Der Begriff der Furcht bei Luther 9783161510571, 9783161498930

Erfahrung, Deutung und Bewältigung von Furcht spielen eine Schlüsselrolle in der Entwicklung der reformatorischen Theolo

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Der Begriff der Furcht bei Luther
 9783161510571, 9783161498930

Table of contents :
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Widmung
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1: Einleitung
1.1 Das Phänomen Angst und Luther
1.2 Zur Begriffsgeschichte von Furcht und Angst
1.3 Aufbau der Arbeit
Kapitel 2: Forschungsgeschichte
2.1 Furcht und Buße
2.2 Furcht und Anfechtung
2.3 Furcht und das erste Gebot
2.4 Zwischen Theologie und Psychologie
Kapitel 3: Problemgeschichte der Furcht von Augustin bis zum Spätmittelalter
3.1 Furcht bei Augustin
3.1.1 Die Unterscheidung zweier Furchtarten
3.1.2 Der relative Nutzen des timor servilis
3.1.3 Das zwiespältige Erbe Augustins
3.2 Furcht in der mittelalterlichen Scholastik
3.2.1 Gregor der Große
3.2.2 Die Furchtlehre bei Petrus Lombardus
3.2.3 Furcht in der Hoch- und Spätscholastik
3.3 Furcht in der Frömmigkeitstheologie
3.3.1 Bernhard von Clairvaux
3.3.2 Devotio moderna und die Furcht in der Meditation
3.3.3 Jean Gerson
3.4 Intensivierung und Entlastung
3.5 Fazit: Furcht im Horizont des mittelalterlichen Gradualismus
Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung
4.1 Die Predigt „De timore Dei“ von 1515
4.1.1 Datierung und Deutungsspektrum
4.1.2 Aufbau der Predigt
1. Dialektik der Furcht
2 Stufen der Furcht
4.1.3 Gestalten und Stufen der Furcht
1. Dialektik der Furcht
2 Stufen der Furcht
4.2. Dictata super Psalterium
4.2.1 Rezeption der klassischen Furchtlehre in den Dictata
4.2.2 Timor zwischen amor und odium
4.2.3 Kritik der Sicherheit
4.2.4 Furcht vor Strafe als falsche Motivation (Kritik des timor servilis)
4.2.5 Dritte Stufe: Geistliche Furcht vor Zorn und Hölle
4.2.5.1 Furcht und Zorn Gottes
4.2.5.2 Furcht vor der Hölle
4.2.5.3 Furcht und Meditation
4.2.6 Scholastikkritik und simul
4.2.7 Das Ideal der Vollkommenheit
4.2.8 Fazit: Theologie im Übergang
Kapitel 5: Furcht in der Römerbriefvorlesung
5.1 Sünde und Sicherheit
5 2. Gesetz und timor servilis
5.3. Rechtfertigung, Glaube und Furcht
5.4 Der Einfluss Taulers und die Passivität des Glaubens
5.4.1 Die Diskussion um den Einfluss der Mystik
5.4.2 Furcht und Anfechtung bei Tauler
5.4.3 Passivität des Glaubens
5.5 Prädestinationsanfechtung und Heilsgewissheit
5.5.1 Gnadenwahl und Ergebung
5.5.2 Paradoxe Gewissheit
5.6 Fazit: Begnadete Furcht
Kapitel 6: Der Umbruch im Umgang mit Furcht während des Ablassstreits
6.1 Furcht in der Auslegung der sieben Bußpsalmen
6.2 Der Umbruch im Ablassstreit
6.2.1 Die Ablassthesen und die anschließenden Auseinandersetzungen
6.2.2 Resolutiones zu den Ablassthesen
6.2.2.1 Die rechte Furcht Gottes
6.2.2.2 Furcht und Fegefeuer
6.2.2.3 Furcht und Glaube
6.2.2.4 Gesetz und Evangelium
6.2.2.5 Fazit: sola fide
6.3 Furcht in der Hebräerbriefvorlesung
6.4. Die Leipziger Disputation
6.4.1 Vertiefung der Ablassauseinandersetzung
6.4.2 Die Auseinandersetzung in Leipzig
6.4.3 Systembruch mit Augustin und der scholastischen Theologie
6.5 Die Bewährung des Neuen in den reformatorischen Sermonen von 1519 und 1520
6.5.1 Das erschrockene Gewissen
6.5.2 Das introspektive Missverständnis: Vermessenheit oder Verzweiflung
6.5.3 Sakrament als Zusage Gottes
6.5.4 Glaubstu, so hastu
6.6 Die systematische Struktur der Rechtfertigungslehre
6.6.1. Die Aporien der Durchbruchdebatte und die reformatorischen Exklusivpartikel
6.6.2. Selbstverhältnis und Gottesverhältnis
Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium
7.1 Explikationszusammenhänge der Furcht
7.1.1 Furcht als Schrecken des Gesetzes
7.1.2 Furcht der Anfechtung
7.1.3 Die Furcht des Herrn
7.2 Katechismusformel und die Auslegung des ersten Gebotes
7.3 Melanchthons Umgang mit der Frage des timor
7.4 Furcht bei Luther in den neuen Erfahrungszusammenhängen der 1520er Jahre
7.4.1 Bauernkrieg und Visitationserfahrungen
7.4.2 Angst und Anfechtung
7.5 Furcht und Glaube in der Katechismusformel
7.5.1 Gottesfurcht zwischen Gottes- und Weltverhältnis
7.5.2 Differenz und Komplementarität in der Wittenberger Reformation
Kapitel 8: Umgang mit Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde
8.1 Furcht und Tod in der Vorlesung über Ps 90
8.1.1 Gesetz, Zorn und Tod
8.1.2 Erschrecken und Gottesfurcht
8.1.3 Fazit: Der Tod als Horizont der Theologie
8.2 Furcht und Sünde in der Genesisvorlesung
8.3 Furcht und Buße in den Antinomerdisputationen
8.3.1 Furcht als Schlüsselproblem der Antinomerstreitigkeiten
8.3.2 Luthers Ringen um Einheit und Kontinuität der Rechtfertigungslehre
8.3.3 Buße und Gesetz
8.3.4 Furchterfahrung und -bewältigung
8.4 Das Gesetz und die Bedrohtheitsdimension des Lebens
8.4.1 Die Kritik religiöser Sicherheit
8.4.2 Sündenerkenntnis und die Dynamik der Verzweiflung
8.4.3 Glaube als Furchtbewältigung
Kapitel 9: Die Dialektik der Angst im Gottesverhältnis
9.1 Angst zwischen Theologie und Psychologie
9.1.1 Theologie zwischen Überbietungsanspruch und Ausblendung
9.1.2 Psychologische Zugänge
9.1.2.1 Psychologie der Angst in naturalistischen und kulturalistischen Perspektiven
9.1.2.2 Die Psychoanalyse (Sigmund Freud)
a) Ansatz und geschichtliche Entfaltung der Psychoanalyse
b) Theorie und Pathologie der Angst
c) Therapeutische Verfahrensweisen
9.1.2.3 Verhaltenstherapie (Jürgen Margraf)
a) Ansatz und Entfaltung der Verhaltenstherapie
b) Theorie und Pathologie der Angst
c) Therapeutische Verfahrensweisen
9.2 Der Prozess der Angstbewältigung bei Luther
9.2.1 Angst und ihre Bewältigungsmöglichkeiten im Spätmittelalter
9.2.2 Angstbewältigung bei Luther
9.2.2.1 Luthers Einsicht in die Problemstruktur seiner Angstverstrickung
9.2.2.2 Bewältigung der Furcht
9.2.3 Das Verhältnis von Theologie und Psychologie
9.2.3.1 Hermeneutischer Gebrauch der Psychologie
9.2.3.2 Psychoanalyse und Verhaltenstherapie
9.2.3.3 Wechselseitiger Gewinn
9.3 Die Dialektik der Angst im Gottesverhältnis
9.3.1 Angst im Gottesverhältnis
9.3.2 Angefochtener Glaube
9.3.3 Gestaltwandel der Angst
9.3.4 Theologia crucis und Evangelium
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen Luther
Weitere Quellen
Sekundärliteratur
Personenregister
Sachregister

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Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von

Albrecht Beutel

147

Thorsten Dietz

Der Begriff der Furcht bei Luther Perspektiven eines europäischen Anerkennungskollisionsrechts für Statusfragen

Mohr Siebeck

Thorsten Dietz, geboren 1971; Studium der Ev. Theologie und Philosophie in Münster, Tübingen und Marburg; 1997 – 2000 Dozent am Theologischen Seminar Tabor in Marburg; 2000 – 2005 Vikariat und Pfarrstelle z. A. in Castrop-Rauxel; seit 2005 Dozent an der Evangelischen Hochschule Tabor (Marburg).

e-ISBN PDF 978-3-16-151057-1 ISBN 978-3-16-149893-0 ISSN 0340-6741 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2009  Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer­ tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­­ papier gedruckt und von der Großbuchbinderei Josef Spinner in Ottersweier gebunden.

Meiner Frau Tabea

Vorwort Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Januar 2008 an der Philipps-Universität Marburg als Dissertation eingereicht und im Juli 2008 angenommen. Für den Druck wurde sie überarbeitet bzw. im Schlusskapitel ergänzt. Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Dietrich Korsch. Er hat mir in seiner stets ermutigenden Art viele anregende Impulse und in jeder Hinsicht fördernde Begleitung gegeben. Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Jörg Lauster für die Übernahme des Zweitgutachtens. Für die Aufnahme in die Reihe „Beiträge zur Historischen Theologie“ danke ich dem Herausgeber Herrn Prof. Dr. Albrecht Beutel. Für erste wesentliche Anregungen zur Themenstellung dieser Arbeit danke ich Frau Prof. Dr. Edith Düsing. Eine Reihe von Abschnitten wurde in unterschiedlichen Kreisen vorgestellt und diskutiert. Die Analyse der Predigt „P I“ konnte in der mehrjährigen Übung zu den Briefen des jungen Luthers bei Prof. Dr. Monika Rener, Prof. Dr. Hans Schneider und Prof. Dr. Wilhelm Ernst Winterhager besprochen werden. Die Interpretation der Dictata wurde in der Facharbeitsgruppe Systematische Theologie des Arbeitskreises für evangelikale Theologie zur Diskussion gestellt. Grundzüge der Kapitel 5 und 6 konnte ich im Doktorandenkreis von Prof. Dr. Hans Schneider präsentieren. Zu den Kapiteln 7 und 8 erhielt ich wichtige Rückmeldungen von Dr. Judith Becker. Bei den psychologischen Fragen von Kapitel 9 erhielt ich Rat von Dr. Heinrich von Knorre (ehem. Chefarzt der Klinik Hohe Mark, Oberursel) und Dipl.-Psych. Doris Möser-Schmidt. Systematische Aspekte aus dem 9. Kapitel wurden im Doktorandenkolloquium von Prof. Dr. Dietrich Korsch sowie im Dozentenkollegium der Evangelischen Hochschule Tabor zur Diskussion gestellt. Allen Beteiligten sei für Rückmeldung und Anregung herzlich gedankt! Bei der Korrektur bzw. der Überarbeitung des Textes halfen mir Jutta Balzereit, Dr. Detlef Häußer, Eva-Maria Galle, Thomas Hilsberg, Holger Niehausmeyer, Henning Reinhard und Dr. Tobias Sarx. Bei technischen Fragen erhielt ich Unterstützung von Dr. Christoph Rösel, Dr. Norbert Schmidt und Hans-Werner Zöllner. Für menschliche und geistliche Unterstützung während des Arbeitsprozesses danke ich außer den schon Genannten Holger Bartram, Dorothea Damrath, Johannes Erlbruch, Stefan Jäger, Thomas Jeromin, Matthias

VIII

Vorwort

Köhler, Mathias Kürschner, Dr. Frank Lüdke, Hans-Jürgen Patro, Jens Pracht, Lars Reinhard, Prof. Dr. Ralf Stolina, Michael Weber, Christiane Weiß-Fersterra, Inga Witthöft. Für Druckkostenzuschüsse danke ich der Evangelischen Kirche von Westfalen, der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und dem Arbeitskreis für evangelikale Theologie. Ich danke dem Verlag Mohr Siebeck für die Betreuung und die gute Zusammenarbeit, insbesondere Frau Lisa Laux, Frau Tanja Mix und Herrn Dr. Henning Ziebritzki. Abschließend gebührt meiner Familie großer Dank. Meine Eltern und Schwiegereltern haben mich in den vergangenen Jahren stets begleitet und ermutigt, insbesondere meine Mutter hat mich in den Abschlussphasen des Schreibens tatkräftig unterstützt. Der größte Dank gebührt meiner Frau Tabea. Sie hat in den letzten Jahren die Freuden und Lasten eines solchen Projekts mitgetragen und mir dabei stets das Gefühl gegeben, dass die Furcht nicht das letzte Wort behält. Ohne sie wäre ein Leben gleichzeitig mit Beruf, Familie und Promotion unmöglich bzw. kein Leben gewesen. Ihr ist dieses Buch auch gewidmet. Marburg, März 2009

Thorsten Dietz

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

Vorwort ................................................................................................. VII

Kapitel 1: Einleitung ............................................................................ 1 1.1 Das Phänomen Angst und Luther ........................................................ 1 1.2 Zur Begriffsgeschichte von Furcht und Angst ..................................... 3 1.3 Aufbau der Arbeit ............................................................................... 7

Kapitel 2: Forschungsgeschichte ....................................................... 9 2.1 Furcht und Buße.................................................................................. 9 2.2 Furcht und Anfechtung...................................................................... 16 2.3 Furcht und das erste Gebot ................................................................ 23 2.4 Zwischen Theologie und Psychologie ............................................... 28

Kapitel 3: Problemgeschichte der Furcht von Augustin bis zum Spätmittelalter ...................................................................... 33 3.1 Furcht bei Augustin........................................................................... 34 3.1.1 Die Unterscheidung zweier Furchtarten.................................... 34 3.1.2 Der relative Nutzen des timor servilis ...................................... 36 3.1.3 Das zwiespältige Erbe Augustins ............................................. 39 3.2 Furcht in der mittelalterlichen Scholastik .......................................... 43 3.2.1 Gregor der Große ..................................................................... 43 3.2.2 Die Furchtlehre bei Petrus Lombardus ..................................... 44 3.2.3 Furcht in der Hoch- und Spätscholastik .................................... 48 3.3 Furcht in der Frömmigkeitstheologie................................................. 58 3.3.1 Bernhard von Clairvaux ........................................................... 59 3.3.2 Devotio moderna und die Furcht in der Meditation .................. 62 3.3.3 Jean Gerson.............................................................................. 63

X

Inhaltsverzeichnis

3.4 Intensivierung und Entlastung ........................................................... 67 3.5 Fazit: Furcht im Horizont des mittelalterlichen Gradualismus ........... 71

Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung .............................. 74 4.1 Die Predigt „De timore Dei“ von 1515 .............................................. 74 4.1.1 Datierung und Deutungsspektrum ............................................ 74 4.1.2 Aufbau der Predigt ................................................................... 77 4.1.3 Gestalten und Stufen der Furcht ............................................... 78 4.2. Dictata super Psalterium................................................................... 82 4.2.1 Rezeption der klassischen Furchtlehre in den Dictata ............... 82 4.2.2 Timor zwischen amor und odium ............................................. 87 4.2.3 Kritik der Sicherheit................................................................. 92 4.2.4 Furcht vor Strafe als falsche Motivation (Kritik des timor servilis) ......................................................... 98 4.2.5 Geistliche Furcht vor Zorn und Hölle ..................................... 103 4.2.5.1 Furcht und Zorn Gottes.............................................. 103 4.2.5.2 Furcht vor der Hölle .................................................. 107 4.2.5.3 Furcht und Meditation ............................................... 110 4.2.6 Scholastikkritik und simul...................................................... 116 4.2.7 Das Ideal der Vollkommenheit ............................................... 121 4.2.8 Fazit: Theologie im Übergang ................................................ 123

Kapitel 5: Furcht in der Römerbriefvorlesung ............................ 128 5.1 Sünde und Sicherheit....................................................................... 129 5 2. Gesetz und timor servilis................................................................ 132 5.3. Rechtfertigung, Glaube und Furcht................................................. 135 5.4 Der Einfluss Taulers und die Passivität des Glaubens...................... 143 5.4.1 Die Diskussion um den Einfluss der Mystik ........................... 144 5.4.2 Furcht und Anfechtung bei Tauler.......................................... 149 5.4.3 Passivität des Glaubens .......................................................... 153 5.5 Prädestinationsanfechtung und Heilsgewissheit............................... 161 5.5.1 Gnadenwahl und Ergebung..................................................... 161 5.5.2 Paradoxe Gewissheit .............................................................. 169 5.6 Fazit: Begnadete Furcht .................................................................. 171

Inhaltsverzeichnis

XI

Kapitel 6: Der Umbruch im Umgang mit Furcht während des Ablassstreites ............................................................. 174 6.1 Furcht in der Auslegung der sieben Bußpsalmen ............................. 174 6.2 Der Umbruch im Ablassstreit .......................................................... 181 6.2.1 Die Ablassthesen und die anschließenden Auseinandersetzungen............................................................ 181 6.2.2 Resolutiones zu den Ablassthesen .......................................... 186 6.2.2.1 Die rechte Furcht Gottes ............................................ 186 6.2.2.2 Furcht und Fegefeuer................................................. 187 6.2.2.3 Furcht und Glaube ..................................................... 195 6.2.2.4 Gesetz und Evangelium ............................................. 199 6.2.2.5 Fazit: sola fide ........................................................... 200 6.3 Furcht in der Hebräerbriefvorlesung................................................ 204 6.4. Die Leipziger Disputation .............................................................. 213 6.4.1 Vertiefung der Ablassauseinandersetzung .............................. 213 6.4.2 Die Auseinandersetzung in Leipzig ........................................ 216 6.4.3 Systembruch mit Augustin und der scholastischen Theologie........................................................ 221 6.5 Die Bewährung des Neuen in den reformatorischen Sermonen von 1519 und 1520 ......................................................................... 224 6.5.1 Das erschrockene Gewissen ................................................... 225 6.5.2 Das introspektive Missverständnis: Vermessenheit oder Verzweiflung ......................................................................... 227 6.5.3 Sakrament als Zusage Gottes.................................................. 230 6.5.4 Glaubstu, so hastu .................................................................. 234 6.6 Die systematische Struktur der Rechtfertigungslehre....................... 239 6.6.1. Die Aporien der Durchbruchdebatte und die reformatorischen Exklusivpartikel .................................... 239 6.6.2. Selbstverhältnis und Gottesverhältnis.................................... 245

Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium .... 252 7.1 Explikationszusammenhänge der Furcht.......................................... 252 7.1.1 Furcht als Schrecken des Gesetzes ......................................... 253 7.1.2 Furcht der Anfechtung ........................................................... 254 7.1.3 Die Furcht des Herrn.............................................................. 255 7.2 Katechismusformel und die Auslegung des ersten Gebotes ............. 257 7.3 Melanchthons Umgang mit der Frage des timor .............................. 264 7.4 Furcht bei Luther in den neuen Erfahrungszusammenhängen der 1520er Jahre ............................................................................. 275

XII

Inhaltsverzeichnis

7.4.1 Bauernkrieg und Visitationserfahrungen ................................ 275 7.4.2 Angst und Anfechtung ........................................................... 277 7.5 Furcht und Glaube in der Katechismusformel.................................. 281 7.5.1 Gottesfurcht zwischen Gottes- und Weltverhältnis ................. 282 7.5.2 Differenz und Komplementarität in der Wittenberger Reformation ........................................................................... 286

Kapitel 8: Umgang mit Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde ............................................................................. 289 8.1 Furcht und Tod in der Vorlesung über Ps 90 ................................... 290 8.1.1 Gesetz, Zorn und Tod............................................................. 290 8.1.2 Erschrecken und Gottesfurcht ................................................ 292 8.1.3 Fazit: Der Tod als Horizont der Theologie ............................. 297 8.2 Furcht und Sünde in der Genesisvorlesung ...................................... 298 8.3 Furcht und Buße in den Antinomerdisputationen............................. 304 8.3.1 Furcht als Schlüsselproblem der Antinomerstreitigkeiten ....... 304 8.3.2 Luthers Ringen um Einheit und Kontinuität der Rechtfertigungslehre .............................................................. 306 8.3.3 Buße und Gesetz .................................................................... 309 8.3.4 Furchterfahrung und -bewältigung ......................................... 317 8.4 Das Gesetz und die Bedrohtheitsdimension des Lebens ................... 322 8.4.1 Die Kritik religiöser Sicherheit .............................................. 322 8.4.2 Sündenerkenntnis und die Dynamik der Verzweiflung ........... 324 8.4.3 Glaube als Furchtbewältigung ................................................ 325

Kapitel 9: Die Dialektik der Angst im Gottesverhältnis ........... 327 9.1 Angst zwischen Theologie und Psychologie .................................... 327 9.1.1 Theologie zwischen Überbietungsanspruch und Ausblendung ................................................................... 327 9.1.2 Psychologische Zugänge ........................................................ 330 9.1.2.1 Psychologie der Angst in naturalistischen und kulturalistischen Perspektiven................................... 330 9.1.2.2 Die Psychoanalyse (Sigmund Freud) ......................... 334 a) Ansatz und geschichtliche Entfaltung der Psychoanalyse .. 334 b) Theorie und Pathologie der Angst ..................................... 337 c) Therapeutische Verfahrensweisen ..................................... 341 9.1.2.3 Verhaltenstherapie (Jürgen Margraf) ......................... 343 a) Ansatz und Entfaltung der Verhaltenstherapie ................... 343

Inhaltsverzeichnis

XIII

b) Theorie und Pathologie der Angst ..................................... 347 c) Therapeutische Verfahrensweisen ..................................... 349 9.2 Der Prozess der Angstbewältigung bei Luther ................................. 353 9.2.1 Angst und ihre Bewältigungsmöglichkeiten im Spätmittelalter................................................................... 353 9.2.2 Angstbewältigung bei Luther ................................................. 355 9.2.2.1 Luthers Einsicht in die Problemstruktur seiner Angstverstrickung........................................... 356 9.2.2.2 Bewältigung der Furcht ............................................. 361 9.2.3 Das Verhältnis von Theologie und Psychologie...................... 366 9.2.3.1 Hermeneutischer Gebrauch der Psychologie .............. 366 9.2.3.2 Psychoanalyse und Verhaltenstherapie....................... 367 9.2.3.3 Wechselseitiger Gewinn ............................................ 370 9.3 Die Dialektik der Angst im Gottesverhältnis ................................... 372 9.3.1 Angst im Gottesverhältnis ...................................................... 372 9.3.2 Angefochtener Glaube............................................................ 375 9.3.3 Gestaltwandel der Angst ........................................................ 383 9.3.4 Theologia crucis und Evangelium .......................................... 386

Quellen- und Literaturverzeichnis ......................................................... 389 Personenregister.................................................................................... 405 Sachregister .......................................................................................... 408

Kapitel 1

Einleitung Kapitel 1: Einleitung

Als bedeutendes Phänomen humaner Selbsterfahrung ist Angst ein schillerndes Thema aller Kulturwissenschaften. Nicht zuletzt ihre spannungsreiche Ambivalenz macht sie dabei zu einem herausfordernden Gegenstand der Reflexion. Angst hat viele Gesichter. Sie ist tief in die Naturgeschichte des Lebens verwoben und kann sich gleichzeitig an letzten religiösen bzw. metaphysischen Fragen entzünden. Sie widerfährt uns in elementarer Leibgebundenheit, gewinnt aber auch in ästhetischer Gestaltung ergreifenden Ausdruck. In der Angst zeigt sich ein ungeheuer vitales Interesse an der eigenen Unversehrtheit. Ebenso kann sich in diesem Erleben eine tödliche Bedrohung des eigenen Lebens verdichten. Ein so elementares Grundgefühl ist für die Theologie nicht nur als praktische Lebensherausforderung von Interesse. Die unbedingte Wucht, mit der Angst die Abgründigkeit des Lebens erfahrbar machen kann, aber auch das Gefühl beglückender Erlösung, das ihre Überwindung mit sich zu bringen vermag, machen sie zu einem unvermeidbaren Thema auch theologischer Anthropologie. In einem ersten Schritt ist zunächst eine Annäherung an das Phänomen Angst aus theologischer Sicht zu vollziehen unter besonderer Berücksichtigung der Chance, es am Beispiel Martin Luthers zu bearbeiten (1.1). Weiter gilt es, sich über die Stellung Luthers innerhalb der generellen Begriffs- und Problemgeschichte der Angst zu orientieren (1.2). Schließlich ist der Gedankengang der hier vorgelegten Untersuchung in seinem Grundriss vorzustellen (1.3).

1.1 Das Phänomen Angst und Luther 1.1 Furcht bei Luther

Nicht zuletzt im Bezug auf die Religion erweist sich Angst als ein tief ambivalentes Thema. So wird schon seit der Antike Angst zum Ausgangspunkt genommen, Religion insgesamt als Reflex und vermeintlichen Beschwichtigungsversuch menschlichen Angsterlebens zu beschreiben und sie damit kritisch aufzuheben. Zugleich wird Angst immer wieder auch als Lebensdimension mit einem solch tiefreichenden Verstörungspotenzial beschrieben, dass nur eine religiöse Sicht der Wirklichkeit sie wahrhaft

2

Kapitel 1: Einleitung

bewältigen könne. Der Umstand, dass Angst gleichermaßen in religionskritischer wie in apologetischer Hinsicht beansprucht werden kann, legt eine differenziertere Untersuchung nahe. Sucht man in der christlichen Theologie einen repräsentativen Ausgangspunkt zur Erkundung des Phänomens Angst, bietet sich Martin Luther aus mehreren Gründen an. Schon in historischer Perspektive ist Luther noch in jeder Mentalitätsgeschichte der Angst in Anspruch genommen worden, wenn es darum geht, das Phänomen intensiven Angsterlebens im frühen 16. Jahrhundert exemplarisch zu illustrieren. 1 Auch bei den klassischen Bearbeitungen der Angst innerhalb der Philosophie wurde Luthers besonderer Beitrag zur Frage mindestens indirekt rezipiert und nachdrücklich gewürdigt.2 Dabei zeigt sich auch schnell, dass Luthers Wirkungsgeschichte in Bezug auf das Angstthema erhebliche Spannungen enthält. Auf der einen Seite sind seine Zeugnisse von starkem Angsterleben Teil eines kollektiven protestantischen Bewusstseins geworden. Bis in die Legende hinein („Tintenfass“) ist der „angefochtene Luther“ ein klassischer Topos der Erinnerungskultur. Auf der anderen Seite wird Luther genauso für das Gegenteil in Anspruch genommen. Sein mutiger Auftritt „vor Kaiser und Reich“ in Worms, seine zuversichtlichen Glaubenslieder, ja selbst in dem, was er nicht gesagt hat („So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen…“), wird eine Haltung von Mut und Tapferkeit erinnert. Angesichts dieser Ambivalenzen verwundert es nicht, dass im Blick auf Luther auf der einen Seite sein großer Beitrag zur Überwindung der Angst gewürdigt werden kann, auf der anderen Seite deutlich betont wird, dass die Reformation in dieser Hinsicht gerade nicht zu den Kräften gezählt werden könne, die die mittelalterliche Angst überwunden haben. 3 1

Vgl. die Darstellung von D INZELBACHER, PETER: Angst im Mittelalter. Teufels-, Todes- und Gotteserfahrung: Mentalitätsgeschichte und Ikonographie, Paderborn 1996: „Die religiös empfänglichen Menschen des ausgehenden Mittelalters standen also unter dem doppelten Druck eines furchteinjagenden Gottes und eines genauso furchteinjagenden Teufels, wofür Luthers Ängste wohl das bekannteste Beispiel bieten.“ (S. 132. Vgl. auch S. 118; 133-134 und 240) Vgl. genauso D ELUMEAU, J EAN: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Hamburg 1985 (1978). S. 335ff. Beide Werke zeigen allerdings auch, wie nötig eine differenziertere Erarbeitung der Frage von Angsterleben und -bewältigung bei Luther ist. 2 Vgl. H EIDEGGER , M ARTIN: Sein und Zeit, Tübingen 16 1986 (1927). H EIDEGGER verweist im Vorfeld seiner Angstanalyse auf Augustin, Luther und Kierkegaard, von denen Luther das Furchtproblem „am wenigsten begrifflich, erbaulich aber um so eindringlicher“ (S. 190) bearbeitet habe. 3 Vgl. exemplarisch zwei Zeugnisse: Dass Luthers kulturgeschichtlicher Beitrag gerade auch in der Vermittlung neuen Lebensmutes bestand, betont GOETHE gegenüber ECKERMANN: „Wir wissen gar nicht […], was wir Luthern und der Reformation im allgemeinen zu danken haben. […] Wir haben wieder den Mut, mit festen Füßen auf Gottes

1.2 Begriffsgeschichte der Angst

3

Schließlich ist es diese Ambivalenz, die sich in prominenten Äußerungen Luthers selbst immer wieder finden lässt. Beides verdichtet sich in seinen Liedern: Auf der einen Seite findet sich die starke Betonung intensiven Angsterlebens: „Die Angst mich zu verzweifeln trieb, / dass nichts denn Sterben bei mir blieb, / zur Höllen musst ich sinken.“ (EG 341,3) Auf der anderen Seite begegnen hingegen die Zeugnisse von Trotz und Mut: „Und wenn die Welt voll Teufel wär / und wollt uns gar verschlingen, / so fürchten wir uns nicht so sehr, / es soll uns doch gelingen.“ (EG 362,3) Eine Rezeptionsgeschichte, die Luther nur einseitig als Überwinder oder Verstärker von Ängsten wahrnehmen kann, wird dieser komplexen Lage offensichtlich nicht gerecht. Gerade die vermeintlichen Gegensätze in seinem Erleben wie in der späteren Wirkungsgeschichte empfehlen Luther als Ausgangspunkt, die komplexe Thematik religiöser Ängste und ihrer Bewältigung im Detail zu studieren.

1.2 Zur Begriffsgeschichte von Furcht und Angst 1.2 Begriffsgeschichte der Angst

Keine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Frage der Angst kommt ohne die Berücksichtigung des philosophischen Diskurses aus, wie er sich im Anschluss an Sören Kierkegaard im 20. Jahrhundert entwickelte.4 Die darin etablierte Unterscheidung von Angst und Furcht nötigt so oder so zur Stellungnahme. Es bedarf keines Nachweises, dass Kierkegaard wie kein anderer am Beginn der modernen Diskussion der Angst steht. Vergegenwärtigen wir uns in aller Kürze seinen Neuansatz. Tief in der christlichen Tradition in ihrer evangelisch-lutherischen Gestalt verwurzelt, wählt Kierkegaard in der Erde zu stehen und uns in unserer gottbegabten Menschennatur zu fühlen.“ (E CKERMANN, J OHANN P ETER : Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hrsg. von Fritz Bergemann [it 500], Frankfurt/Main 1981 [1836/1848]. S. 718/719.) Nicht nur nicht als Teil der Lösung, sondern eher noch als Verschärfer der mittelalterlichen Angstproblematik kommt Luther in der Mentalitätsgeschichte der Angst bei JEAN DELUMEAU zu stehen. DELUMEAU beschreibt die angsterfüllte Weltuntergangsstimmung der Reformationszeit als zweiten Höhepunkt (nach der Zeit um 1400) in seiner Geschichte der Angst. Dabei lässt er keinen Zweifel an der starken „Rolle Luthers bei Verbreitung der eschatologischen Erwartung“. (D ELUMEAU, S. 337) Die berühmte Debatte über die Zugehörigkeit Luthers zum Mittelalter oder zur Neuzeit spiegelt sich auch in dieser Frage, ob er in mittelalterlichen Ängsten befangen blieb oder zu ihrer Überwindung anleitete. 4 Dieser epochale Einschnitt wird letztlich in allen wesentlichen Lexikonartikeln zum Thema Angst/Furcht deutlich markiert, vgl. z. B. HÄFNER, HEINZ: Art. Angst, Furcht, HWPh I (1973) S. 310-314; SCHNURR, GÜNTHER: Art. Furcht III, TRE XI (1983) S. 759767; RINGLEBEN, J OACHIM: Art. Angst/Furcht phil., RGG4 1 (1998) Sp. 496-497. Vgl. zuletzt auch DEMMERLING, CHRISTOPH und H ILDE LANDWEER: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart/Weimar 2007. S. 63ff.

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Kapitel 1: Einleitung

Problemerfassung der Angst doch einen prinzipiell anthropologischen Ansatz. Angst wird nicht nur im Gottesverhältnis zum Thema, sondern als unvermeidliches Moment menschlichen Selbstverhältnisses erwiesen: Als Selbstverhältnis des menschlichen Geistes ist die Angst „die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit“ 5. Anders als Luther sieht sich Kierkegaard im neuzeitlichen Horizont genötigt, eine präzise Bestimmung der Angst am Ort des menschlichen Selbstverhältnisses zu leisten. Angst hat ihren Sitz in der Struktur menschlicher Subjektivität als auf Freiheit angelegtes Verhältnis der Selbstbestimmung. In diesem Zusammenhang vollzieht Kierkegaard auch die begriffliche Differenzierung von Angst und Furcht. Diese Unterscheidung wird da nötig, wo nach einem Einheitsgrund von Angst im menschlichen Wesen gefragt wird. Insofern wird hier eine transempirische, transzendentale Unterscheidung vorgenommen, die die Bedingung der Möglichkeit des Furchterlebens (auf konkrete Gegenstände bezogen) immer schon in der auf Freiheit hin angelegten Person voraussetzt. Insofern ist die Angst nicht einfach „ungegenständlich oder unbestimmt“, wie oft verkürzend behauptet wird, sondern bringt die unbedingten Bezüge personalen Lebens zur Geltung: als Angst vor der Freiheit bzw. Angst vor sich selbst. Kierkegaard will dabei die Phänomenologie des Angsterlebens in solcher Weise zur Geltung zu bringen, dass die Bewältigung der Angst im christlichen Glauben zugleich dessen Regulierungsfähigkeit menschlichen Lebens zu erweisen vermag. Selbst unter den Bedingungen der Verdrängung religiöser Selbstdeutungen sucht Kierkegaard noch die Unentrinnbarkeit dieses Horizonts aufzuzeigen. Die Bewältigung der Angst vollzieht sich in solcher Selbstwahl, die mit der existenziellen Aneignung der Angst diese so transzendiert, dass der Mensch sich zugleich mit religiösem Vertrauen in Gott gegründet weiß. Damit gewinnt „Der Begriff Angst“ eine eigentümliche Schlüsselstellung. Auf der einen Seite ist die Untersuchung ganz im Stil der philosophischen Erörterung der Zeit gehalten (als ein Traktat aus der Psychologie des subjektiven Geistes). Auf der anderen Seite ist es ein Werk voller subtiler Grenzübergänge zum Gebiet des Religiösen, das nicht nur im Horizont christlicher Sündenlehre ausdrücklich Anschlussmöglichkeiten an die Theologie formuliert, sondern diese immer wieder auch selbst vollzieht. Kierkegaards Abhandlung hat Geschichte gemacht. Auch wenn sie in Heideggers „Sein und Zeit“ nicht eben oft erwähnt wird, ist es offenkundig, wie viel Heidegger den Anstößen Kierkegaards verdankt. Heidegger 5 K IERKEGAARD, SÖREN: Der Begriff Angst. Vorworte. Gesammelte Werke, hrsg. von Emanuel Hirsch, Gütersloh 31991 (1844). S. 40. In dieser Formel wird prägnant deutlich, dass sowohl das Leben mit seinen Möglichkeiten ängstigt als auch der Mensch in seiner Freiheit sich selbst Möglichkeit und damit Gegenstand der Angst ist.

1.2 Begriffsgeschichte der Angst

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übernimmt die Unterscheidung von Furcht und Angst, wenn er unter dem Wovor der Angst das In-der-Welt-Sein als solches versteht.6 In Heideggers epochalem Werk gewinnt Angst in fundamentalontologischer Absicht eine Schlüsselstellung, wenn von dieser Grundbefindlichkeit her das Dasein in ursprünglicher Erschlossenheit vergegenwärtigt werden soll. Trotz dieser ontologischen Absicht lässt sich noch unschwer die Kontinuität der Horizonte zu Kierkegaard und Luther erkennen, wenn Heidegger seine Angstanalyse in der Interpretation der Phänomene Gewissen und Tod vorantreibt; genauso wenig lässt sich aber auch die Diskontinuität übersehen, die sich in der programmatischen Ausblendung jeder metaphysischen Dimension erweist. 7 Kierkegaard und Heidegger haben mit ihren Analysen der Angst einen Rahmen entwickelt, innerhalb dessen die Diskussion der Angst sich im 20. Jahrhundert vollziehen konnte; sei es in einer Radikalisierung der heideggerschen Position hin zu einem existenzialistischen Freiheitspathos bei Sartre 8, sei es in geschichtsphilosophischer Absicht wie bei Karl Jaspers9, Angst als das Grundgefühl einer durch Krisen gekennzeichneten modernen Epoche zu identifizieren, sei es in dezidiert theologischer Anknüpfung an Kierkegaard in Paul Tillichs „Der Mut zum Sein“ 10. Gemeinsam ist all diesen Anläufen der Versuch, in der Befindlichkeit der Angst den Ansatz einer grundlegenden Deutung des Menschen bzw. des Lebens zu gewinnen. Dieser Schlüsselcharakter der Angst machte es

6 H EIDEGGER , S. 186. Unvermeidlich bringt dieser zentrale Ausdruck H EIDEGGERS den Klang der Lutherübersetzung von Joh 16,33 („In der Welt habt ihr Angst…“) in Erinnerung! 7 Vgl. vor allem die Studie von D ÜSING, E DITH: Der Begriff der Angst bei Kierkegaard und Heidegger, in: Transzendenz und Existenz. Idealistische Grundlagen und moderne Perspektiven des transzendentalen Gedankens, hrsg. von Manfred Baum und Klaus Hammacher, FS Wolfgang Janke, Amsterdam/Atlanta 2001. S. 21-60. E DITH DÜSING legt damit eine der wenigen Studien zum philosophischen Begriff der Angst vor, in der Luthers Beitrag zur Frage ausdrücklich gewürdigt wird, vgl. S. 26-27. 8 SARTRE, J EAN-P AUL: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg 1987 (1943). Unbeschadet der starken Anregung durch Heidegger ist es interessant, dass SARTRE sich in seiner Bestimmung der Angst noch näher und ausdrücklicher an Kierkegaards Verknüpfung der Angst mit der Freiheitsthematik anschließt als Heidegger: „In der Angst wird dem Menschen seine Freiheit bewusst oder, wenn man lieber will, die Angst ist die Seinsweise der Freiheit als Seinsbewusstsein“. (SARTRE, S. 70) 9 J ASPERS, K ARL: Die geistige Situation der Zeit, Berlin/New York 1999 (1931). S. 55ff. 10 T ILLICH, P AUL: Der Mut zum Sein, in: Ders.: Sein und Sinn. Zwei Schriften zur Ontologie, Gesammelte Werke, hrsg. von Renate Albrecht. Bd. 11, Stuttgart 1969 (1952).

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Kapitel 1: Einleitung

wohl auch so attraktiv, die prinzipielle Unterscheidung von Angst und Furcht fortzuschreiben.11 Im Blick auf diese Problemkonstellation innerhalb der modernen Begriffsgeschichte der Angst geht die vorliegende Untersuchung von folgender These aus: Mit seiner existenziellen wie theologischen Auslotung religiöser Furchterfahrungen im Gottesverhältnis erweist sich Luther als Voraussetzung der modernen Prinzipialisierung des Angstdiskurses. Angst und Furcht im Sinne der kierkegaardschen Unterscheidung fallen bei ihm gewissermaßen noch in eins. Im Gottesverhältnis gewinnt die menschliche Selbsterfahrung auch im Blick auf die Angst solche Züge der Unbedingtheit und Totalität, dass die Furcht im Gottesverhältnis die kategoriale Prinzipialität des späteren Angstbegriffs vorwegnimmt. Zugleich ist unverkennbar, dass Luther im allgemeinen Bewusstsein der Problemgeschichte der Angst kaum eine Rolle spielt. Sind seine Angsterfahrungen Teil der wissenschaftlichen wie der populären Erinnerungskultur, so ist seine theologische Analyse der Angst bisher kaum als solche wahrgenommen worden. In diesem Sinne soll es in dieser Untersuchung um den Begriff der Furcht bei Luther gehen. Seine ganz auf den eigenen wie kollektiven Horizont der Erfahrung von Angst eingestellte theologische Reflexion derselben birgt erhebliche Potenziale an hilfreichen Unterscheidungs- und existenziellen Bewältigungsmöglichkeiten. Gerade am Beispiel der Angst erweist Luthers von der Bibel her kommende Theologie ihren Charakter als Erfahrungswissenschaft und als Unterscheidungslehre. 12

11

Zugleich gibt es gute Gründe, diese Unterscheidung nicht konsequent in den Sprachgebrauch zu überführen. In der gemeinsprachlichen Entwicklung hat sich im 20. Jahrhundert eine erhebliche Gebrauchsverschiebung ergeben, in der das Wort ‚Angst‘ den Ausdruck ‚Furcht‘ zunehmend verdrängt. Vgl. vor allem die Studie von B ERGENHOLZ, H ENNING: Das Wortfeld Angst. Eine lexikographische Untersuchung, Stuttgart 1980. Zur Gebrauchsverschiebung siehe B ERGENHOLZ, S. 247. Diese Inflationierung im Gebrauch des Wortes Angst läuft dem Sinn der fachsprachlichen Normierung direkt entgegen. Hinzu kommt, dass die Betonung dieser Unterscheidung in der Regel zu einer Vernachlässigung anderer Ausdrücke des Wortfeldes Angst wie Schrecken, Entsetzen, Grauen, Panik, gruseln, scheuen etc. führt. So sinnvoll diese Unterscheidung in bestimmter Perspektive ist, im Blick auf die Rekonstruktion des Angstverständnisses Luthers ist sie nicht anwendbar, so dass in dieser Untersuchung kein konstitutiver Gebrauch von ihr gemacht wird. Die Begriffe Angst und Furcht werden daher weitgehend synonym verwendet. Entsprechend der gemeinsprachlichen Entwicklung wird in historischen Kontexten häufiger von Furcht die Rede sein, im Blick auf Fragen der Gegenwartsbedeutung hingegen stärker von Angst. 12 Vgl. BEUTEL, A LBRECHT: Theologie als Unterscheidungslehre, in: Ders. (Hrsg.): Luther Handbuch, Tübingen 2005. S. 450-454; Ders.: Theologie als Erfahrungswissenschaft, in: Ders. (Hrsg.): Luther Handbuch, Tübingen 2005. S. 454-459.

1.3 Aufbau der Arbeit

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1.3 Aufbau der Arbeit 1.3 Aufbau der Arbeit

Die schon angesprochenen Widersprüche in der Rezeption Luthers bestimmen auch die theologische Forschungsgeschichte zum Thema der Angst bei Luther (Kapitel 2). Furcht wurde wohl in unterschiedlichen Perspektiven als Schlüsselthema in Luthers Denken wahrgenommen, bis jetzt aber nur in partikularen Fragestellungen näher untersucht. Darum kommt es in einem ersten Schritt darauf an, die verschiedenen Dimensionen des Furchtproblems aufeinander zu beziehen. Luthers Umgang mit Angst ist nicht zu begreifen ohne den Anschluss an die Problemgeschichte der Furcht in der altkirchlichen und mittelalterlichen Theologie (Kapitel 3). Dabei ist der komplizierte Verlauf der Begriffsgeschichte von timor zu rekonstruieren, damit Luthers Neuansatz in der theologischen Reflexion des Begriffs der Furcht nachvollziehbar wird. Nach dieser doppelten Vorgeschichte wird sodann (Kapitel 4-6) Luthers Anschluss an die spätmittelalterliche Problemlage sowie seine eigene Entwicklung eines theologischen Umgangs mit Furcht beschrieben. 13 Die enge Verflechtung dieses Prozesses mit Luthers eigenem Erfahrungshorizont von Furcht sowie die generelle Entwicklung seines theologischen Denkens in zunehmender Abgrenzung von der bisherigen Tradition nötigen zu detaillierter und umfassender Rekonstruktion seiner theologischen Anfänge insgesamt. Es ist eine wesentliche These dieser Untersuchung, dass es vom Problem der Angst her in besonderer Weise auch möglich ist, Luthers Entwicklung zu periodisieren wie in ihrem Gehalt differenziert zu erschließen. In diesem Sinne werden Luthers frühe theologische Vorlesungen auf ihren Umgang mit Furcht hin untersucht unter besonderer Berücksichtigung der Verarbeitung der Tradition (Kapitel 4 und 5). Besondere Bedeutung kommt naturgemäß der Schilderung der Ablassauseinandersetzung zu (Kapitel 6). Dabei wird zu zeigen sein, dass das Verständnis der Anfänge der Reformation insgesamt um eine wesentliche Dimension verkürzt wird, solange das Problem der Furcht und ihrer Bewältigung nicht gebührende Aufmerksamkeit erfährt. Dieses Kapitel schließt mit einer ersten systematischen Bündelung, welche Bedeutung das Problem der Furcht für die theologische Entwicklung Luthers und für das Verständnis der Rechtfertigung besitzt.

13 Zitiert wird nach LUTHER , M ARTIN: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abt. Schriften, 80 Bde., Weimar 1883-2000. Abt. Briefe, 18 Bde., Weimar 1930-1985. Abt. Tischreden, 6 Bde., Weimar 1912-1921. Da aufgrund der Unregelmäßigkeit der Zeichensetzung vor allem in den frühen Texten das Zitatende oft nicht mit dem Satzende identisch ist, wird aus Gründen der Übersichtlichkeit in dieser Arbeit dort grundsätzlich kein Auslassungszeichen gesetzt, sondern mit Anführungsstrichen geschlossen.

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Kapitel 1: Einleitung

Haben wir in solcher Weise eine entwicklungsgeschichtliche Basis im Blick auf den jungen Luther gelegt, so gilt es, die in der Forschung umstrittenen Fragen um Gottesfurcht, Buße und Anfechtung an den dafür wesentlichen Textzusammenhängen zu bewähren. Zunächst erfolgt die Erarbeitung des Verständnisses einer Formulierung des Kleinen Katechismus: „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ Welche Bedeutung hat Gottesfurcht in diesem Kontext (Kapitel 7)? Schließlich soll an exemplarischen Zusammenhängen der dreißiger Jahre der Frage nachgegangen werden, wie es um die grundsätzliche Kohärenz des theologischen Begriffs der Furcht bei Luther bestellt ist (Kapitel 8). Dafür sind die Problemfelder der Anfechtung und der Buße noch einmal systematisch in den Blick zu nehmen; sowohl im Blick auf die Kohärenz der Beschreibungen Luthers wie im Blick auf die werkgeschichtliche Kontinuität seiner Anschauungen. Dabei werden im Blick auf das Verständnis des Gesetzes auch Potenziale hermeneutischer Erschließungskraft deutlich, die Luther selbst nicht immer ausgeschöpft hat. Abschließend soll in einer zweiten systematischen Summe nach dem grundsätzlichen Gewinn der Theologie Luthers für das Verständnis von Angst gefragt werden (Kapitel 9). Im Sinne einer exemplarischen Vergegenwärtigung wird Luthers Umgang mit Furcht in den Horizont gegenwärtiger Zugänge der Psychologie zur Angstbewältigung gestellt. Dafür sind zunächst Voraussetzung und Ansatz psychologischer Perspektiven zum Phänomen Angst zu entfalten, was am Beispiel der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie (bzw. der empirischen Psychologie) geschieht. In einem zweiten Schritt soll Luthers Weg der Angstbewältigung noch einmal mit Hilfe der in der Psychologie gewonnenen Kategorien beschrieben werden. Ziel dieses hermeneutischen Gebrauchs psychologischer Beschreibungsmuster ist ein wechselseitiger Gewinn: ein Zuwachs an Beschreibungs- und Verständnispräzision auf Seiten der Theologie, eine Aufmerksamkeit auf grundlegende Sinndimensionen im Angsterleben auf Seiten der Psychologie. Ging es in der Konzentration auf den Begriff der Furcht bei Luther stets um seine theologische Bewältigung dieser Frage, so soll abschließend die Skizze einer von Luther inspirierten Theologie der Angst im gegenwärtigen Horizont die Untersuchung beschließen. Als Ziel der Arbeit lässt sich somit ein Doppeltes beschreiben: Zum einen soll die Analyse der traditionsgeschichtlichen und entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge eine Reihe von vielfach diskutierten Fragen der Lutherforschung auf eine unverzichtbare Grundlage stellen. Zum anderen soll die systematische Beschreibung des Zusammenhangs von existenzieller Furchterfahrung und theologischer Furchtdeutung bzw. -bewältigung einen Beitrag leisten zu einer gegenwärtig verantworteten theologischen Bearbeitung des Phänomens Angst.

Kapitel 2

Forschungsgeschichte Kapitel 2: Forschungsgeschichte

Bis heute liegt keine Gesamtdarstellung zur Frage der Furcht bei Luther vor. Seit August Hunzingers Vorarbeit für die Problemgeschichte der Furcht beginnend mit Augustin ist diese in der Lutherforschung im Horizont unterschiedlicher Fragen zum Thema gemacht worden. Bereits 1906 wies Hunzinger auf die überragende Bedeutung des Themas Furcht bei Luther hin: Die „so außerordentlich wichtige Lehre von der Furcht und ihrer religiös-sittlichen Bedeutung und Wertung bedarf noch immer einer genaueren Darlegung.“ 1 Die von Hunzinger angekündigte Darlegung der Lehre Luthers von der Furcht fand leider keine Ausführung mehr. Um die Schließung dieser Lücke geht es in dieser Untersuchung. In der Forschungsgeschichte zeigen sich drei Komplexe, in deren Zusammenhang das Verständnis von Furcht bei Luther intensiver diskutiert worden ist: Das Verständnis der Buße (2.1), Luthers Erfahrung der Anfechtung (2.2) und die Interpretation der Katechismusformel „Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen“ (2.3). Bei der abschließenden Formulierung der durch diese Forschungsgeschichte gestellten Herausforderung ist die Geschichte der psychologischen Deutungsversuche gegenüber Luther gesondert zu würdigen (2.4).

2.1 Furcht und Buße 2.1 Furcht und Buße

Albrecht Ritschls klassische Lutherdeutung wurde Ausgangspunkt einer intensiv geführten Diskussion über die Rolle der Furcht im Prozess der Buße. Für Ritschl war es vor allem der junge Luther, der den genuinen Geist der Reformation verkörperte. Die Unterscheidung von frühem und spätem Luther zeigt sich in Ritschls Darstellung des reformatorischen Bußverständnisses. 2 Die katholische Lehre habe im Mittelalter wohl durchaus von der Gnade als dem eigentlichen Grund der Reue gesprochen. Im Institut der Beichte hätten dagegen der Maßstab des Gesetzes und die 1 H UNZINGER , AUGUST W ILHELM : Das Furchtproblem in der katholischen Lehre von Augustin bis Luther, in: Lutherstudien, Zweites Heft, Erste Abt., Leipzig 1906. S. 1. 2 Vgl. zum Folgenden R ITSCHL, A LBRECHT: Rechtfertigung und Versöhnung. Bd. 1: Die Geschichte der Lehre, Bonn 1870. S. 147-151 bzw. S. 162-165.

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Kapitel 2: Forschungsgeschichte

Selbsterforschung des Poenitenten dazu geführt, dass das Gefühl der Furcht bzw. des Schmerzes zum eigentlichen Movens der Buße wurde. Luther dagegen mache in seiner Lehre der Buße damit Ernst, wirklich die Gnade als Ausgangspunkt der Reue zu denken. Wie sich vor allem im Sermo de poenitentia oder im Widmungsbrief an Staupitz zu den Resolutiones (30.05.1518) zeige, sei es die Liebe zur Gerechtigkeit und zu Gott, die psychologisch an Stelle der Furcht das Wirkprinzip der Buße ausmache. Jede Wirkung des Gesetzes sei insofern immer schon von der Wirksamkeit der Gnade im Heilsglauben umfangen. Unter dem Druck der praktischen Aufgaben sei es jedoch zu einem allmählichen Zurückgleiten in problematische Auffassungen gekommen, nicht zuletzt unter dem Einfluss Melanchthons. Vor allem in seinem Unterricht der Visitatoren (1528) habe Melanchthon die Buße ausdrücklich vom Heilsglauben getrennt und die Wirkung des Gesetzes einem allgemeinen Glauben zugeordnet. Es sei Agricola zu verdanken, dass dieser Wandel auch in reformatorischer Zeit nicht unbemerkt geblieben ist. Dieser konnte Ritschl zufolge zu Recht gegen die unglückselige Preisgabe der reformatorischen Anfänge protestieren; er besaß jedoch leider nicht die Fähigkeit, dieses Anliegen in nötiger Klarheit auszuformulieren. Gegen Agricola schloss sich Luther hingegen an Melanchthon an und teilte mit diesem nun eine doppelte Begründung der Buße in Gesetz und Evangelium. Mit „der im ‚Visitationsbüchlein‘ vorgenommenen Schwenkung“ sei es für die Entwicklung der Lehre des Protestantismus dazu gekommen, dass nun doch wieder die „schroffen Erscheinungen der Furcht vor dem Gericht und der Gewissenskämpfe mit dem Gesetze“ 3 einen quasi notwendigen Schein erhielten und langfristig im Protestantismus etwa auch Auswüchse wie die pietistischen Formen der Bußkämpfe ermöglichten. So habe die Rücksicht auf das religiöse Bewusstsein des einfachen Gläubigen in der Visitation die ursprünglichen Einsichten Luthers verdrängt und damit einen „werthvollen Erwerb der Reformation unwirksam“4 gemacht. Ritschls Kritik an Luthers Entwicklung wurde von Wilhelm Herrmann in modifizierter Form aufgenommen.5 Herrmanns Auffassung zufolge zeigt sich in der Reue die sittliche Not angesichts des Sittengesetzes bzw. Gesetzes Gottes.6 Deren Entstehung sei aus der Berührung mit der Macht des Guten zu erklären. In ehrfurchtsvoller Beugung vor dem Guten entstehe der Anfang von Reue und Glaube. Insofern gehe die Reue stets aus der 3 4 5

R ITSCHL, S. 203 bzw. S. 215-216. R ITSCHL, S. 204. HERRMANN, W ILHELM: Der Verkehr des Christen mit Gott. Im Anschluss an Luther dargestellt, Tübingen 71921. Ders.: Die Buße des evangelischen Christen, ZThK 1 (1891) S. 28-81. 6 H ERRMANN, Buße, S. 42; S. 79-81.

2.1 Furcht und Buße

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Gabe Gottes des Glaubens hervor. Auch für Herrmann stellt insofern der Unterricht der Visitatoren in der reformatorischen Entwicklung einen Rückfall zu einem katholischen Glaubensbegriff dar. Dass hier der Ausgangspunkt der Reue in die Erschütterung des Gesetzesschreckens verlegt werde, müsse von den reformatorischen Anfängen Luthers her als Verlust bezeichnet werden. 7 Zurückhaltender als Ritschl betont Herrmann, es gehe nicht darum, die terrores conscientiae gänzlich zu beseitigen oder für überflüssig zu erklären.8 Wohl aber ist es darum zu tun, dass diese für den Weg der Erlösung nichts beitragen. In dieser Intention schließt sich Herrmann ganz an Ritschl an. 9 Deutung und Stellenwert der Furcht sind es also, woraufhin beide sich zu einer Unterscheidung innerhalb von Luthers Entwicklung genötigt sehen. Spielt Furcht in der Entstehung des Glaubens eine wichtige psychologische Rolle und erweist sich somit als unverzichtbares Moment christlicher Existenz? Oder ist die Pointe der reformatorischen Theologie gerade die, die Funktionalisierung der Angst im religiösen Vollzug gänzlich zu eliminieren, wie es der junge Luther in der Ableitung der Buße aus der Gottesliebe getan hatte? Ist somit die durch das Evangelium vermittelte Gnade allein Wirkprinzip der Buße? Oder ist Buße in Gesetz und Evangelium begründet und Furcht vor dem Gericht insofern doch ein wichtiger Konstitutionsfaktor des Glaubens? Diese Lutherdeutungen, die letztlich zur Unterscheidung führten zwischen einem „wahren (jungen) Luther“ und einem „alten Reformator“, der in Anpassung an Umstände und Tradition wesentliche frühe Einsichten preisgibt, blieben nicht unwidersprochen. Vor allem Alfred Galley 10 und Richard Lipsius11 setzten sich mit ihnen grundsätzlich auseinander. Richard Lipsius bemüht sich um den historischen Nachweis, dass von einem Wechsel der Lehrweise Luthers im Bezug auf die Buße keine Rede sein könne. Wohl könne man bei Luther unterscheiden zwischen gesetzlichen, zu Furcht erschütternden Motiven der Buße auf der einen Seite, evangelischen, beseligenden Motiven der Liebe auf der anderen. Der Eindruck innerer Widersprüchlichkeit lasse sich jedoch leicht durch folgende 7 8

HERRMANN, Buße, S. 72ff. „Sie fehlen auch in keinem Christenleben, weil kein Christ vollkommen ist.“ (HERRMANN, Verkehr, S. 223) So auch ders., Buße, S. 34. 9 So HERRMANN, Buße, S. 53. Auch die Lutherinterpretation von ADOLF V. H ARNACK kann hier genannt werden, vgl. ders.: Lehrbuch der Dogmengeschichte. 3. Bd.: Die Entwicklung des kirchlichen Dogmas, Tübingen 51932 (1889). S. 820ff. 10 G ALLEY, A LFRED: Die Bußlehre Luthers und ihre Darstellung in neuester Zeit, Gütersloh 1900. 11 L IPSIUS, R ICHARD ADELBERT: Luthers Lehre von der Buße, Braunschweig 1892 (Separatdruck aus den Jahrbüchern für protestantische Theologie XVIII. Jahrgang, 2. Heft).

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Kapitel 2: Forschungsgeschichte

Unterscheidung aufheben: Wenn Luther die erstmalige Bekehrung des Ungläubigen meine, seien durchaus gesetzliche Motive reuewirkend. Redet Luther aber nur vom Motiv der göttlichen Barmherzigkeit, gehe es ihm nicht um eine Bekehrungsbuße, sondern um die Christenbuße des schon Gläubigen. Wohl sei auch bei dieser das Erschrecken vor dem Gesetz nicht ausgeschlossen, dürfe aber nicht als das eigentliche Wirkprinzip angesehen werden. Letztlich müsse man bei Luther von einer bisweilen unklaren Unterscheidung dieser beiden Bußformen reden; habe man diesen Unterschied aber einmal eingesehen, sei die Einheit der lutherischen Auffassung unbestreitbar. Alfred Galley kritisierte diese Unterscheidung Lipsius’ als künstlich und von außen an Luther herangetragen. Dagegen sei wirklich zuzugestehen, dass in dieser Frage eine Entwicklung Luther zu verzeichnen ist. Diese sei jedoch nicht als Rückschritt zu einem katholisierenden Glaubensverständnis zu deuten oder als Anpassung an kirchliche Praxis zu diskreditieren. Umgekehrt verhalte es sich: „Luthers Lehrweise hatte sich abgeklärt und vervollständigt.“ 12 Beim jungen Luther zeigen sich hier Unklarheiten. Undeutlich bleibe z. B., wie Luther den klassischen Begriff des timor poenae nun aufgreift. Kritisiert er ihn als unzureichende Motivation des Glaubens? Oder wertet er ihn als Höllenfurcht systematisch auf? In der Frühzeit sei Luthers Denken letztlich durch unverarbeitete Vorgaben der Tradition sowie Einschläge mystischer Terminologie im Letzten nicht eindeutig. Sachlich lasse sich soviel erheben: In seinem Umgang mit Furcht sei Luther auf der einen Seite daran gelegen, jeden pelagianischen Schein abzuwehren, als würde der Mensch sich verdienstlich oder vorbereitend zur Gnade halten. Hier wird gegen Eck jede solche Bewertung der Furcht zurückgewiesen. Auf der anderen Seite bestehe kein Zweifel, dass Furcht als Wirkung des Gesetzes elementarer Bestandteil des Glaubens sei. Luther erkenne die zeitliche Priorität der Furcht vor der Liebe an, aber nicht die logische. 13 Hier sei Luther auch psychologisch der Vorzug zu geben vor den Umdeutungen Ritschls und Herrmanns. Im Laufe des 20. Jahrhunderts trat die religionspsychologische Frage nach dem Verhältnis von Buße und Furcht stark zurück.14 Nachdem unter 12 13 14

GALLEY, S. 20. GALLEY, S. 110. Vgl. aber HAUSAMMANN, SUSI: Buße als Umkehr und Erneuerung von Mensch und Gesellschaft. Eine theologiegeschichtliche Studie zu einer Theologie der Buße, Zürich 1974. Auch bei H AUSAMMANN wird im Sinne R ITSCHLS und HERRMANNS Agricolas Protest als berechtigte Erinnerung an frühreformatorische Ansätze Luthers gewürdigt. Für die Kohärenz und Konstanz der Theologie Luthers setzte sich gegenüber HAUSAMMANN vor allem STEFFEN K JELDGAARD-PEDERSEN ein, vgl. ders.: Gesetz, Evangelium und Buße. Theologiegeschichtliche Studien zum Verhältnis zwischen dem jungen Johann Agricola (Eisleben) und Martin Luther (AThD 12), Leiden 1983.

2.1 Furcht und Buße

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dem Einfluss von Karl Holl die Rechtfertigungslehre als organisierendes Zentrum der Theologie Luthers betont wurde, ist auch die Entwicklung des Bußverständnisses unter diesem Blickwinkel zum Thema gemacht worden. Dabei konzentrierte sich die Diskussion zunehmend auf das Verhältnis von inhaltlichem Gehalt und zeitlicher Entwicklung von Luthers reformatorischer Theologie. Auch in dieser Konstellation wurde die Verhältnisbestimmung von jungem und reifem Luther eine Schlüsselfrage der Diskussion. Im Anschluss an Karl Holl, Gerhard Ebeling, Emanuel Hirsch u. a. kam es zu unterschiedlichen Versuchen, Luthers Denken von seiner Anfangsgestalt her als kontinuierliche Vertiefung seiner reformatorischen Rechtfertigungslehre zu erweisen. Reinhard Schwarz 15 beschrieb in diesem Sinne die Bußtheologie der Dictata als Luthers Auseinandersetzung mit der ihn auch existenziell bewegenden Frage der Gerichtsfurcht.16 Dabei betont Schwarz die gegenüber der Scholastik eigenständige Bearbeitung des Problems der Buße im Kontext der Begriffe iudicium und iustitia. Verstanden als Bußgericht gewann der Ausdruck iudicium in Luthers eigentümlicher Betonung der tropologischen Auslegung einen besonderen Stellenwert. Luther verbindet diesen Ausdruck nicht nur mit der monastischen Haltung des Selbstgerichts, er betont auch das Heilshandeln Gottes durch das verurteilende Wort des göttlichen iudicium. Wenn der Büßende in seinem Selbstgericht sich Gottes Urteil zu eigen macht, sich als Sünder erkennt und verurteilt, gewinnt er darin Anteil an dem heilvollen Gericht Gottes in Christus. Dabei trennt sich Luther sachlich von jeder meritorischen Mitwirkung am Heilsprozess. Denn die Annahme des göttlichen Urteils (iudicium) entspricht der Aneignung der rechtfertigenden Gerechtigkeit Gottes (iustitia) in der fides Christi. Mit der Einwilligung in das einst gefürchtete iudicium werde die Buße somit zu einem von Gott initiierten und getragenen Heilsgeschehen. Auch wenn begrifflich noch nicht völlig entfaltet, habe die Passion Christi dafür eine tragende Bedeutung, die Luther später in Anlehnung an Augustin „sakramental“ nennen wird. 17 Die Furcht vor dem Urteil Gottes sei dabei durchaus ein integraler Bestandteil der Bußbewegung: „Wenn der Mensch Gottes Züchtigungen mit ganzer Furcht und Demut annimmt, so rechtfertigt ihn Gott.“18 Entscheidend sei dabei jedoch,

15 SCHWARZ, REINHARD: Fides, Spes und Caritas beim jungen Luther unter besonderer Berücksichtung der mittelalterlichen Tradition (AKG 34), Berlin 1962. Ders.: Die Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie (AKG 41), Berlin 1968. 16 Vgl. SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 197. 17 SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 224. 18 SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 235.

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Kapitel 2: Forschungsgeschichte

dass es schon hier zu einer von der Barmherzigkeit Gottes getragenen Dynamik der Furchtüberwindung kommt.19 Ernst Bizer20 hat in seinem berühmten Neuansatz zu dieser Frage hingegen erst die Ablassauseinandersetzung zu dem zeitlichen und sachlichen Kontext gemacht, in dem Luther seine reformatorische Erkenntnis über das wahre Wesen der Gerechtigkeit Gottes erlangt habe. Die frühen Vorlesungen über die Psalmen und den Römerbrief können nach Bizer noch nicht als Ausdruck reformatorischer Rechtfertigung gelten. Bizer bricht nachdrücklich mit der Tradition, die Begrifflichkeit der frühen Vorlesungen von Luthers voll entwickelter Theologie her zu verstehen. Vor allem Luthers Glaubensbegriff der Dictata und der Römerbriefvorlesung müsse deutlich von seiner späteren Fassung unterschieden werden. Typisch für das Glaubensverständnis der frühen Theologie sei, dass der Glaube in keiner Weise allein das vollgültige Heilsverhältnis zu Gott beschreibe. Vielmehr sei letztlich ein Vollzug der Selbstdemütigung und Selbstanklage gemeint, mit welcher der Mensch allein der Gerechtigkeit Gottes entsprechen und somit gerechtfertigt werden könne. Diese Haltung könne man am ehesten als monastische Demut bezeichnen: „Luther redet von einer fides formata, die man allenfalls als humilitate formata bezeichnen könnte.“ 21 Der Gedanke der Buße sei insofern durchaus noch von meritorischen Motiven geprägt. Für solchen Glauben sei es durchweg kennzeichnend, dass die Furcht vor Gott ihr angemessener Ausdruck sei22, wie auch der Umstand, dass es keine echte Gewissheit des Heils geben könne. Die in der Hebräerbriefvorlesung sichtbare Umorientierung müsse vom beginnenden Ablassstreit her verstanden werden. Erst in dessen Verlauf habe sich Luther kritisch mit der bisher selbstverständlichen Vorstellung der strafenden Gerechtigkeit auseinandersetzen können. In der „Umgestaltung des ganzen Bußsakraments“ 23 finde Luther zu seinem neuen Glaubensbegriff, der ganz auf das Heilswort Gottes eingestellt sei. Erst im Bezug des Glaubens auf das Wort als Mitteilung des Heils erlange der Christ Gewissheit des Heils und somit Überwindung der Furcht. In Fortführung des Ansatzes Bizers beschrieb auch Oswald Bayer die reformatorische Entdeckung als „Neugestaltung des Bußsakraments“ 24. Noch entschiedener beschreibt Bayer Luthers Entwicklung vom Problem 19 20

„Es ist eine Furcht in der Art des timor filialis.“ (SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 235) B IZER, ERNST: Fides ex auditu. Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, Neukirchen 31966. 21 B IZER , Fides, S. 21. Vgl. auch S. 69; 93! 22 B IZER , Fides, S. 37; 42-43. 23 B IZER , Fides, S. 108. „Der Durchbruch der neuen Anschauung erfolgt beim Bußsakrament.“ (S. 177) 24 B AYER, O SWALD: Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Darmstadt 21989. S. 164-202.

2.1 Furcht und Buße

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der Heilsgewissheit her. Dabei konzentriert sich die Beschreibung von Luthers theologischem Umbruch auf die tiefgehende Veränderung des Wortverständnisses. In der Frühzeit sei das Wort ganz vom augustinischen Spiritualismus her begriffen. Im Wort Gottes liegen immer schon Gericht und Gnade ineinander. Die Aneignung der Gnade könne sich so nur in einer Bewegung radikaler Buße vollziehen: „Das Heil ist allein an das Gerichtswort und damit an die Selbstpreisgabe gebunden“ 25. Die Unabschließbarkeit dieser Bewegung aber halte den Menschen in einem Zirkel der Ungewissheit gefangen; darum könne es keine Überwindung der Furcht geben, Furcht und Hoffnung bilden eine dialektische Grundbestimmung der Bußhaltung. 26 Erst im Ablassstreit trete mehr und mehr das äußere, mündliche Wort ins Zentrum des Interesses. Die Entdeckung des mündlichen Heilswortes, das in der sprachlichen Form der promissio, der Verheißung oder mehr noch Zusage, den Glauben begründet, schafft und bewirkt, sei der entscheidende reformatorische Umbruch in Luthers Theologie. Der diesem Heilswort entsprechende Glaube sei sodann auch gewisser Glaube. Wird für die vorreformatorische Theologie die Furcht als Strukturmerkmal des Glaubens von Bayer deutlich herausgearbeitet, so wird für die reife Fassung der Rechtfertigung mehr implizit, nämlich ganz auf die Gewissheitsfrage zugespitzt, die Veränderung im Blick auf die Furcht deutlich. 27 An die Stelle der mit Furcht verbundenen immerwährenden Buße der frühen Theologie trete die assertorische und darin furchtüberwindende Gewissheit des im Zuspruch des Evangeliums gründenden Glaubens. Sowohl die ältere wie die neuere Diskussion ist mit der Frage der theologischen Entwicklung Luthers konfrontiert worden. In der neueren Forschung sind vor allem die Zusammenhänge von Gerechtigkeit und Rechtfertigung, Wort, Glaube und Gewissheit diskutiert worden. Stark zurückgetreten ist hingegen das Interesse an den psychologischen Entstehungsbedingungen der Buße, an den Zusammenhängen von Furchterlebnis und Trosterfahrung, wie sie in der älteren Forschung diskutiert wurden. Die Akzentverschiebung auf die sprachliche Gestalt der Rechtfertigung hat in vielen Fragen erhebliche Klärungen gebracht. Das Problem der Furcht wurde zuletzt jedoch höchstens am Rande der Gewissheitsproblematik berührt, aber nicht mehr vertiefend aufgegriffen.

25 26

B AYER, Promissio, S. 38. Zur Ungewissheit siehe vor allem B AYER, Promissio, S. 30; 49; 62; 115. Zur Dialektik von Furcht und Hoffnung siehe B AYER, Promissio, S. 154-157. 27 B AYER, Promissio, S. 202, Anm. 227.

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Kapitel 2: Forschungsgeschichte

2.2 Furcht und Anfechtung 2.2 Furcht und Anfechtung

Ein weiterer Gesichtspunkt, unter dem die Aussagen Luthers zum Furchtproblem in der Forschung betrachtet worden sind, ist das Thema der Anfechtung. Dass Luthers „Anfechtungen“ eine herausragende Bedeutung für das Verständnis der Theologie Luthers besitzen, wurde erst im 20. Jahrhundert nachdrücklich gewürdigt. Vor allem Karl Holl hat diesen Sachverhalt stark betont: „Man hat diesen Erlebnissen bisher noch nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die sie verdienen.“ 28 Eine Reihe von Untersuchungen schloss sich an, unter denen in erster Linie die von Erich Vogelsang zu nennen sind.29 Ausgangspunkt ist für Vogelsang die Schilderung der Anfechtung und ihrer Überwindung in den Dictata super Psalterium. Dabei beschreibt Vogelsang zunächst die Anfechtung als Erwachen aus einem „verborgenen Leid, einer heimlichen Angst“ 30, die jeder Mensch in sich trage. Überhaupt ist die Anfechtung bei Vogelsang stark auf den Affekt der Angst zugespitzt.31 Die Angst entzünde sich im bösen Gewissen32, sie ereile den Menschen plötzlich in einem Augenblick wie ein Blitz. Vor allem im Todeskampf enthülle sich das entscheidende Wesen der Anfechtung. „Alle Anfechtung ist wie eine Vorwegnahme des Todes.“33 Jeder Mensch habe seine eigene Anfechtung, die als größte und namenlose Angst begegnen kann. Man könne sie nicht in ein Schema bringen 34, sie lasse sich auch nicht psychologisch bzw. pathologisch erklären. Vogelsang sieht in den Auslegungen der ersten Psalmenvorlesung einen unmittelbaren Niederschlag der von Luther im Rückblick beschriebenen Angst- und Anfechtungserfahrungen. Das geistliche Verständnis des Gesetzes mit seiner Forderung unbedingter, innerlicher Liebe hatte ihm die Erfahrung eigenen Zurückbleibens zur großen inneren Not gemacht. Der Gedanke der Gerechtigkeit Gottes, wie er in Ps 30,2 begegnet, stürzte ihn darum in tiefe Angst. 35 In den Scholien von Ps 30 an ist nach Vogelsang 28 H OLL, K ARL: Was verstand Luther unter Religion? In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I. Luther, Tübingen 61932. S. 1-110. S. 67. 29 V OGELSANG, E RICH: Die Anfänge von Luthers Christologie nach der ersten Psalmenvorlesung, insbesondere in ihren exegetischen und systematischen Zusammenhängen mit Augustin und Scholastik dargestellt (AKG 15), Berlin 1929. Ders.: Der angefochtene Christus bei Luther (AKG 21), Berlin 1932. 30 V OGELSANG, Christus, S. 6. 31 Vgl. V OGELSANG, Christus, S. 6; 15; 18. Hinter dieser Beschreibung der Angst als anthropologischer Grundgegebenheit ist der Einfluss von Sören Kierkegaard unverkennbar. 32 V OGELSANG, Christus, S. 7 33 V OGELSANG, Christus, S. 8. 34 V OGELSANG, Christus, S. 9, Anm. 15! 35 V OGELSANG, Anfänge, S. 31ff.

2.2 Furcht und Anfechtung

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das Ringen nachzuvollziehen, wie Luther sich von Christus her das Verständnis der Gerechtigkeit Gottes zu erschließen versucht. Das entscheidend Neue sei dabei der Gedanke der Anfechtung Christi. Im Fühlen der Todesangst mit allem Zittern und Zagen und in seiner Gottverlassenheit bestand das schwerste Leiden Christi. Christus selbst klage in den Psalmen seine am Kreuz erlittene Todesangst. In der Auslegung von Ps 71 sei es dann zu jener Durchbrucherkenntnis gekommen, auf die Luther in seiner berühmten Vorrede von 1545 zurückblickte: Indem Christus das Leiden des Todes und die Anfechtung der Hölle auf sich nimmt, werde am Kreuz die Liebe Gottes offenbar: Christus werde uns von Gott zur Gerechtigkeit gemacht, wir werden durch die fides Christi gerechtfertigt und begnadigt. „Nur in der Offenbarung des Kreuzes Christi als Strafe, Anfechtung und Zorngericht im Dienst der wundersamen heiligenden Liebe Gottes ruht die Gewissheit, dass das Selbstgericht des Menschen, Kreuz und Anfechtung im Dienst der Rechtfertigung und Heiligung, nicht im Dienst der ewigen Verwerfung geschehen.“ 36 Insofern ist die Erkenntnis Christi als des Erniedrigten und Angefochtenen der Umschlagpunkt, der eine neue Gottesanschauung und damit die Überwindung der Anfechtung ermöglicht. Diese neue Christusanschauung bezieht Vogelsang auf die verschiedenen Formen menschlicher Angefochtenheit. Sie kann bezogen sein auf das eigene Sündersein vor dem Gericht Gottes als tentatio de indignitate, oder auf die Möglichkeit ewiger Verwerfung als tentatio de praedestinatione. Die Angst und Anfechtung Christi weise den wahren Weg der Überwindung der Anfechtung. Anders als im Ablasssystem lasse sich solche Gewissensangst nicht mit religiöser Leistung oder Bezahlung beschwichtigen. „Überwunden wird die Gewissensnot nur dadurch, dass man sich in Buße und Anfechtung willig hineinbegibt, als Gottes Strafgericht auf sich nimmt und von ihm sich die Überwindung schenken lässt.“ 37 Der Schlüssel der Angstüberwindung ist nach Vogelsang die Gleichgestaltung mit Christus. Christus habe als Gabe und Vorbild für uns die Höllenangst auf sich genommen. Christus muss uns erst Gabe werden, bevor er Vorbild sein könne. In Christus wird der „Gottesweg der Überwindung“38 offenbar. Der angefochtene Christus sei unser Urbild und Vorbild, nicht zur Nachahmung, sondern zur Gleichgestaltung durch Gott. So müsse der Angefochtene von sich weg auf Christus schauen lernen. Auch der Gedanke der resignatio ad infernum sei im Sinne der conformitas mit Christus zu interpretieren: Christus habe solche resignatio vollzogen (Ps 22!). Darum sei das Bild des angefochtenen Christus letzter Grund der Hoffnung.

36 37 38

VOGELSANG, Anfänge, S. 100. VOGELSANG, Christus, S. 38. VOGELSANG, Christus, S. 59.

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Kapitel 2: Forschungsgeschichte

Nun muss sich auch Vogelsang dem Umstand stellen, dass Luthers Theologie sich seit den Dictata so oder so gewandelt hat. Hat er später mit dieser Konzeption gebrochen? Davon kann nach Vogelsang keine Rede sein. Wohl sei später bei Luther 1. eine pädagogische Zurückhaltung zu beobachten im Blick auf solche, die von solchen hohen geistlichen Anfechtungen nichts wüssten. Dann aber sei 2. vor allem die Herausforderung durch die „Schwärmer“ ein neuer Kontext, durch den Luther den Gedanken der Gleichgestaltung vorsichtiger fasst. Auch sei es 3. so, dass sprachliche Studien ihm die Problematik des Scheolbegriffs im AT aufzeigten, so dass Luther in der Behauptung des Anteils Christi an den höllischen Strafen zurückhaltender wird. Treten also gewisse sprachliche Mittel zurück, so bleibe die Christologie der conformitas doch der eigentliche Grund der Überwindung der Anfechtung. Der angefochtene Christus bleibe die durchgängige Mitte, aus der heraus Furcht und Verzweiflung im christlichen Glauben bewältigungsfähig werden. Repräsentiert Erich Vogelsang den Versuch, die Bewältigung der Anfechtung in Luthers theologischen Anfängen als Ausgangspunkt von dessen Theologie zu würdigen, so wird in der Folgezeit vielfach der Ausgang in der Reifezeit genommen, nicht selten unter kritischer Abgrenzung von Luthers frühem theologischen Denken. Besondere Bedeutung kommt dabei den Studien von Lennart Pinomaa zu. 39 Pinomaa arbeitet mit dem grundsätzlichen systematischen Interesse, die eigentümliche theologische Denkweise Luthers zu beschreiben. Im Anschluss an Kierkegaard betont er den Unterschied zwischen objektiven und subjektiven Denkrichtungen. Charakteristisch für die subjektive Denkhaltung sei es, dass sie das unbedingte Beteiligtsein des Denkenden zur Geltung bringt. Diese Haltung bezeichnet Pinomaa in Anlehnung an Kierkegaard als existenzielles Denken. Pinomaa verfährt in seiner Darstellung mit einer teleologischen Methode, die von einem bestimmten Ziel zurückfragt nach dem zurückliegenden Denkweg: Das große Zeugnis von der Anfechtung in den Resolutiones (1518) ist für ihn der Inbegriff eines existenziellen Denkens. Von daher müsse man zurückfragen, ob es sich bei Luther von Anfang an findet oder ob es an bestimmter Stelle in seiner Entwicklung erst zum Durchbruch kommt. Maßstab ist dabei die Betonung der Anfechtung als Zentrum des Denkens sowie des Gewissens als Durchgangspunkt aller Überlegungen.

39 P INOMAA, LENNART: Der existenzielle Charakter der Theologie Luthers. Das Hervorbrechen der Theologie der Anfechtung und ihre Bedeutung für das Lutherverständnis, Helsinki 1940. Mit seiner umfassenden Thematisierung der Angstproblematik im Blick auf die Entwicklung der frühen reformatorischen Theologie Luthers kommt P INOMAA der hier vorgelegten Untersuchung am nächsten.

2.2 Furcht und Anfechtung

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Die Theologie der ersten Psalmenvorlesung sieht Pinomaa durch eine starke Konzentration auf die monastische humilitas geprägt. Luthers Denken sei noch stark anthropozentrisch und anti-existenziell ausgerichtet. Demut wird im Rahmen des katholischen Systems noch als Disposition zur Gnade aufgefasst. Im weiteren Verlauf konzentriert sich Pinomaa ausdrücklich auf die Thematisierung des Furchtproblems. Zunächst sei Luther ganz in der mittelalterlichen Tradition verwurzelt, welche eine zunehmende Heilsbedeutung der Angst herausstellte. 40 Dabei konzentriert sich Pinomaa auf eine Predigt vom 27.12.1514, in der das Angstproblem systematisch durchleuchtet werde. Für Pinomaa ist diese Predigt ein Zeugnis spätmittelalterlicher Theologie: „In der soeben dargestellten Furchtlehre erweist Luther sich also als ein treuer Hüter der katholischen Lehrtradition.“41 In der Römerbriefvorlesung sieht Pinomaa eine schrittweise Überwindung der spätmittelalterlichen Humilitasfrömmigkeit. In der Humilitastheologie des Römerkollegs sei die Furcht zunächst gleichbedeutend mit der Frömmigkeit. In der accusatio sui erweise sie sich als wahre Demut. Dann komme es jedoch zu einem Durchbruch, zu einem existenziellen Verständnis der Furcht. 42 Allmählich wird Furcht gleichbedeutend mit dem, was später Anfechtung heißt. Sie sei nun keine Leistung mehr vor Gott, sondern nur das verkehrte Gottesverhältnis. Als solche sei sie keine Vorstufe der Erlösung, sondern ihr Fehlen. Furcht und Glaube treten dabei in einen Gegensatz. Allmählich setze sich dann dieses neue Schema durch. Was sich in der zweiten Hälfte der Römerbriefauslegung anbahne, bestimme schließlich Luthers Denken in der Hebräerbriefvorlesung (Hebr 2,15) sowie im Selbstbekenntnis der Resolutiones. Auch von der Seite der Anfechtung her lasse sich dieser Durchbruch zu einem existenziellen Denken zeigen. Schon in den Dictata führe das Thema der Anfechtung vom Spekulativen weg. Die Selbsterkenntnis sei verbunden mit Gotteserkenntnis, der Mensch werde ins Gebet getrieben und zum Wachstum im Glauben angehalten. In der Römerbriefvorlesung setze sich die dominierende Stellung der Gnade dann durch. Anfechtung sei keine Leistung mehr des Menschen, in der er Fortschritte erzielen könne, sondern ein Widerfahrnis des Gewissens. Mittelpunkt der neuen Anfechtungslehre sei schließlich: Gott handele in den Trübsalen an den Menschen so, dass er ihrer fleischlichen Weisheit entgegenhandelt. Glaube gewinne 40 P INOMAA, Charakter, S. 63. P INOMAA ist in der Darstellung der Theologiegeschichte abhängig von HUNZINGER (vgl. die Darstellung Kapitel 3). In diesem Sinne wird auch die Predigt über Sir 15,1ff. ausgelegt, die für die Zeit der Dictata der Ausgangspunkt der Darstellung sein wird. 41 P INOMAA, Charakter, S. 70. 42 P INOMAA, Charakter, S. 72.

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Kapitel 2: Forschungsgeschichte

ein dialektisches Verhältnis zur Anfechtung, er sei Verzweiflung und Getrostsein. Der völlige Durchbruch zur Existenzialität im Furchtproblem lasse sich im Glaubensverständnis vorführen.43 Erst indem der Glaube das Gottesverhältnis völlig bestimme, werde die Furcht überwunden und somit frei von jeglicher soteriologischen Bedeutung. Pinomaas Darstellung bietet in der Lutherforschung die ausführlichste Schilderung der Entwicklung von Luthers Umgang mit Furcht. Vor allem seine Beobachtungen zur allmählichen Identifikation der Furcht mit Anfechtung sowie die Entwicklung des Verhältnisses von Furcht und Glaube werden vertiefend aufzunehmen sein. Als problematisch erweisen sich vor allem die Kategorien, mit denen Pinomaa die Entwicklung Luthers beschreiben will: Der Gegensatz von anthropozentrischem und theozentrischem Denken wird der Entwicklung seit der Dictatazeit ebenso wenig gerecht wie der vermeintliche Wandel von der Zuschauerhaltung zu einer existenziellen Perspektive in der Paulusexegese. Auch die Konzentration auf den Gegensatz von semipelagianischer und augustinisch-paulinischer Gnadenauffassung wird sich als nicht zureichend für die Erfassung der spezifischen Nuancen erweisen. Abgesehen von diesen beiden Studien liegt eine Reihe von Spezialerörterungen zum Thema der Anfechtung vor, ohne dass dabei der Furchterfahrung eine ähnliche Schlüsselrolle für das Verständnis von Anfechtung zukommt. Einen Gesamtentwurf zur Anfechtungsproblematik bieten Paul Bühler 44 und Horst Beintker45. Beide Studien konzentrieren sich in erster Linie auf die theologischen Konstitutionsbedingungen, in denen dieser Begriff verfasst ist. Bühler versucht vor allem, das dialektische Verhältnis von satanischer und göttlicher Anfechtung herauszustellen. In seinem ersten Hauptkapitel konzentriert sich Bühler auf den Urheber der tentatio (den Teufel) sowie auf dessen Mittel und Erscheinungsweisen. Im zweiten Hauptkapitel werden die Hilfen und Trostweisen in der Anfechtung vorgestellt. In den kürzeren Kapiteln 3 und 4 geht es schließlich um eine mögliche Überwindung der Anfechtung und um nachträgliche Erkenntnisse, die der Christ im Umgang mit ihnen erlangen kann. Bühler bietet dabei eine Reihe von wichtigen Hinweisen zur historischen Entwicklung des Problems. So stellt er zu Recht heraus, dass in den Frühschriften der Begriff der tentatio in seiner 43 44

P INOMAA, Charakter, S. 148. B ÜHLER, P AUL: Die Anfechtung bei Martin Luther, Zürich 1940. BÜHLER konzentriert sich besonders auf die späten Ausführungen Luthers zum Anfechtungsproblem, besonders aus der Tischredenüberlieferung. 45 BEINTKER , H ORST: Die Überwindung der Anfechtung bei Luther. Eine Studie zu seiner Theologie nach den Operationes in Psalmos 1519-21, Berlin 1954. Im Sinne seiner Konzentration auf diese Vorlesung Luthers kommt bei BEINTKER die frühere oder spätere Entwicklung Luthers kaum in den Blick.

2.2 Furcht und Anfechtung

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späteren Bedeutung vergeblich gesucht werde. Hier sei es eher die tribulatio, die seine Funktion innehabe, ohne dass man von einer vergleichbar zentralen Rolle reden könne.46 In seiner Konzentration auf die Frage nach Ursprung und Urheber der Anfechtung versäumt Bühler es, den Gehalt von Anfechtung differenzierter zu erheben. Wohl wird die Anfechtung zentral als Gefährdung des Glaubens bestimmt. In der phänomenologischen Breite der Anfechtungsmächte und der dagegen von Luther aufgebrachten Hilfsmittel bleibt die Erlebnisdimension des Angefochtenen jedoch oft unscharf. Immer wieder werden unterschiedlichste Negativerfahrungen zusammengestellt: „Traurigkeit und Schwermut des Geistes, Schrecken und Zagen vor dem Zorn Gottes, Gericht und ewigem Tod.“ 47 Die Verhältnisbestimmung dieser Anfechtungsmächte bzw. der inneren Erlebnisweisen bleibt nicht selten in der Schwebe. Horst Beintkers Entwurf grenzt sich in mehrfacher Hinsicht von Bühlers Studie grundsätzlich ab. Schon methodisch hält Beintker die unterschiedslose Inanspruchnahme der Werke Luthers unter starker Betonung der Tischredenüberlieferung für problematisch und konzentriert sich hingegen ganz auf die Operationes in Psalmos (1519-21). Programmatisch fordert Beintker einen ausdrücklich theologischen Umgang mit dem Thema der Anfechtung ein. Paul Bühlers starke Betonung der satanischen Anfechtung bleibe in einem verkürzten Horizont befangen. Entscheidend ist für Beintker in Luthers Verständnis der Anfechtung, dass Gott die letzte Ursache aller Anfechtung sei. 48 Erst von diesem antidualistischen Ausgangspunkt her lasse sich der Ernst der Auseinandersetzung ermessen. Sodann dürfe der Schwerpunkt nicht auf die ständige Angefochtenheit des Christen gelegt werden. Vielmehr müsse man von einer Priorität der Heilsgewissheit ausgehen. Es gebe wohl einen ständigen Kampf, der aber immer wieder von Sieg geprägt sei. 49 Nach Beintker ist es auch verfehlt, Luthers Theologie aus der Bewältigung seiner Anfechtung zu erklären. Es verhalte sich umgekehrt: Sein neues Glaubensverständnis sei der Anstoß für seine Gewissensqualen geworden.50 Der Glaube habe ihm die Augen für den Ernst der Lage geöffnet. Auch in seinen Klosteranfechtungen machte sich das vertiefte Verständnis der evangelischen Botschaft geltend. „Der Ausgangspunkt für seine Theologie und damit auch die Ursache seiner Anfechtungen ist somit die fides gewesen.“51 Damit formuliert Beintker eine 46 47

B ÜHLER, S. 79-88. B ÜHLER, S. 5. Die Erfahrungen des Angefochtenen seien entsprechend: „Hass Gottes, Traurigkeit, Angst, Murren und Ungeduld gegen Gott.“ (B ÜHLER, S. 20) 48 BEINTKER , S. 93-94. 49 BEINTKER , S. 117f.; 192. 50 BEINTKER , S. 53. 51 BEINTKER , S. 54.

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Kapitel 2: Forschungsgeschichte

Deutungsperspektive, die möglichst früh mit einem ausgereiften Glaubensbegriff rechnen muss. Den inneren Zustand des Angefochtenen sieht Beintker vor allem als „Gewissensangst und Verzweiflung“ beschrieben, als Furcht und Schrecken des geängstigten Gewissens.52 Die Zuspitzung auf die Erfahrung der Angst ist Beintker für das Verständnis des Anfechtungszustandes durchaus wichtig. Der affektive Gehalt der Anfechtungserfahrung steht jedoch nicht im Zentrum der Erörterung. Wesentlich ist für Beintker hingegen eine entschiedene Abgrenzung von einer Vertiefung aller psychologischen Gesichtspunkte. Wohl habe Luther selbst vielfach in psychologischen bzw. pädagogischen Termini über seine Erfahrungen gesprochen. Doch damit sei die eigentliche Tiefe des Problems nicht getroffen. Es sei vielmehr bedenklich, dass auch „die moderne Lutherdeutung hier und da auf den Bahnen einer psychologischen Erklärung der Anfechtung wandelt.“ 53 Dabei würden die menschlichen Faktoren entscheidend für die Überwindung der Anfechtung. Dies sei aber der pelagianische Grundirrtum, den Luther gerade mit seiner Theologie habe überwinden wollen. Anfechtung sei nicht auf seelische Defekte oder ein Gefühl der Weltangst zurückzuführen. Auch sei Luthers Rede von der Erfahrung nicht so misszuverstehen, als seien hier existenzielle oder anthropozentrische Gesichtspunkte leitend. Es gehe vielmehr streng theologisch um den Kampf mit Gott und wider Gott. Nicht psychologische Hilfe, sondern Gottes Eingreifen sei am Ende entscheidend. 54 Abschließend konzentriert Beintker die Überwindung der Anfechtung ganz auf die Entfaltung der Rechtfertigung. „Die Sündenvergebung also ist das Heilmittel aller Anfechtungen.“55 Der Glaube sei nicht nur ein Gefühl, sondern eine von Gott gesetzte Wirklichkeit. „Der Glaube steht nicht auf unserm Fühlen, sondern inmitten der Anfechtung gilt Gottes Verheißung, auch wenn wir das Gegenteil zu fühlen meinen. Darum sollen wir auch in der Anfechtung des Trostes gewiss sein und den Herrn anrufen.“ 56 Beintkers konsequente Entgegensetzung von theologischer und psychologischer Perspektive ist für weite Teile der neueren Beschäftigung mit der Anfechtung bei Luther symptomatisch. Aus der Sicht der hier vorgelegten Untersuchung vermag der so konstruierte Gegensatz nicht zu überzeugen. In Beintkers Alternativen dominiert der Gegensatz von Menschlichem und Göttlichem: „Wenn die Anfechtung reine Empfindung wäre, bliebe sie ein innermenschliches Phänomen und die Beziehung zu Gott der subjektiven 52 53 54 55 56

BEINTKER, S. 63; 64. BEINTKER, S. 72. Vgl. insgesamt B EINTKER, S. 70-77. BEINTKER, S. 129. BEINTKER, S. 125.

2.3 Furcht und das erste Gebot

23

Deutung überlassen. Wir stünden mit der Anfechtung als Seelenerlebnis wieder im Bereich der Psychologie und Mystik, den wir für Luther stets abgewiesen haben.“57 Diese Abwehr führt dazu, dass die Welt der Empfindung und des Erlebnisses überhaupt nicht angemessen gedeutet wird. Wohl ist die Abgrenzung zu allem psychologischen Reduktionismus nachzuvollziehen. Die ausschließliche Betonung der theologischen Perspektive führt ihrerseits jedoch leicht zu einer doketischen Verflüchtigung der menschlichen Wirklichkeit. Ziel der hier vorgelegten Untersuchung ist es hingegen, beide Perspektiven angemessener aufeinander zu beziehen. Beintkers Studie ist die letzte ausführliche Monographie zur Anfechtung geblieben, was angesichts der vielfach hervorgehobenen Bedeutung des Themas für Luther erstaunt. Auch in den neueren Studien zum Thema treten eher die theologischen Konstitutionsbedingungen der Anfechtung ins Zentrum: Gott als Urheber der Anfechtung bzw. das Verhältnis zwischen seiner Verborgenheit und seinem Offenbarsein. 58 Wie schon bei Beintker steht der affektive Gehalt von Anfechtung bzw. das Erleben aus der Erstperson-Perspektive nicht im Vordergrund. Auch hier kann man analog zur Bußdebatte von einem Zurücktreten der psychologischen Dimension dieses Zusammenhangs sprechen.

2.3 Furcht und das erste Gebot 2.3 Furcht und das erste Gebot

Schließlich ist es die berühmte Katechismusformel zum ersten Gebot, die wiederholt Anlass bot, das Verständnis von Furcht in Luthers Denken systematisch zu thematisieren: Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen. Vor allem in einer großen und langen Kontroverse zwischen Superintendent August Hardeland und Professor Johannes Meyer wurde dieses Thema ausgiebig erörtert. 59 Beide griffen in ihrer Interpretation zurück auf 57 58

BEINTKER, S. 91. Vgl. RATSCHOW, CARL HEINZ: Der angefochtene Glaube. Anfangs- und Grundprobleme der Dogmatik, Gütersloh 1957; B ARTH, HANS-MARTIN: Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers (FKDG 19), Göttingen 1967. S. 123-183; JÜNGEL, EBERHARD: Anfechtung und Gewißheit des Glaubens. Wie bleibt die Kirche heute bei ihrer Sache? (1976), in: Ders.: Ganz werden. Theologische Erörterungen V, Tübingen 2003. S. 89-114. 59 Vgl. die Literaturübersicht bei G ÜHLOFF, O TTO: Gebieten und Schaffen Gottes in Luthers Auslegung des ersten Gebotes, Göttingen/Ohlau 1939. S. 98-101. Zur Diskussion vgl. S. 60-64. Vgl. weiter HEINTZE, GERHARD: Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium (FGLP 10/11), München 1958. S. 128-137; PETERS, ALBRECHT: Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. 1: Die Zehn Gebote. Luthers Vorreden, hrsg. von Gottfried Seebaß, Göttingen 1990. S. 123-137; FRAAS, HANS-J ÜRGEN: Katechismustradition. Lu-

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Kapitel 2: Forschungsgeschichte

die klassischen Unterscheidungen der scholastischen Furchtlehre. Wie ist die Furcht im ersten Gebot zu begreifen? Handelt es sich hier um eine Haltung der Ehrfurcht, eine kindliche Furcht (timor filialis), die in einem homogenen oder äquivalenten Verhältnis zu „lieben und vertrauen“ steht? Diese Position wurde von August Hardeland verfochten: „Die Furcht ist nur eine Form des Glaubens.“ 60 Oder handelt es sich um eine Furcht, die als Schrecken des Gewissens auf den göttlichen Zorn bezogen ist, die insofern in der Tradition des timor poenae steht und in einem polaren bzw. antithetischen Verhältnis zu „lieben und vertrauen“ auftritt? In dieser Weise wurde die Formel von Johannes Meyer ausgelegt. 61 In ihrer fast über drei Jahrzehnte währenden Auseinandersetzung kamen beide immer wieder auf die Entwicklung Luthers zu sprechen. Hardeland führt eine Reihe von Auslegungen der 20er Jahre an, in denen Luther eindeutig die Gottesfurcht aus dem Hebräischen herleitet, sie als reverentia und Ehrfurcht fasst. Insgesamt ist es für ihn entscheidend, dass Luther im ersten Gebot eine Zusammenfassung der Rechtfertigung geboten hat. „Er, der so schwer wie vielleicht kein zweiter unter der Geltendmachung eines falschen Furchtbegriffs gelitten hat, ist – ich wage es zu sagen – mit der Überwindung dieser falschen Auffassung der Furcht vor dem heiligen Gott zum Reformator geworden“ 62. In dieser falschen Auffassung sei die Furcht als auf die Gnade vorbereitende Straffurcht in Anspruch genommen worden. In der Ersetzung solcher Straffurcht als Motiv der Buße durch die Liebe bestünde die reformatorische Reinigung des Gottesverhältnisses. Darum sei die Gottesbeziehung auch ganz von Gnade und Barmherzigkeit bestimmt, nicht aber vom Gedanken des göttlichen Zorns. Unter der Voraussetzung der göttlichen Gnade in Christus habe Luther aber sowohl vor wie nach Abfassung des Katechismus das erste Gebot stets auf den Glauben als seine Erfüllung bezogen. Die Untersuchungen Johannes Meyers erörterten die Gebotsauslegung stärker aus dem unmittelbaren historischen Zusammenhang des Katechismus in seiner Entstehungszeit.63 1528 habe Luther in drei Reihenpredigten thers kleiner Katechismus in Kirche und Schule (APTh7), Göttingen 1971. S. 31-41; 226230. 60 H ARDELAND, AUGUST: Luthers Katechismusgedanken in ihrer Entwicklung bis zum Jahre 1529, Gütersloh 1913. S. 36. 61 M EYER , J OHANNES: Das erste Gebot bei Luther, Luther 11 (1929) S. 2-25. 62 Ders.: Das Furchtproblem in Luthers Katechismus vom Jahre 1529, Luther 11 (1929) S. 97-117. S. 110/111. 63 Vgl. schon den Titel: MEYER , J OHANNES: Luthers Dekalogerklärung von 1528 unter dem Einfluss der sächsischen Kirchenvisitationen, NKZ 26 (1915) S. 546-570. Dagegen ließ sich M EYER in diesen Fragen nicht ein auf eine Rekonstruktion der Entwicklung Luthers von seinen Anfängen an, sah aber zumindest diese Aufgabe als gestellt: „Eine völlige Aufklärung über die Entwicklung des Furchtgedankens bei Luther kann ich weder

2.3 Furcht und das erste Gebot

25

den Stoff des Katechismus gepredigt. Zwischen der zweiten und dritten Reihe zeige sich ein Umbruch im Sprachgebrauch. Habe Luther bis dahin überwiegend das erste Gebot exklusiv auf den Glauben bezogen, so sei dort die Furcht neben den Glauben getreten. Die Erfahrungen der unmittelbar vorangegangenen Visitation und der sprachliche Einfluss Melanchthons hätten ihn dazu bewogen, diese doppelte Wirkung des Gebots zu betonen: Furcht auf der einen und Liebe und Vertrauen auf der anderen Seite. Grundsätzlich aber habe Luther diese doppelte Bestimmung christlicher Frömmigkeit immer schon vertreten: Luther habe schon „früh Vertrauen und Furcht als die beiden Regulatoren unserer Frömmigkeit hingestellt, die uns auf der rechten Mittelstraße erhalten und vor den beiden Abwegen der Verzweiflung zur Linken und der Hoffart zur Rechten bewahren.“ 64 Ohne abschließende Klärung ist dieser Deutungsgegensatz immer wieder aufgetaucht. Otto Gühloff zufolge hätten letztlich beide Deutungsansätze die paradoxe Intention der Katechismusformel verfehlt.65 Weder könne man wie Hardeland die Existenz jeglicher Gerichts- bzw. Strafangst leugnen, noch könne man wie Meyer Strafangst und Gottvertrauen als eine Art pädagogisches Gleichgewicht der Lebensführung bestimmen. Die Auslegung des ersten Gebotes lasse sich nicht im Sinne eines Entweder-oder von Ehrfurcht oder Strafangst entscheiden, die Forderung der Furcht meine vielmehr sowohl Strafangst wie Ehrfurcht! 66 Es mache die Dialektik christlicher Existenz aus, dass Gerichtsfurcht und Ehrfurcht gleichzeitig miteinander bestehen.67 Die Wirklichkeit dieser Dialektik habe freilich im christlichen Glauben unterschiedliche Konsequenzen, je nachdem, ob ein gesetzlicher oder ein kindlicher Glaube vorliege. Im Letzteren vereinigen sich zuletzt beide Motive, im Ersteren hingegen treten sie unter dem Schrecken der Straffurcht auseinander. 68

zur Zeit überhaupt, noch hier in der Kürze geben“. (Ders.: „Gottesfurcht“ in Luthers Katechismen, HPK 42 [1914] S. 41-47. S. 46) 64 M EYER, Gebot, S. 16. MEYER nimmt an, dass Luther in der Folgezeit seine Auffassung noch weiter entwickelt habe. Erst „in den Jahren 1530-37 entwickelt Luther eine Lehre vom Dekalog, nach welcher er nicht sowohl ‚Gesetz‘ ist im Sinne einer mit Furchtund Lohnmotiv arbeitenden Forderung als vielmehr ‚Evangelium‘ im Sinne bedingungsloser promissio mit ihren ethischen Konsequenzen.“ (M EYER, J OHANNES: Historischer Kommentar zu Luthers kleinem Katechismus, Gütersloh 1929. S. 163.) 65 Vgl. G ÜHLOFF, S. 60ff. 66 G ÜHLOFF, S. 54. 67 G ÜHLOFF, S. 64. 68 G ÜHLOFF, S. 59. Die vermittelnde Position G ÜHLOFFS hat sich in der Forschung auch nicht durchsetzen können, weil sie letztlich schwankt zwischen der Behauptung der Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Furchtformen und dem Ausblick auf den Wandel der Straffurcht in die Ehrfurcht des kindlichen Glaubens.

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Kapitel 2: Forschungsgeschichte

War die klassische Auseinandersetzung um die Deutung der Katechismusformel nach dem Zweiten Weltkrieg eine Zeitlang erlahmt, so hat sich doch das Deutungsspektrum der Zusammenstellung von „fürchten, lieben und vertrauen“ innerhalb des von Hardeland und Meyer markierten Rahmens bewegt. In die Richtung von Hardeland tendiert etwa die Deutung von Eilert Herms. Herms betont wohl, dass es in der Erkenntnis des eigenen Verlorenseins zu einem „Schrecken von unüberbietbarer Tiefe und Entsetzlichkeit“ 69 komme. Zugleich komme es aber auch in der Gewissheit Gottes als des liebenden Schöpfers zu einer Überwindung dieses Schreckens in Liebe und Freude. Der Furchtaffekt werde dadurch allerdings nicht völlig beseitigt, sondern aufgehoben und verwandelt in ein Gefühl der Ehrfurcht. In diesem Sinne sei denn auch die Auslegung des ersten Gebotes zu verstehen. Von der grundlegenden Bedeutung des Vertrauens als eigentliche Erfüllung des ersten Gebotes her seien die Affektbestimmungen „fürchten und lieben“ als Einheit zu begreifen. „Dass dabei dann der timor filialis im dezidierten Gegensatz zum timor servilis gemeint sein muss, ergibt sich sachlich aus der Zusammenstellung mit ‚Liebe‘ und aus der Tatsache, dass die Zusammenstellung als Ganze denjenigen Affekt benennt, der durch die ‚Erkenntnis‘ der väterlichen Absichten Gottes begründet ist.“ 70 In eine vergleichbare Richtung geht die von der spätmittelalterlichen Auslegungsgeschichte des ersten Gebotes herkommende Deutung von Christoph Burger.71 Burger zeigt im Rückgriff auf die spätmittelalterliche Thematisierung der Gottesfurcht im katechetischen Zusammenhang, dass Luther schon in der Tradition mit einer doppelten Verwendung der Gottesfurcht konfrontiert war. Auf der einen Seite gab es Theologen, welche die Furcht vor dem Gericht ausdrücklich als Mittel der Abschreckung und als Motivierung der Buße einprägten. Auf der anderen Seite gab es solche, welche die Furcht vor Strafe als Motiv der Gottesliebe zurückwiesen. Auf diesen Traditionsstrang konnte Luther zurückgreifen, als er sich um die Überwindung einer falschen motivierenden Funktion der Furcht bemühte. In seiner Lutherdeutung greift Burger letztlich zurück auf frühe Formulierungen Luthers, in denen sein Anliegen deutlich wurde, „dass ‚Gott fürchten‘ und ‚Gott lieben‘ in Glauben und Vertrauen ihren Grund haben.“ 72 Wenn aber der Glaube als eigentliche Basis des Gottesverhältnisses anzu69 70 71

HERMS, EILERT: Luthers Auslegung des Dritten Artikels, Tübingen 1987. S. 77. HERMS, Auslegung, S. 79. B URGER, CHRISTOPH: Wir sollen Gott über alle Ding fürchten, lieben und vertrauen, Luther-Bulletin 2 (1993) S. 74-95. B URGER stellt fest, dass „die Frage, welche Bedeutung die Furcht Gottes in Luthers Katechismen habe, trotz allen staunenswerten Fleißes noch nicht als befriedigend beantwortet gelten kann“. (S. 77) 72 B URGER , S. 89.

