie ein Nachschaffen des wirklichen Lebens, also als Kunstwerk. (362)

Das ›Nachschaffen‹ – also die Wahrnehmung des Lebens durch die Augen des Künstlers sowie die darauf folgende Darstellung – macht für Schirmer Kunst und Literatur im engeren Sinne aus. Damit vertritt Schirmer eine mimetisch geprägte Literaturauffassung.83 Der künstlerische Wert allein reicht aber noch nicht aus, damit ein Autor oder ein Werk in einer Literaturgeschichte Berücksichtigung findet. Der Autor und sein Schaffen müssen auch den so genannten ›test of time‹ bestehen, wie Schirmer im Abschnitt ›Kleinere Dichter‹ des Zeitalters des Realismus bestätigt: »Einige aber, wie die in diesem Abschnitt vereinten, haben bereits die Probe der Zeit bestanden« (542); und auch das »epische[…] Werk« (568) von Charles Dickens hat seiner Meinung nach »heute die zeitliche Probe von fast einem Jahrhundert bestanden« (568). Die Werke eines Autors müssen also einerseits von künstlerischem Wert sein und andererseits über ihren Entstehungskontext hinaus rezipiert werden, um einen Platz in der Literaturgeschichte zu erhalten.

83 Zum Konzept der Mimesis vgl. Zapf (2001: 441f.): »Zu ihrem Gegenstand hat die M[imesis] die Welt menschlicher Handlungen, die sie mit den imaginativen Mitteln der Sprache vergegenwärtigt. […] Die Formen der M[imesis] sind je gattungsspezifisch unterschiedlich, sie orientieren sich aber neben den allg. ästhetischen Kriterien von Rhythmus, Harmonie und Proportionalität an der v. a. in Handlungslogik, Charakterzeichnung und zeitlich-räumlicher Konsistenz ausgedrückten Analogiebeziehung der Fiktion zur Realität. Die Wirkung der künstlerischen M[imesis] schließlich beruht auf der Freude der Rezipienten an der erfolgreich inszenierten Nachahmung, die zum identifizierenden Mit-Spielen der nachgeahmten Handlungen führt und dabei höchst intensive Reaktionen zwischen Mitgefühl und Betroffenheit auslöst. Die M[imesis] hatte seit der Renaissance bis zum Klassizismus große Bedeutung als Prinzip der Nachahmung der ›Natur‹, trat in der Romantik zurück, erfuhr im Realismus und Naturalismus des 19. Jh.s neue Aufwertung und hat auch im 20. Jahrhundert in einem realistisch-humanistischen Strang der Lit.geschichte und in realistisch geprägten Lit.theorien (marxistische Lit.theorie; Chicago-Schule) eine allerdings durch Moderne und Postmoderne grundlegend in Frage gestellte Rolle gespielt.« Schirmers Geschichte der englischen Literatur gehört also offensichtlich dem realistisch-humanistischen Strang der Literaturgeschichte an.

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Da nun geklärt ist, wie Schirmer Literatur definiert und welche Kriterien ein Werk seiner Ansicht nach erfüllen muss, um zur Literatur im engeren Sinne gezählt zu werden, soll anschließend untersucht werden, ob Schirmer ein Literaturkonzept vertritt und wie dieses aussieht. Gibt es seiner Meinung nach bestimmte Voraussetzungen für das Entstehen von Literatur insgesamt? Glaubt er wie Weiser an ein zyklisches Auf und Ab der Literaturqualität, oder sieht er wie Engel das unberechenbare und unvorhersagbare Genie als Nukleus großer Literatur? Gibt es für Schirmer einen allgemeingültigen und zeitlosen Bewertungsmaßstab für literarische Werke? Auf diese Fragen gibt Schirmer – wenn überhaupt – nur implizite Antworten. Hinweise auf sein Literaturkonzept liefert zum Beispiel die folgende Bemerkung zum Historiographen Edward Hyde, Earl of Clarendon aus dem 17. Jahrhundert: »Modern ist der große Plan, die Gabe umfassenden Blickes, mit dem eine politische Gesamtlage, ein Sittenbild, ein Mensch in seiner Umwelt gesehen und wiedergegeben ist« (357). Zwar spricht er hier in erster Linie vom Earl of Clarendon, doch die Praxis, Menschen und ihre Werke in ihrer Zeit zu sehen und von ihrer Zeit und ihrer Kultur her zu beurteilen, ist auch in Schirmers Literaturgeschichte zu beobachten. Dabei handelt es sich um ein Grundproblem der Literaturgeschichtsschreibung: Beurteilt man ein literarisches Werk mit den Maßstäben, die zur Zeit seiner Entstehung Gültigkeit besaßen, oder bewertet man es gemäß moderner Theorien und dem modernen Publikumsgeschmack folgend? Schirmer versucht, beides miteinander zu vereinen: Er legt zwar moderne Bewertungsmaßstäbe an literarische Werke an, aber er versucht doch gleichzeitig auch, bei seinen Lesern Verständnis für die jeweiligen zeit- und kulturbedingten Eigenheiten literarischer Texte zu erzeugen. Beispiele hierfür finden sich häufiger. So schreibt er zu Geoffrey von Vinsaufs rhetorisch-technischem Lehrbuch der Poesie mit seinen zahlreichen Musterbeispielen: »Der moderne Beurteiler möchte sie Musterbeispiele des schlechten Geschmacks nennen, aber mittelalterliche Dichtung ist nach ihren eigenen Maßstäben zu werten« (66). Und zu John von Salisburys Metalogicon aus dem 12. Jahrhundert bemerkt er: Der belehrende Vortrag ist von Beispielen und Kritik unterbrochen, die Darstellung der Philosophie von Geschichten umrankt. Das entsprach dem Zeitstil, der weniger methodisch gearbeitete Begriffsentwicklungen liebte, als eindringliche Sentenzen, deren Bedeutung verallgemeinernde Beispiele erhärteten. (71)

In gleicher Weise wie den ›Zeitstil‹ deklariert Schirmer auch den Publikumsgeschmack einer bestimmten Periode als spezifisch. Zum Dramatikerduo Beaumont und Fletcher aus dem 17. Jahrhundert schreibt er beispielsweise, dass »das damalige Publikum die reiche und verwickelte Handlung [liebte], was man zu Drydens Zeiten ›the Spanish plot‹ nannte« (276). Und genauso wie den Stil literarischer Werke stellt Schirmer auch ihre Rezeption und den Geschmack der Leser als diachron veränderlich dar. So hat beispielsweise »der moderne Leser […] die Fähigkeit verloren, einen Roman als Prosagedicht zu genießen, er liest schneller, als es der Prosakunststil Sidneys erlaubt« (229). Bestimmte Werke, die zu ihrer Zeit

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durchaus erfolgreich gewesen sind, können damit für Schirmers zeitgenössischen Leser zur literarischen Bedeutungslosigkeit verkommen sein. Völlig wertlos sind solche Werke für Schirmer dennoch nicht, denn sie geben noch immer Aufschluss über die Kultur, die zur Zeit ihrer Entstehung herrschte. Ein Beispiel für ein solches Werk liefert Schirmer mit Samuel Butlers Hudibras aus dem 17. Jahrhundert: Am Hofe Karls II., wo man den Hudibras mehr als politische Flugschrift denn als Dichtung wertete, wurde er ein Lieblingsbuch, aber schon der Klassizismus stand ihm fremd gegenüber, und für eine spätere Zeit konnte dies zeitbedingte Werk nur als kulturgeschichtliches Bild Bedeutung haben. (321f.)

Zwar reduziert Schirmer die Bedeutung von Werken wie Hudibras auf eine rein kulturgeschichtliche, er macht aber mit der Aufnahme dieser Schrift in seine Ausführungen gleichzeitig indirekt deutlich, dass es die Aufgabe der Literaturgeschichte ist, solche Werke zu bewahren – eben weil die Nachwelt durch sie Aufschluss über die Entstehungszeit solcher Schriften gewinnen kann. Dies deutet eine Auffassung von Literaturgeschichte als kulturwissenschaftlichem Archiv an. Es wurde schon gesagt, dass Schirmer sich einerseits Mühe gibt, Werke im Kontext ihrer Zeit und ihrer Kultur zu beurteilen, aber andererseits durchaus auch moderne Bewertungsmaßstäbe anlegt. Nirgends werden letztere deutlicher als in seinen Bemerkungen zu den Romanen von Sir Walter Scott. Hier macht Schirmer recht deutlich, was er von Literatur erwartet und wie die Kriterien seiner Literaturkritik aussehen: Wir, die wir durch die realistische Schule gegangen sind, stoßen uns daran, daß der Autor, an sich einer der objektivsten, so oft dazwischengreift, daß Monolog und Dialog so oft fern von der Wirklichkeit sind. Wir stoßen uns daran, daß eine moralische Vorsehung die Geschichte zu einem gefühlvoll guten Ende führt, denn diese herkömmlichen Liebesgeschichten scheinen uns schlecht in die sonst wirklichkeitshelle Welt Scotts zu passen. […] Wir stoßen uns ferner an seiner Auffassung von Geschichte; sie ist oft mit Sorgfalt dargestellt […], doch sah Scott nur das Wunschbild des Mittelalters, wie ein Knabe es sich erträumen mag, mit Turnieren, Hofleben, Ritterabenteuern und Damenkult. Die Nachtseiten sozialer Erschütterungen blieben ebenso unbeachtet wie die Inbrunst religiösen Suchens. Scotts Geschichte ist ein Trachtenaufzug, das Ganze ist uns zu sehr Oberfläche, Oberfläche auch im Menschlichen. So gut er beobachtete, so treffend er Nebengestalten hinzustellen wußte, die Hauptcharaktere bleiben trotz aller genauen Beschreibung menschlich blaß. Er konnte nur von außen sehen und machte seine Heldinnen zu Puppen, von deren Seele wir nichts wissen. Er hatte nicht viel Sinn für das Psychologische und versuchte gar nicht, das ewig Menschliche herauszuholen. (468)

In der Kritik an Scott wird abermals deutlich, dass Schirmer einem realistischmimetischen Literaturverständnis verpflichtet ist. Bewertungsmaßstäbe sind folglich authentisch wirkende Darstellungen von sozialer Realität, Figuren und Sprache. Der Neologismus ›wirklichkeitshell‹ bringt komprimiert zum Ausdruck, worum es Schirmer geht. Darüber hinaus sieht man, dass Schirmer bei aller Objektivität durchaus Werturteile vermittelt. Er lobt die Vorzüge literarischer Werke

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und tadelt ihre Mängel. Bei alledem hält sich Schirmer allerdings sehr zurück – er gerät nie in die ›Heldenverehrung‹, die Engel öfter an den Tag legt, und er wird nie so ausfallend wie Engel gegenüber den Autoren, die dessen Missfallen erregen. Ein Beispiel für die Zurückhaltung, die Schirmer übt, ist seine Bewertung William Shakespeares. Dieser wird von Schirmer zwar – wie bei Engel – als größter englischer Dramatiker gefeiert, nicht aber als ›Literaturheld‹ oder Genie dargestellt. Nach Schirmers Ansicht erfindet Shakespeare das Drama nicht neu, sondern er baut auf den Werken und Leistungen seiner Vorgänger auf: »Wie die Komödie durch Lyly und seine Genossen vollendet und Shakespeare übergeben wurde, so die Tragödie durch Marlowe und Kyd« (240). Shakespeare steht folglich nicht als Genie über seiner Zeit und seiner Kultur, so wie Engel es sieht; er führt nur eine Entwicklung fort, die vor seiner Zeit begonnen hatte. Obwohl Schirmer damit dem Geniegedanken Engels widerspricht, bewertet er die Leistung Shakespeares ausgesprochen positiv: So ist um 1590 das englische Drama in allen seinen Zweigen voll entwickelt, und fast hat es den Anschein, als ob der mit Lyly und Marlowe erreichte Höhepunkt nicht länger haltbar sei. Da erscheint Shakespeare; allumfassend wie keiner seiner Vorläufer und Mitdramatiker, führt er das Renaissancedrama zu ungeahnter Höhe, indem er es, um es mit den schlichtesten Worten zu sagen, menschlicher machte. (243)

Obige Aussage ist mit ihrem Verweis auf das ›menschlichere‹ Renaissancedrama zum einen ein erneuter Beleg für Schirmers mimetisches Literaturkonzept und hat zum anderen nicht viel gemein mit dem überschwänglichen Lob, das Engel dem Dramatiker zollt. Ebenso zurückhaltend ist Schirmer denn auch, wenn er kritisiert. So möchte er die Literarhistoriker, die Zweifel an der Autorenschaft Shakespeares äußern, nicht am liebsten in die Irrenanstalt stecken, wie Engel es vorschlägt, sondern er befindet ganz nüchtern: Der nach diesen nicht von Shakespeare durchgesehenen Drucken hergestellte Text der modernen Ausgabe wird vielfach von des Dichters Manuskript abweichen, und die Beantwortung der Echtheitsfrage ist erschwert, weil nach damaligem Brauch viele der Dramen mehr oder weniger Überarbeitungen älterer Stücke sind und bei einigen eine Mitverfasserschaft anderer Dramatiker anzunehmen ist. Dagegen sind die Versuche, Bacon oder einen anderen als Verfasser der Shakespearedramen zu erweisen, nur als Vermutungen zu bewerten. (244)

Nicht nur in Bezug auf Shakespeare übt sich Schirmer in Zurückhaltung, auch seine Urteile über andere berühmte englische Literaten fußen eher auf Fakten denn auf persönlicher Begeisterung oder Abneigung. So befindet er beispielsweise zu Sir Philip Sidney: Sidney war der erste Mann seiner Zeit; aus altem Adel, mit allen wissenschaftlichen, künstlerischen und politischen Größen auf vertrautem Fuße, in ganz Europa weitgereist, ein Staatsmann mit genauer Kenntnis der politischen

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Die besonderen Merkmale von Schirmers Literaturgeschichte Verhältnisse, umgeben von dem romantischen Schimmer des großen Liebenden, […] und schließlich als tapferer Soldat auf dem Schlachtfeld fallend, vereinte er alle Ideale der Zeit in seiner Person. (227)

Und zu Alexander Pope schreibt er: Die dichterische Schulung des als Katholik von den höheren Bildungsanstalten Ausgeschlossenen geschah in ländlicher Einsamkeit unter Büchern und Freunden, die einer anderen Altersstufe angehörten, was zusammen mit der Bedrückung durch einen gebrechlichen, verwachsenen Körper bei einem durchdringend scharfen Geist ein empfindliches Selbstbewußtsein zum Grundzug seines Wesens machte. (389)

Vergleicht man die Behutsamkeit dieser Beschreibungen Sidneys und Popes mit den Urteilen, die Engel seinen Lesern präsentiert, wird deutlich, dass Schirmer kein Interesse daran hat, Heldenverehrung zu betreiben oder einen Autor zu verdammen. Während Engel über die Autoren der Vergangenheit streng zu Gericht sitzt, bemüht Schirmer sich um eine möglichst objektive Darstellung, die manchmal Anerkennung zollt – wie bei Sidney – und manchmal Nachsicht übt – wie bei Pope. Schirmer verurteilt dabei Charakterzüge nicht, sondern erklärt sie mit sozialen oder psychologischen Faktoren. Schirmer interessiert sich insgesamt weniger für Persönlichkeit und Leben eines Autors als für dessen Werk. Er gibt meist nur minimale biographische Daten preis, und auch das meist nur bei wichtigeren Autoren. Dafür legt Schirmer großen Wert auf die Werke und deren Beurteilung. Diese Abschnitte sind bei weitem ausführlicher als die über das Leben der Autoren, und sie beleuchten Stil, Figurencharakterisierung, Themen und Motive, Handlungsführung und die Komposition der Werke sowie ihre Wirkung auf den Leser oder das Publikum. Zudem legt Schirmer oft das Kunstverständnis der Autoren dar (wie bei den einzelnen Dichtern der Seeschule, 476ff.) und verweist auf die Vor- und Nachteile ihrer Schriften. Dazu gibt Schirmer fast immer zumindest eine kurze Zusammenfassung des Inhalts der untersuchten Werke, bietet aber nie Textauszüge. Diese Betrachtungsweise Schirmers bezüglich Autor und Werk hat nichts mit dem ›life-and-letters‹Ansatz der englischen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung gemein. Er ist in seiner ausführlichen Analyse vielmehr werkzentriert und folgt damit eher der deutschen Tradition. Die Urteile, zu denen Schirmer gelangt, fußen denn auch nicht auf der Persönlichkeit des Autors, sondern auf ästhetischen Befunden. Deutlich wird dies am Beispiel des William Wallace, im Jahr 1461 von einem gewissen Blind Harry geschrieben. Über den Autor selbst kann Schirmer so gut wie nichts sagen, über die ›Qualitäten‹ des Werkes allerdings schon: »Hier fehlen Ordnung, Würde und historisches Wissen, Wallace ist nicht ritterlicher Held, sondern durch dichterisches Unmaß und spielmännische Anpassung an niederen Volksgeschmack zur patriotischen Puppe erniedrigt« (171). Nachfolgend werden nun die strukturellen Merkmale von Schirmers Literaturgeschichte eingehender betrachtet. Auf insgesamt 679 eng bedruckten Seiten, von denen über 60 für eine ausführliche Bibliographie verwendet werden, was das

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Bemühen um Wissenschaftlichkeit unterstreicht, präsentiert Schirmer einen gewaltigen Kanon von 1400 Autoren sowie Werken, deren Verfasser unbekannt sind. Der Kanon Schirmers ist damit mehr als zwölf Mal so groß wie der von Weisers Überblicksdarstellung, und mehr als elf Mal so groß wie der von Engel auf 670 Seiten präsentierte. Die quantitativen Unterschiede machen sich vor allem auf der dritten und vierten Hierarchieebene bemerkbar, während Spitzen- und Umgebungskanon von ihnen kaum betroffen sind. In Schirmers Spitzenkanon, der hier mit fünf oder mehr Seiten je Autor definiert wird, finden sich insgesamt zehn Autoren. Wie üblich ist William Shakespeare mit zwanzig Seiten Text unangefochtener Spitzenautor. Mit einigem Abstand folgen ihm Geoffrey Chaucer und John Milton mit jeweils knapp zehn Seiten. Den restlichen Autoren seines Spitzenkanons – Edmund Spenser, Ben Jonson, John Dryden, Alexander Pope, Samuel Taylor Coleridge und Percy Bysshe Shelley – widmet Schirmer immerhin noch zwischen fünf und sieben Seiten. Obwohl mit Shakespeare, Milton und Chaucer die ›Großen Drei‹ der englischen Literatur auch bei Schirmer im Spitzenkanon zu finden sind, zeigen sich doch im Vergleich zu Engel und Weiser schon signifikante Unterschiede. So ist Byron – ganz untypisch für eine deutsche Geschichte englischer Literatur – nicht mehr im Spitzenkanon vertreten, sondern in den Umgebungskanon abgesunken, und Robert Burns, der in Engels Spitzenkanon eine prominente Position einnimmt, findet sich bei Schirmer gar nur auf der dritten Hierarchieebene. Dafür sind mit Ben Jonson, Dryden und Coleridge Autoren in den Spitzenkanon aufgerückt, die bei Weiser und Engel nur im Umgebungskanon oder auf der dritten Ebene angesiedelt sind. Der Umgebungskanon Schirmers umfasst 34 Autoren, denen jeweils mehr als zwei und weniger als fünf Seiten gewidmet werden. Das sind fast ebenso viele wie in Engels Umgebungskanon, und auch die Zusammensetzung ist recht ähnlich, finden sich hier doch mit Marlowe, Swift, Defoe, Scott und Dickens die gleichen prominenten Namen. Es wurde schon angesprochen, dass Schirmer einen weiteren Literaturbegriff verwendet, und mit der Berücksichtigung des Historiker Thomas Carlyle, des Kunstkritikers John Ruskin und der literaturkritischen Schriften Matthew Arnolds sind in Schirmers Umgebungskanon auch Schriftsteller bzw. Werke vertreten, die bei einer engeren Fassung des Literaturbegriffs keine Erwähnung gefunden hätten. Auf der dritten Hierarchieebene zeigen sich ausgesprochen große Unterschiede zwischen dem Kanon Schirmers und dem Engels sowie Weisers: Umfasst diese Ebene bei Engel etwa 50 Autoren und bei Weiser 44, ist sie bei Schirmer auf fast 300 Autoren und Werke angewachsen. Dieser gewaltige Unterschied erklärt sich vor allem aus dem den Literaturgeschichten jeweils zugrundeliegenden Konzept: Engel beschränkt sich bewusst auf die seiner Meinung nach bedeutenden Autoren und widmet diesen im Durchschnitt wesentlich mehr Text als Schirmer. Das geht zu Lasten der in Engels Augen ›unwichtigeren‹ Autoren. Und Weiser kann in seiner kurzen Literaturgeschichte ohnehin nicht jeden Autor berücksichtigen, da er einfach nicht den Platz dazu hat. Schirmer dagegen legt sich weder selbst Be-

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schränkungen auf wie Engel, noch hat er zu wenig Raum wie Weiser. Mit seinem ausgesprochen weiten Literaturbegriff, seiner Berücksichtigung nicht nur der englischen Werke, sondern auch der Schriften in französischer und lateinischer Sprache sowie seinem impliziten Anspruch, die Gesamtheit der englischen Literatur zu betrachten, befasst sich Schirmer folglich auch mit den Autoren, die bei anderen deutschen Literaturwissenschaftlern ›unter den Tisch gefallen sind‹. Und er tut dies recht gründlich auf jeweils bis zu zwei Seiten. Ist schon die dritte Hierarchieebene Schirmers wesentlich umfangreicher als der gesamte Kanon bei Engel oder Weiser, wird diese an Quantität von der vierten Hierarchieebene noch weit übertroffen. Hier nennt Schirmer nämlich etwa 1000 Autoren bzw. Werke, deren Verfasser nicht bekannt sind. Auch diese große Zahl ist bedingt durch Schirmers weiten Literaturbegriff sowie seinen Hang zur Vollständigkeit. Zum Vergleich: Bei Engel umfasst diese Hierarchieebene etwa 80 Autoren, bei Weiser sind es lediglich etwa 40. Schirmer verteilt seinen enorm umfangreichen Kanon auf insgesamt fünf ›Bücher‹. Die Titel dieser Bücher sowie ihre weitere Untergliederung in einzelne Abschnitte geben Auskunft über die von Schirmer verwendeten Ordnungskriterien. Zunächst verwendet er für seine oberste Gliederungsebene, die fünf ›Bücher‹, kulturelle bzw. geistesgeschichtliche Kriterien. So nennt er das erste Buch, das die angelsächsische Zeit umfasst, ›Die germanische Welt‹, gefolgt von ›Das romanische und gotische Mittelalter‹. Das dritte Buch nennt er ›Die Zeit der Renaissance‹, das vierte ›Barockzeit und Klassizismus‹ und das fünfte ›Romantik und Realismus‹. Indem er die aus der Kunstkritik stammenden Begriffe für die Benennung seiner Literaturepochen verwendet, folgt Schirmer der deutschen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung und nicht der englischen. In einem zweiten Schritt unterteilt Schirmer Literaturepochen in Jahrhunderte. Dabei handelt es sich jedoch meist um eine Konzession an rein praktische Erwägungen, wie ein Kommentar Schirmers zeigt: »Das Jahr 1300 bildet kaum eine Schwelle. Alle im vergangenen Jahrhundert angefangenen Bewegungen wurden im 14. weitergeführt« (108). Und auch die von Schirmer verwendeten Perioden sind für ihn weniger scharfe Zäsuren im Literaturschaffen als vielmehr gleitende, langsame Übergänge: »Der Anfang der ›Renaissance‹ war in England mehr ein Übergang als ein Neueinsetzen […]. Am ehesten ist das Neue in der politischen Geschichte fühlbar und der mit ihr in Wechselwirkung stehenden sozialen Umwälzung« (157). Die in der englischen Literaturgeschichtsschreibung übliche Unterteilung des literarischen Schaffens nach Perioden, die nach den jeweiligen Monarchen benannt sind, übernimmt Schirmer nicht. Selbst das sonst unvermeidbare ›Viktorianische Zeitalter‹ benennt er nach der vorherrschenden literarischen Strömung ›Realismus‹. Wohl ist sich Schirmer aber der englischen Tradition der Epocheneinteilung bewusst, auf die er bezüglich der Lyriker des beginnenden 20. Jahrhunderts hinweist: »Neben ihm [W.B. Yeats] erscheinen die Georgians, unter welchem Namen man nach englischem Brauch die Dichter der Regierungszeit Georgs V. zusammenfaßt, von untergeordneter Bedeutung« (548). Die Benennung

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literarischer Epochen nach Monarchen oder politischen Ereignissen kommt für Schirmer allerdings nicht in Frage, denn für ihn ist die Geistesgeschichte das Kriterium, das die Literaturen verschiedener Epochen voneinander unterscheidet,84 wie folgender Kommentar zum Klassizismus belegt: Die Dichtung dieser Zeit [Klassizismus] war ihrem Wesen nach nicht lyrisch, sondern lehrhaft oder kritisch-satirisch. Die leidenschaftlich hemmungslose, selbstquälerische und metaphysisch-grübelnde Barockdichtung hatte ihre Zeit gehabt; schon die Restauration hatte die Poesie auf das Diesseits verwiesen, klare Verständlichkeit statt verkrampften Ausdrucks gefordert und in der Vernunft das Tor gesehen, aus dem helles Licht in die nebelhafte Welt menschlichen Empfindens einströmte. Diese Vorarbeit gestaltete der Klassizismus zum System. (380)

Aber auch die durch Geistesströmungen definierten Epochengrenzen bilden für Schirmer keine klare Zäsur, sondern er sieht – wie bei den Jahrhunderten – an ihrem Beginn und ihrem Ende eine Zeit des gleitenden Übergangs. Zum Klassizismus des 18. Jahrhunderts schreibt er beispielsweise in diesem Sinne: »Die Wochenschriften enthüllen eine Zeit, in der sentimentale und rein vernunftgemäße Ansprüche noch nebeneinander herlaufen« (419). In einem dritten Gliederungsschritt untersucht Schirmer für jedes Jahrhundert separat die einzelnen Literaturgattungen. Dabei trennt er beispielsweise das 18. Jahrhundert fein säuberlich auf in die drei Kapitel ›Die Dichtung‹, ›Die Prosa‹ und ›Das Drama‹. Diese Kapitel werden in einem vierten und letzten Gliederungsschritt noch einmal in Paragraphen für die einzelnen Untergattungen aufgegliedert. Um beim 18. Jahrhundert zu bleiben: Hier unterteilt Schirmer sein Kapitel über ›Das Drama‹ in ›Lustspiel und Prosa‹, ›Die empfindsame Komödie‹, ›Goldsmith und Sheridan‹, ›Die klassizistische Tragödie‹ und ›Das bürgerliche Trauerspiel‹. Auf dieser vierten Gliederungsebene finden sich häufig Paragraphen, die sich einzelnen Autoren widmen. Auch in solchen Fällen neigt Schirmer allerdings dazu, die verschiedenen Werke eines bestimmten Autors primär den Gattungen zuzuordnen. Zu Shakespeare finden sich beispielsweise gleich mehrere zusammenhängende Paragraphen, die sich seinen Dramen widmen; seine Sonette behandelt Schirmer dagegen im Paragraphen ›Spenser und die elisabethanische Lyrik‹. Gattungen stellen also offenbar für Schirmer eine wichtige Ordnungskategorie der Literaturgeschichtsschreibung dar. Diese Praxis verfolgt Schirmer allerdings nicht immer konsequent. Er nennt etwa ein ganzes Kapitel ›Die epische Dichtung und John Milton‹ und untersucht in diesem neben Miltons Epen auch noch seine Dichtung und seine Streitschriften; die Predigten Miltons werden aber wiederum in einem anderen Kapitel behandelt.

84 Vgl. zum Begriff ›Geistesgeschichte‹ Simonis (2001: 216): »Die Geistesgeschichte der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts tritt auf als eine methodische Richtung, die literarische Texte als Ausdruck und Zeugnis einer übergeordneten Instanz auffaßt, die als ›Geist‹ oder ›Zeitgeist‹ bezeichnet wird.«

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Deutschland und Frankreich

Die vierte Gliederungsebene in Schirmers Literaturgeschichte ist auch der Ort, an dem er Auskunft gibt über die Bedeutung, die ein Autor für eine Gattung hatte. Solche Aussagen finden sich zum einen in Bezug auf große Autoren, wie dem im Spitzenkanon angesiedelten Chaucer: Zum Ende des 14. Jahrhunderts, als Petrarca und Boccaccio nicht mehr lebten, und Frankreich überhaupt keine großen Dichter aufzuweisen hatte, war Chaucer der größte Dichter Europas, und es ist kein Wunder, daß sein Einfluß die ganze englische Dichtung des 15. Jahrhunderts überschattete. (153)

Die Wirkung auf die Literatur beschreibt Schirmer zum anderen aber auch bei Autoren der unteren Hierarchieebenen wie Jeremy Taylor, einem Verfasser von Predigten aus dem beginnenden 17. Jahrhundert: »Seine große Bedeutung liegt im Künstlerischen, er war der Meister der englischen Barockprosa« (347). Eine Positionierung auf einer der unteren Hierarchieebenen innerhalb Schirmers Kanon bedeutet also nicht zwangsläufig, dass der betreffende Autor keine Bedeutung für eine Subgattung hatte. Auch wenn die Subgattungen die vierte und damit letzte Gliederungsebene in Schirmers Literaturgeschichte bilden, sind sie doch keineswegs unwichtig. Denn gerade auf dieser Ebene verfolgt Schirmer ganz genau, wie sich eine Gattung und ihre Untergattungen im Laufe der Zeit verändert und weiterentwickelt haben. Würde man die einzelnen Abschnitte über eine Gattung aus der von Schirmer präsentierten diachronen Ordnung herausnehmen und in direkter Abfolge lesen, käme eine erstklassige Gattungsgeschichte dabei heraus. Die genaue Beleuchtung der einzelnen Gattungen untermauert Schirmer dadurch, dass er auch Randgebiete berücksichtigt, die mit Literatur im engeren Sinne nichts zu tun haben, für die Gattungen aber doch von Interesse sind. So erläutert Schirmer, wie Mysterienspiele inszeniert wurden (122ff.), wie die englische Bühne zur Zeit Shakespeares aufgebaut war (236ff.) oder welchen Einfluss die Musik hatte (293). Da Schirmer zudem auf das Universitätswesen (62ff.) und die Architektur (82 und 293) eingeht, entsteht in seiner Literaturgeschichte ein recht umfassendes kulturgeschichtliches Bild Englands mit besonderem Augenmerk auf der Gattungsentwicklung. Deutschland und Frankreich Wie schon weiter oben erwähnt, bemüht sich Schirmer nicht darum, England als mit Deutschland besonders eng verwandt darzustellen. Genauso wenig distanziert er England und Deutschland von ihrem romanischen Nachbarn Frankreich. Schirmer bezieht sich in seiner Literaturgeschichte überhaupt selten auf Deutschland. Nur gelegentlich erwähnt er Deutschland, beispielsweise wenn sich ein englischer Autor, wie Sir Walter Scott, für deutsche Literatur begeisterte (464), zeitweise in Deutschland lebte, wie Samuel Taylor Coleridge (479), oder von deutscher Literatur oder Philosophie beeinflusst wurde, wie William Wordsworth (484) und Thomas Carlyle (517). Letzteren bezeichnet Schirmer denn auch als besten »Mittler deutscher Kultur in England« (ebd.). Zuweilen finden sich Ver-

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weise darauf, wie deutsche Literaten wie Lessing englische Literatur bewertet haben (490), und noch viel seltener direkte Vergleiche zwischen deutscher und englischer Literatur. Eines der raren Beispiele hierfür ist Schirmers Vergleich der deutschen und englischen Historiographie in der Romantik: »Während Deutschland eine große Zahl auch literarisch bedeutender Historiker aufzuweisen hat, sind die englischen Geschichtsschreiber nur innerhalb ihres Faches oder aus stofflichen Gründen erwähnenswert. […] Auch an Weite steht […] England hinter Deutschland zurück« (504). Dass Schirmer seine Literaturgeschichte nicht funktionalisieren möchte, um seinen Lesern eine besondere Nähe Englands und Deutschlands zu beweisen, ist auch daran zu erkennen, dass er englische Literaten oder Figuren aus der englischen Literatur nicht als von ihrer Veranlagung her ›deutsch‹ bzw. ›germanisch‹ darstellt, wie dies in der älteren anglistischen Literaturwissenschaft in Deutschland gerne getan wurde. So sieht er beispielsweise im Melancholiker Hamlet aus Shakespeares gleichnamigem Drama keine ›typisch deutschen‹ Charakterzüge,85 sondern er erklärt Hamlets Zögern vielmehr kulturgeschichtlich mit der zu Shakespeares Zeit gängigen Lehre von den ›humours‹, also den Körpersäften, die nach damaliger Überzeugung das Temperament eines Menschen bestimmten: »Shakespeare motivierte das mit der zu seiner Zeit gültigen medizinischen Anschauung von den Temperamenten. Hamlets seelische Veranlagung ist die des Melancholikers, eines Modetypus, den die Zeit als Krankheitstypus ansah« (258). Auch den Charakter Byrons, der in älteren deutschen Geschichten englischer Literatur nicht zuletzt deshalb stets einen Platz im Spitzenkanon fand, weil deutsche Anglisten in ihm eine Melancholie entdeckten, die sie auch als typisch für die deutsche Mentalität erachteten, erklärt Schirmer ganz aus dessen individual-biographischen Veranlagungen heraus: »Die Anlagen Zerrissenheit und Weltschmerz waren durch Erbgut, Erziehung und frühe Liebesenttäuschung (Mary Chaworth) gegeben und das Vergessen-suchen in Ausschweifungen vollendete den ›Byronischen Charakter‹« (488). Auch hier stellt Schirmer keinen Bezug zu Deutschland her, was vielleicht auch der Grund dafür sein mag, dass Byron in Schirmers Literaturgeschichte nicht zum Spitzenkanon gehört. Der Verzicht Schirmers auf eine Betonung der gemeinsamen germanischen Wurzeln Englands und Deutschlands heißt jedoch nicht, dass er niemals auf die germanische Herkunft der Einwohner Englands hinweist. Diese Bezüge finden sich vorwiegend am Beginn von Schirmers Literaturgeschichte, denn die germanische Kultur der Angelsachsen hatte nach Schirmer nur bis ins 10. Jahrhundert Bestand, wofür er das Vordringen des lateinischen Christentums und vor allem die benediktinische Reform des 10. Jahrhunderts verantwortlich macht. Auch in den 85 Zur Bewertung der Figur des Hamlet als ›deutsch‹ vgl. Paulin (2003: 269): »Certainly the novel [Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre] drew attention to Hamlet as never before, and the later symbiotic association of the Prince with the German nation can be traced in part back to Wilhelm Meister.«

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vorherigen Jahrhunderten hatte es Christianisierungsbemühungen in England gegeben, doch hier sei es eher zu einer Verschmelzung von germanischen Vorstellungen und christlichem Glauben gekommen. Das sollte sich aber bald ändern, wie Schirmer berichtet: Die der eigenen Art anpaßbaren Züge des Christentums nahm man an: den großen Kampf zwischen freundlichen und verheerenden Mächten, den Heldengott Christus mit seiner Apostelgefolgschaft, das Jenseits als Umwandlung des Nachruhms von einst, die Duldungsforderung als Entsprechung des Schicksalsgedankens; andere Züge des Christentums, die diese Umbiegung nicht erlaubten, überging man. Je mehr aber, durch Alfreds Neuordnung gestützt, die lateinische Kirche vordrang und eine die ganze innere Welt erfassende Organisierung des Christentums verlangte, um so stärker wurde man sich einer Krisis bewußt; die alten Werte kehrten sich um, und die Dichter verstummten. (8)

Dieser literarischen Krise folgte laut Schirmer eine kulturelle: England hörte auf, eine germanische Nation zu sein und ordnete sich ein in die kirchlich gestimmte Einheitskultur des Hochmittelalters. Dies geschah durch die benediktinische Reform des 10. Jahrhunderts. […] Damit war das Schicksal einer eigenständigen germanischen Kultur besiegelt. Weder Edgars Nachfolger, noch die erneuten Däneneinfälle, noch die Ruhe schaffende Dänenherrschaft unter Knut brachten Änderung, und als unter Edward dem Bekenner auch die politische Herrschaft der Angelsachsen zusammenbrach, kommt eine neue Welt, die wenig mit der germanischen gemein hat. (9)

Da England also seit dem Mittelalter schon keine germanische Kultur mehr ist, kann es auch nicht als ›germanischer Bruder‹ Deutschlands dargestellt werden.86 Dennoch ist die altenglische Literatur laut Schirmer sehr germanisch geprägt, wenn auch mit für England spezifischen Charakteristika, die diese von allen anderen germanischen Literaturen unterscheidet. So ist beispielsweise »die Mischung von christlich-antik und heidnisch-germanisch für das innere Wesen der altenglischen Literatur kennzeichnend« (12f.), denn »Christlich-Antikes und HeidnischGermanisches [ist] unlösbar verflochten« (30), und aus dieser Mischung geht »ein neuer Wert hervor« (ebd.). Die aus dieser Vermischung von christlicher und heidnischer Kultur entstehenden Besonderheiten erkennt Schirmer vor allem in den einzigartigen mittelalterlichen Elegien Englands: 86 Schirmer scheint nicht allzu viel von der lateinisch-christlichen Kirche des Mittelalters zu halten: »Die alte germanische Welt ist aus den Fugen, und in diese Fugen greift nun die benediktinische Reform und zerdrückt, was noch an diesseitiger Freude lebendig ist. Christentum heißt jetzt nicht mehr, wie zu Zeiten Aldhelms, eine vom Glanze höherer Kultur getragene Weltanschauung, die sich weitgehend germanischem Empfinden anbequemte, Christentum heißt jetzt der herrische Anspruch, alles früher Hochgeachtete zu schmähen und in verzweifelter Hoffnung auf ein jenseitiges Glück das Leben zu verneinen« (38).

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1. Walter F. Schirmers Geschichte der englischen Literatur (1937) Solch persönlich geprägte Naturschilderungen und die dadurch wachgerufenen weichen, grüblerischen, schwermütigen Stimmungen blieben der übrigen germanischen Dichtung fremd, wohl deshalb, weil dort nicht wie in England eine Verschmelzung christlich-antiker und heidnisch-germanischer Kultur stattfand. Denn diese an sich der germanischen Welt fremden, verfeinerten Seelenschwingungen und diese zarte Leidensfähigkeit, die an keltisch-irisches Schrifttum denken lassen, setzen kirchliche Erziehung voraus und konnten nur im englischen Geistlichen-Schrifttum Ausdruck finden. (21)

Und auch im Beowulf findet Schirmer Besonderheiten, die dieses Werk von anderen germanischen Literaturen unterscheidet: Aber im Unterschied zu der wortkargen, Seelisches nur erraten lassenden heldischen Zeit hatten die Angelsachsen Worte für seelische Schwingungen. Diese wenn auch einfachen und sich selbst treu bleibenden Gestalten sind in ihren Gedanken und Gefühlen eindringlicher analysiert, als es sonst im Germanischen üblich ist. (30f.)

Dadurch, dass Schirmer schon die Literatur Englands nach dem 10. Jahrhundert als eigenständig und von anderen germanischen Literaturen verschieden beschreibt, wären spätere Hinweise auf germanisch begründete Ähnlichkeiten zwischen beiden Ländern und ihrer Literatur nicht mehr plausibel. Folglich sieht Schirmer ab dem 10. Jahrhundert davon ab, Kultur und Literatur Englands und Deutschlands als besonders eng miteinander verwandt darzustellen. Während Schirmer also die deutschen Einflüsse auf die englische Literatur als insgesamt recht unbedeutend darstellt und auch die gemeinsamen stammesgeschichtlichen Wurzeln beider Kulturen nicht sonderlich betont, stellt er die französischen Einflüsse auf England als überaus bedeutsam dar. Diese beginnen mit dem Sieg der Normannen bei Hastings im Jahr 1066: Damit war Englands Geschichte und Kultur auf Jahrhunderte neu gerichtet, denn Wilhelms Leute, an sich den Engländern wie den Mannen Hardradas stammesverwandt, hatten sich in den anderthalb Jahrhunderten, die sie in der terra Northmannorum an der nordfranzösischen Küste saßen, völlig der französischen Kultur angeglichen. (47)

In der direkten Folgezeit wurde die Kultur Englands völlig von Frankreich geprägt, denn »wie die Einrichtungen und die Sprache erhielt [England] die Literatur und die Kunst Frankreichs, gehörte also fortan zur gemeineuropäischen Kultur des Mittelalters« (48). Anders als Weiser, für den die normannische Invasion der Todesstoß für eine blühende und überlegene angelsächsische Kultur war, sieht Schirmer die normannische Herrschaft durchaus als Gewinn für England. Zunächst schildert er die erfolgreiche politische Neuordnung Englands und betont, »selbst die den Normannen nicht günstig gesinnte Sachsenchronik muß anerkennen, daß der König von jedem Winkel des Landes Kenntnis hatte, und daß jedermann unbehelligt durch das Land reisen konnte, auch wenn er Schätze Goldes bei sich trug« (48). Für Schirmer sind die Normannen aber nicht nur eine neue politische und gesellschaftliche Kraft, sie sind auch die Vermittler einer überlegenen

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französischen Kultur, und das nicht nur im 11. Jahrhundert, »auch im beginnenden 12. Jahrhundert […] blieb England das kulturell empfangende Land« (50). Auch die kulturellen Einflüsse Frankreichs auf England werden von Schirmer außerordentlich positiv bewertet, denn da sich die normannischen Adligen die südfranzösischen Fürstenhöfe zum Vorbild nahmen, und damit zumindest in der Oberschicht neue Werte wie »Höflichkeit, feine Sitte und Kleidung« (52) verbreitet wurden, erfüllte bald »ein neuer lebensbejahender Geist […] das 12. Jahrhundert, und ihm entspricht die neue rhythmische Form« (53) der Dichtung dieser Zeit. Schirmer geht in seiner wohlwollenden Beurteilung der normannisch-französischen Prägung Englands sogar soweit, zu behaupten, dass »der seit Heinrich I. literarisch zu nennende englische Hof […] unter Heinrich II. und Richard zum Mittelpunkt der westlichen Literatur [wurde]« (57). Die Vielzahl der soeben zitierten Textstellen zeigt, dass es Schirmer nicht darum gehen kann, Frankreich negativ zu bewerten, um etwa durch das Erzeugen oder Perpetuieren eines Feindbildes zur Identitätsbildung seiner Leser beizutragen. Dadurch, dass Schirmer auf die positiven Auswirkungen Frankreichs auf englische Kultur und Literatur hinweist, rückt er vielmehr England und Frankreich kulturell zusammen. Und je öfter er die mannigfaltigen französischen Einflüsse auf England betont, desto verbundener erscheinen die beiden Länder. So gab Frankreich seiner Meinung nach oft Impulse für neue Gattungen der englischen Literatur, wie beispielsweise die Troubadourlyrik (57) oder den Schreckensroman (460). Zudem sieht Schirmer Frankreich auch als Vermittler zwischen der Antike und England, indem antike Schriften zuerst ins Französische und erst danach ins Englische übersetzt wurden. So schreibt er zu den in der Renaissance aufkommenden Übersetzungen klassischer Schriften: Der Einfluß Frankreichs ist schwerer abzuschätzen; das Französische spielte herkömmlich eine so große Rolle in englischer Erziehung und Bildung, daß einerseits der Wunsch nach Übersetzungen verhältnismäßig gering war, andererseits der französischen Fassung die Vermittlerrolle zwischen der antiken Urfassung und der englischen Übersetzung zufiel. (208)

Schirmer konstatiert auch für seine Gegenwart noch einen starken französischen Einfluss auf die englische Literatur, wenn auch in England inzwischen ein Stimmungswandel gegenüber Frankreich stattgefunden habe. Dieser wird von Schirmer zwar nicht explizit in den Vordergrund gestellt, kann aber aus zwei seiner Bemerkungen abgeleitet werden. Besonders geprägt wurde die englische Einstellung gegenüber Frankreich wohl durch die französische Revolution: Das Zeitalter der englischen Romantik war durch leidenschaftliche Anteilnahme an der französischen Revolution gekennzeichnet, denn in ihr sollten die schon längst von erlauchten Geistern befürworteten Menschenrechte und Freiheitsideale ihre Verwirklichung finden. Dieser Glaube an den Anbruch einer neuen besseren Zeit ließ die Dichter der ersten Romantikergeneration begeistert für die französische Sache Partei ergreifen, und auch die Masse des englischen Volkes war ihr anfangs durchaus günstig gesinnt. Als aber die

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1. Walter F. Schirmers Geschichte der englischen Literatur (1937) Macht von den gemäßigteren Girondisten auf die Jakobiner überging und die Schreckensherrschaft begann, entstanden im englischen Bürgertum Besorgnis und Abneigung, die wohl zunächst in Befürchtungen um den eigenen Besitz begründet waren, dann aber zu einer tiefgreifenden Scheidung der Geister führten. (455)

Die allgemeine anti-französische Haltung der Engländer hat sich wohl zumindest bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fortgesetzt. Für diese Zeit beobachtet Schirmer nämlich bezüglich der durch französische Vorbilder inspirierten Strömung des Naturalismus: »Eine neue, strengere Art des Realismus brachte der französische Einfluß, den eine kleine Gruppe, als deren bedeutendster Vertreter George Moore (1852–1933) anzusehen ist, trotz schärfsten Widerspruchs der öffentlichen Meinung in England einzubürgern suchte« (582). Widerstand gegen französische Einflüsse entdeckt Schirmer in England aber auch schon vor der französischen Revolution. Die nach England zurückkehrenden Stuarts waren stark von der Kultur ihres französischen Exils geprägt worden, und »die von Karl II. geförderte Nachahmung französischer Sitten wirkte als Herausforderung des englischen Bürgertums. Seit Henrietta Maria französische Mode und Gesellschaftsart an den Hof ihres Gatten Karl I. gebracht hatte, war Frankreich Vorbild geworden« (294). Bei der antagonistischen Haltung des englischen Bürgertums gegenüber dem französisch geprägten Hof Karls II. handelt es sich allerdings nicht primär um politische Vorbehalte, sondern um moralische, denn »die Hofleute Karls II. hänselten die puritanischen Bürger und empörten sie durch unverhüllte Ausschweifungen« (293). Nicht nur der Lebensstil, sondern auch die höfische Dichtung der Restaurationszeit »mit dem stets wiederholten Thema einer philosophisch aufgeputzten oder auch unverblümten Überredung zur Liebe« (319) verstieß gegen das Moralempfinden des puritanischen Bürgertums. Schirmer ergreift in seiner Schilderung der Verhältnisse während der Restauration weder Partie für die Puritaner noch für den französisch geprägten Hof. Auch ereifert er sich nicht über die fehlende Moral in Gesellschaft und Literatur, wie es beispielsweise Hettner und Engel in ihren Literaturgeschichten tun. Er interessiert sich nicht für eine wertende Gegenüberstellung von puritanischem Bürgertum und ›französischem‹ König, sondern für die Qualität der Literatur. Und die profitierte von der Wiedereinsetzung des Königs ebenso wie vom Mäzenatentum seines Vorgängers, wie Schirmer erklärt: »Uneingeschränkten Nutzen brachte das der Kunst, die besonders in Karl I. einen verständigen Förderer gehabt hatte« (293). Schirmer sieht die Hofdichtung unter Karl II. gegenüber der bürgerlichen Dichtung nicht im Nachteil, denn er bewertet sie künstlerisch und nicht moralisch: Trotz aller Einwände, die von Zeitgenossen und Späteren gegen die höfische Schule erhoben wurden, sprach sie die Zeitstimmung und die Spaltung der in der Renaissance noch bestehenden Einheit von Leben und Kunst echter und lebensvoller aus als die gleichzeitige Bürgerdichtung, die nur den Vorzug hat, weniger anstößig zu sein. (321)

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Schirmers zurückhaltender Stil

Selbst die Restaurationskomödie, die in der älteren deutschen Anglistik häufig als besonders sittenlos und deshalb verwerflich dargestellt wird, wird von Schirmer objektiv betrachtet, und er spricht ihr durchaus künstlerische Qualitäten zu: Schon in den Komödien von Thomas Killigrew und Abraham Cowley verlachte man die Puritaner, und die von der Unterdrückung befreite Restaurationsgesellschaft schloß in dieses herausfordernde und unbekümmerte Lachen die ganze Bürgerwelt mit ein. Die Bürger sind die Dummen, ihre Anmaßung höfischer Sitten macht sie lächerlich […]. Die nur als Lust gewertete Liebe wird Beweggrund dieser Komödien, deren verstandesmäßig kühles Spiel in bewußtem Verspotten moralischer Bindungen das Drydensche ›Why should a foolish Marriage Vow …?‹ zum einzigen Lebensinhalt macht. Aber man hat Witz, man hatte von englischen Vorbildern und Molière handwerkliches Können gelernt, und man suchte diese Unterhaltung eines Abends zu in sich vollkommenen Kunstwerken zu machen. So spiegeln diese Komödien den Geist und das ganze gesellschaftliche Treiben einer Zeit. (374f.)

Es wäre ein Leichtes für Schirmer, die durch einen französisch geprägten König und dessen Hof vorgelebte Sittenlosigkeit der englischen Restauration genau auf diesen französischen Einfluss zurückzuführen, damit Frankreich mit dem Fehlen von Moral gleichzusetzen und somit zu diskreditieren. Schirmer tut dies jedoch nicht, sondern bleibt neutral und bewertet die Literatur möglichst objektiv nach ihren künstlerischen Vorzügen und Nachteilen. Die Formulierungen, die Schirmer in seinen Stellungnahmen verwendet, sind nüchtern und zurückhaltend, und sie erscheinen damit ungeeignet, durch eine Kontrastierung England als positiv und Frankreich als negativ darzustellen. Die Analyse von Schirmers Bewertung Frankreichs belegt lediglich zwei Punkte: Er muss sich erstens exzellent mit der französischen Literatur auskennen und zweitens eine hohe Meinung von ihr haben. Beides dient lediglich der rein didaktischen Funktion, den Rezipienten von Schirmers Literaturgeschichte einen wissenschaftlich fundierten Blick auf die engen Beziehungen der englischen zur französischen Literatur zu ermöglichen. Schirmers zurückhaltender Stil Was schon mehrfach in den bisherigen Ausführungen angeklungen ist, soll nun noch einmal genauer betrachtet werden: die auffällige Zurückhaltung in den Urteilen und Bewertungen Schirmers. Während Engel in seiner Literaturgeschichte mit deutlichen Worten nicht geizt, bemüht sich Schirmer, keine persönlichen Ansichten in seine Literaturkritik einfließen zu lassen, und niemals wird er beleidigend oder ereifert sich gar. Dieser wohl augenfälligste Unterschied zwischen den Literaturgeschichten Engels und Schirmers soll anhand von zwei Beispielen veranschaulicht werden: Schirmers Bewertung der Puritaner sowie der englischen Literaturkritik. Der Unterschied zwischen Schirmer und Engel wird überdeutlich bei ihrer jeweiligen Bewertung des puritanischen Einflusses auf die Gesellschaft und die

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1. Walter F. Schirmers Geschichte der englischen Literatur (1937)

Literatur Englands. Während Engel die Puritaner gnadenlos verteufelt und sie für den Niedergang der englischen Literatur im 17. Jahrhundert ebenso verantwortlich macht wie für sämtliche negativen Charakterzüge der Engländer am Ende des 19. Jahrhunderts, ist von alledem bei Schirmer nahezu nichts festzustellen. Völlig neutral gibt er die historischen Fakten zur Herrschaft der Puritaner wieder und erläutert die Eckpunkte ihrer religiösen Überzeugungen (291ff.). Selbst zur Schließung der Theater durch die Puritaner im Jahr 1642 schreibt er nüchtern: In dem langen, von Gossen eingeleiteten Streit hatten die ursprünglich verlachten Puritaner den Sieg errungen. Aber das von dem Verbot betroffene Drama hatte längst aufgehört, ein Theater des ganzen Volkes zu sein. Die bürgerlichen Kreise, die zu Shakespeares Zeiten die Hauptmasse der Theaterbesucher gestellt hatten, hielten sich mehr und mehr zurück, und die Stücke, die das Absonderliche, dem gesunden Empfinden Fremde und dem wirklichen Leben Ferne darstellten, bewiesen das Erschlaffen der ursprünglichen Kraft. Das Renaissancedrama war ohnehin am Ende; nach der achtzehnjährigen Pause begann ein neues Drama vor einem neuen Publikum. (287)87

Die Puritaner beschleunigten also für Schirmer lediglich den Niedergang einer Gattung, sie waren nicht für diesen verantwortlich. Allerdings zählt Schirmer die Dichtkunst nicht zu den Talenten der Puritaner. Da »der puritanische Dichter [sich] in erster Linie als Lehrer oder doch Vermittler göttlicher Lehren« (305) fühlte, brachten die Puritaner keine den Anglikanern oder Katholiken gleichwertige Dichtung hervor (ebd.). Die Jahre der Puritanerherrschaft, in denen die Literatur Englands von deren »Streitschriften und frommen Gesängen« (305) dominiert wurde, stellten für Schirmer folglich eine »undichterische Zeit« (ebd.) dar. Und auch im 19. Jahrhundert hatte sich nach Schirmers Darstellung nichts an dem religiös bedingten Mangel an dichterischer Begabung bei den puritanischen Dichtern geändert: »Weniger literarisch als der hochkirchliche Flügel […] war die Evangelical oder Low Church, welche die puritanische Abneigung künstlerischen Dingen gegenüber fortführte« (516). Bei seiner neutralen Darstellung der Puritaner ist sich Schirmer durchaus darüber im Klaren, dass diese eine überwiegend negative Beurteilung erfahren haben – das wird bei einer Bemerkung zu Andrew Marvell, einem puritanischen Dichter aus dem 17. Jahrhundert, deutlich, dem Schirmer eine »starke Persönlichkeit, die keineswegs das finstere und einseitige Gepräge des eifernden Puritaners trägt« (306), bescheinigt. Mehr sagt Schirmer in seiner Literaturgeschichte nicht über die Puritaner, und schon gar nicht schreibt er ihnen – wie Engel – einen anhaltenden Einfluss auf die Mentalität seiner englischen Zeitgenossen zu.

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Damit, dass die Theaterstücke vor der Theaterschließung ohnehin nur noch das ›dem wirklichen Leben Ferne‹ darstellten, verstießen sie gegen das realistisch-mimetische Kunstverständnis Schirmers, weswegen er sie nicht mehr als wirkliche Kunst betrachtet. Das veranlasst ihn überhaupt zu der Aussage, das Theater sei ohnehin am Ende gewesen, bevor die Puritaner endgültig den Schlussstrich zogen.

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Schirmers zurückhaltender Stil

Schirmers Bewertung der englischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft soll im Folgenden analysiert werden. Es wurde bereits deutlich, dass Schirmer in vielen Punkten seiner Literaturkritik eine andere Strategie als seine englischen Kollegen verfolgt. Während Engel, der ebenfalls eigene Kriterien der Bewertung von Literatur verwendet, dies zu massiver Kritik an der gesamten englischen Literaturwissenschaft nutzt, äußert Schirmer Anerkennung zu einzelnen Werken. So lobt er beispielsweise Thomas Wartons History of English Poetry from the close of the 11th to the commencement of the 18th Century vom Ende des 18. Jahrhunderts: Thomas Wartons Literaturgeschichte […] will die innere organische Beziehung der Dichtung zu den gesamten Ausdrucksformen des völkischen Lebens auf sozialem, religiösem, politischem und allgemein künstlerischem Gebiete herausarbeiten. Diese große Schau der Literatur als Ausdruck ihrer Zeit […] vereinigte Warton mit dem künstlerisch erlebten Empfinden für das Einmalige der großen Kunstwerke, welche Weite und Vielseitigkeit des Blicks die unerreicht hohe Stellung dieser ersten englischen Literaturgeschichte bedingt. (405)

Zu William Hazlitt, der von 1778 bis 1830 lebte, befindet er: Die literarische Kritik Hazlitts geht ebenso wie seine Erörterung der bildenden Kunst an der Gestalt des Kunstwerks vorüber, aber die Aufdeckung der psychologischen Grundlagen, die glänzende Zeichnung des historischen Bildes und die Herausarbeitung einer die Lebensführung seiner Zeit eng und furchtsam erscheinen lassenden Deutung ist so meisterhaft, daß seine Künstlerbildnisse gelegentlich an Sainte-Beuve heranreichen. (512)

Und zu Matthew Arnold und Walter Horatio Pater schreibt er: Seine [Arnolds] im Ton der Sainte Beuveschen Plaudereien gehaltenen Aufsätze bemühen sich, das Leben und die Dichtung frei von persönlichen, nationalen und doktrinären Vorurteilen zu betrachten. […] Weniger verbreitet, unenglischer und Widerspiel der Haltung Matthew Arnolds ist die ästhetische Kritik Walter Horatio Paters (1839–1894), die in romantischer Art keinen anderen Maßstab gelten lassen möchte als die künstlerische Erlebnisfähigkeit. (525)

Die drei obigen Zitate zeigen, dass Schirmer englische Literaturwissenschaftler immer dann lobt, wenn diese in ihrem Umgang mit Literatur und Kultur Qualitäten zeigen, die er selbst hoch schätzt. So versucht Schirmer wie Warton, die Literatur »als Ausdruck ihrer Zeit« zu beurteilen; ihm geht es wie Hazlitt um die »Zeichnung des historischen Bildes«; er zeigt Verständnis für Paters ›unenglischen‹ Ansatz, die »künstlerische Erlebnisfähigkeit« als einzigen Maßstab der Literaturbewertung gelten zu lassen, und er versucht wie Arnold, »die Dichtung frei von persönlichen, nationalen und doktrinären Vorurteilen zu betrachten«. Vor allem letzteres könnte einerseits als indirekte, vorsichtige Kritik an der deutschen Literaturwissenschaft unter dem Hakenkreuz verstanden werden, andererseits

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1. Walter F. Schirmers Geschichte der englischen Literatur (1937)

grundsätzlich als Aufforderung, wissenschaftlich objektiv zu bleiben – so wie es Schirmer in seiner Literaturgeschichte demonstriert. Schirmers Darstellung der Englishness Es ist schon darauf verwiesen worden, dass Schirmer daran interessiert ist, literarische Werke geistesgeschichtlichen Strömungen zuzuordnen, wie beispielsweise dem Idealismus (383), dem Deismus (440) oder dem Realismus (552ff.). Er neigt dazu, die Besonderheiten eines Werkes durch Bezugnahme auf die jeweils vorherrschenden geistesgeschichtlichen Strömungen zu erklären. Folglich kennzeichnet er diese Besonderheiten nur selten – wenn überhaupt – als Aspekte von Englishness. Eines der wenigen Beispiele hierfür ist das Stück Gammer Gurton’s Needle aus dem Jahr 1552, von dem Schirmer sagt, dass es »bereits ganz englisch anmutet« (234), und selbst hier bleibt unklar, was genau an dem Werk ›englisch‹ ist. Dennoch finden sich in Schirmers Literaturgeschichte genügend Hinweise, die es ermöglichen, das von ihm vermittelte Englandbild zu rekonstruieren. Kelten, Angelsachsen und Normannen Die Engländer sind keine ethnisch homogene Bevölkerungsgruppe, sondern bilden ein Konglomerat einzelner Stämme, die im Lauf der Zeit auf den britischen Inseln siedelten. Dass Schirmer vom Vorhandensein spezifischer Charakterzüge bei den Angehörigen dieser Volksstämme ausgeht, beweisen seine Bemerkungen zu Kelten, Angelsachsen und Normannen, die alle im Lauf der Jahrhunderte ihren Anteil zur englischen Bevölkerung beigetragen haben. Und auch den Iren schreibt Schirmer eine eigene Mentalität zu. Da die zuerst genannten Gruppen zusammen die spätere Einwohnerschaft Englands bilden, sollen die Eigenschaften, die Schirmer ihnen zuschreibt, im Folgenden erläutert werden. Zu den keltischen Einwohnern Englands zur Zeit des Übergangs zwischen Antike und Mittelalter stellt Schirmer einen ganzen Eigenschaftskatalog auf: Dieser antik-christlichen Kultur standen viele Züge des keltischen Volkscharakters entgegen: phantastische Einbildungskraft, abenteuernder Erkenntnisdrang, schwermütiges Fernweh sowie Unfähigkeit für praktisch-politisches Leben, Vereinzelungssucht und großes Unabhängigkeitsgefühl. (3)

Weitere keltische Charakteristika stellt Schirmer im 12. Jahrhundert bei Walter Map fest, der als Waliser auf keltische Vorfahren zurückblicken kann. Von ihm sagt Schirmer, dass er »walisisches Blut in sich hatte« (72) und »wegen seiner Schlagfertigkeit und seines keltischen Witzes […] am Hof berühmt« war (ebd.). Vieles von dem, was Schirmer über die Iren schreibt, erinnert an seine vorhergehenden Bemerkungen zu Kelten und Walisern. Beispielsweise schreibt er: »Die irische Vorliebe für Reime und Rätsel, für Akrostiche und bizarre Latinität […] fand in der altenglischen Aldhelm-Schule Fortbildung […] und wurde von dort den karolingischen Schulen vererbt« (10f.). Interessant ist, dass Schirmer diese irischen Vorlieben aus dem ersten Jahrtausend auch am Anfang des 20. Jahrhun-

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derts beobachtet, und zwar bei den irischen Dramatikern Lennox Robinson und Padraic Colum: »Ihr Vorzug liegt in der irischen Sonderart, die über die bloße Wirklichkeit hinaus das Rätsel des Lebens fühlbar macht« (555). Diese Beobachtung spricht dafür, dass Schirmer – zumindest gelegentlich – von einer zeitlichen Konstanz von Charakterzügen ausgeht. Ist Schirmer bei seiner Beschreibung der Kelten und Waliser noch recht deutlich, sind die Charakteristika, die er den Angelsachsen zuschreibt, schon weniger scharf umrissen. Schirmer erläutert, wie die Angelsachsen von christlichen Einflüssen verändert worden seien, denn in Klöstern »bildete sich der Jahrhunderte dauernde, auch die Angelsachsen beeinflussende Geschmack für eine krause, rätselhafte, oft unentzifferbare Latinität mit bizarrem Wortschatz« (4). Im 7. Jahrhundert wirkten dann Mönche in England, und »diese predigten nun unter Aidans Führung und von dem neuen Bischofssitz Lindisfarne aus ihr iro-schottisches Christentum, und mit dem Glauben vermittelten sie den Angelsachsen die Wissenschaft der klassischen Kultur und die Liebe zur Dichtung« (7). Zu dieser angelsächsischen Dichttradition kehrte – schon während der Normannenherrschaft – der Schriftsteller Layamon noch einmal zurück. Bei ihm zeigen sich erneut Merkmale, die Schirmer für charakteristisch für die Angelsachsen hält: »Der Dichter will mehr auf Einbildungskraft und Gefühl wirken als auf abgeklärtes Schönheitsempfinden und Verstand« (59). Bezüglich der häufigen Naturvergleiche des Dichters weist Schirmer darauf hin, dass »Layamons Vergleiche […] etwas anderes [wollen]: nicht Anschauung, sondern Eindruck – auch das ein Wiederwachrufen altenglischer Dichtart« (60). Aus diesen wenigen Textbelegen Schirmers ist zwar kein klar konturiertes Bild der angelsächsischen Mentalität zu formen, es eignet sich aber dennoch gut als Kontrast zu dem von Schirmer entworfenen Bild der Normannen. Die Haltung der Normannen gegenüber der »Märchenatmosphäre« (60) Layamons beschreibt Schirmer nämlich wie folgt: »Dem Tatsachen liebenden, klar denkenden Normannen Wace lag das nicht« (ebd.). Eine ähnliche Mentalität beobachtet Schirmer auch in der geistlichen Epik des 13. Jahrhunderts: »Mit der von den Normannen gelernten Klarheit und Nüchternheit wählte [der Kleriker des 13. Jahrhunderts] das Wissenswerte, Nützliche, dem eigenen Fassungsvermögen Angemessene aus, wie das auch die Lehrgedichte taten« (95). Dass die eigentlich germanischen Normannen durch ihren längeren Aufenthalt in Frankreich geprägt worden sind, ist aus Schirmers Bemerkungen zu Giraldus Cambrensis aus dem 12./13. Jahrhundert zu erfahren. Dieser war der »Sohn eines Normannen und einer Waliserin« (70) und »im eigentlichsten Sinne Historiograph, aber sein witziger, gallisch übersprudelnder und auch etwas aufschneiderischer Geist fühlte sich in allen Sätteln gerecht« (70). Besonders das Nützlichkeitsdenken und der Humor stellen Eigenschaften dar, die den Engländern oft zugeschrieben werden. Es wird noch zu sehen sein, ob diese Aspekte der Englishness auch in Schirmers Fremdbild der Engländer Eingang finden.