2.3 Furcht und das erste Gebot

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sprechen ist, so ist die hier genannte Furcht als eine „Gestalt des Glaubens an Gott“73 zu definieren. Auch Burger lässt sich somit der Traditionslinie Hardelands zuordnen. Gottesfurcht steht nicht in einer polaren Spannung zu den Ausdrücken der Liebe und des Vertrauens. Als „Erscheinungsform des Glaubens“74 ist die Gottesfurcht als Ehrfurcht und Anerkennung Gott gegenüber aufzufassen. Ganz anders ist wiederum die Perspektive, die Albrecht Beutel75 zuletzt entfaltet hat. Für ihn ist die komplexe Diskussionslage ein Indiz dafür, dass Luther durch einen unausgeglichenen Sprachgebrauch unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten von Furcht ermöglicht hat. Seine Gedanken seien zu diesem Thema keineswegs kohärent und konsistent, was etwa für die vielfach angesprochene Predigt von 1514 gilt. Überhaupt sind nach Beutel alle Versuche gescheitert, die unterschiedlichen Ausdrucksweisen Luthers zum Thema der Furcht systematisch oder chronologisch zu ordnen. In der Deutung der Erklärung zum ersten Gebot sei daher vom unmittelbaren Kontext seiner Entstehung auszugehen, wobei sich Beutel zunächst den historischen Analysen Meyers anschließt. Lange habe Luther die Auslegung des ersten Gebotes allein auf den Glauben hin zugespitzt. Offensichtlich habe es 1528 hier einen terminologischen Umbruch gegeben, der die Erfahrungen der letzten Jahre unter sprachlicher Anregung von Melanchthon verarbeitet habe. Wahrscheinlich sah Luther in diesem polaren Ausdruck eine Möglichkeit, eine didaktische Zuspitzung seiner Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zur Geltung zu bringen. Die eindeutige Aufteilung von timor filialis und servilis sei Luther zunehmend fraglich geworden, so dass von einer Deutung des lutherischen Verständnisses von Furcht mit dieser Unterscheidung eher abzusehen sei. Vielmehr erweise sich erst in der Wahrnehmung des Angesprochenen, welche Konkretion die Furcht gewinnt. Entscheidend sei, dass Luther alle Affekte an das Gottesverhältnis bindet. Nicht die Erzeugung bestimmter Affekte gegenüber Gott sei Sinn der Katechismusformel (Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten und lieben), sondern umgekehrt, das ganze affektive Leben ist unbedingt auf Gott zu beziehen (Gott über alle Dinge fürchten und lieben). Die Wirkung der Formel könne man rezeptionsästhetisch beschreiben: Der Sinn des sprachlichen Gegenstandes entscheidet sich im Vollzug seiner Rezeption am Ort des Subjekts. 76

73 74 75

B URGER, S. 91. B URGER, S. 95. B EUTEL, ALBRECHT: „Gott fürchten und lieben“. Zur Entstehungsgeschichte der lutherischen Katechismusformel, in: Ders.: Protestantische Konkretionen, Tübingen 1998. S. 45-65. 76 BEUTEL, Gott fürchten, S. 54.

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Kapitel 2: Forschungsgeschichte

Alles in allem wird man sagen können, dass sich in der Interpretation dieser Formel bis heute kein Konsens abzeichnet. Ist dies letztlich darauf zurückzuführen, dass Luther selbst keine systematische Durchdringung des Problems der Furcht erreicht hat und seine Texte unterschiedliche bis gegensätzliche Deutungsansätze zulassen? Die hier vorgelegte Arbeit geht davon aus, dass sich ein kohärentes Verständnis von Luthers Äußerungen zur Gottesfurcht in der Auslegung des ersten Gebotes nur dann entwickeln lässt, wenn seine Aussagen in einem mehrfachen Zusammenhang rekonstruiert werden. Zunächst ist das Verhältnis zu den sprachlichen Vorgaben der scholastischen und frömmigkeitstheologischen Tradition zu klären. Die vielfach diskutierte Unterscheidung von timor servilis und timor filialis muss sowohl von den historischen Vorgaben als auch von der ursprünglichen Rezeption in Luthers frühen Werken her angegangen werden. Sodann gilt es, Luthers Äußerungen in ihrem unmittelbaren historischen Zusammenhang zu betrachten und nicht vorschnell Deutungsmöglichkeiten aus anderen Textzusammenhängen zu gewinnen. Dafür ist es unverzichtbar, sich die theologische Entwicklung Luthers insgesamt mit Blick auf die konkrete Frage des Furchtverständnisses zu vergegenwärtigen. Was in solcher Weise für Luthers Umgang mit timor in der Auslegung des ersten Gebotes gilt, muss auch grundsätzlich für die Erarbeitung seines Umgangs mit Furcht geleistet werden.

2.4 Zwischen Theologie und Psychologie 2.4 Zwischen Theologie und Psychologie

Furcht ist in unterschiedlichen Themenkreisen als wesentliches Moment von Luthers Theologie wahrgenommen worden.77 Von Ausnahmen abgesehen wurde die Bedeutung der Angst dabei stets im Zusammenhang eines übergeordneten Sachinteresses (Buße, Anfechtung, Auslegung des ersten Gebotes) erörtert. Daher wurde kaum eine Zusammenschau der hier erörterten Themenfelder versucht. Das Thema der Angst ist jedoch bedeutsam genug, einmal im Zusammenhang aller aufgeführten Fragekreise entfaltet zu werden. Dies kann nur geschehen, wenn konsequent drei Zusammenhänge in den Blick kommen: der traditionsgeschichtliche, der diachrone und der systematische Zusammenhang. Als erstes Desiderat ist eine Berücksichtigung der traditionsgeschichtlichen Hintergründe zu nennen. Wohl wurden die meisten Interpreten aufmerksam auf den scholastischen Hintergrund von Termini wie timor servilis, timor filialis etc. Außer bei 77 Eine Reihe von wichtigen Einzelstudien zur Furchtthematik wird an gegebener Stelle in die Darstellung mit einbezogen, wie STANGE, CARL: Luther und die Todesfurcht, Berlin/Leipzig 1932; EBELING, GERHARD: Luthers Seelsorge an seinen Briefen dargestellt. Theologie in der Vielfalt der Lebenssituationen, Tübingen 1997.

2.4 Zwischen Theologie und Psychologie

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Hunzinger, Burger und im Zusammenhang der Buße bei Schwarz gab es jedoch kaum Ansätze, diese Vorgeschichte in der Interpretation Luthers mit zu berücksichtigen. Neben dieser traditionsgeschichtlichen Aufgabe stellt sich zweitens die Herausforderung, die diachrone Dimension der Theologie Luthers angemessen zu berücksichtigen. In allen Fragekreisen ist die Forschung einmal mehr, einmal weniger darauf aufmerksam geworden, dass ohne eine Berücksichtigung der theologischen und terminologischen Entwicklung Luthers sich seine Sicht nicht angemessen beschreiben lässt. Letztlich wurde nur vereinzelt nach dem Gesamthorizont gefragt (vor allem bei Erich Vogelsang und Lennart Pinomaa) bzw. wurden gegenläufige Bewertungen vorgenommen, die den jungen gegen den alten Luther ausspielten. An dritter Stelle schließlich stellt sich die Aufgabe, die unterschiedlichen Fragenkreise systematisch aufeinander zu beziehen. Furcht erweist sich bei Luther als ein komplexes Phänomen, das für ihn an mehr als einer Stelle große Bedeutung hat. Daher ist es unverzichtbar, die unterschiedlichen Verwendungszusammenhänge in ihrer Zusammengehörigkeit zu durchdenken. Auf einer anderen Ebene stellt sich schließlich die Herausforderung, zu einer tragfähigen Verhältnisbestimmung von theologischer und psychologischer Beschreibung des Sachverhaltes zu kommen. Die ältere Forschung hat sich dabei am intensivsten auf die psychologische Dimension der religiösen Erfahrung eingelassen. Im Zuge der Lutherrenaissance kam es jedoch zunehmend zu einer starken Abkehr von einer als Engführung empfundenen religionspsychologischen Perspektive. 78 Diese Entwicklung ist nachvollziehbar und berechtigt, wo sie sich gegen einen psychologischen Reduktionismus wandte, den man in der neuprotestantischen Lutherdeutung von Ritschl bis Harnack meinte wahrnehmen zu können. Nicht innerpsychische Instanzen der Motivierung und Begründung, sondern Gottes Handeln im Medium des Wortes, durch Gesetz und Evangelium, wollte man ins Zentrum der Theologie stellen. Ein Verlust dürfte freilich darin bestehen, dass die affektive Konkretion auf der Ebene des erfahrenen Lebens im Zuge solcher Wort-Theologie stark zurücktrat. 78 Vgl. die systematische Studie von ASSEL, H EINRICH: Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910-1935) (FSÖTh 72), Göttingen 1994. Holl und Hirsch seien noch in einer Tradition verwurzelt, die nach dem Erleben und Erfahren als zentralem Ausgangspunkt gefragt haben. Rudolf Hermann hingegen habe einen stärker auf die Sprachlichkeit der Rechtfertigung konzentrierten Ansatz entwickelt. Nach der starken Kritik der Dialektischen Theologie an der Erlebnis- und Erfahrungstheologie habe sich die Abkehr von der Erfahrungsdimension auf breiter Front durchgesetzt. ASSEL macht starke Gründe geltend gegen den Versuch, theologisch aus der Faktizität des Erlebens Wahrheitsansprüche abzuleiten. Die unverzichtbare Bedeutung solcher Erfahrungsdimension für das theologische Denken kommt dabei aus der Perspektive dieser Untersuchung bei ASSEL zu kurz.

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Kapitel 2: Forschungsgeschichte

Eine ganz eigene Problematik stellen in diesem Zusammenhang die psychologischen Deutungsversuche in Bezug auf Luther dar.79 Das umfangreiche Werk des dänischen Psychiaters Paul Johann Reiter80 kommt zu dem Ergebnis, dass Luther von schweren psychologischen Pathologien bestimmt war. Trotz aller Materialfülle vermag dieses Werk nicht darüber hinweg zu täuschen, dass seine willkürlichen Diagnosen und pauschalen Klassifikationen, gepaart mit dem Desinteresse, Luthers geistlichtheologische Selbstdeutungen in seine Interpretation einzubeziehen, weder historisch noch psychologisch plausible Deutungen erzielen können. 81 Ähnliches gilt für die populären Darstellungen von Erich Fromm und Oskar Pfister.82 Anders als beim psychiatrischen Zugang Reiters wird von diesen beiden eine psychoanalytische Interpretation Luthers versucht. Obwohl beide um eine differenziertere Wahrnehmung bemüht sind, vermag sich auch hier die psychologische Außenbeschreibung nicht in ein konstruktives Verhältnis zur Selbstwahrnehmung und -deutung Luthers zu setzen. Angesichts einer Reihe von Pathologisierungen Luthers kann man die Abwehr der Lutherforschung gegen solche Deutungsangebote nachvollziehen. Auch Erik Homburger Eriksons 83 Buch über den jungen Luther brachte diesen Sachverhalt eindeutig zur Sprache. Eriksons Werk ist ohne Frage der bedeutendste Beitrag zur Lutherdeutung aus psychologischer Sicht. Sein durchaus einfühlsamer Versuch der Rekonstruktion der Entwicklung Luthers als Bewältigung einer Lebenskrise vermag dessen theologische Selbstdeutungen durchaus konstruktiv zu interpretieren. 84 Die Grenzen der bisherigen psychologischen Lutherdeutung werden von Erikson überzeu79

Vgl. die Übersicht bei BECKE, ULRICH: Die Welt voll Teufel. Martin Luther als Gegenstand psychohistorischer Betrachtung, Diss. Marburg 1981. 80 REITER , P AUL J OHANN: Martin Luthers Umwelt, Charakter und Psychose sowie die Bedeutung dieser Faktoren für seine Entwicklung und Lehre. Eine historischpsychiatrische Studie, Bd. 1: Die Umwelt, Kopenhangen 1937. Bd. 2: Luthers Persönlichkeit, Seelenleben und Krankheiten, Kopenhagen 1941. 81 Vgl. B ECKE , S. 136-147. REITER selbst hat später viele seiner Deutungen relativert, vgl. BECKE, S. 206-216. 82 FROMM , ERICH: Die Furcht vor der Freiheit, Stuttgart 7 1998 (1941). S. 52-79. P FISTER, OSKAR: Das Christentum und die Angst. Eine religionspsychologische, historische und religionshygienische Untersuchung, Zürich 1944. S. 298-321. 83 E RIKSON, E RIK H OMBURGER : Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie, München 1958. Vgl. auch die ausführliche Darstellung und Dokumentation der theologischen Diskussion um E RIKSON bei BECKE, S. 159-205. 84 Vgl. die Zielbestimmung für seine Deutung: „Ich will darlegen, dass Luthers Neubestimmung der menschlichen Situation – wesentlicher Bestandteil seiner Theologie – überraschende Strukturparallelen zu dynamischen inneren Veränderungen aufweist, wie sie Kliniker bei der Genesung von Patienten aus seelischer Not beobachten.“ (ERIKSON, S. 228) Vgl. in dieser Untersuchung Kapitel 9.2!

2.4 Zwischen Theologie und Psychologie

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gend aufgewiesen.85 Doch auch die Probleme der eriksonschen Interpretation sind unübersehbar. Vor allem die Deutung der Pathogenese lebt von erheblichen Spekulationen und historischen Verkürzungen. Weder gibt das Quellenmaterial eine einigermaßen befriedigende Basis für die Deutung von Luthers Kindheit und Jugend her, noch scheint die Beschreibung der Identitätsproblematik auf Luthers spätmittelalterliches Herkunftsmilieu eingestellt zu sein. Auch stellen sich grundsätzliche Fragen bezüglich der Angemessenheit einer auf die frühkindliche Genese konzentrierten psychologischen Zugangsweise. Die weltanschauliche Positionalität (sei es prinzipiell religionskritisch, sei es im Sinne einer therapeutischen Schule) verschiedener psychologischer Herangehensweisen hat sich als nicht geringes Problem erwiesen, Luthers Erlebensperspektive und seiner theologisch-geistlichen Selbstdeutung gerecht zu werden. Für eine gelungene Verhältnisbestimmung von psychologischer und theologischer Perspektive wird man folgende Kriterien aufstellen können: 1. Verzicht auf reduktionistische Deutungen, die religiöse (ethische, ästhetische) Erlebnisweisen nur im Sinne einer „Nichts-anderes-als“-Interpretation als Ausdruck eines vermeintlich „wirklichen“ Tatbestandes der Seele bzw. der Sozialisation wahrnehmen können. 2. Bewusstsein der eigenen Positionalität im Horizont der vielfältigen psychologischen Deutungsperspektiven der Gegenwart. 3. Integrationsfähigkeit im Hinblick auf theologisch-religiöse Wahrnehmungen und Deutungen aus einer Erstperson-Perspektive. Die Einbeziehung einer psychologischen Perspektive wird in dieser Arbeit daher in zwei Stufen erfolgen. In den darstellenden Kapiteln fragen wir nach dem wechselseitigen Verhältnis und der inneren Logik der von Luther vorgenommenen Beschreibungen seelischer Erfahrungen und deren theologischer Einordnung. Der psychologische Nachvollzug will insofern nicht die Positionalität einer bestimmten Deutungsperspektive zur Geltung bringen, sondern den inneren Sachgehalt der theologischen Deutung im Verhältnis zur artikulierten Erfahrungsebene entfalten. Im Schlusskapitel werden im Bewusstsein der vielfältigen psychologischen Standpunkte identifizierbare psychologische Perspektiven auf Luthers Angsterleben und seine Angstdeutung bezogen. Dass damit keine Ersetzung oder Verdrängung der theologischen Beschreibung vollzogen wird, sondern auch Luthers theologische Anliegen neue Möglichkeiten der Versprachlichung und des Anschlusses an andere Sachverhalte gewinnen, muss die Durchführung zeigen.

85 Vgl. ERIKSONS Einschätzung (bezogen auf SCHEEL und REITER ): „Des Professors und des Psychiaters Vorstellung von Normalität erscheinen als ganz und gar unangemessener Maßstab für einen zukünftigen Reformator.“ (ERIKSON, S. 36)

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Kapitel 2: Forschungsgeschichte

Damit ist zugleich die Richtung gewiesen für die vorliegende Untersuchung. Erst die Zusammenschau der verschiedenen Dimensionen von Furcht auf dem Hintergrund der biographischen wie theologischen Entwicklung Luthers vermag eine stimmige Interpretation der einzelnen Textzusammenhänge zu entwerfen.86 Nach der Erhellung des traditions- und theologiegeschichtlichen Hintergrundes ist Luthers Beschäftigung mit Furcht von seiner ersten Vorlesung bis zu den Antinomerdisputationen vorzustellen.87 Dabei ist gleichermaßen zu achten auf die Beschreibungen von Furchterlebnissen wie auf die Weise, wie Luther diese Erfahrungsdimension theologisch deutet. So sehr der Schwerpunkt auf der systematischen Durchdringung und Bearbeitung der Fragen bei Luther liegt, ist der biographische und zeitgeschichtliche Hintergrund an mehr als einer Stelle ausführlich zu vergegenwärtigen. 88 Die Verknüpfung von individuellem Geschick und allgemeiner Anerkennungsfähigkeit gehört in Luthers theologischer Existenz so untrennbar zusammen, dass sich auch die systematische Durchdringung der Sachfragen nicht erheben lässt ohne den zeitlichen Kontext, auf den Luthers Überlegungen bezogen sind. Luthers Theologie lässt sich nicht anders rekonstruieren als im Spannungsfeld von biblischtheologischer Deutung und persönlich-affektiver Erfahrung.

86 Insofern werden konsequent zu allen Phasen seines Wirkens die unterschiedlichen von Luther verwendeten literarischen Formen (Vorlesung, Predigt, Brief, Disputation etc.) nebeneinander ausgewertet und miteinander ins Gespräch gebracht. 87 Vgl. den Appell von K ARL-H EINZ ZUR M ÜHLEN von 1983 an die künftige Lutherforschung: „Der ganze Luther sollte wieder wie in der Zeit vor der Entdeckung der frühen Exegetica ihr Thema werden. Dabei gilt es nicht, sich in einer kurzschlüssigen Reaktion nun vor allem dem älteren Luther zuzuwenden, sondern Luthers Entwicklung sollte durch sein ganzes Werk verfolgt werden. Dies ist umso nötiger, weil Luther ein theologischer Denker ist, der seine Theologie in immer neuen Situationen und Gefährdungen neu und anders formuliert hat und gerade so bei seinem Thema blieb.“ (ZUR MÜHLEN, KARL-HEINZ: Die Erforschung des „jungen Luther“ seit 1876, LuJ 50 [1983] S. 48-125. S. 121-122.) 88 Vgl. grundlegend BRECHT, M ARTIN: Martin Luther. Bd. 1: Sein Weg zur Reformation. 1483-1521, Stuttgart 1981. Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation. 15211532, Stuttgart 1986. Bd. 3: Die Erhaltung der Kirche. 1532-1546, Stuttgart 1987.

Kapitel 3

Problemgeschichte der Furcht von Augustin bis zum Spätmittelalter Kapitel 3: Problemgeschichte der Furcht

Luthers Erleben und Deuten von Angst ist nicht ohne Berücksichtigung seines theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Kontexts zu verstehen. So sehr Angst ein universales menschliches Phänomen ist, gewinnt sie doch erst in bestimmter historischer Konstellation ihr Profil. Darum muss man Luthers Auseinandersetzung mit Angsterfahrungen vor dem Hintergrund des Spätmittelalters entfalten. Der grundsätzliche Anklang des Ablasshandels, die auf Gerichtsschrecken und Höllenqual bezogenen Motive der Malerei sowie die vielfältige Bemühung der Trostliteratur um solche Themen zeigen, welchen Stellenwert diese Frage in jener Epoche hatte. 1 Im Kloster und im Theologiestudium wurde Luther mit der Tradition vertraut gemacht, die sich um theologische Deutung und geistliche Bewältigung der unterschiedlichen Erscheinungsformen der Angst bemühten. Dabei werden wir uns bei der problemgeschichtlichen Darstellung auf die Traditionen konzentrieren, mit denen Luther in direkte Berührung gekommen ist und die sein Denken beeinflusst haben. 2 Der Ausgangspunkt ist bei Augustin zu nehmen, der am Beginn der abendländischen Auseinandersetzung mit der Furchtfrage steht (3.1). Luther ist ihm nicht nur in der mittelalterlichen Literatur begegnet, sondern hat dessen grundlegende Werke selbst studiert. An zweiter Stelle ist die scholastische Bearbeitung der Frage zu nennen, mit der Luther in seinem Studium und als Sentenziar bekannt wurde (3.2). Bei der Kommentierung des Lombarden kam Luther direkt mit ihr in Berührung. Aber auch der 1 Vgl. W INTERHAGER , W ILHELM ERNST: Ablaßkritik als Indikator historischen Wandels vor 1517. Ein Beitrag zu Voraussetzungen und Einordnung der Reformation, ARG 90 (1999) S. 6-71; DINZELBACHER, Angst. Über die zeitgenössische Seelsorgeliteratur vgl. nach wie vor APPEL, HELMUT: Anfechtung und Trost im Spätmittelalter und bei Luther, Leipzig 1938. 2 Die Studie von AUGUST H UNZINGER bietet nach wie vor einen umfassenden Gesamtüberblick. Siehe genauso SCHWARZ, Vorgeschichte. Vgl. ferner zur Epoche der Frühscholastik: LANDGRAF, ARTHUR MICHAEL: Dogmengeschichte der Frühscholastik. Bd. IV/1: Die Lehre von der Sünde und ihren Folgen, Regensburg 1955. Vgl. S. 276-371 zur knechtischen Furcht. Vgl. auch: H IRSCH, EMANUEL: Lutherstudien, Bd. 1: Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen. Gesammelte Werke 1, hrsg. von Hans-Martin Müller, Waltrop 1998. Vgl. vor allem S. 50-108.

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Kapitel 3: Problemgeschichte der Furcht

spätmittelalterliche Diskussionsstand, wie er bei Gabriel Biel repräsentiert wird, war ihm durch intensives Studium wohl vertraut. Neben dieser theologischen Linie von Augustin bis zur Scholastik darf man die Bedeutung monastischer Quellen und der Frömmigkeitsliteratur nicht übersehen (3.3). Neben Bernhard von Clairvaux und der Meditationspraxis im Sinne der Devotio moderna ist besonders Jean Gerson zu nennen. Abschließend sollen die gegenläufigen Tendenzen im Umgang mit Furcht vergegenwärtigt werden, wie sie Luther durch Johannes von Paltz, Biels Messkanon und Johannes von Staupitz persönlich oder literarisch vor Augen standen (3.4). Nur von dieser Problemkonstellation her lässt sich sein Ringen um eine eigene Lösung nachzeichnen. 3

3.1 Furcht bei Augustin 3.1 Furcht bei Augustin

3.1.1 Die Unterscheidung zweier Furchtarten Vor allem Augustin4 besitzt in dieser Problemgeschichte eine herausragende Bedeutung, weil seine Überlegungen in der gesamten mittelalterlichen Tradition den Ausgangspunkt für alle Deutungen der Furcht bildeten. Grundlegend ist bei Augustin zunächst die Unterscheidung zweierlei Art von Furcht: timor servilis (knechtische Furcht) und timor filialis (kindliche Furcht). Augustin gewinnt diese Grundunterscheidung in seiner Schriftauslegung, vor allem im Vergleich von 1 Joh 4,18 und Ps 19,10 5. Ausgangspunkt ist der johanneische Zusammenhang, dass die vollkommene Liebe die Furcht austreibt (1 Joh 4,18). Die sich im offenkundigen Gegensatz zur Liebe befindende Furcht bezeichnet Augustin mit Anklang an Röm 8,15 als timor servilis. Anders steht es mit den Belegen, in denen die Furcht als der Weisheit Anfang (Spr 1,8) beschrieben wird, eine Furcht des Herrn, die nach Ps 19,10 in Ewigkeit bleiben wird. Diese Angst steht offenbar nicht im Gegensatz zur Gottesliebe, sondern ist mit dieser eng verbunden. Hier redet Augustin von einer keuschen Furcht (timor castus), die nicht Gottes Strafe fürchtet, sondern selbst der Liebe entstammt. Diese Angst fürchtet lediglich die Trennung vom Geliebten und erweist sich

3 Da Luther erst im Verlauf seiner Arbeit am Römerbrief mit der früher sogenannten „Deutschen Mystik“ (Tauler, Theologia Deutsch) bekannt wird, erfolgt ihre Darstellung in diesem Zusammenhang. 4 Vgl. zu Augustin nun grundlegend: DRECOLL, V OLKER H ENNING (Hrsg.): Augustin Handbuch, Tübingen 2007. Alle Zitate aus Augustins Werken erfolgen nach den Abkürzungen des Augustin Handbuchs, S. 649-656. 5 Vgl. jeweils beide Ausdrücke: Io. eu. tr. 43,5; ep. Io. tr. 9,4-5; en. Ps. zu Ps 18,10.

3.1 Furcht bei Augustin

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darin als timor filialis. Von ihr gilt, dass die Liebe sie weder aufhebt noch austreibt, sondern sie als Begleiterin festhält.6 In vielen Ausführungen werden diese beiden Furchtarten kategorisch unterschieden. Der timor servilis richtet sich darauf, dass er nicht Strafe erleide, der timor filialis bzw. castus zielt darauf, die Gerechtigkeit nicht zu verlieren.7 Dieser ist mit Knechtschaft verbunden im Sinne von Röm 8,15: „Ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet“. Jener wurzelt hingegen nicht in einem Knechtschaftsverhältnis, sondern in Freundschaft bzw. Kindschaft (Joh 15,14-15).8 Augustin erläutert diesen grundlegenden Unterschied beider Furchtarten an einem Gleichnis von zwei Frauen. Eine ehebrecherische Frau fürchte, ihr Mann möchte kommen und ihr Ehebruch entdeckt werden. Eine andere, keusche Frau fürchte dagegen nur, ihr Mann möchte von ihr gehen. Die eine fürchte die Strafe, die andere die Entfernung. Bei Letzterer sei die Furcht eine Frucht der Liebe zu ihrem Mann, bei Ersterer sei die Straffurcht allenfalls Frucht ihrer Liebe zu sich selbst. 9 Von daher sei die Wertung dieser beiden Furchtarten eindeutig: „Quid magnum est timere poenam? Hoc est nequissimus servus, hoc et crudelissimus latro. Non est magnum timere poenam, sed magnum est amare iustitiam.“10 Diese Abwertung des timor servilis wird in den antipelagianischen Auseinandersetzungen im Horizont der Gesetzesthematik immer wieder durchgeführt. In De spiritu et littera wird der Gegensatz im Sinne der pneumatologisch zugespitzten Gnadenlehre dieser Schrift betont: Wenn einer das Gebot lediglich aus Furcht vor Strafe erfülle, geschehe dies nicht im Heiligen Geist aus Liebe zur Gerechtigkeit, sondern nur aus einer knechtischen Haltung heraus. Weil nicht in Freiheit vollbracht, sei die Gebotserfüllung als überhaupt nicht geschehen zu betrachten. Denn eine Frucht sei nur dann als gut zu betrachten, wenn sie aus der Wurzel der Liebe hervor gewachsen ist. 11 Wo aber die Liebe Gottes im Herzen des Menschen ausgegossen sei, wird diese und nicht die Furcht zum Motiv des Handelns. Dann vollbringe man das Gute nicht mehr aus Furcht vor der Strafe, sondern aus Liebe zur Gerechtigkeit. 12 Beide Motivationen stünden zueinander in einem unauflöslichen Widerspruch. Wer aus Furcht vor der Strafe die Forde6 „Non enim tollit caritas, nec fortas mittit, sed magis complectitur, et comitem tenet simul et possidet.“ (Io. eu. tr. 43,7) 7 Vgl. ebd. 8 Vgl. Io. eu. tr. 85,3. 9 Vgl. ep. Io. tr. 9,6; Io. eu. tr. 43,7. 10 Io. eu. tr. 43,7. 11 Spir et litt. XIV. 26: „Quod mandatus si fit timore poenae, non amore iustitiae, serviliter fit, non liberaliter et ideo nec fit.“ Vgl. auch ebd. XVII. 29. 12 So spir et litt. XXIX. 51. Diese beiden Motivationen entsprechen der Bestimmung durch Gesetz oder Geist.

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Kapitel 3: Problemgeschichte der Furcht

rungen Gottes befolge, genüge seiner Gerechtigkeit nicht; nur die Liebe tut dies.13 Denn unter dem Einfluss der Furcht stünden Tat und Wille im Widerspruch miteinander. Es sei wohl ein gewisser Glaube vorhanden; aber in der Furcht eines Sklaven fehle es diesem Glauben an Liebe zur Gerechtigkeit. Das Äußerste, was das Gesetz vermag, sei es, Menschen zu Hungernden und Dürstenden zu machen: „lex data ut gratia quaereretur“ 14. Die Unterscheidung im Furchtbegriff wird vom Gesichtspunkt der Liebe her gewonnen.15 Denn es gibt zwei gegensätzliche Arten der Liebe: Gottesliebe und Weltliebe.16 Jeder Mensch sei so wie seine Liebe.17 Durch den Heiligen Geist ist die Gottesliebe bestimmende Macht der menschlichen Daseinsausrichtung. Für den Glauben, der aus solcher Liebe stammt, gelte, dass er mit der Furcht nichts zu tun hat: Er fürchte nicht die Strafe, sondern liebe die göttliche Gerechtigkeit.18 Neben dieser antithetischen Gegenüberstellung zweier Furchtarten, die in quantitativer Hinsicht das Übergewicht in den Äußerungen Augustins zur Frage darstellt, gibt es jedoch auch eine Reihe von Aussagezusammenhängen, wo das Verhältnis signifikant anders akzentuiert wird. 3.1.2 Der relative Nutzen des timor servilis Neben der konsequenten Dualisierung der Furcht unter dem Gesichtspunkt der Gottesliebe bzw. der Selbstliebe gibt es auch eine Reihe von Texten, in denen die Furchtarten nicht nur als Gegensatz behauptet werden, sondern positiv einander zugeordnet sind. Vor allem die Auslegung von 1 Joh 4,18, dem locus classicus auch der späteren Diskussion, bot Augustin ausführlich Gelegenheit, seine Sicht in diesem Sinne zu entfalten. Die Formulierung von der Zuversicht am Tag des Gerichts (fiducia in die iudicii) gibt Augustin den Anlass, unterschiedliche Gruppen von Menschen zu unterscheiden. So gebe es erstens solche, die das Gericht nicht fürchten, weil sie nicht an ein solches glauben. Eine zweite Gruppe von Menschen sei zum Glauben gekommen und fürchte sich nun vor dem Gericht. 19 Die Furcht markiert hier gewissermaßen einen Anfang des Heilsweges. Bei einem solchen Menschen gewinne die Furcht nun eine positive

13 Spir. et litt. XXXII. 56. 14 Spir. et litt. XIX. 34. 15 Vgl. auch HUNZINGER , S. 14. 16 In der Gottesliebe wird Gott

genossen und die Welt gebraucht, in der Weltliebe wird Gott gebraucht und die Welt genossen. Vgl. die Ausführungen zur Liebe in ep. Io. tr. 2. 17 Ep. Io. tr. 2.14. 18 Spir. et litt. XXXII. 56. 19 „Si coepit credere, coepit et timere.“ (ep. Io. tr. 9,2)

3.1 Furcht bei Augustin

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Funktion: „timendo corrigat se.“20 Durch die Furcht fange er an, Sünden zu vermeiden und sich in guten Werken zu üben. Dadurch komme eine allmähliche Umwandlung in Gang. Überwiege zunächst die Furcht vor dem kommenden Christus, so gewinne mit der Zeit die Sehnsucht die Überhand. Auch seine Zuhörer ermutigt Augustin, auf dem Weg von der Furcht zur Sehnsucht voran zu schreiten, was durch die Praxis guter Werke geschehe. 21 Schließlich kommt Augustin zur Auslegung von 1 Joh 4,18. Das Stichwort der perfecta caritas ermöglicht ihm nun eine weitere Differenzierung: In der vollkommenen Liebe ist jede Furcht vor dem Gericht ausgetrieben. Ist also die Gerichtsfurcht unverträglich mit der Liebe? Nein, sie steht zusammen mit der begonnenen Liebe (caritas inchoata). Diese Unterscheidung zwischen angefangener und vollendeter Liebe zieht Augustin nun zu weitreichenden Konsequenzen aus. Wer aus dem Glauben heraus das Gericht Gottes zu fürchten begonnen hat, in dem habe die Liebe begonnen. Damit behauptet Augustin einen notwendigen Zusammenhang dieser Gerichtsfurcht mit der beginnenden Liebe: „Ergo incipiat timor. […] Timor quasi locum praeparat charitati.“ 22 Als solche gewinnt nun aber die Furcht den Charakter eines notwendigen Anknüpfungspunktes für die Liebe. „Si autem nullus timor, non est qua intret charitas.“23 Wenn aber die Liebe im Menschen zu wohnen beginne, treibe sie nach und nach die Furcht aus. Furcht und Liebe stehen in einem Konvex-Konkav-Verhältnis zueinander: „Major charitas, minor timor; minor charitas, major timor“24. Lebensgeschichtlich beginnt ein Prozess, der in diesem Leben freilich nicht zum Abschluss kommt. In diesem Prozess hat die Furcht nun die Rolle eines notwendigen Anfangs bekommen. Diese Bewegung kann Augustin mit der Schlussfolgerung auswerten: „Nam si sine timore es, non poteris justificari“ 25. Diese positive Einordnung der Furcht in den Heilsprozess kann Augustin auch mit einem anderen Gleichnis veranschaulichen. Die Furcht sei wie das Messer eines Arztes, mit dem er einen Krankheitsherd aus der Wunde ausschneidet. Wohl werde der Schmerz durch dieses Heilmittel vergrößert, zugleich die Wunde der Heilung näher gebracht: „timor medicamentum, charitas sanitas“ 26. 20 Ep. Io. tr. 9,2. 21 „Ergo fratres,

date operam, intus agite vobiscum, ut desideretis diem judicii.“ (ep. Io. tr. 9,2) 22 Ep. Io. tr. 9,4. 23 Ep. Io. tr. 9,4. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ep. Io. tr. 9,5. Diese Vorordnung der Furcht gegenüber der Liebe zeigt sich auch in der Auslegung des Johannesevangeliums: „Nondum potes amare justitiam? Time vel poenam, ut pervenias ad amandum justitiam.“ (Io. eu. tr. 41.10)

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Kapitel 3: Problemgeschichte der Furcht

Anschließend wird in der weiteren Auslegung die oben vorgestellte antithetische Gegenüberstellung der Furchtarten entwickelt. Ausführlich wird das Gleichnis der beiden Ehefrauen entfaltet. Schließlich wendet sich Augustin in seiner Predigt nacheinander den beiden Frauen zu, die als typologische Predigthörerinnen angesprochen werden. Der ehebrecherischen Frau wird eingeschärft, dass Gott ungleich mehr als jeder Ehemann jede Verfehlung sieht und ahndet: „tu non times eius praesentiam, qui averti a te non potest?“ 27 Im Blick auf die keusche Ehefrau ist es Augustin fraglich, ob eine solche überhaupt anzutreffen sei und ob er nicht viel mehr von ihr lernen müsse. Deutlich wird dabei: Die Pädagogisierung der Furcht ist durchaus bezogen auf ihre antithetische Unterscheidung. Der an sich negative timor servilis kann im Glauben einen relativen Nutzen bekommen. Unter der Herrschaft der Gnade gibt es so etwas wie eine Funktionalisierung des Schreckens. Die Bezeichnung des Gesetzes als Zuchtmeister auf die Gnade hin kann in diesem Sinne gewürdigt werden. 28 Diese Funktionalisierung der Furcht wird von Augustin am eindrücklichsten in der Auslegung von Ps 127,1 (128,1) zur Geltung gebracht. Zunächst erfolgt die übliche Dualisierung der beiden Furchtarten. Die hier genannte Furcht des Herrn wird mit dem timor castus identifiziert, der in Ewigkeit bleiben wird, und eben nicht mit derjenigen Furcht, welche von der Liebe ausgetrieben wird. Dann aber erfolgt eine Unterscheidung innerhalb des Spektrums des timor non castus, nämlich hinsichtlich des zeitlichen bzw. ewigen Charakters des Gefürchteten. Einige fürchten sich, Übel auf der Erde zu erleiden. Davon zu unterscheiden sei aber nun eine andere Angst, nämlich die Höllenfurcht: „Alius non in hac terra pati timet, sed gehennas timet, unde terruit et Dominus.“ 29 Diese Furcht führe dazu, dass man sich von der Sünde enthält. Auch hier sei wohl ein timor non castus gegeben, denn: „Timent quidem, sed non amant iustitiam.“30 Dann folgt aber ein entscheidender Schritt über die bisherige Dualisierung der guten und der schlechten Furcht hinaus. Wenn die Furcht vor der Hölle zur Enthaltung von Sünde führe, geschehe darin eine Gewöhnung an die Gerech-

27 Ep. Io. tr. 9,7. 28 Vgl. auch die

Ausführungen in De utilitate Credendi: Wohl seien wir durch die Gnade davon befreit, aus bloßer Furcht unter dem Gesetz zu dienen („non servire timore legis“). Das Gesetz hatte jedoch durch Androhung von Strafen die Aufgabe, auch die Einfältigen mit Schrecken in Schranken zu halten, die sich mit Vernunft allein nicht von Sünde zurückhalten konnten. Darin sei das Gesetz ein Erzieher auf die Gnade hin geworden: „Ille [deus] igitur paedagogum dedit hominibus, quem timerent, qui magistrum postea, quem diligerent.“ (util. cred. 9) 29 En. Ps. 127, tr. 7. 30 Ebd.

3.1 Furcht bei Augustin

39

tigkeit (consuetudo iustitiae), womit ein Prozess einsetze, in dem Gott die Furcht vor der Strafe umwandle in die Liebe zur Gerechtigkeit.31 Augustin hat die hier angedeutete dreifache Unterscheidung der Furcht nicht ausgeführt. Sofort anschließend erläutert er anhand des Gleichnisses von den beiden Ehefrauen den Unterschied zwischen der keuschen Furcht, die aus der Liebe kommt 32, und der unkeuschen, die sich auf die Strafe richtet. In der weiteren Erläuterung werden Furcht vor irdischen Strafen und Furcht vor der Hölle nicht konsequent unterschieden. Von der unkeuschen Furcht gilt: „non timet ne perdat amplexus pulcherrimi sponsi, sed timet ne mittatur in gehennam.“33 Unmittelbar nach dieser antithetischen Gegenüberstellung erfolgt jedoch wieder die Betonung des relativen Nutzens dieser Furcht.34 3.1.3 Das zwiespältige Erbe Augustins Augustin kann die von ihm entwickelte Unterscheidung von timor servilis und timor filialis einerseits als Gegensatzpaar auslegen, wo diese Furchtarten einander ausschließen; andererseits kann er sie positiv in einem Entwicklungsschema einander zuordnen. Wie verhalten sich diese beiden Linien zueinander? Denn der Unterschied ist offenkundig: Hier ist der Zusammenhang der Gnadenlehre bestimmend, dort ein pädagogischer Kontext leitend. Hier wird eine paulinisch-prinzipielle Argumentation vorgetragen, dort eine praktisch-empirische Erwägung. Dieser komplexe Zusammenhang hat seinerseits gegensätzliche Deutungen hervorgerufen. In Hunzingers Studie zum Furchtproblem läuft die Beurteilung darauf hinaus, die erste Linie als die eigentliche Intention Augustins aufzufassen, die vom vulgärkatholischen Erbe, das dieser in der zweiten Linie festzuhalten bemüht gewesen sei, zu unterscheiden ist. 35 Aufgrund dieser Traditionsverbundenheit Augustins sei dessen eigentliche Intention leider nicht voll zum Zuge komme.36 Augustin habe wohl im Zusammenhang der Wirkung des Gesetzes einen negativ-dispositorischen Wert des timor servilis beschreiben können; die Furcht werde angesichts des Gesetzes zum Moment der Selbsterkenntnis und bereite negativ auf den Empfang der Gnade vor. Diese Hunzinger zufolge evangelische Linie werde jedoch überlagert 31 „Cum autem per timorem continent se a peccato, fit consuetudo iustitiae, et incipit quod durum erat amari et dulcescit Deus; et iam incipit homo propterea iuste vivere, non quia timet poenas, sed quia amat aeternitatem.“ (en. Ps. 127, tr. 7) 32 „Venit de amore“. (en. Ps. 127, tr. 8) 33 Ebd. 34 „Bonus est iste timor, utilis est.“ (Ebd.) 35 Vgl. zur Rede von den vulgärkatholischen Anteilen in Augustins Denken natürlich die einflussreiche Beschreibung bei HARNACK, S. 96ff.; 216ff.; 231f. 36 H UNZINGER , S. 81.

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Kapitel 3: Problemgeschichte der Furcht

dadurch, dass dem timor servilis immer wieder auch eine positivqualifikatorische Bedeutung beigemessen werde.37 Dieser Augustindeutung hat vor allem Rochus Rimml SJ scharf widersprochen.38 Rimml bestritt entschieden, dass die Aussagen Augustins einen Zwiespalt verrieten; vielmehr seien sie „ganz harmonisch und einheitlich“, weswegen auch „Gregor, Anselm und Thomas ihn richtig verstanden haben.“39 Rimml beginnt daher mit den oben dargelegten Zeugnissen, die die positive Beurteilung des timor servilis belegen. Die damit in Spannung stehenden Gegensatzbildungen werden unter der Überschrift „schwierige Texte aus Augustin und ihre Erklärung“40 behandelt. Nach Rimml lassen sich solche Belege auf drei verschiedene Gruppen von Texten eingrenzen: 1. Antipelagianische Auseinandersetzung Augustins. 2. Texte, die den Unterschied des AT und NT und den timor carnalis der Juden behandeln. 3. Predigten bzw. Katechesen, in denen die Gläubigen vor bloß äußerer Werkgerechtigkeit gewarnt werden. Rimmls Versuch, den vermeintlichen Gegensatz im Denken Augustins dadurch zu entschärfen, dass die eine Linie auf Sonderfragen eingegrenzt wird, vermag jedoch schwerlich zu überzeugen. Die Einteilung in drei Gruppen ist schon wegen der Disparatheit der Rubriken (ein Konfliktfeld, ein theologisches Thema und ein literarisches Genus) fragwürdig. Auch gelingt Rimml mitnichten der Nachweis, dass bestimmte Ausdrucksweisen Augustins nur nachrangigen Kontexten geschuldet sind. 41 Wenn Rimml feststellt, in seiner positiven Lehre habe Augustin stets den sittlichen Wert des timor servilis betont, zeigt sich darin vor allem das leitende Bestreben Rimmls, die Übereinstimmung Augustins mit Thomas so wie mit dem Trienter Konzil zu erweisen.42 Dabei wird er jedoch dem breiten Befund nicht gerecht, dass Augustin vielfach ein antithetisches Schema gegensätzlicher Furchtarten entfaltet, ohne die Vermittlung mit einer prozesshaften Verknüpfung herzustellen. Dies lässt sich auch nicht so deuten, dass Augustin lediglich weniger Wert auf scharf abgegrenzte Lehrbegriffe lege und daher den Begriff des timor servilis weiter fasse als die spätere Lehrbil37 Vgl. H UNZINGER , S. 35-38; 43. 38 R IMML, ROCHUS: Das Furchtproblem

in der Lehre des hl. Augustins, ZkTh 45 (1921) S. 43-65 und 229-259. 39 R IMML, S. 47. 40 R IMML, S. 229ff. 41 So ist nach R IMML die Antithese von timor poenae und amor iustitiae lediglich aus einer bestimmten Frontstellung zu erklären: nur wo die beiden Glieder ein komplettes und totales Motiv für die Erfüllung des Gesetzes bezeichnen sollen, würde Augustin zu dieser Gegenüberstellung greifen. Vgl. R IMML, S. 243. 42 Vgl. den Schlusssatz: „Die Auffassung des großen Lehrers der afrikanischen Kirche ist durchaus einheitlich und stimmt mit der des Konzils von Trient völlig überein.“ (RIMML, S. 259) Zur Übereinstimmung mit Thomas vgl. RIMML, S. 249.

3.1 Furcht bei Augustin

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dung.43 Plausibler ist daher die Deutung, dass Augustin die Antithetik der Furchtarten vor allem dort entfaltet, wo er sich auf Grundzüge paulinischer Theologie einlässt, wie dies in den pelagianischen Auseinandersetzungen im besonderen Maße der Fall ist. Auf der anderen Seite dürfte es angesichts des Befundes ebenfalls nicht angehen, mit Hunzinger die Unterscheidung von genuin-augustinischer Meinung auf der einen und vulgärkatholischem Rest auf der anderen Seite durchzuhalten. Eine solche Lektüre, die alles auf Luther hinführende als genuin augustinisch fasst, macht ihrerseits einen tendenziösen Eindruck. Beide Linien gehören in Augustins Denken zusammen, sie gehören zu einer Zwiespältigkeit, die auch in vielen anderen Bereichen seiner Theologie zu beobachten ist. 44 Man muss sich klar machen, dass diese positive, „pädagogische“ Verbindung der heterogenen Furchtarten durchaus verwurzelt ist im Gesamtwerk Augustins, wenn auch weniger in seinen antipelagianischen Werken der Spätzeit, sondern eher in seinen antidonatistischen Erfahrungen. Diesen Zusammenhang übersehen sowohl Hunzinger als auch Rimml, dass Augustin im Zusammenhang der donatistischen Auseinandersetzungen durchaus seine ambivalente Einstellung zur Furchtfrage bewusst reflektiert. Dieser Sachverhalt lässt sich im Zusammenhang des berühmten cogite intrare erhellen. In diesem Sinn konnte sich Augustin im berühmten Brief an den Rogatisten Vincentius positiv auf den Nutzen der Straffurcht beziehen. Dem Grundsatz des Vincentius, dass man doch niemanden zur Gerechtigkeit zwingen dürfe, hält er das Wort Jesu im Gleichnis entgegen: cogite intrare, „nötigt sie, einzutreten“ (Lk 14,21-23). So habe der Herr auch gegen Paulus gewaltsamen Druck ausgeübt, ihm sogar das Augenlicht genommen und nicht eher zurückgegeben, bis er in die Kirche eingegliedert war. So, wie der Hirte bisweilen die verlorenen Schafe mit der Geißel wieder zur Herde zurücktreibe, ziehe auch Gott den Menschen durch Furcht und Schrecken zu sich: „quod fit in cordibus omnium qui se ad eum divinae iracundiae timore convertunt.“ 45 Augustin gesteht dabei zu, dass er sich lange dagegen gewandt habe, auf die donatistische Mehrheit in seiner afrikanischen Heimat staatlichen Druck ausüben zu lassen.46 Doch die Erfahrung habe ihn in dieser Frage einlenken lassen. Viele erklärten sich im Nachhinein dankbar für den ausgeübten Druck, weil sie nur aus Furcht 43 44

Vgl. RIMML, S. 249. Vgl. KURT FLASCH, der diese Zwiespältigkeit in seinem abschließenden Kapitel seiner Augustindarstellung thematisiert: „Das Denken Augustins ist ein Nest von Widersprüchen.“ (FLASCH, KURT: Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 21994. S. 403.) 45 Ep. 93, II. 5 46 Ep. 93, V. 17

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Kapitel 3: Problemgeschichte der Furcht

wieder katholisch geworden seien und dies nachträglich entschieden bejahten.47 Die Furcht habe dabei als Motivation eine entscheidende Hilfe geboten.48 Diese Erfahrungen bezieht Augustin auf den Umgang Gottes mit den Menschen, der in seiner Liebe eben nicht nur freundlich, sondern auch erschreckend begegnen könne.49 In den konkreten Erfahrungen im Umgang mit Bekehrten habe Augustin schließlich die Einsicht gewonnen, dass es vielleicht die Besseren seien, die die Liebe leite, die Meisten aber, die durch Furcht zurecht gebracht würden: „sicut meliores sunt quos dirigit amor, ita plures sunt quos corrigit timor.“ 50 Dieser pädagogisch-empirischen Dimension gesteht Augustin ausdrücklich Berechtigung zu.51

47 Vgl. ep. 93, V. 16: „Multas civitates videmus fuisse donatistas, nunc esse catholicas, detestari vehementer diabolicam separationem, diligere ardenter unitatem: quae tamen timoris hujus qui tibi displicet occasionibus, catholicae factae sunt per leges imperatorum.“ 48 Siehe auch die vielen Zeugnisse, die Augustin in ep. 93, V. 18 zusammenträgt, in denen die Zurückgewonnenen immer wieder betonen, dass die Furcht eine entscheidende Hilfe für ihre Rückkehr zur katholischen Kirche war. 49 „Quis nos potest amplius amare, quam Deus? Et tamen nos non solum docere suaviter, verum etiam salubriter terrere non cessat.“ (ep. 93, II. 4) So kann Augustin (ep. 93, I. 3) auch von einem terror utilis reden, der die Fesseln der schlechten Gewohnheit zu sprengen vermochte. Vor allem KURT F LASCH hat auf diese Linie im Werk Augustins hingewiesen. (FLASCH, KURT: Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo. Die Gnadenlehre von 397, Mainz 1990.) In seinen Ausführungen zur „Logik des Schreckens“ beschreibt FLASCH einen großen geistesgeschichtlichen Zusammenhang: Augustins Gnadenlehre habe „in Europa die Kirchen und die Staaten, die Lehrer und die Väter gelehrt, sich als Verwalter des Gottesschreckens einzusetzen, den Augustin 397 [mittels seiner neuen Gnadenlehre] rehabilitiert hatte. […] Ihr Schatten liegt über der Geschichte der Inquisition, aber auch über der Geschichte der Sexualität und der Mode. […] Augustin hatte die Angst nicht nur kanalisiert und instrumentalisiert; er hatte sie auch thematisiert, ihr also eine kulturelle Form gegeben.“ (F LASCH, Logik, S. 137-138) So berechtigt FLASCH sich gegen ein Verschweigen oder Bagatellisieren dieser Linie ausspricht, so überzogen wirkt zugleich die beanspruchte Reichweite dieser Deutung, welche die Möglichkeit geistesgeschichtlicher Genealogiebildung weit überschätzen dürfte. Auch sollten die oben beigebrachten Belege gezeigt haben, dass die Instrumentalisierung des Schreckens eben nicht unmittelbare Konsequenz der Gnadenlehre war, sondern sich auch empirisch-pragmatischen Erfahrungen Augustins verdankte. Zuletzt wird schon Luthers Rezeption des antipelagianischen Augustins gerade gegen eine instrumentalisierende Indienstnahme der Furcht zeigen, dass man sinnvollerweise die Zwiespältigkeit der augustinischen Haltung nicht in die eine oder andere Richtung auflösen sollte. 50 Ep. 185, VI. 21. Vgl. zu dieser Aussage den scharfen Kommentar von K URT FLASCH: „Der rhetorisch brilliante Satz sagt, dass der Mensch in der Regel eine Kanaille ist, die mit Gewalt zu Verstand gebracht werden muss und sich nachher dafür zu bedanken hat.“ (FLASCH, Augustin, S. 165) 51 Vgl. auch hier die Berufung auf die Erfahrung: „Melius est quidem (quis dubitaverit?) ad Deum colendum doctrina homines duci, quam poenae timore vel dolore compelli; sed non quia isti meliores sunt, ideo illi qui tales non sunt, negligendi sunt. Multis enim

3.2 Furcht in der mittelalterlichen Scholastik

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In seinen Aussagen zur Furcht konnte Augustin in verschiedenen Kontexten höchst unterschiedliche und nicht kohärent zu vereinigende Positionen entwickeln. Unabhängig von der Frage, worin man den wahren Augustin erblicken möchte: In diesem spannungsvollen Nebeneinander unvereinbarer Akzente nahm Augustin die Tendenz einer tausendjährigen dogmengeschichtlichen Entwicklung vorweg; sowohl in den Möglichkeiten ihrer problematischen Konsequenzen als auch im Blick auf die kritischen Gesichtspunkte, die man gegen sie stark machen konnte. In dieser doppelten Hinsicht wird man Luthers Bezug zu Augustin entfalten müssen.

3.2 Furcht in der mittelalterlichen Scholastik 3.2 Furcht in der mittelalterlichen Scholastik

3.2.1 Gregor der Große Für die Entwicklung der Furchtanschauung im Mittelalter besitzt Gregor der Große eine Schlüsselrolle in der Vermittlung augustinischer Gedanken. Gregor übernimmt Augustins Unterscheidung der beiden Furchtarten im Anschluss an 1 Joh 4,18 und Ps 19,10. Auch er beschreibt die Motive als amor iustitiae beim timor castus und timor poenae beim timor servilis. 52 Genau wie Augustin ist ihm der timor poenarum temporalium besonders minderwertig, ebenfalls spielt der timor gehennae im Anfang der Bekehrung eine wichtige Rolle. Stärker betont Gregor die Notwendigkeit, dass die Furcht vor dem Gericht den Beginn der Bekehrung markiere. Wo Augustin hinsichtlich der beiden Arten der Furcht den starken Unterschied immer wieder hervorkehren kann, wird nun die Tendenz stärker, die Entwicklung von der einen zur anderen Art der Furcht zu betonen. Vor allem in der Lehre von der Buße gibt Gregor der Furcht einen großen Stellenwert. 53 Dabei entwickelt er schulmäßig eine folgenreiche Unterscheidung in der Entstehung der Buße. Es gebe eine Reue aus Furcht (compunctio formidinis) und eine Reue aus Liebe (compunctio dilectionis). Anders als bei Augustin, lassen die sich nicht als bessere bzw. schlechtere verstehen, wobei im Einzelfall auch einmal die Reue direkt aus der Liebe entspringen könne. Vielmehr gebe es einen notwendigen Verlauf, der von der Furcht zur Liebe führt. „Anima prius timore compungitur, post amore.“ 54 Notwendig müsse von der Drohung ewiger Strafe her die Umkehr

profuit (quod experimentis probavimus et probamus) prius timore vel dolore cogi, ut postea possent doceri“. (ep. 185, VI. 21) 52 Vgl. H UNZINGER , S. 43ff. 53 Vgl. hierzu vor allem die Darstellung von SCHWARZ, Vorgeschichte. Siehe zu Gregors Bußlehre S. 59-82. 54 Vgl. H UNZINGER , S. 46.

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Kapitel 3: Problemgeschichte der Furcht

mit einem Erschrecken, mit Furcht und Traurigkeit beginnen.55 Durch einen längeren Prozess von Furcht und Trauer hindurch würden diese Gemütszustände mit der Zeit einer Hoffnung auf himmlische Belohnung weichen. Allmählich entwickelt die Reue aus Furcht eine gewisse Vollkommenheit und führt die Seele zur Liebesreue. Dieser Übergang wird in psychologischer Folgerichtigkeit verbindliches Maß dessen, was als Buße zu gelten hat. Die Furcht hat somit einen gesteigerten Grad der Notwendigkeit für den Beginn des christlichen Glaubens überhaupt erhalten. Ein weiteres Moment gewinnt damit nun aber große Bedeutung, nämlich die Betonung prinzipieller Ungewissheit des Heils. Immer wieder ermahnt Gregor, in der Furcht vor dem göttlichen Gericht seine eigenen Sünden zu bedenken. Furcht und Buße seien geradezu zwei Fittiche, die den Menschen angesichts des drohenden Gerichtes deckten. 56 Darum sei es für den Menschen heilsam, immer wieder bei Furcht und Bitterkeit der Buße (amaritudo poenitentiae) seine Zuflucht zu suchen, ja in beständiger Gerichtsfurcht zu verweilen. Dabei legt Gregor großen Wert auf die bleibende Ungewissheit des Heils. 57 Der Gerechte könne diese Furcht nie hinter sich lassen, stets müsse er auf jede Gewissheit verzichten und zur Furcht vor dem Gericht Gottes zurückkehren. Der Christenstand sei daher durch ein stetes Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung gekennzeichnet. Gregor wird damit der Begründer eines eigentümlichen Zirkels. Auf der einen Seite ist es die Furcht vor der Unsicherheit des Gerichts, die jegliche Heilsgewissheit ausschließt, auf der anderen Seite ist es aber eben nun auch dieselbe Furcht, die Grund einer relativen Sicherheit wird. 58 Als solche wird die Furcht „bleibender Wächter der Heilsungewissheit und damit […] relative Garantie des Heilsbesitzes.“59 3.2.2 Die Furchtlehre bei Petrus Lombardus Die Sentenzen des Petrus Lombardus sind schließlich die Gestalt frühscholastischer Lehrzusammenfassung, die bis zur Zeit Luthers jedem theologischen Diskurs zugrunde lag und damit auch hinsichtlich der Unterscheidungen in der Furchtlehre größte Bedeutung gewann. 60 Der Lombarde 55 Vgl. Gregors Auslegung der ersten Klage Hiobs, wo die aus Traurigkeit, Bitterkeit, Furcht und Schrecken bestehende Bußstimmung anschaulich geschildert wird (SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 63ff.). 56 Vgl. H UNZINGER , S. 52. 57 Vgl. auch das von H ARNACK, S. 267 beigebrachte Beispiel. 58 H UNZINGER , S. 56. Vgl. in diesem Sinne auch die Bezeichnung als „Apostel der Heilsungewissheit.“ (S. 52) 59 H UNZINGER , S. 57. Als Hintergrund vgl. vor allem H ARNACK, S. 266-268. 60 P ETRUS LOMBARDUS, Sententiae in IV libris distinctae. Hrsg. von PP. Collegii S. Bonaventurae, 2 Bde., Grottaferrata 31971-1981. Vgl. für die Hochscholastik: THOMAS

3.2 Furcht in der mittelalterlichen Scholastik

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knüpft vor allem an den Stand der Entwicklung an, wie er durch die Schule des Anselm von Laon erreicht ist. Anselm unterscheidet vier Formen der Furcht.61 Es gibt zwei irdische Furchtformen, timor mundanus bzw. humanus, die menschliche bzw. weltliche Furcht, in der der Mensch Angst vor zeitlichem Verlust und Schaden hat, und den timor servilis, mit welchem die Strafe Gottes gefürchtet wird. Davon unterscheidet Anselm nun zwei göttliche Furchtarten. Vor den augustinischen timor castus ist nun ein Zwischenglied getreten, der timor initialis. Dieses Zwischenglied ist offenbar die Konsequenz der Bemühung, einen Übergang der beiden Furchtarten zu denken. Der timor initialis ist somit Ausdruck der prinzipiellen Entwicklungsfähigkeit des timor servilis zum timor filialis. Wo bei Augustin noch der Gegensatz dominierte, hat nun der Gedanke der Entwicklung sich durchgesetzt. Anselm bringt damit begrifflich auf einen Nenner, was seit der gregorianischen Rezeption der augustinischen Furchtlehre ohnehin als ihr Grundzug betrachtet werden konnte. Petrus Lombardus ändert in seinem Kapitel zur Furcht (Sent. III dist. 34) diese Zuordnung in für die kommende Entwicklung einflussreicher Weise. In den ersten drei Kapiteln seiner Untersuchung geht Petrus positiv auf die Frage ein, ob die sieben Geistesgaben als Tugenden zu verstehen sind, die auch in den Engeln und den Seligen, ja sogar in Christus sind und in Ewigkeit (in anderer Gestalt) bleiben werden. Kapitel 4 stellt er dann seine Unterteilung der Furchtarten vor, die zunächst einmal dem seit Anselm üblichen Viererschema folgt. Der timor mundanus sive humanus verfällt mit Verweis auf Mt 10,28 der Abwertung als schlecht. Einen Neuansatz nimmt der Lombarde dagegen beim timor servilis vor. Dieser wird verstanden als timor gehennae, mit dem man sich vor der Sünde hütet. In Anschluss an Augustins Ausführungen zu Ps 127 wird dieser mit seinem Ausspruch zitiert, dass diese Furcht gut und nützlich sei (wenn auch ungenügend), weil in ihr die Gewöhnung an die Gerechtigkeit geschehe. 62 Anders als bei Anselm ist der timor servilis damit keine bloß irdische VON AQUIN: Summa Theologiae. Diligenter emendata Nicolai, Sylvii, Billuart & C.-J. Drioux. 8 Bde., Barri-Ducis 1856-1869; B ONAVENTURA: Opera Omnia. Hrsg. von PP. Collegii. S. Bonaventurae, 5 Bde., ad Claras Aquas (Quaracchi) 1882-1901. 61 So stellt auch LANDGRAF nach ausführlicher Darstellung der Schule von Laon am Ende fest: „Das Gerippe des von der Anselmschule benützten Einteilungsschema sollte in der Folgezeit klassisch werden.“ (LANDGRAF, S. 289) 62 Vgl. H UNZINGER : „In geradezu verhängnisvoller Weise taucht hier das unglückliche Wort Augustins von der consuetudo justitiae, quae per timorem fit, wieder auf, um fortan aus den Gedanken der scholastischen Theologen nicht wieder zu verschwinden.“ (S. 81) Vgl. auch LANDGRAF, S. 296ff. LANDGRAF zufolge ist diese Tendenz jedoch schon in der Frühscholastik nicht unumstritten: Es „scheint zu seiner Zeit [des Lombarden] schon der Streit um die Güte des timor servilis und seines Gebrauchs in Gang zu sein.“ (LANDGRAF, S. 302)

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Kapitel 3: Problemgeschichte der Furcht

Furchtform, sondern gilt als dritte göttliche, gute Art der Furcht. Der timor initialis wird kurz mit einer augustinischen Beschreibung eingeführt, die den prozesshaften Anschluss an den timor servilis und den allmählichen Übergang im Wachstum der Liebe beschreibt: „et succedit initialis timor, quando incipit quod durum erat amari; et sic incipit excludi servilis timor a caritate.“ Die vierte Furchtart wird wiederum in ihrem direkten Anschluss an die vorherigen kenntlich gemacht („et succedit“). Als timor castus et amicalis ist sie eine Folge der Liebe („Timor iste de amore venit“), die nach Ps 19,10 in Ewigkeit bleibt. Das 5. Kapitel erläutert nun die näheren Unterscheidungen der drei guten Furchtarten („De casto et servili et initiali“). Dabei ist es interessant, dass Petrus ausführliche Zitate der augustinischen Auslegung von 1 Joh 4 präsentiert, also der Textzusammenhänge, in denen Augustin die positive Zuordnung der sonst antithetisch einander gegenübergestellten Furchtformen ausführt, inklusive der besonderen Wertschätzung des timor gehennae. Diese Wiedergabe bestimmt auch das halbe 6. Kapitel, worin die Grundunterscheidung mittels des Gleichnisses von den zwei Frauen erläutert wird. Dann wendet Petrus sich dem Problem des timor initialis zu (den es ja mit diesem Begriff so noch nicht bei Augustin gegeben hat). Dabei begründet er die Berechtigung dieses Begriffs, in dem er sich auf Augustins Unterscheidung zwischen vollkommener und angefangener Liebe beruft. Als mittlere Furcht sei der timor initialis eine Mischung aus knechtischer und keuscher Furcht, habe sowohl Furcht vor Strafe als auch Liebesfurcht vor der Beleidigung Gottes. Dieser ist „medius, aliquid de servili et aliquid de casto timore habet.“ Der Terminus will nichts anderes sein als eine Interpretation des Entwicklungsschemas, wie Augustin es in seiner Johannesbriefauslegung entfaltet: „Iste timor notatur in illis verbis Augustini, ubi non negat, timorem esse in caritate inchoata, sed perfecta.“ Diese Furcht sei bei Augustin gemeint, wenn er von der Furcht bei begonnener Liebe spricht, was für den timor servilis ja nicht gelten könne, weil in diesem die Furcht ausgetrieben wird! Mit dem timor servilis sei nicht ein credere in Deum verbunden, sondern lediglich ein credere Deo (eine Unterscheidung, die der zwischen fides qua und quae creditur entsprechen dürfte). Bereits in der begonnenen Liebe sei jedoch schon fides in Deum enthalten. Daher sei der timor servilis nicht in der begonnenen Liebe anwesend. Die Beschreibung des christlichen Heilsweges konzentriert sich auf den Wachstumsprozess der Liebe im Einzelnen. Das Wachstum der Liebe verdränge allmählich die Furcht. 63 Was für einen selbstverständli63 Die weiteren Unterscheidungen der Sentenzen sind weniger weitreichend: Als Beginn der Weisheit könne man sowohl den timor servilis als auch den timor initialis beschreiben. Der timor servilis bereitet der Weisheit jedoch nur die Stätte, so dass der timor initialis im eigentlichen Sinn Beginn der Weisheit sei (Kap VII). Die keusche Furcht

3.2 Furcht in der mittelalterlichen Scholastik

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chen Rang dieses Entwicklungsschema nun bekommen hat, zeigt sich in der Bußlehre des Lombarden. Ohne nähere Erläuterung kann es dort heißen, dass die Buße in der Furcht ihren Ausgangspunkt habe: „Poenitentiae virtus timore concipitur.“ 64 Diese Funktion der Furcht in der Buße sollte dabei in der weiteren Lehrentfaltung und Frömmigkeitsentwicklung mehr und mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Halten wir für diese erste Rezeptionsphase der Furchtproblematik fest: Petrus Lombardus hat es unternommen, das inzwischen entwickelte Stufenschema ausführlich mit Augustin zu begründen und zu rechtfertigen. Man wird nicht bestreiten können, dass er dieses pädagogische Aufstiegsschema nicht in Augustin hineintragen musste, sondern auch bei diesem finden konnte. Und doch bleibt diese Augustinrezeption einseitig und verkürzt. Die Konzentration auf die Ausführungen zum 1. Johannesbrief und zu Ps 127 betont einseitig die Entwicklungslogik und somit die empirischpädagogische Deutung der Furcht. Die paulinisch-prinzipielle Linie bei Augustin, die vor allem in der antipelagianischen Frontstellung betont wurde, findet dagegen keine Fortsetzung. Aufgegeben ist damit auch die Kritik des timor servilis im Horizont des paulinischen Gesetzesverständnisses. Die augustinische Unterscheidung des seltenen, aber besseren Weges und des häufigen, aber schlechteren Anfangs findet sich ebenfalls nicht mehr. Was schon quantitativ nicht den Schwerpunkt Augustins bildete, das Entwicklungsschema, ist nun das tragende Grundgerüst der ganzen Furchtlehre geworden. 65 Als „positiv-qualifikatorisches Moment“66 des christlichen Heilsweges hat die Furcht eine prinzipielle Aufwertung erfahren, bleibe wohl in Ewigkeit, aber nicht mehr als Furcht, Gott zu beleidigen, sondern als reine Ehrfurcht (Kap VIII, so auch schon Kap III). In Christus schließlich, dessen Angst im Neuen Testament ja ausdrücklich bezeugt wird, sei keine Angst vor Strafe als timor servilis oder initialis vorhanden gewesen, sondern ein von der geistlichen Wertigkeit her als neutral einzustufender timor naturalis. (Kap IX) 64 PETRUS LOMBARDUS, Sent. IV dist. 14 cap. II. Der Zusammenhang wird nicht ausgeführt und nur mit dem Verweis auf Is 26,18 LXX gestüzt. Vgl. auch SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 128. 65 „Er ist in Wirklichkeit keine Furchtart, sondern nur die dogmatische Behauptung, man könne aus einer Furchtart in die andere gelangen“. (HUNZINGER, S. 82) HUNZINGER unterschlägt dabei, dass der Lombarde den timor initialis ausdrücklich als Deutung von Augustins Psalmenauslegung zu Ps 127 entwickelt: das dort von diesem behauptete „zugleich“ von begonnener Liebe und Furcht bezeichnet er als timor initialis! 66 Wiewohl LANDGRAFS Darstellung sich durchweg in kritischer Auseinandersetzung mit dem Semipelagianismusvorwurf befindet (vgl. LANDGRAF, S. 369), kann er keinen völlig anderen Befund konstatieren. Vgl. sein Fazit zur Frühscholastik: „Ein Gemeinsames zeigen bei aller Verschiedenheit alle bisher aufgeführten Autoren: der timor servilis besteht nicht mit der caritas zusammen. Er ist aber trotzdem, wenigstens irgendwie oder unter irgendeiner Rücksicht, gut. Es verwirren sich aber die Stimmen, sobald die Rede auf die Güte des serviliter timere kommt.“ (L ANDGRAF, S. 318)

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Kapitel 3: Problemgeschichte der Furcht

durch die sie für den Glaubensvollzug nicht nur wertvoll, sondern auch notwendig geworden ist.67 3.2.3 Furcht in der Hoch- und Spätscholastik Dieser positiven Wertung des timor servilis ist die gesamte mittelalterliche Theologie gefolgt und hat dabei das System immer ausführlicher ausgebaut, ohne am grundsätzlichen Ordnungsschema noch wesentliche Änderungen vorzunehmen. Die vierfache Unterteilung der Furchtarten wird im Westen von allen Scholastikern übernommen. 68 Die negative Wertung des timor mundanus bzw. humanus ist ebenfalls nicht strittig. In der Zuordnung der drei geistlichen Furchtarten wächst das Bemühen, diese einander eher stärker anzunähern als deutlicher zu unterscheiden. Dabei werden vor allem zur Bestimmung des timor initialis neue Unterscheidungen entwickelt. Dem timor servilis war es eigentümlich, aus Furcht vor der Strafe sich zu Gott zu wenden. Dem timor initialis wohnt diese Straffurcht nun ebenfalls noch inne; zugleich aber fürchtet er auch wie der timor filialis die Beleidigung Gottes. Dabei ist es so, dass die Straffurcht dem timor initialis nur akzidentiell zukommt, das timere offensam seu separationem a deo dagegen essentiell. 69 Vielfach bemüht wird zur Verdeutlichung das Bild der zwei Augen, wobei der timor initialis mit dem einen auf die Strafe und mit dem anderen auf Gott blickt. Diese Unterscheidung rückt den timor initialis natürlich in ziemliche Nähe zum timor castus. Der Unterschied zwischen beiden ist allenfalls noch quantitativ, wie Bonaventura deutlich macht: „timor enim initialis simul poenam et offensam, timor vero filialis offensam quidem timet et attendit summi patris reverentiam.“ 70 Insofern ist es konsequent, wenn Thomas zwischen beiden nur noch eine differentia secundum statum gelten lassen will.71 Um so mehr stellte sich die Frage nach der geistlichen Beurteilung des timor servilis. Schon vom Lombarden war der timor servilis als eine Tugend festgehalten, die als donum spiritus sancti etwas Gutes sei. Diese positive Beurteilung galt es nun in Bezug auf den weiteren Ausbau der 67 Vgl. dementsprechend HUNZINGERS Beurteilung die Furchtlehre des Lombarden ist der „Schlussstein zum semipelagianischen Gebäude der Furchtlehre“. (H UNZINGER, S. 84) 68 Bisweilen wird in der Spätscholastik das Schema durch einen timor naturalis als fünfte Furchtart ergänzt. 69 H UNZINGER , S. 87. 70 BONANVENTURA, Sent. III dist. 34 p. 2 art. 2 qu. 1. 71 T HOMAS VON AQUIN, Summa II/2 qu. 19 art. 8. Vgl. H UNZINGER , S. 90. Stärker betont wird die Differenz zwischen den Furchtarten dagegen bei den nominalistischen Kommentatoren, die in dieser Frage den Unterscheidungen der Tradition stärker treu bleiben.

3.2 Furcht in der mittelalterlichen Scholastik

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Gnadenlehre einzubinden.72 Zunächst einmal wurden die Furchtarten den durch die Aristoteles-Rezeption möglich gewordenen Unterscheidungen der Gnadenlehre zugeordnet: Der timor servilis entsprach der gratia gratis data, der timor initialis bzw. filialis dagegen wurde von der gratia gratam faciens verliehen. Der timor servilis kommt insofern auf einer Stufe mit dem fides informis zu stehen, er ist ebenfalls ein meritum de congruo und nicht ein meritum de condigno. Um seine grundlegend positive Beurteilung aufrecht zu erhalten, waren weitere Unterscheidungen nötig. Allein der timor initialis sei als donum eine Gabe a spiritu sancto et cum spiritu sancto; der timor servilis behält seinen Status als Geistesgabe durch die Einschränkung, er sei a spiritu sancto et non cum spiritu sancto. 73 Denn man müsse im timor servilis unterscheiden zwischen dem grundsätzlichen Tatbestand der Straffurcht und der daraus folgenden Enthaltung von Sünde auf der einen und dem fortbestehenden Mangel an Liebe zur Gerechtigkeit auf der anderen Seite. Der zweite Umstand mache ja die Deformität des timor servilis aus, keineswegs jedoch der erste. Insofern lasse sich die Geistgewirktheit auf das Moment der Straffurcht konzentrieren; die mangelnde Liebe dagegen könne als accidens bzw. annexum beschrieben werden, die das wahre Wesen des timor servilis nicht ausmachen muss. 74 Daher kann es dann bei Thomas auch heißen: „timor servilis secundum substantiam bonus est.“75 Eine weitere Möglichkeit der Differenzierung bot die Unterscheidung von habitus und actus, die am timor servilis in unterschiedlicher Weise verwendet wurde. Zwar nicht Albert und Thomas, aber viele spätere nutzten die Unterscheidung, um an der Deformität des timor servilis in seiner Habitualität festzuhalten, zugleich aber die Möglichkeit eines guten Gebrauchs in actu einzuräumen. So können etwa Alexander von Hales und Bonaventura im Fürchtenden ein habituell bösen und einen aktuell guten Gebrauch des timor servilis unterscheiden. 76 Im Ergebnis dieser begrifflichen Unterscheidungen ließ sich die positive Wertschätzung des timor servilis weiter begründen. In diesem beginne der Mensch wenigstens um der Strafe willen Gott zu fürchten; darin sei er eine Vorbereitung auf das verdienstlich Gute. Als Beginn eines Vervollkommnungsprozesses habe der timor servilis die entscheidende Schlüsselrolle, den Heilsprozess im Menschen einzuleiten. Da die völlige Austreibung der 72 Vgl. LANDGRAF, S. 342ff. Und weiter: „Nach unsicheren Anfängen wagt man, wie wir sahen, doch schon seit Mitte des 12. Jahrhunderts entschieden, den timor servilis als Gabe des Heiligen Geistes, ja auch als Gnade zu bezeichnen.“ (S. 354) 73 H UNZINGER , S. 92 mit Verweis auf Albertus Magnus. 74 Vgl. H UNZINGER , S. 94. 75 Summa II/2 qu. 19 art. 4. 76 Vgl. LANDGRAF, S. 383.

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knechtischen Furcht erst im Himmel vollendet sein werde, halte sich die Straffurcht zumindest akzidentiell auch durch alle Aufstiegsbewegungen des timor initialis hindurch. Dieses bleibende Moment der Straffurcht wurde teilweise durch noch weiter gehende begriffliche Unterscheidungen ermöglicht, die einen bloßen timor poena schließlich auch als mit der zunehmenden Liebe als gut verträglich erwiesen. 77 Man wird darin zu Recht eine Tendenz erkennen können, die Wertschätzung bleibender Gerichtsfurcht, wie sie spätestens seit Gregor Allgemeingut war, bis in die letzten Unterscheidungen der Gnadenlehre hinein zum Ausdruck zu bringen. Im Laufe der Zeit hat dabei die Furchtlehre in den Kommentaren zu Sent. III dist. 34 ihr eigenständiges Interesse zunehmend verloren; Duns Scotus und Ockham konnten sie schon ganz weglassen. Die Bedeutung der Furcht spiegelt sich nun stärker in dem Kontext, der zunehmend größere Aufmerksamkeit für sich beanspruchte: im Verständnis der Buße. 78 Petrus Lombardus unterschied in seiner Bußlehre die subjektive Bußtugend (auch poenitentia interior) und das objektive Bußsakrament, wie es in der Beichte vermittelt wird (poenitentia exterior). Die öffentliche Kirchenbuße der Alten Kirche wird wohl noch erwähnt, die persönliche Privatbeichte steht aber eindeutig im Zentrum des Interesses. Dabei liegt der Schwerpunkt wie in der gesamten Frühscholastik auf der Reue des Menschen und nicht auf der objektiven Heilsvermittlung durch den Priester, dem Bekenntnis vor Gott und nicht dem Bekenntnis vor dem Menschen. Diese persönliche Buße habe nun ihren Ursprung in der Furcht, auch wenn der Lombarde diesen Gedanken nicht weiter entfaltet. Die Auslegungen von Sent. IV dist. 14 werden in der Folgezeit schon quantitativ intensiver diskutiert als die Unterscheidungen der timor-Lehre nach Sent. III dist. 34. 79 Zwei verschiedene Ansätze galt es in der Folgezeit miteinander zu verbinden: Auf der einen Seite gab es die Tradition einer stark ethischen Betonung der Buße, die vor allem in der persönlichen Reue das Zentrum des Erneuerungsgeschehens betrachtete. Vor allem Abälard setzte in seiner Darstellung der Buße diese ethische Dimension ganz ins Zentrum, aber auch beim Lombarden erhielt die Tugend der Buße das Übergewicht gegenüber der sakramentalen Handlung. Auf der anderen

77 Zur Entwicklung vor allem bei Durandus vgl. 78 Vgl. umfassend: SCHWARZ , Vorgeschichte.

HUNZINGER, S. 100ff. Siehe auch schon SCHWARZ, Fides, S. 279-280; HUNZINGER, S. 103-110. Aus katholischer Perspektive siehe grundlegend die dogmengeschichtlichen Darstellungen von P OSCHMANN, B ERNHARD: Buße und letzte Ölung (HDG IV/3), Freiburg/Br. 1951. S.83ff. und VORGRIMLER, HERBERT: Buße und Krankensalbung (HDG IV/3), Freiburg 1978. S. 114ff. Speziell zu den spätfranziskanischen Entwicklungen vgl. die Studien von V ALENS HEYNCK, vor allem ders.: Attritio sufficiens, Franziskanische Studien 31 (1949) S. 76-134. 79 Vgl. auch SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 128.

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Seite galt es nun, den sakramentalen Akt der Gnadenmitteilung in angemessener Weise ins Verhältnis zur persönlichen Buße zu setzen. Eine klassische Sicht des Hochmittelalters repräsentiert Bonaventura. Zunächst lebe der Sünder im amor sui. Eine erste fides informis bewirke wohl die Einsicht in das drohende Gericht Gottes, was den Menschen aber noch nicht von der Sünde befreie. Aus diesem Glauben erwachse jedoch eine Furcht vor der Strafe Gottes, die ein wirkliches Ablassen von der Sünde möglich mache. Dieser Beginn der Bußbewegung werde sodann von der Hoffnung auf Vergebung weitergeführt: „timor concipit, sed spes promovet“. Der timor servilis ist dabei als Frucht des amor sui nur ein erster Anstoß und noch nicht die wesentliche Buße. Bei Thomas von Aquin wird in diesem Prozess der erste Anstoß durch die göttliche Gnade im Herzen stärker betont ohne dass der motus timoris servilis seine einführende Funktion verliert. 80 Eine Schlüsselbedeutung besitzt das Thema der Furcht auch in der sich in der Bußlehre neu entwickelnden Unterscheidung zwischen attritio und contritio.81 Erstmals im 12. Jahrhundert aufgebracht, unterschieden diese beiden Begriffe zunächst die anfängliche von einer vollendeten Reue. Die Unterscheidung ließ sich unterschiedlich entfalten. Quantitativ konnte zwischen unterschiedlichen Graden bzw. Intensitäten differenziert werden. 80 Allerdings weiß Thomas um die Möglichkeit, dass der Anstoß zur Buße nicht notwendig in der Furcht beginnen muss, sondern auch direkt aus der von der Güte Gottes erweckten Liebe entspringen kann (Vgl. SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 130). Die Bußlehre des Thomas ist ansonsten ganz von dem Bemühen bestimmt, Bußtugend und Bußsakrament zu einem Ausgleich zu führen. Grundsätzlich verbleibt Thomas dabei im Rahmen der frühscholastischen Wertschätzung der Bußtugend. Durch den Gedanken der Vorauswirkung des Bußsakraments bringt er die Gnadenwirkung des Schlüsselamtes stärker zur Geltung als bisher und vermeidet damit sowohl eine Entleerung des Schlüsseldienstes als bloße Deklaration als auch eine Abwertung der Buße durch magische Überbetonung der Sakramentsgnade. (Vgl. zu Thomas P OSCHMANN, S. 89ff.) Diese Theorie ist jedoch offenkundig nicht in den Gesichtskreis des jungen Luther getreten. Neben höchster Wertschätzung findet die Position des Thomas jedoch auch innerkatholisch ihre Kritiker: So findet es der Franziskaner VALENS HEYNCK letztlich widersprüchlich, auf der einen Seite die menschliche Bußleistung als Materie des Bußvorgangs anzunehmen, diese aber wiederum auf die Vorauswirkung des Bußsakraments zurückzuführen. (Ders.: Zur Lehre von der unvollkommenen Reue in der Scotistenschule des ausgehenden 15. Jahrhunderts, Franziskanische Studien 24 [1937] S. 18-58. S. 30.) Diese Theorie dürfte in der Tat eher eine intellektuell befriedigende Vermittlung von Bußtugend und Bußsakrament leisten, als dass sie lebensweltlich aneignungsfähig ist. Auf die Problematik dieses Gewinns verweist wiederum H ERBERT VORGRIMLER: „Der Preis für diesen Gewinn ist die Annahme einer Mitwirkung des Menschen […], zwar nicht bei der unmittelbaren Hervorbringung bzw. Eingießung der Gnade, wohl aber bei der Aneignung der mitgeteilten Gnade.“ (V ORGRIMLER, S. 137) Es ist insofern mindestens fraglich, ob Thomas eine wirkliche Überwindung der Bedingungslogik innerhalb der Bußlehre gelungen ist. 81 Vgl. insgesamt H EYNCK, Attritio.

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Qualitativ konnte im Blick auf die Gnadenlehre als contritio die durch die eingegossene caritas formierte Reue bezeichnet werden. Die attritio war insofern eine contritio informis. In diesem Sinne ließen sich beide Formen der Reue der gratia gratis data (attritio) und der gratia gratum faciens (contritio) zuordnen. Erst in der Spätscholastik wurden diese beiden Begriffe auch der Unterscheidung unterschiedlicher Motivationen zugrunde gelegt. Die attritio wurde als Furchtreue (auch „Galgenreue“), die contritio als Liebesreue bezeichnet. Eine langwierige Diskussion (in der katholischen Lehrbildung bis weit über die Reformation hinaus) entzündete sich an der Frage, wie sich diese Reueformen im Hinblick auf die sakramentale Buße verhalten. Ist für den Empfang des Sakraments schon Reue im Vollsinne nötig? Oder genügt eine Reue minderer Qualität, gar eine solche, die durch bloße Furcht motiviert ist und dann durch das Sakrament umgewandelt wird? Wilhelm von Auvergne betonte zuerst, dass die eigentlich unzureichende attritio vom Sakramentsempfang umgewandelt werde in die Vollreue der contritio, die dann die Vergebung der Sünde erlangen könne. Vor allem Duns Scotus baute diese Anschauung weiter aus. 82 Anders als Thomas verzichtete er darauf, die Einheit der Rechtfertigung im Ausgleich von subjektiver Reue und objektiver Gnadenmitteilung im Sakrament festzuhalten. Stattdessen kam Scotus zu einer Lehre von zweierlei Rechtfertigung. Im Anschluss an die Väterzeit und die Frühscholastik gäbe es einen Weg der außersakramentalen Versöhnung mit Gott durch die wahre Reue. Duns Scotus kann diese als attritio sufficiens bezeichnen. Dieser Weg sei jedoch so schwer wie selten. Die sakramentale Aussöhnung bedeutete dem gegenüber einen zweiten, leichteren Weg. Anders als die Frühscholastik sah Duns Scotus nun nicht mehr in der Tugend der Buße, sondern in der sakramentalen Gnadenmitteilung den entscheidenden Vorgang der Vergebung. Das Wesen der Buße war für ihn im Zuspruch der priesterlichen Absolution gegeben. Für die Wirksamkeit dieses Sakraments ist auf Seiten des Menschen keine Vollreue nötig, sondern eine attritio genügend. Unter dem Eindruck der Gnade sei es möglich, dass der Sünder mit einer attritio zum Sakrament komme. Nicht gemeint ist damit eine Reue, die aus bloßer Furcht hervorgeht, wie Scotus in der Folgezeit bisweilen verstanden wurde. 83 82 83

Siehe neben HEYNCK, Attritio die Zusammenfassung bei P OSCHMANN, S. 98ff. Vgl. vor allem HEYNCK, Attritio, S. 93ff. Um die Scotusdeutung war um die Wende des 20. Jahrhunderts herum ein heftiger Streit zwischen protestantischer und katholischer Dogmengeschichte entbrannt. Vor allem REINHOLD SEEBERG (Ders.: Die Theologie des Duns Scotus, Leipzig 1900.) und schon ADOLF VON HARNACK (HARNACK S. 650ff.) hatten Scotus eine laxe Reuelehre vorgeworfen, mit der dieser die Hoheit der sittlichen Anforderungen des Christentums auf eine bloße Furchtreue heruntergebrochen habe. Demgegenüber haben schon P ARTHENIUS M INGES (Ders.: Die angeblich laxe Reuelehre des Duns Scotus, ZkTh 25 [1901] S. 231-257.) und vor allem die Studien von VALENS

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Solche attritio ist nicht von ganz anderer Art als die Vollreue, sondern lediglich von niedrigerer Intensität. An sich ungenügend, sei sie jedoch zumindest eine rechte Disposition zum Empfang der Gnade. Die im Sakrament eingegossene Liebe sei es dann, die die Vorform der Reue in eine hinreichende contritio verwandelt. Der Gegensatz zu Thomas ist dabei nicht absolut. Thomas geht im Regelfall davon aus, dass der Büßer in echter contritio zum Sakrament komme. Sollte er sich in seiner Selbstbeurteilung jedoch täuschen, sondern, eigentlich attritus, sich für contritus bloß halten, so wird bei Thomas in diesem Fall das Bußsakrament die Umwandlung der attritio in contritio bewirken. Da bei Duns Scotus der Sakramentsempfang das eigentlich Entscheidende ist, kann in der Beschreibung der menschlichen Disposition die Anforderung um diese entscheidende Nuance reduziert werden. Es reiche letztlich auch, wenn der Sünder sich als parum attritus wisse, aber nach der Beichte begehre und der Gnade keinen Riegel vorschiebe. 84 Von solcher attritio ist zu sagen, dass sie „per modum meriti de congruo sufficiat ad iustificationem.“85 Mit dieser verstärkten Betonung der objektiven Gnadenmitteilung im Sakrament geht eindeutig eine Steigerung priesterlicher Autorität in der Vermittlung des Heils im Dienste der subjektiven Gewissheit einher: „nulla alia est ita facilis et ita certa.“86 Dieser Attritionismus unterstreicht stärker die Bedeutung der sakramentalen Buße in der Beichte. Seelsorgerlich ist er natürlich ein Entgegenkommen an die Skrupulosität und ein Dienst in der Vergewisserung des Einzelnen. Unverkennbar ist freilich, dass in dieser Gestalt es gerade der timor servilis ist, der als einzig notwendiger Beitrag des Menschen beim Heilsgeschehen übrig bleibt. 87 Das Spätmittelalter bringt hingegen eine gegenläufige Entwicklung hervor. Ockham und der Nominalismus wendeten sich wiederum ab von dieser Tendenz der Verobjektivierung des Heils in Bußsakrament und im priesterlichen Zuspruch. Die attritio wird nun als unzureichend verworfen; nur die Vollreue ist genügend, um die Gnade in der Absolution zu empfangen. Vor allem Gabriel Biel hat sich in diesem Sinne kritisch von einem HEYNCK (Ders., unvollkommene Reue) gezeigt, dass die scotistische attritio keine bloße Furchtreue gewesen ist. Dass die protestantische Behauptung unsittlicher „Laxheit“ sich nicht halten ließ, scheint heute unbestritten. 84 „Hic enim non oportet nisi non ponere obicem ad gratiam quod multo minus est quam habere aliquam attritionem.“ (Sent. IV dist. 17, qu. un. n. 13) 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Vgl. daher auch die Wertung HUNZINGERS: „Denn die Attrition ist nichts anderes als ein Korrelat des timor servilis, eine Reue, die die Straffurcht bewirkt.“ (S. 104) Zusammenfassend urteilt HUNZINGER: „Das Wesentliche ist und bleibt, dass der Prozess der Selbstdisponierung zum Empfang der Gnade bei dem timor servilis seinen Anfang nimmt.“ (S.107)

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solchen Attritionismus abgesetzt. Die Probleme bündeln sich in der Behandlung der Furchtproblematik bei Gabriel Biel 88, der für Luthers theologische Ausbildung die bekannt große Rolle spielte. Wenig spektakulär verläuft der Kommentar zur klassischen Timorlehre.89 Biel entfaltet zunächst eine ausführliche Diskussion der klassischen Positionen. Das vierfache Schema des Lombarden hat Biel unter Hinzufügung des timor naturalis (den Petrus Lombardus auch schon brauchte, um die Furcht Christi in der Passionsgeschichte zu erklären) zum fünffachen erweitert. Der timor mundanus ist wie gewohnt beschrieben, der timor servilis wird in der Unterscheidung nach habitus und actus gewürdigt. Auch timor initialis und castus werden in gewohnter Weise entwickelt. Diskutiert wird die Frage, in welcher Weise der timor servilis als donum des Heiligen Geistes verstanden werden kann, eine Frage, in der Biel einen Gegensatz zwischen Thomas und Bonaventura annimmt, ohne dass in den terminologischen Unterschieden eine wirkliche Differenz auszumachen ist. 90 Biels eigentliche Akzente treten in der Bußlehre hervor (Coll. IV dist. 14). Ausgangspunkt ist wie bei Bonaventura die Bestimmung des Menschen durch die Ausrichtung der Liebe, im Falle des Sünders des amor sui. Da die Liebe Wurzel und Bestimmungsgrund aller Affekte sei, habe jede Liebe einen Affekt der Furcht bei sich; im Falle des amor sui also den timor servilis im Blick auf Gott. Wohl sei es möglich, dass der Mensch aus solcher knechtischen Furcht die Sünde verabscheut und sich ihrer enthält. Anders als in einem Attritionismus ist dies jedoch für Biel noch keine genügende Disposition für den Empfang der Gnade. Ausdrücklich fordert er eine echte contritio, die mit einer detestatio der Sünde propter deum verbunden ist. Nur eine solche Reue sei denn auch ein meritum de congruo sufficiens. 91 Möglich sei es aber, durch allmähliche Gewöhnung eine sukzessive Umwandlung des timor servilis in den timor initialis zu erfahren. An sich ungenügend, könne der timor servilis zuletzt doch als Beginn eines Weges begriffen werden, der zu einer schließlichen Vollendung in der

88 Vgl. insgesamt B IEL, G ABRIEL: Collectorium circa quattuor libros sententiarum. Hrsg. von Wilfried Werbeck u. a., 6 Bde., Tübingen 1973-1992. Vgl. SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 125-137. Siehe neben HUNZINGER auch die Arbeiten von HEIKO OBERMANN über den Tübinger Nominalismus (OBERMAN, HEIKO: Spätscholastik und Reformation, Bd. 1: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965.). Vgl. OBERMANS Feststellung, es sei die „Dialektik zwischen Furcht und Liebe das Grundthema der Predigten Biels.“ (S. 127) Vgl. auch GRANE, LEIF: Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio contra scholasticam theologiam 1517 (AThD 4), Gyldendal 1962. 89 Dieser befindet sich abweichend von der üblichen Zählung in Coll. III dist. 35! 90 Vgl. H UNZINGER , S. 92, Anm. 1. 91 Coll. IV dist. 14 qu. 1 art. 1 corrol. 1.

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Gottesliebe führe.92 Denn die Abkehr von der Sünde aus bloßer Furcht und Selbstliebe sei zwar keine hinreichende Vorbereitung auf die Gnade.93 Doch im Anschluss an Sent. III dist. 34 des Lombarden sei er eben doch eine „aliqua dispositio“94, durch die eine Gewöhnung an die Gerechtigkeit geschehe und die Liebe zu Gott vorbereitet werde. So heißt es zuletzt vom timor servilis: „hoc timor est dispositio, sed remota, ad gratiam“95. Er ist gewissermaßen eine poenitentia informis96, die nicht magisch durch unvermitteltes Wirken des Sakraments, sondern durch Bemühung des Menschen erst ihre vollgültige Gestalt gewinnen müsse. Stärker als die bisherige Tradition hat Biel dabei die Wirkmöglichkeit des Menschen in Anschlag gebracht. Auch ohne Gnadeneinwirkung sei es dem Menschen möglich, aus eigener Kraft Gott über alles zu lieben. Es liege an ihm, seine attritio durch Liebe zur contritio auszubilden, die dann allein die Gnade des Sakraments würdig zu empfangen vermag. Auch die Gefahr der drohenden Verzweiflung an dieser Aufgabe wird gesehen. Dem Angefochtenen müsse man die Barmherzigkeit Gottes vorhalten und so zu weiterer Bemühung anspornen. Insgesamt beschreibt Biel einen menschlichen Aufstieg, bei dem die Kirche nur äußere Hilfe bietet. Biel ist überzeugt von der Leistungsfähigkeit des Menschen aus seinen natürlichen Kräften heraus. Darum hat wieder wie in der Frühscholastik die Reue des Menschen und somit die Bußtugend Vorrang im Vollzug der Buße vor dem Bußsakrament. Kritisch grenzt sich dabei Biel von der Lehre des Duns Scotus ab. Nach heutiger Einsicht wird Biel der scotischen Bußlehre nicht gerecht, wenn er in dieser das ganze Gewicht der Heilsvermittlung auf das Bußsakrament gesetzt sieht, und in der attritio eine bloße Furchtreue annimmt. Dieser vereinseitigenden Darstellung kann Biel jedoch umso deutlicher seine eigene Sicht entgegenstellen. Der im Thomismus entwickelten Lehre einer ersten Anregung der Bußbewegung durch die Gnade schließt Biel sich nicht an. Der gesteigerten Wertschätzung des Bußsakraments bei Scotus gesteht Biel wohl zu, hier hätte der Mensch leichter die Möglichkeit, sich seines Heils auch vergewissern zu können. Biel setzt allerdings ganz auf die Wertschätzung und damit Unverzichtbarkeit einer von wahrer Gottesliebe bestimmten Reue. An dieser Stelle greift denn auch die berühmte Formel des facere quod in se est, deren eminente Bedeutung für Biels Theologie vielfach behauptet worden ist. 97 Wohl ver92 Vgl. zu Biel in dieser Frage: OBERMAN, S. 147-149. 93 „Non de condigno, ut manifestum est. Non de congruo

tamquam per dipositionem sufficientem“. (Coll. IV dist. 14 qu. 2 art. 3 dub. 3 S) 94 Ebd. 95 Ebd. 96 Siehe auch SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 135. 97 Vgl. vor allem O BERMAN, S. 126-129; 166-169; G RANE, Contra Gabrielem.

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möge sich der Mensch nicht hinsichtlich der potentia absoluta dei das Heil zu verdienen. Hinsichtlich der potentia dei ordinata gelte jedoch, dass Gott sich durch Verheißung daran gebunden habe, dem facienti quod in se est die Gnade zu gewähren. Unbeschadet der vollen Freiheit Gottes liege es nun an der Notwendigkeit seiner Unveränderlichkeit, dass er diesem pactum treu sei und somit notwendig dem seine Gnade verleihe, der sich ihrer de congruo verdient gemacht hat. Man kann nicht bezweifeln, dass vor allem eine tiefe seelsorgerliche Absicht dahinter steht, die Erfüllbarkeit göttlicher Forderungen zu erweisen. Nach Oberman geht es Biel letztlich darum, „einen Weg zur Rechtfertigung im Bereich des Durchschnittschristen aufzuzeigen.“ 98 Biel diskutiert die Frage der Erfüllbarkeit göttlicher Gebote am Beispiel des Gebots, Gott über alle Dinge zu lieben.99 Für Biel ist vor allem der auf Hieronymus zurückgeführte Gedanke entscheidend, dass Gott nichts vom Menschen verlange, was dieser nicht erfüllen könne.100 Biel schließt sich des Weiteren der franziskanischen Argumentation an: Der Mensch wisse aus dem Licht der natürlichen Vernunft, dass Gott existiere, dass er die Ungerechten bestrafen und die Gerechten belohnen werde. Zugleich sei die Liebe zu Gott eine Vorschrift der rechten Vernunft. Teilweise im Anschluss an Scotus plädiert Biel weiter für die Leistungsfähigkeit des Menschen mit den Argumenten, die Luther entschieden verwerfen sollte: Da der Mensch aus seinen natürlichen Kräften heraus das Geschaffene über alles zu lieben und zu genießen vermöge, könne er dies auch im Blick auf Gott. Denn der Bürger vermag in der Bedrohung seiner Stadt diese ebenfalls mehr zu lieben als sich selbst und sogar sein Leben für sie hingeben; wie viel mehr vermöge der Mensch daher, auch Gott über alles und mehr als sich selbst zu lieben. Wer es zu diesem „perfectissimus modus faciendi quod in se est“ 101 gebracht habe, dem werde Gott mit Notwendigkeit die Gnade eingießen. Dann ist der Mensch in der Lage, mit Hilfe der Gnade verdienstvolle Werke zu wirken. Denn die Werke vor der Gnade sind aufgrund der Forderung des Gesetzes nur gut hinsichtlich der substantia facti, nicht aber hinsichtlich der intentio praecipientis. Hier habe der Irrtum der Pelagianer gelegen, dass sie diese Unterscheidung nicht beachteten und glaubten, der Mensch könne ohne die Gnade das Gesetz vollgültig erfüllen. So optimistisch Biel im Blick auf die menschlichen Möglichkeiten vor und außer der Gnade auch ist, so pessimistisch ist er allerdings hinsichtlich der Frage, ob der Mensch denn auch wissen könne, ob er alles getan bzw. 98 OBERMAN, S. 149. 99 Siehe insgesamt Coll. III dist. 27. 100 Hieronymus „anathematizat dicentes

Deum aliquid praecepisse et hominem adimplere non posse.“ (Coll. III dist. 27, qu. un art. 3, du. 1) 101 Coll. III dist. 27 qu. un. Du. 2 prop 2.

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die Gnade empfangen hat. Die Ungewissheit wird dabei als absolut notwendig festgeschrieben. Ausdrücklich verneint Biel die Frage, ob der Mensch von sich wissen könne, ob er die Gnade habe.102 Möglich sei dies allenfalls durch übernatürliche Offenbarung wie im Falle des Apostels Paulus; ansonsten sei es weder auf dem Weg logischer Schlussfolgerung noch durch unmittelbare Erfahrung noch durch intuitive Einsicht möglich, weil nie die Gefahr eines teuflischen Betruges auszuschließen sei. Allenfalls mutmaßlich könne man aufgrund gewisser Zeichen auf den eigenen Gnadenbesitz schließen, wie aufgrund des Gefühls von Licht, Freude und Friede; letzte Eindeutigkeit mangele diesen Zeichen jedoch sämtlich. 103 Diese Zurückhaltung zeigt, dass Biels Sicht menschlicher Möglichkeiten nicht einfach nur optimistisch ist. Vom historischen Pelagianismus weiß sich Biel mit Gründen zu unterscheiden. Auch er hat auf seine Weise das Erbe augustinischer Gnadenlehre zu integrieren gewusst. Es bietet sich insofern ein merkwürdiges Ergebnis: Die Gnade hat eine letztlich verunsichernde Funktion; nur die in der Gnade gewirkten Werke sind vollgültig; niemand wisse freilich, ob er die Gnade habe. Innerhalb dieses Rahmens des sola gratia vollzieht Biel eine Konzentration auf die menschlichen Möglichkeiten, im Sinne eines soli operibus. 104 Die Betonung menschlicher Leistungsfähigkeit vor und innerhalb der Gnade geschieht in trostvoller Absicht, das dem Menschen Mögliche aufzuzeigen. Diese prinzipielle Heilsungewissheit sorgt dafür, dass die Furcht noch stärker als in den anderen Systemen sowohl der notwendige Eingang der Gnade als auch ihre ständige Begleitung ist; sie wird mit Notwendigkeit eine ewige Bewegung. 105 Fassen wir den Diskussionsstand am Ende des 15. Jahrhunderts zusammen. Die Ausformungen des Bußsakraments gehen in der Spätscholastik in 102

„Dicitur, quod gratiam nobis inesse evidenter scire non possumus.“ (Coll. II dist. 27 qu. un du. 5) 103 „Sed omnia illa signa non sunt evidentia, quia non possumus sine revelatione evidenter cognoscere, utrum in nobis sit verum lumen, laetitia et pax.“ (Ebd.) 104 Vgl. O BERMAN, S. 167ff. Biels Rechtfertigungslehre betone gleichermaßen ein sola gratia wie ein soli operibus. Die Gnade habe dabei die Funktion einer äußeren Struktur, die in Gottes pactum und Selbstbindung begründet sei. In der Praxis dagegen sei der Mensch zu Erfüllung einer inneren Struktur aufgerufen, die das ganze Schwergewicht auf seine ihm möglichen Bemühungen lege. O BERMAN kommt daher zum Ergebnis, dass man unbeschadet dieser Unterschiede „Biels Rechtfertigungslehre wesentlich pelagianisch“ nennen könne. (O BERMAN, S. 168) 105 Vgl. O BERMAN, S. 149. „Sic timor servilis introducit charitatem.“ (Coll. IV dist. 14 qu. 2 art. 3 dub. 3 S) Vgl. auch schon REINHOLD SEEBERG zu Biels Bußlehre: „Auch hier wird der Ausgang genommen von dem timor servilis, der das Böse meiden lehrt, aber dadurch auch positiv zur Liebe Gottes anleitet.“ (SEEBERG, REINHOLD: Lehrbuch der Dogmengeschichte. Bd. 3: Die Dogmengeschichte des Mittelalters, Darmstadt 51953. S. 538.)

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unterschiedliche Richtung: Stärkung der objektiven Heilsvermittlung der Kirche auf der einen Seite, Betonung der subjektiven Aneignung durch vertiefte Reue in den Möglichkeiten des liberum arbitrium auf der anderen Seite. Trotz dieser gegenläufigen Entwicklung ist nicht zu übersehen, dass auf beiden Wegen die Furcht eine verstärkte Betonung gewinnt. Im „Attritionismus“ 106 ist die Reue aus Furcht der unverzichtbare Anteil des Menschen auf dem Heilsweg. Die antiskrupulöse Intention, im Extremfall das Vorhandensein der Furcht als genügendes Indiz der Gnadenfähigkeit zu deuten, macht die Furcht zugleich zur letzten notwendigen Disposition. Der umgekehrte Weg verwarf diesen Minimalismus an Anforderung und wies den Weg zu einer vertieften Reue. In der Ausrichtung auf die Liebe zur Gerechtigkeit bleibt jedoch klar, dass die Furcht eine notwendige Funktion im Eingang dieses Weges besitzt: Sie ist das entscheidende Movens, von dem aus der Prozess der Buße initiiert und bewegt wird. Dass sie ungenügend ist, macht sie nicht überflüssig. Die hohe Einschätzung menschlicher Leistungsfähigkeit vertiefte wiederum neue, in der Gnadenauffassung begründete Ängste, wie sich in der Beschäftigung mit Phänomenen wie der scrupulositas zeigte. Sowohl in der attritionistischen Minimalforderung wie in der kontritionistischen Maximalerwartung bewegt sich die spätscholastische Diskussion in einem Rahmen, in dem die menschliche Disposition und damit das affektive Sich-gegebensein des Menschen zum Empfang der Gnade eine Schlüsselbedeutung besitzt.