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1. Walter F. Schirmers Geschichte der englischen Literatur (1937)

Allgemeine Aspekte von Englishness Schirmer geht in seiner Literaturgeschichte ausgesprochen sparsam mit Attributierungen zur Englishness um. Viele Eigenschaften werden nur ein einziges Mal genannt. Obwohl es fraglich ist, ob man aus diesen Erwähnungen schon auf ein Englandbild schließen kann, sollen sie doch hier nicht unterschlagen werden. Denn immerhin bezeichnet Schirmer so selten etwas als typisch ›englisch‹, dass es von Bedeutung sein muss, wenn er es denn doch tut. So entdeckt Schirmer in der weltlichen Lyrik des 13. Jahrhunderts Anzeichen eines eigenen englischen Stils: In der erstaunlichen, kraftvollen Verbildlichung des Ausdrucks der keck hingesetzten, unplatonischen Körperbeschreibung der Schönen von Rybbesdale, dem eigentümlichen Humor des Mon in þe mone und endlich einer gewissen Neigung zum Ernst, ja zur Grübelei – etwa in My deþ I love – kann vielleicht englische Sonderart erkannt werden. (88)

Es ist ein Indikator für den vorsichtigen Umgang Schirmers mit Eigenschaftszuweisungen, dass er selbst obige Aussage noch durch ein ›vielleicht‹ relativiert. Zwei Kommentare zu literarischen Werken des Mittelalters nennen Eigenschaften, von denen Schirmer annimmt, dass diese vom englischen Publikum als vorbildlich empfunden wurden. Über Havelok aus dem gleichnamigen Versroman schreibt er: »Keusch, stark, fromm und gutmütig, entspricht er mehr einem volkstümlichen als einem ritterlichen Mannesideal« (102), und »das volkstümliche Heldenideal der Titelfigur« (104) aus dem Versroman Sir Beues of Hamtoun beschreibt er als »tapfer, fromm, vaterländisch wie Horn« (ebd.). Interessant ist hierbei, dass Schirmer zwischen volkstümlichem und ritterlichem »Mannesideal« unterscheidet. Er geht also nicht von einer monolithischen, für alle Engländer gleichen Mentalität aus. In allgemeinerer Art geht Schirmer in seiner Beschreibung der Versromane der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts auf die Mentalität der Engländer ein. Zu Lai de Freine schreibt er: »Diese Geschichte, die weniger übernatürliche Züge hat als die anderen Lais, wird in der Hand des englischen Bearbeiters, der Gefühlsschilderungen kürzt, direkte Rede mehrt und bei Naturbildern länger verweilt, ländlicher, wirklichkeitsnäher, wärmer« (135). Hier verrät Schirmer implizit etwas über das Seelenleben der Engländer, ganz ähnlich wie in seinen Ausführungen zum heroischen Drama des 17. Jahrhunderts. In letzteren demonstriert er die Unterschiede zwischen französischem und englischem Geschmack: Corneilles tragische Gestalten handeln nicht aus dumpfem Drange, sondern aus klarer Einsicht in das Wesen ihrer Gefühle und Willensakte, die sie in logischen Schlußketten zergliedern. Ihr Tun ist freies Ergebnis dieser Überlegungen, und ihre heldische Größe ersteht aus der Beherrschung des Gefühlslebens durch Vernunft. Da diese Kunst, wie die kluge Kritik Drydens erkannte, dem englischen Publikum kalt, nackt und phantasielos erschien, blieb den englischen Dramatikern nur die Intrige. (373)

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Schirmers Darstellung der Englishness

Auf reiner Vernunft und Nüchternheit basierendes Handeln ist also einige Jahrhunderte nach der normannischen Invasion – zumindest auf der Bühne – unbeliebt beim englischen Publikum. Dabei waren gerade diese Charakterzüge bei den Normannen noch diejenigen, die von Schirmer als besonders markant beschrieben wurden. Aus mehreren Bemerkungen Schirmers lässt sich ableiten, dass zumindest zeitweilig eine Vorliebe englischer Autoren für Realismus und Natürlichkeit in ihrer Dichtung bestand. Über Werke aus dem 14. Jahrhundert schreibt Schirmer: »Wichtiger sind die in der inneren Form und der Erzählweise sich dem Balladenton nähernden [Vers]Romane nördlicher Herkunft, denn sie zeigen eine englischere Haltung, die allgemein als realistisch umschrieben werden kann« (138). Und Geoffrey Chaucer nahm Boccaccios Werk zum Vorbild, formte aber Teile seines Stückes Troilus und Criseyde in Richtung »Lebenswahrheit und Wirklichkeitsnähe« (150) um. Bei George Wither und Sir John Suckling, beides Autoren des 17. Jahrhunderts, beobachtet Schirmer eine besondere Vorliebe für Natürlichkeit. Zu George Wither bemerkt er: In der Haft verfaßte er fünf Hirtengedichte (The Shepherd’s Hunting 1615), in denen er unter dem Namen Philarete Gespräche führt mit William Browne, dem Verfasser der Britannia’s Pastorals, dessen echtes Naturempfinden er teilt. […] Solch gesunde Natürlichkeit und ihre Abwehrhaltung gegen alle Verkrampfung und Verkünstelung des Empfindens sind auch die Hauptvorzüge seines episch redseligen Hauptwerks Faire-Vertue, the Mistress of Phil’ Arete. (305)

Und in den Werken von Suckling entdeckt er »Kraft und Natürlichkeit« (314). Während Schirmer den Realismus als typisch englisch bezeichnet, äußert er sich bezüglich Suckling und Wither nicht darüber, ob die Natürlichkeit ihrer Werke einen Aspekt von Englishness darstellt. In Anbetracht der wenigen Belege für eine Vorliebe für ›Natürlichkeit‹ ist es daher fraglich, ob dieses Attribut für Schirmer tatsächlich einen Teil der englischen Mentalität konstituiert. Zwei weitere mögliche Eigenschaften englischer Mentalität werden von Schirmer nur jeweils einmal angesprochen. Zum einen bemerkt er zu den religiösen Hymnen des 13. Jahrhunderts: »England, das die ekstatischen Formen der neuen Frömmigkeit mied, hat keine Hymnendichtung«, die der kontinentalen ebenbürtig wäre (83). Das lässt auf besondere Zurückhaltung der englischen Bevölkerung schließen, zumindest gegenüber religiösem Eifer. In Anbetracht der späteren Puritanerherrschaft handelt es sich aber hierbei wohl eher nicht um einen zeitlich konstanten Aspekt von Englishness. Zum anderen schreibt Schirmer über den Literaturwissenschaftler Charles Lamb, der von 1775 bis 1834 lebte: »und die englische Neigung, den ›moral sense‹ als Prüfstein herauszukehren, läßt seine Kritik an die ästhetischen, historischen und ideengeschichtlichen Gesichtspunkte eines A. W. Schlegel nicht heranreichen« (510). Hierin findet sich einer der Hauptkritikpunkte Engels an der englischen Literaturwissenschaft und namentlich am Literaturhistoriker Lamb wieder, und zwar die im England des 19. Jahrhunderts verbreitete

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Neigung, alle Schriften von einem moralischen Standpunkt aus zu bewerten. Hierbei handelt es sich um einen Aspekt von Englishness, der von Schirmer jedoch nur einmal genannt wird, und auch das erst in Bezug auf die relativ junge Vergangenheit. Nationalbewusstsein Das Merkmal englischer Autoren und ihrer literarischen Werke, auf das Schirmer in seiner Literaturgeschichte am häufigsten verweist, ist das Nationalbewusstsein. Schon in den Werken von Aelfric, einem Autor religiöser Schriften aus dem 10. Jahrhundert, beobachtet Schirmer diese Eigenschaft: Der Erzählstoff wächst weiter in den 996/97 geschriebenen Heiligenleben, die auch mehr auf die Gegenwart Bezug nehmen und wichtige Zeitfragen einflechten. Damit kommt […] ein persönlicher Reiz in diese Legenden, sie enthüllen Aelfrics Patriotismus und Frömmigkeit und seine Lust am Fabulieren. (43)

Und auch in den darauf folgenden Jahrhunderten schreibt Schirmer englischen Autoren Nationalbewusstsein zu – zuerst Wulfstan, der in seinen Werken des 11. Jahrhunderts »seine patriotische und sittliche Mahnung« (44) verbreitete, im 12. Jahrhundert dann Geoffrey von Monmouth. Für diesen ist die Gestalt des König Arthur nämlich »nicht ein Häuptling der die Angelsachsen bekämpfenden Briten, sondern der Gründer einer vereinigten englischen Nation« (57). In der weltlichen Lyrik des 13. Jahrhunderts findet Schirmer ebenfalls Belege für das Nationalbewusstsein der Engländer: »Es fehlte nicht an Patriotismus, wie das englische Lied über den flämischen Aufstand zeigt, das trotz der Unzufriedenheit über dies Unternehmen scharf gegen Frankreich sich richtet« (89). Zumindest für das 12. Jahrhundert liefert Schirmer auch einen Grund für das Aufkommen eines starken englischen Patriotismus, und zwar den politischen des Verzichts auf die Normandie im Vertrag von Bretigny im Jahr 1360: War das so geschaffene Reich auch keine völkische Einheit, so war es doch ein englisches und nicht mehr englisch-französisches Reich. Diese Tatsache wurde wichtiger als die in den immer erneuten Kriegen statthabende Abbröckelung, die 1374 Aquitanien und schließlich, um die Mitte des 15. Jahrhunderts, alle französischen Besitzungen außer Calais dem englischen Herrschaftsbereich entzog. Denn die in diesen Kriegen erstarkende nationalenglische Gesinnung beschleunigte den Aufstieg der nationalsprachigen englischen Literatur durch das Zurückdrängen des Französischen. […] Der Sieg des Englischen war entschieden, als Heinrich IV. den Krönungseid [1399] in englischer Sprache leistete. (109)

Englischen Patriotismus, durch die politischen Ereignisse verstärkt, beobachtet Schirmer auch in den folgenden Jahrhunderten regelmäßig. Bei Laurence Minot aus dem 14. Jahrhundert »sprechen die trotz aller Künstelei lebendigen Gedichte das persönliche Bangen und Jubeln des Sängers aus, in einer fast religiöse Töne annehmenden patriotischen Begeisterung, die für die Feinde nur Haß und Spott

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kennt und mit keinem Wort innere Nöte und Mißstände erwähnt« (126). Und der Versroman Joseph von Arimathea von 1350 ist für Schirmer ebenso »patriotisch als das Vaterland ehrend empfunden« (141) wie das Gedicht Morte Arthur: »Wie Layamon suchte auch dieser Arthurdichter das Heldische und Nationale, und seine Kunst hat mit der des französischen höfischen Romans nichts mehr gemein« (142). Im 15. Jahrhundert wird das englische Nationalbewusstsein für Schirmer noch offensichtlicher, was seine zahlreichen Beispiele belegen. Über das Kurzepos Siege of Rouen von John Page aus dem Jahr 1419 schreibt er: »Das Ziel ist eine Verherrlichung des englischen Volkes und seines höchsten Vertreters, der zum christlichen Ritter erhöht wird. Diese Stimmung ist die Meinung des Volkes« (159). Für dieses Jahrhundert beobachtet Schirmer auch ein erstes Anzeichen dafür, dass sich in England das Nationalbewusstsein langsam in imperialistische Ambitionen verwandelt: In dem bürgerlichen England des 15. Jahrhunderts war See- und Handelspolitik eine Angelegenheit, die jedermann anging. Aus diesem Bewußtsein erklären sich zwei Dichtungen, die eigentlich in Verse gebrachte, handelspolitische Abhandlungen sind: The Libell of English Policye (1436) und das darauf fußende kürzere Gedicht On Englands Commercial Policy. Beide betonen Englands Vormachtstellung in der Welt, alle Länder seien auf Englands Handel angewiesen. […] Calais und Dover werden als die beiden Augen der englischen Seemacht bezeichnet. In diesem ›Büchlein von englischer Staatsklugheit‹ wird also zum erstenmal die imperialistische Forderung unbedingter Herrschaft über die See ausgesprochen, wenn auch vorerst nur in der Form der Beherrschung des Kanals als Zugangsstraße. (159f.)

Die enge Verbindung zwischen Nationalbewusstsein und Freiheitsliebe, auf die später noch eingegangen wird, belegt Schirmers Bewertung von John Lydgates Fall of Princes aus dem 15. Jahrhundert: Da aber auf des Gönners Vorlieben, die vielleicht auch eigener Überzeugung nahestanden, Rücksicht zu nehmen war, so kommt die Vaterlandsliebe, Freiheitsliebe und Standhaftigkeit der antiken Gestalten so stark zum Ausdruck, daß hier wohl zum erstenmal in englischer Sprache […] heroische Gesinnung mit der die Antike kennzeichnenden Würde und ohne ritterlich-höfische Umdeutung dargestellt wurde. (168)

Nicht nur ›antike Gestalten‹ wie in Lydgates Fall of Princes werden immer wieder herangezogen, um »Vaterlandsliebe« zu verkörpern, Figuren aus der englischen Mythologie dienen ebenfalls häufig diesem Zweck. So greift man im 15. Jahrhundert auch wieder auf König Arthur zurück, denn »für Malory war Arthur der vollkommene englische König und seine Regierung die Verkörperung der früheren nationalen Größe« (181). In Malorys Werk Morte Arthur entdeckt Schirmer daher auch »deutlich [die] Sehnsucht nach der vergangenen und wieder zu erweckenden Größe Englands und seines Königtums. Sein Morte Arthur (1469) ist der letzte, jetzt in Prosa unternommene Versuch, ein englisches Nationalepos

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zu schreiben, wie Layamons Brut der erste war« (180). Zu betonen ist hier die große Rolle, die der Literatur bei der Bildung und Perpetuierung des englischen Nationalbewusstseins von Schirmer durchgängig zugeschrieben wird. Dass Nationalbewusstsein allerdings keine alleinige Eigenschaft der Engländer darstellt, sondern auch bei anderen Ländern bzw. Völkern anzutreffen ist, zeigt Schirmers Kommentar zu englischen Bibelübersetzungen, wie der Authorized Version von 1611: Die Schwierigkeiten einer Bibelübersetzung, wenigstens des Alten Testaments beruhen darauf, daß Vorstellungswelt und Ausdrucksmittel des jüdischen Volkes verschieden sind von denen westlicher Völker, daß insbesondere das – etwa in Genesis und Exodus zum Ausdruck kommende – starke Nationalbewußtsein bei der noch geforderten wortgetreuen Übersetzung nur schwer dem Engländertum angepaßt werden konnte. (203)

Interessant ist hierbei vor allem der Verweis Schirmers darauf, dass gerade die Bibel – die religiöse Basis unzähliger christlicher Länder – dem Nationalbewusstsein der Engländer angepasst werden musste. Das lässt zumindest darauf schließen, dass Schirmer einen Zusammenhang zwischen dem Nationalbewusstsein der Engländer und der Ausübung ihrer Religion sieht. Mit dem elisabethanischen Dichter Edmund Spenser findet sich zum ersten Mal ein Autor aus Schirmers Spitzenkanon als Vertreter einer besonders nationalistischen Einstellung: Er bekleidete eine Stelle beim königlichen Statthalter in Irland, was er als Verbannung empfand, denn sein Ehrgeiz war, durch seine Dichtung prophetisch Geschichte zu machen und so mitzuwirken an der Geltendmachung seines glühend geliebten Vaterlandes. […] Die Zukunft des englischen Imperiums sollte sein großes, auf 12 oder gar 24 Bücher geplantes Feenkönigin-Epos gründen helfen. (215)

Erneut unterstreicht Schirmer hiermit die große Rolle der Literatur bei der Entwicklung von nationaler Identität – englische Autoren wollten mit ihrer Dichtung aktiv zum Erstarken ihres »geliebten Vaterlandes« beitragen. Gleiches beobachtet Schirmer auch bei Spensers Zeitgenossen Samuel Daniel – »Als Patriot und Moralist schrieb er sein Epos über die Civil Wars, das Englands Aufstieg zur Größe darstellen soll in einer ›der besten aller Verfassungen‹ würdigen Sprache« (223) – sowie Michael Drayton – »wie Daniel, und ebenso vergeblich, erstrebt er epischen Ruhm mit vaterländischer Geschichtsdichtung« (224). Zwar relativiert Schirmer die Bedeutung, die Daniels und Draytons Werke letztlich hatten, aber das Bemühen um eine Stärkung des Nationalbewusstseins bleibt bestehen. Das 16. Jahrhundert ist hinsichtlich des englischen Nationalbewusstseins von besonderem Interesse, findet Schirmer doch gerade in der elisabethanischen Zeit eine Vielzahl von Beispielen für patriotische Dichtungen. Zu den wohl wichtigsten Belegen zählen für Schirmer die Heinrich-Historien von Shakespeare, weil diese – im Gegensatz zu den Werken Draytons und Daniels – tatsächlich von großen Teilen der englischen Bevölkerung rezipiert wurden: »Die ungeheure politische Wirksamkeit die-

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Schirmers Darstellung der Englishness

ser Heinrichspiele, deren patriotische Reden und großbritische Töne in der damals hochgespannten Luft in vielfachem Echo weitergetragen wurden, ist heute verblaßt; die künstlerische Wirkung ist unvermindert geblieben« (252). Und unter diesen patriotischen Werken Shakespeares nimmt seine Historie Henry V. noch einmal eine Sonderstellung ein, denn »Shakespeare sah diesen Heinrich V. wie seine Zeit ihn sah, als Siegerkönig und als Sinnbild nationaler Kraft« (253). Wenngleich wohl jedem Land ein gewisses Maß an Nationalbewusstsein zugeschrieben werden kann und damit diese Eigenschaft nicht notwendigerweise als typischer Aspekt von Englishness gelten muss, wurde schon festgestellt, dass Schirmer von einer besonderen Stärke des englischen Patriotismus ausgeht. Dass dieser sich immer weiter intensivierende Patriotismus und der Anspruch auf Seeherrschaft im 17. Jahrhundert endgültig zu einer imperialistischen Haltung werden, kann allerdings durchaus als Aspekt von Englishness gewertet werden, zumal Schirmer eine Neigung zum Imperialismus bis ins 20. Jahrhundert hinein beobachtet.88 Zwar deutete Schirmer auch bei früheren literarischen Werken imperialistische Tendenzen englischer Autoren an, besonders deutlich wird er aber erst in seinen Bemerkungen zu James Harringtons Oceana von 1656 sowie anderen Schriften des Autors: »Die zeitliche Wirkung war getragen von dem Weltherrschaftsgedanken hegenden Nationalbewußtsein, das wie bei Milton in allen diesen Staatsschriften durchklingt« (337). Und auch im 18. Jahrhundert, bei Daniel Defoe, findet Schirmer die »Unterstreichung englischen Anrechts und englischer Handelswege« (420). Als Hauptvertreter des imperialen Anspruchsdenkens der Engländer sieht Schirmer aber zweifelsohne Rudyard Kipling, der mit seinen Gedichten und Büchern stark zum Selbstbild der viktorianischen Engländer beitrug: So rückte Kipling das Kolonistenleben in den Gesichtskreis des englischen Lesepublikums, er machte ihm den einfachen ›Tommy‹ lieb und erweckte Verständnis für die Kulturarbeit des Engländertums. Blutsbande verknüpfen das Mutterland mit den Kolonien, die Weltherrschaft ist die England zugeteilte Aufgabe. Aus dieser Vorrangstellung erwachsen den Vertretern der Herrschernation Pflichten: Menschlichkeit und Milde müssen die Tatkraft begleiten, Gefühl der Zusammengehörigkeit und Fähigkeit, sich der Gruppe aufzuopfern, sind Voraussetzung. Diese Imperiumsgedanken, die Historiker wie Froude und Seeley wissenschaftlich zu rechtfertigen suchten, hämmerte Kipling in seiner Dichtung, die derselben Eingebung entspringt wie seine Pro-

88 Was Schirmer anhand der Literaturgeschichte beobachtet, wird von der Geschichtswissenschaft bestätigt. Zum Entstehen einer imperialistischen Haltung Englands während des 17. Jahrhunderts vgl. Maurer (2005: 157f.): »Seit Mitte des 17. Jahrhunderts nahm England einen Aufschwung im Handel, wobei auch der Überseehandel nun größere Bedeutung erlangte. Hand in Hand damit ging der Aufbau eines ersten Kolonialreiches. […] Während England bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts wesentlich insular ausgerichtet war, wurde es in der Restaurationszeit zunächst im Schlepptau Frankreichs in die europäischen Kriege hineingezogen […]. Am Ende dieser Epoche hatte England die mächtigste Flotte der Welt.«

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1. Walter F. Schirmers Geschichte der englischen Literatur (1937) sa, dem englischen Gefühl ein. Von den Departmental Ditties (1886) über die im Soldatendialekt geschriebenen Barrack-Room Ballads (1892) bis zu den Gedichten der Seven Seas (1896) und Five Nations (1903) klingt burlesk, mahnend und herrisch das Lied von England. […] Feierlich läßt er die Kinder geloben, ihres Landes und ihrer Rasse würdig zu werden (The Children’s Song), und als das diamantene Jubiläum der Königin Viktoria (1897) einen Taumel der Selbstzufriedenheit wachrief, schrieb er den puritanischen Choral Recessional, in dessen zornigen Rhythmen der Imperialismus die religiöse Weihe erhielt. (581f.)

Rudyard Kipling war am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer der populärsten englischen Autoren von Erzählprosa und Versdichtung und erhielt im Jahr 1907 als erster Engländer den Literaturnobelpreis.89 Die teils sehr patriotischen und imperialistischen Werke Kiplings sorgten dafür, dass er seit dem Ende des Ersten Weltkrieges in der Kritik recht kontrovers beurteilt wurde.90 Die ungebrochene Kette an Belegen für das englische Nationalbewusstsein vom Mittelalter bis fast in Schirmers Gegenwart beweist, dass Nationalbewusstsein und später Imperialismus als intensivierte Form des Nationalbewusstseins einen wichtigen Teil der von Schirmer dargestellten Englishness ausmachen. Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass Schirmer den Patriotismus nie als spezifisch für England kennzeichnet, wohl aber den sich aus dem Nationalbewusstsein entwickelnden Imperialismus. Freiheitsliebe Eng verknüpft mit dem Nationalbewusstsein, aber dennoch ein eigenständiger Aspekt von Englishness, ist die auch schon von Engel betonte Freiheitsliebe der Engländer. Eine religiöse Motivation der Freiheitsliebe stellt Schirmer bezüglich der Puritaner Andrew Marvell und John Milton im 17. Jahrhundert fest. Zu Marvell schreibt er: »in Bermudas verknüpft er das Bild der Natur mit puritanischem Freiheitsverlangen: die vor der Gewaltherrschaft der Stuarts Fliehenden besingen das gefundene Paradies« (308), und bezüglich Miltons religiöser Streitschriften bemerkt er: Ihm ging es um ein neues Menschenideal, und die englische Revolution, in der er dessen Verwirklichung erhoffte, wird so zum Freiheitskampf der menschlichen Seele. Der Erfolg in diesem Ringen wird entsprechend der religiösen Grundlage dieses Freiheitsverlangens als Zeichen göttlicher Erwählung ausgelegt, wodurch das englische Volk zum Volk Gottes wird, sein Verteidiger Milton zum Verteidiger der Menschheit. (334)

89 Vgl. hierzu Müller (1988). Zur Bedeutung Kiplings für das britische Imperium vgl. Gilmour (2002). 90 Zur Kipling-Rezeption vgl. Green (1971) und Gilbert (1965).

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Marvells und Miltons Schriften haben ihren Ursprung in dem Verlangen nach Glaubensfreiheit, zielen allerdings auf politische Freiheit hin, um die eigene Religion unbehelligt ausüben zu können. Bei Milton erkennt Schirmer zudem das Verlangen, Englands Revolution gegen die Monarchie zum Vorbild für andere Länder machen zu wollen, denn »Miltons Verteidigungen weiten den besonderen Fall Englands zum allgemeinen: England hat den Tyrannen Karl bestraft, es ist damit zum Befreier der Menschheit geworden, denn fortan wird kein Gewaltherrscher wagen, die Bürgerfreiheit seiner Untertanen anzutasten« (336). Zwar wurde die Puritanerherrschaft mit der Restauration beendet, die Freiheitsliebe beobachtet Schirmer aber immer noch – jetzt allerdings nicht mehr religiös motiviert, sondern rein politisch. Als Beleg führt Schirmer beispielsweise die von Sir Philip Francis verfassten Junius-Briefe an, die »Georg III. und führende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens scharf angriffen« (380): Ihr Ziel ist nicht Satire, sie sind vielmehr Ausdruck des Geistes, der die englische Verfassung schuf, und sie wurzeln in der Verteidigung der Wahlfreiheit, der freien Presse und der freien Gerichtsbarkeit. Aus derselben gefühlsmäßigen Rechtfertigung der Volksfreiheit erwuchs die Wirksamkeit des späteren Konservativen Edmund Burke. (ebd.)

Schirmer nennt in obigem Zitat auch, was die englische Freiheitsliebe umfasst, nämlich Wahlrecht, freie Presse und freie Gerichtsbarkeit. Die Verteidigung dieser Privilegien hatte auch Joseph Addisons Cato von 1713 zum Ziel: In [den Hauptfiguren] und ihren Dialogen gab Addison die Rechtfertigung der, wie er glaubte, gefahrbedrohten Freiheit im whiggistischen Sinne, und diese freiheitsbegeisterte Vaterlandsliebe erfuhr eine Steigerung zu allgemeingültiger Wahrheit, die das ganze Stück gewissermaßen zum Ausdruck des philosophisch-ethischen Glaubensbekenntnisses der Zeit erhob. (448)

Hatte sich die englische Literatur bis zum 18. Jahrhundert scheinbar vor allem dann zu Wort gemeldet, wenn sie religiöse und politische Freiheiten bedroht sah, liefert Schirmer für die Zeit danach keine Belege mehr für eine besondere Freiheitsliebe der Engländer. Lediglich bei Percy Bysshe Shelley, Lord Byron und anderen romantischen Dichtern beobachtet er noch einmal eine gewisse »Freiheitsbegeisterung« (495). Freiheitsliebe ist also ein Aspekt von Englishness, den Schirmer in früheren Jahrhunderten öfter beobachtet als in späterer Zeit. Das könnte darauf hindeuten, dass Schirmer dieses Merkmal als einem diachronen Wandel unterworfen sieht – Englishness kann sich also im Verlauf der Jahrhunderte verändern. Bereitschaft zur Integration fremder Einflüsse Mit der Eigenschaft der ›Bereitschaft zur Integration fremder Einflüsse‹ ist in Bezug auf Englishness gemeint, Geistesströmungen und Moden aus anderen Ländern aufzunehmen und den eigenen Vorlieben und Bedürfnissen anzupassen. Diese Tendenz beobachtet Schirmer nämlich bei englischen Autoren recht häufig,

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und zwar schon in der altenglischen Literatur: »Das Heimische war […] in England stärker als in der übrigen Germania, man gelangte auffallend rasch nach der Bekehrung zu einem eigenen Schrifttum« (12). Auch nach der normannischen Invasion im 11. Jahrhundert sieht Schirmer eine schnelle Assimilierung der neu nach England gebrachten literarischen Stoffe: »Der Arthur- und Tristanroman sind Beweis für den bemerkenswerten Versuch, die in der kurzen Blütezeit eingeführte, im wesentlichen romanische Kultur mit dem eigentlichen Engländertum zu verschmelzen unter Zuhilfenahme der walisischen Kultur« (58). Weitere Belege finden sich in Alexander Barclays Ship of Foules aus dem 16. Jahrhundert – »Es gelang ihm, das ausländische Material völlig der englischen Umgebung anzupassen, und er erreichte eine derbe und rauhe Kraft« (195) – oder in den Übersetzungen aus demselben Jahrhundert: »Man nahm stürmisch Besitz von den ›fremden Gärten‹ und übersetzte folglich nicht nur in eine andere Sprache, sondern in einen andren Geist. So lesen sich die meisten Übertragungen dieser größten Übersetzungszeit Englands wie englische Werke« (207). Schließlich drückten englische Dichter auch der aus Italien stammenden Sonettform langsam ihren ganz eigenen Stempel auf. Schirmer erklärt zur Entwicklung des Sonetts in England: Zu viele Wege waren neu eröffnet worden, und es folgte eine Zeit des Tastens, der ständigen Angleichung von Englischem und Fremdem, das, wenn es auch wie eine dichterische Ebbe anmutet, ein Verbreitern der Grundlagen bedeutete, wozu, wie die Übersetzungen, so auch die dichterischen Werke von Sackville, Gascoigne und Googe gehören. (211)

Fremdes in Eigenes zu verwandeln ist eine Besonderheit der Engländer, die Schirmer nicht nur auf rein literarischem Gebiet beobachtet, sondern auch bei geistesgeschichtlichen Strömungen. England war demnach sehr aufgeschlossen gegenüber neuen Ideen, gab diesen aber immer eine ganz eigene Prägung. Zum 16. Jahrhundert schreibt Schirmer beispielsweise: »Wie die Reformation erhielt auch der Humanismus im 16. Jahrhundert ein nationales, protestantischpuritanisches Gepräge. Das gilt für Schottland, […] und gilt in besonderem Maße für England« (199). Und die Schriften von Sir John Cheke beweisen für Schirmer, »wie sehr der Humanismus national und protestantisch geworden war« (201). Wie schon bei den bisher genannten Aspekten von Englishness, vermeidet es Schirmer auch bei seinen Erläuterungen zur Tendenz der Engländer, Einflüsse von außen umzuwandeln, dies als typisch englisch zu bezeichnen. Er deutet damit allerdings das Vorhandensein einer spezifisch englischen Mentalität an, denn warum sonst sollte es notwendig sein, äußere Einflüsse für England umzuwandeln? Und Schirmer konstatiert selbst, dass die Übersetzungen des 16. Jahrhunderts auch Transfers »in einen andren Geist« waren – einen englischen Geist. Praktisches Denken und Pragmatismus Schirmer schreibt den Engländern implizit durch verschiedentliche Bemerkungen die Neigung zum praktischen Denken und zum Pragmatismus zu. Dieser As-

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Zwischenfazit

pekt der Englishness ist eng verbunden mit dem soeben erläuterten Hang der Engländer, äußere Einflüsse den eigenen Bedürfnissen anzupassen. Schirmer beobachtet die Neigung zum praktischen Denken schon im 12. Jahrhundert, und er schreibt über die »Gelehrsamkeit«, diese sei »stark mit praktischen Tagesfragen verbunden« (51) gewesen. In Bezug auf den vom Kontinent kommenden Humanismus während der Renaissance ist zu erfahren, warum die Engländer fremde Ideen umformten: Aber dieser ganze Humanismus, der sich mit korrekten Gedichten, eleganten Reden und schön abgefaßten Briefen begnügte, war inhaltsleer. Während auf dem Festland schon von einer Verwurzelung der neuen Bildung gesprochen werden kann, mußte England noch eine Generation warten: erst als der Humanismus praktisch wurde, sich beschied, Mittel zum Zweck zu sein, wurde er in England bodenständig. (193)

Praktisch und lebensbezogen mussten Konzepte also sein, um in England Erfolg zu haben – so zumindest sieht es Schirmer. Folglich musste eine Gestalt wie Robinson Crusoe aus dem gleichnamigen Roman von Daniel Defoe aus dem Jahr 1719 geradezu zur Verkörperung dieses Aspektes der Englishness werden: »Robinson ist tätig, praktisch, irdisch gerichtet wie Defoe und der Trueborn Englishman, dessen von der Nützlichkeit eingegebene ethische und religiöse Empfindungen andere [sic] oft pharisäisch anmuten« (420). Defoes Figur des Robinson Crusoe ist ein früher Repräsentant eines Pragmatismus, der für Schirmer in der Nützlichkeitslehre des viktorianischen Englands seinen Höhepunkt erreicht hatte, denn »der im Gegensatz zur Romantik einseitig die Vernunftwerte betonende bürgerliche Positivismus sah nicht im Wollen, sondern in den Ergebnissen den Prüfstein der materiellen und geistigen Errungenschaften« (514). Nicht hehres Konzept, sondern nur das, was sich im täglichen Leben bewährt und zu Erfolgen führt, interessiert also nach Schirmers Meinung den Engländer. Bei der Vorliebe fürs Praktische handelt es sich auch um die erste und wichtigste Eigenschaft, die Schirmer tatsächlich als typisch für die Engländer kennzeichnet. Zwischenfazit Das von Schirmer in seiner Literaturgeschichte vermittelte Englandbild ist nicht so scharf umrissen wie beispielsweise das von Engel entworfene, weil Schirmer nur sehr selten von ihm beobachtete Eigenschaften als ›typisch englisch‹ kennzeichnet. Unzweifelhaft sieht er das Nationalbewusstsein und seine Steigerung zum Imperialismus als wichtige englische Eigenschaft, auch wenn er zumindest das Nationalbewusstsein nicht als spezifisch für England bezeichnet, das heißt als Eigenschaft, die ausschließlich bei Engländern zu beobachten ist. Auch Freiheitsliebe und vor allem der Sinn fürs Praktische bilden wichtige Aspekte des Englandbildes Schirmers, während andere Seiten der Englishness nur eine untergeordnete Rolle spielen. Interessanterweise spielt der Humor, der zuweilen als typisch für England bezeichnet wird, bei Schirmer überhaupt keine Rolle. Zwar

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weist er gelegentlich auf den humorvollen Gehalt eines Werkes hin, wie beispielsweise bei George Peeles The Old Wives Tale von 1590 – »dies nun aufgeführte Märchen […] ist voll lustigen Humors, denn die Figuren sind mit Parodie bepackt« (240) – oder Oliver Goldsmiths The Traveller von 1764 – »die dichterische Wirkung beruht […] auf Humor und Mitgefühl und der ungesuchten einfachen Darstellung des Tatsächlichen« (434). Aber niemals nennt Schirmer den erwähnten Humor ›englisch‹, und mindestens genauso oft beschreibt Schirmer auch andere Eingenschaften literarischer Werke, so dass der Humor für den Leser nicht als Teil der von Schirmer konzipierten Englishness erscheint. Dass das Englandbild Schirmers so schwer zu umreißen ist, liegt in der auffallenden Neutralität seiner Formulierungen begründet. Er hält sich sehr mit persönlichen Urteilen zurück und achtet darauf, in seiner Literaturgeschichte keine Ideologie zu transportieren. Die unpolitische Haltung Schirmers wurde zu Beginn dieses Kapitels schon beschrieben, so dass der Stil seiner Literaturgeschichte keine Überraschung darstellt. Aber die Neutralität Schirmers, die unter heutigen wissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht nur nichts Außergewöhnliches ist, sondern eine Selbstverständlichkeit, ist für die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland höchst ungewöhnlich. Es ist zu überlegen, ob die bewusst neutrale Haltung Schirmers nicht vielleicht sogar eine milde Form des Protests gegen die ideologische Verbrämung vieler Wissenschaftsgebiete durch die Nationalsozialisten darstellen könnte. Selbst wenn dies nicht Schirmers Absicht war, trägt seine Literaturgeschichte doch zumindest das Funktionspotential für eine solche Kritik in sich. Es finden sich in Schirmers Literaturgeschichte einige Textstellen, die eine vorsichtige Kritik am Nationalsozialismus sein könnten. So schreibt er über den Despotismus Heinrichs VIII.: »Das schon im 15. Jahrhundert fühlbare Herrenmenschentum erreichte eine neue nationale Bedeutung, allerdings mit der Kehrseite der gewalttätigen Ungerechtigkeit gegenüber denjenigen, die sich dem Herrscherwillen nicht fügten« (197). Die Kritik an Heinrich VIII. könnte auf den Nationalsozialismus übertragen werden. Schwieriger wird es schon bei einem Kommentar Schirmers zu den gesellschaftskritischen Romanen Rose Macaulays und Aldous Huxleys: »Immerhin erscheint zwischen den Zeilen deutlich der Wille aufzurütteln und zu warnen vor der vernunftlosen Maschinerie des Lebens, die unsere Kultur vernichten wird, wenn die Menschheit nicht rechtzeitig zu einem vernünftig natürlichen Leben zurückkehrt« (589). Auch diese Textstelle könnte sich auf die völlige Vereinnahmung des Menschen durch den Nationalsozialismus beziehen, allerdings auch genauso gut auf die zunehmende Industrialisierung. Ein weiterer Hinweis darauf, dass Schirmer dem Nationalsozialismus zumindest nicht nahe steht, ist seine Interpretation der Werke des schottischen Philosophen und Historikers Thomas Carlyle. Dessen Überlegungen klingen im ersten Augenblick wie eine Rechtfertigung der nationalsozialistischen Ideologie: Mit christlicher Gerechtigkeitsleidenschaft tritt er für die Rechte der Arbeiter ein, verdammt aber Gewaltsamkeiten, denn die hoffnungslos verkehrte Ge-

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Zwischenfazit sellschaftsordnung und die daraus abgeleiteten falschen Wirtschaftslehren sind nur durch eine andere Gesinnung zu beseitigen. So wie im Mittelalter selbst in der Leibeigenschaft ein menschliches Verhältnis zwischen Herr und Knecht bestand, so muß die Masse sich dem selbstgewählten Führer unterordnen, der seinerseits den Dienst für die Menschheitswürde der Massen als gottgewollte Verpflichtung empfindet. Die puritanische Heiligung der Arbeit und der Führergedanke treten noch schärfer hervor in den Vorlesungen On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History (veröffentlicht 1841), deren Grundthema, daß nur aus der Tiefe der glaubenden Seele ein echtes, Werte schaffendes Tatheldentum hervorbrechen könne, die klassische Formulierung der Carlyleschen Geschichtsphilosophie darstellt. Unter scharfer Ablehnung der Nationalökonomie, die er Gewinn- und Verlustphilosophie nennt, und der aufklärerischen Zivilisationsgedanken Buckles sieht er Geschichte als Werk der großen Persönlichkeiten, denn die Geschichte ist ein ewiger Kampf um die Macht, in dem der Starke, d. h. derjenige, der über die höheren Kräfte verfügt und sie zugleich rückhaltlos für sein Werk einsetzt, an das er mit ganzer Seele glaubt, siegt und herrscht und das Recht hat, zu siegen und zu herrschen. Und von den Persönlichkeiten überträgt Carlyle diesen Gedanken auch auf die Völker und Rassen. Diese Geschichtsbetrachtung muß sich unter Übergehung der vorbereitenden und ausbreitenden Massenbewegungen auf die Ursprünge und Höhepunkte der Ideen- und Kulturgeschichte beschränken, auf die heldischen Zeiten und die zur Herrschaft bestimmten Heroen, die, ohne nach eigenem Nutzen zu fragen, im Bewußtsein der Volksdienstbarkeit ihr gottgewolltes Werk verrichten. (518)

Allerdings sieht Schirmer in Carlyle keinen Vordenker des Nationalsozialismus, wie eine ganze Reihe seiner Zeitgenossen. Diese erkannten vor allem in der Idee vom Helden, der die Massen bedingungslos anführt, eine Entsprechung zur Rolle Adolf Hitlers im Dritten Reich.91 Schirmer schließt sich dieser Gruppe allerdings nicht an. Er betont die christliche Motivation Carlyles und relativiert die Gültigkeit von dessen Geschichtsverständnis, indem er es ausschließlich auf die Vergangenheit bezieht, nicht auf die Gegenwart. Schirmer betont, dass Carlyles Philosophie, die den geschichtlichen Einfluss des entschlossenen Individuums beschreibt, eben nicht auf die modernen Zeiten der Massenbewegungen übertragbar ist. Damit erklärt er die Geschichtsauffassung Carlyles – und damit indirekt auch die der Nationalsozialisten – für obsolet.92 Die ideologische Neutralität Schirmers wird auch darin deutlich, dass er nirgends in Antisemitismus verfällt. Bei dem englischen Staatsmann Benjamin Disraeli bewertet er beispielsweise völlig neutral dessen Schaffen auf rein ästhetischer Basis und stellt die Vor- und Nachteile seiner Schriften dar, ohne sie in Bezug zur 91 Tatsächlich wurde Carlyle im nationalsozialistischen Deutschland oft als ›Erster Nazi‹ gesehen. Vgl. Zenzinger (1983: 339): »Throughout the Third Reich Carlyle is hailed as a German thinker, as a prophet of Nazism, indeed as the first National Socialist.« 92 Für eine genauere Betrachtung von Carlyles Geschichtstheorie vgl. Rosenberg (1985) und Dale (1977).

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1. Walter F. Schirmers Geschichte der englischen Literatur (1937)

jüdischen Herkunft des Autors zu setzen (570f.). Und noch deutlicher wird Schirmers nicht-antisemitische Haltung bei seiner Beschreibung des Shylock aus Shakespeares Merchant of Venice von 1594: Aber der Shylock wurde Shakespeare unter der Hand zu einer Figur, deren Lebensfülle über den Rahmen der Komödie hinausgreift, denn er ist weniger flächenhaft als Malvolio und deshalb viel ergreifender charakterisiert. Es ist ein vermenschlichter Marlowescher Barabas, und wenn auch die Renaissance den Juden verlachte, hier sah Shakespeare auch die andere Seite. (249)

Hier ist Schirmer nicht nur neutral, er äußert sogar große Bewunderung für die Tiefe der Shylock-Figur sowie Verständnis und Sympathie für die Juden zur Zeit der Renaissance.93 ›Lebensfülle‹ verweist als Schlüsselbegriff wiederum auf Schirmers realistisch-mimetische Literaturauffassung. Trotz seiner Neutralität schleicht sich bei Schirmer aber doch einige seltene Male eine Diktion ein, die an die nationalsozialistische erinnert. So schreibt er bezüglich der Figur des Caliban in Shakespeares The Tempest: »Dann aber brach seine untermenschliche Natur durch im Überfall auf Miranda« (263). Und zu einem Roman von John Davys Beresford meint Schirmer: »Auch die innere Welt der Seele ist entartet, was die psychoanalytischen Romane – eingeleitet von dem starken House in Demetrius Road (1914) – in der Nachkriegszeit ausführen« (588). Da Schirmer, wie nachgewiesen, aber eben keine nationalsozialistischen Ideologien transportieren möchte, wäre es denkbar, dass er Wörter wie ›untermenschlich‹ und ›entartet‹ unbewusst verwendet. In Anbetracht der Tatsache, dass dies die einzigen beiden Nachweise für den Gebrauch nationalsozialistischer Begrifflichkeiten Schirmers sind, ist dies wohl die wahrscheinlichste Erklärung. Am Beginn dieses Kapitels wurde die Erwartung geäußert, dass in einer deutschen Geschichte englischer Literatur aus den 1930er Jahren Ressentiments gegenüber England aufgrund der Feindschaft im Ersten Weltkrieg festzustellen sein müssten. Wolfgang Mommsen (2004: 10) beschreibt die Auswirkungen dieses Krieges folgendermaßen: 93 Shylock ist eine der bekanntesten Figuren aus den Dramen Shakespeares. Zu seiner Bedeutung für das kulturelle Gedächtnis vgl. Gross (1992: 9f.): »Shylock, a villain who makes his appearance in a mere five scenes of a romantic comedy, has captured the imagination of the world. As a stereotype, he has undergone countless mutations, and for nearly two hundred years there have been claims that he is much more than a stereotype, that he is meant to engage our sympathies in ways that would have once seemed inconceivable. […] He belongs to literature and his greatness can only be properly appreciated in literary terms; but he belongs equally to the history of folklore and masspsychology, of politics and popular culture.« Shylocks Bekanntheitsgrad sowie seine Rolle in der Weltliteratur beschreibt Gross folgendermaßen: »In the extent of his fame Shylock belongs with Don Quixote, Tartuffe, Sherlock Holmes, Robinson Crusoe. He is a familiar figure to millions who have never read The Merchant of Venice, or even seen it acted; he has served as an inspiration for hundreds of writers, and a point of reference for innumerable publicists.« (209)

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Zwischenfazit Der Krieg wuchs sich […] zu einer Katastrophe aus, welche die europäische Kultur auf lange hinaus schwer beeinträchtigen sollte. In kultureller Hinsicht führte der Krieg zu einer Versäulung der europäischen Nationalkulturen gegeneinander. Es kam zu einem ›Krieg der Geister‹, der die intellektuellen Eliten gegeneinander engagierte und das Wissen um die Gemeinsamkeiten Europas weithin aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängte. Die hieraus resultierenden Folgen haben bis in die 1950er Jahre nachgewirkt.

Diese Erwartung hat sich in Walter Schirmers Geschichte der englischen Literatur nicht erfüllt. Weder gegenüber Frankreich, das auch vor dem Krieg schon häufig in der deutschen Kritik stand, noch gegenüber England vertritt er etwas anderes als eine neutrale Haltung. Wo sich frühere deutsche Geschichten englischer Literatur teilweise abfällig über Frankreich und seine Literatur geäußert haben, stellt Schirmer die französische Literatur sogar oft als überlegen dar, wie beispielsweise im Vergleich mit dem englischen Historiographen John Trevisa: »Trevisas Buch ist unmeßbar rückständig gegenüber Froissart, aber immerhin war damit die Geschichtsschreibung in englischer Prosa begonnen« (113). Selbst wenn es um die englische Literatur geht, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden ist, ist von Schirmer kein schlechtes Wort über den Kriegsgegner zu hören. Völlig nüchtern schildert er die Zeit vor und nach dem Krieg und schließt seine historischen Erläuterungen mit der Feststellung: »Nach dem Weltkrieg mußte der machtpolitische Imperiumsgedanke aufgegeben werden, und unter König Georg V. (1910–1936) wurde eine neue wirtschaftliche und ideelle Begründung des Weltreiches in die Wege geleitet« (514). Bei seinen Bewertungen der Kriegsund Nachkriegsdichtung, der er ein eigenes Unterkapitel widmet, interessiert sich Schirmer mehr für die seelischen Wunden, die der Krieg bei den englischen Dichtern gerissen hat, als für irgendetwas anderes: Bei allem Zukunftsträumen haftet dieser Dichtung [den Gedichten der Vorkriegs- und Kriegszeit] etwas Beklemmendes an, was sich auch der folgenden Zeit vererbt. Vergeblich sucht man in Englands Kriegsdichtung, soweit sie künstlerischen Rang hat, nach einem draufgängerischen frischen Soldatenlied, dafür ist auf der anderen Seite auch die Haltung dem deutschen Feinde gegenüber ernst und gemessen. […] Tiefer als alles klingt die Stimme des Leids und der Gedanke des Opfers […]. In den Augenblicksbildern aus dem Kriege selbst ist weniger der Gegner als der Krieg der Feind. […] [Siegfried Sassoon] sah die Kameraden einem falschen Idealismus aufgeopfert (Song on the Convoy), sah das Vergessen der Öffentlichkeit voraus (Song Books of the War) und hielt dem Heldenkult sein Suicide in Trenches entgegen (550).

Dass Schirmer versucht zu analysieren, was die Dichter der Nachkriegszeit motiviert hat, um bei seinen deutschen Lesern Verständnis für die große Bitterkeit der englischen Literaten zu erwecken, zeigt folgender Textauszug, der den Wandel der englischen Literatur beschreibt: Während der Geist der Nachkriegszeit in seiner Spannung des verletzten individualistischen Denkens etwas Verneinend-Vorwärtsdrängendes, Dynamisches hatte und sich gedrängt sah, jeden Winkel des Seelenlebens, besonders

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1. Walter F. Schirmers Geschichte der englischen Literatur (1937) auch das Abnormale zu durchleuchten, läßt jetzt die Bitterkeit nach. Wo vorher das Normale aufgehört hatte zu sein, wo der Künstler als Einzelwesen verbittert in der Erkenntnis des Alleinstehens gegenüber den Problemen Daseinskampf, Krieg, Geschlechtlichkeit verhaftet war und nur glaubte, durch genaue psychologische Kenntnisse und selbstzerstörerische Zergliederung sich vor dem Kulturzerfall retten zu können, dringt jetzt der Wille zur Darstellung des So-Seins und sogar eines besseren So-Sein-Wollens ins Bewußtsein. (589)

Die Haltung Schirmers den Kriegsgegnern Frankreich und England gegenüber zeigt, dass es ihm weder darum geht, seine Literaturgeschichte zu einer Abrechnung zu benutzen, noch darum, durch das Forcieren von Feindbildern das durch den Krieg angeschlagene Nationalgefühl seiner deutschen Leser zu stärken. Mehr mit grundsätzlich literaturwissenschaftlichen Problemen hat eine weitere Erkenntnis zu tun, die aus der Analyse von Schirmers Buch gezogen werden kann. Seine Literaturgeschichte wurde gut 50 Jahre nach derjenigen Engels veröffentlicht, so dass Schirmer eine andere Perspektive hat als sein Vorgänger. Das macht sich vor allem in Schirmers Bewertung des viktorianischen Zeitalters bemerkbar. Wie auch Weiser vor ihm, sieht Schirmer diese Epoche nicht mehr als Tiefpunkt der englischen Literatur, sondern äußert sich lobend über eine ganze Reihe von Autoren. Allerdings übt er auch leichte Kritik am viktorianischen Zeitalter. Diese bezieht sich aber nicht so sehr auf das literarische Schaffen, sondern auf den Zeitgeist, wie ein Kommentar Schirmers zu Thomas Hardy zeigt: »Hardy war es um das Menschliche schlechthin zu tun, und Aufbegehren gegen die selbstzufriedene Philosophie des Viktorianertums ließ ihn beim erdnahen Leben bäuerlich einfacher Menschen Zuflucht suchen« (577). Trotz dieser Gesellschaftskritik führt der größere zeitliche Abstand Schirmers zum viktorianischen Zeitalter zu einer anderen, positiveren Bewertung als die Engels. Fehlende zeitliche Distanz führt aber auch bei Schirmer zu Fehleinschätzungen. So sagt er bezüglich der Dramen George Bernard Shaws vorher: »So überragend Shaws Bedeutung für seine Zeit war, in der Geschichte der Kunst wird sein Werk schnell veralten« (566). Dem war aber nicht so, und Schirmers unrichtige Vorhersage sollte allen Verfassern von Literaturgeschichten eine Mahnung sein, keine Prophezeiungen über die zukünftige Bedeutung von Autoren und die Rezeption ihrer Werke zu machen.94 94 Zur Shaw-Rezeption vgl. The Cambridge Companion to George Bernard Shaw von Innes (1998). In den Aufsätzen dieses Bandes beschreiben Peters (1998) und Everding (1998) die große Bedeutung Shaws im 20. Jahrhundert. Peters (1998: 3) meint zur Person Shaws: »By his seventieth birthday, Bernard Shaw was one of the most famous people in the world. […] The only Nobel laureate also to win an Academy Award (for the screenplay of Pygmalion), he was recognized as much for his wit and his eccentric personality as for his writings.« Zur Bedeutung der literarischen Werke Shaws schreibt Everding (1998: 309): »When Bernard Shaw died in late 1950, he was an international literary figure whose dramatic works were sought by the stage, cinema, radio, and television.«

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Zwischenfazit

In die Zukunft blicken können die Verfasser von Literaturgeschichten nicht, aber sie können neuartige Entwicklungen ihrer Gegenwart erfassen und darstellen. Ein Beispiel dafür, dass Literaturgeschichten einen solchen Wandel dokumentieren, ist Schirmers Berücksichtigung eines neuen Mediums: des Films. In den 1930er Jahren war der Film als Medium fest etabliert und erfreute sich größter Beliebtheit. Die wachsende Bedeutung des Films schlägt sich auch in Schirmers Literaturgeschichte nieder. Er weist zwar nicht auf die auch damals schon existierenden Verfilmungen literarischer Stoffe hin, zieht den Film aber als Vergleich heran, um seinen Lesern den Stil und die gesellschaftliche Rolle der Versromane des 13. und 14. Jahrhunderts zu veranschaulichen. Zu Richard Cœur de Lion schreibt er: Ritterlicher Geist ist nicht in der Geschichte, wohl aber kriegerischer; kaum sonstwo sind so gewalttätige Helden geschildert, der Verfasser scheint an Massenmetzeleien der Sarazenen ebenso große Freude zu haben wie sein Held Richard, den er schließlich Sarazenenfleisch verspeisen läßt. Dies unkenntliche Bild des wegen seiner Ritterideale bekannten Königs erhebt Anspruch darauf, die dem ungelehrten Manne unverständlichen französischen Romane auf englisch darzubieten, denn ›das Volk wollte gerne von edlen Kämpfen der tapferen Ritter von England hören‹, so heißt es im Prolog. Ein bißchen billiger Patriotismus, orientalischer Zauber- und Märchenprunk, viel Rohheit und Kampfschilderung, das war das Kinostück von damals, und es war seiner Wirkung sicher, da auch die Verse flott und geschickt sind, die Handlung spannend und der Stil von einer rohen Kraft. (104f.)

Der Kinofilm hat zu Schirmers Zeit also die Position eingenommen, die im Mittelalter – vor der Entwicklung der Gattung des Dramas – der Versroman innehatte. Ein Wechsel der Medien hat stattgefunden, und zwar vom literarischen in den außerliterarischen Bereich. Um Veränderungen dieser Art festzustellen, bedarf es eines breiteren Fokus der Literaturgeschichte – über die reine Literatur hinaus hin zu einer mehr kulturwissenschaftlichen Perspektive. Und um auf den Zusammenhang von Literatur und Kino zurückzukommen: Vergleicht man die Zutaten für einen unterhaltsamen Versroman des 13. Jahrhunderts mit den Inhalten vieler moderner Kinoproduktionen, stellt man fest, dass sich der Publikumsgeschmack in den letzten 700 Jahren gar nicht grundlegend geändert hat.

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937–39): Die nationalsozialistische Literarhistorie

2. Paul Meißners Eng lische Literaturgeschichte (193 7-39)

Die besonderen Merkmale von Meißners Literaturgeschichte Die drei Bände der englischen Literaturgeschichte Paul Meißners erschienen in den Jahren 1937 bis 1939, einer Zeit also, in der der Nationalsozialismus seine Macht in Deutschland längst gefestigt hatte. Nationalsozialistische Propaganda und Ideologie hatten die deutsche Gesellschaft in fast allen Bereichen durchdrungen.95 Die Literaturgeschichte Schirmers ist ein Beispiel dafür, dass eine Literarhistorie aus dieser Zeit durchaus neutral gehalten sein kann. Wie verhält es sich nun mit Meißners Werk? Leider geht Meißner im ersten Band seiner Literaturgeschichte gleich in medias res und bietet seinen Lesern keine erklärenden Worte zu Konzeption oder Intention seines Werkes. Allerdings ist schon der erste Absatz im Hinblick auf die ideologische Ausrichtung aufschlussreich: Es gibt heute wieder ein ›Problem der Renaissance‹. Man steht vor der Aufgabe, alte Fragen erneut zu durchdenken und aus einer anderen geistigen Lage heraus zu beantworten. Bestimmte Epochen der europäischen Kulturgemeinschaft, die wir mit dem gleichen Namen belegen, erscheinen innerhalb des volkhaften Raumes in einem völlig eigenen Lichte, und es gilt, die im letzten Grunde in der Rasse verwurzelten individuellen Züge herauszuarbeiten. In diesem Sinne bedeuten Renaissance und Humanismus im Süden etwas ganz anderen als in den Ländern nördlich der Alpen, und hier wiederum sind die Wege Deutschlands verschieden von denen Frankreichs oder Englands. Gewiß gibt es darüber hinaus eine europäische Gemeinsamkeit; aber sie steht nicht am Anfang, sondern ist das Ergebnis eines steten Ringens vom Boden volkhafter und nationaler Bedingtheiten aus, eines wechselseitigen Austausches von Kulturwerten, der sich bald mehr, bald weniger lebendig vollzieht, aber seine besten Kräfte immer aus der Ursubstanz der Nation schöpft. (II, 7)

Dem aufmerksamen Leser werden am obigen Zitat gleich mehrere Aspekte aufgefallen sein, die Rückschlüsse auf die ideologische Orientierung geben. Zuvorderst weisen die von Meißner verwendeten Begriffe ›Rasse‹, ›volkhaft‹ und ›Ursubstanz der Nation‹ stark auf die Einflüsse nationalsozialistischer Ideologie hin.96 Diese Einflüsse schlagen sich auch im geistigen Gehalt der obigen Passage

95 Einen kurzen und guten Überblick über die Geschichte des Dritten Reiches mit seiner Kontrolle nahezu aller Lebensbereiche bietet Benz (2000). 96 Zum Sprachgebrauch in Deutschland unter der nationalsozialistischen Herrschaft vgl. die Bibliographie Sprache im Nationalsozialismus (1994) von Kinne und Schwitalla. Diese schreiben in ihrem Vorwort: »Zwölf Jahre lang herrschten die Nationalsozialisten

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39)

deutlich nieder. Wenn Meißner also davon spricht, dass er die »in der Rasse verwurzelten individuellen Züge« herausarbeiten möchte oder dass trotz eines europäischen Kulturaustausches die Literatur ihre »besten Kräfte immer aus der Ursubstanz der Nation schöpft«, liegt die Nähe zur nationalsozialistischen Rassenideologie auf der Hand. Was ein erster Blick auf Meißners Literaturgeschichte schon recht deutlich macht, wird auch durch neuere wissenschaftliche Untersuchungen untermauert. Hausmann erklärt in seinem Buch Anglistik und Amerikanistik im ›Dritten Reich‹ (2003: 127f.): Meißner wurde 1937 Mitherausgeber der GRM [Germanisch-Romanische Monatsschrift] und sorgte für eine Akzentuierung der anglistischen Beiträge im Sinne des Nationalsozialismus, indem er den Rassenstandpunkt unterstrich oder behauptete, in Hitler-Deutschland sei, anders als in Großbritannien, wahre Demokratie verwirklicht.

Außerdem zählt Hausmann Meißner zu denjenigen Anglisten, »die sich ambivalent verhielten, also die, die man im negativsten Fall als ›Gläubige‹ und im neutralsten Fall als ›Gleichgültige‹ oder ›Gelegentliche‹ bezeichnen kann« (Hausmann 2000: 78f.). Die ›Ambivalenz‹ Meißners zeigt sich – wie im Folgenden noch verdeutlicht werden wird – darin, dass er in vielen Punkten die nationalsozialistische Ideologie vehement vertritt, in einigen jedoch nicht. Wenn man jetzt noch bedenkt, dass Meißners Literaturgeschichte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – ganz im Gegensatz zu derjenigen Schirmers – nicht weiter aufgelegt wurde, wird offensichtlich, was man in ihr zu erwarten hat: eine stark nationalsozialistisch geprägte Geschichte der englischen Literatur. Meißners Englische Literaturgeschichte erschien in der Sammlung Göschen des renommierten de Gruyter-Verlages. Anders als der kurze, einbändige Überblick Weisers aus derselben Reihe, war Meißners Literaturgeschichte auf insgesamt vier Bände ausgelegt. Der erste Band, der sich mit der alt- und mittelenglischen Literatur befassen sollte, ist allerdings nie erschienen. Der im Jahr 1937 veröffentlichte zweite Band beginnt mit der Renaissance, und die in den beiden Folgejahren erschienenen Bände drei und vier beschäftigen sich mit der englischen Literatur bis in Meißners direkte Gegenwart hinein. Da die drei Bände in derselben Reihe erschienen wie die Literaturgeschichte Weisers, ist die Ähnlichkeit der Werke zumindest äußerlich recht stark: Die einzelnen Bände Meißners sind mit zwischen 140 und 160 Seiten Umfang relativ kurz, in verständlicher uneingeschränkt in Deutschland. Während dieser Zeit durchdrangen sie – auch in Form eines spezifischen Sprachgebrauchs – mit ihrer Ideologie und Propaganda nahezu alle Lebensbereiche der Deutschen. Die mündliche und schriftliche Allgegenwart ihrer rassenideologischen, militaristischen, auf Führung und Gefolgschaft fixierten Interpretation von Volk und Gesellschaft – verbreitet vor allem auch durch die neuen Medien Rundfunk und Film – war eines ihrer wesentlichen Herrschaftsmittel. Und sie hatten damit bis in die Kriegsjahre hinein Erfolg« (1). Auch Meißners Literaturgeschichte gehört zu den Werken, die vom nationalsozialistischen Sprachgebrauch stark durchsetzt sind.

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Die besonderen Merkmale von Meißners Literaturgeschichte

Sprache gehalten und mit Literaturhinweisen versehen. Aufgrund der Veröffentlichung in einer günstigen Buchreihe, die sich primär an Studenten und interessierte Laien wendet, ist von einer breiten Rezeption auszugehen, auch wenn sämtliche Bände Meißners nur eine Auflage erlebten.97 Aus der Größe und Zusammensetzung des Zielpublikums sowie Meißners Forderung, »alte Fragen erneut zu durchdenken und aus einer anderen geistigen Lage heraus zu beantworten« (II, 7), ist eine erste Funktion seiner Literaturgeschichte abzuleiten: Meißner möchte die englische Literatur vom Standpunkt der nationalsozialistischen Ideologie aus bewerten und damit seiner wohl vorwiegend aus Studenten bestehenden Leserschaft den seiner Meinung nach ideologisch ›richtigen‹ Blickwinkel nahe legen. Umso wichtiger ist es daher, Meißners Bild von Englishness herauszuarbeiten und zu untersuchen, inwieweit dieses durch die Ideologie bestimmt wird. Ferner ist es vom Standpunkt der Wissenschaftsgeschichte von Interesse, zu überprüfen, welcher Tradition der Literaturgeschichtsschreibung Meißner folgt: Da Meißner schon in den ersten Worten seiner Literaturgeschichte die große Bedeutung nationaler Eigenheiten betont, ist zu erwarten, dass er überwiegend der deutschen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung folgt. Ob diese Vermutung zutrifft, soll im Folgenden untersucht werden. Schon die Titel der drei Bände von Meißners Literaturgeschichte geben erste Aufschlüsse darüber, welcher Traditionslinie er verpflichtet ist. Band zwei trägt den Untertitel ›Von der Renaissance bis zur Aufklärung‹, Band drei den Titel ›Romantik und Viktorianismus‹, und der vierte Band umfasst ›Das 20. Jahrhundert‹. Insgesamt gliedert Meißner den von ihm behandelten Ausschnitt der englischen Literaturgeschichte in sieben Epochen; bei der Benennung der ersten vier richtet er sich nach der deutschen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung und differenziert Renaissance, Barock, Aufklärung, Romantik; ab dem 19. Jahrhundert wählt Meißner hingegen Epochenbezeichnungen, die spezifisch auf England gemünzt sind: Viktorianismus, Vorkriegsengland und Nachkriegsengland. Meißner geht insgesamt nicht von einem monolithischen Charakter der einzelnen Epochen aus, sondern erläutert beispielsweise bezüglich der Renaissance: Die innere Einheitlichkeit der Epoche selbst erscheint uns keineswegs mehr so sicher wie noch einer Generation vor uns, sondern wir stellen eine eigentümliche Spannung, ein Gegeneinander der verschiedenen Kräfte fest, wennschon sich noch – und darin liegt der bezeichnende Unterschied zum Barock – ein einheitliches Idealbild von Welt und Mensch erkennen läßt, in dem alle Unru97 Es kam nach dem Krieg zu einer ›inoffiziellen‹ Neuauflage von Meißners Literaturgeschichte: Friedrich Schubel nahm weite Teile der Bände Meißners als Grundlage und veröffentlichte in den Jahren 1954-1960 – ebenfalls im de Gruyter-Verlag – seine Englische Literaturgeschichte. Schubel entfernte sämtliche Hinweise auf nationalsozialistische Einflüsse und lieferte auch den bis dahin fehlenden ersten Band. Allerdings endete seine Literaturgeschichte mit dem viktorianischen Zeitalter, da er den vierten und letzten Band schuldig blieb. In den 1970er Jahren wurde Schubels Literaturgeschichte ein zweites Mal aufgelegt.

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39) he der Zeit zum Ausdruck kommt. Es sind jene Vorstellungen eines idealen Lebens, die sich zu einem erheblichen Teil am Vorbild der Antike gebildet haben, und die man in ihrer geistesgeschichtlichen Funktion als Humanismus bezeichnet. (II, 7)

Meißner sieht also innerhalb einer Epoche durchaus unterschiedlich starke Kräfte am Werk, die um die Vorherrschaft ringen und ganz verschiedene, sich widersprechende literarische Ausprägungen hervorbringen können. Auch die Epochengrenzen betrachtet Meißner nicht als scharfe Zäsuren, sondern eher als fließende Übergänge. Das wird deutlich in den erläuternden Abschnitten, die Meißner jeder seiner Epochen voranstellt und in denen er die Kultur der jeweiligen Zeit sowie die geistesgeschichtlichen Strömungen präsentiert, die die Literatur der Epoche prägten. Zum Übergang zwischen Mittelalter und Renaissance schreibt er etwa: »Geradesowenig wie auf geistesgeschichtlichem besteht auf literarischem Gebiet zwischen Mittelalter und Renaissance ein schroffer Bruch« (II, 28), und auch zwischen Aufklärung und Hochromantik liegt für ihn mit der so genannten Frühromantik eine Übergangsphase (III, 13). Trotz ihrer inneren Spannungen und fließenden Übergänge zeichnen sich die literarischen Epochen Englands für Meißner doch jeweils durch einen sehr spezifischen Eigencharakter aus. Bei der Beschreibung dieses Charakters beschränkt sich Meißner nicht nur auf die Literatur, sondern präsentiert auch einen kurzen Überblick über Gebiete, die mit Literatur weder unter einem eng noch einem weit gefassten Literaturbegriff etwas zu tun haben. Im Einleitungsabschnitt mit dem Titel ›Kultur der Zeit‹ zu seinem Kapitel über den Viktorianismus beschreibt Meißner beispielsweise Verkehr und Technik, Naturwissenschaft, Bildung, Architektur und Kunsthandwerk. Hinzu kommen Randgebiete der Literatur, die in deutschen Literarhistorien für gewöhnlich nicht unbedingt beachtet werden: Geschichtsschreibung, Theologie und Pressewesen. Eine komplette Auflistung der Charakteristika, die von Meißner jeder einzelnen Epoche zugesprochen werden, erscheint hier wenig sinnvoll. Einige Einzelbefunde sind allerdings interessant genug, um näher beleuchtet zu werden. Beispielsweise betrachtet Meißner trotz der fundamental unterschiedlichen Dekaden der Puritanerherrschaft und der Restauration das 17. Jahrhundert als eine einzige, zusammenhängende Epoche. Er erklärt diesen Gegensatz wie folgt: »Das Barock [ist] dadurch gekennzeichnet, daß sich die Gegensätze nicht mehr vereinigen lassen. […] Und die Menschen sind Kinder ihrer Zeit; kaum hat es bis zur Romantik so viele innerlich zerrissene Naturen gegeben wie im Barock« (II, 51). Obwohl es nach englischem Verständnis die Epoche des Barock in der englischen Literatur nicht gibt und dieser Zeitraum aufgrund massiver politischer und literaturgeschichtlicher Einschnitte in der englischen Literaturgeschichtsschreibung in mehrere kürzere Epochen aufgeteilt wird, hält Meißner an ihr – und damit an der deutschen Tradition der Epocheneinteilung – fest. Damit unterscheidet sich Meißners Literaturgeschichte – zumindest für die Literaturepochen bis zum 19. Jahrhundert – von den bisher betrachteten, die meist keiner der beiden Traditionslinien eindeutig folgten.