3.3 Furcht in der Frömmigkeitstheologie 3.3 Furcht in der Frömmigkeitstheologie

Es wäre eine Engführung, als Hintergrund für Luthers gedankliche Entwicklung nur die scholastische Tradition zu betrachten. Unübersehbar ist, welch große Bedeutung den Traditionen der monastischen Theologie

106 Die Verwendung der Termini attritio und contritio ist vor allem deshalb so kompliziert, weil sie in der katholischen, nachtridentinischen Auseinandersetzung um das Bußverständnis noch einmal anders als vor Luther verstanden werden, nämlich ganz vom Gegensatz der Reuemotive her, als Furchtreue bzw. Liebesreue. Da die tridentinischnachtridentinische Entwicklung für uns ganz außer Acht bleiben kann, schlage ich folgende Begrifflichkeit vor: Im Anschluss an V ORGRIMLER (S. 145) kann man die klassischen Thomisten und Scotisten einem Attritionismus zurechnen, die Nominalisten hingegen dem Kontritionismus. Über VORGRIMLER hinaus wäre es m. E. sinnvoll, die frühscholastische Betonung der Bußtugend als „klassischen Kontritionismus“ zu bezeichnen. Die noch vorzustellende Entwicklung bei Johannes von Paltz lässt sich dagegen als „konsequenter Attritionismus“ bezeichnen.

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(Bernhard)107, der Devotio moderna und der spätmittelalterlichen Frömmigkeitstheologie108 für das theologische Denken Luthers zukommt. 3.3.1 Bernhard von Clairvaux Um der besonderen Relevanz seines Einflusses für Luther Rechnung zu tragen, ist zunächst ein Blick auf Bernhard von Clairvaux zu werfen.109 In zweierlei Hinsicht ist Bernhard für Luther von Bedeutung. 1. Bei Bernhard wird das menschliche Leben in einer konsequent gradualistischen Perspektive unter dem Leitthema der Liebe gesehen. 2. In der Ausführung seines Ideals eines durch die Liebe geprägten Handelns betont Bernhard stärker als die meisten anderen Autoren des Mittelalters auch den augustinischen Gegensatz von Liebe und timor servilis. Unter den diversen gradualistischen Schemata der Annäherung des Menschen an Gott hat Bernhards Unterscheidung der vier Stufen der Liebe besondere Bedeutung für das Mittelalter gewonnen. 110 Zu Beginn liebe der Mensch sich selbst um seiner selbst willen in einer fleischlichen Selbstliebe. Auf einer zweiten Stufe liebe er Gott aus eigennützigen Motiven; nämlich Furcht vor Strafe bzw. Hoffnung auf Belohnung. Sodann lerne er mehr und mehr, Gott um Gottes willen zu lieben, bis er schließlich auch sich selbst nur noch um Gottes willen liebe. Diese ganze Entwicklung vollziehe sich recto ordine, in einem ordo rationis. Faktisch wirkt sich die Beschreibung dieser Entwicklung aus in einer normativen Vorgabe für den rechten Prozess der Bekehrung. Den Stufen der Liebe entsprechen daher nun auch 107 Vgl. BELL, T HEO: Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften (VIEG 148), Mainz 1993. 108 Vgl. den Begriff bei BERNDT H AMM : „praktisch-seelsorgerliche[n] Theologie, deren Hauptintention auf die rechte Gestaltung des christlichen Lebens gerichtet ist.“ (HAMM, B ERNDT: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis [BHTh 65], Tübingen 1982.) Vgl. zuletzt: HAMM, B ERNDT: Was ist Frömmigkeitstheologie? Überlegungen zum 14.-16. Jahrhundert, in Praxis pietatis. Festschrift für Wolfgang Sommer, hrsg. von Hans-Jörg Nieden und Marcel Nieden, Stuttgart 1999. S. 9-45. 109 Nicht überzeugend ist die Darstellung HUNZINGERS (S. 69-74). Ihm zufolge steht Bernhards Auffassung von Furcht weitgehend im Rahmen der allgemein zu beobachtenden theologiegeschichtlichen Entwicklung, verschärft allenfalls noch deren problematische Tendenzen. Anders dagegen LANDGRAF, S. 355ff. Vgl. auch HIRSCH, S. 68-78. 110 De diligendo Deo wurde eine der meist gelesenen Erbauungsschriften in der mittelalterlichen Tradition. Vgl. D INZELBACHER, P ETER: Bernhard von Clairvaux. Leben und Werk des berühmten Zisterziensers (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 1998. S. 186-190. Vgl. zur Bedeutung dieser Schrift für die Furchtlehre auch LANDGRAF, S. 356ff. Zur Bedeutung der Wiederentdeckung des Liebesgedankens im Mittelalter für die Entwicklung der Buße siehe H AMM, BERNDT: Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glauben Luthers. Ein Beitrag zur Bußgeschichte, LuJ 65 (1998) S. 1944. S. 21f.

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die Stufen der Furcht. Auch aus dem timor servilis ist nun recto ordine der timor castus zu entwickeln.111 Dieser Weg hat den Charakter der Notwendigkeit: „timor est initium caritatis“112. Diese Betonung des geordneten Weges der Bekehrung zeigt sich in Bernhards Bußlehre. Zunächst steht Bernhard dabei für den neuen Ton der Verinnerlichung und der starken Betonung der Herzensbuße. Diejenigen irrten, welche einige Tage zur Buße als genügend erachten; es müsste doch vielmehr die ganze Lebenszeit durch Buße bestimmt sein. 113 Wie gesehen beginnt bei Bernhard die Reue notwendig mit der Furcht. Eine solche Furchtreue genüge jedoch nicht, sondern müsse durch die Liebe vollendet werden. So sehr freilich die durch die Liebe inspirierte Reue die wahre sei, bleibe es doch beim Grundsatz: Gott inspiriere zuerst die Furcht und dann den guten Willen zur Liebe. Dieser Grundsatz wird in den Bußmeditationen auch methodisch eingeholt. In Anschluss an die Tradition seit Gregor entwickelt auch Bernhard Vorlagen, wie in der Betrachtung der Mensch auf dem Weg der Sündenerkenntnis zur rechten Selbsterkenntnis kommen kann. Über den Verlust seiner Ebenbildlichkeit möge der Mensch Scham empfinden, Schmerz über seinen gegenwärtigen quasi tierischen Zustand, schließlich aber Furcht, wenn er in der Betrachtung von Tod, Gericht und Hölle bedenkt, was ihn erwarten wird. 114 Nur so komme der Mensch zur rechten Bußempfindung, zur compunctio. Wird auf der einen Seite mittels eines durchgängigen Stufenschemas die Notwendigkeit der Furcht stark betont, so wird vom Gedanken der Liebe her auch ihre Defizienz deutlich. Daher kommt Bernhard immer wieder zu Ausführungen, die im Sinne des antithetischen Schemas bei Augustin den Gegensatz von Liebe und einer knechtischen Furcht stark betonen. So liefert Predigt 82 der Hoheliedauslegung eine beeindruckende Beobachtung über die existenzielle Dimension der Furcht als Freiheitsverlust und Selbstentfremdung: Die Bindung an Besitz ist mit steter Furcht vor Verlust verbunden, einer Furcht, die die ursprüngliche Freiheit des Menschen überdeckt und sich darin als „knechtische Furcht“ erweist. „Enimvero quod delectat habere, id etiam perdere timet; et timor color est. Is libertatem, dum tingit, tegit, et eam nihilominus sibimet reddit dissimilem. Quam dignius sua origine nihil cuperet, ubi nihil metueret, ac per hoc a servili timore isto ingenitam sibi defenderet libertatem, manentem in vigore et decore suo.“ 115 Begründet ist diese versklavende Wirkung der Angst im Verlust der Liebe zu Gott und dem darin gegebenen Freiheitsver111 Vgl. zum triplex gradus timoris: serm. de 112 Serm. de div. 56,2. 113 Vgl. schon SEEBERG, Lehrbuch, S. 273. 114 SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 87. 115 Serm. in cant. 82,4.

div. 61,1; vgl. HUNZINGER, S. 72.

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lust. In Anspielung an Gen 3,9-10 heißt es: „audis vocem Domini Dei, et abscondis te. Cur hoc, nisi quia quem amabas times, et libertatis speciem forma servilis exclusit?“116 Im Verlust der Liebe setzte sich die Furcht als lebensbestimmende Macht im menschlichen Leben durch. Die Überwindung der Furcht ereigne sich wiederum im Wiederfinden der Liebe. Wo die Liebe zur bestimmenden Lebensmitte werde, da sei die Furcht überwunden, da geschehe das Handeln frei und willig, gerne und spontan. Alles gezwungene und abgepresste Tun verfällt daher der Kritik Bernhards. Die Demut hat nur da volle Geltung, wo sie willentlich geschieht, was Bernhard gern durch die Adverbien libenter und sponte ausdrückt. 117 Anders als etwa bei Gregor und in der späteren Entwicklung der Tradition ist ihm nicht an einer dauernden Gegenwart der Straf- bzw. Gerichtsfurcht gelegen. Vor allem am Beginn des Bußweges besitzt die Furcht entscheidende Bedeutung. In der Selbstprüfung vor Christus hat sie ihren notwendigen Ort: „Verum tu qui adventum desideras salvatoris, time scrutinium iudicis.“ 118 Allein das Selbstgericht im Sinne von 1 Kor 11,31 vermag aus dieser Furcht herauszuführen. Sodann betont Bernhard, dass die Furcht allmählich zurücktritt. So sei der Novize in größerem Maße vom timor iudicii erfasst als der Mönch, der mehr durch Kontemplation als durch Buße geprägt sei. 119 Daher kann Bernhard auch den locus classicus der Furchtlehre 1 Joh 4,18 so auslegen, dass die Überwindung der Furcht schon zu Lebzeiten Gestalt gewinne. Nur anfangs soll das Gemüt von Furcht erfüllt sein; später soll mehr und mehr das Liebesverlangen die herrschende Rolle übernehmen. Bernhard steht für eine theologische Haltung, die im besonderen Maße das Gewicht persönlicher Beteiligung, geistlicher Verinnerlichung und existenzieller Aneignung betont. Darin wirkte er beispielgebend für die nächsten Jahrhunderte, insbesondere im monastischen Kontext der Theologie. 120 Die starke Ausrichtung auf die Liebe hat dabei eine ambivalente Konsequenz: Auf der einen Seite bietet sie die Möglichkeit, das Ungenügen eines durch Furcht bestimmten Handelns auszudrücken. Stärker als sonst in der mittelalterlichen Theologie kann die Linie theologischer Kritik des timor servilis aufgenommen werden. Auf der anderen Seite betont Bernhard im Blick auf die Furcht umso stärker ihre geistlich-pädagogische 116 Ebd. 117 Vgl.

serm. in cant. 34,3f. Beschreibungen dieser Art als Ideal christlichen Handelns werden bei Luther eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. 118 Serm. in cant. 55,2 119 Vgl. SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 98. Diese stärkere Betonung der allmählichen Überwindung der Furcht kommt in der Darstellung HUNZINGERS nicht zur Geltung, der einseitig die „semipelagianischen“ und verdienstlichen Aspekte der bernhardischen Furchtlehre betont. 120 Vgl. auch LANDGRAF, S. 294.

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Entwicklungsfähigkeit auf dem Heilsweg des Menschen; und dies auch im Blick auf den timor servilis.121 3.3.2 Devotio moderna und die Furcht in der Meditation Auf die vielschichtige Bewegung der Devotio moderna soll an dieser Stelle nur paradigmatisch Bezug genommen werden hinsichtlich der übergreifenden Tendenz der Verinnerlichung und Intensivierung religiöser Praxis. 122 Wie schon bei Bernhard lässt sich auch hier zunächst nicht unmittelbar ein erneuertes Verständnis von Furcht und ihrer Stellung im religiösen Lebensvollzug entdecken. Es sind die Formen spiritueller Aneignungsweisen, in denen eigene Akzente gesetzt werden. Beispielhaft ist in der Forschung vielfach auf Gerhard Zerbolt von Zütphen (1367-1398) 123 verwiesen worden. Sein „Traktat über die geistlichen Aufstiege“, den Luther sowohl in der ersten Psalmenvorlesung als auch in der Römerbriefvorlesung zitiert, legt größten Wert auf die Erzeugung der Zerknirschungsreue. Die Meditationspraxis war so angelegt, dass zunächst einmal die Furcht erregt werden sollte durch gründliche Betrachtung der Sünde, des Todes, des Gerichtes und schließlich der Hölle. In einer zweiten Bewegung ging es darum, dem Geängstigten durch die Barmherzigkeit Gottes einen Ausweg aus der Verzweiflung aufzuzeigen. Die drei Stücke des Bußsakraments seien die Mittel, mit denen der Büßende die Todsünde tilgen könne. Als drei Stufen seien dabei timor, spes und caritas zu erzielen. Die compunctio ex timore wird durch Betrachtung der vier Übel (Sünde, Tod, Gericht und Hölle) erzeugt. Dabei tritt auch das 121 LANDGRAFS Darstellung ist auch hier ganz von dem Bestreben geprägt, Bernhard gegen den Semipelagianismus in Schutz zu nehmen. Den Eindruck einer gewissen Ambivalenz kann jedoch auch LANDGRAF nicht unterdrücken: Bernhard „scheint hier der Ansicht zu sein, dass die bloße Furcht lediglich den Akt verhindert, die innere sündhafte Gesinnung aber nicht ändert. Die Furcht, die er damit meint und verwirft, bezeichnet er als timor servilis. Dennoch verhehlt er sich nicht, dass unsere Bekehrung von dieser Furcht ihren Ausgangspunkt nimmt.“ (LANDGRAF, S. 356) 122 Die Unterscheidung zwischen scholastischer Lehrentwicklung auf der einen und Ausprägung der Frömmigkeit auf der anderen Seite ist natürlich künstlich; so gehörten die drei ersten Vertreter der moderni in Tübingen (Gabriel Biel, Wendelin Steinbach und Peter Braun) zugleich den Brüdern des Gemeinsamen Lebens an, sind also mit gleichem Recht der Devotio moderna zuzurechnen. Vgl. K ÖPF, ULRICH und SÖNKE LORENZ (Hrsg.): Gabriel Biel und die Brüder vom Gemeinsamen Leben. Beiträge aus Anlass des 500. Todestages des Tübinger Theologen, Stuttgart 1998. 123 B RECHT I, 102f. BRECHT weiter: „Wo solche Anleitung aber allzu wörtlich genommen wurde, musste ein Mensch entweder an ihr zerbechen oder aber sie durch ein neues Verständnis christlicher Frömmigkeit und Theologie überwinden. Darin bestand die Aufgabe, die vor Luther lag.“ (S. 103) Vgl. zu diesem Autor auch N ICOL, MARTIN: Meditation bei Luther, Göttingen 21991. S. 102. Siehe ferner die ausführliche Schilderung in SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 138-149.

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Moment subjektiver Ungewissheit hinzu, dass der Mensch nicht weiß, ob seine Reue von übernatürlicher Gnade erzeugt ist oder nicht. Offenkundig erweist sich die Furcht als wesentliches Motiv solcher Reue. Auf einem Weg der systematischen Verunsicherung soll solche Furcht erzeugt werden: im Bedenken der eigenen Sünden, im Bewusstsein, dass es keine Heilsgewissheit geben könne; in der Erwartung des Jüngsten Gerichts und in der Vorstellung der Qualen der Verdammten. So werden auch im Blick auf das Abendmahl Selbstprüfung und Beichte angemahnt. Auch wenn es immer wieder einen geistlichen Aufstieg geben mag, bleibe doch die stete Meditation von Tod und Gericht unablässig notwendig. Im Sinne Gregors kann man von der Furcht als Hüterin der Heilsungewissheit und zugleich als relative Garantie des Heilsstandes reden. Dieses Doppelgesicht der Furcht ist ein wesentlicher Ertrag der Entwicklung, an dem Luther sich reiben sollte. Die dogmatisch gestiegene Notwendigkeit der Furcht findet in dieser Frömmigkeitspraxis ihr existenzielles Korrelat. Die Meditationspraxis hat nun den Zweck, Furcht hervorzurufen bzw. zu vergrößern und zu vertiefen. Furcht gewann im Prozess der Buße die Bedeutung eines unerlässlichen Durchgangsstadiums zur Liebe. In der methodisierten Erzeugung des Affekts entspricht die Frömmigkeitspraxis letztlich dem Zug der dogmatischen Entwicklung. 3.3.3 Jean Gerson Abschließend sollen die in dieser Frömmigkeitspraxis aufgeworfenen Fragen anhand der seelsorgerlichen Theologie Jean Gersons betrachtet werden. Gerson gehört zu den Theologen der Tradition, die von Luther immer wieder überwiegend positiv erwähnt werden. 124 Auch Gerson hebt sich zunächst nicht ab von der oben beschriebenen Tendenz der lehrmäßigen Entwicklung im Furchtverständnis. Es ist kein Sentenzenkommentar von ihm überliefert, gleichwohl war er ganz eingebunden in die dogmatischen Erörterungen der Zeit. Bei Gerson schließlich ist der Punkt erreicht, wo der timor servilis, der timor initialis und der timor filialis kaum noch zu unterscheiden sind. Ausdrücklich kann Gerson betonen, dass der timor servilis wurzelhaft bereits der timor filialis ist. 125 124 Mehrfach begegnet Gerson bei Luther in der Tischredenüberlieferung: „Gerson primus est, qui rem aggressus est, quod pertinet ad theologiam; ille etiam expertus est multas tentationes.“ (WAT 2 114,1-3 Nr. 1492; vgl. auch WAT 2 64,22 Nr. 1351.) Zu Gerson siehe vor allem die Darstellung von G ROSSE, SVEN: Heilsungewissheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit (BHTh 85), Tübingen 1994. Zitate nach GERSON, JEAN: Oeuvres Complètes. Hrsg. von Palémon Glorieux, 10 Bde., Paris 1960-1973. 125 „Timor iste servilis radicaliter est filialis.“ (De vita, 6. Gerson III, S. 200) Vgl. GROSSE, Heilsungewissheit, S. 43.

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Bedeutsam sind vor allem Gersons seelsorgerliche Anweisungen, die sich auf den Umgang mit geistlichen Schwierigkeiten bezogen. Gerson entwickelte eine reiche Phänomenologie der Angsterfahrungen. Leitend ist dabei zunächst der Begriff der scrupulositas. 126 Der Skrupel ist bei ihm beschrieben als „ein Schwanken, ein Zweifeln, eine Angst, die aus schwachen und unsicheren Vermutungen sich erhebt.“127 Er ist also kein unmittelbarer Schrecken, sondern eine reflektierte Furcht, in welcher sich der Mensch als unsicher, ungewiss und zweifelnd im Blick auf die eigene Stellung vor Gott weiß. Da diese Furcht im Blick auf konkrete Selbsteinschätzungsfragen besteht, wird der Skrupel oft auch als timor conscientiae bezeichnet. Solche Skrupel können in verschiedenen Gelegenheiten auftreten. Typische Beispiele, die Gerson vor Augen hat, sind Zweifel an der eigenen Würdigkeit beim Sakramentsempfang in der Beichte, bei der Messe, nicht zuletzt beim zelebrierenden Priester, schließlich die rechte Haltung im Gebet sowie in ordensspezifischen Fragen des Gehorsams. Manche Skrupel konnten bei Menschen auftauchen, die die Komplexität der jeweiligen Vorschriften nicht recht verstehen, was angesichts der komplexen Theorieentwickung des Spätmittelalters leicht nachvollziehbar ist. Ansonsten waren vor allem Geistliche und Ordensangehörige gefährdet, aus übertriebenem Eifer heraus in Skrupel zu geraten. Durch ihre häufige Praxis der Gewissenspflege standen sie in der Gefahr, in der nötigen Selbstbeurteilung das rechte Maß zu verlieren. So kann eine Ausprägung die pusillanimitas sein, die Kleinmütigkeit, in der ein Mensch sich für schuldiger hält, als es wirklich der Fall ist. 128 Gerson und die spätmittelalterliche Trostliteratur sind nicht blind dafür, dass hinter solcher Verzagtheit verschiedene Gründe stehen können, angefangen von schlechter körperlicher Verfassung, Melancholie, schlechter Gesellschaft bis hin zu direkter teuflischer Versuchung. Erschwerend kommt hinzu, dass die charakteristische Haltung der Ungewissheit ja mit einem dogmatischen Topos des Mittelalters korreliert, über den Einhelligkeit bestand: Das persönliche Heil ist dem Menschen notwendig ungewiss, weil er weder wissen kann, ob er genügend auf die Gnade vorbereitet ist, noch, ob er sie auch wirklich im Sinne der gratia gratum faciens erlangt habe, geschweige denn, ob er zur Zahl der Prädestinierten gehöre. Diese objektive Ungewissheit konnte da zu einem Problem werden, wo sie persönlich eine so beherrschende Stellung im Gemütsleben gewann, dass die Angst jede Form der Hoffnung bzw. des Trostes zunichte machte. 126 Vgl. zum folgenden GROSSE, Heilsungewissheit, S. 8-34. 127 „Est etiam scrupulus vacillatio quaedam dubitatio vel formido

consurgens ex aliquibus conjecturis debilibus et incertis.“ (De consolatione IV,2 Gerson IX, S. 233) 128 Die pusillanimitas wird traditionell als eine der sechs Töchter der acedia verstanden, vgl. GROSSE, Heilsungewissheit, S. 26.

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Charakteristisch für Gersons Trost ist nun, dass er auf solche Angsterfahrungen mit zwei unterschiedlichen Troststufen eingeht. Die erste Antwort129 verweist den Sünder auf seine positiven Möglichkeiten, dass er im Stande ist, das Geforderte wirklich zu erfüllen und aus eigener Kraft verdienstlich handeln kann. Aufgrund der unverlierbaren Gottebenbildlichkeit gebe es eine stets berechtigte Hoffnung auch des angefochtenen Sünders. Denn auch unter der Todsünde vermöge der Mensch seine ihm verbliebenen natürlichen Kräfte zu nutzen und zu tun, was er vermag, gemäß dem scholastischen Grundsatz, dass Gott niemandem, der tut, was in seinen Kräften steht, die Gnade verweigern wird. Dieser Rat will also den Angefochtenen auf eine via regia zurückführen, zur Tugend der mediocritas, die in der Selbstbeurteilung darin besteht, weder zu streng noch zu lax mit sich zu sein. Man kann dabei von einer Methode der Allopathie reden. 130 Gemeint ist eine Haltung, die jeweils die Gegenrichtung dessen betont, wohin sich jemand von der Mitte hinneigt. Dies könne bedeuten, dem völlig an seinem Tun Verzagten aufzuzeigen, was er immerhin noch zu tun vermag; demjenigen, der bestimmte Regeln zu eng auslegt, sei auch die Übertretung von Klosterregeln zu erlauben. Ziel der Allopathie ist es, wieder das vernünftige Maß zu finden, im Bewusstsein der Regel, dass Gott nichts Unmögliches vorschreibt und dass seine Gebote nicht über menschliche Kraft gehen. Wenn eine solche Mitte das Ziel des Trostes ist, ist es entscheidend, die jeweilige Erfüllbarkeit von angemessenen Forderungen zum Kriterium ihrer Geltung zu erheben. Dies bedeutet konkret, dass die Seelsorge eine „Strategie der Mindestforderung“ 131 verfolgt. Neben der Vereinfachung der complexitas religiöser Forderungen und Regeln bedeutet dies im Blick auf den Skrupulanten eine Ausrichtung auf das ihm Mögliche, damit dieser wieder im Bewusstsein der eigenen Fähigkeit zum verdienstvollen Handeln einen Weg zwischen Furcht und Hoffnung finden kann. Die zweite Stufe 132 dagegen betont ausschließlich die Ausrichtung auf die göttliche Vergebung und Barmherzigkeit. Demjenigen, dem mit der ersten Troststufe nicht zu raten ist, weiß Gerson mit einer anderen Weise des Trostes zu helfen. Der drohenden Verzweiflung begegnet Gerson mit dem Rat, bewusst die Verzweiflung über sich selbst anzunehmen und sich gerade so ganz der göttlichen Barmherzigkeit zu überlassen. 133 Denn in dieser Verzweiflung über sich selbst folgt der Mensch einem paradoxen 129 Vgl. GROSSE , Heilsungewissheit, S. 75-102. 130 GROSSE , Heilsungewissheit, S. 89ff. 131 So GROSSE, Heilsungewissheit, S. 48 und 93ff. 132 Vgl. GROSSE Heilsungewissheit, S. 102-129. 133 „Postremo dum propria fragilitas objicitur ut desperes,

in te“. (De consol. theol. GERSON IX, S. 199)

desperes volo, sed de te et

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Bewegungsprinzip, das Gerson als „antiperistasis spiritualis“134 bezeichnet. War es in der Allopathie das Prinzip, eine Bewegung durch eine Gegenbewegung auszugleichen, so gilt es nun umgekehrt, eine Bewegung quasi aufzunehmen und in ihrem Extrem zu vollenden und gerade darin die Gegenbewegung einzuleiten. In der Anfechtung vollzieht sich diese antiperistasis so, dass der Mensch seine Skrupel in eine heilsame Selbstanklage verwandelt. Der Mensch widerstrebt nicht mehr dem gefühlten Absturz in die Tiefe, sondern wirft sich sogar noch ganz hinein, um darin den Umkehrpunkt zu neuem Aufschwung in die Höhe zu erfahren. In Berufung auf 1 Kor 11,31 macht sich der Sünder nicht mehr zum Verteidiger, sondern zum Ankläger seiner selbst. Er erleidet seine Skrupel nicht mehr, sondern gewinnt seine Handlungsfähigkeit wieder zurück, indem er sich die Anklage in vollster Schärfe zu eigen macht. 135 Darin schließt sich Gerson der mystischen Tradition einer resignatio ad infernum an. In der Einwilligung in die Verurteilung und Verdammung durch Gott vollzieht sich ein Annehmen der Furcht136, worin diese paradoxerweise überwunden wird. In dieser antiperistasis vollzieht sich eine letzte und tiefste Form der Reue (contritio). Das Rechtgeben gegenüber Gott wird dabei vom Büßenden als rettende Selbstanklage erfahren. In dieser Bewegung erfährt der Sünder ein quasi mystisches Paradox, wo in der Annahme der Ungewissheit des Heils Hoffnungsgewissheit erfahrbar wird. Diese beiden Stufen stellen für Gerson keine Alternative und keinen Gegensatz dar. Ihre Anwendung geschieht durchweg methodisch reflektiert. Sie werden immer wieder miteinander entfaltet und aufeinander bezogen. Beide Trostweisen stehen in einem Ergänzungsverhältnis, weil sie gleichermaßen den Möglichkeiten menschlicher Frömmigkeit wie der Barmherzigkeit der Gnade Gottes Raum geben. Beide bringen die Intention der scholastischen Formel facere quod in se zur Geltung: Auf der ersten Stufe geschieht das so, dass der Mensch zu verdienstlichem Handeln ermutigt wird, auf der zweiten Stufe dagegen so, dass der Mensch an sich selbst verzweifelnd sich wenigstens noch der Barmherzigkeit Gottes überantwortet und zumindest darin noch tätig sein kann.

134 Grosse, Heilsungewissheit, S. 120. 135 „Accusatus inter talia reus, non defensoris

sed accusatoris, testis et judicis in se partes agit, exaggerans quantum potest.“ (De consol. theol. GERSON IX, S. 232) 136 Der timor servilis ist dabei der notwendige Beginn im gesamten Bußgeschehen; siehe auch Johannes Nider: „Et sic patet, quod paenitentia incipit a timore servili et, ut videbitur, terminatur in amore filiali.“ (Nach GROSSE, Heilsungewissheit, S. 189)

3.4 Intensivierung und Entlastung

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3.4 Intensivierung und Entlastung 3.4 Intensivierung und Entlastung

Das Bild des ausgehenden Spätmittelalters zeigt einen auf dem ersten Blick widersprüchlichen Sachverhalt.137 Auf der einen Seite steht die Frömmigkeit stark im Banne eines Steigerungsdenkens. Klösterliche Reformbestrebungen, Ideale der Strenge und Observanz, Heiligung des Alltags auch außerhalb der Klöster und Verinnerlichung des Glaubens sind populäre Leitideen der Zeit. Auf der anderen Seite wird in diesem Klima der Verinnerlichung auch der Blick geschärft für das Zurückbleiben hinter diesen geistlichen Maßstäben. Das Verlangen nach Intensivierung und das Bedürfnis nach Entlastung bestimmen gleichermaßen die geistliche Situation vor Beginn der Reformation, wie wir uns abschließend mit Blick auf die Luther unmittelbar prägenden Strömungen klarmachen. Ein typischer Vertreter dieser ambivalenten Tendenzen ist Johannes von Paltz 138 (gest. 1511). Für Paltz ist klar, dass erst mit dem Eingießen des göttlichen Gnadengeschenks die Seele fähig wird zur wahren Gottesliebe und damit zur echten Reue, die nicht nur aus Furcht vor Strafe entspringt. Zugleich steht er in spätfranziskanischer, ockhamscher Tradition, die in besonderer Weise die Vorbereitung des Menschen auf den Empfang der Gnade unterstreicht. Wie ist aber umzugehen mit Menschen, deren ängstliche Gewissen angesichts der erforderlichen Vorbereitung Selbstzweifel haben? Bei Paltz lässt sich angesichts dieser seelsorgerlichen Herausforderung eine doppelte Bewegung beobachten: auf der einen Seite eine Minimalisierung hinsichtlich der menschlichen Bedingungen, auf der anderen Seite eine Maximalisierung der göttlichen Barmherzigkeit. Das Minimalisierungsprogramm greift bei solchen Menschen, die an ihrem eigenen Nicht-können leiden. Die typische Antwort Paltz’ lautet: Hast du keinen Reueschmerz, so habe wenigstens Schmerz, dass du keinen hast. 139 Kannst du den Anforderungen nicht genügen, so genügt allein der gute Wille.140 Nicht das Vollbringen, sondern das bloße Wollen, die reine Intention sei schon entscheidend. Darin bringt Paltz immer wieder das scholastische Diktum des facere quod in se est in seiner ganzen seelsorgerlichen Absicht zur Geltung. Gott fordert nicht mehr, als du zu tun vermagst. Nicht einer „Steigerung spiritueller Ansprüche, sondern einer Entlastung“ 141 soll diese 137 Vgl. zum folgenden vor allem: H AMM , B ERNDT: Wollen und Nicht-können als Thema der spätmittelalterlichen Bußseelsorge, in: Hamm, Berndt und Thomas Lentes: Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis, Tübingen 2001. S. 111-146. 138 P ALTZ, J OHANNES V.: Coelifodina. Hrsg. von Christoph Burger und Friedhelm Stasch, unter Mitarbeit von Berndt Hamm und Venicio Marcolino (Spätmittelalter und Reformation 2), Berlin/New York 1983. 139 H AMM, Wollen, S. 117. Nach P ALTZ, S. 221. 140 „Dumtaxat bona sufficit voluntas.“ (P ALTZ, S. 219) 141 H AMM, Wollen, S. 117.

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Formel dienen. Und wenn der Mensch nicht einmal dies wollen könne, so sollte er wenigstens wollen, dass er dies wollen kann. Es ist klar, was dies für den Umgang mit Furcht bedeutet: Wer keinen echten Reueschmerz aus Liebe und kindlicher Furcht empfinden kann (contritio), habe wenigstens unvollkommene Reue aus Furcht vor der Verdammnis (attritio). 142 Für Paltz ist es die Sakramentsgnade, die die unvollkommenen Vorbedingungen des Menschen ausgleichen kann. Weit über Duns Scotus hinaus bringt Paltz somit einen konsequenten Attritionismus zur Geltung. Die seelsorgerliche Ausrichtung bringt eine immer stärkere Absenkung der Anforderungen mit sich. Selbst innerhalb der attritio vermag Paltz noch einmal drei Stufen des unzureichenden Angstschmerzes zu unterscheiden, um auch bei größtem Ungenügen noch Hilfe in Aussicht zu stellen. 143 Dieses Bemühen um Entlastung kann als übergreifender Trend des Spätmittelalters ausgemacht werden.144 Man darf diese Bewegung nicht übersehen, wenn man das Spätmittelalter als Zeitalter der Ängste und des Schreckens beschreibt. Das Prinzip des religiösen Leistungsgedankens steht neben der seelsorgerlichen Bemühung um Tröstung. Das Streben um verinnerlichte Frömmigkeit und Reform des geistlichen Lebens ist kein Gegensatz zu einer seelsorgerlichen Bemühung um Entlastung des Menschen. Die Trostbedürftigkeit des Menschen wird ernst genommen. In diesem Kontext ist auch Johannes Staupitz mit seiner Barmherzigkeitstheologie zu betrachten. Staupitz teilt die seelsorgerliche Ausrichtung der spätmittelalterlichen Theologie. Anders als die Mehrheit vertritt er jedoch eine augustinische Betonung der menschlichen Unfreiheit gegenüber Gott. Auch ist es typisch für seine Spätzeit, dass er Schrecken und Angst nicht positiv zu werten vermag. Doch auch er hält noch am facere quod in se in seiner seelsorgerlichen Intention fest. In kaum einem Werk zeigt sich diese Spannung so eindrücklich wie in dem von Luther gründlich studierten Kommentar zum Messkanon von Gabriel Biel. 145 Biel teilt mit der ganzen Reformbewegung des 15. Jahrhunderts den Impuls zur Verinnerlichung und persönlichen Aneignung des 142 „Sic etiam si non doles pro peccatis tuis ex timore filiali, id est amore dei, tunc saltem doleas pro eis ex timore servili, id est ex timore inferni vel mortis.“ (P ALTZ, S. 221) 143 H AMM , Wollen, S. 120, vgl. auch H AMM , Frömmigkeitstheologie, S. 279. H AMMS ursprünglicher Begriff dafür ist „Minimalprogramm“. PETRA SEEGETS spricht hingegen von einem „Minimalisierungsprogramm“, um den prozesshaften Charakter zu unterstreichen. (Ebd., S. 120, Anm. 29) 144 H AMM , Wollen, S. 122ff. H AMM verweist u. a. auf den Attrionismus von Duns Scotus, die seelsorgerlichen Ansätze von Marquard und Sigmund sowie die Barmherzigkeitstheologie Staupitz’. 145 B IEL, G ABRIEL: Canonis misse expositio. Hrsg. von Heiko A. Oberman und William J. Courtenay (VIEG 31-34), 4 Bde., Wiesbaden 1963-1967.

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Geschehens; ein Grundzug, der auch alle Formen des Furchtaffektes mit einbezieht. So unterstreicht Biel mit Nachdruck die Ehrfurcht (reverentia), mit der Gott anzureden sei.146 Gleichermaßen die Hoheit Gottes wie die eigene Zerbrechlichkeit solle der Priester sich beim Sprechen bewusst machen. Insofern sei ehrfürchtiges Zittern die angemessene Haltung des Menschen gegenüber dem Sakrament: „Unde ad immensam huius sacramenti maiestatem necesse est omnem creaturam tremere et pavere.“ 147 Dieses Zittern solle jedoch der Ehrfurcht und nicht der Verzagtheit entspringen.148 Wie die Mächte des Kosmos vor Gott zitterten, sei diese Haltung erst recht den Menschen angemessen.149 Vor allem die Betonung der Würdigkeit des Priesters konnte dabei eine erhebliche Anfechtung werden, wie Biel wohl bewusst ist. Biels Auslegung des Messkanons ist daher in seinen Forderungen keineswegs maßlos. Gleichwohl findet er immer neue Momente, in denen der Priester in steter Selbstbeobachtung nach seiner eigenen Würdigkeit fragen soll. Die Aufforderung des Apostel Paulus, das Abendmahl würdig zu empfangen, wird ganz aus dem kommunitären Zusammenhang des 1. Korintherbriefes herausgelöst und auf die subjektive Disposition des Priesters bezogen. So bestünde die Unwürdigkeit eines Priesters etwa darin, die Messe im Stand der Todsünde zu zelebrieren. 150 Nichts sei daher so wichtig, wie sein Gewissen sorgfältig diesbezüglich zu untersuchen. Es dürfte nicht die geringste Schwierigkeit für den Leser bedeutet haben, dass Biel nicht anzugeben weiß, nach welchem Maß sich der Priester von seiner eigenen Würdigkeit zu überzeugen vermag. Im Anschluss an Gerson unterscheidet Biel dabei drei Stufen der Gewissheit: certitudo supernaturalis (wie sie etwa Propheten beim Empfang von Offenbarungen erhalten), certitudo naturalis (wie Menschen sie in ihren sinnlichen Wahrnehmungen besitzen), und schließlich certitudo moralis. Die beiden ersten Grade der Gewissheit kann der Priester im Blick auf seine Würdigkeit nicht erlangen, bleibt also nur die dritte. Was aber bedeutet diese? Solche Gewissheit ist nicht aus der Natur der Sache eindeutig ablesbar, sondern nur als hinreichende subjektive Gewissheit möglich, wie Menschen sie in moralischen Fragen haben können; sie ist eine „certitudo probabilis et coniecturalis.“ 151 Dies diene unserer Demütigung und leite uns an, unsere Hoffnung ganz auf Gott zu setzen. Wenn der 146 147 148 149

Expositio 1, S. 159f. Expositio 1, S. 159. „Tremore reverentie non timiditatis“. (Ebd.) „Multo magis omnis homo in se concussus in reverentia ad sacramentum debet contremiscere et pavere.“ (Expositio 1, S. 160). 150 Expositio 1, S. 52ff. 151 Expositio 1, S. 61.

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Kapitel 3: Problemgeschichte der Furcht

Priester sein Gewissen sorgfältig erforscht habe und alles beichte, was in sein Gedächtnis komme, nichts wissentlich auslasse und sorgfältig sich bemühe, nichts zu vergessen; wenn er ferner den festen Vorsatz habe, sich vor aller Todsünde zu hüten, dann gelte: „hec ergo diligentia eiusque coniecturalis certitudo sufficit ad digne celebrandum.“152 In diesem Zusammenhang kommt Biel auch auf den Schlüsselvers mittelalterlicher Begründung der prinzipiellen Heilsungewissheit zu sprechen: „Nemo scit utrum amore vel odio dignus sit“ (Eccl 9,1).153 Dieser Vorbehalt sei es letztlich, aufgrund dessen man sich mit einer certitudo moralis begnügen müsse. Sodann kommt er ausdrücklich auf die skrupulöse Anfechtung zu sprechen, dass Priester sich in übergroßer Ängstlichkeit als unwürdig empfinden. Ausdrücklich versucht Biel, dieser seelsorgerlichen Not zu begegnen. Auch in irdischen Geschäften sei es so, dass Händler nicht wegen geringer Furcht vor Verlust gleich ihr gesamtes Geschäft einstellen. So sei es auch im geistlichen Bereich möglich, dass Zweifel, Ungewissheit und Angst zugleich mit der certitudo moralis bestehen können. 154 Vor allem auf Jean Gerson greift Biel zurück und entfaltet dessen trostvolle Überlegungen gegenüber übertriebener Skrupelhaftigkeit. Man müsse sich hüten vor solcher Verzagtheit, welche Sünde befürchtet, wo bei gewissenhafter Selbsterforschung keine mehr zu entdecken ist. Zuletzt könne ein so Angefochtener die Messe halten einfach aus Gehorsam gegenüber den Anweisungen der Vorgesetzen, so wie auch Bernhard einmal einem Bruder geraten habe: Geh, Bruder, und zelebriere in meinem Glauben. 155 Biels Ansprüchen kann man kaum den Vorwurf rigoristischer Überforderung machen. Und doch liest sich sein Kommentar als Anleitung zu unentwegter Introspektion. Für den Rat, diese nicht übertrieben zu praktizieren, wird kein Maß genannt. Für robuste Gewissen dürfte solche Anleitung gut umsetzbar gewesen sein. Das Bedürfnis nach religiöser Intensivierung wird bejaht und durch eine Betonung der menschlichen Leistungsfähigkeit gestützt. Der Gefahr existenzieller Überforderung wird begegnet mit dem Verweis auf die Einbindung des Einzelnen in den Zu152 Ebd. Interessant ist der Maßstab, den B IEL für die Sorgfältigkeit der Selbsterforschung angibt: Der Priester solle soviel Sorgfalt für die Gewissenserforschung vor der Messe aufwenden, wie er es für ein sicheres Sterben täte! (Ebd.) Die Begründung, dass diese Bemühung ausreicht, ist letztlich der Gedanke, der im Zusammenhang des facere quod in se est immer wieder auftaucht: „non requirit dominus ultra possibilitatem humane fragilitatis.“ (Ebd.) 153 Luther erinnert in biographischen Rückblicken daran, dass mit diesem Vers in seiner klösterlichen Zeit die prinzipielle Ungewissheit begründet worden ist. „Tamen hoc loco usi et nihil vulgatius isto dicto: ‚Nescit‘. Ich bin offt erschrocken, ut desperavim. Sic abuntur scriptura.“ (WA 40/I 587,35f. = SCHEEL, Dok., S. 184) 154 Expositio 1, S. 63. 155 Expositio 1, S. 65.

3.5 Fazit: Furcht und Gradualismus

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sammenhang der Kirche als Heilsinstitut. Insgesamt aber gewinnt die menschliche Disposition im Heilsprozess dabei ein unbedingtes Gewicht.

3.5 Fazit: Furcht im Horizont des mittelalterlichen Gradualismus 3.5 Fazit: Furcht und Gradualismus

Das Spätmittelalter erweist sich in der Angstfrage nicht als monolithischer Block, sondern als ein Spektrum, in dem entweder die menschliche Leistungsfähigkeit oder die göttliche Barmherzigkeit stärker betont werden konnte. In dieser gegenläufigen Entwicklung verdichten sich letztlich Probleme im Umgang mit Furcht, die wir durch die gesamte Entwicklung seit Augustin verfolgen konnten. Am Beginn steht bei Augustin eine Legitimität der Straffurcht, die sich auch auf ihre pädagogische Funktionalisierung bezieht. Diese Legitimität ist bei Gregor zur Notwendigkeit geworden. Diese Notwendigkeit der Furcht wird im Mittelalter zunehmend durch ein Stufenmodell ausgelegt, das zunehmend den Charakter eines prinzipiellen Gradualismus gewinnt. Ist dieses gradualistische Schema bei Bernhard ganz auf die Liebe ausgerichtet, gewinnt im Spätmittelalter dagegen die Affektation durch die Furcht immer mehr Gewicht. Deren Notwendigkeit wird in gesteigertem Maße durch methodisierte Erzeugung eingeholt, vor allem in der Meditationspraxis. Gerson und andere Trosttheologen zeigen, in welchem Maße diese Praxis neue Probleme religiöser Skrupelhaftigkeit aufwarf, die geistlich bewältigt werden mussten. Insgesamt erweist sich die Ausbildung und Entwicklung der Furchtlehre als Musterbeispiel dessen, was Berndt Hamm als Gradualismus bezeichnet hat. 156 Für dieses Stufendenken ist wesentlich, dass es den christlichen Heilserwerb als allmähliche Annäherung des Menschen an Gott zu beschreiben versucht. Unabhängig davon, in welchem Maße die Gnade Gottes oder das eigene Vermögen des Menschen als Ursache eines solchen Aufstiegs in Anschlag gebracht werden, ist dieser Weg durchgängig von einer Logik der Mitwirkung und der ethisch-religiösen Bedingungen durchzogen. Nicht zuletzt dieser Bedingungslogik ist es geschuldet, dass Augustins antithetische Verhältnisbestimmung von timor servilis und timor filialis letztlich kaum noch integrationsfähig war, sondern die konsequente 156

Vgl. grundlegend die Einführung des Interpretationsansatzes der Reformation als „normativer Zentrierung“ in: HAMM, BERNDT: Reformation und normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft, in: Biblische Theologie 7 (1992) S. 241-279. In diesem Sinne auch ders.: Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation: der Prozess normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, ARG 84 (1993) S. 7-81. Unter Gradualismus versteht HAMM sowohl ein „horizontales Nebeneinander auf gleicher Ebene als auch die vertikale Stufung, einem Gradualismus der Stufenordnungen und des Stufendenkens.“ (HAMM, Reformation, S. 251)

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Kapitel 3: Problemgeschichte der Furcht

Funktionalisierung der Furcht auf dem Heilsweg auch den timor servilis in fast allen Varianten der Frömmigkeit zum notwendigen Moment des geistlichen Aufstiegs machte. Niemand wird dieser Theologie das Bemühen um seelsorgerlichen Ausgleich und Entlastung absprechen können. Zunehmend kommt jedoch die begriffliche Bewältigung dieser Fragen an ihre Grenzen. Die Beschreibung elementarer Erfahrungen mit Furcht gehen zunehmend in ein Systemgerüst ein, das sich mit seinen subtilen Differenzierungen immer weiter von der ganzheitlichen Fülle gelebten Lebens entfernt. Für die Lebenswelt vieler Menschen dürfte ein solcher Differenzierungsgrad zu abstrakt geworden sein. Stärker gewinnen daher reduktionistische Modelle an Einflusskraft, die entweder die menschliche Leistungsfähigkeit oder die sakramentale Wandlungskraft stark machen und somit zur Bewältigung des existenziellen Problems der Furcht verhelfen. Das Bedürfnis nach Intensivierung und Entlastung zugleich verstrickt sich dabei in einen inneren Widerspruch: Wie kann die Gnade Gottes als Entlastung zur Geltung gebracht werden, ohne als Verlust geistlicher Intensität empfunden zu werden? Zwei Wege boten sich dem widersprüchlichen Streben an. Der eine Weg war, die Strenge geistlicher Anforderung zu minimalisieren. Dies geschah im konsequenten Attritionismus, wo die Gnade in Gestalt der kirchlichen Sakramentsspendung ins Zentrum rückte. Eine solche Verdinglichung des Heils konnte jedoch auch als religiös unbefriedigend empfunden werden. Die andere mögliche Konsequenz war, die Beteiligung des Menschen stärker ins Zentrum zu stellen und in ihren Vollzügen zu methodisieren. Der Vorteil war sicher, dass die Liebe und die reale Umwandlung des Menschen einen zentralen Platz bewahrten. Der Preis war freilich, dass mit der Ausrichtung auf die Gnade untrennbar ein Aufstiegsschema verknüpft wird, dass nun doch lebenspraktisch im Wesentlichen die menschliche Bemühung um Annäherung an Gott betont. Wenn auf einem solchen gradualistischen Wegschema ein Verlauf von der Furcht zur Liebe zur Selbstverständlichkeit wird, ist die methodische Erzeugung von Furcht als normaler Bestandteil der Frömmigkeit eine logische Konsequenz. Der theologischen Gnadenlehre zum Trotz war damit vielfach ein lebenspraktischer Pelagianismus gegeben. Mit Ausblick auf Luther kann man schon aus der Gegenläufigkeit der Bewältigungsbemühungen schließen, wo die kritischen Punkte dieses Systems lagen. Lebbar erweisen sich die Bewältigungsweisen der Furcht dann, wenn sie auf das Vorhandensein je eines bestimmten Vertrauens setzen können: im nominalistischen Kontritionismus auf ein Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit des Menschen, im konsequenten Attritionismus auf ein Vertrauen in die Heilsvermittlungsfähigkeit der kirchlichen Hierarchie mit ihrer sakramentalen Praxis. Die Gegenläufigkeit der angebotenen Trostmittel zeigt, dass im Spätmittelalter

3.5 Fazit: Furcht und Gradualismus

73

beide Vertrauensformen in ihrem Bestand alles andere als unangefochten waren. Wenn ein Mensch nicht mehr der eigenen Leistungsfähigkeit zu vertrauen vermag, sondern aus seiner Selbsterfahrung heraus die faktische Verwirklichung des religiösen Ideals im eigenen Leben in Frage stellen muss; und wenn er sich dann nicht mehr im traditionellen Sinn einfach mit der durch Einbindung in die kirchliche Hierarchie gestützten sakramentalen Heilsvermittlung beruhigen kann, sondern die Frage nach der biblischen Begründbarkeit derselben stellt; dann entsteht eine Situation, in der sich die Gesamtkonstellation der klassischen Angstbewältigung als nicht mehr tragfähig erweist.

Kapitel 4

Furcht in Luthers erster Vorlesung Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung

In diesem Kapitel ist nach der Gestalt zu fragen, in der Luther das überkommene Erbe der Furchtanschauung am Anfang seiner theologischen Entwicklung rezipiert hat.1 Da Luthers Äußerungen zur Furcht in seiner ersten Vorlesung sehr verstreut zu finden sind, ist es ein Glücksfall, dass sich Luther in seiner Frühzeit zweimal in Predigten zusammenhängend zum Thema der Furcht äußert. Den Ausgangspunkt unserer Untersuchung nehmen wir daher bei der Untersuchung der Predigt „De timore Dei“ von 1515 (4.1). Von der Analyse dieses Textes ausgehend soll anschließend der Umgang mit timor in Luthers erster Psalmenvorlesung vergegenwärtigt werden (4.2).

4.1 Die Predigt „De timore Dei“ von 1515 4.1 Die Predigt De timore Dei

4.1.1 Datierung und Deutungsspektrum Von den frühen Predigten, die sich mit Sir 15,1ff. und dem Thema der Gottesfurcht beschäftigen, ist die erste2 (fortan P I genannt) mehr als drei-

1 Verzichtet wird damit auf den Versuch einer historisch-biographischen Rekonstruktion, wie sich Luthers Angsterleben bzw. sein theologischer Umgang damit vor Beginn seiner Wittenberger Lehrtätigkeit gestaltet hat. Vgl. zur Erfurter Vorgeschichte zuletzt ausführlich H AMM, B ERNDT: Naher Zorn und nahe Gnade: Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: Luther und das monastische Erbe, hrsg. von Christoph Bultmann, Volker Leppin und Andreas Lindner, Tübingen 2007. S. 111-151. Im Blick auf eine systematische Erschließung der theologischen Furchtdeutung bei Luther wird in dieser Untersuchung davon ausgegangen, dass die Quellenlage vor Beginn seiner Vorlesungen letztlich nur sehr unsichere Schlussfolgerungen erlaubt. 2 P I liegt uns in zwei Fassungen vor, die sich aber nur in einigen abweichenden Formulierungen voneinander unterscheiden. Wir folgen der Version nach WA 4 659,11ff., da WA 1 37,21ff. nur auf die Fassung von LÖSCHER zurückgeht, dessen Vorlage sich als nicht auffindbar erwiesen hat. Vgl. auch VOGELSANG, ERICH: Zur Datierung der frühesten Lutherpredigten, ZKG 50 (1931) S. 112-143; zu P I S. 123ff. P II siehe WA 1 115,10117,10, speziell zur Frage des timor WA 1 115,10-116,7.

4.1 Die Predigt De timore Dei

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mal so lang wie die zweite (= P II). Sie ist offensichtlich sorgfältig ausgearbeitet worden.3 Die sorgfältige Ausgestaltung der Predigt lässt vermuten, dass sie für eine Veröffentlichung bearbeitet war.4 P I ist gegen WA 1 und 4 auf den 27.12.1515 zu datieren.5 Trotzdem ist in ihr der Zusammenhang von Lu3 Die Erhellung von Luthers Predigttätigkeit in seiner Frühzeit bleibt ein Desiderat an die kirchengeschichtliche Forschung. Vgl. die Untersuchung von BEI DER W IEDEN, SUSANNE : Luthers Predigten des Jahres 1522. Untersuchungen zu ihrer Überlieferung (AWA 7), Köln 1999. S. 21ff. und 41ff. Wohl in Erfurt hat Luther schon mit der Predigttätigkeit begonnen, mutmaßlich ab 1512 dann auch in Wittenberg. Die historischen, rhetorischen und homiletischen Entstehungsbedingungen können leider nur am Rande bedacht bzw. rekonstruiert werden. Die Predigt vom 27.12.1516 kann von uns vernachlässigt werden. Sie ist theologisch weit weniger anspruchsvoll, was man erklären kann aus ihrer besonderen Stellung im Predigtzyklus Luthers. Offensichtlich rekapituliert Luther hier ein augustinisch-traditionelles Schema, weil sein Fokus ganz auf die am gleichen Tage fortgesetzte Auslegung der 10 Gebote gerichtet ist! 4 Vergleichbar ist der Ausarbeitungsgrad mit der Predigt vom Gothaer Kapitel (01.05. 1515; WA 4 675-683). Gleiches gilt auch von der Weihnachtspredigt von 1514 (25.12. 1514; WA 1 20-29). 5 Die Schwierigkeit der Datierung ist bei den frühen Predigten erheblich. Überliefert ist die Predigt zunächst bei LÖSCHER (vgl. die Beschreibung der Quellenlage in WA 1 XXXVI-XXXIX und WA 4 587-589). Dieser hat sie unmittelbar hinter zwei eindeutig auf 1514 datierten Predigten veröffentlicht, jedoch (wie vermutlich im verlorenen Manuskript) undatiert gelassen. In WA 1 wird sie im Anschluss an die beiden ersten Predigten auf den 27.12.1514 gesetzt. G USTAV KAWERAU geht in WA 4 immer noch von der Richtigkeit dieser Datierung aus (WA 4 589). VOGELSANG datierte in seinem Überblick über Luthers frühe Predigten diese Predigt aus inneren Gründen auf den 27.12.1517 oder gar 1518 (!) um des großen inneren Abstandes zur Scholastik willen. (Vgl. VOGELSANG, Datierung, S. 123-124; zustimmend aufgenommen etwa bei SCHWARZ, Fides, S. 77.) Schon HEINRICH DENIFLE datierte sie dagegen auf den 27.12.1515, weil die Fortschritte der Römerbriefexegese deutlich zu erkennen seien, vgl. DENIFLE, HEINRICH, Luther und Luthertum in der ersten Entwicklung. Quellenmäßig dargestellt. 2 Bde., Mainz 2 1904/1909. S. 432f.; 438; 443 Anm. 1. An DENIFLE schließen sich unter Vorbehalt an SCHEEL, Dokumente, S. 5; tendenziell auch J OHANNES FICKER 1938 WA 56 20 Anm. zu Z. 5; in der neueren Forschung etwa METZGER, GÜNTHER: Gelebter Glaube. Die Formierung reformatorischen Denkens in Luthers erster Psalmenvorlesung, dargestellt am Begriff des Affekts (FKDG 14), Göttingen 1964. S. 99 und KROEGER, MATTHIAS : Rechtfertigung und Gesetz. Studien zur Entwicklung der Rechtfertigungslehre beim jungen Luther (FKDG 20), Göttingen 1968. S. 221. Die hier vertretene Datierung auf 1515 muss sich durch die gesamte Interpretation im Kontext der Theologie des jungen Luthers bewähren. Als Gründe seien genannt: Gegen eine Spätansetzung spricht die noch starke Einarbeitung der scholastischen Distinktionen. Auch der schulmäßige Aufbau entspricht den Predigten Luthers, die sicher von 1514/1515 stammen. Gegen eine Datierung auf 1514 spricht das Selbstzeugnis mit der Ausführung über die Gleichzeitigkeit von Gnade und Sünde (WA 4 664,17-665,22). Für die Datierung auf 1515 spricht auch die thematische und theologische Nähe der Predigt zur ersten Hälfte des Römerkommentars (vgl. vor allem das simul gegen Predigtende mit den Ausführungen zu Röm 4,7; WA 56

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Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung

thers frühester Theologie so konzentriert zu greifen, dass sie hervorragend als Ausgangspunkt für eine Darstellung der Dictata super Psalterium geeignet ist. Schon die unterschiedlichen Einschätzungen bezüglich P I in der bisherigen Forschung zeigen, dass ihre Interpretation nur von einer umfassenden Berücksichtigung der frühen Theologie Luthers her gelingen kann. So zeigen sich in der Forschung drei konträre Deutungsansätze: a) Die Predigt repräsentiert Luthers bleibend gültige Auffassung von der Furcht, die in späteren Schriften vorausgesetzt werden kann. 6 b) Die Predigt zeigt lediglich, wie sich Luther die scholastische Furchtlehre in seiner Frühzeit angeeignet hat. Darin ist die Predigt Teil der später überwundenen Frühtheologie Luthers.7 c) Die Predigt hat überhaupt keine konsistente Theorie der Furcht vorzuweisen, sondern verstrickt sich in innere Widersprüche.8 In der Auslegung dieser Predigt konzentrieren sich insofern die Deutungsschwierigkeiten hinsichtlich des jungen Luthers und der Frage nach seiner ursprünglichen Rezeption und Interpretation der spätmittelalterlichen Furchtauffassung. Daher soll zunächst eine genaue Gliederung der Predigt präsentiert werden (4.1.2). Anschließend ist Inhalt und Gedankengang nachzuzeichnen (4.1.3). Ausgehend von dem in P I entwickelten Schema wird schließlich die Behandlung des Furchtproblems in den Dictata super Psalterium dargestellt (4.2).

274,2ff.). Ein ähnlicher Rückblick auf die eigene Entwicklung begegnet im Brief an Georg Spenlein (WAB 1 35,22ff.). 6 So schon J OHANNES MEYER: „Wie wichtig dauernd für den Christen die Furcht ist, das hat Luther schon 1514 in einer Predigt in einer Auffassung vorgetragen, der er ständig treu geblieben ist.“ (MEYER, Gebot, S. 16) Vgl. auch ALBRECHT P ETERS: „Die rechte Zuordnung [von Furcht und Liebe] entfaltet er bereits in einer frühen Predigt.“ (PETERS, S. 134) 7 Die Predigt böte „ein ganz einheitliches Bild seiner Furchtlehre“ (P INOMAA, Charakter, S. 67). Es sei „nicht schwer, auch hier die überkommenen Begriffsbestimmungen wiederzuerkennen.“ (S. 69) Zugleich sei eindeutig, dass es sich „noch nicht um einen reformatorischen Gedankengang handelt.“ (S. 68) Vielmehr zeige er „sich in allem wesentlichen auf dem Boden der katholischen Tradition stehend.“ (Ders.: Der Zorn Gottes in der Theologie Luthers. Ein Beitrag zur Frage nach der Einheit des Gottesbildes bei Luther, Helsinki 1938. S. 125.) P INOMAA geht mit WA 1 und 4 von 1514 aus. 8 So zuletzt BEUTEL, Gott fürchten, S. 51.

4.1 Die Predigt De timore Dei

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4.1.2 Aufbau der Predigt 1. Dialektik der Furcht 1.1 Lob der Furcht des Herrn 1.1.1 These: Furcht ist das Gute (659,12-23) 1.1.2 Ohne Furcht sind auch gute Werke böse (659,24-27) 1.1.3 Haltung der Person bestimmt Güte der Werke (659,28-660,7) 1.2 Problematisierung der Furcht 1.2.1 Wie kann Furcht gut sein, wenn sie zu Hass führt? (660,7-16) 1.2.2 Erste Antwort: Es gibt viel falsche Furcht Gottes (660,16-661,2) 1.2.3 Zusammenfassung des Abschnitts (661,3-8) 1.2.4 Zweite Antwort: Unterscheidung Furcht/Schrecken (661,9-25) 1.3 Unterscheidung der Furchtarten 1.3.1 Heilige/knechtische Furcht gemäß Augustin (661,26-662,2) 1.3.2 Sieben Unterschiede der Furchtformen (662,2-13) 2 Stufen der Furcht 2.1 Die Unvollkommenheit führt zu verschiedenen Stufen (662,14-17) 2.2 Erste Gruppe: Keine Furcht vor Gott (662,18-26) 2.3 Zweite Gruppe: Angst vor zeitlicher Strafe Gottes (662,27-34) 2.3.1 Ungeistliche Menschen ohne Furcht (662,35-663,2) 2.3.2 Selbstgerechte Menschen ohne Furcht (663,2-15) 2.4 Dritte Gruppe: Angst vor ewiger Strafe (Hölle) (663,16-23) 2.4.1 Ungeistliche Menschen ohne Höllenfurcht (663,23-25) 2.4.2 Selbstgerechte Menschen ohne Höllenfurcht (663,25-664,10) 2.5 Was heißt: Wer die Hölle fürchtet, kommt hinein? (664,10-12) 2.6 Wegen Unvollkommenheit ist niemand furchtlos (664,12-17) 2.7 Konsequenz: Simul timor et amor (664,17-665,8) 2.8 Selbstzeugnis und Scholastikkritik (665,8-22) 2.9 Vierte Gruppe: Vollkommene Liebe statt Furcht (665,22-36) 2.10 Zusammenfassung der Grade der Furcht (665,36-666,6)

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Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung

4.1.3 Gestalten und Stufen der Furcht Die Predigt ist sorgfältig strukturiert und nachvollziehbar aufgebaut. Nach dem Predigttext Sir 15,1f. wird in einer Einleitung (exordium) das Thema benannt.9 Nach einer kurzen Einführung in die Materie (divisio thematis) geschieht die Entfaltung des Themas (dilatatio thematis) mittels begrifflicher Differenzierungen und beispielhafter Erörterung im Stile der scholastischen Themenpredigten. 10 Als Gliederungsmerkmale dienen vier Überschriften (corollarium 1-4), die alle in die erste Predigthälfte fallen.11 Der zweite Hauptteil ab corollarium quartum ist deutlich genug unterteilt durch die vier Gruppen von Menschen, die durch ihr Verhältnis zur Furcht unterschieden werden. Am Ende der Predigt wird im Schlussteil (conclusio) der Ertrag zusammengefasst (unitio), indem das Schema der Furchtarten rekapituliert wird. 1. Dialektik der Furcht 1.1 Lobpreis der Furcht des Herrn. Die Predigt eröffnet mit einem Lobpreis der Furcht Gottes (1.1.1). Diese erscheint als übergreifender Ausdruck der Frömmigkeit bzw. des Glaubens: Alles, was in der Furcht des Herrn getan wird, ist gut. Diese positive These wird auf ihre Konsequenzen hin entfaltet. Jedes Werk sei dann schlecht, wenn es nicht aus dieser Furcht getan werde. Auch die guten Werke, die an sich dem Gesetz entsprächen, könnten insofern Sünde sein. Die Person mache die Werke gut und nicht die vermeintlich guten Werke. 12

9

Zur Bedeutung der klassischen rhetorischen Ordnungsmerkmale vgl. B EI DER W IES. 32ff. In der späteren Verkündigung Luthers treten solche Gliederungsmerkmale noch stärker zurück (ohne dass seine Predigten dadurch strukturlos oder unrhetorisch würden!). 10 Vgl. grundsätzlich B EUTEL, ALBRECHT: Art. Predigt VIII. Evangelische Predigt vom 16. bis 18. Jahrhundert, TRE 27 (1996) S. 296-311; N IEBERGALL, ALFRED: Die Geschichte der christlichen Predigt, in: Leiturgia. Handbuch des evangelischen Gottesdienstes. 2. Bd.: Gestalt und Formen des Evangelischen Gottesdienstes. 1. Der Hauptgottesdienst, hrsg. von Karl Ferdinand Müller und Walter Blankenburg, Kassel 1955. S. 251ff. 11 Die vier Gliederungsmerkmale umfassen folgende Abschnitte: corollarium primum (659,24-27) corollarium secundum (659,28-661,2), corollarium tercium (661,3-662,13), c orollarium quartum (662,14-666,6). 12 Diese Vorordnung der Person vor den Werken ist kein Grund für eine Spätdatierung der Predigt P I. GERHARD EBELING hat gezeigt, dass diese Tendenz bei Luther von Anfang seiner theologischen Autorschaft an (ab 1513) ausgeprägt ist, vgl. EBELING, GERHARD: Luthers Auslegung des 14. (15.) Psalms in der ersten Psalmenvorlesung im Vergleich mit der exegetischen Tradition, in: Ders.: Lutherstudien. Bd. I, Tübingen 1971. S. 132-195. S. 152ff. DEN,

4.1 Die Predigt De timore Dei

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1.2 Problematisierung der Furcht. Dann aber wird eine Problematisierung aufgeworfen: Wie könne die Gottesfurcht etwas Gutes sein, wenn man doch gemeinhin hasst, was man fürchtet? Gott gegenüber wäre aber Hass die größte Gotteslästerung. Dieses Problem wird zunächst zum Anlass der Beobachtung, wie wenig Menschen Gott wirklich loben (1.2.2). Das Herz vieler sei voller Gotteslästerung; eine These, die Luther durch eine Reihe von Schriftzitaten begründet (Jer 29,13, Jes 1,4; Jes 52,5 und Hiob 1,5). Darum sei dieses Leben der Hölle nahe, voller Furcht und schrecklicher Gefahr. Denn alle Verdammten, alle außerhalb der Gnade würden Gott auf diese Weise fürchten und ihn lästern. Sie befänden sich in einem Gegensatz zu Gott, der ewig währen wird (Ps 6,6). Viele würden daher Gott auf diese Weise im Herzen lästern und ihn fürchten, wie sie den Tod und die Hölle fürchten. 13 Luthers eigentliche Antwort beginnt mit der Einführung einer neuen Differenzierung (1.2.4). Die Unterscheidung zwischen timor und horror ist so beim Lombarden und in der Tradition nicht vorgegeben und kann als eigene Entwicklung Luthers vermutet werden. Damit lenkt Luther stark zurück zu der ursprünglich deutlichen Unterscheidung der beiden Furchtarten. Vor Gott solle man nicht erschrecken, sondern ihn fürchten. Furcht Gottes sei daher als reverentia (Ehrfurcht, Verehrung) aufzufassen und damit eine Frucht der Liebe. Der Schrecken sei dagegen die Folge dessen, dass etwas anderes als Gott geliebt werde. Ohne die Gnade könne der Mensch nicht anders als sich fürchten. 1.3 Unterscheidung der Furchtarten. Luther entfaltet eine antithetische Gegenüberstellung der beiden Furchtarten, wobei er Augustin nach Petrus Lombardus mit seinem Gleichnis der beiden Frauen zitiert. 14 Der timor filialis, die reine heilige Furcht, wird mit der Ehrfurcht identifiziert; es ist die mit der Liebe verbundene Furcht. Nach Luther kennen „wir“ solche heilige Furcht aus Erfahrung jedoch gar nicht, sondern allein die knechtische Furcht. Der Unterschied der Furchtarten wird in sieben Punkten entfaltet. Die Erfahrung solcher gezwungener Furcht mache offenbar, dass die Strafe und nicht Gott gefürchtet werde. 2 Stufen der Furcht Hat Luther bisher in prinzipieller Absicht zwei Furchtformen einander antithetisch gegenübergestellt, folgt er im zweiten Teil der Predigt einer anderen Darstellungslogik. 13 Vgl. etwa Luthers Erinnerung in seinem Selbstzeugnis von 1545: „non amabam, imo odiebam iustum et punientem peccatores Deum, tacitaque si non blasphemia, certe ingenti mumuratione indignabar Deo.“ (WA 54 185,23-25 = LDStA 2, S. 504,25-27) 14 Vgl. beim Lombarden Sent. III dist. 34 cap. 6. Bei AUGUSTIN vgl. ep. Io. tr. 9,6; Io. eu. tr. 43,7.

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Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung

2.1 Die Unvollkommenheit führt zu verschiedenen Stufen. Mit der Überleitung „in hac vita“15 kommt Luther auf die Ebene des empirischen Lebensvollzugs zu sprechen. Unser Mangel an Vollkommenheit führe hier wie in anderen Tugenden auch zu viele Stufen. 2.2 Erste Gruppe (Keine Furcht vor Gott): Eine erste Gruppe von Menschen habe gar keine Furcht vor Gott bzw. göttlichen Strafen. Gegenwärtig gäbe es viele, die sich weder durch Krankheiten noch Katastrophen davon abbringen lassen, Gott und geistliche Dinge zu verachten. (Verweis auf Jes 1,5; 9; 13 und Am 5)16 2.3 Zweite Gruppe (Angst vor zeitlicher Strafe Gottes): Eine zweite Gruppe von Menschen beginne aus Angst vor Strafen und Übel Gott zu fürchten. Doch ihre Furcht dauere nur so lange an wie die Strafe. Diese Form des timor servilis führt Luther zu einer weiteren Unterscheidung. Zwei Arten von Menschen hätten diese Furcht nicht. Die einen seien völlig unempfänglich für geistlich-religiöse Dinge (wie die Menschen in Gruppe 1, [2.3.1]). Die anderen hingegen fürchteten sich nicht um Strafen willen, weil sie sich aus geistlichen Gründen sicher fühlen (2.3.2), was eine gefährliche Einbildung des Hochmuts sei. 2.4 Dritte Gruppe (Angst vor ewiger Strafe): Eine dritte Gruppe fürchtet sich allein vor dem Ewigen, vor dem Zorn Gottes und der Hölle. Dies sei die Haltung der meisten Heiligen (wie David im 6. Psalm). Doch auch im Blick auf die Hölle gäbe es Furchtlosigkeit, wieder in einem doppelten Sinne: Es gebe die Furchtlosigkeit der Unreligiösen (2.4.1), die heutzutage mindestens innerlich verbreitet sei. Ausführlicher jedoch wendet sich Luther hier der religiös begründeten Furchtlosigkeit derer zu, die von sich meinen, die Hölle nicht fürchten zu müssen, weil sie gerettet seien (2.4.2). Luther kritisiert diese falsche Sicherheit, indem er sie vorgebildet findet in der biblischen Kritik an den Gottlosen (Jes 28,15 und Ps 10,6.5). Die wahrhaft Gerechten fürchteten sich vor der Hölle, was eine Reihe von Psalmversen (der ausführlichste Nachweis mit Schriftzitaten!) belegt (Jes 38,10, Ps 88,4, Ps 141,7, Ps 9,18, Ps 55,16, sowie das Sprichwort: „Welche in ihrem Leben in die Hölle steigen, die kommen nicht hinein.“). 2.5 Einwand (Was heißt: Wer die Hölle fürchtet, kommt hinein?): Nach der Betonung der Heilsamkeit der Höllenfurcht unterbricht Luther seine Darstellung mit einem neuen Einwand: Wie passe dies dazu, dass er selbst gesagt habe, man solle Gott nicht um der Hölle willen fürchten, denn wer

15 16

WA 4 662,14. Von den klassischen Schemata her ist es auffällig, dass Luther hier nicht mit der Tradition die menschliche bzw. weltliche Furcht (timor humanus/mundanus) anspricht, wie es im Anschluss an Mt 10,28 nahe gelegen hätte. Es zeigt sich, dass Furchtlosigkeit als solche für ihn ein viel irritierenderes Phänomen gewesen ist.

4.1 Die Predigt De timore Dei

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die Hölle fürchte, der komme hinein? Denn die Höllenfurcht ist ja nicht der timor domini wie im Eingang der Predigt. Die Furcht vor Strafe und vor der Hölle wurde von Luther mit dem horror identifiziert, der nicht der Gottesliebe, sondern der verkehrten Selbstliebe entstammt. 2.6 Antwort (Wegen Unvollkommenheit ist niemand furchtlos.): Niemand verwirkliche in diesem Leben die reine Liebe, darum solle auch niemand ohne Furcht vor der Hölle sein. Erst zukünftig erlange der Mensch die Vollkommenheit als Gabe Christi. 2.7 Konsequenz (Simul timor et amor): Daher seien in einem Gerechten stets heilige und knechtische Furcht vermischt. Die Unterscheidung zwischen kindlicher und knechtischer Furcht sei wohl grundsätzlich richtig. Falsch sei dagegen die Folgerung, dass die knechtische Furcht bei den zunehmenden Heiligen nicht mehr vorkomme. Die knechtische Furcht und die anfangende Liebe im Sinne von 1 Joh 4,18 gehörten zusammen, da nach dem Wort des Apostels erst die vollkommene Liebe die Furcht austreibe. Denn so, wie die Tugenden des Menschen zusammen mit ihren Lastern sich in ihm befänden, so seien auch heilige und knechtische Furcht zugleich (simul) in ihm. In dieser Weise seien beieinander Hoffnung und Furcht, Glauben und Wanken, Gehorsam und Murren, Großzügigkeit und Geiz, Weisheit und Torheit, Mut und Furchtsamkeit, heilige und knechtische Furcht, Gnade und Sünde. 17 Denn es sei wohl ein Prozess, in dem die Tugend ihren Gegensatz verdränge; während seines Vollzugs aber befinde sich beides im Menschen. 2.8 Selbstzeugnis und Scholastikkritik. So müsse der Satz verstanden werden, dass wer sich vor der Hölle fürchte, hineinkomme: Dies beziehe sich auf den, der ausschließlich die knechtische Furcht habe. Auch Glauben hätten wir und bäten zugleich um dessen Vermehrung (belegt mit Mk 16,16, Joh 14,11 und Lk 17,5). Die Betonung des „zugleich“ wendet Luther gegen die scholastische Lehre von der Identität der Eingießung der Gnade mit der Austreibung der Sünde. Mit dieser Lehre sei er selbst beinahe an Gott verzweifelt. 2.9 Vierte Gruppe (vollkommene Liebe statt Furcht). Als vierte Gruppe nimmt Luther auch solche Menschen an, die keine Furcht mehr empfinden, weil sie in der Liebe so zugenommen haben. Aber selbst Elia und Paulus hätten sich nicht immer in diesem Zustand befunden (Zitat von 2 Kor 7,5 und 1 Kön 19,4) und wir sollten ihn in diesem Leben nicht für erreichenswert halten. 2.10 Zusammenfassung der Grade der Furcht. Zum Abschluss der Predigt werden die drei Grade der Furcht noch einmal rekapituliert. 17 In diesen acht Gegensatzpaaren sind vier Mal Formen der Furcht aufgeführt: spes/trepidatio, fides/vacillatio, fortitudo/timiditas und timor sanctus/timor servilis (WA 4 664,29-33)!

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Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung

Das Problem der Furcht wird von Luther in dieser Predigt in zweierlei Weise beantwortet: zunächst einmal mit einer antithetischen Unterscheidung von timor und horror, sodann in einem gradualistischen Schema. Luther nimmt damit eine Spannung auf, die die gesamte Geschichte des Furchtproblems beschäftigt hat. Bei Augustin schon finden wir beides nebeneinander, auch wenn Augustin dieses Miteinander bewusst gerechtfertigt hat. Daher soll im Folgenden entlang des Ordnungsschemas von P I der Umgang mit Furcht in den Dictata erhoben werden. Zunächst soll generell Luthers Rezeption der klassischen Begriffe und des Einteilungsschemas der Furchtlehre betrachtet werden (4.2.1). In einem zweiten Abschnitt ist die antithetische Gegenüberstellung der Furchtarten zu beschreiben, soweit sie sich in den Dictata finden lässt (4.2.2). Das gradualistische Schema soll anhand der vier Gruppen nachgezeichnet werden (4.2.3-4.2.7). Abschließend wird grundsätzlich der Ertrag im Blick auf die Furchtauffassung in der frühen Theologie Luthers zusammengefasst (4.2.8).

4.2. Dictata super Psalterium 4.2 Dictata super Psalterium

4.2.1 Rezeption der klassischen Furchtlehre in den Dictata Zuerst ist nach dem grundlegenden Anschluss Luthers an das Timorverständnis der Tradition in den Dictata super Psalterium18 zu fragen. Bei aller Heterogenität der mittelalterlichen Traditionen wird man soviel sagen können, dass timor in der Scholastik in zweifacher Hinsicht zum Thema wurde: zum einen a) anthropologisch als Teil der menschlichen Affekte, zum anderen b) soteriologisch in seiner Funktion auf dem menschlichen Heilsweg. a) Luther rezipiert in seinen Ausführungen selbstverständlich das reiche Erbe der scholastischen Affektenlehre. Dabei steht er ganz im Zuge einer spätmittelalterlichen Tendenz, gegenüber dem Intellektualismus eines Thomas von Aquin wieder zu einer stärkeren Betonung der affektiven Dimension des christlichen Glaubensvollzuges zu kommen. Schon hermeneutisch kommt bei Luther die affektive Aneignung der biblischen Inhalte stark zur Geltung. 19 Aber auch der ganze Glaubensvollzug hängt daran, dass er nicht in einer intellektuellen Aneignung befangen bleibt, sondern auch affektiv, d. h. vom ganzen Menschen ergriffen wird: „Sic enim fides 18 Zum Verständnis von timor in den Dictata vgl. vor allem: M ETZGER , S. 96-99; SCHWARZ, Fides, 180f. und 204f.; P INOMAA, Charakter, S. 64-71. 19 Vgl. etwa die Betonung der affektiven Dimension des vollen Verstehens: WA 55/II 393,2ff.

4.2 Dictata super Psalterium

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non intellectum illuminat, immo excecat, Sed affectum; hunc enim ducit quo salvetur, et hoc per auditum verbi.“20 Auch wenn man die Form eines Kommentars in Rechnung stellt, ist zu Recht gesagt worden, dass bei Luther das theoretische Interesse, das Verhältnis von Intellekt und Affekt durch präzise Distinktionen der seelischen Vermögen auszuformulieren, stark zurücktritt.21 Im Scholion zu Ps 67 vergleicht Luther in einer allegorischen Auslegung die vier Räder des Himmelswagens mit den klassischen vier Hauptaffekten: „quattuor Rote sunt quattuor affectus spes, timor, gaudium, dolor.“22 Diesen Affekten schreibt Luther sodann einen Ursprung in Liebe bzw. Hass zu: „duo ex amore boni et duo ex odio mali“23. In den Affekten erweist sich der Mensch also bewegt von den bona und mala dieser Welt. Der Grundgegensatz besteht zwischen den beiden Triebkräften: amor, der zu den bona zieht, und odium, das sich auf die mala richtet. Diesen beiden Grundstrebungen lassen sich die klassischen Affekte zuordnen. Aus der Liebe entspringen gaudium (Gegenwart) und spes (Zukunft), aus dem Hass folgen dolor/tristitia (Vergangenheit/Gegenwart) und timor (Zukunft). Amor und odium besitzen als Ursprung der Affekte solche Bedeutung, dass Luther das viergliedrige Affektschema auch variieren kann. So kann er im Scholion zu Psalm 76 auch Liebe und Hass in den Rang von Hauptaffekten setzen: „ex bonis spem et amorem, Ex malis timorem et odium peccati accipiamus.“ 24 In amor und odium verhält sich der Mensch aktiv zum jeweiligen Objekt, die vier anderen Affekte sind quasi Rückwirkungen der Objekte im menschlichen Subjekt. Wegen des Zukunftsbezugs wohnt spes und timor ebenfalls eine Bewegungskraft inne, die sie mit amor und odium verbindet. In diesem Viererschema sind insofern die Affekte zusammengestellt, die den Menschen bewegen, antreiben und in seiner Ausrichtung bestimmen. Die Schemata der Affekte unterwirft Luther zuletzt der jeweiligen Ausrichtung im Gottesverhältnis. Im Scholion zu Ps 94 entwickelt Luther zunächst die Zusammenstellung, die er schon in der allegorischen Deutung des Himmelswagens entfaltet hatte. Die Affekte werden dabei unter dem Gesichtspunkt betrachtet, ob sie zu Christus führen oder von ihm wegtreiben. Von den natürlichen Affekten mit ihrer Anziehung bzw. Abstoßung 20 21

WA 55/II 962,2044-2045. So ZUR MÜHLEN, KARL HEINZ: Art. Affekt II, TRE I (1978) S. 599-612. S. 606. Vgl. auch SCHWARZ, Fides, S. 182; METZGER, S. 90ff. 22 WA 55/II 375,559-560. Vgl. etwa T HOMAS Summa I/2. qu. 25 art. 4 über die quattuor passiones principales: „De bono igitur praesenti est gaudium, de malo praesenti est tristitia; de bono futuro est spes, de malo futuro est timor.“ Zur Geschichte der Affektenlehre im Mittelalter vgl. ZUR MÜHLEN, Affekt II, S. 599-605. 23 WA 55/II 375,561. 24 WA 55/II 507,21.

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Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung

im Blick auf die Güter und Übel gilt: „Istis enim affectibus homo Impeditur, ne ad Christum accedat“25. Sodann beschreibt Luther die affektiven Gestimmtheiten des Menschen unter dem Gegensatz von amor und odium: Die Liebe zum Irdischen bringe nämlich Hass zum Himmlischen mit sich und umgekehrt. Diese Grundausrichtung des Menschen hat in jeweiliger Bestimmung die vier Grundaffekte zur Folge: Wer das Himmlische hasst, steht in timor zu seiner Zukunft und dolor zu seiner Gegenwart. Wer es hingegen liebt, strebt ihm mit spes entgegen und genießt seine Gegenwart in gaudium. Die in Ps 94,3 gepriesene Größe und Herrlichkeit Gottes soll im Menschen Liebe entzünden und in diesem Sinne seine affektive Ausrichtung ordnen. Den Gegensatz der beiden Totalbestimmungen entfaltet Luther an einer allegorischen Gegenüberstellung des Lammes Gottes mit dem Kalb der Synagoge. 26 Die beiden Seiten und die vier Beine entsprechen allegorisch genau den Seiten und Rädern des Himmelswagens. Die Affektreihen von amor, spes und gaudium auf der einen Seite und odium, timor und dolor auf der anderen Seite verhalten sich jeweils konträr. Ziel des göttlichen Handelns ist es, den ganzen Menschen in die richtige Ausrichtung auf Gott und damit Abwendung zur Welt zu bringen, die Herrschaft des Geistes an die Stelle der Macht des Fleisches zu setzen. 27 Dabei zielt Gott gleichermaßen auf die Erleuchtung und Umwandlung von Intellekt und Affekt.28 Weil es um die ganze Ausrichtung des Menschen geht, und die Furcht auch auf Gott bezogen ist, kann sie systematisch auch neben Liebe und Hoffnung treten. Anders als odium und dolor kann daher timor positiv als affektive Ausrichtung auf Gott zur Geltung kommen.29 Das ganze Affektverständnis steht im Zeichen einer zunehmenden Konzentration auf den totus homo. Nicht durch immer neue Unterscheidung nach innen, sondern durch die durch grundlegende Relationen bestimmte Ausrichtung nach außen ist das affektive Verhalten des Menschen zu gliedern. Luther verwendet all diese Ordnungsmöglichkeiten nicht streng systematisch, die Affektenlehre bleibt stets der Gottesrelation unterstellt. 30 Im Blick auf die Furcht zeigt Luther wenig Interesse an einer systematischen Erarbeitung ihrer Stellung im Gefüge menschlicher Affekte, umso mehr 25 26 27

WA 55/II 741,47-48. WA 55/II 742,80ff. Vgl. zur Ausrichtung der ganzen Person auf Gott: Luther „geht es nicht länger um die richtige Einordnung des Menschen in einen metaphysischen Seinsordo, sondern um die Veränderung seiner geschichtlichen Erfahrung als einer durch Gott bestimmten.“ (ZUR MÜHLEN, Affekt II, S. 606) 28 „Immo ubicunque illuminat, simul accendit, simul erudit intellectum et affectum, sicut est natura lucis.“ (WA 55/II 743,114-744,115) 29 Daher wird in der Reihung odium, timor, dolor der timor ausdrücklich mit dem timor nocturnus identifiziert (WA 55/II 743,89ff.). 30 Vgl. vor allem M ETZGER , S. 90.

4.2 Dictata super Psalterium

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tritt ihre Dynamik im Horizont unterschiedlicher Totalbestimmungen ins Zentrum. Wie sich also der Mensch in seinen Affekten als entweder von Gott weg oder zu Gott hin bewegt erfährt, ist die maßgebliche Hinsicht, in der Furcht das Interesse auf sich zieht. b) Sodann ist Luther auch geprägt von den traditionellen Unterscheidungen der scholastischen Furchtlehre, wie sie seit Petrus Lombardus’ klassischer Ordnung Sent. III dist. 34 diskutiert wurde. Zunächst ist Luthers Bemühen unverkennbar, die verschiedenen Aussagen des Psalters über die Furcht im Sinne des überkommenen Schemas zu klassifizieren. In den Zeilenglossen werden immer wieder Ergänzungen vorgenommen, um welche Art Furcht es sich an der entsprechenden Stelle handelt. So begegnen bei Luther gleichermaßen die Spezifikationen der Furcht, sei es der timor servilis 31, sei es der timor filialis bzw. sanctus.32 Ist Luther also durchweg auf diese Tradition bezogen, so fallen doch auch Besonderheiten auf. Zum einen zeigt Luther sich sehr selbstständig, wenn es darum geht, die überkommene Begrifflichkeit zu ersetzen oder zu ergänzen durch biblische Ausdrücke. Machen wir uns dies an den beiden aus der Tradition überkommenen Grundformen der Furcht timor filialis und timor servilis klar. In der Glosse zu Ps 19,10 heißt es: „Timor domini sanctus quia sanctificat, non tantum punit permanens in saeculum saeculi in eternum“ 33. In der Randglosse kontrastiert Luther dies mit der klassischen Vergleichsstelle aus dem 1. Johannesbrief: „Timor autem legis evacuatus est, quia non erat ‚sanctus‘, scil. quia non sanctificabat cor.“34 Bei der Schlüsselstelle Ps 19,10 übernimmt Luther auffälligerweise nicht die Adjektive der scholastischen Tradition filialis, castus oder amicabilis, sondern bleibt beim biblischen timor sanctus und verwendet dieses Adjektiv eine Zeitlang vorzugsweise.35 Auch versucht er, unabhängig von der üblichen Klassifikation eine etymologische Erklärung aus dem biblischen Adjektiv abzuleiten. Später tritt der Gebrauch von timor sanctus wieder etwas zurück. Sein kurzes Auftreten und Zurücktreten zeigt, wie Luther nach einer neuen Begrifflichkeit sucht und dabei vor allem bestrebt ist, aus der Bibel neue Ausdrücke zu übernehmen. Auch beim timor servilis lässt sich ein ähnliches Phänomen beobachten. Die Zusage in Psalm 91 („non timebis a timore nocturno“ 36) nutzt Luther, 31 Timor servilis: WA 55/I 586, Anm. 7; 792,6; 55/II 564,896; 565,920f.; 648,113114; 705,219; 865,13; 917,771. 32 Timor filialis: WA 55/I 342,2; 474,21; 678,18; 780,4; 782,17; 902,15; WA 55/II 655,327; 865,14. Timor sanctus: WA 55/I 296,1; 298,3; 302,1.10; WA 55/II 8,3; 705,221. 33 WA 55/I 164,3-5. 34 WA 55/I 164,12-13. 35 Vgl. in den Glossen: WA 55/I 164,4; 296,1; 298,3; 302,1.10. 36 WA 55/II 704,197ff.

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Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung

sich auf die Auslegung des Ausdrucks timor nocturnus einzulassen. Diesen Ausdruck setzt Luther an dieser Stelle mit dem timor servilis gleich.37 In der Auslegung der anschließenden Psalmen wird dieser Ausdruck timor nocturnus immer wieder verwandt38, um dann schließlich wieder gänzlich zu verschwinden. Auch dieses Eingehen auf biblische Begrifflichkeit zeigt Luthers Bemühen, von der Bibel her die scholastische Begrifflichkeit in Frage zu stellen, zugleich aber auch, dass er offensichtlich in der Frage des timor nicht ganz zufrieden ist mit den überkommenen sprachlichen Möglichkeiten. Neben diesen sprachlichen Variationen fällt aber nun eine Sache vor allem auf: An keiner Stelle macht Luther Gebrauch von der mittleren Kategorie der traditionellen Timorlehre, vom timor initialis. 39 Diesen für das klassische Timorverständnis so bedeutenden Ausdruck hat Luther bereits fallen gelassen, was noch zu interpretieren sein wird. Fazit: Luther zeigt im Umgang mit den scholastischen Distinktionen große Freiheit.40 Dahinter steht weder Unkenntnis der Tradition noch Unvermögen des systematischen Denkens. In der Tradition der monastischen Theologie (etwa im Sinne eines Bernhard von Clairvaux) bzw. der Frömmigkeitstheologie entwickelt er eine große Flexibilität, Phänomene durch immer neue Klassifizierungen zu ordnen. Luther hat teil an der allgemeinen Skepsis gegenüber den ausufernden Distinktionen der Scholastik, wie sie im Humanismus ausgeprägt war. Das Übermaß an begrifflichen Unterscheidungen war im Nominalismus besonders ausgeprägt. Zugleich stammt aus seiner nominalistischen Ausbildung auch der Impuls, die Heilige Schrift als höchste Autorität über alle andere Lehrbildung zu stellen. 41 Geradezu programmatisch versucht Luther, mittels der Bibel eine bessere Terminologie zu entwickeln, als er sie in der Schultheologie geboten fand: „Scriptura sancta aptius et melius utitur verbis, quam Curiosi disputatores in suis studiis.“42 Diese verschiedenen Einflüsse geben der Wortwahl Luthers das experimentelle und kreative Moment, das sich vielfach nicht so einfach in ein Schema fassen lässt. So lässt sich zur Begrifflichkeit insgesamt sagen, dass Luther nicht so sehr an eindeutigen und präzisen Begriffen gelegen ist; er will vielmehr ein bestimmtes Wortfeld in all seinen 37 38

„Hic est timor servilis.“ (WA 55/II 705,219) Vgl. in den Scholien zu Ps 91: WA 55/II 707,267; 708,295; 712,410; 713,420. 440f.; 714,466; sowie in der Glosse zu Ps 94: WA 55/I 642,10. 39 Vgl. auch METZGER , S. 97; P INOMAA, Charakter, S. 71. 40 Vgl. auch das (etwas überspitzte) Urteil LEIF G RANES: Es sei „offenkundig, dass Luther sich in diesem Zeitraum [Dictata] weder für scholastische Terminologie noch für die scholastische Problemstellung interessiert. Man kann im Gegenteil sagen, dass er bewusst versucht, sich anders auszudrücken.“ (GRANE, Contra Gabrielem, S. 284) 41 Vgl. Luthers Brief an Trutfetter vom 09.05.1518: „ex te primo omnium didici, solis canonicis libris deberi fidem, caeteris omnibus iudicium“. (WAB 1 171,72-73) 42 WA 55/II 21,21-22. (Druckbearbeitung von Psalm 1)

4.2 Dictata super Psalterium

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Schattierungen zum Klingen bringen.43 Sein Stil ist mehr um meditative Verinnerlichung als um rationale Präzisierung bemüht. Daher ist nicht allein der Wortstamm timor aussagekräftig für das Furchtverständnis, auch Begriffe wie terror, horror, pavor etc. müssen in der Untersuchung Berücksichtigung finden. 4.2.2 Timor zwischen amor und odium Im ersten Teil der Predigt P I präsentiert Luther timor gewissermaßen als Hauptmann der Werke; als die Grundausrichtung der Person, die über Gut und Böse seiner Taten entscheidet. Im Verlauf der Darlegung wird klar, dass der timor diese Funktion ausübt, weil er sich als mit der Liebe untrennbar verbunden erweist: als „fructus amoris.“ 44 Im zweiten Teil von P I macht Luther hingegen aufmerksam auf die Ambivalenz der Angst, wie sie sich in der Erfahrung kundtut. Die doppelte Qualifizierungsmöglichkeit (Hass/Liebe bzw. Geist/Fleisch) dieses Affekts macht seine Zwiespältigkeit aus. Nacheinander sollen daher die Zusammengehörigkeit von Furcht und Liebe sowie die Verbindung mit Hass dargestellt werden. a) timor und amor. In einer Randglosse zu Psalm 80 macht Luther einen Hinweis, der zeigt, mit welchem Interesse Luther Augustins Umgang mit der Frage des timor beobachtet hat. „Ex isto versu secundum expositionem b. Augustini sumpta est notissima illa distinctio et radix peccati duplex, scil. Amor male accendens et timor male humilians.“ 45 Nach Augustin könne man in dieser Weise alle guten und schlechten Werke unterscheiden: Die guten Werke geschähen aus guter Liebe bzw. Furcht, die bösen Werke dagegen aus schlechter Liebe bzw. Furcht. Wo Liebe und Furcht allein auf Gott um seiner selbst willen gerichtet seien, könne es zu guten Werken kommen. Amor und timor stehen und fallen in diesem Zusammenhang immer miteinander. Ihre Ausrichtung auf Gott oder die Welt, auf das Unsichtbare oder das Sichtbare, auf Himmlisches oder Irdisches sei es, was dem Leben seine Richtung weist. Dieses augustinische Verständnis von rechter und falscher Furcht ist es, was sich bei Luther in den Dictata wieder und wieder entdecken lässt. Entscheidend ist für ihn die richtige Ausrichtung der Affekte auf Gott. Dies zeigt sich etwa in der Parallelisierung der Affekte, wie Luther sie im Scholion zu Ps 111 vornimmt, wo der viel zitierte Vers 56,6 (sie fürchten sich, wo keine Furcht ist) auf alle Affekte übertragen wird: 43 44 45

So die gelungene Formulierung bei SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 237. WA 4 661,10. WA 55/I 571,1-3. Auf diesen doppelten Ursprung der Sünde verweist etwa auch GABRIEL B IEL in seiner Expositio zum Messkanon, wo er sich auf die Psalmenauslegung Augustins bezieht. Vgl. Expositio III, lect. 77, F. S. 279f.

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Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung

„Nam sicut Amant, ubi non est amor, ita timent, ubi non est timor. Et faciunt omne que sequitur ad istum amorem et timorem, i. e. quod odiunt ubi non est odium, sperant ubi non est spes, gaudent, ubi non est gaudium, dolent ubi non est dolor.“46

Alle Affekte werden gewissermaßen einer theozentrischen Konzentration unterworfen. In diesem Sinne gibt es jeweils einen richtigen, nämlich auf Gott hingeordneten Affekt, und einen falschen, ungeordneten. Was für die Affekte allgemein gilt, ist im Besonderen von der Furcht zu sagen, die Augustin mit der Liebe zusammen in einen besonderen Rang erhebt. Die Unterscheidung von rechter und falscher Furcht ist quasi das umgekehrte Pendant der doppelten Liebe (amor sui und amor Dei). So kann Luther zu Ps 111 ausführen: „Sicut Beatus est et Vir, qui timet Dominum, Ita miser est et puer, qui timet servum. Nam ista est differentia timoris, Quod illi timent timore filiali et amicabili, qualiter timet amicus amicum offendere, aut filius patrem, qui timor prerequirit eximiam Charitatem et amicitiam, Que est causa huius timoris. Et hunc timorem lex non habuit, Sed spiritus timoris dedit illum.“ 47

In diesem Sinne wird auch die Ausrichtung von spes mit der des timor parallelisiert. So führt Luther im Scholion zu Ps 55 aus: „Cur non timet? quia in Deo sperat.“48 Die Ausrichtung der Affekte bestimmt, wovon der Mensch bewegt ist. Wo die Hoffnung und die Liebe auf Gott gerichtet sind, da ist auch die Furcht allein auf Gott bezogen, da ist aller timor mundanus überwunden. Wo dagegen die Furcht regiert, ist auch die Liebe nicht auf Gott ausgerichtet. 49 Ist in einem ersten Schritt die Bedeutung der Ausrichtung auf Gott in Verbindung mit der Liebe zu betonen, so ist nun danach zu fragen, welche besondere Funktion der Affekt der Furcht in diesem Zusammenhang erhält. Eindringlich wird die Zusammengehörigkeit von Liebe und Furcht in der Auslegung von Ps 119,16750 entfaltet. Das Zeugnis, das die Seele von Gott festhalte, wird wie häufig mit Verweis auf Ps 51,6 auf das Sündersein des Menschen und die Rechtfertigung durch die fides Christi bezogen. Dieses Zeugnis aber halte allein der Wille fest. Festzuhalten aber vermag der Wille nur dann etwas, wenn er durch starke Liebe bestimmt sei. Die Furcht sei also als Folge der Liebe zu sehen, durch welche sie das Zeugnis umso fester halten könne; denn die Liebe liebe nicht nur das Geliebte, sondern 46 47

WA 55/II 866,20-23. WA 55/II 865,12-17. Die Rede vom spiritus timoris nimmt dabei das klassische Motiv von Jes 11,1 auf. 48 WA 55/II 292,47. 49 „Ideo timemus, nequid noceat homo. Hic autem, qui in Deo sperat, non potest timere nisi Deum. Ubicunque enim est spes, ibi et timor et amor et odium et gaudium et tristitia.“ (WA 55/II 292,63-65) 50 WA 55/II 1006,3335-1007,3359.

4.2 Dictata super Psalterium

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fürchte auch um dessen Verlust.51 Und wogegen schützt die Furcht der Liebe vor dem Verlust des Geliebten? So wie die Vögel des Himmels im Gleichnis Jesu vom vierfachen Acker die Körner wegpickten, so sei die Seele gefährdet, das Wort Gottes unter dem Ansturm vielfältiger Gedanken und Einbildungen zu verlieren. Gleichsam unbewaffnet werde des Menschen Bewusstsein besetzt und er falle in viele Sünden. Die Furcht der Liebe sei demgegenüber die Bewaffnung der Liebe, der Schutzturm der Seele. Die furchtsame Besorgnis als Frucht der starken Liebe lasse die Seele das Wort nicht aus dem Bewusstsein verlieren. Ohne solche Furcht vermöchte die Seele den einströmenden Gedanken nicht zu widerstehen. 52 Daher gehörten Liebe und Furcht zusammen: „amor et timor sunt necessarii.“53 Die Furcht wird dabei als eine Frucht der Liebe verstanden, die zugleich notwendiges Element der starken Liebe ist. Durch Furcht ist die Liebe nicht blind, sondern aufmerksam für Gefahren. Liebe und Furcht wachsen hierin miteinander, weil sie sich in der Bindung an das Geliebte unterstützen. Die Würdigung eines solchen timor Dei, wie er in der Tradition vorgegeben ist als Anfang der Weisheit (Spr 1,7), als heilige Furcht, die ewig bleibt (Ps 19,10), vollzieht Luther mit durchaus traditionellen Denkmitteln nach, wie sie in der augustinischen Tradition und in ihrer mittelalterlichen Weiterentwicklung vorgezeichnet waren. b) timor und odium. Nach dem Lobpreis der Furcht erfolgt in P I der Einwand: Wie kann Furcht gut sein, wenn sie doch erfahrungsgemäß zum Hass führt? Diese Ambivalenz der Furcht erläutert Luther durch die Unterscheidung von timor und horror. Das Verständnis des timor servilis in den Dictata soll in der Darstellung der vier Stufen der Furcht ausführlich entfaltet werden. Hier geht es vorrangig um das Verhältnis von Furcht/Schrecken und Hass und um die grundsätzliche Zugehörigkeit solcher Furcht zum Unglauben. Luther kann in durchaus unterschiedlicher Weise von horror reden. Anders als timor steht horror für das Moment des Plötzlichen sowie für affektive Intensität der Angsterfahrung. Horror kann auch für das berechtigte Erschrecken der Gerechten verwandt werden. Der Untergang der Juden sei ein Beispiel des Zornes Gottes, vor dem man erschrecke. 54 Überhaupt sei

51

„Sola Voluntas, sine ferro, armis, turribus hec custodire potest. Quod tamen non facit, nisi diligat ea vehementer. Amor enim timet amato et sollicitus est“. (WA 55/II 1007,3343-3345) 52 „Quare nisi diligat ea vehementer, sitque ibi Amor, qui sollicitus est et timoratus, non diu custodiet ea. Timor enim turris est fortissima custodie, qui solus satis administrat arma contra volucres celi“. (WA 55/II 1007,3354-3357) 53 WA 55/II 1007,3359. 54 WA 55/II 278,48-54. Auch WA 55/II 681,45-682,51.

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der Gedanke an die Strafe Gottes erschreckend55, vor allem die Erwartung des Gerichtes Gottes.56 In einer Anleitung zu einer Bußmeditation gibt Luther die Anweisung, sich in den Gedanken eines von plötzlichem Tod bedrohten Menschen hineinzuversetzen: dies würde Schrecken über Schrecken57 bedeuten. Vielfach hat das Stichwort horror bei Luther den Akzent, dass es den heftigen, ungeordneten Ausbruch von Furcht beim Gottlosen beschreibt. Normalerweise gilt, dass die bona geliebt und die mala gefürchtet werden. Für den Gläubigen dagegen seien auch die Übel Güter, weil sie ihm nützen könnten. In Mt 10,28 zeige sich, dass der Gläubige die Übel nicht fürchten müsse, da sie lediglich weltlich und zeitlich seien. 58 Daher sei es die höchste Weisheit59, vor den Übeln nicht zu erschrecken wie die Gottlosen. Dass die Gottlosen dies täten, sei Erfahrungstatsache: „Experientia enim docet quam horribiliter tremant Impii et mali in fulmine, peste aut alia mortis necessitate, quando tamen Iusti securi et quieti omnia sustinent.“60 Darum kann Luther die Furchtlosigkeit des Gerechten immer wieder mit dem Erschrecken des Gottlosen kontrastieren: Den Gerechten ist das Wort Christi mild und süß, den Gottlosen dagegen erschreckend.61 Die Gottlosen erschrecken vor dem Kreuz62, sie fürchten das, was für die Gerechten Güter sind.63 In diesem Zurückschrecken vor dem, was ihnen in letzter Konsequenz Gott zukommen lässt, erschrecken sie eigentlich vor dem Angesicht Gottes.64 Daher kann horror auch in unterschiedlichen Wendungen im Gegensatz zum Glauben verwandt werden. Die Gott nicht fürchten, fallen in Schrecken angesichts des Verlusts irdischer Güter.65 Schrecken und Flucht gehören zusammen: „horrent et fugiunt, Quia non credunt“66. Glauben wird demgegenüber als ein „Bleiben“ verstanden. Im Glauben vermag der Gerechte die Übel als Erziehungsmaßnahme Gottes zu verstehen und anzu55 „Horribile est cogitare, Quod divina maiestas habet intentum et adversum ‚vultum super facientes mala‘“. (WA 55/II 195,112-114) Darum ist Ps 33,17 ein „verbum terribile“. (WA 55/II 195,107) 56 WA 55/II 275,206-207. Vgl. auch WA 55/II 437,118 57 „Horrorem super horrorem“. (WA 55/II 403,594) 58 WA 55/II 258,39. 59 WA 55/II 259,60. 60 WA 55/II 566,939-942. 61 WA 55/I 627,8ff. Vgl. auch WA 55/II 907,475. 62 WA 55/I 874,16-18. 63 WA 55/II 992,2919f. Vgl. auch 1026,32-33. 64 WA 55/II 783,115-116. 65 „Timentes enim ubi non est timor, horrent paupertatem, afflictionem, contemptum populi fidelis in mundo sicut Amici Iob.“ (WA 55/II 943,1475-1477) Frei von Furcht sind dagegen alle, „qui solum deum timent“. (Ebd.) 66 WA 55/II 844,139-140.

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nehmen. Für die Gläubigen gilt daher: „ideo non debemus horrere calicem“67. Im Glauben kann gedankt werden auch für den Kelch des Leidens. Der Gottlose hingegen ist dazu nicht in der Lage. Daher ist sein Schrecken auch ein Zurückschrecken (abhorrere) von dem, was ihm zum Heil dienen sollte: „Crucem enim et passiones Christi abhorrent“68. Darum kann Furcht gegen Furcht gestellt werden; timor gegen horror, Furcht vor Gott gegen die Furcht vor der Welt. Denn der Schrecken vor Gott ist die Strafe der Übeltäter. Wer dagegen Gott recht fürchtet mit einer mit Liebe verbundenen Furcht, der überwindet allen horror und terror, alle Furcht vor weltlichen Übeln. Ausführlich entfaltet Luther diesen Gedanken im Scholion zu Ps 119,161. Das Wort Gottes erwecke Furcht: „Magnus verbum est, Magnus et metuendus Sonus dicere: ‚Ecce verbum Dei‘“ 69. Wo das Wort Gottes mit Furcht vernommen werde, da verliere jede äußere Bedrohung ihren Schrecken.70 Das Wortfeld von terror kann ähnlich verwendet werden. Beide Formen des Schreckens können zusammengestellt werden.71 Gott erschrecke durch seine Strafen die Gottlosen.72 Die Androhung des Zornes Gottes sei ein „verbum terribile“73. Das Gericht Gottes ist ein „terrificum Dei Iudicium“74. Auch mit diesem Wort ist ein Erschrecken bezeichnet, das dazu führt, dass man fliehen will. Auch hier ist fides ein Gegenbegriff: Glaube

67 68

WA 55/II 844,145-146. WA 55/II 737,210-211. Natürlich kann horror auch unspezifisch für das Zurückschrecken des Gerechten vor dem, was ihn aus seiner Gottesgemeinschaft treiben möchte, stehen. Die Gerechten erschrecken etwa vor der Sünde (WA 55/II 651,184) bzw. vor dem Fleisch (WA 55/II 781,70). Auch der Gedanke an die ewig bleibenden Strafen der Gottlosen erschreckt (WA 55/II 518,331-333). Dieser Gedanke begegnet schon in der frühen Erfurter Predigt (WA 4 595-604). Angesichts der drohenden Strafe ist die Seele erschrocken, weil sie nicht vor sich selbst zu fliehen vermag: „animus nec a se potest fugere: et tamen non potest se non horrere.“ (WA 4 604,29-30). In diesen Zusammenhängen ist horror selbstverständliche Erscheinung des rechten timor, der in der Gottesverbundenheit bewahrt. 69 WA 55/II 995,3001-3002. 70 „Beati qui audiunt verbum Dei, verbum tante maiestatis, que omnia nutu tenet, facit et finit. Sola hic fides deficit plena: que ubi fuerit, plenum facit timorem et tremorem ad verba dei, ita ut sit solius fidei atque huius robustissime hec felix iactantia. Principes quidem, qui tamen sunt potentes, minaces, terribiles atque plus quam ceteri formidandi, ipsi non tantum minis egerunt ut timerem, sed opere persecuti sunt, terrorem omnem ostenderunt; et ecce non tamen timui, sed a verbis tuis potius formidavi, ut vincerem illorum timorem.“ (WA 55/II 995,3002-3010) Vgl. auch zum Verhältnis von Furcht und Wort Gottes in den Adnotationes Quicuplici Psalterio adscriptae, WA 4 511,12. 71 „Vehementer terrentur et horrent“. (WA 55/II 521,420) 72 „Deus enim in hac Vita punit Impios, ut ceteros Impios terreat“. (WA 55/I 432,25) 73 WA 55/I 302,24. 74 WA 55/II 275,207.

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Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung

bedeutet bleiben.75 Solche Schrecken sollen zur Buße treiben: „Terrefacti ad salutem et penitentiam“76. Fazit: Die Affekte werden bei Luther nicht als psychologische Potenzen, sondern als Erfahrungsraum thematisiert. In selbstständiger Aufnahme des scholastischen Erbes unterstellt Luther die Affekte den antithetischen Bestimmungen des Gottesverhältnisses. Die Bewegungsrichtung der Affekte und ihre Funktion sind für ihn entscheidend. Das Problem der Bewegungsrichtung ist dabei die Schlüsselfrage im Furchtproblem. Wenn der timor von der Liebe bestimmt wird, ist es gute Furcht. Wenn der timor nicht von amor bewegt wird, führt er zu odium. Die Bestimmung durch spiritus und caro steht hinter dieser Alternative. 77 In der Ausrichtung auf das Irdische bzw. das Himmlische zeigt sich diese alternative Grundbestimmung des Menschen. In der Furcht kommen somit die höchsten und die schlimmsten Möglichkeiten des Lebens zum Austragen. Die Furcht kann den Menschen in der Gottesgemeinschaft bewahren (timor als fructus amoris) und sie kann ihn in die Verzweiflung der Gottesferne treiben (als timor, horror bzw. terror des Gottlosen). 4.2.3 Kritik der Sicherheit Mit corollarium quartum beginnt Luther einen neuen Abschnitt von P I, in dem im Blick auf die empirische Lebenswirklichkeit 78 vier Gruppen von Menschen unterschieden werden. An erster Stelle entfaltet Luther nun eine Kritik religiöser Furchtlosigkeit. Dieses Problem wird nicht nur innerhalb der ersten Gruppe angesprochen, sondern auch in der zweiten und dritten

75 „Impatientia est velle fugere a facie persecutionis. Sed contra hanc Deus tradit ‚in laqueum‘, ut non possimus, aut certe, ut nos doceat non debere velle fugere.“ (WA 55/II 351,77-79) 76 WA 55/I 460,13. Anders als beim Wortfeld horror ist bei terror jedoch auch die Möglichkeit gegeben, die positive Dimension des Furchtaffekts zur Sprache zu bringen: „Sancti autem terrentur et admirantur“. (WA 55/II 379,654) So kann ausdrücklich der timor domini positiv mit dem Stichwort des Schreckens zusammengebracht werden: „timor domini, qui est ex terrore nominis eius.“ (WA 55/I 742,17-18) Vgl. dort schon zuvor: „iste terror bonus est, non nocens, quia Initium sapientiae“. (WA 55/I 742,16-17) Der Grund dürfte sein, dass terror schon in der Vulgata in Psalmenübersetzungen positiv belegt ist. Daher gibt es auch einen terror reverentialis (WA 55/I 862,13). Das Erschrecken vor der Majestät Gottes steht im Zusammenhang der Anerkennung der Hoheit Gottes. (WA 55/I 808, Anm. 145, Z. 3-5) Eine so erschrockene Seele flieht die Sünden. (WA 55/II 624,335-336) 77 SCHWARZ, Fides, S. 83; M ETZGER , S. 97. 78 „In hac vita“. (WA 4 662,14 und 662,16)

4.2 Dictata super Psalterium

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Gruppe noch einmal thematisiert.79 Dabei wird dieses Phänomen vor allem in zweierlei Hinsicht zum Thema: theologisch vor dem Hintergrund einer vertieften Sündenlehre und zeitkritisch als gefährlichste Versuchung der gegenwärtigen Christenheit. Eine solche Kritik religiöser Sicherheit ist in den Dictata ein immer wiederkehrendes Thema. Als entscheidend erweist sich dabei der enge Zusammenhang mit der Sündenlehre, wie diese sich aus den zunehmend greifbaren paulinischen Einflüssen auf sein Denken entwickelt. So entfaltet Luther eine Kritik der Heuchler im Anschluss an den Römerbrief in der Auslegung von Ps 31 (32). Die Seligpreisung von V. 1 richte sich vor allem gegen die Heuchler, die Vergebung nicht zu brauchen meinen. 80 Denn wenn niemand selig sei als allein der, dem die Sünden vergeben seien, dann gebe es keinen, der nicht Sünder und Kind des Zorns sei. Dies sei das ganze Ergebnis des Römerbriefes des Paulus, wo dieser in Röm 1,17 und 18 zeige, dass der Zorn Gottes universal allen Menschen gelte und allein das Evangelium dies mit Verweis auf die Erlösung durch Christus offenbare. Gegen die theologische Tradition, die die Erbsünde in der Taufe überwunden sein ließ, lässt Luther sie hier schon als „primum et caput omnium“ 81 erscheinen. Diese Einsicht hängt aber nun an einer ganz bestimmten affektiven Disposition: Nur das geängstigte Gewissen könne dies erfahren.82 Es sei falsche Furchtlosigkeit und damit Sicherheit, welche die ganze Welt diesen Grundsatz des Paulus ignorieren lässt: „nullus iustus fieri ex se potest.“83 Diese Sicherheit geht nach Luther mit einer spezifischen Blindheit einher, nämlich der Blindheit gegenüber der Macht der Sünde. Darin zeigt sich eine dialektische Verschränkung von Selbst- und Gotteserkenntnis: Niemand kommt zur Gotteserkenntnis, der nicht zuvor gedemütigt wurde und zur Selbsterkenntnis gekommen ist, denn damit hat er zur gleichen Zeit auch Gotteserkenntnis erlangt. 84 Diese vollzieht sich in Selbstdemütigung, in der Anerkenntnis der Sünde. Umgekehrt gilt, dass 79 WA 4 662,18-26, 662,35-663,15 und 663,23-34. Schon im ersten Teil von P I wurde die rechte Furcht der falschen Sicherheit gegenübergestellt: „Etiamsi mortuos suscites et id securus agas, iam bona non facis.“ (WA 4 659,19-20) Daher später: Das Handeln „sine Dei timore“ entspricht einem Handeln „secure et per hoc superbe.“ (WA 4 659,27) 80 WA 55/II 176,1ff. 81 WA 55/II 177,41. 82 „Et ideo rugit, quia sentit et timet vindictam et manum Dei. Non enim ista orat, nisi qui tumultum conscientie sentit.“ (WA 55/II 178,64-65) Für diese erkenntnistheoretische Bedeutung vgl. die Kritik an den Hochmütigen, die sich nicht als Sünder bekennen wollen, obwohl das Herz dies fühlt. „Facto enim negat se esse peccatorem, vel saltem tepido corde sentit illud.“ (WA 55/II 205,13) 83 WA 55/II 178,70. 84 „Nemo pervenit ad divinitatis cognitionem, nisi qui prius humiliatus fuerit et in sui cognitionem descenderit, simul enim ibi et Dei cognitionem invenit.“ (WA 55/II 137,811)

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die rechte Gotteserkenntnis in Gottesfurcht auch Selbsterkenntnis einschließt. „Verum qui te timent, ipsi scient.“85 Hermeneutisch wird daher die Furcht zur Geltung gebracht als wesentliche Verstehensvoraussetzung des Wortes Gottes. Schon in den Adnotationes zu Faber Stapulensis betonte Luther, dass es ohne Furcht kein Verständnis der Schrift geben könne.86 Daher seien allein solche, die den Herrn fürchten, würdig, das Wort Gottes zu hören87; denn nur sie könnten es auch verstehen.88 Die Furcht mache den Menschen empfänglich für die Erkenntnis seiner selbst als Sünder. Allein in der furchtsamen affektiven Gestimmtheit realisiere der Mensch seine Situation wahrheitsgemäß. In seinem „trepida conscientia“89 erkenne sich der Mensch als Sünder und fürchte sich. Nur im Hochmut verweigere sich der Mensch seiner Sündenerkenntnis.90 Geistliche Sicherheit ist daher für Luther eine religiöse Selbstimmunisierung gegen die Wahrheit.91 Da die religiöse Sicherheit nur als Sünde zu verstehen ist, ist sie auch die eigentliche und schwerste Versuchung (tentatio) der Gegenwart. Besonders intensiv entfaltet Luther dieses Thema in der Auslegung von Ps 68. Als Thema dieses Psalms beschreibt Luther sowohl das Leiden des Herrn als auch das Leiden der Kirche. 92 Nachdem dieses Leiden sich zuerst in der Verfolgung in der Zeit der Märtyrer zeigte und sodann in den Auseinandersetzungen mit den Häretikern, zeige es sich gegenwärtig in einer anderen Gestalt: als „pax et securitas“93. Allgegenwärtig sei der Eindruck, genug zu tun, das Bestreben, den Weg zum Himmel zu erleichtern, etwa durch Ablässe [!] und „billige“ Lehren. Denn der Teufel sei nicht abwesend, wie viele zu meinen scheinen, sondern verfolge sie gerade so, indem er durch Frieden und Sicherheit die Furcht Gottes nimmt. „Et hec omnia 85 86

WA 55/II 783,6-7 (Randglosse). Im Anschluss an das vielfache „initium sapientie timor domini“ (Ps 111,10) heißt es in den Adnotationes hermeneutisch zugespitzt: „Scripturam sanctam nullus perfecte intelligit, nisi qui timet Dominum.“ (WA 4 519,1-2) 87 „Hi soli digni sunt et apti, ut audiant et eis narretur“. (WA 55/I 472,5-6) 88 Vgl. WA 55/II 353,146f. und 354,170. 89 WA 55/II 167,22. 90 WA 55/II 471,219ff. 91 Vgl. etwa auch die Auslegung des heiligen Gottesnamens in Ps 111: „Sanctum et terribile nomen eius.“ (WA 55/II 863,329f.) Daraus folgt: „per terrorem enim sanctificat credentes in illud.“ (WA 55/II 863,332) Solchen Schrecken vermag freilich nur der Heilige zu empfinden, nicht der Gottlose: „Hinc enim Impius est insensibilis ad timorem Dei“. (WA 55/II 864,336-337.) 92 Luther greift mit dieser Typologie eine Auslegung von Bernhard von Clairvaux auf. Dieser hatte in serm. in cant. 33,16 die drei Stufen der Verfolgung beschrieben, vgl. WA 55/II 383,5ff., vor allem 384,40f. und 389,166ff. Vgl. zu Luthers Bernhardrezeption an dieser Stelle: B ELL, S. 45-54. 93 WA 55/II 384,13.

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veniunt, quia sine timore dei sumus“94. Darin zeige sich heute die eigentliche Anfechtung bzw. Versuchung der Kirche, derer sie sich zu erwehren habe: „Nulla enim pugna hodie tam est necessaria quam contra pacem, securitatem, accidiam et tepiditatem.“95 Furcht und Sicherheit werden von Luther durchgängig zum Gegensatzpaar ausgebildet. Nicht nur mache uns der Frieden heute mehr zu schaffen als einstmals das Schwert, schlimmer sei auch die Sicherheit als die Angst.96 So führt Luther im Scholion zu Ps 68,3 aus, dass es für die Kirche keine schlimmere Gefährdung gibt als die Atmosphäre der Sicherheit; die Furcht sei unverzichtbar, um dem Übel der Sicherheit zu entgehen.97 Gerade darin bestünde in der Gegenwart die eigentliche Verfolgung der Kirche durch den Teufel: dass es keine gibt. „Nihil salvum ubi omnia salva, Nihil ita egrum quam per omnia sanum, Nulla tentatio omnis tentatio, nulla persecutio tota persecutio. Sic enim diabolus nunc Ecclesiam impugnat maxima persecutione: quia scil. nulla persecutione, sed securitate et ocio.“98

Luther konkretisiert diese Kritik auch auf die Schlüsselsituationen des geistlichen Lebensvollzuges bezogen, wie etwa den priesterlichen Dienst in der Messe. Niemand sei weniger geeignet Gott zu dienen, als wer sich in Sicherheit wiege. „Nemo ullo modo accedat sacerdos ad altare, nisi multis tribulationibus sit onustus et multis miseriis refertus.“99 Denn es seien pax et securitas, die uns daran hinderten, unser eigenes Elend vor Gott zu erkennen. Wem aber die Erkenntnis für die Größe unseres Elends fehle, der könne auch die Größe der Barmherzigkeit Gottes nicht einsehen. Auch hier erweist sich die Selbsterkenntnis als unbedingte Voraussetzung der Gotteserkenntnis. 100 Daher sei es unsere Aufgabe, unsere Sünde groß zu machen, uns anzuklagen und zu verdammen. Dies allein bedeute, mit Hiob alle seine Werke zu fürchten. Die Furcht Gottes wird insofern zum Gegensatz aller falschen Sicherheit: „Nam qui sibi complacet, non potest in timore Dei stare et sine presumptione esse.“101 Im absoluten Sinne verwandt wird 94 95 96

WA 55/II 384,38. WA 55/II 385,45-46. „Quia plus pax nunc Impugnat quam olim gladius, plus vestitus quam nuditas, plus Esca quam fames, plus securitas quam angustia.“ (WA 55/II 385,61-62). 97 „Ideoque Timore opus est, qui hunc temporem excitet et excutiat somnum, Scil ut cogitemus et estimemus. Quia securitas omni adversitate peior et terribilior est.“ (WA 55/II 394,299-301) 98 WA 55/II 394,311-314. 99 WA 55/II 400,487-489. 100 „Nam non est possibile misericordiam Dei magnificare et bonificare, nisi Quis magnificet et malificet prius miserias suas vel eas tales agnoscat.“ (WA 55/II 400,492494) 101 WA 55/II 401,504-505. Anschließend entfaltet Luther die große Bußmeditation, die im Kapitel zur Höllenfurcht (4.2.5.2) noch zu würdigen sein wird.

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sie Inbegriff aller Frömmigkeit, aller geistlichen Selbsterkenntnis und darin Voraussetzung aller wahrhaftigen Gotteserkenntnis. Darum gebe es nichts Schlimmeres als Mangel solcher Furcht: „Esse autem sine timore quid peius?“102 Die Versuchung zu religiöser Sicherheit könne verschiedene Gestalten annehmen, wie Luther zu Ps 70 entwickelt. Eine selbstgewisse Haltung der Sicherheit103 könne in der Seelsorge begegnen. Er selbst sei diesem Phänomen in zweierlei Hinsicht begegnet und halte es für das größte Elend und den Untergang der Kirche.104 Luther schildert ein Beispiel einer solchen seelsorgerlichen Trostrede, wie er sie als letzte und schlimmste Versuchung empfindet: „Ultimo et maxime periculosa tentatio cogitationum de securitate dicentium mihi: Vah! quid adeo sollicitus es? non est necesse; iam enim humilis es et paciens. Putas, quod Deus ita stricte de te requirat? Ipse scit figmentum tuum, ipse bonus est. Unus gemitus eum placat. Putas, si nullus salvus fieret, nisi qui ita rigide procederet; Ubi tota ista multitudo, in qua nullam violentiam vides? Absit, ut omnes pereant; discretionem oportet servare etc.“105

Diese anschauliche Schilderung seelsorgerlicher Beratung zeigt nach Luther, wie weit es die Verführung zur Sicherheit in der Kirche schon gebracht habe. Die Betroffenheit über die eigene Sünde würde als übertriebene Besorgnis abgewehrt, als sei der Mensch schon demütig und geduldig genug. Überstrenge Selbsterforschung sei nicht nötig, Gott sei doch gütig, ein Seufzer genüge zur Erlangung seiner Gnade; denn wie solle sonst die Menge der Menschen gerettet werden, die auch keine übermäßige Gewalt gegen sich anwende? Die Normativität des Faktischen rechtfertigt in solcher Logik das Minimalisierungsprogramm geistlicher Ansprüche. In seiner Kritik an der religiösen Sicherheit erweist sich Luther auf die grundlegenden Formen der Bußfrömmigkeit seiner Zeit bezogen. Man wird recht präzise sagen können, gegen welche geistliche Einstellung sich Lu102 103 104

WA 55/II 401,505. „Hi in securitate et pace perambulantes“. (WA 55/II 419,75) „Qui non credit tales nunc abundare, Experiatur. Ego in utroque statu ita expertus sum, ut hanc unicam maximam semper putaverim Ecclesie ruinam et miseriam.“ ( WA 55/II 419,77-79) Worauf bezieht sich diese doppelte Hinsicht, in der Luther dies erfahren haben will? Vermutlich reflektiert Luther hier auf der einen Seite eigene Erfahrungen als Seelsorger, dem von Laien die Ablehnung des Wortes Gottes begegnet sein mag: „Et vulgus quoque saltem facto irridet verbum Dei.“ (WA 55/II 419,79-80) Auf der anderen Seite wird man an seine Erfahrungen als Beichtender denken können, wo er kein Verständnis für seine Angefochtenheit fand, siehe oben die Fortsetzung! Auch ein Nachklang seiner römischen Eindrücke mag mitspielen, wo ihn die Nachlässigkeit in Glaubensdingen erschreckte. Er hörte, „wie etliche messe hilten und uber den brod und wein sprechen: Panis es et panis manebis“. (WAT 3 313,4-5 Nr. 3428) 105 WA 55/II 423,202-208.

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ther hier ausspricht. Ein konsequenter Attritionismus, wie vor allem Johannes von Paltz ihn in seinen Coelifodina vertreten hat, wird an dieser Stelle entschieden angegriffen. Paltz war noch in Erfurt, als Luther ins Kloster eingetreten ist. Auch wenn Paltz wohl im Zorn von Erfurt geschieden ist 106, kann es nicht zweifelhaft sein, dass seine Predigtweise nachdrücklich Spuren in Erfurter Frömmigkeit und Seelsorgepraxis hinterlassen hat.107 Luther hat Seelsorge in Sinne eines solchen konsequenten Attritionismus erfahren und verwirft sie im Nachhinein auf das Entschiedenste. Solche Beschwichtigung mit Hinweis auf Gottes Güte war für Luther kein Trost, sondern erschien ihm als gefährliche Versuchung, die von der Furcht Gott abziehe: „Et ita paulatim obliviscur misera anima timorem domini.“108 Im Kontext der Trostmöglichkeiten seiner Zeit zeichnet sich Luther durch entschiedene Ablehnung eines solchen Attritionismus aus. Luther reagiert in keiner Weise positiv auf eine Seelsorge, die sich um Beschwichtigung, Entlastung und Angstminderung bemüht. In der Ablehnung dieser Prägung ist Luther beeinflusst vom Reformeifer, wie er sich in der Devotio moderna und in den diversen Reformkongregationen ausspricht. Auf der anderen Seite ist Luther nun aber auch nicht einem radikalen Kontritionismus im Sinne Biels zuzurechnen. Mit diesem teilt er wohl die Strenge der Anforderung, aber gerade nicht den Optimismus hinsichtlich der Erfüllbarkeit dieses Ideals. Darum stellt er von Anfang an die Kritik der Sicherheit in den Horizont einer verschärften Sündenlehre. Dabei wird auch der erhebliche erkenntnistheoretische Aspekt der Furcht deutlich. Nur in der Furcht vermag sich der Mensch recht zu erkennen, nur in dieser affektiven Gestimmtheit wird wahrhaft erfahren, was Sünde ist. Im Widerstand gegen dies Offenbarwerden der Sünde erweist sich die Sicherheit als Sündenblindheit. Als solche äußert sie sich in der falschen Verdrängung der Anfechtung, ohne die der Glaube nicht sein kann. Diese existenzielle Dimension des Glaubens ist der Prüfstein, an dem dessen Wahrheit offenbar wird. Schon in den Dictata ist Luthers Kritik der Sicherheit von der These der dogmatischen Heilsungewissheit seit Gregor deutlich unterschieden. 109 Grundsätzlich ist zu sagen, dass Luther nicht pädagogisch, sondern hamartiologisch argumentiert. Die Ungewissheit hat keinen pädagogischen Nutzen; sie dient nicht der Steigerung religiöser Bemühung, sondern der Einsicht in die Aussichtslosigkeit einer solchen Strategie. 106 107 108 109

Vgl. WAB 1 25,10. Vgl. zu Paltz vor allem HAMM, Frömmigkeitstheologie. WA 55/II 423,208-209. Schon von daher wird man P INOMAA widersprechen müssen, wenn er über Dictata/P I sagt, in der „Furchtlehre erweist Luther sich also als ein treuer Hüter der katholischen Lehrtradition.“ (PINOMAA, Charakter, S. 70)

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Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung

Auch spielt der locus classicus der Ungewissheitsdoktrin, Eccl 9,1, bei Luther keine Rolle. Offensichtlich ist jedoch auch, dass Luther zum Thema der Heilssicherheit noch keine entwickelte Position vertritt. Diese Frage wird uns im Zusammenhang der Römerbriefvorlesung und schließlich während des Ablassstreites wieder beschäftigen. 4.2.4 Furcht vor Strafe als falsche Motivation (Kritik des timor servilis) In P I wird die kritische Betrachtung des timor servilis relativ knapp darauf konzentriert, dass es sich um ein unzureichendes Motiv des Gehorsams handelt, da der Mensch nur so lange vom Bösen lasse, wie die Strafe währt. In den Dictata ist die Kritik des timor servilis breit ausgeführt. Dabei lassen sich drei Gesichtspunkte unterscheiden: a) die falsche Ausrichtung auf das Zeitliche und somit die Herkunft dieser Furcht aus dem amor sui; b) die Kritik der falschen Furcht im Kontext eines paulinischen Gesetzesverständnis und schließlich c) die Erfahrung einer Dynamik der Verzweiflung, wenn der timor servilis zum handlungsbestimmenden Motiv wird. a) Besondere Bedeutung kommt zunächst der Auslegung von Ps 78 zu. Hier wird die Furcht vor der Strafe entfaltet, wie sie der zweiten Stufe in Luthers Predigt direkt entspricht. Luther deutet die Beschreibung der Strafen Gottes (Ps 78,34-37) auf diejenigen, die Gott mit timor servilis fürchten. Nur solange die äußere Strafe währt, werde Gott gesucht: „I[d] e[st] timore servili deum colunt. Quamdiu puniuntur, querunt eunt: sed cum cessat penam, obliviscuntur.“ 110 Ausführlich entfaltet Luther: Hier wird Gott nur um der Gaben willen geliebt und nicht als Geber. Hier werden die Strafen gefürchtet und nicht derjenige, der sie auferlegt. Hier wird Gott nicht willig und spontan geliebt, sondern nur gezwungen. Hier fehlt die eigentliche geistliche Liebe zu Gott. Stattdessen gilt: „cor eius non est rectum cum eo, sed Curvum ad seipsum.“ 111 Luther bezieht sich in diesem Abschnitt auch ausdrücklich auf Augustin. Die Gegensätze lassen sich vielfach auf Augustin zurückführen, so z. B. der Gegensatz von falscher und richtiger Liebe, von himmlischer und irdischer Ausrichtung, die Ausdrücke uti und frui etc. Es ist die falsche Grundbestimmung, unter der der timor servilis hier gesehen wird. In der Auslegung von Ps 78 stellt Luther aber dem nun eine andere Art von Furcht gegenüber, nämlich den timor gehennae. 112 b) Die Motive der Timorkritik im Horizont des Gesetzes sind zunächst gebündelt zu greifen in den Glossen zu Ps 50,15. Schon in der Glosse er110 111 112

WA 55/II 564,895-897. WA 55/II 565,915. WA 55/II 565,920ff.

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läutert Luther zu „et spiritu principali“, dass es um einen freien und nicht um einen geknechteten Geist wie unter dem Gesetz geht: „spiritu ‚liberali‘, non servili sicut lex“113. Dieser Gegensatz von Gesetz und Freiheit wird in einer Randglosse weiter ausgeführt. Dabei weist Luther ausdrücklich darauf hin, dass es die Angst ist, die den Geist unter dem Gesetz zu einem geknechteten macht: „Spiritus iste ‚principalis‘ dicitur contra spiritum servilem, qui est spiritus timoris et violenter sanctificat“114. Auf diesen knechtischen Geist der Furcht wird daher der Gedanke der klassischen Furchtstellen Ps 18,10 und 1 Joh 4,18 übertragen. Von diesem Geist der Furcht gilt: „non permanet.“115 Luther beruft sich dabei auf das hebräische Nadib in seiner Bedeutung von „frei und willig“: „significat principem vel spontaneum et liberalem et beneficum et voluntarium“116. Damit stünde dieser Geist in einem Gegensatz zum unwilligen und gezwungenen Verhalten unter einem knechtischen Geist.117 Schließlich identifiziert Luther ausdrücklich den spiritus principalis mit dem paulinischen Geist der Freiheit (2 Kor 3,17): „Igitur hunc ‚spiritum principalem‘ appellat Apostolus ubique fere ‚spiritum libertatis‘, quia facit liberaliter et liberales servos Christi.“118 Es zeigt sich, dass Paulus durch das Zitat von Ps 50,6 im Römerbrief (3,4) in Luthers Bemühen um das Verständnis des Psalms allgegenwärtig ist. Immer wieder wird die Auslegung des Apostels in Röm 3 angesprochen.119 Diesen Psalm als Beispiel einer vollkommenen Buße120 sucht sich Luther mittels paulinischer Unterscheidungen und Kategorien zu erschließen. Die wahre Buße wird in einen Gegensatz gebracht zu einer vom Gesetz erzwungenen, unfreien wie unwilligen, weil von Angst bestimmter Umkehr. Diese Kritik eines timor legis ist es, die in der Bearbeitung des timor servilis immer wieder durchschlagen wird. Unverkennbar ist der Einfluss paulinischen Denkens, wenn der Gläubige als einer beschrieben wird: „qui in fide et spiritu est, ipse ex corde et libertate et hilaritate deo servit et vias eius ambulat.“ 121 Augustin konnte das Ideal geistbestimmten Handelns in De spiritu et littera ähnlich bestimmen. Vor allem bei Bernhard von Clairvaux wurde dieser Ton deut113 114 115 116 117

WA 55/I 398,19. WA 55/I 398, Anm. 8, Z. 1-2. WA 55/I 398, Anm. 8, Z. 2. WA 55/I 398, Anm. 8, Z. 4-5. „Que omnia sunt contraria servili conditioni, quia non voluntarie et liberaliter et benefice facit, Sed coacte, Invite et maligniter etc.“ (WA 55/I 398, Anm. 8, Z. 5-7) 118 WA 55/I 398, Anm. 8, Z. 7-9. 119 Vgl. die ausdrücklichen Erwähnungen in den Glossen WA 55/I 395, Anm. 1 Z. 4f.; 396, Anm.3, Z. 5f. und Anm. 4; 398, Anm. 8, Z. 8. 120 Vgl. die Psalmüberschrift: „Optima penitencium et confiteri volentium eruditio et exemplum.“ (WA 55/I 394,10-11) 121 WA 55/II 639,257-259 (zu Ps 84).

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lich aufgenommen. Darin bestehe der Anspruch Gottes, dass wir gerne, willig und freudig seine Gebote tun.122 Das Leben unter dem Gesetz kenne dagegen keine solche Freiheit, sondern lasse den Menschen gezwungen und von Angst getrieben handeln: „Econtra autem qui sub lege et litera sunt, quia spiritum et gratiam non habent, coacti et Inviti faciunt et ex timore et non ex corde“ 123. Furcht tritt hier in einen bemerkenswerten Gegensatz zur Freiheit. Genauso kann der timor servilis in einen Gegensatz zur Liebe gestellt werden. „Non in timore servili, qui est tristitie causa, Sed in amore, qui est letitie causa.“ 124 Amor und timor servilis können als unterschiedliche Grundbestimmungen gefasst werden, aus denen Traurigkeit bzw. Freude entspringt. Unter der Bestimmung dieser Furcht wird das Ideal der Liebe gerade nicht erfüllt. c) Betont Luther mit Paulus also, dass die Furcht unter dem Gesetz gerade nicht dem Willen Gottes zu entsprechen vermag, so betont er auch, welche Konsequenzen der timor servilis letztlich mit sich bringt. Für den Menschen wird er zum Grund der Traurigkeit und schließlich der Verzweiflung. 125. So führt Luther in der Randglosse zu Ps 101 aus: „Quod hic de terrore reverentiali et non terrore servili loquatur [patet], Quia premittet ‚Sanctum‘. Impiis enim et demonibus est ‚terribile‘, sed non ‚sanctum‘, quia polluunt illud. Et timor servilis non est ‚Initium sapientie‘, Sed Insipientie et desperationis.“126

Der Unterschied zur Tradition ist markant. In allen Sentenzenkommentaren wurde diese Frage ausführlich erörtert, ob sich der timor servilis als Beginn der Weisheit verstehen lasse. Das einhellige Ergebnis war, dass der timor initialis im eigentlichen Sinne Beginn der Weisheit sei, der timor servilis aber dieser Weisheit den Weg vorzubereiten vermag. Als Beginn der Verzweiflung verfällt der timor servilis nun der völligen Verwerfung. Auf dieser Linie liegt auch die oben schon angesprochene Auslegung des timor servilis als timor nocturnus zu Ps 91. Das Stichwort timor nocturnus hat Luther offensichtlich fasziniert. Er referiert hier neben seiner Auslegung auch die Deutungen von Augustin und Bernhard ausführlich und rechnet angesichts der unterschiedlichen Deutungen damit, dass die 122 Vgl. in diesem Zusammenhang nach wie vor HOLL, K ARL: Der Neubau der Sittlichkeit, in: HOLL, S. 155-287, wo HOLL die Vertiefung des Unbedingtheitsanspruchs der göttlichen Forderung im Gesetz in den Dictata eindrucksvoll in Auseinandersetzung mit der theologischen Tradition als genuinen Neuansatz Luthers herausstellt. 123 WA 55/II 639,261-262. Ganz ähnlich auch die Kritik des timor poenae zu Ps 119: Auch hier wird die Furcht ausgelegt mittels der Unterscheidung von altem und neuem Gesetz, Buchstabe und Geist: „litera non habet voluntarios, sed coactos timore pene servorum“ (WA 55/II 919,820-821). Die rechte Furcht muss daher unterschieden werden von der Furcht des Mose. 124 WA 55/I 661, Anm. 1. 125 WA 55/II 639,261. 126 WA 55/I 743, Anm. 9.

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hauptsächliche Absicht des Heiligen Geistes uns noch verborgen sein mag.127 Dieser Vers wird von Luther im ständigen Bezug auf die Juden bzw. die Häretiker ausgelegt. Die Vielfalt der Gefahren der menschlichen Seele werde hier dargestellt.128 Dabei könne es auch sein, dass es immer um dieselbe Gefahr ginge und nicht um vier verschiedene wie in der Tradition. Der Terminus timor nocturnus wird zunächst erläutert durch das Stichwort des timor servilis. „Hic est timor servilis, qui est in lege, quem per fidem Christus abstulit et dedit amorem pro eo, cum quo timorem diurnum, qui est sanctus permanens in seculum seculi.“129

Ausgelegt wird diese knechtische Furcht in einem ersten Schritt durch den Gegensatz von Gesetz und Glaube. Die knechtische Furcht beherrsche jene, die unter dem Gesetz stehen. Keinen Raum habe sie dagegen bei denen, die vom Glauben bestimmt seien. Diese seien durch den Glauben von dieser Furcht befreit. An die Stelle der Furcht sei die Liebe als hauptsächliche affektive Bestimmungskraft getreten. Damit verbunden sei ein timor diurnus, eine Tagesfurcht, die Luther mit der heiligen Furcht aus Ps 19 in Verbindung bringt. Die beiden Furchtarten werden als Ausdruck gegensätzlicher Bestimmungsformen des Personkerns begriffen: Hier die Furcht, dort die Liebe, hier Knechtschaft, dort Freiheit. Beide Furchtarten schließen sich gegenseitig aus. Die Konsequenzen ihrer Herrschaft werden in radikalen Gegensatzbestimmungen ausgeführt: „Igitur Qui credit, iam non timet illo timore, Sed omnia facit hilariter et cum amore. Recte autem timor ille ‚nocturnus‘ dicitur, Quia est eorum, qui sunt nox et in nocte litere, filii noctis et non filii lucis et filii diei.“130

Beide bringen einen völlig verschiedenen Gehorsam mit sich. Beide sind kategorial voneinander getrennt. Sie verhalten sich wie Licht und Finsternis zueinander. Sodann geht Luther terminologisch noch einen Schritt weiter. Dieser timor nocturnus (= servilis) wird von ihm gleichgesetzt mit dem „timor mundanus et humanus“ 131. Das negative Urteil kann nicht mehr überboten werden, wenn Luther in Umkehr von Spr 1,7 feststellt: „timor nocturnus est principium stultitie et initium omnis perditionis“132. Nicht 127 WA 55/II 704,199f. Diese Furcht bezieht sich auf den Verlust irdischer Güter, sie hat keinen Blick für das Ewige. Schon in den Adnotationes hat Luther an dieser Stelle die Tradition aufgegriffen, in der zu diesem Psalmvers ein Schema von vier Feinden entwickelt wird (WA 4 510,31-511,4). Am Rande hat Luther sich Notizen gemacht, welcher Kommentator (Burgensis, Bernhard und Stapulensis) welche Feinde aufzählt. Luther allein stellt dabei die Furcht an die erste Stelle. 128 WA 55/II 705,212f. 129 WA 55/II 705,219-221. 130 WA 55/II 705,222-224. 131 WA 55/II 705,225. 132 WA 55/II 705,231-232.

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Gewöhnung an die Gerechtigkeit und damit Anfang eines Heilsprozesses, sondern Beginn von Verzweiflung und Verlorenheit sei die Konsequenz der knechtischen Furcht im Leben. Es zeigt sich: Die bloße Übernahme traditioneller Begriffe bedeutet mitnichten, dass Luther sich in den Dictata noch weitgehend in den Bahnen der Tradition bewegt. 133 Er benutzt wohl noch einige traditionelle Termini, aber das charakteristische Schema der scholastischen Furchtlehre ist in mehrfacher Hinsicht gesprengt. Luthers kritische Perspektive auf den timor servilis ist nicht völlig neu. Wie gesehen spielt sie schon eine große Rolle bei Augustin, vor allem in dessen antipelagianischen Schriften. Sie ist zu finden bei Bernhard von Clairvaux, bei dem Luther ebenfalls die Betonung des freiwilligen und spontanen Charakters wahren Gehorsams finden konnte. Dieses religiöse Ideal der Bestimmung menschlicher Handlung durch Liebe wird schließlich bei den augustinischen Predigern des Spätmittelalters betont. 134 Erstaunlich ist jedoch die Unbedingtheit, mit der dieses Ideal von Luther auch in seinem kritischen Potenzial vertreten wird. Jegliche pädagogische Vermittlung der Straffurcht als nützliches Moment religiösen Lebens ist bei Luther aufgegeben. Die Ablehnung des timor servilis als Motiv des Handelns entspringt letztlich dieser Unbedingtheitsdimension des göttlichen Anspruchs. Dass der timor servilis aus der Selbstliebe kam und nicht Frucht der Liebe oder unmittelbare Wirkung der Gnade war, ist in großen Teilen der mittelalterlichen Diskussion selbstverständlich gewesen. Allein aufgrund der Wirkung dieser Furcht, nämlich Ablassen von der Sünde und Gewöhnung an die Gerechtigkeit, wurde sie als nützlich beurteilt. Von ihren Wirkungen her ließ sie sich einbauen in einen Stufenweg der Heilsaneignung. Neben dem Unbedingtheitsmoment der göttlichen Forderung ist es bei Luther auch ein Erfahrungszusammenhang, der ihn mit dieser Anschauung brechen lässt. Es scheint eine entschiedene Erfahrung Luthers zu sein, dass die Furcht in diesem Zusammenhang nur zur Verzweiflung führen kann. Getrieben von Furcht vermag sich der Mensch nicht der Liebe anzunähern, sondern entfernt sich von dieser. Vor allem die Aufnahme paulinischer Kategorien ist das innovative Moment, mit dem Luther sich weitgehend aus den Vorgaben der scholastischen Distinktionen zu befreien versucht. Es sind deren antithetische Beschreibungen christlicher Existenz, die Luther zunehmend von den überlieferten gradualistischen Schemata abrücken lassen.

133 So METZGER , S. 96: „Luthers Auffassung von der Furcht zeigt zunächst auffallend traditionelle Züge.“ 134 Vgl. die Materialzusammenstellung bei CHRISTOPH B URGER .

4.2 Dictata super Psalterium

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4.2.5 Dritte Stufe: Geistliche Furcht vor Zorn und Hölle Die starke Betonung der Höllenfurcht in P I hat in den Dictata eine große Vorgeschichte. Dabei entfalten wir zunächst die Furcht vor dem Zorn Gottes (4.2.5.1) und dann vor der Hölle (4.2.5.2), um abschließend die meditative Aneignung der Furcht innerhalb der Bußbewegung darzustellen (4.2.5.3). Dabei vergegenwärtigen wir uns den Umgang mit Furcht, den Luther in der Entwicklung seines Bußverständnisses (Ps 30, 50 und 71) gewonnen hat. 4.2.5.1 Furcht und Zorn Gottes Der Psalm 6 hat auch in Luthers späteren Auslegungen immer eine besondere Bedeutung im Blick auf sein Verständnis von Anfechtung und Angst gehabt. Er wird auch in der Predigt P I mehrfach zitiert. Gemessen an der Bedeutung des Psalms, wie sie sich in vielen Zitierungen niederschlägt, ist die Auslegung im Scholion auffällig kurz. Gemäß der christologischen Auslegung Luthers sind folgende Ausführungen grundlegend: Christus bete diesen Psalm zunächst in seiner eigenen Person, sodann aber auch an unserer Stelle, wobei er sich in seiner großen Liebe unser Geschick zu eigen mache, als wären unsere Erfahrungen seine Erfahrungen. 135 Die Klagen des Psalms werden kurz paraphrasiert, die besondere Schwere des Leidens wird mehrfach betont.136 Am Ende seiner Auslegung tritt dieser christologische Deutungszugang völlig zurück. Stattdessen fasst Luther zusammen: Wer das Gewicht der hier angesprochenen Gefühle sammelt, wird diesen Psalm nicht ohne Tränen hören können. Diese Aussage wird durch 15 Begründungen erhärtet: „Primum Quod omnis correptus timet, ne sit ira dei super eum. Et iste timor multum anxiat valde et longus videtur.“ 137 Vor allem darin wird man die zentrale Bedeutung der Zornerfahrung ermessen müssen. Der Gedanke an Gottes Zorn ist es, der überaus starke Furcht auslöst, aus der sich der Mensch nicht zu befreien weiß.138 Die ersten sechs Gründe führen die 135 WA 55/II 88,11ff. Auch in den Glossen wird die Klage ganz von Christus her aufgefasst: „Describitur autem in isto Psalmo multiplex circunstantia penas Christi aggravans. […] Tu es, pro quo tam ardenter orat tantus mediator.“ (WA 55/I 38,17-40,4.8-9) 136 „In ira et furore ‚corripiunt‘, qui solum puniunt, solum vinum Infundunt, sine fructu et emenda castigant, Scil. ad vindictam explendam, secant vulnus et non Emplastrant. Hoc est diabolicum.“ (WA 55/II 91,9-11) 137 WA 55/II 91,15-17. Vgl. schon in den Glossen: „Difficillimum est credere Deum esse pium et mitem in percussione et correptione sua. Sed omnino patiens trepidat et timet, ne ‚ira‘ et ‚furor‘ Dei sit super eum.“ (WA 55/I 40,11-13) 138 Auch in den Glossen wird zu Vers 2 der starke Affekt betont, mit dem dieser Psalm gebetet wird („propter vehementiam affectus“ [WA 55/I 40,1]). Christus bittet darin stellvertretend, Gottes Strafe und Gericht möge nicht in Zorn und Grimm, sondern

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Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung

Schwere der inneren Bedrängnis aus. Ist es im ersten Punkt die Endlosigkeit der Zornerfahrung, die gefürchtet wird, so wird im zweiten Punkt ihre Fruchtlosigkeit und damit Hoffnungslosigkeit betont: „timet, ne sine fructu castigetur, dum sola ira est.“139 Endlosigkeit und Hoffnungslosigkeit der Angst führen zum Gefühl der Schwäche (3), zum Eindruck der Unerträglichkeit, weil es kein Entfliehen gibt (4), was zur Verstörung der Seele führt (5).140 Der sechste Punkt nimmt noch einmal die ersten beiden auf und begründet dies in der Erfahrung: Diese Furcht und dieses Zittern werden dadurch intensiviert, dass sie kein Ende zu haben scheinen. Die Punkte 7-10 vertiefen nun nicht weiter den Affekt der Angst, sondern beschreiben die Weise, in der der Beter damit umzugehen versucht. Gottes erneute Zuwendung wird angerufen (7), so dass die Gnade Gottes nicht verloren, sondern verherrlich wird (8). Denn bei den Toten würde Gott nicht geehrt werden, (9), genauso wenig im Scheol (10). Bemerkenswert daran sei, so Luther, dass die Heiligen die Lästerung Gottes mehr fürchten als die Hölle. Daher will der Beter nicht in die Hölle, weil sie Hölle ist, sondern weil in ihr Gott nicht gelobt wird. Die Punkte 11-15 führen noch einmal die Klagen des Psalms an, ohne dass diese Zitate näher erläutert werden. Das Scholion schließt mit einem letzten Blick auf den so Bedrängten: „omnes eum tribulant, et solus est inter eos omnes.“ 141 Es ist auffällig, dass Luther in dieser Auslegung in keiner Weise einen Weg der Bewältigung andeutet. Seine Darstellung bleibt an dieser Stelle schmerzhaft aporetisch. Diese Furchterfahrung wird auch nicht begrifflich eingeordnet oder in einen positiven Zusammenhang mit dem Heilsweg des Menschen gebracht. Auch über die Kategorie der Anfechtung verfügt Luther an dieser Stelle noch nicht. Mehrfach wird die Fruchtlosigkeit dieser Erfahrung betont („sine fructu“ 142). Es macht die überragende Bedeutung dieser Auslegung aus,

in Liebe und Barmherzigkeit geschehen (WA 55/I 39,9-40,2). Denn: „alia est ira misericordie, alia severitatis.“ (WA 55/I 40,16) Denn der Zorn der Barmherzigkeit führe den Menschen zu Besserung und Fortschritt; der ira severitatis sei hingegen reine Strafe (WA 55/I 40,17-18). Die Furcht vor diesem Zorn findet im Scholion einen eindringlichen Ausdruck. 139 WA 55/II 91,18-19. 140 „Anima […] turbata est et valde.“ (WA 55/II 91,25) 141 WA 55/II 92,14. Für die Glossen zeigen die Herausgeber, dass das Verständnis des Psalms von der Passion Christi her in den Passionsmeditationen der Devotio moderna weit verbreitet war, vgl. die Verweise auf das Rosetum des Johannes Mauburnus und auf Gerhard von Zütphen (WA 55/I 40,30-41; 44). Für den zuletzt wiedergegebenen Abschnitt der ängstlichen Verzweiflung hat der Herausgeberkreis keine traditionsgeschichtliche Parallele nennen können. Die Ausführung dieser Verzweiflungsdimension entspricht Luthers genuiner Textbegegnung. 142 WA 55/II 91,10.19.21.

4.2 Dictata super Psalterium

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dass sie einen Einblick gestattet in die von Furcht und Ratlosigkeit geprägte Erfahrungssituation des Auslegers.143 Im Verlauf der Vorlesung kommt Luther jedoch auch an weiteren Stellen auf die Furcht vor dem Zorn Gottes zu sprechen. An vielen Stellen greift Luther nicht auf den Ausdruck timor zurück, sondern redet von horror, tribulatio und anderen Begriffen. Aber an einer Reihe von Stellen ist dann doch durchaus von timor die Rede. Für den Sünder ist der Zorn Gottes zunächst einmal die grundlegende Realität. Im Eingang zum Scholion von Ps 31 (32) führt Luther aus: „Nullus est sine iniquitate, Nullus est non ‚filius ire‘“ 144. Diesem Zorn Gottes sei jeder Mensch als Sünder unterworfen. Allein durch Christus werde dem Menschen Rettung vor diesem Zorn verheißen. Sowohl die Unterworfenheit unter den Zorn als auch die Rettung durch Christus sei dem Menschen von sich aus unbewusst; sie müsse ihm durch das Wort Gottes offenbart werden. 145 Zorn Gottes und Gnade, Gericht und Evangelium lassen sich daher nicht trennen. Die Erkenntnis des Zornes Gottes geht notwendig mit großer Furcht einher. Diese Erfahrung wird vor allem zu Ps 30 (31)146 ausführlicher dargestellt.147 Auffällig ist dabei, wie konsequent immer wieder auf Psalm 6 zurückgegriffen wird, als würde dieser hier noch einmal zur Auslegung 143 Die Seltenheit solcher Zeugnisse im Frühwerk ist oft bemerkt worden, vgl. P ESCH: „Warum begegnet in den Frühschriften kaum eine Spur von jenen Anfechtungen, aus denen ihn laut Vorrede [1545] die Beschäftigung mit Paulus befreit hat?“ (P ESCH, OTTO HERMANN: Hinführung zu Luther, Mainz 1982. S. 86.) Vgl. auch LENNART P INOMAA über Luthers Furcht vor dem Zorn Gottes: „In der ersten Psalmenvorlesung kommt dieser Gesichtspunkt spurenhaft zum Vorschein und er wird außerdem dadurch geschwächt, dass Luther zwischen ira misericordie und ira severitatis scheidet.“ (P INOMAA, Zorn, S. 157) P INOMAA greift daher in seiner Darstellung ausschließlich auf spätere Texte zurück. Die Unterscheidung der beiden Zornarten bedeutet jedoch keine Abschwächung, sondern eine Präzisierung, vor welchem Zorn der Beter sich fürchtet: dem ira severitatis. Für diese Furcht stellt das Scholion zu Ps 6 die deutlichste Spur dar. 144 WA 55/II 176,11-12. 145 „Nullus hominum Scivit, quod ira Dei esset super omnes et quod omnes essent in peccatis coram eo, Sed per Evangelium suum ipse de coelo revelavit, et quomodo ab ista ira salvi fieremus“. (WA 55/II 176,17-20) 146 ERICH V OGELSANG sah in der Auslegung von Ps 30 den unmittelbaren Niederschlag einer tiefen existenziellen Erfahrung Luthers: „eine der schwersten Anfechtungen, an die er zeitlebens mit Zittern zurückdachte.“ (V OGELSANG, Anfänge, S. 32) Die Zuspitzung einiger Erinnerungen Luthers in den Tischreden über den Schrecken angesichts der Gerechtigkeit Gottes in Ps 30,2 wird damit vielleicht etwas zu zugespitzt auf eine bestimmte Phase der Vorlesungstätigkeit Luthers bezogen. Im Zusammenhang aber mit der oben vorgeführten Auslegung zu Ps 6 halte ich V OGELSANGS Deutung nach wie vor für zutreffend, dass sich in den frühen Dictata Zeugnisse von unbewältigten Angsterfahrungen Luthers finden. 147 Vgl. zu Ps 84 das Zitat von Ps 6,4: „cor contritum maxime tamen timet eternam iram.“ (WA 55/II 651,182-183)

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Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung

anstehen. Zu Ps 30,10 heißt es: „Ab hoc versu per 12 sequentes tropologice pulchra est oratio trepidantis conscientie et pecasse se agnoscentis.“148 Denn immer, wo in den Psalmen Christus in körperlicher Bedrängnis (in afflictione corporali) klage, sei dies tropologisch zu beziehen auf die Klagen der Gläubigen über ihre Sünde; denn heute würde Christus in uns getötet und gekreuzigt. Mit Psalm 6 illustriert Luther dieses Gebet der Bedrängnis. „Hoc dicit trepida conscientia, que semper timet, ne celum super se ruat et in infernum descendat.“ 149 Es sei eine Folge der Sünde, dass der Mensch mehr den Zorn Gottes als seine Güte anschaue: „Infirmitas ista est cordis in fide et spe, quia peccatum vehementer fidem et fiduciam in Dei bonitatem enervat, quia semper facit iram Dei plus quam bonitatem eius inspicere.“150

Dieses Betrachten des Zornes steht im Gegensatz zu Glaube und Vertrauen auf die Güte Gottes. Die Beschäftigung mit dem Zorn ist ein Weg, auf dem die Sünde von Glaube und Hoffnung wegtreibt und zur Verzweiflung führt. „Ideo omne peccatum ad desperationem valde inducit et difficulter sperare sinit et credere.“ 151 In dieser Erfahrung des Zornes erscheint das Leben aussichtslos; als ob „non est salus ei in Deo eius“152, als führe der Weg nun „per desperationem in infernum“153. Solche Bedrängnis durch die Sünde schwächt das Licht des Glaubens. So weit entspricht die Auslegung ganz der aporetischen Aussicht, die sich schon in den Scholien zu Psalm 6 ergeben hat. Dann aber gewinnt Luther eine bemerkenswerte Deutungsperspektive für diese Erfahrung der bodenlosen Furcht. Gerade dieser Zustand kann geglaubt werden als eine Vollendung der Buße. „Et taliter dispositus homo felix est et vere ‚spiritus contribulatus et cor contritum in sacrificium Deo‘.“ 154 In der Erfahrung des Zornes Gottes wird nichts weniger erschlossen als die Erfahrung der vollkommenen Reue. Denn in der Offenbarung des Zorns erfährt der Mensch nicht weniger als eine Vorwegnahme des künftigen Gerichts. Terminologisch hält Luther für den Psalter fest: Unter „Zorn“ ist absolut gebraucht immer der künftige Zorn zu verstehen. 155 Wo ein Mensch in solchem Vorlaufen zum endgültigen Gerichtsurteil Gottes in Schrecken und Furcht gerate, habe er die wahre Gesinnung der Buße im Sinne des 51. Psalms 148 149 150 151 152 153 154 155

WA 55/II 166,21-167,1. WA 55/II 167,21-23. WA 55/II 168,2-4. WA 55/II 168,4-5. WA 55/II 169,19-20. WA 55/II 169,21. WA 55/II 170,19-21. „Quare videtur, Quod ira absoluta posita istam futuram significet.“ (WA 55/II 171,4-5)

4.2 Dictata super Psalterium

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erlangt. Dem Furchtaffekt ist in seiner Schwere und Unerbittlichkeit an dieser Stelle nichts genommen; und doch verändert sich seine Bedeutung in der Perspektive der Buße enorm. Die Spannung zur Tradition ist unverkennbar: Ein cor contritum kann in allen Varianten der Tradition letztlich nur ein Herz sein, das mindestens im Ansatz eine Umwandlung durch die Gottesliebe erfahren hat. Die Deutung extremer Furchterfahrung als wahre Reue und Buße ist daher ein erheblicher Bruch mit der klassischen Bußlehre. 4.2.5.2 Furcht vor der Hölle Ist die Furcht vor dem Zorn Gottes auf die Vorwegnahme des künftigen Gerichts bezogen, so ist der Gedanke an den ewigen Zorn Gottes in der Hölle eng damit verknüpft. Kommen wir daher in einem zweiten Schritt zur Furcht vor der Hölle. Diese Furcht hat sich als zentrales Thema von P I erwiesen, ja es ist diese Furcht, die insbesondere bei den wahrhaft Gerechten anzutreffen ist. Im Scholion zu Psalm 78 haben wir bereits die Kritik des timor servilis hervorgehoben, der sich nur auf zeitliche, irdische Strafen bezieht und den Luther somit dem Alten Bund zuordnet. Ganz im Sinne von P I kommt Luther sodann auf die Furcht vor dem Ewigen zu sprechen. Anders als im Alten Bund ist dies jedoch nicht ein timor servilis, sondern die Höllenfurcht der christlichen Heiligen und Gerechten, die sich auf ewige Strafe beziehen. Denn heilige Väter wie Hieronymus, Arsenius und andere hätten große Furcht vor der Hölle gehabt. Diese Furcht sei von Jesus in Mt 10,28 ausdrücklich befohlen worden. Als er aber die Furcht vor dem Verlust des Leibeslebens verbot, war damit der timor servilis gemeint (und nicht der timor mundanus bzw. humanus, wie vielfach in der Tradition der scholastischen Exegese dieses Verses). Der Bezug auf das Diesseitige bzw. das Jenseitige mache den eigentlichen Unterschied zwischen den Arten der Furcht aus. Die Furcht vor dem Jenseitigen, die aus dem Glauben komme, werde auch vom Apostel Paulus empfohlen, wenn er in 2 Kor 5,11a von der Furcht des Herrn spricht. 156 Diesem Unterscheidungsmerkmal sind wir bereits begegnet: Die Antithetik von Geist und Fleisch ist es, die die Ausrichtung aller Affekte bestimmt: 156 „Sane et in nova lege timor de pena est, et tamen non est timor servilis. Sic enim b. Hieronymus, Arsenius et alii patres Sancti metu Geene magna egerunt. Et dominus precipit dicens: ‚Timete autem eum, qui postquam occiderit, corpus‘ etc.; hic enim abstulit timorem servilem dicens ‚Nolite timere eos, qui occidunt corpus.‘ Iste enim est timor servilis de malis huius mundi et experientie, Sed ille est de malis futuris et fide cognitis. Et necessarius est talis‚ et ab Apostolo etiam persuasus : ‚Suademus‘, inquit, ‚hominibus timorem Dei‘.“ (WA 55/II 565,920-566,927)

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Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung

„Igitur Timor, Amor, spes, odium, gaudium, tristitia omnia nunc sunt aliter quam olim, scil. Spiritualium, tunc autem corporalium. Ergo recte dicit: ‚Dilexerunt eum ore suo‘, Quia non spiritualem amorem vel timorem habuerunt ad eum.“157

Alle Affekte verändern sich unter dem Einfluss des Glaubens und werden geistlich. Unterschiedlich sind daher auch die Konsequenzen der jeweiligen Furcht. Die auf das Irdische bezogene Furcht erschrickt vor zeitlichen Übeln wie Blitzschlag, Pest und Todesgefahr. Solchen Gefährdungen gegenüber erweisen sich die Glaubenden des Neuen Bundes als sicher und ruhig. 158 Und auch hier betont Luther wieder, es sei nötig, diese Drohung des ewigen Zornes geradezu zu umarmen: Es gilt, die Worte, die gegen uns zornig klingen, zu umarmen, anzunehmen und selbst zornig auf sich zu sein. 159 Die Schlüsselfrage der Auslegung dürfte sein: Wie kann die intensive Vergegenwärtigung und Aneignung des Zornes bzw. des Gerichtes Gottes heilvollen Charakter gewinnen? In Psalm 6 haben wir den schmerzhaft aporetischen Ausdruck der Klage des erschrockenen Gewissens vernommen. In Ps 30 konnte Luther diese Furcht als Ausdruck vollendeter Buße bestimmen. Es ist vielfach beobachtet worden, wie intensiv sich Luther im Verlauf der Vorlesung am Begriff des iudicium abarbeitet. 160 In Ps 50 entwickelt er in Aufnahme seiner Überlegungen zu Ps 30 ein Schema der Bußlehre.161 Luthers Überlegungen widmen sich dabei fast ausschließlich Ps 50,6. In vier Thesen sucht er sich den systematischen Zusammenhang von Ps 50,6 in Verbindung mit dessen Aufnahme in Röm 3,4 zu verdeutlichen: 1. Alle Menschen sind vor Gott wahrhaft Sünder und sündigen.162 2. Gott bezeugt dies durch seine Propheten und das Leiden Christi an unserer statt. 3. Gott wird nicht in sich selbst, sondern in seinen Worten und in 157 158

WA 55/II 566,927-930. „Experientia enim docet, quam horribiliter tremant Impii et mali in fulmine, pestis aut alia mortis necessitate, quando tamen Iusti securi et quieti omnia sustinent.“ (WA 55/II 566,939-942) 159 „Igitur ea que sonant iram contra nos, adversa et aspera nostro sensui, amplectamur. Amplectamur autem nunquam, nisi nosipsi nobis intus irati fuerimus et disciplicentes.“ (WA 55/II 553,571-574) 160 Zu Recht betont SCHWARZ die zentrale Bedeutung der theologischen Bemühungen um den Begriff des iudicium: „Man darf annehmen, dass die theologischen Fragen, die ihn persönlich umtrieben, ihn auch dazu bewogen haben, gerade den biblischen Sprachgebrauch von iudicium zu prüfen. Das existenzielle Problem der Buße – sein Eintritt ins Kloster wurde als ein Akt der Buße ausgelöst durch das Erschrecken vor dem Gericht Gottes, und die mönchische Existenz sollte als beständige Buße verstanden werden – hatte ihn fragen lassen, was denn die Bibel unter Buße verstehe.“ (S CHWARZ, Vorgeschichte, S. 197) 161 Vgl. SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 228ff. 162 Die radikale Betonung des Sünderseins bricht mit der traditionellen Vorstellung, dass die Erbsünde durch die Taufe beseitigt sei. Vgl. SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 232.

4.2 Dictata super Psalterium

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uns gerechtfertigt. 4. Dann aber sind wir Sünder, wenn wir uns als solche erkennen, wie wir es vor Gott sind.163 Die entscheidende Konsequenz dieser Thesen besteht darin: Wenn wir uns als solche Sünder bekennen (These 1), uns anklagen und verurteilen, rechtfertigen wir damit Gott (These 3) in seinem Zeugnis über uns (These 2). Wer sich in solcher Weise als Sünder vor Gott erkennt und bekennt (These 4), von dem gilt, dass Gott auch in ihm gerechtfertigt wird. (These 3). Das aber bedeutet nichts anderes, als gerechtfertigt zu werden: „Iustus enim primo est accusator sui et damnator et Iudex sui.“ 164 Von diesem Zusammenhang her gewinnt die Furcht vor dem Gericht und dem Zorn Gottes ein anderes Aussehen: „Semper igitur peccatum timendum, semper nos accusandum et Iudicandum in conspectu Dei. Quia si nos ipsos Iudicamus, non utique a Domino Iudicabimur.“165 Diese Furcht führt nicht zur Verzweiflung, sondern gehört zum Weg der Heilsaneignung. Gottes Strafen und Gerichte müssen nun nicht mehr aus Furcht geflohen werden, sondern können angenommen werden: „Atque ideo cum omni timore et humilitate suscipienda, et confitendum ei, Quia Iustus est in operibus suis.“166 Furcht führt nicht mehr zu Flucht und Verzweiflung, auch nicht zu religiöser Leistung und Anstrengung: In der Anerkennung des berechtigten Zornes und Gerichtes Gottes erfährt der Sünder Rechtfertigung. Am Ende seiner Auslegung des 77. Psalms führt Luther aus, welche Wirkung der Zorn Gottes so in den Gläubigen entfaltet: 1. Er bewirkt durch die Furcht vor dem ewigen Gericht, dass seine Heiligen Buße um ihrer Sünden willen tun. 167 2. Gerade die Drohung des Todes verhilft dazu, dass die Seinen im Hass gegen sich nichts ausnehmen in dieser Welt. 3. Er schließt dergestalt in den Tod ein, dass seine Glieder beständig gekreuzigt bleiben und nicht in Sünde zurückfallen. 168 4. Mit der Tötung der Erstgeborenen Ägyptens fasst Luther die bisherigen Punkte noch einmal zusammen und spitzt die Wirkung des Zornes Gottes darauf zu, dass er die Reue

163 164 165 166

WA 55/II 269,14-22. WA 55/II 270,47. WA 55/II 273,151-152. WA 55/II 275,214-276,216. Diese Furcht sollte nun besser nicht im Sinne des alten Klassifikationsschemas gedeutet werden: „Es ist eine Furcht in der Art des timor filialis“. (SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 235) Denn mit dem klassischen Aufstiegsschema bricht Luther hier ja gerade auf das Entschiedenste: „Semper enim in nobis est reliquum et reliquie peccatorum, […] que sunt coram eo peccata“. (WA 55/II 276,217-219) 167 „Roborat et perseverantem per hoc efficit penitentiam pro peccatis in suis sanctis. Timor enim futuri Iudicii facilia facit, que etiam impossibilia videntur.“ (WA 55/II 580,1346-1348) 168 „Quia facit, ut membra mortificata rursum non relaxent in peccata, Sed perpetuo maneant crucifixa et conclusa in morte salutari.“ (WA 55/II 580,1352-1353)

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Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung

vervollkommnet.169 Dieser Zusammenhang verdichtet sich nirgendwo eindrücklicher als in der Praxis der Meditation. 4.2.5.3 Furcht und Meditation Dieses bewusste Annehmen der Furcht vor der Hölle bzw. dem Zorn Gottes kann von Luther in einer ausführlichen Anleitung zur Bußmeditation entfaltet werden, wie vor allem seine Ausführungen zu Ps 68,17 zeigen.170 In diesem Scholion hat sich zunächst die Furcht als die entscheidende affektive Gestimmtheit erwiesen, mit der sich der Mensch der einschläfernden Wirkung von Friede und Sicherheit entziehen kann.171 Nach der Feststellung, dass es nichts Schlimmeres gibt, als ohne Furcht zu sein172, folgt ein regelrechtes Meditationsschema. Da niemand die Barmherzigkeit Gottes erkennen könne, ohne zuvor sein Elend einzusehen, bestehe die vordringliche Aufgabe des Menschen darin, das ganze Ausmaß der Sünde zu erkennen, sie in seinem Bewusstsein groß und gewichtig werden zu lassen und sich dementsprechend anzuklagen und zu verurteilen. Die Bußmeditation wird dabei in zwei Teilen vollzogen. Im ersten Teil 173 sollen die miseria des Menschen im Zentrum stehen, die in acht Punkten entfaltet werden. Die ersten vier Punkte beschreiben unterschiedliche Unterlassungssünden (ommissiones): Der Mensch soll seine Undankbarkeit gegenüber den natürlichen (1) und geistlichen Gaben Gottes (2) bedenken, die Nichtbefolgung seiner Gebote (3) und den mangelnden Eifer in Ermahnung anderer (4). Dann soll der Mensch der Verstöße gegen göttliche Gebote (5) gedenken, ein Punkt, der nicht weiter ausgeführt wird. 174 Schließlich soll er (wie Christus!) die Sünden aller Welt auf sich nehmen und als die eigenen betrachten (6). Nach diesen Punkten, die in einer Reihenfolge der Steigerung vorgestellt werden, folgen zwei weitere Punkte, die nicht Formen der Sünde zum Meditationsgegenstand erheben, sondern das Moment affektiver Aneignung vertiefen. Zur rechten Selbsterkenntnis gehöre die Wahrnehmung, dass wir in dem gegenwärtigen Klima von Frieden und Sicherheit viel zu geringe 169 „Ira scilicet, qua perficit contritionem“. (WA 55/II 580,1357) 170 Wir sind diesem Scholion bereits in seiner Kritik der Sicherheit

ausführlich nachgegangen. Vgl. zum folgenden N ICOL, S. 106ff.; METZGER, S. 166-170 (der in Luthers Ausführung eine „Art Beichtspiegel“ [S. 168] erkennt); SCHWARZ, Fides, S. 187-191 und SCHWARZ, Bußtheologie, S. 284-286. 171 WA 55/II 394,1ff. 172 WA 55/II 401,505. 173 WA 55/II 401,508-403,586. 174 WA 55/II 402,554. Es zeigt sich, dass Luther in seinem Sündenverständnis schon in dieser Zeit weniger die konkreten Tatsünden, sondern die zugrunde liegende Haltung der Person ins Zentrum rückt.

4.2 Dictata super Psalterium

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Furcht vor dem Zorn Gottes hätten (7). Darum solle der Mensch nicht nur seine Sünden, sondern auch seine Unfähigkeit, sie angemessen zu betrauern, bedauern; klagen, dass er nicht klagen kann, sich fürchten, weil er sich nicht fürchten kann. 175 Auch das Ungenügen der eigenen Meditation müsse ins Bewusstsein erhoben werden. In einem zweitem Teil der Bußmeditation, der von Luther nicht mehr durchnummeriert wurde, steht statt der eigenen miseria die misercordia Dei im Zentrum. 176 Stand beim Bedenken der menschlichen miseria die Sünde im Vordergrund, so wird nun im Bedenken der göttlichen misericordia der Tod und die Hölle und die Errettung aus beidem ins Zentrum gestellt. Der erste Punkt ist eindrücklich vor dem biographischen Hintergrund Luthers: Der Meditierende soll sich einen Menschen vorstellen, der plötzlich in seinen Sünden stirbt. Luther glaubt, dass jeder Gesunde allen Ruhm und Reichtum der Welt nicht annehmen würde, wenn er dann so sterben müsste; auch würde er gerne jeden Preis der Welt zahlen, um nicht so enden zu müssen. Nach der Vergegenwärtigung der Situation eines plötzlichen Todes vertieft Luther die Bewegung der Aneignung: Nun soll der Meditierende sich affektiv ganz und gar in einen solchen Menschen hineinversetzen: „Credo videbis horrorem super horrorem“ 177. Erst in dieser Stimmung äußersten Schreckens sei der Mensch in der Lage, Gottes Barmherzigkeit angemessen verstehen und preisen zu können, wie es ein Mensch könnte, der aus solcher Gefahr noch einmal von Gott herausgerissen würde, d. h. in der Situation akuter Todesbedrohung und -angst wie Luther noch einmal mit dem Leben davonkommt. Und noch weiter wird der meditative Prozess der Aneignung vertieft. Ausdrücklich soll der Mensch sich in einem dritten Schritt vergegenwärtigen, dass es ihn selbst hätte treffen können, dass er in die Verdammnis hätte fahren können. Dadurch solle er darauf aufmerksam werden, dass es ein unendlicher Abgrund göttlicher Güte sei, dass es so weit noch nicht gekommen ist. Wäre die 175 WA 55/II 403,580-586. Es ist interessant, diese Gedankenverbindung mit ihren zeitgenössischen Parallelen zu vergleichen. Bei Johannes von Paltz begegnen ähnliche Formulierungen in seiner Minimalisierungsstrategie, eine Mindestanforderung zu formulieren. Vgl. H AMM, Wollen. In Luthers Schema wird nicht das Moment der Entlastung hervorgehoben; eher verschärfend wird sogar die Unfähigkeit zur rechten Trauer betont. 176 WA 55/II 403,587-404,604. Schon quantitativ fällt auf, wie viel geringer der Teil über die Barmherzigkeit gegenüber der Ausführung über das Elend ausfällt. Dies wird nicht genügend berücksichtigt, wenn N ICOL ausführt, dass die Bußmeditation Luthers „von Anfang an unter dem Vorzeichen der misericordia Gottes“ (NICOL, S. 108) stünde oder dass die Meditation von Sünde, Tod und Hölle kein Eigengewicht gewönne (ebd.). Umgekehrt gilt, dass die Barmherzigkeit Gottes nicht anders bedacht werden kann als in der Vertiefung des Sündenbewusstseins. Die Pointe besteht darin, dass die Barmherzigkeit nur so zu erlangen ist, dass der Zorn Gottes bejaht und angeeignet wird. 177 WA 55/II 403,594.

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Bewahrung vor höchster Todesnot nicht mindestens genau so hoch zu achten, wie die Rettung aus akuter Todesangst? Und schließlich gewinnt die Meditation in einem vierten Schritt ihre letzte Vertiefung: Glauben solle der Meditierende, dass er schon verdammt sei, wie der Mensch es aus sich heraus ohne die Gnade zweifellos sei. Wie sehr müsse man die Gnade schätzen, wenn sie einen dann noch mitten aus der Hölle risse. Die Bedeutung dieser Praxis wird unterstrichen durch den Hinweis, dass sie vielfältig biblisch belegt ist. Luther verweist auf König Hiskia (Jes 38), David (Ps 130) und Jona (Jona 2), die in ihren Psalmen ähnliche Betrachtungen angestellt haben. Die weitere Erörterung Luthers entfaltet den christologischen Grund dieser Praxis, indem Luther diese Meditation ganz auf das Geschick Jesu in Kreuz, Höllenfahrt und Auferstehung bezieht. Sinn dieser affektiven Aneignung der Hölle sei es, den Weg Jesu nachzuvollziehen. „Omnes sancti ita affectu prius cum Domino moriuntur et descendunt cum eo ad infernum.“ 178 Nur so können sie dann auch an seinem Auffahren zum Himmel Anteil haben. Dies ist die tropologische Anwendung des Gebets Christi, dass der Mensch sich affektiv die Strafen der Hölle und der Verdammnis zu eigen macht. Diese meditatio inferni führt zu einer affektiven Gleichgestaltung mit Christus, die allein den Menschen die Barmherzigkeit Gottes erkennen lässt. Das unmittelbare Ziel der Meditation ist daher natürlich das Empfinden und Annehmen der Furcht vor dem Tod und der Hölle. Dieser Affekt allein ist die Gegenkraft zur allgegenwärtigen Sicherheit und Lauheit, die den Menschen mehr gefährden, als alle äußere Verfolgung es je konnte. Die Aneignung der Höllenfurcht in einer geistlichen Höllenfahrt allein verbindet mit Christus. Diese Gestimmtheit wird sodann zu einem positiven Zeichen (signum gratie Dei) der Gegenwart Christi: „Si ergo triduo in inferno fueris, signum est, Quod tecum Christus et tu cum Christo sis.“ 179 Vor allem die abschließende Zusammenfassung konzentriert die ganze Ausführung auf den Affekt des timor. Nur wer sich affektiv die Situation der höllischen Verdammnis bzw. des Sterbens anzueignen wisse, könne diesen Psalm würdig beten.180 Umgekehrt gilt: Wer sich solch ein Todesund Höllengeschick nicht aneignen könne (aus mangelnder Demut bzw. mangelnder Einsicht in die eigene Sündenverfallenheit), der habe wahrlich Grund, ohne alle Hoffnung den Zorn Gottes zu fürchten. Denn er sei weder würdig noch bereit, Erbarmen zu erfahren. 181 Jeden Tag, ja jeden Augen178 179

WA 55/II 404,614-615. WA 55/II 405,658-660. Vgl. auch WA 55/I 507, Anm 18: „tentatio et deiectio Est spiritualis descensus ad Inferos“. 180 „Quandocunque non es sic affectus, sicut iam in inferno ardens et damnatus, vel ut iam moriens, non poteris digne tales orationes dicere“. (WA 55/II 406,680-682) 181 WA 55/II 406,685ff.

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blick gelte es, sich das drohende Todesgeschick gegenwärtig zu halten. Denn Gott schenke seine Gnade nur demjenigen, der sich solchermaßen demütigt und fürchtet. Erst ganz zum Abschluss dieser Psalmenauslegung wird der Blick über die Furcht hinaus gelenkt. Schließlich genüge nicht allein der affectus timoris, sondern es müssten Hoffnung und Liebe hinzutreten, um mit Christus in den Himmel aufzusteigen. Solche geistliche Liebe könne der Mensch nicht anders empfangen als aus der Liebe Christi selbst. 182 Zu einer unmittelbaren meditativen Vergegenwärtigung der Barmherzigkeit oder der Liebe Gottes kommt es in der Auslegung bezeichnenderweise nicht. Die ganze Meditation war vielmehr eine Übung in der Aneignung existenzieller Furcht. Nur in Furcht vermag der Mensch die göttliche Barmherzigkeit zu erfassen. Nur die Furcht ist die entscheidende Voraussetzung, die den Menschen würdig und bereit 183 für ihren Empfang macht. Elend und Barmherzigkeit sind dabei keine entgegengesetzten Triebkräfte; nur im Durchgang durch die eigene Verlorenheit, nur in Übernahme solcher Furcht ist Gnade zu empfangen. Im Vollzug dieses Weges kann es dann aber auch zu einem existenziellen Umschlag kommen, dass das eigene Furchterleben zum vergewissernden Zeichen der Gemeinschaft mit Christus wird. Eine eindrückliche Parallele bietet die Bußmeditation zu Ps 76. In diesem Psalm sieht Luther die Denkbewegung eines Menschen ausgedrückt, der in Reue meditiert. 184 In der Auslegung der ersten Verse nummeriert Luther zehn Abschnitte, in denen er Momente bußvoller Gesinnung entfaltet.185 In seiner Meditation betrachtet ein solcher Mensch seine eigene Sünde, er sieht seine Bedrohtheit in der Versuchung. Er wird in dieser Bewegung zerschlagen und demütig, zugleich zornig und aufgebracht gegen sich selbst. Dabei meditiert er auch ausdrücklich das ewige Schicksal der Guten und der Bösen, nämlich ewige Strafen und ewige Freuden. Gleichermaßen Erstaunen und Erschrecken lerne die Seele in dieser Betrachtung: „mirabiliter horrere et stupere facit animam.“ 186 Wo aber solcher Schrecken ausbleibt, da sei dies ein Zeichen, dass der Meditierende sich diese Gedanken nicht wirklich zu Herzen genommen habe, sondern unvorsichtig daran vorüberging. Nur solche affektive Aneignung führe zu einer wirklichen Verinnerlichung; darin sei die Meditation die höchste und wirk182 183 184

WA 55/II 407,693-703. „Dignus et aptus“ (WA 55/II 406,685-686). „Puto psalmum esse descriptionem meditantis hominis in compunctione.“ (WA 55/II 516,269-270) Vgl. schon die Aussage in den Glossen: „Quare si vis scire, quomodo sacrificetur Deo ‚spiritus contribulatus et cor contritum‘, hunc psalmum intellige.“ (WA 55/I 538-539 Anm. 1 Z. 3-5) Vgl. zur Auslegung des Psalms im Ganzen: NICOL, S. 109112. 185 WA 55/II 516,273-520,399. 186 WA 55/II 518,332-333.

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samste Bildung.187 Nach Entfaltung dieser systematisch nur lose miteinander verbundenen zehn Momente der Bußgesinnung kommt die Exegese auf die Fragen von Ps 76,10ff. zu sprechen. Diese ließen sich wohl in mehrfacher Hinsicht auslegen; am ausführlichsten entfaltet wird freilich die Möglichkeit, dass in der Frage des Büßenden, ob Gott für immer verwerfen werde, sich die Sorge eines geängstigten Gewissens ausspricht. 188 Die Auslegung von V. 10ff. betont dagegen die Meditation der Werke Gottes. Nicht die eigenen Werke solle der Mensch betrachten, wie die Heuchler es tun, sondern sich im Glauben Gottes Tun vergegenwärtigen. Christus selbst aber ist das entscheidende Werk Gottes. 189 Wie hoch Luthers Maßstab an die persönliche Aneignung der maßgeblichen Stimmung dabei ist, zeigt sich, wenn er am Ende bekennt, diesen Psalm nicht auslegen zu können, weil er sich nicht in solcher compunctio befindet.190 Nur im Hinblick auf Augustin will er sich daher der Auslegung zugewandt haben.191 Die Bußmeditationen zu Ps 68 und 76 erweisen sich als existenzielle Korrelate der radikalen Bußauffassung, die Luther zunächst zu Ps 30 und Ps 50 entwickelt hatte. In den viel diskutierten Scholien zu Ps 71 zieht Luther daraus weitere Schlussfolgerungen. Es dürfte die Stärke der klassischen Auslegung von Vogelsang sein, wie er die Verbindung von Rechtfertigungsauffassung und Christusanschauung betont. In unmittelbarer Nähe der großen Meditationsschilderung kommt es dann zur vielbeachteten Deutung des Kontextes von iudicium und iustitia. Das Ende der Auslegung von Ps 70 greift den Kontext der Passionsmeditation auf: „Iustitia Dei Est tota hec: Scil. sese in profundum humiliare. Talis enim venit in altissimum, quia descendit in profundissimum prius. Et proprie Christum hic Exprimit. Qui est

187

„Meditatio enim Est summa, efficacissima et brevissima eruditio.“ (WA 55/II 519,370-372) Vgl. zur Stelle auch die Auslegung von SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 275284. 188 „Et sic est verbum timentis ex discussione conscientie timorem.“ (WA 55/II 521,403-404) Vgl. auch den Abschluss dieses Abschnitts, der wiederum unterstreicht, dass die Furcht die rechte Reue ausmacht. „Sed cum advertunt, quoniam Deus sic disposuit, vehementer terrentur et horrent, ac sic compunguntur.“ (WA 55/II 521,419-421) 189 „Opus autem singulariter Dei est Christus in sua tota vita.“ (WA 55/II 523,476) 190 WA 55/II 534,778-779. 191 Nach M ARTIN N ICOLS Deutung ist der erste Teil des Psalms der Einsicht in die eigene miseria gewidmet. Der beherrschende Affekt ist dabei die Furcht (WA 55/II 521,406-522,452). Im zweiten Teil dominiert dagegen die Hoffnung; darin sei diese Auslegung eher traditionell im Sinne der Devotio moderna ausgefallen, so dass Luthers Auslegung von Psalm 68 stärker für dessen eigenständigen Ansatz steht. Beide Psalmen stimmen jedoch in ihrem Meditationsverständnis völlig überein. Jeweils geht es darum, den Affekt der Furcht ausdrücklich zu erzeugen, weil der Mensch nur in dieser Gestimmtheit der Barmherzigkeit Gottes innewerden kann.

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potentia Dei et iustitia Dei per maximam et profundissimam humilitatem; Ideo iam est in altissimis per summam gloriam.“ 192

Die Entsprechung gegenüber der Gerechtigkeit Gottes geschieht in völliger Verdemütigung und darin im Nachvollzug des Weges Christi. Wie verhält sich dazu der letzte Satz, dass Christus Gottes Gerechtigkeit sei? Aus den viel besprochenen Ausführungen zu Ps 71 sei nur dies hervorgehoben: Das iudicium bleibt Gottes Urteil, die Verurteilung, die der Mensch in Selbstanklage auf sich nimmt. Deutlicher als zuvor wird dieser Vorgang nun als von Gott selbst bewirktes Heilsgeschehen verstanden: „Quare Castigatio et crucifixio carnis et damnatio omnium, que sunt in mundo, sunt Iudicia Dei, que per ‚Iudicium‘ i. e. evangelium et gratiam suam in suis operatur. Et sic fit Iustitia.“193

Gottes Wirksamkeit zum Heil in Kreuzigung und Verurteilung sind hier deutlich ausgesprochen. Darin erweist sich Gottes iudicium als Evangelium und Gnade. Dieses Tun Gottes ereignet sich offensichtlich in der radikalen Buße, wie sie in Ps 30 und 50 ausgeführt wurde: „Quia qui sibi iniustus est et ita coram Deo humilis, huic dat Deus gratiam suam.“194 Diesen Zusammenhang von Verurteilung Gottes und Selbstdemütigung in der Buße bezieht Luther nun in kryptischer Kürze auf den Gerechtigkeitsbegriff im Zusammenhang von Röm 1,17: „Sic Iustitia Tropologice Est fides Christi, Ro 1.: ‚Iustitia Dei revelatur in eo‘ etc.“195 So viel kann man sagen: Luther will offenbar die Grundlage beschreiben, warum das Selbstgericht der Buße, die Aneignung der Gerichtsangst Heilscharakter hat. In dieser Selbstverurteilung geschieht tropologische Aneignung des Geschicks Christi. „Unde Qui Apostolum et alias scripturas vult sapide intelligere, Oportet ista omnia tropologice intelligere: Veritas, sapientia, virtus, salus, Iustitia, scil. qua nos facit fortes, salvos, Iustos, sapientes etc. Sic opera Dei, vie Dei, Que omnia Christus est literaliter, Et fides eius moraliter hec omnia.“196

Glaube ist in diesem Zusammenhang offenbar der tropologische Vollzug der Aneignung der Gerechtigkeit Christi.197 Die Gleichgestaltung mit Christus als Gottes Handeln an uns lässt die Verurteilung zugleich Gnade 192 193 194 195

WA 55/II 432,210-214. WA 55/II 438,140-143. WA 55/II 438,143-144. WA 55/II 438,145-146. So schon am Beginn von Blatt 104: „Eodem modo et Iustitia Die triplex est. Tropologice Est fides Christi, Ro 1.: Revelatur enim Iustitia Dei in evangelio ex fide in fidem.“ (WA 55/II 437,104-105) 196 WA 55/II 440,184-188. 197 Nach SCHWARZ haben wir es hier zu tun mit der „für die Dictata zentralen theologischen Einsicht in die soteriologische Einheit von Christus und fides Christi.“ (S CHWARZ, Fides, S. 164)

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und Evangelium sein. Die christologische Begründung der Höllenfurcht macht die Passionsmeditation heilvoll. Die Gleichgestaltung mit Christus in der affektiven Aneignung des Höllengeschicks ist die Mitte der frühen Kreuzestheologie Luthers. Es ist dabei nicht ganz einfach, den Zusammenhang dieser Nachahmung mit der Furcht bzw. Anfechtung Christi zu entfalten. Entscheidend für diese Meditation ist die affektive Gleichgestaltung mit Christus. „Et omnes sancti ita affectu prius cum Domino moriuntur et descendunt cum eo ad infernum.“ 198 Denn nur, wer mit Christus stirbt und mit ihm in die Hölle hinabsteigt, kann auch mit ihm sich erheben und aufsteigen. Reinhard Schwarz hat dazu zu Recht betont, dass Luther wohl noch nicht begrifflich, aber der Sache nach eine Unterscheidung von Christus als sacramentum und exemplum vorwegnimmt. 199 Undeutlich bleibt, inwiefern das Leiden Christi sich heilswirksam im Mitleiden des Menschen zur Geltung bringt. Gleichwohl ist im Blick auf Christus eine Heilsbedeutung des Wortes iustitia gegeben, auch wenn der Zusammenhang mit der fides Christi nicht eindeutig entfaltet wird. Fazit: Die vielfältigen Belege der positiven Umdeutung der Höllenfurcht in den Dictata erhellen nachdrücklich, warum neben der Kritik des timor servilis in dieser Würdigung des timor gehennae die wesentliche Absicht von P I zu erkennen ist. Vom Hintergrund der geistlichen Meditationspraxis her lässt sich auch angeben, was diesen guten timor gehennae vom bösen horror unterscheidet, der zur Verzweiflung führt. In beiden Fällen ist ja die Hölle bzw. Gott als Richter Gegenstand der Furcht. Der Unterschied besteht darin, ob in diese Furcht eingewilligt wird oder nicht. Im horror wurde Gott gezwungen verehrt mit falscher Frömmigkeit, die nie hinreichte und deshalb in Verzweiflung führte. Gericht und Zorn Gottes wurden nicht willig angenommen, vielmehr versuchte der Mensch, sich dem Zorn Gottes durch eigene Werke und Frömmigkeitsübungen zu entziehen. In der Meditation wird hingegen die Höllenfurcht angenommen, bejaht und in Einwilligung ertragen. Sie wird darin weder zu einem falschen Movens noch zu einem Fluchtimpuls in erzwungene Frömmigkeit. 4.2.6 Scholastikkritik und simul In Erörterung der dritten Stufe kommt es in P I zu einer grundsätzlichen und umfassenden Kritik der scholastischen Gnadenlehre. Dabei deutet Luther eine persönliche Entwicklung an; er sei mit dieser Gnadenlehre 198 199

WA 55/II 404,614-615. „Das heißt, dass in der Person Christi bereits das beschlossen ist, was den Seinen in der mortificatio carnis und vivificatio spiritus widerfährt. Die an Christus glauben, betrachten sich als solche, die in Christus am Fleische getötet und im Geist lebendig gemacht sind. Für sie ist Christus das sacramentum ihrer Existenz.“ (SCHWARZ, Vorgeschichte, S. 224)

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selbst fast an Gott verzweifelt.200 Da, wo die Tradition ein Nacheinander von Liebe und Furcht vertrat, fordert Luther nun entschieden eine Gleichzeitigkeit von Furcht und Liebe, knechtischer und heiliger Furcht. Um es vorweg zunehmen: Diese Kritik an der scholastischen Gnadenlehre wie die Behauptung eines simul von Furcht und Liebe, Gnade und Sünde lässt sich so nicht in den Dictata finden und wird im Zusammenhang der Römerbriefvorlesung noch einmal anzusprechen sein. An dieser Stelle fragen wir zurück: Welche Ansätze bzw. Vorformen gibt es in den Dictata, aus denen sich die prinzipielle Kritik der Scholastik sowie die Denkfigur eines simul entwickelt haben könnten? In welcher Weise ist Luther mit der überkommenen Gnadenlehre in einen Konflikt geraten? Wie in der Problemgeschichte gesehen, ist bei aller Verschiedenartigkeit der Ausführung in der Scholastik die Gnadenlehre entwickelt worden als ein mehrstufiger Prozess der Umgestaltung des Menschen durch die Gnade. Dabei konnte stärker die vorauswirkende und unterstützende Wirkung der Gnade betont werden wie bei Thomas oder anders die Fähigkeit des Menschen zur Mitwirkung auch außerhalb und vor der Gnade stark gemacht werden wie in der spätfranziskanischen Entwicklung. In diesem Prozess stellt jeweils die Entmachtung der Sünde durch das sakramental vermittelte Wirken der Gnade einen Einschnitt dar. Der Christ als Begnadeter hat sodann die Möglichkeit, kraft der eingegossenen Liebe verdienstvolle Werke zu wirken und sich weiter auf einem Weg der Annäherung an Gott vorwärts zu bewegen. Es ist vor allem die Sündenlehre, in der Luther in der Beschäftigung mit Paulus und Augustin in den Dictata weiter gekommen ist. Wohl kann er noch im scholastischen Sinne von den Resten und Überbleibseln der Sünde sprechen, diese auch noch als Neigung und Antrieb zum Bösen begreifen, wie es sich in den Todsünden wie Hochmut, Zorn usw. entfaltet. Luther geht aber den entscheidenden Schritt weiter, diese Überbleibsel für Sünde zu erklären, die vor Gott übel, verdammungswürdig und bestrafenswert sind. 201 Mit dieser Sündenlehre ist ein erheblicher Bruch mit der Tradition vollzogen, ohne dass Luther in diesem Zusammenhang schon alle Konsequenzen dieser Tatsache übersieht. Wie spannungsvoll sich Luthers Verhältnis zur scholastischen Tradition gestaltet, ist vor allem dem Scholion zu Ps 115,1 zu entnehmen. 202 In der 200 Vgl. die Parallele im Brief an Spenlein vom 8. April 1516: „Fuisti tu apud nos in hac opinione, imo errore; fui et ego, sed et nunc quoque pugno contra istum errorem“. (WAB 1 35,22-23) 201 „Semper enim in nobis est reliquum et reliquie peccatorum, scil. Inclinationes et motus mali ad iram, suberbiam, gulam, accidiam, que sunt coram eo peccata, mala et damnabilia, ideo semper punienda.“ (WA 55/II 276,217-220) 202 Vgl. zur Auslegung vor allem G RANE , Contra Gabrielem, S. 296-301.

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Beschreibung des geistlichen Kommens Christi in Gnade und Herrlichkeit betont Luther zunächst, dass dieses Kommen ausschließlich in der Verheißung göttlicher Barmherzigkeit und nicht in den Verdiensten menschlicher Natur begründet sei. 203 Dafür bedürfe es keinerlei menschliche Vorbereitung, sondern lediglich einer Bereitschaft bzw. Empfänglichkeit.204 Luther unterscheidet entschieden zwischen Verdienst und Würdigkeit auf der einen und einer bloßen Empfänglichkeit auf der anderen Seite. Diese Unterscheidung meint er sodann interpretieren zu können durch Rekurs auf das berühmte facere quod in se est der Scholastik: Zurecht hätten die Scholastiker gelehrt, dass Gott demjenigen, der tut, was er vermag, unfehlbar seine Gnade gebe; nicht de condigno, was unmöglich sei, aber de congruo, um der Verheißung und Zusage willen. 205 Steht Luther damit noch auf den Voraussetzungen der nominalistischen Gnadentheologie? Zunächst ist zu sagen, dass Luther damit die trostvolle Absicht der klassischen Formel zur Geltung bringt. Er interpretiert seine Unterscheidung – nicht Würdigkeit, sondern Bereitschaft – durch die klassische Gegenüberstellung de condigno (gemäß Würdigkeit) und de congruo (gemäß Billigkeit). Die Logik von Verdienst und Würdigkeit ist dabei faktisch jedoch schon aufgegeben. Die Disposition de congruo steht ja für die seelsorgerliche Intention, sich mit einer Minimalforderung an die menschliche Vorbereitung zu begnügen. Für Luther dagegen gibt es gar keine Vorbereitung mehr außer der Einsicht, der Gnade immer zu entbehren, sie stets zu ersehnen, sich allein im Bewusstsein der Sünde und Unwürdigkeit auf die Barmherzigkeit zu verlassen. Darum kann auf Erden überhaupt nie der Gedanken einer hinreichenden Vorbereitung, weder de condigno noch de congruo auftreten, da das ganze Leben nichts als den Charakter der Vorbereitung hat: „totum tempus gratie preparatio est ad futuram gloriam et adventum secundum.“ 206 In diesem Sinne kann es daher in P I heißen, dass niemand die vollkommene Gottesliebe in einer zum Heil hinreichenden Weise habe, sondern diese erst von der Zukunft als Gabe Christi erwartet werde. 207

203 „Ex mera misericordia Dei promittentis datus, nec meritis humane nature donatus“. (WA 55/II 876,73-74) Und weiter: „ex promissione [...], non ex dignitate nature humane“. (WA 55/II 876,80-81) 204 „Nihil enim nisi preparationem requisivit, ut essemus capaces doni illius.“ (WA 55/II 876,81-83) 205 „Hinc recte dicunt Doctores, quod homini facienti quod in se est, Deus infallibiliter dat gratiam, Et licet non de condigno sese possit ad gratiam preparare, quia est incomparabilis, tamen bene de congruo propter promissionem istam Dei et pactum misericordie.“ (WA 55/II 876,92 – 877,95) 206 WA 55/II 877,103-104. 207 „Dixi etiam Deum dilligendum super omnia, castitatem, humilitatem, mititatem, dilectionem proximi etc. habenda, et sine his salvari posse neminem, et tamen neminem

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Finden sich also durchaus Vermittlungsbemühungen Luthers, seine Einsichten im Einklang mit der klassischen Terminologie zu deuten, so ist auf der anderen Seite auch der prinzipielle Abstand zur Schultheologie recht deutlich ausgesprochen. Interessanterweise ist es wiederum das Phänomen der Furcht, in dessen Kontext Luther die schärfste Kritik scholastischer Theologie innerhalb der Dictata formuliert. Zu Ps 65,17 redet Luther von nos theologi, d. h. die Theologiekritik begegnet hier noch als Selbstkritik. In den theologischen Disputationen würde unehrfürchtig über die Namen des dreieinigen Gottes geredet, die man nur mit zitterndem Herzen in Demut und Ehrfurcht aussprechen dürfte. Demut und Ehrfurcht allein wären angemessen. Aus Aristoteles hätte man gelernt, so unehrerbietig über die Dinge zu reden, dies würde man nun auf göttliche Dinge übertragen. Sodann spitzt Luther zu: „Hinc est, Quod ego odio habeo: Opiniones istas tam audaces Thomistarum, Scotistarum et aliorem, Quia sacrum Dei nomen, in quo signati sumus, quos celum, terra et infernus tremit, adeo sine timore tractant et exaltant super lingua, deprimunt autem sub lingua.“ 208

Die durchgängige Kritik religiöser Sicherheit hat gezeigt, welches Gewicht der Vorwurf besitzt, sich Gott gegenüber sine timore zu verhalten. In dieser erkenntnistheoretischen Dimension steht der timor für die besondere Erfahrungsbezogenheit, die sich in der Angsterfahrung ausspricht und der die unterschiedlichen Schulen der Theologie offenbar nicht gerecht werden. Sodann ist nach Vorformen des simul zu fragen, wie Luther es in P I entwickelt. Zunächst einmal scheint das Denken Luthers in den Dictata einer solchen Betonung des Zugleichs von Sünde und Gnade alles andere als günstig. Immer wieder wird der antithetische Charakter der Totalbestimmungen genannt. Der Mensch ist unter der Herrschaft des Fleisches oder des Geistes, des Gesetzes oder der Gnade, auf das Himmlische ausgerichtet oder das Irdische. Diese Totalbestimmungen schließen einander aus und können nicht im Sinne eines Teils–teils zusammengedacht werden. Wird der Gegensatz der Bestimmungen also stark betont, so gibt es daneben zugleich die Perspektive des homo viator, der sich auf dem Weg zwischen diesen beiden Polen befindet. Diese Weglogik wird insbesondere durch das Adverb semper bezeichnet. Immerdar befindet sich der Mensch auf dem Weg der Aneignung der Gnade. Vom Beginn der Heiligkeit bis zu esse, qui haec habeat eo [modo], quod ad salutem sufficiant, sed expectantur in futuro per Christum donanda.“ (WA 4 664,12-16) 208 WA 55/II 354,167-171. Vgl. auch die Ausführung zu Ps 67,36: Gottes Güte und Weisheit begreifen wir nur, soweit wir ihn fürchten: „Quanto enim magis divina bonitas, sapientia, maiestas a sanctis cognoscitur, tanto ipsi timoratius et Reverentius se ad eum habent.“ (WA 55/II 379,658-660) Darum kann es heißen: „Hic enim timor est summus cultus Dei.“ (WA 55/II 379,663-664)

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ihrer Vollendung seien es unendlich viele Stufen, die der Mensch realisieren müsse.209 Dieser Gedanke beständiger Bewegung, wie ihn in der Tradition niemand so eindrücklich wie Bernhard von Clairvaux formulieren konnte, wird von Luther beständig variiert. Das semper der ewigen Bewegung ist Inbegriff der christlichen Existenz geworden, die immer neu auf den Anfang zurückkommt, deren Fortschreiten ein stetes Neubeginnen ist. 210 Luther generalisiert damit eine Lebensbewegung, die kirchlich sakramental im Institut der Buße gegeben ist. Der Neuanfang nach der Absolution ist der je punktuelle Neubeginn des christlichen Lebens. Diese Punktualität des Neubeginns wird von Luther in eine permanente Kontinuität umgewandelt. Allezeit beginnt der Christ von vorne, fortschreiten heißt beständig anfangen: „proficientes semper sunt incipientes“ 211. Von diesem Moment ewiger Bewegung her gewinnt Luther nun einen neuen Zugang zum Gedanken der Gleichzeitigkeit vermeintlich gegensätzlicher Akte. In seinem Unterwegssein ist der Christ sowohl auf den Ausgangspunkt menschlicher Existenz, sein Sündersein, wie auf das Ziel, das ewige Lob Gottes bezogen. Insofern gilt es, auf dem Weg gleichermaßen seine Sünden zu beklagen wie auch Gott zu loben: „Simul quidem laudare oportet Deum et gemere peccata nostra: laudare, quia salvi facti sumus, Gemere quia peccavimus et in mali sumus huius vite et periculis. Possunt enim hec simul fieri, ut Deum laudemus et amemus et delectemur in eo, Et tamen nos vituperemus, odiamus et tristemur in nobis.“212

Dieses gleichzeitige Verhalten des Christen, Liebe zu Gott und Hass gegenüber sich selbst, Freude an Gott und Trauer über sich, entspricht zunächst einmal der Logik seines Weges. In Lob und Klage ist er negativ auf seinen Ausgangspunkt und positiv auf sein Ziel bezogen. Das simul steht insofern für die beiden Pole seiner Bewegung. Vor allem hinsichtlich der Sünde aber betont Luther, dass sie nicht nur ein verlassener Ausgangspunkt ist, dessen der Mensch sich klagend erinnert. Auch vom Gerechten wird gesagt, dass er beständig sündigt, als Gerechter beständig der Recht209 „Nam cum ab inchoatione sanctitatis usque ad perfectionem sint infiniti gradus [quia sapientie eius non est numerus: et semper de claritate in claritatem, de virtute in virtutem, ex fide in fide eundum.]“ (WA 55/II 490,21-24) Der Abschnitt zeigt, wie sowohl das Stufendenken als auch der Gedanke solchen stufenweisen Fortschritts hinsichtlich der Tugend bei Luther in dieser Zeit noch verankert ist. 210 „Ideo semper vigilare, semper in ortu esse, semper matutinum habere oportet, semper propositum innovare. Unde Ecclesia et anima sancta laudatur, Quod sit ‚Aurora consurgens‘. Semper enim in Aurora est et semper consurgit, Nunquam se perfecisse aut pervenisse aut apprehendisse arbitratur, Sed obliviscens, que post se sunt, semper incipit et extendit seipsam.“ (WA 55/II 777,409-414) 211 WA 55/II 945,1543. 212 WA 55/II 632,91-95.

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fertigung bedarf.213 Vor allem in seiner verstärkten Betonung der Sünde ist daher ein Moment gegeben, das dem simul eine prinzipiellere Bedeutung verleiht. Gleichzeitig ist der Mensch nicht nur in seinem Verhalten auf Beginn- und Endpunkt seines Weges bezogen; vielmehr hat er in seiner Person den Beginn in der Sünde stets bei sich und zugleich die Gnade Gottes in Glaube und Hoffnung gegenwärtig. Daher nähert sich Luthers Sprache in der Bewegung des semper zunehmend dem an, was ein simul von peccator und iustus sein wird; die fideles verhalten sich nicht nur zum malum, sie sind zugleich auch mali. 214 Das beständige (semper) Sein zwischen Ausgangs- und Endpunkt ist daher ein gleichzeitiges (simul) Bestimmtsein von beidem.215 Noch grundlegender ist wohl ein weiterer Zusammenhang, in dem das simul in Luthers Psalmenauslegung seinen Ort hat. Es begegnet innerhalb der Dictata mehrfach in einem christologischen Kontext. In Christus ist ein Zugleich anzutreffen von Gott und Mensch, Hoheit und Niedrigkeit: „Et ideo simul maledictus et benedictus, Simul vivus et mortuus, simul dolens et gaudens, Ut omnia in se absorberet mala et omnia ex se conferret bona.“216

Es ist wohl auch diese christologische Dimension, die im Blick auf den Menschen die Rede von einen Zugleich ermöglicht. Es zeigt sich erneut, wie die Christusanschauung Grundlage der neuen Gnadenlehre wird. 4.2.7 Das Ideal der Vollkommenheit Abschließend kommt Luther in P I auf die vierte Stufe bezüglich der Furcht zu sprechen: auf solche Heiligen, die nur noch Gott fürchten und 213

„Semper ergo peccamus, semper immundi sumus. Et si dixerimus, quod peccatum non habemus, mendaces sumus. […] Quare, ut supra dixi, semper sumus in motu, semper Iustificandi, qui Iusti sumus.“ (WA 55/II 973,2344-2345; 2348-2350) In diesem Zusammenhang beruft Luther sich wiederum auf Bernhard und dessen Grundsatz: „ubi incipis nolle fieri melior, desinis esse bonus.“ (WA 55/II 973,2352) 214 „Non tantum autem Incipientes eum solum bonum habent confiteri, Sed et proficientes, qui iam boni ex ipso sunt: non solum ideo quia mali fuerunt, sed etiam, quia mali sunt. Nam cum nullus sit in hac vita perfectus, semper ad eam bonitatem, quam nondum habet, dicitur malus, licet ad eam quam habet sit bonus.“ (WA 55/II 934,1240-1244) 215 „Igitur semper medii sumus inter bonitatem, quam ex Deo habemus, et malitiam, quam ex nobis habemus, donec in futuro absorbeantur omnia mala et sit solus Deus omnia in omnibus“. (WA 55/II 934,1252-1255) Vgl. zur Bedeutung des simul als der Pointe des traditionellen semper: O ZMENT, STEVEN: Homo spiritualis. A Comparative Study of the Anthropology of Johannes Tauler, Jean Gerson and Martin Luther (15091516) in the Context of their Theological Thought (SMRT 6), Leiden 1969. S. 132-135. 216 55/II 397,408-410. In diesem Sinne A LBERT BRANDENBURG: „Das ist die Erkenntnis, die Luther bei aller Betonung vom Auseinanderfallen der Welten aufrecht erhält, Christus ist das Simul.“ (B RANDENBURG, ALBERT: Gericht und Evangelium. Zur Worttheologie in Luthers erster Psalmenvorlesung, Paderborn 1960. S. 26.)

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alle andere Furcht hinter sich gelassen haben. Die Schilderung in P I ist auffallend blass gehalten. Solche Furcht wäre im Grunde identisch mit dem timor domini aus der Einleitung. Erstaunlich ist daher, welch geringe Rolle sie spielt. Wenn P I betont, selbst die Apostel und Propheten hätten nicht in ihr gelebt, wird dabei der Gegensatz deutlich zu einer vom Aufstiegsdenken geprägten Frömmigkeit. In den Dictata hat Luther noch keinen grundsätzlichen Bruch mit dem Mönchsideal des Mittelalters vollzogen. 217 Luther betont entschieden den Gedanken immerwährenden Fortschritts, einer perfectio als Signatur gerade der mönchischen Existenz.218 Mehrfach kann er an den Gedanken Bernhards anknüpfen, dass der Mensch, der aufhöre besser werden zu wollen, nicht mehr gut sei.219 So kann er im Scholion zu Ps 102,7 die Vervollkommnung in einem ordo perfectus darstellen.220 Nach der Beschreibung der mönchischen Tugenden Demut, Armut und Keuschheit skizziert Luther drei Stufen des Fortschritts: Auf der ersten kommt es zur Flucht vor der Welt und der Suche nach Einsamkeit. Auf der zweiten Stufe wird diese Bewegung verinnerlicht, indem sich der Mensch vor dem leeren Ruhm der Welt verbirgt. Auf der dritten schließlich hütet sich der Mensch durch vollkommene Furcht Gottes vor dem Bösen und wird im Guten bewahrt. Diese Haltung erläutert Luther wiederum durch die typische Beschreibung der Bußbewegung und des Selbstgerichts. Im Zusammenhang seiner Bußtheologie ist daher die Ausrichtung der Fortschrittsidee signifikant verändert. Ziel ist nicht eine permanente Höherentwicklung, sondern eine immerwährende Vertiefung in die Buße, in die Annahme des göttlichen Gerichts in Selbstgericht und Bekenntnis der Sünde. Vor allem das Heiligenideal erfährt dabei eine bedeutsame Umgestaltung. Anders als im frühen monastischen Ideal kennt Luther keine Stufe der Sündlosigkeit mehr. 221 Auch für die Heiligen gilt, dass alle ihre Gerechtigkeit vor Gott nichtig ist, dass nicht ihre äußeren Werke, sondern

217 Vgl. dazu die Untersuchung von LOHSE , B ERNHARD: Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters (FKDG 12), Göttingen 1963. S. 227-278. 218 Vgl. BELL, der darin ein „Lieblingsthema des jungen Luthers“ sieht. (BELL, S. 71) 219 Vgl. schon zu Ps 118,122: „Vere dicit B. Bernardus: ‚Ubi incipis nolle fieri melior, desinis esse bonus.‘ Quia non est status in via Dei, ipsa mora peccatum est.“ (WA 55/II 973,2351-253) Anschließend legt Luther diesen Gedanken durch seine übliche Terminologie von Selbstrechtfertigung und Selbstverurteilung aus. Vgl. auch WA 55/II 64,5-6. Vgl. zur Rezeption dieses bernhardischen Gedankens auch B ELL, S. 71-75. 220 Vgl. zum Folgenden: WA 55/II 791,358ff. 221 Vgl LOHSE , Mönchtum, S. 247ff.; P INOMAA, LENNART: Die Heiligen bei Luther (Schriften der Luther-Agricola-Gesellschaft A 16), Helsinki 1977.