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Die besonderen Merkmale von Meißners Literaturgeschichte

Im zu Beginn zitierten Eingangsabsatz zur Renaissance betont Meißner, dass gleichnamige Epochen sich in den Ländern Europas durch ihre spezifischen nationalen Ausprägungen voneinander unterscheiden. Diese Feststellung trifft für ihn auf manche Epochen mehr zu als auf andere. Zur Aufklärung schreibt Meißner beispielsweise, dass diese »eine allgemein westeuropäische Geistesform und in ihrem kulturpolitischen Ausdruck viel weniger national geprägt [ist] als die Renaissance oder die Romantik« (II, 95). Die Aufklärung ist für ihn eine »internationale Tendenz, an der auch England weithin Anteil hat« (II, 95). Im Gegensatz dazu ist für Meißner das viktorianische Zeitalter für England so spezifisch, dass er in dessen Benennung sogar der englischen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung folgt: Die ›viktorianische Kultur‹, ein Begriff, der erstmalig 1851 zur Bezeichnung der durch die Regierung der Königin Viktoria bestimmten Epoche gebraucht worden ist, zeigt in ihrer Blütezeit zwischen 1830 und 1880 eine innere Geschlossenheit, wie England sie seit den Tagen Elisabeths nicht mehr besessen hat. (III, 75)

Und zum Nachkriegsengland schreibt Meißner: Post War ist bereits ein fester geschichtlicher Begriff für jene Epoche geworden, die mit dem Ende des Krieges einsetzt und ungefähr um 1930 zum Abschluß kommt. Die Zeit ist durch die leidenschaftliche Abwehrhaltung gegenüber dem Geist des 19. Jahrhunderts bestimmt, ohne daß es jedoch gelingt, an die Stelle zertrümmerter Werte ein neues Aufbauziel zu setzen. Ein verhängnisvoller Kulturpessimismus gibt den Nachkriegsjahren daher weithin das Gepräge. (IV, 64)

Warum folgt Meißner mit der Benennung der Literaturepochen ab dem 19. Jahrhundert nicht mehr der deutschen, sondern der englischen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung, wenn er doch beispielsweise beim Barock so vehement an der deutschen Tradition festgehalten hat? Eine mögliche Erklärung hierfür wäre, dass sich die politischen, gesellschaftlichen und schließlich auch geistesgeschichtlichen Strömungen in Deutschland und England in jüngerer Zeit derart stark voneinander unterscheiden, dass es schlichtweg keinen Sinn mehr machen würde, der deutschen Tradition der Epocheneinteilung zu folgen. Gleichgültig, welcher Tradition Meißner bei der Benennung seiner Epochen folgt, bei ihrer Definition sind für ihn ausschließlich die jeweiligen geistesgeschichtlichen Strömungen ausschlaggebend. Für ihn ist die Literatur ein Spiegel von Gesellschaft und Zeit und damit völlig von den Rahmenbedingungen ihrer Entstehung abhängig.98 Daher schildert Meißner immer zuerst die Kultur einer Zeit mit ihren vorherrschenden Geistesströmungen und zeigt erst dann auf, welche Art von Literatur aus dieser Kultur entstanden ist. Zur Literatur der turbulenten Nachkriegszeit schreibt er beispielsweise: 98 Zur Renaissance schreibt er zum Beispiel: »Die Literatur ist ein treuer Spiegel dieser ganzen Verhältnisse.« (II, 10)

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39) Daneben aber geht auch durch die ganze Nachkriegszeit der Strom des ruhigen Verharrens hindurch, eine – man möchte fast sagen – zeitlose Literatur, obwohl auch in ihr die Kämpfe der Stunde ihren Niederschlag finden. Von hier aus entwickelt sich allmählich die Richtung, die sich die volkhafte Spiegelung des englischen Wesens zur Aufgabe gemacht hat und in der modernen Landschaftsdichtung ihre reifste Ausprägung erfährt. (IV, 73)

Die Autoren und ihre Werke sind für Meißner im Vergleich zu den Strömungen der Zeit von nachgeordneter Bedeutung, und er versucht konsequent, sie den einzelnen Strömungen zuzuordnen, wie beispielsweise John Skelton aus dem 15./16. Jahrhundert: In der Annahme der Würde des Poeta Laureatus, die ihm Oxford 1489 verleiht, liegt sein Bekenntnis zu der neuen Geistesrichtung [dem Humanismus]. Dennoch steht er in merkwürdiger Weise zwischen den Zeiten. Sein Verstand zwingt ihn immer wieder zum Bejahen der neuen Epoche, aber seinem Gefühl nach ist er dem Mittelalter verbunden, so daß er eigentlich keiner Zeit ganz gerecht zu werden vermag. (II, 30)

Meißner zieht auch immer wieder literarische Werke heran, die seiner Meinung nach die Zustände und Mentalitäten einer bestimmten Zeit besonders gut demons trieren, beispielsweise die Werke von Greene und Decker zum »Vagabundenunwesen« (II, 14) während der Renaissance. Damit dienen Autor und Werk Meißner primär als Beleg für geistesgeschichtliche Entwicklungen und gesellschaftliche Zustände; mit dem Geniegedanken Engels, der das Autorengenie als unabhängig von seiner Zeit sieht, hat dies nichts mehr zu tun.99 Auch die traditionellen Literaturgattungen treten bei Meißner in ihrer Bedeutung meist hinter die geistesgeschichtlichen Strömungen zurück. In seinem zweiten Band gliedert er beispielsweise die Literatur der Renaissancezeit nicht nach den Gattungen Drama, Lyrik und Epik, sondern teilt sie gemäß der Strömungen, die sie vertreten, den Kapiteln ›Das Erbe des Mittelalters‹, ›Renaissancegeist in der Literatur‹, ›Der Einfluß des Humanismus auf die Literatur‹ und ›Die romantische Literatur‹ zu. Dieser Primat der Geistesgeschichte erinnert mehr an Hettners Ideengeschichte als an die anderen bisher in dieser Arbeit untersuchten Literaturgeschichten. Erst ab dem 19. Jahrhundert gewinnen die traditionellen Literaturgattungen in Meißners Literaturgeschichte als Ordnungsprinzip an Bedeutung. Niemals findet sich zudem bei Meißner ein Autor – und sei er noch so bedeutend – in einer Kapitelüberschrift. Darin unterscheidet er sich von allen anderen bisher analysierten Literaturgeschichten. Aus den obigen Beobachtungen lassen sich die Prioritäten Meißners ableiten: Vorrang hat bei ihm die Epoche, die durch die Gesamtheit der in ihr vereinigten geistesgeschichtlichen Strömungen konstituiert wird. Der Epoche ordnet Meißner 99 Ein Beispiel für die Unterordnung des Autors unter die Kultur einer Zeit ist Meißners Bemerkung zu den Emanzipationsbestrebungen Virginia Woolfs: »Virginia Woolfs Werk ist somit Ausdruck einer bestimmten Zeitkultur, in dieser aber von repräsentativem Charakter.« (IV, 103)

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Die besonderen Merkmale von Meißners Literaturgeschichte

die einzelnen Geistesströmungen unter, die er hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und ihres Einflusses bewertet. Dann erst kommen bei ihm die Gattungen als literaturgeschichtliches Strukturprinzip zum Tragen, die er in der ersten Hälfte seiner Literaturgeschichte den Geistesströmungen unter- und erst ab dem 19. Jahrhundert zumindest beiordnet. Ganz unten auf der Prioritätenliste Meißners stehen schließlich die Autoren und ihre jeweiligen Werke. Bei den Werken erläutert Meißner stets, welche geistesgeschichtlichen Strömungen sie vertreten, und oft auch noch, wie sie auf den Leser wirken. Ihr Inhalt wird meist nur so weit wiedergegeben, wie er mit den Geistesströmungen zu tun hat. Da Meißner eher thematisch gliedert als nach Gattungen, können sich die unterschiedlichen Werke eines Autors (also beispielsweise Dramen und Romane) in ein und demselben Kapitel befinden. Ebenso können sie verteilt sein, so wie die Werke Edmund Spensers, dessen patriotische Epen im Abschnitt ›Die nationale Idee‹ zu finden sind, seine Sonette dagegen im Abschnitt ›Humanistische Literatur‹ – ein weiterer Beleg für die Bedeutung der geistesgeschichtlichen Strömungen als primärem Ordnungskriterium bei Meißner. Dieser Ansatz entspricht nicht dem in englischen Literaturgeschichten gängigen und ist – wenn auch nicht als Norm – eher in der deutschen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung zu finden. Meißners Darstellung der Literatur als direktem Ergebnis der Kultur und der geistesgeschichtlichen Strömungen macht sich auch im Kanon bemerkbar. Den einzelnen Autoren wird insgesamt im Vergleich zu anderen Literaturgeschichten wenig Raum gewidmet. Meißners Spitzenkanon umfasst sieben Autoren, denen er jeweils zwischen vier und sechs Seiten widmet. Hier findet sich bei Meißner Lord Byron mit sechs Seiten als bedeutendster Autor, gefolgt von Henry Fielding, Samuel Taylor Coleridge, Percy Bysshe Shelley, Thomas Hardy, George Bernard Shaw und John Galsworthy mit je zwischen vier und fünf Seiten. Mit Shaw und Galsworthy befinden sich gleich zwei Autoren aus Meißners jüngster Vergangenheit im Spitzenkanon. Da Meißner erst mit der Renaissance beginnt, ist sein Spitzenkanon von vornherein anders zusammengesetzt als der von Schirmer präsentierte: Beispielsweise fehlt bei Meißner Geoffrey Chaucer, der bisher immer zum Spitzenkanon gehörte. Ganz erstaunlich ist das Fehlen Shakespeares, der bei Meißner weder im Spitzenkanon noch auf einer der anderen Hierarchieebenen berücksichtigt wird. Das hat aber nichts mit einer etwaigen Abneigung Meißners gegen Shakespeare zu tun, denn er erklärt: »Über Shakespeare handelt ein besonderer Band« (II, 8), der ebenfalls in der Sammlung Göschen erschien. Wenn man bedenkt, dass der in Meißners Kanon wichtigste Autor – Lord Byron – auf lediglich sechs Seiten abgehandelt wird, dann ist die Bedeutung, die Meißner Shakespeare beimisst, geradezu ins Unermessliche gestiegen. Das wird auch daran deutlich, dass Meißner Shakespeare immer wieder als Maßstab heranzieht, an dem sich

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39)

die anderen Autoren messen lassen müssen.100 Meißners Spitzenkanon weist aber noch weitere Unterschiede zu dem von Schirmer präsentierten auf: Nehmen bei letzterem Spenser, Milton, Jonson, Dryden und Pope prominente Positionen ein, sind diese Autoren bei Meißner in den ausgesprochen breiten Umgebungskanon abgerutscht. Bis auf Shelley und Coleridge haben die Spitzenkanones Meißners und Schirmers also nichts miteinander gemein. Der Umgebungskanon Meißners unterscheidet sich ebenfalls stark von dem Schirmers. Vor allem fällt auf, dass diese zweite Hierarchieebene bei Meißner mit 81 Autoren ungleich größer ist als bei Schirmer, wo sie lediglich 34 Autoren umfasst. In den Umgebungskanon fallen bei Meißner Autoren, denen zwischen einer und vier Seiten Text gewidmet wurden, und in ihm finden sich Literaten wie Spenser, Swift, Dickens, Kipling, Tennyson und Virginia Woolf. Die ungewöhnliche Größe von Meißners Umgebungskanon lässt sich damit erklären, dass bei ihm die Autoren primär als Beleg für Geistesströmungen dienen. Da es in dem von ihm untersuchten Zeitraum englischer Literatur eine Vielzahl geistesgeschichtlicher Strömungen gab, ist auch die Zahl der Autoren, die für diese Strömungen von Bedeutung waren, entsprechend groß. Auf diese Weise haben die Ordnungskriterien Meißners direkten Einfluss auf den von ihm präsentierten Kanon. Die dritte Hierarchieebene in Meißners Kanon bilden diejenigen Autoren, die auf weniger als einer Seite Text gewürdigt werden. Diese Gruppe umfasst 173 Autoren. Die vierte Hierarchieebene wird von 269 Autoren konstituiert, womit der quantitative Unterschied zwischen der dritten und vierten Hierarchieebene bei Meißner geringer ist als in vielen anderen Literaturgeschichten. Der gesamte Kanon Meißners umfasst etwa 530 Autoren und ist damit deutlich kleiner als der Schirmers. Das ist allerdings zu erklären mit dem Umfang der jeweiligen Literaturgeschichten, denn Meißners Literarhistorie ist mit insgesamt etwa 450 (in großer Schrift bedruckten) Seiten nur halb so lang wie die Schirmers. Hinsichtlich der Breite seines Literaturbegriffs folgt Meißner hingegen ganz der englischen Tradition, wobei es sich freilich nicht um eine bewusste Entscheidung gegen die deutsche und für die englische Tradition der Literaturgeschichtsschreibung handelt, sondern um eine Folge der großen Bedeutung, die Meißner den Geistesströmungen beimisst. Denn diese finden ihren Ausdruck nicht nur in der Literatur im engeren Sinne, sondern – in noch viel höherem Maß – in Essays, politischen und gesellschaftlichen Streitschriften, der Philosophie und auch den Naturwissenschaften. Man bedenke, dass Meißner zur Darstellung der geistesgeschichtlichen Entwicklung Englands sogar auf Gebiete wie Oper, Architektur und Kunsthandwerk zurückgreift, die nicht der Literatur zuzuordnen sind. Daher verwundert es nicht, wenn sein Literaturbegriff ausgesprochen weit gefasst ist. Im Einzelnen betrachtet Meißner Literaturkritiker (William Webbe, Ben Jonson), 100 Es findet sich auch eine längere Passage über die moderne Shakespeare-Rezeption in der Theaterlandschaft Englands, in der auf die zeitweilige Vernachlässigung des Dichters auf der englischen Bühne hingewiesen wird (IV, 120f.).

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Die besonderen Merkmale von Meißners Literaturgeschichte

Pädagogen (Richard Mulcaster), Historiker (Sir Walter Raleigh, Oliver Goldsmith), Philosophen/Staatsdenker (Thomas Hobbes, John Locke), theologische Schriftsteller (John Bunyan), Wirtschaftstheoretiker (Adam Smith), Psychologen/Philosophen (David Hartley und Joseph Priestley), Wochenschriften, Wörterbücher wie das von Samuel Johnson, Biographien, Literaturgeschichten wie die von Thomas Warton und sogar Astronomen (Sir Arthur Eddington). Während der Literaturbegriff Meißners in seiner Breite dem in englischen Literaturgeschichten verwendeten gleichkommt, spielt bei ihm die Biographie der Autoren eine untergeordnete Rolle. Nur bei bedeutenderen Autoren gibt Meißner etwas genauer Auskunft über deren Leben (z. B. bei Byron). Damit folgt Meißner nicht der englischen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung; er ist sich ihrer Vorgehensweise aber durchaus bewusst, denn er schreibt, dass es »englischer Haltung [entspricht], den Zugang zum Werk eines Autors durch die Biographie zu finden« (IV, 128). Bezüglich dessen, was Meißner unter englischer Literatur versteht, entspricht er ganz dem üblichen Verständnis englischer Literatur deutscher und englischer Literaturgeschichten. Er berücksichtigt literarische Werke von Engländern ebenso wie von Iren, Walisern und Schotten. Die politische Unabhängigkeit der Regionen spielt für ihn dabei keine Rolle, obwohl er Unabhängigkeitsbestrebungen und eigenständige Entwicklungen durchaus thematisiert. Zu den irischen Bemühungen um ein eigenes Theater seit Ende des 19. Jahrhunderts schreibt Meißner z. B.: »In unermüdlichem Kampf und Einsatz gelingt es den Pionieren der neuen Bewegung tatsächlich, eine arteigene Kunst zu schaffen und das irische nationale Drama zur Blüte emporzuführen« (IV, 46). Das irische Drama ist also eigenständig geworden, wird aber trotzdem unter dem Dach der englischen Literatur berücksichtigt. Meißners Begriff von englischer Literatur ist folglich geographisch und nicht politisch bestimmt. Irische, schottische und walisische Autoren und deren Werke sind fester Bestandteil seines Kanons. Da Meißner mit seiner Darstellung der englischen Literatur erst mit der Renaissance beginnt (Band I zur älteren Literatur wurde nicht veröffentlicht), wird es niemals in Erfahrung zu bringen sein, ob er auch Werke in lateinischer oder französischer Sprache berücksichtigt hätte. So wie es ist, finden sich in Meißners Literaturgeschichte ausschließlich englischsprachige Werke. Wo die Autoren geboren wurden, ist dabei für ihre Zuordnung zur englischen Literatur uninteressant. Da Meißner auch Autoren polnischer (Joseph Conrad), amerikanischer (Ezra Pound) oder südafrikanischer (Roy Campbell) Herkunft in seinen Kanon einschließt, definiert er englische Literatur wohl als Literatur, die auf den britischen Inseln oder aber von Engländern im Ausland (wie von Byron in Italien) geschrieben worden ist. Leider erklärt Meißner nicht, welche Literaturtheorie seiner Literaturgeschichte zugrunde liegt. Wie schon beschrieben, betrachtet er primär die geistesgeschichtlichen Strömungen, die eine Epoche beherrschen und auch in spätere Epochen hinein wirken. Ob es sich dabei um eine stetige Weiterentwicklung oder ein Auf und Ab der Literatur handelt, lässt er offen. Lediglich eine Bemerkung Meißners hinsichtlich der Renaissance lässt weitere Schlüsse zu:

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39) Der Überblick über die literarischen Strömungen des 16. Jahrhunderts wäre nicht vollständig, wollte man nicht von jenem romantischen Element sprechen, das einen am Ende großer Kulturabschnitte häufig zu beobachtenden Einbruch weltflüchtiger Tendenzen in das Zeitdenken darstellt. (II, 49)

Es scheint folglich, dass Meißner von einer linearen Entwicklung der Literatur durch die ineinander übergehenden geistesgeschichtlichen Strömungen ausgeht. Innerhalb der einzelnen Epochen stellt er aber zyklische Tendenzen fest, wie das im obigen Zitat beobachtete, wiederkehrende »romantische Element«. Auch wenn Meißner seine Literaturtheorie nicht genauer darlegt, erklärt er doch deutlich, nach welchen Maßstäben er die Literatur bewertet: Man kann die Literatur einer Zeit nur verstehen, wenn man sie in das geistige Bewußtsein ihrer Epoche einordnet; denn sie ist die Deutung des Seins durch den Dichter, sie ist die künstlerische Gestaltung des Lebens; sie ruft zur Besinnung und zur Verpflichtung zugleich, und nie vorher sind diese Aufgaben der Dichtung in England stärker empfunden worden als in der Renaissance. (II, 8)

Das Bemühen, die literarischen Erzeugnisse einer Zeit in ihrem historischen Kontext zu sehen und zu bewerten, hat Meißner folglich mit Schirmer gemein. Zudem nimmt Meißner an obiger Textstelle recht deutlich eine funktionsgeschichtliche Perspektive ein; er umreißt zentrale Funktionen, die der Literatur seiner Auffassung nach zukommen. Da der Zeitgeist sich von Epoche zu Epoche unterscheidet – die Epochen werden für Meißner ja gerade durch ihn definiert –, können Werke älterer Epochen für moderne Leser unter Umständen kaum mehr verständlich sein. Zu John Miltons Paradise Lost aus dem Jahr 1667 schreibt Meißner beispielsweise: Es gibt kaum eine andere Dichtung der englischen Literatur, die der Forschung bis in die Gegenwart so viele Rätsel aufgegeben hat wie dieses Epos mit dem Thema, die Wege Gottes vor den Menschen zu rechtfertigen. In seinem letzten Gehalt kann es nur im Rahmen der geistigen Auseinandersetzungen des Barockzeitalters verstanden werden. (II, 88f.)

Diese Feststellung Meißners unterstreicht einerseits noch einmal, dass die Darstellung der »geistigen Auseinandersetzungen« einer Zeit für ihn unerlässlich für eine angemessene Werkinterpretation ist. Andererseits demonstriert sie, dass ein Autor in späteren Epochen anders bewertet werden kann als zu seiner eigenen Zeit. Den Bedeutungswandel von Autoren zeigt Meißner an zwei Beispielen auf. In George Chapman, der von 1559 bis 1634 lebte, sieht Meißner einen »Dichter, dem lange Zeit die gebührende Würdigung versagt geblieben ist, den man aber heute zu den wirklich Großen der Literatur rechnet« (II, 71). In Meißners Kanon ist Chapman mit zwei Seiten Text immerhin im Umgebungskanon zu finden. Als Beispiel für den langsamen Bedeutungsverlust eines Autors führt Meißner Samuel Richardson an, über den er urteilt: »So gewaltig der Eindruck war, den Richardson mit seinen Romanen weit über die Grenzen Englands hinaus auf seine Zeit machte, so schnell ist sein Ruhm verblaßt, wenn er auch heute noch mit Achtung ge-

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nannt wird« (II, 122). Der veränderte Zeitgeschmack kann auch dazu führen, dass ältere Werke entsprechend verändert werden, wie es zeitweilig mit Shakespeares Dramen geschehen ist: »Shakespeare und die übrigen Elisabethaner werden ins Barocke umgestaltet, äußerlich heroisiert, opernmäßig aufgezogen und damit dem Zeitgeschmack angepaßt« (II, 76).101 Aus den genannten Beispielen folgt, dass Meißner Entstehung, Rezeption und Bewertung von Literatur als völlig abhängig vom jeweiligen Zeitgeist einer Epoche einstuft. Er selbst versucht hingegen, die Literatur einer Zeit ausschließlich mit den Maßstäben zu bewerten, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung Gültigkeit hatten. Folglich hält Meißner sich in seinem zweiten Band mit scharfen Urteilen stärker zurück als beispielsweise Engel, wenn er auch nicht den Grad an Neutralität erreicht, der für Schirmer charakteristisch ist. Im dritten und vor allem im vierten Band nehmen Meißners Angriffe auf Werke und Autoren in ihrer Schärfe allerdings zu, was wohl primär ideologische Gründe hat. Zur Illustration von Meißners Bewertungen mögen hier drei Textstellen genügen: In Band zwei kritisiert Meißner die Figuren in Samuel Richardsons Romanen. Zu Pamela’s Conduct in High Life aus dem Jahr 1741 bemerkt er: »Allerdings ist der Charakter der Heldin, die mit ihrer Unschuld hausieren geht, inzwischen noch unerträglicher geworden [als im ersten Buch]« (II, 121), und zum 1754 erschienenen The History of Sir Charles Grandison schreibt er: »Dieser ins Männliche umgesetzte Pamelatyp ist wie sein Vorbild ein wahrer Tugendspiegel und dabei doch ein egoistischer Pedant, der auch dadurch nicht sympathischer wird, daß sein Edelmut die Grenze des Menschenmöglichen übersteigt« (II, 121). Persönliche Kritik am Autor klingt in Meißners Kommentar zu Robert Southeys The Vision of Judgment von 1821 an, das »gedacht [war] als bissiger Angriff auf Byron. Man spürt den persönlichen Groll des Talentes gegen das Genie, und damit hat sich Southey selbst das Urteil gesprochen« (III, 46). Ähnlich wie Engel versteht auch Meißner keinen Spaß, wenn jemand die bedeutendsten Autoren seines Kanons kritisiert. Nachdem die beiden obigen Beispiele für Meißners Kritik im ersten Fall künstlerisch, im zweiten persönlich motiviert waren, entspringt das dritte eher politischen Erwägungen. Meißner wirft nämlich der englischen Tagespresse des beginnenden 20. Jahrhunderts ihre deutschlandkritische Haltung vor: Die Presse des neuen Jahrhunderts, bekannt unter dem Schlagwort New Journalism, wird namentlich unter dem Einfluß von Lord Northcliffe (1865 bis 1922) zu einem skrupellosen Organ willkürlicher Massenbeeinflussung und ist vielfach auf die primitivsten Instinkte der Gasse abgestellt. […] Im Verlaufe dieser Entwicklung gleitet die englische Tagespresse immer mehr ins Dema-

101 Zu Veränderungen der Shakespeare-Dramen in späteren Epochen vgl. Gabler (1992: 234ff.).

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39) gogische ab und hat namentlich während des Weltkrieges einen unerhörten Tiefstand erreicht. (IV, 7)

Die Kritik Meißners ist immer dann besonders scharf, wenn sie aus seiner politischen oder ideologischen Überzeugung heraus motiviert wird, wie weitere Beispiele noch verdeutlichen werden. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Meißner immer ausführlicher wird, je näher er seiner Gegenwart kommt – das zeigt schon die Tatsache, dass er die knapp 40 Jahre der Literaturproduktion im 20. Jahrhundert in dem längsten seiner drei Bände behandelt. In gleichem Maße nimmt auch die Schärfe der Urteile Meißners zu, bis er die Autoren seiner eigenen Zeit offen verurteilt oder für ihre ideologische Haltung lobt. Das ist konsistent mit der Forderung Meißners, Literatur im Kontext ihrer jeweiligen Zeit zu sehen und zu bewerten, denn nach dieser Vorgabe darf Meißner die Literatur seiner eigenen Zeit nach seinen eigenen Maßstäben beurteilen – und diese Maßstäbe sind für ihn weitgehend die der nationalsozialistischen Ideologie. Bezüge zu Deutschland Die Beziehungen – literarisch wie politisch – zwischen England und Deutschland werden in Meißners Literaturgeschichte regelmäßig thematisiert. Während sich die Verweise auf eine gemeinsame germanische Herkunft quantitativ in Grenzen halten, verweist Meißner relativ häufig auf deutsche Einflüsse auf die englische Literatur, stellt allerdings auch die kulturellen Unterschiede heraus. Die Rekonstruktion der Einstellung der Engländer gegenüber Deutschland ist für ihn von besonderem Interesse. Vor allem die Zeit um den Ersten Weltkrieg wird von ihm daraufhin untersucht, welche englischen Autoren deutschlandkritisch oder -freundlich waren. Die Gesinnung dieser Autoren fließt dabei in Meißners – durchaus parteiliche – Bewertung mit ein. Es wurde bereits in dem entsprechenden Kapitel erörtert, dass Engel in seiner Literaturgeschichte die gemeinsamen germanischen Wurzeln Englands und Deutschlands betont. Diesem Weg folgt Meißner nicht in dieser Deutlichkeit. Es finden sich bei ihm nur unregelmäßig Bemerkungen, die das Wort ›germanisch‹ mit einem englischen Autor in Verbindung bringen. Lediglich zu George Berkeley, der von 1685 bis 1753 lebte und den Meißner als leidenschaftlich und revolutionär beschreibt, bemerkt er, dass dieser zwar in Irland geboren worden sei, »aber aus altem sächsischen Geschlechte stammt und zu den kühnsten germanischen Denkern gehört« (II, 102). Bei der Seltenheit solcher Bemerkungen Meißners ist allerdings zu beachten, dass der erste Band seiner Literaturgeschichte, der sich mit der alt- und mittelenglischen Literatur beschäftigt hätte, nie erschienen ist. Dort wären Bezüge zu den germanischen Wurzeln von Angeln, Sachsen und Normannen sicherlich häufiger aufgetreten. In Anbetracht der Seltenheit, mit der Meißner Bezüge zwischen England und seinen germanischen Wurzeln herstellt, ist es bemerkenswert, dass er eine ganze

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Bezüge zu Deutschland

Epoche als besonders germanisch geprägt betrachtet – die Romantik. Zu ihr stellt er fest: Sie ist sowohl ihrer historischen Entwicklung als auch ihrem spezifischen Lebensgefühl nach eine Epoche, die in besonderem Maße unter dem Gesetz des ›Werdens‹ steht, und hat daher auf germanischem Boden den Menschen stärker bis in seine Tiefen gepackt als auf romanischem, wo sie stets als etwas Artfremdes empfunden worden ist. Für den germanisch-nordischen Menschen dagegen ist sie Ausdruck seiner Selbstwerdung, keine einmalige Epoche, sondern eine geistige Haltung, die dauern wird, solange der Mensch aus der Unruhe seines Herzens heraus ein Suchender bleibt. (III, 6)

Obwohl Meißner in der Folge auch darauf hinweist, dass die Romantik in England anders verlaufen sei als in Deutschland, wiegen für ihn die Gemeinsamkeiten schwerer: »Das Symbol des Lebens wird in den germanischen Ländern die Bewegung, und wenn der dynamische Mensch langsam wieder mehr gilt als der statische, so findet man damit zu der Grundhaltung nordischen Wesens zurück« (III, 13). Dadurch, dass Meißner an dieser Stelle eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen germanischen und romanischen Ländern trifft, rückt er England automatisch näher an Deutschland und distanziert beide Länder von Frankreich. Diese Tendenz wird verstärkt durch die Schilderung der Gemeinsamkeiten Englands und Deutschlands sowie der Einflüsse, die beide Literaturen aufeinander hatten. Von England kommende Impulse sieht Meißner in den Wochenschriften des 18. Jahrhunderts: »Der große Einfluß der ganzen Richtung [der Wochenschriften] auch auf das literarische Deutschland eines Gottsched und darüber hinaus auf das Feuilleton der modernen Zeitung ist unleugbar« (II, 107). Umgekehrt sieht Meißner den Einfluss deutscher Philosophie auf Coleridge (III, 40), Wordsworth (III, 43), auf den philosophischen und metaphysischen Idealismus (III, 92f.) sowie auf das so genannte ›Oxford Movement‹ (III, 93f.). Überhaupt scheinen deutsche Philosophen nach Meißners Meinung für englische Kultur und Literatur von großer Bedeutung zu sein. Zu den Krisen der Nachkriegszeit in England schreibt er: »Vor allen Dingen aber gewinnt Nietzsche in England an Boden, und obwohl man ihn stets und namentlich während des Weltkrieges bekämpft, braucht man ihn doch als Bundesgenossen gegen den immer lastender werdenden Pessimismus, den man doch als artfremd empfindet« (IV, 9). Während Meißner eine zumindest teilweise Ablehnung der Engländer gegenüber Nietzsche feststellt, unterstreicht er bezüglich der späteren, tragischeren Romane von Thomas Hardy (1840–1928) doch wieder die germanischen Gemeinsamkeiten, denn »in Schopenhauer findet er [Hardy] nur gleichsam die Bestätigung für eine Auffassung vom Tragischen, die auch die germanische ist im Sinne einer das Leben beherrschenden Notwendigkeit« (IV, 22). Die Ähnlichkeiten zwischen England und Deutschland stellt Meißner hinsichtlich des Heimatromans der Nachkriegszeit dagegen nicht auf eine philosophische, sondern auf eine ideologische Basis: Völkische Abwehr gegen die Kräfte der Zersetzung im Nachkriegsengland erfolgt in erster Linie durch eine Literatur, die in ihrer Besinnung auf die Werte

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39) der Scholle sich wieder zu der Urkraft alles kulturellen Seins bekennt. So verschieden der Heimatroman Englands auch in vieler Beziehung zu dem Deutschlands ist, in dieser grundlegenden Erkenntnis sind sich beide einig. (IV, 109)

Schon die Begrifflichkeit in der oben zitierten Textstelle – ›Heimat‹, ›Scholle‹, ›völkisch‹ – lässt erkennen, dass Meißner die Entwicklung in England völlig durch den Filter der nationalsozialistischen Ideologie wahrnimmt. Der Begriff ›Heimatroman‹ ist für die englische Literatur nicht üblich und besitzt kein sprachliches Äquivalent.102 Obwohl Meißner dargestellt hat, dass die deutsche Philosophie zeitweilig große Wirkung auf England entfalten konnte, sieht er doch gerade in den philosophischen Grundanschauungen die deutlichsten Unterschiede zwischen Deutschen und Engländern. Zur Zeit der Aufklärung stellt er in diesem Sinne fest: Als eine typisch englische Philosophie kann die Assoziationspsychologie eines David Hartley (1705–1757) und Joseph Priestley (1733–1804) bezeichnet werden. Während deutschem Denken entsprechend der Weg zum Ganzen über die Synthese führt, bei der die unteren Einheiten von den höheren aufgenommen werden (Hegel), begreift der englische Mensch das Ganze als assoziativ nebeneinandergestellte Einheiten, die jede für sich ihre Selbständigkeit bewahren. Dies ist ausgesprochen die Philosophie des englischen Individualismus, die ebenfalls in der Romantik entscheidende Spuren hinterlassen hat. (II, 103)

Trotzdem überwiegen in Meißners Darstellung doch die Gemeinsamkeiten zwischen England und Deutschland, womit die vergleichsweise engen kulturellen Beziehungen beider Länder unterstrichen werden. Diese Beziehungen werden jedoch durch den Ersten Weltkrieg belastet. Schon für die Zeit vor dem Krieg stellt Meißner ein langsames Auseinanderdriften beider Länder fest, obwohl er in England durchaus noch Deutschland gegenüber positiv eingestellte Menschen erkennt: Politisch erhält das Vorkriegsengland sein Gepräge durch das konservative Element, das durch die imperialistisch-chauvinistische Stimmung des Burenkrieges einen neuen Aufschwung erlebt. Sowohl die Reform des englischen Heerwesens […] als auch der gewaltige Ausbau der englischen Flotte […] stehen im Zeichen einer Entwicklung, die immer mehr auf eine Entfremdung von Deutschland hinstrebt. Das wird von vielen deswegen um so tragischer empfunden, als bis um die Jahrhundertwende trotz mancher Spannungen eine gewisse innere Gleichgerichtetheit beider artverwandter Völker bestanden hat, die namentlich ein Mann wie der Kriegsminister und Schopenhauerübersetzer Lord Haldane (1856–1928) erkennt und betont. Er gehört zu den letzten Vertretern der englischen Kultur der Vorkriegszeit, die sich unter dem Einfluß des deutschen Idealismus für eine deutsch-englische Freundschaft einsetzen in einer Zeit, in der die Gegensätze allerdings bereits einen solchen Grad erreicht

102 Am ehesten würde dem deutschen ›Heimatroman‹ der englische Begriff ›regional novel‹ entsprechen.

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Bezüge zu Deutschland haben, daß er mit seinen Hoffnungen einsam bleibt, ähnlich wie der Ministerpräsident Arthur James Balfour (1848–1930). Dieser ist mehr Philosoph als Staatsmann und besitzt nicht die Kraft zu politischer Führung, die in den schicksalsschweren Jahren vor dem Kriege nötig gewesen wäre. (IV, 7)

Interessant am obigen Zitat ist die Schuldzuweisung: England ist für Meißner für die Entfremdung verantwortlich, nicht Deutschland. Die deutschlandfreundlichen Kräfte in England – namentlich den »Schopenhauerübersetzer« Lord Haldane und Balfour, der »mehr Philosoph als Staatsmann« gewesen sei, – sieht Meißner durch einen philosophischen Geist geprägt, aber auch als zu schwach, um sich durchzusetzen. Entsprechend kann Meißner guten Gewissens erbost über die deutschlandfeindliche Haltung sein, die er beispielsweise Kipling zuschreibt: »Später ist Kipling immer chauvinistischer geworden und im Weltkrieg auch vor unverantwortlichen Schmähungen Deutschlands nicht zurückgeschreckt. Erst ganz allmählich verebbte bei ihm die Kriegspsychose« (IV, 33). Deutschlandfeindlichkeit wird, wie auch schon in dem obigen Zitat, mit Chauvinismus gleichgesetzt und durch die Verwendung des Begriffs ›Psychose‹ sogar mit dem semantischen Feld ›Krankheit‹ in Verbindung gebracht. Zur Kriegslyrik Sir Henry Newbolts schreibt Meißner dann: Er verstand es, stets den echten patriotischen Ton zu treffen, so platt auch vieles in seiner Dichtung sein mochte. Im Kriege erfreuten sich seine Gedichte großer Beliebtheit, und es mag für ihn wie auch für Kipling eine schwere Enttäuschung gewesen sein, daß Georg V. nicht einen dieser Weltreichssänger und patriotischen Barden, sondern John Masefield zum Poeta Laureatus machte. (IV, 62)

Eine gewisse Häme gegenüber den beiden Kriegsdichtern und Deutschlandgegnern lässt sich in obiger Bemerkung Meißners nicht von der Hand weisen. Er freut sich regelrecht über die hypothetische »schwere Enttäuschung« Kiplings und Newbolts. Ein solches Verhalten geht mit der Feststellung Hausmanns (2003) konform, dass nach dem Krieg ein besonders anti-englisches Klima in Deutschland entstanden ist.103 Was bei Schirmer also nicht festzustellen war, trifft bei Meißner zu – allerdings bewertet Meißner nicht die gesamte englische Literatur negativ, sondern bringt lediglich denjenigen Autoren Feindseligkeit entgegen, die sich deutschlandkritisch geäußert haben.104

103 Vgl. Hausmann (2003: 15): »Insbesondere die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstandene Wesenskunde, die statt Annäherung an die Nachbarn die Abgrenzung von ihnen betonte, wirkte sich als verhängnisvoll aus und schuf ein anti-englisches Klima, das es so im 19. Jahrhundert nicht gegeben hatte.« 104 Zur Rolle der englischen und deutschen Dichter im Ersten Weltkrieg vgl. Mommsen (2004: 155): »In allen kriegführenden Ländern fühlten sich die Intellektuellen, Schriftsteller und Künstler mit nur verschwindend geringen Ausnahmen dazu verpflichtet, die Kriegsanstrengungen der eigenen Nation mit ihren literarischen oder künstlerischen Mitteln zu unterstützen. Die Briten waren in dieser Hinsicht noch rascher dabei als die

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Dagegen betrachtet Meißner es mit ausgesprochenem Wohlwollen, wenn sich nach dem Krieg ein englischer Autor positiv über Deutschland äußert oder für eine Verbesserung der Beziehungen eintritt, wie beispielsweise Sir Philip Gibbs: Seine Romane sind ausgesprochen aktuell und zeigen überdies ein Verständnis für Deutschland, wie es in der englischen Literatur nur selten anzutreffen ist. Das gilt für The Cross of Peace (1933) mit der Rheinland- und Ruhrbesetzung der Franzosen im Mittelpunkt nicht weniger als für Blood Relations (1935), einem ins Politische umgesetzten Bildungsroman, der englische und deutsche Jugend sich begegnen läßt, bis der Krieg die Bande der Freundschaft zerschneidet. Es geht durch das Inferno der Inflation, bis am Ende das Deutschland Adolf Hitlers als ein neues Morgen aufsteigt. Es steht neben dem England Chamberlains, das Gibbs in This Nettle, Danger (1939) verteidigt. (IV, 95)

Hier sieht Meißner England nach der bitteren Feindschaft im Ersten Weltkrieg wieder als möglichen Partner Deutschlands. Der Erste Weltkrieg hat also in Meißners Darstellung der englischen Literatur durchaus seine Spuren hinterlassen. Allerdings sieht Meißner durchaus die Möglichkeit einer erneuten Annäherung der beiden Länder, zumal England und Deutschland in seinen Augen auf mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zurückblicken können. Vergleich zu Frankreich Auch auf das romanische Nachbarland Frankreich finden sich zahlreiche Bezüge in Meißners Literaturgeschichte, obwohl er die direkten Einflüsse Frankreichs auf England wesentlich weniger betont als Schirmer. Vielmehr weist Meißner auf die Vorreiterrolle Frankreichs bei vielen Entwicklungen hin sowie auf die ablehnende Haltung Englands gegenüber neueren französischen Einflüssen. In vielerlei Hinsicht erkennt Meißner die literarische Überlegenheit Frankreichs gegenüber England an. Zum Vergleich Drydens mit Boileau etwa meint er: Man hat Dryden gelegentlich den englischen Boileau genannt, ein Vergleich, der jedoch mehr oder weniger an Äußerlichkeiten haftet; denn Boileau ist eine innerlich geschlossene Persönlichkeit, für die die Form schon an sich erlebter Inhalt ist; Dryden hingegen bleibt ein stets Ringender. (II, 65)

Und zu Ben Jonson schreibt Meißner: »Man hat [Ben Jonson] gelegentlich neben Molière gestellt, und an diesem Vergleich ist ohne Zweifel manches richtig gesehen, wenn bei dem Engländer auch im Unterschied zu dem französischen Klassiker die Welt viel weniger gefühlsmäßig erlebt wird« (II, 67). Beide Vergleiche geben keine völlig eindeutige Wertung ab, es entsteht aber doch der Eindruck, als schätze Meißner die französischen Autoren etwas höher ein als ihre englischen Gegenstücke. Tatsächliche Vorteile Frankreichs sieht er allerdings, wenn er die Werke Sir William Davenants aus dem 17. Jahrhundert kommentiert. Bei DaveDeutschen. […] Es kam zu einem ›Krieg der Geister‹, bei dem auch die Dichter ihre Rolle zu spielen hatten.«

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Vergleich zu Frankreich

nant hat Meißner nämlich den Eindruck, »als hüte er sich ängstlich, in barocken Schwulst zu verfallen, sondern versuche, seiner Ausdrucksweise etwas von jener Dämpfung zu geben, die den französischen Klassizismus auszeichnet« (II, 76). Und eine Vorreiterrolle der französischen Literatur gegenüber England sieht Meißner sowohl während der Aufklärung – »Frankreich ist in dieser Richtung führend gewesen und in einem bisher nicht gekannten Maße auch für England vorbildlich geworden« (II, 96) – als auch im 18. Jahrhundert: »Langsam wechselt der Roman aus dem Bereich der Erbauungsliteratur in das des pädagogischen Schrifttums hinüber, nachdem Rousseau hier die Bahn freigemacht hat« (II, 125). Nicht nur in der Literatur, auch in der Gesellschaft – und hier vor allem bei der Gleichberechtigung der Frau – erkennt Meißner die Fortschrittlichkeit der romanischen Länder – inklusive Frankreich – gegenüber England an: Die humanistisch gebildete Frau hat in England allerdings nicht denselben Einfluß zu gewinnen vermocht wie in den romanischen Ländern. Das national englische Frauenideal wird bereits im 16. Jahrhundert durch den Gedanken der Ehe und Familie bestimmt, der namentlich in den Dramen Thomas Heywoods als Ausdruck einer Kulturgesinnung erscheint, die durch den Puritanismus bald alle humanistischen Gleichheitsbestrebungen vernichten sollte. (II, 23)

Neben den zahlreichen positiven Bemerkungen über Frankreich führt Meißner auch Beispiele an, die eine ablehnende Haltung gegenüber dem romanischen Nachbarland belegen. Allerdings geht diese Ablehnung nach Meißners Darstellung immer von England aus; Deutschland erwähnt er im Zusammenhang mit Frankreich an keiner Stelle. Zur Literaturkritik John Drydens aus dem 17. Jahrhundert bemerkt er etwa: Wie Davenant läßt er sich nicht in das Schlepptau der französischen Schule nehmen; seine Kritik zeigt vielmehr jene eigentümliche Spannung zwischen kontinental klassizistischem Formwillen und dem Streben nach expansiver Vielgestaltigkeit, das ihm am gewaltigsten im nationalen Genius Shakespeares erfüllt zu sein scheint. (II, 65)

Und auch bei Oliver Goldsmith aus dem 18. Jahrhundert stellt Meißner eine ablehnende Haltung gegenüber Frankreich fest: Wenn er in der Vorrede zu seiner Komödie The Good-Natur’d Man (1768) die Franzosen ablehnt, weil sie einerseits zu sentimental und andererseits zu witzig seien, dann ist ihm die mit dieser Kritik verbundene Verteidigung der nationalen Wertmaßstäbe (Shakespeare, Ben Jonson) innerste Angelegenheit. (II, 116)

Bei den beiden obigen Beispielen handelt es sich um Kritik der Engländer an Frankreich und nicht der Deutschen oder Meißners – zumindest stellt letzterer es so dar. Eine besondere Rolle im englisch-französischen Verhältnis spielt scheinbar das Fin-de-siècle, denn dieses »ist die Zeit, in der der Einfluß Frankreichs, eines Baudelaire oder eines Verlaine, immer deutlicher spürbar wird« (III, 141). Meiß-

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ner findet hier gleich mehrere Belege für eine deutliche englische Ablehnung der französischen Einflüsse: Der [englische] soziale Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts steht sonst fast ausschließlich in der Schule des französischen Naturalismus. […] Freilich hat es auch an leidenschaftlicher Abwehr nicht gefehlt, weil man hier mit Andrew Lang die French Decadence spürte (Quarterly Review, 1892), der gegenüber sich England noch gesund fühlte, und von der es eine gefährliche Schwächung der nationalen Energien fürchtete. Deshalb ist auch ein Mann wie Oscar Wilde (1856–1900), der sich zu diesem Geist des Fin-de-siècle bekannte, englischem Wesen fremd geblieben. (III, 137f.)

Der von Meißner geschilderte englische Widerstand gegen den französischen Naturalismus fand allerdings bald ein zwangsläufiges Ende, weil sich diese Strömung in der englischen Literatur nicht lange hat halten können. Meißner erläutert auch die Gründe hierfür: »Mit Richard Le Gallienne (geb. 1866) und Arthur Symons (geb. 1865) kommt eine Bewegung zum Abschluß, die in England nie recht heimisch gewesen ist, weil die Form für den englischen Geist nicht die Erfüllung, sondern höchstens die Sehnsucht sein kann« (III, 142). Es scheint also für Meißner grundlegende Unterschiede in den Mentalitäten Englands und Frankreichs zu geben, die Abwehrreaktionen seitens der Engländer hervorrufen, welche dafür sorgen, dass bestimmte Geistesströmungen aus Frankreich in England keinen Erfolg haben können. Diese Unterschiede in der Mentalität sind für Meißner allerdings kein unüberwindbares Hindernis für einen kulturellen Kontakt. Er äußert sich beispielsweise sehr anerkennend über den gebürtigen Franzosen Hilaire Belloc, der, »so vieles auch seinem Weg ins Engländertum entgegenstand […], immer stärker in das nationale Engländertum hinein[wuchs]« (IV, 69f.). Franzose zu sein hindert nach Meißners Meinung also nicht daran, englische Eigenschaften anzunehmen. Alles in allem halten sich die Frankreich anerkennenden und ablehnenden Passagen in Meißners Literaturgeschichte die Waage. Es ist dabei ferner zu beachten, dass, wann immer ein Frankreich-kritischer Kommentar fällt, Meißner diesen allein den Engländern zuschreibt. Die Passagen, in denen er die Ablehnung Englands gegenüber Frankreich schildert, sind dabei so selten und so zurückhaltend, dass Meißner persönlich keine feindselige Haltung gegenüber Frankreich nachzuweisen ist, und schon gar kein ausgewachsener Franzosenhass. Da er Deutschland aus den Vergleichen zwischen England und Frankreich völlig heraushält, kann es ihm auch nicht darum gehen, auf diesem Wege die beiden ›germanischen‹ Länder gegen das romanische Frankreich abzugrenzen. Eine relativ neutrale Haltung gegenüber dem Kriegsgegner Frankreich ist in einer sonst in vieler Hinsicht deutlich von nationalsozialistischen Einflüssen geprägten deutschen Literaturgeschichte wie der Meißners unerwartet, zumal eine Revision des Versailler Vertrags, der als »Synonym für Niederlage, Schmach und Elend« (Benz 2000: 151) stand, Teil des Parteiprogramms der NSDAP war (vgl. Benz 2000: 85), was einen erneuten Konflikt mit Frankreich erwarten ließ.

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Elemente der nationalsozialistischen Ideologie

Elemente der nationalsozialistischen Ideologie Die bisher in diesem Kapitel angeführten Zitate haben dem aufmerksamen Leser schon verdeutlicht, dass Meißners Literaturgeschichte stark von nationalsozialistischer Begrifflichkeit durchsetzt ist.105 Auch bei Schirmer haben sich einige wenige Hinweise auf nationalsozialistischen Sprachgebrauch gefunden, ohne dass der Autor jedoch insgesamt die Ideologie der Nazis unterstützt hätte. Bei Meißner liegt der Fall anders: Er baut in seine Literaturgeschichte viele der geläufigsten Konzepte nationalsozialistischer Doktrin ein und bewertet nach diesen Maßstäben vor allem die englische Literatur ab dem 19. Jahrhundert. Die Eckpunkte nationalsozialistischer Ideologie, von denen sich viele in Meißners Literaturgeschichte wiederfinden, umreißt Benz (2000: 84) folgendermaßen: Der Nationalsozialismus hatte wie alle faschistischen Bewegungen, die nach dem Ersten Weltkrieg in ganz Europa entstanden waren, kein gedanklich geschlossenes Programm und kein theoretisches Gerüst, nach dem Staat und Gesellschaft konstruiert werden sollten. Im Gegensatz zur kommunistischen Ideologie begnügten sich die faschistischen Bewegungen und die von ihnen errichteten Regime mit wenigen Grundüberzeugungen, die immer aus nationalistischen, meist aus rassistischen (insbesondere antisemitischen), völkischen, fremdenfeindlichen Elementen, immer aus antikommunistischen und oft aus antikapitalistischen Bestandteilen zusammengesetzt waren, und mit antimodernistischen, antiliberalen und demokratiefeindlichen Komponenten Demagogie übten. Das ›Führerprinzip‹, die Unterwerfung des Individuums im Zeichen einer ›Volksgemeinschaft‹ unter den unumschränkten Willen eines starken Mannes, dem kultische Verehrung entgegengebracht wurde, korrespondierte mit der Ausgrenzung und Verfolgung diskriminierter Minderheiten, mit der Propagierung des ›Rechts des Stärkeren‹, der Durchsetzung politischer Ziele mit brachialer Gewalt, der Verherrlichung von Kriegen und der Verachtung jeder Art von Schwäche.

Für die meisten der oben genannten Aspekte finden sich in Meißners Literaturgeschichte zahlreiche Belege. Zudem lässt sich auch feststellen, dass Meißner zu einer Ablehnung des Intellektuellen – namentlich der Psychoanalyse – tendiert und Konzepte wie die Verherrlichung der Jugend und des Bauernstandes sowie des ›Übermenschen‹ vertritt. Die Ausprägungen dieser ideologischen Verbrämung von Meißners Literaturgeschichte werden im Folgenden anhand von Textbelegen näher beleuchtet.

105 Zur nationalsozialistischen Diktion vgl. das hervorragende Nachschlagewerk Vokabular des Nationalsozialismus von Schmitz-Berning (1998). Besonders häufig verwendet Meißner in Bezug auf englische Werke und Charakterzüge das Adjektiv ›arteigen‹ – ein deutliches Indiz dafür, dass er von einem spezifisch englischen Nationalcharakter ausgeht.

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Rassenideologie Die Rassenideologie spielt in der Begriffswelt Meißners eine wichtige Rolle, wie zahlreiche Textstellen in seiner Literaturgeschichte belegen. Die enge Verbindung, die er zwischen diesem Aspekt der nationalsozialistischen Ideologie und der Literatur sieht, macht exemplarisch folgende Bemerkung Meißners über die Besonderheiten des Barock deutlich: In seiner Dynamik des Kampfes, in seinem Maßlosen und Grenzsprengenden, sowie in seinem Zurückgehen auf die letzten Ursprünge des Lebens ist das Barock eine ausgesprochen germanische Bewegung, wenn wir auch immer wieder den Einbruch anderer Kräfte beobachten, die das scheinbar Formlose in eine bestimmte äußere Gestalt bringen wollen (Klassizismus). Auf jede Einengung des arteigenen Wesens erfolgt jedoch stets wieder der Durchbruch zur blutmäßig bestimmten Lebenshaltung, die ihre Energie aus dem ewig fließenden Strom des Volkstums schöpft. (II, 95)

Meißner sieht folglich die Ausprägungen literarischer Epochen und Strömungen als in direktem Zusammenhang stehend mit dem ethnischen Hintergrund eines Landes. Die obige Beschreibung des Barock als »germanische Bewegung« lässt darauf schließen, dass Meißner sie wohl nicht nur auf England bezieht, sondern auch auf Deutschland. Meißner impliziert damit einen direkten Zusammenhang zwischen der Kategorie ›Rasse‹ und dem Charakter von Literaturepochen. Zum besseren Verständnis werden nachfolgend einige Aspekte der nationalsozialistischen Rassenideologie kurz erläutert. Im Nationalsozialismus ist die Rassenideologie durch das Schlagwort ›Blut und Boden‹ Walther Darrés eng mit denen des ›Bauerntums‹ und der ›Rassenhygiene‹ verbunden.106 Denn Darré [hatte] das ›Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse‹ identifiziert (so der Titel seines ersten Buches 1928), danach hatte er ein Konzept entwickelt, wie man einen ›nordrassischen‹ ›Neuadel aus Blut und Boden‹ (so der Titel seines zweiten Buches, 1930) heranzüchten könnte. (Corni/Gies 1994: 17)

In seinem Bestreben, aus dem ›Bauerntum‹ die von den Nationalsozialisten so gepriesene ›Nordische Rasse‹ zu züchten, griff Darré auf Konzepte zurück, die im 19. Jahrhundert entworfen und im 20. Jahrhundert weiter entwickelt wurden: Der Arzt und spätere Hochschullehrer Alfred Ploetz hatte den Begriff ›Rassenhygiene‹ 1895 in Anlehnung an den Begriff ›Eugenik‹, den der Engländer Francis Galton 1883 verwandt hatte, eingeführt. Es ging ihm nicht allein um eine ›genetische Verbesserung‹ des ›Volkskörpers‹, er sprach vielmehr von der ›Aufartung‹ der ›Gesamtheit des Menschengeschlechts‹ auf dem Weg über die Förderung der ›arischen Rasse‹. Schon Ploetz hatte den Begriff der 106 Zur Rassenideologie und Agrarpolitik im Dritten Reich vgl. Corni/Gies (1994: 17): »Als Erfinder des ideologischen Schlagwortes [›Blut und Boden‹] gilt R. Walther Darré.«

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Elemente der nationalsozialistischen Ideologie ›Zuchtwahl‹ benutzt, mit dem einer ›Entartung‹, dem Schlüsselsyndrom des kulturpessimistischen Zeitgeistes, entgegengearbeitet werden sollte. Die 1932 von Eugen Fischer, Fritz Lenz und Hermann Muckermann veröffentlichten ›Leitsätze der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene (Eugenik)‹ machten die ›Auslese nach eugenischen Gesichtspunkten‹ zur ›Voraussetzung für jede Siedlung‹ und benutzten in diesem Zusammenhang den Begriff ›bäuerliches Leben‹. (Corni/Gies 1994: 20)

Sämtliche oben genannte Elemente – Verherrlichung des bäuerlichen Lebens, Eugenik und Rassenideologie – finden sich in Meißners Darstellung der englischen Literatur. Indem er die Maßstäbe des Deutschen Darré auch auf England bezieht, unterstreicht Meißner die gemeinsamen germanischen Wurzeln und damit die Ähnlichkeit beider Länder. Da das Konzept der Eugenik – wie im obigen Textauszug belegt – zuerst in England entwickelt wurde, ist es nicht überraschend, dass Meißner in England Befürworter der Rassenideologie findet. Er führt den Philosophen Ferdinand Canning Scott Schiller aus dem England der Vorkriegszeit als Beispiel an: »So wird für Schiller, der sich auch zu Nietzsche bekennt und dem Rassegedanken gegenüber eine positive Stellung einnimmt, die Philosophie wieder eine lebensnahe Angelegenheit, von der fruchtbare Wirkungen auf das englische Denken ausgegangen sind« (IV, 11). Dann verdeutlicht Meißner, dass englische Autoren dasselbe Rassenideal des ›nordisch-germanischen Menschen‹ vertreten wie die Nationalsozialisten. In der Figur des Captain Hornblower aus C. S. Foresters Abenteuerromanen sieht Meißner ein Musterbeispiel für diesen Menschentyp: »In The Happy Return (1937) steht ein Fregattenkapitän aus der Trafalgarzeit im Mittelpunkt, ein Leistungsmensch nordischer Prägung, der, durchdrungen von seinem Auftrag, über seine Pflicht hinaus ruhmvolle Heldentaten vollbringt« (IV, 95). Aber nicht nur Kriegshelden wird von Meißner der Stempel des ›nordischen Leistungsmenschen‹ aufgedrückt, auch der ›Bauernstand‹ wird von ihm – ganz nach den Vorstellungen Darrés – als Verkörperung der ›nordischgermanischen Rasse‹ gesehen. Das zeigt sich in seinen überaus zahlreichen lobenden Äußerungen über die englische Volksdichtung, deren Ursprung er im ›Bauernstand‹ zu erkennen glaubt. Bezüglich der sozialen Veränderungen während der Renaissance schreibt Meißner beispielsweise: Noch gibt es allerdings einen Bauernstand, der stolz auf seine Arbeit und seine Gesittung ist, und dessen Geist nicht nur in den Werken eines Greene (George-a-Green, the Pinner of Wakefield, um 1592) und Ben Jonson (A Tale of a Tub, 1601?) lebt, sondern auch in dem noch viel zu wenig durchforschten Brauchtum. (II, 11)

Im Abschnitt ›Die Bauerndichtung und Volkspoesie‹ unterstreicht Meißner noch einmal die Bedeutung des Bauerntums für das englische ›Volkstum‹: »Die frühromantische Bauerndichtung und Volkspoesie erwächst aus dem Besinnen auf die Werte des eigenen Volkstums als Gegenkraft zum Kosmopolitismus der Aufklärung« (III, 24). Und diese Entwicklung beobachtet Meißner nicht nur für England, sondern auch für Schottland, denn der Schotte Allan Ramsay »bekennt sich

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[…] zu einem Bauerntum, das zäh und hart, aber auch froh und ausgelassen sein kann« (ebd.), und vertritt damit die Werte des ›nordischen Menschen‹. Wie schon deutlich gemacht wurde, beinhaltet das Konzept von ›Blut und Boden‹ mit der ›Bewahrung des Bauernstandes‹ nicht nur ein konservatives Element, sondern auch die Forderung nach einer ›Aufartung zum nordischen Menschen‹. Da das dazu notwendige Konzept der Eugenik zuerst in England in Worte gefasst wurde, geht Meißner intensiv auf dessen geistige Väter ein: Jedoch hat es nicht an Versuchen gefehlt, die Krise [der Nachkriegszeit] zu überwinden. Bezeichnend ist dafür die Auseinandersetzung mit der Lehre der Eugenik, die letzten Endes an die von Darwin und Spencer ausgehenden Entwicklungslehren anknüpft. Sir Francis Galton (1822–1911) hatte bereits 1883 in seiner Schrift Human Faculty and its Development die neuen Gedanken über Rassenveredelung ausgesprochen und weiterhin in seinen Schriften ausgebaut. Ganz deutlich wirkt noch die These vom Kampf ums Dasein und dem Prinzip der Auslese nach. Die Verbindung zum Imperialismus stellt der Philosoph F. C. S. Schiller (geb. 1864) her, der 1926 in seinem Buche Eugenics and Politics für das englische Weltreich ein rassisch gesundes Geschlecht fordert, das alle ungesunde Verweichlichung von sich abtut. Am lautesten und eindringlichsten hat jedoch William Ralph Inge (geb. 1860), der ehemalige Dean von St. Paul’s, die rassische Veredelung gefordert und aus der Not der Stunde heraus immer wieder seine Stimme für ein neues England erhoben. Schon die Outspoken Essays (Band I, 1919; Band II, 1922) decken die innere Unwahrhaftigkeit der Nachkriegsgeneration auf, und sein Englandbuch (1927, neunte Auflage 1933) sieht die Lebenskraft seines Volkes ernsthaft bedroht. Aber sein Pessimismus, der ihm den Namen des gloomy dean eingetragen hat, bedeutet keine entsagungsvolle Kapitulation vor der Not; ihm steht der unbeirrbare Glaube an die große Kulturaufgabe Englands gegenüber, die mit Hilfe bewußter Erziehungsarbeit durch den eugenischen Gedanken zu lösen ist. Dieser ist dann in Deutschland durch die Forderung der Erhaltung und Pflege bestimmter rassischer Bestandteile (Erbpflege) von neuem aufgegriffen und aus völkischem Verantwortungsbewußtsein vertieft worden. (IV, 67f.)

Meißner würdigt im obigen Zitat die englischen Vorreiter eines menschenverachtenden Konzepts und weist gleichzeitig darauf hin, dass die Eugenik erst in Deutschland wirklich perfektioniert wurde. Die Ziehung von Parallelen zwischen England und Deutschland geschieht in diesem Punkt gewiss nicht zufällig: Erstens rechtfertigt Meißner damit die Theorie, die hinter den zynischen und verbrecherischen Vorgängen im Dritten Reich stand; zweitens zeigt er die Ähnlichkeit im Denken von Engländern und Deutschen – bedingt durch die gleichen ›germanischnordischen Wurzeln‹; drittens hat Meißner sicherlich auch Hitler-Deutschland und dessen expansive Ambitionen vor Augen, wenn er von der imperialistisch geprägten ›großen Kulturaufgabe‹ Englands spricht sowie der dafür notwendigen ›rassischen Veredelung‹.

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Antisemitismus Stellte das Zuchtprogramm für den ›nordischen Menschen‹ die ›konstruktive‹ Seite der nationalsozialistischen Rassenideologie dar, repräsentierte der massive Antisemitismus und die aus ihm resultierende Ermordung von Millionen die ›vernichtende‹, denn »mit Hitlers Machterhalt war der Antisemitismus, die rassistisch begründete Judenfeindschaft der NSDAP, Staatsdoktrin geworden« (Benz 2000: 29). Dabei haben die Nationalsozialisten den Antisemitismus nicht erfunden, sondern sie griffen auf die ›Erkenntnisse‹ und Behauptungen der Sektierer und Fanatiker, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den rassistisch begründeten modernen Antisemitismus propagierten, zurück. Ohne alle Originalität war die Ideologie der Judenfeindschaft den Manifesten und Pamphleten entnommen, die seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts massenhaft zirkulierten. (Benz 2000: 127)

In Meißners englischer Literaturgeschichte finden sich zahlreiche Belege dafür, dass auch er ein Anhänger dieses Aspekts nationalsozialistischer Doktrin ist. Meißners Antisemitismus zeigt sich schon in seiner grundsätzlichen Diffamierung aller Autoren jüdischer Herkunft. Ein recht harmloses Beispiel hierfür ist noch seine Bewertung von Olive Schreiner, die Abenteuerromane verfasst hat: Am Anfang dieser neuen Gattung steht die Schriftstellerin Olive Schreiner (1855–1930) mit ihren südafrikanischen Romanen (z. B. The Story of an African Farm, 1883), die zwar die fremde Landschaft farbig schildern, aber die Menschen in völlig verzerrtem Lichte zeichnen und überdies mit langatmigen Betrachtungen (Frauenfrage) beladen sind, so daß eine künstlerische Wirkung von dieser Autorin jüdischer Herkunft nicht ausgeht. (IV, 29)

Meißner spricht der Autorin jede Bedeutung ab und scheint dabei vorauszusetzen, dass die ›jüdische Herkunft‹ Schreiners die unterstellte mangelnde künstlerische Qualität ihres Werkes erklärt oder doch zumindest untermauert. Noch deutlicher antisemitisch wird Meißner in der Darstellung der Nachkriegszeit Englands. Hier schreibt er: »Gewiß fehlt Lytton Strachey das Zersetzende des Juden Emil Ludwig Cohn« (IV, 66). Bei Cohn handelte es sich um einen deutschen Autoren jüdischer Herkunft, der dem Nationalsozialismus kritisch gegenüber stand und dessen Bücher von den Nazis verbrannt wurden. Dies alles wird von Meißner aber nicht erklärt, so dass ein solcher Seitenhieb auf einen dem Regime ungenehmen Autor wohl an eine Leserschaft gerichtet ist, die sich mit der nationalsozialistischen Ideologie und ihren Feindbildern auskennt. Aber auch in England findet Meißner Autoren jüdischen Glaubens, die er angreifen kann: In dieser glaubenlos gewordenen Nachkriegszeit erscheinen auch die Werke des jüdischen Historikers Sir Philip Guedalla (geb. 1889), der in seinem Wellingtonbuche (The Duke, 1931) das Bild des Feldherrn durch ein Rankenwerk von Geistreichigkeiten völlig verdeckt. Die Geschichte löst er in eine Reihe von Episoden auf; es fehlt auch ihm alles Konstruktive, und aus seiner haßerfüllten Ablehnung des neuen Deutschlands macht er kein Hehl. (IV, 66f.)

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Meißner scheint geradezu wütend auf Guedalla zu sein, weil dieser es wagt, das Dritte Reich abzulehnen. Darüber, dass Guedalla als Teil einer in Deutschland diskriminierten und unterdrückten Glaubensgemeinschaft jeden Grund dazu hat, verliert er kein Wort. Zum Teil wird Meißner auch richtig beleidigend. Zu Gilbert Cannan schreibt er beispielsweise: »Daß der jüdische Autor Gilbert Cannan (geb. 1884) in seinem Künstlerroman Mendel (1916) völlig asozial ist, setzt nicht weiter in Erstaunen« (IV, 80). In Anbetracht seines Antisemitismus ist es für ihn völlig unverständlich, dass Nicht-Juden mit Juden Umgang pflegen können, wie z. B. Noël Coward: »Es stimmt nachdenklich, wie groß der Einfluß dieses Autors ist, der seine musikalische Komödie Operette (1938) der Jüdin Fritzi Massary gewidmet hat« (IV, 125). Meißner wittert hier wohl den wachsenden Einfluss der – noch zu erläuternden – von Hitler befürchteten jüdischen Weltverschwörung, deren Wirken er auch am Hofe König Eduards VII. vermutet: Sein Hof [Eduard VII.] wird ein Mittelpunkt fröhlicher Geselligkeit, wobei allerdings das jüdische Element immer stärker Eingang findet (Sir Ernest Cassel) und das englische öffentliche und geistige Leben immer maßgebender zu bestimmen beginnt. Ein gewisser Kosmopolitismus, der freilich nicht dem europäischen Frieden gedient hat, tritt an die Stelle der Abgeschlossenheit Englands unter Viktoria, ohne daß allerdings ein völliger Bruch mit der Gesittung der vergangenen Epoche vollzogen wird. Auch Eduard hat den konservativen Empfindungen seines Volkes weithin Rechnung getragen und mehr eine Umformung als eine wirkliche Neuformung des englischen Denkens und Fühlens angestrebt. (IV, 6)

Obige Textstelle lässt vermuten, dass Meißner das »jüdische Element« für den Ersten Weltkrieg verantwortlich macht – Paranoia macht wohl nicht vor Literaturwissenschaftlern halt. In seiner Literaturgeschichte liefert Meißner Belege dafür, dass er die Engländer jüdischer Herkunft nicht als Engländer betrachtet. Bezüglich John van Drutens schreibt er: »Ist schon bei Noël Coward kaum völkisches Bewußtsein vorhanden, so zeigt John van Druten (geb. 1901), der holländisch-jüdischer Herkunft ist […], nur eine äußere Beeinflussung durch englisches Wesen« (IV, 125f.). Und Siegfried Sassoon macht er sogar das Recht streitig, für England sprechen zu dürfen: »Der jüdische Autor Siegfried Sassoon (geb. 1886) kann schon auf Grund seiner Rassezugehörigkeit nicht als Künder des Kriegserlebens im Sinne völkischer Gebundenheit Geltung beanspruchen« (IV, 143). Selbst verdiente Staatsmänner wie der Premierminister Benjamin Disraeli aus dem 19. Jahrhundert sind für Meißner keine wirklichen Engländer, sondern primär Juden mit einer eigenen Agenda: Diesen Imperialismus hat Disraeli (1804–81) mit seiner Forderung vom Herrschaftsanspruch der jüdischen Rasse für seine Ideen nutzbar zu machen gewusst. Was er für England getan hat, ist letzten Endes für das Judentum geschehen, und wenn er in seinem Roman Tancred (1847) die Zukunft Englands im Orient erfüllt sieht, ist das der Traum von der jüdischen Weltherrschaft. (III, 86)

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Aber Meißner sieht auch antisemitische Tendenzen in England: Für sich steht der einflußreiche jüdische Autor Humbert Wolfe (geb. 1885), den die englische Kritik bezeichnenderweise gerne mit Heine vergleicht. (Er ist auch Herausgeber und Übersetzer Heines.) Er hat dieselbe unechte, gelegentlich durch Sarkasmus abgelöste Romantik, wie sie jener besitzt. Er sowie sein Rassegenosse James Elroy Flecker (1884–1915) mit seinem orientalischen Sinnenkult werden von den Vertretern eines völkischen Selbstbewußtseins entschieden abgelehnt. (IV, 143)

Wie aus dem Beispiel Bellocs ersichtlich wurde, kann nach Meißners Ansicht ein Franzose durchaus zum Engländer werden. Für Juden trifft das anscheinend nicht zu, denn für ihn sind die Werke Wolfes und Fleckers mit englischem Wesen nicht zu vereinbaren. Der Vergleich Wolfes mit Heine ist keineswegs als Kompliment Meißners gedacht – Heines Bücher landeten bei den Nationalsozialisten auf dem Scheiterhaufen.107 Hier wird auch deutlich, dass Meißner den gängigen nationalsozialistischen Vorurteilen anhängt, denn »beispielsweise wird Heinrich Heines Kritik am zeitgenössischen Deutschland oder sein Hang zur Ironie stets auf sein Judentum, auf das angeblich Zersetzende und Zerstörende des jüdischen Wesens zurückgeführt« (Ziegler 1965: 151). Auch bezüglich Cohns und Guedallas sprach Meißner weiter oben schon vom ›Zersetzenden‹ und dem Fehlen alles ›Konstruktiven‹. Viele Nationalsozialisten gingen vom Vorhandensein einer jüdischen Weltverschwörung aus, die nach ihrer Meinung auch den Bereich des Kapitalismus umfasste. Belege für diese Verbindung sieht Meißner deutlich im viktorianischen Wirtschaftsideal, das er scharf kritisiert: »Bürgerlich-fortschrittlich ist das Wirtschaftsideal. Es beginnt jene verhängnisvolle Epoche, in der die Politik immer stärker in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Wirtschaft gerät« (III, 76f.). Und Meißner erklärt auch, wer seiner Meinung nach die Verantwortung für diese Entwicklung trägt: »Die ideengeschichtlichen Grundlagen dieser Wirtschaftsentwicklung liefert die materialistische Rationalökonomie des holländischen Juden David Ricardo (1772–1823)« (III, 77). Und die Folgen sind weit reichend, denn »der neue Wirtschaftsgeist teilt die Menschen in Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein, von denen jene durch das kapitalistische System zu immer größerem Reichtum gelangen, diese aber immer stärker das Opfer sozialer Not werden« (III, 77f.). Gemäß der simplen Weltanschauung der Nationalsozialisten macht Meißner folglich die Juden direkt für den Kapitalismus in England sowie die aus ihm resultierende soziale Not verantwortlich.

107 Zur »Tradition der antisemitischen Diffamierung Heines« (20) in der deutschen Germanistik im 19. und 20. Jahrhundert vgl. Peters (1990). Zur Rezeption der Werke Heines in Deutschland vgl. auch Höhn (2004: vii): »Um keinen anderen Großen der deutschen Literatur ist so erbittert und so lange gestritten worden wie um Heinrich Heine.«

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Antikapitalismus Mehrfach finden sich kritische Äußerungen Meißners zum kapitalistischen Wirtschaftssystem Englands. Schon für das elisabethanische Zeitalter stellt er fest: »Wie über ganz Europa, so kommt auch über England eine maßlose Gold- und Geldgier« (II, 11). Aber handelt es sich hier nach seiner eigenen Aussage noch um eine gesamteuropäische Entwicklung, sind seine Beobachtungen für das 18. Jahrhundert schon spezifischer auf England gemünzt: Träger des Wirtschaftsprozesses wird im 18. Jahrhundert das Individuum, das sich unter dem Einfluß des kapitalistischen Denkens einem hemmungslosen Spekulantentum hingeben kann. Eine verhängnisvolle Gründersucht macht sich geltend, und der Zusammenbruch der Südseegesellschaft, der South Sea Bubble vom Jahre 1720, führt der Welt die möglichen Folgen eines entfesselten kapitalistischen Systems schlaglichtartig vor Augen. (II, 100)

Meißners kritische Haltung gegenüber dem kapitalistischen England ist ideologisch begründet und fußt in der nationalsozialistischen Kapitalismusfeindlichkeit.108 Es wurde bereits veranschaulicht, dass Meißner eine direkte Verbindung zwischen seinem Antisemitismus und der Rolle des Kapitalismus in der Wirtschaftspolitik des viktorianischen Englands sieht und die Verantwortung für die zunehmende Verschlechterung der sozialen Zustände im Großbritannien des ausgehenden 19. Jahrhunderts den Juden in die Schuhe schiebt. Und indirekt macht er sie damit sogar für das Aufkommen der kommunistischen Ideologie verantwortlich, wie folgendes Zitat zeigt: Alle wohlmeinenden Maßnahmen haben das ungeheure soziale Elend nicht zu bannen vermocht, das seit den achtziger Jahren das Leben Englands beschattet, in einem viel größeren Maße noch als etwa zur gleichen Zeit in Deutschland. In dieser englischen Umgebung – das sollte man nicht vergessen – hat Karl Marx sein Kapital geschrieben. Grauenvolle slums in London und den Industriestädten des Nordens, sowie die verheerende Auswirkung der Kinderarbeit gefährden die physische und moralische Gesundheit eines Volkes, das sich dem Alkohol immer stärker verschreibt. Die alten behaglichen inns sind durch die pubs ersetzt, vor deren Türen sich furchtbare Szenen sozialer Verkommenheit abspielen. In diesem England hat im Jahre 1889 der verbannte russische Student Lenin seine weltrevolutionären Ideen reifen lassen. (III, 133)

Die enge Verbindung zwischen Juden und Kommunismus ist eine Annahme nationalsozialistischer Ideologie, deren Wahrheitsgehalt Meißner am Beispiel Englands verdeutlichen will.109 Seine ›Beweiskette‹ sieht folgendermaßen aus: Die

108 Zur komplexen Beziehung zwischen Nationalsozialismus und Kapitalismus im Dritten Reich vgl. beispielsweise die Untersuchungen von Turner (1972) oder Klepsch (1990). 109 Die Verbindung zwischen Antisemitismus und Antikommunismus stellt Benz (2000: 133) folgendermaßen dar: »Die pathologischen Vorstellungen im Weltbild Hitlers, die in der bösartigen Karikatur des Juden, in Phantasien von der jüdischen Weltverschwö-

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Juden sind für den Kapitalismus in England verantwortlich; dieser zieht soziales Elend nach sich, in dem dann kommunistische Ideen entwickelt werden können. Sein Verweis auf Deutschland im obigen Zitat hat vermutlich den Zweck, klarzumachen, dass nach Meißners Meinung selbiges in Deutschland nicht hätte geschehen können. Antikommunismus In seiner englischen Literaturgeschichte macht Meißner aus seiner kommunismusfeindlichen Haltung keinen Hehl, und sowohl Geschichte als auch Literatur Englands bieten ihm reichlich Gelegenheit dafür, diese zu demonstrieren, da er überall kommunistische Einflüsse, aber auch englische Gegenbewegungen feststellt. Letztere beobachtet Meißner zum ersten Mal im viktorianischen Zeitalter, in dem er den so genannten Chartismus als Alternative zum Marxismus begrüßt: »In der Bewegung des Chartismus (1837–48) hat man es mit dem von ausgesprochen idealistischem Streben bestimmten Versuche des Arbeiterstandes, statt Masse Volk zu sein, zu tun – darin liegt der große Gegensatz zum Marxismus« (III, 78). Bei Meißner ist der Begriff ›Volk‹ im Einklang mit der nationalsozialistischen Ideologie ausgesprochen positiv konnotiert. Deshalb lobt er auch das soziale Engagement der Bewegung des ›christlichen Sozialismus‹, das sich für ihn – wie der Chartismus – ebenfalls gegen den Marxismus richtet: »Und wenn die englische Arbeiterschaft bei weitem nicht so stark dem Marxismus verfiel wie die des Kontinents, in ihr vielmehr ein stark religiöses Bedürfnis lebendig blieb, so hat das Verdienst daran diese Bewegung des Christian Socialism« (III, 81). Einen weiteren englischen Vertreter des Antikommunismus sieht Meißner im Viktorianer William Morris, der eine stärkere Verbindung von Arbeit und Kunst fordert: Der hier verkündete Sozialismus sagt den materialistischen Lehren eines Karl Marx den Kampf an und bekennt sich zu einer ethischen Haltung, die aus der tiefen Sehnsucht nach Gemeinschaft stammt, so wie Morris sie im Mittelalter und in der germanischen Sagenwelt verwirklicht sah. (III, 90)

In der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg beobachtet Meißner interessiert die Fortsetzung des Konflikts zwischen kommunistischen und antikommunistischen Kräften. Er bemüht sich dabei nicht um Unparteilichkeit, sondern macht den Kommunismus für die Verschlechterung der Zustände in England verantwortlich: »Der im Vorkriegsjahrzehnt entstandene Gildensozialismus ist die englische Ausprägung dieser Idee, durch die die soziale Frage nicht gelöst, wohl aber die soziale Unruhe vermehrt wird« (IV, 8). Diese »soziale Unruhe« verschärfte sich durch die Arbeitslosigkeit nach dem Krieg:

rung gipfelten (und sie mit der von vielen als existenzbedrohend empfundenen Gefahr des Bolschewismus verknüpften), trafen, nachdem eine vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht aufgegangene Saat zu sprießen begann, auf verbreitete Ängste im Publikum, die mit Rhetorik und aller Art von Propaganda geschürt wurden.«

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39) In die englische Arbeiterschaft drang langsam der Gedanke des Klassenkampfes ein; es kam zu großen Streiks und Unruhen, wobei sich ganz deutlich Beziehungen zu den Lehren Moskaus feststellen ließen, und der berüchtigte Brief des kommunistischen Volkskommissars Sinowjew vom Jahre 1924, der zum Sturze der englischen Verfassung aufforderte, enthüllte England eigentlich zum ersten Male die ganze Schwere der roten Gefahr. Der Generalstreik, der am 1. Mai 1926 einsetzte und alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte, war der größte Ausbruch der von Rußland geschürten sozialen Unruhen; er zeigte allerdings auch in der glänzend organisierten Abwehr, daß England noch über genug aufbauwillige Kräfte verfügte, die den Weg in das Chaos nicht mitmachen wollten. (IV, 64)

Meißner macht im obigen Zitat deutlich, dass England den Kommunismus als Gefahr bisher unterschätzt habe, nun aber einen wertvollen Verbündeten im Kampf gegen Moskau darstellen könnte. Als möglichen Alliierten begreift Meißner William Ralph Inge, den er auch schon als Englands Vordenker auf dem Gebiet der Eugenik präsentierte, denn dieser sieht die »Wurzeln der Kraft Englands« (IV, 68) darin, religiös zu sein im Sinne eines Christentums der Tat, national in der Bejahung des Empire und sozial in der aktiven Mitarbeit an einer besseren Zukunft. Deshalb lehnt er in A Rustic Moralist (1937) den Kathedersozialismus eines Marx ab und ruft wie einst Carlyle in seine Zeit hinein das Wort: People your Empire. (ebd.)