4.2 Dictata super Psalterium

123

Gottes Werk entscheidend ist.222 So gibt es keine menschliche Vollkommenheit, die nicht vor Gott ihre Unvollkommenheit bekennen müsste. Nicht nur die Anfangenden, sondern die Fortschreitenden müssten beständig ihr eigenes Übel bekennen. Auch der Beste sei nicht vollkommen, sondern werde vor Gott mit Recht schlecht genannt. 223 So findet sich bei Luther auch keine Würdigung der Mönchsgelübde als Steigerung gegenüber der Taufe. Der Mönchsstand tritt nicht als Überbietung der christlichen Existenz auf, in ihm gilt prinzipiell dieselbe Verpflichtung zur Buße. Der Gedanke immerwährenden Fortschritts schließt es praktisch aus, dass der Mensch je irgendeine höhere Stufe als erreicht betrachten könnte. Auch in dieser Frage stehen wir also wieder vor einem für die Dictata so typisch ambivalenten Ergebnis. Zwei Motive ringen miteinander: auf der einen Seite die starke Betonung des proficisci, des dauernden Fortschreitens, was Luther auch in verschiedenen Stufenmodellen entwickeln kann. Auf der anderen Seite steht die in der vertieften Sündenlehre begründete Skepsis gegenüber allem menschlichen Aufstieg. Die vierte Stufe gilt daher nicht mehr als Beschreibung eines möglichen erreichbaren Ziels, sondern hat die Funktion eines orientierenden Ideals. In diesem Sinne ist sie im ersten Teil der Predigt verwandt worden. Als erreichbare Stufe wird sie dagegen im zweiten Teil der Predigt nicht entfaltet. 4.2.8 Fazit: Theologie im Übergang Sowohl in P I als auch in den Dictata haben sich unterschiedliche Schwerpunkte herauskristallisiert, die nicht leicht in eine kohärente Gesamtperspektive zu überführen sind. Luthers Denken zeigt eine ungeheure Spannung zwischen überkommener Tradition und den eigenen Versuchen, mittels der Bibel eine neue Durchdringung des Sachverhaltes zu erzielen. Zu Recht konnte Berndt Hamm zusammenfassen: „Die 1. Psalmenvorlesung ist offensichtlich ein Werk zwischen den Zeiten und Fronten.“ 224 Vor allem gilt dies für den Versuch einer theologischen Bewältigung und angemessenen Deutung von religiöser Furchterfahrung.

222 Vgl. Scholion zu Ps 76,12: „non in viribus nostris et Iustitiis nostris operemur, Sed opera Domini discamus operari […] Quare Iustitie et opera nostra coram eo nihil sunt.“ (WA 55/II 523,462-463; 465-466) 223 Vgl. zu Ps 118,65: „Non tantum autem Incipientes eum solum bonum habent confiteri, Sed et proficientes, qui iam boni ex ipso sunt; non solum ideo quia mali fuerunt, Sed etiam, quia mali sunt. […] Et nullus, licet optimus, est, quin aliquid habeat mali. Unde merito potest coram Deo dici malus.“ (WA 55/II 934,1240-1242; 1245-1246) 224 H AMM, BERNDT: Was ist reformatorische Rechtfertigungslehre? ZThK 83 (1986) S. 1-38. S. 35. Vgl. auch P ESCH: „In sich betrachtet, ist diese Frühtheologie gewiss noch offen nach mehreren Richtungen.“ (P ESCH, S. 93)

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Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung

Grundlegend ist dabei die Einsicht in die Mehrdeutigkeit von Furcht. Die schon in der Bibel gegebene und in der Tradition ausgeführte Wertschätzung der Furcht des Herrn ist für Luther selbstverständlich. Auch darin steht er in augustinisch-traditionellen Bahnen, dass er diese Furcht als Frucht der Liebe zu begreifen sucht. Gegenüber der Tradition sind es zwei Tendenzen, mit denen Luther eine eigene Position profiliert: die Abwertung des timor servilis als Furcht vor Strafe und die Aufwertung der Furcht vor der Hölle. Die Ambivalenz des timor servilis war in der Tradition bereits vorgegeben. Schon Augustin konnte in doppelter Hinsicht vom timor servilis sprechen, auch die Unterscheidung von zeitlicher und ewiger Erstreckung der Straffurcht findet sich dem Ansatz nach bei ihm. Warum greift Luther mit solcher Entschiedenheit allein auf die antithetische Zuordnung der Furchtarten zurück? In der Kritik des timor servilis wendet sich Luther zunächst mit Entschiedenheit gegen einen weit verbreiteten Trend der Beschwichtigung und der Entlastung. Die dem Bußinstitut innewohnende Bedingungsstruktur ließ sich nicht durch ein Minimalisierungsprogramm angemessen bewältigen. War das an sich Ungenügende menschlicher Straffurcht nie umstritten, so wurde sie doch in den prozesshaften Darstellungen der Gnadenlehre auf die eine oder andere Art positiv in den Heiligungsprozess des Menschen eingebunden. Als Grund dieser entschiedenen Kritik sind wir auf eine doppelte Wurzel gestoßen. Auf der einen Seite führt die Entdeckung der paulinischen Antithesen von Geist und Fleisch, Gesetz und Geist, altem und neuem Mensch zu einer Kritik der gesetzlichen Furcht. Es ist die falsche Motivation, die hier deutlich wird, die nicht aus dem Geist, sondern aus dem Fleisch das menschliche Verhalten steuert. In dieser Hinsicht kann Luther durchaus als konsequente Fortsetzung einer spätmittelalterlichen Möglichkeit begriffen werden. Diese Linie ist bei Augustin, Bernhard und anderen vorgezeichnet. Auf der anderen Seite steht ein existenzielles Motiv: Furcht, die als Motiv auf einem Weg der Heiligung eine pädagogische Funktion gewinnen soll, führt auf dem Wege religiöser Leistungssteigerung zu Versagen und zu Verzweiflung. Immer wieder spielt Luther an die Möglichkeit des Gotteshasses und der verzweifelten Lästerung gegenüber Gott an und beschreibt dies ab 1515 rückblickend auch als schwere eigene Gefährdung. Diese Furcht, die zur Verzweiflung zu werden droht, wird von Luther als horror beschrieben, den er eben mittels der traditionellen Begrifflichkeit als timor servilis deutet. Die Erfahrung existenzieller Abgründigkeit solcher Furchterfahrung wie die theologische Deutung einer humanen Fehlbestimmung aus geistloser Liebe verdichten sich zur totalen Kritik des timor servilis, die Luther auf alle positive Verknüpfung mit dem menschlichen Heilsweg verzichten lässt. Darum wird der timor initialis in seiner Psalmenvorlesung überhaupt nicht aufgegriffen und begegnet in P I

4.2 Dictata super Psalterium

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und P II auch nur in völlig verfremdeter Gestalt. Darum wird die seit Augustin so bereitwillig pädagogisch-empirische Deutung des timor servilis (als zwar unzureichend, aber wenigstens nützlich) nicht aufgegriffen. Der Unterschied zur Tradition zeigt sich nicht zuletzt in der Tendenz zur Aufwertung der Höllenfurcht. Traditionell ist seit Augustin die Möglichkeit gegeben, die Straffurcht bezogen auf das Ewige positiv aufzuwerten und in den Prozess der Heilsaneignung zu integrieren. Doch für Luther ist die Höllenfurcht mehr als ein Anfangsmoment im Prozess gnadenhafter Umgestaltung des Menschen. Ihre Bejahung geschieht nicht im Sinne Augustins um der Rechtfertigung ihres pädagogischen Nutzens willen. Sie wird nicht im Sinne Bernhards nur als ein im Prozess des geistlichen Fortschritts zu überwindendes Moment des Anfangs gewürdigt. Kritik und Würdigung der Furcht beziehen sich nicht primär auf das Objekt der Furcht, sondern auf ihre Funktion. Wohl unterscheidet Luther auch nach dem Objekt: Der timor servilis sorgt sich um das Irdische, Vergängliche und nicht um das Ewige. Diese augustinische Unterscheidung von zeitlich und ewig, irdisch und himmlisch dürfte jedoch eher traditionell und für Luthers Verständnis sekundär sein. Der existenzielle Gesichtspunkt überwiegt: Die Furcht vor Verlust des Irdischen bleibt gefangen im amor sui bzw. der Sünde. In der Höllenfurcht wird Gott dagegen ernst genommen und der Horizont des selbstbezüglichen Lebens überschritten. Luthers Hochschätzung des timor gehennae ist nicht zu verstehen ohne den Hintergrund der existenziellen Aufgabe, religiöse Furchtattacken bewältigen zu müssen. Die Erfahrung abgründiger Angst ließ sich im traditionellen Schema nur in einer Weise deuten, die diese Erfahrung verzweifelt machen musste. Wenn die abgründige Furcht Anzeichen der Gnadenlosigkeit ist, wird ihre Erfahrung im Licht solcher Deutung zum Anlass der Verzweiflung. Wenn man solche Höllenfurcht jedoch als realistische Erkenntnis der eigenen Lage vor Gott zu deuten vermag, eröffnet sich ein anderes Bild. In dieser Perspektive wird die Erfahrung von Furcht nicht Grund zu neuer Furcht, sondern kann als berechtigt angenommen werden. Es ist nun klar, warum P I systematisch einen so widersprüchlichen Eindruck machen muss. Schärfste Kritik der Straffurcht als Motiv und zugleich Aufwertung der Höllenfurcht nicht nur als Moment des Heilsprozesses, sondern als Signum christlicher Existenz, diese beiden Akzente ließen sich nicht in einem systematischen Zusammenhang entfalten. Der Gegensatz von Liebe und timor servilis ließ keinen Raum, den timor gehennae zu würdigen. Das Schema der vier Gruppen hingegen lässt den Gegensatz des Lebens aus dem Geist bzw. aus dem Fleisch nicht angemessen hervortreten. Daher unterbricht Luther das gradualistische Schema immer wieder durch Gegenüberstellung mit den falschen Formen der Sicherheit. Die überlieferten begrifflichen und strukturlogischen Mittel er-

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Kapitel 4: Furcht in Luthers erster Vorlesung

laubten Luther keine kohärente Darstellung der für ihn entscheidenden Gesichtspunkte. Man wird daher auch für die Dictata schon von einem erheblichen systemsprengenden Potential reden können. Fragen wir schließlich nach dem existenziellen Ertrag für den Umgang mit extremer Furchterfahrung, wie sie Luther biographisch gemacht hat. Im Umgang mit Furcht entdeckt Luther, dass man sich der Furcht nicht durch Flucht entziehen kann, wie dies etwa durch Verleugnung bzw. Verdrängung versucht wird. In Luthers Kritik der securitas geht es um das Phänomen, dass Furcht nicht zugelassen wird. Frömmigkeit spielt in dieser Hinsicht eine Rolle der Beschwichtigung bzw. der Verharmlosung vor allem der menschlichen Sünde. Dieser Tendenz der „billigen Lehren“ und des Ablasses stellte Luther sich mit aller Kritik entgegen. Er identifizierte dieses Streben nach Sicherheit und Frieden als die eigentliche Versuchung bzw. Gefährdung der Identität der Kirche Jesu Christi. Eine andere Form der Flucht vor der Furcht ist ihre Instrumentalisierung als Handlungsmotiv. Diesem Weg stellt Luther sich in seiner Kritik des timor servilis entgegen. Denn jedes von Furcht bestimmte fromme Tun erweist sich als ein Weg der Furchtvermeidung. Dem Menschen kann es zu seinem Schaden gelingen, sich im Prozess der Heiligung für fortgeschritten zu halten und sicher zu wähnen. Religiöse Praxis kann darin den Charakter einer Versuchung zur Selbsttäuschung erlangen und sich als größtes Hindernis des Glaubens erweisen. 225 Wo religiöse Praxis der existenziellen Angst, vor Gott nicht zu genügen, wehren soll, führt sie in Verzweiflung oder in Heuchelei. Im Horizont seiner Vertiefung der Buße bestimmt Luther den angemessenen Umgang mit Furcht als Annahme der Furcht. Der Erfahrungshintergrund dürfte sein: Eine Frömmigkeit, die von Angst getrieben wird, findet keine Erleichterung, sondern vertieft sich durch Schrecken, der Hass mit sich führt, schließlich in Verzweiflung. Der ganze Zusammenhang der frühen Rechtfertigung beruht darauf, das Urteil des Ungenügens nicht mit vermehrter Leistung, Anstrengung und Praxis zu beantworten, sprich: die Angst vor dem Zorn zum Motiv des Handelns werden zu lassen. Vielmehr gilt es, das gefürchtete Urteil Gottes anzunehmen, sich zu eigen zu machen, sich selbst anzuklagen, zu verurteilen. So angenommen wird sie zum Indiz wahrhaftiger Erkenntnis seiner selbst vor dem Angesicht Gottes. Es ist diese letzte Zuspitzung, die sich für den ganzen Zusammenhang der scholastischen Gnadenlehre als systemsprengend erweist. Die gradualistische Beschreibung des Nacheinanders der verschiedenen Furchtformen musste demjenigen, der von panikhafter Furcht vor Tod und Hölle heimgesucht wurde, den Eindruck vermitteln, außerhalb der Gnade zu stehen. Die Einwilligung in solche Furcht schuf die existenzielle Voraussetzung für ein 225 Vgl. die Beschreibung der klösterlichen Übungen als detrimentum (WA 4 665,3536) der Fortgeschrittenen.

4.2 Dictata super Psalterium

127

Denken, das das Heil nicht mehr prozesshaft gradualistisch vermittelte, sondern in der unmittelbaren Gottesbeziehung Ereignis werden ließ. In der falschen religiösen Praxis liegen Unterschätzung der Sünde und Überschätzung menschlicher Möglichkeiten eng ineinander. Schon in den Dictata wendet sich Luther zunehmend gegen diesen Gesamtkomplex spätfranziskanischer Theologie. Gerade hier wird Augustin der entscheidende Verbündete, wobei sicher auch die vermittelnden Impulse von Staupitz im Hintergrund zu sehen sind. Der Gedanke des simul ist existenziell verwurzelt in einer Haltung des Selbstgerichts und der Annahme göttlichen Zornes bzw. drohender Verwerfung. In P I wird dieses existenzielle simul Beginn einer Kette, die am Ende rechtfertigungstheologisch Gnade und Sünde zusammenstellen kann. An der Angst geht Luther die Bedeutung eines „zugleich“ auf, das auf die ganze Gnadenlehre systemsprengenden Druck ausüben wird.226 Im existenziellen Umgang mit dem Furchtproblem gewinnt Luther eine Denkkategorie, die zentrale Bedeutung für sein Verständnis von Rechtfertigung gewinnt. P I erweist sich in diesen Formulierungen bereits nachhaltig geprägt von den Überlegungen, die Luther spätestens ab Herbst 1515 nachdrücklich formulieren konnte. Die Verwurzelung dieses Fragenkreises in der existenziellen Aufgabe der Angstbewältigung dürfte im Durchgang durch die Dictata deutlich geworden sein.

226 Vgl. dazu insgesamt die Perspektive, die B ERNDT H AMM in seiner Studie H AMM, Naher Zorn entwickelt hat. HAMM geht es darum, den Beginn des Umbruchs in Luthers Theologie bereits für die Erfurter Zeit (1505-1511) zu behaupten. Schon in Luthers Anfechtungserfahrungen lasse sich eine neue Qualität des Gottesverhältnisses wahrnehmen. Der Glaube an das Evangelium setze diese tiefe Erfahrung eigener Ohnmacht letztlich voraus. Die Dictata böten bereits eine theologische Gesamtschau, in der die Einsicht in die eigene Ausweglosigkeit, die Erkenntnis der Anfechtung als notwendiges Durchgangsmoment dieser Einsicht und schließlich der Glaube an das Heilshandeln Gottes auf dem Weg dieser Erfahrung verbunden seien (S. 132f.; 134). Demgegenüber haben wir deutlicher unterschieden zwischen der Erfahrung extremer Angst auf der einen Seite und einer theologischen Bewältigungsbemühung auf der anderen. Insofern sind in der Perspektive dieser Untersuchung Luthers Anfechtungen nicht der Beginn, wohl aber der existenzielle Entstehungszusammenhang seiner systemsprengenden Erkenntnisse. Diese Unterscheidung erscheint schon deshalb als wichtig, weil sich ja von Luthers Erfahrungen her keinesfalls notwendig sein deutender Umgang mit ihnen ergibt. Dieser wächst ihm vielmehr zu im entdeckenden Umgang mit der Bibel.

Kapitel 5

Furcht in der Römerbriefvorlesung Kapitel 5: Furcht in der Römerbriefvorlesung

In den Dictata wurde Luthers zunehmende Beschäftigung mit Paulus offensichtlich. Die anschließende Paulusexegese erwies sich als natürliche Konsequenz.1 Das Verständnis der Römerbriefvorlesung dürfte in der Forschung2 zu stark von der Frage nach dem reformatorischen Durchbruch bestimmt gewesen sein. Vertreter der Frühdatierung neigten dazu, im Römerkommentar die wesentlichen Gehalte der Rechtfertigungslehre als bereits vorhanden anzusehen.3 Vertreter einer Spätdatierung tendierten dahin, den Römerkommentar mit einer Heuristik des Defizits an der reifen Theologie der Jahre ab 1520 zu messen.4 Die hier vorgelegte Deutung vermeidet an dieser Stelle sowohl die Datierung eines reformatorischen Durchbruchs wie auch die Festlegung auf eine Wesensbestimmung des Reformatorischen und nimmt Luthers Auslegung zunächst im Verhältnis zur theologischen Tradition und zu seinen eigenen Anfängen wahr; und erst in zweiter Linie im Blick auf seine spätere Entwicklung. Luthers Umgang mit Furcht wird anhand der Koordinaten seiner „frühen Rechtfertigungslehre“ 5 vorgestellt, im Blick auf das Verständnis von Sünde (5.1), Gesetz (5.2) und Rechtfertigung (5.3). Sodann ist Luthers Beschäftigung mit Tauler und der „Deutschen Mystik“ im Blick auf die dort gewonnenen Impulse für die Entwicklung seiner Theologie zu betrachten (5.4). Der Ertrag für den Um1

Luther las über den Römerbrief wahrscheinlich im Wintersemestersemester 1515/1516 und im Sommersemester 1516. Vgl. BRECHT I, S. 129. 2 Vgl. vor allem: B AYER , Promissio; GRANE , LEIF: Modus Loquendi Theologicus. Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie (1515-1518) (AThD 12), Leiden 1975; KROEGER; IWAND, HANS J OACHIM: Rechtfertigungslehre und Christusglaube. Eine Untersuchung zur Systematik der Rechtfertigungslehre Luthers in ihren Anfängen, ND Darmstadt 21961 (1930); LOHSE, B ERNHARD: Die Bedeutung Augustins für den jungen Luther, KuD 11 (1965) S. 116-135; ZUR MÜHLEN, KARL-HEINZ: Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik (BHTh 46), Tübingen 1972. Zur Übersetzung siehe Luther, Martin: Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516. Lateinisch-deutsche Ausgabe. 2 Bde., mit der Übersetzung von Eduard Ellwein, Darmstadt 1960. 3 Vgl. bei M ARKUS WRIEDT die für die Problematik vielsagende Formulierung, dass Luthers „reformatorische Theologie“ im Römerbriefkommentar „nahezu vollständig im Keim angelegt“ ist. (WRIEDT, MARKUS: Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johann Staupitz und Martin Luther [VIEG 141], Mainz 1991. S. 9.) 4 Am konsequentesten bei B AYER , Promissio, S. 132ff. 5 So die möglichst neutrale Formulierung, vgl. auch KROEGER , S. 41ff.

5.1 Sünde und Sicherheit

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gang mit Furcht wird anhand der Problemkreise von Anfechtung und Gewissheit verdichtet (5.5).

5.1 Sünde und Sicherheit 5.1 Sünde und Sicherheit

Die Römerbriefvorlesung ist gegenüber den Dictata von einer eindrücklichen theologischen Zentrierung des gesamten Gedankengangs bestimmt. Die Vorrede markiert eindeutig den neuen Schwerpunkt:6 Sünde ist eine den Menschen bestimmende Macht, die in religiöser Praxis nicht beseitigt, sondern sogar noch vertieft wird; das ist die Einsicht, die Luther in der Beschäftigung mit Paulus und Augustin aufgegangen ist. Den ersten grundlegenden Akzent setzt Luther, indem er die Sünde konsequent als Verfehlung des Gottesverhältnisses bestimmt. Nicht die Beschreibung als Mangel einer Urstandsvollkommenheit oder als Übertretung einer göttlichen Norm bestimmt Sünde hinreichend 7, diese ist nur in Relation zu Gott richtig zu erfassen. Im Anschluss an die augustinische Unterscheidung von Gebrauchen und Genießen8 kann Luther die Verkehrung der Gottesbeziehung beschreiben: „Natura nostra vitio primi peccati tam profunda est in se ipsam incurva, ut non solum optima Dei sibi inflectat ipsisque fruatur (ut patet in Iustitiariis et hipocritis), immo et ipso Deo utatur ad illa consequenda, Verum etiam hoc ipsum ignoret, Quod tam inique, curve et prave omnia, etiam Deum, propter seipsam querat.“9

In dieser „Verkrümmung in sich selbst“ verfehlt der Mensch die Bestimmung seiner Gottesbeziehung, nämlich die Liebe zu Gott.10 Denn an Stelle Gottes vermag der Mensch nur sich selbst zu lieben: „homo non potest, nisi que sua sunt, querere et se super omnia diligere. Que est suma omnium vitiorum.“11 In dieser Selbstliebe setzt sich der Mensch an die Stelle Gottes und will Gott nicht Gott sein lassen. Von dieser Verkehrung der Liebe her

6 Siehe den berühmten Auftakt der Glossen zur Römerbriefvorlesung: „Summa et intentio Apostoli in ista Epistola est omnem Iustitiam et sapientiam propriam destruere et peccata atque insipientiam, que non erant (i. e. propter talem Iustitiam non esse putabantur a nobis), rursum statuere, augere et magnificare (i. e. facere, ut agnoscantur adhuc stare et multa et magna esse) ac sic demum pro illis vere destruendis Christum et Iustitiam eius nobis necessarios esse.“ (WA 56 3,6-11) Entsprechend in den Scholien WA 56 157,2ff. 7 Vgl. WA 56 312,1ff. 8 Vgl. Sent. I dist. 1. cap. 2. 9 WA 56 304,25-29. Vgl. auch WA 56 356,4-6. 10 „Hoc malum in nobis per se sit peccatum, quia non inplemus propter ipsum dilectionem Dei super omnia.“ (WA 56 281,9-11) 11 WA 56 237,12-14.

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Kapitel 5: Furcht in der Römerbriefvorlesung

kann Luther die Sünde auch mit der concupiscentia identifizieren.12 Damit ist nicht eine Engführung auf materielle oder gar sexuelle Begierde vollzogen, sondern vielmehr die Ausweitung des verkehrten Begehrungsvermögens auch ins Geistig-Religiöse.13 An zweiter Stelle ist im Blick auf den Menschen der Machtcharakter der Sünde zu betonen. Eindeutig ist in diesem Zusammenhang die entschiedene Ablehnung eines menschlichen liberum arbitrium, wie es in den Dictata so noch nicht ausgesprochen ist. 14 Die menschliche Natur sei außerstande, sich aus den Schlingen der Versuchung selbst zu befreien.15 Die Erfahrung beweise eindeutig, dass der Mensch diese Begierde nicht mit eigener Anstrengung überwinden könne: „Error est, Quod hoc malum possit per opera sanari, cum Experientia testetur, quod in quantumlibet bene operemur, relinquitur concupiscentia ista ad malum et nemo mundus ab illa, nec Infans unius diei.“16 Angesichts der Sünde befindet sich der Mensch somit in einer prinzipiellen soteriologischen Ohnmacht. Drittens ist schließlich die Verschlossenheit dieses Zusammenhangs für das menschliche Bewusstsein zu betonen. Die Klugheit des Fleisches wurzelt nicht nur tief in unserer Natur, stärker noch: „Immo est ipsa vulnerata et per totum fermentata natura, adeo ut non solum sine gratia sit irremediabilis, sed etiam incognoscibilis ad plenum.“ 17 Daher lebt der Sünder beständig in Täuschung über seinen eigentlichen Zustand.18 Diese Täuschung vermag der Mensch nicht von sich aus zu überwinden, sondern ist dabei

12 13

WA 56 312,12-18. 367,22ff. Vgl. die Kritik der guten Werke: „Et sic patet evidenter, quod non ex Charitate et humilitate propter solum Deum benefecerit, Sed propter se et suam opiniomem ex occulta superbia et amore sui.“ (WA 56 194,20-22) Diesen „verborgenen Hochmut“ aufzuspüren bis in seine verborgensten Verästelungen, das vermeintlich Gute und Fromme als Ausdruck des amor sui zu enttarnen, ist ein Grundzug der ganzen Römerbriefauslegung. „Unde et in bonis et virtutibus tales querunt se ipsos, sc. Ut sibi placeant et plaudant.“ (WA 56 237,14-15) 14 „Liberum arbitrium [...] secundum profundiorem theologiam nihil est.“ (WA 56 182,9-10) Allerdings konnte Luther auch in den Dictata schon die Begierde mit der Erbsünde identifizieren, vgl. zu Ps 50,17 WA 55/II 276,217-220. 15 „Si et hos[…], formam vel vitam et sic consequenter per multos istos et tenacissimos laqueos et infinitas questiones procedendo. Ex quorum minimo natura se non potest expedire, quanto minus ex omnibus et maioribus.“ (WA 56 362,22-25) 16 WA 56 271,24-27. 17 WA 56 361,20-22. 18 „Ita isti impii et superbi, cum sint egroti coram Deo, sibiipsis sanissimi videntur.“ (WA 56 217,16-17)

5.1 Sünde und Sicherheit

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auf die Offenbarung Gottes angewiesen. Darum müssen wir dem Wort Gottes glauben, dass wir Sünder sind.19 Es ist diese Einsicht in die Zusammenhänge der Sünde, die systemsprengende Kraft gewinnt und zum wesentlichen Ansatz für Luther wird, sich grundsätzlich von der scholastischen Theologie zu distanzieren. Vor allem im berühmten Scholion zu Röm 4,7 werden die Gedanken bis zur letzten Konsequenz ausgezogen. Der gesamten scholastischen Theologie hält Luther vor, nicht richtig von Sünde und Gnade geredet zu haben. 20 Der zentrale Irrtum habe darin bestanden, dass man im Blick auf die Taufe oder die Buße von einer Wegnahme bzw. Auslöschung der Sünde wie einer bloß äußerlichen Realität habe reden können. Luther beschreibt in diesem Zusammenhang sein gewiss auch persönliches Dilemma: Er kämpfte um eine solche Reue und beichtete, dass die Sünde hinweg genommen würde. Sollte sich jedoch auch nach der Beichte Begierde regen, habe er ja folgern müssen, dass es nicht wirklich zur Vergebung gekommen sei. Als Inbegriff dieses Ideals gilt für ihn der ockhamistische Grundsatz, dass der Mensch aus eigenen Kräften Gott über alles lieben könne; ein Ideal, das er nun mit dem Ausbruch „O stulti, O Sawtheologen!“ 21 zurückweist. In diesem Ideal sah man die Sünde als etwas am Menschen und nicht als die das Gottesverhältnis verunmöglichende Macht der verkehrten Begierde im Menschen. Diese Unwissenheit im Blick auf Sünde und Vergebung22 habe verzweifelte wie aussichtslose Kämpfe provoziert. Diese unbedingte Betonung der Macht der Sünde richtet sich vor allem gegen jegliche menschliche Sicherheit (securitas). Wie in den Dictata, so betont Luther auch in der Römerbriefvorlesung, wie schädlich das Ausbleiben jeglicher Furcht Gottes ist. Im Rahmen seiner vertieften Sündenauffassung verschärft sich der Ton an diesem Punkt sogar noch. Wo die Furcht des Herrn ausbleibt, ist die Herrschaft der Sünde unvermeidlich. 23 Zu Röm 3,17 kann Luther die zentrale Bedeutung des timor Dei verdeutlichen. Die Sünde wird in diesem Zusammenhang vor allem als Hochmut verstanden. Dieser aber hat seine Ursache in mangelnder Gottesfurcht: „Ideo autem superbiunt, quia non timent Deum.“ 24 Luther beklagt dabei die falsche Sicherheit, mit der viele das Gericht Gottes nicht auf sich selbst,

19 „Etsi nos nullum peccatum in nobis agnoscamus, Credere tamen oportet, quod sumus peccatores. [...] Iudicio Dei standum et sermonibus eius credendum, quibus nos iniustos dicit, quia ipse mentiri non potest.“ (WA 56 231,6-7;11-12) 20 „Non bene satis de peccato et gratia theologici scholastici sunt locuti“. (WA 56 273,3-4) 21 WA 56 274,14. 22 WA 56 276,12f. 23 „Et Ubi ille abest, omnium peccatorum pronitas adest.“ (WA 56 183,19-20) 24 WA 56 246,23-24.

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Kapitel 5: Furcht in der Römerbriefvorlesung

sondern nur auf andere beziehen. Auch die vermeintlichen Gerichte über andere werden nicht zum Anlass, sie auf sich selbst zu beziehen. Am ausführlichsten kommt Luther im großen Scholion zu Röm 4,7 auf die Furcht im Kontext der Sünde zu sprechen. Luther sieht den timor Dei im stärksten Gegensatz zur securitas. Die Sicherheit ist für ihn die Mutter der Heuchler. 25 Um diese Gefahr abzuwenden, lasse Gott uns bisweilen in Sünde und in Versuchung fallen, um uns in Furcht und Demut zu halten.26 Denn da, wo Furcht und Unruhe wichen, setze sich bald wieder Sicherheit fest: „Cessante enim isto timore et sollicitudine mox ponitur securitas“27. Nichts würde daher in der Heiligen Schrift den Heuchlern so sehr vorgeworfen und als Ursache ihres Hochmuts („causa superbie“28) beschrieben, als die Sicherheit, mit der sie die Furcht des Herrn von sich weisen29; ein Gedanke, den Luther durch Zitat von Spr 1,29, Ps 14,3 und Hos 10,3 unterstreicht. Das Fehlen des timor Dei ist daher bereits die Sünde: „Immo eoipso peccamus non timendo“30.

5 2. Gesetz und timor servilis 5.2 Gesetz und timor servilis

Aus der traditionellen scholastischen Begrifflichkeit wird vor allem der Ausdruck des timor servilis beibehalten. Die Kritik des timor servilis erfolgt in der Römerbriefvorlesung vor allem im Zusammenhang des Gesetzes. Die Gemeinsamkeiten mit der kritischen Sicht des timor servilis in den Dictata sind dabei nicht zu übersehen. In dieser Kritik des timor servilis, der Furcht, die um der Strafe willen die Werke des Gesetzes tut und nicht freiwillig aus Liebe zur Gerechtigkeit, schließt sich Luther ausdrücklich an Augustin an. 31

25 WA 56 281,4-5. 26 „Deus enim ideo

nos in peccato isto, in fomite, in concupiscentia derelinquit, Ut nos in timore sui et humilitate custodiat“. (WA 56 281,5-7) 27 WA 56 281,16-17. 28 WA 56 281,23. 29 „Securitas, qua Dei timorem abiiciunt“. (WA 56 281,23-24) 30 WA 56 281,9. Vgl. auch zu Röm 3,18: Der Gottlose ist „iniustus et sine timore Dei“ (WA 56 247,15). Vgl. später auch MELANCHTHONS Bestimmung der Erbsünde in CA II: „sine metu Dei“. (BSLK S. 53,5) 31 Vgl. den Nachtrag am Seitenrand, wo sich Luther auf Augustins De spiritu et littera beruft: „Qui faciunt opera legis ad literam sine spiritu, i. e. timore pene, non amore Iustitie.“ (WA 56 191,22-23) Die Gegenüberstellung von Straffurcht und Liebe zur Gerechtigkeit entspricht genau spir. et litt. 8,13. Wenn FICKER (WA 56 191 Anm. zu Z. 2225) Luthers Wiedergabe als „sehr frei“ bezeichnet, kann man präzisieren: Wo Augustin heilsgeschichtlich im Imperfekt über die Juden redet, da verwendet Luther Präsens und beschreibt eine gegenwärtige, nicht nur auf die Juden bezogene Gefahr. Wörtlich zitiert

5.2 Gesetz und timor servilis

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Im Gesetzesverständnis ruht Luthers ganzes Augenmerk auf dem Personzentrum und nicht auf den äußerlichen Werken. Nicht die Werke, sondern die Motivation, nicht das Tun, sondern das Personzentrum werde vom Gesetz gefordert. Werke helfen nichts, wenn sie aus Furcht vor Strafe („timore pene“32) getan würden, sie müssten aus freiem, fröhlichem Gewissen erfolgen, wenn sie wirklich den Willen Gottes erfüllen sollen. Bloß abgepresste Werke geschähen dagegen nicht in der Gnade, sondern in der Sünde. Wir erkennen an diesem timor servilis, dass wir unter der Macht der Sünde stehen: „semper sub peccato sumus.“ 33 Denn solche Werke hätten den Charakter des Gezwungenen, sie geschehen nicht im Geist der Freiheit.34 Das Handeln unter dem timor servilis sei dadurch gekennzeichnet, dass die Werke ohne jegliche Lust zum Gesetz des Herrn geschehen.35 Daher müsse man sich selbst prüfen, ob man wirklich aus reiner Liebe zu Gott handelt oder aus bloßer Furcht vor Strafe.36 Diese Radikalisierung des göttlichen Anspruchs an die ungeteilte Hingabe des Menschen bleibt auch innerhalb seiner vertieften Paulustheologie ein wesentliches Kennzeichen der Theologie Luthers. Klar sei dabei jedoch, dass der Mensch ohne den Besitz der Gnade gar nicht anders könne, als aus Furcht vor Strafe zu handeln: „qui non habet, est Invitus et timore pene agens“ 37. Nur durch die Liebe, die vom Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen wird, sei es möglich, aus Liebe zu Gott zu handeln und dies mit ganzem Herzen, nicht aus Furcht vor Strafe auf knechtische Weise.38 Der homo carnalis könne von sich aus nicht das Gesetz Gottes erfüllen wollen, wenn er es versuche, dann nur von Furcht gezwungen auf knechtische Weise, wobei er innerlich nach dem Gegenteil verlange.39 Dies gilt auch, wenn es ihm nicht bewusst werde, ja es ihm und anderen so erscheine, als würde er die Gebote Gottes aus Furcht vor Strafe lieben: „licet timore pene se diligere ea videatur sibi et aliis“40. Auch die Klöster nimmt Luther von dieser Kritik nicht aus. Allzu vieles werde in

wird das Augustinwort von Luther etwas später WA 56 200,20-24 sowie in der Randglosse zu Röm 2,23 (WA 56 26,19f.). Vgl. auch GRANE, Modus, S. 50f. 32 Siehe etwa auch WA 56 235,6. 33 WA 56 235,24-25. 34 WA 56 248,11-17. 35 WA 56 257,18-24. 36 WA 56 236,19-24. 37 WA 56 66,24. 38 „Non timore pene serviliter“. (WA 56 337,13-14) 39 „Quia timore serviliter coactus operatur Semper habens desiderium contrarium“. (WA 56 341,24-25) 40 WA 56 346,4-5.

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Kapitel 5: Furcht in der Römerbriefvorlesung

den Orden nur aus Furcht getan. Stattdessen müsste alles frei und heiter erfolgen, nicht getrieben von der Strafangst des Gewissens.41 Am ausführlichsten wird die Kritik des timor servilis im Scholion zu Röm 8,15 vorgetragen. Der paulinische Text stellt an dieser Stelle selbst die Verbindung von Knechtschaft und Furcht her („Ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch fürchten müsstet.“ Röm 8,15), so dass er sich anbot als Anlass einer ausführlicheren Reflexion. Im Scholion entwickelt Luther eine Gegenüberstellung von Knechtschaft und Kindschaft im Sinne Augustins: Geist der Knechtschaft und Geist der Kindschaft würden von Paulus einander gegenüber gestellt wie die knechtische Furcht der kindlichen Liebe. 42 Knechtschaft sei an dieser Stelle auf Sündenknechtschaft (pro servitute peccati) zu beziehen im Sinne von Joh 8,34. Das Gesetz habe mit der Drohung vor dem Gericht den Menschen lediglich durch Furcht gezwungen, die Werke des Gesetzes zu tun. Damit aber habe es das Fleisch nicht töten können. Im Gegenteil: Vielmehr ist dadurch der Hass gegen das Gesetz (odium legis) und die Lust an der Übertretung gesteigert worden. Daher müsse hier in einem doppelten Sinne vom Geist der Furcht (spiritus timoris) geredet werden: 1. Unter der Herrschaft des Gesetzes wird die Furcht vor der Strafe zu einem Motiv, dass äußerlich die Werke des Gesetzes getan werden. Dabei kommt es jedoch nicht wirklich zu einer Erfüllung des Gesetzes, weil diese Furcht letztlich Hass bewirkt. 43 Die Gesetzeserfüllung bleibt daher nur äußerlich. Die Furcht besetzt das Herz und bestimmt das Innere des Menschen, der Gehorsam bleibt dagegen äußerlich auf den Leib beschränkt. 2. Sodann aber muss von einem Geist der Furcht geredet werden, weil diese Furcht den Menschen in Zeiten der Versuchung zwingt, auch vom äußerlichen Gehorsam abzuweichen. 44 Luther setzt daher wie in den Dictata den timor servilis dem timor mundanus gleich. Nicht das Gesetz, sondern der Verlust irdischer Güter ist Gegenstand der Angst. Von dieser Furcht her sei daher auch 1 Joh 4,18 zu verstehen. Diese Furcht ist ein Erkennungsmerkmal der Begierde des fleischlichen alten Menschen. Wo die Begierde ist, da ist notwendig auch die Furcht vor dem Verlust des Begehrten. Luthers Auslegung ist entschieden durch den Gegensatz von Geist und Fleisch, Gnade und Gesetz bestimmt. Darum ist auch der Gegensatz von 41 „Non timore conscientie nec pene“. (WA 56 499,31-32) 42 Vgl. WA 56 366,24-25. 43 WA 56 367,4. Vgl. in diesem Sinne auch: „Cum necesse

sit eum odiri, qui timetur“. (WA 56 367,8) Der Hass gegen das Gesetz wird somit zum Hass gegenüber Gott; vgl. WA 56 368,15-16.25f. 44 „Quia timor ille servilis etiam ad extra cogit recedere ab operibus legis tempore tentationis“. (WA 56 367,15-16) Tentatio wird im Folgenden auf die den Menschen bestimmende Begierde (concupiscentia; WA 56 367,23.24) hin ausgelegt, so dass besser mit ‚Versuchung‘ statt ‚Anfechtung‘ übersetzt wird.

5.3 Rechtfertigung, Glaube und Furcht

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Geist der Furcht und Geist der Kindschaft absolut. Es gibt keine Entwicklung des einen zum anderen. Der timor servilis wird daher nicht in einer Entwicklungsperspektive betrachtet, sondern als menschliche Furcht unter der Herrschaft der Sünde. In dieser Bestimmung nützten die durch die Furcht abgepressten Werke nichts. Darum solle man auch nicht das Gericht predigen mit dem Ziel, Furcht hervorzurufen. 45 Im Geist der Knechtschaft führe die Furcht unvermeidlich dazu, dass man Gott als einen Tyrannen hassen lerne. In ihrem Herzen sagen die so Erschreckten: „Tyrannice agit Deus, Non est pater, Sed adversarius“ 46. Positiv spielt diese Furcht keine Rolle auf dem Weg zu Gott, so wie die durch sie abgepresste Gesetzeserfüllung die Sünde auch nicht überwindet, sondern vertieft. Diese Furcht bereitet die Liebe nicht vor, sondern steht ihr im Wege. „Ergo oportet non timere eum nec omnia, que ipse vult et amat.“47 Luther beruft sich in der Kritik des timor servilis und des aus ihm abgepressten Gesetzeswerkes nachdrücklich auf Augustin.48 Über diesen hinaus wird ein Erfahrungshintergrund sichtbar: die Erfahrung der Vergeblichkeit religiöser Anstrengung und der damit drohenden Verzweiflung.49 Unverkennbar haben wir es hier zu tun mit einer genuinen Einsicht Luthers, deren systemsprengende Kraft sich erst nach und nach erweisen sollte.

5.3. Rechtfertigung, Glaube und Furcht 5.3 Rechtfertigung, Glaube und Furcht

Unter dem Gesichtspunkt der Sündenlehre wurde zweierlei deutlich: In der furchtlosen Sicherheit verfehlt der Mensch seine Situation als Sünder. Genauso aussichtslos ist jedoch der Versuch, mittels des Gesetzes und der von ihm vorgeschriebenen äußeren Werke Gottes Rechtfertigung zu erlangen. Der Versuch, Sicherheit zu gründen auf das eigene Tun, kann nur zu Heuchelei oder Verzweiflung führen. Sowohl die furchtlose Sicherheit als auch die zur Verzweiflung gesteigerte Furcht basieren auf demselben Irrtum bezüglich der menschlichen Möglichkeit der Selbstrechtfertigung. Demgegenüber entwickelt Luther in seiner Römerbriefvorlesung eine Beschreibung von Gerechtigkeit und Heil, die wir als „frühe Rechtfertigungslehre“ bezeichnen wollen. Diese ist nicht nur im viel zitierten Scho45 „Neque ideo praedicanda ut homines ista horreant et expavescant.“ (WA 56 365,14-15) 46 WA 56 368,26-27. 47 WA 56 368,30-31. 48 Vgl. zur Bedeutung Augustins in dieser Phase vor allem LOHSE , Bedeutung. 49 Vgl. die gleichsinnige Beschreibung sowohl in den frühen wie späten Rückblicken auf seine Frühzeit, etwa im Widmungsschreiben an Staupitz: „licet sedulo etiam coram deo simularem, et fictum coactumque amorem exprimere conarer“. (WA 1 525,19-20 = LDStA 2, S. 18,17-19)

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Kapitel 5: Furcht in der Römerbriefvorlesung

lion zu Röm 1,17 zu finden50, sondern zieht sich durch den ganzen Kommentar hindurch. Die Gerechtigkeit Gottes wird immer wieder als die ausgelegt, die uns rechtfertigt, analog zur Weisheit Gottes, die uns weise macht.51 Mehrfach grenzt Luther sich vom Gerechtigkeitsverständnis der Philosophen und Juristen ab, wonach Gerechtigkeit durch eigene Übung, Verdienst oder Werke erworben werde.52 Es sei vielmehr die Gerechtigkeit Christi, die uns zugute komme und die uns rechtfertige, weil Christus seine Gerechtigkeit zu der unseren und unsere Sünden zu seinen gemacht habe.53 Diese Beschreibung der Gerechtigkeit als rechtfertigende und schenkende, die in keiner Weise verdient oder erworben werden kann, sei Grundlage und Voraussetzung dafür, dass die Erkenntnis der eigenen Sünde heilvollen Charakter gewinnen könne.54 Diese frühe Rechtfertigungslehre bündelt Luther vor allem in zwei formelhaften Ausdrücken: den Zusammenhängen des extra nos und des simul. Schon im Scholion zu Röm 1,1 betont Luther den Gegensatz der eigenen Gerechtigkeit und der fremden, äußeren Gerechtigkeit. 55 Gott zerstört in uns alle Selbstgerechtigkeit und lässt in uns wachsen alles, was außerhalb

50 „Justitia enim Dei est causa salutis. Et hic iterum ‚Iustutia Dei‘ non ea debet accipi, qua ipse Iustus est in se ipso, Sed qua nos ex ipso Iustificamur, quod fit per fidem evangelii.“ (WA 56 172,3-5) Es folgen der Anschluss an Augustins De spiritu et littera und die Abgrenzung vom aristotelischen Gerechtigkeitsverständnis. 51 „Iustitia Dei dicatur, Qua ipse nos Iustificat, Sicut sapientia Dei, qua nos sapientes facit.“ (WA 56 262,21-23) 52 „Secundo intelligitur, Quod sine meritis et operibus nostris Iustitia Dei nobis oblata est“. (WA 56 265,29-30) 53 „Hic [Christus] autem satisfecit, hic Iustus est, hic mea defensio, hic pro me mortuus est, hic suam iustitiam meam fecit et meum peccatum suum fecit. Quod si peccatum meum suum fecit, iam ego illud non habeo et sum liber. Sic autem Iustitiam suam meam fecit, iam Iustus ego sum eadem Iustitia, qua ille.“ (WA 56 204,17-21) Wie auch immer man den reformatorischen Durchbruch biographisch wird unterbringen wollen, für diese Zeit wird man schwerlich mit BRECHT behaupten können: „Es war dies noch die Phase, in der Luther das Wort Gerechtigkeit geradezu anekelte und er gern darauf verzichtet hätte.“ (BRECHT I, S. 136-137) Vgl. bei Luther auch die häufige Hervorhebung der Gerechtigkeitstermini durch Großschreibung! Vgl. dazu J UNGHANS, HELMAR: Interpunktion und Großschreibung in Texten der Lutherzeit, LuJ 74 (2007) S. 153-180. Der Satz am Beginn dieser Fußnote dürfte ein gutes Beispiel für einen eindeutigen Betonungswille sein, da die Großschreibung nicht nur in Substantiven begegnet, vgl. J UNGHANS, S. 168 und 170. 54 Vgl. zu diesem Zusammenhang vor allem K ROEGER, S. 58-62. Als nicht haltbar erweisen sich die Versuche, Luthers Gerechtigkeitsbegriff in dieser Zeit im Sinne der Vorrede von 1545 noch als strafende bzw. vergeltende Gerechtigkeit zu verstehen. 55 „Igitur omnino Externa et aliena Iustitia oportet erudiri.“ (WA 56 158,13-14)

5.3 Rechtfertigung, Glaube und Furcht

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unser und in Christus ist.56 Diese Externität der Gerechtigkeit bzw. des Heils wird von Luther kritisch gegenüber der scholastischen Tradition betont. Vor allem die Interpretation der Gnade im Sinne einer habituellen Veränderung des Menschen vermag Luther so entschieden zurückzuweisen. Im großen Scholion zu Röm 4,7 wird die Auseinandersetzung in die letzten Konsequenzen getrieben. Die in der Sündenlehre begründete soteriologische Ohnmacht des Menschen verunmöglicht jede verdienstliche oder habituelle Beteiligung des Menschen an seinem Heil. Die Externität des Heils als fremde und äußere Gerechtigkeit Christi bringt die Alleinwirksamkeit der Gnade Gottes zugespitzt zur Sprache. Diese äußere Heilsgerechtigkeit bewirkt keine Beseitigung der Sünde mehr, sondern begründet das Heil imputativ coram deo. Im Blick auf den Menschen sind es die simul-Formulierungen, die den Heilsstand des Menschen zur Sprache bringen. Die Erfahrung der bleibenden Begierde macht deutlich, dass die Sünde nicht einfach weggenommen wird. Vergebung aber bedeute, dass sie nicht mehr angerechnet wird, wie Luther im Anschluss an Paulus ausführt: „Sic ergo in nobis sumus peccatores Et tamen reputante Deo Iusti per fidem.“ 57 Die Rechtfertigung beschreibt dabei nicht ein bloßes „als ob“. In den Bildern von Arzt und Patient betont Luther, dass Rechtfertigung den Beginn einer Umgestaltung umfasse. So wie der Kranke, der unter der Pflege des Arztes stehe, zugleich krank und gesund sei („egrotus simul et sanus“58) so sei auch der Sünder „simul peccator et Iustus“59. Die Entfaltung des simul bringt eine Umorientierung der Selbstwahrnehmung mit sich. An die Stelle der Selbsterfahrung tritt das doppelte Urteil Gottes.60 Sieht Luther die Schwierigkeit des alten Paradigmas darin, dass der Mensch seine Selbsterfahrung nicht in Einklang bringen konnte mit der sakramental versprochenen Befreiung von Sünde, so tritt nun die menschliche Selbstwahrnehmung und -beurteilung weiter zurück. Nicht das eigene Fühlen und Bereuen der Sünde ist der Umstand, der die Rechtfertigung ermöglicht. Vielmehr ist es das Ansehen Gottes, sein Anrechnen und Betrachten, in dem der Mensch als sündig und gerecht gesehen wird: „Igitur Mirabilis et dulcissima misericordia Dei, Qui nos simul peccatores et non-peccatores habet.“ 61 In dieser Externalisierung 56 „Omnia, que extra nos sunt et in Christo.“ (WA 56 158,9) Vgl. ZUR M ÜHLEN, Nos, S. 93ff. ZUR MÜHLEN vermutet, dass es vor allem Einflüsse der Mystik waren, die Luther zur sprachlichen Bildung dieser Formel verholfen haben, ebd. S. 101-116. 57 WA 56 271,29-30. 58 WA 56 272,7-8. 59 WA 56 272,17. 60 Vgl. ZUR M ÜHLEN: „Dieses simul meint nicht das Miteinander zweier psychologischer Zuständlichkeiten, sondern die Gleichzeitigkeit zweier Urteile.“ (ZUR MÜHLEN, Nos, S. 122) 61 WA 56 270,9-10.

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der maßgeblichen Beurteilungsperspektive korreliert das simul mit dem extra nos; so lassen sich die hamartiologisch begründete soteriologische Ohnmacht des Menschen und die Alleinwirksamkeit göttlicher Gnade konsequent in einem Zusammenhang zur Darstellung bringen. Hat Luther diese Zusammenhänge in eindeutigen Termini verdichten können, so kann man dies im Blick auf die Gegebenheitsweise des Heils noch nicht sagen. Hier begegnet noch eine Vielfalt von Beschreibungen, in welcher der Mensch an diesem Heil Anteil gewinnt. Im Anschluss an den paulinischen Text ist es selbstverständlich der Glaube, der zur Gerechtigkeit gerechnet wird. Dieser Glaube ist bestimmt als ein Rechtgeben bzw. Rechtfertigen des Wortes Gottes. 62 Diese Anerkennung der Sünde und die damit verbundene Selbstverurteilung erlangt die Rechtfertigung. In einer Reihe von Zusammenhängen kann Luther die Heilsaneignung auch sehr stark auf die Demut zuspitzen, ohne dass dadurch gleich die Rede von einer ausgesprochenen Demutstheologie gerechtfertigt wäre. 63 Es ist vielmehr ein breiteres Wortfeld, mit dem Luther die menschliche Heilsaneignung und Entsprechung zur Gerechtigkeit Gottes ausdrückt. Neben Demut und Glaube treten die Wortfelder von confiteri, petere, querere, se accusare 64, Streben nach conformitas mit Christus und dem Willen Gottes und nicht zuletzt die Furcht vor dem göttlichen Gericht. Auch der timor erweist sich als notwendiger Ausdruck des rechtfertigenden Glaubens. Wenn die Menschen erkennten, dass sie von Natur aus nur böse sind, dann würden sie sich gewiss fürchten, sich demütigen und nach der Gnade Gottes mit Seufzen und Flehen trachten. 65 Die Furcht des Herrn sei es, die alles demütige.66 Nur wer sich fürchte und demütig vor Gott seine Schuld bekenne, dem würde auch die Gnade gegeben.67 Der Gnadenstand des Christen lasse sich als ein Wandeln in der Furcht des Herrn begreifen.68 Worauf ist Furcht des Herrn nun im Besonderen gerichtet? Sie richtet sich eben nicht auf die Strafe, auf angedrohte Leiden und Übel, wie es für den timor servilis cha62 63

WA 56 227,18ff. Vgl. vor allem: „Hii sunt laquei, quos S. Anthonius Vidit in mundo et gemens dixit: Quis potest hos omnes evadere? Et Responsum audivit: Sola humilitas.“ (WA 56 363,1415) Glaube und Demut können auch nebeneinander stehen: „ergo humilitate et fide opus est.“ (WA 56 218,13) Daher ist es weder gerechtfertigt, im Sinne Luthers späterer Theologie die Demut schon als Frucht des Glaubens zu sehen, noch, die Bedeutung des Glaubens auf eine demütige Haltung zu reduzieren. 64 „Si ergo et nos ipsos sic vero corde perdemus et persequemur, in infernum offeremus propter Deum et Iustitiam eius, iam vere satisfecimus Iustitie eius, et miserebitur atque liberabit nos.“ (WA 56 393,29-31) 65 „Certe timerent, humiliarentur et gratia Dei semper querulis gemitibus quererent“. (WA 56 236,23-24) 66 WA 56 246,21-22. 67 „Qui autem sic timuerit […], dabitur et gratia“. (WA 56 252,27-28) 68 „In timore Dei incedere“. (WA 56 283,8)

5.3 Rechtfertigung, Glaube und Furcht

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rakteristisch ist. Sie bezieht sich in erster Linie auf das Urteil Gottes (iudicium Dei). Es sei der Weg der Heiligen, dass sie nicht in vermessener Sicherheit leben, sondern „per timorem Iudicii“ 69. Daher würde sie sich selbst beständig in Furcht anklagen70 und so das Urteil Gottes in allen Werken fürchten.71 Diese Haltung der immerwährenden Angst gehört zum Wesen der rechten Demut. Weil der Mensch grundsätzlich Gottes Gebote nicht erfüllen könne, müsse er sich immer vor dem Gericht fürchten und um Nichtanrechnung der Sünde bitten. 72 Denn es seien die Ungerechten, die sich selbst für gerecht hielten. Die Gerechten dagegen hielten sich stets für ungerecht und fürchteten, verdammt zu werden und verlangten danach, gerechtfertigt zu werden.73 Nachdrücklich schärft Luther in diesem Sinne die beständige Anwesenheit der Furcht ein. Wir müssten uns immer fürchten, ob wir uns nicht noch unter dem Gesetz befinden. Der Gläubige sei immer furchtsam um Gottes Anrechnung bedacht. Weil Gott stets unter dem Gegenteil handelte, müssten wir uns immer fürchten, wenn es nach unserem Willen geht. Die Heiligen fürchten immer von sich selbst, dass sie Böses tun. 74 Mit der Betonung dieser ewigen Bewegung dürfte Luther auch monastische Traditionen verarbeitet haben.75 Nicht einmal dessen, dass man in rechter Weise Gott gefürchtet habe, könne man sicher sein. Es sei die Anmaßung der Hochmütigen, dass sie sich selbst die Gottesfurcht zuschrieben. Dagegen müsse nach Röm 3,18 jeder einzelne bedenken, „quod sit iniustus et sine timore Dei“ 76. Nur in 69 WA 56 290,23. 70 „Semper se iudicant in timore“. (WA 56 290,25) 71 „Et ita iudicium Dei timent in operibus omnibus“. (WA 56 290,26-27) 72 „Igitur Ex quo Dei preceptum implere non possumus ac per hoc semper

iniusti merito sumus, Nihil restat, [quam] ut Iudicium semper timeamus, et pro remissione Iniustitie, immo pro non-Imputatione oremus.“ (WA 56 291,6-9) 73 WA 56 266,15-16. 74 „Semper timendum, ne sub lege simus“ (WA 56 66,28); „Semper pavidus est, Semper Dei reputationem timet“ (WA 56 395,1-2); „Semper timere, quando secundum sensum agitur“ (WA 56 447,25); „Semper adhuc sese malum agere timent.“ (WA 56 503,1920) 75 O SWALD B AYER hat die Betonung dieser ewigen Bewegung (semper) bei Luther zurück geführt auf die aristotelische Physik und dabei sehr stark den philosophischen Charakter dieser Vorstellung betont. Vgl. zu diesem auch ockhamistisch vermittelten Hintergrund DIETER, THEO: Der junge Luther und Aristoteles. Eine historischsystematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie (TBT 105), Berlin/New York 2001. S. 295ff. und 313ff. Neben der Verarbeitung der philosophischen Tradition verdankt sich die Betonung des semper durchaus auch monastischen Quellen, insbesondere Bernhard von Clairvaux. Vgl. zu Bernhards Bedeutung für Luther KÖPF, ULRICH: Monastische Traditionen bei Martin Luther, in: Markschies, Christoph und Michael Trowitzsch (Hrsg.): Luther – zwischen den Zeiten. Eine Jenaer Ringvorlesung, Tübingen 1999. S. 17-35. 76 WA 56 247,15.

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dieser Preisgabe von allem Eigenen liege die Demütigung, die uns der Rechtfertigung Gottes fähig mache. Nur die Furcht des Herrn ermögliche es, von aller eigenen Gerechtigkeit abzusehen und allein auf Christus zu vertrauen: „Ideoque si timerent, Scirent, quoniam solus Christus est et Iustitia et veritas eius, que non possint a Deo Iudicari“77. Daher gelte: „semper timendum“; man müsse immer in Angst sein, immer in dieser ewigen Bewegung des Selbstgerichts und der Anklage, der Demütigung und der Furcht. Allein dieser Haltung schenke Gott seine Gnade. In diesem Sinne kann auch der Furcht die Aneignung der Gnade zugeschrieben werden: „Sic enim per timorem gratia Invenitur Et per gratiam Voluntarius homo efficitur ad opera bona“ 78. Ein solches Finden der Gnade bleibe von aller Sicherheit streng geschieden. Im Blick auf den Menschen und seine Gerechtigkeit sei diese Angst stets der notwendige Ausdruck letzter Ungewissheit vor Gott: „In nostris autem (sicut incerti sumus, quando nostra sunt) semper timendum est coram deo.“ 79 Wie in den Dictata lässt sich auch hier zwischen richtiger und falscher Furcht deutlich unterscheiden. Die falsche Furcht richtet sich auf die Strafe und wird darin zur falschen Motivation der guten Werke. Die falsche Furcht kommt aus der amor sui, in ihr sucht der Mensch sich selbst, sie kommt aus der Sünde und richtet eine eigene Gerechtigkeit vor Gott auf. Die richtige Furcht dagegen richtet sich nicht auf die Strafe, sondern auf das Urteil Gottes. Die richtige Furcht führt nicht zur Flucht vor Gott, sondern sie bleibt unter seinem Urteil, demütigt sich, will sich nicht selbst behaupten bzw. selbst rechtfertigen, sondern gibt Gott Recht. Von dieser Furcht, die für Luther zusammen mit Ausdrücken wie Demut, Selbstgericht, und Glaube zu der Haltung gehört, welche die Rechtfertigung empfängt, unterscheidet Luther einen übersteigerten Grad der Furcht, die pusillanimitas. 80 Die Kleinmütigkeit oder Verzagtheit tauche bei solchen Menschen auf, die aus eigener Kraft versuchten, rein, heilig und ohne Sünde zu sein. Weil sie daran scheitern müssten, verzagten sie angesichts der Erkenntnis ihrer Sünde und stürzten in Verzweiflung und Kleinmütigkeit. 81 Luther scheint diese Gefahr aus Erfahrung zu kennen und auf sie als überwundene zurückzublicken. Das Problem dieser Haltung 77 WA 56 246,33-247,2. 78 WA 56 504,3-5. 79 WA 56 247,4-6. 80 Vgl. dazu WA 56 266,25ff. und 282,19ff. 81 Vgl. auch WA 56 266,32-267,1: „Quod

ubi non poterunt, tristes, deiectos, pusillanimos, desperatos et inquietissimos in conscientia facit.“ In diesem Geist geschrieben ist auch der berühmte Brief an Georg Spenlein (WAB 1 33-36), wo Luther dies als eine wesentliche Anfechtung der Zeit beschreibt, mit eigenen Kräften von der Sünde frei werden zu wollen. Der Trost ist hier der Blick auf Christus und die getroste Verzweiflung an sich selbst; ähnlich ausgeführt wie im Scholion zu Röm 2,15 (WA 56 204,14-29).

5.3 Rechtfertigung, Glaube und Furcht

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sei der Mangel an Sündenerkenntnis. Sünde werde als Tatsünde, nicht als die Person versklavende Macht gesehen. Insofern offenbare sich in diesem Streben nach Gerechtigkeit eine Verachtung der Gnade. Daher sieht Luther in dieser Variante nur die andere Seite des Strebens nach Sicherheit in eigenen Werken. Sowohl die Hochmütigen wie die Verzagten hätten in ihrem Trachten nach securitas nicht die rechte Furcht Gottes: „Utrique ergo securitatem querunt et timorem Dei evadere Volunt, illi iam de facto, isti Voto; ideo Neutri timent Deum.“ 82 Beiden Haltungen gemeinsam sei es, dass sie Sünde als Tatsünde begriffen und nicht das Wesen der Erbsünde verstünden. Diejenigen, die in ihrem Kampf um die Überwindung der Sünde verzweifelten, lebten letztlich in der Illusion, die Sünde ließe sich in diesem Leben überwinden. Diese überzogene Furcht beschreibt Luther als törichte Furcht, die Gottes Gefallen durch ihre Reinheit erzwingen will. 83 Beiden Fehlhaltungen gegenüber beschreibt Luther einen mittleren Weg, den er als königlichen Weg84 und Weg des Friedens beschreibt: Die Furcht Gottes und damit das Wissen um die unaufhebbare innere Sünde und das Vertrauen und die Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes gehörten zusammen. Die Furcht Gottes bewahre vor der securitas und der eitlen Selbstgefälligkeit, die Barmherzigkeit Gottes dagegen bewahre vor der Verzweiflung. 85 Die Furcht vor dem Urteil Gottes ist daher anzunehmen und nicht zu fliehen oder zu vermeiden. Solche Furchtvermeidung führt nur zu falscher Sicherheit oder übersteigerter Furcht. Es ist die Einsicht in die Tiefe der Sünde, die die Anfechtung der pusillanimitas zu beheben vermag. Deutlich wird der tröstende Charakter der vertieften Sündenlehre am Ende der Scholien zum 7. Kapitel: Dieser Text versehe den Menschen mit Tröstungen des Gewissens dahingehend, dass die Vorstellungen der neueren Theologen über die Austilgung der Sünde sich nicht auf die Schrift berufen könnten und dementsprechend nur geringes Gewicht hätten. Dagegen sei der Text des Paulus, verbunden mit den alten Auslegern (wobei an Augustin und Ambrosius zu denken ist), dazu angetan, uns mit Tröstungen der Ruhe zu schützen und den Skrupeln unseres Gewissens abzuhelfen. 86 Die Einsicht in die Aktualität der Erbsünde ist es, die paradoxerweise Trost und Ruhe des Gewissens zu geben vermag, weil sie dem verzweifelten Streben nach Überwindung der Sünde im Sinne des neuen Pelagianismus ein Ende bereitet. 82 83

WA 56 282,26-28. „Hii nimium timent, immo stulte timent, quia tunc se Deo placere putarent, si mundi essent“. (WA 56 282,28-29) 84 Vgl. STOCKMANN, ROBERT E DWIN: Der königliche Weg. Eine Studie über Luthers Verständnis des Heilsweges in seiner Römerbriefvorlesung, Diss. Mainz 1964 (1965). 85 WA 56 282,33-283,12. 86 „Quietioris solatii nos munere fovemur et Scrupulis conscientie facilius medemur“. (WA 56 354,18-19)

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Kapitel 5: Furcht in der Römerbriefvorlesung

Nähe und Differenz zu Jean Gerson lässt sich an dieser Stelle gut verdeutlichen, bei dem ebenfalls das Bild vom königlichen Weg schon begegnet.87 Luther hat später von der außergewöhnlichen Bedeutung gesprochen, die Gerson für ihn hatte. Gerson sei der erste gewesen, der das Problem der geistlichen Anfechtungen in Angriff genommen hätte.88 Bei Gerson fand Luther einen Gewährsmann, der die Anfechtungen der Heilsungewissheit kannte, ernst nahm und sich um Trost bemühte. Darum kann Luther ihn auch teilweise über Augustin und alle anderen Kirchenväter erheben, die von Anfechtungen in diesem Sinne nichts gewusst hätten. Doch ist der Umgang mit Ungewissheit bei Luther und Gerson tatsächlich gleich? 89 Die Unterschiede sind unverkennbar. Gerade in der Verschärfung der Sündenlehre hebt der junge Luther sich von Gerson deutlich ab. Gersons erste Stufe des Trostes wird von Luther in keiner Weise aufgegriffen. Wo Gerson durch sein Vorgehen der Minimalanforderung versucht, den Menschen in seiner Zuversicht auf das eigene Leistungsvermögen zu stärken, da entzieht Luther durch seine radikale Sündenlehre solchem religiösen Optimismus jegliche Grundlage. Nicht die Abschwächung der Sünde, sondern ihre Verschärfung ist das theologische Programm Luthers in diesen Jahren. Im Blick auf die zweite Stufe, wo sich der Mensch in getroster Verzweiflung an sich selbst ganz der Barmherzigkeit Gottes überlässt, gibt es beim jungen Luther der Römerbriefzeit in der Tat beachtliche Parallelen. Deutlich aber muss hervorgehoben werden, dass Luther in der Zeit der Römerexegese durch seine spezifische Sündenlehre einen völlig anderen Ansatz der Bewältigung der Anfechtung sucht. Die Gnade gilt gerade dem, der von seinen eigenen Werken völlig abzusehen vermag und sich als Sünder erkennt. Eine solche Dialektik des simul peccator et iustus ist auch auf der zweiten Troststufe Gersons nirgends im Blick. Die Trostbedürftigkeit, derer Gerson sich annimmt, ist für Luther letztlich Konsequenz eines neuen Pelagianismus. 90 87 Vgl. vor allem G ROSSE, Heilsungewissheit, S. 52. 88 WAT 2 114,1-3 Nr. 1492. Vgl auch Nr. 1351. 89 So SVEN GROSSE : „Der junge Luther hat also damit

gegenüber einer in die Praxis umgesetzten mittelalterlichen Theologie noch gar nichts Neues gesagt.“ (GROSSE, Heilsungewissheit, S. 157) 90 Für seine spätere Theologie ab 1518/1519 überwiegen dann die Unterschiede ganz und gar. Luther selbst hat die Differenz zu Gerson in einer außerordentlich treffsicheren Tischrede auf den Punkt gebracht: „Gerson… non pervenit eo, ut conscientias Christo et promissione consolaretur, sed tantum extenuatione legis dicit: Ah, es mus nicht alles so hardt sundt sein; et ita solatur manente lege.“ (WAT 2 65,3-6 Nr. 1351) Und weiter: „Christus autem stest dem vaß den boden aus; ille dicit non esse fidendum in lege, sed in Christo: Bistu nicht frumb, so bin ich frumb. Hoc est artis, transilire a meo peccato ad iustitiam Christi, das ist so gewiß weis, das Christi frumkeitt mein sei, so gewis ich weis, dass diser leib mein sei. Ich leb oder sterb, so far ich auf in dahin. Nam ipse mortuus est pro nobis, et dicit clare textus: ego non sum probus, Christus autem est probus; in huius

5.4 Der Einfluss Taulers

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5.4 Der Einfluss Taulers und die Passivität des Glaubens 5.4 Der Einfluss Taulers

In keinem Kapitel verdichten sich die Fragen nach Angst und Angstbewältigung so sehr wie in der Auslegung von Kapitel 8. In diesem Zusammenhang wird auch Johannes Tauler erstmalig erwähnt.91 Die Bedeutung Taulers ist in der Forschung bis heute ein kontrovers diskutiertes Thema. Luther selbst hat in einigen zeitnahen Rückblicken die Bedeutung Taulers für seine Entwicklung außerordentlich hoch veranschlagt: So kann er sich am 31. März 1518, also mitten in den Ablassauseinandersetzungen, in einem Brief an Staupitz auf Tauler berufen kann: „Ego sane secutus theologiam Tauleri et eius libelli, quem tu nuper dedisti imprimendum Aurifabro nostro Christianno“ 92. Nicht weniger weitreichend ist es, wie Luther die Bedeutung der Theologia Deutsch (und damit Tauler, für dessen Auszug Luther den „Franckforter“ hält) in seiner zweiten Vorrede von 1518 einordnet: „Und das ich nach meynem alten narren rueme, ist myr nehst der Biblien und S. Augustino nit vorkummen eyn buch, dar auß ich mehr erlernet hab und will, was got, Christus, mensch und alle dinge seyn.“93 Daher soll im Folgenden zunächst Taulers Denken und sein möglicher Einfluss auf Luther erörtert werden, bevor wir die weitere Behandlung des Furchtproblems in der Römerbriefvorlesung untersuchen.94

nomine sum baptisatus, sacramenta accipio, catechisor, der nimbt sich unser an, modo illi confideremus.“ (WAT 2 65,6-14 Nr. 1351) Hier macht Luther den wesentlichen Unterschied im Trost an der promissio, am befreienden Zuspruch des Evangeliums gegen die Anklage des Gesetzes fest; ein Sachverhalt, der zur Zeit der Römerbriefvorlesung allenfalls am Rande steht. Für Luthers Reifezeit fasst GROSSE zu Recht zusammen: Die „Frage nach dem, woran der Mensch sich für seine Existenz vergewissern kann, vereint Johannes Gerson und Martin Luther; ihre Beantwortung trennt sie sogleich.“ (GROSSE, Heilsungewissheit, S. 158) 91 Luther verwendete den Augsburger Druck von 1508, der ihm wohl über Johannes Lang zugekommen ist, vgl. OTTO, HENRIK: Vor- und frühreformatorische Taulerrezeption. Annotationen in Drucken des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts (QFRG 75), Gütersloh 2003. Die erhaltenen Randnotizen Luthers in seinem Exemplar zeigen die intensive Beschäftigung mit dem Text (WA 9 97-104). Der genaue Beginn der Beschäftigung ist unsicher: Schon auf 1515 datiert S TEVEN OZMENT die erste Begegnung mit Taulers Predigten (OZMENT, S. 2). Allerdings erst Ende 1516 empfiehlt Luther Spalatin die Predigten Taulers auf das Wärmste (WAB 1 79,58-64). Weit vor Anfang 1516 wird Luther mit den Predigten daher nicht in Berührung gekommen sein (vgl. GRANE, Modus, S. 121f.). So wirkt etwa auch die ausführlich besprochene Predigt vom 27.12.1515 noch von einer intensiven Beschäftigung mit Tauler unberührt. 92 WAB 1 160,8-9. Mit diesem Buch dürfte die „Theologia Deutsch“ gemeint sein. 93 WA 1 378,21-23. 94 Ausgeklammert bleibt hier noch Taulers Umgang mit der resignatio ad infernum; darauf wird direkt anschließend im Zusammenhang der Prädestinationsthematik zurückzukommen sein.

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Kapitel 5: Furcht in der Römerbriefvorlesung

5.4.1 Die Diskussion um den Einfluss der Mystik Es hat nicht an Stimmen gefehlt, die den Einfluss von Tauler auf Luther deutlich betonten, teilweise sogar behaupteten, Luther sei durch Tauler die Richtung seiner reformatorischen Entwicklung gewiesen worden. 95 Insgesamt wird man jedoch sagen müssen, dass in der älteren Forschung vor allem der Gegensatz herausgearbeitet wurde. Spätestens seit Ritschl schien es ausgemacht, dass Mystik und evangelischer Glaube völlig unvereinbar seien. Der Versuch Müllers, den großen Einfluss Taulers auf Luthers theologische Entwicklung herauszustellen, wurde von Otto Scheel zurückgewiesen, der nicht nur jeglichen Einfluss von Tauler auf die theologische Entwicklung Luthers bestritt, sondern überhaupt die völlige Unvereinbarkeit von evangelischem Glauben und „katholischer“ Mystik behauptete. 96 Diese grundsätzliche Entgegensetzung kehrt als Ergebnis auch in der einflussreichen Studie über Luthers theologia crucis bei Walter von Loewenich wieder.97 Auch bei den Untersuchungen zu Luthers Verhältnis zur mystischen Lehre der Anfechtung ergibt sich das gleiche Bild.98 Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte selbst die verhältnismäßig wohlwollende Studie zum Anfechtungsverständnis bei Tauler von Bernd Moeller zu dem Schluss gefunden, „dass beide im Grundsätzlichen soweit getrennt sind wie die katholische und evangelische Rechtfertigungslehre.“99 Auch für 95 Vgl. vor allem M ÜLLER , V IKTOR A.: Luther und Tauler auf ihren theologischen Zusammenhang neu untersucht, Leipzig 1918. 96 Luthers Äußerungen zu Tauler könne man keinen prägenden Einfluss auf ihn entnehmen, sondern allenfalls, dass Luther sich hier in dem bestätigt fand, was er zuvor der Bibel entnommen habe. (Vgl. SCHEEL, OTTO: Taulers Mystik und Luthers reformatorische Entdeckung, in: Festgabe für Julius Kaftan zu seinem 70. Geburtstage 30. September 1918, dargebracht von Schülern und Kollegen, Tübingen 1920. S. 298-318.) Luther selbst habe leider übersehen, was ihn von Taulers Mystik trenne und sich somit „zu Unrecht“ (S. 312) auf diesen berufen. In der „Differenz Luthers und Taulers äußert sich der nie überbrückbare Gegensatz von Katholizismus und Reformation, von katholischer und evangelischer Gnadenlehre, von katholischem und evangelischem Gottesgedanken.“ (S. 311) Vgl. auch die wirkmächtige Kritik von HOLL an Tauler: HOLL, S. 150ff. 97 LOEWENICH, W ALTER V: Luthers Theologia crucis, Witten 5 1967. Grundsätzlich gälte: Es verhalten sich „Glaube und Mystik zueinander wie Feuer und Wasser.“ (S. 172) Die Vereinigung mit Gott, die für Tauler das Wichtigste gewesen sei, wird von Luther als „unwichtig, ja gefährlich beiseite gerückt.“ (S. 178) Trotz einiger unwesentlicher Übereinstimmungen könne man Luthers theologia crucis bezeichnen als „der denkbar schärfste Protest gegen die rechtverstandene Tauler’sche Mystik.“ (S. 179) 98 Nach B ÜHLER las Luther „mehr in Tauler hinein, als bei ihm wirklich zu finden ist.“ (B ÜHLER, S. 161) 99 M OELLER , B ERND: Die Anfechtung bei Johann Tauler, Diss. Mainz 1956. S. 72. MOELLER setzt sich etwas ab von der traditionell gewordenen Abwertung Taulers und führt dessen Konzeption im Zusammenhang vor. Behauptet wird dabei jedoch zuletzt nicht mehr als eine „starke Verwandtschaft zwischen dem Mystiker und dem Reformator

5.4 Der Einfluss Taulers

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Steven Ozment hat sich in seinem Vergleich der Frühtheologie Luthers mit den anthropologischen Konzeptionen von Gerson und Tauler nicht nur kein nennenswerter positiver Einfluss auf Luthers theologische Entwicklung ergeben; vielmehr müsse Luthers Denken geradezu als polemische Antwort auf solche mystische Anthropologie gewertet werden. 100 KarlHeinz zur Mühlen brachte schließlich das Verhältnis Luthers zur Mystik auf die weithin akzeptierte Formel, Luther habe wohl in der sprachlichen Ausformulierung seiner Rechtfertigungslehre Anregungen erfahren, inhaltlich jedoch keine eigenständigen Impulse von dort bekommen. 101 Betrachten wir zunächst die Unterschiede von Luther und Tauler, wie sie in der bisherigen Forschung herausgearbeitet worden sind: Sie zeigen sich vor allem a) in der Anthropologie, b) im Ziel des mystischen Heilsweges und c) in der Frage der Rechtfertigung des Sünders. a) Grundlegend ist zunächst der Gegensatz in der Sicht des Menschen. Ausgehend von Eckhart und der gesamten neuplatonischen Seinslehre, fokussiert Tauler das Gottesverhältnis auf das gemuete bzw. den grunt der Seele. Im Anschluss an die Tradition sieht Tauler die Gottesbeziehung anthropologisch in der imago Dei grundgelegt. In seiner Lehre vom dreifachen Menschen (sinnlicher, geistiger, gottförmiger Mensch) identifiziert Tauler den dritten Menschen mit dem gemuete, dem obersten Teil der Seele. 102 Hier sei der Mensch schöpfungsgemäß eins mit Gott und behalte eine stets positive Anknüpfung an seinen Ursprung. Der ganze Weg der Erlösung kann analog zum neuplatonischen Schema als Rückkehr bzw. Einkehr in den unzerstörbaren Seelengrund beschrieben werden.

in der formalen Gestalt ihrer Frömmigkeit und Verkündigung.“ (S. 72) In seinem Aufsatz von 1963 greift MOELLER dieses Thema noch einmal auf und spricht nun von einer „Strukturverwandtschaft ihres Denkens“ (Ders.: Tauler und Luther, in: La mystique Rhenane. Colloque de Strasbourg 16-19 mai 1961, Paris 1963. S. 157-168. S. 167.), die mehr praktisch-religiöser als dogmatischer Art gewesen sei. 100 „Stated as forcefully as possible, we will argue that Luther’s Reformation theology originates in and developes as a highly polemical answer to the anthropology of late medieval mystical theology.“ (OZMENT, S. 3) Diese These dürfte schon daran scheitern, dass vor Kapitel 8 der Römerbriefvorlesung eine ausgiebige Kenntnis Taulers nicht sicher behauptet werden kann; von einer „Antwort“ kann insofern nicht die Rede sein. 101 Vgl. ZUR M ÜHLEN, Nos, S. 101-116 und 198-203. Vor allem in der Konzentration auf Wort und Glauben entwickelte Luther eine grundlegende Differenz zu jeglicher Einheitsmystik. Lediglich der entschiedene Erfahrungsbezug verbinde Luther mit der mystischen Tradition. Vgl. auch den letzten Beitrag ZUR MÜHLENS zur Frage: ZUR MÜHLEN, K ARL-H EINZ: Mystische Erfahrung und Wort Gottes bei Martin Luther, in: Schilling, Johannes (Hrsg.): Mystik – Religion der Zukunft, Zukunft der Religion? Leipzig 2003. S. 45-66. „So sehr Luther mit Tauler vieles verbindet, so trennt ihn doch wiederum mehr von Tauler, als er zunächst erkennt.“ (S. 58) 102 Vgl. hierzu insgesamt die Darstellung von O ZMENT.

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Luther dagegen entwickelte seine Sündenlehre immer radikaler im Zeichen eines totus homo, so dass er jeglichen anthropologischen Anknüpfungspunkt, sei es in der synteresis, sei es im liberum arbitrium, verneinte. Es ist daher beachtenswert, dass Luther in seinen Anmerkungen zu Taulers Ausführung über den dreifachen Menschen sein eigenes Schema entwickelt, in dem er die Vorstellungen eines Seelengrundes bzw. Seelenfünkleins ausdrücklich nicht aufnimmt. Stattdessen ersetzt Luther unter Berufung auf den Apostel das gemuete in seinem Schema durch den Glauben: „Homo spiritualis qui nititur fide“ 103. Damit bricht Luther grundsätzlich mit einer Anthropologie, die eine ontologische Basis im Menschen als Voraussetzung des göttlichen Gnadenhandelns erweisen will und konzentriert das Gottesverhältnis ganz auf den Glauben. 104 b) Ein weiterer Gegensatz tut sich auf hinsichtlich eines mystischen Aufstiegsschemas. Bei Tauler wird immer wieder das Moment der Einheitserfahrung als Ziel des geistlichen Lebens sichtbar. Dabei setzt er eine Logik des Aufstiegs (bzw. des Niedersinkens in den Grund) voraus, die um eine ontologische Verbindung des Menschen mit Gott in seinem Grund weiß. Die mögliche Einheit von Gott und Mensch beruht darauf, dass an diesem anthropologischen Ort höchstmögliche Ähnlichkeit von Gott und Mensch waltet. Luther kennt wohl diese Traditionen des mystischen Aufstiegs und hat eine Zeitlang eine Nähe zu ihnen gehabt. Doch spätestens in der Römerbriefvorlesung sind solche Vorstellungen definitiv nicht mehr maßgeblich, im Gegenteil: Nicht die Einheit mit Gott, sondern der Glaube ist höchster Inbegriff der Gottesgemeinschaft, in welchem keine Ähnlichkeit zwischen Gott und Mensch waltet, sondern die Barmherzigkeit Gottes die Gemeinschaft Gottes mit dem Sünder begründet. 105 In diesem Sinne kann Luther an Georg Spenlein schreiben: „Christus enim non nisi in peccatoribus habitat.“106 c) Damit berühren sich schließlich die Fragen des Rechtfertigungsverständnisses. Hier besteht zunächst manche Nähe. Tauler vertritt nachdrück103 104

WA 9 103,40-41. So ein grundlegendes Ergebnis der Untersuchung von STEVEN OZMENT über den Vergleich der Anthropologie von Luther mit Gerson und Tauler. Diese verfügten in der synteresis bzw. im Seelengrund über einen solchen anthropologischen Ermöglichungsgrund des göttlichen Heilshandelns, Luther dagegen überwinde diese Vorstellung endgültig während seines Römerkommentars und gründe das Gottesverhältnis durch den Glauben allein auf die Barmherzigkeit Gottes. Vgl. O ZMENT, S. 197ff.; 214ff. 105 So ein zweites Ergebnis von O ZMENTS Untersuchung: wo in den Einheitsvorstellungen von Tauler eine maximale Ähnlichkeit von Gott und Mensch vorherrscht, da ist bei Luther die Gemeinschaft mit Gott im Zeichen des simul von Sünde und Gnade von völliger Unähnlichkeit geprägt. 106 WAB 1 35,29.

5.4 Der Einfluss Taulers

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lich die menschliche Passivität gegenüber Gott. Darin konnte sich Luther mit ihm eins wissen gegen die spätmittelalterliche Betonung der Vorbereitung bzw. Würdigkeit aus eigenen Kräften. So ist Taulers Begriff der Buße nicht nur unsakramental, sondern auch dem Verdienstgedanken entgegen gesetzt. Seine Verlorenheit überwindet der Mensch folgendermaßen: „daz uberkommet man mit dem lebende der penitencien, und daz uch der minnencliche Got geladen und geruffet hat von siner frigen lutern minnen sunder alles verdienen.“ 107 Nichts anderes als die Abkehr von allem Bösen und die Hinkehr zu Gott sei die wahre Buße. Auch die Bedeutung der Werke kann Tauler ganz ähnlich einschätzen wie Luther: Wohl solle sich der Mensch allzeit im Guten üben, aber: „mer man sol nut daruf buwen noch daruf sich halten.“108 Auch wenn der Mensch alle Werke getan hätte, die möglich waren, solle er sich davon innerlich frei und ledig halten, als hätte er nichts getan, und solle sich allein der Gnade und Barmherzigkeit Gottes trösten.109 Doch die Reichweite dieser Gemeinsamkeit ist ebenfalls begrenzt: In der Gottesbeziehung wird unmittelbar das gemuet auf seinen Ursprung bezogen. Für Luther wesentliche Momente fehlen: Schon die Ansätze einer augustinischen Gnadenlehre sind bei Tauler nicht konsequent umgesetzt worden; kann dieser doch durchaus im Sinne eines facere quod in se est von einem präparatorischen Wirken des Menschen im Vorfeld der Gnade sprechen: „Also der heilige geist danne vindet daz der mensche das sine getut, so kummet er mit sime liehte danne und uberluhtet daz naturliche lieht und gusset darin ubernaturliche tugende, also gelobe, hoffenunge, gotteliche minne und sine genade.“110

Statt des äußeren Wortes als Mittel des Heils betont Tauler das innere Wort; nur am Rande begegnet die Terminologie der Gerechtigkeit Gottes, die Konzentration des Gottesverhältnisses auf den Glauben als die neue Gerechtigkeit oder gar die imputative Anrechnung der Gerechtigkeit und damit der ganze Sachverhalt des simul von Sünde und Gerechtem. So sehr diese Unterschiede nicht verkannt werden dürfen, bleibt das rein kritische Ergebnis doch unbefriedigend. Luther hat Tauler nicht aus selbstständigem Interesse studiert, sondern als möglichen Bundesgenossen im Verständnis der Heiligen Schrift und in der Auseinandersetzung mit der scholastischen Schultheologie. Seine Zustimmung zu Tauler als bloßes produktives Missverständnis zu werten, dürfte seiner emphatischen Zu107 Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften. Hrsg. von Ferdinand Vetter (DTMA 11), Berlin 1910. V 12 59,28-30. 108 V 13 64,25-26. 109 V 13 64,29ff. 110 V 23 93,10-13. Vgl. auch V 51 233,21: „So der mensche das sin getut…“.

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stimmung zu Tauler nicht gerecht werden. Der Hinweis von Müller ist doch bedenkenswert: Luthers überschwängliches Urteil wird unbegreiflich, wenn er bei Tauler nicht wesentliche Impulse empfangen hätte.111 Wie könnte Luther sagen, bei ihm mehr gelernt zu haben als bei allen anderen, wenn er nur bestätigt wurde in Auffassungen, die er ohnehin schon vertrat?112 Die theologischen Unterschiede dürfen nicht den Blick verstellen für die Fragen, wo Tauler wirklichen Einfluss auf Luther gewonnen hat. Denn zweierlei wird in den lobenden Erwähnungen Taulers bei Luther deutlich: Zum einen verdankt er ihm viel in einem ganz konkreten Thema, nämlich dem der später so bezeichneten Anfechtung. 113 Zum anderen betont er die im Vergleich mit den Scholastikern andere Denkweise Taulers. Tauler vertritt eine sapientia experimentalis, die Luther grundsätzlich einem doktrinellen bzw. metaphysischen Denken gegenüberstellt.114 Um dieser Betonung der Denkweise willen wird es ihrem Verhältnis nicht gerecht, quasi dogmatische Positionen einander gegenüber zu stellen. Die praktischen Konsequenzen standen mehr in Luthers Fokus als die systematische Ausgestaltung der Anthropologie bzw. der Gnadenlehre. Insofern wäre es eine Verengung, nur bei den angesprochenen Themen zu bleiben, die sich anhand der Randbemerkungen in Langs Exemplar erheben lassen. 115 Darum soll zunächst das Verständnis von Anfechtung/Angst bei Tauler vergegenwärtigt werden.

111 „Wenn Luther wirklich so wenig von Tauler übernommen hätte, wie die angeführten Theologen behauptet haben, müsste man ihn auf Grund seiner Lobsprüche auf Tauler für einen Phantasten und Uebertreiber eigener Art erklären.“ (M ÜLLER, S. 27) 112 Zu Recht betont daher auch B ERND M OELLER : „Luthers Begeisterung für Tauler ist so spontan und bewegend geäußert, und er hat dem Mystiker, wie doch wohl das Fehlen jeder Polemik beweist, offenbar bis an sein Lebensende so viel Achtung entgegengebracht, dass es unglaublich erscheint, dass mit dem Stichwort ‚Mißverständnis‘ die ganze Gemeinsamkeit der beiden Männer bezeichnet sein könnte.“ (M OELLER, Tauler, S. 166) 113 Vgl. BERND M OELLER : „Das freudigste Einverständnis mit Tauler, das rückhaltloseste Bekenntnis zu ihm findet sich bei Luther dort, wo er den Mystiker als den Gewährsmann für die Beschreibung und das Verständnis der Anfechtungen nennt.“ (M OELLER, Tauler, S. 161) 114 Vgl. die Ausführungen in den Randbemerkungen zu Tauler und in der Römerbriefvorlesung: im Sinne der Metaphysik missverstehen wir die Verkündigung Gottes („quia metaphysice intelligimus“ [WA 56 380,33]). Die mystische Theologie des Tauler dagegen sei eine „sapientia experimentalis et non doctrinalis“ (WA 9 98,21). Siehe auch die Betonung der Verwandtschaft der „Denkmethode“ bei RÜHL, ARTHUR: Der Einfluss der Mystik auf Denken und Entwicklung des jungen Luther, Diss. Marburg 1960. S. 95. 115 Dieses hat wohl Lang im Frühjahr mitgenommen. Von einem weiteren Exemplar Luthers wissen wir nichts, er scheint aber zum Text Zugang behalten zu haben.

5.4 Der Einfluss Taulers

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5.4.2 Furcht und Anfechtung bei Tauler Taulers Beschreibungen sind zunächst darin mit Luther verbunden, dass er ebenfalls auf die Reproduktion eines Stufenschemas verzichtet. So hat bei ihm die Furcht Gottes vor allem einen doppelten Zweck: Sie verhilft zur rechten Selbstwahrnehmung und bewahrt vor Sünden. In einer Predigt zum Fest der Kirchweihe des Kölner Doms kommt Tauler auf eine Zeichnung aus dem Buch Hildegards (Scivias) zu sprechen, das die Schwestern auch in ihrem Refektorium vor Augen haben. Diese Zeichnung zeigt eine in blau gekleidete Frau ohne Augen, deren Kleid jedoch voll mit Augen bedeckt ist. In diesem Bild sieht Tauler die heilige Furcht Gottes versinnbildlicht. Ausdrücklich hebt er diese Furcht von einem möglichen Missverständnis ab („das enist alsoliche vorchte nut als ir vorchte heissent“ 116). Vielmehr stehe diese Furcht für die rechte Selbsterkenntnis des Menschen: „es ist ein flissig war nemen der mensche sin selbes in allen stetten und wisen, in worten, in werken“117. Von dieser Selbsterkenntnis kann es sogleich heißen, dass sich der Mensch in ihr selbst vergisst: Darum sei diese Gestalt ohne Antlitz und ohne Augen, dass „si vergisset ir selbes“118, nämlich ob man sie liebe oder hasse, lobe oder schelte; sie stehe „in rechter gelossenheit“119. Sie erkenne ihre eigene Nichtigkeit und sei darin die rechte Einkehr in den eigenen Grund. Als Begleitung des geistlichen Lebens sei solche Gottesfurcht unverzichtbar.120 Die Furcht wird dabei im Sinne eines timor amicabilis verstanden, der nicht aus Misstrauen, sondern aus Liebe entspringt.121 Damit wird zugleich abgewehrt, dass die Furcht nicht zur falschen Motivation gerät. Tauler verweist auf die vielen, die von Furcht getrieben werden zu besonderen Frömmigkeitsübungen wie Wallfahrten nach Rom oder Aachen, was nur vergebliche äußere Übungen seien. Schließlich begegnet die Furcht im Rahmen eines eigenen Stufenschemas. Tauler kennt die klassischen Schemata des Aufstiegs, wie sie aus der Tradition überkommen sind. Er kennt die Stufen der Liebe nach Bernhard 122, die Stufen der Anfangenden, Fortschreitenden und Vollendeten123, 116 V 69 379,19-20. 117 V 69 379,20-21.

Vgl. auch ALOIS H AAS: „Die Gottesfurcht ist nahezu identisch mit der Selbsterkenntnis.“ (HAAS, ALOIS MARIA: Nim din selbes war. Studien zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse, Freiburg [Schweiz] 1971. S. 103.) 118 V 69 379,22. 119 V 69 379,24. 120 Vgl. auch H AAS, Nim, S. 102, Anm. 74. 121 Der Mensch möge allezeit in Furcht vor den verborgenen Urteilen Gottes leben, „und das nut als die zwiveler, sunder als ein liep frunt, der alwegen in sorgen ist das sin liep frunt sich nut uf in enzurne.“ (V 43, 188,5-7) 122 V 54 246,23ff. 123 Vgl. z. B. V 4 21,10ff.; V 23 92,20ff.; V 54 248,13ff.

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und bewegt sich damit auf dem gleichen Traditionshintergrund wie Luther. Daneben entwickelt er aber nun auch in der Predigt Karissimi, estote unanimes in oratione (V 39) ein bemerkenswertes Ternar (dreigliedriges Stufenmodell), das sich von den Aufstiegsschemata der Tradition signifikant abhebt. 124 Der erste Grad eines inneren Tugendlebens bestehe zunächst in der menschlichen Zuwendung zu den Werken Gottes; eine Ausrichtung, die den Menschen in einen Zustand der iubilatio zu führen vermag. 125 Den zweiten Grad bezeichnet Tauler als geistliche Armut und Entziehung Gottes.126 Der dritte Grad sei schließlich eine „Überfahrt“ in ein gottförmiges Wesen, wo der menschliche Geist mit Gott vereinigt werde.127 In der anschließenden Erläuterung der drei Stufen beschreibt Tauler die zunächst mit der ersten Stufe verbundene Erfahrung der Süßigkeit, der ekstatischen Erfahrung der Nähe Gottes, wie sie für den Anfänger charakteristisch sein kann. Besondere Aufmerksamkeit verdient der zweite Grad. Da der Mensch nun geistlich kein Kind mehr sei und als ein Mann nicht Süßigkeit, sondern harte Speisung zur Nahrung bekomme, nehme Gott ihm alle süße Erfahrung nach und nach wieder fort und führe ihn auf einen wilden, rauen Weg, auf dem ihm alle Glaubenszuversicht genommen werde. 128 In diesem inneren Leiden werde dem Menschen die Welt zu enge; das Leben erscheine dem Menschen wie die Hölle selbst. Nicht nur sein eigenes Geschick, sondern auch die Realität Gottes, alles werde ihm in solcher Bedrängnis fraglich: Der Mensch „kumet in alsolich getrenge das er nut enweis ob im ie recht wart und ob er einen Got habe oder nut habe und o er es si oder nut si“ 129. Der Mensch könne nicht mehr glauben, dass nach solcher Finsternis je wieder das Licht scheine. Darum unterbricht Tauler seine Schilderung dieses Zustandes mit einer Ermunterung für den Betroffenen, indem er ihn zum Festhalten am Stamm des Glaubens ermutigt: „Och nu gehab dich wol, der herre ist sicherlichen hie bi, und halt dich an dem stammen des woren lebendigen geloben; es wirt schiere gar gut.“ 130 124 Diese Predigt wurde zuletzt mehrfach interpretiert, vgl. die Darstellungen bei STOLINA, R ALF: Niemand hat Gott je gesehen. Traktat über negative Theologie (TBT 108), Berlin/New York 2000. S. 151ff.; GNÄDINGER, LOUISE: Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre, München 1993. S. 160-170. 125 V 39 159,31-35. 126 „Der ander grat das ist ein armute des geistes und ein sunderlich in ziehen Gotz in einer qwelender berobunge des geistes.“ (V 39 160,1-2) 127 V 39 160,3-6. 128 „Er wirt gefurt einen gar wilden weg, der gar vinster und ellent ist. Und in dem wege benimet im Got alles das er im ie gegab.“ (V 39 161,13-14) 129 V 39 161,16-18. B ERND MOELLER bemerkt zu dieser Passage: „man meint, hier Luthersche Töne zu hören.“ (M OELLER, Anfechtung, S. 47) 130 V 39 161,30-31.

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Abschließend wird diese Bedrängnis als Vorbereitung für die dritte Stufe erkennbar, der Überfahrt, wo Gott den Menschen aus seiner Finsternis herauszieht und mit sich vereinigt. Rückblickend werde die Finsternis der Bedrängnis als Zernichtung des Eigenlebens erkennbar, die den Menschen für die wahre Einheit mit Gott vorbereitet habe. Charakteristisch an diesem Ternar ist, dass Tauler mit dem Schema eines linearen Progresses auf dem geistlichen Weg bricht. Dabei hat vor allem die zweite Stufe einen besonderen Stellenwert, da sie unmittelbar vor dem eigentlichen Ziel steht. Diese Entziehung Gottes, die Erfahrung von Bedrängnis, Angst und Not wird immer wieder Gegenstand eingehender Schilderung. Tauler kann diese Erfahrung mittels der Metapher des Weges beschreiben als einen finsteren und wilden Weg. Ein weiterer Metaphernkomplex, den Tauler zu ihrer Darstellung aufgreift, ist dem Umfeld der Jagd entnommen. Schon Predigt 30 war auf die Feier des Altarsakraments bezogen und bot Tauler Gelegenheit, die wahre Buße zu schildern. Dabei nimmt er ein Wort Bernhards auf: Das Essen Gottes bedeute, von ihm gegessen zu werden. Dies geschehe so, dass wir im Gewissen gebissen bzw. zurechtgewiesen werden, und dabei Furcht und Angst erfahren. Diesen Gedanken Bernhards greift Tauler in der Predigt Qui manducat meam carnem (V 60f) noch einmal auf. Die Gewissensbisse erläutert er sodann wiederum durch das Jagdmotiv. In den Gewissensqualen fühle der Mensch sich wie ein gejagtes Tier. Anfechtungen, Versuchungen aller Art trieben ihn in die Enge, ohne dass er ihnen entfliehen könne. Solche Bedrängnis könne einen Menschen zu mehr Gelassenheit, Gottesfurcht und Sehnsucht zu Gott führen, eine Stimmung, in der der Mensch gut kommunizieren könne. Solche Empfindung bezeichnet Tauler als eine erste Stufe, der eine zweite Stufe gegenübergestellt werden könne. Auf dieser führt die Entäußerung des Menschen diesen in innere Angst: „Der ander grat daz ist das indewendige getrenge das geborn wurt von der entsetzunge.“ 131 Vor allem die ausgeführte Metaphorik der Enge erweist, dass dieses getrenge wesentlich als namenlose Angst erfahren wird: „Die hie inne stont, reht do wurt uz geborn ein unlidelich getrenge von dem entwerdende, das dem menschen dise wite welt zu enge wurt, und die nature wurt so gequetschet und getrucket, und der mensch weis nut was ime ist, und ist ime also wunderlichen enge.“132

Eine solche Angst soll der Mensch jedoch nicht loswerden wollen, sich auch nicht zur Flucht verführen lassen. Selbst das Abendmahl würde Tauler einem so bedrängten Menschen verwehren, wenn er es nur aus Ge131 V 60f 314,3-4. 132 V 60f 314,30-34.

Dass dies getrenge sich vor allem als Angst niederschlägt, zeigt die Angabe ihres Grundes: „Liebes kint, ich wil dir sagen was dir ist: dis entwerden machet dir dis, du wilt note sterben.“ (V 60f 314,34-35)

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wohnheit oder aus der Hilfsbedürftigkeit seiner Natur heraus verlangen würde. Nur im Notfall sollte solch ein Mensch kommunizieren, und dann nicht deshalb, dass dieser Druck sich auflöse, sondern nur, dass er ihn besser ertragen könnte.133 Denn diese Bedrängnis (truck, getrenge) sei die Voraussetzung der wahren Geburt Gottes, die sich nur vollziehe, wo diese Bedrängnis „ausgelitten“ werde: „Du solt wissen daz die wore geburt in dir niemer geschiht, dis getrenge musse e von not vorgon, und welich ding dir daz entloset, daz gebirt sich in dich und benimmet dir die geburt die do geborn solte sin worden obe du es hettest uzgelitten.“134

Das getrenge, in dem der Mensch sich verlassen und verzweifelt fühlt, dem er mit aller Gewalt entfliehen will, wird als notwendiges und entscheidendes Moment auf dem geistlichen Weg gedeutet. Es begleitet das „Entwerden“, das Sterben des alten Menschen und geht insofern mit der wahren, geistlichen Geburt des Menschen einher. In dieser Umdeutung wird die damit verbundene Angst zu einem Zeichen des Handelns Gottes. In dieser Weise wird dieses getrenge auch gedeutet in der Predigt Ascendit Jhesus in naviculam, zu der wir ausführliche Anmerkungen Luthers besitzen. Hier ist das Schiff aus dem Fischfang des Petrus ein Bild des geistlichen Lebensweges. Die Fahrt auf die offene See wird zu einem Gleichnis der Bedrängnis, die in den Stürmen und Winden der hohen See wartet. „So stot in im uf alles das getrenge und alle die bekorunge und alle die bilde und die unselikeit die der mensche lange uber wunden hat“ 135. Diesem Menschen gelte die Zusage: Fürchte dich nicht! Mit Hiob dürfe er hoffen, dass nach der Finsternis das Licht wieder erscheine. „Blibe allein bi dir selber und enlof nut us und lide dich us und ensuche nut ein anders.“136 Diese Bedrängnis will angenommen sein. Der Mensch soll ihr nicht entlaufen, weder durch Zerstreuung noch durch unzeitige Frömmigkeitsübung. Vielmehr soll er diese Bedrängnis ansehen als ein Zeichen, dass die wahre Geburt kurz bevor steht. Ja, es gäbe diese Bedrängnis gar nicht, wollte Gott nicht eine neue Geburt des Menschen bewirken. 137

133 Tauler würde einem solchen Menschen das Abendmahl verweigern, „es were dennen das din nature also krang were, daz du dis anders nut uzgeliden mohtest, so mohtestu in der wochen einest oder zwurent zugon, und nut zu einer uzloffunge, sunder daz du es deste bas geliden mohtest, und och obe du vindest das dir der truck dovon nut vergienge.“ (V 60f 315,22-25) 134 V 60f 315,25-28. 135 V 41 171,36-172,2. 136 V 41 172,8-9. 137 Zu den beiden folgenden Sätzen gehören Luthers ausführliche Anmerkungen: „In der worheit, blibest du do bi, die geburt die ist nach und sol in dir geborn werden. Und wissist uf mich das niemer enkein getrenge in den menschen uf gestot, Got enwelle nach dem ein nuwe geburt in im ernuwen.“ (V 41 172,14-17)

5.4 Der Einfluss Taulers

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Diese Erfahrung steht vor einem Übergang in die Vereinigung mit Gott. In der Metaphorik des Weges bringt Tauler zunächst die Erfahrung der Finsternis und Verzweiflung zum Ausdruck. Das Getriebensein in Angst und Schrecken kommt im Jagdmotiv eindrücklich zur Darstellung. Zugleich wird Gott dabei als Subjekt dieses Widerfahrnis deutlich. So oder so erweist sich das getrenge als eine Übergangserfahrung, die entgegen ihrem affektiven Gehalt deutungsfähig ist als vorbereitendes Heilshandeln Gottes. Taulers Beschreibungen erweisen damit ein erhebliches Bewältigungspotential im Blick auf religiöse Krisen. Die Angst der Gottverlassenheit und der Verzweiflung wird in keiner Weise zu einem Motiv religiöser Bemühung um verdienstvolles Handeln. Im Gegenteil: Das äußerliche, abgepresste Tun wird entschieden verworfen. Dagegen wird der Mensch ganz und gar auf das Handeln Gottes ausgerichtet. Nicht das Wirken, sondern das Erleiden wird zum Weg der Bewältigung. 138 5.4.3 Passivität des Glaubens Man muss diesen entwickelten Zusammenhang vor Augen haben, um die außergewöhnliche Wirkung auf Luther ermessen zu können. Taulers Schilderung der mit Angst und Traurigkeit verbundenen Trostlosigkeit des angefochtenen Menschen hat nach Luthers späteren Rückblicken allergrößten Eindruck auf ihn gemacht. Man muss sich von den traditionellen Vorgaben her klar machen, wie wesentlich es für Luther war, solche Erfahrungen von Furcht und Verzweiflung in einem positiven Kontext beschrieben zu finden. Immer wieder begegnet bei ihm der Vorwurf, dass die Scholastiker von diesen Anfechtungen nichts gewusst haben. 139 Was schwerer wiegt: Auch seine beiden wichtigsten Gewährsmänner, Augustin und Bernhard von Clairvaux, haben nicht wirklich viel zu diesem Thema geschrieben, wodurch Luther sich hätte verstanden fühlen können. Auch gegenüber Staupitz betont Luther, dieser habe seine Anfechtungen nicht wirklich nachvollziehen können, so hilfreich sonst seine Impulse auch gewesen 138 Vgl. A LOIS H AAS: „Es liegt im Grunde eine uralte monastische Grundhaltung in dieser Anweisung, das Leiden in seiner ganzen Breite nicht zu verdrängen. Es geht um eine grundsätzliche Selbstannahme, um ein Sich-Leiden und Sich-Lassen in diesem geduldigen Ertragen von Leid. Es müssen sich die seelischen und psychosomatisch gegebenen Verspannungen verhärten, wo solche Gelassenheit keine Chance hat. Erst der Verzicht auf das willentliche und absichtsvolle Bewältigen der Finsternis und der seelischen Nacht – mit anderen Worten, das Ausharren in ihr – schafft die Voraussetzung, dieser Versuchung angemessen zu begegnen.“ (H AAS, ALOIS MARIA: „Die Arbeit der Nacht“. Mystische Leiderfahrung nach Johannes Tauler, in: Ders.: Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik [st 1196], Frankfurt/Main 1996. S. 411-455. S. 436.) 139 Vgl. V OGELSANGS Untersuchung zur Anfechtung bei den Scholastikern, V OGELSANG, Christus, S. 15-25.