Und auch Gilbert Keith Chesterton ist für Meißner ein vorbildlicher Gegner des Kommunismus. Chesterton sieht nämlich die »Welt des Mittelalters« als Bollwerk der Ordnung […] im Kampfe gegen die zersetzenden Kräfte der Zeit. Diese sieht Chesterton in erster Linie im internationalen Kommunismus. […] Im letzten Grunde ist er Engländer, der sein Volk liebt und an seine Zukunft glaubt, und the Englishry, um mit einem Worte Hilaire Bellocs zu sprechen, hat nichts auszulöschen vermocht. (IV, 69)

Meißner würdigt Chesterton zuerst als Kämpfer gegen den Kommunismus und schildert ihn dann als echten Engländer; damit wird impliziert, dass der Kommunismus im Kern ›unenglisch‹ ist und dass ein ›wahrer Engländer‹ kein Kommunist sein kann. Im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Kommunismus weist Meißner auf die »zersetzenden Kräfte der Zeit« hin. Es wurde zuvor schon beschrieben, dass ›Zersetzung‹ vom Nationalsozialismus meist mit den Juden in Verbindung gebracht wurde. Ebenso wurde bereits die nationalsozialistische Überzeugung von einer jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung beschrieben.110 Diesen unterstellten engen Zusammenhang zwischen ›Bolschewismus‹ und ›Judentum‹ sieht auch Meißner, was aus seinen Bemerkungen zu Hilaire Belloc deutlich wird. Für diesen sei der Kampf 110 Zu dieser speziellen nationalsozialistischen Wahnvorstellung vgl. auch das Kapitel »Zur Phoresie von Antisemitismus und Antibolschewismus« in Klepsch (1990: 225ff.).

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Elemente der nationalsozialistischen Ideologie zwischen den Idealen des Christentums und der Wüste kein einmaliges Geschehen, sondern ein sich durch die ganze Geschichte hindurchziehender Prozeß von den Kreuzzügen an (The Crusade, 1937) bis in die Gegenwart hinein, wo der Kampf gegen Bolschewismus und Judentum sich ihm als Aufgabe des christlichen Abendlandes darstellt (vgl. seine Schrift The Jews, 1922, dritte Auflage 1937). England ist berufen, sich hier einzuschalten. (IV, 71)

Erneut betrachtet Meißner England als Verbündeten im Kampf gegen Kommunisten und Juden, aber dieses Mal geht er sogar noch weiter als in seinen obigen Bemerkungen: England steht nach Meißners Meinung geradezu in der Pflicht, sich dem Kampf des Dritten Reiches anzuschließen. Entsprechend groß ist seine Enttäuschung darüber, dass die englische Öffentlichkeit den Kommunismus als Gefahr noch nicht ernst genug nehme. So schreibt er in seinen Bemerkungen zum Expressionismus des englischen Theaters der 1930er Jahre, der sich »sehr bald mit pazifistischem und kommunistischem Gedankengut verbindet« (IV, 130) und zu dessen Hauptvertretern er u. a. C. Day Lewis und W. H. Auden zählt: Die englische Öffentlichkeit nimmt diese left wing Propaganda nicht allzu ernst, ohne Zweifel auch deshalb nicht, weil sie sich der Gefahr des Kommunismus viel zu wenig bewußt ist und nicht erkennt, ein wie gefährliches Spiel mit dem Feuer hier getrieben wird. Wo schließlich ein Fanatismus des restlosen Verneinens und Zerschlagens der Werte die Grundlage bildet wie in des Halbjuden Stephen Spender (geb. 1909) Stück Trial of a Judge (1938) oder in dem mit viel Zynismus durchsetzten Drama Out of the Picture (1937) von Louis MacNeice (geb. 1907), ist die Grenze erreicht, wo jede weitere Erörterung für uns aufhört. Das englische Drama bleibt jedoch nicht bei dieser intellektualistischen Zersetzungsliteratur stehen. (IV, 130f.)

Dieses Zitat offenbart noch einmal deutlich die enge Verbindung, die Meißner zwischen Kommunisten, Intellektuellen und Juden sieht. Damit entspricht seine ideologische Position vollständig der des Nationalsozialismus. Das geht sogar so weit, dass Meißner bei MacNeice – wie obiges Zitat beweist – aus ideologischen Gründen eine literaturwissenschaftliche Betrachtung ablehnt. Die nationalsozialistische Ideologie siegt bei ihm letztlich über die Wissenschaft. Seine Besorgnis über den wachsenden kommunistischen Einfluss in England bringt Meißner gegen Ende seiner Literaturgeschichte noch einmal zum Ausdruck. Er beobachtet nämlich, dass die »left wing Propaganda […] in den letzten Jahren bedenklich an Boden gewonnen« habe (IV, 138) und sieht dies bestätigt in der Auszeichnung W. H. Audens durch den König: »Man soll gewiß das moderne England nicht allein von diesen intellektuellen leftwing Autoren her beurteilen; aber es ist doch bezeichnend, daß Auden 1937 the King’s Gold Medal for Poetry bekommen hat« (IV, 147). Ablehnung von Psychoanalyse und ›Intellektualismus‹ In den bisher zitierten Bemerkungen Meißners ist hin und wieder bereits ein gewisses Misstrauen gegenüber Intellektuellen angeklungen, und er verbindet die

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Kritik am ›Intellektualismus‹ häufig mit einer Kritik an der Psychoanalyse. Letztere wird zweifelsohne schon wegen der jüdischen Herkunft ihres Entwicklers Sigmund Freud abgelehnt. Die Abneigung gegen die Analyse des Seelischen wiegt bei Meißner so schwer, dass er sie sogar schon in der Zeit vor Freuds Wirken verurteilt: »In den zahlreichen Tagebüchern des 17. Jahrhunderts wird Seelenanalyse bisweilen in einer Weise betrieben, die geradezu etwas Peinliches hat« (II, 62).111 Und auch bei George Eliot beobachtet er misstrauisch einen aufkommenden ›Intellektualismus‹: »Freilich verrät die Freude an der Analyse des Gefühlslebens auch ihren Intellektualismus, der ihre Schwäche und Symptom einer sich langsam auflösenden Kultur ist« (III, 112). Die puritanischen Seelentagebücher und George Eliots Romane sind aber nur die Vorläufer einer Entwicklung, deren Höhepunkt nach Meißners Ansicht in der Nachkriegszeit erreicht wird: Das geistige England der Nachkriegszeit ist in vieler Beziehung stark aus dem Geleise geworfen. Bezeichnend dafür ist das Eindringen der Psychoanalyse, deren Ansätze sich zwar schon in den Vorkriegsjahren finden […], die aber gerade in den Jahren 1920–1923 ein Höchstmaß an Wirkung erzielt. Sie wird namentlich in der Literatur (James Joyce) zum Symptom dafür, daß die Menschen in weitem Ausmaße ihre Nerven verloren haben, wenn sich auch der gesunde Engländer von Anfang an gegen den homunculus neuroticus gewandt hat. (IV, 66)

Meißner relativiert den Einfluss der Psychoanalyse dahingehend, dass der »gesunde Engländer« ihrer nicht bedarf und sie ablehnt – ganz genauso wie nationalsozialistische Deutsche wie Meißner dies offensichtlich tun. Im Umkehrschluss werden alle ihre Vertreter als ›krank‹ hingestellt, wie beispielsweise David Garnett, dessen ›Intellektualismus‹ für Meißner im »Seelisch-anormalen« (IV, 100f.) mündet. Der Autor James Joyce ist nach Meißners Ansicht nicht nur einer der Hauptvertreter der literarischen Psychoanalyse, sondern auch gleichzeitig das Aushängeschild des ›Intellektualismus‹, so dass der Autor sogar als Bedrohung für die Literatur an sich angesehen werden müsse, wie folgendes Zitat belegt: Die Nachkriegsjahre haben einen die literarische Überlieferung stark bedrohenden high brow Intellektualismus begünstigt, der sich jedoch bald als wenig erfolgreich erwiesen hat und am Ende der Kulturkrise mehr oder weniger abgeebbt ist. Es handelt sich um eine Gehirnkunst, die die verschiedensten Schichtungen aufweist und in den Dekadenzromanen eines James Joyce die Loslösung vom Bodenständigen am gründlichsten vollzieht. (IV, 98)

Der schwerste Vorwurf, den Meißner dem Intellektualismus macht, ist offenbar der, dass diese »Gehirnkunst« den Kontakt mit dem realen Leben verloren habe und sich deshalb auch nur an eine relativ kleine Gruppe von Menschen richte und

111 Sigmund Freud entwickelte seine Theorie der Psychoanalyse im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert (vgl. Zimbardo/Gerrig 1999).

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nicht an die ganze Bevölkerung. Der derart gescholtene ›Intellektualismus‹ wird von Meißner folgendermaßen definiert: Es gibt für die Vertreter dieser Richtung keine Geheimnisse mehr; mit dem Intellekt glaubt man alles erfassen zu können und muß doch immer wieder erkennen, daß man vor dem Nichts steht. In diesem Zusammenhang ist eine Gruppe von Schriftstellern zu nennen, die alle irgendwie von dem Iren James Joyce beeinflußt worden sind, ohne allerdings so völlig in der Dekadenz zu landen wie der Autor des vielumstrittenen Romans Ulysses. Das Zersetzende rein intellektualistischer Kunst ohne jede volkhafte Bindung wird nirgends deutlicher als bei diesem ehemaligen katholischen Theologen, der in Paris Medizin studiert hat. (IV, 101)

Da Joyces Roman Ulysses für Meißner sozusagen das Sinnbild von Psychoanalyse und ›Intellektualismus‹ ist, erfährt das Buch eine entsprechend negative Bewertung: Die Literatur über dieses Buch, das bis 1933 in England verboten war, ist noch umfangreicher als der Roman selber; sie läßt keinen Zweifel darüber bestehen, daß in Ulysses alle absoluten Werte vernichtet werden, daß eine restlose Auflösung des Bestehenden vollzogen und in diesem grauenvollen Hexensabbath ein groteskes Zerrbild des Lebens gegeben wird. Schon vorher war die Psychoanalyse in breitem Strome eingedrungen und hatte zur Darstellung von Menschen geführt, die alle unter schweren Hemmungen leiden. (IV, 101f.)

Als weiteren Vertreter des ›Intellektualismus‹ führt Meißner Aldous Huxley an (IV, 99), dessen Werke er genauso negativ bewertet wie seine deutschlandkritische Haltung. Vermutlich bedingt das eine hier das andere: »Dieser Nihilist Huxley kann geradeso wenig wie [H. G.] Wells dem Durchbruch eines Neuen in Deutschland irgendwelches Verständnis entgegenbringen« (IV, 100).112 Die relative Zurückhaltung, die Meißner in den ersten Bänden seiner Literaturgeschichte noch übt, hat er hinsichtlich der Literatur seiner Gegenwart völlig abgelegt, wie die oben zitierten Textstellen nachdrücklich zeigen. Hier bewertet er die Autoren Englands und deren Werke fast ausschließlich nach den Maßstäben der nationalsozialistischen Ideologie. Werke, die diesen Kriterien nicht entsprechen, werden von ihm als ›nihilistisch‹ und ›zersetzend‹ gebrandmarkt. Jugendkult Die Gesellschaft des Dritten Reiches war geprägt von einem Jugendkult, dem von den Offiziellen bei jeder Gelegenheit gehuldigt wurde. (Benz 2000: 71)

Die Verherrlichung der Jugend im Nationalsozialismus hat ihren ideologischen Ursprung in der Gleichsetzung von ›Jugend‹ mit ›Zukunft‹. Das war eine Strate112 Meißner lehnt zwar die Psychoanalyse ab, nicht aber die Psychologie an sich. Bezüglich der Figurencharakterisierung bei Scott merkt er sogar an, dass ihnen »die seelische Wärme« (III, 69) fehle, weil Scott »kein Psychologe« (III, 70) gewesen sei.

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gie, die gerade in den 1930er Jahren nicht nur die Faschisten verwendeten, wie Gehmacher (1994: 11) ausführt: ›Jugend‹ mit ›Zukunft‹ zu verbinden und beides für sich in Anspruch zu nehmen, war in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen eine Mobilisierungsstrategie, derer sich die verschiedensten politischen Lager bedienten – in angeschlossenen Jugendorganisationen wie in pathetischen Appellen an ›die Jugend‹ suchten Parteien ihr ›Zukunftsrecht‹ zu sichern.

Der Jugendkult kommt in Meißners Literaturgeschichte zwar nicht sonderlich deutlich zum Tragen, eine positive Einstellung gegenüber Jugendlichem ist aber dennoch festzustellen. Diese zeigt sich besonders deutlich in seiner Beschreibung des elisabethanischen England: Die Kultur des 16. Jahrhunderts wird im Gegensatz zu der des Mittelalters in hohem Grade von der jungen Generation getragen. […] Immer wieder wird der Preis der Jugend gesungen (Romeo und Julia); das Alter, das Shakespeare in King Lear erschütternd als Zeit kindischer Torheit darstellt, bringt oft nur die Reue über ein verfehltes Leben. In der Jugend, der schon früh eine große Verantwortung gegeben ist, erwacht ein neues Raumgefühl, das in der Lehre eines Kopernikus revolutionäre Formen angenommen hat. (II, 8)

Und Meißner fährt fort: »Jugendlich ist der Expansionsgeist, der einen Hawkins, Frobisher oder Drake beseelt, die auf neuen, gefahrvollen Wegen die unbekannte Welt entdecken und damit zugleich die englische Seeherrschaft begründen« (II, 9). Diese Einschätzung des 16. Jahrhunderts mit ihrem Lob der Jugend und dem mit ihr aufkommenden »Expansionsgeist« liest sich nahezu wie ein Kommentar Meißners zum Deutschland seiner Gegenwart. Es ist möglich, dass er für das Dritte Reich eine ähnliche Blüte kommen sieht, wie sie das elisabethanische England erlebt hatte. Übermensch Das Konzept vom ›Übermenschen‹ ist eng in die nationalsozialistische Rassenideologie eingeflochten und wird von Meißner auch in der englischen Literatur immer wieder beobachtet. In seinem Buch über die Renaissance widmet er dem ›Übermenschentum‹ sogar ein eigenes Kapitel, in dem er erklärt, dass er darunter zunächst einmal den »Durchbruch zum Heroischen in Lebenshaltung und -wertung« (II, 33) versteht. Bezüglich Christopher Marlowe fährt er dann fort: Übermenschentum gestaltet er in seinem ersten Drama Tamburlaine the Great (1587), jenem Spiel vom Welteroberer, dessen Handeln einzig und allein von maßlosem Ehrgeiz diktiert ist. Hier wird gezeigt, was ein Mensch zu leisten imstande ist, wenn er bedenkenlos nur seinem inneren Machttrieb gehorcht. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, aus welcher Quelle Marlowe geistig schöpft, wenn er in seinen Tragödien Menschen zeichnet, deren Vorstellungswelt durch ein bedingungsloses Bejahen brutaler Macht gekennzeichnet ist. (II, 34)

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Das klingt zunächst einmal nicht sonderlich positiv. Wenn man allerdings bedenkt, dass – wie zu Beginn dieses Abschnittes zur nationalsozialistischen Ideologie schon erwähnt – die Nationalsozialisten Gewalt verherrlichten und jede Art von Schwäche verachteten, dann entspricht Meißners Schilderung des ›Übermenschentums‹ ganz genau dieser Geisteshaltung.113 Die gleiche Haltung beobachtet Meißner auch 300 Jahre später in der englischen Zeitschriftenlandschaft: 1898 erscheint die Zeitschrift The Eagle and the Serpent, die schon durch den Titel verrät, wie sehr sie im Banne Zarathustras steht. Sie ist jener Philosophie des Lebens gewidmet, die von Goethe, Thoreau, Stirner und Nietzsche vertreten wird. Sie setzt sich für eine Herrenmoral ein, die über die Schwachen hinwegschreitet und keinen Altruismus kennt. (IV, 10)

Indem Meißner demonstriert, dass in England auf die gleichen ideologischen und philosophischen Grundlagen zurückgegriffen wird wie in Deutschland, beweist er die geistige Nähe beider Länder, die nach seiner Meinung England für Deutschland zu einem attraktiven Verbündeten macht. *** Es ist deutlich geworden, wie stark Meißners Englische Literaturgeschichte von der nationalsozialistischen Ideologie durchsetzt ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass dieser Einfluss der Ideologie auch die Zusammensetzung des von Meißner präsentierten Kanons prägt. Das zeigt sich einerseits deutlich an seiner Bewertung von Autoren wie Hilaire Belloc, William Ralph Inge und Gilbert Keith Chesterton, die nach seiner Auffassung der nationalsozialistischen Ideologie besonders nahe stehen. Diese Autoren platziert Meißner zum Teil in seinem Umgebungskanon, während sie bei Schirmer bestenfalls namentliche Erwähnung finden. Andererseits betrachtet Meißner auch Autoren, die der nationalsozialistischen Ideologie entgegenstehen, wie Humbert Wolfe, Gilbert Cannan und vor allem James Joyce, dessen Werk weder inhaltlich noch ästhetisch untersucht, sondern lediglich polemisch abgekanzelt wird. Auch diese Autoren sind bei Schirmer – wenn überhaupt – zumeist auf der vierten Hierarchieebene anzutreffen. Die ideologisch bedingte ›Brechung‹ beschränkt sich bei Meißner nicht nur auf die Zusammensetzung des Kanons, sie findet auch auf der Ebene der Bewertung einzelner Autoren statt. Der schottische Historiker und Philosoph Thomas Carlyle ist ein eindrucksvolles Beispiel hierfür, und deshalb soll nun betrachtet werden, wie der Schotte vom nationalsozialistischen Meißner bewertet wird; die neutral gehaltene Betrachtung Schirmers zu Carlyle wurde ja bereits im vorhergehenden Kapitel geschildert. Bei beiden Literaturwissenschaftlern ist Carlyle im Umgebungskanon angesiedelt. Carlyle, der von 1795 bis 1881 lebte, wird von Meißner sehr ausführlich besprochen, und die Schriften des Autors werden ganz vom Standpunkt des Nationalsozialismus aus beurteilt. Viele Aspekte der nationalsozialistischen Ideologie findet Meißner bei Carlyle wieder. So betont Meißner Car113 ›Übermenschentum‹ wird von Meißner unter anderem auch noch bei Byron und John Davidson (1857-1909) erwähnt (IV, 10).

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lyles Abneigung gegen Individualismus und Parlamentarismus, »Begriffen, denen Carlyles ganzer Haß gilt« (III, 84). Das Geschichtsverständnis Carlyles entspricht nach Meißners Meinung ganz dem des Nationalsozialismus mit seinem Führergedanken: Alles Große in der Geschichte ist die Leistung einzelner Persönlichkeiten, Helden, wie Carlyle sie in seiner Vorlesungsreihe On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History (veröffentlicht 1841) nennt. Man spürt den Einfluß der Fichteschen Willenslehre, wenn hier aller materialistischen und rationalistischen Geschichtsauffassung in schärfster Weise der Kampf angesagt wird. Jede Zeit hat nach Carlyle ihren eigenen Helden gehabt, aber ohne sie und ohne Heldenverehrung ist eine Epoche nie wirklich schöpferisch gewesen. Helden sind jene aufrichtigen und starken Männer, jene geborenen Führernaturen, die ihre Aufgaben als göttliches Gebot erfüllen, und denen die anderen Menschen darum unbedingten Gehorsam schuldig sind. Trotz mancher puritanischen Einschläge […] stellt dieses Werk einen der bedeutsamsten Beiträge zum germanischen Heldengedanken dar. (III, 84)

Meißners Bewertung dieser Schrift Carlyles klingt wie eine Bestätigung der nationalsozialistischen Herrschaft unter der Führung Hitlers. Im Gegensatz dazu weist Schirmer auf die christliche Motivation Carlyles hin sowie darauf, dass Carlyles Geschichtsauffassung nicht auf die Gegenwart, sondern auf die Vergangenheit gemünzt war. Wohlwollend steht Meißner auch der Haltung Carlyles zu Deutschland gegenüber. Hinsichtlich Carlyles Buch über Friedrich den Großen erklärt Meißner: Carlyle ist der erste Engländer gewesen, der seinen Landsleuten den Blick für das politische Deutschland, das er in Preußen verkörpert sah, geöffnet hat, nachdem Coleridge das geistige entdeckt hat; er war auch einer der wenigen, die sich 1870 gegen Frankreich erklärten in dem berühmten Briefe an die Times vom 18. November 1870, diesem Bekenntnis zum Staate Friedrichs und zur ›großen teutonischen Familie‹, um mit seinen Worten zu reden. Er ist damit zum Vorläufer eines Houston Stewart Chamberlain geworden, mit dem er den Glauben an die Aufgaben Deutschlands in der Welt teilte. (III, 85)

Deutlicher kann man Carlyle gar nicht mehr als (viel zu frühen) NaziSympathisanten darstellen, zumal Houston Stewart Chamberlain, mit dem Meißner Carlyle vergleicht, ein prominenter Befürworter des Antisemitismus war.114 Dieser Vergleich liegt für Meißner nahe, weil er auch bei Carlyle eine deutlich antisemitische Haltung erkennt. Zu Carlyles Lösungsvorschlägen bezüglich der wirtschaftlichen und sozialen Probleme seiner Zeit schreibt Meißner: Dazu ist allerdings […] der unerbittliche Kampf gegen das Judentum nötig, den er nicht nur in Past and Present, sondern auch in seiner Schrift The Jew – Our Lawgiver (1853) gelegentlich zur Zulassung der Juden zum Parlament führt, weil er in dieser Maßnahme eine überaus verhängnisvolle Schwächung der nationalen Kräfte erblickt. (III, 86) 114 Vgl. Benz (2000: 127).

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Meißners Darstellung der Englishness

Meißner erkennt in Carlyles Schriften Anknüpfungspunkte zur nationalsozialistischen Ideologie und interpretiert diese absichtlich so, dass bei seinen Lesern der Eindruck entstehen muss, bei dem mehr als 50 Jahren zuvor verstorbenen Autor hätte es sich um einen starken Befürworter des Dritten Reiches und dessen Ideen gehandelt. Schirmer dagegen betrachtet Carlyle eben nicht durch die braun gefärbten Brillengläser der Nazi-Ideologie, wodurch ein völlig anderer Eindruck des Schotten entsteht als bei Meißner. Das Beispiel Caryles ist eine eindrucksvolle Demonstration dafür, wie Literaturgeschichte für den Transport und die Rechtfertigung von Ideologien funktionalisiert werden kann, und wie sehr die Darstellung einer Literatur letzten Endes von den Intentionen des Verfassers einer Literaturgeschichte abhängt. Meißners Darstellung der Englishness Nachdem zweifelsfrei festgestellt wurde, dass die nationalsozialistische Ideologie in Meißners Literaturgeschichte eine entscheidende Rolle spielt, soll nun untersucht werden, welches Englandbild er vermittelt und ob auch dieses ideologisch gefärbt ist. Vorab schon soviel: Meißners besonderes Augenmerk auf die Geistesströmungen einer Zeit macht sich auch in seiner Darstellung der Englishness bemerkbar; die Mentalität der Engländer, so meint er, ist nicht statisch, sondern zum Großteil von den jeweiligen Geistesströmungen einer Epoche abhängig. Beispielsweise ist für Meißner Naturverbundenheit ein Aspekt von Englishness, der nur in bestimmten Epochen, wie der Romantik, stärker hervortritt (III, 10). Andere Merkmale hingegen zeigen sich über größere Zeiträume hinweg und können daher als konstante Aspekte der Englishness gelten, wie sie von Meißner skizziert wird. Das Bild, das Meißner von den Engländern vermittelt, ist ausgesprochen vielschichtig. Es finden sich zahlreiche Bemerkungen, die auf englische Charakterzüge – sowohl veränderliche als auch konstante – hinweisen. Oft deklariert Meißner allerdings auch ein Werk oder einen Autor als ›englisch‹ oder als in der ›nationalen Tradition‹ stehend, ohne dies näher zu erläutern. Ein Beispiel hierfür ist eine Bemerkung Meißners zu der Balladensammlung Minstrels of the Scottish Border von Scott, »die in der nationalen Tradition eines Percy steht« (III. 69).115 Auch sind viele der Bemerkungen Meißners so vage, dass sie nur schwer einem einzelnen Aspekt von Englishness zugeordnet werden können. Sie werden daher im Folgenden im Abschnitt ›Englische Mentalität‹ zusammengefasst.

115 Ein weiteres Beispiel ist Meißners Bemerkung zu den Einflüssen mittelalterlicher Dichtung auf die Renaissance: »Überraschend groß ist […] der Einfluß der Volksepen mit den Gestalten eines Guy von Warwick, Sir Bevis von Hamptoun oder Robin Hood, in denen England seine nationalen Höchstwerte in reichem Maße verkörpert sieht« (II, 29). Leider erläutert Meißner nicht, wie diese »nationalen Höchstwerte« aussehen.

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Englische Mentalität Wie die noch folgenden Belege zeigen werden, geht Meißner vom Vorhandensein eines englischen Nationalcharakters aus. Wie dieser im Einzelnen aussieht, erschließt sich allerdings oftmals nur durch Randbemerkungen, die nun erörtert werden sollen. Obwohl einige Aspekte von Englishness zeitlich veränderbar sind, postuliert Meißner doch die Existenz eines zeitlosen englischen Archetypen, eines spezifisch englischen ›Wesens‹, wie sein Kommentar zu Warwick Deeping, einem vorwiegend im 20. Jahrhundert tätigen Autor, verdeutlicht: »England hat auch in den geistigen Krisen der Nachkriegszeit immer wieder Schriftsteller gehabt, die mit eigentümlicher Instinktsicherheit den Typ des echten, zeitlosen Engländers zu gestalten wußten« (IV, 88). Dass Meißner zumindest manchmal den Erfolg englischer Autoren in Abhängigkeit davon sieht, ob ihre Werke das ›Wesen‹ der Engländer ansprechen, zeigt seine Einschätzung Charles Lambs, der von 1775 bis 1834 lebte: Er gehört zu den Schriftstellern, die in England die größte Breitenwirkung gehabt haben, weil seine Person und sein Werk das englische Volk unmittelbar ansprechen. Man liebt ihn wegen seiner laughing poverty, zu der er sich in seinen Briefen bekennt; man hat Verständnis für seine Sentimentalität und teilt mit ihm die ehrliche Freude an schöner Literatur, namentlich der Elisabethzeit. (III, 64)

Neben der genannten Sentimentalität scheint auch die Melancholie zu den zeitbeständigen Aspekten von Englishness zu gehören, wie Meißners Bewertung der Werke von Alfred Edward Housman aus dem 19./20. Jahrhundert belegt: Das Wenige, das er geschrieben hat, ist zum Nationalbesitz Englands geworden, weil aus seinen Gedichten die Seele der Nation spricht. […] Es sind Verse, durch die die Melancholie hindurchzittert, die als keltisches Erbe schon in den altenglischen Elegien mitschwingt und aus der Geschichte der englischen Dichtung nicht fortzudenken ist. (IV, 56)

Im obigen Zitat ist auch der Verweis auf das ›keltische Erbe‹ von Bedeutung. Er deutet darauf hin, dass Meißner zumindest einige Aspekte von Englishness weit in die Vergangenheit zurückverfolgt und rassisch begründet.116 Wie bei Housman sieht Meißner auch die Popularität von Francis Brett Young aus dem 19. Jahrhundert in dessen Fähigkeit begründet, einen besonderen Aspekt von Englishness zu vermitteln und damit genau den Nerv seiner Landsleute zu treffen: »In [der] Bodenverbundenheit liegt das große Geheimnis seines Erfolges bei einem Volke, das aus dem Bauerntum kommt und sich bis heute trotz aller Industrialisierung dazu bekennt« (IV, 88). Während Meißner bei Housman und Young in erster Linie deren Werke als Manifestation von Englishness darstellt, präsentiert er mit dem weiter oben genannten Charles Lamb sowie – in noch viel größerem Maße – dem nun folgenden 116 Auf die Bedeutung, die Meißner den Kelten bei der Formung des englischen (und auch britischen) Nationalcharakters zuschreibt, wird später noch näher eingegangen.

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Meißners Darstellung der Englishness

J. B. Priestley Autoren, die sowohl in ihrer Persönlichkeit als auch ihren Werken von ihm als typisch für England erachtet werden. Zu Priestleys Bedeutung schreibt Meißner: »Für das Wesen des englischen Menschen aufschlußreicher sind seine Romane, die zu den Wurzeln des nationalen Denkens und Fühlens hinführen. Darin liegt ihre Bedeutung, nicht in Wegweisung und Neuaufbau« (IV, 92). Was genau Priestley und sein Werk so ›englisch‹ macht, erläutert Meißner bezüglich Priestleys The Good Companions von 1929 – »Dieses Buch mit seinem feinen Humor kündet von Lebensglauben, Daseinsfreude und edler Menschlichkeit. Es sagt ja zum Geschehen und fordert kein blindes Sich-unterwerfen. In diesem Buche hat England zu sich selber zurückgefunden« (IV, 90f.) – sowie im Hinblick auf seine Romane allgemein: Was Priestley in seinen Romanen gestaltet, ist die Verlebendigung englischen Lebensgefühls. Er hat jene Sentimentalität, die als uraltes Erbe im englischen Volkscharakter liegt, er besitzt humanity und liberal sympathies, die ihn allem sozialen Unrecht gegenüber weich machen. Er verfügt auch über den Humor, der dem englischen Charakter das ewig Jugendliche gibt (English Humour, 1933) und aus England jenes merry land gemacht hat, von dem schon Robert von Gloucester in seiner Reimchronik kündet. (IV, 91f.)

Folglich bilden Humor und Sentimentalität laut Meißner weitere konstante Aspekte von Englishness. Humor und menschliches Verständnis findet Meißner auch in Oliver Goldsmiths Roman The Vicar of Wakefield von 1766, was die zeitliche Konsistenz dieser beiden Charakteristika belegt: Er ist herber und männlicher als Richardson und Sterne und dabei doch voll menschlichen Verstehens. Sein Pathos wird immer wieder durch Humor entspannt. In alledem ist The Vicar of Wakefield ein echt englisches Buch, das die Romanliteratur bis zu Dickens, Galsworthy und Priestley hin befruchtet hat. (II, 125)

Und bei Noël Coward stellt Meißner einen Hang zur Sentimentalität erneut als wichtiges Merkmal von Englishness heraus: Einer seiner größten Theatererfolge war seine patriotische Revue Cavalcade (1931), in der in einer Reihe von Bildern die Geschichte Englands seit dem Burenkrieg abrollt. Die These, daß England es doch herrlich weit gebracht habe trotz aller post war Krise, wirkte beruhigend auf diejenigen, die der ständigen Niedergeschlagenheit müde waren; die Sentimentalität sprach diejenigen an, die angenehm gerührt sein wollten, beides Momente, die in England starke Geltung haben. (IV, 124f.)

Der letzte Satz aus obigem Zitat beweist noch einmal, dass Sentimentalität in der englischen Literatur gerade deshalb stets eine so wichtige Rolle gespielt hat, weil sie einen diachron konstanten Teil von Englishness darstellt und nicht etwa epochenspezifisch ist. Gleiches gilt für den Patriotismus, auf den später noch genauer eingegangen wird. Das bei Goldsmith und Priestley beobachtete menschliche Verständnis steht vielleicht auch im Zusammenhang mit einer Bemerkung Meißners zur Literatur im

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England nach dem Ersten Weltkrieg: »Beliebte Lektüre ist vor allem die Autobiographie, die von jeher den nach Persönlichem verlangenden Engländer angezogen hat« (IV, 72). Das lässt darauf schließen, dass Meißner den Engländern ein grundsätzliches Interesse am Menschlichen, an der einzelnen Person und ihrem Schicksal zuschreibt. Dies würde zu dem ausgeprägten Sinn für Individualismus passen, den Meißner ebenfalls für eine typisch englische Charaktereigenschaft hält. Diese zeigt sich für ihn zum Beispiel in der Figurendarstellung bei Tobias Smollett, einem Autor aus dem 18. Jahrhundert aus Meißners Umgebungskanon: Neben ihnen [den Hauptfiguren seiner Romane] stehen die vielen Menschen mit ihren oddities, die in dem bewußten Zurschautragen ihrer Verschrobenheiten jenen typisch englischen Individualismus verkörpern, der die Literatur bis zu Hugh Walpoles seltsamen Gestalten hin so überraschend reich an cranks gemacht hat. (II, 134)

Die Bedeutung, die Meißner in der Bewertung der englischen Literatur den geistesgeschichtlichen Strömungen einer Zeit zuschreibt, macht sich in seiner Darstellung der englischen Mentalität bemerkbar, denn nach seiner Meinung entsprachen einige Geistesströmungen eher dem englischen ›Wesen‹ als andere. So bekundet er beispielsweise für die Zeit der Renaissance: »Auf philosophischem Gebiet ist in der folgenden Generation der Empirismus arteigener Ausdruck der englischen Einstellung der Dingwelt gegenüber geworden« (II, 40). Da es im Empirismus darum geht, »Spekulationen und unüberprüfbaren Behauptungen (Metaphysik) Einhalt zu gebieten« (vgl. Rusch 2001: 140), handelt es sich bei ihm um eine recht eng auf die Realität bezogene Philosophie. Die von Meißner beschriebene Vorliebe der Engländer gerade für diese Richtung der Philosophie steht im Einklang mit ihrem Sinn für das Praktische, der später noch thematisiert wird. Da der Empirismus sich auch gegen die Rationalisten richtet (ebd.), überrascht es nicht, wenn Meißner zur englischen Literaturkritik der Aufklärung erklärt: »Allmählich drängen neue kritische Strömungen zum Durchbruch, in denen das ausgesprochen rationalistisch-aufklärerische Gedankengut als dem englischen Wesen fremd empfunden und langsam überwunden wird« (II, 109). Die letzte Bemerkung impliziert, dass die Engländer – so stellt es Meißner jedenfalls dar – über ein Selbstbild verfügen, von dem aus sie entscheiden, was als ›fremd‹ und was als dem englischen Charakter entsprechend betrachtet wird. Dabei muss es allerdings nicht zwangsläufig zu einer Entscheidung zugunsten einer der konfligierenden Anschauungen kommen. Als Beispiel für den Widerstreit verschiedener Philosophien im englischen Selbstbild führt Meißner die Herries-Tetralogie von Sir Hugh Walpole aus den 1930er Jahren an: Zwischen den Vertretern dieser beiden Weltanschauungen [Romantiker und Realisten] hebt das Ringen an, das schließlich nicht mit dem Siege der einen endet, sondern mit der Erkenntnis, daß beide innerlich berechtigt sind und zueinander gehören, denn beide sind letzten Endes England. (IV, 79)

Diesem Zitat folgend ist der englische Charakter grundsätzlich geprägt von zwei widerstreitenden Charakterzügen, und gerade dieser innere Konflikt zwi-

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Meißners Darstellung der Englishness

schen Romantik und Realismus ist nach Meißners Ansicht ein typisches Merkmal von Englishness. Da Meißner einerseits vom Vorhandensein bestimmter unveränderbarer englischer Charakterzüge ausgeht und andererseits die Bedeutung der Geistesströmungen betont, kommt es bei ihm wohl auf die jeweilige Epoche und die in ihr vorherrschenden Strömungen an, wie deutlich sich ein Aspekt der Englishness jeweils manifestiert. So dominiert manchmal eher die Romantik, manchmal der Realismus – der jeweils andere Aspekt weicht dann vorübergehend in den Hintergrund zurück. Diese Schwankungen treten auch bei der schon festgestellten Eigenschaft des Humors auf. Dieser lässt sich aber nicht dauerhaft aus der englischen Literatur fernhalten, wie Meißner anhand Oliver Goldsmiths Komödie She Stoops to Conquer von 1773 belegt: »Es ist eine Komödie der Irrungen, aber von einem Charme, der den Alltag darüber vergessen läßt. Hier hat sich das England des 18. Jahrhunderts auf seine volkhaften Kräfte besonnen, die auch dem großen Roman der Zeit ihre Prägung gegeben haben« (II, 116). Ähnliches stellt Meißner auch für die Eigenschaft ›Lebensfreude‹ fest, die er im elisabethanischen Zeitalter am deutlichsten ausgeprägt sieht: So formt sich langsam ein England der Lebenslust und Daseinsfreude mit seinen Hahnenkämpfen und Bärenhetzen, mit seinen großen Maskenspielen und prunkvollen Umzügen […]. Es ist das Merry England, das unter dem Einfluß des Körper und Seele befreienden Renaissancegeistes sieghaft zum Durchbruch kommt. (II, 13)

Die Lebensfreude lässt allerdings schon bald nach, und Meißner sieht ihr letztes Aufflackern in den Werken Robert Herricks, der von 1591 bis 1674 lebte: »So klassisch gerade bei diesem letzteren das Gewand ist […], so englisch ist die Stimmung, die wie ein letztes Ausklingen des Merry Old England in einer von vielen Problemen beschwerten Epoche anmutet« (II, 80). Meißner nimmt an diesen Stellen auf eine geradezu sprichwörtlich gewordene Vorstellung von Englishness, das ›Merry Old England‹, Bezug. Auch Naturliebe und Landschaftsverbundenheit betrachtet Meißner als stark von den jeweiligen Geistesströmungen abhängige, aber dennoch wichtige Aspekte von Englishness. Meißner beobachtet sie schon in der Romantik, identifiziert sie aber erst nach dem Ersten Weltkrieg in der so genannten ›Georgian Poetry‹, »die ungekünstelt und schlicht das Erleben der Natur zum Gegenstand hat« (IV, 139), als ›typisch englisch‹: Wenn englisches Naturgefühl sich weder im Bodenmythos, noch im Schauder vor den Urgewalten des Kosmos arteigen ausdrückt, sondern in der innigen Hingabe an die Lieblichkeit der Garten- und Wiesenlandschaft, dann haben die Georgier ihr am ehrlichsten und überzeugendsten Ausdruck gegeben. (ebd.)

Dass es sich bei der Landschaftsverbundenheit für Meißner nicht nur um einen beliebigen weiteren, sondern um einen integralen Bestandteil von Englishness handelt, belegt folgende Aussage: »Es ist bezeichnend, daß aus diesem natürlichen

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Trieb zum Lande Männer wie Blunden oder Masefield zum Schutz der bedrohten englischen Landschaft aufrufen, weil sie fühlen, daß hier Werte in Gefahr geraten sind, die bis heute das englische Wesen formen geholfen haben« (IV, 140).117 Erstaunlich ist hierbei, dass Meißner einem Charaktermerkmal, das in der englischen Literatur nur selten zum Durchbruch gelangt, eine derart maßgebliche Rolle bei der Formung des ›englischen Wesens‹ zuschreibt. Einzelne Merkmale müssen also keineswegs diachrone Konstanz aufweisen, um als ausgesprochen wichtige Aspekte von Englishness zu gelten. Englishness bleibt also gemäß Meißner nicht in allen ihren Aspekten über die Zeit stabil, sondern ist einer diachronen Veränderung unterworfen. Manche Charakteristika beobachtet Meißner lediglich in einer Epoche, so dass es fraglich ist, ob es sich bei ihnen tatsächlich um wesentliche Komponenten des englischen Charakters handelt, zumal er sie auch nicht – wie die Landschaftsverbundenheit – explizit als solche identifiziert. So schreibt Meißner über die Sittenkomödie des 18. Jahrhunderts, die versucht, die Menschen zu bessern: »Das geschieht mit der liebenswürdigen Art, die den Menschen dieses Jahrhunderts in hohem Grade eigen ist« (II, 115). Englische Liebenswürdigkeit wird weder für die Zeit vorher noch danach von Meißner thematisiert. Während sich beispielsweise die gerade genannte Liebenswürdigkeit nur temporär im englischen Charakter zeigt und eher eine Epocheneigenschaft als ein Nationalstereotyp zu sein scheint, gewinnen andere Eigenschaften kontinuierlich an Stärke, bis sie zu einem wichtigen Aspekt von Englishness werden. Einige dieser gesellschaftlich bedingten, im Verlauf der historischen Entwicklung erworbenen Eigenschaften schildert Meißner anhand der Romane von C. S. Forester: Einsatzbereitschaft, Heldentum und Kameradschaftsgeist sind die Tugenden, die in dem Weltkriegsroman The General (1937) an einem Beispiel aus der militärischen Führerschicht aufgezeigt werden. Dieser Offizier mit seinem unvergleichlich schnellen Aufstieg gilt als Urtyp des Führers, wie England ihn aus seiner ganzen Gesellschaftsordnung heraus entwickelt hat. Die anderen Romane Foresters liegen auf derselben Ebene; sie sind Ausdruck der angelsächsischen Kulturidee. (IV, 94)

Die allmähliche Entwicklung eines Aspektes von Englishness zeigt sich nicht nur an den oben genannten Tugenden, die Meißner als typisch für die englische Kultur erachtet, sondern noch viel deutlicher am englischen Nationalbewusstsein, das sich über die Jahrhunderte zum Imperialismus gesteigert hat und im Folgenden näher beleuchtet werden soll.

117 Natur, Landschaft und Garten spielten und spielen eine wichtige Rolle für das Selbstverständnis der Engländer. Das zeigt sich u. a. in den zahlreichen Verfilmungen englischer Romane. Vgl. Borgmeier (2004), der den Englischen Garten als wichtiges Element in den populären Verfilmungen der Romane von Jane Austen beschreibt.

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Meißners Darstellung der Englishness

Nationalbewusstsein Ein starkes Nationalbewusstsein der Engländer gekoppelt mit Furcht vor zu vielen und zu starken äußeren, ›fremden‹ Einflüssen dokumentiert Meißner in seiner gesamten Literaturgeschichte anhand zahlreicher Beispiele. Das erste Anzeichen eines neuen Geschichtsverständnisses bei gleichzeitiger Glorifizierung des eigenen Landes konstatiert Meißner bei Sir Walter Ralegh am Anfang des 17. Jahrhunderts, denn dieser »kennt […] die neue Fragestellung, die sich mit den politisch-nationalen Lehren für die Gegenwart befaßt. […] Die Geschichtsschreibung bekommt etwas Sieghaftes, in das dann um so grauenvoller der Vanitasgedanke der Zeit einbricht« (II, 15). Und schon für das 16. Jahrhundert erkennt Meißner bei Roger Ascham die Angst vor »Überfremdung des national-englischen Geistes« (II, 20) in Fragen der Erziehung: Aschams Angriffe richten sich besonders heftig gegen das Land, das die Rolle des Vermittlers antik-humanistischer Kultur spielt, nämlich gegen Italien, und seine Warnung vor dem italienate Englishman wird zum Kampfruf all derer, die in der Heimat Petrarcas das Land der Sittenverderbnis und eines gefährlichen Heidentums sehen. (II, 20)

Das Gebiet der Erziehung scheint nach Meißners Darstellung ein wahrer Hort für nationale Gefühle gewesen zu sein, denn noch bewußt nationaler ist die Ablehnung der Antike bei dem Direktor der Merchant Taylor’s School, Richard Mulcaster (1530–1611). […] Sein berühmtes Wort: ›I honour the Latin, but I worship the English‹ ist ein Bekenntnis, das unmißverständlich die entschiedene, wenn auch achtungsvolle Ablehnung der Antike im Bildungswesen zum Ausdruck bringt. (II, 20)

Auch auf dem Gebiet der Literaturkritik kommt es im England der Renaissance zu einer Auseinandersetzung mit der Antike, die nach Meißners Ansicht dazu führt, »daß man sich immer stärker auf die nationalen Eigenwerte besinnt« (II, 43). Als Folge hiervon sieht Meißner bei den Engländern den »Glauben an die Überlegenheit der englischen über die alten Sprachen« (ebd.), wie er in Richard Carews Schrift The Excellence of the English Tongue vom Ende des 16. Jahrhunderts vertreten wird. Dies kann als eine Ausformung des wachsenden englischen Nationalbewusstseins verstanden werden. Wie empfindlich England auf tatsächliche oder empfundene Einmischungen von außen reagiert, zeigt auch die von Meißner geschilderte Wahrnehmung des Katholizismus als Gefahr für England: »England [leistet] bis in die Neuzeit hinein einer Katholisierung des Landes Widerstand« (II, 25), denn »der Katholizismus ist eine politische Macht, die von außen her unter der Leitung eines fremden Potentaten (Papst) in England einzudringen sucht und daher vom nationalen Standpunkt aus bekämpft werden muß« (ebd.). Im Kontext des englischen Antagonismus zur katholischen Kirche betrachtet Meißner auch die Ausformungen der Reformation in England:

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39) Wie Renaissance und Humanismus ist auch die englische Reformation in ihrer nationalen Ausdrucksform politisch. Der Kampf gegen die päpstliche Autorität ist eine nationale Aktion im Sinne einer totalen Mobilisierung des englischen Volkes. […] Der große Gewinn der englischen Reformation ist das Bewußtwerden der nationalen Einheit des englischen Volkes, eine Tatsache von entscheidender kulturpolitischer Bedeutung. (II, 27f.)

Zu beachten ist bei dieser Bemerkung Meißners nicht nur die zeitliche Verortung der Geburtsstunde des englischen Nationalbewusstseins in der Reformation, sondern auch die Übertragung einer ausgeprägt nationalsozialistischen Diktion auf England, wenn von einer »totalen Mobilisierung« die Rede ist. Meißner setzt das englische Nationalbewusstsein nicht nur zur Religion, sondern auch zur Literatur in Beziehung. Bestimmte Autoren und ihre Werke wirken seiner Auffassung nach im englischen Bewusstsein identitätsstiftend. Meißner geht zudem davon aus, dass den Engländern selbst diese identitätsstiftende Funktion von Literatur sehr wohl bewusst war. Er weiß zu berichten: »Neben [Chaucer] werden – wenn auch nicht mit der gleichen Begeisterung – Gower und Lydgate immer wieder als Vorkämpfer nationaler Dichtung genannt« (II, 29). Dabei werde das englische Nationalbewusstsein in verschiedenen Literaturgattungen in unterschiedlichem Maße transportiert. So erklärt Meißner zunächst: Die englische Renaissance ist die große Epoche des Werdens der Nation, die ihre Widerspiegelung, soweit das Drama in Betracht kommt, in erster Linie in Shakespeares Historienstücken gefunden hat. An ihnen gemessen, erscheint der Patriotismus in den meisten anderen Dramen der Zeit plump und äußerlich. Das anonyme Schauspiel The Troublesome Reign of King John (um 1588) […] verbindet in ganz primitiver Weise maßlose Angriffe auf die Feinde der Nation, die Franzosen, mit einem nicht weniger leidenschaftlichen Haß auf den Katholizismus. Kaum minder roh und unbehauen wirken The Famous Victories of Henry V. (um 1588) […]. Man spürt die Siegesatmosphäre nach der Armadaschlacht, eine Stimmung ähnlich der, die England im Burenkrieg erlebte, als nach der Befreiung von Maseking ein patriotischer Freudenrausch alle Gemüter taumeln machte. (II, 36f.)118

Das Urteil Meißners über das elisabethanische Drama ist eindeutig: Zwar gibt es zahlreiche Versuche, Literatur im nationalistischen Sinne zu funktionalisieren, aber lediglich die Historien Shakespeares verbinden handwerkliches Können mit einer nationalistischen Botschaft. Die Gattung der Epik – vor allem im Zusammenhang mit Edmund Spenser – sieht Meißner dagegen klar im Vorteil hinsichtlich der Stiftung eines Nationalbewusstseins:

118 Interessant ist Meißners Vergleich der Armadaschlacht mit einem historischen Ereignis, das für ihn noch gar nicht weit zurückliegt: dem Burenkrieg. An der Neigung der Engländer zu einem ›Freudenrausch‹ nach einem als bedeutsam empfundenen, siegreich beendeten Konflikt hat sich nach Meißners Darstellung innerhalb einiger Jahrhunderte folglich nichts geändert.

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Meißners Darstellung der Englishness In der Renaissance ist, abgesehen von Shakespeare, weniger das in einem primitiven Patriotismus steckengebliebene Drama als vielmehr die Epik Ausdruck des Bekenntnisses zu nationalen Werten. In diesem Zusammenhang ist vor allem Edmund Spenser (1552?–1599) zu nennen, der zwar die verschiedensten Strömungen des geistigen Lebens seiner Zeit in sich vereinigt (Antike, Mittelalter, Reformation), bei dem aber die nationalen Belange stets an erster Stelle stehen. (II, 37)

Von Bedeutung ist hierbei nicht nur, dass Meißner einer bestimmten Gattung eine besondere Rolle beim Formen des englischen Nationalbewusststeins zubilligt, sondern dass er vielmehr die Literatur als solche als eigentliche Trägerin und primäre Manifestation dieses Bewusstseins versteht. Nach diesem Verständnis ist die Literaturgeschichte auch die Dokumentation des politischen Bewusstseins einer Nation. Welche enorme Wirkung selbst ein einzelnes Werk in dieser Hinsicht haben kann, demonstriert Meißner mit seiner Einschätzung von Spensers zwischen 1589 und 1596 veröffentlichter epischer Dichtung The Faerie Queene: In der Gestalt König Arthurs verbindet sich die nationale Tradition der Vergangenheit mit der von der Tudor-Dynastie getragenen Hoffnung auf eine große und stolze Zukunft Englands. In feierlicher Stanzenform […] verkündet der Dichter hier seine politische Botschaft, die dieses Werk zu einer großen geistigen Offenbarung des Engländertums schlechthin macht. (II, 38)

Zum Ende des 16. Jahrhunderts geht das englische Nationalbewusstsein nach Meißners Verständnis langsam in eine imperialistische Haltung über, die sich bis in seine Gegenwart hinein erstreckt und verstärkt und somit einen enorm wichtigen Aspekt von Englishness darstellt. Diese Entwicklung wird im Folgenden eingehender beleuchtet. Imperialismus Den imperialen Anspruch Englands beobachtet Meißner vom ausgehenden 16. Jahrhundert an über mehr als 400 Jahre hinweg. Zwar gibt er auch außerliterarische Beispiele für die imperialistische Haltung Englands, aber für ihn ist die Literatur der bei weitem wichtigste Indikator, Verkünder und Verstärker dieses Weltmachtanspruches. Imperialismus in England ist für Meißner zunächst vor allem der Anspruch auf Seeherrschaft. Einen der »frühesten Ausdrücke des englischen Imperialismus« (II, 9) erkennt er in »Richard Hakluyts Schrift The Principall Navigations (1589), die von den verwegenen Entdeckungsfahrten der Engländer erzählt« (ebd.). Genauso sieht er in der »Gründung der englischen Flotte« (ebd.) ein »Bekenntnis zu diesem expansiven Geist des Jahrhunderts« (ebd.). Von entscheidender Bedeutung ist nach Meißners Ansicht die Seeschlacht gegen die spanische Armada von 1588, die »für das geistige Bewußtsein Englands mehr bedeutet als einen zufälligen Seesieg, sondern lebendiger Ausdruck für alle Wünsche und Hoffnungen ist, an denen die junge, zur Weltmacht aufstrebende Nation sich berauscht« (II, 9). Die politischen Erfolge Englands inspirieren englische Autoren zu weiteren Werken, die den

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39)

Weltmachtanspruch Englands vertreten. So zum Beispiel James Harringtons Oceana von 1656, zu dem Meißner schreibt: »Mit dem commonwealth for increase ist natürlich England gemeint, das unter einer gerechten, an die Normen der Vernunft gebundenen Staatsführung zum Beherrscher der Meere werden soll« (II, 56).119 Eine Steigerung des englischen Imperialismus stellt Meißner während der Zeit des Bürgerkrieges fest: »In den zahlreichen Gedichten auf Cromwell (Marvell, Waller) wird der Ton immer imperialistischer, so daß man meinen könnte, hier und da schon den Pananglismus der späteren Kiplingzeit angedeutet zu finden« (II, 83). Aber erst im viktorianischen Zeitalter erreicht der Imperialismus, flankiert von außenpolitischen Erfolgen, seinen Höhepunkt und wird für Meißner fast zum Inbegriff von Englishness: Von Carlyle nimmt schließlich auch die neue Auffassung vom englischen Weltreich ihren Ausgang, die in schroffem Gegensatz zu der Laisser-fairePolitik des Liberalismus steht. Namentlich in den Latter-Day Pamphlets (1850) fordert Carlyle eine starke Kolonialpolitik und wird damit zum Vorkämpfer eines Imperialismus, der sich in dem berühmten Buche Greater Britain (1868) von Sir Charles Dilke in der Form eines großen Kolonialprogramms kundgibt und durch die Politik eines Palmerston (1784–1865) immer stärker in das national-englische Bewußtsein hineingetragen wird. Der Krimkrieg von 1854/55 ist das erste äußere Anzeichen eines politischen Wandlungsprozesses, der mit dem Burenkrieg um die Jahrhundertwende kraftvoll abschließt. (III, 86)

Das Verhältnis zwischen Imperialismus und Literatur ist ein wechselseitiges. Autoren wie Alfred Tennyson im 19. Jahrhundert werden einerseits von militärischen Erfolgen Englands und der Begeisterung der Bevölkerung inspiriert, wie Meißners Bemerkung zu Tennysons »schwungvolle[m] Weltreichsbekenntnis« (III, 102) im Gedicht The Fleet (1886) zeigt: »Der Poeta Laureatus ist zum Künder imperialistischer Ideen geworden, die sich wie bei vielen seiner Zeitgenossen am Krimkrieg entzündet haben« (III, 102). Andererseits wirken die Autoren ihrerseits wieder auf die Gesellschaft ein, um die imperialistische Haltung der eigenen Landsleute noch zu steigern und imperialistisches Denken zu disseminieren, wie es Meißner bei Charles Kingsley feststellt: 119 Als weitere Belege für den englischen Imperialismus im 16. und 17. Jahrhundert führt Meißner Texte von Edmund Spenser, Samuel Daniel und John Dryden an. Zu Spensers historischer Herleitung des imperialistischen Gedankens schreibt Meißner: »Jener für den ganzen englischen Imperialismus bezeichnende Gedanke, daß England Erbe des von starken Willensimpulsen getragenen Roms sein müsse, wird schon hier [im 16. Jahrhundert] in ihm lebendig« (II, 37f.). Daniel schätzt er folgendermaßen ein: »Unbestritten muß jedoch sein nationales Wollen bleiben, das sich in der gelehrten Dichtung Musophilus (1599) zu einem ausgesprochenen Kulturimperialismus steigert« (II, 39). Und auch in John Drydens Epos Annus Mirabilis von 1666 findet er eine stark imperialistische Färbung: »Die Grundnote des ersten Themas [Krieg gegen Holland] ist ausgesprochen imperialistisch« (II, 83).

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Meißners Darstellung der Englishness [Zum] echten Christentum wünscht Kingsley auch das England seiner Tage zurückzuführen, um es dadurch erst wirklich zu seiner großen imperialen Sendung fähig zu machen, von der die späteren Romane mit Leidenschaft künden. […] Es sind Werke, die an Gedankengänge Carlyles anschließen und ein müdes England zur Tat begeistern wollen. Sie haben mit ihrem Reichtum der Handlung, durch den sie ein großes Lesepublikum ansprachen, Englands Weg in den Imperialismus leicht gemacht. (III, 114f.)

Nach Meißners Darstellung ist die Literatur einerseits Nutznießer des Imperialismus, andererseits aber auch sein größter Befürworter und ›Werbetrommler‹ innerhalb der Gesellschaft – damit misst er der Literatur eine entscheidende Rolle beim Erfolg der imperialistischen Bemühungen Englands bei. Die Unterstützung der imperialistischen Idee hat bei Autoren wie Kingsley, wie oben von Meißner gezeigt, sogar schon religiöse Züge angenommen.120 Obwohl der englische Imperialismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts sein religiöses Moment zunächst verliert, steigert er sich zu neuen Höhen: Es beginnt das Zeitalter des Imperialismus, das schon durch den Krimkrieg vorbereitet worden ist, jetzt aber am Jahrhundertende die Politik Englands weithin bestimmt. Der Wortführer der neuen Ideen ist Joseph Chamberlain (1836–1914) […], der in liberal-puritanischem Denken aufgewachsen ist, aber immer stärker in die Einflußsphäre des Imperialismus gerät und die Größe des englischen Empire als gewaltige Vision erlebt. Dabei ist es bedeutsam, daß allmählich die religiöse Grundlage des Imperialismus der Cromwell- und Carlylezeit aufgegeben und durch den Einbau darwinistischer Lehren ersetzt wird […]. Langsam wandelt sich, durch die laute Yellow Press geschürt, die imperialistische Welle zum Jingoismus […], der chauvinistischen Aktivierung der alten Weltreichsideen. Das mit rauschhaftem Pomp begangene diamantene Jubiläum der Königin Viktoria vom Jahre 1897 ist die vielleicht gewaltigste Manifestation dieses Geistes. (III, 134f.)

Zu den Autoren, die sich nach Meißners Ansicht ganz dem imperialistischen Gedanken Englands im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ver120 Zur so genannten muscular Christianity Kingsleys, auf die Meißner hier anspielt, vgl. Uffelmann (1979: 34): »The Saint’s Tragedy […] establishes the major themes that Kingsley treated throughout his literary life: the glorification of marriage and the sanctity of the family, the ennobling influence of women, the importance of serving the poor in brotherhood, and what came to be called, despite Kingsley’s objections, muscular Christianity.« Den Terminus muscular Christianity definiert Uffelmann wie folgt: »The last of the major themes to appear in The Saint’s Tragedy and to persist throughout Kingsley’s career is that of muscular Christianity. This theme is treated primarily through the character of Walter and through the obvious contrast of Walter with Conrad. Walter does what Kingsleyan muscular Christians do: he takes a plain, straightforward, common-sense approach to life; he affirms the goodness of men’s sexual nature and revels in a life of action; he opposes the feminine weakness of Roman Catholic ascetism, and, without quite thumping his chest, celebrates his manhood.« (40)

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39)

schrieben haben, gehören Sir Henry Rider Haggard, Ernest Henley, Sir William Watson und in ganz besonderem Maße Rudyard Kipling.121 Zu letzterem schreibt Meißner: Der Burenkrieg fand ihn in Südafrika, wo in einem entscheidenden Augenblick der englischen Geschichte seine Weltreichsgedanken neu auflebten mit immer bewußterer Stellungnahme gegen Deutschland. So wird er in den Jahren vor dem Kriege zu einem Repräsentanten der imperialistischen Idee, aus der heraus sein Werk, die Prosa sowie die Versdichtung, zu begreifen ist. (IV, 30)

Meißners Verweis auf die Idee, die hinter dem Oeuvre eines Autors steht, unterstreicht erneut die enorme Bedeutung, die er geistesgeschichtlichen, kulturell bedingten Strömungen beim Entstehungsprozess literarischer Werke beimisst. Im Falle des englischen Imperialismus und der in ihm vertretenen Werte handelt es sich allerdings um eine Strömung, die nicht etwa in ihrer Stärke von Epoche zu Epoche variierte, sondern die einen stetig ansteigenden Einfluss auf englische Kultur und Literatur hat. So zumindest stellt es Meißner dar, wenn er auf die ungebrochene Kette imperialistischer Tradition von Cromwell bis zu Kipling verweist: [Kiplings] Captain Courageous (1897) nimmt den Tatgedanken wieder auf und stellt ihn dar an der Erziehung eines jungen, verwöhnten Millionärssohnes auf See zu einem Leben der Disziplin, des Gehorsams und der Pflichterfüllung. Das sind Werte, die aus dem Puritanismus stammen, der dem Imperialismus Kiplings immer mehr das Gepräge gibt und diesen in die lange Tradition englischen Menschentums hineinstellt, die von Cromwell und Milton ausgeht und über Carlyle in das späte 19. Jahrhundert führt. (IV, 31)

Rudyard Kipling ist für Meißner der Dichter des englischen Weltmachtanspruchs für die Zeit bis nach dem Ersten Weltkrieg.122 Dieser Konflikt stellt in

121 Zu den Romanen Sir Henry Rider Haggards schreibt Meißner: »Die kulturpolitische Bedeutung dieser Werke liegt darin, daß die englische Öffentlichkeit in der Zeit des Imperialismus auf das afrikanische Problem aufmerksam gemacht wird, genau wie Rudyard Kipling (1865-1936) mit ungleich größerer künstlerischer Begabung England auf Indien und seine Bedeutung hingewiesen hat« (IV, 30). Weitere Dichter, die einem »hemmungslosen Imperialismus das Wort reden« (IV, 61), sieht Meißner in Ernest Henley und Sir William Watson (IV, 61). Die literarischen Einflüsse Kiplings auf das 20. Jahrhundert bewertet Meißner wie folgt: »Auch die dem imperialistischen Gedanken dienende Kunst eines Kipling sollte den Roman des 20. Jahrhunderts in kraftvoller Weise weiterentwickeln« (III, 139). 122 Vgl. hierzu die weiteren Erörterungen Meißners zu Kipling: »Neben dem Romanschriftsteller steht der Dichter des Weltreichs, der sich ganz seiner nationalen Sendung bewußt ist. In seinen Versen (1891 unter dem Titel The English Flag veröffentlicht) sucht er seinen Landsleuten die Bedeutung des englischen Imperiums klarzumachen. Er hat seine stärkste Stütze im Soldaten, dem er in den Barrack-Room Ballads (1892) ein kulturpolitisch wichtiges Denkmal setzt, insofern als er mit der alten Auffassung

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Meißners Darstellung der Englishness

Meißners Augen eine Zäsur dar: Zwar spielt der Imperialismus in England auch nach dem Krieg noch eine große Rolle im Bewusstsein der Bevölkerung, er hat sich aber wie folgt gewandelt: Dieses England ist auf weite Strecken hin pazifistisch geworden. Verschiedene Elemente wirken hier zusammen: Es ist einmal die alte Ideologie der Vereinigung imperialistischer und pazifistischer Gedankengänge mit der These, daß der Weltfriede unter englischer Herrschaft am besten gesichert sei. Daneben gibt es mit starker Werbekraft den schwärmerischen Pazifismus der englischen Jugendbünde, der in der Entschließung der Oxforder Studenten vom Jahre 1934 ausmündet, nie wieder für König und Vaterland zu kämpfen. Innerhalb der Kirchen zeigt sich der Niederschlag dieser Bewegung bei der im Jahre 1924 in Birmingham tagenden Conference on Christian Politics, Economics and Citizenship (abgekürzt Copec), wo der Friedensgedanke aus der bloßen Ideologie gelöst und in den Bereich politischer Entscheidungen eingebaut wird. Die aus diesen Ansätzen erwachsende World Alliance for Promoting International Friendship throughout the Churches ist allerdings bei aller Friedensbereitschaft stark von pananglistischen Ideen getragen. (IV, 67)

Meißner schildert die Auswirkungen der Kriegsmüdigkeit auf den englischen Imperialismus, der zwar von Pazifismus aufgeweicht, aber immer noch vorhanden ist. Es scheint Meißner bei obiger Beobachtung vor allem um eine Bestandsaufnahme dessen zu gehen, was von England in Zukunft noch zu erwarten ist. Nach Meißners Darstellung war und ist der Imperialismus fast immer stark von religiösen Motiven geprägt. Diesen religiösen Einfluss stellt man auch bei vielen anderen Aspekten von Englishness fest, wie im Folgenden dargelegt werden soll. Religiosität Die Religion, und hier vor allem der Einfluss der Puritaner, bestimmt zahlreiche Charaktereigenschaften, die von Meißner als ›typisch englisch‹ betrachtet werden. Zu diesen gehören beispielsweise Vernunft, gesunder Menschenverstand (oder auch common sense), Selbstbeherrschung, das Gentlemanideal und sogar die Freiheitsliebe. Die genannten Charakterzüge stehen dabei nicht für sich allein, sondern sind durch die Klammer der Religion miteinander verbunden und bedinbricht: Der Soldat ist nicht mehr der Bramarbas der literarischen Überlieferung, sondern ein Mensch mit mancherlei Schwächen und Fehlern, aber stets zum Einsatz und Opfer für das Weltreich bereit, das ohne den einfachen Tommy nicht bestehen könnte. […] Zwar ist Englands Aufgabe in der Welt nicht leicht, aber es ist das sittliche Recht und die religiöse Pflicht des weißen Mannes, d. h. des Engländers, die anderen Völker zu beherrschen (The White Man’s Burden, 1899). Nur möge sich England davor hüten, durch diesen göttlichen Auftrag übermütig zu werden. Diese Mahnung ruft Kipling in den rauschhaften Tagen des diamantenen Jubiläums der Königin seiner Nation zu in den feierlichen, hymnenartigen Versen des Recessional (1897), eines Gedichtes, in dem der puritanische Sendungsgedanke Englands in seiner imperialistischen Form noch einmal mit aller Deutlichkeit ausgesprochen wird.« (IV, 32f.)