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Kapitel 5: Furcht in der Römerbriefvorlesung

seien. Welche Bedeutung dieses Moment des Verstehens hat, kann man sich an Gerson klar machen. Gerson wird von Luther vielfach positiv erwähnt, weil dieser auf die Erfahrung der Anfechtungen eingeht. Gerson tut dies, wie gesehen, in einer Weise, die alles andere als konform mit Luther ist. Es ist bezeichnend, dass ein Denker, der so grundlegend anders als Luther mit diesen Anfechtungen umgeht, gleichwohl immer wieder positiv erwähnt wird, nur um der Tatsache willen, überhaupt auf geistliche Anfechtungen eingegangen zu sein. Deutlicher als in der bisherigen Forschung muss daher betont werden, dass Tauler nicht nur aufgrund eines kreativen Missverständnisses, sondern aufgrund seines eigenständigen Zugangs zum Thema der Angst eine überragende Bedeutung für Luther gewann: bestätigend und anregend gleichermaßen. Wie verarbeitet Luther nun die Beschreibungen des getrenge bei Tauler? Nachdrückliche Zustimmung erfahren hier zunächst die Ausführungen, in denen Tauler die Passivität des Menschen betont. Nicht das Wirken, sondern das Erleiden ist in geistlichen Dingen die höchste Tugend: „Sed pati in spiritualibus excellentissima virtus est, ut in fide, spe, charitate, item ariditate, pusillanimitate“ 140. Solche Abwehr jeglicher Bewältigung durch religiöses Tun macht Luther sich entschieden zu eigen. Vor allem auf die Predigt Ascendit Jesus in naviculam entfällt ein großer Teil seiner Anmerkungen. Zentral ist auch hier zunächst die Betonung des göttlichen Handelns. Gott sei es, der in der Anfechtung am Werk ist. Wo Tauler dieses Wirken Gottes den menschlichen Frömmigkeitsübungen entgegenstellt, notiert Luther am Rande zustimmend: „illa omnia sunt opera hominum, hoc autem opus dei.“ 141 Wir Menschen seien darin ganz und gar Materie und Lehm für das Handeln Gottes.142 Welche menschliche Haltung entspricht nun diesem Handeln Gottes? Eben kein Wirken, sondern ein Geschehenlassen. Gott handelt, indem er unseren Eigenwillen (sensus proprius) auflöst, unseren Willen vernichtet, uns durch Kreuz und Leiden ganz und gar tötet. Der Mensch ist darin beteiligt, indem er nichts tut, sondern in Gottes Willen einwilligt. Luther spitzt so zu: „Igitur tota salus est resignatio voluntatis in omnibus ut hic docet sive in spiritualibus sive temporalibus. Et nuda fides in deum.“ 143 Glaube wird präzisiert als eine Haltung, die man als Ergebung, Einwilligung und Überlassung beschreiben kann. Diese Ausdrücke schlechthinniger Passivität Gott gegenüber verbieten jede Einordnung in ein Tugendmodell. Luther erfuhr darin Bestätigung in einem Grundanliegen der Dictatazeit. Sowohl in der Ablehnung eines religiösen Aktionismus als 140 WA 9 100,31-32. 141 WA 9 103,16-17. 142 „Ita hic, quia nos sumus 143 WA 9 102,34-36.

materia dei et lutum.“ (WA 9 103,14-15)

5.4 Der Einfluss Taulers

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Flucht vor der Angst als auch in der Grundhaltung des Annehmens der Anfechtung bestätigt und verstärkt die Taulerlektüre bei Luther die Tendenzen, die wir in seinen Dictata haben nachzeichnen können. Schauen wir uns von daher an, welche Aufnahme diese Impulse in der Römerbriefvorlesung gefunden haben. Im Scholion zu Röm 8,7 wird ausdrücklich auf Tauler verwiesen und zwar auf den für Tauler zentralen wie originellen Gesichtspunkt der Passivität gegenüber Gott, dem Komplex von Gott-leiden und Gelassenheit: „De ista patientia Dei et sufferentia vide Taulerum, qui pre ceteris hanc materiam preclare ad lucem dedit in lingua teutonica.“ 144 Direkt parallel zu Luthers Anmerkungen zu Tauler kann es heißen, dass es Gottes Wesen sei, zuerst alles in uns zu zerstören und zunichte zu machen, was unser ist, ehe er uns seine Gaben schenken kann.145 Mit diesem Zerstören bringe Gott uns zum Schweigen und mache uns ihm gegenüber rein passiv („pure passive respectu Dei“146). Die, die den Geist haben, verzweifeln nicht daran, sondern willigen ein, in Gottes Hand nichts als Ton zu sein, den er formen könne.147 Wenn Gott uns seine Gnade zukommen lasse, können wir uns nur ganz passiv halten148, so wie sich eine Frau bei der Empfängnis ganz passiv verhalte.149 So sollen auch wir angesichts des Wirkens des Geistes weder beten noch wirken, sondern Gottes Tun bloß erleiden.150 Für den Menschen fühle sich dieses Erleiden wie bloße Finsternis an, in der er verloren zu gehen scheint, weswegen viele Menschen einen solchen Zustand auch fliehen würden. Dagegen komme es darauf an, die vermeintlichen Schrecken mit Freude als Gottes Gabe anzunehmen. 151 Denn nur unter dem Gegenteil verborgen teile Gott seine Gnade mit. Die Motive finden sich vielfältig bei Tauler (aber weder bei Paulus noch bei Augustin!) und sind in hohem Maße von der Beschäftigung mit ihm geprägt. Dabei geht Luther überaus frei mit Taulers Schema um; der Ternar als solcher wird überhaupt nicht aufgegriffen. Die Stufe der iubilatio 144 WA 56 378,13-14. Wir lassen die Frage dahin gestellt, ab wann genau der Einfluss Taulers sich nachweisen lässt und setzen lediglich voraus, ihn ab dem 8. Kapitel annehmen zu können. In der Tat häufen sich hier Motive, die sich leicht aus der Beschäftigung mit Tauler ergeben. 145 „Natura Dei est, prius destruere et annihilare, quicquid in nobis est, antequam sua donet“. (WA 56 375,18-19) Vgl. die unmittelbare Parallele: „Deus non agat in nobis, nisi prius nos et nostra destruat“. (WA 9 102,10-11) 146 WA 56 375,33-34. 147 Vgl. das Zitat von Jes 64,8 (WA 56 376,26f.) mit den Randbemerkungen zu Tauler: „nos sumus materia dei et lutum.“ (WA 9 103,14-15) 148 „Passive se habentibus“. (WA 56 377,22) 149 WA 56 379,2-3. 150 „Oportet, quod neque oret neque operetur, Sed solum patiatur.“ (WA 56 379,5-6) 151 „Oporteret ergo cum maiore gaudio terrorem Dei donantis acceptare“. (WA 56 380,28-29)

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Kapitel 5: Furcht in der Römerbriefvorlesung

findet bei Luther keinen Widerhall und scheint keine wesentliche Erfahrung für ihn gewesen zu sein. Der Gedanke einer „Überfahrt“ bzw. Vereinigung mit Gott ist in dieser Zeit bei Luther auch nicht zu finden. Es ist das Moment der Bedrängnis allein, das Luthers höchste Aufmerksamkeit findet. Anders als Tauler deutet Luther dies aber nun nicht als eine Phase, die dem Durchbruch erst voran geht oder als Moment eines Weges. Vielmehr ist es die Behauptung des verborgenen Handeln Gottes in der Anfechtung, die bei Luther im Unterschied zum Wegschema aufgegriffen wird. Dieses Handeln Gottes nimmt Luther aber nun nicht als vorbereitendes auf, sondern als heilvolles! Gottes gnadenhaftes Wirken in der Bedrängnis und das passive Verhalten des Menschen in diesem Erleiden, darauf konzentriert Luther seine Ausführung. Es spricht viel für die Überlegung, dass Luther von daher eine neue Präzisierung des Glaubens als menschliche Grundhaltung Gott gegenüber gewinnt. Es sind vor allem die in den Scholien zu Röm 3,4 und 4,7 mitlaufenden Momente des Selbstgerichts, der Selbstanklage und -verurteilung, die durch die Betonung unbedingter Passivität der Sache nach überholt werden. Auf der Linie unbedingter Passivität liegt es hingegen vielmehr, den Glauben vom Hören her zu bestimmen: „fides […] excecat omnem sapientiam carnis faciens Nihil sciri, paratum doceri ac duci et promptum audire et cedere.“ 152 Der bisweilen geäußerte Eindruck, ab Kapitel 8 würden die als präparatorisch missverständlichen Beschreibungen seltener, ist schon deshalb am Text schwer zu verifizieren, weil das Thema der Rechtfertigung insgesamt in der zweiten Briefhälfte bei Paulus zurücktritt.153 Von der in der Folgezeit her zu beobachtenden Konzentration auf den Glaubensbegriff her wird man jedoch sagen können, dass Luther dabei Einsichten fortführt, die wesentlich auch in seiner Begegnung mit Tauler sichtbar geworden sind. Neben der vertieften Wahrnehmung der Passivität des Glaubens ist sodann der Umgang mit Furcht bemerkenswert. Eindrücklich lässt sich dieser Zusammenhang am Scholion von Röm 8,7 entwickeln. Luther beginnt seine Erörterung mit der Unterscheidung von geistlicher und fleischlicher Klugheit. Es sei ein Wesensmerkmal der fleischlichen Klugheit, dass sie allein nach zeitlichen Gütern trachtet und den Verlust irdischer Güter fürchte, im Unterschied zur geistlichen Klugheit, die keinerlei irdische

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WA 56 416,5-7. Vgl. aber auch eine so problematische Beschreibung wie im Scholion zu Röm 9,3: „Si ergo et nos ipsos sic vero corde perdemus et persequemur, in infernum offeremus propter Deum et Iustitiam eius, iam vere satisfecimus Iustitie eius, et miserebitur atque liberabit nos“ (WA 56 393,29-31), von der man nichts anderes wird sagen können, als dass Luther hier weit hinter den Möglichkeiten des bereits Erkannten zurückbleibt.

5.4 Der Einfluss Taulers

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Übel fürchte.154 Diese Furcht, in der Tradition der timor mundanus, ist geradezu das Erkennungsmerkmal der fleischlichen Klugheit: „qui autem Carne prudens est, horribiliter timet mortem, stultitiam, peccatum etc.“ 155 Dann aber geht Luther einen Schritt weiter. Dies gelte auch für die, die sich fürchten vor dem Tod, vor der Sünde, vor dem iudicium futurum. Solche Ängste sind für Luther lauter Zeichen, dass die Klugheit des Fleisches ungebrochen anwesend ist und Widerstand leistet.156 Dann schränkt Luther ein: Nicht, dass man diese Dinge nicht fürchten müsste – dies zu behaupten würde einen Bruch mit der gesamten Tradition bedeuten und sich auch nicht mit dem vertragen, was wir bisher in diesem Zusammenhang lesen konnten. Aber der Zweck der Angst wird nun neu bestimmt. Vielmehr sei der Sinn dieser Angst, die Klugheit des Fleisches zu erkennen, damit die Schwachen sich mühten, von diesem Schrecken frei zu werden, um durch die Gnade Gottes in die Hoffnung auf Sicherheit versetzt zu werden. 157 Für diejenigen, die von der Klugheit des Geistes erfüllt sind, bedeute der Anbruch des Jüngsten Tages keinen Schrecken.158 Man mag darin eine gewisse Spannung zum bisherigen Duktus der Vorlesung sehen. Hat Luther nicht vielfach betont, dass die Gerechten allezeit das Gericht Gottes fürchten und vor der Verdammnis zittern? Wie kann nun davon die Rede sein, dass sie es nicht tun, ja Hoffnung auf Sicherheit anstreben sollen? Man wird beides zusammen sehen müssen: Indem die Gerechten das Gefürchtete wie Gericht und Zorn annehmen und bejahen, überwinden sie zugleich die Furcht davor. Von denen, die die Klugheit des Geistes haben gilt: „Voluntatem Dei diligunt et ei conformes congratulatur.“ 159 Es ist diese Gleichgestaltung mit dem Willen Gottes, ihre Willenseinheit mit Gott, die sie vor jedem Schmerz und jedem Schrecken bewahrt160; und darin finden sie die Ruhe ihres Gewissens.161 Daher kann 154

„Haec omnia non timet, qui in spiritu prudens est“. (WA 56 364,24-25) Vgl. zeitnah auch WAB 1 37,10ff. 155 WA 56 364,25-26. 156 „Omnia sunt signa adhuc restantis et superstitis viventis prudentie carnis.“ (WA 56 364,29-30) 157 „Ut infirmi laborent ab isto horrore liberari et in spem securitatis transferri per gratiam Dei.“ (WA 56 364,32-33) 158 Vgl. die parallelen Ausführungen aus dem Scholion zu Röm 9,33. Wer an Christus glaube, sei gerecht und in seinem Gewissen sicher und furchtlos; frei von dem bösen Gewissen, das in verzweifelter Furcht vergeblich die Flucht sucht. Solche Verstörung des Gewissens sei Gottes Gericht an denen, die Christus vergessen. Für den Gläubigen gelte dagegen: „Qui Credit in Christum, Non festinet, Non fugiet, Non terrebitur, Quia Nihil timet, stat quietus et securus“. (WA 56 411,1-3) 159 WA 56 364,35-365,1. 160 „Ubicunque enim est voluntas, ibi neque dolor neque horror est“. (WA 56 365,5-6) 161 „Non enim timendo, Sed amando fugitur ira Dei et miseria atque horror Iudicii et per conformitatem voluntatis Dei quietatur conscientia.“ (WA 56 365,18-20)

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Kapitel 5: Furcht in der Römerbriefvorlesung

man dem göttlichen Zorn nicht entrinnen, indem man ihn fürchtet, hasst oder flieht, sondern indem er in Liebe angenommen, bejaht und geliebt wird. Derjenige, der den Willen Gottes ganz und gar bejaht, der seinem Gericht Recht gibt, der auch das Urteil Gottes am Jüngsten Tag herbeisehnt, der überwindet in diesem Annehmen dessen, was er fürchtet, zugleich die Furcht. 162 Wie der Mensch Gott in allen Dingen Recht geben muss, so auch im Kommen des Jüngsten Tages. Die bloße Furcht vor dem Gericht Gottes widersteht dem Willen Gottes. „Quid enim prodest timere iudicii diem?“163 Das Kommen des Jüngsten Tages könne niemand verhindern, darum sei es töricht, ihn zu fürchten. „Quia qui timet eum, odit eum et non vult eum venire.“164 Im Hintergrund steht die bekannte Erfahrung, dass die Furcht zu Hass führt. Mit einer Reihe von biblischen Belegen (2 Tim 4,8; 2 Petr, 3,11; Tit 2,12; Lk 12,36) zeigt Luther auf, dass nicht die Furcht, sondern die freudige Erwartung die angemessene Haltung dem Kommen Christi gegenüber ist. Die Unvermeidlichkeit der Furcht in diesem Zusammenhang des Gerichts bleibt bei Luther anerkannt. Nur ihr Sinn wird von Luther umbestimmt: Nicht mehr als Antrieb religiösen Handelns wird die Furcht in Anspruch genommen, sondern in der Erkenntnis der eigenen soteriologischen Ohnmacht. Darin beschlossen liegt das Moment der Anerkennung und Einwilligung in die Furcht. Wer sie so annimmt, überwindet sie zugleich. Woraufhin ist jedoch eine solche Umbestimmung der Furcht möglich? Was gibt die Gewähr, dass der Jüngste Tag wirklich zu lieben ist und die Angst nicht zur Verzweiflung führen muss? Auf welchen Grund hin kann es zur Überwindung der Furcht kommen? Hier entwickelt Luther wiederum den Zusammenhang von Christus und Rechtfertigung im Sinne seiner frühen Rechtfertigungslehre: Diese Furcht habe niemand überwunden außer Christus mit seinem Tod. 165 Deutlich zeigen sich hier der entschiedene Heilssinn und damit auch die Tröstlichkeit der frühen Rechtfertigungslehre Luthers. Um Christi willen hätten die, die an ihn glauben, keinen Grund mehr zu irgendeiner Furcht, sondern können stolz alle diese Übel verachten und fröhlich über sie lachen. 166 Dabei seien die credentes in eum eben

162 Luther zieht daraus auch Konsequenzen für die Verkündigung: vom Jüngsten Tag soll den schon Betrübten nicht mehr mit dem Ziel gepredigt werden, dass sie sich noch mehr ängstigen. Dies sei nur nötig im Blick auf die, die sich im Schmutz der Welt wälzen, „ut terreantur ad penitentiam“. (WA 56 365,16) 163 WA 56 365,20. 164 WA 56 365,21. 165 WA 56 366,3ff. 166 „Hunc ergo timorem nullus evicit nisi solus Christus, Qui mortem et omnia mala temporalia et eternam quoque mortem superavit. Ideoque Credentes in eum amplius non

5.4 Der Einfluss Taulers

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die, die Gottes Urteil annehmen, die in Demut und Furcht allezeit sich in die Bewegung der conformitas mit Christus hinein begeben, dann aber mit Blick auf Christus eben wirklich die Furcht überwinden, lachen und sich freuen.167 Was ist das Besondere, das Neue, das sich im Umgang mit der Angst an dieser Stelle zeigt? Es ist eine neue Wertschätzung der Angst, eine neue Sicht des Leidens bzw. der geistlichen Anfechtung. Luther hatte schon in den Dictata einen Umgang mit der geistlichen Bedrängnis gepflegt, der von Annahme und Einwilligung geprägt war. Es gelingt ihm dort, die Bedrängnis durch Todes- und Höllenfurcht einzuzeichnen in den Kontext einer Konformitätschristologie. Diese Negativerfahrungen können, ja sollen angeeignet und angenommen werden, weil der Mensch darin Christus ähnlich wird. Das Streben nach Christuskonformität vermag deshalb die Negativerfahrungen zu integrieren, weil es im Sinne der frühen Rechtfertigungslehre von der fremden Gerechtigkeit Christi getragen ist. Diese Tendenz positiver Heilsaneignung wird durch Tauler entschieden verstärkt. Die Zusammenhänge von Zunichtewerden, Lassen seiner selbst, Einwilligung in die Zerstörung der eigenen Form von Gott, Haltung von Überlassung, Gelassenheit und nacktem Glauben erweisen sich als wesentliche Impulse, die Luther von Tauler übernimmt. Zurück treten dabei die in den Dictata noch vorhandenen Züge, die Gleichgestaltung mit Christus von der menschlichen Aktivität her zu verstehen. Die aktiven Momente der Buße

habent, quod timeant omnino, Sed beata superbia contemnentes rident et gaudent in malis iis omnibus“. (WA 56 366,3-6) 167 LENNART P INOMAA hat an dieser Stelle einen entscheidenden Wandel angenommen, vgl. P INOMAA, Charakter, S. 72. Gemäß seiner Leitfrage nach dem Durchbruch eines existenziellen Denkens komme es im Scholion zu Röm 8,7 zu einem Durchbruch der existenziellen Furchtauffassung. Wo Christus als Überwinder der Furcht erkannt sei, gäbe es keine Abstufungen der Furcht mehr. Der Umbruch würde noch deutlicher in WA 56, 411,1ff. Furcht werde hier gleichbedeutend mit der Anfechtung. Sie sei keine Leistung mehr vor Gott, sondern nur noch das verkehrte Gottesverhältnis, keine Vorstufe der Erlösung, sondern ihr Fehlen. Hier schon würde Furcht und Glaube in einen Gegensatz treten, wie es für die reife Theologie Luthers charakteristisch sei. P INOMAAS Kategorien sind jedoch leider zu undeutlich entwickelt. Die Kritik des Leistungs- und Verdienstgedankens ist im Grunde schon zur Zeit der Dictata ausgeprägt, vollends in der Römerbriefvorlesung durch den Gedanken der Alleinwirksamkeit Gottes vollständig durchgeführt. Das Existenzielle in dem Sinne, dass die jeweilige Einstellung der menschlichen Subjektivität untrennbar mit der vermeintlich objektiven Glaubensvorstellung verbunden ist, zeichnet ebenfalls schon die tropologische Auslegungsmethode der Dictata aus. Dass sich in der Deutung der Anfechtung bei Luther noch erhebliche Bewegungen verfolgen lassen, ist zutreffend. Doch auf dieses Thema werden wir später stoßen; es gibt keinen Grund, innerhalb der Römerbriefvorlesung an dieser Stelle einen einschneidenden Bruch anzunehmen.

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(sich meditativ in Furcht versetzen, sich selbst zum Verfolger werden etc.) werden von einer Haltung unbedingter Passivität abgelöst.168 Neben der Hinführung zu dieser geistlichen Grundhaltung konsequenter Passivität ist es die neue Deutung der religiösen Erfahrung, die Luther als weiteren, entscheidenden Impuls aufnimmt. Die Bedrängnis ist ein Werk Gottes, in dem er uns zerstört, um uns zu begnaden, in die Hölle führt, um zum Himmel emporzuheben. Die Begnadigung ist nicht anders zu erfahren, als dass uns Gott zuvor all das unsere nimmt; und darum ist solche Bedrängnis nicht zu fliehen, sondern als heilvolles Zeichen des verborgenen Wirkens Gottes aufzufassen. In dieser neuen Deutung bzw. Umdeutung der Angst wird Luther sich wesentlich durch das Vorbild Taulers bestätigt und angeregt gesehen haben. Die Erfahrung äußerster Verunsicherung konnte so zum Ausgangspunkt neuer Vergewisserung werden. Diese Möglichkeit existenzieller Selbstdeutung ist zusammen mit dem Passivitätsmotiv der deutlichste Ertrag der Beschäftigung mit der Deutschen Mystik. 169 168 Hierin liegt das Wahrheitsmoment der These W OLFHART P ANNENBERGS, dass in der Römerbriefvorlesung nicht die Konformität mit Christus, sondern die Konformität mit dem Willen Gottes im Zentrum steht, vgl. P ANNENBERG, W OLFHART: Der Einfluss der Anfechtungserfahrung auf den Prädestinationsbegriff Luthers, KuD 3 (1957) S. 109139. S. 124. Dass darin die „allgemeine Struktur des Glaubens“ ein „selbständigeres Gewicht“ (ebd. S. 125) als zuvor gewinnt, entspricht unseren Beobachtungen bezüglich der stärkeren Betonung der Passivität. Doch sollte diese Beobachtung nicht gegen das Konformitätsmotiv mit Christus im Sinne der Dictata ausgespielt werden. Denn wie heißt es am Ende des Scholions zu Röm 8,7: „Sicut Christus suo exempel nos docet et fiducialiter obviam eundo morti et passionibus.“ (WA 56 366,11-12). Dieses Motiv wird nicht überwunden, sondern im Sinne stärkerer Passivität vertieft. 169 Nach der langen Dominanz einer Behauptung prinzipieller Differenz zwischen Luther und der Mystik mehren sich zuletzt die Stimmen, die eine erheblich größere Nähe behaupten. Vgl. vor allem: HAMM, BERNDT und VOLKER LEPPIN (Hrsg.): Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007. Möglich wird dies nicht zuletzt dadurch, dass im Gegensatz zum ganz auf das Einheitserlebnis fixierten engen Mystikbegriff der älteren Lutherforschung nun die weiter gefassten Ansätze der gegenwärtigen Mystikforschung (K URT RUH, BERNHARD MCGINN, ALOIS HAAS) rezipiert werden mit ihrer Betonung der unmittelbaren Erfahrung göttlicher Gegenwart als Kern mystischen Erlebens. Vor allem B ERNDT HAMM vertritt unter diesen Voraussetzungen die weitreichende These: Luthers ausgereifte Theologie hat „nicht nur eine mystische Seite oder Dimension und rezipiert nicht nur traditionelle mystische Motive und Begriffe, sondern zeigt in ihrer Gesamtkomposition mystischen Charakter.“ (HAMM, BERNDT: Wie mystisch war der Glaube Luthers? In: HAMM/LEPPIN, S. 237-287. S. 242. Vgl. auch LEPPIN, S. 165ff. und GROSSE, S. 187ff.) Dass die klassischen Verhältnisbestimmungen zwischen Luther und der Mystik in der Lutherforschung revisionsbedürftig sind, ist angesichts des internationalen Aufschwungs der Mystikforschung kaum bestreitbar. Vgl. etwa ALOIS HAAS: „Jedenfalls hat das Schreckgespenst mystischer Selbsterlösung des Menschen häufig verhindert, dass sich die Theologie protestantischer Provenienz einen tauglichen Mystikbegriff (mit Akzent auf der Glaubensgemeinschaft und -einheit zwischen Gott und Mensch) zu schaffen vermochte.“ (HAAS, ALOIS: Luther

5.5 Prädestinationsanfechtung und Heilsgewissheit

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5.5 Prädestinationsanfechtung und Heilsgewissheit 5.5 Prädestinationsanfechtung und Heilsgewissheit

Die besonderen Fragen der Römerbriefauslegung bündeln sich zuletzt in zwei Kernproblemen: der Prädestinationsanfechtung und der Möglichkeit der Heilsgewissheit. 5.5.1 Gnadenwahl und Ergebung Das bisher Entwickelte lässt sich abschließend an einem besonderen Thema verifizieren, der Prädestinationsfurcht, der Luther sich zu Röm 8,28ff. zuwendet. Noch in De servo arbitrio nennt Luther die schweren Anfechtungen angesichts des unfreien Willens als bestürzende Erfahrung seiner Klosterzeit. Über zehn Jahr lang sei er von der Menge der Befürworter der Willensfreiheit so beeindruckt gewesen, dass er nicht gewagt habe, die Vorstellung in Zweifel zu ziehen. Erst dann hätten ihn sein Gewissen sowie die Offensichtlichkeit der Sache (evidentia rerum) vom Gegenteil überzeugt. 170 Welche problematische Konsequenzen diese neue Einsichten mit sich brachte, deutet Luther in einer zweiten biographischen Erinnerung an: Er selbst habe an dieser Vorstellung Anstoß genommen bis in den tiefsten Grund der Verzweiflung, bis zum Wunsch, nie als Mensch geschaffen worden zu sein. 171 Wann wird diese Frage für Luther ein Problem geworden sein? In den Anmerkungen zu Petrus Lombardus ist der freie Wille im Sinne der Schultheologie noch nicht in Frage gestellt.172 Auch in den Dictata gibt es keine Prädestinationsaussagen. Erst mit der Zuwendung zum antipelagianischen Augustin in der Zeit der Römerbriefvorlesung wird diese Frage relevant. Sicher wird man dabei auch Staupitz’ Einfluss im Hintergrund sehen müssen. Damit kommen wir jedoch erst 1515 in die Zeit, in der die Frage virulent werden konnte. Luther hat die Anfechtung durch den Prädestinationsgedanken wohl erst in Wittenberg in solchem Ausmaß erfahren 173, dass die Frage Auslöser einer Krise wurde. und die Mystik, in: Ders.: Gottleiden – Gottlieben. Zur volkssprachlichen Mystik im Mittelalter, Frankfurt/Main 1989. S. 264-285 und 457-476. S. 459.) Luthers ganze Theologie als mystisch zu bezeichnen, dürfte freilich zu weit gehen und etwa auch den oben beschriebenen Unterschieden zu Tauler nicht gerecht werden. Angemessener wird man von einer mystischen Komponente bzw. Dimension reden. In dem Maße, wie man in der Römerbriefvorlesung Luthers Worttheologie noch nicht zum Zuge gekommen sieht, wird man diese Dimension als besonders gewichtig einschätzen müssen. 170 WA 18 641,3ff. Vom Eintritt ins Kloster an gerechnet sind es etwa zehn Jahre bis zur Römerbriefvorlesung. 171 WA 18 719,9-11. Und weiter: „antequam scirem, quam salutaris illa esset desperatio et quam gratiae propinqua.“ (WA 18 719,11-12) 172 Vgl. in den Randbemerkungen zu Petrus Lombardus: WA 9 31,8f. 173 Vgl. BRECHT I, S. 86-87.

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Kapitel 5: Furcht in der Römerbriefvorlesung

Es ist dabei in der Forschung umstritten, wie sich die Prädestinationsanfechtung zu Luthers sonstigen Anfechtungen, etwa der tentatio de indignitate verhält. So wurde auf der einen Seite betont, dass diese Anfechtungen grundsätzlichzusammen gehören und dass die Prädestinationsanfechtung als äußerste Spitze der Anfechtung der tentatio de indignitate zu verstehen sei. 174 Dem wurde entgegen gehalten, dass der Gedanke der Prädestination ja gerade der Anfechtung hinsichtlich der eigenen Unwürdigkeit entgegenwirke, die unbedingte Gnade Gottes also gerade als Trost in der Anfechtung zu begreifen ist. Dann aber sei der Prädestinationsgedanke Quelle einer neuen Anfechtung, nämlich der Frage der persönlichen Erwählung. 175 Eindeutig lässt sich festhalten, dass Luther erst während der Römerbriefvorlesung prädestinatianisch gedacht hat. Vorsichtiger wird man die Frage nach dem Zeitpunkt der Angefochtenheit betrachten müssen. Die Frage ist für Luther ja nicht neu, sondern spätestens seit der Sentenzenzeit vertraut. Daher kann man nicht ausschließen, dass Luther schon zuvor von der Möglichkeit der Prädestination angefochten wurde, die er sich lehrhaft gleichwohl nicht zu eigen machte, sondern im Sinne der Schultheologie zu bewältigen suchte. Mit seinen Prädestinationsängsten hat Luther sich offenbar zunächst an Staupitz 176 gewandt. In den Rückblicken auf diese tiefe Anfechtung beschreibt Luther auch, was ihm geholfen habe: Der Seelsorge Staupitz’ habe er es zu verdanken, dass er nicht verzweifelt sei.177 Erst im Frühjahr 1515 war Luther zum ersten Mal nach dreijähriger Unterbrechung wieder länger mit Staupitz zusammen.178 In diesem Zusammenhang wird es auch zum Gespräch über die Prädestinationsanfechtungen gekommen sein. Gerade von ihm dürfte der Rat stammen, sich mit dieser Frage nicht zu beschäftigen, ohne die Augen im Blut Christi gereinigt zu haben. Staupitz’ Einfluss dürfte unmittelbar nachwirken, wenn es abschließend zu Röm 9,16 heißt, 174 So etwa W OLF, E RNST: Staupitz und Luther. Ein Beitrag zur Theologie des Johannes von Staupitz und deren Bedeutung für Luthers theologischen Werdegang (QFRG 9), Leipzig 1927. S. 156f. 175 Diese scharfe Trennung zwischen beiden Anfechtungen wird etwa von W OLFHART P ANNENBERG vertreten. 176 Vgl. zum Verhältnis Staupitz/Luther nun vor allem: WRIEDT. Vgl. weiter nach wie vor W OLF. 177 „Undt wo mihr D. Staupitz, oder viel mehr Gott durch Doctor Staupitz nicht heraus geholffen hette, so were ich darinnen ersoffen undt langst in der helle.“ (WAB 9 627,23-25 Nr. 3716. An Graf Albrecht zu Mansfeld) Ziemlich zeitgleich in einer Tischrede vom 18. Februar 1542 heißt es: „Ego etiam semel liberatus sum ab hac cogitatione a Staupitio, alioquin iam diu flagrarem in inferno.“ (WAT 5 293,28-30 Nr. 5658a) Ebenfalls zeitnah in der Genesisvorlesung: „Ac si adoritur pavidas conscientias hac tentatione, moriuntur illae in desperatione. Sicut mihi propemodum accidisset, nisi Staupitius eadem me laborantem liberasset.“ (WA 43 460,41-461,1) 178 Vgl. BRECHT I, S. 87.

5.5 Prädestinationsanfechtung und Heilsgewissheit

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dass nur derjenige sich mit diesem Thema beschäftigen solle, dessen Augen durch die Meditation der Wunden Christi gereinigt seien.179 „Staupitius his verbis me consolabatur: Cur istis speculationibus te crucias? Intuere vulnera Christi et sanguinem pro te fusum. Ex istis fulgebit praedestinatio.“180 Bevor wir uns der Ausgestaltung der Prädestinationsanschauung in der Römerbriefvorlesung zuwenden, wollen wir uns noch einmal eines taulerschen Motivs vergewissern, das in diesem Zusammenhang eine große Rolle gespielt hat. Besondere Bedeutung hat dabei das Motiv von der resignatio ad infernum. 181 Die geschichtlichen Wandlungen dieses Motivs dürften dabei alles andere als aufgehellt sein. Es begegnet Luther durch Tauler und die Theologia Deutsch182, aber wohl auch bei Staupitz.183 Man 179 „Hic tamen moneo, ut in istis speculandis nullus irruat, qui nondum est purgate mentis, ne cadat in barathrum horroris et desperationis, sed prius purget oculos cordis in meditatione vulnerum Jhesu Christi.“ (WA 56 400,1-4) Denn dies sei „robustissimum vinum et perfectissimus cibus.“ (WA 56 400,5-6) 180 WA 43 461,11-13. Vor allem E RNST W OLF hatte sich um die Deutung dieses Wortes aus den Predigten Staupitzens bemüht. Ausführlich zeigt W OLF dabei, dass dieser Satz nicht in dem Sinne zu verstehen sei, dass der Blick auf Christus an die Stelle der gefährlichen Spekulation zu treten habe, sondern dass im Hintergrund die Konformitätschristologie Staupitz’ zu sehen sei. Luther habe von daher lernen können, den positiven Sinn der Anfechtung darin zu erkennen, sich in ihnen dem Leiden Christi gleichgestalten zu lassen und insofern Anteil an der göttlichen Rechtfertigung zu erhalten. M ARKUS WRIEDT hat zuletzt den „libellus“ von Staupitz zum Thema umfassend ausgewertet. Anders als die bisherige Forschung entfaltet WRIEDT dabei den gesamten systematischen Zusammenhang bei Staupitz, womit er auch die vielfach zu kurz greifenden Etikettierungen von Staupitz als bloßen Seelsorger und Praktiker zu korrigieren vermag. In Anknüpfung an den antipelagianischen Augustin sei Staupitz dem ziemlich nahe gekommen, was Luther später als Lehre vom geknechteten Willen vortrug. W RIEDT zufolge sei es jedoch nicht möglich, einzelne Gedanken oder Impulse bei Luther als genuin staupitzianisch auszuweisen. Staupitz hat vielmehr generell ein theologisches Klima der Offenheit begründet, in dem Luthers Theologie sich entfalten konnte. (W RIEDT, S. 246ff.) Der grundsätzlich antischolastische Vorbehalt, die Orientierung an den biblischen Texten, das Drängen auf seelsorgerliche Praxisnähe, die tröstliche Konformitätschristologie und nicht zuletzt der Augustinismus boten Anregung genug für Luther, der diese Impulse aufgriff und konsequent weiter entwickelte. 181 Vgl. vor allem V OGELSANG, Christus, S. 68. Siehe zur Frage auch KROEGER, S. 162/163. 182 In der „Theologia Deutsch“ vgl. Kapitel 11. („Der Franckforter“ [‚Theologia Deutsch‘]. Kritische Textausgabe, hrsg. von Wolfgang von Hinten [Münchener Texte und Untersuchungen zur Deutschen Literatur des Mittelalters 78], München/Zürich 1982.) Wenn der Mensch seine Sünde erkenne, fühle er sich der ewigen Verdammnis schuldig. „Er wil gerne ungetrostet und unerlost seyn, und ym ist nicht leit seyn vordampniß und leiden, wan eß billich unde recht ist und ist nicht wider got, sundern eß ist der wille gotis, und das ist ym wol do mit.“ (S. 84,12-15) In dieser Haltung kommt es aber wiederum zum Umschlag des Geschicks. Wer so gesinnt ist, der fällt gerade nicht der Verdammnis

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Kapitel 5: Furcht in der Römerbriefvorlesung

wird in dieser Frage bei Tauler zwei Kontexte unterscheiden müssen, nämlich zwischen der Verwirklichung des geistlichen Ideals und der Bewältigung der geistlichen Krise. Als Teil des geistlichen Ideals begegnet die Vorstellung z. B. in Predigt 38. „Und sol der mensche fride haben, in der worheit, so mus er dis armutes und dis truckes also gelossen sin und also lidig ston, das er von allem disem wolluste nut enhalte, denne allein trucke sich in einer gelossener wise in den einveltigen grunt des aller liebsten willen Gotz, das armute von Gotte ze nemende und sich do inne ze lidende, ob es Got wolte han gelitten untz an den jungsten tag.“184

Die vollkommene Gelassenheit wird als Ideal ausgeführt. Nur sie allein könne dem Menschen wahren Frieden geben. Zu ihr gehört, dass der Mensch völlig seine Armut vor Gott einsehe, ja sein Nichts erkenne und jeden Eigenwillen preisgebe. Die Zeitangabe (bis zum jüngsten Tag) soll das Ausmaß dieser Selbstpreisgabe veranschaulichen. Als Teil des Ideals wird die Haltung auch in V 67 eingeführt. In dieser Predigt über das Gebet des Paulus Eph 3 wird wiederum vollkommene Gelassenheit und Selbstvernichtung als Ideal geschildert. In der Verwirklichung dieser Haltung wird die Ergebung in die Hölle erneut als ein Grenzgedanke unbedingter Konsequenz entfaltet. Wenn die Vollkommenen ihres Nichts völlig einsichtig werden, ziehe es sie gewissermaßen in die Tiefe. „Ir tieffe ist als abgrundig: sie zuhet si in den grunt der helle, also – wers mugelich und het es Got also geordent (das er nut enhat) – das alle die in der helle sint, das die us mochtent komen und er fur si alle alleine da solte bliben: das tete er von minnen gerne.“185

Tauler schränkt sogleich ein: „Mer dis ensol nieman also selber machen noch gedenken also in gebettes wise, wan das were wider Gotz ordenunge. Aber die minne und die diemutkeit hat su also trunken

anheim: „Nu lesset got den menschen nicht yn disßer helle, sunder er nympt yn an sich“. (S. 85,28-29) Anschließend wird zur Erfahrung der Verdammnis ausgeführt: „Auch sal der mensch mercken, wanne er yn dißer helle ist, so mag yn nichts getrosten und er kann nicht glouben, das er ymmer erlost ader getrost werde.“ (S. 85,37-38) Auch wird die Unverfügbarkeit dieser Gefühlslage betont: „Auch kumpt dem menschen diße helle und diß hymmelrich, das er nicht weiß, wo von eß her kompt, unnd der mensche kan wider gethun noch gelaßen ader nicht von dem seynen, da von eß kume ader fare.“ (S. 85,4386,45) 183 Der älteste Beleg für diese Haltung scheint das Fließende Licht der Gottheit von MECHTHILD VON MAGDEBURG zu sein, das Tauler gut bekannt war. Vgl. GNÄDINGER, S. 272-286. 184 V 38 151,26-31. 185 V 67 368,4-8.

5.5 Prädestinationsanfechtung und Heilsgewissheit

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gemacht als der minnekliche Paulus, der wolte und sprach: ‚herre, tilgge mich us dem lebenden buche, das sie behalten werdent‘“186.

Der Gedanke zeigt die unbedingte Kraft der Liebe und Demut: Die Liebe sei frei von aller Sorge um sich, es sei ihr nur noch um die Ehre Gottes zu tun, dem eigenen Geschick gegenüber gleichgültig. Zugleich schränkt Tauler selbst ein („wers mueglich“), dass diese Hingabe nicht wirklich, sondern allenfalls „in gebettes wise“ verwirklicht werde. Sind diese Schilderungen von den Konsequenzen des religiösen Ideals schlechthinniger Überlassung an Gott geprägt, so kann Tauler sich damit auch deutend auf die geistliche Erfahrung der Entzogenheit Gottes beziehen. In V 46 (eine Predigt zur Aufnahme Mariens in den Himmel) entfaltet er den Gedanken, dass wahre Selbsterkenntnis nichts anderes sei, als sich als Nichts zu erkennen. Vollkommen werde diese Haltung in zwei Beispielen verwirklicht: bei Hiob und beim Dominikaner Wigman. Wohl habe Gott Hiob als Gerechten angesehen; dieser hätte jedoch gesagt, er wolle um seiner Schuld willen in den tiefsten Abgrund der Hölle sinken: „Ich mit allem dem mime gehoren in das aller tiefste des abgrundes der helle.“ 187 Diesem biblischen Vorbild stellt Tauler ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit zur Seite, Wigman, „einer unser bruder“188. Von ihm gilt: Er „bekannte als verre sin nut das er sine stat niergent konde vinden denne in dem aller tiefsten grunde der helle under Lucifer.“189 Nach dieser unbedingten Überlassung kommt es auch bei ihm zur Wende: „Do er do lag, do horte er ein stimme ruffen von dem obersten himel, die sprach: ‚Wigman, kum balde her uf in den obersten tron, in das vetterliche herze.‘“190 Wigman und Hiob werden als Beispiele vollkommener Selbsterkenntnis eingeführt. Sie erkennen ihre Nichtigkeit und finden zur vollkommenen Selbstverleugnung. Als Bestandteil des geistlichen Ideals leistet die Vorstellung von der resignatio ad infernum ein Doppeltes: Zum einen schärft sie die ganze Tiefe menschlicher Sünde ein, indem sie die Hölle als das eigentlich angemessene Geschick des Sünders betont. Zum anderen verweist sie auf die allein angemessene Haltung des Menschen: unbedingte Ergebung und Einwilligung in den Willen Gottes. In dieser Selbstvernichtung macht Wigman die Erfahrung einer existenziellen Umkehrung seiner Situation. Der Einwilligung in die ewige Gottesferne folgt die Erfahrung einer geistlichen Aufnahme in den Himmel (entsprechend Maria Himmelfahrt). Was sich hier als Deutung geistlicher Erfahrung erweist, kann Tauler schließlich zur Bewältigung der geistlichen Krise als generelle Haltung 186 187 188 189 190

V 67 368,8-12. V 46 205,15-16. V 46 205,27. V 46 205,28-29. V 46 205,29-31.

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empfehlen. Besonders eindrücklich wird dies in Predigt V 9 ausgeführt. Das Evangelium vom Kanaanäischen Weib wird von Tauler wiederum durch das Motiv der inneren Jagd ausgelegt. Es gehöre zum geistlichen Weg, dass der Mensch in große innere Bedrängnis komme. Diese soll man geduldig annehmen, wie Tauler in einem „klein merlin“ 191 erläutert. Einer jungen Frau sei in einer Entrückung die Ferne Gottes bewusst geworden, was ihr höllische Pein bereitete. Sie ruft Maria, die Heiligen und die Wunden Christi an, ohne Erfolg. Schließlich wendet sie sich mit unbedingter Überlassung an Gott: „‚O herre, sit daz mir nieman enhilffet, so sich, minneclicher Got, daz ich din arme creature bin und du min Got bist, und valle rechte in din urteil noch dime liebesten willen, ob du mich in diser grundeloser helscher pine eweklichen wellest haben, daz lan ich, lieber herre, alzumole an dinen wolgevallenden willen.‘ Und aldo lie su sich zu grunde in ein ewikeit; su gelie sich nie so balde, su wurde do alzuhant gezogen verre uber alle mittel und wart alzumole in das abgrunde Gottes gezogen, su wart rehte von der wunderlichen gotheit ingeslunden.“ 192

Das geistliche Ideal ist hier nicht mehr Ausdruck einer überfließenden Liebe. Das Motiv bezieht sich vielmehr auf eine große existenzielle Gefährdung und hält darin das Ideal unter den Bedingungen der Gottesferne durch. „Dis mensche lies sich in Gotz willen in ein ewikeit in ein hellesche pine.“ 193 Diese Haltung wird von Tauler verallgemeinert und pädagogisch ausgewertet. Sie sei allemal denen vorzuziehen, die sich nach geistlichen Gütern und Erfahrungen sehnen: „Kinder, in diser wisen gat man in Got, daz man sich sin selbes verzihe gantz in allen wisen, in allem habende.“194 Dass Luther von diesen Gedanken wesentlich inspiriert war, lässt sich in seiner Ausführung zum Prädestinationsthema leicht nachvollziehen. Die Prädestination sei zunächst einmal ein ängstigender und demütigender Gedanke.195 Die Erwählung Gottes sei die letzte Konsequenz der Gnaden191 192 193 194

V 9 45,11-12. V 9 45,29-46,3. V 9 46,9-10. V 9 46,17-19. Vgl. auch V 26. In seiner zweiten Pfingstpredigt kommt T AULER auf die sieben Gaben des Geistes zu sprechen. Bei der 5. Gabe (Rat) spielt er an auf das mittlere Glied des Ternars, die Bedrängnis, an, „wanne nu wil ime Got alles das nemen daz er ime hiervor gap“. (V 26 108,2-3) Wenn alle Erfahrungen der Nähe und der Gnade Gottes den Menschen verlassen, bedarf er der Gabe, wie er sich nun angemessen verhalten soll: nämlich in unbedingter Überlassung an den Willen Gottes, und sei es bis zum Schicksal der ewigen Hölle. Diese letzte Konsequenz wird zum Prüfstein völliger Gelassenheit: „Do wurt der mensche berobet sin selbes in rechter worer gelossenheit und versincket in den grunt des gottelichen willen, nut in diseme armute und blosheit zu stande ein wochen oder ein manot, mere, obe Got wil, tusent jor oder eweklichen, oder, obe in Got ein ewigen hellebrant wolte haben in ewiger pinen, daz er sich darin zu grunde gelossen kan: kinder, dis were gelossenheit.“ (V 26 108,12-17). 195 WA 56 397,21-22.

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theologie, wie Luther sie bei Paulus und Augustin entdeckt hat. Zugleich ist er sich dessen bewusst, dass es keinen größeren Angriff auf die Klugheit des Fleisches gebe.196 Dann kommt Luther auf die zu sprechen, die sich von der Klugheit des Fleisches lossagen und unterwegs sind zur Klugheit des Geistes. Gerade diese Menschen seien erschrocken und kleinmütig, wenn sie von der Erwählung hören.197 Für diese Menschen macht Luther das Prinzip der „Antiperistase“198 fruchtbar, der Wirkungsweise unter dem Gegensatz. Die Wirkung des Erwählungsgedankens ist in diesem Sinne überaus dialektisch. Auf der einen Seite macht dieses Thema alle menschliche Gerechtigkeit zunichte, demütigt und ängstigt. Dann aber kommt der Umschlag. Die Erfahrung solcher Angst wird nun wieder umgedeutet zu einem positiven Zeichen: „Qui autem timent et pavent ad illa, optimum et felix signum habent“ 199. Luther führt eine Reihe von Schriftzeugnissen an, die dem Geängstigten Trost zusprechen (Jes 11,2; 66,2; Lk 12,32; Jes 35,4; Ps 112,1). Diese Angst werde in der ganzen Schrift gepriesen, denn das Wort Gottes selbst wirke solches Erschrecken und Zittern. Daher sei dies alles andere als ein Grund zum Verzweifeln, sondern das beste Zeichen göttlicher Gnade. 200 Daher werde die Angst selbst zum Grund der Freude. Die Erfahrung der eigenen Angst sei das Erkennungszeichen persönlicher Erwählung. Denn wer keine Angst habe, der sei gewiss verstockt. Wer aber große Angst habe und um seiner Erwählung willen angefochten sei, soll für solche Angst Dank sagen und sich freuen, dass er Angst habe.201 Denn solche Angst entspreche dem geängstigten Geist im Sinne von Ps 51. Somit spüre er selbst in seiner Bedrängnis ein Zeichen des Wohlgefallens Gottes.202 Das eigene Selbstgefühl werde auf diesem Weg nun doch Anhalt einer gewissen Hoffnung, von Gott nicht verstoßen zu sein. Dieser Zusammenhang ist letztlich auch auszumachen in Luthers berühmter Auslegung von Röm 9,3 mit dem Gedanken der resignatio ad infernum. Im Anschluss an Paulus’ Wunsch, von Christus verbannt zu sein, entfaltet Luther hier den Gedanken der vollkommenen Liebe, die sich um Gottes Willen auch in Hölle und Verdammnis begeben würde. Ja, diese Bereitschaft ist die letzte Konsequenz der vollkommenen Gleichgestaltung 196 „Siquidem hucusque Apostolus precidit ei manus et pedes et linguam, Hic autem Iugulat penitus et occidit eam.“ (WA 56 382,18-20) 197 „Ii pusillanimes sunt et tremunt iis auditis.“ (WA 56 387,1-2) 198 Das Stichwort begegnet auch schon bei GERSON. Vgl. GROSSE, Heilsungewissheit, S. 119ff. 199 WA 56 387,6-7. 200 „Ita qui trepidant ad ipsum et terrentur, optimum signum habent.“ (WA 56 387,1718) 201 „Cum tali timore gratias agat et gaudeat se timere“. (WA 56 387,21) 202 „Quod autem sit ‚contribulatus‘, ipse sentit.“ (WA 56 387,24)

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mit dem Willen Gottes.203 Auch hier greift sodann wieder der Gedanke der Antiperistase: In dieser Bereitschaft erlangt der Mensch zugleich die Gewissheit, ganz und gar mit dem Willen Gottes geeint zu sein, so dass es unmöglich ist, dass er so in der Hölle bleiben könne. 204 Dieser Gedanke ist die bis zur letzten Konsequenz vorangetriebene Ergebung in den Willen Gottes, die äußerste Demut, die radikale Haltung der Selbstanklage und Verurteilung; darin aber zugleich die Gewähr, der Gerechtigkeit Gottes genug zu tun und seine Barmherzigkeit erlangen zu können. In dieser äußersten Selbstpreisgabe, die die fürchterlichste Angst willig übernimmt, findet zugleich die paradoxe Überwindung der Angst statt: „Dei penam non metuunt, sed tantum offensam Dei.“ 205 Das Ja zur Verdammnis, die Einwilligung in diesen Gedanken ist es zugleich, die alle Furcht davor überwindet: „Et per hanc promptitudinem statim effugiunt eiusmodi Penam. Neque enim est timendum, Quod damnentur, Quia volenter et amanter damnationem propter Deum subeunt.“206 Die Umdeutung der Furcht als Heilszeichen erweist sich als Lösung, die Luther in der Ausführung des Kommentars festhält. Die Furcht des Herrn hat eine konstitutive Rolle, sie steht neben Demut, Selbstgericht und Glauben. Diese Haltung ist von aller Verzweiflung weit geschieden, weil der Weg des Menschen zwischen Furcht und Hoffnung, Demut und Barmherzigkeit, Wissen um die eigene Sünde und Vertrauen auf die göttliche Gnade verläuft. Warum aber ist dieser königliche Weg, wenn er doch von permanenter Angst begleitet ist, zugleich ein „Weg des Friedens“? Zunächst ist es ein seelsorgerlicher Zusammenhang, in dem die Angst eine neue Bedeutungsseite erhält. Ausgangspunkt ist die paulinische Frage: Was beschuldigt er uns denn? (Röm 9,19) Luther stellt fest, dass es keine Sünde ist, Gott gegenüber so zu fragen. Das möchte er als Trost denen sagen, die von gotteslästerlichen Gedanken gequält werden und sich deshalb allzu sehr ängstigen. 207 Denn ihr Erschrecken darüber sei ein offenkundiges Zeichen, dass sie nicht freiwillig gelästert hätten, sondern sei geradezu Zeichen eines guten Herzens.208 Diese seelsorgerliche Überlegung ist nicht ohne Parallele in der Trostliteratur der Zeit. Auch die klassische seelsorgerliche Literatur eines Gerson konnte aktive und passive Lästerung unterscheiden. Dabei zielte der Trostgrund auf die Unterscheidung, ob der Mensch in die Verführung zur Läste203

„Tales enim Libere sese offerunt in omnem Voluntatem Dei, etiam ad infernum et mortem eternaliter, si Deus ita Vellet tantum“. (WA 56 391,9-11) 204 „Veruntamen sicut seipsos ita pure conformant Voluntati Dei, Sic est impossibile, ut in inferno maneant.“ (WA 56 391,12-13) 205 WA 56 394,1-2. 206 WA 56 392,3-6. 207 WA 56 401,7ff. 208 WA 56 401,18-19.

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rung eingewilligt habe oder nicht. Sei dies nicht der Fall, seien die Lästergedanken nicht schuldhaft. Diese Unterscheidung macht sich Luther nun aber gerade nicht zu eigen. Vielmehr ist die Angst als solche Zeichen eines guten Herzens. Damit verlegt Luther auf die introspektive Haltung nicht noch die Last der Selbstbeurteilung, sondern nimmt das unmittelbare Gegebensein des Furchtaffekts als trostvolles Zeichen. Hier begegnet die Angst in einer neuen Funktion, als evidens signum, dass es gut um den Menschen steht. Der Stachel der Furcht wird dadurch entschärft, dass sie umgedeutet wird. Die Angst, die sich auf ihre eigene Verurteilung bezieht, wird zugleich Anhalt der Hoffnung, dass sie grundlos ist. Diesen Gedanken hat Luther mehr als einmal entwickelt, so etwa auch am Ende des Scholion zu Röm 14,1. Zunächst finden wir wieder die übliche Beschreibung von den wahrhaft Heiligen, dass sie immer in Sorge nach der Gnade Gottes Ausschau hielten 209, dass sie nicht auf ihre guten Absichten oder ihre Liebe bauten, sondern allezeit von sich fürchteten, Böses zu tun.210 Wie es das offenkundigste Zeichen von Gottes Zorn sei, wenn jemand sicher sei und auf sich selbst vertraue, so sei es umgekehrt aber auch das deutlichste Zeichen von Gnade, wenn man in Furcht und Zittern lebe „cum hoc sit optimum signum gratie, timere sc. Et tremere, et presentissimum signum ire Dei securum esse et confidere“211. Die Furcht, die sich allezeit auf das Urteil Gottes richte, die das Gegenteil von aller Sicherheit und Zufriedenheit mit sich selbst sei, werde zugleich nun zum optimum signum gratie. Darum kann es fast überschwänglich heißen: „sic enim per timorem gratia invenitur“212. Diese Gerichtsangst ist kein pädagogisch nötiger Einstieg mehr auf dem ordo salutis. Sie wird um- und aufgewertet. Die rechte Furcht des Herrn ist nicht nur notwendige Begleiterin des Menschen, die ihn in Demut erhält; sie ist zugleich auch für den Menschen ein Zeichen, an dem er sich selbst vergewissern kann, wie es um ihn steht. 5.5.2 Paradoxe Gewissheit Zuletzt müssen wir uns fragen, wie sich diese Bewältigung von Furcht zur viel verhandelten Frage der Heilsgewissheit zur Zeit der Römerbriefauslegung verhält. Gerade in dieser Perspektive kann man sehen, dass die Frage nach der Heilsgewissheit in Luthers Römerbriefvorlesung nicht einfach mit Ja oder Nein zu beantworten ist. In dieser vor allem durch Karl Holl an-

209 „Sancti solliciti sunt pro gratia Dei semper Invocanda.“ (WA 56 503,18) 210 „Sed semper adhuc sese malum agere timent.“ (WA 56 503,19-20) 211 WA 56 504,1-3. 212 WA 56 504,3-4.

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Kapitel 5: Furcht in der Römerbriefvorlesung

gestoßenen Diskussion213 ist mittlerweile soviel klar geworden, dass Luther hier noch nicht so über die Notwendigkeit von Heilsgewissheit denkt, wie es später für ihn charakteristisch ist. Es gibt viele Belege, wo die Gewissheit des Heils ausdrücklich verneint wird. Eindeutig kann es heißen im Scholion zu Röm 3,19: „nunquam scire possumus, an Iustificati simus, an credamus.“214 Die entschiedene Abwehr religiöser Sicherheit, die Betonung beständigen Wandels in Furcht und Demut macht die Ungewissheit des Urteils Gottes zu einem wesentlichen Moment der Furcht.215 Zugleich aber ist der Unterschied unverkennbar, mit dem Luther sich von einer Tradition der dogmatisierten Heilsungewissheit (von Gregor bis Biel) abhebt. Luthers Verhältnis zur Gewissheit ist nicht mit der bloßen Alternative von Gewissheit bzw. Ungewissheit beizukommen.216 Gerade die Gnade Gottes, seine Barmherzigkeit in Christus ist ja gewiss. Die Bußbewegung findet gewissermaßen unter einem Vorzeichen der Gnade statt. Daher kann die Furcht der Ungewissheit selbst zum Anhaltspunkt in der eigenen Erfahrung werden, mittels dessen sich der Mensch der Gnade vergewissert. Daher begründet die Einsicht in die soteriologische Ohnmacht des Menschen eben nicht ein „Schwanken zwischen Sicherheit und unordentlicher Furcht“ 217, sondern bringt Trost mit sich.218 Daher wird man am besten für die Römerbriefvorlesung Luthers von einer paradoxen Gewissheit219 reden. Gerade das Gefühl der Ungewissheit 213 Vgl. H OLL, K ARL: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewissheit, in: HOLL, S. 111154. Während HOLL die Fassung der Heilsgewissheit nicht als unfertig bezeichnen lassen möchte („Sie ist durchdacht bis zum äußersten Punkt“. [H OLL, S. 152]), wird sie abgelehnt bei B AYER, für den ihr Fehlen der entscheidende Grund des vorreformatorischen Charakters der Römerbriefvorlesung ist; vgl. B AYER, Promissio, S. 141. 214 WA 56 252,20-21. „Quamquam enim certi simus nos in Christum credere, non tamen certi sumus nos in omnia, que ipsius sunt, Verba credere. ac per hoc etiam ‚in ipsum Credere‘ incertum est.“ (WA 56 252,23-25) 215 Vor allem bei O SWALD B AYER wird diese Ungewissheitslinie im Römerbrief absolut gesetzt. Grundsätzlich sei der Glaube beim jungen Luther „ohne wirklichen Grund, ohne Gewissheit“. (B AYER, Promissio, S. 115) Die fehlende Größe des äußeren Wortes als promissio hat zur Folge die „prinzipielle Ungewissheit des Heils“. (S. 135) Die im Blick auf Gesetz und Evangelium stattfindende „Vermischung stiftet alles Unheil, weil sie, wie die Römerbriefvorlesung deutlich bekundet – in die Ungewissheit führt.“ (S. 62) 216 Vgl. in diesem Sinne den berechtigten Kommentar K ROEGERS zur klassischen Kontroverse in Anschluss an HOLL, dass hier „die Alternative nicht richtig war“. (KROEGER , S. 62) 217 Vgl. B AYER, Promissio, S. 141. 218 Siehe die Betonung des trostvollen Charakters der paulinischen Sündenlehre im Vergleich zur scholastischen Auffassung: „Ex quo textu illud solatii habemus“. (WA 56 354,14; vgl. insgesamt WA 56 354,14-26.) 219 Dieser Ausdruck scheint mir sachgemäßer als die Formulierung einer „ungewissen Gewissheit“. (KROEGER , S. 162) Eher noch ließe sich von einer vergewissernden Unge-

5.6 Fazit: Begnadete Furcht

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bekommt im Blick auf die Gnade vergewissernde Bedeutung. Zugleich wird man die Ambivalenz dieser Lösung auch nicht verkennen. Die Ungewissheit ist Schutz der Rechtfertigung und zugleich ihre Gefährdung. Es dürfte nicht zuletzt die Nachdrücklichkeit sein, mit der Luther die Sicherheit als Ausdruck der Sünde beschrieb, die zugleich ihre positive Verwendung als Merkmal des Glaubens hier nicht erlaubte. Die Wahrnehmung der noch fehlenden Gewissheit im Sinne der späteren Rechtfertigungslehre sollte jedoch nicht den Blick verstellen für die ungeheure Entwicklung in dieser Frage. Sowohl der Bruch mit einer dogmatisierten Heilsungewissheit als auch der Bruch mit jeglicher Instrumentalisierung der Furcht auf dem Heilsweg ist eindeutig vollzogen. Im Sinne der frühen Rechtfertigungslehre ist die Erkenntnis der gewissen Gnade Gottes in Christus das positive Vorzeichen aller menschlichen Buße. Die mögliche Verzweiflungsdynamik der Gerichtsfurcht wird bewältigt durch Umdeutung eben dieser Furcht zu einem Heilszeichen, einem Vergewisserungsmoment der rechten Demütigung. Nicht Gewissheit als Strukturmoment eines wortbezogenen Glaubens im späteren Sinne, wohl aber paradoxe Gewissheit statt quälender, weil in Bedingungen verstrickter Ungewissheit ist die positive Botschaft der Paulusauslegung Luthers. Schon solche paradoxe Gewissheit wird man als einen Systembruch großen Ausmaßes anerkennen müssen.

5.6 Fazit: Begnadete Furcht 5.6 Fazit: Begnadete Furcht

Nicht nur in Einzelfragen, sondern in der ganzen Art zu denken hat Luther sich noch weiter vom Schema der scholastischen Distinktionen entfernt. Ein existentielles Verständnis der Angst setzt sich hier durch, in dem Angst nicht mehr betrachtet wird mit ihrer Stellung in einem ordo salutis, auf dem Weg von der anfangenden Liebe zur vollkommenen Liebe, sondern personal als den Menschen bestimmende Macht. Die Reduktion der begrifflichen Distinktionen verweist insgesamt auf eine personale Konzentration der Erfahrung der Angst. In dieser Bewegung zeigt sich zugleich Luthers Denken in seinem Charakter als erfahrungsbezogene Theologie. Die Kritik des timor servilis geschieht nun ganz im Horizont der paulinischen Gesetzesauffassung. Die Ohnmachtserfahrung angesichts der Sünwissheit reden. Die Paradoxie der Gewissheit zeigt sich etwa in einer Begriffsbildung, wie Luther sie im Brief an Georg Spenlein bildet, dem er zu einer „desperatio fiducialis“ rät (WAB 1 35,34). Diese Haltung einer vertrauensvollen bzw. getrosten Verzweiflung zeigt sehr schön, dass das Gottesverhältnis für Luther in dieser Zeit nicht einfach ungewiss ist, sondern um trostvollen Frieden weiß (vgl. im Spenleinbrief: „Istam charitatem eius rumina, et videbis dulcissimam consolationem eius.“ [WAB 1 35,31-32]), auch wenn dieser nur paradox, im Verzicht auf Sicherheit, erfahrbar wird.

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Kapitel 5: Furcht in der Römerbriefvorlesung

de zeigt nicht nur persönliches Ungenügen, sondern Ungenügen des Gesetzes angesichts der Sünde an. Die Wertschätzung bzw. Aufwertung des timor servilis, wie sie sich in einer langen Tradition ausgehend von Augustin beobachten ließ, wird damit von Luther beendet. An einer seelsorgerlichen Vermittlung zwischen der anfänglichen Furchtreue und der gnadenhaften, wahren contritio hat Luther kein Interesse. Positiv wird vom timor Dei geredet im Sinne einer Haltung des Selbstgerichts, der Bußbewegung und der conformitas, in welcher Gott Recht gegeben wird. Der klassische Terminus des timor sanctus kam dabei für Luther nicht mehr in Frage, weil sich das konstitutive Moment der Gerichtsfurcht darin gerade nicht ausdrücken ließ. Diese Gerichtsfurcht wird in der Römerbriefvorlesung nicht nur aufgewertet, sondern erfährt zugleich auch eine neue Deutung als Zeichen der Gnade Gottes. Der Gedanke der Gleichförmigkeit mit dem gekreuzigten Christus aus den Dictata wird darin zugleich aufgenommen und prinzipialisiert. Man wird zunächst betonen müssen, dass es sich dabei um eine wirkliche Lösung handelt, die Luther für das Problem der Gerichtsfurcht für sich gefunden hat. 220 Dieser Zusammenhang geht verloren, wenn man die Römerbriefvorlesung am voll entwickelten Rechtfertigungsverständnis der späteren Zeit misst. Aus dieser Perspektive rücken die Dictata und die Römerbriefvorlesung eng zusammen und scheinen gleichermaßen geplagt von der fehlenden Bewältigung des Gewissheitsproblems. Damit wird die faktische Weiterentwicklung von den Dictata zum Römerkolleg nicht mehr wahrgenommen. Die grundlegende Bedeutung der paulinischen Theologie und damit die grundsätzliche Einarbeitung der augustinischen Gnadenlehre, etwa im Blick auf die Alleinwirksamkeit der Gnade Gottes zum Heil des Menschen, dazu die Impulse, die Luther seiner Taulerlektüre verdankt hinsichtlich der Passivität des Menschen im Glauben und des Heilscharakters der Abgründigkeitserfahrungen, diese Zusammenhänge verbindet Luther zum Grundgerüst seines theologischen Denkens. Im Blick auf seine Angsterfahrungen ist die Theologie der Römerbriefvorlesung nicht mehr als trostlos zu bezeichnen. Die Kritik der Furcht als religiöses Handlungsmotiv und damit die Ablehnung jeglicher Verdienst- und Mitwirkungslogik unterbricht einen Zusammenhang, der sich einst zu einer Dynamik der Verzweiflung entwickeln konnte. Die Angst vor dem göttlichen Gericht gewinnt in der Umdeutung zu einem Zeichen der gegenwärtigen Gnade einen neuen Charakter. Damit wird das Gefühl der Ungewissheit selbst zu einem Weg der Vergewisserung. Diese Theologie wird man als eine echte Lösung seiner großen Angstanfechtungen ansehen müssen. Es ist nicht zu verkennen, mit welchem 220 Dem wird auch die etwa bei BRECHT häufig auftauchende Beschreibung der Demutstheologie als „dunkel“ nicht ganz gerecht. Z. B. BRECHT I, S. 136f.

5.6 Fazit: Begnadete Furcht

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Selbstbewusstsein sich Luther schon in der Römerbriefvorlesung der ganzen Tradition gegenüber stellt. Seine scharfe Kritik am Einfluss des Aristoteles, an der scholastischen Theologie, seine selbstbewusste Wertung und Würdigung von Augustin und Tauler, all das zeugt von einem ganz anderen Selbstvertrauen als in den Dictata. Die deutliche atmosphärische Veränderung spricht dafür, dass Luther seine Rezeption der paulinischen Theologie als echte Lösung für seine Anfechtungen und Kämpfe empfunden hat. Luther traut sich nun zu, andere zu trösten, wovon der Brief an Georg Spenlein ein eindrückliches Zeugnis gibt. Es lässt sich eine erste Wirkungsgeschichte Luthers greifen, die Entstehung einer neuen Theologie in Wittenberg, deren Grundzug biblisch-augustinisch ist. In seiner ersten Veröffentlichung wendet sich Luther auf Deutsch an die christlichen Laien, denen er Trost zu bringen sich zutraut. Auch dies ist ein Indiz, dass man Luther in diesen Jahren weniger als einen sehen muss, der sich als Suchender versteht, sondern als einen, der gefunden zu haben glaubt. Zugleich wird man im Blick auf die weitere Entwicklung sagen müssen, dass diese Lösung nicht ohne Ambivalenz ist. Thetisch zugespitzt: Der Gedanke, der Luther mit seiner Angst zu leben hilft, macht diese Angst zugleich bleibend notwendig. Wo die Furcht zum Heilszeichen wird, muss das Ausbleiben von Furcht zur neuen Anfechtung werden.

Kapitel 6

Der Umbruch im Umgang mit Furcht während des Ablassstreits Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

Im Verlauf des Ablassstreites kommt Luther zu einer erheblichen Profilierung seines theologischen Ansatzes; ein weithin anerkannter Umstand, unabhängig davon, ob man darin einen Niederschlag eines eigentlichen reformatorischen Durchbruchs oder eine letzte Abklärung seiner bisherigen theologischen Einsichten sehen will. In diesem Kapitel geht es darum, die Schlüsselstellung des Furchtproblems in dieser Umbruchphase aufzuzeigen. Die Frage der Furcht ist ein wesentlicher Ausgangspunkt, der Luther zu seiner Ablasskritik treibt, wie an der Auslegung der sieben Bußpsalmen und anhand der 95 Thesen gezeigt werden soll (6.1 und 6.2.1). Der Umbruch in Luthers Denken ist in den Resolutiones und in der Hebräerbriefvorlesung nachzuzeichnen. Auch hier wird deutlich werden, dass die Konzentration auf das Verständnis und die Bewältigung von Furcht in besonderer Weise dazu verhilft, das Neue in dieser Phase wahrzunehmen (6.2.2 und 6.3). Abschließend ist Luthers öffentliche Verantwortung seiner neuen Einsichten zu betrachten: theologisch im Blick auf die scholastische Tradition, wie sie ihm von Johannes Eck auf der Leipziger Disputation entgegengehalten wird (6.4) sowie seelsorgerlich im Blick auf seine Zeitgenossen in den reformatorischen Sermonen der Jahres 1519-1520 (6.5). Wiederum tritt unter dem Blickwinkel des Furchtproblems die Veränderung in Luthers Denken besonders markant hervor. Abschließend ist rückblickend auf Luthers Entwicklung von 1513-1518 insgesamt eine erste systematische Bilanz zu ziehen (6.6).

6.1 Furcht in der Auslegung der sieben Bußpsalmen 6.1 Furcht in den sieben Bußpsalmen

Schon vor Beginn der Ablassauseinandersetzungen kann kein Zweifel daran bestehen, dass Luther im Jahre 1517 von sich aus sowohl die kritische Auseinandersetzung mit der theologischen Tradition wie die Popularisierung seiner theologischen Einsichten sucht. Deutlich wird dies vor allem in seinen Thesen gegen die scholastische Theologie 1 und in seiner 1

WA 1 221-228 = LDStA 1, S. 19-33.

6.1 Furcht in den sieben Bußpsalmen

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deutschen Auslegung der sieben Bußpsalmen. Diese erste deutschsprachige Veröffentlichung aus dem Frühjahr 1517 ist ein eindrückliches Zeugnis der frühen Rechtfertigungslehre dieser Jahre.2 Dem Titelblatt zufolge zielt diese Auslegung sowohl auf die Erkenntnis Gottes und Christi als auch auf die rechte Selbsterkenntnis: „Die Sieben buszpsalm mit deutscher auszlegung nach dem schrifftlichen synne tzu Christi und gottis gnaden, neben seyns selben ware erkentniß.“3 Gerade die Verbindung von Gotteserkenntnis (die nur Erkenntnis seiner Gnade sein kann) und Selbsterkenntnis macht die wahre christliche Erkenntnis aus. Der Mangel an Selbsterkenntnis und damit die Sünde des Menschen zeigt sich schon der Überschrift zufolge in einer falschen Furchtlosigkeit. „Darumb wee allen denen die sich nit furchten unnd yre sunde nit fulen unnd sicher eynher gehen gegen den forchtsamen gericht gottis“ 4. Diese Kritik religiöser Sicherheit bzw. Furchtlosigkeit ist ein wesentlicher Grundzug der Psalmenauslegung. Darin bestehe eben nun das Merkmal der falschen Heiligen, dass sie ohne Furcht sein wollten.5 „Und disse unforcht und sicherheit verdamnet und vorderbet alle yre thun. dan an forcht und demut mag got niemant behagen.“6 Es sei Selbstbetrug, wenn Menschen „umb yres frums lebens willen und vill guter werck forchtloß steen“7. Wo solche Gottesfurcht und damit wahre Selbsterkenntnis fehlten, könne das Wort Gottes nicht verstanden werden.8 Rechtes Verständnis der Worte Gottes ergebe sich dagegen nur in einem inneren Handeln Gottes am Menschen, das sich als Furcht zeige, wo es den Menschen wirklich treffe: „ynnewendig erschreckend der seel von den worten gottis […], so furchtet das hertz den tzorn gottis mit sunden vordienet haben.“ 9 Solche mangelnde Selbsterkenntnis des Selbstgerechten zeige sich auch darin, dass er Gott allenfalls fürchte für die vermeintlich bösen Werke und nicht für die guten.10 Damit aber wolle sich der Mensch noch selbst in seinem guten wie schlechten Wirken beurteilen. Demgegenüber könne die wahre Selbsterkenntnis als Sünder nur dazu führen, dass der Mensch sich auch um seiner vermeintlich guten Werke willen fürchte. Die Pointe dieser paradoxen Zuspitzung Luthers besteht darin, dass der Mensch nichts von 2 Vgl. vor allem B AYER , Promissio, S. 144-163. O SWALD B AYER bezeichnete diese Auslegung als das „authentische Kompendium seiner frühen Theologie“ (S. 144 und 146) der Römerbriefzeit. 3 Vgl. die Titelangaben der Drucke: WA 1 155-156 (zitiert ohne Punktuation). 4 WA 1 159,37-160,1. 5 WA 1 164,23. 6 WA 1 165,8-10. 7 WA 1 167,34-35. 8 WA 1 175,34-35. 9 WA 1 176,5; 7-8. 10 Vgl. WA 1 213,13-19.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

sich aus als gut beurteilen könne, und daher in all seinem Tun Gott als Richter zu fürchten habe. Der Mangel dieser rechten Furcht führe bei den Hochmütigen konsequenterweise dazu, dass sie eben auch kein Verlangen nach Gnade empfinden könnten: „sulche furcht der hellen und der gnaden durst haben sie nit.“ 11 Die Grundeinsichten der Sündenlehre des Römerkollegs sind in dieser erbaulichen Auslegung unschwer zu entdecken. Um der Totalität der menschlichen Sünde willen beruht die Furchtlosigkeit der Sicheren auf Selbsttäuschung. Sie nehmen die menschliche Situation vor Gott nicht wahrheitsgemäß wahr, solange sie noch selbst ihrem eigenen Maßstab von guten und bösen Werken verpflichtet sind. Die Furchtlosigkeit ist deutlichstes Zeichen mangelnder Selbsterkenntnis vor Gott und darum Indikator mangelnder Gotteserkenntnis. Furcht vor Gottes Gericht und vor seinem Zorn ist notwendiges Moment aller wahrhaftigen Selbsterkenntnis, die erst in dieser affektiven Dimension die menschliche Situation wirklich realisiert. Nur in der angemessenen Wahrnehmung seiner selbst vor Gott als Sünder gibt es wirkliche Selbsterkenntnis, nur in Bereitschaft zu solcher Selbsterkenntnis gibt es wahrhafte Gotteserkenntnis, die dann Erkenntnis seiner Gnade ist. Gottesverhältnis und Selbstverhältnis sind darin dialektisch aufeinander bezogen. Diese Verknüpfung macht den Grundriss der Erfahrungstheologie Luthers aus. Neben der Kritik religiöser Sicherheit ist auch die Kritik des timor servilis unschwer wiederzufinden. In der Analyse der menschlichen Situation vor Gott wird die Kritik der falschen Furcht unverzichtbar. Zunächst verweist Luther auf den Ursprung dieser Furcht in der menschlichen Selbstliebe: Die Gelehrten redeten von „amorem sui, amorem dei concupiscentie, ßo der mensch umb forcht der hellen adder hoffnung des himels, und nit umb willen gottis frum ist.“ 12 Auch hier ist die Abkehr vom mittelalterlichen Gradualismus, der von der natürlichen Selbstliebe einen Aufstieg zur reinen Gottesliebe beschrieb, unverkennbar. Wo die Furcht vor der Strafe zum pädagogischen Motiv der Gottesliebe werde, könne diese nicht dauerhaft sein. „Dan alle, die auß forcht dienen, seyn nit bestendig und fest, denn alßo lange die forcht weret.“ 13 Luthers Kritik basiert auch hier auf seinen Einsichten der paulinischen Sündenlehre. Er überwindet jedes pädagogische Moment einer stufenweisen Läuterung der Furcht. Solchem Gradualismus stellt Luther dialektische Bestimmungen gegenüber wie Geist und Fleisch, Gnade und Sünde, alter Mensch und neuer Mensch.

11 12 13

WA 1 216,34. WA 1 168,7-9. WA 1 191,28-30.

6.1 Furcht in den sieben Bußpsalmen

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Wie sieht aber nun die rechte Furcht aus, um die es im Gottesverhältnis zu gehen hat? Das entscheidende Merkmal der Differenz hält Luther fest: Sie richte sich nicht auf die Strafe, sondern auf das Urteil Gottes. Nicht vor der Hölle fürchte sich die rechte Angst, sondern vor dem Urteil Gottes, seinem Gericht: „vor großem angest deynes gerichts byn ich alt und graw worden.“14 Diese Erkenntnis sei es, die der Heilige Geist in einem Menschen innerlich wirke. Nur so komme der Mensch allererst zur rechten Erkenntnis seiner selbst. „Das geschrey kumpt von der grossen angst eygenes erkenteniße, wilchs kumpt von ansehen empfindlich blicks des gotlichen gerichts wie gesagt ist, diß geschrey ist unmeßlich und mit keiner zungen ausprechlich, alleyn den erfarnen bekant.“15

In solcher rechten Selbsterkenntnis komme es zu Erschrecken und großer Furcht; darum sei es nun entscheidend, dass der Mensch in dieser Furcht nicht verzweifeln müsse, sondern dadurch getröstet werde, dass er diese Angst als ein gutes Zeichen erkennen lerne. Darum geht es Luther in der seelsorgerlichen Ausrichtung seiner Auslegung: „Dan die pfeyle gottis und tzornige spruch machen kegenwertig die sund ym hertzen. und da von wirt ynnewendig unruge und erschrecken des gewissen unnd aller crefft der seelen, unnd die hand gottis, das werck der straff auswendig, macht gantz kranck und leydende den leychnam, und wo es also steet, da steet es recht mit dem menschen.“ 16

Im Annehmen der Anfechtung werde das Erschrecken in rechter Weise als Gottesfurcht gelernt. „Dan mit der weiße lernet sich die gedult und forcht gottis.“17 Es ist der edelste Gedanke der Heiligen, dass sie mehr fürchten, Gott nicht mehr zu loben, als selbst verdammt zu werden.18 Das Gericht Gottes sei der ultimative Maßstab aller Beurteilung menschlichen Handelns: „Dan davon muß man die augen abkeren, und furchtlich warten, was gott darvon helt.“19 In der Furcht geschehe so die Vorwegnahme dieses Gerichtes Gottes in innerer Selbstzerknirschung: „Darumb furcht ich mich vor deinem tzorn unnd zuknurße mich selb, das ich deym gericht zuvorn kumme“20. Diese Furcht beschreibt Luther als eine Spannung, durch welche die Seele dazu getrieben werde, sich zunehmend nach der göttlichen Gnade auszu-

14 15 16 17 18 19 20

WA 1 169,2-3. WA 1 169,11-14. WA 1 176,22-27. WA 1 159,20-21. Vgl. WA 1 162,6-7. WA 1 188,8-9. WA 1 200,6-7.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

strecken.21 Denn das mache die Sünde der Hoffärtigen aus, dass ihnen gleichermaßen „furcht der hellen und der gnaden durst“22 fehle. Welcher Lebensumgang mit Furcht ergibt sich aus dieser rechten Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis? Die Überwindung der Furcht geschieht durch Einwilligung in dieselbe. Dieses Annehmen der Furcht bzw. der Anfechtung kann man am besten als „Überlassung an Gott“ umschreiben. Der Mensch überlässt sich dem Willen Gottes, seinem Gericht, der Gleichgestaltung mit den Leiden Christi. „Es muß geen nit nach deym vorstand, sundern uber deyn vorstand. Senck dich yn unvorstand, so gebe ich dyr mein vorstand. unvorstand ist der rechte vorstand. nit wißen wo hynn du geest, das ist recht wissen, wo du hyn geest.“23

Dieses Annehmen der Furcht bzw. das Überlassen an den Willen Gottes ist nach Luther möglich, weil es im Horizont der Gnade geschieht. Umgekehrt wie in der Römerbriefvorlesung bedient sich Luther hier weniger der Rechtfertigungsterminologie, sondern bringt ihren Gehalt christologisch zugespitzt zur Sprache: „Christus ist gottis gnaden, barmhertzickeit, gerechtickeit, warheit, weißheit, stercke, trost und selickeyt, uns von gott gegeben an allen vordinest.“ 24 Die Grundzüge der frühen Rechtfertigungslehre lassen sich darin eindeutig wieder erkennen.25 Diese Gnade sei es auch, die davor bewahre, in Angst und Furcht zu vergehen: „ertzeyg myr gnad, das ich yn der angst und forcht nit vorgehe ader vortzag.“26 Dazu sei es nötig, dass der Mensch einen undergang erfahre, um dies zu begreifen. Der Vorgeschmack der höllischen Pein sei ein Werk Gottes. Darin geschehe eine Vorbereitung auf die Gnade, die darunter verborgen sei. In diesem Geschehen ereigne sich die Kreuzigung und Tötung des alten Menschen. Darin stünden Furcht und Demut nahe beieinander. So wird am Ende die Demut durch die Schrecken vor Gott erläutert: „das erheben macht sie

21 22 23 24 25

Vgl. WA 1 216,25ff. WA 1 216,34. WA 1 171,29-32. WA 1 219,30-32. So kann es keine Frage sein, dass Gerechtigkeit hier als Heilsbegriff mehrfach verwandt wird, etwa: „der heylig der also steet nit auff seyner heilickeyt, sundern auff dem felß deiner gerechtickeit, die Christus ist“. (WA 1 171,4-5) Vgl. auch WA 1 192,2934. T HEOBALD SÜSS stützt auf solche Belege in kritischer Auseinandersetzung mit E RNST B IZER die Behauptung, dass diese Auslegung im vollen Sinne die evangelische Rechtfertigungslehre vertrete. (Vgl. SÜSS, THEOBALD: Über Luthers „Sieben Bußpsalmen“, in: Vierhundertfünfzig Jahre Lutherische Reformation. FS Franz Lau, hrsg. von Helmar Junghans u. a., Göttingen 1967. S. 367-383.) Dass der Glaubensbegriff hier noch nicht so im Zentrum steht wie später, muss auch S ÜSS zugestehen, vgl. SÜSS, S. 380. 26 WA 1 160,4-5.

6.1 Furcht in den sieben Bußpsalmen

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feynd unnd vorfolger, aber die demut, das ist die schembbe und schrecken, macht sy frunde.“27 Diese Haltung der Überlassung kann Luther auch als Glaube und Vertrauen umschreiben: „Das ist kurtzlich nit anders dan ein rechten eynfeltigen glauben und feste vortrawen, zuvorsicht, hoffnunge wil got von unß haben“28. Wir haben gesehen, dass die Beschäftigung mit Tauler wesentlich zu dieser Fassung des Glaubensbegriffs verholfen hat. Solcher Glaube ist noch nicht die exklusive Bezeichnung des Gottesverhältnisses, sondern bleibt eingebettet in ein weites Wortfeld, das uns aus seinem bisherigen Denken gut vertraut ist: „darumb wirt yn dißen worten nit mit namen der glaube, hoffnung, demut, gedult, sundern was der selben tugent art und eygentlich natur ist, ausgedruckt.“ 29 Glaube ist also auch hier die Haltung der conformitas mit Christus. Nur in diesem Zusammenhang ist der Glaube die Realisation der Gnade. In diesem Prozess gibt es durchaus immer wieder eine punktuelle Überwindung der Angst. So kann es zu Ps 51,10 heißen: „Bleybt uber all wircken und gute wercke das blode unnd erschrockne forchtsam gewissen, biß lange du mit gnaden mich sprengest und weschest, und alßo mir ein gut gewissen machst, das ich hoer deyn heimlich eynrunen, dir seyn vorgeben dein sund. das wirt niemant gewar, dan der es horet, Niemant sihet es, niemant begreifft es. Es lest sich horen, und das horen macht ein trostlich frolich gewissen und zuvorsicht gegen gott.“ 30

Dieser bemerkenswerte Abschnitt zeigt, dass Luther im Lebensvollzug zwischen Furcht und Hoffnung durchaus Momente des Trostes, des Nachlassens der Angst kennt. Das Annehmen der Furcht, das die Ausführungen dominiert, ist daher als ein Weg zu begreifen, auf dem die Furcht auch je und je überwunden wird. Dabei bleibt solche Überwindung stets nur ein Moment der ewigen Bewegung von Buße und Selbstgericht. Dieses Moment der Furchtüberwindung ist dabei mit dem Zuspruch der Sündenvergebung verbunden. Dieser wird aber gerade nicht an die konkrete Situation der Beichte gebunden, sondern bleibt ein unverfügbares, inneres Wort Gottes (deyn heimlich eynrunen). Dass der Umgang mit Furcht insofern nicht unter dem Aspekt ihrer Überwindung, sondern dem der Annahme als Moment des Heilsweges

27 28 29 30

WA 1 166,4-5. WA 1 172,15-16 WA 1 172,16-18. WA 1 189,35-190,4. Diesem Gnadencharakter solcher Erfahrung wird ERNST B IZER nicht gerecht, etwa wenn er die affektive Wende in solcher Erfahrung nicht wahrzunehmen scheint: „Das opus proprium, das Gott an uns tut, scheint nur eben darin zu bestehen, dass der Mensch diese Situation im Blick auf Christus aushält.“ (B IZER, Fides, S. 63)

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

geschieht, erhellt abschließend die Auslegung des 6. Bußpsalms. So heißt es zu Ps 130,3: „Und dißer verß druckt auß, wo von der psalm gemacht ist, Nemlich von dem ansehen der gestrengen urteyl gottis, der ßo gar keyn sund ungestraffet kan und wil laßen. darumb wer gottis gericht nit ansihet, der furcht sich nit. wer sich nit furcht, der schreyt nit. wer nit schreyt, der find kein gnad nit.“31

Die ganze Heilsrelevanz der Furcht ist in diesem Absatz konzentriert zu greifen. Furcht ist keine nur mögliche Begleiterscheinung menschlicher Selbsterkenntnis, sondern ein notwendiges Moment des Heilsweges selbst. Nur in dieser affektiven Betroffenheit kann es wahre Erkenntnis seiner selbst geben. Aus diesem Grund ist die Furcht als permanentes Motiv christlichen Lebens zu betrachten. Diese Einsicht wird nun angewandt auf die Unterscheidung von altem und neuem Menschen. Der Sinn der Furcht ist die Tötung des alten Menschen: „Darumb muß yn eym rechten menschen altzeit seyn die forcht vor dem gericht gottis, des alten menschen halben, dem gott feynd und widder ist, und neben derselben forcht hoffenung tzu der gnaden vor der barmhertzigkeit, die der selben forcht gunstig ist umb des newen menschenn willenn, der dem alten auch feynd ist, unnd alßo mit gottis gericht eynstymmet.“ 32

Das Miteinander von Furcht und Hoffnung prägt die Grundstimmung christlicher Existenz. Dabei behält die Furcht ein dauerndes Primat. Durch die Furcht hindurch führt der Weg zur Hoffnung; ein Weg, der nicht ein für allemal zu beschreiten ist, sondern der lebenslang die Spannung ausmacht, in welcher das Heil angeeignet werden kann. Über den Durchgang durch die Furcht wird die Hoffnung erfahrbar, nicht umgekehrt. Darum kann Luther diesen Abschnitt beschließen: „Alßo steet forcht und hoffnung mit eynander, und gleich wie das gericht gottis wircket die furcht, alßo wirckt die furcht das geschrey, geschrey aber erlanget die gnade, und die weyl der alte mensch lebt, sall die furcht, das ist, sein creutz und totden, nit auffhoren und das gericht gottis nit vorgessen, und wer an das creutz und an forcht und an gottis urtheyl lebt, der lebet nit recht“33.

31 WA 1 207,22-26. SUSI H AUSAMMANN vertritt zu dieser Stelle die These: Hiernach „erwächst die wahre innere Buße und damit die contritio noch unbezweifelt aus der Furcht vor dem göttlichen Gericht und seiner Strafe.“ (H AUSAMMANN, S. 103); dies würde aber im Gegensatz stehen zur späteren Kritik der Galgenreue. Übersehen wird von H AUSAMMANN dabei die intensive Kritik, die der falsche timor servilis bzw. der Attritionismus schon in den Dictata erfährt und wie sie auch in der Römerbriefvorlesung voll ausgebildet ist. Die Furcht hat keine motivatorische, sondern eine signifikatorische Bedeutung. Das Beispiel zeigt, dass Luthers Aussagen stets auf dem Hintergrund der ganzen Entwicklung der frühen Theologie zu betrachten sind. 32 WA 1 207,26-31. 33 WA 1 207,31-36.

6.2 Der Umbruch im Ablassstreit

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Dieser Weg kennt punktuelle Erfahrungen der Gnade, das Widerfahrnis innerer Vergewisserung durch das innere „Einraunen“ Gottes. Dem Erleben von Furcht kommt insofern unüberbietbare Heilsrelevanz zu, weil nur in dieser affektiven Dimension wahrhafte Selbsterkenntnis als Sünder vor dem Urteil Gottes möglich ist. Diese Aufwertung menschlicher Furcht macht zugleich ihre Umwertung in ein Heilszeichen möglich. Dieses Annehmen der Furcht verhindert eine Dynamik der Verzweiflung und macht Furcht integrationsfähig in den Lebensvollzug. Die so gedeutete Furcht erweist sich jedoch zugleich auch als notwendiges Moment bzw. grundlegende Stimmung christlicher Frömmigkeit.

6.2 Der Umbruch im Ablassstreit 6.2 Der Umbruch im Ablassstreit

6.2.1 Die Ablassthesen und die anschließenden Auseinandersetzungen Die Auseinandersetzung mit der scholastischen Theologie führte Luther bereits seit einigen Jahren. Im Falle des Ablasses wendete er sich einem kirchenpolitisch brisanten Thema zu. Er tat dies mit seinen 95 Thesen zunächst im akademischen Raum, als Fortsetzung der begonnenen Studienreform im Zeichen des augustinisch-paulinischen Wittenberger Aufbruchs. Die Hintergründe des Ablassstreites sind vielfältig dargestellt worden. 34 Es kann keine Frage sein, dass unterschiedliche historische Faktoren zu berücksichtigen sind, um Luthers kritischen Vorstoß zu verstehen.35 Zugleich ist es unvermeidbar, nach der entscheidenden geistlich-theologischen Intention Luthers zu fragen, die er mit seinen 95 Thesen verfolgt hat.36 Das 34 Vgl. BRECHT I, S. 173ff. Über die zeitgenössischen Ursachen der Ablassauseinandersetzungen siehe vor allem W ILHELM ERNST W INTERHAGER. Mentalitätsgeschichtlich wäre nach wie vor das allgemeine Angstbewusstsein der Zeit des frühen 16. Jahrhunderts aufhellungsbedürftig. Die große Studie „Angst im Abendland“ von J EAN DELUMEAU arbeitet hier zu grobflächig (siehe den Untertitel: Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts) und zu holzschnittartig, als dass sie überzeugen könnte. 35 LOTHAR V OGEL (Ders.: Zwischen Universität und Seelsorge. Martin Luthers Beweggründe im Ablassstreit, ZKG 118 [2007] S. 187-212.) hat herausgearbeitet, dass die Ablasskritik Luthers nicht auf isolierte Erfahrungen im Beichtstuhl zurückzuführen ist (im Sinne der von Myconius aufgebrachten Erzählung, Beichtkinder hätten Luther die Ablassbriefe vorgehalten und ohne Reue Ablass begehrt), sondern eine längere Vorgeschichte in Luthers theologischer Entwicklung besitzt. Auch V OGEL sieht dabei in der Wahrnehmung religiöser Sicherheit ein wesentliches Auslösungsmoment (S. 195/203). 36 Die Entwicklung von Luthers Ablasskritik reicht in die Anfänge seiner Lehrtätigkeit zurück. Deutlich ausgeprägt ist der Ansatz etwa schon im Scholion zu Ps 68. Im Zusammenhang der Kritik religiöser Sicherheit wird der Ablass ausdrücklich einbezogen: „Et hoc fit totum quia putamus nos aliquid esse et sufficienter agere, ac sic nihil conamur

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

wichtigste Dokument, das unmittelbar Einblick gibt in die ursprüngliche Veranlassung, sich dieses Themas anzunehmen, ist Luthers Brief an Bischof Albrecht vom 31.10.1517. „Non enim fit homo per ullum munus Episcopi securus de salute, cum nec per gratiam infusam dei fiat securus, Sed semper in timore & tremore iubet nos operari salutem nostram Apostolus. Et Iustus vix salvabitur. [...] Et ubique dominus difficultatem salutis denunciat. Quomodo ergo per illas falsas veniarum fabulas & promissiones faciunt populum securum & sine timore?“ 37

Der ganze Zusammenhang der seelsorgerlichen Auslegung der sieben Bußpsalmen ist hier zusammengefasst. Ausgangspunkt ist die Kritik der religiösen Sicherheit. Der Ablass sei darin falsch, dass er nicht dazu anhalte, die Strafe zu lieben und anzunehmen. Er rechtfertige damit eine Angst vor der Strafe, die ungeistlich sei. In seinen vollmundigen Versprechungen ermögliche er eine Sicherheit, die im Widerspruch zum Wesen des Glaubens stehe Er verführe damit zu einer falschen Furchtlosigkeit, die den Menschen das Heil verlieren lasse. Diese Sichtweise ist es, die hinter Luthers berühmten 95 Thesen steht. 38 Luther steht mit seiner Kritik am Ablass nicht allein. Der Grundsatz: „Besser Buße tun als Ablass“ wurde auch von anderen schon vertreten. Die grundsätzliche theologische Kritik am Ablass verbindet sich bei Luther mit dem besonderen Anstoß an der ungeistlichen Sicherheit, zu denen der Ablasserwerb bei vielen geführt hat. Auch hier ist wieder das Augenmerk auf den Umgang mit Furcht zu lenken, wie er in den 95 Thesen zu greifen ist. An zwei Stellen wird der Fragenkreis der Furcht ausdrücklich angesprochen. Zunächst in These 49: „Venie papae sunt utiles, si non in eas confidant, Sed nocentissime, si

et nullam violentiam adhibemus et multum facilitamus viam ad celum, per Indulgentias, per faciles doctrinas, quod unus gemitus satis est.“ (WA 55/II 384,15-19). Diese geistliche Kritik wird schon in der Römerbriefvorlesung durch erstaunlich scharfe Kirchenkritik ergänzt, die auch den Papst einschließt: „Et papa et pontifices, Qui tam largi sunt pro temporalibus subsidiis Ecclesiarum in indulgentiis, super omnem crudelitatem crudeles sunt, si non maiora Vel equalia propter Deum gratis et intuitu animarum largiuntur, cum omnia gratis acceperint gratis donanda.“ (WA 56 417,27-30) In diesen Zusammenhang gehört wohl auch die Kritik an den Predigern der falschen Sicherheit: „Pestilentium itaque genus prediacantium est hodie, quod de signis presentis gratie predicat, Ut securos homines faciat, Cum hoc sit optimum signum gratie, trimere sc. tremere, et presentissimum signum ire Dei securum esse et confidere.“ (WA 56 503,21-504,3) 37 WAB 1 111,27-30; 32-34. 38 Diese Ablasskritik ist theologisch vorbereitet in den Predigten von Anfang 1517 (WA 1 65ff; 94ff. 138ff.). Auch hier ist Stoßrichtung der Kritik, dass der Ablass nicht zum „causa securitatis“ (WA 1 69,5) werde bzw. die wahre innere Reue verdränge (WA 1 99,1f.). Die Predigt des Matthiastages bietet bereits eine gedrängte Zusammenfassung der Ablasskritik, wie Luther sie im Herbst des Jahres öffentlich machte, vgl. WA 1 141,22-38.

6.2 Der Umbruch im Ablassstreit

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timorem dei per eas amittant.“39 Offensichtlich wird die Furcht Gottes von Luther als integraler Bestandteil der rechten Glaubenshaltung gewürdigt. Das Vertrauen auf die päpstlichen Ablässe stehe insofern im Gegensatz zur notwendigen Gottesfurcht. In etwas größerem Zusammenhang wird der Komplex des Umgangs mit Furcht in den Thesen 14-19 angesprochen. Hier wendet sich Luther der Frage des Fegefeuers zu. Bekanntlich stellte die Loslösung der Verstorbenen aus dem Fegefeuer eine wesentliche Dimension des Ablasshandels dar. Schon von daher muss Luther sich dieser Frage zuwenden. Luthers Auffassung vom Fegefeuer wird dabei zum Testfall seiner Furchtauffassung: „14 Imperfecta sanitas seu charitas morituri necessario secum fert magnum timorem, tantoque maiorem, quanto minor fuerit ipsa. 15 Hic timor et horror satis est se solo (ut alia taceam) facere penam purgatorii, cum sit proximus desperationis horrori. 16 Videntur infernus, purgatorium, celum differre, sicut desperatio, prope desperatio, securitas differunt. 17 Necessarium videtur animabus in purgatorio sicut minui horrorem ita augeri charitatem. 18 Nec probatum videtur ullis aut rationibus aut scripturis, quod sint extra statum meriti seu augende charitatis. 19 Nec hoc probatum esse videtur, quod sint de sua beatitudine certe et secure, saltem omnes, licet nos certissimi simus.“ 40

Zunächst begründet Luther über den Gedanken der Unvollkommenheit derer im Fegefeuer die Tatsache ihrer großen Furcht, wobei die traditionelle Auslegung von 1 Joh 4,18 hier im Hintergrund steht. Entscheidend ist, dass diese Furcht der Verstorbenen im Fegefeuer mit der eigentlichen Strafe identifiziert wird. Die überkommenen Vorstellungen werden dabei in erheblichem Maße verinnerlicht. Diese Furcht wird ins Verhältnis gesetzt zur Verzweiflung, wie sie in der Hölle herrscht und zur Sicherheit des Himmels. Existenziell wird so der Zwischenzustand des Fegefeuers herausgestellt. Der Zustand des Fegefeuers wird nun so vorgestellt, dass diese Furcht in dem Maße überwunden wird, wie die Liebe in den Büßenden wächst. Im Kontext heißt dies: In dem Maße, wie die Verstorbenen lernen, die Strafe anzunehmen und zu lieben, das heißt im Fegefeuer konkret die Furcht anzunehmen, in diesem Maße kann die Furcht überwunden werden. Im Fegefeuer geschieht daher genau das, was schon hier auf Erden unter der Bedingung der Gewissensangst geschieht bzw. geschehen sollte. In seiner Fegefeueranschauung führt Luther vor Augen, was sich ihm schon hier als der rechte Umgang mit Furcht und Strafe bewährt hat. Die Überwindung der zur Verzweiflung führenden Angst gelingt nur durch das Annehmen und Bejahen des Gefürchteten. Die Thesen 18 und 19 wenden sich möglichen Gegeneinwänden zu. Die Vorstellung eines Wachstums des Menschen in der Liebe verstoße weder gegen vernünftige noch biblische Gründe. These 19 wendet sich gegen die 39 40

WA 1 235,34-35. WA 1 234,3-14.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

traditionelle Vorstellung, im Fegefeuer wüssten die Leidenden um ihre schließliche Rettung, was die ganze Deutung auf die ungewisse Angst in Frage stellte. Vorsichtig formuliert Luther, dass es zumindest nicht erwiesen sei, dass sie der Seligkeit gewiss seien. Die Erfahrung der Furcht sei eben Ungewissheit im Blick auf das Heil, darum widerspreche es seiner Furchtauffassung, dass die Verstorbenen sich zwar fürchteten, aber gleichwohl ihres Heiles gewiss seien. Die Konsequenz dieser Sicht ist natürlich klar: Wenn dies die eigentliche Bestimmung des Fegefeuers ist, dann ist die Ablasspraxis dazu angetan, den Sinn des Fegefeuers zu verkehren. Durch den Freikauf im Ablass werden Seelen gerade daran gehindert, das zu lernen, was Sinn des Fegefeuers ist! Im Fegefeuer vollzieht sich genau das, was nach Luther schon jetzt Sinn des Glaubensverhältnisses ist. Es ist diese ewige Bewegung der Buße, die das Ganze der 95 Thesen bestimmt. Dies ist der Sinn der berühmten These 1, dass das ganze Leben der Gläubigen eine Buße zu sein habe: lernen, die Strafe zu lieben, das Gericht und die Angst anzunehmen, in einer ewigen Bewegung der inneren Feindschaft gegen sich selbst. 41 Das Wesentliche der Buße wird daher in der innerlichen Reue erkannt. Diese Zuspitzung vollziehen die Thesen 35-40. Es widerspreche dem Wesen des christlichen Glaubens, dass nach der Ablassverkündigung keine Reue mehr nötig sei (Th 35). Vielmehr sei „wahre Reue“ die wesentliche Aneignung der Vergebung (Th 36). Diese sei offensichtlich beim wahren Christen vorauszusetzen, der daher keines Ablasses bedürfe. Positiv sieht Luther den Sinn in den Ablassbriefen lediglich in einer Verkündigung der göttlichen Vergebung; deren Aneignung, wie gesehen, in der Reue sich vollziehe. Faktisch aber trete die Verkündigung der Ablässe in den Gegensatz zum richtigen Verständnis aufrichtiger Reue (Th 39). Schließlich folgt die These über den angemessenen Vollzug der Heilsaneignung und damit der tiefste Grund, den Ablass abzulehnen: Reue bedeute Liebe zur Strafe. Der Ablass dagegen sehe die Strafe als etwas zu Überwindendes an (Th 40). Die Betonung der Reue schließt für Luther ein, dass solche Reue keine Gewissheit über sich selbst habe, der Mensch also gerade in der echten Reue notwendig ungewiss bleibe (Th 30): „Nullus securus est de veritate sue contritionis, multominus de consecutione plenarie remissionis.“ 42

41 42

Th 4: „Odium sui (id est penitentia vera intus)“. (WA 1 233,16-17) WA 1 234,35-36. Daher ist es nicht unproblematisch, in der ersten der 95 Thesen schon die volle reformatorische Auffassung von Heil und Glaube finden zu wollen; vgl. zuletzt LEPPIN, VOLKER: „Omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“ – Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese, ARG 93 (2002) S. 7-25, der die These 1 aus der positiv gedeuteten Begegnung Luthers mit der Mystik versteht, und die Replik MARTIN B RECHTS (Ders.: Luthers neues Verständnis der Buße und die reformatorische Entdeckung, ZThK 101 [2004] S. 181-191.), der in einer neuen Analyse des

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Die beiden abschließenden Thesen fassen eindrücklich das Pathos lutherischer Bußfrömmigkeit in dieser Phase zusammen: „Exhortandi sunt Christiani, ut caput suum Christum per penas, mortes infernosque sequi studeant, Ac sic magis per multas tribulationes intrare celum quam per securitatem pacis confidant.“43

Das Annehmen von Strafe, Hölle und Tod, und das heißt eben nichts anderes als das Annehmen der damit verbundenen Angst, ist der wahre Weg des Christseins. Durch die Anfechtungen geht es in den Himmel; das Vertrauen auf eine Sicherheit des Friedens steht dazu im Gegensatz. Der Umgang mit Angst wird in großer Geschlossenheit so beschrieben, wie wir ihn bisher rekonstruiert haben. Das Ende der Thesen ist programmatisch: Kampf gegen den falschen Frieden, Aufrichtung des Kreuzes ist das Ziel der Thesen. Das, wogegen gekämpft wird, ist der sichere Frieden (Th 95), dem man das Kreuz vorziehen soll. 44 Briefes Luthers an Staupitz (31.05.1518) Luthers Fortschritt im Verständnis der Buße mit der reformatorischen Erkenntnis gleichsetzen möchte. 43 WA 1 238,18-21. Siehe in diesem Sinne schon WA 1 141,26-27. 44 Diese Sicht bleibt auch am Anfang des Jahres 1518 beherrschend, etwa in den Thesen der Heidelberger Disputation, deren Entstehung in der Zeit Februar/März 1518 anzunehmen ist. Grundsätzlich ist zu bemerken: Auch in anderen Texten fällt auf, dass Luther bei öffentlichen Auftritten in der Frühzeit weniger offensiv seine kritischen Überlegungen vertritt, sondern eher Gedanken vorträgt, die ihm schon länger gewiss sind. So zeigt sich im Vergleich von Luthers Scholien zum Römerbrief mit den Mitschriften im Kolleg, dass die harsche Kritik an der Scholastik vielfach nicht vorgetragen worden ist. Insofern sollte die Heidelberger Disputation nicht daraufhin befragt werden, was Luther Ende April noch nicht bzw. noch dachte. Die für unsere Frage relevanten Thesen sind 7-9 und 12: These 7: „Iustorum opera essent mortalia, nisi pio Dei timore ab ipsismet iustis ut mortalia timerentur. 8. Multo magis hominum opera sunt mortalia, cum et sine timore fiant in mera et mala securitate. 9. Dicere, quod opera sine Christo sint quidem mortua sed non mortalia, videtur periculos timoris Dei remissio. [...] 12. Tunc vere sunt peccata apud Deum venialia, quando timentur ab hominibus esse mortalia.“ (WA 1 353,27-32 und 354,3-4) Grundlage ist die paulinisch-augustinische Sündenlehre, wie Luther sie in seiner Römerbriefvorlesung entwickelt hat. Was lässt die Werke der Gerechten keine Todsünden sein: dies, dass diese sie als Todsünden fürchten! Die Furcht vor Gott wird darin als Entsprechung zur Gnade gesehen, eine Anschauung, die ganz der Auslegung der sieben Bußpsalmen entspricht. Die Grundeinsicht der Sündenlehre wird ebenfalls vorgetragen (Th 8). Dadurch werden die Werke zu Todsünden, dass sie ohne Furcht und in Sicherheit getan werden (Entsprechend auch Th 11). Die fehlende Furcht Gottes ist hervorragender Ausdruck der Sünde. Auf der anderen Seite ist es die rechte Furcht, die wesentliches Moment der Heilsaneignung ist. These 12 rekapituliert noch einmal die Ausgangsthese 7. Keine Furcht zu haben ist gleichbedeutend mit Vermessenheit, Hochmut und Sünde. Wo Furcht ist, ist dagegen Gnade und Gerechtigkeit. Darin ist die Heilsrelevanz der Furcht gegeben: in dem Maße, in dem der Mensch in der Furcht Gottes lebt, sind seine Sünden lässlich. Die Nähe zur Römerbriefvorlesung ist unverkennbar, wenn etwa in der Erläuterung zu These 16 ausgeführt wird: „Per legem enim cognitio peccati,

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6.2.2 Resolutiones zu den Ablassthesen Nach den hohen Wellen, die die Veröffentlichung der Thesen schlug, war Luther gezwungen, sich eingehend mit den Konsequenzen seiner bisherigen Einsichten auseinanderzusetzen. Im Winter 1517/1518 kommt es zu einer erheblichen Bewegung in Luthers Denken. Von seinen Gegnern mit immer neuen ekklesiologischen Folgefragen konfrontiert, vergewissert Luther sich immer prinzipieller der Grundlagen seines theologischen Ansatzes. Nicht zuletzt in dieser Konstellation mag man den Grund erkennen, dass die Gewissheitsfrage zunehmend ins Zentrum der Reflexion rückt. In diesem Zusammenhang sind es zwei größere Textzusammenhänge, die besondere Aufmerksamkeit verdienen: die Resolutiones zu den 95 Thesen und die Hebräerbriefvorlesung. Die Entstehungszeit der Resolutiones ist leider nur ungenau anzugeben. Eine erste Fassung entstand wohl schon im Februar 1518. 45 Erst nach der Heidelberger Disputation machte Luther seine Resolutiones druckfertig, vermutlich bis Ende Mai. Ihr Erscheinen verzögerte sich dann bis zum August.46 Die zeitliche Ansetzung bestimmter Gedanken ist daher in den Resolutiones nur unsicher zu treffen. Es mag mit dieser zeitlichen Streckung zu tun haben, dass hier nicht einfach ein neuer Standpunkt zu greifen ist, sondern ein komplexer Umbruch, in dem alte und neue Einsichten ineinander greifen. Die Konzentration auf den Umgang mit Furcht erweist sich dabei als eine ausgezeichnete Perspektive, diesen Umbruch im Detail nachzuvollziehen. 6.2.2.1 Die rechte Furcht Gottes In einem ersten Durchgang wollen wir die Beobachtungen zusammen tragen, in denen die zu unserem Thema schon bekannte Sicht vortragen wird. An vielen Stellen lässt sich Angst als ein wichtiges existenzielles Thema erweisen, das stets als Horizont der Überlegungen mitbedacht werden muss. Die starke existenzielle Bedeutung der Furchterfahrung wird etwa in der Erläuterung der 4. These deutlich. Gerade als Furcht vor dem Tod, und mehr noch als Furcht vor Gericht und Hölle sei die Angst die höchste Strafe, ein Gedanke, der zu den Thesen 14-19 noch ausführlich erläutert wird: „Saltem poena mortis manet in omnibus, timor etiam mortis, certe poena

per cognitionem autem peccati humilitas, per humilitatem gratia acquiritur.“ (WA 1 361,2-3) 45 Vgl. WAB 1 152,17ff. 46 Vgl. BRECHT I, S. 212.