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39)

gen einander teilweise. Die Betrachtung dieser Aspekte von Englishness kann folglich nicht völlig von der der Religion abgekoppelt werden. Die Religion selbst scheint – trotz der relativ kurzen Puritanerherrschaft im 17. Jahrhundert – für lange Zeit eine große Bedeutung für das Leben vieler Engländer gehabt zu haben, wie aus Meißners Bewertung des bekanntesten Werkes von John Bunyan hervorgeht: Sein Buch The Pilgrim’s Progress (1678) ist noch heute in frommen englischen Häusern neben der Bibel die beliebteste Erbauungsschrift. […] Der Glaube und die Zuversicht eines schlichten, frommen Mannes haben im Laufe der Jahrhunderte unzähligen englischen Menschen eine Stärkung in ihrem eigenen Lebenskampfe zu sein vermocht. (II, 91f.)

Aufgrund der Langzeitwirkung von Bunyans puritanischem Buch ist davon auszugehen, dass der puritanische Einfluss in England über die Jahrhunderte fortgewirkt hat. Und tatsächlich entdeckt Meißner auch an vielen englischen Autoren seiner Gegenwart puritanische Züge, wie beispielsweise bei George Bernard Shaw (IV, 42). Meißner schreibt also – ähnlich wie Engel – den Puritanern eine nachhaltige Wirkung auf die Englishness zu. Bei der Bewertung der Puritaner selbst hält sich Meißner jedoch im Vergleich zu Engel enorm zurück. Zwar bescheinigt er ihnen eine allgemein kunstfeindliche Haltung, dies beschränkt sich jedoch auf wenige Bemerkungen. So schildert Meißner, dass mit der Frage, ob die »unbekümmerte Freude an der Antike nicht vielleicht doch sündhaft sei, […] der Puritanismus alle Kunst verbannt und getötet« (II, 48) habe. Als Folge nahmen Autoren wie Ben Jonson »den Kampf gegen das theater- und kunstfeindliche Puritanertum« (II, 68) auf.123 Trotzdem bewertet Meißner den Einfluss der Puritaner auf Gesellschaft und Literatur als ausgesprochen nachhaltig. Vor allem der »Kampf um die Menschenrechte« (III, 7) ist für ihn bedingt durch die nationalenglische Tradition […], die aus der Miltonzeit stammt. Danach sind Freiheit und Gleichheit aller Menschen nicht nur ein Gesetz der Vernunft, sondern auch ein göttliches Gebot, Voraussetzung der Herrschaft des Reiches Gottes auf Erden. Diese Ideologie hat dem demokratischen Radikalismus in England bis in die Zeit John Stuart Mills das Gepräge gegeben. (ebd.)

123 Der anhaltende puritanische Einfluss war nach Meißners Ansicht auch für die Unterdrückung der Frauen in England verantwortlich. Er schildert, dass im 18. Jahrhundert bereits Ansätze vorhanden waren, »das geistige Niveau der Frau zu heben und damit zugleich ihre gesellschaftliche Einflußsphäre zu erweitern, Bestrebungen, die allerdings so stark gegen puritanische Enge und Voreingenommenheit zu kämpfen hatten, daß die Frau im England des 18. Jahrhunderts nicht wie in Frankreich zu einer beherrschenden Stellung im Gesellschaftsleben durchdringen konnte. Nicht der von Frauen geleitete Salon, sondern das von Männern besuchte Kaffeehaus bestimmte die Kultur« (II, 105).

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Meißners Darstellung der Englishness

Das nach Freiheit verlangende englische Vernunftdenken ist, wie oben schon geschildert, primär religiös motiviert und steht in engem Zusammenhang mit anderen Aspekten von Englishness, wie Meißner im Folgenden zeigt: Im Puritanismus des 17. Jahrhundert spielt die Vernunft eine große Rolle. Aus der These, daß der religiöse Mensch auch der beherrschte sei, erwächst ihre Bedeutung für die self-control, die ausgeglichene und die Leidenschaften überwindende Selbstbeherrschung. […] Das berühmte Christian Directory (1675) eines Richard Baxter (1615–1691), des Regimentskaplans im Heere Cromwells, ist ein wichtiger Beitrag zu dieser rationalen Ethik, die sich zur Grundlage englischer Lebensführung überhaupt ausgeweitet hat. (II, 60)

Obiges Zitat zeigt den engen Zusammenhang zwischen Vernunft, Religion und Selbstbeherrschung. Dieser wird auch von John Milton in seinem Epos Paradise Lost von 1667 betont, zu dem Meißner schreibt: »Die größte Sünde sieht Milton – und damit findet er den Anschluß an die die Zeit weithin bestimmenden rationalistischen Strömungen – in den Leidenschaften, die nicht von der Vernunft gezügelt werden. […] Vernunft und Leidenschaft sind beide nötig und nur in ihrem Übermaße schädlich« (II, 90). Auf die hier angesprochene Zügelung der Leidenschaften durch die Vernunft – also Selbstbeherrschung – wird später noch genauer eingegangen. Der Begriff des common sense hängt mit dem der ›Vernunft‹ zusammen. Common sense – noch am ehesten mit ›gesunder Menschenverstand‹ zu übersetzen – ist ohne Vernunft nicht denkbar und steht damit auch mit der englischen Religiosität in Verbindung, was sich unter anderem in der Literatur bemerkbar macht. Bei George Savile und dessen Schriften aus dem 17. Jahrhundert beobachtet Meißner zum Beispiel: »Der common sense Charakter beginnt sich von nun an immer stärker durchzusetzen« (II, 58). Der common sense bleibt für Meißner auch im 18. Jahrhundert fester Bestandteil der englischen Literatur. Besonders deutlich tritt er seiner Meinung nach in den Figuren in Henry Fieldings Romanen zutage, denn nicht nur die Protagonisten, sondern »auch die übrigen Gestalten sind überaus blutvolle Geschöpfe, keine komplizierten Naturen, sondern Menschen mit viel common sense und natürlichen Instinkten, die dem englischen Roman eine bis dahin unbekannte innere Lebenswahrheit geben« (II, 131). Dass gerade der common sense der Figuren den Romanen Fieldings eine »innere Lebenswahrheit« gibt, spricht dafür, dass Meißner in ihm einen wichtigen Aspekt von Englishness sieht. Der Begriff common sense ist nur schwer korrekt ins Deutsche zu übersetzen, und dass das deutsche Wort ›Vernunft‹ den Nagel nicht ganz auf den Kopf trifft, zeigt folgende Textstelle aus Meißners Literaturgeschichte, an der er zur Person Fieldings erklärt: Aus ihm spricht das England, das mit jenem unwägbaren Instinkte, der letzten Endes im common sense begründet ist, das Dasein meistert. In diesem Sinne ist Fieldings Kunst ausgesprochen arteigen, eine Philosophie verkündend, die nicht in erster Linie den Verstand, sondern das Herz anspricht, die nicht ein bloßes Wissen um das Leben, sondern eine tiefe Weisheit vom Leben ist und

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39) daher immer wieder den englischen Menschen in ihren Bann zwingen wird. (II, 132)

Im englischen common sense geht es folglich nicht nur um Vernunft, sondern auch um »Herz«, um eine Sentimentalität also, die auch weiter oben schon als Aspekt von Englishness geschildert wurde. Dass Meißner Fielding – einen der Autoren aus seinem Spitzenkanon – zum Repräsentanten dieses englischen Charakterzuges erklärt, unterstreicht zusätzlich die Bedeutung, die Meißner dem common sense als konstitutivem Element von Englishness beimisst. Der Zusammenhang zwischen Vernunft und Selbstbeherrschung wurde schon erläutert. Im Gegensatz zur Vernunft war der Maßgedanke allerdings nach Meißners Auffassung zunächst nicht religiös motiviert, sondern ging auf eine Symbiose zwischen der antiken Philosophie des Stoizismus und mittelalterlichen englischen Werten zurück: Man übernimmt diesen Stoizismus um so bereitwilliger, als man ihn mit dem Maßgedanken verbinden kann, der seit der angelsächsischen Zeit über das Rittertum hinaus dem englischen Menschen jene Kraft zur Beherrschung seiner Leidenschaften verliehen hat, die letzten Endes in der volkhaften Substanz des Engländertums verwurzelt ist und sich auch heute immer aufs neue bewährt. (II, 21)

Ab dem 16. Jahrhundert schildert Meißner ein Verschmelzen der Tugend der Selbstbeherrschung mit dem Gentlemanideal, das er zuerst in John Lylys Euphues: the Anatomy of Wit feststellt, einer Schrift über die »Erziehung eines jungen Engländers« (II, 46): Das Erziehungsideal ist der Cortegiano Castigliones, der alle seine Leidenschaften zügelnde Mann von Welt. Aber dieser Höfling ist englisch gesehen, wie das namentlich der zweite Teil Euphues and his England (1580) zeigt, der in England spielt und in einem großen Preise der englischen Nation ausmündet. (II, 47)

Selbstbeherrschung als eine der Tugenden des englischen Gentleman ist offensichtlich eine zeitlich stabile Eigenschaft, denn Meißner beobachtet sie auch am von 1910 bis 1936 regierenden König George V. (1910–1936), dem »first gentleman of England« (IV, 66): Nicht, dass er eine berufene Führernatur gewesen wäre; wohl aber war er a builder of bridges, wie man ihn genannt hat, der stets die charakterlichen Werte des englischen Menschen in die Waagschale werfen konnte, die als decency, self-control, simplicity und balance of character von jeher formende Kraft gehabt haben. (IV, 66)

Dadurch, dass Selbstbeherrschung als seit der puritanischen Herrschaft religiös motivierte Tugend einen wichtigen Aspekt des Gentlemanideals bildet, fußt das Konzept selbst zum Teil in der englischen Religiosität. Das verdeutlicht auch Meißners Schilderung der Entwicklung des Gentlemanideals, wobei in England im Vergleich zu Italien die Betonung des aristokratischen Hintergrundes eines Gentleman an Bedeutung verliert:

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Meißners Darstellung der Englishness Die vornehme Geburt bleibt zwar wichtig, aber mindestens so bedeutsam ist eine adlige Gesinnung, die für die englische Auffassung der Zeit durch die sittlichen Höchstwerte des Christentums gewährleistet wird. In Thomas Elyots (1499–1546) Erziehungsschrift The Governour (1531) hat diese englische Prägung des Gentlemantyps maßgebenden Ausdruck gefunden. […] Das Erziehungsideal ist mit seiner starken Vorliebe für die alten Sprachen und der Forderung der harmonischen Ausbildung von Körper und Geist ausgesprochen klassisch, wenn auch das national-christliche Element teilweise umformend wirkt. (II, 19)

Das christlich geprägte, zunächst auf den Adel bezogene Gentlemanideal hält vollends in die englische Gesellschaft und damit in das Selbst- und Fremdbild der Engländer Einzug, als ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert – wie in John Lockes On Education von 1693 – »das Streben dahin [geht], im Gentlemantyp eine Synthese von aristokratischer und bürgerlicher Lebensform zu schaffen: zum Adel der Gesinnung muß auch eine gesicherte Lebensexistenz hinzukommen. So konnte im 18. Jahrhundert auch der Kaufmann zum Gentleman werden« (II, 104f.). Nur durch die Assimilation durch das Bürgertum konnte aus dem zunächst dem Adel vorbehaltenen Gentlemanideal ein zentraler Aspekt dessen werden, was Meißner seinen Lesern als ›typisch englisch‹ darlegt. Sinn für das Praktische und Nützlichkeitsdenken Neben den religiös motivierten Aspekten von Englishness, die oben geschildert wurden, wird der Sinn für das Praktische von Meißner wiederholt in den Vordergrund gestellt – allerdings meist nicht im Zusammenhang mit der englischen Literatur, sondern anhand der Schilderung der englischen Kulturgeschichte. Gleich zu Beginn seiner Literaturgeschichte betont Meißner, dass der Humanismus sich in England in seiner ursprünglichen Form nicht hat durchsetzen können, weil er nicht ›praktisch genug‹ gewesen sei: Von Wichtigkeit ist nun die Tatsache, daß der Humanismus in England, um überhaupt Wurzeln schlagen zu können, eine bezeichnende Umprägung erfahren hat. Das formal ästhetische Erlebnis tritt ganz zurück oder bleibt zum mindesten eine kurze Episode. Der englische Humanismus in seiner arteigenen, bodenständigen Form ist demgegenüber erheblich lebensnäher, d. h. man verbindet ihn mit praktischen Zielen: man sucht ihn in das Bildungsideal einzubauen und so auf das stärkste pädagogisch auszuwerten. Man fordert und erwartet von der neuen humanistischen Bildung […] praktischen Nutzen in einer Kultur, die stark bürgerlicher Struktur ist. (II, 16)

Meißner schildert im Folgenden, wie stark sich der Humanismus Englands von dem seines Herkunftslandes Italien doch unterscheidet: Während die Lebensform des Humanismus in Italien ein stilles, rein der Wissenschaft gewidmetes Gelehrtendasein ist oder sich zum mindesten in der Sehnsucht nach einsamer Geistesarbeit äußert (vgl. Petrarca), trägt sie in Eng-

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39) land den Stempel der Weltverbundenheit, oft sogar in einer Weise, die von utilitaristischer Gesinnung nicht mehr allzu weit entfernt ist. (II, 17)

Die Zweckgerichtetheit und »Weltverbundenheit« des englischen Humanismus zeigt sich folglich darin, dass in ihm nicht nur ein abstraktes Ideal gesehen wird, sondern dass an den Humanismus ganz praktische Forderungen gestellt werden, vor allem auf dem Gebiet der Ausbildung. So interpretiert Meißner auch die Gründung der Queene Elizabethe’s Academie im Jahr 1572 derart, dass in ihr ein »rein zweckbestimmter Erziehungsgedanke« (II, 20) zutage tritt. Den Gipfel des Nützlichkeitsdenkens sieht Meißner in der utilitaristischen Ethik des viktorianischen Zeitalters erreicht (III, 79). Auch die Religion kann sich nach Meißners Schilderung der typisch englischen Forderung nach Nützlichkeit nicht entziehen. Das manifestiert sich für ihn vor allem in den Ausprägungen der Reformation in England: Sie tritt in erster Linie für praktisches Christentum ein. Dogmatische Streitigkeiten spielen gegenüber allen Fragen der Erziehung für den christlichen Alltag eine untergeordnete Rolle. Ein Mann wie Latimer ist darum so ausgesprochen englisch-reformatorisch, weil er jene Gradheit und Lebensnähe besitzt, die allem Spekulativen abhold ist und seinen Predigten mit ihrem stark sozialen Einschlag eine so unmittelbare und tiefgehende Wirkung auf die Massen gibt. (II, 27)

Die Lebensnähe der Religion zeigt sich in England für Meißner auch im viktorianischen Zeitalter: »Aus dem religiösen Liberalismus, dessen Ideen in der Hauptsache auf einen kleinen Kreis beschränkt bleiben, stammt letzten Endes das dem englischen Geiste naheliegende Bekenntnis zur Tat des christlichen Sozialismus« (III, 81). Im christlichen Sozialismus verdeutlicht sich für Meißner in positiver Weise das christlich fundierte Bedürfnis, die soziale Not der Zeit ganz praktisch zu lindern. Allerdings führt die Verbindung von Nützlichkeit und Religion nicht nur zu positiven Ergebnissen. In den Werken von Scott erkennt Meißner »jene puritanische Ethik, die Religiöses und Weltliches in eigentümlicher Weise zu vereinigen weiß und der angelsächsischen Frömmigkeit so oft den Vorwurf der Heuchelei (cant) eingetragen hat« (III, 71). Ob nun positiv oder negativ bewertet, Fakt ist, dass es sich bei dem Sinn für das Praktische und dem Nützlichkeitsdenken um fundamentale Aspekte in Meißners Fremdbild der Engländer handelt. Ausgleichsstreben Ein ähnlich bedeutender Aspekt von Englishness ist für Meißner die Neigung zu Kompromissen, die er in einem starken Ausgleichsstreben begründet sieht. Und genauso wie beim Nützlichkeitsdenken demonstriert Meißner diese Eigenschaft nicht primär an der englischen Literatur, sondern an gesellschaftlichen und historischen Entwicklungen. Die beständige Suche nach einem Kompromiss lässt zum Beispiel die Reformation in England ganz anders verlaufen als in Deutschland, wie Meißner nachfolgend belegt:

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Meißners Darstellung der Englishness Wenn […] der Einfluß der deutschen Reformation auf England verhältnismäßig gering bleibt und alles unmittelbare Verhandeln [zwischen Heinrich VIII. und deutschen Fürsten] scheitert, so liegt das nicht nur daran, daß zwischen dem kompromißlos geführten Religionskampf in Deutschland und dem durch die via media bestimmten und im englischen Nationalcharakter begründeten Ausgleichsstreben in England doch eine unüberbrückbare Kluft besteht, sondern in den so andersartigen Zielen der englischen Reformation. (II, 24f.)

Auch bei Elisabeth, der Tochter Heinrichs VIII., beobachtet Meißner die Neigung zum Ausgleich verschiedener Interessen: »Der erwähnte Kompromißcharakter zeigt sich vor allem in den ersten Jahren der Regierung Elisabeths, die keineswegs alle Brücken hinter sich abbrechen will, sondern nach beiden Seiten zu vermitteln sucht« (II, 25). Das Vorhandensein eines bestimmten Charakterzuges bei zwei miteinander verwandten Monarchen ist für sich genommen noch kein Beleg dafür, dass es sich beim beobachteten Ausgleichsstreben um einen Aspekt von Englishness handelt. Erst Meißners Verweis auf William Makepeace Thackerays Pendennis aus der Mitte des 19. Jahrhunderts lässt diesen Schluss zu: »Sein Held verkörpert das Lebensideal des englischen Durchschnittsmenschen, der zu Kompromissen bereit ist und sich den Unvollkommenheiten der Welt anzupassen versteht« (III, 108). Folglich handelt es sich bei der Neigung zu Kompromissen durchaus um ein zeitlich stabiles, in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitetes Merkmal von Englishness. Bereitschaft zur Integration fremder Einflüsse Als letzten bedeutenderen Aspekt von Englishness erkennt Meißner – ebenso wie Schirmer – eine Neigung, fremde geistesgeschichtliche und literarische Einflüsse nicht unverändert zu übernehmen, sondern sie rasch den eigenen, englischen Bedürfnissen und Vorlieben anzupassen. Teilweise erklärt Meißner diese Tendenz mit dem englischen Selbstbewusstsein, wie bei Petrarcas Sonetten im 16. Jahrhundert: »Am Hofe Heinrichs VIII. ist man der feinsinnigen Kunst des Italieners durchaus zugänglich; man ahmt sie nach, muß aber bald erkennen, daß sie letzten Endes doch Fremdgut bleibt« (II, 44). Das italienische Vorbild wird deshalb von Sir Thomas Wyatt und anderen verändert: In dieser nationalen Umprägung der petrarkistischen Form liegen bereits die Ansatzpunkte zu einem Abrücken von Petrarca, das bei anderen Sonettdichtern wie Henry Howard, Earl of Surrey (1517?–1547), und Nicholas Grimald (1519–1562) noch offensichtlicher ist. Immer bewußter wird der Kampf gegen die preziöse Geistreichigkeit petrarkistischer Wortkunst aufgenommen, der gegenüber man die schlichte Gediegenheit der nationalen Sprache rühmt. (II, 45)

Eine ähnliche Umformung äußerer Einflüsse beobachtet Meißner für die Bewegung der Romantik im ausgehenden 18. Jahrhundert. Vor allem im 18. und 19. Jahrhundert gehörte ein ausgedehnter Aufenthalt auf dem Kontinent (auch bekannt unter dem Namen Grand Tour) für wohlhabende junge Engländer zum guten Ton.

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39)

Auf diese Weise kamen die Engländer in Kontakt mit den jeweils in den europäischen Hauptstädten vorherrschenden kulturellen Strömungen und Moden. Die englischen Romantiker Wordsworth und Coleridge hielten sich beispielsweise für eine Weile in Deutschland auf, und auch Byron – dieser allerdings auf der Flucht vor Anfeindungen in England – weilte für eine Zeit im deutschsprachigen Raum (am Genfer See). Auf solche kulturellen Kontakte spielt Meißner an, wenn er erklärt: Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Weltanschauung der Romantik in England in weitem Maße von deutschem Gedankengut befruchtet worden ist, wenn auch hier wie immer in England bald nach dem entscheidenden Einbruch des deutschen idealistischen Denkens die Verschmelzung mit der nationalen Tradition erfolgt (III, 12).

Aber nicht nur durch Besuche auf dem Kontinent, auch durch die Rezeption der philosophischen Werke deutscher oder französischer Denker übernahmen englische Literaten neue Ideen, wie es Meißner beispielsweise für den Idealismus im 19. Jahrhundert feststellt: »Bei aller Bindung an den deutschen Idealismus trägt diese Philosophie doch arteigenes Gepräge« (III, 93). Ganz gleich, wie Einflüsse von außen – also vom Kontinent – auf England wirkten, meist wurden sie schnell assimiliert und den eigenen Bedürfnissen und Vorlieben angepasst. Da Meißner diese Eigenschaft regelmäßig über einen langen Zeitraum beobachtet, scheint es sich bei ihr um ein zeitlich stabiles Merkmal in seinem Fremdbild der Engländer zu handeln. Zuschreibung ethnisch bedingter Merkmale Die bisher beschriebenen Aspekte von Englishness sieht Meißner fast immer in einer langen kulturellen Tradition begründet. Zwar scheint er von der Existenz eines archetypischen englischen Charakters auszugehen, aber nur selten schreibt Meißner einem Autor so deutlich wie beispielsweise Byron Merkmale zu, die er in dessen ethnischer Herkunft begründet sieht: »Wikingerblut fließt vom Geschlecht des Vaters her in seinen Adern und hat ihm die Waghalsigkeit, die Wanderlust und auch den Ehrgeiz gegeben. Als Erbschaft der Sippe der Mutter findet sich bei ihm der keltische Witz und der Drang zur Unabhängigkeit« (III, 54). Die Rhetorik von ›Blut‹ und ›Sippe‹, die deutlich den Einfluss nationalsozialistischen Denkens erkennen lässt, dient hier der Emphase. Meißner zögert seltsamerweise fast ausschließlich hinsichtlich der englischen Autoren, ihnen ganz offen Eigenschaften zuzuschreiben. Bei Iren und Schotten erkennt er deutliche Unterschiede zueinander und zu den Engländern, die er nicht kulturell, sondern fast immer ethnisch begründet. Meißners zahlreiche Bemerkungen über Iren und Schotten sowie die keltischen Vorfahren beider Bevölkerungsgruppen zeichnen ein recht deutliches Bild ihrer charakterlichen Eigenschaften. Dieses Bild soll hier nicht unterschlagen werden, da es als Folie zur von Meißner dargestellten Englishness fungiert und die keltischen Eigenschaften zudem auch

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Meißners Darstellung der Englishness

den Nationalcharakter der Engländer beeinflussen. Meißner macht deutlich, was Iren und Schotten von Engländern unterscheidet, und definiert damit erstens sein Fremdbild Englands genauer, zweitens fließen die Charakteristika aller auf den britischen Inseln lebenden ethnischen Gruppen natürlich in das umfassendere Konzept der ›Britishness‹ ein. Iren Irische Autoren gehören durch die geografisch geprägte Definition von englischer Literatur genauso zum Kanon Meißners wie englische. Wiederholt und deutlich weist er jedoch auf den spezifischen Charakter der Iren hin, der sich in manchen Aspekten erheblich von dem von ihm vermittelten Bild von Englishness unterscheidet. Meißner stellt als wichtigstes Merkmal der Iren einen inneren Konflikt dar, den er besonders deutlich bei John Millington Synge beobachtet, der von 1871 bis 1909 lebte. Bei ihm erkennt Meißner »jene rassisch bedingte Verwurzelung des irischen Menschen in zwei Welten, der der Wirklichkeit und der der Unwirklichkeit. Jene ist häßlich und erbarmungslos, diese schön und voller Wunder« (IV, 47). In seinem Drama The Playboy of the Western World von 1907 will Synge laut Meißner zwar die »Freude am Ungewöhnlichen und Nicht-alltäglichen [ausdrücken], die dem irischen Menschen im Blute liegt« (ebd.). Aber nach Meißners Ansicht übt Synge freilich auch Kritik am irischen Menschen, denn er weiß, daß die überschäumende Phantasie und das Vorbeigehen an der Wirklichkeit auch viel zu dem Unglück Irlands beigetragen haben. Es fehlt dem Iren der zähe Wille, den Alltag und seine Aufgaben zu meistern, und die starke Phantasiebegabung führt leicht zu einer Unbeständigkeit des Charakters. (IV, 47f.)

Dieselben Defizite sieht Meißner auch bei Laurence Sterne aus dem 18. Jahrhundert. Dieser sei zwar enorm virtuos in seiner Darstellung der Empfindsamkeit, »wobei ihm zweifellos der Rationalismus seines Irentums zustatten gekommen ist« (II, 122), aber sein Roman Tristram Shandy ist für Meißner »das Werk eines zweifellos genialen Künstlers, der aber dem Leben völlig hilflos gegenübersteht« (II, 123). Ähnliches beobachtet Meißner in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auch bei Sean O’Casey – »O’Casey ist wie so viele Iren an der Unfähigkeit, das Leben zu meistern, gescheitert« (IV, 133) – und in den Werken von George Fitzmaurice: »Den irischen Menschen, dem der Wille zur Entscheidung fehlt, und der deshalb nicht zur schöpferischen Tat kommen kann, behandelt George Fitzmau rice in seinen Volksstücken« (IV, 51). Die Vorliebe der Iren für das Fantastische, die Meißner schon bei Synge feststellt, findet er auch bei James Stephens: »Hier spricht der irische Mensch mit seiner Hingabe an alles Unwirkliche, Traumhafte, jenes Celtic Twilight, das wir auch bei Seumas Boyd finden« (IV, 59). Das von Meißner dargestellte Bild der Iren mit den primären Eigenschaften der Vorliebe für das Unwirkliche sowie einer Unfähigkeit für das tägliche Leben steht

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39)

im völligen Gegensatz zu seiner Darstellung der Engländer mit ihrem Sinn fürs Praktische und ihrer Realitätsnähe. Schotten Den Schotten schreibt Meißner in seiner Literaturgeschichte – ebenso wie den Iren und den Engländern – einen eigenen Nationalcharakter zu, der sich vor allem in drei Eigenschaften niederschlägt. Zunächst erklärt Meißner zu David Hume, dessen »analytische Psychologie« (IV, 26f.) würde »dem grüblerischen Charakter des schottischen Menschen« (ebd.) entsprechen. Und »dieselbe Vorliebe für das Irrationale und eine abstrakte Gedanklichkeit findet sich als schottische Arteigenheit auch bei Edwin Muir (geb. 1887)« (IV, 149). Damit unterscheiden sich die Schotten für Meißner deutlich von den bodenständigen, praktisch veranlagten Engländern. Das ›Grüblerische‹ wird von Meißner deshalb recht negativ bewertet, weil es im Widerspruch zum im Nationalsozialismus verherrlichten ›Tatmenschentum‹ steht. Schotten und Engländern gemein ist dagegen der common sense. Diesen stellt Meißner bei James M. Barrie fest, der von 1860 bis 1937 lebte: »Die Lösung [des Dramas] ist nicht revolutionär, sondern von dem schottischen commonsense [sic] Gedanken eingegeben« (IV, 51). Und auch Eric Linklater, ein Romancier der Nachkriegszeit, ist für Meißner beispielhaft für diesen Charakterzug: »Es ist bei Linklater viel Satire, aber auch ein gut Teil gesunder common sense zu finden, der völkisches Erbteil gerade auch des schottischen Menschen ist« (IV, 116). Linklater ist für Meißner zudem ein Repräsentant einer weiteren wichtigen schottischen Charaktereigenschaft: In allem ist Linklater der Typ des exzentrischen Schotten, obwohl er selbst in seiner Kritik, so spielerisch sie manchmal auch sein mag, manche Schwächen des schottischen Wesens mit seiner Gefahr der Übersteigerung aller Impulse warnend aufzeigt. (IV, 116f.)

Als weiteres Beispiel für die Exzentrik der Schotten führt Meißner Hugh MacDiarmid auf, einen Dichter der Nachkriegszeit. Bei ihm zeigt sich auch wieder Meißners antikommunistische Haltung, denn dieser kann sich MacDiarmids Gedicht auf Lenin nur mit der ›typisch schottischen‹ Exzentrik erklären: Sein Kampf um Schottland ist eine Art Erweckungsruf aus irrationalmystischer Seelenhaltung heraus […], der es jedoch nicht an mancherlei Exzentrizitäten fehlt; nur sie machen es verständlich, daß er neben sein leidenschaftliches völkisches Bekenntnis auch eine Hymne an Lenin (1932) hat setzen können. (IV, 149)

Und auch bei James Bridie entdeckt Meißner dieselbe Neigung und schreibt sie erneut dem schottischen Nationalcharakter zu: Hier und da lockert sich die Satire zum derben schottischen Humor auf wie in der Tragikomödie The Black Eye (1935), die im Glasgow der 20er Jahre spielt und eine Schilderung der Scottish Eccentrics […] mit all dem Grotesken und Bizarren gibt, das schottischem Wesen so häufig anhaftet. (IV, 134)

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Meißners Darstellung der Englishness

Hier gesellt sich zur schottischen Exzentrik der Humor, der sonst meist den Engländern zugeschrieben wird. Die bisherigen von Meißner angeführten Beispiele für schottische Eigenschaften stammten alle aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Der schottische Nationalcharakter ist für Meißner jedoch nicht erst in seiner eigenen Gegenwart entstanden, sondern lässt sich auch schon früher nachweisen. So stellt er für das 18. Jahrhundert bezüglich Tobias Smollett fest, dass sich bei diesem »viel Unausgeglichenes und Sprunghaftes« (II, 133) finde, was »zweifellos stark durch sein Schottentum bestimmt« (ebd.) sei. Wie bei den Iren geht Meißner auch bei der Beschreibung des schottischen Charakters viel weniger von einer Beeinflussung durch die jeweils herrschenden geistesgeschichtlichen Strömungen aus, als er dies bei den Engländern tut. Er führt die beobachteten Eigenheiten direkt auf einen von ihm postulierten, ethnisch begründeten Volkscharakter zurück. Kelten Leider fehlt der erste Band von Meißners englischer Literaturgeschichte, denn in diesem hätte es sicherlich einige Hinweise darauf gegeben, welche Charaktereigenschaften er den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zuschreibt, die England im Lauf der Jahrtausende besiedelten. Aber auch in den drei veröffentlichten Bänden verweist Meißner immer wieder auf Charaktereigenschaften, die er im keltischen Erbe eines Autors oder Politikers begründet sieht. Die Bezüge zu keltischen Vorfahren betreffen sowohl Engländer als auch Waliser, Schotten und Iren und weisen darauf hin, dass Meißner den keltischen Einfluss auch nach Jahrtausenden noch als wirksam empfindet. Bezüge auf normannische Einflüsse finden sich dagegen nicht. Bei den beiden Engländern George Meredith und Sir Anthony Hope Hawkins erkennt Meißner einen Hang zum Irrealen, der an seine Charakterisierung der Iren erinnert. Zu George Meredith schreibt er: Die Welt, die er zeichnet, sieht er als Realist, dessen Verhältnis zum Leben aber gleichzeitig auch durch das keltische Bluterbe bestimmt ist. So erklärt sich jene grüblerische Phantastik, die schon dem bei den Herrnhutern in Neuwied erzogenen Knaben eigen ist. (III, 117)

Und bei Sir Anthony Hope Hawkins, der von 1863 bis 1933 lebte, beobachtet er: »Die Sehnsucht des nüchternen Engländers nach der Welt des Wunderbaren und Phantastischen findet hier ihre Erfüllung, ist doch Hawkins durch seine keltische Erbmasse besonders befähigt, sich mit dem Irrealen zu befassen« (IV, 33f.). Bei beiden Autoren vermischen sich somit Charakterzüge, die Meißner als englisch und keltisch identifiziert. Die Bedeutung, die Meißner der ethnischen Herkunft für die Prägung des Charakters beimisst, wird abermals deutlich. Keltischer Witz scheint sich – zumindest nach Meißners Darstellung – besonders bei den Iren erhalten zu haben. Nach seiner Ansicht verdankt beispielsweise George Bernard Shaw »seinem alten, keltischen, wenn auch lange in England

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39)

ansässig gewesenen Geschlecht den Witz, die Wortgewandtheit und die Freude an der Veränderung« (IV, 42). Und auch »Lady Isabella Augusta Gregory (1860– 1932) verdankt ihrem Keltentum in erster Linie den Witz, der in ihren Einaktern zu treffender Situationskomik führt« (IV, 48). Besondere Ausformungen keltischer Einflüsse stellt Meißner anhand zweier Waliser fest. Zu John Cowper Powys erklärt er: »Er gehört ganz in die Sphäre des westisch-keltischen Erbes hinein, in der das Leben nach anderen Gesetzen verläuft als in der germanisch-nordischen Welt« (IV, 111) und stellt damit einen Gegensatz zwischen keltisch-walisischer und germanischer Lebensführung her. Diese Gegenüberstellung mündet hinsichtlich der Bewertung des politischen Schaffens des aus Wales stammenden Premierministers Lloyd George in offene Kritik. Denn Meißner unterstellt Lloyd George eine ethnisch begründete Unfähigkeit in dessen politischem Handeln nach dem Ersten Weltkrieg: Sehr bald wurde auch offenkundig, daß Lloyd George nicht die Weisheit und Weitsicht besaß, um England in den wirklichen Frieden zu führen. Der Mann, der aus seinem keltischen Blute heraus stets den Augenblick ins Auge fasste, versagte, wo England eine Politik auf weite Sicht brauchte. (IV, 64)

Eine Verbindung von keltischen und schottischen Charakteristika stellt Meißner bei der Beschreibung des Engländers Gilbert Keith Chesterton her, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts literarisch aktiv war und 1927 eine Schrift gegen die Eugenik verfasste. Von ihm schreibt Meißner: »Große Verstandesschärfe, die ihn oft so unsentimental erscheinen lässt wie seinen Freund Bernard Shaw, verbindet sich bei ihm mit einem eigentümlichen Hang zum Grüblerischen, beides ohne Zweifel keltisches, von der schottischen Mutter überkommenes Blutserbe« (IV, 68). Die grüblerische Ader, die Meißner den Schotten zuschreibt, wird mit dem keltischen Erbe erklärt und führt scheinbar zu einer Ablehnung der Eugenik. Diese wird von anderen Engländern, wie Galton und Inge, die beide keine direkten schottischen Vorfahren haben, jedoch befürwortet. Offensichtlich ist also die Neigung, einer bestimmten Ideologie zu folgen und diese zu vertreten, für Meißner zumindest zum Teil von der ethnischen Herkunft abhängig. Die obigen Beispiele lassen vermuten, dass Meißner von einer Art keltischem ›Basischarakter‹ aller Einwohner Großbritanniens ausgeht. Allerdings haben sich Schotten, Iren, Waliser und vor allem Engländer in den folgenden Jahrtausenden offenbar in verschiedene Richtungen weiterentwickelt, so dass sich die von Meißner für die Gegenwart dargestellten Charakteristika der Bevölkerungsgruppen deutlich voneinander unterscheiden. Die keltischen Wurzeln sind demnach zwar noch bei allen Briten nachzuweisen, allerdings in unterschiedlichem Maße, und sie haben noch immer Einfluss auf Meißners Bild von Englishness. Zwischenfazit Wie unzweifelhaft deutlich wurde, ist die von Paul Meißner präsentierte Englische Literaturgeschichte in hohem Maße geprägt durch die Ideologie des Natio-

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Zwischenfazit

nalsozialismus. Dies manifestiert sich unter anderem in der Zusammensetzung des Kanons, der Bewertung von Autoren und auch in der Darstellung einzelner Epochen. So stellt Meißner für die Zeit der Romantik das Aufkommen einer neuen Staatstheorie fest, die derjenigen der Nationalsozialisten scheinbar sehr nahe kommt. Entsprechend wohlwollend beurteilt Meißner denn auch die Befürworter dieser Theorie: Dieser Begriff des Staatsorganismus wird von Coleridge noch durch den Volksgedanken erweitert […]. Die hier aufgezeigte Entwicklung mündet in dem politischen Weltbild Carlyles aus, der die organisch-völkische Gemeinschaft als Grundlage aller Kulturbereiche hinstellt und das Individuum in ihr zur werteschaffenden und wertetragenden Persönlichkeit emporsteigert bis zu dem Punkte, wo die Führergestalt, der ›Held‹, wie Carlyle sie nennt, ersteht und dem Geschick seines Volkes die bestimmende Prägung verleiht. (III, 11)

Trotz des Ersten Weltkrieges und der Kriegsgegnerschaft mit England und Frankreich ist von einer zu erwartenden feindseligen Haltung diesen beiden Ländern gegenüber bei Meißner nur wenig zu bemerken. Lediglich seine detaillierte Schilderung der mannigfaltigen Probleme Englands in der Nachkriegszeit lassen auf einen Groll Meißners schließen. Es macht fast den Eindruck, als bereite es ihm Genugtuung, dass der Kriegssieger England von Krisen und Problemen in allen Bevölkerungsschichten – Arbeiterschaft, Aristokratie und Mittelstand – und in allen Bereichen – Innen- wie Außenpolitik, Wirtschaft und Gesellschaft – gebeutelt wird (vgl. IV, 63ff.). Während Meißner scheinbar keine allgemeine feindselige Haltung gegenüber England hegt, verweist er umgekehrt auf den Hass, den bestimmte Schichten in England den Deutschen entgegenbringen. Als Hauptträger dieser Feindschaft identifiziert Meißner die ›lower middle class‹: Hier hat sich auch der Haß des Krieges am längsten gehalten, weil man in Deutschland den Hauptschuldigen an dem Elendsdasein der Nachkriegsjahre sah. Aus dieser Schicht heraus erwächst als neuer Typ der Little Man, der seine Kleinheit heroisch auf sich nimmt, aber schließlich auch allem Großen innerlich feindlich gegenübersteht. Ihn spricht im Film der Jude Charlie Chaplin an. (IV, 65)

Leichte Kritik übt Meißner nicht nur am zumindest in manchen Bevölkerungsteilen schwelenden Hass auf Deutschland, sondern auch an der englischen Nachkriegspolitik: »Die im Völkerbund festgelegte und stark von Frankreich beherrschte kontinentale Politik Englands zeigte eine Unselbständigkeit Englands, die dem Mangel an wirklicher Führung zuzuschreiben war« (IV, 66). Hierbei spielt Meißner auf die von Frankreich geforderten harten Bedingungen im Versailler Vertrag an. Aber auch in diesem Punkt liegt nach Meißners Formulierung allenfalls eine Teilschuld auf englischer Seite – England wird kein böser Wille gegenüber Deutschland, sondern lediglich Führungsschwäche vorgeworfen. Warum sich Meißner derart nachsichtig mit England zeigt, wird weiter unten in den Schlussworten dieses Abschnitts genauer ausgeführt.

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39)

Vom literaturwissenschaftlichen Standpunkt sind mehrere Aspekte an Meißners Literaturgeschichte von Interesse, vor allem im Vergleich mit den bisher untersuchten Literarhistorien. Es lassen sich beispielsweise Ähnlichkeiten zur Literaturgeschichte Schirmers feststellen, auch wenn es derer wenige sind: So urteilt Meißner ähnlich neutral wie Schirmer über die englische Literaturkritik. Meißner schildert dabei ohne wertendes Urteil lediglich die verschiedenen Ansätze der englischen Literaturwissenschaft, vor allem die der Nachkriegszeit. Das steht in deutlichem Gegensatz zu Engels unfreundlichen Bemerkungen über seine englischen Kollegen. Auch hält sich Meißner mit dem Moralisieren zurück und ähnelt damit Schirmer weitaus mehr als Engel. Das wird vor allem anhand der englischen Literatur der Restaurationszeit – besonders bei der Komödie – deutlich: Meißner bewertet nicht die von Engel verteufelte Moral der Stücke, sondern zollt ihnen künstlerisches Lob (II, 81). Eine dritte Ähnlichkeit zu Schirmer ist die Bezugnahme Meißners auf das relativ neue Medium des Films. Einmal stellt er zu Oscar Wilde fest: »Seine Lustspiele [sind] bis heute Bühnenerfolge geblieben, und auch der Film hat sich neuerdings ihrer angenommen« (III, 146). Und ein andermal befindet er zum englischen Theater der Nachkriegszeit: »Man hat häufig von einer Krise des Theaters in der Nachkriegszeit gesprochen, und ohne Zweifel haben die aus der musical comedy entstandene Revue und der Film sich zu ernsten Konkurrenten der Bühnenkunst entwickelt« (IV, 119). Diese Bemerkungen Meißners zeigen ein Bewusstsein dafür, dass das Medium des Films für die Literatur- und Theaterlandschaft von wachsender Bedeutung sein wird. Ebenfalls von Bedeutung als Vergleichsaspekt ist Meißners Bewertung des viktorianischen Zeitalters. Wie bereits geschildert, hegte Engel eine starke Abneigung gegen diese Epoche und sah sie als Tiefpunkt der englischen Literatur und Kultur. Weiser beurteilt den Viktorianismus schon zurückhaltender, und bei Meißner findet schließlich eine völlige Neubewertung statt. Auch Meißner macht auf die negativen Entwicklungen der Gesellschaft – »So erfolgreich und imponierend nach außen hin die viktorianische Kultur in Erscheinung tritt, so gewiß ist es, daß die Lebenshaltung des englischen Volkes immer stärker einem satten Materialismus entgegensteuert« (III, 83) – und der Literatur – »Das ausgehende 19. Jahrhundert bringt den Beginn einer neuen Theaterkultur in England, die nach der völligen Dürre der viktorianischen Epoche zu einer neuen Blüte des englischen Dramas führen soll« (III, 143) – aufmerksam. Und Meißner berichtet auch, dass die Engländer selbst diese Epoche in der direkten Vor- und Nachkriegszeit eher negativ bewerteten.124

124 Schon zuvor ging Meißner auf die mangelnde Gleichberechtigung der Frau in England ein. Daran hat sich nach seiner Darstellung auch im viktorianischen Zeitalter nicht viel geändert: »Der Familienvater als Stellvertreter Gottes herrscht mit absoluter Gewalt (vgl. das Leben der Brontës oder der Elizabeth Barrett). Die Frau hat eine völlig unselbständige Stellung.« (III, 76)

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Zwischenfazit

Aber mit dem nötigen zeitlichen Abstand änderte sich ab den 1930er Jahren die Sicht auf die viktorianische Epoche. Als Beleg führt Meißner Laurence Housmans Stück Victoria Regina (1937) an und meint dazu: »Die seelische Stimmung eines dem modernen Engländer wieder nahegerückten Zeitalters kommt in diesen Skizzen trefflich zum Ausdruck« (IV, 128). Meißner erkennt den Grund für die Rückbesinnung Englands auf die »Werte des Viktorianismus« (IV, 135) darin, dass diese »als sicheres Bollwerk gegen allen post war Zerfall« gelten (ebd.). Trotz der vormals negativen englischen Sicht der viktorianischen Zeit hatten bestimmte Ideale dieser Zeit nach Meißners Ansicht ihre Bedeutung ohnehin niemals verloren: Sie [die Epoche des Viktorianismus] bedeutet im Bewußtsein des Engländers bis in die Gegenwart hinein die Zeit des unermüdlichen Arbeitsfleißes, des steigenden Wohlstandes, des Glaubens an den Fortschritt, des frommen und sittlichen Lebenswandels. Es sind Ideale, die die Königin selber vertrat und vorlebte. Trotz aller Angriffe namentlich durch die Nachkriegsgeneration ist diese Epoche immer mehr zum Symbol für England schlechthin geworden, und die Besinnung auf den Viktorianismus im England von heute bedeutet im letzten Grunde ein Zurück zu den unvergänglichen Werten des englischen Wesens, die lange Zeit mißachtet waren. (III, 75).

Das viktorianische Zeitalter hat also erst einige Dekaden nach seinem Ende die Bedeutung als Symbol für England erlangt, die es noch heute hat. Sowohl für Meißner als auch für das England seiner Gegenwart verkörpert das viktorianische Zeitalter alles, was englisch ist. Und eine besondere Rolle als Schlüssel zum Verständnis des viktorianischen England spricht Meißner abermals der Literatur zu: Aus diesen verschiedenen literarischen Überlieferungen gestaltet sich auch das Werk von Charles Dickens (1812–70), der in seinen Romanen die bürgerliche Welt seiner Zeit und darüber hinaus den englischen Menschen schlechthin gezeichnet hat, der zwar in den verschiedenen Zeitaltern eine verschiedene Sprache spricht, aber in seiner volkhaften Substanz stets der gleiche bleibt. Darum muß man Dickens lesen, um England kennenzulernen und verstehen zu können. (III, 96)

Der Wandel in der Bewertung der viktorianischen Zeit innerhalb und außerhalb Englands belegt eine nachhaltige Veränderung im kollektiven Gedächtnis der Zeitgenossen Meißners. Die zuvor negativ beurteilte Zeit des 19. Jahrhunderts wird in der Rückschau zu einem Symbol für England und prägt damit die Identität der Engländer. Unter anderem über Literaturgeschichten wie die Meißners hält dieser Bewertungswandel auch in Deutschland Einzug. Hier ändert sich durch die gewandelte Sichtweise der viktorianischen Epoche zwar nicht die eigene, deutsche Identität, wohl aber das Fremdbild von den Engländern, da Meißner selbst den für englische Werte beispielhaften Charakter dieser Epoche betont. Die veränderte Wahrnehmung der viktorianischen Epoche und ihrer Literatur ist damit ein exzellentes Beispiel dafür, welch große Bedeutung ein gewisser zeitlicher Abstand

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39)

nicht nur für die Literaturgeschichtsschreibung hat, sondern auch für das kollektive Gedächtnis. Die besondere Aufmerksamkeit, die Meißner den sich in der englischen Gesellschaft und Literatur manifestierenden geistesgeschichtlichen Entwicklungen schenkt, erinnert an Hettners Ideengeschichte. Aber anders als Hettner ist Meißner nicht neutral – er untersucht vor allem das England ab dem 19. Jahrhundert daraufhin, inwieweit es Ideen, die der nationalsozialistischen Ideologie ähneln, entwickelt hat und diesen gefolgt ist. Meißner weist in diesem Zusammenhang stets deutlich auf soziale und politische Missstände hin, so dass der Eindruck entsteht, Meißner wolle dokumentieren, wo England seine ›Fehler‹ gemacht hat und wie diese entstanden sind. Das wird besonders deutlich an Meißners Hinweisen auf die verfehlte Wirtschafts- und Sozialpolitik des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Und als Schuldigen macht er – ganz dem simplen Weltbild der Nationalsozialisten folgend – in erster Linie die Juden aus. Gleichzeitig zieht Meißner Parallelen zwischen England und Deutschland. Er sieht England mit seinem Imperialismus und seiner ›großen Kulturaufgabe‹ als Vorbild für Deutschland und sogar als möglichen Verbündeten gegen den Kommunismus. Das Nationalbewusstsein und der Imperialismus bilden bei Meißner die wichtigsten Aspekte von Englishness, und er belegt sie mit Abstand am umfangreichsten. Dass er den englischen Imperialismus an keiner Stelle wirklich kritisiert, hat nichts mit einem Streben nach möglichst neutraler und wertungsfreier Darstellung Meißners zu tun – es wurde an zahlreichen Stellen seiner Literaturgeschichte deutlich, dass er zu scharfen, auf seinen nationalsozialistischen Überzeugungen basierenden Angriffen bereit ist. Er kritisiert den englischen Imperialismus deshalb nicht, weil das Dritte Reich selbst ganz offen expansive Ambitionen und Weltmachtansprüche hegte. Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Man kann schlecht das kritisieren, was man selbst gerne tun möchte. Und es wäre ebenfalls unklug, denjenigen zu scharf anzugehen, mit dem man sich ein Bündnis erhofft. Eine Allianz mit England ist in diesem Zusammenhang nicht die Idee Meißners, sondern vielmehr ein Wunschtraum Hitlers, wie Benz (2000: 152) schildert: War die kommunistische Sowjetunion in Hitlers Denken der Hauptfeind, so war Großbritannien der Wunschpartner beim Streben nach Weltmacht. London, das gegenüber dem deutschen Revisionsanspruch gegen den Versailler Vertrag eine einigermaßen verständnisvolle Haltung einnahm, wurde von Hitler umworben, ohne daß die tieferen Interessengegensätze in Berlin erkannt wurden, denn Großbritannien suchte nicht das Bündnis mit Deutschland gegen andere, sondern strebte nach der Einbindung des Dritten Reiches in eine europäische Friedensordnung durch Verträge.

Meißner ist durchaus nicht blind für die ideologischen Unterschiede zwischen Deutschland und England, und auch wenn er in England eine »Krise der Demokratie« (IV, 150) konstatiert, von der er die Literatur Englands seit dem Ersten Weltkrieg geprägt sieht, ist die Demokratie in England noch immer stark. So

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Zwischenfazit

meint er: Im »Kampf der Ideologien spielt die Idee der Demokratie nach wie vor eine große Rolle; sie soll mobilisiert werden gegen die junge Welt des Nationalsozialismus und des Faschismus« (ebd.). Trotzdem schließt Meißner die Möglichkeiten einer Annäherung Englands und Deutschlands nicht aus, denn er sieht auch in England Männer mit ›dem rechten Geist‹. Wyndham Lewis ist für Meißner einer dieser Männer, denn dieser »zeigt auf, wie sich unter dem Schutz der westlichen Demokratien der Bolschewismus in Europa habe breitmachen können« (IV, 151), und »bereits 1931 hat Lewis in seinem Buche über Hitler England mit dem neuen Deutschland bekannt zu machen versucht, und er darf zu jener geistigen Minderheit gerechnet werden, die einen politischen Kurswechsel seit langem fordert« (ebd.). Mögliche Verbündete Deutschlands sieht Meißner in Sir Oswald Mosley und William McDougall, die den »englischen Faschismus« sowie eine »vom Rassischen her bestimmte […] Kulturschau« vertreten (IV, 152). Seine Schlussworte klingen wie eine Prophezeiung dessen, was kulturell und vor allem politisch noch von England zu erwarten ist: Überblickt man das gesamte Feld des englischen Schrifttums, wie es sich in den Nachkriegsjahren im Rahmen der gedanklichen Auseinandersetzung mit den post war Problemen herausgebildet hat, und stellt man die Frage nach Niedergang oder Aufstieg Englands, so gilt hier wie für den ganzen englischen Lebensraum die Feststellung, daß ohne Zweifel starke Verfallserscheinungen vorhanden sind, daß England aber auch noch große und wirksame Kraftreserven besitzt. Seine Zukunft wird davon abhängen, wie weit es in einem neuen Europa in der Lage ist, die ihm vom Schicksal gestellten Aufgaben zu erfüllen. Die Literatur wird dabei für den Beobachter ein steter und wichtiger Gradmesser für Richtung und Ziel dieser Entwicklung sein. (IV, 152)

Im obigen Zitat macht Meißner noch einmal überaus deutlich, dass er die Literatur als völlig von der jeweiligen Zeit abhängig und gerade deshalb als hochgradig zuverlässigen Zustandsanzeiger einer Kultur ansieht. Und genau das ist auch die primäre Funktion seiner Literaturgeschichte: eine auf der nationalsozialistischen Ideologie basierende Analyse der englischen Kultur und Literatur. Das Ziel dieser Analyse ist dabei vor allem das Aufzeigen der ›Fehler‹, die England gemacht hat, wie beispielsweise die von den Nazis verabscheute Demokratie und der Wirtschaftsliberalismus mit seinem sozialen Elend. Auf diese Weise kann Meißner nämlich demonstrieren, was das Dritte Reich seiner Meinung nach ›richtig‹ macht – Faschismus, Gleichschaltung der Wirtschaft, Aktivierung der Arbeiter für den Nationalsozialismus etc. Und wenn – um bei dieser Argumentationslinie zu bleiben – England trotz seiner ›Fehler‹ eine Weltmacht geworden ist, wie weit muss es dann erst das nationalsozialistische Deutschland bringen? Selbstverständlich werden daher auch besonders diejenigen Aspekte von Englishness betont, die Meißner auch in der deutschen Bevölkerung gerne sähe – Nationalbewusstsein, praktisches Denken und Befürwortung des Imperialismus. Eine Eigenschaft wie Freiheitsliebe, die von Engel und Schirmer zu den wichtigen Aspekten von Englishness gezählt wird, stört im Nationalsozialismus dagegen nur, und sie spielt

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2. Paul Meißners Englische Literaturgeschichte (1937-39)

daher auch im von Meißner präsentierten Bild der Engländer keine Rolle. Es scheint, als wolle Meißner seinen Lesern – primär Studenten – am Beispiel Englands demonstrieren, welchen Weg das Dritte Reich beschreiten soll und kann. Meißners Literaturgeschichte ist folglich als Beitrag zur nationalsozialistischen Ideologisierung der Deutschen zu verstehen. Alle anderen Funktionen treten hinter diesem Anspruch zurück.

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IV. Literaturgeschichten nach dem Zweiten Weltkrieg

Für die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden drei deutsche Geschichten englischer Literatur für eine nähere Betrachtung ausgewählt. Die erste ist die Englische Literaturgeschichte des Autorengespanns Ewald Standop und Edgar Mertner aus dem Jahr 1967. Dieser folgt die von Hans Ulrich Seeber herausgegebene und zusammen mit sechs anderen Autoren verfasste Englische Literaturgeschichte aus dem Jahr 1991. Die jüngste Literarhistorie, die in dieser Arbeit eingehender beleuchtet wird, ist die Geschichte der englischen Literatur von Peter Erlebach, Bernhard Reitz und Thomas Michael Stein aus dem Jahr 2004. Es fällt auf, dass alle diese Werke– anders als die früheren deutschen Geschichten englischer Literatur – nicht von einem einzelnen Autor verfasst wurden, sondern jeweils von zweien oder mehr. Eine politisch-ideologische Funktionalisierung der Darstellung der englischen Literatur und der Englishness ist – erwartungsgemäß – in keiner dieser Literarhistorien festzustellen. Allerdings finden sich bei Standop/Mertner noch recht stark ausgeprägte Eigenschaftszuschreibungen hinsichtlich der Engländer. Diese gehen bei Seeber stark zurück und sind bei Erlebach et al. kaum noch auszumachen. Gleichzeitig steigt das Bewusstsein für die literaturtheoretischen Grundprobleme, die bei Seeber und Erlebach et al. selbstreflexiv thematisiert und dem Leser vor Augen geführt werden. Folglich sind die drei nachfolgend behandelten Literaturgeschichten vor allem vom wissenschaftsgeschichtlichen Standpunkt aus interessant.

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1. Ewald Standops und Edgar Mertners Englische Literaturgeschichte (1967): Die erste große Nachkriegsgeschichte

1. Ewald Standops und Edgar Mertners Eng lische Litera turgeschich te (1967)

Die besonderen Merkmale der Literaturgeschichte von Standop und Mertner Im Gegensatz zu den bisher in dieser Arbeit untersuchten Literaturgeschichten, die jeweils das Werk eines einzelnen Autors waren, wurde die im Jahr 1967 erschienene Englische Literaturgeschichte von zwei Autoren gemeinsam verfasst: Ewald Standop und Edgar Mertner. Standop zeichnete dabei für die alt- und mittelenglische Epoche verantwortlich, Mertner für die Literatur von der Renaissance bis zur Gegenwart. Damit wurde ein Trend eingeläutet, der bis in die Gegenwart hinein anhält und vermutlich mit der zunehmenden Spezialisierung innerhalb der Literaturwissenschaft zusammenhängt. Frühere Literaturwissenschaftler, wie beispielsweise Hettner oder Engel, schrieben nicht nur über die englische Literatur, sondern auch über die deutsche und/oder die französische, verstanden sich also als Generalisten. In der jüngeren Zeit hingegen tun sich meist mehrere Autoren zusammen, um innerhalb einer Literaturgeschichte eines Landes das Wissen über ihre jeweiligen Spezialgebiete zu einer Gesamtdarstellung zu verbinden. Diese Entwicklung weist auf einen Wandel der Literaturwissenschaft innerhalb der letzten 150 Jahre hin, fort von einem breit gefächerten Wissen hin zu einem tief reichenden Spezialwissen des individuellen Literaturwissenschaftlers. Die Englische Literaturgeschichte von Standop/Mertner wurde nach ihrem ersten Erscheinen bis ins Jahr 1992 noch weitere vier Male aufgelegt und behandelt auf insgesamt knapp 680 Seiten die Geschichte der englischen Literatur von den ersten schriftlichen Überlieferungen bis in die 1950er Jahre. Im Gegensatz zu den meisten älteren Literaturgeschichten legen Standop/Mertner in einem aufschlussreichen Vorwort einige der Basiskonzepte ihrer Literaturgeschichte dar und thematisieren zudem viele der Grundprobleme der Literaturwissenschaft: Wer eine Literaturgeschichte schreibt, wird sich schnell bewußt, daß er ein Wagnis besonderer Art eingeht. Denn vom ersten Augenblick an bedrängen ihn zahlreiche Fragen, auf die es keine eindeutig richtigen Antworten gibt. Entscheidungen über das, was unter Literatur zu verstehen ist, über Periodisierung, Auswahl, Akzentsetzung und vieles mehr können mit guten Gründen sehr verschieden ausfallen; es zeigt sich allerdings, daß der traditionelle Weg vielfach nicht der schlechteste ist. Leider hat die lebhafte Diskussion, die in den letzten Jahrzehnten allenthalben über literarkritische Methoden geführt worden ist, diesen Problemen wenig Aufmerksamkeit geschenkt. (5)

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1. Ewald Standops und Edgar Mertners Englische Literaturgeschichte (1967)

Die im obigen Zitat angesprochenen Probleme stellten sich auch für die älteren in dieser Arbeit untersuchten Literaturgeschichten, wurden dort jedoch nicht als solche benannt und vielleicht auch nicht erkannt. Und welche Lösung die jeweiligen Autoren wählten, muss aus Hinweisen innerhalb der Literaturgeschichten extrapoliert werden. Auch Standop/Mertner erklären ihre eigene Vorgehensweise im Vorwort nicht im Detail; sie zeigen aber, dass sie die Probleme zumindest erkannt haben. Dies reflektiert ein zunehmendes Bewusstsein dafür, dass Literaturgeschichtsschreibung letzten Endes eine recht subjektive Angelegenheit ist, die – je nach Vorgehensweise und Intention eines Verfassers – zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. Von besonderem Interesse ist der Verweis auf den »traditionellen Weg«, der nicht »der schlechteste« sei. Die bisher in dieser Arbeit betrachteten Literaturgeschichten unterscheiden sich teilweise so stark voneinander, dass nicht von einer einheitlichen Tradition die Rede sein kann. Folglich bleibt zunächst unklar, was Standop/Mertner unter dem traditionellen Weg verstehen. Da die Verfasser aber implizieren, diesem Weg in vielerlei Hinsicht folgen zu wollen, wird eine Analyse ihrer Literaturgeschichte zeigen, wie sie den ›traditionellen Weg‹ definieren. Im Vorwort geben Standop/Mertner auch Auskunft über die Aufgabe einer Literaturgeschichte und gehen darauf ein, aus welchen Gründen es notwendig ist, regelmäßig neue literaturgeschichtliche Werke zu veröffentlichen: Die Verfasser sind dem Wunsch des Verlages nach einer einbändigen Geschichte der englischen Literatur nachgekommen, weil sie glauben, daß solche Werke des Überblicks und der Sichtung ihre Funktion als Einführungs- und Orientierungshilfe nur dann erfüllen können, wenn sie immer wieder im Lichte fortschreitender wissenschaftlicher Erkenntnisse neu konzipiert werden. Es gehört also zu ihrem Wesen, daß sie auf zahlreichen Schultern ruhen. Wie der Kenner leicht ersehen kann, verdankt auch dieses Buch sowohl der Literaturwissenschaft wie der voraufgegangenen Literaturgeschichtsschreibung so vieles, daß die Schuld nicht anders als in dieser generellen Weise anerkannt werden kann. (5)

Überblick, Sichtung, Einführung und Orientierung – das sind die Funktionen, die eine einbändige Literaturgeschichte für Standop/Mertner zu erfüllen hat.125 Hinzu kommt die kontinuierliche Neubewertung der Literatur im Lichte neuer Erkenntnisse und Theorien. Letzteres heißt jedoch nicht, dass eine Literaturgeschichte rasch an Aktualität verlieren muss, wie die fünf Auflagen des Buches von Standop/Mertner bis 1992 zeigen. Am langen Veröffentlichungszeitraum der Lite125 Auf die Rolle, die die Verlage beim Erscheinen neuer Literaturgeschichten spielen, wird in dieser Arbeit nicht eingegangen. Aber die Aussage Standop/Mertners, auf den Wunsch des Metzler-Verlages hin eine Literaturgeschichte verfasst zu haben, lässt darauf schließen, dass die deutschen (und wohl auch die englischen) Verlage zumindest mitverantwortlich dafür sind, dass regelmäßig neue Literaturgeschichten erscheinen. Ökonomische Aspekte spielen also in der Literaturgeschichtsschreibung durchaus eine Rolle.

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Die besonderen Merkmale der Literaturgeschichte von Standop und Mertner

raturgeschichte Standop/Mertners zeigt sich, dass ein solches Werk offenbar trotz neuer Theorien und Ansätze über Jahrzehnte hinweg seine Aufgabe erfüllen kann. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass Literaturgeschichten aufeinander aufbauen und jüngere Werke von der Vorarbeit früherer Generationen profitieren – was Standop/Mertner ja auch anerkennen. Denn trotz neuer Erkenntnisse und literaturkritischer Ansätze müssen die Forschungsfrüchte der Vergangenheit ihre Gültigkeit nicht immer verlieren. Manchmal kommt es aber doch zu neuen Bewertungsansätzen, die den älteren widersprechen. Ein Beispiel hierfür ist der Umgang Standops mit altenglischen Versdichtungen: Auch ist in den uns vorliegenden Werken alles Heidnische, dem man in früheren Jahrzehnten mit besonderer Akribie nachspürte, so vollständig von christlichem Geist durchdrungen und mit ihm vermischt, daß man besser daran tut, den christlichen Gesamtcharakter dieser Dichtung zu akzeptieren, anstatt die ›Verfälschung‹ von vermeintlich Echtem durch eine christliche Überformung zu bedauern. (18f.)

Diese Neubewertung der frühenglischen Literatur steht im Gegensatz zu Weisers Urteil, dass letztlich die Einflüsse des Christentums (vor allem die benediktinische Reform) die ursprüngliche englische Literatur überformt haben. Weitere Beispiele für eine Neubewertung finden sich in Standops Kommentaren zu den Schriften John Lydgates: Lydgate vor allem pflegte das, was man als die Anfänge der aureate diction in der Literatur des 15. Jahrhunderts bezeichnet hat, einer Diktion, die den gewählten Ausdruck dem einfachen vorzieht und um Entlehnungen und Neuprägungen nach klassischem Vorbild bemüht ist. Ihm und seinen Zeitgenossen verdankt die Epoche das abfällige Urteil, das die Literaturgeschichte für sie bereit hat, und vergebens bemühen sich die Liebhaber, für diese Art von Dichtung Verständnis zu wecken. Überwindet man jedoch das Vorurteil gegenüber dem gezierten Stil und vor allem gegenüber der allegorischen Methode, so wird man in dem Überfluß dieser Werke ungehobene Schätze entdecken können, die aufzuspüren sich lohnt. (136)

An dieser Stelle übt Standop Kritik an den Bewertungsmaßstäben früherer Literaturwissenschaftler, die sich von dem ihnen befremdlich scheinenden Stil davon abhalten ließen, bestimmte literarische Werke in gebührender Weise zu würdigen. Damit wird das Augenmerk auf den Einfluss epochenspezifischer ästhetischer Maßstäbe bei der Betrachtung älterer Literatur gelenkt. Ein weiteres Beispiel für eine Neubewertung ist das Urteil Mertners über James Boswell: »Im Gegensatz zu dem Urteil des 19. Jahrhunderts ist er weder töricht noch ein schlechter Schriftsteller« (390). Bei solch offenen Widersprüchen zur älteren Literaturkritik handelt es sich aber eher um die Ausnahme als um die Regel, und sie können genauso gut auf der persönlichen Meinung Standop/Mertners beruhen wie auf neuen Forschungserkenntnissen. Ist ersteres der Fall, sind die oben aufgeführten, andersartigen Bewertungen ein Beleg für die Subjektivität von Literaturgeschichtsschrei-

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1. Ewald Standops und Edgar Mertners Englische Literaturgeschichte (1967)

bung.126 Ob sie nun überkommene Literaturbewertungen widerlegen oder perpetuieren, Standop/Mertner können und wollen in ihrer Literaturgeschichtsbetrachtung nicht neutral sein, wie sie im Folgenden erläutern: Trotzdem will die Literaturgeschichte nicht den Anspruch der Neutralität erheben. Die Verfasser sind nicht nur für die Auswahl und Beurteilung des Stoffes verantwortlich, sondern sie haben, wo es nötig schien, auch ihre eigenen Ansichten zur Geltung gebracht. Das bezieht sich u. a. auf die Verteilung der Gewichte. Wie sich unschwer erkennen läßt, haben die Verfasser das Prinzip verfolgt, die nach ihrer Meinung großen Erzeugnisse der Literatur ausführlich und mit möglichst vielen präzisen Angaben zu behandeln; sie haben das auf Kosten der weniger bedeutenden Autoren getan, die häufig nur kurz erwähnt werden. Das stärker profilierte Bild erscheint ihnen der Literaturwirklichkeit angemessener. Auch streben sie weder in der Aufzählung der Dichter noch der einzelnen Werke Vollständigkeit an. (5)

Standop/Mertner geben offen zu, dass der von ihnen offerierte Kanon lediglich eine Auswahl darstellt und nicht die Gesamtheit englischer Literatur umfassen kann. Auch wird betont, dass die Verfasser eben nicht neutral sind, sondern sowohl die Entscheidung darüber, welche Autoren in den Kanon aufgenommen werden, als auch die Bewertung der letztlich berücksichtigten Werke zumindest teilweise auf persönlichen – das heißt subjektiven – Ansichten beruhen. Dieser subjektive Aspekt einer Literaturdarstellung wurde zuvor meist nicht thematisiert, so dass bei früheren Autoren wie Schirmer oder Weiser der Eindruck der Neutralität entstand, d. h. der Leser musste davon ausgehen, dass es sich bei den dargebotenen Beurteilungen um die einzig korrekten handelt. Bei anderen Verfassern von Literaturgeschichten, wie Engel oder Meißner, sorgten hingegen schon die deutlich subjektiven, von persönlicher Abneigung oder Anerkennung geprägten Kommentare und Urteile dafür, dass kein Leser von einer objektiven Haltung der Autoren ausgehen konnte. Die im obigen Zitat angesprochene Gewichtung bei Auswahl und Betrachtung von Autoren und Werken macht sich deutlich im von Standop/Mertner präsentierten Kanon bemerkbar: Dieser ist mit insgesamt etwa 500 Autoren sowie anonymen Werken vergleichsweise klein, wenn man einerseits die Länge der Literatur126 Einen Sonderfall stellt die Bewertung der Restaurationskomödie dar. Diese wurde in der Literaturkritik des 19. Jahrhunderts in der Regel geschmäht, fand aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch künstlerische Anerkennung. Die Neubewertung fand also schon statt, bevor Standop/Mertner ihre Literaturgeschichte veröffentlichten, und Mertner schließt sich ihr nun an, indem er die als erfolgreich bewertete Restaurationskomödie folgendermaßen schildert: »In ihren besten Leistungen geistreich und witzig, aber auch anrüchig und moralisch bedenklich, macht sie dem kritischen Urteil keine geringen Schwierigkeiten« (318). Mertner fährt fort, dass man sich daran gewöhnt habe, »in ihr entweder ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Verhaltensregeln und Unsitten der reichlich verderbten Oberschicht der Zeit oder doch wenigstens einen gesellschaftskritischen Kommentar dazu zu sehen.« (ebd.)

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Die besonderen Merkmale der Literaturgeschichte von Standop und Mertner

geschichte von knapp 680 Seiten und andererseits die diachrone Ausdehnung der Literaturbetrachtung von der altenglischen Literatur bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts bedenkt. Zum Vergleich: Der Kanon Meißners umfasst insgesamt weit über 500 Autoren, obwohl der erste Band mit der alt- und mittelenglischen Literatur fehlt; der Kanon Schirmers ist sogar etwa dreimal so groß wie der von Standop/Mertner präsentierte. Wie von den beiden Verfassern angekündigt, ist dafür die Zahl der Autoren, die eine ausführlichere Betrachtung erfahren, relativ groß. Der Spitzenkanon Standop/Mertners umfasst insgesamt neun Autoren, denen jeweils mehr als sieben Seiten Text eingeräumt werden. Shakespeare ist mit über 24 Seiten noch immer der bedeutendste Autor, diesmal aber recht dicht gefolgt von Chaucer mit gut zwanzig Seiten. Mit deutlichem Abstand folgen John Milton und Charles Dickens mit je gut zehn Seiten. Zudem gehören noch Lord Byron, Percy Bysshe Shelley, Edmund Spenser, William Makepeace Thackeray und George Bernard Shaw mit je zwischen sieben und neun Seiten Text zum Spitzenkanon. Die ›großen Drei‹ – Shakespeare, Chaucer und Milton – sind auch bei Schirmer im Spitzenkanon vertreten, genauso wie Shelley und Spenser. Die restlichen Autoren aus Schirmers Spitzenkanon – Ben Jonson, John Dryden, Alexander Pope und Samuel Taylor Coleridge – sind bei Standop/Mertner hingegen in den Umgebungskanon abgerutscht. Dafür sind Dickens, Thackeray, Byron und vor allem Shaw, dem Schirmer noch ein schnelles Versinken in der Vergessenheit prophezeit hatte, im Spitzenkanon vertreten. Auch im Vergleich zu Meißners Spitzenkanon sind einige Veränderungen, aber auch Parallelen festzustellen – beispielsweise zählt Meißner Shaw ebenfalls zu seinem Spitzenkanon. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Spitzenkanon verschiedener Literaturgeschichten keineswegs die relative Konstanz aufweist, die man vielleicht erwarten würde. Dies suggeriert, dass der Kanon, und selbst der Spitzenkanon, sich in einem kontinuierlichen Prozess der Aushandlung befindet – ein Prozess, der zwar nicht allein in Literaturgeschichten erfolgt, an dem diese aber zumindest Anteil haben und auf den diese reagieren. Der Umgebungskanon beinhaltet bei Standop/Mertner 27 Autoren oder anonyme Werke (wie beispielsweise Beowulf), die von den Verfassern auf je zwischen vier und sechs Seiten betrachtet werden. Abgesehen von den Autoren, die in den Spitzenkanon gewechselt sind, ist die Zusammensetzung des Umgebungskanons bei Schirmer und Standop/Mertner recht ähnlich. Allerdings macht sich bemerkbar, dass die Literaturgeschichte von Standop/Mertner dreißig Jahre nach der Schirmers erschienen ist, denn jüngere Autoren wie T. S. Eliot, D. H. Lawrence, James Joyce und W. B Yeats haben den Umgebungskanon mittlerweile bereichert. Die dritte Hierarchieebene ist bei Standop/Mertner mit 162 Autoren und anonymen Werken besetzt, denen die beiden Verfasser zwischen einer halben und weniger als vier Seiten Text widmen. Diese Gruppe macht vom Textumfang her den Löwenanteil der Literaturgeschichte aus. Die vierte Hierarchieebene ist mit 288 Autoren und anonymen Werken hingegen lediglich nominell umfangreicher, da die hier behandelten Künstler und Schriften nur genannt werden oder allenfalls

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1. Ewald Standops und Edgar Mertners Englische Literaturgeschichte (1967)

innerhalb weniger Zeilen Beachtung finden. Die vierte Hierarchieebene ist der Bereich, in dem sich die von Standop/Mertner angekündigte verstärkte Auswahl besonders bemerkbar macht. Schirmers vierte Hierarchieebene ist mit etwa 1000 Autoren und anonymen Werken im Vergleich sehr viel umfangreicher. Dies mag neben der rigideren Auswahl durch Standop/Mertner auch mit der Breite des zugrunde gelegten Literaturbegriffs zusammenhängen. Zwar behandeln auch Standop/Mertner Werke aus den Bereichen Philosophie, Historiographie, Biographie, Literaturkritik, Literaturtheorie, und sie berücksichtigen Predigttexte, literarischen Journalismus, Reisebeschreibungen und Wochenschriften. Aber sie ziehen auch klare Grenzen, wie beispielsweise bei der altenglischen Literatur: »Das uns überlieferte altenglische Prosamaterial ist mit den genannten Texten keineswegs erschöpft. Vieles mußte unerwähnt bleiben. Glossen, Urkunden und Gesetzestexte sind ohnehin nur von beschränktem literarischen Interesse.« (60) Obwohl der Literaturbegriff von Standop/Mertner nicht die Breite desjenigen Schirmers erreicht, geht die von ihnen berücksichtigte Literatur hinsichtlich der vertretenen Textsorten doch über das hinaus, was in der deutschen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung üblich ist, erreicht aber gleichzeitig nicht ganz die Breite des englischen Literaturbegriffs. In der Definition dessen, was unter englischer Literatur zu verstehen ist, ähneln sich die Literaturgeschichten von Standop/Mertner, Meißner und Schirmer weitgehend. Auch die Literarhistorie Standop/Mertners befasst sich neben den Engländern mit Schotten, Iren und Walisern. Zusätzlich werden Autoren berücksichtigt, die nicht aus England stammten, sich dort aber als Schriftsteller niederließen, wie beispielsweise Joseph Conrad und Henry James. Zumal auch literarische Texte in westsächsischer, lateinischer und französischer Sprache Erwähnung finden, bedienen sich Standop/Mertner eindeutig einer geographischen Definition der englischen Literatur. Dabei wird allerdings durchaus auf geographisch bedingte Unterschiede hingewiesen, wie beispielsweise bei Thomas Rymer aus dem 15. Jahrhundert: »Der märchenhafte Balladentyp mit seinen übernatürlichen Elementen ist wie die tragische Liebesballade (der ›romantische‹ oder ›traditionelle‹ Typ) für die schottische Tradition charakteristisch« (151). Des Problems der sprachlichen Definition englischer Literatur ist sich Standop wohl bewusst, denn er verweist im Folgenden auf seine historische Dimension: Als die alte Literatur erstmalig im 16. Jahrhundert wiederentdeckt wurde, bezeichnete man sie als ›sächsisch‹ oder ›angelsächsisch‹, d. h. man betrachtete sie nicht als Teil der englischen Literatur. Erst im 20. Jahrhundert wurde die Bezeichnung ›altenglisch‹, die die literarische und sprachliche Kontinuität zum Ausdruck bringen soll, allgemein, obwohl noch lange Einwände gegen diese Neuerung erhoben worden sind. (16)

Die im obigen Zitat beschriebene Neuerung schlägt sich in der Benennung der Epochen nieder, denn Standop fasst die ältesten englischen Schrifterzeugnisse im Abschnitt ›Altenglische Literatur‹ zusammen und unterstellt damit die Kontinuität dieser Literatur mit der folgenden. Insgesamt unterteilen Standop/Mertner die

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Die besonderen Merkmale der Literaturgeschichte von Standop und Mertner

englische Literatur in neun Epochen, die meist den einzelnen Jahrhunderten entsprechen. Neben dem Abschnitt ›Altenglische Literatur‹ präsentieren Standop und Mertner die Epochen ›Mittelenglische Literatur (I)‹, ›Mittelenglische Literatur (II)‹, ›Die Renaissance‹, ›Das siebzehnte Jahrhundert‹, ›Das achtzehnte Jahrhundert‹, ›Die Romantik‹, ›Das Viktorianische Zeitalter‹ und ›Das zwanzigste Jahrhundert‹. Die beiden Verfasser verwenden also bei nur zwei Epochen – Renaissance und Romantik – eine Epochenbenennung der deutschen und bei lediglich einer – dem viktorianischen Zeitalter – eine Bezeichnung aus der englischen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung. Insgesamt folgen Standop/Mertner damit keiner der Traditionen durchgängig, sondern wählen einen dritten Weg bei der Benennung und Definition der Perioden. Bei der Definition von Epochen berücksichtigen Standop/Mertner die in diesen dominanten Geistesströmungen und weisen darauf hin, dass diese Strömungen meist keine Einheit bilden, sondern oft gegenläufig sind. Da ein einzelner Begriff, wie beispielsweise der der ›Aufklärung‹, der Gesamtheit der kulturellen Entwicklungen dieser Periode ihrer Meinung nach nicht gerecht würde, wählen Standop/Mertner stattdessen mit der Bezeichnung ›Das achtzehnte Jahrhundert‹ einen neutralen, weil unkonnotierten Weg der Nomenklatur. Trotz der divergierenden geistesgeschichtlichen Strömungen erkennen Standop/Mertner aber innerhalb einer Epoche gewisse grundlegende Gemeinsamkeiten. Mit diesen rechtfertigen sie die diachrone Ausdehnung der von ihnen definierten Epochen, wie beispielsweise beim schon genannten 18. Jahrhundert: Obwohl die im England des 18. Jahrhunderts anzutreffenden geistigen Haltungen und Anschauungen in vielen Punkten divergieren und daher mit dem Begriff Aufklärung allein nicht angemessen erfaßt sind, gibt es doch in gewissen Grundpositionen eine allgemeine Übereinstimmung. Man glaubt an die Ratio als den Schlüssel zur physischen wie metaphysischen Existenz des Menschen und an die Verläßlichkeit des common sense, der nicht nur als gesunder Menschenverstand, sondern auch als Gemeinsinn verstanden wird. […] Die Tugenden, die dem Menschen des 18. Jahrhunderts anstehen, sind moralisches Bewußtsein […] und eine christlich bestimmte Haltung des Mitgefühls, des Wohlwollens und der praktischen Hilfsbereitschaft. Ein Gentleman zeichnet sich neben seiner finanziellen Unabhängigkeit dadurch aus, daß er ›gentle‹ ist. Dieses Ideal und die Wertschätzung des Empfindsamen dürfen freilich nicht über die Härte des Lebens, die krassen Ungerechtigkeiten der sozialen Verhältnisse, die Jahrzehnte dauernde Verrottung ganzer Bevölkerungsschichten, die Korruption des öffentlichen Lebens und manche anderen dunklen Züge eines an sich fortschrittlichen und optimistischen Jahrhunderts hinwegtäuschen. (324)

Wie obiges Zitat zeigt, verknüpft Mertner die geistesgeschichtlichen Strömungen einer Zeit auch mit bestimmten Eigenschaften, die gesellschaftlich erwünscht sind und somit das Bild von der Englishness mit prägen. Außerdem geht er auf sozialgeschichtliche Aspekte ein, die, wie er betont, im Widerspruch zur propagierten Geisteshaltung stehen können. Bezüglich der Renaissance erklärt Mertner,

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1. Ewald Standops und Edgar Mertners Englische Literaturgeschichte (1967)

warum diese Epoche, entgegen dem Selbstverständnis und dem kulturellen Gedächtnis der Engländer, eben nicht das ›elisabethanische Zeitalter‹ genannt wird, sondern stattdessen ›Die Renaissance‹: Gewiß gibt es zu einer Zeit, in der verblassende Vorstellungen des Mittelalters mit langsam Gestalt gewinnenden Anschauungen der Neuzeit konkurrieren, kein einheitliches Weltbild, das man als ›elisabethanisch‹ bezeichnen könnte; aber das beeinträchtigt nicht die selbstbewußte Überzeugung der Elisabethaner, in einer Epoche eigener Art und Bedeutung zu leben. Diese Überzeugung ist nicht unbegründet. Die elisabethanische Literatur wird nicht müde, den Glanz der Krone zu preisen, die in den Mittelpunkt staatlicher Macht sowie des geistigen und kirchlichen Lebens gerückt ist. In ihr fließen Religion und Selbstbewußtsein, Protestantismus und Nationalismus zusammen. (167)

Auch dieses Zitat belegt, dass Standop/Mertner ein Zeitalter – in diesem Fall das elisabethanische – als mit bestimmten Idealen verknüpft sehen, die das Selbstund Fremdbild der Engländer formen und die Epoche mit definieren. Zudem wird deutlich, dass sich Standop/Mertner der englischen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung und der in ihr üblichen Benennung der Epochen bewusst sind, sich jedoch absichtlich und aus guten Gründen gegen sie entscheiden.127 Ähnlich gute Gründe findet Mertner auch für die Ablehnung der in der deutschen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung üblichen Epochenbezeichnungen, wie sein Kommentar zum 17. Jahrhundert zeigt: Die Zerrissenheit und Richtungslosigkeit der Zeit manifestierten sich kaum irgendwo deutlicher [als in der Frage der Autorität der Religion]. Diese Stimmung der Unsicherheit und das Gefühl, daß sich die extremen Gegensätze des Lebens wie Geist und Fleisch, Vernunft und Glauben, Weltfreude und Weltverachtung, Rationalismus und Empirismus kaum vereinen lassen, sind oft unter dem vagen Begriff des Barock zusammengefaßt worden. (259)

Der ›vage Begriff des Barock‹ wird für Mertner der Gemengelage im englischen 17. Jahrhundert nicht gerecht, weswegen er eine unverfängliche Epochenbezeichnung wählt – eben ›Das siebzehnte Jahrhundert‹. Warum in diesem Fall nicht der englischen Tradition gefolgt wird, die diesen Zeitraum in kürzere und in sich konsistentere Perioden aufteilt, wird nicht dargelegt. Manchmal hält Mertner die in der deutschen Tradition üblichen Bezeichnungen allerdings auch für hinreichend zutreffend, um sie auf die englische Literatur anwenden zu können. Bezüglich Alexander Pope schreibt er beispielsweise: »Geistreich, subtil, spöttisch überlegen und mit einem poetischen Stil, der den feinsten Nuancen eines einfallsreichen Intellekts gerecht zu werden vermag, wird Pope zum führenden Dichter des literarischen Rokoko in England« (342). Damit findet der Begriff ›Rokoko‹ aus der deutschen Tradition der Literaturgeschichtsschrei-

127 Mit dem Verweis auf die »nach-elisabethanische[…] Epoche, die die Engländer nach dem ersten Stuart-König Jacobean nennen« (260), nimmt Mertner erneut Bezug auf die englische Tradition der Literaturgeschichtsschreibung.

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Die besonderen Merkmale der Literaturgeschichte von Standop und Mertner

bung zumindest als Bezeichnung eines Teils der Literatur des 18. Jahrhunderts Verwendung. Die romantische Bewegung des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts unterscheidet sich für Mertner dagegen so offenkundig von der Literatur davor und danach, dass er nach eigener Aussage nicht umhinkommt, sie als eigenständige Epoche zu definieren: Was unter Romantik zu verstehen ist, kann nur schwer und ungenau definiert werden. Trotzdem läßt sie sich als eine geschichtliche Epoche eigenen Rechts nicht ignorieren und weder dem 18. noch dem 19. Jahrhundert eindeutig zuordnen oder als Übergangsphase abtun. Wie jeder Abschnitt der Geschichte ist sie vielfach in ihrer unmittelbaren Vergangenheit, d. h. im späteren 18. Jahrhundert verwurzelt. (396)

Versteckt unter den Betrachtungen zur Romantik findet sich übrigens eine Bemerkung, in der Mertner Aufschluss über das von ihm zugrunde gelegte Literaturkonzept gibt: Man kann die Geschichte der Literatur als einen Wechsel von klassischen und romantischen Perioden erklären, Zeiten, in denen der von der Gesellschaft her gesehene Mensch das Bewußtsein von der Vernünftigkeit der Dinge, den Intellekt, den Begriff, die Erfahrung, die Form und das Maß in den Vordergrund stellt, und Epochen, in denen der Mensch sich vornehmlich als Einzelwesen versteht und das Wesen der Welt im Irrationalen, Übernatürlichen und Unbewußten, in der Phantasie und in der Idee, im Übersteigen der gemessenen Form zu erfassen bestrebt ist. (402)

Mertner geht folglich von einem zyklischen Modell der Literaturentstehung aus, bei dem prinzipiell widerstreitende Tendenzen abwechselnd zum Durchbruch kommen.128 Folgt Mertner bei der Romantik aus den dargelegten Gründen der deutschen Tradition, wählt er für die Literatur des 19. Jahrhunderts die traditionelle englische Bezeichnung nach der Herrschaft Königin Viktorias: »Wie Elisabeth I. ist sie zum Symbol eines vielschichtigen Zeitalters geworden, das England zu seiner höchsten Weltbedeutung geführt hat« (459). Zwar verweist Mertner auf die unterschiedlichen Versuche, diese Epoche in kleinere Abschnitte zu unterteilen, doch offenbar 128 Das von Mertner vertretene zyklische Literaturkonzept bezieht sich nicht auf die Sprachentwicklung. Die kontinuierliche Weiterentwicklung der Sprache sieht Standop vor allem in der Prosa einer Literatur dokumentiert: »Die kulturelle Reife einer Sprache spiegelt sich in erster Linie in ihrer Prosa. Während in der Dichtung eine spezielle Diktion und die Beschränkung auf eine einzige Form eher für eine gewisse Armut sprechen, bezeichnet die Entstehung eines einheitlichen Prosastils einen bedeutenden kulturellen Fortschritt. Lange Zeit hat man die Geschichte der englischen Prosa etwa mit Wiklif [14. Jahrhundert] beginnen lassen. R. W. Chambers ist hingegen entschieden und überzeugend für die Kontinuität der englischen Prosa seit Alfred [9. Jahrhundert] eingetreten, und während ein Autor wie Legouis nach wie vor nicht geneigt ist, eine Kontinuität der englischen Dichtung seit altenglischer Zeit anzuerkennen, so ist er doch bereit, für die Prosa eine Ausnahme zu machen.« (48)

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1. Ewald Standops und Edgar Mertners Englische Literaturgeschichte (1967)

ist die Symbolkraft Viktorias für die Literatur dieser Periode so groß, dass auch Mertner keine angemessenere Bezeichnung findet. Insgesamt bemühen sich Standop/Mertner also, von Epoche zu Epoche abzuwägen, welche Tradition der Literaturgeschichtsschreibung – die englische oder die deutsche – der Klassifizierung der englischen Literatur am ehesten gerecht wird. Halten sie beide Traditionen für die Benennung einer Epoche für ungeeignet, wählen sie die Option der simplen Benennung nach dem jeweiligen Jahrhundert. Jedem Abschnitt zu einer Epoche stellen Standop/Mertner eine ausführliche Einleitung voran, in der sie auf die historischen und kulturellen Besonderheiten der jeweiligen Epoche eingehen. Dabei werden neben den geschichtlichen Ereignissen auch Entwicklungen auf den Gebieten Kirche, Politik, Gesellschaft und Wissenschaft sowie die sozialen Verhältnisse und die geistesgeschichtlichen Hintergründe beleuchtet. In diesen kulturgeschichtlichen Kontext wird danach die Literatur der jeweiligen Epoche eingeordnet. Die große Bedeutung, die Standop/Mertner gerade dem kulturellen Hintergrund eines Autors zusprechen, zeigt sich überaus deutlich in Mertners Bewertung Shakespeares. Ihn hatte Engel, dem Ausspruch Ben Jonsons folgend, als Genie und damit als ›überzeitlich‹ gepriesen.129 Mertner hält jedoch dagegen: In Wirklichkeit ist Shakespeare durchaus Kind seiner Zeit. Er läßt sich vom Geschmack seines Publikums leiten und schreibt Spektakelstücke nach beliebtem Rezept. Seine Größe besteht gerade darin, daß er den zeitbedingten Konventionen gewissermaßen unter der Hand eine neue, überzeitliche Bedeutung zu geben vermag. So ist er in allen Stufen seines Schaffens mit seinen Zeitgenossen vergleichbar und überragt sie zur gleichen Zeit. (236f.)

Dem Geniegedanken Engels steht Mertner mit dieser Einschätzung freilich fern, und er macht selbst bei dem sonst oft als Ausnahmeerscheinung betrachteten Shakespeare konsequent die Einflüsse der Zeit geltend. Innerhalb der Abschnitte zu den Epochen ist die Literatur in Kapitel über die einzelnen Literaturgattungen eingeteilt, in denen deren Entwicklung untersucht wird. Die literarischen Gattungen scheinen bei Standop/Mertner das wichtigste Ordnungskriterium zu sein, denn oft genug sind die Werke eines einzelnen Autors auf die Kapitel über die jeweiligen Gattungen verteilt. Shakespeares Sonette finden sich beispielsweise an anderer Stelle als seine Dramen. Diese Praxis verfolgen Standop/Mertner allerdings nur dann, wenn ein Autor bedeutende Werke in mehreren Gattungen hervorgebracht hat. Bei Sir Walter Scott zum Beispiel finden sich dagegen seine heute recht unbekannten Dichtungen im selben Abschnitt wie seine berühmten Romane. Zwar bilden die Gattungen für Standop/Mertner nach der chronologischen Epocheneinteilung das wichtigste Ordnungskriterium, die Autoren sind in ihrer Bedeutung den Gattungen aber fast beigeordnet. Das ist vor allem 129 Ben Jonsons berühmter Ausspruch über Shakespeare lautet: »He was not of an age, but for all time.« (236)

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Die besonderen Merkmale der Literaturgeschichte von Standop und Mertner

daran abzulesen, dass die Titel der Kapitel über einzelne Gattungen oftmals die Namen der für sie wichtigsten Autoren beinhalten, wie beispielsweise ›Pope und die klassizistische Dichtung‹. Damit wird dem prägenden Einfluss der jeweiligen Autoren auf die Gattung Rechnung getragen. Die ›großen Drei‹ des Spitzenkanons – Chaucer, Milton und Shakespeare – erhalten aber sogar ihre eigenen Kapitel neben den Kapiteln über die Gattungen. Während die Autoren bei Meißner lediglich als Beleg für die geistesgeschichtlichen Entwicklungen dienten, sind sie somit bei Standop/Mertner wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Gemäß ihrer im Vorwort angekündigten Vorgehensweise bieten Standop/Mertner zu den wichtigeren Autoren ihres Kanons – d. h. zum Spitzen- und Umgebungskanon sowie zu den bedeutenderen Autoren der dritten Hierarchieebene – umfangreiche Informationen zur Biographie, zu den wichtigsten Werken, zur Wirkung und zur Bedeutung dieser Literaten für die Gattungsgeschichte. In der Biographie der Autoren finden sich auch Bemerkungen über deren Persönlichkeit, die durchaus wertend ausfallen können, aber bei weitem nicht die Schärfe oder den Überschwang von Engels Urteilen erreichen. Mertner vergleicht beispielsweise den Charakter Fieldings mit dem seines Zeitgenossen Richardson: »Im Gegensatz zu dem etwas grämlichen Richardson ist Fielding weltoffen und optimistisch, mit humorvoll nachsichtigem Verständnis für das allzu Menschliche« (350) – der Vergleich fällt sichtlich harmlos aus. Weiterhin geben Standop/Mertner – wann immer es ihnen angebracht erscheint – weitere, die Autoren betreffende Informationen. Beispielsweise schildern sie manchmal die ideologische Ausrichtung von Autoren, wenn diese für ihr Schaffen von Bedeutung war. So beschreibt Mertner die kommunistisch-marxistisch geprägten Überzeugungen vieler jüngerer englischer Dichter aus den 1930er Jahren, ohne diese jedoch – ganz im Gegensatz zu Meißner – zu bewerten. Zuweilen konstatieren Standop/Mertner auch den Wandel in der Bewertung und Rezeption einzelner Autoren, wie beispielsweise bei Jane Austen. Zu ihr schreibt Mertner: »Ihr Ruhm wächst aber um die Jahrhundertwende zu einem wahren Kult und gilt heute als gesichert« (448). Konsequenterweise findet sich Austen im Umgebungskanon Standop/Mertners. Bei den ausführlicher besprochenen Werken geben Standop/Mertner fast immer deren Inhalt wieder, worauf eine mehr oder weniger lange Analyse folgt. Textbeispiele sind hingegen eher selten und werden von Standop/Mertner fast ausschließlich im Zusammenhang mit Gedichten verwendet. Im gleichen Maße, wie Standop/Mertner manchmal die Persönlichkeit eines Autors bewerten, schildern sie auch ohne Zögern die künstlerischen Mängel der untersuchten Werke. Kritik kann dabei durchaus auch Autoren ihres Spitzenkanons treffen, wie beispielsweise Charles Dickens: Die Fehler Dickens’ sind leicht erkennbar. Wenn er Rührung hervorrufen will, verfällt er gewöhnlich in ein schwer erträgliches, falsches Pathos. Er verwechselt Rührseligkeit mit Gefühl und Melodramatik mit Tragik. […] Dickens befindet sich hier sehr zu seinem Nachteil in Übereinstimmung mit dem damals beliebten Melodrama und mit den Konventionen seiner Zeit. (479)

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1. Ewald Standops und Edgar Mertners Englische Literaturgeschichte (1967)

Im obigen Zitat wird auch noch einmal deutlich, wie sehr Standop/Mertner die Autoren im Kontext ihrer Zeit sehen, wenn die Melodramatik Dickens’ als dem Zeitgeschmack entsprechend kritisiert wird und Parallelen zum Melodrama festgestellt werden, einer seitens der Literaturwissenschaft traditionell als minderwertig betrachteten Gattung. Die besondere Berücksichtigung des kulturellen Kontexts eines Werkes durch Standop/Mertner zeigt sich – wie am Beispiel Dickens ersichtlich – vor allem in der Schilderung der literarischen Konventionen, die zur Zeit seiner Entstehung Gültigkeit besaßen. Da diese Konventionen sich mit der Weiterentwicklung einer Gattung ändern, ist auch der Publikumsgeschmack einem Wandel unterworfen. Die veränderte Rezeption älterer literarischer Werke wird von Standop/Mertner bei ihren Bewertungen entsprechend berücksichtigt, wie folgender Kommentar zur religiösen Epik der mittelalterlichen Cynewulf-Gruppe zeigt: Es ist für den modernen Leser schwer, das Phantastische und Groteske solcher Legenden zu goutieren. So wirkt die Szene, in der die amazonenhafte Jungfrau Juliana den winselnden Teufel unter ihre Füße gezwungen hat, eher komisch als erbaulich. Aber solche stofflich begründeten Züge können nicht für die Beurteilung des künstlerischen Geschmacks des Autors herangezogen werden, denn in dieser Frühzeit der Dichtung ist jede künstlerische Absicht der Quellentreue und dem Gedanken der praktischen Belehrung untergeordnet. (27)

Die völlig unterschiedliche Auffassung von der Aufgabe der Literatur im Mittelalter – nämlich Belehrung und Erbauung – im Gegensatz zur späteren Zeit macht Standop noch deutlicher, wenn er erklärt: »Den modernen Menschen trennt sehr vieles von der mittelalterlichen Literatur. […] Originalität und schöpferische Eigenständigkeit als literarische Werte zu betrachten, liegt dem mittelalterlichen Menschen fern« (62). Im Vorwort ihrer Literaturgeschichte unterstreichen Standop/Mertner die Notwendigkeit, die Literatur immer wieder im Lichte neuer literaturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu bewerten. Wie die oben zitierten Textstellen belegen, bedeutet dies aber nicht, die früher gültigen Bewertungsmaßstäbe für Literatur zu negieren oder unerwähnt zu lassen. Literaturgeschichte ist für Standop/Mertner demnach nicht nur die Betrachtung und Bewertung der Literatur allein mit modernen Maßstäben, sondern ebenso die Darstellung früherer, inzwischen obsolet gewordener Literaturauffassungen. Sie fassen Literaturgeschichte also offenbar bis zu einem gewissen Grad als Rezeptionsgeschichte auf. Bezüge auf Deutschland und Frankreich In Anbetracht des Erscheinungsjahres der Literaturgeschichte von Standop/Mertner ist nicht zu erwarten, dass die Bezüge auf Deutschland und Frankreich innerhalb ihres Buches in irgendeiner Weise politisch-ideologisch funktionalisiert werden. Dennoch soll im Folgenden überprüft werden, ob Standop/Mertner der nach dem Zweiten Weltkrieg gebotenen neutralen Haltung gegenüber Frankreich und England gerecht werden.

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Bezüge auf Deutschland und Frankreich

Verweise auf die germanischen Wurzeln Englands In der Literaturgeschichte Standop/Mertners finden sich Verweise auf einen germanischen Charakter von Sitten, Werken und Autoren lediglich zu Beginn, im Abschnitt über die altenglische Literatur. Nach dem 13. Jahrhundert wird in Bezug auf England nicht mehr von ›germanisch‹ gesprochen. Zum 8./9. Jahrhundert schreibt Standop: »Obwohl England schon bald ein christliches Land geworden ist, sind Sitten und Brauchtum noch lange germanisch geblieben. Wir befinden uns in einer heroischen Zeit, in der Krieg und Blutvergießen alltägliche Ereignisse sind« (14f.). Germanisch ist laut Standop zunächst auch noch das soziale Gefüge: Die germanische Verfassung hat einen aristokratischen Grundzug. Die Bedeutung der Sippe wird durchkreuzt und ergänzt von der Bedeutung der Gefolgschaft […]. Die am meisten geschätzte Tugend des Fürsten und Gefolgsherrn ist seine Freigiebigkeit, die höchste Tugend der Gefolgschaft die unbedingte Treue – ethische Ideale, die dann auf das Lehnswesen übertragen wurden. (15)

In der Literatur stellt Standop einen Bezug zwischen England und Deutschland her, indem er auf das gemeinsame Erbe des Heldenliedes verweist: »Heldenlieder, deren Typus uns am besten im deutschen Hildebrandslied überliefert ist, gehörten zum Urbestand germanischer Dichtung und bildeten das Repertoire des Hofsängers« (40). Als Repräsentanten des germanischen Hintergrundes Englands sieht Standop den Dichter Layamon vom Anfang des 13. Jahrhunderts: Layamons Werk [Brut] ist trotz der Anlehnung an Wace dichterisch gänzlich anders und durchaus selbständig. An die Stelle des Romanzenhaften ist ein herberer, auf Kampf und Heldentum eingestellter Ton getreten. Layamon steht der germanischen Welt näher als der ritterlichen. Die Feste erinnern an germanische Hallenfeiern, und die Gefolgschaftstreue ist dem Dichter eine Selbstverständlichkeit. Auch die Beschreibung des Meeres und das Verhältnis des Dichters zu Waffen und Rüstungen möchte man als germanisch ansprechen. (69f.)

Weitere Bezüge auf germanische Einflüsse auf englische Kultur und Literatur finden sich in Standop/Mertners Literaturgeschichte nicht. Wie man sieht, lässt sich aus dieser Handvoll Belege keine Funktion ableiten; aber das war auch nicht zu erwarten. Bewertung französischer Einflüsse Die Bezugnahme auf französische Einflüsse auf die englische Literatur fällt, ebenso wie auf die deutscher, bei Standop/Mertner sehr viel weniger umfangreich aus als beispielsweise in der Literaturgeschichte von Engel. Schon die normannische Invasion wird als politisches Ereignis mit gesellschaftlichen Auswirkungen gesehen, und nicht etwa als Zäsur in der Literaturgeschichte, als die sie Weiser interpretiert. Im Gegensatz zu diesem vertritt Standop die Meinung, dass viele Veränderungen schon vor der Invasion begonnen hatten und erst lange nach ihr Früchte trugen (63). Die französischen Einflüsse ab dem 11. Jahrhundert hätten

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1. Ewald Standops und Edgar Mertners Englische Literaturgeschichte (1967)

daher nicht zum Ende einer blühenden altenglischen Literatur geführt (61), genauso wenig wie zu einer Romanisierung Englands (63). Vielmehr kam es durch die französisch geprägten Normannen zu einer Bereicherung des englischen Wortschatzes, der Gattungsvielfalt und der literarischen Themen – alles in allem eine durchaus positive Bewertung. In späteren Jahrhunderten beobachtet Mertner gewisse Vorbehalte der Engländer gegenüber Frankreich. Diese wirken sich beispielsweise in der verhaltenen Aufnahme des Neoklassizismus in England aus: »Erst gegen Mitte des [17.] Jahrhunderts werden die französischen Einflüsse des Neoklassizismus deutlicher; eine Tendenz zu Vernunft, Einfachheit, nüchterner Klarheit und Angemessenheit des Stils in Prosa und Dichtung zeichnet sich ab«, wobei »die von den Franzosen übernommenen klassizistischen ›Regeln‹ […] freilich nie ganz vorbehaltlos akzeptiert werden« (304). Bleibt dieses Beispiel noch ambivalent hinsichtlich der Frage, ob die Engländer die aus Frankreich kommenden klassizistischen Regeln ablehnen, weil sie ästhetisch nicht mit ihnen einverstanden sind oder weil sie aus Frankreich kommen, ist die Abneigung gegen die Franzosen für Mertner in George Farquhars The Beaux-Stratagem von 1707 unübersehbar: »Daß überdies ein erheblicher Teil der Unmoral auf die mit Verachtung behandelten Franzosen des Stückes abgewälzt wird, bereinigt die sittliche Atmosphäre« (323). Die geringe Anzahl der entsprechenden Belege lässt allerdings nicht darauf schließen, dass Standop/Mertner die im Einzelfall beobachteten Vorbehalte der Engländer gegen Frankreich verallgemeinern oder diese gar in irgendeiner Weise funktionalisieren wollen. Die Darstellung von Englishness Auch Standop/Mertner vermitteln – wie fast alle deutschen Geschichten englischer Literatur zuvor – ein Bild der Engländer. Sie halten sich dabei allerdings mit direkten Eigenschaftszuweisungen sehr zurück, so dass sich ihr Bild von Englishness vor allem aus der Häufigkeit ergibt, mit der sie bestimmte Eigenschaften oder Neigungen beobachten. Nur selten sind Standop/Mertner mit der Feststellung, dass für sie überhaupt so etwas wie Englishness existiert, so offen wie bei folgendem Vergleich Joseph Conrads mit Kipling und Maugham: Joseph Conrad bleibt also auf Grund seiner [polnischen] Herkunft und seines Berufes [Seemann] ein Außenseiter unter den englischen Romanschriftstellern seiner Generation. Andere vor und nach ihm haben die Exotik gepflegt; aber Kipling nimmt, wohin er auch geht – und sei es unter die Tiere des Dschungels – die Norm seines Engländertums mit, und auch Somerset Maugham präsentiert das Exotische auf einem betont englischen Hintergrund. (560)

Auf das ›Engländertum‹ und seine Attribute zielen eine ganze Reihe von Bemerkungen Standop/Mertners zu Autoren, Werken und Figuren, die für sie offenbar Verkörperungen von Englishness darstellen. In diesen Bemerkungen wird stets ein ganzes Bündel von Eigenschaften genannt, wie folgende Beschreibung der

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Die Darstellung von Englishness

Persönlichkeit von Thomas More (1478–1535) zeigt: »Frömmigkeit und Heiterkeit, Prinzipientreue und Mut, Kunstverstand und Bildung, Liebe und Sinn für Humor und viel echt englischer common sense vereinigen sich in dieser singulären Persönlichkeit zu großartiger, in ganz Europa anerkannter Wirkung« (172f.). Eine ganze Reihe der genannten Eigenschaften – besonders der Sinn für Humor, common sense und Frömmigkeit – konnte schon in unterschiedlichem Grad in den bisher untersuchten Literaturgeschichten beobachtet werden. Die große Wirkung Samuel Johnsons in England sieht Mertner gerade in seiner Englishness begründet, »denn er ist in seinen Vorzügen und Grenzen der am meisten englische unter den Schriftstellern seines Jahrhunderts« (364). Als Eigenschaften Johnsons, die in Anbetracht obiger Aussage wohl auch als englisch identifiziert werden können, nennt Mertner »das sittlich-pädagogische Ziel [seiner Werke] mit großem Ernst« (366), den »nüchterne[n] Sinn für das Reale« (368) und den »ordnende[n] Intellekt« (368). Zudem schreibt Mertner: »Johnson hält die Vernunft (›reason, good sense‹) für die Grundlage von Dichtung und Kritik« (369). Vor allem der ›nüchterne Sinn für das Reale‹ und die Vernunft waren schon zuvor als Komponenten von Englishness in deutschen Literaturgeschichten angeführt werden. Nicht nur Autoren, sondern auch Werke und Figuren werden von Standop/Mertner bisweilen als Inkarnationen von Englishness angesehen. Ein Beispiel für ein solches Werk ist Robert Burtons The Anatomy of Melancholy von 1621: »Vernunft, Humor, Toleranz und Verständnis sprechen aus dem Werk, das nach einem Jahrhundert der Vergessenheit seit der Romantik einen bleibenden Platz in der englischen Literatur erhalten hat« (289). Die genannten Eigenschaften wurden auch in den bisher untersuchten Literaturgeschichten als Aspekte von Englishness dargestellt, und Mertner impliziert mit obiger Aussage, dass diese Eigenschaften dafür gesorgt hätten, dass Burtons Werk seinen festen Platz in der englischen Literatur gefunden habe. Als Beispiel für eine typisch englische Figur betrachtet Mertner den Robinson Crusoe aus Defoes gleichnamigem Roman: Robinson ist kein traditioneller epischer Held, sondern ein englischer Kleinbürger, ein einfacher, anständiger Mensch, der sich nicht unterkriegen läßt. Er erobert sofort das englische Lesepublikum mit Ausnahme der naserümpfenden Gebildeten; denn er denkt, fühlt und handelt wie die Masse der kleinen Leute, die das Buch lesen und bezeichnet gleich eingangs seinen sozialen Status des Mittelstandes (middle state) als den glücklichsten aller möglichen. ›Temperance, moderation, quietness, health, society … were the blessings attending the middle station in life‹ – diese Erkenntnis Robinsons als das Ergebnis seiner Erfahrungen bestätigt die Überzeugungen seiner Leser. (332)

Gerade die Identifikation der Figur des Robinson mit einem nicht unbeträchtlichen Teil der englischen Bevölkerung und dessen englischem Selbstbild führte also laut Mertner zum ungeheuren Erfolg des Buches. Interessant an dieser Feststellung ist vor allem, dass nicht Mertner den Robinson als ›typisch englisch‹ bezeichnet, sondern darauf verweist, dass die Engländer selbst sich in der Figur

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1. Ewald Standops und Edgar Mertners Englische Literaturgeschichte (1967)

wieder erkennen. Mertner präsentiert den Lesern somit in diesem Fall das vermeintliche Selbstbild der Engländer, anstatt ein eigenes Fremdbild aufzubauen. Ebenfalls auf das englische Selbstbild verweist die Bemerkung Mertners zu einem Aufsatz Matthew Arnolds: »On the Study of Celtic Literature (1867) mit der oft kolportierten These, daß sich die Eigenschaften des Engländers aus dem rassischen Erbe der Germanen, Normannen und Kelten zusammensetzen, erreichte die Höhe der früheren Aufsätze nicht« (528). Auch hier nimmt Mertner keine Stellung zu Arnolds Annahme, sondern präsentiert lediglich, welches Bild zumindest einige Engländer selbst von sich und ihren Eigenschaften haben. Bezüglich der Schilderung des englischen Gentleman-Ideals geht Mertner ähnlich vor – wieder vermittelt er lediglich das englische Selbstbild, wenn er John Henry Newmans Definition eines Gentleman wiedergibt als »im traditionellen englischen Sinne: ›a cultivated intellect, a delicate taste, a candid equitable, dispassionate mind, a noble and courteous bearing in the conduct of life‹« (476). Handelt es sich bei obigen Beispielen um ›prototypische‹ Manifestationen von Englishness, die stets mehrere Eigenschaften miteinander verbinden, finden sich in der Literaturgeschichte Standop/Mertners auch Hinweise auf einzelne Aspekte von Englishness. Diese Belege werden nachfolgend betrachtet. Nationalbewusstsein Es finden sich außerordentlich viele Hinweise darauf, das Standop/Mertner ein besonders ausgeprägtes Nationalbewusstsein als integralen Bestandteil von Englishness betrachten. Keine andere Eigenschaft der Engländer wird über den gesamten Verlauf der englischen Geschichte so konstant beobachtet und dokumentiert. Die Autoren sehen die Ursprünge dieses Aspekts von Englishness im ausgehenden 9. Jahrhundert: »Aus den Kämpfen gegen die ›Dänen‹ entwickelten sich die feudalen Einrichtungen Englands, die nunmehr die westsächsischen Könige zu Herrschern von ganz England machten und zur Entstehung einer englischen Nation mit eigenem Nationalbewußtsein beitrugen« (12). Dieses weist Standop anhand der Literatur der Zeit nach, beispielsweise im Lied The Battle of Brunanburh aus dem Jahr 937, das einen Sieg des Königs von Wessex über einfallende Schotten und Wikinger behandelt und zugleich »Ausdruck des entstandenen englischen Nationalstolzes« (42) sei. Für das Mittelalter belegt Standop das englische Nationalbewusstsein anhand zahlreicher weiterer Beispiele.130 Ab der frühen Neuzeit beobachtet Mertner aller130 Beispielsweise bemerkt Standop: »Die Vorherrschaft des Französischen hört im 14. Jahrhundert auf, was mit dem Erstarken des englischen Nationalbewußtseins im Verlauf der französischen Kriege zusammenhängen mag« (63). In der Dichtung Richard Löwenherz aus dem Mittelalter »macht sich schon wegen des historischen Hintergrundes ein patriotisches Bewußtsein geltend, das Richard zum Typus des idealen heldischen Kreuzritters und Volkskönigs macht« (92). Das Nationalbewusstsein äußert sich für Standop auch in einem gesteigerten Geschichtsinteresse der Engländer, wie er es

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Die Darstellung von Englishness

dings eine zunehmende Verbindung des englischen Nationalbewusstseins mit einem gewissen Misstrauen gegenüber Ausländern und fremden Einflüssen. Mit dieser Verbindung erklärt Mertner auch den Erfolg der Loslösung Englands von der katholischen Kirche unter Heinrich VIII.: »Seine Trennung von Rom (1534), zu einem politisch günstigen Zeitpunkt vollzogen, ist keineswegs unpopulär, zumal sie fremde Einflüsse zugunsten nationaler Eigenständigkeit zurückdrängt« (166). Roger Ascham, ein Autor dieser Zeit, ist für Mertner ein Repräsentant dieser Haltung, denn »sein protestantischer Antipapismus und seine patriotische Abneigung gegen die Ausländerei unterstützen sich gegenseitig« (175). Und auch bezüglich der englischen Sprache verbindet sich Nationalbewusstsein mit Ablehnung zu starker äußerer Einflüsse. So wird zu Thomas Wilson (c.1525–81) erklärt: In der Pflege der Muttersprache, auf die Wilson großen Wert legt, findet er sich mit Puristen seiner Zeit wie etwa Roger Ascham oder dessen Lehrer, dem Cambridger Humanisten Sir John Cheke, zusammen, um die Überfremdung des Englischen durch die sogenannten inkhorn terms zu bekämpfen. Angesichts der Flut fremden Wortgutes, das zu dieser Zeit in die englische Sprache eindringt, ist die Warnung der Puristen nicht fehl am Platze. Sie entspricht zugleich dem nationalen Selbstgefühl, das die englische Renaissance kennzeichnet und dem unter anderen der Humanist und Schulmann Richard Mulcaster (c.1530–1611) mit viel zitierten Worten Ausdruck verleiht: ›I loue Rome, but London better, I fauour Italie, but England more, I honor the Latin, but I worship the English‹ (The First Part of the Elementaries, 1582; Peroration). (189f.)

Es ist nicht notwendig, sämtliche der zahlreichen Belege für das Vorhandensein eines ausgeprägten englischen Nationalbewusstseins, die in Standop/Mertners Literaturgeschichte zu finden sind, an dieser Stelle ausführlich wiederzugeben.131 Lediglich einige besonders aussagekräftige Zitate sollen in der Folge angeführt werden. So ist es beispielsweise von großem Interesse, welche Rolle Standop/Mertner der Literatur als Sprachrohr des englischen Nationalbewusstseins zubilligen. Beispielsweise beurteilt Mertner – ganz genauso wie Meißner und Schirmer – James Harringtons Oceana von 1656 geradezu als Manifestation des Nationalgefühls der englischen Bevölkerung:

bezüglich der Prosachroniken des Mittelalters feststellt: »Sie [die Chroniken] setzen ein populäres Interesse an der Geschichte des Landes voraus und führen schließlich zu den Geschichtsdarstellungen des 16. Jahrhunderts, aus denen Shakespeare schöpfte« (162). 131 Weitere Belege für englisches Nationalbewusstsein, Patriotismus und Imperialismus finden sich auf den Seiten 188, 191, 194, 221, 243, 244, 257, 325, 362 und 524. Auch Shakespeare wird bezüglich patriotischer Töne angeführt. Zu seiner Historie Richard II bemerkt Mertner: »Trotz der subtilen Zeichnung dieses Charakters [Richard] liegt das ideelle Schwergewicht des Dramas auf dem Gemeinwesen und seiner Ordnung, auf England, dem der sterbende Gaunt die berühmte Rede vom ›precious stone set in the silver sea‹ widmet (II, i).« (244)

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1. Ewald Standops und Edgar Mertners Englische Literaturgeschichte (1967) Harringtons Auffassung vom harmonischen Aufbau eines Staatswesens hat im 18. und 19. Jahrhundert in England und Amerika allgemeine Zustimmung gefunden; seine Begründung des englischen Imperialismus mit der Pflicht zur Verbreitung der bürgerlichen Freiheiten wird zu einem Gemeinplatz englischen Nationalgefühls. (293)

Eine Nutzung der Literatur für propagandistische Zwecke beobachtet Mertner in John Drydens Annus Mirabilis, The Year of Wonder aus dem Jahr 1667: Während die Schilderung des Krieges im Zeichen eines durch Haß geschürten und zugleich beengten Nationalgefühls Freund und Feind schon mit allen Merkmalen des späteren Jingoismus grob verzerrt, verschwinden die unechten Töne der nationalistischen Propaganda […], sobald Dryden auf den Brand von London zu sprechen kommt. (211)

Allerdings geben sich nicht alle Engländer einem von Mertner als überzogen bewerteten Nationalismus und Patriotismus hin. Es gibt auch Gegenstimmen, wie Daniel Defoe, die die übertrieben nationalistische Haltung ihrer Landsleute kritisieren: »Zur Unterstützung des als Ausländer angefeindeten Königs schreibt er 1701 sein nächst Robinson berühmtestes Werk, das Reimgedicht The True-Born Englishman, in dem er die nationalistischen Illusionen und die Rassenhysterie des hundertprozentigen Engländertums überzeugend ad absurdum führt« (330).132 Trotz des Erfolges von Defoes Gedicht steigert sich das englische Überlegenheitsgefühl aber bis zum Ende des viktorianischen Zeitalters, das Mertner als Höhepunkt englischen Nationalgefühls und Imperiumsdenkens betrachtet: Obwohl bereits leichte Schatten auf den Glanz Englands fallen, werden die letzten Jahrzehnte des Zeitalters von dem beispiellosen Erfolg englischer Weltgeltung überstrahlt. Die Regierungsjubiläen der Königin – insbesondere das sechzigjährige im Jahr 1897 – in denen Viktoria zur Inkarnation englischer Größe schlechthin wird, sind sinnfälliger Ausdruck einer imperialen Macht, die durch die Verbindung der alten britischen Missionsidee mit dem Selbstbewußtsein des Erfolgreichen unwiderstehlich wird. Schriften wie das politische Reisebuch Greater Britain (1868) von Sir Charles Dilke oder Sir John Robert Seeleys Sicht aktueller Probleme in der Darstellung englischer politischer Vergangenheit, The Expansion of England in the Eighteenth Century (1883), verkünden den Imperialismus als die große englische Aufgabe der Gegenwart. In der Öffentlichkeit nimmt der Imperialismus jene Note nationaler Überheblichkeit an, die man nach einem Schlager aus der Zeit des englisch-russischen Gegensatzes (1877) Jingoismus nennt. (462)

Es fallen im obigen Zitat vor allem die negativen Töne auf, die Mertner in seiner Bewertung des englischen Nationalbewusstseins anschlägt. Diese werden noch sehr viel deutlicher, wenn er auf den extremen Fortschrittsglauben und Optimismus der viktorianischen Ära zu sprechen kommt: 132 Der Gebrauch des Begriffs ›Rasse‹ ist im Deutschen als Folge der nationalsozialistischen Greuel verpönt. Mertner kann ihn hier aber durch Verbindung mit dem ebenfalls negativ konnotierten Begriff ›Hysterie‹ verwenden.

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Die Darstellung von Englishness Dieser Optimismus verbindet sich mit einem häufig in peinliches Selbstlob ausartenden Patriotismus und einem ebenso peinlichen, aber ernst gemeinten Dank für spezielle göttliche Betreuung. Miltonsche Töne werden, wenn auch hinfälliger blasiert, angeschlagen. ›It has pleased God‹, schreibt Kingsley, ›that we, Lord Bacon’s countrymen, should improve that precious heirloom of science‹ (Scientific Lectures and Essays). (464f.)

Eine ablehnende Haltung gegenüber dem englischen Imperialismus legt allerdings nicht nur Mertner an den Tag; sie wird von ihm auch bei den Engländern selbst am Beginn des 20. Jahrhunderts beobachtet. Vor allem die Rezeption der Werke von Rudyard Kipling, dem »Dichter des Imperialismus« (462), kann für diesen Bewertungswandel als Gradmesser herangezogen werden. Über ihn schreibt Mertner: Er gilt als der ungekrönte poeta laureatus des englischen Weltreiches […]. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wird die Ablehnung allgemein. Für die jüngere Generation wird der göttliche Eisenfresser (›divine swashbuckler‹) nun zu einem Dichter des Hasses und der nationalen Überheblichkeit, der sich in den Dienst niederer politischer Zwecke begeben hat. (541)

Die sich vor allem nach den desillusionierenden Erlebnissen des Ersten Weltkriegs abzeichnende Neubewertung des englischen Imperialismus in weiten Teilen der Bevölkerung kommt für Mertner nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu einem vorläufigen Abschluss: Inzwischen hat sich die Haltung eines großen Teils des englischen Volkes zur Frage des Weltreiches gewandelt. Das Bewußtsein imperialistischer Vorherrschaft oder der Überlegenheit des weißen Mannes hat im Zeitalter der Revolte gegen Autorität, Nationalismus und Heroismus einer breiten Skepsis, ja einem Gefühl der Schuld gegenüber den beherrschten Nationen Platz gemacht. (552)

Das Ende des Imperialismus bedeutet aber keineswegs das Ende des englischen Nationalbewusstseins, denn zu den Werken Thomas Campbells, der von 1777 bis 1844 lebte, schreibt Mertner: »Seine patriotischen Lieder wie ›Ye Mariners of England‹ und ›Hohenlinden‹ gehören zum Grundbestand englischer Anthologien« (441). In englischen Schulen und Universitäten, die die Hauptnutzer diese Anthologien englischer Literatur darstellen, werden die literarischen Manifestationen des nationalen Selbstbewusstseins also noch immer perpetuiert und damit ins kulturelle Gedächtnis folgender Generationen festgeschrieben. Damit bildet das ausgeprägte englische Nationalbewusstsein – zumindest bis in die 1960er Jahre hinein – gemäß Standop/Mertner einen diachron konstanten, integralen Bestandteil von Englishness. Common Sense Common sense oder auch ›gesunder Menschenverstand‹ ist neben dem Nationalbewusstsein das am häufigsten genannte Merkmal von Englishness in der Literaturgeschichte von Standop und Mertner. Nur selten stellen sie dabei jedoch eine explizite Verbindung zwischen common sense und ›englisch‹ her, wie im Falle

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1. Ewald Standops und Edgar Mertners Englische Literaturgeschichte (1967)

Ben Jonsons: »Jonson vereinigt klassische Gelehrsamkeit mit englischem common sense« (261). Aber allein die Häufigkeit der Nennung lässt darauf schließen, dass es sich beim common sense nach Standop/Mertners Ansicht tatsächlich um einen spezifischen Aspekt von Englishness handelt. Den ersten Beleg für common sense erkennt Standop bei dem anonymen Verfasser von Ancrene Riwle um 1200: »Sein Mut zur Wahrhaftigkeit verbindet sich mit einem Sinn für das Praktische, einem common sense, der für die Zeit ungewöhnlich ist und eine tiefgreifende Kenntnis des Menschen und des Lebens voraussetzt« (75). Auffällig an dieser Bemerkung ist, dass Standop den common sense mit dem Sinn fürs Praktische gleichsetzt – diese beiden Eigenschaften sind in den bisher betrachteten Literaturgeschichten meist als separate Züge von Englishness behandelt worden.133 Noch bei Meißner wurde der common sense als breiter gefächert konzipiert – als Haltung, die neben dem Sinn für das Praktische auch eine bestimmte Gefühlslage bezeichnet. Den gesunden Menschenverstand als charakteristisch englisches Merkmal beobachten Standop/Mertner erst ab dem 17. Jahrhundert mit Regelmäßigkeit. Daher sind sie offenbar etwas verwundert über die Manifestation dieser Eigenschaft im Mittelalter. Interessant an diesem Umstand ist, dass Standop/Mertner offensichtlich selbst ein Bild von Englishness vor Augen haben, und wann immer ein Autor einem Aspekt dieses Bildes entspricht, wird er entsprechend markiert – wie der Autor von Ancrene Riwle, dem Standop einen für das Mittelalter untypischen common sense zuschreibt. Ab dem 17. Jahrhundert beobachtet Mertner – wie gesagt – regelmäßig den common sense in der englischen Literatur und identifiziert ihn sogar als dominierende Eigenschaft der Dichtung dieser Zeit: »Die Vorherrschaft von Vernunft und common sense in der Dichtung wird in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts von einer Seite unterstützt, die nicht unmittelbar mit der Literatur befaßt ist« (304). Hiermit meint Mertner die Einflüsse der Naturwissenschaft, was die enge Beziehung zwischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und der Literatur zu dieser Zeit belegt. Ein Beispiel für diese von gesundem Menschenverstand geprägte Dichtung ist ein Werk von Matthew Green: »Auch das umfangreiche Gedicht The Spleen von Matthew Green (1696–1737), das der Vernunft und dem common sense das Wort redet, zeugt von einem ausgeprägten Gefühl für die Natur« (345). Hier verbindet Mertner den common sense erneut mit einer anderen Eigenschaft der Engländer, nämlich dem Naturgefühl – wie es zuvor schon mit dem Sinn für das Praktische geschehen ist. Aber nicht nur in der Dichtung, auch im Roman macht sich eine vom common sense geprägte Lebensanschauung bemerkbar, wie z. B. in Defoes Robinson Crusoe: »Im Laufe von 28 Jahren baut er sich auf der einsamen Insel die Zivilisation eines gesicherten bürgerlichen Daseins auf. Das 133 An anderer Stelle spricht Mertner jedoch mit »praktischer Lebenskunst und common sense« (332) von zwei separaten Eigenschaften, was auf unterschiedliche Vorstellungen Standops und Mertners hinsichtlich dieser beiden Aspekte von Englishness hinweist.

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Die Darstellung von Englishness

wird mit einer Mischung von Naivität, praktischer Lebenskunst und common sense erzählt« (332). Dass Mertner diese Eigenschaft in mehreren literarischen Gattungen beobachtet, ist ein Indiz für die große Bedeutung des common sense für die englische Leserschaft. Auch in den folgenden Jahrhunderten wird das Vorhandensein des gesunden Menschenverstandes von Mertner belegt. William Blake, ein Dichter der Romantik, nimmt etwa aktiv Stellung gegen die übermäßige Bedeutung, die die Aufklärung dem common sense zuspricht: »Mit der Vernunft und dem common sense verdammt Blake die Aufklärung und deren Repräsentanten« (407). Blake würde die Aufklärung und ihre Werte nicht bekämpfen, wenn diese keine wichtige Rolle in der englischen Gesellschaft spielen würden. Er kann in seinem Kampf auch nicht allzu erfolgreich gewesen sein, denn Mertner stellt bei Königin Viktoria ebenfalls ein gerüttelt Maß dieser Eigenschaft fest: In dieser Zeit sozialer und politischer Unrast kommt die energische Viktoria auf den Thron. Sie verbindet das Bewußtsein königlicher Würde mit dem Geschmack, der Gesinnung und Gesittung des Bürgertums ihrer Zeit. Sie verfügt nicht über große politische Konzeptionen, wohl aber über viel ›gesunden Menschenverstand‹. (461)

Damit zeigt sich, dass Standop/Mertner im gesunden Menschenverstand – den sie oft auch im selben Atemzug mit der Vernunft nennen – zumindest vom 17. Jahrhundert an ein recht konstantes Merkmal von Englishness sehen.134 Nützlichkeitsdenken und Pragmatismus Wie den common sense weisen Standop/Mertner auch das englische Nützlichkeitsdenken vor allem ab dem 17. Jahrhundert nach, und hier zuerst bei Henry Peacham: Das Idealbild eines Kavaliers, das Henry Peacham in The Compleat Gentleman (1622) zeichnet, ist zwar noch ganz an den Vorstellungen des vergangenen Jahrhunderts orientiert, wenn es auch Zugeständnisse an den praktischen Sinn und das Nützlichkeitsdenken der nunmehr stärker bürgerlich bestimmten Welt macht. (287)

Der Sinn für das Praktische und das Nützlichkeitsdenken werden mit dem Aufstreben des Bürgertums in Verbindung gebracht, was einen Zusammenhang zwischen Nationalstereotypen und sozialen Schichten andeutet. Bei Peacham hat sich offensichtlich das alte, ›typisch‹ englische Gentlemanideal mit dem Nützlichkeitsdenken verbunden, was aus letzterem ebenfalls eine charakteristisch englische Eigenschaft macht. Ein prominenteres Beispiel für das Nützlichkeitsdenken als Peachams Schrift präsentiert Mertner mit Sir Walter Scott, denn »Scott läßt sich

134 Weitere Belege für den common sense finden sich im Zusammenhang mit Oliver Goldsmith (363), Jane Austen (449) und George Meredith (532).

241

1. Ewald Standops und Edgar Mertners Englische Literaturgeschichte (1967)

nur auf das Konkrete und Praktische ein und mißtraut dem Intellektualismus« (453). Bei diesem Beispiel macht Mertner den Pragmatismus nicht an den Werken, sondern an der Person Scotts fest, der immerhin im Umgebungskanon zu finden ist. Dass es sich bei Pragmatismus und Nützlichkeitsdenken nicht nur um ein in der Literatur gefordertes Ideal handelt, sondern dass diese Eigenschaften tatsächlich in den englischen Nationalcharakter Einzug halten, erkennt Mertner am politischen Handeln der Parteien im viktorianischen England: »Die Parteien unterscheiden sich ohnehin nicht durch Grundsätze, sondern nur durch generelle Tendenzen; beide sind während des ganzen Jahrhunderts bereit, jeweils das pragmatisch Notwendige zu tun« (461). Das viktorianische Zeitalter wird von Mertner überhaupt in seiner Gesamtheit als geprägt vom Nützlichkeitsdenken gesehen, was sich für ihn in den philosophischen Schriften dieser Zeit zeigt: »Um so mehr fördert das Zeitalter, das Carlyle ›Mechanical Age‹ nennt, das von Bentham begründete utilitaristische Denken, das alles Menschliche einem Nützlichkeits- und Glückskalkül unterwirft und das Gefühl ausschaltet. Das erscheint wenig liebenswert« (463f.). Letztere Bemerkung stellt unter Beweis, dass auch Literaturgeschichten aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vor expliziten Wertungen nicht zurückscheuen. Wie schon den englischen Imperialismus kritisiert Mertner auch das im Utilitarismus mündende Nützlichkeitsdenken der Engländer. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es sich bei dieser Eigenschaft um einen von Standop/Mertner über mehrere Jahrhunderte hinweg beobachteten Aspekt von Englishness handelt. Naturgefühl und Natürlichkeit Neben dem Nützlichkeitsdenken wird in Standop/Mertners Literaturgeschichte offenbar auch einem besonderen Verhältnis zur Natur eine wichtige Rolle für die englische Mentalität zugeschrieben. So bemerkt Mertner zum Renaissance-Dichter Alexander Barclay: »Man erkennt die eigene Beobachtung in der Beschreibung des Winters am Anfang der Ekloge, ein unübersehbares Zeichen dafür, wie stark das Naturgefühl in der englischen Dichtung zu allen Zeiten zu Hause ist« (178). Dass das Naturgefühl zu allen Zeiten einen wichtigen Aspekt der englischen Dichtung bildet, ist allerdings in der Literaturgeschichte Standop/Mertners nicht hinreichend belegt, denn Mertner konstatiert lediglich für den relativ kurzen Zeitraum vom 18. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert eine stärkere Affinität der Engländer zur Natur. In dieser Zeit zeigt sich das englische Naturgefühl nicht nur in der Dichtung, wie folgende Bemerkung zu den geistesgeschichtlichen Hintergründen des 18. Jahrhunderts belegt, die den Begriff ›Natürlichkeit‹ mit der Hochschätzung der Natur in Beziehung setzt: Man gibt sich nicht mehr so gravitätisch wie in der Stuartzeit, sondern gelöst und ›natürlich‹. Das augenfälligste Beispiel für den Wandel des Geschmacks ist die lockere, scheinbar der Natur selbst überlassene, aber mit großer Sorgfalt geplante Anlage des englischen Parks, der den strengen, formalen Garten

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Die Darstellung von Englishness französischer Provenienz ablöst. Die Hochschätzung der Natur ist ein bedeutsames Merkmal der englischen Aufklärung überhaupt. (326f.)

Der englischen Gartenästhetik dieser Zeit entspricht die Naturdarstellung in der Dichtung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Natur wird von Standop/Mertner als wichtigstes Thema der Dichtung identifiziert, aber es handelt sich hierbei nicht um eine wilde, ungezähmte Natur, wie folgendes Zitat zeigt: Eines der beliebten Themen dieser Dichtung, das Lob des Lebens auf dem Lande in kontemplativer Zurückgezogenheit, entspricht einer langen Tradition und kommt zugleich einem modernen Bedürfnis entgegen. Denn Natur bedeutet den Dichtern dieser Epoche viel; aber es ist gewissermaßen nur eine ›literarische‹, eine kultivierte, von Menschenhand gezähmte Natur, die man sucht; und selbst wo sie wild und großartig erscheint, ist der Mensch nie ganz fern. Auch im Bereiche der Natur stehen die allgemeinen menschlichen Werte im Vordergrund. (371)

Die Parallelen in der Gestaltung der englischen Gärten und der Thematik der englischen Dichtung dieser Zeit lassen darauf schließen, dass es sich beim Naturgefühl um eine zumindest in weiteren Teilen der Bevölkerung vorhandene Neigung handelt. Da Mertner allerdings zuletzt beim Romantiker William Wordsworth am Beginn des 19. Jahrhunderts eine besondere Naturverbundenheit feststellt, handelt es sich bei Naturgefühl und Natürlichkeit offenbar nicht um zeitlich unveränderliche Aspekte von Englishness. In Anbetracht der eingangs zitierten Bemerkung zu Barclay, in der Mertner von einem konstanten Vorhandensein des Naturgefühls in der englischen Dichtung spricht, bleibt nur der Schluss, dass dieses Merkmal der Englishness zumindest hinsichtlich seiner Intensität diachronen Schwankungen unterworfen ist. Sekundäre Merkmale von Englishness Die nachfolgend erörterten Eigenschaften werden von Standop/Mertner in ihrer Literaturgeschichte nur äußerst selten genannt, aber trotzdem in direkte Beziehung zur Englishness gesetzt. Meist beobachten die Autoren diese Charakteristika nur über einen begrenzten Zeitraum hinweg, so dass es sich bei ihnen offenbar um veränderbare Aspekte von Englishness handelt, die vom jeweiligen Zeitgeist der Epoche abhängig sind. Diese Eigenschaften bilden zwar keine zentralen Aspekte des von Standop/Mertner vermittelten Englandbildes, ›runden‹ aber quasi die oben genannten Kerneigenschaften – Nationalbewusstsein, common sense, Naturgefühl und Pragmatismus – ab. So bemerkt Mertner für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts eine gesteigerte Empfindsamkeit in der englischen Dichtung: Die zunehmende Mächtigkeit des Gefühls zeigt den Wandel in der Dichtung am auffälligsten an. Empfindsamkeit und Zartgefühl (sensibility) treten als Werte und Wahrzeichen des verfeinerten Geschmacks in den Vordergrund und werden mehr und mehr um ihrer selbst willen gepflegt. Damit verschiebt sich das Schwergewicht langsam von der Moral und den sozialen Aspekten

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1. Ewald Standops und Edgar Mertners Englische Literaturgeschichte (1967) zum Subjektiven und zur Emotion. Der Hang zur ›englischen Krankheit‹ der Melancholie verstärkt diese Tendenz. (372)

Die beobachtete Empfindsamkeit findet an dieser Stelle überhaupt nur Beachtung, weil Mertner sie in Verbindung mit der ›englischen Krankheit‹ Melancholie sieht. Diese wird allerdings ansonsten nicht wieder zur Sprache gebracht. Die Verschiebung der lyrischen Thematiken fort von sozialen und hin zu emotionalen Aspekten ist im Übrigen ein Beleg für das schon erwähnte zyklische Literaturkonzept, das von Standop/Mertner vertreten wird. Vor allem bei Schirmer und Meißner stellt die Bereitschaft der Engländer, fremde Einflüsse rasch den eigenen Bedürfnissen anzupassen, einen wichtigen Aspekt von Englishness dar. Auch Mertner beobachtet diese Eigenschaft, allerdings nur für den Zeitraum der Renaissance: »Die Grundlage der geistigen Leistungen dieser Jahre besteht in der geglückten Verbindung heimischer Tradition mit dem Ideengut und der Welthaltung der Renaissance« (167). Vor allem die Philosophie des Humanismus erfährt hierbei eine englische Umprägung, wie dies auch schon in fast allen bisher untersuchten Literaturgeschichten dargestellt wurde: »Nicht die Philosophie als solche ist [den englischen Humanisten] wesentlich, sondern ihre Hilfe zur Erklärung der Bibel, d. h. die platonischen Gedanken im Dienste der Bibelexegese. Das ist ein nicht zu übersehendes Kennzeichen des englischen Humanismus« (171). Allerdings ist die Umformung des Humanismus, wie dem Zitat zu entnehmen ist, nicht so sehr mit Augenmerk auf die Bildung – wie in den anderen Literaturgeschichten dargestellt –, sondern aus primär religiösen Gründen erfolgt. Wenn Mertner auch nach der Renaissance noch fremde Einflüsse auf das englische Geistesleben feststellt, wird doch von ihm nie mehr ein Umgang der Engländer mit diesen Einflüssen konstatiert, der als ›typisch‹ für England klassifiziert werden könnte. Damit handelt es sich bei dieser Eigenschaft für Mertner allenfalls um einen epochenabhängigen Aspekt der Englishness. Die von Engel so bewunderte Eigenschaft der Freiheitsliebe spielt im Englandbild von Standop/Mertner kaum eine Rolle. Mertner beobachtet diese in erwähnenswerter Ausprägung nämlich nur bei John Milton: »Milton ist sich der Würde des Menschen als eines Ebenbildes Gottes stets bewußt und gründet darauf sowohl Selbstbewußtsein wie Freiheitsrecht des Individuums, ein Recht allerdings, das durch strenge Selbstdisziplin eingeschränkt wird« (297). Insbesondere Miltons Plädoyer für Presse- und Meinungsfreiheit ruft bei Mertner Bewunderung hervor: Die englische Regierung dagegen kramt die alten Zensurbestimmungen wieder heraus, worauf Milton mit seinem berühmten Traktat über die Pressefreiheit Areopagitica (1644) antwortet. Der leidenschaftliche Aufruf für die Freiheit in Druck und Schrift ist ein alle Zeit gültiges Plädoyer für das Recht und das Wagnis der geistigen Freiheit des Menschen. (298)

Allerdings reicht diese Anerkennung für Milton als Kämpfer für die geistige Freiheit des Menschen nicht aus, um aus seiner Freiheitsliebe einen Aspekt von Englishness zu konstruieren. Offensichtlich gehört die Freiheitsliebe für Stan-

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Die Darstellung von Englishness

dop/Mertner also nicht einmal zu den zeitlich veränderbaren Eigenschaften der Engländer. Der Humor ist für gewöhnlich ein ausgesprochen wichtiger Teil unseres heutigen Englandbildes. In den bisher untersuchten Literaturgeschichten führte er als ›typisch englische‹ Eigenschaft jedoch eher ein Schattendasein. Auch bei Standop/Mertner ist das nicht anders. Zwar machen sie des Öfteren auf humorvolle Inhalte aufmerksam, wie etwa bei Milton (121) oder Charles Dickens, den Mertner als den »Dichter des Humors« (479) bezeichnet, aber nur selten identifizieren sie diesen Humor als spezifisch englisch. Das ist allerdings der Fall bei Mertners Kommentaren zu William Stevensons Stück Gammer Gurtons Needle (um 1550): »Um dieses dünne Motiv rankt sich eine umfangreiche Handlung, die von einer Spaßmacherfigur englischer Tradition dirigiert wird, nämlich dem schlauen Diccon the Bedlam« (224). Zumindest die ›Spaßmacherfigur‹ wird hier als in der englischen Tradition stehend betrachtet, wenn schon nicht der Humor an sich. Überhaupt scheint Humor allein für Standop/Mertner kein englisches Charakteristikum zu sein, sondern vielmehr die Verbindung von Humor und Tragik, wie Mertners Beurteilung des Stückes The Unfortunate Traveller or, The Life of Jacke Wilton von Thomas Nashe aus dem 16. Jahrhundert belegt: Typisch englische Züge werden in der Mischung von tragischen und komischen Elementen und in der Handlungsmotivation erkennbar: Der Held wird nicht so sehr wie der Picaro durch Not und Armut, sondern durch Übermut und Abenteuerlust angetrieben. Auch gehört Jacke Wilton nicht wie gewöhnlich der Picaro in die niedrigste soziale Klasse, sondern er ist ein Page oder, wie er selbst sagt, ›a Gentleman at least‹. (220f.)135

Obwohl der Humor von Standop/Mertner so selten als typisch englische Eigenschaft genannt wird, kann er als Aspekt von Englishness nicht ausgeschlossen werden. In Mertners Bewertung der Einflüsse des Holländers Erasmus, der von 1466 bis 1536 lebte und auch zeitweilig in England tätig war, schildert er die Eigenschaft des Humors nämlich als wichtiges, mäßigendes Element der englischen Mentalität:

135 Zur Figur des ›Picaro‹ schreibt Jacobi (1998: 41): »Der Held des Schelmenromans, der Picaro, gerät in Konflikt mit seiner Umwelt, weil sie ihm die Möglichkeit, sein Leben in Unschuld zu fristen, nicht gutwillig einräumt. Daß die Welt schlecht ist, daß in ihr der Egoismus und die Gewalt regieren, ist die bittere Erkenntnis, die am Anfang der Schelmenlaufbahn steht. Denn aus der Schlechtigkeit der Welt ergibt sich, daß man mit der Tugend, mit Harmlosigkeit und gutem Willen nicht überleben oder gar reüssieren kann: Man muß zum Schelmen werden, man darf vor Handlungen nicht zurückschrecken, die nach der offiziellen Moral verpönt sind, wenn man inmitten der allgemeinen Korruption nicht nur die Rolle des naiven Opfers spielen und untergehen will.« Jacobi verortet die Entstehung des pikaresken oder auch Schelmenromans ins Spanien des 16./17. Jahrhunderts. Seitdem wird in der Literatur der Titelheld eines solchen Romans als ›Picaro‹ charakterisiert (Jacobi 1998: 2).