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omnium poenarum et ipsa gravior morte in plurimus, ut taceam de timore iudicii et inferni, de tremore conscientiae &c.“47 Neben der Würdigung der Angst als zentrales Thema der Spiritualität begegnet auch wieder die Erläuterung der Furcht als Teil des Heilsweges, so etwa am Ende der Auslegung der 5. These: „deus pro peccato nulla talia requirit, sed iudicium et misericordiam et timorem, ut dictum est, id est novam vitam.“48 Im Anschluss an Micha 6,6-7 werden Furcht und neues Leben von Luther hier in eins gesetzt. Auch die Ablassthese 49, die vor dem Verlust der Gottesfurcht durch die Predigt des Ablasses warnt, wird kongenial aufgenommen: Die Predigt des Ablasses gehe „adversus veritatem crucis et timoris dei“, weil die Freiheit von den Strafen und somit „securitas remissiorum peccatorum“ zugestanden werde. 49 Im Folgenden wird wieder die Notwendigkeit der Furcht eingeschärft (mit Hiob 9,28, Ps 112,1 und Spr 28,14). Daher solle man auf den Ablass nicht vertrauen; dieser könne vielmehr nur mit Furcht angenommen werden: „non debent secure frui, neque in ea confidere, sed eo magis dolere et timere“50. Auch die Erläuterung der 52. These betont die Gefahr des Ablasses, die Furcht Gottes von den Menschen zu nehmen51, indem die Unvereinbarkeit von Sicherheit und Furcht ausdrücklich herausgestellt wird. Wer Gott wahrhaft fürchte, könne nicht solch prahlerische Verheißung der Sicherheit52 vertreten. Vertrauen auf den Ablass wiederum mache die Furcht unmöglich: „sin confidit sufficere, quomodo timebit?“53 Solche Sicherheit und solches Vertrauen könne es nur um der Sache selbst willen geben, der Barmherzigkeit Gottes in Christus; dieses Vertrauen sei aber gerade die mit Furcht verbundene Anerkennung des göttlichen Gerichts.54 6.2.2.2 Furcht und Fegefeuer Neben diesen im Horizont der bisherigen Beschreibungen bleibenden Aussagen sind es zunächst die Erläuterungen zu den Thesen 14-19, in denen sich zum Umgang mit Furcht Neues entdecken lässt. In diesen Erläuterungen erfährt der Umgang mit timor eine entscheidende Akzentverlagerung. 47 WA 1 534,16-18. Zur Bedeutung des Todes als letztem bestimmenden Horizont des Lebens vgl. etwa auch die Erläuterung zu These 9: „At mors necessitas necessitatum et impedimentum impedimentorum omnium ultimum et maximum est.“ (WA 1 549,6-8) 48 WA 1 538,33-35. 49 WA 1 601,34-36. 50 WA 1 602,26-27. 51 „Ut timorem dei ab hominibus tollant“. (WA 1 603,33-34) 52 „Illa gloriosa securitatis promissio“. (WA 1 604,1-2) 53 WA 1 604,2. 54 Vgl. WA 1 604,4ff.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

Die Thesen präsentierten Luthers geistliches Verständnis des Fegefeuers und die fatalen Auswirkung des Ablasses.55 Es wird darauf zu achten sein, inwiefern die Erläuterung die Thesen kongenial auslegt und wo markante Unterschiede deutlich werden. In der Erläuterung zu These 14 versucht Luther mit 1 Joh 4,18 seine These zu begründen, dass die Furcht im Mangel an Liebe begründet sei. Diese Furcht sei das Schicksal aller, so gewiss jeder noch Reste des alten Menschen in sich trage. „Quis est sine timore mortis, iudicii, inferni?“56 Von dieser universalen Gestalt der Furcht sei niemand frei. In gewisser Spannung zur These wird das Wesen der Frucht zurückgeführt auf den Mangel an Glauben: „Hic autem timor est ipsa conscientia mala et trepida propter defectum fidei.“57 Diese Betonung des Glaubens geht über das hinaus, was der biblische Beleg 1 Joh 4,18 traditionell leistete, nämlich das antagonistische Verhältnis von Furcht und Liebe vor Augen zu führen. Nun ist es eine grundlegende Tendenz Luthers, die klassischen theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung in größter Nähe zueinander zu entfalten. 58 Die Konzentration auf den Glauben an dieser Stelle bleibt jedoch auffällig, denn im Folgenden wird auch die Ursache der Furcht auf den Unglauben zurückgeführt.59 Noch erstaunlicher ist dann jedoch, dass der Glaube auch als Ursache der Sicherheit bezeichnet werden kann: „causa securitas sit fides“60. Dass es wirklich das mangelnde Vertrauen zu Gott sei, was die Ursache der Furcht darstelle, wird anschließend biblisch belegt anhand von Lk 5,8, Mt 14,30 und Lk 24,37. Als Fazit kann Luther daher festhalten: „In hiis omnibus ostenditur, diffidentiam esse causam timoris et horroris: venit ergo omnis turbatio ex diffidentia, omnis securitas ex fiducia in deum“61. Erst am Ende wird dann der Glaube wieder in der Liebe zu Gott begründet gesehen, ein Gedanke, der um des tragenden Verses 1 Joh 4,18 willen unvermeidbar ist. Die neue Akzentsetzung ist deutlich: Neben der Aufwertung des Glaubens wird Furcht hier ausschließlich negativ beschrieben. Sie ist nicht die zu liebende Strafe und nicht ein notwendiges Moment der Gottesbeziehung. Furcht steht nicht wie so oft in einem Wortfeld mit Glauben zusam55 Ein Rückblick aus einer Predigt von 1532 zeigt, welche Bedeutung die Vorstellung von Fegefeuer für Luther in seiner Frühzeit hatte: „Was hetten allein die geringsten conscientiae gegeben, ut tantum ein unterricht de confessione, purgatorio, Invocatione Sanctorum. Ich het omnia drumb geben, ut scissem non esse purgatorium.“ (WA 36 305,13-16. = S CHEEL, Dok., S. 331) 56 WA 1 554,33. 57 WA 1 555,9-10. 58 Vgl. die klassische Studie SCHWARZ, Fides. 59 „Causa horroris et timoris sit diffidentia“. (WA 1 555,14) 60 WA 1 555,15. 61 WA 1 555,22-24.

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men, sondern wird dem Glauben gegenüber gestellt. Der Unglaube ist die Ursache der Furcht und nicht wie bisher so oft der furchtlosen Sicherheit. Der Begriff der Sicherheit wird dagegen positiv mit dem Glauben verbunden, anstatt das der Sünde entstammende Gegenteil darzustellen. In den 95 Thesen ist securitas noch in These 16 als die himmlische Seinsweise der Furcht in Hölle und Fegefeuer gegenüber gestellt. Die positive Verbindung von fides mit securitas zeigt eine neue Akzentsetzung an. Die Resolution zu These 14 hat das Schwergewicht ganz auf den Glauben gelegt, wo in der These noch von der Liebe die Rede gewesen ist. Dieser Wandel wird nun weiter zu beobachten sein. In der weiteren Vertiefung der Fegefeuerthematik ist das Verhältnis von Glaube und Liebe besonders interessant. In der Auslegung zu These 15 geht es Luther vor allem um die Begründung seiner zentralen These, dass die Furcht die eigentliche Strafe des Fegefeuers sei. Dies beweist Luther in 6 Punkten. 1. Die Strafe in Hölle und Fegefeuer sei nach der Überlieferung gleich, nur die Dauer verschieden. In der Hölle aber herrschten Angst und Schrecken, wie viele Schriftbelege zeigen sollen (Ps 1,4 2,5, Spr 1,33, Ps 112,7, Jak 2,19, Dtn 28,65, Ps 14,5, Spr 28,1. 2 Thess 1,18). 2. Nach 2 Thess 1,8 geschehe die Strafe von dem Angesicht des Herrn her; auch hier sei nicht an eine äußerliche Bestrafung gedacht, sondern Angst und Schrecken stünden im Zentrum. 3. Weitere biblische Belege illustrieren dies, wobei Luther in diesem Zusammenhang wiederum die Herkunft der Furcht aus dem Unglauben behauptet. 62 Nach diesen drei biblischen Begründungen folgen drei weitere Punkte, die dieselbe These aus der menschlichen Erfahrung heraus plausibel machen sollen. 4. Schon im Leben hätten viele Menschen solche höllische Angst erlitten, wofür Aussagen Davids und Hiskias als biblische Belege angeführt werden; umso mehr sei diese Furcht für das Fegefeuer zu erwarten. Zum 5. Argument gleich ausführlicher, an 6. Stelle begründet Luther diesen Gedanken schließlich auch mit den Kirchenliedern, die um Hilfe für die im Fegefeuer Leidenden bitten. An 5. Stelle in seiner Aufzählung kommt Luther auf die gegenwärtige Erfahrung solcher Anfechtung zu sprechen. Zunächst beruft sich Luther dabei auf Johannes Tauler, der in seinen deutschen Predigten von der Erfahrung solcher Strafen rede, die allen scholastischen Theologen unbekannt seien. Dann folgt das viel zitierte und weniger oft interpretierte Selbstzeugnis Luthers über seine Anfechtungserfahrung. Als zusammenfassende Beschreibung seiner Angsterfahrungen kommt ihm herausragende Bedeutung zu. „1. Sed et ego novi hominem, qui has poenas saepius passum sese asseruit, brevissimo quidem temporis intervallo, sed tantas ac tam infernales, quantas nec lingua dicere, nec

62

Vgl. WA 1 557,8-9.

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calamus scribere, nec inexpertus credere potest, ita ut, si perficerentur aut ad mediam horam duarent, immo ad horae decimam partem 2. funditus periret, et ossa omnia in cinerem redigerentur. 3. Hic deus apparet horribiliter iratus et cum eo pariter universa creatura. 4. Tum nulla fuga, nulla consolatio, nec intus, nec foris, sed omnium accusatio. 5. Tunc plorat hunc versum: Proiectus sum a facie oculorum tuorum, 6. nec saltem audet dicere: Domine, ne in furore tuo arguas me. 7. In hoc momento (mirabile dictu) non potest anima credere, sese posse unquam redimi, nisi quod sentit nondum completam poenam. 8. Est tamen aeterna, neque potest eam temporalem existimare, solum relinquitur nudum desiderium auxilii, et horrendus gemitus, sed nescit unde petat auxilium.“ 63

In Anlehnung an 2 Kor 12,2 redet Luther von sich in dritter Person. Die erlittenen Erfahrungen seien nur kurzzeitig, aber unerträglich gewesen, so dass auch nur wenige Minuten eines solchen Zustandes den Menschen zugrunde richten würden (Satz 1/2). Gegenstand dieser Erfahrung sei der zornige Gott (deus iratus) gewesen, mit dem zusammen die ganze Schöpfung schrecklich erscheint (Satz 3). Ist der Zorn Gottes das auslösende Moment und der bestimmende Inhalt dieser Erfahrung, so muss betont werden, dass es sich in dieser Erfahrung eben um extreme Angst und Schrecken handelt. 64 Es ist bezeichnend, dass Luther nicht mit einem vollständigen Satz fortsetzt. Der Gehalt dieser Erfahrung wird nur knapp verdichtet: Die Gegenwart dieses deus iratus bedeute omnium accusatio (Satz 4), eine völlige Anklage bzw. Verurteilung, der gegenüber es weder Flucht vor ihr noch Trost in ihr gebe. Allein die Worte der Psalmen könnten dieser Schreckenserfahrung Ausdruck verleihen: Von Gottes Angesicht verstoßen (Ps 31,23) erleb sich der Mensch in so aussichtsloser Lage (Satz 5), dass er nicht einmal mehr die Bitte um Verschonung (Ps 6,2) wage (Satz 6). Sodann verdeutlicht Luther die Ausweg- und Trostlosigkeit (Satz 4) der Seele: Diese könne in diesen kurzen Momenten an keine mögliche Erlösung mehr glauben. Sie könne sich diese Strafe nicht als zeitlich, d. h. vorübergehend vorstellen, sondern müsse diesen Zustand zugleich für ewig halten (Satz 7/8), auch wenn sie solche Erfahrung schon oft (Satz 1) gemacht habe. In dieser Erfahrung vermöge der Mensch keinen Abstand zum 63 64

WA 1 557,33-558,5. [Abschnittnummerierung TD] Schon These 15 hat timor und horror (WA 1 555,27) zum Gegenstand. Die gesamte Resolution will nachweisen, dass solche Angsterfahrung die schwerste Strafe ist: „scriptura describit poenas inferni esse turbationem, pavorem, horrorem, fugam“ (WA 1 556,9-10); „horror et fuga“ (WA 1 557,8; vgl. WA 1 557,23-24). Nicht abstrakt der Zorn Gottes, sondern die entsetzliche Angst vor diesem wird mit dem hier beschriebenen Selbstzeugnis als Anfechtung erfahren. Das kommt nicht zur Geltung in L OHSES Auslegung von Luthers Selbstzeugnis: „Doch haben Luthers Anfechtungen ihren Höhepunkt nicht schon in der Trauer oder in der Verzweiflung erreicht, sondern erst in der Erfahrung des göttlichen Zornes, der sich auch in den konkreten Leid- und Unheilserfahrungen des Lebens auswirkt. Die tiefste Anfechtung hat Luther also in der Erfahrung des göttlichen Zornes erlebt.“ (LOHSE, B ERNHARD: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995. S. 104.)

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Gefühl des Schreckens bewahren; so wie mit Gott die ganze Schöpfung schrecklich erscheine (Satz 3), gebe es im Menschen keine andere Befindlichkeit mehr als Angst. Die Totalität der Angsterfahrung begründet ihre empfundene Ewigkeit (Satz 8). Die Ausschließlichkeit des Schreckens sei der Grund, dass der so von Angst Betroffene nicht zugleich Hoffnung oder Gewissheit auf ein Ende dieses Zustandes besitzen könne. Auf diese Aussichts- und Hoffnungslosigkeit des Angefochtenen läuft die ganze Schilderung zu. Wie schon in Satz 4 (nulla fuga, nulla consolatio) wird dieser Aspekt unterstrichen: Es bleibe wohl nacktes Begehren nach Hilfe und schreckliches Seufzen, zuletzt aber wisse der Mensch nicht, woher er Hilfe erbitten solle (Satz 8). „9. Hic est anima expensa cum Christo, ut dinumerentur omnia ossa eius, Nec est ullus angulus in ea non repletus amaritudine amarissima, horrore, pavore, tristicia, sed hiis omnibus non nisi aeternis. 10. Et ut dem similie utcunque, si sphaera transeat super lineam rectam, quilibet punctus linea tactus totam fert sphaeram, non tamen comprehendit totam sphaeram, 11. Ita anima in suo puncto, dum tangitur a transeunte inundatione aeterna, nihil sentit et bibit, nisi aeternam poenam, sed non manet, iterum enim transit. 12. Igitur si viventibus contingit illa inferorum poena, id est intolerabilis ille pavor et inconsolabilis, multo magis animarum in purgatorio videtur talis esse poena, sed continua. 13. Et hic est ignis ille internus multo atrocior quam externus.“ 65

Luther illustriert diese Erfahrung in Anspielung auf Ps 22,18 mit dem Gedanken der Gleichgestaltung mit dem gekreuzigten Christus (dem Deutungshorizont seiner frühen Theologie). Die Totalität der Erfahrung von Schrecken, Angst und Traurigkeit wird abermals unterstrichen, sie erfülle den Mensch so völlig, dass er sie nur für ewig halten könne (Satz 9). Sodann versucht Luther, dieses Erleben mit einem geometrischen Gleichnis zu erläutern (Satz 10/11): Eine über eine gerade Linie rollende Kugel drücke wohl mit ihrem ganzen Gewicht auf je einen Punkt der Linie, dieser würde jedoch nicht die ganze Kugel umfassen. Auch dieses Gleichnis soll illustrieren: Die Erfahrung der Furcht ist von solcher Totalität, dass in der Seele kein Sinn dafür bleibe, sich die Vergänglichkeit dieser Erfahrung zu vergegenwärtigen. Das Gefühl wird mit solch unbedingter Qualität bzw. Stärke erfasst, dass auch die Quantität bzw. die Dauer dieses Zustandes nur als ewig gedacht werden kann 66; auch wenn es im Verlauf solcher Erfahrung mehrfach heißen kann: „sed non manet, iterum enim transit“ (Satz 11). Die Reihenfolge der Aufzählung von horror, pavor, tristitia (Satz 9) wird man wohl auch chronologisch so auffassen dürfen, dass die Traurig65 66

WA 1 558,5-13. [Abschnittnummerierung TD] Diese Deutung wird stärker dem argumentativen Kontext der vollständigen Resolution gerecht. Zu ungenau bleibt die Deutung von LOHSE: „der Vergleich mit der Kugel hat ja darin seine Spitze, dass die Leiderfahrung das, was der Mensch aushalten kann, übersteigt.“ (LOHSE, Theologie, S. 104) Das Nicht-umfassen-Können der Kugel bleibt so unberücksichtigt.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

keit zum bestimmenden Gefühl nach bzw. zwischen den Abgründen des Schreckens wird. Von diesen Erfahrungen der Lebenden schließt Luther schließlich auf das Erleben des Fegefeuers (Satz 12/13): Wenn schon hier solche unerträgliche und untröstliche Angst den Menschen erfassen könne, wie viel mehr werde dies die eigentliche Strafe des Fegefeuers sein, nur eben nicht für kurze Momente, sondern dauerhaft. Man kann Luthers Deutung des Fegefeuers als eine existenziale Interpretation bezeichnen. Nicht äußere Flammen und Qualen, sondern ein inneres Erleiden von Furcht und Schrecken ist für Luther Inbegriff schwerster Strafe – im Fegefeuer wie in der Hölle. Der Erfahrungshintergrund der eigenen Existenz wird somit zum Deutungsmuster dessen, was überhaupt als Strafe vorstellbar ist. Man kann diese Beschreibung in Abwandlung Sartres zuspitzen auf die These: Die Hölle, das ist die Angst. Darum ist die Gewissensangst auch die eigentliche Qual des Fegefeuers. Nie zuvor hatte Luther diese von ihm oft gemachte Erfahrung mit solcher Ausführlichkeit zur Sprache gebracht. Letztlich beruht der Ansatz der hier vorgelegten Luther-Deutung darauf, die Bewältigung dieses Erlebens als zentrale Herausforderung seiner theologischen Entwicklung anzunehmen. Die Erläuterung der 16. These über die Verhältnisbestimmung von Himmel, Hölle und Fegefeuer zieht die Konsequenz aus dem erfahrungsbezogenen Zugang zum Wesen der Strafe in Hölle und Fegefeuer: Verhält es sich so, dass Hölle und Fegefeuer einander gleichen, abgesehen von der Dauer der Qual, dann zeigt die irdische Erfahrung des Schreckens, dass jegliche Hoffnung oder Gewissheit mit ihr nicht verbunden sein kann. Die Resolution zu These 17 muss sich nun der Frage zuwenden, wie mit dieser Furcht im Fegefeuer umzugehen sei. Dabei ist das Verhältnis von Furcht und Liebe besonders interessant. Zunächst unterscheidet Luther drei Arten von Menschen: Menschen ohne Glauben, Menschen mit vollkommenem Glauben und schließlich dazwischen Menschen mit einem Glauben, der nicht vollkommen sei. Auf Letztere warte das Fegefeuer. In der Auslegung der These 17 wird das Gewicht ganz auf das Wachsen der Liebe im Annehmen der Strafe gelegt. „Nulla poena vincitur fuga aut timore. [...] Omnis poena timore sui augetur et roboratur, sicut amore minuitur et infirmatur. Vincitur autem poena amore et amplexu sui: deine nulla poena est molesta“67.

In diesem Zusammenhang entfaltet Luther noch einmal die uns bekannte Perspektive, dass eine Haltung der Furcht und des Fliehenwollens in eine Dynamik der Verzweiflung stürzt. Da die Furcht die Strafe sei, ginge es darum, die Furcht liebend anzunehmen und sie darin zu überwinden. Man wird die Ausführung zu These 17 daher als seine ursprüngliche Sicht be67

WA 1 559,38; 560,2-4.

6.2 Der Umbruch im Ablassstreit

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zeichnen können, wie sie in den Auslegungen zu den 7 Bußpsalmen breit entwickelt und auch in den 95 Thesen vorausgesetzt ist. Diese Tendenz ist auch in der Erläuterung zu These 18 zu beobachten. Ausgehend von 1 Joh 4,18 wird die Überwindung durch Annehmen der Furcht ausgeführt. Das Fegefeuer veranschaulicht in diesem Zusammenhang letztlich das Verständnis von Buße, das Luther zuvor gewonnen hatte. In der Diskussion mit seinen Kritikern kommt Luther zu Gedanken, die die biblische Begründung der Fegefeuervorstellung insgesamt in Frage stellen, ohne dass Luther diesen Ansatz in dieser Zeit weiter verfolgt. Andere Akzente setzt wiederum die Auslegung von These 19. Hier geht es um das Verhältnis von Furcht und Gewissheit. Mehrfach hatte Luther bisher die Unvereinbarkeit von Furcht und Gewissheit vor allem aus der eigenen Erfahrung begründet. Die These ist demgegenüber nun eher zurückhaltend, wenn es heißt, es sei unbewiesen, ob alle Seelen im Fegefeuer des Heils gewiss seien. Nach diesem vorsichtigen Beginn wird von Luther zunächst wieder die eigene Erfahrung und die anderer betont, dass das Erfahren der Furcht jede Gewissheit ausschließe. Ein Problem sind für seine Argumentation natürlich Berichte von Verstorbenen, die im Fegefeuer ihre Heilsgewissheit bekannt hätten; das gilt auch für die traditionelle Vorstellung, dass die Verstorbenen ja vor ihrem Eintritt ins Purgatorium in einer Art individuellem jüngsten Gericht zu wissen bekommen, dass sie nur eine gewisse Zeit das Fegefeuer zu erleiden haben. Gleichwohl hält Luther an seiner These fest, wobei er sich zuerst auf das Wesen des Schreckens bezieht 68, der eben Gewissheit ausschließt. Offenkundig besitzt diese Erfahrungsgewissheit für ihn größere Plausibilität als das Traditionszeugnis. Wiederum lehnt er die Vorstellung einer äußeren Bestrafung der Seelen ab und konzentriert die Strafe wie gehabt auf das Erleiden der Gewissensangst. Noch einmal beschreibt Luther sodann den Sinn des Fegefeueraufenthalts, nämlich die Überwindung der Furcht. Die Zuspitzung, die Luther dabei vornimmt, steht in bemerkenswerter Spannung zur Sicht der Thesen 17/18: „Si transibis per ignem, flamma non nocebit te. Quomodo non nocebit? Nisi quia dat fiduciam cordi, ut ignem non timeat, Non autem, ut ignis non sit, cum transeundum ei per illum sit.“ 69

Auch hier ist es nun wieder das Vertrauen (fiducia), das im Herzen eine Gegenmacht zur Furcht bildet. Die bisherige Oppositionsbildung von Furcht und Liebe wird damit nicht mit einem Schlag verdrängt, wie die Fortsetzung sofort deutlich macht:

68 69

„Ex natura horroris et pavoris“. (WA 1 566,25) WA 1 566,33-35.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

„Quare diversio dorsi ab oneribus non fit, nisi sanando animae timorem et confortando eam, sicut et supra dictum est, quod nulla poena vincitur timore sui, sed amore et contemptu.“70

Der klassische Antagonismus bleibt bestehen, nur dass der Pol der Liebe durch Ausdrücke des Glaubens bzw. des Vertrauens ergänzt wird. Das allein muss den Rahmen des bisherigen Denkens noch nicht sprengen, zeigt aber eine Tendenz an, die immer deutlicher greifbar wird. Dieser neuen Akzentsetzung weiß sich auch die Fortsetzung verpflichtet, wenn sie die Kritik an der Ablasspraxis vertieft. War die Ausgangskritik die, dass Ablass sicher und furchtlos mache und damit einem liebenden Annehmen der Strafe widerspreche, heißt es nun, dass er eine falsche Gefangenschaft der Furcht begründe. „At timorem non auferunt indulgentiae, immo inferunt quantum in eis est, dum velut odibilem rem poenas relaxandas suadent.“ 71 Nicht mehr die Verbreitung falscher Sicherheit, sondern das Scheitern am Problem der Angst ist der kritische Gesichtspunkt. Schließlich wird das Ziel beschrieben, das Gott mit den Menschen hat: „Deus autem proposuit habere filios impavidos, securos, generosos aeternaliter et perfecte, qui prorsus nihil timeant, sed per gratiae suae fiduciam omnia triumphent atque contemnant, poenasque et mortes pro ludibrio habeant.“72

Die Überwindung der Furcht durch Vertrauen auf die Gnade Gottes sei das eigentliche Ziel, das Gott mit dem Menschen verfolge. Auffällig ist wiederum die Zusammengehörigkeit von fiducia, securitas und der Verneinung der Furcht. Die Beschäftigung mit dem Fegefeuerkomplex hat eine nachhaltige Spannung in Luthers Denken aufgewiesen. Auf der einen Seite steht Luthers klassischer Ansatz: Furcht wird durch Liebe überwunden, Annehmen der Strafe ist besser als Ablass. Daneben hat sich jedoch vor allem in den Erläuterungen zu den Thesen 14 und 19 die klare Tendenz gezeigt, gegen den Duktus der Thesen wie auch gegen das traditionelle Verständnis von 1 Joh 4,18 nicht die Liebe, sondern den Glauben als dasjenige Gottesverhältnis zu betrachten, durch das die Furcht nicht angenommen und bejaht, sondern bekämpft und überwunden wird. In ganz neuer Weise tritt nicht eine Annahme, sondern eine Überwindung der Furcht in den Gesichtskreis. In diesem neuen Umgang mit Angst zeigt sich zugleich ein neuer Begriff des Glaubens. Von daher betrachten wir nun die vieldiskutierten Auslegungen der Thesen 7 und 38, die diesen neuen Begriff des Glaubens vertiefen. Auch dabei wird der Kontext der Furchterfahrung und ihrer Bewältigung eine wichtige Rolle spielen. 70 71 72

WA 1 566,35-38. WA 1 566,38-39. WA 1 566,39-567,2.

6.2 Der Umbruch im Ablassstreit

195

6.2.2.3 Furcht und Glaube Von großer Bedeutung ist vor allem die Resolution zur 7. These.73 Luther denkt zunächst in vertrauten Bahnen. Die Vergebung durch Gott und der Vergebungszuspruch durch den Priester werden voneinander unterschieden und zugleich aufeinander bezogen. Die Vergebung durch Gott geschieht auf dem bekannten Weg: verborgen unter dem Gegenteil. Wen Gott rechtfertigen wolle, den verdamme er; den stürze er in Bestürzung und Schrecken, den führe er zu rechter Selbsterkenntnis in der Erkenntnis seiner Sünden und mache ihn damit zum Ankläger seiner selbst. „In ista autem conturbatione incipit salus, Quia initium sapientiae timor domini.“ 74 Denn in diesem fremden Werk wirke Gott, um sein eigentliches zu wirken: „haec est vera contricio cordis et humiliatio spiritus“75. Allein der Mensch wisse in dieser Lage nichts von seiner Rechtfertigung, sondern halte das, was eigentlich Eingießung der Gnade (infusionem gratiae) ist, für eine Ausgießung des Zorns (effusionem irae).76 Wenn dieser Betrübte zum Priester in die Beichte komme, solle dieser ihm den Zuspruch der Vergebung gewähren: „ac sic pacem ei conscientie donet.“77 Dieser Zuspruch, in der Vollmacht von Mt 16,19 wird sodann auf den Glauben des Beichtenden konzentriert: „fides enim huius verbi faciet pacem conscientiae“78. Nur soviel Friede könne der Mensch haben, als er dem Wort der Vergebung glaube. Ohne Glauben aber helfe keinerlei Absolution und sei es durch den Papst selbst.79 Glaube steht dabei im Zusammenhang von Frieden, Ruhe und Trost des Gewissens gegen die Angst, die das fremde Werk Gottes mit sich bringt. Zunächst scheint Luther hier diese beiden Ebenen unterscheiden zu wollen: die Vergebung durch Gott in Gestalt der klassischen theologia crucis, in der die Gnade mitgeteilt wird auf der einen Seite, auf der anderen Seite dagegen der deklaratorische Zuspruch durch den Priester, welcher im Glauben angenommen Frieden und Gewissheit mit sich bringt. Im Folgenden wird jedoch deutlich, dass sich das Gewicht mehr und mehr auf den Glauben konzentriert; nicht nur als subjektive Erkenntnis des Heils, sondern als dessen eigentliche Verwirklichung! Da die Eingießung der Gnade unter der Gestalt des Zorns verborgen bleibe, sei sie dem Menschen notwendig ungewiss. Erst durch die Gewissheit des Glaubens werde die Vergebung wirklich: „Donec autem nobis incerta est, nec remissio quidem est, 73 74 75 76 77 78 79

Vgl. B AYER, Promissio, S. 167-173 und KROEGER, S. 192ff. WA 1 540,18-19. WA 1 540,24-25. WA 1 540,32. WA 1 540,40-41. WA 1 541,5. WA 1 541,7-11.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

dum nondum nobis remissio est, immo periret homo peius nisi fieret certa, quia non crederet sibi remissionem factam.“80 Daher geschehe im Glauben nicht nur Erkenntnis des Heils, sondern dessen Mitteilung. Gewissheit erweist sich dabei nicht als eine nachträgliche Vergewisserung des Heils, sondern als Strukturmoment des Glaubens überhaupt: ohne Gewissheit kein Glaube! Die Unterscheidung zwischen Vergebung Gottes und Deklaration durch den Priester ist an dieser Stelle bereits aufgesprengt, auch wenn Luther in der weiteren Erörterung noch darauf zurückgreift. Im Folgenden wird der Zuspruch des Priesters weiter als Zeichen des Heils ausgeführt. Luther greift dabei auf David zurück, der unter der Wirkung der rechtfertigenden Gnade zum Erschrecken über seine Sünde kam. Daher habe ihn Gott durch ein Zeichen trösten lassen, wie Gott überhaupt im Alten Testament verschiedene Zeichen des Trostes gegeben habe. Dieses Zeichen sei nun durch Wort und Urteil des Priesters gegeben. 81 Unter Berufung auf Röm 1,17 wird das Heilsbewusstsein wieder auf den Glauben konzentriert, in neuer Zuspitzung: Dieser Glaube müsse sich seiner auch als Glaube bewusst sein: „At baptisatum oportet etiam credere, se recte credidisse et accessisse, aut pacem nunquam habebit, quae non nisi ex fide habetur.“82 Diese neue Lösung stellt Luther dem traditionellen Bußverständnis gegenüber. Gerade unter den neueren Theologen sei es dahin gekommen, dass die Menschen sich mit ihren Reuegefühlen, ihren Werken und Sündenbekenntnissen zu beruhigen versucht hätten, erreicht hätten sie aber nichts weiter, als dass sie von einer Unruhe in die nächste gefallen seien. 83 Demgegenüber konzentriert Luther die ganze Heilsaneignung (und nicht nur die nachträgliche Erkenntnis des Heils) auf den Glauben: „Non enim quia Papa dat, aliquid habes, sed si credideris te accipere, habes: tantum habes, quantum credis propter remissionem Christi.“84 In dieser Zuspitzung auf Wort und Glaube geht es nicht zuletzt um die Überwindung der Angst. In diesem Sinne deutet Luther die Einsetzung der Sündenvergebung nach Joh 20,23 durch den Priester: Der Sinn ist ausdrücklich eine Ermutigung zum Glauben gegen die Angst. „Sed scivit quod conscientia iam iustificata per gratiam sua trepiditate evomeret gratiam, nisi succurreretur ei per fidem de gratiae praesentia ministerio sacerdotis, immo peccatum maneret, nisi remissum crederet.“85

80 81 82 83 84 85

WA 1 541,22-24. WA 1 541,33-542,6. WA 1 542,12-14. WA 1 542,32-33. WA 1 543,7-9. WA 1 543,20-23.

6.2 Der Umbruch im Ablassstreit

197

Der ganze Heilsbesitz ist daher erst in und mit diesem Glauben gegeben. „Non enim sufficit remissio peccati et gratiae donatio, Sed oportet etiam credere esse remissum“86. Damit ist der Bruch zum bisherigen Konzept deutlich ausgesprochen. Nicht nur die nachträgliche Erkenntnis der Rechtfertigung, nicht nur der Durchbruch zum Frieden ereignet sich im Glauben an die Absolution, sondern die Rechtfertigung selbst wird auf das Geschehen von Wort und Glauben konzentriert: „Tanta res est verbum Christi et fides eius.“87 Rechtfertigung und Erlangen des Friedens können nicht mehr in einem Nacheinander beschrieben werden, sondern liegen im Glauben ineinander: „Igitur fide iustificamur, fide et pacificamur, non operibus neque poenitentiis aut confessionibus.“88 Vertieft werden diese Ausführungen vor allem in den Erläuterungen zu These 38.89 In der These wird die Vergebung des Papstes als Erklärung göttlicher Vergebung bezeichnet. In der Erläuterung lässt sich wiederum eine nachhaltige Akzentverlagerung beobachten. Die in der Erläuterung der 7. These vorgenommene Unterscheidung von Vergebung und Deklaration der Vergebung wird nicht mehr fortgeführt. 90 Grund ist dabei die bleibende Ungewissheit einer bloßen Erklärung. Darin sei der Dienst der Schlüssel unterbewertet, solange er nicht als notwendige Begründung des Glaubens angesehen werde.91 Wiederholt wird dabei Mt 16,19 zitiert: Der Glaube an dieses Wort der Verheißung sei es, was die Rechtfertigung mit sich bringt: „Fides autem Christi semper iustificat“92. Wie in der Auslegung der These 7 wird der Glaube in den Gegensatz zur Reue gesetzt. Es sei der Grundirrtum der neueren Theologie, die Menschen zum Vertrauen auf ihre Reue anzuspornen. „Proinde non adeo est necessario contritio quam fides“93. In diesem Zusammenhang wird die Rolle der Furcht anders beschrieben, als es noch zu Beginn der Erläuterung von These 7 geschah. War die Furcht dort noch Zeichen des fremden, rechtfertigenden Werkes Gottes, unter dem die Eingießung der Gnade geschah, so sieht die Zuordnung nun anders aus: „Homo, quando in peccato est, ita vexatur et agitatur

86 87 88

WA 1 543,23-24. WA 1 543,40-544,1. WA 1 544,7-8. Zur inneren Spannung dieser Resolution siehe auch SCHWAB: „Res 7 ist ein situationsbedingter Übergangstext und kann nicht mit den späteren Texten harmonisiert werden.“ (SCHWAB, WOLFGANG: Entwicklung und Gestalt der Sakramententheologie bei Martin Luther [Europäische Hochschulschriften: Reihe XXIII], Frankfurt/Main 1977. S. 103.) 89 Vgl. B AYER, Promissio, S. 175-182. 90 „Declaratio enim nimis modicum est.“ (WA 1 594,10-11) 91 Vgl. WA 1 594,31ff. 92 WA 1 594,40-41. 93 WA 1 595,21-22.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

conscientia eius“94. Von diesem Menschen gilt nun: „Et talis homo certe proximus est iustificationi et habet initium gratiae.“95 Die Furcht hat nun eine andere Funktion bekommen: Sie ist nicht mehr affektive Vollendung der Reue, durch die sich die Rechtfertigung vollzieht, nicht mehr das tröstliche Zeichen der Gnade, anhand dessen sich der Mensch paradox vergewissern kann, sondern sie ist der Beginn der Gnade, indem sie Voraussetzung der Rechtfertigung, nicht ihr Vollzug ist. Erst durch den gläubigen Empfang des Dienstes der Schlüssel finde der Mensch Frieden, Überwindung der Furcht und damit das Heil. Daher kann Luther den augustinischen Satz übernehmen, die Sakramente seien nicht wirksam, weil sie geschehen, sondern weil sie geglaubt werden. 96 Die später so berühmte Formulierung taucht auch hier wieder in ihrer Frühform auf: „tantum habes, quantum credis“97. Interessant ist die Begründung, die für diese Konzentration auf Wort und Glauben geliefert wird: Angeführt wird das Motiv der Sicherheit gegenüber möglicher Täuschung, also ein Gewissheitsmotiv, wenn es heißt: Vertraue allein auf das Wort Jesu Christi, denn das Herz kann täuschen, Christus nicht: „Cave ergo ne quando in tuam contritionem ullo modo confidas, sed in nudissimum verbum optimi et fidelissimi tui salvatoris Ihesu Christi: Cor tuum fallet te, ille te non fallet“ 98. Das Wort ist Zeichen des Heils geworden, zur eigentlichen Instanz der Vergewisserung. Wort und Glaube sind die entscheidende Relation der Rechtfertigung.99 Oben haben wir gesehen, dass die Furcht ihren bisherigen Platz in der Aneignung des Heils verliert. Nun präzisiert Luther, inwiefern sie Beginn des Heils bzw. Voraussetzung der Rechtfertigung genannt werden kann: „Haec enim fides certe maxime probatur, qui tremore conscientiae agitati, potius sese diffidere sentiunt: illis vero, qui talem miseriam non sentiunt, nescio an sint claves illae consolatoriae, cum consolari non mereantur, nisi qui lugent, nec animari ad fidem remissionis, nisi qui trepidat diffidentia retentionis.“100

Die Angst des Gewissens zeigt nicht mehr das Heil, sondern die Heilsbedürftigkeit des Menschen an. Nicht mehr das Annehmen der Furcht, sondern ihre Überwindung im Glauben steht im Zentrum. Eine neue 94 95 96 97 98 99

WA 1 595,10-11. WA 1 595,12-13. Vgl. WA 1 595,5-8. WA 1 595,5. WA 1 596,7-9. Vgl. diese Konzentration auf Wort und Glaube in Abgrenzung zum menschlichem Werk zu These 11: „Iterum somnium procedit ex eo, quod remissionem peccatorum non super fidem et verbum miserentis Christi, sed super opus currentis hominis aedificant.“ (WA 1 551,4-6) 100 WA 1 596,19-23.

6.2 Der Umbruch im Ablassstreit

199

Zuordnung von Furcht, Frieden, Gewissheit, Zeichen und Ruhe macht den Kontext aus, in dem das neue Verständnis von Wort und Glaube sich ausspricht. Es sind diese existenziellen Fragen der Furchtbewältigung, die den Sitz im Leben der neuen theologischen Einsichten Luthers über das Verhältnis von Wort und Glaube bilden. Am Ende dieser Erläuterung ist sich Luther des Wandels gegenüber seinen Ausführungen in den 95 Thesen bewusst. „Itaque istam conclusionem, ut iacet, non omnimo teneo, sed ex magna parte nego.“ 101 6.2.2.4 Gesetz und Evangelium Die Auslegung von These 62 bringt schließlich eine konzentrierte Fassung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.102 Auch an dieser Stelle ist der Fortschritt zu den bisherigen Ansätzen nicht zu verkennen.103 Das Evangelium sei die wesentliche Gabe Christi, die er hinterlassen habe. Näher charakterisiert Luther dieses Wort als Wort von Christus, Wort des Heils und der Gnade, im Blick auf den Menschen zugleich als Wort des Trostes, der Freude und des Friedens. Das Gesetz sei demgegenüber Wort des Richters und Wort des Zorns; auch hier ist zugleich seine affektive Wirkung mit im Blick, als Wort der Trauer, des Schmerzes und der Unruhe („verbum tristiciae, verbum doloris, […] verbum inquietudinis“ 104). Beide Kategorien werden also gewissermaßen sowohl im Zusammenhang des göttlichen Heilshandelns als auch im Zusammenhang der affektiven Erfah101 102

WA 1 596,38-39. Vgl. KROEGER, S. 195ff.; B AYER, Promissio, S. 184f. und S. 199. Vgl. B AYERS Zusammenfassung über die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium vor dem Ablassstreit: „Das Gesetz wirkt das Sündenbekenntnis, das Evangelium das Bittgebet.“ (B AYER, Promissio, S. 157) 103 In den Dictata ist die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium noch ganz von der Antithetik von Buchstabe und Geist her begriffen. Analog dazu können Gesetz und Evangelium als äußeres und inneres Wort ausgelegt werden (z. B. WA 55/II 653,252ff.). Stärker im Sinne augustinischer Gnadenlehre (WA 56 256,29ff. und 264,5ff.) kann diese Unterscheidung in der Römerbriefvorlesung bezogen werden auf Vorschrift und Gabe der Liebe (WA 56 338,14ff.). Dabei liegt die Pointe eben noch nicht auf der Wirksamkeit des Gotteswortes, sondern auf der geistlichen Aneignung in Selbstgericht und Glaube („Evangelium, si non recipiatur, ut loquitur, similiter est Litera“. [WA 56 338,20-21]). Diese letztliche Einheit von Gesetz und Evangelium wird allein im Scholion zu 10,15 ansatzweise aufgesprengt: „Lex non nisi peccatum ostendit et reos facit ac sic conscientiam angustat, Evangelium autem angustatis eiusmodi optatum nunciat remedium.“ (WA 56 424,8-10) Gleichwohl zeigt der Kontext, dass auch hier noch die Wirksamkeit des Wortes durch die spirituelle Aneignung der Bußbewegung bedingt ist (vor allem WA 56 425,8-10). Vgl. dazu insgesamt K ROEGER, S. 69ff.; 126ff. und 158ff. Gleiches wie zum Scholion Röm 10,15 gilt auch für die Nachschriften des Galaterkommentars (WA 57 59,18ff.). 104 WA 1 616,25-26.

200

Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

rung des Menschen beschrieben. Der Fortschritt zu den bisherigen Erklärungsbemühungen dürfte vor allem darin bestehen, dass Luther beide Momente nun als göttliches Sprachhandeln betrachtet, durch die Gott selbst das menschliche Gottesverhältnis zu sich aufbaut und gestaltet. Vor allem verschiedene Formen der Furcht lassen sich als seine wesentliche Wirkung ausmachen: Das Gesetz bringe mit sich „malam conscientiam, inquietum cor, pavidum pectus“ 105. Diesen Verzweifelten begegne das Licht des Evangeliums mit dem Wort: „Nolite timere, consolamini, consolamini, popule meus“106. Dieser Verweis auf Christus könne das Gewissen trösten, der Schrecken vor Strafe, Tod und Hölle werde im Gewissen vom Vertrauen auf Christus abgelöst. Die Stimme des Mose bringe Furcht, die Stimme des Evangeliums dagegen Freude. 107 Dieser existenzielle Wandel ist auch hier die Pointe der neuen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Die Überwindung der Furcht durch den Glauben an das Evangelium ist die existenzielle Zuspitzung der neuen Einsicht Luthers. Die Furcht verliert darin jegliche soteriologische Relevanz, jede Vergewisserungsfunktion für den Glauben. Gleichwohl wird die Furcht nicht völlig beseitigt; ihr neuer Ort ist die Erfahrung des Gesetzes. Hier wird sie wesentliches Moment rechter Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder bleiben. 108 6.2.2.5 Fazit: sola fide Der Wandel Luthers in dieser Zeit vollzieht sich nicht nur in einer Neubestimmung von Wort und Glaube im Horizont der Frage nach Gewissheit des Heils. Untrennbar verbunden ist damit eine neue Problemlösung für den Umgang mit Furcht, den Luther in dieser Zeit offensichtlich findet.109 105 106 107 108

WA 1 616,28. WA 1 616,31 (Jes 35,4; 40,1). WA 1 616,34-38. Erst hier gewinnt die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ihre eigentliche Gestalt. Darum macht es Sinn, die in dieser Zeit entwickelte Rechtfertigungslehre von der „frühen Rechtfertigungslehre“ der Römerbriefvorlesung zu unterscheiden. Will man dort bereits das Wesentliche ansetzten, ist man zu der Konsequenz gezwungen, die LOHSE zieht, nämlich der Behauptung, dass Luther „seine neue Rechtfertigungslehre früher entwickelt hat als die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium“ (LOHSE, Theologie S. 284). Als nachträgliche Entfaltungsmöglichkeit einer auch unabhängig davon zu beschreibenden Rechtfertigung wird diese zentrale Unterscheidung jedoch unterbestimmt. 109 So überzeugend die Schilderung der Entwicklung Luthers bei KROEGER , grundsätzlich auch ist (KROEGER, S. 164-203), in der Frage des timor verkennt er m. E. den Umschwung, der sich bei Luther ereignet. Wenn KROEGER betont: „Die Furcht gehört zum Glauben, auch zum gewissen Glauben“ und: „so bleiben wohl Furcht und Glaube unlöslich zusammen“ (S. 180, Anm. 39), so übersieht er die völlig andere Zuordnung, die Luther in dieser Zeit vornimmt. Die Furcht bleibt wohl ein wesentliches Element des

6.2 Der Umbruch im Ablassstreit

201

Das neue Verständnis von Wort und Glauben ist nicht zu trennen von einem neuen Umgang mit Furcht, wie sich im veränderten Gebrauch der Stichworte Furcht, Gewissheit, Frieden und Ruhe zeigt. Klagte Luther im Brief an Bischof Albrecht noch, dass die Ablassprediger dem Volk die notwendige Furcht nähmen, so ist nun der Vorwurf, dass sie die falsche Furcht anheizten. So führt Luther auch im Streit mit Tetzel im Freiheit des Sermons von Ablass und Gnade aus: „Darumb ists zu besorgen, das, wer ablas sucht, nur suche die peyn zuflihen und alßo sich selb yn yhm selb liebe, und nit umb liebe, sundernn umb forcht willen gibt. Und yn die forcht wollen unßere ablaß predigere das volck treyben mit yhrem schrecken und großmachen der peyn und ablas“110.

Das ganze Wortfeld von Frieden, Ruhe und Gewissheit erfährt eine dramatische Umwertung. Bis 1517 war es weitgehend negativ besetzt, als Ausdruck der Sünde und Zeichen einer falschen Sicherheit. Bis in die 95 Thesen hinein ragt die Warnung vor dem falschen Frieden, wie im Brief an Albrecht die Kritik an der falschen Sicherheit das Hauptmotiv von Luthers Protest gegen die Ablasspraxis darstellt. In den Resolutiones begegnen neben dieser Sicht Frieden, Trost und Ruhe als Merkmale des gegenwärtigen Glaubens (und nicht nur als Gegenstand der Hoffnung). Die Ruhe tritt an die Stelle der unendlichen Bewegung der Buße, securitas wird positiv als Erfahrung des Glaubens begriffen, Frieden im Gewissen ist möglich und löst die Furcht als Stimmung der Selbstbeurteilung ab. Nicht mehr das Annehmen und Aushalten der Angst, sondern die Überwindung derselben im Glauben rückt ins Zentrum der Rechtfertigung. Dabei ist diese Erfahrung nicht nur eine mögliche Folge von Rechtfertigung, sondern zeigt allererst ihren wirklichen Vollzug an: Erst der gewisse Glaube ist Glaube. Im Zentrum dieses Umschwungs wird man die neue Relation von Wort und Glauben sehen müssen. Bahnt sich in den Erläuterungen zu den Thesen 14-19 schon die neue Rolle des Glaubens an, so sind die Ausführungen zu These 7 und These 38 die Textzusammenhänge, wo Luther die Zuordnung entwickelt, die fortan das Herzstück seiner Rechtfertigungslehre ausmachen wird. Das gewisse, äußere Wort wird zum konkreten Grund und Anhaltspunkt des Vertrauens. In diesem konkreten Datum gewinnt der Mensch die Instanz, die letztgültig im Namen Gottes das menschliche Sein vor Gott neu bestimmt. Diesen Wandel sollte man m. E. nicht nur als eine bloße Präzisierung der bisherigen Rechtfertigungslehre beschreiben. So stellt Ulrich Barth 111 Gottesverhältnisses, ist nun aber der Gesetzeserfahrung zugeordnet, die im Glauben an das Evangelium je und je überwunden wird. 110 WA 1 389,21-25. 111 B ARTH, U LRICH: Die Dialektik des Offenbarungsgedankens. Luthers Theologia crucis, in: Ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004. S. 97-123.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

in Auseinandersetzung mit Oswald Bayer fest: „Der Glaube, der das Wort ergreift, ist der ganze Heilsbesitz, das ist die neue Einsicht jener Zeit. Die Konzentration auf den Glaubensbegriff bedeutet darüber hinaus keinen Bruch, sondern lässt sich ohne weiteres als neuer Explikationsfortschritt in den Gesamtprozess von Luthers reformatorischer Entwicklung von 1513/14 bis 1521/22 organisch einordnen.“112 Dass das sola fide den entscheidenden Gewinn des Winters 1517/1518 ausmacht, ist richtig. Gerade dann aber ist es doch zu wenig, lediglich von einem Explikationsfortschritt zu reden.113 Hier geschieht nicht nur eine mehr oder weniger logische Ausformulierung des Bisherigen. Schon der innerreformatorische Vergleich zeigt schnell, dass so mancher sich die Gnadentheologie der Römerbriefvorlesung, aber eben nicht die Worttheologie der Folgezeit zu eigen machen konnte (z. B. Karlstadt). Luthers Theologie verändert sich in ihrem Gefüge insgesamt, sie erhält nun erst ihren zentralen Begriff. 114 Umgekehrt sollte dieser einschneidende Wandel nicht in dem Sinne zugespitzt werden, als verhielte sich die neue Theologie zur alten wie eine Antwort zur Frage bzw. wie Gelingen zum Scheitern. Der wesentliche Einschnitt kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese neu formulierte Betonung der Gegebenheitsweise des Heils aufbaut auf der soteriologischen Basis, wie sie durch die Stichworte iustitia aliena, extra nos, simul iustus et peccator, usw. konstituiert war. Das sola fide ist nicht einfach eine notwendige Konsequenz dieser Basis. Bei aller Neuheit aber lässt sich die Konzentration auf Wort und Glaube zugleich auch als Vollendung des bisherigen Weges begreifen. 115 Lässt sich dieser Umschwung innerhalb der Resolutiones und damit inmitten des Ablassstreites erklären? Vor dieser Kontroverse hatte Luther 112 113

Ebd., S. 101. Vgl. in diesem Sinne ZUR MÜHLEN: „Was sich 1518 in der Auseinandersetzung mit der römischen Lehre von den Gnadenmitteln ereignet, ist u. E. nicht die sogenannte reformatorische Wende, sondern deren notwendige Folge“. ( ZUR MÜHLEN, Nos, S. 184) 114 Berechtigt ist dagegen U LRICH B ARTHS Warnung, im Blick auf den jungen Luther allzu kräftig von einer vorreformatorischen Demutstheologie zu reden. Gerade der Vergleich mit der Scholastik offenbart, dass Luther in der Gnadentheologie des Römerbriefs das Möglichkeitsspektrum vorreformatorischer Theologie gesprengt hat. Die bloße Zweiteilung von Luthers Theologie auf eine vorreformatorische und eine reformatorische Phase wird der Komplexität seiner Entwicklung nicht gerecht. 115 Vgl. die überzeugende Verhältnisbestimmung bei K ROEGER : „Der durch den Ablasskampf bedingte Wandel ist tiefgreifend und reicht bis an die Wurzeln der Theologie Luthers, weil Glaube, Wort und Evangelium neu begriffen wurden. Aber die Voraussetzung der hier gelösten Probleme ist von Anfang an der sichere Begriff von iustitia dei als der dem Menschen rein und ohne satisfaktorische Bedingung geschenkten Gerechtigkeit. Diese von allem Anfang an im Ablasshandel sicher erkannte und bewährte Voraussetzung wurde im neuen Verständnis von Glaube, Wort und Gesetz erneut reflektiert und rein erhalten, sicherer verstanden und zugänglich gemacht.“ (KROEGER, S. 183)

6.2 Der Umbruch im Ablassstreit

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einen Standpunkt erreicht, der ihn zum entschiedenen Gegner des Ablasses machen musste. Der Konflikt als solcher nötigte ihn umso mehr, sich in neuer Weise seiner Haltung zu vergewissern. Schon von daher bekommt die Frage der Gewissheit ein ganz neues Gewicht. Von den theologischen Autoritäten seiner Zeit und zunehmend auch vom päpstlichen Lehramt werden seine Einsichten verstärkt mit Geltungsansprüchen konfrontiert. Die Auseinandersetzung um den Ablass rückt mit dieser Geltungsdimension notgedrungen auch das Moment von subjektiver Gewissheit ins Zentrum. Dieser äußere Umstand wird sicher eine Rolle spielen bei der Frage, warum für Luther im Frühjahr 1518 Gewissheit einen zunehmend entscheidenden Stellenwert erhält. Die Rechtfertigungslehre wird in diesem Prozess in neuer Weise auf das Verhältnis von Wort und Glauben konzentriert. Insbesondere die paulinische Theologie und wohl eine abermalige Wahrnehmung des Kontextes von Röm 1,17 führen dazu, dass Glaube in neuer Weise zentraler Begriff des Rechtfertigungsgeschehens wird. Die Konzentration auf Wort und Glaube ermöglicht es Luther, die Fragen nach der Gewissheit des Glaubens und der hinter dem Ablass stehenden Furchtproblem positiv zu beantworten. Der Ablass ist nun nicht mehr nur als falsche Sicherheit und verkehrte Vertröstung abzulehnen, weil die Furcht in Demut anzunehmen ist; vielmehr ist dem Ablass nun auch die wahre Sicherheit und der wirkliche Trost entgegen zu halten, wie es der sich an das Wort Christi haltende Glaube mit sich bringt. An die Seite des sola gratia der frühen Rechtfertigungslehre tritt nun das sola fide und begründet damit überhaupt erst die Reifeform der Rechtfertigungslehre. Dass der Glaube allein den heilvollen Vollzug des Gottesverhältnisses ausmacht, und dass Gott dieses Verhältnis solo verbo durch das Evangelium aufbaut, das ist der Durchbruch, der erst in diesen Monaten erzielt wird. Weil der Glaube sich ganz dem Evangelium verdankt, welches allein als Zuspruch der Sündenvergebung zu denken ist und vom Gesetz kategorial unterschieden werden muss, ist es die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die der Rechtfertigung erst ihre letzte Präzision gibt. Nur mittels der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium lässt sich die Rechtfertigung in solcher Weise formulieren, dass Glaube nicht mit anderen Weisen religiöser Aneignung verwechselbar ist, und seien dies Buße, Reue, Demut, Gottesliebe oder eben Furcht. Dass dieser Durchbruch in den Resolutiones geschehen ist, bestätigt die These, dass Luther in der Umgestaltung des Bußsakraments seinen neuen Glaubensbegriff ausbildet. Es genügt dabei nicht, hier nur ein bestimmtes Element zu betonen, was neu hinzugekommen oder präzisiert worden ist. Es greift zu kurz, hier lediglich etwas zum bisherigen Denken zu addieren, und sei es die Entdeckung des Wortes als Heilsmittel bzw. als promissio, die Entdeckung des rechtfertigenden Glaubens oder die Heilsgewissheit.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

Solche Punktualisierungen der reformatorischen Rechtfertigungslehre bleiben sämtlich unbefriedigend, weil sie den Zusammenhang der zur Verhandlung stehenden Momente nicht hinreichend würdigen. Nicht ein Element ist hinzugetreten, die Konstellation von Luthers Denken hat sich insgesamt gewandelt. Alle genannten Elemente sind Teil eines neuen Zusammenhangs, und der Gesichtspunkt der Angst erlaubte es, die neue Konstellation in einer für Luther existenziell zentralen Frage zu demonstrieren. Der Zusammenhang von Christus, Wort und Glaube ist neu begriffen, was sich am veränderten Umgang mit Furcht, Gewissheit, Frieden und Trost erweisen lässt. Es spricht nichts dagegen, dass diese Konstellation sich gemäß der späten Berichte Luthers im Nachdenken über die Gerechtigkeit Gottes nach Röm 1,17 erschlossen hat. 116 Dass die Gerechtigkeit Gottes ein Heilsbegriff ist, ist Luther freilich seit den Dictata bekannt; dass jedoch die Aneignung dieser Gerechtigkeit allein durch den Glauben an das äußere Wort des Evangeliums geschieht und von diesem selbst gewirkt ist, dieser Zusammenhang ist das Neue, das in der ersten Jahreshälfte 1518 zur zentralen Einsicht wird.

6.3 Furcht in der Hebräerbriefvorlesung 6.3 Furcht in der Hebräerbriefvorlesung

Diese neue Sicht im Verhältnis von Glaube, Wort und Furcht ist nun auch in der teilweise gleichzeitig gehaltenen Hebräerbriefvorlesung117 nachzu-

116 Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem die Sermone über die dreifache und doppelte Gerechtigkeit (WA 2 43-47 = LDStA 2, S. 53-65 und WA 2 145-153 = LDStA 2, S. 67-85) sowie das Zitat von Röm 1,17 als Zusammenfassung der Thesenreihe Pro veritate (WA 1 633,12 =LDStA 2, S. 32,10). 117 Die Datierung der Hebräerbriefvorlesung ist umstritten. Traditionell vermutete man ihren Beginn Sommer 1517 (Vgl. WA 57). Auch KROEGER vertritt diese Datierung (KROEGER, S. 176-180) und sieht den Text des Scholions Hebr 5,1 als Grundlage der neuen Glaubensanschauung Luthers an. O SWALD B AYER setzte den Beginn dagegen auf Winter 1517/1518 (Zustimmung vorsichtig bei BRECHT I, S. 130; siehe vor allem auch SCHWAB, S. 109-111, der sich an B AYER anschließt; so auch BELL, S. 103). Wurde der Beginn der Operationes in Psalmos noch in WA 5 auf das Sommersemester 1518 gesetzt, so wird in der Neuveröffentlichung ein Beginn Jahresanfang 1519 für wahrscheinlich gehalten. (Vgl. LUTHER, MARTIN: Operationes in Psalmos 1519-1521. Teil I. Historischtheologische Einleitung von Gerhard Hammer. Mit der Neuedition des Vatikanischen Fragments, Ps 4 und 5 von 1516[17?], bearbeitet von Horst J. Eduard Beintker (AWA 1), Köln Wien 1991. S. 109/110.) Demnach kann die Hebräerbriefvorlesung durchaus Wintersemester 1517/1518 und Sommersemester 1518 angesetzt werden. Dann ist der Kommentar von Anfang an vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um den Ablass zu verstehen. Hauptgrund für die spätere Ansetzung der Hebräerbriefvorlesung ist der Vergleich des Scholions Hebr 5,1 mit den Resolutionen zu den Thesen 7 und 38. Es ist

6.3 Furcht in der Hebräerbriefvorlesung

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zeichnen. Die große Bedeutung dieses Textes wurde seit seiner Entdeckung stets erkannt. Schon die ältere Forschung betonte die neue Zentralstellung des Glaubens in dieser Auslegung.118 Dadurch, dass der Glaube allein der völlige Heilsbesitz ist, gewinnt er eine neue Zentralstellung. Inhaltlich ist zudem entscheidend, dass dieser Glaube immer eindeutiger durch die Verbindung mit Gewissheit erläutert wird. Für unseren Zusammenhang ist wesentlich: Diese Entwicklung des neuen Glaubensverständnisses ist wiederum nur unter Berücksichtigung des Angstproblems zu begreifen. Gerade im Umgang mit Angst zeigen sich gravierende Einschnitte, die den Wandel offenkundig machen können. Zunächst finden wir in der Auslegung von Hebr 2,14-15 Furcht und Glaube eng aufeinander bezogen. 119 Im Scholion zu Hebr 2,14 wird zunächst die Überwindung des Todes durch das Heilswerk Christi herausgestellt. Luther beruft sich dabei auf die Moralia Gregors, zur Stelle selbst wird vor allem der Kommentar von Chrysostomus herangezogen. Eine Fülle biblischer Motive unterstreicht die Todesüberwindung durch Christus. Dabei wird der Tod zusammengestellt mit Gesetz und Sünde, die Christus überwunden habe. Dieser Auslegung lässt Luther ein corollarium folgen, das in besonderer Weise das Verhältnis von Glaube und Todesfurcht im Leben des Christen auslotet. Glaube und Angst werden als Gegensätze einander gegenübergestellt. Thetisch stellt Luther an den Beginn seiner Ausführung: Wer den Tod fürchtet, erweist darin seinen Mangel an Glauben an Christus. Zwischen beiden Größen besteht ein Konvex-konkav-Verhältnis der wechselseitigen Ausschließung. Die Todesfurcht werde desto größer, je schwächer der Glaube sei und umgekehrt: „Quanto levius creditur, tanto magis mors timetur, et quanto robustius creditur, tanto confidencius mors contemnitur.“ 120

nicht plausibel, dass Luther im Herbst 1517 eine so stringente Fassung des Gedankens vortragen kann, die er Anfang 1518 noch mühsam zu entwickeln scheint. 118 Vgl. den Überblick über die ältere Forschung summarisch bei KROEGER , S. 172. So heißt es bei VOGELSANG (im Anschluss an H IRSCH) schon 1929: „Zum ersten Mal in Luthers Schrifttum tritt uns hier der Glaube als der alles zur Einheit zusammenspannende, vollgültige Ausdruck des Gottesverhältnisses entgegen.“ (VOGELSANG, ERICH: Die Bedeutung der neuveröffentlichten Hebräerbrief-Vorlesung Luthers von 1517/18. Ein Beitrag zur Frage: Humanismus und Reformation [SGVSThR 143], Tübingen 1930. S. 15.) 119 Weder O SWALD B AYER noch M ATTHIAS K ROEGER haben die Auslegung dieses Scholions ausführlich berücksichtigt. Nach KROEGER wird Glaube in den Scholien zu den ersten Hebräerkapiteln noch als Einheit und Einssein mit Christus verstanden (K ROEGER, S. 184). Der Wandel im Verhältnis zur Furcht kommt dabei nicht zur Geltung. 120 WA 57 131,20-22. Besonders interessant ist der Vergleich mit These 14 der Resolutiones: dort ist ein solches Wechselverhältnis noch zwischen Furcht und Liebe beschrieben! Selbst unter der Voraussetzung einer Spätdatierung der Hebräerbriefvorlesung

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

Der Tod bekommt durch das Gewissensbewusstsein der Sünde seine erschreckende Macht. Nun wird dieser Furcht keine positive Bedeutung mehr zugeschrieben. So heißt es zu Hebr 2,10, dass Gott nicht mittels der Angst zum Heil zwinge, sondern vielmehr durch seine Liebe dahin ziehe: „Non enim vi et timore cogit Deus ad salutem, sed dulci isto spectaculo misericordie et charitatis suae movet et trahit per amorem, quotquot salvabit.“ 121 Vielmehr sei es der Glaube an Christus, der diese Furcht überwinde. Luther geht noch einen Schritt weiter. Gott offenbare allererst Tod, Gericht und Hölle, um daran die Kraft des Glaubens zu erweisen. Diese Gewalten begreift Luther nun als eine Übung, durch die der Glaube ‚stark wie der Tod und fest wie die Hölle‘ (Hld 8,6) werden soll. 122 Zugleich macht Luther aus der Furchtlosigkeit gegenüber dem Tod kein Gesetz: „desperandum non est de timentibus mortem.“123 Auch die starken Heiligen seien erschrocken vor dem Tode und dem Gericht Gottes, wie Luther an Psalmstellen erweist. Der Unterschied etwa zu P I ist handgreiflich: Solche Furcht vor Gericht, Tod und Hölle ist nicht mehr als Zeichen des Heils notwendig; sie ist den Schwachen zuzugestehen, die im Glauben nicht recht gefestigt sind. Die Wertigkeit dieses Phänomens hat sich eklatant verschoben. Diese Zuspitzung lässt sich in der Römerbriefvorlesung auch schon finden, steht dort aber stets in der Spannung zur Betonung der Furcht als Heilszeichen. Solcher Anfechtung sei mit Trost zu begegnen, dass Christus nicht nur den Tod überwunden habe, sondern auch die Angst vor dem Tode auf sich genommen habe. Dadurch habe er die Todesangst überwunden und geheiligt. Deshalb müssten wir diese Angst nicht schmähen, dass sie zur Verdammnis führt. 124 Daher könne der Angefochtene auch getröstet werden mit einer Reihe von biblischen Belegen, die die Überwindung des Unheils mit der Ermutigung zur Furchtlosigkeit verbinden. Den folgenden Vers Hebr 2,15 legt Luther in Auseinandersetzung mit Chrysostomus aus. Die Todesfurcht versteht Luther dabei als einen Geist der Knechtschaft, durch den die Menschen immer tiefer in den Hass gegen das Gesetz getrieben werden. 125 Luther greift damit zurück auf seine Einzeigt sich diese Ausführung als besonders weit entwickelt, da die Auslegung von Hebr 2 noch auf jeden Fall im Jahr 1517 angenommen werden muss. 121 WA 57 125,11-13. 122 WA 57 132,4-5. 123 WA 57 132,22. 124 Vgl. WA 57 133,9ff. Christus hat den Tod für uns auf sich genommen, „verum eciam propter pusillos in fide ipsum timorem mortis in se suscepit, superavit atque sanctificavitt, ut non esset nobis repudiabilis in damnacionem talis timor. Alioquin vere peccatum est nolle mori et timere mortem.“ (WA 57 133,12-15) 125 „Hic est enim spiritus servitutis, qui semper facit peiores, quia magis facit osores legis et iusticie.“ (WA 57 135,4-5)

6.3 Furcht in der Hebräerbriefvorlesung

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sichten aus der Auslegung von Röm 8,15, wie die Formulierung spiritus servitutis zeigt. In der Römerbriefvorlesung betonte Luther zunächst die Allgemeinheit dieser Furcht. Die vom Text angedeutete Überwindung legte er aus mit dem Gedanken der Konformität mit Christus, in die uns der Geist zu versetzen vermag und die darin besteht, dass wir wollen und lieben, was Gott will und liebt. Im Hebräerscholion ist von dieser aus der radikalen Bußanschauung kommenden Überlegung nichts mehr zu finden. Dagegen heißt es nun positiver: „Igitur Christus, dum abstulit timorem mortis, liberavit nos a servitute peccati et per idem destruxit eum, cui non nisi per timorem mortis subiecti eramus.“ 126

Die Überwindung der Furcht bildet den Zielgedanken dieser Ausführung. Sei es Tod oder Teufel, der Christ habe sie nicht mehr zu fürchten. Generell betont Luther: „Concludo igitur Christiano nihil esse ulteruis formindandum neque in hac neque in futura vita, quandoquidem et mors et omnia mala conversa sunt illi in bonum et lucrum.“ 127

Die Überwindung dieser Furcht bleibt dabei noch etwas unbestimmt und wird allgemein der Erlösung durch Christus zugeschrieben. Die Art und Weise der persönlichen Aneignung bleibt unklar. Allein in der Auslegung zu Hebr 2,14 hat Luther bereits angegeben, worin diese Überwindung der Furcht sich ereignet: Der Glaube ist Gegenbegriff der Furcht, er vermag sie zu überwinden. Damit ist noch nicht die Worttheologie des Frühjahrs 1518 erreicht, wohl aber ihr existenzieller Ertrag schon vorformuliert. Vorbereitet ist damit zugleich die neue Stellung des Glaubens, wie sie im berühmten Scholion von Hebr 5,1 ausgeführt wird. Vor allem dem Scholion zu Hebr 5,1 wurde zu Recht in der Forschung großes Gewicht beigemessen. An dieser Stelle formulierte Luther in großer Klarheit die Grundzüge eines Glaubensverständnisses 128, wie es in Luthers Rechtfertigungsauffassung gültig blieb. Die Forschung hat sich dabei vor allem auf das thetisch zuspitzende zweite Scholion konzentriert, in dem wie in einem Brennspiegel die für Luther in den nächsten Monaten entscheidenden Gedanken versammelt sind. Es lohnt sich jedoch, die Thematik von Beginn der Auslegung des 5. Kapitels an im Blick zu haben.

126 127

WA 57 135,5-8. WA 57 135,11-14. In diesem Sinne betont Luther in der Scholie zu 11,4: „Per haec autem nos omnes exhortamur ad mortem non modo non timendam, sed optandam“. (WA 57 232,1-2) 128 Vgl. zur Schlüsselbedeutung des Glaubensverständnisses in der Hebräerbriefvorlesung auch HAGEN, KENNETH: A Theology of Testament in the Young Luther. The Lectures on Hebrew (SMRT 12), Leiden 1974. Siehe vor allem S. 71-90.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

Die Auslegung zu Hebr 4,14 zeigt den existenziellen Horizont, vor dem Luther die Rede vom Hohepriester Christus (Hebr 5) begriffen sehen möchte. Christus ist die Zuflucht für all diejenigen, die von der Furcht des ewigen Gerichts erschrocken sind: „His enim, qui territi sunt a timore eterni illius iudicii et horrende incisionis et divisionis, non est reliquum refugium nisi unicum illud asilum, quod est Christus“129.

Mit einer Reihe von biblischen Trostsprüchen (Ps 91,4; Mal 4,2; Mt 23,37; Ps 63,8; Ps 27,5; Spr 30,24; Hld 2,14) unterstreicht Luther diese Behauptung. Abschließend fasst er zusammen. Der Apostel zeige Christus in diesem Kapitel nicht als Herrn und Richter, sondern als Hohepriester („magis pontificem quam dominum ac iudicem“ 130). Die Christusverkündigung hat dabei vor allem ein Ziel: den Trost der Geängstigten.131 Diese Oppositionsbildung von Furcht und Glaube markiert den existenziellen Zusammenhang, in dem die neue Worttheologie sich entfaltet. Diese thematische Zuspitzung auf den Furcht/Glaube-Gegensatz wird auch in der beginnenden Auslegung von Kapitel 5 sogleich wieder aufgenommen. Im ersten Scholion zu 5,1 wird zunächst noch einmal Hebr 4,16 aufgegriffen. Im Zitat der Aussage, dass wir mit Zuversicht zum Thron der Gnade hinzutreten, verdeutlicht Luther durch eine Oppositionsbildung zu cum fiducia, wie er diese Zuversicht verstanden wissen will: „ideo cum fiducia et sine timore adeamus thronum gratiae.“ 132 Die Hinzufügung des sine timore in das Zitat von Hebr 4,16 unterstreicht den hohen Wert, den dieser Gedanke für Luther besitzt. Das Vertrauen auf Christus als Hohepriester steht im Gegensatz zur Furcht. Die weitere Auslegung unterstreicht, dass dies für Luther ein wesentliches Moment des an Christus ablesbaren priesterlichen Dienstes überhaupt ist. Christus habe die Sünden der Menschen auf sich genommen, Vergebung und Erbarmen gebracht. Durch dieses „Bewahren“ (nach Jes 27,2) habe er nichts anderes getan, als durch sein Erscheinen die zitternden Gewissen zu stärken. 133 Dies und nichts anderes sei der Sinn des priesterlichen Dienstes; an diesem Anspruch zeige sich denn auch das Versagen des gegenwärtigen Klerus. Nach dieser kritischen Bilanz setzt Luther in einem zweiten Scholion zu Hebr 5,1 zur Entfaltung der Position des Apostels an. Aus diesem vielfach ausgewerteten Zusammenhang 134 ist für unsere Zwecke Folgendes festzu129 130 131 132 133

WA 57 164,14-16. WA 57 165,10-11. „Ut consoletur pavefactos.“ (WA 57 165,11) WA 57 165,16. „Istud autem servare non est aliud quam ostensione sui conscienciam trepidam confirmare.“ (WA 57 166,25-26) 134 Für M ATTHIAS K ROEGER vollzieht sich hier der eigentliche Umbruch (KROEGER, S. 165-171). Nach OSWALD B AYER spiegelt sich hier der wesentliche Fortschritt, den

6.3 Furcht in der Hebräerbriefvorlesung

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halten: Die gedankliche Straffung im Vergleich zum Stand der Resolutiones ist auffällig. Luther verzichtet an dieser Stelle völlig darauf, die Aneignung des Heils mit der radikalen Bewegung der Buße in Verbindung zu bringen. Vielmehr ist das schon in der Römerbriefvorlesung aufgegriffene Bernhardzitat Ausgangspunkt der Überlegung. Es reiche nicht, allgemein die Vergebung der Sünden durch Gott zu glauben. Entscheidend sei, dass der Mensch glaube, ihm selbst seien die Sünden gewiss vergeben. Gestützt wird diese Zuspitzung auf die individuelle Glaubensgewissheit durch zwei Grundsätze, die in den Resolutiones noch an verschiedener Stelle stehen: der allgemeine Grundsatz, dass nicht das Sakrament, sondern der Glaube an das Sakrament rechtfertige, und der Gedanke Augustins, dass dieses nicht durch seinen Vollzug rechtfertige, sondern dadurch, dass es geglaubt werde. 135 In der Folgezeit wird Luther diese beiden Grundsätze wieder und wieder zusammenstellen und als entscheidenden Beleg anführen, dass dem Glauben allein die Rechtfertigung zukomme.136 Der Glaube ist der ganze Heilsbesitz: Dieser Grundsatz wird immer deutlicher die Lösung der Bußproblematik. Darum wird diese Position abgegrenzt gegenüber dem ockhamistischen Bußverständnis, das die Wirkung der Gnade ganz in das Sakrament verlegt, solange diesem kein Riegel (sprich: eine Todsünde) vorgeschoben werde. „Falsissimum est hoc.“137 Denn in dieser vermeintlich großzügigen Regelung wird der Grundsatz zu Luther in den Resolutiones zu den 95 Thesen erreicht hat. Vgl. B AYER, Promissio, S. 206-212. Die große Bedeutung der Interpretation des Bernhardzitats ist bei T HEO BELL beschrieben (B ELL, S. 99-107). Zur Gliederung siehe B AYER, Promissio, S. 206. Zum Zusammenhang mit anderen Texten aus dem Frühjahr 1518 vgl. auch die Übersicht bei SCHWAB, S.112-113. 135 Vgl. den ersten Grundsatz in den Resolutiones zu These 7: „Cum sit impossibile sacramentum conferri salubriter nisi iam credentibus et iustis et dignis (Oportet enim accedentem credere, deine non sacramentum sed fides sacramenti iustificat)“. (WA 1 544,39-41) Der auf Augustin zurückgeführte Gedanke wird dagegen zu These 38 formuliert: „Atque sic intelligo, quod nostri doctores dicunt, sacramenta esse efficatia gratiae signa, non quia fit (ut B. Augustinus), sed quia creditur“. (WA 1 595,5-7) 136 Das ist ein wesentlicher Grund, von der traditionellen Datierung der Hebräerbriefvorlesung abzugehen. Die Zusammenfügung der beiden Grundsätze zeigt sich etwa im Sermo de poenitentia: „Verissimum est enim dictum illud commune: non sacramentum, sed fides sacramenti iustificat. Et B. Augustinus: Abluit sacramentum. Non quia fit, sed quia creditur. Quod si sacramentum non iustificat, sed fides sacramenti.“ (WA 1 324,16f). Vgl. In Pro veritate: „Verum est enim, quod non sacramentum fidei, sed fides sacramenti (id est, non quia fit, sed quia creditur) iustificat.“ (WA 1 631,7-8) sowie in den Asterisci gegen Eck: „Fides autem est gratia. Ideo gratia semper praecedit sacramentum iuxta dictum illud comunissimum, Non sacramentum, sed fides sacramenti iustificat. Et B. Augustinus: Non quia fit, sed quia creditur.“ (WA 1 286,16-19) 137 WA 57 170,8. Wie in der Problemgeschichte gesehen, nimmt Luther hier Scotus durch die Brille Biels und damit wohl verkürzt wahr. Getroffen wird allenfalls ein Bußverständnis im Sinne des Johannes von Paltz.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

Ende gedacht, dass die Bedingung der Heilsaneignung auf Seiten des Menschen zu suchen ist; und sei es in einer so minimalen Bedingung. Die Polemik gegen diese minimalistische Bußlehre durchzieht ebenfalls die Texte der kommenden Monate. 138 Nach der polemischen Abgrenzung wird die Position biblisch untermauert und entfaltet: Allen voran erweise Apg 15,9, dass der Glaube allein die Reinigung des Herzens bewirke.139 So zeige sich dies auch in der Taufpraxis, sei es in der Frage des Philippus nach dem Glauben des Kämmerers, sei es im heutigen Bekenntnis des Glaubens durch den Paten. Abschließend wird der Glaube allein als dasjenige beschrieben, was den Menschen rein und würdig macht; und zwar der Glaube, der sich auf das Wort Christi stützt, wie es durch Mt 11,28 repräsentiert wird. Diese unterstrichene Formulierung ist Zuspitzung und Höhepunkt des gesamten Gedankengangs: „Hec sola fides facit eos puros et dignos, que non nititur in operibus illis, sed in purissimo, piissimo verbo Christi“ 140. Diese Formulierung zieht sich ebenfalls wie ein roter Faden durch das erste Halbjahr 1518.141 Luther hat darin einen gültigen Ausdruck seines zentralen Anliegens gesehen. Der Glaube wird als unbedingtes Korrelat der Zusage Christi gefasst. Er ist nicht mehr eine Haltung der Überlassung und der unbedingten Anerkennung des göttlichen Gerichts, er stützt sich auf dieses Wort, ist „presumpcio[ne] istorum verborum“142. Der Zuspruch des Wortes als promissio ist es, der Glaube schafft und begründet. Aus dem Verbund der unterschiedlichen Begriffe wie Demut, Glaube, Furcht etc. ist es nun allein der Glaube, der die Rechtfertigung empfängt.143 138 In den Resolutiones vgl. WA 1 544,37-38. Der Zusammenhang ist hier ebenfalls weniger glatt und ausgereift als im Hebräerscholion und den folgenden Texten. Vgl. ferner zur Kritik der laxen Buße: Sermo de poenitentia (WA 1 324,8ff.), den Sermo de digna praeparatione (WA 1 330,36f.), und die Asterisci gegen Eck (WA 1 286,25ff.) 139 WA 57 170,10. Die Berufung auf Apg 15,9 findet sich so auch in den Thesen Pro veritate (WA 1 631,11-12) und im Sermo de digna praeparatione, hier ganz zugespitzt auf die Rechtfertigung durch den Glauben: „Fides enim est que iustificat, purificat, dignificat, Ut Actu: 15. Fide purificans corda eorum“. (WA 1 331,16-17) 140 WA 57 171,4-6. 141 Vgl. zunächst den sermo de digna praeparatione: „Hec itaque fides sola et summa ac proxima dispositio facit vere puros et dignos, quia non nititur in operibus aut viribus nostris, sed in purissimo, piissimo firmissimoque verbo Christi“. (WA 1 331,11) Entsprechend aber auch im Anhang an die kurze lateinische Fassung des Beichtspiegels mittels der 10 Gebote, wie er wohl für die Fastenzeit 1518 von Luther herausgegeben wurde: „Sed si credant et confidant sese gratiam ibi consequuturos, haec sola fides eos facit puros et dignos, quae non nititur operibus, sed purissimo, piissimo firmissimoque verbo Christi“. (WA 1 264,13f.) 142 WA 57 171,7-8. 143 Vgl. die Zusammenfassung bei B AYER: „Der Glaube ist hier also als die Haltung reinen Empfangens verstanden.“ (BAYER, Promissio, S. 207) MATTHIAS KROEGER sieht

6.3 Furcht in der Hebräerbriefvorlesung

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Das Scholion zu Hebr 5,1 ist Zusammenfassung eines Rechtfertigungsverständnisses, das in den Resolutiones angebahnt ist und nun seine letzte begriffliche Durchdringung erfährt. So wie diese Zuspitzung aus der Thematik der Furchtüberwindung hervorgegangen ist, findet sie in diesem Horizont immer wieder ihre letzte Zuspitzung. 144 Dies erweist die Auslegung zu Hebr 9,14. Hier wird abermals das neue Glaubensverständnis auf die Überwindung der Furcht bezogen. Ausgangspunkt ist die Frage, was die Reinigung des Gewissens durch das Blut Christi bedeute. Unter der Reinheit des Gewissens versteht Luther sowohl die Freiheit von Gewisin dieser Auslegung den eigentlichen Durchbruch in Luthers theologischer Entwicklung. Hier „ist Glaube zum ersten Mal in Luthers theologischer Entwicklung im strengen und vollen Sinn als fester und gewisser Glaube an das mir zusagende Wort beschrieben.“ (KROEGER, S. 168) Im Vergleich zur Römerbriefvorlesung sei neu, „dass der rechtfertigende Glaube nicht mehr vor allem Glaube und Bekenntnis der Sünde, sondern gewisser Glaube an das zusagende Wort, dass der Unwürdige als solcher wirklich würdig ist, die Gnade gewiss erlangt und so die Rechtfertigung in einem frohen und wissenden Gewissen gegenwärtig wird.“ (S. 188) Luthers Kritik in dieser Scholie „möchte ich verstehen als die Kritik an der Gewissheitsbegründung durch Selbstbeobachtung“. (S. 168, Anm. 6) „Die theologische Bedeutung der Scholie besteht darin, dass mit der Entdeckung des ‚Wortes‘ der Glaube von der […] ihn immer bedrohenden Selbstbelastung befreit wird.“ (S. 169). Darin würde die „ganze Belastung des Selbstzweifels“ (Ebd.) überwunden. Dort „hatte der Glaube die unendliche Last des sich selbst wegwerfenden Zweifels zu tragen.“ (Ebd.) 144 K ROEGER betont dagegen, dass die Bedeutung des Glaubens als gewisser Glaube sich Luther von der Sakramentsproblematik her erschlossen habe. Grund sei nicht „das subjektive Bedürfnis der eigenen Gewissheit“ (KROEGER, S. 170) gewesen. Die neue Auffassung sei durch den „Zwang entstanden, dem Menschen die Gewissheit zu geben, wann und wie er würdig sei, vor die Heiligkeit im Sakrament zu treten.“ (Ebd.) Hier hätte nicht „abschreckende Ungewissheit“ (Ebd.) geholfen. Getrieben hätte Luther „die Notwendigkeit, die Gnade im Sakrament dem Menschen ohne falsche securitas zu ermöglichen. Denn nur als Sakramentsproblem hat Luther, wie die Scholie zeigt, das Gewissheitsproblem angepackt.“ (S. 171) Demgegenüber ist jedoch eher mit O SWALD B AYER ein Primat der existenziellen Gewissheitsproblematik anzunehmen. Bayer sieht in der Hebräerscholie zu Hebr 5,1 das zentrale Thema der Heilsgewissheit im Zentrum. Die Verknüpfung der Gewissheitsfrage mit dem Sakramentsthema stellt „gegenüber der früheren Theologie ein Novum dar“. (S. 208) Der Sakramentsbegriff sei jedoch noch widersprüchlich und nicht völlig geklärt. Auf der einen Seite ist das Sakrament betont, auf der anderen Seite der allein rechtfertigende Glaube. Zu Recht betont B AYER, dass es sich hier um eine Zwischenlösung handelt. Das Wort Mt 11,28 steht relativ unverbunden neben der Gnadenmitteilung im Sakrament. Das Sakrament konsequent als dieses Wort zu verstehen, dieser Schritt ist im Scholion zu Hebr 5,1 noch nicht in letzter Konsequenz vollzogen. Darum überzeugt auch nicht die Deutung K ROEGERS, Luther hätte hier das Gewissheitsproblem vom Sakramentsproblem her angegangen und insofern gelöst. (KROEGER, S. 170f.) Erst später wird Luther im Sakrament das Zeichen zunehmend vom Wort her verstehen. Die große Bewegung, die innerhalb des Sakramentsverständnisses in den Folgejahren zu beobachten ist, spricht für den Vorrang der existentiellen Gewissheitsproblematik im Sinne BAYERS.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

sensbissen über vergangene Sünden wie die Freiheit von der Angst vor künftigen Strafen. Denn vom bösen Gewissen gilt: „Sic enim conscientia mala inter peccatum praeteritum et vindictam futuram velut inter angustias, ut propheta ait, depraehenditur et tribulatur, sicut et Rom. 2. Apostolus dicit: ‚Tribulatio et angustia‘ etc.“145

Interessanterweise wird nicht die Sünde, sondern die Angst als Unreinheit des Gewissens verstanden146, analog zur uns oft begegneten Einschätzung, die Angst sei die eigentliche Strafe des Ungerechten. Für diese Angst gebe es nur eine Lösung, wie im Anschluss an den Text formuliert wird: „Nec ab his angustiis liberatur nisi per sanguinem Christi.“147 Die Reinigung des Gewissens durch das Blut Christi wird von Luther nun entschieden auf den Glauben hin ausgelegt. Erneut im Anschluss an Apg 15,9 spitzt Luther zu: „Ad hanc igitur munditiam nulla lex, nulla opera et prorsus nihil nisi unicus hic sanguis Christi facere potest, nec ipse quidem, nisi cor hominis crediderit eum esse effusum in remissionem peccatorem.“148

Der Glaube ist wiederum der Zielgedanke (und nicht das Blut Christi allein, wie es der Text ja nahe gelegt hätte). Luther unterstreicht dies durch Bezug zu den Einsetzungsworten, die er aus Mt 26,28 und Lk 22,20 kombiniert.149 Die Einsetzungsworte erscheinen hier als dictum probantium, als die Verheißung, auf die der Glaube sich stützt, und mit denen zur Einheit verbunden er den ganzen Heilsbesitz ausmacht. Der Glaube erweist sich auch hier als die entscheidende Entdeckung und Überwindung der Furcht. Darum kann das gute Gewissen ausgelegt werden als Vergebungsglaube: „Ex his sequitur, quod conscientia bona, munda, quieta iucunda est non nisi fides remissionis peccatorum“ 150. Nicht nur die Anerkennung des Heilswerks Christi, sondern die persönliche Aneignung macht den Glauben aus. So kann in freier Aufnahme des berühmten Bernhardzitats geschlossen werden: „Imo nec hoc satis est credere effusum esse in remissionem peccatorum, nisi in eorum ipsorum peccatorum remissionem effusum crediderint.“ 151

145 146

WA 57 207,18-20. Vgl. schon die Resolutiones: „Hic autem timor est ipsa conscientia mala et trepida propter defectum fidei.“ (WA 1 555,9-10) 147 WA 57 207,23. 148 WA 57 207,26-208,2. 149 Nur in dieser Kombination sind die für Luther entscheidenden Gedanken pro vobis und in remissionem peccatorem verbunden. 150 WA 57 208,22-24. 151 WA 57 208,29-209,2.

6.4 Die Leipziger Disputation

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6.4. Die Leipziger Disputation 6.4 Die Leipziger Disputation

6.4.1 Vertiefung der Ablassauseinandersetzung Im beginnenden römischen Prozess steht zunächst das Verständnis des Ablasses im Zentrum. Bekanntlich wird von Luthers Gegnern sehr bald die Frage nach der Geltung der kirchlichen Autorität aufgeworfen. Die Auseinandersetzung um seinen Umgang mit Furcht bzw. die Verhältnisbestimmung von Furcht und Glaube ist jedoch ebenfalls eine Thematik, die sich durch die Auseinandersetzung der Jahre 1518/1519 zieht. Dabei sind zunächst die Ablassthesen der Stein des Anstoßes; mehr und mehr werden es dann die Resolutiones und der Sermo de poenitentia sein. Für unseren Zusammenhang zeigt sich in der Leipziger Disputation 152 paradigmatisch, wie Luther sein neues Verständnis von Furcht und Glauben gegenüber der traditionellen scholastischen Theologie entfaltet. Schon in der Auseinandersetzung mit Prierias153 werden die Thesen 1419 Gegenstand der Diskussion. Prierias hatte vor allem unter Berufung auf Thomas bestritten, dass es den Seelen im Fegefeuer an Hoffnungsgewissheit auf Heil mangeln könne, wie ihre Bitte an die Kirche um Fürbitte zeige. Ferner sei in ihnen eine kindliche und nicht knechtische Furcht anzunehmen. Der Gesamtzusammenhang dieser Überlegungen wird von Luthers eigener Denkentwicklung her zunehmend problematisch. Das mag der Grund sein, dass Luther betont, hier mehr als sonst zu disputieren und nicht feste Meinungen aufzustellen. 154 Mehrfach verweist Luther in diesem Zusammenhang auf seinen Text in den Resolutiones, ein Zeichen, für wie bedeutsam er diesen hielt.155 Luther verteidigt seine Thesen, wobei er sich

152 Siehe zuletzt SCHUBERT, ANSELM : Libertas Disputandi. Luther und die Leipziger Disputation als akademisches Streitgespräch, ZThK 105 (2008) S. 411-442. Zum historischen Verlauf der Auseinandersetzung siehe die Darstellung bei BRECHT I, S. 285-307. Im Blick auf die theologische Auseinandersetzung vgl. auch den Überblick bei LOHSE, Luthers Theologie, S. 134-143. Nach wie vor gültig ist die Einschätzung von ERNST KÄHLER, dass die Leipziger Disputation verglichen mit ihrer Bedeutsamkeit erstaunlich wenig detaillierte Auswertung erfahren hat. (KÄHLER, ERNST: Beobachtungen zum Problem von Schrift und Tradition in der Leipziger Disputation von 1519, in: Hören und Handeln. FS Ernst Wolf, München 1962. S. 214-229; so auch noch SCHUBERT, S. 411.) Dies gilt vor allem im Blick auf die Fragen, welche nicht die Diskussion um die Autorität des Papsttums betreffen. Zur uns interessierenden Debatte um das Verständnis von Buße und Furcht vgl. immerhin die ausführliche Darstellung und Diskussion dieser Auseinandersetzung bei K JELDGAARD-P EDERSEN, S. 312ff. 153 Vgl. BRECHT I, S. 234-237. 154 WA 1 661,29ff. 155 WA 1 662,13; 663,12; 664,5.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

vor allem auf das Zeugnis der Erfahrung stützt.156 Entschieden widerspricht Luther der Behauptung, der Mensch könne aus knechtischer Furcht vor Strafe den Weg eines tugendhaften Aufstiegs schaffen. „Video te eo errore laborare, quasi possit esse filialis timor in via tam purus, ut nullus cum eo mixtus sit timor servilis poenarum, quod iuxta Scripturam et Ecclesiasticos patres non est possibile, cum nulla virtus perficiatur nisi in patria.“157

Dagegen sei auch der Einwand nicht statthaft, Furcht könne nur auf künftige Übel bezogen werden, im Fegefeuer sei das Übel aber gleichzeitig. Auch hier hätte Prierias noch keinen Tropfen des künftigen Lebens gekostet, sonst wüsste er um die dortige Unterscheidung der Zeiten, so dass die Furcht sich durchaus auf eine künftige Verdammnis beziehen könne. Auch hier ist die erfahrungshafte Vorwegnahme solcher Furcht der entscheidende Grund für Luthers These. Wo Prierias im Anschluss an Thomas von einer gewissen Hoffnung des Heils im Fegefeuer redet, unterstreicht Luther wiederum, dass diese Behauptung sich lediglich auf Thomas, nicht auf eigenes Erleben zu stützen weiß. Generell und mit durch Erfahrung gedeckten Anspruch stellt Luther dem entgegen: „Omnis enim timor pars quaedam est desperationis.“ 158 Diese Kommentierung zeigt den besonderen Rang der verhandelten Frage an, die hohe existentielle Bedeutung der Timorproblematik. Zugleich wird deutlich, dass Luther hier sein Verständnis von Furcht als der Strafe des Fegefeuers und der Verdammnis unterstreicht, nicht aber den in den 95 Thesen beschriebenen Weg der Überwindung durch Wachstum in der Liebe ausführt. 159 Auch mit dem Ingolstädter Theologen und Thomisten Johannes Eck kommt es im Jahr 1518 zu einer ersten Auseinandersetzung, nachdem kurz zuvor noch durch die Vermittlung Christoph Scheurls aus Nürnberg ein freundschaftlicher Briefwechsel begonnen wurde. Die Schriften Obelisci (Spießchen) von Eck als kritische Besprechung der Ablassthesen Luthers sowie Luthers Antwort, die Asterisci 160, wurden lange nicht veröffentlicht, kursierten aber in Abschriften und stellten ein erstes Vorspiel der Auseinandersetzung in Leipzig dar. 156 „Nam id credo me probare et probasse, quod non omnes sciant se esse salvandas, ut testantur exempla multa de animabus euntibus ad iudicium“. (WA 1 662,13-16) 157 WA 1 663,19-22. 158 WA 1 664,14-15. 159 Übergangen werden muss an dieser Stelle die Augsburger Begegnung mit Cajetan. Festgehalten werden soll freilich, dass es (neben der Ablassproblematik) nicht zuletzt die Frage des gewissen Glaubens war, bei der die Auseinandersetzung grundsätzlich wurde. Welch große existenzielle Bedeutung diese Frage für Luther besaß, zeigt eindrücklich die berühmte Briefnotiz an Karlstadt: „Aber ich will nicht zu einem Ketzer werden mit dem Widerspruch der Meinung, durch welchen ich bin zu einem Christen worden; ehe will ich sterben, verbrannt, vertrieben und vermaledeiet werden etc.“ (WAB 1 217,60-63) 160 WA 1 278-314.

6.4 Die Leipziger Disputation

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Auch in dieser Auseinandersetzung spielen die Deutung der Furcht und der Umgang mit ihr eine wichtige Rolle. Fünf der 31 obelisci sind der Kritik der Furcht- und Fegefeuerauffassung Luthers in den Thesen 14-19 gewidmet. Luther betont in seiner Entgegnung sogleich die Zusammengehörigkeit und den besonderen Wert dieser 6 Thesen, die Eck von seinen scholastischen Voraussetzungen her verschlossen seien: „Primum, Valde erat decorum Eckio hanc meam Propositionem cum sex sequentibus intactam relinquere. Profundiores sunt enim quam ut ex scholasticis opinionibus ullo modo capiantur.“161

Luther verteidigt seine Anschauung, dass die Erfahrung des Schreckens vor Tod und Hölle den Menschen begleite, solange er nicht die vollkommene Liebe im Sinne von 1 Joh 4,18 habe. Diese Furcht sei zugleich auch die Strafe des Fegefeuers. Gegenüber der Behauptung, die Seelen im Fegefeuer hätten die Gewissheit, nach Abbüßung ihrer Strafe selig zu werden, stellt Luther wiederum das Zeugnis der Erfahrung. Unter Anspielung auf Tauler fährt Luther fort, er habe von ausgezeichneten Männern (nicht solchen wie Thomas, Scotus oder Eck) gelesen, dass angefochtene Seelen bis an den Jüngsten Tag nicht wüssten, ob sie selig würden. Mehr noch, die Erfahrung der Angst selber zeige dies: „Addo, quod horror animae natura sua facit incertum hominem, quem iam dixi inesse animabus defectu charitatis.“ 162 Weiter führt Luther aus, wie seine gesamte Anschauung des Fegefeuers aus der Erfahrung des Schreckens geschöpft sei; denn es sei doch allgemeine Meinung, dass die Strafe des Fegefeuers mit der der Hölle identisch sei mit Ausnahme der Verzweiflung. Da der Schrecken eine der größten Strafen sei, müsse das Fegefeuer damit angefüllt sein: „Horror denique sit vel frater vel similis et proximus desperationi, Ut patet experientia, Qui timet, incipit diffidere, Verisimile visum est, Purgatorium prae nimio horrore prope esse et iuxta esse desperationem.“ 163

Die Offensichtlichkeit der Erfahrung ist immer wieder die maßgebliche Grundlage, die Luther gegenüber der Traditionsbindung der eckschen Argumentation betont. Dabei will er an dieser Stelle nicht feste Behauptungen über die Natur des Fegefeuers aufstellen, wohl aber anhand des Fegefeuers veranschaulichen, was im Leben schon Erfahrung des Glaubens ist. Vor allem die Anfechtung des Glaubens ist dabei die Situation, die Luther vor Augen steht. „Sicut in tentatione fidei tentatus est incertus, an credat.“ 164 Wohl könne jemand, der über die Unterscheidung der Geister verfüge, erkennen, dass der Angefochtene durchaus glaube; sei doch die 161 162 163 164

WA 1 289,29-31. WA 1 291,11-12. WA 1 291,24-27. WA 1 294,10-11.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

Anfechtung als solche ein Zeichen des Glaubens! Nun sei es aber das Wesen der Anfechtung, dass diese Wahrheit aus der persönlichen Perspektive des Angefochtenen heraus gerade nicht zugänglich sei: „Ita in desperatione et in omni tentatione agitur.“165 Zum Abschluss beendet Luther die Auseinandersetzung: „At sic aliquando finis cum temerario, ignaro, inexperto, id est scholastico Theologo loquendi.“166 Darin wird die Absage gegenüber der gesamten scholastischen Denkweise Ecks noch einmal bekräftigt, die von Anfang an Luthers Auseinandersetzung durchzog. 167 Zugleich zeigt sich auch, dass Luther sich nun zunehmend schwer tut, den Gehalt der 95 Thesen mit ihrer ursprünglichen radikalen Bußauffassung zu entfalten. 6.4.2 Die Auseinandersetzung in Leipzig In der Leipziger Disputation stand sowohl für die damalige Öffentlichkeit wie auch für die anschließende Forschung die Auseinandersetzung um den Primat des Papstes im Mittelpunkt des Interesses. Allerdings kommt es auch zu Auseinandersetzungen um Luthers Verständnis des Fegefeuers, des Ablasses und der Buße. Gerade in der Diskussion um das rechte Verständnis der Buße kommt es zu einem ausführlichen Streit des neuen Verständnisses, das Luther von timor entwickelt hat. Eck unternimmt es, Luther ausführlich mit der scholastischen Tradition und nicht zuletzt auch mit der augustinischen Auffassung von Furcht zu konfrontieren. Nachdrücklich wird Luther dadurch genötigt, sich noch einmal umfassend auf die Auseinandersetzung mit der Tradition einzulassen. 168 Ecks Kritik169 entzündet sich vor allem an Luthers lateinischem Sermo de poenitenta (1518).170 In dieser Predigt betreibt Luther eine grundsätzliche Kritik der dreiteiligen Buße. Vielfach habe man das erste Stück der Buße, die Reue, mit der Furcht vor dem Gericht, der Angst vor der ewigen Verdammnis beginnen lassen. Dadurch würde jedoch die Buße heuchlerisch und sündhaft. 171 Wer nur aus Furcht vor der Strafe zerknirscht werde, der hasse die Sünde nicht aus freiem Herzen, sondern gezwungen, was 165 166 167

WA 1 294,15-16. WA 1 314,16-17. Vgl. schon gleich am Anfang: „Hoc est scholasticum, id est, ludicrum et seipsum illudens argumentum.“ (WA 1 282,12) 168 Die Darstellung erfolgt anhand der neuen Herausgabe der vollständigen Protokolle der Disputation in WA 59 427-605 (zuvor: WA 2 250-383). 169 Vgl. das Referat von STEFFEN K JELDGAARD-PEDERSEN, S. 313-314. 170 Diese Predigt (WA 1 317-324) muss recht bald nach dem Sermon von Ablaß und Gnade (WA 1 239-246; 1518!) gehalten worden sein, da Luther zum Ende seiner Predigt darauf anspielt (WA 1 324,27ff.). 171 „Haec autem contritio facit hypocritam, immo magis peccatorem, quia solum timore praecepti et dolore damni id facit.“ (WA 1 319,16-17)

6.4 Die Leipziger Disputation

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nach Röm 5,20 die Sünde nur noch ärger mache. Wahre Reue müsse dagegen mit einer Betrachtung der Gerechtigkeit, ihrer Schönheit und Herrlichkeit beginnen. Nur in einer solchen Liebe zur Gerechtigkeit begründet könne Buße wahrhaftig sein. Denn man könne nicht aus dem Hass des Bösen zur Liebe des Guten gelangen, sondern nur umgekehrt: Weil die Liebe die größere Kraft sei, könne man aus der Liebe zum Guten auch zum Hass auf das Böse kommen. Daher müsse die rechte Buße beginnen mit der Liebe zu einem wahren Bild der Gerechtigkeit bzw. der Tugend, wie wir es vor allem in Jesus Christus haben, abgestuft auch in den Heiligen und selbst in den Kindern. Schließlich stimmt Luther auch dem deutschen Sprichwort zu: „Nymmer thun die hochste pusz“ 172. Die beste Buße sei ein neues Leben. Solche wahre Reue komme jedoch nicht aus uns, sondern allein aus der Gnade Gottes. Eck kennt Luthers Argumentation inzwischen zu Genüge, um nicht die von Luther abgelehnte scholastische Literatur ins Treffen zu führen. 173 Stattdessen beginnt er seine Gegenargumentation mit ausdrücklicher Berufung auf die Heilige Schrift, konkret mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, nicht ohne festzustellen, diesen Text genauso auszulegen wie die von Luther geschätzten altkirchlichen Väter Augustin und Ambrosius, aber auch Chrysostomus und Hieronymus. 174 Offensichtlich sei die Buße des verlorenen Sohnes durch Furcht vor Strafe und Hoffnung auf Belohnung getrieben. So würde auch sonst in den Bußpredigten der Bibel immer zuerst mit der Furcht vor Strafen zum Gehorsam aufgerufen. Ausführlich zitiert Eck aus Augustins Auslegung des 1. Johannesbriefes, wo dieser die Furcht eindeutig der Liebe vorangehen lasse. Darum sei Luthers Umkehrung der Ordnung in seinem Begleitbrief zu den Resolutiones irrig, wo er die Buße mit der Liebe beginnen lassen möchte; wie neben Augustin auch Chrysostomus und Isidor bezeugten. Dafür stehe schließlich auch die berühmte Sentenz von der Furcht als Beginn der Weisheit (Ps 111,10; Spr 1,7), die nicht nur von Augustin, sondern auch von Gregor und Bernhard auf den Beginn der Buße in der Furcht bezogen worden sei. 175 Eck will abschließend zugestehen, dass es vielleicht vollkommener wäre, würde die Buße mit der Liebe beginnen; um unserer Gebrechlichkeit willen aber habe

172 173

WA 1 321,3-4. So heißt es bei Eck: „Eos qui fuerunt a CCCC. annis non adduco“ (WA 59 592,5001-5002), was Luther kommentiert: „Eos, qui fuerunt an quadrigentis annis non adducit, et placet.“ (WA 59 596,5138) 174 WA 59 573,4385-4400. 175 Zur Auslegung dieser Stelle vgl. Sent. III dist. 34 cap. 7. Dort wird vom Lombarden der timor servilis als uneigentlicher Beginn der Weisheit beschrieben, insofern dieser ihr lediglich die Stätte bereite, während der timor initialis, die schon mit Liebe verbundene Furcht, als eigentlicher Anfang der Weisheit anzusehen sei.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

sich auch Jesus Christus dazu herabgelassen, die Buße mit Furcht beginnen zu lassen. Welche Bedeutung Luther dieser Frage beimisst, zeigt seine einleitende Feststellung, nie sei ihm Eck ferner von der Heiligen Schrift erschienen als in dieser Frage. 176 Hermeneutisch herausfordernd betont Luther, dass nicht beliebige Belegstellen, sondern nur ein auf Christus ausgerichtetes Gesamtverständnis der Heiligen Schrift der Ausgangspunkt sein könne, um diese Frage richtig zu bedenken. Wie so oft erweisen sich hier die hermeneutischen Fragen als das Grundproblem der gesamten Leipziger Auseinandersetzung, die von allen Sachproblemen her immer wieder einmündet in die Frage nach der letztgültigen Autorität: dem Papst und der Tradition oder der Heiligen Schrift. 177 Luther nimmt in dieser Frage entschlossen seinen Ausgangspunkt im Römer- und Galaterbrief. Es ist das paulinische Gesetzesverständnis, in dessen Horizont die Nutzlosigkeit des timor servilis nachgewiesen wird. Ohne die Gnade vermöchte das Gesetz nichts als Zorn anzurichten; die Sünde würde nicht beseitigt, sondern verstärkt. Daher sei jede vom Gesetz erzwungene Furcht kein Beginn der Buße, sondern eine Vertiefung der Sünde, da aus solcher Furcht nur Hass, aber nicht wahre Umkehr entstehen könne. Von Augustin zitiert Luther in diesem Sinne Aussagen aus dessen antipelagianischen Schriften (De spiritu et littera), ohne sich direkt auf dessen Auslegung von 1 Joh 4 einzulassen. Von dieser paulinischen Basis aus versucht Luther sein Verständnis von Buße an den von Eck genannten Belegstellen der Bibel zu bewähren, überall mit dem Ziel, die Buße als willig, heiter und liebevoll 178 darzustellen. Auch Jesus habe die Sünder freundlich zur Buße gerufen. Wohl sei dabei die Furcht des Herrn nötig; diese aber müsse als kindliche Furcht verstanden werden. Auch sei es doch Konsens der Scholastiker, dass die Reue sich in der Liebe vollenden müsse; dies wolle Luther freilich so verstehen, dass sie erst durch die Liebe ausgelöst werde (was dem gradualistischen Ablaufschema der Tradition widerspricht). 176 „Proinde nunquam mihi egrerius dominus doctor remotior visus est a sacris literis quam hodie“. (WA 59 575,4479-4481) 177 Zu Unrecht wird dieser Konflikt von ERNST K ÄHLER nivelliert, wenn er meint feststellen zu können, dass für Luther nicht die Schriftautorität, sondern seine „theologischen Vor- und Grundentscheidungen“ (KÄHLER, S. 229) maßgeblich für den Umgang mit theologischen Autoritäten gewesen seien. Mit diesen wüsste er sich ganz und gar den Einsichten paulinischer Theologie verpflichtet, an denen er sich messen lassen möchte. Dass Luther in Einzelfragen wie dem Fegefeuer auch ohne hinreichende exegetische Basis bereit ist, traditionelle Ansichten gelten zu lassen, wird man nicht zuletzt aus der rhetorischen Herausforderung begreifen müssen, möglichst weitgehenden Zusammenhang mit der älteren Tradition zu wahren. 178 „Voluntaria, hilariter, amorosa poenitentia“. (WA 59 578,4555-4556)

6.4 Die Leipziger Disputation

219

Die Auseinandersetzung um das Verständnis der Furcht wird von Luther zu einer Debatte um die Bedeutung der Gnade gemacht. Denn weder Furcht noch Liebe seien letztlich Ausgangspunkt der menschlichen Buße: „Nec timore nec amore potest se homo erigere ad gratiam capessendam, sed gratia prevenit et movet ad merum dei obtutum et amorem iustitiae.“ 179 Von dieser paulinischen Grundlagenklärung aus versucht Luther, die von Eck vorgebrachten Argumente zu widerlegen oder zu entkräften. Den vorgetragenen Aussagen Augustins kann Luther sich nur mit Einschränkung anschließen („si recte intelligatur“180), nämlich wenn man ihn so verstehe, dass die Furcht wohl den Anfang mache, dann aber die Liebe eintrete und erst mit diesem Eintritt der Liebe die wahre Buße beginne; eine Deutung, wie sie so offensichtlich nicht bei Augustin intendiert war. Es wird schwer zu unterscheiden sein, inwiefern Luther sich wirklich durch die Autorität des Augustins noch gebunden fühlte, oder ob ihn der Rahmen der Disputation nötigte, sich möglichst wenig von den anerkannten Autoritäten loszusagen. Im Blick auf Ambrosius, Gregor und Bernhard geht Luther dann jedoch soweit, dass er ihnen soweit zustimmen wolle, wie sich ihre Sicht nicht gegen das richte, was Paulus über den Zusammenhang von Gesetz und Furcht sage. Der Satz vom Beginn der Weisheit in der Furcht sei schließlich nicht von der Furcht vor Strafe, sondern von der Furcht des Herrn geredet; die scholastischen Unterscheidungen in der Terminologie greift Luther dabei nicht auf. Eck gegenüber betont Luther abschließend, dass dieser wohl zusehen müsse, die Unterscheidung von knechtischer und kindlicher Furcht nicht in einem Chaos zu vermischen, und sich so um das Verständnis von Schrift und Vätern zu bringen. 181 Eck weist demgegenüber Luthers Versuch zurück, der Streitfrage des Furchtverständnisses durch Thematisierung der paulinischen Gnadenlehre auszuweichen. Dass die Gnade Gottes die erste Anregung zu unserem Heil geben müsse und die Furcht ohne Gnade unfruchtbar bliebe, dass sei von allen Scholastikern so gelehrt worden, stellt Eck von seiner thomistischen Prägung her fest. Daher sieht Eck in dem, worum es Luther vor allem geht, nichts als Ausflüchte. 182 Am Nachmittag versucht Eck die traditionelle Sichtweise erneut anhand eingängiger Schriftbelege zu erhärten, so anhand der Bußpredigt Johannes des Täufers und Jesu; auch das Jesuswort cogite intrare (Lk 14,23) wird ausdrücklich in diesem Zusammenhang bemüht und unter Berufung auf 179 180 181

WA 59 578,4566-4568. WA 59 578,4570. „Videat ergo egregrius dominus doctor ut non in unum chaos confundat timorem servilem et filialem, ne sibi ipsi scripturae et patrum intelligentiam praecludat.“ (WA 59 579,4596-4598) 182 WA 59 580,4635.