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1. Ewald Standops und Edgar Mertners Englische Literaturgeschichte (1967) Wie der gleichgesinnte Morus unterstützt er, der sich mit keiner der religiösen Parteien identifizieren läßt, jene Qualitäten des englischen Geistes und der englischen Literatur, die dem Fanatismus vom Schlage eines Colet entgegenwirken: die Abneigung gegen Extreme und den Sinn für Mäßigung, weil diese allein vernünftig ist; die Aufgeschlossenheit gegenüber der Antike in ihrer ganzen Weite, auch da wo sie dem Christentum am meisten suspekt erscheint wie z. B. bei dem auch von Luther gottlos genannten Lukian; den Sinn für Ironie und Humor, der ihn vor Extremen bewahrt. (172)

Die Abneigung gegen Extreme und der Sinn für Mäßigung sind schon in anderen Literaturgeschichten als Aspekte von Englishness nachgewiesen worden. Bei Standop/Mertner finden sie jedoch ausschließlich in obiger Darlegung der Ansichten des Erasmus Erwähnung. Die nun folgenden, bei Standop/Mertner gefundenen Hinweise auf Aspekte von Englishness sind nur noch winzige Mosaiksteinchen in dem von ihnen dargebotenen Englandbild. Ein besonderes Interesse am Persönlichen leitet Mertner aus der Popularität der Gattungen Essay, Biographie und Brief ab: »Im 18. Jahrhundert kommen Gattungen der Literatur zur Blüte, die dem oft bekundeten Interesse am Menschen und an seiner gesellschaftlichen Funktion entspringen« (389). Kann man aus dieser Feststellung noch Rückschlüsse auf den Charakter der Engländer ziehen, gilt das für die folgende Bemerkung zu Roger Ascham nicht mehr: »Von seinen beiden englischen Schriften beschäftigt sich der Toxophilus (1585) in der Form des beliebten platonischen Dialogs mit der echt englischen Kunst des Bogenschießens« (175). Hierbei handelt es sich nämlich nicht um eine englische Charaktereigenschaft, sondern um eine Fähigkeit, die von Mertner mit England assoziiert wird. Zwischenfazit Die Betrachtung der von Standop/Mertner dargestellten Aspekte von Englishness hat ergeben, dass nur wenigen dieser englischen Eigenschaften – nämlich dem Nationalbewusstsein, dem common sense, dem Pragmatismus und zum Teil noch dem Naturgefühl – zeitliche Konstanz zugeschrieben wird. Die meisten scheinen dagegen diachronen Schwankungen unterworfen zu sein oder tauchen gar nur in einem einzigen Abschnitt der englischen Geschichte auf. Das weist darauf hin, dass Standop/Mertner die Eigenschaftszuschreibung an die kulturellen Hintergründe einer Epoche koppeln und damit die Englishness als Ganzes nicht als Konstante sehen, sondern als in ihrer Ausprägung dem Zeitgeist unterworfen. Nur die wenigen schon genannten Eigenschaften erweisen sich dabei als permanente Manifestationen von Englishness. Ein gutes Beispiel dafür, welche Züge der englische Nationalcharakter zeitlich bedingt annehmen kann, ist das viktorianische Zeitalter. Dieses weist nach Mertner dezidierte Merkmale auf, die zum Teil von denen früherer und späterer Epochen abweichen, aber trotzdem temporär – eben für den Viktorianismus – das Bild von den Engländern bestimmen. Zu diesen Merkmalen gehört zu dieser Zeit vor allem die Moral, wie folgendes Zitat zeigt:

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Zwischenfazit

»Wie alle Viktorianer versteht sich Kipling so gut aufs Moralisieren, daß ihm seine Charaktere selten über die Schwarz-Weiß-Manier hinaus geraten« (541). Die viktorianischen Moralvorstellungen, die später oft als heuchlerische Doppelmoral bewertet werden, schlagen sich in einem idealisierten Frauenbild nieder, das so gar nicht zur Hochkonjunktur der Prostitution im England unter Viktoria passen will. Diesen Gegensatz, der heute als so typisch für das viktorianische England angesehen wird, stellt Mertner folgendermaßen dar: Nichts darf auch nur im entferntesten an das Tabu des Geschlechtes rühren. Und so wird das Ethos der Reinheit schnell zu dem falschen Pathos der Prüderie. Man verdammt die zeitgenössischen französischen Romane als ›Literatur der Prostitution‹ und reinigt die englische Literatur, allen voran Shakespeare, von allem Anstößigen. […] Angesichts der Tatsachen des viktorianischen Lebens, etwa der beängstigend weit verbreiteten Prostitution, mutet das sexuelle Tabu als ein krasses Beispiel viktorianischer Heuchelei an. Das Verlangen, besser zu scheinen, als man ist, kann sicher als der schwerste Fehler der viktorianischen Gesellschaft bezeichnet werden. (468)

Die aktuelle Manifestation von dem, was als englisch angesehen wird, hängt offenbar von der jeweiligen Epoche ab. Damit ist das Bild von den Engländern – bis auf wenige relativ konstante Merkmale – mehr oder weniger epochenspezifisch und folglich einem zeitlichen Wandel unterworfen. Ebenfalls im Wandel begriffen ist die Wahrnehmung und Bewertung einer Epoche und der in ihr manifesten Form von Englishness. Auch hierfür bietet sich als Beispiel bei Standop/Mertner das viktorianische Zeitalter an, zu dem letzterer bemerkt: Die Beurteilung der Viktorianischen Epoche hat sich im Laufe dieses Jahrhunderts auffällig gewandelt. Hat es schon in den frühen und mittleren Jahren der Viktorianischen Periode nicht an zeitkritischen Stimmen gefehlt, so schwillt der Chor der Ablehnung in den neunziger Jahren gewaltig an, so daß es schließlich die Viktorianer selber sind, die das unfreundliche Urteil ihrer Nachfahren inauguriert haben. So entsteht das einseitige Bild vom Viktorianer als John Bull, dem selbstbewußten und selbstzufriedenen Mann, der nicht nur zu viel Geld, sondern auch ein zu dickes Fell hat, dem salbungsvollen Heuchler, der Kirche sagt, wenn er Kattun meint, und der die Probleme dadurch aus der Welt schafft, daß er sie für tabu erklärt. (459f.)

Diese kritische Bewertung der Epoche und der in ihr vertretenen Werte zeigte sich schon in Engels deutscher Geschichte englischer Literatur, und als englischen Kritiker des Viktorianismus führt Mertner Lytton Strachey aus den 1920er Jahren an (460). Obiges Zitat beinhaltet auch einen überaus seltenen Verweis auf den englischen ›John Bull‹, der in den anderen untersuchten deutschen Geschichten englischer Literatur so gut wie nie Erwähnung fand. Ein Wandel der Bewertung einer Epoche zieht gleichzeitig veränderte Urteile über die Autoren nach sich, die als Repräsentanten dieser Epoche gelten. Das demonstriert Mertner besonders deutlich am Beispiel des viktorianischen Essayisten und Historikers Thomas Babbington Macaulay:

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1. Ewald Standops und Edgar Mertners Englische Literaturgeschichte (1967) Seine Essays gehören in der Viktorianischen Ära zu den meistgelesenen Schriften der englischsprachigen Welt. Dieser Ruhm hat mit dem sinkenden Ansehen des Viktorianismus erheblich gelitten; denn Macaulay kann als der Exponent des viktorianischen Bürgertums gelten, so wie Carlyle dessen Gegner ist. Er weiß dem selbstgefälligen Optimismus seiner Zeit beredten Ausdruck und plausible historische Begründungen zu geben, und der arrogante, dogmatische Ton, den seine Selbstsicherheit oft genug seinen Schriften verleiht, kommt dem viktorianischen Selbstverständnis entgegen. (474)

Doch die zeitweilig scharfe Ablehnung der viktorianischen Ära hielt nicht lange an. Nach Stracheys Angriffen aus den 1920er Jahren hat sich laut Mertner die Beurteilung jener Epoche grundlegend gewandelt und von scharfer Kritik geradezu ins Gegenteil verkehrt: »Seit seiner [Stracheys] Zeit jedoch sind die positiven Seiten des Viktorianismus immer stärker, ja bis zur Gefahr der Überschätzung in den Vordergrund geschoben worden« (460). Diese von Mertner in den 1960er Jahren beobachtete Entwicklung zu einer Neubewertung des Viktorianismus und seiner Werte führte sogar so weit, dass sich die Premierministerin Margaret Thatcher nach ihrem Amtsantritt im Jahr 1979 demonstrativ auf diese Epoche bezog, wie Maurer (2005: 466) erklärt: »Ihr Credo waren die ›viktorianischen Werte‹, self-help, Individualismus, Freiheit für den einzelnen, Rückzug des Staates aus Wirtschaft und Gesellschaft, eine monetaristische Wirtschaftspolitik.« Das soziale Elend durch den hemmungslosen Kapitalismus und die viktorianische Doppelmoral scheinen dabei weitestgehend aus dem englischen kollektiven Gedächtnis verschwunden zu sein. Dass ein gewisser zeitlicher Abstand nicht nur die Bewertung der Vergangenheit ändern kann, sondern in der Literaturwissenschaft sogar unabdingbar ist, um überhaupt zu einem qualifizierten Urteil kommen zu können, ist Standop/Mertner wohl bewusst. In Mertners einführenden Worten zur Literatur des 20. Jahrhunderts thematisiert er dieses Grundproblem der Literaturgeschichtsschreibung ebenso wie den möglichen Wandel in der Beurteilung älterer Literatur im Lichte neuer Erkenntnisse: Die geistigen und literarischen Strömungen der Gegenwart entziehen sich der geschichtlichen Würdigung, zu deren Wesen die Distanz gehört. Freilich ist auch die Beurteilung früherer Epochen Schwankungen unterworfen, und es gibt immer wieder Neubewertungen einzelner Dichter und Perioden [als Beispiel wird John Donne aufgeführt]. Die Anwendung moderner Methoden auf die Literatur der Vergangenheit […] hat eine Fülle neuer Einsichten und Urteile gebracht, aber kaum etwas Großes entdeckt, das zu Unrecht das Schattendasein des Unbedeutenden geführt hätte. Es gibt ganz offensichtlich nicht nur den Zufall des Vergessens, sondern – eine bewußt historische Kultur vorausgesetzt – einen komplexen Sichtungsprozeß der Zeit. Da diese Komponente in der zeitgenössischen Literatur wegfällt und außerdem die in ihr enthaltenen Gegenstände, Meinungen und Standpunkte eine größere Virulenz besitzen, sind weit divergierende Werturteile an der Tagesordnung. Man wird zwar allgemeine Feststellungen treffen können, etwa der Art, daß das zweite Drittel

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Zwischenfazit des Jahrhunderts eine geringere literarische Mächtigkeit habe als das erste. Aber der Rang von T. S. Eliot oder W. H. Auden, von Virginia Woolf, D. H. Lawrence oder James Joyce läßt sich nicht mit derselben Sicherheit bestimmen wie der entsprechender Dichter früherer Jahrhunderte. Auswahl und Bewertung sind daher ohne ein größeres Maß an Subjektivität nicht denkbar. (549)136

Entgegen der zurückhaltenden Vorhersage über die spätere Bedeutung der oben aufgeführten Autoren wie Woolf und Joyce beweist Mertner doch ein gutes Augenmaß, denn alle von ihm genannten Autoren werden heute zu den wichtigsten Schriftstellern der englischen Literatur des 20. Jahrhunderts gezählt. Die Vorsicht, die Mertner bei der Bewertung der englischen Literatur des 20. Jahrhunderts walten läßt, zeigt sich auch darin, dass die Literaturgeschichte – die wohlgemerkt im Jahr 1967 veröffentlicht wurde – ab den 1930er Jahren immer eklektischer wird und schließlich mit einigen wenigen Autoren der 1950er Jahre endet. Mertner hält also einen ›Sicherheitsabstand‹ von etwa fünfzehn Jahren ein. Gemäß seiner Prämisse des notwendigen zeitlichen Abstandes behandelt er diejenigen Autoren überhaupt nicht mehr, die in dieser Zeitspanne ihre Werke publiziert haben. Es wurde an entsprechender Stelle bereits vermerkt, dass Standop/Mertner weder die Bezüge auf Frankreich noch diejenigen auf Deutschland ideologisch funktionalisieren. Sie sind sich aber dessen bewusst, dass in der Vergangenheit die Bewertung englischer Autoren durchaus für politische Zwecke missbraucht wurde. Es klingt fast wie ein Kommentar zu Meißner, der den Schotten Thomas Carlyle als nationalsozialistischen Vordenker dargestellt hat, wenn Mertner schreibt: »Da er [Carlyle] das Verhältnis von Macht und Recht nie genau definiert hat, nimmt es nicht wunder, daß er als Rechtfertiger der brutalen Machtpolitik moderner Diktaturen verschrien worden ist« (471). Eine politisch-ideologische Funktionalisierung der Darstellung englischer Literatur lässt sich bei Standop/Mertner hingegen nicht belegen. Auch ihr Englandbild lässt keine Schlüsse auf versteckte Absichten zu, was allerdings in Anbetracht der Tatsache, dass die Literaturgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht wurde und damit anderen Kriterien der Wissenschaftlichkeit standhalten muss, nicht verwundert. Gleichwohl lässt sich nicht bestreiten, dass Standop/Mertner ihren Lesern einen Eindruck davon vermitteln, was sie unter Englishness verstehen. Ob bewusst oder unbewusst, die beiden Autoren verfügen über eine Idee davon, was ›typisch englisch‹ ist, und diese Vorstellung fließt in ihre Darstellung mit ein.

136 Manche Urteile der Vergangenheit ändern sich freilich überhaupt nicht. Zum Theater im viktorianischen Zeitalter bemerkt Mertner beispielsweise: »Das bühnengängige Drama erlebt wie das Theater selbst im 19. Jahrhundert seinen größten Niedergang. Über die Theatersituation gibt es viele Stimmen, englische und ausländische, die sich in Verachtung und Verdammung einig sind.« (575f.)

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2. Hans Ulrich Seebers Englische Literaturgeschichte (1991): Literaturgeschichte als Geschichte der Modernisierung

2. Hans Ulrich Seebers Englische Litera turgeschichte (199 1)

Die Besonderheiten von Seebers Literaturgeschichte Die im Jahr 1991 von Hans Ulrich Seeber herausgegebene Englische Literaturgeschichte setzt einen Trend fort, der schon bei Standop/Mertner zu beobachten war – deutsche Geschichten der englischen Literatur werden nach dem Zweiten Weltkrieg meist von mehreren Autoren gemeinsam verfasst. Für die Einzeldarstellungen der englischen Epochen zeichnen neben Seeber Stephan Kohl, Eberhard Kreutzer, Annegret Maack, Manfred Pfister, Johann N. Schmidt und Hubert Zapf verantwortlich, wobei jeweils einer der genannten Autoren für eine Epoche verantwortlich ist. Lediglich das Kapitel über ›Die Zeit nach 1945‹ wird von drei der Autoren gemeinsam verfasst. Das Ergebnis dieser Arbeitsteilung scheint bei den Lesern recht gut angekommen zu sein, wurde doch Seebers mit Illustrationen versehene Literaturgeschichte im Jahr 2004 zum vierten Mal aufgelegt. Das vielleicht auffälligste Merkmal von Seebers Literaturgeschichte ist das deutlich an den Tag gelegte Bewusstsein für die Grundprobleme der Literaturgeschichtsschreibung. Das beginnt schon im Vorwort mit dem Hinweis auf die Problematik des Begriffes ›englische Literaturgeschichte‹, die in den bisher in dieser Arbeit untersuchten Werken unbeachtet blieb. Seeber merkt hierzu an: Der Titel ›englische Literaturgeschichte‹ setzt eine Konvention der Literaturgeschichtsschreibung fort, für die es keine überzeugende Alternative gibt. Es muß aber ausdrücklich gesagt werden, daß die ›englische‹ Literatur ohne ihre zahlreichen Autoren irischer, schottischer, walisischer, amerikanischer, westindischer, indischer, afrikanischer etc. Herkunft sehr viel ärmer wäre. (x)

Der Verweis auf die Konvention demonstriert, dass die Verfasser einer Literaturgeschichte innerhalb einer Tradition stehen, die nicht völlig außer Acht gelassen werden kann. Und wie andere deutsche Geschichten englischer Literatur umfasst deshalb auch Seebers Englische Literaturgeschichte trotz ihres Titels walisische, schottische, irische und auch amerikanische Autoren. Im äußerst informativen Vorwort legt Seeber dar, dass er und seine Mitautoren auch andere problematische Aspekte, wie die unumgängliche Subjektivität jeder Literaturbetrachtung oder den Konstruktcharakter des Kanons, erkannt haben. Durch das Thematisieren solcher Probleme belegt Seeber nicht nur ein stärkeres Bewusstsein der deutschen Anglistik für die Subjektivität der Literaturgeschichtsschreibung und die damit verbundenen Verantwortlichkeiten der Autoren. Dadurch, dass diese Probleme offen angesprochen werden, wird auch das Bewusst-

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2. Hans Ulrich Seebers Englische Literaturgeschichte (1991)

sein der Rezipienten dafür geschärft, dass das, was sie in Literaturgeschichten lesen, nicht ›Die Wahrheit‹ ist, sondern die Auswahl und Interpretation einer Literatur aus dem Blickwinkel einiger weniger Personen, nämlich der Verfasser der Literaturgeschichte. Seeber thematisiert das Problem der Subjektivität von Literaturgeschichte folgendermaßen: Literaturgeschichte schreiben heißt auch, Geschichten zu erzählen. Und da bei Geschichten immer Werte und Normen auf dem Spiel stehen, heißt Literaturgeschichte schreiben immer auch werten, und sei es auch nur implizit durch die Auswahl der Texte und Autoren, durch ihre Gewichtung oder die besondere Perspektivierung, die sie im Rahmen von Geschichten des Aufstiegs oder Niedergangs erhalten. (92)

Da die Betrachtungsweise einer Literatur sich aber nicht nur durch die persönlichen Ansichten und Bewertungen der Verfasser von Literaturgeschichten, sondern auch durch neue theoretische Konzepte und wissenschaftliche Erkenntnisse ändern kann, hält Seeber es für notwendig, die Literatur einer kontinuierlichen Neusichtung und -bewertung zu unterziehen, wie er in seinem Vorwort darlegt: Ein Granitblock, der unterschiedlichen Betrachtern immer das gleiche Bild darböte, ist die historische Vergangenheit nicht. Eher gleicht sie dem Spiel des Wassers, dem wechselnde Lichtverhältnisse immer neue Farbtöne entlocken. Nicht nur fördert die Wissenschaft ständig neue Tatsachen und Einsichten zutage, auch die Seh- und Interpretationsweise verschiedener Generationen von Lesern ist erheblichen Wandlungen unterworfen. Die Einsicht in das dynamische Wechselverhältnis von Gegenwart und Vergangenheit stand am Anfang dieser Literaturgeschichte, die von der Überzeugung ausgeht, daß Geschichte immer wieder neu erarbeitet, erzählt, d. h. konstruiert werden muß. (ix)

Mit der ›Neuerarbeitung‹ und ›Neukonstruierung‹ – die auch von Standop/Mertner schon angedeutet wurde – geht einher, dass bei jedem Versuch, eine Literaturgeschichte zu schreiben, die Gesamtheit der vorhandenen Autoren und Werke von den Verfassern der Literarhistorie gesichtet und neu bewertet werden muss, so dass schließlich ausgewählt werden kann, wer im ›neuen‹ Kanon Aufnahme findet und wer nicht. Trotzdem kann die Tradition bei einem solchen Vorhaben nicht völlig außer Acht gelassen werden, wie Seeber nachfolgend erklärt: Was beispielsweise zum Kanon des Nachwirkenden, Gelungenen und Relevanten gehört, steht nicht ein für allemal fest. Die Autoren dieses Bandes nahmen sich die Freiheit, bei der Auswahl und Gewichtung von Gattungen, Autoren und Werken hier und dort eigene Akzente zu setzen, hielten es aber nicht für ratsam, die in einer langen Wirkungsgeschichte entstandene Übereinkunft über bedeutende Vertreter und Texte der englischen Literatur zu übersehen. (ix)

Seeber und seine Mitautoren halten es also für angebracht, teils der Tradition zu folgen, also Autoren zu berücksichtigen die den ›test of time‹ bereits bestanden haben, gleichzeitig aber aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und persönlicher Interessen »eigene Akzente zu setzen«. Vermutlich ist dies die Vorge-

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Die Besonderheiten von Seebers Literaturgeschichte

hensweise, der auch alle anderen bisher in dieser Arbeit untersuchten Literaturgeschichten gefolgt sind (sonst hätten sie nicht geschrieben werden müssen), nur wurde dies in keiner – mit Ausnahme vielleicht in der von Standop/Mertner – so offen gesagt. Die beständige ›Arbeit am Kanon‹, die seitens der Literaturwissenschaft erfolgt, wird als Spannungsverhältnis zwischen Traditionsgebundenheit und Innovation begriffen. Da im Falle Seebers mehrere Autoren mitwirken, die jeweils alleinverantwortlich einen Abschnitt der englischen Literatur betrachten, können die ›Akzente‹ von Kapitel zu Kapitel unterschiedlich ausfallen. Ohne genaue Vorgaben und ein literaturtheoretisches Modell, dem alle Autoren zu folgen haben, kann eine multiple Autorenschaft leicht in einer Art Aufsatzsammlung enden, in der die stilistische und methodische Konsistenz der Gesamtbetrachtung auf der Strecke bleibt. Auch auf diesen Aspekt seiner Literaturgeschichte geht Seeber ein: Der methodische Ansatz dieses Buches und seine an der Gliederung ablesbaren Einteilungen des zeitlichen Ablaufs wurden von den Beiträgern bewußt gewählt. Diese Literaturgeschichte kann und will nicht jene gedankliche und stilistische Einheitlichkeit bieten, die nur ein einzelner Autor garantieren kann. (x)

Obwohl sich die einzelnen Kapitel – wie von Seeber angekündigt – stilistisch unterscheiden und sie verschiedenartig aufgebaut sind, wahrt doch der gemeinsame methodische Ansatz die Kohärenz der Literaturgeschichte Seebers, da alle beteiligten Autoren die englische Literatur vom gleichen grundlegenden Blickwinkel aus betrachten. Dieser literaturwissenschaftliche Ansatz wird im Vorwort durch Seeber ebenfalls erläutert: Indem Literatur den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel abbildend, deutend und kommentierend begleitet, gestaltet sie ihn auch mit. […] Ein Leitmotiv des Zusammenhangs, den die vorliegende Darstellung erzählend und argumentierend zu stiften versucht, ist […] die Modernisierungstheorie. Es wird also zum Beispiel danach gefragt, was es für die englische Literatur bedeutet, daß sie vor allem seit der Renaissance im Zeichen rascher Modernisierungsschübe – Rationalisierung, Säkularisierung, Nationalstaatsbildung, industrielle Revolution, Demokratisierung, funktionale Ausdifferenzierung von Gesellschaft und Kultur, Individualisierung – steht. Dabei erlaubt der Bezug auf den Begriff der Modernisierung eine Auflockerung der starren Gegenüberstellung Sozialgeschichte vs. Geistesgeschichte. Am komplexen Spiel der Wechselwirkungen und Diskurse, in dem sich geschichtliche Wirklichkeit konstituiert, sind beide Dimensionen entscheidend beteiligt. (ix)

Die auf die Literaturwissenschaft bezogene Modernisierungstheorie sieht – vereinfacht ausgedrückt – die Literatur jeder Epoche im Spannungsfeld überkommener Tradition und neuer Entwicklungen, die jedweder Art, von gesellschaftlichpolitisch bis geistesgeschichtlich sein können. Manche literarischen Werke verteidigen dabei den Status-quo, andere vertreten neue Ideen, eine dritte Gruppe arbei-

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2. Hans Ulrich Seebers Englische Literaturgeschichte (1991)

tet mit beiden Elementen.137 Der Literatur kommt nach dieser Theorie eine wichtige Rolle zu, da sie einerseits die gesellschaftlichen, politischen, geistesgeschichtlichen und auch technologischen Spannungen zwischen Altem und Neuem dokumentiert, diese aber andererseits auch selbst beeinflusst, indem sie öffentlich Stellung bezieht. Da sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens mehr oder weniger stark einen Prozess der Modernisierung durchlaufen, haben auch alle diese Bereiche potentiell Einfluss auf die Literatur und werden wiederum von ihr beeinflusst. Folglich wird dem »›außerliterarischen‹ Kontext« (ix) in Seebers Literaturgeschichte weit mehr – und vor allem in dezidiert theoretisch begründeter Weise – Aufmerksamkeit gewidmet als in allen anderen bisher untersuchten Literaturgeschichten. Diese spezielle literaturtheoretische Ausrichtung zeigt sich auch in der Betrachtung der englischen Autoren und ihrer Werke, denn es werden von Seeber und seinen Mitautoren primär diejenigen ausgewählt, die die Auswirkungen der Modernisierung am prägnantesten widerspiegeln. Autor und Werk dienen in diesem Kontext eher als Exempel, wie von Seeber nachfolgend erklärt wird: Der begrenzte Umfang dieses Buches ließ keine ›flächendeckende‹ Darstellung zu, die mit zureichender Ausführlichkeit auf alle jene Werke und Autoren einginge, welche man in einer Literaturgeschichte herkömmlicher Art vielleicht erwarten würde. Die Absicht der Verfasser war es vielmehr, typische Entwicklungen, Gattungen, Wissensbereiche und Autoren beispielhaft herauszuarbeiten und das funktionale Verhältnis von Text und Kontext sichtbar zu machen. Dabei kam es nicht so sehr darauf an, für jede Epoche ein möglichst einheitliches Bild zu entwerfen, sondern gerade auch Konflikte und gegenläufige Strömungen aufzuzeigen. (x)

Selbstverständlich ist in der oben geschilderten Methode der Literaturbetrachtung kein Platz mehr für den Geniegedanken, den Engel gut einhundert Jahre zuvor so vehement vertrat. Auf die Frage, warum im elisabethanischen England in so kurzer Zeit so viele Theaterstücke geschrieben wurden, die noch heute von Bedeutung sind, antwortet Pfister: Die alte Antwort darauf, die des Genies, das als Genie ›not of an age, but for all time‹ sei (Jonson über Shakespeare), überzeugt nicht mehr so recht, weil sie mehr Fragen aufwirft als beantwortet: Warum dann dieses gehäufte Auftreten von Genies zu diesem Zeitpunkt, und warum denn wenden sie sich ausgerechnet dem Theater als ihrem Medium zu? Man muß also wohl doch die historische Situation mitberücksichtigen, die es diesen Autoren ermöglichte, auf der Bühne Probleme darzustellen, die uns heute noch angehen, und sie so darzustellen, daß wir heute noch davon berührt und bewegt werden. (124)

Die Betonung der Bedeutung des außerliterarischen Kontexts bleibt bei der Betrachtung des einzelnen Autors und seiner Werke nicht ohne Folgen. Persönlichkeit und Biographie der englischen Autoren treten völlig in den Hintergrund, da die Modernisierungstheorie das Werk im kulturellen Spannungsfeld sieht. Der 137 Für eine ausführlichere Darlegung der komplexen Modernisierungstheorie vgl. Seeber (2005) und Seeber (2001).

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Die Besonderheiten von Seebers Literaturgeschichte

Autor selbst ist in Seebers Literaturgeschichte nur hinsichtlich seiner persönlichen Einstellung gegenüber den Modernisierungsschüben interessant. Die Werke hingegen sind meist völlig in die Darstellung ihres außerliterarischen Entstehungskontexts eingebunden. In ausführlicher Weise wird die englische Geschichte mit ihren historischen, gesellschaftlichen, geistes-, natur- und sozialwissenschaftlichen Aspekten geschildert, so dass manchmal über viele Seiten hinweg die Literatur gar keine Erwähnung findet. Die Betrachtung der englischen Literatur bildet quantitativ zwar immer noch den Hauptteil von Seebers Literaturgeschichte, die Gesamtdarstellung vermittelt aber eher den Eindruck, eine Kulturgeschichte Englands zu sein, mit besonderem Augenmerk auf der Rolle der Literatur. Dadurch, dass einerseits die Autoren als Person kaum Berücksichtigung finden und andererseits die Werke an den verschiedensten Stellen der Literaturgeschichte in den außerliterarischen Kontext eingebunden sind, ist Seebers Buch kaum als Nachschlagewerk über einen Autor und dessen Oeuvre geeignet, wie es viele der älteren Literaturgeschichten waren und auch sein wollten. Den Literaturgattungen wird in Seebers Literaturgeschichte mehr Aufmerksamkeit gewidmet als den Autoren, was schon allein daran zu erkennen ist, dass sich regelmäßig (aber nicht immer) die Unterabschnitte in den Kapiteln zu einzelnen Epochen einer speziellen Gattung widmen – beispielsweise ›Der Roman des 19. Jahrhunderts‹. Aber auch die Gattungen werden – ebenso wie die einzelnen Werke – immer im Lichte der Modernisierungstheorie gesehen. Dabei wird stets untersucht, welche Entwicklung eine spezifische Gattung durchlaufen hat und welche Rolle sie im gesellschaftlichen Kontext gespielt hat, wie beispielsweise im Unterpunkt ›Das Sonett als Medium politischer Parteinahme‹ (102). An anderer Stelle werden die Gattungen ›Reisebericht‹ und ›Essay‹ exemplarisch herausgegriffen, um ihr Verhältnis zur ökonomischen und territorialen Ausbreitung Englands in der frühen Neuzeit zu untersuchen (84ff.). Dabei wird dann die für Seebers Literaturgeschichte charakteristische Frage gestellt: »Welche Rolle spielen nun Texte in diesem historischen Prozeß?« (85) Als Nebeneffekt dieser Vorgehensweise wird ein Aspekt wie der Imperialismus, der in den früheren Literaturgeschichten meist einen festen Teil der Englishness ausmachte, nur noch im historischen Kontext gesehen und nicht mehr als nationales Charakteristikum. Es wurde schon festgestellt, dass die Biographie der Autoren für die Betrachtung der englischen Literatur in Seebers Literaturgeschichte nahezu ohne Belang ist. Die Werke stehen im Vordergrund des Interesses, da sie als die eigentlichen Gradmesser des Modernisierungsprozesses verstanden werden. Entsprechend wird den auf sie wirkenden gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Einflüssen besonderes Augenmerk geschenkt, genauso wie den Themen und Problemen, derer sie sich annehmen, und ihrem Inhalt, der häufig kurz zusammengefasst und gelegentlich mit Textauszügen belegt wird. Augenfällig ist, dass jene Werke, die zu den sozialen Problemen ihrer Zeit Stellung nehmen, Sozialkritik üben oder aber die gesellschaftlichen Werte und Überzeugungen ihrer Zeit propagieren, in Seebers Literaturgeschichte besondere Aufmerksamkeit erfahren. Zusätzlich zu den

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2. Hans Ulrich Seebers Englische Literaturgeschichte (1991)

Funktionen, die Werke und Gattungen innerhalb des kulturellen Kontexts erfüllen, werden allerdings auch andere Aspekte, wie Gattungskonventionen, Figurenkonstellationen, Erzählweise oder gattungsspezifische Elemente wie der Monolog beleuchtet. Typisch für allgemeinere Angaben, die ganze Gattungen betreffen, sind Abschnitte mit Titeln wie ›Poetik: Normen und Formen‹. Da die Werke und Gattungen in Seebers Literaturgeschichte die Bedeutung der Autoren weit in den Schatten stellen und die Texte einzelner Autoren aufgrund des modernisierungstheoretischen Ansatzes nicht nur an einer Stelle behandelt werden, sondern auch bei Beschäftigung mit anderen Epochen durch ausführliche Querverweise Erwähnung finden, ist eine quantitative Auswertung des Buches hinsichtlich des in ihm vertretenen Kanons extrem schwierig. Zudem wird bei Seeber der alt- und mittelenglischen Literatur sehr viel weniger Platz eingeräumt als in den zuvor untersuchten Literaturgeschichten; auch hierdurch ergibt sich eine andere Struktur des Kanons. Die genannten Faktoren machen den Autorenkanon Seebers schlecht vergleichbar mit dem anderer Literaturgeschichten. Einige Feststellungen lassen sich aber trotzdem treffen. So ist die Breite des von Seeber und seinen Mitautoren gewählten Literaturbegriffs durch die verwendete Methodik geprägt: Da nahezu sämtliche Bereich des kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Lebens ausführlich berücksichtigt werden, finden sich im Kanon auch Philosophen, Politiker, Historiker, Literaturkritiker und selbst Naturwissenschaftler. Auch wird regelmäßig auf europäische Einflüsse auf die englische Literatur, zum Beispiel durch deutsche und französische Autoren und Philosophen oder aber antike Denker und Literaten, verwiesen. Die Breite des Literaturbegriffs ist damit dem ähnlich, der in der englischen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung Verwendung findet. Aufgrund der oben angeführten Faktoren lässt sich die quantitative Zusammensetzung des von Seeber präsentierten Kanons nicht exakt bestimmen. Folglich muss an dieser Stelle auch auf eine akkurate Unterteilung in Spitzenkanon und die anderen drei Hierarchieebenen verzichtet werden. Sehr ausführlich befassen sich Seeber und seine Mitautoren mit gut dreißig englischen Literaten. Unter diesen werden Shakespeare und Swift noch einmal besonders intensiv betrachtet, so dass es sich bei ihnen um die Spitzenautoren handelt. Die besondere Beachtung Swifts und seiner satirischen Werke steht in sehr deutlichem Einklang mit den Grundannahmen von Seebers Literaturgeschichte zu den gesellschaftskritischen Funktionen von Literatur: Swifts erstmalige Verortung im Spitzenkanon ist damit eine direkte Folge des theoretischen Ansatzes, der von Seeber und seinen Mitautoren gewählt wurde. Das stellt einen interessanten Beleg dafür dar, dass die Zusammensetzung des Kanons zumindest zum Teil vom jeweiligen ›Blickwinkel‹ der Verfasser einer Literarhistorie abhängt. Ansonsten finden sich in dieser Spitzengruppe viele derjenigen Autoren, die auch in früheren Literaturgeschichten im Spitzen- und Umgebungskanon anzutreffen sind, wie beispielsweise Milton, Byron, Pope, Shelley und Dickens. Geoffrey Chaucer gehört aufgrund der relativ kurzen Betrachtung der mittelenglischen Literatur nicht mehr zur Spitzengruppe.

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Die Besonderheiten von Seebers Literaturgeschichte

Dafür finden sich dort einige Autoren des 20. Jahrhunderts wie T. S. Eliot, James Joyce und William Butler Yeats sowie Autoren, deren Bedeutung im Lauf der Zeit stetig zugenommen hat, wie Jane Austen und John Donne. Eine zweite Gruppe findet immer noch vergleichsweise viel Beachtung und umfasst gut fünfzig Autoren. Zu ihnen gehören beispielsweise Kipling, Marlowe, Charlotte und Emily Brontë, der amerikanisch-stämmige Henry James, der Naturwissenschaftler Sir Isaac Newton sowie der aus der Spitzengruppe abgestiegene Chaucer. Vergleichsweise wenig Raum wird einer dritten Gruppe von Autoren gewidmet, die bei Seeber etwa 110 Literaten beinhaltet. Hier finden sich beispielsweise Herbert Spenser, Robert Burns, E. M. Forster, Benjamin Disraeli, der Naturwissenschaftler Charles Darwin und der Historiker Macaulay. Die etwa 300 Autoren der vierten Gruppe werden lediglich genannt und dienen vorrangig als ergänzende Beispiele für den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel, der in den einzelnen Epochen beschrieben wird. An der Zusammensetzung des Kanons in Seebers Literaturgeschichte zeigt sich recht deutlich die Breite des von ihm und seinen Mitautoren verwendeten Literaturbegriffs, die wiederum eine Folge der die gesamte Gesellschaft betrachtenden Modernisierungstheorie ist. Genauso wie der Kanon ist auch die Einteilung der Gesamtheit der englischen Literatur in Epochen von dieser Theorie geprägt, wodurch die Periodisierung in Seebers Literaturgeschichte recht andersartig ausfällt als in anderen Geschichten der englischen Literatur. Zunächst thematisiert Pfister das Grundproblem der Periodisierung, das alle Literaturgeschichten betrifft, wie folgt: Jedes Erzählen einer Geschichte ist darauf angewiesen, Phasen zu bilden und Einschnitte zu setzen, mit denen der Erzähler seine Geschichte nicht nur übersichtlicher gestalten, sondern ihr auch einen bestimmten Sinn, eine bestimmte Zielrichtung, unterlegen will. Dies gilt auch für die Geschichtsschreibung und deren Sonderfall, die Literaturgeschichtsschreibung. (43)

Und später erklärt Schmidt die Funktionen, die Epocheneinteilungen üblicherweise innerhalb der Literaturgeschichte haben, macht aber auch gleichzeitig auf deren Willkürlichkeit aufmerksam: Periodisierungen [erfüllen] eine wesentliche Verständnisfunktion, da sie – wie auch immer idealisierend – das Neue vor der Folie der vorausgegangenen und nachfolgenden Ära stärker konturieren, als dies ein auf historische Kontinuität ausgerichtetes Literaturverständnis erlauben würde. Auch können sie etwas von der Eigeneinschätzung einer jeweiligen Epoche mitteilen und werden so selbst zu Erklärungsbestandteilen von Geschichte und Literaturgeschichte. (149)

Epochen sind meist Konstrukte, die erst aus der Rückschau erstellt werden können. Wie wichtig der zeitliche Abstand ist, um überhaupt das Vorhandensein einer spezifischen Periode künstlerischen Schaffens von mehr oder weniger ähnlicher Art definieren zu können, zeigt folgende Bemerkung Seebers zur Romantik:

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2. Hans Ulrich Seebers Englische Literaturgeschichte (1991) Epochale Geschlossenheit nimmt mit der zeitlichen Entfernung zu. Die zwischen dem Erscheinen der programmatischen, von Wordsworth und Coleridge herausgegebenen Lyrical Ballads (1798) und dem Tode Walter Scotts (1832) geschriebene Literatur brauchte recht lange, bis sie auch in der englischen Literaturgeschichtsschreibung dem zusammenfassenden Begriff Romantik unterstellt wurde. (223)

Gleichzeitig macht Seeber mit obiger Bemerkung auf die Unterschiede zwischen deutscher und englischer Literaturgeschichtsschreibung aufmerksam, denn in der deutschen Tradition setzte sich der Begriff der Romantik sehr schnell durch. Auch Pfister nimmt zum literaturwissenschaftlichen Grundproblem der nachträglichen Konstruktion von Epochen und Begriffen Stellung: Die Literaturgeschichtsschreibung bedient sich immer wieder Begriffe, die erst im Nachhinein geprägt wurden, kohärenz- und sinnstiftende Konstruktionen, die den beschriebenen Autoren selbst noch nicht zur Verfügung standen. Nicht einmal Wordsworth, Coleridge, Shelley, Byron und Keats wußten, daß sie ›Romantiker‹ waren. (103)

Auch wenn – wie beispielsweise bei den oben genannten Autoren – den Menschen einer Zeit oftmals nicht bewusst ist, dass sie in einer spezifischen Epoche leben, deren Name und Charakteristika meist erst sehr viel später definiert werden, verfügen sie doch über ein Bild von sich selbst und davon, was für sie in ihrem eigenen kulturellen und historischen Umfeld von Bedeutung ist. Dieses Selbstbild muss nicht immer dem entsprechen, was spätere Generationen für charakteristisch für diese Epoche halten, wie Pfister ausführt: Das Selbstbild einer Epoche unterscheidet sich oft erheblich von dem Bild, das sich spätere Epochen von ihr machen. Während unser Bild der elisabethanischen Literatur ganz im Zeichen von Lyrik und Dramatik steht, stellten innerhalb des Literatursystems der Zeit selbst nicht diese, sondern das Epos, die umfangreiche Verserzählung, den Gipfel der Gattungspyramide und damit das höchste Ziel dichterischer Ambition dar. (107)

Die Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdbild einer Epoche sowie die nachträgliche Definition der Epochenbegriffe und -charakteristika unterstreichen den Konstruktcharakter von Literaturgeschichte. Indem sie ihre Leser auf diese Faktoren aufmerksam machen, schärfen Seeber und seine Mitautoren das Bewusstsein der Rezipienten für diese Grundprobleme der Literaturgeschichtsschreibung. Allein aus praktischen Gründen – nämlich zur Übersichtlichkeit und besseren Memorierbarkeit – wird die Literaturwissenschaft nicht ohne Perioden auskommen können. Aber es ist dennoch wichtig, den Lesern klar zu machen, dass die Epochen, wie sie in Literaturgeschichten dargestellt werden, erst in der historischen Rückschau als sinnvolle, mehr oder weniger konsistente Zeitabschnitte definiert wurden.138 Und genau das tut Seebers Literaturgeschichte. 138 Zum Problem der Periodisierung vgl. Broich (1993), Herzog/Koselleck (1987), Gumbrecht/Link-Heer (1985), Steinwachs (1985), und Brunkhorst (1981).

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Die Darstellung von Englishness bei Seeber

Im Falle von Seebers Literaturgeschichte wird die englische Literatur in insgesamt sieben zeitliche Abschnitte unterteilt: ›Altenglische Literatur‹, ›Mittelenglische Literatur‹, ›Die frühe Neuzeit: Von Morus bis Milton‹, ›Von der Restauration zur Vorromantik‹, ›Romantik und viktorianische Zeit‹, ›Vormoderne und Moderne‹ und ›Die Zeit nach 1945‹. In einem zusätzlichen Abschnitt mit dem Titel ›Commonwealth-Literatur‹ wird die englischsprachige Literatur der nachkolonialen Zeit untersucht. Wie an den Bezeichnungen der einzelnen Epochen zu erkennen ist, wählen Seeber et al. einen gänzlich anderen Ansatz als beispielsweise Standop/Mertner. Das ist den Autoren auch bewusst, erklärt Pfister doch: Indem wir die etwa einhundertfünfzig Jahre vom frühen 16. Jahrhundert bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts als eine Periode zusammenfassen, weichen wir erheblich von den eingespielten Konventionen traditioneller englischer Literaturgeschichtsschreibung ab und erzählen damit auch eine andere Geschichte. Traditionellerweise wird unser Zeitraum nämlich in zwei oder drei Perioden eingeteilt, seien diese der politischen Geschichte – Tudor (1485–1603), Stuart (1603–1649), Bürgerkrieg und Commonwealth (1642–1660) – oder der Geistes- und Stilgeschichte – Renaissance (16. Jahrhundert) und Barock (erste Hälfte des 17. Jahrhunderts) – entnommen, oder aber literaturhistorisch aus der zentralen Stellung Shakespeares in diesem Zeitraum […] abgeleitet. (44)

Dass die beiden frühesten Epochen, die der alt- und mittelenglischen Literatur, von den von Pfister konstatierten Abweichungen von der Tradition der Literaturgeschichtsschreibung nicht betroffen sind, liegt daran, dass Westeuropa sich erst etwa ab der Renaissance in einem dynamischen Modernisierungsprozess befindet (vgl. Seeber 2001: 451). Das ist auch einer der Gründe dafür, dass diese beiden Epochen nicht die intensive Aufmerksamkeit erhalten, wie sie den späteren, für die Modernisierungstheorie interessanten, Perioden zuteil wird.139 Die Darstellung von Englishness bei Seeber Seebers Literaturgeschichte ist – ganz im Gegensatz zu vielen anderen untersuchten Werken – keine Fundgrube für Eigenschaften, die den Engländern zeitüberdauernd zugeschrieben werden. Bedingt durch den methodischen Ansatz der Modernisierungstheorie fallen die Persönlichkeiten der englischen Autoren, die vorher oft zum Nachweis englischer Eigenschaften herangezogen wurden, hier völlig weg, da der Fokus auf den Werken und nicht auf der Autorenbiographie liegt. Aber auch bei der Betrachtung der Werke stehen die epochenspezifischen gesellschaftlichen Spannungen, die sich aus dem Für und Wider der Modernisierung ergeben, im Vordergrund, so dass Merkmale, die ein englisches literarisches Werk aufweisen mag, auf den jeweiligen Zeitgeist zurückgeführt werden können. Hinzu kommt das gesteigerte Bewusstsein für die mannigfaltigen Probleme der Literaturwissenschaft. Da sich Seeber et al. über die subjektive und konstruktive Natur der Literaturgeschichtsschreibung im Klaren sind, nehmen sie von direkten 139 Weitere Gründe werden an späterer Stelle noch erläutert.

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2. Hans Ulrich Seebers Englische Literaturgeschichte (1991)

Eigenschaftszuschreibungen Abstand. Entsprechend finden sich in Seebers Literaturgeschichte nur wenige Hinweise darauf, ob die Verfasser ein Englandbild vertreten und wie dieses aussieht. Das englische Nationalbewusstsein wird bei Seeber noch am häufigsten thematisiert, aber in seinen Manifestationen meist in einen kulturellen, epochenspezifischen Kontext gestellt. Ein erstes Erstarken des Nationalbewusstseins erkennt Stephan Kohl in den Jahrhunderten nach der normannischen Invasion: Der Weg zur Englischsprachigkeit der Oberschicht setzt mit Johann ›Ohnelands‹ (1199–1216) Verlust der Normandie (1204) ein, die den Adel in England vor die Wahl zwischen Landbesitz entweder in ihrem Herkunftsland oder auf der Insel stellt. In der Folge der sich daraus ergebenden Trennung entwickelt sich im Insel-Adel allmählich ein Wir-Gefühl der ›Englishness‹, als dessen erste Regung der Aufstand der Barone von 1258 gegen die starke kontinental-französische Präsenz am Hof identifiziert wird. (20)

Es ist interessant, dass Kohl im obigen Zitat mit dem Begriff ›Englishness‹ arbeitet. Anders als diese Arbeit versteht er darunter allerdings kein für die englische Mentalität charakteristisches ›Bündel‹ von Eigenschaften, sondern das Bewusstsein, Engländer zu sein. Der nächste Beleg für das Vorhandensein eines englischen Nationalbewusstseins findet sich in Pfisters Abschnitt über die Frühe Neuzeit. Hier ist das Nationalbewusstsein aber nicht von selbst im englischen Charakter aufgekeimt, sondern beruht – nach Pfisters Darstellung – überwiegend auf der Selbstdarstellung der Herrscher als Inkarnation des Staates: Zwei der fünf Tudorregenten beherrschen diese Kunst des ›politischen Bodybuilding‹, der Inszenierung der eigenen Person als Verkörperung des Gemeinwesens, in besonders herausragender Weise: Heinrich VIII. und Elisabeth. Wie erfolgreich sie dabei sind, läßt sich nicht nur an ihrer zeitgenössischen Wirkung ablesen; sie gehören auch heute noch zu jenem exklusiven Pantheon mythisierter englischer Herrscher, die als Inkarnation ureigensten nationalen Wesens und als Symbolfiguren eines ursprünglichen Merry Old England jedem Schulkind gegenwärtig gemacht werden. (48f.)

Der Monarch als Sinnbild der Nation und als Identifikationsfigur des englischen Selbstbewusstseins ist folglich ein Konstrukt der Herrschenden selbst, das bis in unsere Zeit nachwirkt. Dabei spielte die Literatur eine entscheidende Rolle – Pfister nennt in diesem Zusammenhang beispielsweise die Werke Roger Aschams und Edmund Spensers (49). Die Historiographie jener Zeit war sogar nur zu dem Zweck in Auftrag gegeben worden, um den Tudor-Mythos zu konstruieren. Die Gründe hierfür erläutert Pfister wie folgt: »Gemeinsame Funktionen dieser mythischen Konstruktion von Nationalgeschichte sind die heilsgeschichtliche Überhöhung der Tudorherrschaft, die Schaffung und Verklärung patriotischer Gefühle einer nationalen Identität und schließlich die Legitimation protestantischer Reform und Autonomie« (60). Aber die Historiographie bildete durch ihre begrenzte Verbreitung nur ein unzureichendes Instrument für die »nationalstaatlich-patriotischen Intentionen der Tudorherrschaft« (63). Viel wichtiger wurden beispielsweise die

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Die Darstellung von Englishness bei Seeber

Dramen Thomas Nortons und Thomas Sackvilles sowie die history plays, wie Pfister erklärt: Bedeutsamer noch für die literarische Vermittlung eines historischen und nationalen Selbstverständnisses wird jedoch das Drama, und dies allein schon deshalb, weil das Medium des Theaters, wie die Predigt, auch jene breiten Bevölkerungsschichten erreichen kann, die des Lesens nicht kundig sind. (61)

Und besonders Shakespeares Historien trugen laut Pfister das Ihrige dazu bei, das Nationalbewusstsein der Engländer zu formen: »Man hat […], oft mit einem patriotischen Unter- oder Brustton, England als den eigentlichen, den heimlichen Helden der Historien bezeichnet. Darin ist manches Wahre, doch muß man mit Blick auf die einzelnen Stücke und die Entwicklung des Genres differenzieren« (130f.). Damit ist nach Pfisters Verständnis das englische Nationalbewusstsein das Produkt einer aktiven Konstruktion, die von den Tudor-Herrschern initiiert und von der Literatur erzeugt oder doch zumindest entscheidend unterstützt wurde. Ohne die Literatur wäre die bewusste Etablierung eines starken Nationalbewusstseins in England folglich nur schwer möglich gewesen. Seeber sieht die englische Literatur auch für den Imperialismus in einer Schlüsselrolle bei der Befürwortung, Verbreitung und Rechtfertigung kolonialistischer Ideen. In der Epoche ›Vormoderne und Moderne‹ widmet er einen Abschnitt dem Thema ›Literatur und Imperialismus‹: Schon immer beruhte die Kolonialpolitik auf der Überzeugung, daß Weiße, zumal Briten, allen anderen Rassen überlegen seien. Ihre Pflicht sei es deshalb, den dunklen Orten dieser Welt durch Handel und Mission, notfalls auch durch militärische Gewaltanwendung, das Licht der Zivilisation zu bringen. Macaulay erklärt unverblümt: ›A single shelf of a good European library is worth the whole native literature in India and Arabia.‹ (310)

Als Repräsentanten der imperialen Idee nennt Seeber exemplarisch Frederick Marryat, Rider Haggard und Rudyard Kipling. Im Gegensatz zum Nationalbewusstsein wird der Imperialismus zwar nicht als intentionale Beeinflussung des englischen Selbstverständnisses dargestellt, aber er erscheint auch nicht als inhärenter Aspekt von Englishness. Vielmehr beschreibt Seeber den Imperialismus als Ausdruck einer kulturellen Epoche. Das englische Selbstverständnis zeigt sich im frühen 20. Jahrhundert für Seeber so deutlich, das er einen Abschnitt mit ›Englishness als Weg ins 20. Jahrhundert‹ betitelt. In diesem Abschnitt beschreibt Seeber die literarischen Ausprägungen dieser Englishness wie folgt: Sprache, Landschaft, Geschichte und Mythos der Werke einiger Versemacher des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts wie Hopkins, Hardy, Housman und Edward Thomas nehmen auffällig englische Züge an. Statt wie Swinburne oder Browning die Renaissance oder griechische Mythen zu bemühen, bewirken Regionalismus, Patriotismus und Historismus, daß man nicht nur Chaucer (Morris) und die König-Arthur-Legende (Tennyson u. a.), sondern auch die englische Landschaft, teilweise pastoral verwandelt (Housman), die

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2. Hans Ulrich Seebers Englische Literaturgeschichte (1991) englische Provinzkultur (Hardy) und sogar die alliterierende Versdichtung der alten Angelsachsen als Ausdrucksmaterial und Quellen der Erneuerung verwertet. Unter dem Einfluß viktorianischer Philologen meidet Hopkins Wörter lateinischer oder französischer Herkunft. Ein derartiges Bündnis zwischen Poesie und englischer kultureller Identität ist freilich nichts Neues. Hatte es bei Edmund Spenser und noch bei James Thomson die Bildung einer nationalen Identität und damit den Modernisierungsvorgang gefördert, so geht es jetzt eher darum, den auch am Zustand des Ichs ablesbaren kulturellen Verschleißund Zerfallserscheinungen poetisch entgegenzuwirken. (303)

Erneut wird deutlich, dass Seeber et al. unter Englishness wohl ausschließlich das nach außen hin betonte Selbstbewusstsein der Engländer verstehen, aus England zu kommen und Engländer zu sein.140 Bestimmte Eigenschaften sind nicht an diese Auffassung von Englishness geknüpft. Wiederum wird aber die Vorreiterrolle der Literatur bei Bemühungen um eine kollektive Identitätsstiftung deutlich, einer Literatur, die auf die durch die Modernisierung entstehenden Spannungen reagiert. Ganz ähnlich wie der Imperialismus treten auch andere Charakteristika, die in vielen der zuvor untersuchten Literaturgeschichten als Eigenschaften von Englishness identifiziert werden konnten, in Seebers Buch lediglich punktuell in Erscheinung und werden nicht als ›typisch englisch‹ kenntlich gemacht. Beispielsweise findet Pfister nur im 16. Jahrhundert die eng mit dem Nationalbewusstsein zusammenhängende Angst vor zu starken äußeren Einflüssen, die sich in der Brandmarkung des ›Italianate Englishman‹ bei Ascham (67) sowie in allgemeinen Versuchen, die »Überfremdung des Englischen einzudämmen« (83), bemerkbar macht. Auch das Nützlichkeitsdenken, das noch bei Standop/Mertner von Bedeutung ist, bleibt bei Seebers Literaturgeschichte vorrangig auf die Renaissance und die Aufklärung beschränkt. Für das 16. Jahrhundert erklärt Pfister: Selbst so theoretische Wissenschaften wie Astronomie oder die Mathematik sind auf die praktischen Bedürfnisse einer expandierenden Ökonomie bezogen, ermöglichen sie doch genauere Methoden der Kartographie, der Navigation, der Zeitmessung oder der Buchhaltung: Nützlichkeit ist die Devise, und selbst Marlowes Doctor Faustus (um 1594) will nicht einfach wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, sondern er will auch dieses Wissen in nützliche projects umsetzen und damit Macht für sich und die Fürsten, in deren Dienst er sich stellt, gewinnen. Unter dem Diktat der Nützlichkeit, des Nutzens für die Gesellschaft, steht auch die Wissenschaftsprogrammatik Francis Bacons (1561–1626). (71)

Pfister markiert im obigen Textauszug das Nützlichkeitsdenken deutlich als eines der Merkmale der Renaissance. Genauso erkennt Schmidt für die Aufklärung

140 Dafür scheint nach Meinung von Seeber et al. auch die englische Landschaft von großer Bedeutung zu sein, was wieder auf ein spezifisch englisches Naturgefühl schließen lässt.

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Die Darstellung von Englishness bei Seeber

noch einmal einen Anspruch der Engländer, literarische Werke wie Handbücher und Lexika in den Dienst der Gesellschaft zu stellen: Diese Gebrauchsliteratur kann keineswegs von der Schönen Literatur abgelöst betrachtet werden: Allein Werke wie Robinson Crusoe und Gulliver’s Travels sind nicht nur mit Bezügen zu praktischem Wissen geradezu angefüllt, in ihrem schnörkellosen Duktus stellen sie selbst eine Art von ökonomischer bzw. ethisch-satirischer ›Gebrauchsliteratur‹ dar. (160)

Zwar scheint das Nützlichkeitsdenken in der Aufklärung enorme Bedeutung zu haben, wenn sogar Klassiker der englischen Literatur als ›Gebrauchsliteratur‹ bezeichnet werden können, dennoch handelt es sich nur um ein temporäres, epochenspezifisches Charakteristikum der englischen Kultur. Ein anderes Beispiel dafür, wie Seeber et al. mit Eigenschaftszuschreibungen umgehen, findet sich in der Beschreibung der viktorianischen Epoche durch Seeber, der erklärt: »Ernsthaftigkeit und ausgeprägtes moralisches Bewußtsein, das freilich leicht in Heuchelei umschlägt, gehören sicherlich zu den kennzeichnenden Merkmalen dieser viktorianischen Epoche, die politisch und offiziell erst mit dem Tod der Königin Viktoria (1901) zu Ende ist« (223). Auch hier werden Eigenschaften – Ernsthaftigkeit, moralisches Bewusstsein und zuweilen Heuchelei – ganz als Folge der gesellschaftlichen Zustände einer Epoche gesehen und nicht etwa als konstante Aspekte von Englishness. Obwohl der Großteil der in Seebers Literaturgeschichte gefundenen Belege für Englishness durch den kulturellen und gesellschaftlichen Kontext erklärt werden, finden sich doch einige Hinweise darauf, dass Seeber und seine Mitautoren auch von konstanten Charakteristika der Engländer ausgehen. Das zeigt sich z. B. in einem Kommentar Schmidts zu Oliver Goldsmith: In Dichtung und Wahrheit rühmt Goethe die typisch englische Verbindung bürgerlicher Sphäre in all ihren idyllischen Aspekten mit der Erfahrungswelt, was nichts anderes bedeutet, als daß Goldsmith die Versammlung der Familie um ›a chearful fire-side‹ zum nur mild ironisierten Modell gesellschaftlicher Erfüllung zu gestalten verstand. (194)

Kann im obigen Beispiel noch argumentiert werden, dass nicht Schmidt, sondern Goethe den Stil Goldsmiths als beispielhaft für England sieht, erklären Seeber et al. im nächsten Beispiel unmissverständlich selbst, dass sie in England einen spezifischen Lebensstil erkennen. Hinsichtlich der zahlreichen Probleme Englands nach dem Zweiten Weltkrieg schreiben sie nämlich: »Dennoch wäre es falsch, ein Bild der Trübsal zu zeichnen. Großbritannien hat trotz aller Modernisierungsschübe und Konflikte das Lachen nicht verlernt. Die humane Kultur der Pubs und der Colleges prägt nach wie vor den spezifischen Lebensstil der Insel in beträchtlichem Maße« (353). Auffällig ist an diesem Textauszug, dass Seeber et al. nicht mehr nur von England, sondern von Großbritannien sprechen – die Definition schließt also nun auch alle anderen Bewohner der Insel mit ein. Diese Ausweitung des Begriffs der Englishness auf den der Britishness zeigt sich auch, wenn die Verfasser auf das Selbstbild der Briten zu sprechen kommen, denn dieses wird

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2. Hans Ulrich Seebers Englische Literaturgeschichte (1991)

beschrieben als geprägt von der »beeindruckend vitalen Tradition kultureller Selbstwahrnehmung, die dem britischen Leben eine ganz eigene Note verleiht, zugleich aber auch die Gefahr der Erstarrung und der Schablonenhaftigkeit in sich birgt« (352). Die Autoren von Seebers Literaturgeschichte verfügen also offenbar über ein Fremdbild der Briten, halten sich aber mit Eigenschaftszuschreibungen derart zurück, dass dem Rezipienten kein ausdifferenziertes Bild von Englishness oder Britishness präsentiert wird. Zwischenfazit Seebers Literaturgeschichte vermittelt kein inhaltlich klar konturiertes Bild von Englishness, da durch die differenzierte Untersuchung der epochenspezifischen Spannungsverhältnisse nahezu sämtliche Eigenschaften – wenn sie denn in Erscheinung treten – lediglich als typisch für eine Periode identifiziert werden können, nicht aber als charakteristisch für England oder die Engländer insgesamt. Die Autoren selbst fallen als potentielle Repräsentanten von Englishness weg, weil sie so gut wie nie als Person betrachtet werden. Und ihre Werke sind derart in die gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen eingebunden, dass auch sie in der Regel keine inhärenten Eigenschaften von Englishness aufweisen können. Seeber et al. verzichten also einerseits weitestgehend auf eine Feststellung typisch englischer Merkmale, zeigen dafür aber andererseits ein äußerst ausgeprägtes Bewusstsein für die verschiedenen Grundprobleme der Literaturgeschichtsschreibung und für den Konstruktcharakter von Englishness. Es ist sicherlich kein Zufall, dass in Seebers Literaturgeschichte die Eigenschaftszuschreibungen abnehmen und zugleich das Theoriebewusstsein zunimmt – das wachsende Bewusstsein für den Konstruktcharakter von Literaturgeschichte hält Seeber et al. davon ab, ihren Lesern ein eindeutiges Bild der Engländer zu vermitteln. Zwei weitere Beobachtungen, die die Wissenschaftsgeschichte betreffen, konnten anhand der Literaturgeschichte Seebers gemacht werden. Zum einen hat sich bis zum Erscheinen der Literaturgeschichte im Jahr 1991 das Interesse an der postkolonialen Literatur Großbritanniens derart verstärkt, dass Seeber et al. es für geboten erachten, diese Literatur in einem eigenen Kapitel zu betrachten. Dies legt Seeber auch in seinem Vorwort dar: »Die Wichtigkeit der englischsprachigen Commonwealth-Literatur und deren vielfältige Wechselwirkung mit der literarischen Kultur der Insel sind so auffällig, daß ihr das abschließende Kapitel dieses Buches gewidmet wird« (x). Die Einbeziehung der Commonwealth-Literatur in Seebers Literaturgeschichte erinnert an die Literaturgeschichten Engels und Weisers. Beide hatten in einem Anhang die amerikanische Literatur als zunehmend eigenständigen Teil der englischen Literatur betrachtet. Heute werden der amerikanischen Literatur selbstverständlich eigene Literarhistorien gewidmet; dafür erscheinen die Literaturen der früheren britischen Kolonien, die in den letzten sechzig Jahren ihre Unabhängigkeit errangen, bei Seeber als ›Anhang‹ zur englischen Literatur. Aber die zunehmende Wichtigkeit der Postcolonial Studies auch

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Zwischenfazit

in der deutschen Anglistik deutet schon an, dass dies nicht lange so bleiben sollte. Zahlreiche Literaturgeschichten zu einigen der ehemaligen Kolonien sind schon vor Seebers Buch erschienen, und wie die amerikanische Literatur werden in einigen Jahrzehnten vermutlich auch die Literaturen aller ehemaligen britischen Kolonien völlig selbstverständlich in eigenen Literaturgeschichten behandelt werden – zu Australien, Kanada und Südafrika gibt es sie schon.141 Die andere Beobachtung, die für die Betrachtung des letzten Analysekapitels dieser Arbeit im Hinterkopf behalten werden sollte, ist der Umstand, dass die altund mittelenglische Literatur in Seebers Literaturgeschichte auf vergleichsweise wenig Raum untersucht wird. Auf gerade einmal 42 Seiten wird ein Zeitraum von fast eintausend Jahren abgehandelt, was von Seeber im Vorwort folgendermaßen begründet wird: Der Zwang zur Beschränkung und die Erfahrung, daß viele frühe englische Texte nicht in gleicher Weise in einem lebendigen, auf die Gegenwart bezogenen Traditionszusammenhang stehen wie etwa die Werke von Shakespeare oder Morus, führte dazu, den Anteil der Literatur vor 1500 drastisch zu kürzen. (x)

Der hier zu beobachtende Bedeutungsverlust der Mediävistik ist nicht nur auf die Literaturgeschichte Seebers beschränkt, wie im folgenden Kapitel noch demonstriert werden wird. Die beiden letzten Punkte zeigen gemeinsam mit dem schon genannten wachsenden Bewusstsein für die Grundprobleme der Literaturwissenschaft, dass Literaturgeschichten ein exzellenter Indikator für Veränderungen innerhalb der Anglistik sein können.

141 Zur australischen Literatur vgl. Samuels (2001), Hergenhan (1988), Green (1961) und Schulz (1960); zur australischen/neuseeländischen Literatur vgl. Wilkes/Reid (1970), zur kanadischen vgl. Klinck (1965), zur südafrikanischen vgl. Reckwitz et al. (1997) und zur karibischen vgl. Arnold (2001).

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3. Die Geschichte der englischen Literatur (2004): von Peter Erlebach, Bernhard Reitz und Thomas Michael Stein Literaturgeschichte als Gattungsgeschichte

Eine der neuesten deutschen Geschichten englischer Literatur ist die von den drei Autoren Peter Erlebach, Bernhard Reitz und Thomas Michael Stein im Jahr 2004 bei Reclam veröffentlichte Geschichte der englischen Literatur. Wie schon bei den Literarhistorien von Standop/Mertner und Seeber haben sich bei diesem Werk mehrere Autoren zusammengetan, um arbeitsteilig eine Gesamtdarstellung der englischen Literatur zu erstellen. Jeweils einer der Autoren ist dabei für einen der drei Gattungsüberblicke verantwortlich: Die Darstellung der Lyrik verfasste Peter Erlebach, die des Dramas Bernhard Reitz und die der Prosa Peter Michael Stein. Die Epochen der alt- und mittelenglischen Literatur wurden von Erlebach und Stein gemeinsam bearbeitet.142 In dem primär an Schüler und Studenten gerichteten Werk gehen die Autoren – neben der Betrachtung der englischen Literatur – auch auf einige der Grundprobleme der Literaturgeschichtsschreibung ein. So üben Erlebach, Reitz und Stein – wie zuvor Seeber – Kritik am Begriff ›englische Literaturgeschichte‹ und weisen auf die mannigfaltigen europäischen Einflüsse sowie auf den Einschluss irischer, schottischer und walisischer Autoren hin. Sie sehen den Versuch einer definitorischen Abgrenzung einer Literatur als grundsätzlich problematisch, wie sie in ihrem Vorwort erklären: Der Versuch, die Geschichte einer Nationalliteratur nachzuzeichnen, mag anachronistisch erscheinen. Nicht erst im Zeitalter des Internet hat sich die Literatur der Festlegung auf nationale Grenzen, seien sie geographisch oder kulturtheoretisch definiert, entzogen. Wo eine solche Grenzziehung versucht wurde, war sie, wie im 19. Jahrhundert bis hin zum Zweiten Weltkrieg, stets politisch motiviert und konnte keiner Überprüfung standhalten. (11)

Mit obiger Bemerkung verweisen Erlebach et al. auf die in dieser Arbeit schon verschiedentlich nachgewiesene Funktionalisierung von Literaturgeschichten zur Schaffung einer nationalen Identität und zum Transport von Ideologie. Zu den Schwierigkeiten, die englische Literatur als völlig eigenständige Entität zu sehen, schreiben Erlebach et al. weiter: Auch die englische Literatur lässt sich nicht ›national‹ abgrenzen. Bereits die englische Literatur des Mittelalters hatte Teil an grenzübergreifenden, zu142 Für eine Rezension der Reclam-Literaturgeschichte vgl. Scheunemann (2006).

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3. Die Geschichte der englischen Literatur (2004) nächst germanischen, dann christlichen Wertvorstellungen. Zur Zeit der Renaissance waren die englischen Autoren nicht außerhalb, sondern Teil der humanistischen Erneuerung Europas, und im Gefolge der Restauration waren es, wie schon nach der normannischen Eroberung, vor allem französische Einflüsse, die in die englische Literatur Eingang fanden. In jüngster Zeit haben vor allem in ihrer Biographie auf Großbritanniens koloniale und postkoloniale Geschichte zurückverweisende Autorinnen und Autoren die britische Literatur entscheidend mit geprägt. Ihnen gehen jene voraus, die, nationale Grenzen überschreitend, zur literarischen Umsetzung der ästhetischen Ideale des Klassizismus, der Romantik oder der Moderne beigetragen haben. (11)

Folgt man der obigen Argumentation konsequent, ist es unmöglich, eine Literaturgeschichte welchen Landes auch immer zu schreiben, weil jede Literatur in einem größeren Kontext steht und durch äußere geistesgeschichtliche, ästhetische und gesellschaftliche Strömungen beeinflusst und befruchtet wird. Erlebach et al. haben – entgegen ihrer Argumentation – dennoch eine englische Literaturgeschichte verfasst. Augenfällig ist allerdings, dass die Autoren innerhalb ihrer Darstellung meist von ›britischer Oper‹ oder der ›britischen Theatergeschichte‹ sprechen, und nicht von der ›englischen‹. Damit ziehen sie die Konsequenz aus ihren Ausführungen im Vorwort, denn sie schließen mit der Verwendung des Begriffs ›britisch‹ die irischen, schottischen und walisischen Autoren ein. Allerdings hätten sie angesichts ihrer starken Bedenken gegen den traditionellen Begriff ›englische Literaturgeschichte‹ und ihrer häufigen Verwendung des Adjektivs ›britisch‹ statt ›englisch‹ ihr Buch vielleicht ›Geschichte der britischen Literatur‹ nennen sollen. Mit der Ausweitung des Begriffs ›englisch‹ auf ›britisch‹ geht wohl einher, dass sich Erlebach et al. mit nationalen Eigenschaftszuschreibungen derart zurückhalten, dass in ihrer Literaturgeschichte kein klar konturiertes Fremdbild Englands mehr vermittelt wird. Denn da die Autoren den britischen Charakter der Literatur unterstreichen, indem sie betonen, dass die englische Literatur eben kein geschlossener Organismus sei und zu guten Teilen aus den Werken walisischer, schottischer und irischer Autoren bestehe, verbietet es sich offenbar für sie, Eigenschaften der Engländer zu perpetuieren. Auch andere Verfasser von Literaturgeschichten haben Iren, Schotten und Waliser zur englischen Literatur gezählt. Engel und Meißner hat dies jedoch nicht an der Vermittlung eines Englandbildes gehindert; vielmehr haben sie den Iren, Schotten und Walisern einen eigenen Nationalcharakter zugeschrieben. Bei Erlebach et al. bleibt eine Suche nach Hinweisen auf Englishness hingegen fast völlig ergebnislos. Von den früher als so wichtig erachteten Aspekten wie dem Sinn fürs Praktische, Freiheitsliebe oder Vernunft ist keine Spur mehr zu finden. Und auf den common sense trifft man nur noch ein einziges Mal, bei Chaucers Canterbury Tales: »Ohne explizit didaktische oder moralisierende Intention, sondern mit viel Humor, Ironie und common sense entwirft Chaucer ein realistisches Panorama der Gesellschaft« (65). Lediglich auf das Nationalbewusstsein wird gelegentlich verwiesen, wie beispielsweise bezüglich der altenglischen Chronikdichtung:

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3. Die Geschichte der englischen Literatur (2004) Die Chronikdichtung The Battle of Brunanburh [zeigt] ausgesprochen patriotische Züge. Der Text lässt in der Verwendung überlieferter poetischer Konventionen deutlich die wohl auch propagandistische Absicht erkennen, die militärischen Leistungen der Angelsachsen unter Aethelstan (895–940) in die offensichtlich noch immer geschätzte Tradition der Heldendichtung zu stellen. (28)

Ist obiges Zitat noch ein unrelativierter Hinweis auf englischen Patriotismus, sieht Erlebach in der patriotischen Hymne ›Rule, Britannia‹ des Schotten James Thomson aus dem 18. Jahrhundert nur noch ein epochenspezifisches Merkmal: »Ist die nationale Gesinnung hier Kennzeichen der vorromantischen Inspiration, so wird sie dies erst recht in einer wichtigen Facette der folgenden Romantik, wie etwa in den political sonnets von Wordsworth« (114). Zudem kann der Patriotismus bei Thomson nicht als ›typisch englisch‹ gelten, wenn man die schottische Herkunft des Verfassers sowie die Wortwahl seines Liedes (›Britannia‹!) berücksichtigt. Auch der patriotische Charakter der Sonette Rupert Brookes aus dem Ersten Weltkrieg bleibt von Erlebach nicht unrelativiert. Zwar schildert er diesen in folgenden deutlichen Worten: In St. Paul’s Cathedral als Teil einer Predigt vorgelesen, gab dieses Sonett auch den Patriotismus wieder, den Winston Churchill in der Times pries. Brookes Gedichtsammlung 1914 and Other Poems (1915) mit ähnlichem Tenor war in ihrer Zeit ungeheuer populär, entsprach sie doch edler Gesinnung und nationalem Patriotismus. (206)

Aber Erlebach hält den Sonetten Brookes die entschieden kriegskritischen Gedichte Sassoons und Owens entgegen, so dass der Patriotismus des ersteren nicht unangefochten als typisch für England gelten kann. Sind die obigen Belege für das Nationalbewusstsein als Aspekt von Englishness schon mehr als mager, erfahren sie noch eine zusätzliche Relativierung durch zwei Beispiele für walisisches und schottisches Nationalbewusstsein. Für das walisische Selbstbewusstsein führt Erlebach die Ode The Bard von Thomas Gray an, die »ein beeindruckendes Bild des nationalen Geistes und der Unabhängigkeit« sowie »kraftvolle Bilder der Freiheitsliebe, der nationalen Identität der Waliser« (112) vermittle. Und auch bezüglich einiger Gedichte des Schotten Robert Burns stellt Erlebach eine »eindeutig patriotische Tonlage« (122) fest. Da die Literaturgeschichte von Erlebach et al. ohnehin nur wenige Belege für englisches Nationalbewusstsein enthält und dieses Bewusstsein auch Walisern und Schotten zugestanden wird, entfällt es hier als Aspekt von Englishness. Das ist insofern bemerkenswert, als das Nationalbewusstsein das einzige Merkmal der Englishness war, das in fast allen Literaturgeschichten zuvor als entweder besonders wichtig oder doch zumindest als vorhanden dargestellt wurde. Neben dem common sense und dem Nationalbewusstsein findet noch der Imperialismus Erwähnung in der Reclam-Literaturgeschichte. Auch der Imperialismus spielte in fast allen der früheren Literaturgeschichten eine wichtige Rolle im facettenreichen Bild, das von den Engländern vermittelt wurde. Bei Erlebach et al. ist

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er hingegen nur noch hinsichtlich seiner Bedeutung für die Literatur des 19. Jahrhunderts von größerer Bedeutung. Bezüglich der Werke von Autoren wie Michael Ballantine, George Alfred Henty, Henry Rider Haggard, Rudyard Kipling und Joseph Conrad erklärt Stein: Für die Prosaliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist der imperiale Roman (Fictions of Empire) kennzeichnend. England war auf dem Höhepunkt seiner politischen Macht angelangt und hegte unverhohlen expansionistische Pläne. Insbesondere der afrikanische Kontinent geriet ins Visier einer Hegemonialpolitik, die missionarisch Englishness ausdehnen, sich Rohstoffe aneignen und neue Märkte erschließen wollte. Auch erschien die Expansion als ein geeignetes Mittel, die inneren Spannungen des Landes zu kaschieren und aufkeimende Dekadenzängste zu überwinden. Dass sich der Roman solcher verniedlichend als Interesse am Exotischen bezeichneten Probleme annahm, lag nahe. Allerdings ist zu beachten, dass die Fictions of Empire sich nicht ausnahmslos auf die Apotheose vermeintlicher englischer Größe reduzieren lassen. (619)

Auch wenn im obigen Textauszug sogar davon die Rede ist, dass der englische Imperialismus die Englishness in die Welt hinaustragen wolle, wird diese Bemühung doch als epochenspezifisch dargestellt. Dass beileibe nicht alle Werke der so genannten Fictions of Empire die Verherrlichung ›englischer Größe‹ zum Ziel haben, relativiert den Imperialismus als Aspekt von Englishness noch zusätzlich, so dass er im Endeffekt nicht als fester Bestandteil des englischen Fremdbildes von Erlebach et al. gelten kann. Die Literaturgeschichte von Reclam ist bezüglich der Eigenschaftszuschreibungen folglich noch zurückhaltender als die Seebers. Die Gemeinsamkeiten beider Literaturgeschichten liegen vor allem auf literaturtheoretischem Gebiet. Neben der Kritik am Begriff ›englische Literaturgeschichte‹ verbindet die Werke von Erlebach et al. und Seeber die Thematisierung des für eine zuverlässige geschichtliche Betrachtung unverzichtbaren zeitlichen Abstandes zum Untersuchungsobjekt. Besonders für die in den letzten Jahrzehnten erschienenen Werke ist noch nicht ersichtlich, ob sie in Zukunft zum festen Kanon der Literaturgeschichte gehören werden, wie Reitz bezüglich einer der Strömungen des jüngsten englischen Dramas feststellt: In-yer-face beschreibt zwar einen zentralen Aspekt des britischen Theaters der neunziger Jahre, aber es bleibt fraglich, ob angesichts der sich abzeichnenden individuellen Entwicklungen der Dramatiker damit wirklich eine literaturgeschichtlich zumindest mittelfristig relevante Einordnung gegeben ist. Ebenso muss offen bleiben, ob in den neunziger Jahren neu hervorgetretene Dramatiker wie Nick Grosso, Anthony Neilson, Philip Ridley oder Jez Butterworth wirklich einen dauerhaften Beitrag zum britischen Drama der Gegenwart erbringen und in zukünftigen Literaturgeschichten noch Erwähnung finden werden. (500)143 143 Reitz definiert das in-yer-face theatre folgendermaßen: »In-yer-face theatre ist, auch wenn es geschichtliche Bezüge einschließt, antihistorisches Theater. Wie Howard

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Das gleiche Problem – den fehlenden zeitlichen Abstand, der für eine literaturkritische Bewertung notwendig wäre, – sieht auch Stein für die englische Prosa. Vor allem die Werke ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind für ihn nur schwer hinsichtlich ihrer literarischen Wirksamkeit einzuschätzen und kaum zu gruppieren, wie er im einleitenden Absatz zum Abschnitt ›Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Gegenwart‹ erklärt: Es ist geradezu illusorisch, die Prosa der letzten fünfzig Jahre ohne willkürlich anmutende Rigorosität zu strukturieren. Die ungeheure Formenvielfalt führt zu einem Kaleidoskop von Erzählweisen und neuen Textsorten. Realistisches und experimentelles Erzählen setzen sich fort, während unbekannte, häufig hybride Erzählformen die Palette beträchtlich erweitern. Die Postmoderne hält ihren Einzug in die englische Prosaliteratur. Selbstreflexivität und Metafiktionalität generieren Romanformen wie die metafictional historiography oder die metafictional biography. Der postkoloniale Roman, mit Booker-Preisen reichlich ausgezeichnet […], gewinnt eine Bedeutung, die eine eigene Literaturgeschichte erfordert, weshalb die anfangs unter dem problematischen Sammelbegriff ›ethnische Minoritätenliteratur‹ zusammengefasste Prosa hier ausgeklammert wird und nur die mittlerweile als ›Black British Literature‹ apostrophierten Texte Berücksichtigung finden. Es kommt erschwerend hinzu, dass insbesondere die jüngst publizierte Prosa hinsichtlich ihrer literarischen Meriten schwer einzuschätzen ist. Ihr steht der test of time naturgemäß erst bevor. (651)

Unter der ›Black British Literature‹ versteht Stein die Werke von nach Großbritannien eingewanderten und dort schreibenden Autoren aus der Karibik, aus Afrika und Indien. Da die Vertreter dieser Minderheiten – wie beispielsweise Zadie Smith – sich in ihren Werken auch »an der Konstruktion der nationalen Identität« beteiligen (706), prägen sie auf ihre Weise das Selbstbild Großbritanniens mit. Die Berücksichtigung dieser Gruppe von Autoren ist eine weitere Parallele zur Literaturgeschichte Seebers; und wenn Stein bemerkt, dass der postkoloniale Roman inzwischen eine eigene Literaturgeschichte erfordere, ist das eine Konzession an die in den letzten Jahrzehnten immer wichtiger gewordene CommonwealthLiteratur. Das wird zusätzlich durch den Abschnitt zur ›Lyrik aus dem Commonwealth‹ am Ende der Gattungsgeschichte der Lyrik belegt. Überhaupt widmet sich die Reclam-Literaturgeschichte äußerst ausführlich der Literatur der jüngsten Vergangenheit. Der alt- und mittelenglischen Literatur wird aufgrund dieser Konzentration auf die neuere Literatur vergleichsweise wenig Platz eingeräumt – nämlich insgesamt gut fünfzig Seiten (von 700). Folglich finden auch Werke in lateinischer oder französischer Sprache, die in der alt- und Barker, der Geschichte auf Erfahrungs- anstatt Lernsituationen zurücknimmt, zielt inyer-face auf Konfrontation und will durch schockierende Sprache und Handlungen, die theatergeschichtlich auf Artaud ebenso wie auf Edward Bonds durch Sprach- und Handlungsbilder erzeugten ›aggro-effect‹ zurückverweisen, das Publikum aufrütteln und verstören.« (492)

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mittelenglischen Literatur nicht ohne Bedeutung waren, lediglich am Rande Erwähnung. Die Literatur des 20. Jahrhunderts wird hingegen ausgesprochen breit gewürdigt, und zwar auf insgesamt etwa 260 Seiten, verteilt auf die Gattungen Prosa, Lyrik und Drama. In der Betrachtung dieser neuesten Literatur wird die Zahl der beleuchteten Autoren im Vergleich zu früheren Epochen deutlich größer, da Erlebach et al. aufgrund des fehlenden zeitlichen Abstands noch nicht abschätzen können, welche dieser Literaten sich letztlich als ›literaturgeschichtsfähig‹ erweisen werden, wie es von den Reclam-Autoren in ihrem Vorwort bezeichnet wird: Innerhalb der Gattungsgeschichten haben die Verfasser auch neueste, in Hinblick auf ihre zukünftige ›literaturgeschichtsfähige‹ Bedeutung noch strittige Texte einbezogen. Der Schwerpunkt des Bandes liegt deshalb auch nicht bei der älteren Literatur, sondern bei den gattungsspezifischen Entwicklungen der Neuzeit bis hin zur unmittelbaren Gegenwart. (13)

Ein Alleinstellungsmerkmal der Reclam-Literaturgeschichte ist die Weise, wie die englische Literatur präsentiert wird: Die literarischen Werke ab der Renaissance haben Erlebach et al. nämlich nicht primär chronologisch angeordnet, wie alle zuvor untersuchten Literaturgeschichten dies tun. Vielmehr betrachten die Reclam-Autoren die Gattungen Lyrik, Drama und Prosa getrennt voneinander und verfolgen deren Entwicklung diachron vom 16. Jahrhundert bis in unsere Zeit. In diese Gattungsgeschichte werden dann die individuellen Autoren eingeordnet, und zwar jeweils in diejenige Gattung, die »den Schwerpunkt ihres literarischen Werks bildet« (12). Erlebach et al. erläutern ihr Vorgehen wie folgt: Die Verfasser haben sich dafür entschieden, die Autorinnen und Autoren im Kontext der für sie jeweils repräsentativen Gattung vorzustellen, weshalb es für den Leser lohnend sein mag, nicht nur den individuellen Autorenbeitrag zu lesen, sondern sich auch mit den für das jeweilige Kapitel konstitutiven, übergreifenden gattungsgeschichtlichen Zusammenhängen vertraut zu machen. In einigen Fällen, wofür W. B. Yeats als Beispiel gelten kann, resultiert dies in unvermeidlichen Aufspaltungen. Wer sich allein für den Lyriker Yeats interessiert, wird unter ›Lyrik‹ die gesuchten Informationen finden; wer über Yeats als Dramatiker Auskunft will, findet sie beim ›Drama‹. (12)

Die Verteilung der Werke einzelner Autoren beschränkt sich nicht nur auf die Literaturgattungen, teilweise sind sie auch in den Abschnitten zu mehreren Subgenres zu finden. Die Romane Thackerays sind beispielsweise innerhalb der Gattungsgeschichte des Romans auf die Unterabschnitte ›Der historische Roman‹ und ›Der Gesellschaftsroman‹ verteilt – auf einen einzelnen, umfassenden Autoreneintrag, der alle Werke enthält, wurde zu Gunsten der Gattungs- und Subgattungsdarstellung verzichtet. Die Ordnung nach Literaturgattungen wenden Erlebach et al. jedoch nicht auf die gesamte englische Literatur an. Die alt- und mittelenglische Literatur wird jeweils in einem eigenen Kapitel behandelt und die Werke dieser Zeit werden nicht auf die von Erlebach et al. dargestellten Gattungsgeschichten verteilt. Damit

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stehen sich mit den ersten beiden – chronologisch definierten – Abschnitten der Reclam-Literaturgeschichte und den späteren, diachron die Gattungsgeschichte darstellenden Abschnitten zwei Ordnungssysteme gegenüber. Die Autoren begründen dies wie folgt: Der vorliegende Band beginnt mit einem Überblick über die alt- und mittelenglische Literatur, der aufgrund der vergleichsweise schmalen überlieferten Textgrundlage verdeutlichen soll, welche gattungsübergreifenden Vorstellungen die englische Literatur im Mittelalter geprägt haben. (12)

Dementsprechend behandeln die Abschnitte über alt- und mittelenglische Literatur einzelne Gattungen und unterteilen diese noch einmal in Subgattungen wie beispielsweise ›Balladen‹ und ›politische Lyrik‹. Genau umgekehrt dazu ist innerhalb der Gattungsgeschichten der Zeitraum von der Renaissance bis ins 21. Jahrhundert in Epochen unterteilt, wie Erlebach et al. im Vorwort ausführen: Auch wenn die Geschichte der englischen Literatur gattungsgeschichtlich angelegt ist, verzichtet sie dennoch nicht auf eine an den wesentlichen Entwicklungsphasen der englischen Literatur orientierte Perspektive. Hierfür bietet die Epochengliederung innerhalb der Gattungsgeschichten jenen Lesern, die primär über die Literatur einer Epoche anstatt über eine einzelne Gattung oder einen individuellen Autor Informationen suchen, eine Hilfestellung. (13)

Bei der Epochengliederung bedienen sich Erlebach et al. einer Mischung aus kunsthistorischen, chronologischen und kulturgeschichtlichen Benennungen. Bei der Lyrik etwa finden vorwiegend originär kunsthistorische Bezeichnungen Verwendung, wie beispielsweise ›Renaissance und Frühbarock‹, ›Klassizismus‹ und ›Romantik‹; beim Drama markieren teilweise kulturhistorische Ereignisse den Anfang und das Ende einer Epoche, wie zum Beispiel ›Von der Reformation bis zur Restauration‹, oder die Epocheneinteilung orientiert sich an Jahrhunderten, wie ›Die Komödie im 18. Jahrhundert‹. Das für alle drei betrachteten Gattungen definierte ›Viktorianische Zeitalter‹ ist die einzige Epoche, bei der die Verfasser in der Benennung der englischen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung folgen. Der außerliterarische Kontext, der die Entstehung literarischer Werke oft entscheidend prägt, wird von Erlebach et al. genauso berücksichtigt wie zuvor von Standop/Mertner und Seeber. Allerdings verweisen die Reclam-Autoren in ihrem Vorwort auf die mit Platzgründen zusammenhängenden Beschränkungen, die eine ausführliche Beschäftigung mit diesem Kontext verhindern: Auch wenn der vorliegende Band der vielfältigen Vernetzung der britischen Literatur mit zunächst europäischen und dann nur noch global rezipierbaren Einflüssen Rechnung zu tragen versucht, muss eine englische Literaturgeschichte im Format von Reclams Universal-Bibliothek schon aus Platzgründen Abstriche machen, und dies ebenso bei den Wechselwirkungen zwischen Literatur und Politik, zwischen Literatur und Ideen-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Dennoch hoffen die Verfasser, dass auch diese Zusammenhänge in ihren Grundlinien deutlich werden. (11f.)

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Am Beginn eines Epochenabschnittes werden von Erlebach et al. meist die historischen Entwicklungen der jeweiligen Zeit geschildert. Die Auswirkungen der oben genannten Einflüsse finden sich dagegen punktuell bei den jeweils von ihnen betroffenen Werken. Im Rahmen der Gattungsentwicklung stehen die Werke im Vordergrund, nicht die Autoren. Diese finden nur sporadisch Erwähnung, und nur selten machen Erlebach et al. Bemerkungen zur Biographie der Autoren. Die Persönlichkeit der Literaten, die in früheren Literaturgeschichten wenigstens noch gelegentlich präsentiert wurde, wird so gut wie nie beleuchtet. Damit entfallen auch Gelegenheiten für die Zuschreibung von Aspekten der Englishness. In der werkzentrierten Gesamtdarstellung spielen die Autoren nur hinsichtlich der in ihren Texten vermittelten Überzeugungen eine Rolle, denn die Autoren sind in der Reclam-Literaturgeschichte lediglich die ›Transferpunkte‹ zwischen außerliterarischen Einflüssen wie Sozial- und Geistesgeschichte und den Texten, die sie produzieren. Erlebach et al. erklären, welche Einflüsse auf die literarischen Werke einwirkten und wie diese die Weiterentwicklung der Gattungen vorantrieben. Aber auch die Wirkung der Werke auf ihre gesellschaftliche und literarische Umwelt wird beleuchtet. Dies geschieht durch Analysen und Interpretationen des Inhalts der Werke und wird teilweise mit Textauszügen belegt. Bei den Werksanalysen werden Aspekte wie Darstellungsverfahren, Reimschemata, Themenwahl, Figurencharakterisierung und die ästhetischen Konzepte der Autoren berücksichtigt. Zudem zeigen Erlebach et al. geistesgeschichtliche Einflüsse, Wirkungsgeschichte, literarische Strömungen/Entwicklung des Kunstverständnisses sowie die diachrone Bewertung der Werke in der Literaturkritik auf. Der Aufbau von Reclams Literaturgeschichte bietet außerdem – im Einklang mit der gattungsgeschichtlichen Gesamtkonzeption – Definitionen und Entstehungsgeschichten sowohl der Gattungen als auch der Subgattungen. Dabei wird geklärt, wie einzelne Gattungen entstanden, welcher Themen sie sich annehmen und welches ihre besonderen Merkmale sind. In diesem Zusammenhang spielt auch das Gattungsumfeld eine wichtige Rolle. So wird beispielsweise beim Drama auch das Theater- und Schauspielwesen betrachtet, genauso wie die Förderer, das Publikum, das Gattungsverständnis der Autoren – also das ›Sozialsystem‹ Literatur – sowie die generelle Struktur der für die Bühne bestimmten Stücke. Trotz dieser Fülle an Informationen kommt es seitens Erlebach und seiner Mitautoren nur sehr selten zu persönlichen Urteilen. Es wird lediglich gelegentlich beschrieben, wie ein Autor in England bewertet wird oder wurde. Zu Wordsworth etwa schreibt Erlebach, dieser sei »ähnlich wie Charles Dickens in der Romankunst, geradezu eine nationale Institution« (130). Der Kanon, den Erlebach, Reitz und Stein präsentieren, umfasst auf etwa 700 Seiten insgesamt circa 900 Autoren und anonyme Werke. Zum Vergleich: Standop/Mertner behandelten auf 650 Seiten knapp 500 Autoren. Dabei muss zusätzlich berücksichtigt werden, dass die Literaturgeschichte im Reclam-Verlag das für diese Reihe typische, kleinseitige Format aufweist. Damit ist der Kanon von Erle-

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bach et al. bei deutlich geringerem Textumfang wesentlich größer als der von Standop/Mertner untersuchte. Dieser Unterschied macht sich bei der Verteilung der Autoren auf die vier Hierarchieebenen bemerkbar, denn die Mehrzahl der Autoren – etwa 600 – wird nur erwähnt oder mit wenigen Zeilen Text bedacht. Sie bilden die umfangreiche vierte Hierarchieebene in der englischen Literaturgeschichte Reclams. Die dritte Hierarchieebene wird von gut 250 Autoren und anonymen Werken gebildet, denen je zwischen einer halben und unter vier Seiten Text zugestanden wird. In dieser Gruppe finden sich sowohl Autoren, die als Beispiel für die Gattungsentwicklung herangezogen werden und relativ kurz abgehandelt werden, als auch Literaten, die für die Gattungsentwicklung wichtig waren und entsprechend ausführlichere Beachtung finden, wie beispielsweise Edmund Spenser oder Henry Fielding. Der Umgebungskanon fällt mit 23 Autoren wesentlich kleiner aus als die dritte Hierarchieebene, ist aber vom Umfang her vergleichbar mit dem von Standop/Mertner. Die Autoren des Umgebungskanons werden auf vier bis unter sieben Seiten Text recht ausführlich betrachtet. Dieser Gruppe sind das Werk Beowulf und Autoren wie Pope, Donne, Blake und Coleridge zugeordnet. Auffällig ist, dass etwa die Hälfte der Autoren des Umgebungskanons aus dem 20. Jahrhundert stammt, was aber in Anbetracht der sehr ausführlichen Betrachtung dieses Zeitraumes nicht verwundert. Die Konzentration auf das 20. Jahrhundert ist wohl auch dafür verantwortlich, dass Chaucer nur noch im Umgebungskanon zu finden ist. Seinen Platz im Spitzenkanon hatte er ja schon bei Seeber verloren, dessen Literaturgeschichte die alt- und mittelenglische Literatur ebenfalls recht knapp betrachtete. Der Spitzenkanon der Reclam-Literaturgeschichte wird von elf Autoren gebildet, denen jeweils sieben oder mehr Seiten gewidmet werden. Obwohl sich im Umgebungskanon von Erlebach et al. so viele Autoren der jüngsten Zeit finden, bleibt der Spitzenkanon von dieser Entwicklung unberührt. Shakespeare ist mit über 23 Seiten Text nach wie vor der wichtigste Autor des Kanons. Ihm folgen Byron, Yeats, Wordsworth und Keats mit je zehn bis elf Seiten. Milton, Tennyson und Shelley werden mit je um die neun Seiten bedacht und Wilde, Marlowe und Jonson mit je sieben. Im Vergleich zu Standop/Mertner hat Chaucer seine Position im Spitzenkanon verloren, genauso wie Thackeray, Dickens, Spenser und Shaw. Bis auf Shaw sind die letzteren in der Reclam-Literaturgeschichte sogar auf die dritte Hierarchieebene abgerutscht. Die Übereinstimmung der Spitzenkanones von Standop/Mertner und Erlebach et al. beträgt also nicht einmal fünfzig Prozent. Der Kanon der Reclam-Literaturgeschichte umfasst zahlreiche Autoren, deren Werke nach einem enger gefassten Literaturbegriff nicht in eine Literaturgeschichte gehören. Das ist eine Folge davon, dass der Literaturbegriff in der Reclam-Literaturgeschichte zumindest bis ins 18. Jahrhundert hinein breiter gefasst ist und neben Biographien, Predigten, Annalen, philosophischen und literaturkritischen Werken sowie Essays auch wissenschaftliche und naturwissenschaftliche Texte berücksichtigt. Stein begründet dies wie folgt:

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3. Die Geschichte der englischen Literatur (2004) Die rigorose Trennung von Naturwissenschaft, Literatur und Philosophie, die sich im 19. Jahrhundert vollzog, war im 18. Jahrhundert undenkbar. Den bedeutendsten Verfassern philosophisch-wissenschaftlicher Traktate wie Sir Isaac Newton, John Locke, George Berkeley, dem 3. Earl of Shaftesbury und David Hume war die klassifikatorische Zergliederung ihrer Schriften fremd. Die Übergänge von Physik, Mathematik, Philosophie und Psychologie waren fließend, und die in diesen Disziplinen entworfenen Theorien hatten nicht selten beträchtlichen Einfluss auf die Literatur im engeren Sinne, wie das Beispiel von Lockes Assoziationspsychologie in seiner Bedeutung für Sternes Tristram Shandy belegt. (532)

Folglich finden wissenschaftliche Werke aus zwei Gründen Beachtung: erstens werden sie bis ins 18. Jahrhundert selbst als Literatur angesehen – was ganz der englischen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung entspricht. Und zweitens werden wissenschaftliche Werke wie beispielsweise dasjenige Charles Darwins zur Evolutionslehre wegen ihres Einflusses auf die Literatur im engeren Sinne gewürdigt. Zwar beschäftigten sich auch die anderen in dieser Arbeit untersuchten Literaturgeschichten mehr oder weniger intensiv mit literarischen Werken, die nicht zur Literatur im engeren Sinne gezählt werden, Erlebach et al. sind aber die ersten, die deutlich erklären, warum dies so ist. Die Autoren belegen damit das – schon bei Seeber ausgeprägt vorhandene – gestiegene Theoriebewusstsein der deutschen Anglistik. Das zeigt sich auch bezüglich der diachron wandelbaren Bewertung und Bedeutung von Autoren und ihren literarischen Werken. Erlebach und seine Mitautoren sind sich dessen bewusst, dass die Werke eines Autors zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich bewertet werden können. Zu Christopher Marlowe bemerken sie etwa: »Die spätere Rezeption der bedeutendsten Dramatiker der englischen Renaissance ist jedoch nicht deckungsgleich mit der Wertschätzung, die ihre Stücke zu ihren Lebzeiten erfuhren« (261). Dass der Erfolg eines Autors stark vom jeweilig herrschenden Zeitgeschmack abhängt, ist offensichtlich, und recht häufig weisen Erlebach et al. auf die Diskrepanz zwischen zeitgenössischer Rezeption literarischer Werke und heutiger Wirkung hin, der im Wandel des Zeit- und Publikumsgeschmacks begründet liegt. Zu George Lillos bürgerlicher Tragödie The London Merchant, or, The History of George Barnwell von 1731 merkt Reitz beispielsweise an: Aus heutiger Sicht müssen die Schwarzweißzeichnungen von tugendhaftem Bürgertum und adliger Sittenverderbnis, die damit einhergehende eindimensionale Figurenkonzeption sowie der Empfindsamkeit in langatmige Rührseligkeit der Dialoge steigernde fünfte Akt, in dem Barnwells fortdauernde Reuebekenntnisse zugleich die moralische Integrität des Bürgertums herausstreichen, als dramaturgische Mängel gelten. Lillos Melodramatik begeisterte jedoch das zeitgenössische Publikum. (334)

Nicht nur die Werke von heute relativ unbedeutenden Autoren wie George Lillo sind diesem Bewertungswandel unterworfen. Spitzenautoren sind – zumindest bis zu einem gewissen Grad – ebenfalls von ihm betroffen. Auch die Dramen

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Shakespeares werden heutzutage anders rezipiert als in der elisabethanischen Zeit, wie Reitz erklärt: Es mindert seinen Status als der Welt größter Dramatiker nicht, dass er auch weniger gewichtige Stücke verfasst hat. Bei solchen Wertungen ist allerdings der Unterschied zwischen dem heutigen Dramenverständnis und dem Zeitgeschmack zu berücksichtigen. In der Spielzeit 2000/01 etwa wurden auf deutschsprachigen Bühnen, die in der Shakespeare-Pflege mit den englischsprachigen rivalisieren, jeweils mehr als zwanzig Inszenierungen von Hamlet und von A Midsummer Night’s Dream gezeigt, und auch Romeo and Juliet, The Tempest, Lear und Othello wurden, ebenso wie die Komödien As You Like It oder Twelfth Night, von zahlreichen Theatern angeboten. Demgegenüber findet sich oft über Jahre hinweg keine Inszenierung von The Two Gentlemen of Verona, von Cymbeline oder dem überaus blutigen und gerade deshalb beim elisabethanischen Publikum einst populären Titus Andronicus. Bislang hat sich jede Epoche ›ihren‹ Shakespeare neu definiert, und wenn etwa gegenwärtig die Historien nur selten auf die Bühne gebracht werden, so sagt dies mehr über gegenwärtiges Geschichtsverständnis aus als über Shakespeare. (271)

Obiges Zitat ist nicht nur eine Erinnerung daran, dass literarische Werke immer durch die Brille des jeweiligen Zeitgeschmacks rezipiert und bewertet werden, sondern auch ein Beleg für die große Bedeutung, die Shakespeare nach wie vor für die deutsche Bühne und damit auch die deutsche Anglistik hat. Während bei Shakespeare ein Bedeutungswandel lediglich hinsichtlich der jeweiligen Beliebtheit seiner Stücke festzustellen ist, und der Meisterdramatiker – wie in nahezu allen Literaturgeschichten zuvor – auch bei Erlebach et al. unverändert der bei weitem wichtigste Autor des Kanons ist, streben sie auf einem anderen Gebiet eine Revision alter literaturwissenschaftlicher Urteile an. Zum 19. Jahrhundert und dem angeblichen Niedergang des Dramas schreiben sie nämlich: Wie keine andere Epoche steht das 19. Jahrhundert im Verruf, in Großbritannien bis zur Erneuerung des Dramas durch Shaw und Wilde außer einer Handvoll von literarisch anspruchsvollen, aber nicht bühnenwirksamen Lesedramen nur seichtes, rückblickend als Melodrama subsumiertes Unterhaltungstheater hervorgebracht zu haben. Auch wenn nicht strittig sein kann, dass im 19. Jahrhundert der Roman als nunmehr populärste literarische Form das Drama als Medium der gesellschaftskritischen Auseinandersetzung zurückgedrängt hat, bleibt doch zu fragen, ob das Drama der Zeit wirklich so schlecht war? Diese Frage stellt sich vor allem auch deshalb, weil mit dem unterstellten Absinken des künstlerischen Niveaus eine geradezu explosionsartige Ausweitung des Angebots an Spielstätten einherging. (345)

Wie schon beispielsweise bei Engel zu sehen war, wurde das viktorianische Drama in der deutschen Anglistik arg gescholten. In Anbetracht der enormen Beliebtheit der Gattung beim Publikum ist die Frage, »ob das Drama der Zeit wirklich so schlecht war«, durchaus berechtigt, und sie wird in den letzten Jahren von einigen deutschen Anglisten gestellt (vgl. Tönnies 2005). Das Infragestellen tradierter Überzeugungen und das fortwährende Bemühen um eine Neubewertung,

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so zeigt obiges Beispiel noch einmal anschaulich, gehören offenbar zu den wichtigsten Gründen, überhaupt neue Literaturgeschichten zu schreiben.

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V. Schlussbetrachtung

Wie in den vorangehenden Analysekapiteln deutlich wurde, weist jede der acht in dieser Arbeit eingehender betrachteten deutschen Geschichten englischer Literatur ein ganz eigenes Profil auf. Ein Bild von der englischen Literatur zeichnen sie – naturgemäß – immer, aber nicht alle entwerfen dabei zugleich auch ein Bild von dem, was ihre Verfasser als typisch für England erachten. Ein (tendenzieller) Verzicht auf die Darstellung eines Fremdbildes der Engländer ist – entgegen den eingangs formulierten Erwartungen – nicht nur in jenen Literaturgeschichten zu beobachten, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind. Mit den Literarhistorien von Hettner und Weiser finden sich auch bereits Werke aus der Mitte des 19. bzw. vom Anfang des 20. Jahrhunderts, die zumindest kein klar konturiertes Bild von Englishness vermitteln. Dafür geben Standop/Mertner in ihrer 1967 veröffentlichten Literaturgeschichte durch die recht häufige Nennung von als typisch für Engländer erachteten Eigenschaften noch reichlich Hinweise darauf, dass sie selbst eine Vorstellung davon haben, was ›englisch‹ ist und was nicht, und diese durchaus auch ihren Lesern vermitteln wollen. Erst die Reclam-Literaturgeschichte von 2004 ist so verfasst, dass sie auch bei akribischem Lesen nichts über das ›Wesen der Engländer‹ offenbart. Der Zweite Weltkrieg stellt folglich im Hinblick auf den Umgang mit dem Englandbild nicht jene scharfe Zäsur in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung dar, die man in ihm vermuten könnte, denn Vorstellungen vom ›typisch Englischen‹ wurden in deutschen Geschichten englischer Literatur noch lange nach seinem Ende formuliert. Sofern die untersuchten Literaturgeschichten überhaupt ein Bild davon vermitteln, was ihre Verfasser für typisch englisch halten, ist festzustellen, dass einige wenige Eigenschaften mit relativ großer Konstanz Erwähnung finden. Vor allem wird den Engländern immer wieder ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein zugeschrieben, das im Imperialismus seinen Höhepunkt fand. Als Beleg für das englische Nationalbewusstsein wird besonders häufig James Harringtons Oceana genannt, aber auch Rudyard Kipling ist stets als Repräsentant von starkem Nationalbewusstsein und der Imperiumsidee zu finden. Das englische Nationalbewusstsein wird von allen aus den Literaturgeschichten zu extrapolierenden Aspekten von Englishness am nachhaltigsten betont und ist ohne Ausnahme in allen Literaturgeschichten anzutreffen, die ein Fremdbild der Engländer vermitteln; damit kann es wohl als die wichtigste Eigenschaft gelten, die den Engländern in deutschen Geschichten englischer Literatur zugeschrieben wird. Weniger prominent, aber immer noch häufig, finden die Aspekte ›Freiheitsliebe‹, ›Sinn fürs Praktische‹, ›Vernunft und common sense‹ Erwähnung sowie die den Engländern unterstellte Tendenz, fremde Einflüsse zu integrieren. Pragmatismus und common sense werden

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V. Schlussbetrachtung

häufig als unmittelbare Folge des religiösen Einflusses der Puritaner gesehen. Als Beleg für die Freiheitsliebe werden oft die so genannten Junius-Briefe angeführt, und Defoes Figur Robinson Crusoe ist für die Verfasser der Literaturgeschichten meist das Paradebeispiel für englischen common sense und Pragmatismus. In diesen Übereinstimmungen kommt jene Wiederholung zum Tragen, die Hobsbawm als kennzeichnend für die ›Invented Tradition‹ beschreibt. Nur gelegentlich werden darüber hinaus die Eigenschaften ›Kompromissstreben‹, ›Natürlichkeit‹ und ›Humor‹ als typisch für England angeführt. Als Belege für die jeweilige Eigenschaft führen die Verfasser der Literaturgeschichten selten – anders als bei den oben erwähnten Merkmalen – identische Autoren und Werke an. So nennt Schirmer John Milton als beispielhaft für englische Freiheitsliebe, Engel jedoch William Cowper. Das legt nahe, dass verschiedene Verfasser auch unterschiedliche Ansichten davon haben, wie sich ein Aspekt von Englishness manifestiert bzw. welche Autoren oder Werke ihn am deutlichsten repräsentieren. Ein klarer Konsens besteht hinsichtlich eines ›Kanons‹ prototypischer Repräsentanten vieler Aspekte von Englishness offenbar nicht. Die wenigsten der untersuchten Literaturgeschichten berufen sich bei der Darstellung von Englishness auf die Figur des im Eingangskapitel dieser Arbeit angesprochen prototypischen Engländers ›John Bull‹.144 Wenn der englische Nationalcharakter beschrieben wird, geschieht dies in der Regel »durch Eigenschaftszuschreibungen, die den sog. Nationalcharakter (Englishness) ausmachen« (Sommer 2003: 145), und nicht über die Gleichsetzung der Engländer mit der Manifestation von Englishness in Form eines John Bull. Vor allem die Analyse jener Literaturgeschichten, die vor dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht wurden, hat gezeigt, dass Literaturgeschichtsschreibung neben der überblicksartigen Betrachtung einer Literatur und deren diachroner Entwicklungslinien auch andere Zwecke erfüllen kann. Die interkulturelle Vermittlungsfunktion lässt sich, ebenso wie die didaktische Funktion der Darstellung einer fremden Literatur, allen untersuchten Werken zuschreiben. Andere Funktionen hingegen sind auf einzelne Literaturgeschichten beschränkt. So wird beispielsweise bei Engel manche englische Charaktereigenschaft – allen voran das Nationalbewusstsein und die Freiheitsliebe – als nachahmenswertes Vorbild für die deutschen Leser dargestellt. Und Meißner macht aus seiner Literaturgeschichte in recht deutlicher Weise ein Vehikel für die nationalsozialistische Ideologie, anhand 144 Eine Ausnahme bildet die Literaturgeschichte von Karl Bleibtreu aus dem Jahr 1923. In dieser verweist er häufig auf den prototypischen Engländer John Bull. So vermerkt er beispielsweise zur Epoche der Renaissance: »Der saftige Beefsteakgeist John Bulls verdaute jetzt alle fremden Anregungen und schuf das stärkste Abbild des Germanengeistes, das Charakterdrama« (10), und zu Shakespeares Drama Henry IV meint er: »[…] dort poltern ganz verschieden derbe John Bulls.« (30) Für das 18. Jahrhundert stellt Bleibtreu fest: »[…] der Aesthetiker Samuel Johnson (1709-84) blieb trotz äusserlich rauhem Johnbullismus in sklavischer Französelei befangen.« (42) Offensichtlich verwendet Bleibtreu den Begriff ›John Bull‹ synonym mit ›Engländer‹ und sieht im ›Johnbullismus‹ die Ausprägung des englischen Nationalcharakters.

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V. Schlussbetrachtung

deren Maßstäbe er die englische Literatur und Kultur bewertet. Gleichzeitig lässt er immer wieder durchblicken, dass England und Deutschland sich gar nicht unähnlich seien und eine Allianz zwischen den Ländern im beiderseitigen Interesse läge. Von einer besonders ausgeprägten Abneigung gegenüber Frankreich und England, insbesondere in der Folge des Ersten Weltkriegs, ist indes wenig zu bemerken. Zwar gibt es bei Engel durchaus frankreichkritische Töne, aber diese halten sich die Waage mit anerkennenden Kommentaren zu Land und Literatur. Bei Meißner wird zuweilen Kritik an England laut, insbesondere bezüglich deutschlandkritischer Autoren. Eine durchgängige Anfeindung Englands als Folge der Kriegsgegnerschaft ist allerdings in den in dieser Arbeit untersuchten Literaturgeschichten nicht nachweisbar. Und auch Frankreich, auf dessen kulturelle Einflüsse regelmäßig verwiesen wird, erscheint nicht als der ›Erbfeind‹, als den es die Deutschen seit den Napoleonischen Kriegen gerne sahen (vgl. Lorenzen 2006: 140). Die Funktionen, die die Darstellung der englischen Literatur durch deutsche Wissenschaftler im Verlauf der letzten 150 Jahre erfüllt hat, lassen sich in das Modell interkultureller Vergleichstypen von Müller-Jacquier einordnen, das von Lüsebrink (2005: 38) folgendermaßen dargelegt wird: Müller-Jacquier unterscheidet im Hinblick auf die Analyse der Form und Funktion von Vergleichen sechs interkulturelle Vergleichstypen: 1. Abordination: die Herstellung einer ›Identitätsrelation‹, d. h. die Feststellung weitgehend ähnlicher Phänomene […] 2. Thematisierung gegensätzlicher Inhalte und Erwartungen […] 3. Graduelle Differenz: etwas Identisches wird graduell anders qualifiziert oder quantifiziert […] 4. Negation/Nicht-Phänomen: Angabe eines Nicht-Vorhandenseins, das jedoch prinzipiell sein könnte […] 5. Existieren: Aufzeigen kulturspezifischer Phänomene […] 6. Meta-Vergleich: Vergleich von Unterschiedsgraden in mehreren Kulturen und Gesellschaften.

Nicht alle der obigen Kategorien finden im Hinblick auf die deutschen Geschichten englischer Literatur Verwendung, sondern nur die Vergleichstypen eins, fünf und sechs. Die Bezugnahme auf gemeinsame kulturelle und ethnische Wurzeln, d. h. auf die germanische Herkunft der Engländer und der Deutschen, wie sie beispielsweise bei Engel erfolgt, fällt unter den Vergleichstyp ›Abordination‹. Diese ›Feststellung weitgehend ähnlicher Phänomene‹ spielt, anders als der fünfte Vergleichstyp, allerdings eine untergeordnete Rolle, denn das ›Aufzeigen kulturspezifischer Phänomene‹, das Müller-Jacquier mit dem Begriff ›Existieren‹ bezeichnet und worunter die Nennung der verschiedenen Eigenschaften von Englishness zu verstehen ist, kommt in den in dieser Arbeit untersuchten Literaturgeschichten bei weitem am häufigsten vor. Zumindest in den älteren Literaturgeschichten kommt auch Müller-Jacquiers interkultureller Vergleichstyp sechs zum Tragen. Der so genannte ›Meta-Vergleich‹ wird von Autoren wie Engel und Meißner angewendet, wenn sie den Charakter der Engländer dem der Schotten, Iren und Waliser gegenüberstellen oder die englische und französische Literatur kontrastieren; direkte Vergleiche mit Deutschland sind in den untersuchten Litera-

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V. Schlussbetrachtung

turgeschichten eher die Ausnahme. Vor allem die Vergleichstypen eins und sechs, also der Verweis auf Gemeinsamkeiten sowie der Vergleich mit anderen Kulturen, können gemeinsam der Identitätsbildung der Leserschaft deutscher Geschichten englischer Literatur dienen und bilden somit zumindest einen Aspekt der im Eingangskapitel erläuterten ›Invented Tradition‹ von Hobsbawm. Auch in jenen Literaturgeschichten, in denen das von Englishness vermittelte Bild nicht ideologisch funktionalisiert wird – wie dies etwa bei Standop/Mertner der Fall ist –, wird es doch zumindest vorausgesetzt. Und das ist angesichts des Charakters nationaler Unterschiede als grundlegender Wahrnehmungskategorie auch wenig überraschend, wie Maletzke (1996: 43) erklärt: Die Deutschen sind in ihrem Charakter, in ihrer Persönlichkeit anders als die Franzosen, Amerikaner, Inder, Chinesen; daran zweifelt niemand. Schwierig wird jedoch der Sachverhalt, sobald man danach fragt, worin sich denn nun genau und im einzelnen diese Völker unterscheiden.

Dass es beispielsweise kulturell bedingte Eigenheiten im Charakter der Engländer gibt, ist also nur schwer von der Hand zu weisen und erklärt die Tatsache, dass der Englishness – also dem ›typisch Englischen‹ – in der Literatur Aufmerksamkeit geschenkt wird.145 So widmet beispielsweise Schabert (2006) in ihrer Literaturgeschichte der Englishness und Britishness eigene Abschnitte.146 Und Gelfert, der ebenfalls eine englische Literaturgeschichte verfasst hat, publizierte zu dieser Thematik gar ein ganzes Buch mit dem Titel Typisch englisch (1998), in dem er auf die historischen und kulturellen Wurzeln englischer Eigenheiten eingeht. Dort erklärt Gelfert allerdings auch, dass diese »Eigentümlichkeiten deutlich im Schwinden sind« (Gelfert 1998: 7). Und Schabert, die Britishness als mit ›Männlichkeit‹ assoziiert sieht (Schabert 2006: 83), konstatiert ebenfalls, dass in den letzten beiden Jahrzehnten das traditionelle Englandbild dahinschwinde (ebd.: 411). Dass die Engländer in Zeiten zunehmender Globalisierung eben nicht mehr so ›typisch englisch‹ sind, könnte – neben den Bemühungen der Komparatistik, Fremdbilder zu dekonstruieren, sowie dem Empfinden, Eigenschaftszuschreibungen seien unwissenschaftlich – eine Erklärung dafür sein, dass die Darstellung von

145 Allerdings wird der Begriff ›Nationalcharakter‹ mittlerweile nur noch zögerlich verwendet, wie Maletzke (1996: 46) erläutert: »Die methodologischen Schwierigkeiten sind wohl der Grund dafür, daß man in den Wissenschaften heute nur noch selten von ›Nationalcharakter‹ spricht. Nicht verschwunden ist jedoch der Grundgedanke, es müsse – allen Einwänden zum Trotz – auch in größeren sozialen Einheiten psychologische Gemeinsamkeiten geben. Die Suche nach derartigen gemeinsamen Merkmalen geht also weiter, wenn auch unter anderen Bezeichnungen. So spricht man etwa von der ›Basispersönlichkeit‹ oder vom ›Sozialcharakter‹.« 146 Schabert verwendet den Begriff Englishness synonym mit dem der Britishness. Als Erklärung führt sie an: »England wurde von den Engländern so selbstverständlich als repräsentativ für das Ganze gesehen, dass kaum ein Unterschied zwischen den beiden Begriffen gemacht wurde.« (Schabert 2006: 411)

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V. Schlussbetrachtung

Englishness in den deutschen Geschichten englischer Literatur seit Ende des Zweiten Weltkrieges zurückgegangen ist. In älteren deutschen Geschichten englischer Literatur ist eine selbstreflexive Thematisierung literaturwissenschaftlicher Probleme nur äußerst selten anzutreffen. In den Literaturgeschichten, die nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen sind, ist hingegen ein wachsendes Bewusstsein für die grundsätzlichen Probleme der Literaturgeschichtsschreibung festzustellen. Aspekte dieser Thematik, wie Kanonbildung, Periodisierung und literaturtheoretische Ansätze, werden den Lesern von den Verfassern vor Augen geführt, und damit wird der Konstruktcharakter von Literaturgeschichten offen gelegt. Um einen Kernpunkt der Literaturwissenschaft aber machen alle in dieser Arbeit behandelten Literaturgeschichten einen großen Bogen – die Frage, was Literatur eigentlich ist. Diese Frage beschäftigt Literaturwissenschaftler aller Nationalitäten schon seit Jahrzehnten. An Erklärungsangeboten und Definitionen mangelt es nicht, wie die Arbeiten von Grabes (1981 und 2004b), Nemoianu (1991), Derrida (1992), Wilcox (1992), Bourdieu (1999), Widdowson (1999), Sell (2000), Miller (2002), Zymner (2003) und Attridge (2004) – um nur exemplarisch einige zu nennen – belegen. Eine zufriedenstellende, abschließende Definition des Begriffs ›Literatur‹ steht allerdings noch aus. Das ist auch der wichtigste Grund für die unterschiedlich breiten Literaturbegriffe der deutschen und englischen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung. Und niemand kann behaupten, einer der beiden sei ›falsch‹, weil noch kein ›richtiger‹ verbindlich definiert wurde. Obwohl die Verfasser der deutschen Geschichten englischer Literatur – auch derjenigen neueren Datums – nicht explizit erklären, was für sie Literatur ist, können aufgrund der von ihnen für ihre Darstellungen ausgewählten Werke und Autoren gewisse Rückschlüsse gezogen werden. Es fällt auf, dass eine ganze Reihe von Genres, die sich außerordentlich großer Lesergunst erfreuen, fast völlig ignoriert werden: Werke aus den Bereichen Science Fiction, Fantasy, Thriller und Krimi oder auch Melodramen – um nur einige zu nennen – finden in den deutschen Geschichten englischer Literatur so gut wie keine Erwähnung. Auch Bücher wie J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings, die den so genannten test of time längst mit Bravour bestanden haben und künstlerisch ohne Frage eine Leistung darstellen, gehören nicht zum präsentierten Kanon.147 In deutschen Geschichten englischer Literatur werden offenbar primär Texte präsentiert, die einen greifbaren Realitätsbezug aufweisen (nur bei der Lyrik wird hierbei eine größere Ausnahme gemacht) und entweder ein Kulturbild ihrer Zeit bieten oder Gesellschaftskritik üben – als Literatur gilt also offenbar nur das, was Realitätsbezug hat. Besonders

147 Ein Autor wie Tolkien findet zwar meist keine Beachtung in den deutschen Geschichten englischer Literatur, in der deutschen anglistischen Forschung wird er gleichwohl gewürdigt, wie beispielsweise die Artikel von Borgmeier (1982) und Gymnich (2005b) sowie der aus einer ESSE (European Society for the Study of English)Tagung hervorgegangene Sammelband von Honegger (2005) belegen.

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deutlich wird dies bei Schirmer und dem von ihm favorisierten Konzept der Mimese, aber implizit, durch Selektion, wird diese Ansicht auch in den anderen Literaturgeschichten transportiert. Damit scheinen die Verfasser der in dieser Arbeit untersuchten Literaturgeschichten dem Konzept der ›Höhenkammliteratur‹ der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zu folgen, denn diese begreift beispielsweise Science Fiction und Fantasy nicht als wirkliche Literatur. Gleichwohl nehmen diese Genres sehr wohl oft auf die Realität Bezug, indem sie zum Beispiel alternative Menschenbilder und Gesellschaftsformen vorstellen. In englischen Literaturgeschichten werden zeitgenössische Werke der Genres Science Fiction und Fantasy durchaus nicht immer, aber doch wesentlich häufiger aufgeführt als in deutschen Geschichten englischer Literatur.148 Das spricht dafür, dass die englische Tradition der Literaturgeschichtsschreibung zumindest nicht durchgängig den offensichtlichen Realitätsbezug als Kriterium für ›echte‹ Literatur anlegt. Da Genres wie Fantasy oder Science Fiction in englischen Literaturgeschichten also vergleichsweise breitere Berücksichtigung finden, steht die Frage im Raum, ob nicht auch in dieser Hinsicht in den deutschen Geschichten englischer Literatur der ›Blick von außen‹ zum Tragen kommt. Denn in Deutschland gibt es keine ausgeprägte Tradition dieser Genres, so dass ihre Berücksichtigung in den Geschichten der deutschen Literatur keine zwingende Notwendigkeit ist. In England bilden sie dagegen einen wichtigen und populären Teil der Literatur, wenn auch die Unterscheidung zwischen ›Literatur‹ und ›Populärliteratur‹ nicht unbekannt ist, wie Frow (2006: 130) ausführt: […] the division of the field (roughly between ›popular‹ and ›literary‹ genres) is an indication of a systemic hierarchy of value that actually exists for a large group of contemporary readers. It throws an interesting light on the institutional structures by which such hierarchies are created and maintained.

Zu den im obigen Zitat angesprochenen ›institutionellen Strukturen‹, die eine solche Unterteilung betreiben und erhalten, gehören in besonderer Weise die Literaturgeschichten, denn diese tragen zumindest für den akademischen Bereich maßgeblich zu der Entscheidung bei, was Literatur ist und was nicht.149 Allerdings gibt es auch alternative Literaturgeschichten wie die von Schabert (1997) und V. 148 Vgl. beispielsweise Stevenson (2004) und Blamires (1982): Bei Stevenson (2004) werden die populären Autoren J. R. R. Tolkien, Terry Pratchett und J. K. Rowling zumindest erwähnt. Auch Blamires (1982) reißt das Genre der Science Fiction an und widmet zudem Tolkien und seinen Werken zwei Seiten Text in seiner Literaturgeschichte. Die genannten Autoren finden in deutschen Geschichten englischer Literatur für gewöhnlich keinerlei Beachtung. 149 Gerade vor einem kulturwissenschaftlichen Hintergrund – insbesondere der Frage der Rezeption von Werken – wäre es interessant, sich mit Gattungen und Autoren zu beschäftigen, die sonst keine Berücksichtigung finden, wie beispielsweise das Melodrama, das viktorianische Drama oder Tolkien. In der akademischen Lehre finden einige dieser Bereiche inzwischen durchaus Berücksichtigung.

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V. Schlussbetrachtung

Nünning (2005), die diese Selektivität und Konstrukthaftigkeit der Literaturgeschichtsschreibung in besonderer Weise in den Vordergrund stellen, indem sie das Augenmerk auf Autoren, Gattungen und Gesichtspunkte richten, die üblicherweise vernachlässigt werden. Damit beteiligen sie sich in deutlich markierter Weise an der Aushandlung des Kanons innerhalb der anglistischen Literaturwissenschaft. Die Analyse der deutschen Geschichten englischer Literatur in dieser Arbeit hat ergeben, dass die Zusammensetzung des jeweiligen Kanons starken Schwankungen unterworfen ist, gerade auch was den Spitzenkanon betrifft. Keine zwei Literaturgeschichten präsentieren genau dieselben Spitzenautoren, und auf den unteren Hierarchieebenen variiert die Zusammensetzung noch stärker. Es hat sich allerdings gezeigt, dass der Spitzenkanon zumindest zusammen mit dem Umgebungskanon eine relativ stabile Einheit bildet. Viele Autoren, die in einer Literarhistorie im Umgebungskanon angesiedelt sind, finden in anderen Literaturgeschichten den Weg in den Spitzenkanon; und der umgekehrte Fall ist genauso häufig. Lediglich zwei Autoren – Shakespeare und Milton – sind nahezu konstant im Spitzenkanon anzutreffen. Hinsichtlich der Aspekte der nationalen Identität und der Zuschreibung von Charakterzügen hat sich im Rahmen dieser Untersuchung abgezeichnet, dass die Hierarchieebenen des Kanons von unterschiedlicher Bedeutung sind. Die Autoren, die dem jeweiligen Spitzenkanon zugeordnet werden, nehmen diese Position nicht so sehr wegen ihrer Beispielhaftigkeit für den englischen Nationalcharakter ein als vielmehr aufgrund der ästhetischen Bedeutung und kulturellen Wirkmacht ihrer Werke. Bei Autoren des Umgebungskanons und der dritten Hierarchieebene hingegen werden ›typisch englische‹ Charakterzüge viel häufiger betont. Das legt nahe, dass keine Korrelation zwischen der Bedeutung eines Autors und seiner Beispielhaftigkeit als typischer Engländer ersichtlich ist. Trotzdem ist die Gruppe der jeweiligen Spitzenautoren aufgrund ihrer Vorbildfunktion wichtig für die nationale Identität (der Engländer), und sei es nur aus Gründen des Stolzes einer Nation auf berühmte Literaten. Die in der vierten Hierarchieebene verorteten Autoren hingegen sind – aus dem simplen Grund, dass meist lediglich ihr Name und eines ihrer Werke genannt werden – kaum identitätsbildend. Bei der Analyse der Literaturgeschichten aus den letzten 150 Jahren ist immer wieder deutlich geworden, dass die Verfasser in ihrer Herangehensweise an die englische Literaturgeschichte häufig – etwa in ihren Wertungen, aber auch in ihrer Periodisierung – einen deutschen Blickwinkel geltend machen. Zugleich werden aber auch Entwicklungslinien der englischen Literatur aus den spezifischen kulturellen und historischen Gegebenheiten in England heraus erklärt. Dieses Spannungsverhältnis von ›außen‹ und ›innen‹ lässt sich mit Hilfe einer begrifflichen Unterscheidung aus der Forschung zur interkulturellen Kommunikation treffend fassen. Hinsichtlich der Frage, mit welchen Kriterien eine fremde Kultur beurteilt werden kann, beschreibt Lüsebrink (2005: 39) folgende begriffliche Differenzierung:

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V. Schlussbetrachtung Für die Definition des Verhältnisses von Verstehen und Vergleichen ist in der Kulturanthropologie die grundlegende begriffliche Unterscheidung zwischen etischer und emischer Beschreibung von Kulturen entwickelt worden, in Analogie zur phonetischen und phonemischen Beschreibung in der Sprachwissenschaft. Die Verwendung etischer Kategorien bzw. Beschreibungsmuster bedeutet, auf eine fremde Gesellschaft und Kultur äußere Verstehenskategorien anzuwenden, u. a. auf der Grundlage interkultureller Vergleichstypen. Die Verwendung emischer Kategorien hingegen impliziert, eine fremde Gesellschaft weitestgehend in ihrer inneren Logik, über ihre eigenen Regeln und Codes zu verstehen.

Die englische Literatur – als wichtiger Teil der Kultur des Landes – wird von den deutschen Literaturwissenschaftlern meist in ihrem gesellschaftlichen, politischen und sozialen Entstehungskontext gesehen. Das heißt, dass die Deutschen emische Kategorien heranziehen, wenn sie ihrer deutschen Leserschaft die Entstehung englischer literarischer Werke präsentieren. Bei der Bewertung der Literatur verwenden die Verfasser der deutschen Geschichten englischer Literatur jedoch meist das Instrumentarium der deutschen Literaturkritik und folglich etische Kategorien.150 Dies wird beispielsweise bei Engel überaus deutlich, der klar für den ›Blick von außen‹, das heißt für die Bewertung der englischen Literatur mit Hilfe der deutschen Literaturkritik plädiert, weil er der englischen jedwede Kompetenz abspricht. So deutliche Worte verwenden die anderen deutschen Literaturwissenschaftler zwar nicht, aber auch sie orientieren sich hinsichtlich der Werkanalyse eher an der deutschen Tradition der Literaturbewertung, mit besonderem Augenmerk auf »geläufige literaturhistorische Untersuchungs- und Darstellungskategorien wie Stil, Gattungen, Genres, Themen, Motive oder poetologische und literaturkritische Normierungen« (Schönert 1992: 341). Die Verfasser der in dieser Arbeit untersuchten Literaturgeschichten folgen hinsichtlich der Bewertung der englischen Literatur also im Wesentlichen der deutschen literaturwissenschaftli-

150 Dass eine Kombination von Innen- und Außenperspektive nicht nur möglich, sondern sogar notwendig für die möglichst unvoreingenommene Bewertung einer anderen Kultur ist, betont Bredella (2001: 12) wie folgt: »Um die fremde Kultur in ihrer Andersheit zu verstehen, müssen wir einmal eine Innenperspektive einnehmen und das Selbstverständnis der Menschen der fremden Kultur rekonstruieren. Da aber Menschen sich über sich selbst täuschen können, müssen wir auch unsere Außenperspektive ins Spiel bringen. Die Innenperspektive ist notwendig, um den Ethnozentrismus zu überwinden, und die Außenperspektive ist notwendig, um sich nicht unkritisch der jeweiligen Innenperspektive auszuliefern.« Freilich birgt die Außenperspektive immer auch die Gefahr ethnozentrischer Verzerrung. Zwei wichtige Eigenschaften des Ethnozentrismus beschreibt Maletzke (1996: 23) folgendermaßen: »Beim Ethnozentrismus sind zwei Komponenten zu unterscheiden: Zum einen ist die eigene Kultur gekennzeichnet durch ›Selbstverständlichkeiten‹, und zum anderen ist der Ethnozentrismus meist verbunden mit einem ›Überlegenheitsbewußtsein‹ gegenüber anderen Völkern, Nationen, Kulturen.«

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V. Schlussbetrachtung

chen Tradition.151 Auch bei der Periodisierung verwenden sie tendenziell eher die Epochenbegriffe der deutschen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung, wenn auch nicht durchgehend – immer wieder werden einige Epochennamen der englischen Tradition herangezogen, wie beispielsweise das ›viktorianische Zeitalter‹. Bei der Breite des zugrunde gelegten Literaturbegriffs folgen die Deutschen dagegen eher der englischen Tradition der Literaturgeschichtsschreibung, die Gattungen wie Reisebericht, Essay, Tagebücher und auch Wissenschaftsprosa mit einschließt. Die Verfasser der deutschen Geschichten englischer Literatur stehen insgesamt also zwischen den verschiedenen Traditionen der Literaturgeschichtsschreibung: sie bewerten in der Regel mit germanistischen Methoden – oder eben mit den Methoden der deutschen Anglistik – ein englisch weites Feld von Literatur, das sie teils mit traditionell deutschen, teils mit englischen Epochenbegriffen kartographieren. Zwei weitere vom Standpunkt der Wissenschaftsgeschichte interessante Beobachtungen betreffen die Literaturgeschichten, die nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht wurden. Erstens ist festzustellen, dass Literaturgeschichten immer häufiger die gemeinschaftliche Arbeit mehrerer Autoren darstellen. Diese Praxis ist eine Umkehr dessen, was im 19. Jahrhundert bisweilen der Fall war – nämlich dass ein Autor Literaturgeschichten zu gleich mehreren Literaturen verfasste; so schrieben beispielsweise Engel und Hettner über die deutsche, die englische und die französische Literatur. Bei den Literaturwissenschaftlern des 19. Jahrhunderts scheint es sich folglich um Literatur-Generalisten und Komparatisten gehandelt zu haben. Spätestens seit den 1960er Jahren ist dagegen ein zunehmende Zersplitterung und Spezialisierung nicht nur der Einzelphilologien, sondern auch der deutschen Anglistik zu beobachten, wie Haas (2003: 96) darlegt. Die Produktion akademischer Bücher und Artikel ist seit dieser Zeit derart angewachsen, dass die Publikationen der deutschen Anglistik in ihrer Gesamtheit nicht mehr von allen Anglisten gelesen werden können.152 Da ein deutscher Anglist in der Regel also nicht mehr auf allen Teilgebieten des Fachs auf dem Laufenden sein kann, ist eine zunehmende Fokussierung auf ein oder mehrere Spezialgebiete die Folge. Und das macht sich in vielen der neueren Literaturgeschichten bemerkbar, in denen mehre-

151 Den ›Blick von außen‹ bei der Analyse der englischen Literatur kündigt Bleibtreu (1887: iii) im Vorwort seiner älteren Literaturgeschichte explizit an, wenn er schreibt: »Der englische Leser wird hier mancherlei Urteile finden, welche von den hergebrachten seiner Heimat beträchtlich abweichen. Doch hat man ja Taine’s Geschichte der englischen Litteratur mit Beifall entgegengenommen, obschon derselbe wesentlich vom eng französischen Gesichtspunkte aus den gewaltigen Stoff behandelt. Möge man daher gestatten, dass diesmal vom Standpunkt des deutschen Geisteslebens aus die Entfaltung des englischen betrachtet wird.« 152 Weingart (1991: 300) zählt für das Jahr 1984 die Veröffentlichung von etwa 60 Büchern und 600 Artikeln durch etwa 300 Anglistik-Professoren an westdeutschen Universitäten. Diese Zahlen dürften in den Folgejahren noch angewachsen sein.

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V. Schlussbetrachtung

re Autoren gemeinsam die englische Literatur untersuchen, wobei jeder für sein Spezialgebiet zuständig ist. Die zweite wissenschaftsgeschichtlich interessante Beobachtung, die sich aus der Untersuchung der Literaturgeschichten ergeben hat, besteht darin, dass die altund mittelenglische Literatur in Literaturgeschichten neueren Datums einen weitaus geringeren Anteil des Gesamtumfangs ausmacht als in älteren Literarhistorien. Noch bei Standop/Mertner – Mitte der sechziger Jahre – wird die mediävistische Literatur auf etwa einem Sechstel des Umfanges ihrer Literaturgeschichte dargestellt. Bei Seeber am Anfang der neunziger Jahre ist dieser Anteil auf etwa ein Zehntel des Gesamtumfangs geschrumpft, ähnlich wie bei Erlebach et al. am Beginn des neuen Jahrtausends. Noch extremer fällt der Unterschied zu älteren Literaturgeschichten bei Hans-Peter Wagners A History of British, Irish and American Literature von 2003 aus, die im Rahmen dieser Arbeit nicht näher betrachtet wurde. Wagner widmet der alt- und mittelenglischen Literatur nur noch ganze neun Seiten: gerade noch ein gutes Dreißigstel seiner Darstellung der britischen Literatur! Sicherlich besteht ein Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass die alt- und mittelenglische Literatur innerhalb der Literaturgeschichten mehr und mehr an Boden verliert, und den strukturellen Problemen, denen sich die Mediävistik als Teildisziplin der Anglistik in Deutschland seit einigen Jahren gegenüber sieht, wie sie von Kries (2001: 124) beschrieben werden: More so than in other areas of English departments, medieval studies are often left to one or two people to teach, who are then faced with the challenge to cover as much as eight hundred years of cultural history, literature and linguistic development in their classes. […] In universities in the Germanspeaking countries, there is now scarcely any discussion of comprehensive ideal curricula that properly reflect the richness of the medieval period. Instead, the discussion focuses on minimal or survival curricula.

Die Gründe für diese Entwicklung sieht Kries in einer Verschiebung der Interessen in Politik und Universitätsverwaltung hin zu ›gegenwartsbezogeneren‹ Fächern: Especially at a time of substantial financial cuts in higher education, medieval studies are being pushed more and more to the periphery of English studies. And the impending retirement of a significant number of professors of medieval studies leaves the subject especially vulnerable at a time when university management and governments show a special affection for subjects which are seen as being more applied to and relevant for contemporary society. (ebd.: 125f.)

Die deutschen Geschichten englischer Literatur scheinen diese Entwicklung exakt wiederzuspiegeln, denn Seeber bemerkt in seinem Vorwort, dass in seiner Literaturgeschichte der Teil über die alt- und mittelenglische Literatur dem Leserinteresse folgend drastisch gekürzt sei, und in der Reclam-Literaturgeschichte oder der von Wagner setzt sich diese Tendenz fort. Dass die Verfasser dieser Literatur-

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geschichten damit einen Teufelskreis unterstützen, liegt auf der Hand, denn wenn die alt- und mittelenglische Literatur im Vergleich zu den jüngeren Epochen nur knapp betrachtet wird, entsteht beim Leser der Eindruck, es handle sich bei ihr um einen relativ unbedeutenden ›Prolog‹ zur ›eigentlichen‹, späteren Literatur. Die Folge davon ist ein stark gemindertes Leserinteresse an der mediävistischen Literatur, das in zukünftigen Literaturgeschichten weitere Kürzungen rechtfertigt. Wenn diese Entwicklung sich fortsetzt, ist die alt- und mittelenglische Literatur eines Tages vielleicht völlig aus den deutschen Geschichten der englischen Literatur verschwunden, es sei denn, die Literaturwissenschaft entsinnt sich einer der wichtigsten Funktionen von Literaturgeschichten, und zwar der des Archivs, das auch zeitweilig unpopuläre Literatur für die erneute Aufnahme in das kollektive Gedächtnis bereithält.

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VI. Literatur

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