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Augustin auf die Bekehrung des Paulus bezogen. Am stärksten wird er Luther damit in Bedrängnis bringen, dass er erneut Augustin ausführlich zu Wort kommen lässt in der Form, wie dieser durch den Lombarden für die weitere Lehrentwicklung verbindlich wurde. Dieser habe ausdrücklich die knechtische Furcht nach 1 Joh 4,18 identifiziert mit der Furcht des Herrn (Spr 1,7 und Ps 111,10) und die Gerichtsfurcht als Tür zur Bekehrung verstanden. Diese Furcht vor der Verdammnis sei gut und nützlich, wenn auch unzureichend, aber durch sie geschehe eine Gewöhnung an die Gerechtigkeit. Sachlich zu Recht 183 spitzt Eck die Debatte darauf zu, dass Luthers Furchtverständnis sich im Widerspruch zu Augustin befinde. Eck will es Luther auch nicht durchgehen lassen, dass dieser die Lehre der Väter nur insoweit akzeptiere, als sie sich in Übereinstimmung mit Paulus befänden. Dann solle Luther offen sagen, wo die Aussprüche der Väter dem Verständnis des Paulus widersprechen; was nach Eck niemals geschehen könne, da die Väter voll des Heiligen Geistes waren. Luther wirft Eck in seiner Entgegnung vor allem die Verweigerung vor, in eine gründliche Diskussion der paulinischen Gnadenlehre einzusteigen, an der hier alles hänge. Wiederum stellt Luther den Zusammenhang von Gesetz, Sünde und knechtischer Furcht im paulinischen Sinne dar, um dann deutlich zuzuspitzen: „Vadat ergo cum suo servili timore, qui non operatur nisi odium legis et dei et cum iniuria vocatur disponens ad gratiam.“ 184 Auch die scholastische Aufteilung der Gnade lässt Luther nicht gelten, wobei er sich ausdrücklich auf Paulus beruft: „Transeat illa distinctio, nihil ad propositum, est elusio verborum Pauli.“185 Noch deutlicher betont Luther jetzt, dass die Schriften der Väter an den Aussagen der Heiligen Schrift gemessen werden müssten und nicht umgekehrt. Nach wie vor versucht Luther, die Aussagen etlicher Väter einigermaßen in Einklang zu bringen mit seiner paulinischen Gnadenlehre, was ihm mehr schlecht als recht gelingt. Nur Eck wirft er direkt vor, den Paulus nicht zu verstehen und auch die Kraft des Gesetzes nicht zu kennen. 186 Augustin wird mit vielen antipelagianischen Äußerungen zitiert, die Luthers Auffassung unterstützen. Luther versucht, seine Auffassung mit Augustin zu harmonisieren, indem er zwischen einer Furcht vor Strafe ohne die Gnade und einer Furcht vor Strafe, bei der die Gnade anwesend ist, unterscheidet. In diesem

183

So schon KJELDGAARD-P EDERSEN: „Eck hat bei seiner Interpretation von Ps 111,10 Augustin und die Tradition ganz deutlich auf seiner Seite“. (KJELDGAARDPEDERSEN, S. 317) 184 WA 59 584,4770-4772. 185 WA 59 584,4774-4775. 186 Die Berufung auf die Schrift und auf die Erfahrung stehen hier zusammen: „Respondeo, salva reverentia: Egregius d. doctor non videtur Paulum intelligere nec virtutem legis cognovisse.“ (WA 2 369,39-370,2; vgl. Mk 12,24)

6.4 Die Leipziger Disputation

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Sinne versucht er später auch das Jesuswort Mt 10,28 zu interpretieren.187 Schließlich kommt aber Luther nicht daran vorbei, ausdrücklich Stellung zu beziehen zu den Aussagen Augustins, die seiner Sicht am stärksten entgegenstehen. So möchte er zunächst festhalten, dass recht verstanden zwischen Paulus und Augustin kein Gegensatz bestehen könne. Auch die Deutung der Glossa ordinaria von Röm 8,15 möchte er am liebsten zurückweisen, sagt aber, dass sie keine Auslegung des Textes sei. 188 Wenn freilich Augustin ausführt, dass durch die knechtische Furcht eine Gewöhnung an die Gerechtigkeit stattfinde, dann ist Luther nicht mehr in der Lage, dem in irgendeiner Weise eine Deutung zukommen zu lassen, die noch eine Übereinstimmung mit Augustin in dieser Frage wahrt. Daher lässt Luther sich hier zu der Aussage hinreißen, die die Sorbonne noch zwei Jahre später verdammen wird: „hoc est, meo iudicio, consuetudo desperandi et odiendi deum“ 189. Mit dieser Aussage hat sich Luther in einer Weise in den Gegensatz zu Augustin bringen lassen wie nie zuvor. Auch an dieser Stelle ist es Eck gelungen, den tatsächlichen Abstand offenbar zu machen, mit dem Luther nun der bisherigen Scholastik einschließlich ihrer augustinischen Wurzeln gegenüber stand. Luther versucht am Ende deutlich zu machen, dass die Sprüche der Väter nicht gegen die Meinung des Apostels stünden, und er nicht ihnen, sondern Eck widerspricht. Faktisch ist es jedoch Eck gelungen, Luthers Abkehr von der Tradition in der Frage des timor offenbar zu machen. Viel später konnte Luther sich auch Eck gegenüber dankbar zeigen, dass durch dessen Widerspruch ihm vieles erst deutlich geworden ist: „Eccius me quoque excitavit; der hat mich munter gemacht. […] Er hat mir die ersten gedancken gemacht, da ich niemer mer sunst hin komen were.“190

6.4.3 Systembruch mit Augustin und der scholastischen Theologie Auf der Leipziger Disputation gelang es Luther nur bedingt, etwa sein neues Glaubensverständnis vorzustellen. Zu sehr wurde er durch die Situation dazu gedrängt, seine Übereinstimmung mit der Tradition möglichst groß erscheinen zu lassen. Besonders problematisch sind seine Versuche, die klassischen dicta probantia über die Furcht des Herrn in seine Auffassung von Buße einzubauen. Klar ist, dass Luther die traditionelle Einteilung, die auch die knechtische Furcht positiv auf die Furcht des Herrn 187 Zu unterscheiden sei hier, ob von der Furcht geredet werde exclusa gratia, oder so, wie es Jesus täte, inclusa gratia (WA 59 588,4889). In beiden Fällen wirkt die Argumentation allerdings gezwungen und künstlich. 188 „Dico, quod Glossa textum non exponit“. (WA 59 587,4862-4863) 189 WA 59 587,4872-4873. Vgl. zur Verurteilung durch die Sorbonne WA 8 267-312. 190 WAT 5 215,20.26-27 Nr. 5525. Luther dürfte sich hier vor allem auf das Verständnis des Papsttums beziehen.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

bezieht, auf keinen Fall übernehmen kann. Die besondere Situation hindert ihn daran, sich so eindeutig, wie es um der Klarheit der Gedankenführung willen nötig gewesen wäre, dieser Einteilung entgegen zu stellen. Denn offensichtlich hat Eck hier die Tradition ganz auf seiner Seite. Luther versucht daher, mit problematischen Unterscheidungen einen gewissen Zusammenhang mit der scholastischen Terminologie zu wahren. So kommt er zur Unterscheidung zwischen der Furcht, die ohne die Gnade ist und einer Furcht, bei der die Gnade zugleich anwesend ist. Luther behauptet allein für die Letztere, dass die Furcht dann nicht zur Verzweiflung führt. Diese Lösung ist natürlich hoch problematisch, weil sich hier zwei Schemata vermischen, die schlechterdings nicht in Übereinstimmung zu bringen sind. Luthers Entweder-oder setzt ein neues Verständnis von Rechtfertigung voraus, in dem die Gottesbeziehung unmittelbar durch Sünde oder Gnade, Glaube oder Unglaube geprägt ist. Diese Sicht ist nicht zu vermitteln mit einem gradualistischen Schema, in dem die Rechtfertigung stufenweise geschieht. Die Unterscheidung von Anwesenheit oder Abwesenheit der Gnade vermag daher den Nutzen einer Furcht im Beginn der Buße nicht zu klären, sondern stellt vielmehr das prozesshafte Verständnis von Begnadigung insgesamt in Frage. Insofern ist Luthers Lösung des Timorproblems mehr dessen Auflösung. Der mittelalterliche Gradualismus hatte seine eigene Logik, die sich nicht mehr übersetzen ließ in Luthers neue Rechtfertigungslehre. Dieser problematische Hintergrund der Leipziger Disputation hat denn auch in der Lutherforschung für Auseinandersetzungen im Blick auf die Kohärenz der von Luther vertretenen Position geführt. Dass Luthers Haltung eine innere Widersprüchlichkeit offenbart, war die These von Susi Hausammann. 191 Luther habe in der Leipziger Disputation letztlich die innere Widersprüchlichkeit und Unausgeglichenheit seiner eigenen Bußtheorie offenbart, ein Umstand, der dann in den Antinomerdiskussionen erneut für Auseinandersetzungen sorgen musste. Die späteren Auseinandersetzungen waren darin vorgezeichnet, weil sie aus immanenten Widersprüchen der Verkündigung Luthers entstanden, die sich in Leipzig in Form zweier einander widersprechender Argumentationsreihen zeigten. So wollte Luther daran festhalten, dass der Liebe und der Gnade die Furcht vorangehe. Die Furcht wird darin in ihrer Ambivalenz gewürdigt, dass sie nicht automatisch zu Heil oder Verstockung führt, sondern als „Furcht vor 191 „Fragt man nun, wie dieser Gedanke, dass das Evangelium das Zerschlagensein durch das Gesetz voraussetze, sich reimt mit der anderen Aussage, dass die Buße von der Liebe zu Gott und seiner Gerechtigkeit, also vom Evangelium ausgehen müsse, so sucht man beim jungen Luther vergeblich nach einer befriedigenden expliziten Auskunft. Er hat sich wenig um den denkerischen Ausgleich bemüht, was ihm noch Jahre später in den Antinomerstreitigkeiten Mühe und Verdruss bereiten sollte.“ (H AUSAMMANN, S.112-113)

6.4 Die Leipziger Disputation

223

Gottes Zorn, Gericht und Strafe, also als Furcht des natürlichen Menschen schlechthin“192 verstanden werden muss. Anders argumentiere Luther dann am Ende, wo er die klassischen scholastischen Unterscheidungen der Furchtarten in seine Darlegung einbauen möchte. Mit der Bezeichnung des timor filialis als Beginn der Buße und dem timor servilis als Ausdruck der Verzweiflung nehme Luther der Angst ihre Ambivalenz, indem er sie in eine gute und eine böse Furcht aufspalte. Steffen Kjeldgaard-Pedersen verwies demgegenüber auf den Zusammenhang von Luthers Argumentation. Luther sei es zu keiner Zeit um eine Buße gegangen ist, die von jeglicher Verbindung mit dem Gesetz gelöst sei allein aus dem Evangelium bewirkt würde. 193 Ausführlich zeigt Kjeldgaard-Pedersen, dass diese schon bei Ritschl und Herrmann anhebende Interpretationslinie auch Luthers frühe Verkündigung verfehle. Mit Recht betont Kjeldgaard-Pedersen, dass Luthers Anschauung im Grunde konsequent aus seinem paulinischen Verständnis von Gesetz und Gnade entwickelt wird. Nicht genug zur Geltung kommt bei Kjeldgaard-Pedersen jedoch, dass die Problematik in Luthers Gedankenführung darin besteht, gleichzeitig sein paulinisches Rechtfertigungsverständnis entfalten zu wollen und mit der Tradition größtmögliche Übereinstimmung zu wahren. 194 Luthers Argumentation ist daher in der Tat spannungsgeladen, darin ist Hausammann Recht zu geben, auch wenn sie es versäumt, den Widerspruch innerhalb der von ihr beschriebenen Argumentation präzise auf den Punkt zu bringen. Zu Unrecht sieht sie diesen Widerspruch als Ausdruck einer ungeklärten Spannung in Luthers Bußverständnis. Der eigentliche Widerspruch ergibt sich vielmehr aus der Unvereinbarkeit eines gradualistischen Buß- und Gnadenverständnis mit der neuen auf Wort und Glaube konzentrierten Rechtfertigungslehre. 195 Luthers eigentliche Auffassung von der Überwindung der Furcht war im Gehäuse der scholastischen Unterscheidungen nicht mehr deutlich zu machen. Insbesondere seine Glaubensauffassung kam kaum zur Sprache. Stattdessen versucht Luther noch einmal, die Überwindung der Furcht mit augustinischen Denkmitteln zu beschreiben: Um falsche Furcht und Liebe auszurotten, würde die Liebe Gottes in unser Herz ausgegossen, mit der 192 193 194

HAUSAMMANN, S. 113. HAUSAMMANN, S. 312. Wenn KJELDGAARD-P EDERSEN allgemein feststellt: „So schließt Luther also mit einem direkten Angriff auf die Tradition“ (KJELDGAARD-P EDERSEN, S. 319), kommt das Gewicht dieses grundsätzlichen Bruchs auch mit Augustin im Blick auf dieses viel zitierte Dictum nicht hinreichend zur Geltung. 195 Vgl. auch K JELDGAARD-P EDERSEN, wenn er feststellt, dass „Luther die Betrachtung grundlegend vom timor als menschlichem Akt auf die Totalbestimmungen Sünde und Gnade verlagert, so wie diese sich aus Gottes Handeln am Menschen durch Gesetz und Evangelium ergeben.“ (K JELDGAARD-PEDERSEN, S. 330)

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

wir ein anderes Leben liebten und einen anderen Tod fürchteten. Faktisch hatte sich Luthers Denken über diese begriffliche Möglichkeiten hinaus entwickelt. Es ist die besondere Bedeutung der Leipziger Disputation, dass sie Luthers offenen Widerspruch zur augustinischen Auffassung des timor offenbar machte. Zugleich wurde klar, dass Luthers Denken sich so entwickelt hatte, dass es zu einem vollständigen Systembruch mit der Scholastik insgesamt gekommen war. Die Verständigung wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass Eck (wie zuvor schon Prierias und Cajetan) von thomistischen Voraussetzungen ausging, in denen sich die Probleme in anderer Zuspitzung stellten als in der spätfranziskanischen Tradition bei Ockham und Biel, also der Konstellation, die für die Ausbildung von Luthers Denken zunächst bestimmend gewesen ist. So ist Luthers Ablehnung des freien Willens und die Betonung der Souveränität der Gnade gegenüber Ockham und Biel durchaus wuchtiger als gegenüber den Thomisten, bei denen der Abstand zur augustinischen Gnadenauffassung deutlich weniger groß ist. Der Gegensatz macht sich jedoch auch hier an einem gradualistischen Schema fest, in dem die Begnadigung des Menschen als ein stufenweiser Aufstieg gedacht wird. Hier stellt die neue Glaubensauffassung Luthers als Integral des gesamten Gottesverhältnisses einen eklatanten Bruch dar. Diese Denkunterschiede sind von keiner gemeinsamen Terminologie her vermittelbar. Schon in Leipzig gelang es Luther am ehesten in seiner deutschen Predigt über Mt 16,13-19, sein neues Glaubensverständnis zur Geltung zu bringen. 196 Schon von daher ist es lohnend, sich seinen deutschsprachigen Veröffentlichungen der Jahre 1519/1520 zuzuwenden.

6.5 Die Bewährung des Neuen in den reformatorischen Sermonen von 1519 und 1520 6.5 Die reformatorischen Sermone

Neben seiner Auseinandersetzung mit der theologischen Tradition im Zuge der Prozessstreitigkeiten entwickelt Luther eine rege Veröffentlichungstätigkeit, in der er seine zentralen Einsichten immer wieder in volkssprachlichen Sermonen darlegt. Mit den deutschen Sermonen der Jahre 1519/1520 tritt nun eine neue Textgattung in unseren Gesichtskreis. Luther löst sich dabei aus dem scholastischen Diskurs bzw. der theologischen Fachsprache und formuliert auf Deutsch die maßgeblichen neuen Einsichten. 197 In diesen Sermonen entfaltet Luther wie in einem Brennspiegel die Einsichten der letzten Jahre in einer allgemeinverständlichen Form. Darin sind sie das 196 197

WA 2 244-249; vor allem WA 2 248,31-249,38. Vgl. die jüngste zusammenfassende Würdigung dieser Texte: BRECHT, MARTIN: Luthers reformatorische Sermone, in: Peters, Christian und Jürgen Kampmann (Hrsg.): Fides et Pietas. FS Martin Brecht, Münster 2003. S. 15-32.

6.5 Die reformatorischen Sermone

225

unmittelbare Gegenüber der Auslegung über die sieben Bußpsalmen. Dabei werden vornehmlich zentrale Fragen des Frömmigkeitslebens als Anlass genommen, die Mitte des Evangeliums zu entfalten. Entscheidend ist jeweils die Zuspitzung auf den Glauben als das organisierende Zentrum des Gottesverhältnisses, in seiner Überwindung der Furcht wie im Trost des Gewissens. Als Ausgangspunkt dienen die drei Sermone, die Luther Ende 1519 für die Gräfin von Braunschweig herausgab. Von ihnen her soll betrachtet werden, wie Luther sich mit den Punkten auseinandersetzt, an denen sich seine Angsterfahrungen besonders verdichteten: die Buße und die Messe. Die Buße war es, an der Luther in seinen Erfahrungen der Anfechtung immer wieder scheitern musste. Dabei wird deutlich, dass die Taufe der Fluchtpunkt aller Überlegungen zur Buße ist. Ein zweiter Ansatzpunkt ist der Umgang mit der Messe. Auch hier konnte sich die Angsterfahrung Luthers ins Unermessliche steigern. Die Neudeutung dieser Knotenpunkte geistlicher Existenz erweist sich als Konsequenz seines theologischen Umbruchs. 6.5.1 Das erschrockene Gewissen In allen Sermonen markiert Luther zunächst sein tief seelsorgerliches Anliegen. Deutlich wird dies im Widmungsschreiben an Fürstin Margarete, in dem die drei Sermone zu Buße, Taufe und Abendmahl als eine Einheit betrachtet werden. Dort stellt er einleitend fest, er habe „ßovil betrubt un beengstet gewissen erfunden, und ich bey mir selb erfaren, die der heiligen und voller gnaden sacrament nit erkennen, noch zu prauchen wissen“ 198. Sowohl Erfahrungen eigenen Erlebens als auch solche aus seelsorgerlicher Tätigkeit stehen im Hintergrund, wenn Luther seine Neuformulierung christlicher Verkündigung ganz auf die Situation der betrübten und geängstigten Gewissen bezieht. Die Gewissensfurcht sei die große Herausforderung, der er sich mit seiner Verkündigung stellen will. In der christlichen Frömmigkeit ist solche Furcht zunächst ganz auf den Zorn Gottes bzw. sein Gericht bezogen. In seinem Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi nimmt Luther eine Erfahrung auf, die sich durch die gesamte Meditationspraxis des Spätmittelalters hindurch zieht: „Die bedenckenn das leyden Christi recht, die yhn alßo ansehn, das sie hertzlich darfur erschrecken und yhr gewissen gleych sincket yn eyn vorzagen. Das erschrecken sol da her kummen, das du sihest den gestrengen zorn und unwanckelbarn ernst gottis uber die sund und sundere“199.

198 199

WA 2 713,21-23. WA 2 137,10-13.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

Das Gedenken des Leidens Christi am Kreuz mache den Betrachter gewiss, dass er diesen Zorn und diesen Tod verdient hätte, den Christus in seiner Passion erleiden musste. Diese Einsicht könne einem Menschen jedoch nicht aufgehen ohne Furcht und Erschrecken. 200 Auch in seinem Bußsermon betont Luther einleitend die Bezogenheit der Sündenvergebung auf „die forcht und blodikeit des hertzen gegen gott“201. Darum sei dieses Sakrament gegeben „widder alle erschreckung des gewissens, wider vorzweyfflung und anfechtung der pforten der hellen.“202 Dabei lässt Luther keinen Zweifel, dass dieser Zustand des Menschen angemessen und unausweichlich sei. „Mann soll mit allem ernst rew unnd leyd haben“203. Diese Gestimmtheit fasst Luther als existenzielle Voraussetzung auf, dass das richtige Verständnis des Bußsakraments sich überhaupt erschließen kann: „Auch alles, das ich gesagt habe vonn dißem sacrament, ist denen gesagt, die betrubt, unruge, yrrige, erschrockne gewissen haben, die gerne wolltenn der sund los unnd frum seyn“ 204. Wie notwendig diese Erfahrung des erschrockenen Gewissens sei, entfaltet Luther im Blick auf solche Menschen, die furchtlos und sicher sind: „Die hart mutigen aber, die noch nit begeren trost des gewissen, haben auch die selben marter nit befunden, den ist das sacrament nichts nutz, die muß man mit dem schreglichen gericht gottis vor weich und tzag machen, das sie auch solchs trosts des sacraments suchen und seufftzen leren.“205

Immer wieder stellt Luther dabei die angstauslösenden Größen Sünde, Tod und Hölle nebeneinander, so im Sermon vom Leichnam Christi, wo das Abendmahl ganz auf die Überwindung der Furcht hin ausgelegt wird: „Zu letzt ficht unß an unßer eygen boß gewissen von getanen sunden, Item des tods furcht und der helle peyn.“ 206 Auch hier macht Luther deutlich, dass die Erfahrung dieser Ängste die angemessene Voraussetzung zum rechten Empfang des Sakraments sei:

200 Wenn im Folgenden der Mensch sich dieses Leiden Christi ein-bildet bzw. ihm innerlich konform wird (WA 2 137,22ff.; 30ff.), ist dies anders als in den Dictata keine Teilhabe am Christusheil, sondern verbleibt im Horizont erschrockener Sündenerkenntnis. Die mortificatio im Sinne der Christuskonformität gehört nun zum Gesetz. 201 WA 2 714,15-16. 202 WA 2 715,19-20. 203 WA 2 719,35-36. 204 WA 2 720,4-6. 205 WA 2 720,11-14. Vgl. entsprechend den Sermon vom neuen Testament: „So ists gewiß, das den freyen, sichern geysten, die yhre sund nit beysset, die meß keyn nutz ist, dan sie haben noch keynen hunger zu disser speys“. (WA 6 377,3-5) 206 WA 2 744,37-38.

6.5 Die reformatorischen Sermone

227

„Welcher nu vorzagt ist, den seyn sundlich gewissen schwecht, odder der todt erschreckt, odder sonst eyn beschwerung seyns hertzen hatt, Will er der selben loß seyn, ßo gehe er nur frolich zum sacrament des altars“207.

Luther weiß, dass die Furcht Ausmaße annehmen kann, in denen dem Menschen das ganze Gottesverhältnis fraglich wird. Dies hat Luther schon in der ersten Jahreshälfte 1519 in seiner überarbeiteten Auslegung des Vaterunsers für die Laien ausgeführt: Der Mensch habe von Natur einen großen Widerwillen gegen das, was in den ersten drei Bitten von ihm verlangt wird. Gott würde darin dem Eigenwillen des Menschen ganz entgegen handeln. Die Folge beschreibt Luther eindrücklich: „Wan nun dis also geschicht, so ist der mensche yn grossem gedrenge und engsten und nichts also wenig bedenckt als das dis wesen heysse gotts willen geschehenn, sundern er meynet, er sey vorlassen und den teuffelen und bosen menschen tzu eygen geben, ist kein goth meher ym hymel, der yn kennen ader horen wil.“ 208

Im Sermon von der Bereitung zum Sterben wird die Angst dem Thema entsprechend ganz auf den bevorstehenden Tod konzentriert: „alßo im sterben auch muß man sich der angst erwegen.“209 Dabei werden die angstauslösenden Größen als drei Bilder beschrieben, die vom menschlichen Bewusstsein Besitz ergreifen und es ganz erfüllen: „Die erste das das erschrockliche bild des todts, die ander das graulich manichfeltig bilde der sund, die dritte das untreglich und unvormeydliche bild der hellen und ewiges vordamnuß.“210

Gerade im Ernstfall des Sterbens stellen sich diese Bilder mit ihrer furchterregenden Macht ein. Die hier aufbrechende existenzielle Betroffenheit durch Gottes- und Gerichtsangst spielt in allen Sermonen dieser Jahre eine zentrale Rolle. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass dieser Zusammenhang weitgehend nicht namentlich unter der Kategorie des Gesetzes entfaltet wird. 6.5.2 Das introspektive Missverständnis: Vermessenheit oder Verzweiflung Ist das erschrockene Gewissen also die unvermeidliche Erfahrung des Menschen, wenn er seine Situation vor Gott bedenkt, so gilt es, nun den 207 WA 2 745,1-3. Im Sermon von dem neuen Testament (1520) heißt es dann entsprechend: „Wer bedarf aber mehr vorgebung der sund und gottis gnade, den eben die armen, elenden gewissen, die von yhren sunden getrieben und gemartert werden, sich furchten vor gottis zorn, gericht, todt und helle, die ßo recht gerne wollten eynen gnedigen got haben“. (WA 6 376,21-24) Entsprechend gilt auch von der Taufe, man solle sich an sie halten „gegen alle sund unnd erschrecken des gewißen“. (WA 2 732,20-21) 208 WA 2 106,12-16. 209 WA 2 686,6f. 210 WA 2 686,33-35.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

rechten Umgang mit dieser Furcht zu finden. Vor allem in seiner Vaterunser-Auslegung stellt Luther die Reaktionsmöglichkeiten des Menschen dar. Wir hatten oben gesehen, dass der Mensch in ein gedreng kommen kann, wenn er sieht, dass Gottes Wille seinem Eigenwillen entgegensteht. Die „boszen“ wüssten nun nicht, „wo zu solch gedreng gut sey“ 211. Darum versuchten sie, sich dieser Angst auf die eine oder andere Art zu entziehen. „Etlich fallen yn ungedult, schelten, fluchen, lestern und werden gantz wutig, Die Andern, dye laufen hyn und her, suchen menschlichen trost und radt“212. Anders die frummen. Sie wüssten, dass es kein Entfliehen vor dem Willen Gottes gebe und übergeben sich ihm ganz: „Dan sie wissen, das kein feindt noch nie vorjagt ist von eynem fluchtigen. Darumb muge auch kein leyden ader gedreng ader todt uberwunden werden mit ungedult, flucht unnd trost suchen, sundern alleyn da mit, so man fest stil stehe und beharre, ja dem ungluck und todt frisch entgegen gehe. Dan war ist das sprichtwort ‚Wer sich furcht vor der helle, der fert hynneyn‘. Alszo, wer sich forcht vor dem todt, den vorschlindet der todt ewiglich. Wer sich furcht vor leyden, der wirt uber wunden. Forcht thut nichts guts. Darumb musz man frey und keck sein in den dingen alle sampt und feste stehen.“ 213

Dieser hoch instruktive Abschnitt bündelt Luthers seelsorgerliche Einsichten in die negative Dynamik der Furcht. Der Furcht lässt sich nicht ausweichen noch entfliehen. Wer ihr meint entfliehen zu können, wird früher oder später eingeholt, spätestens durch nahenden Tod. Die Furcht lässt sich auch nicht als Motiv oder Antrieb für religiöses Handeln brauchen. So gerät man nur in eine Dynamik der Verzweiflung. Flucht vor der Angst hilft genauso wenig wie religiöse Leistungen unter ihrem Antrieb. So unvermeidbar und angemessen sie als emotionales Gewahrsein der menschlichen Situation vor Gott ist, so gilt gleichwohl: Forcht thut nichts guts. Immer wieder schildert Luther in seinen Sermonen, zu welcher Praxis sich Menschen durch Furcht haben bewegen lassen. Grundlegend sei dabei der menschliche Versuch, auf sich selbst zu schauen und durch sittlichreligiöse Praxis einen Zustand zu gewinnen, in dem die Furcht nicht mehr nötig sei, weil man nun „würdig“ vor Gott stehe. Warnend beschreibt Luther diesen Irrweg: „Darumb siehe yhe zu, das du nit thuest, wie die vorkereten menschen, die sich mit yhren sunden ym herzen beyssen und fressen, und streben darnach, das sie durch gutte werck adder gnugthuung hyn und her lauffen odder auch ablas sich erauß erbayten und der sund loß werden mugen“ 214.

211 212 213 214

WA 2 106,32. WA 2 106, 35-37. WA 2, 107,12-20. WA 2 139,38-140,4. Vgl. dann später: wo du „durch deyne rewe und gnugthuung dich vormissest zu stillen, ßo wirstu nymmer mehr zu ruge kummen und must zu letzt doch vorzweyfelen.“ (WA 2 140,14-15) Vgl. auch schon zuvor: Man muss „acht haben,

6.5 Die reformatorischen Sermone

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Das Kardinalproblem bestehe darin, dass der Mensch sich durch die Furcht zu einer Selbstbeobachtung verführen lasse, um in seinem Innern eine angemessene Reue, eine hinreichende Liebe, eine gültige Bußgesinnung zu finden bzw. zu erzeugen. 215 Ausdruck dieser Wendung nach innen seien etwa die vielen Abhandlungen und Bücher über die rechte Reue bzw. die angemessene Beichte.216 Hierin zeige sich das Bestreben, der Gewissensfurcht dadurch zu entkommen, dass der Mensch sich von ihr in religiöse Leistungen treiben lässt, um so seiner eigenen Würdigkeit gewiss werden zu können. Diese Haltung zeige sich schon im Gebet, wo die Menschen würdig bitten möchten. „Sprechen ettlich ‚ha ich wollt woll vortrawen, meyn gepeet wurd erhoret, wan ich’s wirdig were und woll macht‘.“217 Doch grundsätzlich stellt Luther dem entgegen: „Anttwort ich: Wan du nit ehr bittenn wilt, du wissest dan adder empfindest dich wirdig unnd geschickt, ßo mustu nymmer mehr bitten“218. Das Streben nach Würdigkeit sei daher eine große Verführung, in der der Mensch niemals die Angst zu überwinden vermag. Indem der Mensch auf seine Werke als vermeintliche Sicherung gegenüber der Angst verfalle, komme er in eine Selbstbetrachtung hinein, in welcher die Angst ihn in Verzweiflung treiben muss. „Darumb meynen sie ettwas anders zu finden, die sund zuvortilgen, nemlich die werck, unnd machen alßo yhn selb und allen andern boß erschrockene unsichere gewissen, vortzagung am todt, und wissen nit wie sie mit gott dran seynd“ 219.

Diese Selbstbetrachtung im Horizont der Frage nach der eigenen Würdigkeit verhindert den Segen der Sakramente: „Szo kumpt dan der teuffel und blysset dir eyn ‚ja wie, wan ich dan die sacrament hett unwirdig empfangen und mich durch meyn unwirdigkeit solcher gnaden beraubt?‘“220

In dieser Perspektive habe der Mensch nur die Alternative von Vermessenheit und Verzweiflung. In Vermessenheit gelänge es ihm, seine wahre Situation vor Gott zu verdrängen bzw. sich aufgrund seiner Werke und das sie sunde nit alßo yhm gewissen bleyben, es wurde gewiß eyn lauter vorzweyffelnn drauß.“ (WA 2 139,35-36) 215 Vgl. in diesem Sinne auch SCHWAB : auf diesem Weg will der Mensch „als Grund der Vergebungswahrheit nicht Gott, sondern sich selbst konstituieren, erleidet aber damit Schiffbruch, kommt nur tiefer in die Verzweiflung hinein.“ (SCHWAB, S. 100) 216 WA 2 721,20ff. 217 WA 2 176,21-22. 218 WA 2 176,22-23. Vgl. daher schon die Eingangsthese des Sermons: „Darauß dan folget, das niemant ettwas von gott erlanget seyner oder seyns gepeets wirdickeit halben“. (WA 2 175,11-13) Vgl. auch: „die vorgebung der schult [...] wirt niemant geben umb der wirdigkeit willen seyner rew“. (WA 2 716,1-3) 219 WA 2 733,11-14. 220 WA 2 693,34-36.

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seiner vermeintlichen Würdigkeit sicher zu fühlen. Vielfach werde die Dynamik der Angst die Unsicherheit je neu und neu anfachen und den Menschen in eine Anfechtung stürzen, die zur Verzweiflung führe. „Was ist nu grosser anfechtung denn die sundt und boß gewissen, das gottis zorn altzeyt furcht und nymmer ruge hatt?“221 Solche Anfechtung und Verzweiflung lägen nah beieinander.222 Auf diesem Weg könne der Mensch auch an der Frage der ewigen Vorsehung Anstoß nehmen und verzweifeln: „Das heyst mit der helle angefochten, wan der mensch mit gedancken seyner vorsehung wirt angefochtenn“223. In dieser Anfechtung chronifiziert sich nach Luther die Furcht des Gewissens; sie wird zum dauernden Begleiter in einer oft anwachsenden Dynamik. Dieser Macht der Angst sei der Mensch in seinem Inneren nicht gewachsen: „Dann unßer sund, wan wir sie yhn unßerm gewissen handelnn und bey unß lassenn bleyben, yhn unserm hertzen ansehen, ßo seynd sie unß viel zu starck und leben ewiglich.“224

Diese Dynamik der Furcht hat Luther an sich selbst und an vielen anderen erlebt. Auf ihre rechte Überwindung zielen alle seine Ausführungen in den deutschsprachigen Schriften dieser Zeit. Wieder und wieder geht es um den Gedanken: „vorgebung der schuld adder hymlischer ablaß legt ab die forcht und blodikeit des hertzens gegen gott, und macht leicht un frolich das gewissen ynnerlich“ 225. 6.5.3 Sakrament als Zusage Gottes Bekanntlich entwickelt Luther in den Sermonen von 1519/1520 ein neues Sakramentsverständnis, das in der Tradition ohne Vorbild ist.226 Anknüpfend an die augustinische Unterscheidung von signum und res unterscheidet er zwischen Zeichen und Inhalt des Sakraments, um als drittes Moment, und darin liegt das eigentlich Revolutionäre, jeweils den Glauben hinzuzufügen. Mehr und mehr konzentriert Luther die gesamte christliche Frömmigkeit auf die beiden Momente: Zusage Gottes und Glaube des Menschen, der solcher Zusage vertraut. Die Zusage bzw. die Verheißung entfaltet dabei, was Christus uns zugute getan habe. Im noch verhältnismäßig traditionellen Sermon von der 221 222 223 224 225 226

WA 6 376,33- 377,1. „Wider vorzweyfflung und anfechtung der pforten der hellen.“ (WA 2 715,19-20) WA 2 688,19-20. WA 2 140,16-18. WA 2 714,15-16. Vgl. dazu STOCK, URSULA: Die Bedeutung der Sakramente in Luthers Sermonen von 1519 (SHCT 27), Leiden 1982; W OLFGANG SCHWAB (126ff., 160ff. und 303ff.); sowie die Ausführungen von LOHSE, Luthers Theologie, S. 144-150; B AYER, Promissio, S. 226-273; ZUR MÜHLEN, Nos, S. 227-231.

6.5 Die reformatorischen Sermone

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Betrachtung des heiligen Leidens Christi führt Luther eine Reihe von Bibelworten an, die das pro nobis des Christusgeschehens entfalten. „Auff diße und der gleychenn spruch mustu mit ganntzem wag dich vorlassen“227. Im Sermon vom Gebet wird dann noch grundsätzlicher die Sprachhandlung der Zusage, der Verheißung bzw. des Versprechens betont: „das erste, Das man von gott eyne vorheyssung odder zu sage habe“228. Diese Logik von Zusage und Glaube bestimmt sodann vollständig das Sakramentsverständnis, wie Luther es in seinen Sermonen entfaltet. „Dann yn den Sacramenten handelt, redt, wirckt durch den priester Deyn gott Christus selbs mit dyr“ 229. Vor allem im Sermon von der Buße230 führt Luther diese Anschauung mit großer Konsequenz durch: „Das erst ist die Absolutio, das seyn wort des priesters, die zeygen an, sagen und vorkunden dir, du seyst los und deyn sund seyn vor gott vorgeben“231. Die Konzentration auf die Absolution als das entscheidende Geschehen der Buße gewinnt Luther wiederum aus der für ihn seit den Resolutiones so bedeutsamen Stelle Mt 16,19, von woher sich dieses Sakrament ganz auf den Vergebungszuspruch konzentrieren lässt: „Diße heylige trostliche gnadenreiche wort gottis muß eyn yglich Christen mensch tieff behertzigenn und mit grossem danck yn sich bilden, dan hirynne ligt das sacrament der puß“ 232. Von daher lässt sich die Absolution als „vorsprechug gottis“233 begreifen, als „deyns gottis wort und botschafft“234. Im Sermon von der Taufe entwickelt Luther zunächst wieder sein dreigliedriges Sakramentsverständnis von Zeichen, Bedeutung und Glaube. Als Bedeutung der Taufe wird im Anschluss an Röm 6 das Sterben des alten und Auferstehen des neuen Menschen verstanden, ein Prozess, der mit der Taufe beginnt und sich bis zum Tod hinzieht. Damit grenzt sich Luther vom traditionellen Verständnis der Taufe ab, wonach in der Taufe die Erbsünde weggenommen wird. Was aber ist dann die Wirkung konkret? Nun präzisiert Luther die Bedeutung der Taufe: „Das hilfft dir das hochwirdig sacrament der tauff, das sich gott daselbs mit dyr vorpindet und mit dyr eyns wird eyns gnadigen trostlichen bunds.“ 235 Dieser Bundesbegriff wird zunächst mit dem Gedanken wechselseitiger Verpflichtung ausgelegt: Der Mensch verpflichte sich Gott gegenüber, seiner Sünde ster227 228 229 230 231 232 233 234 235

WA 2 140,11-12. WA 2 175,5-6. WA 2 692,27-28. Vgl. SCHWAB, S. 126ff. WA 2 715,22-23. WA 2 715,15-17. WA 2 716,4. WA 2 716,23-24. WA 2 730,20-22.

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ben zu wollen und sie mehr und mehr im Leben zu töten. Gott wiederum verpflichte sich, dieses Begehren des Menschen anzunehmen, ihn durch seinen Heiligen Geist zu erneuern und ihm mit Werken wie mit Leiden Gelegenheit zur Übung zu geben. Kraft dieses Bundes verpflichte sich Gott ferner, die Sünden des Menschen nicht anzurechnen, sondern zu vergeben. Luthers Deutung der Taufe ist insoweit noch ganz vom Bemühen gekennzeichnet, seiner vertieften Sündenauffassung Geltung zu verschaffen und das Missverständnis einer Austilgung der Erbsünde durch die Taufe abzuwehren. Erst mit der Besprechung des Glaubens präzisiert Luther noch einmal den Bundesgedanken: Diese Taufe sei zugleich der Grund des Bußsakraments: „Die weyll alleyn denen die sund vorgeben werden, die getaufft seyn, das ist, denen gott zugesagt hat sund vorgeben“ 236. Deutlicher als im Gedanken wechselseitiger Verschränkung der jeweiligen Selbstverpflichtung kommt darin der grundlegende Charakter der Taufe zur Sprache als Zuspruch der Vergebung der Sünde. So kann es anschließend ausdrücklich heißen: „alßo das der puß sacrament ernewert und widder antzeugt der tauff sacrament, als sprech der priester yn der absolution ‚Sich, gott hatt dir deyn sund itzt vorgeben, wie er dir vorhin yn der tauff zugesagt‘“ 237.

Damit ist auch die Taufe als Sakrament ganz von der Logik der Zusage, der Verheißung und des Versprechens bestimmt, worin Gott die Vergebung der Sünde um Christi willen mitteilt.238 Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Abendmahlssermon von 1519. Wahr ist, dass Luther hier durch die starke Betonung der communio den Gedanken des promissionalen Charakters des Sakraments nicht so stark hervortreten lässt, wie bei der Buße oder der Taufe. Zu weit führt es allerdings, aus diesem Grund den Abendmahlssermon von 1519 gleich für gescheitert zu halten. 239 Die ethischen und kommunitären Konsequenzen, die Luther in dieser Schrift vom Abendmahl her entwickelt, sind ganz und gar vom Gabe- und Zusagecharakter des Sakraments her

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WA 2 733,29-31. WA 2 733,31-33. Vgl. auch ZUR MÜHLEN, Nos, S. 231. Luther wird dies später noch eindeutiger zuspitzen, in dem er die Taufe vom Taufbefehl her versteht und damit den Charakter der mündlichen Zusage von Anfang an zum Wesen der Taufhandlung macht, wie dies klassisch im Großen Katechismus ausgeführt ist. 239 Vgl. die scharfe Feststellung von B AYER , dass „der reformatorische Ansatz hier nicht wirklich zur Geltung gekommen ist.“ (B AYER, Promissio, S. 240) Eher lässt sich mit B RECHT sagen, „dass Luthers Entwicklung in diesem Fall noch nicht abgeschlossen war und dass ihn diese Ausformung seiner Abendmahlslehre nicht lange befriedigte.“ (BRECHT, Sermone, S. 30)

6.5 Die reformatorischen Sermone

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entfaltet: „dyß heylig sacrament sey nit anders, dan eyn gottlich tzeychen, darynne zu gesagt, geben und zu geeygent wirt Christus“240. Konsequenter entwickelt ist das neue Sakramentsverständnis im Abendmahlssermon von 1520, in dem die Grundlinien des etwas späteren De captivitate sämtlich vorgezeichnet sind. Hier werden im Verhältnis von Zusage und Glaube die Koordinaten der Gott-Mensch-Beziehung insgesamt gezeichnet. „Wen der mensch soll mit gott zu werck kummen und von yhm ettwas empfahen, ßo muß es also zugehen, das nit der mensch anheb und den ersten steyn lege, sondern gott allein on alles ersuchen und begeren des menschen muß zuvor kummen und yhm ein zusagung thun. Dasselb wort gottis ist das erst, der grund, der felß, darauff sich ernoch alle werck, wort, gedancken des menschen bawen“ 241.

Im Durchgang durch das Alte Testament zeichnet Luther nach, wie stets das Gottesverhältnis des Menschen durch ein zuvor kommendes Gotteswort begründet wurde. In diesem Sinne bestimmt Luther nun das Abendmahlsverständnis durch den Begriff des Testaments, wie Luther ihn erstmals in seiner Hebräerbriefvorlesung entwickelt hatte. Die Einsetzungsworte hätten dabei den Charakter eines „zusagen oder gelubb“ 242. Versprochen werde in diesem Testament Christi aber „ein grosser, ewiger, unaussprechlicher schatz, nemlich vorgebung aller sund“243. In dieser Korrelation von Sakrament als Zusage und Verheißung244 auf der einen und Glauben als Hören und Vertrauen auf dieses Wort auf der anderen Seite hat Luther den Zusammenhang entwickelt, den er in De captivitate kritisch gegen das traditionelle Sakramentsverständnis der Kirche stark machen sollte.

240

WA 2 749,23-25. Die besondere Verschränkung von Zeichenverständnis, Christusverbundenheit und irdische Bruderschaft kann an dieser Stelle nicht entfaltet werden, vgl. aber ausführlich STOCK, S. 193-328, sowie SCHWAB, S. 162-168. 241 WA 6 356,2-7. 242 WA 6 357,10-11. 243 WA 6 358,15-16. 244 Vor allem O SWALD B AYER hat diese Entwicklung minutiös nachgezeichnet und ihre überragende Bedeutung für das Verständnis der reformatorischen Rechtfertigungslehre betont. In der Tat, die Sprachgestalt der promissio ist unverzichtbare Zuspitzung des Evangeliums dem Einzelnen gegenüber. Doch sollte die sprachliche Fassung als zusprechendes Wort nicht als allein entscheidendes Merkmal der reifen reformatorischen Lehre genommen werden. Dieser wichtige Gedanke dürfte überfordert werden, wenn er zum Kriterium aller dogmatischen Sätze werden soll (B AYER, Promissio, S. 1). B AYERS Kritik am Sermon von der Bereitung zum Sterben, dass etwa dem Bild Christi letzte Eindeutigkeit mangelt, oder die scharfe Unterscheidung von Gabewort und Deutewort (S. 290; S. 349) dürften von einer Überbetonung des Gegensatzes von früher und reifer Theologie leben. Vgl. auch STOCK, S. 306ff.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

6.5.4 Glaubstu, so hastu Diesem promissionalen Charakter des Sakraments, bzw. der durch die Sprachhandlung des Evangeliums vermittelten Heilsgegenwart Christi entspricht nun einzig und allein der Glaube. Im Sermon von der Buße wird der persönliche Glaube erstmals zum Wesen des Sakraments gerechnet. „Das dritte ist der glaube, der do festiglich dafur helt, das die Absolutio und wort des priesters seyn war“ 245. Dieser Glaube ist es, der die Verheißung der Vergebung allererst zur Wirkung kommen lässt: „Und an dem glauben ligt es als miteynander, der allein macht, das die sacrament wircken, was sie bedeuten, und alles war wirt, was der priester sagt, dan wie du glawbst, ßo geschicht dir.“246

Mag im Verständnis des Sakraments noch eine gewisse Bandbreite vorkommen, wie etwa die Taufe vom Bundesgedanken bzw. das Abendmahl von der communio her gedacht wird, so ist die Konzentration auf den Glauben als einzige und notwendige Aneignung des Heils durchgehender Grundzug der volkssprachlichen Sermone. So stellt der Sermon von der Taufe heraus: „Dißer glaub ist der aller notigst, denn er der grund ist alles trostis: wer den nit hatt, der muß vorzweyffelnn yn sunden“ 247. Und weiter: „Derhalben muß man gar keck und frey an die tauff sich halten und sie halten gegen alle sund und erschreckenn des gewißen“248. Gegen die in der Tradition so starke Betonung des aus sich selbst wirksamen Sakraments ist nun das Heil ganz und gar mit seiner Aneignung durch den Glauben gegeben: „Gleubstu, so hastu, Zweyffelstu, ßo bistu vorloren“249. Und daher: „alßo gar ligt es alles am glauben.“250 Durchweg eignet dem Glauben das Moment der Exklusivität: Er allein ratifiziert das Heil, das Gott in seinem Wort bzw. in den Sakramenten mitteilt.251 Um dieser Exklusivität willen 245 246

WA 2 715,28-29. WA 2 715,30-33. Wiederum begegnet an dieser Stelle auch die klassische Zusammenstellung der beiden dicta probantia, die Luther in der ersten Jahreshälfte 1518 zusammenstellte: „Alßo ist eyn gemeyn spruch unter den lerern: Nit das sacrament, sonder der glaub, der das sacrament glaubt, ablegt die sund. Alßo sagt s. Augustin: Das sacrament nympt die sund nit darumb, das es geschicht, sondern darumb, das man yhm glaubt.“ (WA 2 715,34-37) 247 WA 2 732,16-18. 248 WA 2 732,19-21. Deutlich ist an dieser Stelle, dass das Erschrecken des Gewissens vorausgesetzt bleibt. Insofern sollte man auch nicht formulieren, dass der Glaube nun an die Stelle der contritio tritt (HAUSAMMANN, S. 127). Zu Recht fasst SCHWAB zusammen: „Glaube macht Reue, Schmerz, Buße nicht überflüssig, er nimmt ihnen aber den Charakter, Bedingung der Vergebung zu sein.“ (SCHWAB, S. 104) 249 WA 2 733,35. 250 WA 2 733,39. 251 Vgl. schon im Sermon von der Betrachtung des Leidens Christi: „macht er unß gerecht unnd loß von allen sunden, ßo wir anders dasselb gleubenn.“ (WA 2 140,25-26)

6.5 Die reformatorischen Sermone

235

wird zugleich auch eine gewisse Reflexivität des Glaubens betont: der Glaube weiß um sich selbst als Glauben. Er ist unvereinbar mit Zweifel und seinem Wesen nach mit Gewissheit verbunden. Schon im Sermon vom Gebet betonte Luther hinsichtlich der Erhörungsgewissheit des Christen: Es „ist nott, das man yhe nit zweyfele an der zusagung des wahrhafftigen und getrawen gottis.“252 Darum hat Gott „befolen, das man yhe gewissen festen glauben hab“253. Um solcher Gewissheit willen sei es für den Glauben unverzichtbar, sich selbst als Glauben zu wissen bzw. seiner bewusst zu sein. So genügt es im Sermon vom Abendmahl nicht, um das verheißene Heil im Sakrament zu wissen. „Sondern du must seyn auch begeren und festiglich glauben, du habst es erlangt.“254 Dabei geht es nicht darum, an den eigenen Glauben auch zu glauben, wie bisweilen polemisch zugespitzt wurde. Auch geht es nicht um eine neue Bewegung der Introspektion, in der sich der Mensch innerlich von der Vorhandenheit des Glaubens überzeugen könne. Nur indem der Glaube sich selbst als Glaube weiß, verlässt er sich rückhaltlos auf die Zusage der göttlichen Verheißung. So heißt es im Sermon von neuen Testament: Der Mensch muss „der gottlichen zusagug trewlich gleuben und yhe nit dran zweyffeln, es sey und gescheh also, wie er zusagt. Diße trew und glaub ist der anfang mitell und end aller werck und gerechtickeit“ 255. Dieser Glaube ist in seinen Wirkungen nun gänzlich bezogen auf die Überwindung der Furcht. In immer neuen Wendungen betont Luther im Bußsermon die eigentliche Frucht der auf den Glauben konzentrierten Buße: Solche Vergebung „macht leicht und frolich das gewissen ynnerlich“256, sie bringt „eyn froliche zuvorsicht“257, ein „frolich gewissen und leichtes hertz“258, dass der Mensch „mit frolichen hertzen und gutem gewissen“ gute Werke wirken kann. Denn im Sakrament liegen „trost unnd frid des gewissens, alle freud und seligkeit des herzten“259. So sehr der Glaube ganz ausgerichtet ist auf das Heil extra nos, wie es dem Menschen entgegenkommt in Wort und Zusage Gottes, so ist er in dieser Außenbezogenheit zugleich tief innerlich. Wo der Glaube Herz und Gewissen bestimmt, sind diese mit Frieden, Trost und Freude erfüllt. Denn „alleyn umb

Und im Sermon von der Bereitung zum Sterben: „Es muß der glaub da seyn, der sich drauff vorlasse und frolich yn solch gottis zeychen unnd zusagen.“ (WA 2 693,30) 252 WA 2 175,19-20. 253 WA 2 175,21. 254 WA 2 749,34-35. 255 WA 6 356,9-11. 256 WA 2 714,16. 257 WA 2 714,19. 258 WA 2 714,25. 259 WA 2 715,18-19.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

des glaubens willen“260 wird dem Menschen diese Frucht der Buße zuteil. Die Vergebung ist von diesen Folgen nicht zu trennen. Die geglaubte Vergebung bringt notwendig die Überwindung der Furcht, Trost und Frieden mit sich. So ist die Bedeutung des Sakraments: „Die gnad, vorgebung der sund, der frid und trost des gewissen, wie dan die wort lauten. Darumb heyßt es eyn sacrament, eyn heylig zeychen, das man die wort horet eußerlich, die do bedeuten die geistlichen guter ynnewendigk, davon das hertz getrostet wirt und befridet.“261

So wird auch im Taufsermon der enge Zusammenhang von Glauben und Frieden bzw. Trost beschrieben. Wo der Mensch sich im Glauben an seine Taufe klammert, da „geht die tauff widder yn yhrem werck und crafft, ßo wirt das hertz widder zu friden unnd frolich“262. Entsprechend heißt es im Abendmahlssermon: „Sich, das ist die frucht und prauch dißes sacraments, davon das hertz muß frolich und starck werden.“263 Die Zusammengehörigkeit von Glauben und der mit Trost und Frieden verbundenen Überwindung der Furcht ist unauflöslich. Desto schwieriger ist die Frage, wie mit einem Ausbleiben von Frieden und Trost trotz vermeintlichem Glauben umzugehen ist. Luther kommt auf diese Möglichkeit in seinem Bußsermon zu sprechen. So könne es vorkommen, dass ein Mensch die Vergebung der Sünde nicht zu empfinden vermag „und bleybt das zappeln und unruge des gewissens nach dem sacrament wie vor.“ 264 Da für Luther feststeht, dass Frieden und Trost mit dem Glauben untrennbar verbunden sind265, kann es nur heißen: „der geprech ist am glauben“266. Es scheint, als binde Luther nun so, wie er noch in der Römerbriefvorlesung die Gegenwart der Gnade binden konnte an die Furcht vor dem Gericht, die Wirklichkeit des Glaubens an die Erfahrung von Frieden und Trost. Luther kann Friedenserfahrung und Glauben vielfach miteinander quasi identisch sein lassen, wie etwa im Sermon vom neuen Testament: „Die weyl aber solch vortzagen und unruge des gewissens nit anders ist, denn ein geprechen des glaubens, die allerschwereste kranckheit, die der mensch mag haben an leyb und seele, und sie nit auff ein mall odder eylend mag gesund werden“ 267.

260 261 262 263 264 265

WA 2 716,3-4. WA 2 715,25-28. WA 2 733,19-20. WA 2 745,17-18. WA 2 720,32-33. „Es ist nit muglich, das das hertz nit solt frolich seyn, ßo es glaubt seyner sund vorgebung, als weinig auch muglich ist, das nit betrubt und unrugig sey, wa es nit glaubt die sund vorgeben.“ (WA 2 720,34-36) 266 WA 2 720,33-34. 267 WA 6 377,7-10. W ALTER M OSTERT überträgt „geprechen“ in seiner Übersetzung mit „Fehlen des Glaubens“. (LUTHER, MARTIN: Ausgewählte Schriften, Bd. 2. Hrsg. von

6.5 Die reformatorischen Sermone

237

Doch so sehr Luther die Verbindung von Glaube und erfahrenen Frieden betont, so lässt er sich doch nicht zu einer solch kurzschlüssigen Identifikation des Glaubens mit empirischer Trosterfahrung hinreißen. Solche Unruhe sei nicht automatisch Zeichen dafür, dass überhaupt kein Glaube vorhanden sei. Vielmehr gelte dann: „Nu lest got den glauben alßo schwach bleyben: daran soll man nit vortzagen, Sondern dasselb auffnehmenn als eyn vorsuchen und anfechtung, durch welch gott probirt, reytzt und treybt den menschen, das er dester mehr ruff unnd bitt umb solchen glauben“268.

Solchem Ausbleiben des Glaubens kann man wiederum nur mit Glauben begegnen. Anfechtung ist dabei die entscheidende Kategorie, die nicht zu einem Schritt über den Glauben hinaus, sondern nur zu einer Vertiefung in die Bewegung des Glaubens hinein führen will: Solche Erfahrung müsse der Mensch annehmen, „biß das er hend und fuß faren laß, an yhm selbs vorzweyffelt yn lauter gottis gnaden hoff und hafft an unterlaß.“ 269 Man kann hier von einer gewissen Wiederkehr der mystischen Terminologie reden, wie Luther sie in Anlehnung an Tauler in der Zeit der Römerbriefvorlesung verwendet hat. Der Glaube, der sich auf das Wort der Verheißung stützt, ist nach wie vor zu beschreiben als völlige Überlassung an Gottes Willen, als nuda fides in deum. Dass sich der Glaube nicht immer in erfahrenem Frieden und Trost als gewiss erlebt, das macht für Luther das Wesen der Anfechtung aus. Wie insgesamt die Aneignung des Heils, so ist nun auch der Begriff der Anfechtung auf den Glauben konzentriert. „Den glauben ficht der Teuffell am meysten an, wen er den umbstosset, ßo hat er gewonnen“ 270, heißt es im Taufsermon.271 Solche Anfechtung ist die eigentliche geistliche Gefährdung des Menschen. Will die Anfechtung den Menschen vom Glauben wegziehen, so ist die einzige Chance der Überwindung, sich desto mehr in den Glauben zu vertiefen. So gesehen wird die Anfechtung ein Anreiz Gottes, sich desto mehr glaubend am Zuspruch des Wortes bzw. des Sakraments zu vergewissern. Nicht zufällig greift Luther dabei abermals nach Bildern, die ihm aus seiner Beschäftigung mit Tauler geläufig sind:

Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Frankfurt/Main 1982. S. 112.) Damit verfehlt er jedoch die feine Differenzierung Luthers. Das Motiv des Gesundwerdens zeigt, dass „geprechen“ als Schwäche zu verstehen ist. 268 WA 2 720,36-721,2. 269 WA 2 721,5-6. 270 WA 2 733,27-28. 271 Vgl. analog im Abendmahlssermon: „Hie ficht der teuffell und die natur am meysten, das der glaub nur nit bestehe.“ (WA 2 749,35-36)

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

„Und gottis rad und will auch ist, das er unß mit ßo vil hunden jagt und treybt und allenthalben bitter lactucken bereydt, das wir nach dißer stercke sollen unß sehnen und des heyligen sacraments fro werden“272.

Die Anfechtung ist es daher schließlich, die den steten Umgang mit Wort und Sakrament zu einer Übung des Glaubens (im Sinne eines genitivus subjectivus und objectivus!) werden lässt. Der Begriff der Übung spielt im Taufsermon da eine Rolle, wo die empfangene Vergebung den Menschen dahin führe, sich nun auch in der Tötung der Sünden zu üben. Dabei sei solche Übung zunächst eine Folge des Glaubens. Wo der Mensch im Glauben sich der Vergebung vergewissere, indem er an seine Taufe denke, komme es in einem zweiten Schritt dazu, dass er „sich ube zu streyten widder die sund“ 273. Denn wohl wolle Gott die Sünde nicht anrechnen; es gelte aber „doch, das man sie mit vielen ubungen, wercken und leyden bestreyte, zu letzt mit sterben todde. Wilche das nit thun, den wirt er sie nit nachlassen“274. Diese Übungen dürften jedoch um keinen Preis als Ergänzung des Glaubens begriffen werden, als würde diesem etwas hinzugefügt. Sie seien vielmehr die Wirkung der im Glauben angeeigneten Taufe. Gott selbst habe verschiedene Stände wie den ehelichen, den geistlichen und den regierenden Stand eingerichtet, in denen die Menschen sich in solcher Weise üben sollen. 275 Darinnen erfahre der Mensch nichts anderes als eine „ubung seyner tauff“276. Weil das Heil ganz in die Relation von Vergebung und Glaube gelegt sei, seien solche Werke wohl eine nötige Konsequenz des Glaubens, nicht aber eine davon zu unterscheidende Bedingung. Darum müsse man sich hüten, dass es „nit mit engsten und sorgen zu gehe“277. Konsequent wird daher im Abendmahlssermon von einer Übung des Glaubens gesprochen. „Hie sich tzu, das du den glauben ubist und sterckist, das, wan du betrubt bist odder dich deyn sund treyben, alßo zum sacrament gehist odder meß horist“ 278. Denn es ist „nott unnd gutt, das man vill mall zum sacrament gehe, oder yhe yn der messe teglich solchen glauben ube unnd stercke, daran es alles ligt“279. Der Gedanke der Übung des Glaubens erlaubt die Unterscheidung unterschiedlicher Intensitäten, mit denen Glaube praktiziert bzw. erfahren wird. Luther kann insofern auch vom „ungeuebte[n] glaub[en]“280 reden, der hinter dem zurück bleibe, was Glaube eigentlich ausmache. Die Rede vom ungeübten Glauben ist da notwendig, 272 273 274 275 276 277 278 279 280

WA 2 746,38-747,2. WA 2 731,36. WA 2 733,3-5. WA 2 734,14ff. WA 2 736,16. WA 2 735,23. WA 2 750,4-6. WA 2 750,22-23. WA 2 753,23.

6.6 Systematische Zusammenfassung

239

wo der Glaube nicht an empirisch feststellbaren Merkmalen festgemacht werden soll, wodurch in neuer Weise eine introspektive Betrachtung seiner selbst zur Bedingung der Heilsgewissheit würde. Die Rede vom ungeübten bzw. angefochtenen Glauben eröffnet dagegen die Möglichkeit, dem Glaubensmangel nicht mit einer Ergänzung oder Überbietung zu begegnen, sondern mit Vertiefung des Glaubens in das, was ihn konstituiert: die Zusage und Verheißung Gottes in Wort und Sakrament. Gewissheit und Frieden des Glaubens bleiben dabei von jeder falschen Sicherheit zu unterschieden. 281 So sehr der Glaube als Überwindung der Gewissensfurcht die Realisation des Heils ist, ist solcher Glaube zugleich verbunden mit der rechten Furcht des Herrn. Unbeschadet der semantischen Opposition der Wortfelder von Furcht und Glaube kann es daher zum Abschluss des Bußsermons heißen: „Drumb laß uns mit furchten wandellnn, das wyr die reichtumb gotlicher gnadenn mugen mit eynem festen glawben behaltenn“ 282. Solche Furcht im Sinne der Ehrfurcht ist integraler Bestandteil des Glaubens, ohne irgendeine soteriologische Funktion zu besitzen.

6.6 Die systematische Struktur der Rechtfertigungslehre 6.6 Systematische Zusammenfassung

6.6.1. Die Aporien der Durchbruchdebatte und die reformatorischen Exklusivpartikel Die mit großem Aufwand geführte Debatte über Luthers reformatorischen Durchbruch ist seit einiger Zeit zur Ruhe gekommen.283 Kann man im Blick auf den Zeitpunkt und den präzisen Inhalt einer solchen Wende nicht unbedingt von einem Konsens sprechen, so zeichnet sich in der Verarbeitung dieser Debatte zumindest eines ab: Überwiegend lässt sich eine Abkehr von den Punktualisierungen auf nur je einen Gesichtspunkt beobachten. 284 281 „Da bey sollen wyr unß aber auch fursehen, das nit eyn falsche sicherheyt bey eynreysse“. (WA 2 737,14) 282 WA 2 737,28-30. 283 Vgl. die klassischen Sammlungen mit den einschlägigen Beiträgen zur Debatte bei LOHSE, B ERNHARD (Hrsg.): Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther (WdF 23), Darmstadt 1968. Ders. (Hrsg.): Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen (VIEG.B 25), Stuttgart 1988. 284 Vgl. die neueren Darstellungen bei K ORSCH, D IETRICH: Martin Luther. Eine Einführung (UTB 2956), Tübingen 22007. S. 47f.; KAUFMANN, T HOMAS: Martin Luther (Beck’sche Reihe Wissen), München 2006. S. 38f. Frühzeitig hat sich schon OTTO HERMANN PESCH eingesetzt für eine Beschreibung der Entwicklung Luthers, die das Prozesshafte seiner Fortschritte nicht einebnet. Zusammengefasst in P ESCH, S. 80ff.

240

Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

Im Verlauf der Debatte gab es unterschiedliche Ansätze, den Gehalt des reformatorischen Durchbruchs auf eine punktuelle Entdeckung zu konzentrieren. So stellte Ernst Bizer in seinem Buch Fides ex auditu die Erkenntnis des Wortes Gottes als Heilsmittel ins Zentrum der reformatorischen Rechtfertigungslehre. Präzisiert wurde dieser Ansatz durch Oswald Bayer, der die Entdeckung der Sprachform des Evangeliums als promissio (Zusage) betonte. Martin Brecht schloss sich mit einer Spätdatierung des Umbruchs diesen Ansätzen an, verschob das Zentrum der Entdeckung aber auf das neue Gerechtigkeitsverständnis: die Christusgerechtigkeit, die im Glauben mir zu eigen wird. 285 Schon die Vielfalt dieser Ansätze286 zeigt, dass auf diesem Weg ein Konsens schwerlich zu erzielen ist. Alle diese Darstellungen leben davon, in der Explikation ihres Entdeckungsverständnisses doch wieder einen Zusammenhang entfalten zu müssen, von dem die jeweilige Formel nicht zu lösen ist. Alle diese Ansätze benennen wesentliche Einsichten, zu denen Luther im Verlauf dieser Jahre gekommen ist; dass keine Sicht sich allgemein durchsetzen konnte, wird am unauflöslichen Zusammenhang dieser Teilmomente liegen. Diese Punktualisierungen verführen leicht dazu, bestimmte begriffliche Wendungen, und seien es promissio, simul iustus et peccator, iustitia fidei, extra nos etc., uneingeschränkt mit der Sache der Rechtfertigung zu identifizieren, womit die Weite von Luthers Ausdrucksmöglichkeiten leicht verkannt wird. 287 Daher scheint es sinnvoll, sich von solchen Punktualisierungen des Rechtfertigungsverständnisses grundsätzlich zu verabschieden. Seit den Auseinandersetzungen im Lutherischen Weltbund in Helsinki 1963 konnte der Eindruck entstehen, dass es in der lutherischen Theologie 285

Zusammengefasst in B RECHT I, S. 215-230, vor allem S. 223. Nahe bei diesem Ansatz dürfte der jüngste Versuch von W ILFRIED HÄRLE stehen, den Gehalt der reformatorischen Entdeckung am Wesen der „Gerechtigkeit“ Gottes zu verdeutlichen, die vom Hebräischen her als Gemeinschaftstreue zu begreifen ist; die Gott selbst eigen ist und in der er in uns Glauben d. h. Gemeinschaftstreue wirkt. Vgl. HÄRLE, W ILFRIED: Luthers reformatorische Entdeckung – damals und heute, in: Ders.: Menschsein im Werden. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen 2006. S. 1-19. 286 Weitere Zuspitzungen für das zentral Reformatorische waren etwa die Formel nos extra nos bei KARL-HEINZ ZUR MÜHLEN, Nos und der Ausdruck simul iustus et peccator bei W ILHELM LINK und RUDOLF HERMANN. (LINK, W ILHELM: Das Ringen Luthers um die Freiheit der Theologie von der Philosophie, hrsg. von Ernst Wolf und Manfred Mezger, Berlin 1954 [1940]; HERMANN, RUDOLF: Luthers These „Gerecht und Sünder zugleich“, Darmstadt 21960 [1930].) 287 Vgl. G ERHARD E BELING: „Ort und Funktion der Rechtfertigungsaussage in Luthers Theologie geht einem erst dann richtig auf, wenn man sie im Blick auf die lebendige Vielfalt der theologischen Thematik bei ihm und angesichts der Freiheit und unerschöpflichen Amplifikation seiner Sprachgestalt bedenkt.“ (EBELING, GERHARD: Disputatio de homine. 3. Teil. Die theologische Definition des Menschen, Kommentar zu These 20-40, Lutherstudien Bd. II/3, Tübingen 1989. S. 417.)

6.6 Systematische Zusammenfassung

241

keinen wirklichen Konsens mehr gibt über den Inhalt der Rechtfertigungslehre.288 Dieser Eindruck beruht jedoch wesentlich auf den Auseinandersetzungen um die Bestimmung ihrer Gegenwartsbedeutung. Dagegen kann man mit guten Gründen behaupten, dass es einen durchgängigen Konsens dahingehend gibt, mit den particula exclusiva sola gratia, solus Christus und sola fide die Konstellation angeben zu können, die die reformatorische Rechtfertigungslehre vollgültig beschreibt. Ob Wilfried Härle 289 oder Joachim Ringleben290 ob Eberhard Jüngel291 oder Michael Welker292, keiner kann darauf verzichten, Rechtfertigung im Muster dieser Bestimmungen zu formulieren. In unserer Studie lag die Aufmerksamkeit nicht so sehr auf einzelnen theologischen Begriffen, sondern auf dem Umgang mit einer existenziellen Herausforderung, der Erfahrung extremer Angst. Luthers theologische Entwicklung ist daher aus pragmatischer Perspektive betrachtet worden: als Bewältigungsbemühung in existenziell gefährdender Erfahrung. Die Konzentration auf diese Perspektive impliziert nicht die These, dass Luthers Theologie sich aus dieser Konfliktsituation ableiten lässt oder auf eine solch subjektive Situation beschränkt ist. Wohl aber wird deutlich, dass sich Luthers Denken in dieser Herausforderung zu bewähren wusste. Seine theologische Entwicklung lässt sich im Durchgang der reformatorischen Exklusivpartikel nachzeichnen als Interpretationsversuch, die Erfahrung der Angst im Licht der Bibel deutend zu bewältigen.

288 Vgl. H ÄRLE , W ILFRIED: Zur Gegenwartsbedeutung der „Rechtfertigungs“-Lehre. Eine Problemskizze, in: Ders.: Menschsein im Werden. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen 2006. S. 67-105. S. 67ff. 289 Vgl. W ILFRIED H ÄRLE : Es „ereignet sich die Rechtfertigung des Menschen vor Gott sola gratia, sola fide, solo Christo“. (HÄRLE, Entdeckung, S. 11) 290 Vgl. R INGLEBEN, J OACHIM : Heilsgewißheit. Eine systematische Betrachtung, in: ZThK Beih. 10. Zur Rechtfertigungslehre, Tübingen 1998. S. 65-100. S. 71. Und zwar gilt: „sola fide, weil solus Christus (von Gott her) und solus Christus, weil sola gratia.“ (R INGLEBEN, Heilsgewißheit. S. 80) 291 J ÜNGEL, EBERHARD: Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 31999. JÜNGEL entfaltet die Rechtfertigungslehre im Durchgang durch vier reformatorische Exklusivpartikel: solus Christus, sola gratia, solo verbo und sola fide (S. 126-220). Mit dem Gesichtspunkt des solo verbo betont J ÜNGEL ein Element, das bei den meisten anderen im Zusammenhang des exklusiven Glaubensbegriffs zur Geltung kommt Vgl. J OACHIM R INGLEBEN: „sola fide und solo verbo sind unlösbar verbunden“. (R INGLEBEN, Heilsgewißheit, S. 80) Damit bringt J ÜNGEL auch das sola scriptura schon im engeren Kontext der Rechtfertigung zur Sprache. 292 Vgl. W ELKER , M ICHAEL: Die Botschaft der Reformation – heute. In: Hamm, Berndt und Michael Welker: Die Reformation. Potentiale der Freiheit, Tübingen 2008. S. 67-90.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

Die Anfänge der spezifisch lutherischen Rechtfertigungslehre kann man in der Tat in Luthers Entwicklung eines christozentrischen Begriffs von Rechtfertigung in der ersten Psalmenvorlesung erblicken. Vor allem im Vorfeld der viel diskutierten Auslegung zu Ps 71,2 entwickelt Luther in der tropologischen Auslegung der Gerechtigkeit Gottes das Motiv einer heilvollen Aneignung des Geschicks Christi in der fides Christi. Auf dieser Basis hat die conformitas mit dem leidenden und angefochtenen Christus erlösenden Charakter. Luther kann dabei auf viele Motive der monastischen Frömmigkeit bzw. der Frömmigkeitstheologie zurückgreifen. Die Einsicht in die eigene soteriologische Ohnmacht ist die letzte Weise, wie das Subjekt in der Negation Raum macht für die Gnade Gottes. Der leidende Christus als derjenige, der auch Furcht und Zittern auf sich nahm, wird das Muster, in welchem sich ein Ansatz der Furchtbewältigung auftut. Die Furcht lässt sich im Blick auf die Angst Christi umdeuten: als gutes Zeichen der Gemeinschaft und Gleichgestaltung mit Christus. Sein besonderes Profil gewinnt diese erneuerte Frömmigkeit vor allem durch ihre kritische Abgrenzung gegenüber allgemeinscholastischen Rahmenannahmen, wie es sich vor allem im Bruch mit dem gradualistischen Verlaufsschema des Heilsweges in der Kritik des timor servilis zeigt. Dass dabei vor allem der Christologie eine besondere Bedeutung zukommt, hat die ältere Forschung (vor allem Erich Vogelsang) mit Recht betont. Im Blick auf Christus allein wird die Gerichtsfurcht bewältigungsfähig. Eine Fortentwicklung von Luthers Theologie lässt sich in der Zeit der Römerbriefvorlesung beobachten. Der Gedankenkreis der conformitas mit Christus wird nicht aufgegeben, tritt aber im Zusammenhang der Auslegung zurück. Nun kommt Luther grundsätzlich zur Abgrenzung vom scholastischen Grundsatz des facere quod in se est, der in den Dictata noch positiv aufgenommen werden konnte. Die Gnade Gottes ist nun mehr als bloße Vergebungsbereitschaft Gottes bzw. mehr als ein bloßer Ermöglichungsgrund des Heils. Es ist die Alleinwirksamkeit der Gnade (und damit ein Begriff von sola gratia), die zum Strukturprinzip der Rechtfertigung wird. Damit verbunden sind die Einsichten nicht nur in die ethischsoteriologische Ohnmacht des Menschen, sondern auch in die metaphysische: Prinzipiell bestreitet Luther die Existenz eines freien Willens bzw. eines unversehrten Aktzentrums gegenüber Gott, in welchem der Mensch zustimmend oder zulassend an seinem Heil beteiligt ist. Die Paulustheologie, verstärkt und unterstützt vom antipelagianischen Augustin und den Einflüssen Staupitz’, wird nun zu einem neuen Organisationszentrum in Luthers Denken. Der Begriff der Gnade tritt daher in Opposition zu den Zusammenhängen von freiem Willen, menschlicher Vorbereitung, Mitwirkung und Verdienst. Die so verstandene Bedingungslosigkeit der Gnade steht im kritischen Gegensatz zur scholastischen Theologie überhaupt.

6.6 Systematische Zusammenfassung

243

Das sola gratia der Römerbriefvorlesung findet in zwei zentralen Ausdrücken sein besonderes Profil: im extra nos und im simul iustus et peccator. In der Betonung des extra nos reflektiert sich eine Externalisierung des Heils, die als konsequente Vertiefung des bisherigen solus Christus aufzufassen ist. Durch die Alleinwirksamkeit Gottes zum Heil des Menschen wird die menschliche Erlösung zu einer Größe, die in keiner Weise mehr im menschlichen Lebensvollzug generiert werden kann. Wie das Heil von außen kommt, behält es bleibend seine Heilswirklichkeit extra nos in der Person Jesu Christi und wird nicht mehr Teil einer gnadenhaften Umgestaltung des menschlichen Seins. Der bleibende Charakter des extra nos wird durch die Formel simul iustus et peccator zur Geltung gebracht. Die Wirklichkeit des Heils in der Glaubensbeziehung des Menschen zu Gott durch Jesus Christus wird nicht mehr als eine horizontal-entwicklungsmäßige Verwirklichung des Heils im Menschen verstanden. Es ist vor allem dieser Zusammenhang, der aus der Perspektive des Furchtproblems das Bedingungsgefüge menschlicher Selbstbetrachtung im Kontext der Buße aufsprengt. Dass Luthers Theologie zu dieser Zeit in grundsätzlicher Weise gebrochen hat mit den Möglichkeiten der scholastischen Theologie, sowohl in ihren spätfranziskanischen wie in ihren thomistischen Ausprägungen, ist schwerlich zu bestreiten. Bezeichnungen wie „vorreformatorische Demutstheologie“ werden spätestens der Römerbriefvorlesung nicht mehr gerecht. 293 Der vielfach vollzogene Systembruch rechtfertigt es, hier von einer „frühreformatorischen Rechtfertigungslehre“ zu sprechen. Zugleich ist unverkennbar, dass dieses Denken an einigen Schlüsselgelenken noch Unschärfen aufweist. Vor allem gilt dies für die Frage nach der Gegebenheitsweise des Heils, in der dieses vermittelt und angeeignet wird. Hier finden sich eine Fülle von Anschauungen und Begriffen, mit denen Luther das rechte Gottesverhältnis bezeichnen kann: Glaube, Demut, Gebet, Anklage seiner selbst, Gott Recht geben etc. In der völligen Überlassung an den Willen Gottes ist es vor allem die Erfahrung der Furcht, die einen zeichenhaften und vergewissernden Charakter bekommt. So sehr innerhalb der Rechtfertigungsterminologie die Bedingungslosigkeit der Gnade betont wird, entsteht in ihrer Aneignung dadurch doch wieder so etwas wie ein synergistischer Schein. Auch wenn die Anstöße der Taulerlektüre an dieser Stelle eine Vertiefung anbahnen, auch wenn Glaube zunehmend als prinzipielle Passivität Gott gegenüber ausgedrückt wird, um der Unschärfen bezüglich der Heilsaneignung willen kann man an dieser Stelle nur von einer bedingten Bedingungslosigkeit reden. 293 Vgl. in diesem Sinne auch das Plädoyer von B ERNDT HAMM, Rechtfertigungslehre. Diese Einsicht sollte jedoch nicht die Sicht verstellen für die wesentliche Weiterentwicklung in der Zeit des Ablassstreites.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

Erst in der Konsequenz der Ablassauseinandersetzungen kommt es hier zu letzten Klärungen. Die frühe Rechtfertigungstheologie betonte die Einsicht in die soteriologische Ohnmacht des Menschen als Sünder und die vertrauensvolle Überlassung an die Gnade Gottes in Jesus Christus. Die mit der Einsicht in die eigene Sünde verbundene Gerichtsfurcht wird in dieser Bewegung deutungsfähig als Zeichen des Heils. Wird Furcht in dieser Haltung der Einwilligung umgedeutet und somit in seiner verheerenden Dynamik überwunden, so wird sie durch dieses Moment affektiver Selbstwahrnehmung als Bestandteil der Heilsaneignung zugleich notwendig. Auch wenn das Heil ganz außer uns begründet ist, wird es in seiner Aneignung nach wie vor an eine ewige Bewegung im Erlebnishorizont des Menschen gebunden. Die radikale Infragestellung seiner Theologie durch den drohenden Prozess von außen bringt für Luther eine völlig neue Konstellation existenziellen Herausgefordertseins mit sich. Die entwickelte Theologie muss nun nach außen verantwortet werden, womit sich in neuer Weise die Frage ihrer Wahrheitsgewissheit stellt. Indem Luther seine theologischen Ansätze verstärkt auf den Grund ihrer Geltung hin durchdenken muss, kommt es schrittweise zu einer Schlüsselstellung der Frage geistlicher Gewissheit überhaupt. Unter verschärfter Zuspitzung auf diese Frage kommt es vor allem im Blick auf die Aneignung des Heils zu einem erheblichen Umbruch seines Denkens. Die zur Zeit der Römerbriefvorlesung noch begegnende Breite in den Beschreibungen der Heilsaneignung (Glaube, Buße, Furcht, Demut etc.) reduziert sich in einer ungeheuren Konzentration auf die Entsprechung von Wort und Glaube und damit zur Entwicklung des sola fide. Wohl war das Wort Gottes schon lange selbstverständlicher Bestandteil im Prozess der Heilsaneignung. Schon die Dictata zeigen die hohe soteriologische Bedeutung der Bibel. Die Forcierung der tropologischen Auslegung betonte gerade die heilvolle Aneignung des Bibelwortes. Dabei verblieb Luther jedoch im Horizont einer Signifikationshermeneutik augustinischer Prägung, die das Wort nicht im Sinne einer effektiven Wirksamkeit verstehen konnte, sondern die geistvermittelte Aneignung über das Motiv des inneren Wortes ins Zentrum stellte. Bekanntlich lassen sich aus der Römerbriefvorlesung Zitate genug beibringen, die vermeintlich die Korrelation von Wort und Glaube ausdrücklich formulieren. Diese Nachweise bleiben jedoch unbefriedigend, weil sie nicht das Muster für die Gesamtheit des von Luther beschriebenen Weges der Heilsaneignung abgeben können. Insbesondere in seinem äußerlichen Charakter bleibt das Wort befangen in einem bloßen „außen“, wo hingegen das Heil sich „innen“ durch das heimlich eynrunen vermittelt. In den Resolutiones zu den Ablassthesen war der Umbruch minutiös nachzuzeichnen: Hier erscheint das Wort nicht mehr nur als Anzeige, son-

6.6 Systematische Zusammenfassung

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dern als wirkliche Mitteilung des Heils, nicht als bloßes Zeichen, sondern als die Sache selbst der göttlichen Heilsgegenwart. Diese neue Stellung des Wortes, die man nicht anders denn als wesentliche Entdeckung294 wird bezeichnen können, verändert auch die Konstellation der bisherigen Zuordnung des Furchtproblems erheblich. So ist in den Dictata die Furcht noch das Zeichen der Christusgemeinschaft, auch in der Römerbriefvorlesung ist die Furcht an entscheidenden Stellen das signum gratiae. Im Verlauf des Ablassstreites wird in der Umformung des Bußsakraments das Wort der Vergebung das Zeichen der Gnade. Diese Zuspitzung auf die Wirkung des äußeren Wortes führt zu einer Konzentration auch in der Weise, wie der Mensch der göttlichen Gnade entspricht: Allein im Hören auf das Wort des Evangeliums wird das Heil zuteil. Allein der Glaube wird das ganze Gottesverhältnis. Der Glaube, der das Wort ergreift, sich zu eigen macht und darauf vertraut, ist das Heil: glaubstu, so hastu. Erst durch diese Zuspitzung kann von einer unbedingten Bedingungslosigkeit gesprochen werden. Dieser Wandel im Verständnis des Glaubens verändert auch den Stellenwert der Furcht nachhaltig: Furcht ist nun nicht mehr ein Begriff aus dem Wortfeld des Glaubens, kein Moment der Heilsaneignung im Zusammenhang von Buße, Glaube, Demut etc. Vielmehr tritt der neue Glaubensbegriff in Opposition zur Furcht: Der Glaube überwindet die Furcht. Nicht mehr Annahme und Einwilligung des Gefürchteten und damit Umdeutung der Furcht ist der Weg ihrer Bewältigung. In der Konsequenz des wirksamen Wortes kommt es zu einer Umgestaltung auch des Affekts. In der Gewissheit des Glaubens sind Freude, Friede und Trost und nicht mehr Furcht die affektiven Momente des Glaubens in der Erfahrung des Menschen. 6.6.2. Selbstverhältnis und Gottesverhältnis Haben wir die Formation reformatorischer Rechtfertigungslehre im Durchgang durch die particula exclusiva unter beständiger Berücksichtigung des Furchtproblems nachvollzogen, so soll derselbe Zusammenhang nun noch einmal mit Zuspitzung auf den Zusammenhang von Selbstverhältnis und Gottesverhältnis entwickelt werden. Auch dabei wird die Rolle des Angsterlebens jeweils mitreflektiert werden müssen. Schon für die frühe Theologie Luthers ist kennzeichnend, dass das Gottesverhältnis nicht zu trennen ist von menschlicher Selbsterfahrung. Gott wird nicht einfach als positiv Gegebenes vorausgesetzt, grundsätzlich gilt:

294 Vgl. B AYER, OSWALD: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003. S. 43.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

ohne Selbsterkenntnis kann auch Gott nicht erkannt werden.295 In diesem Zusammenhang war es nun das menschliche Selbstgefühl, nach dem sich die Art des Gottesverhältnisses bestimmen ließ. Negativ erschien die Angst vor Gericht und Hölle als Vorwegnahme des ewigen Zornes Gottes. Positiv ließ sich diese Angst als Zeichen der Gnade bzw. der Gegenwart Christi umdeuten. Insofern war die Bestimmung des Gottesverhältnisses gegründet in der Weise des affektiven Sich-gegebenseins im Selbstverhältnis. Diese Zuordnung wird in der reifen Rechtfertigungslehre umgekehrt. Auch hier bleibt der Durchgang durch die Selbsterfahrung notwendige Grundvoraussetzung des religiösen Vollzugs überhaupt. Und doch bekommt dieses Selbstverhältnis nun im Aufbau des Gottesverhältnisses einen anderen Stellenwert. Thetisch zugespitzt kann man sagen, dass sich das Heil des Menschen nun nicht mehr über der Evidenz des selbstreflexiven Vollzugs des eigenen Lebens aufbaut. Vielmehr wird nun umgekehrt das menschliche Selbstverhältnis in solcher Weise auf Gott bezogen, dass es im Gottesverhältnis seinen Grund findet. Diese Umstellung hat darin ihren Ausgangspunkt, dass konsequent das Wort Gottes als bestimmende und schöpferische Instanz den Aufbau des Gottesverhältnisses bestimmt. Die Kategorie des Wortes Gottes war von Luther in der ersten Jahreshälfte 1518 natürlich nicht neu zu entdecken. Die Veränderung lässt sich so beschreiben, dass das Wort Gottes in neuer Weise zur Bestimmung des Handelns Gottes wird. Die folgenreiche Wende in Luthers Denken vollzieht sich in einem Umbruch, in der das gnadenhafte Wirken Gottes in der Seele ersetzt wird durch Gottes schöpferisches Anreden des Menschen. Nicht mehr über die sakramental vermittelte Wirkung der Gnade, sondern durch das Angeredetwerden durch Gott ist der Vollzug der Heilsmitteilung bestimmt. 296 In diesem Ereignis vollzieht sich gleichermaßen eine Aufhebung des menschlichen Selbstverhältnisses (durch das Gesetz) wie dessen Neubegründung (durch das Evangelium). Dieses Moment der Anrede Gottes nimmt die menschliche Introspektion aus dem Vollzug des Heils heraus und begründet die fides ex auditu, das Hören auf Gott, als wahres Medium der Rechtfertigung. Die Dimension der psychologischen Selbsterfahrung wird dabei nicht abgetan. Als Durchgang ist sie ein unverzichtbares Moment des Gottesverhältnisses. Im Schrecken des Gesetzes wird die ganze Haltlosigkeit und Ohnmacht des selbstbegründeten Lebens erfahren. Aber diese Furchterfahrung wird jeglicher soteriologischen Relevanz entkleidet. Vermittels der Anrede durch das Wort Gottes wird das Gottesverhältnis 295

Vgl. auch für die Phase der Römerauslegung den Aufsatz von R INGLEBEN, J OADie Einheit von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis. Beobachtungen anhand von Luthers Römerbriefvorlesung, in: Ders.: Arbeit am Gottesbegriff. Bd. 1: Reformatorische Grundlegung, Gotteslehre, Eschatologie, Tübingen 2004. S. 18-28. 296 Vgl. K ORSCH, Luther, S. 39. CHIM :

6.6 Systematische Zusammenfassung

247

somit zum tragenden Grund des Selbstverhältnisses.297 Dieser strengen Ausrichtung auf das Wort entspricht menschlicherseits die Konzentration auf das Hören. Der Heilszusage der Vergebung entspricht der Mensch im vertrauenden Glauben. Nicht mehr die erfahrene Weise des affektiven Sich-selbst-gegebenseins, sondern das gehörte Wort des Evangeliums ist die maßgebliche Bestimmung des Gottesverhältnisses. 298 Solo verbo und sola fide entsprechen einander.299 Solcher Glaube steht nicht mehr in einem Wortfeld mit Furcht zusammen. Wo die Furcht nunmehr als Wirkung des Gesetzes erfahren wird, erscheint der vom Evangelium gewirkte Glaube als Überwindung der Furcht. Diese Neubegründung des menschlichen Selbstverhältnisses im Gottesverhältnis ist es aber, die im Zusammenhang der Rechtfertigung als Heilsgewissheit zur Sprache gebracht wird. In Luthers theologischer Entwicklung lassen sich in der Entwicklung der spezifischen Auffassung von Gewissheit zwei Stufen unterscheiden. Luthers neue Entdeckung in der Phase der Paulusexegese (unter dem Einfluss des antipelagianischen Augustins und Staupitz’) ist die Einsicht in die Alleinwirksamkeit Gottes in seinem Gnadenhandeln. Mit dieser Voraussetzung war die theoretische Dimension der Gewissheitsfrage gegeben: Gnadengewissheit bedarf des Bewusstseins der Alleinwirksamkeit Gottes. 300 Schon hier ist mit der dogmatischen Heilsungewissheit im Sinne der traditionellen Berufung auf Eccl 9,1 gebrochen. Diese Einsicht führte freilich die Prädestinationsanfechtung 297 Vgl. das Ende der Freiheitsschrift: „Concludimus itaque, Christianum hominem non vivere in seipso, sed in Christo et proximo suo, aut Christianum non esse, in Christo per fidem, in proximo per charitatem: per fidem sursum rapitur supra se in deum, rursum per charitatem labitur infra se in proximum, manens tamen semper in deo et charitate eius.“ (WA 7 69,12-16 = LDStA 2, S. 174,3-7) 298 Vgl. die präzise Beschreibung dieses Wandels bei E ILERT HERMS: „Das für die Selbstwahrnehmung zugängliche Offenbarsein des Gnadenstandes besteht nicht mehr in einem eindeutig positiv qualifizierten Seelenzustand als signum der Gnade, das den Rückschluss auf diese selber ermöglicht, sondern in der das Leben des einzelnen treffenden und prägenden Offenbarung der Gnade Gottes in seinem Wort selber.“ (H ERMS, EILERT: Art. Erfahrung IV, TRE 10 [1982] S. 128-136. S. 130.) 299 Vgl. in diesem Sinne E BERHARD J ÜNGEL: „Dabei ist der Glaube das dem Wort Gottes entsprechende menschliche Selbstverhältnis.“ (JÜNGEL, Freiheit, S. 130) Darin zeigt sich der Sinn der Kurzformel Glaubstu so hastu: „Dieser Fundamentalsatz Luthers lässt sich nur verstehen, wenn man den Glauben als dasjenige Verhalten des Menschen begreift, in dem dieser sich ganz und gar auf das verlässt, was er hört.“ (S. 131) 300 Vgl. die Fortsetzung und Vertiefung dieser Einsichten Luthers in De servo arbitrio. Vgl. jetzt besonders HERMS, EILERT: Gewißheit in Luthers „De servo arbitrio“, in: Ders.: Phänomene des Glaubens. Beiträge zur Fundamentaltheologie, Tübingen 2006. S. 56-80. HERMS zeigt, dass Luther hier den im Römerkommentar erstmals durchdachten Zusammenhang in schöpfungstheologischer Weite ausführt. Dabei verdeutlich er, wie das Bewusstsein der Notwendigkeitsgewissheit soteriologische Heilsgewissheit ermöglicht, ohne kreatürliche Freiheitsgewissheit auszuschließen.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

herauf. Diese war nicht anders zu bewältigen als in Fortführung der Konformitätshaltung, die nun durch Taulers Einfluss grundsätzlicher gefasst wird. Gewissheit gab es nur in der Form einer paradoxen Gewissheit, die dadurch ausgezeichnet ist, dass sie gerade durch Preisgabe der Gewissheit, durch Annehmen der Furcht gewonnen wird: Nur die Einwilligung in die Furcht überwindet die Furcht, nur die Preisgabe des Heils erlangt das Heil, nur wer sich als Sünder anklagt, ist gerecht. Im Ablassstreit kommt zu dieser theoretischen Dimension eine weitere hinzu, die als existenzielles Moment der Gewissheit bezeichnet werden kann. Das Wort als wirksames Zeichen des Heils bringt Glaubensgewissheit mit sich. Diese „transmutatio[nem] mentis et affectus“ 301 lässt sich als Evidenzwiderfahrnis beschreiben. Im Vollzug der Aneignung dieses vergewissernden Wortes durch den Glauben bringt sich die Wahrheit des christlichen Glaubens mit Gewissheit zur Geltung. Solchem Glauben wohnt deshalb Gewissheit als Wesensmerkmal inne, weil der Glaube im konsequenten Von-sich-absehen besteht. Das extra nos der Gnade ist dahingehend vertieft, dass der Mensch sich allein im Außerhalb seiner selbst begründet weiß; indem er hört und das Gehörte glaubend gelten lässt. Wird der Mensch durch den Glauben außerhalb seiner neu begründet, so ist diese Außenbegründung keine Form des Selbstverlustes. Vielmehr gewinnt der Mensch damit allererst die tragende Basis eines gelingenden Selbstverhältnisses. 302 Dafür steht die Konstellation des im Glauben begründeten Verhältnisses zu sich selbst, wie sie im Gewissheitsmotiv konzentriert ist. Dieser Übergang ist nicht ein für allemal zu vollziehen, sondern bleibende Aufgabe im Lebensvollzug. Glaube bleibt eine Gründung des Menschen in Christus, ein Bei-sich-Sein durch das Sein in Christus. Dabei ist es die Dialektik von Gesetz und Evangelium, die dieser Nötigung zum steten Vollzug des transitus entspricht. Der Ertrag der frühen Bearbeitung des Furchtproblems geht ein in die Kategorie des Gesetzes. Indem das Gesetz die Selbstentzweiung unter den Bedingungen der Sünde anzeigt, zerstört es Sicherheit als Begründung menschlichen Seins durch sich selbst bzw. durch Weltliches. Solche Gewissheit ist in zwei Richtungen auf ihre Implikationen hin zu entfalten: im Blick auf die Reflexivität des Glaubens und die Exzentrizität christlichen Personseins. 303 Solcher Glauben hat nun in der Tat ein selbst301 302

WA 1 526,2-3 = LDStA 2, S. 18,32. Vgl. auch die gelungene Formulierung bei R INGLEBEN: „Die Gottesgewißheit sammelt den Menschen zu sich gerade, indem sie ihn weg von sich auf Gott hin ausrichtet.“ (R INGLEBEN, Heilsgewißheit, S. 75-76) 303 Schon K ARL H OLL betonte, dass das menschliche Selbstverhältnis nach Luther nur dialektisch zur Sprache zu bringen ist: bei Luther zeige sich ein „vollkommen selbstloses Selbstgefühl.“ (HOLL, S. 84)

6.6 Systematische Zusammenfassung

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reflexives Moment. Daher hat es etwas Sachgemäßes, wenn Paul Hacker diese fides als reflexiven Glauben304 beschrieb. Abwegig war freilich die Kritik, diese Reflexivität als eine Selbstbegründung zu beschreiben, die das incurvatus in seipsum des Sünders im Gottesverhältnis fortsetzt. In der Tat, der Glaube weiß um sich selbst; doch nicht in der Art, dass er als in sich selbst gegründetes religiöses Verhältnis zu begreifen ist. Der Glaube ist nicht nur Gabe, sondern selbst das Innesein dieser seiner eigenen Konstitution aus Gott. 305 Nur im Bewusstsein seiner selbst als Glaubender vermag der Gläubige sich seines Heils auch wirklich gewiss zu sein.306 Der Glaube weiß sich selber als extern begründet. Gott als externer Grund des Menschen bleibt dabei nicht in einem jenseitigem An-sich-Sein, sondern zeigt sich in Jesus Christus als für den Menschen gekommen, wie es dem Menschen im Evangelium zugesagt wird. Im Sichverlassen auf dieses Wort bzw. auf diesen Jesus Christus bleibt der Glaube in diesem Angesprochensein zugleich seiner selbst gewahr. Nur in einem solchen reflexiven Glauben widerfährt ihm die Überwindung der Furcht in der Erfahrung von Frieden, Trost und Freude als Weisen des emotionalen Gewahrseins der Gegenwart Gottes im eigenen Leben. Diese Reflexivität des Glaubens muss stets zusammen gesehen werden mit der Exzentrizität des Personseins. Dieser Zusammenhang ist von Wilfried Joest zu Recht als wesentlich für die Ontologie des Personseins bei Luther herausgearbeitet worden. 307 Schon früh grenzt sich Luther von einem Personverständnis ab, dass den Menschen als in sich ruhende Substanz begreift. Joest stellt heraus, dass das Sein coram deo schon in den Dictata eine Begründung außerhalb seiner selbst beschreiben kann. Mag man hier von einer Anbahnung eines enklitischen Personverständnisses sprechen, so sind auch dessen Grenzen unverkennbar. Gerade der Stellenwert der Furcht zeigt, dass im Heilsvollzug wohl eine Anlehnung an Christus stattfindet, die Wirklichkeit des Heils jedoch an affektive Vollzügen in der menschlichen Selbsterfahrung gebunden bleibt; insofern lässt sich noch nicht von wirklicher Exzentrizität sprechen. Dazu kommt es in vollem Sinne erst in der reifen Rechtfertigungsauffassung. Hier ist nicht nur der Grund des Heils außerhalb allen menschlichen Erfahrungszusammenhangs. Auch der Vollzug geschieht durch das für den Menschen unverfügbare und kontingente Geschehen des vergewissernden Evangeliums. Das willige 304 H ACKER , P AUL: Das Ich im Glauben bei Martin Luther. Der Ursprung der anthropozentrischen Religion, Bonn 22002 (1966). 305 Zu Recht betont JOACHIM R INGLEBEN, „dass der Glaube reflexiv verfasst ist, sofern er notwendig sich selber thematisch ist und wesentlich Annahmen über sein Zustandekommen in sich schließt.“ (R INGLEBEN, Heilsgewißheit, S. 81) 306 R INGLEBEN, Heilsgewißheit, S. 81. 307 JOEST, W ILFRIED: Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967.

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Kapitel 6: Der Umbruch im Ablassstreit

Annehmen des Evangeliums fällt nicht zwangsläufig zusammen mit der Erfahrung von Gewissheit. Gerade so wird diesem Geschehen seine Kontingenz gesichert, nur so ist echte Exzentrizität denkbar. In diesem Außerhalb-seiner ist der Glaubende bei Christus, der durch das Wort der Verheißung bei ihm ist. 308 Darum kann Glaube auch nur als Einheit mit Christus recht verstanden werden.309 Diese Exzentrizität begründet die Transzendierbarkeit von Furcht. Mag das Furchterleben noch so sehr als Erfahrung seelischer Bodenlosigkeit widerfahren, so ist es im Glauben doch transzendierbar kraft des in Christus gesetzten Grundes des eigenen Personseins. Dieser Grund ist dem Glauben wiederum nicht anders gegeben als im Hören auf das Wort des Evangeliums. Das extra nos Gottes ist daher nicht zu trennen vom in nobis der rechtfertigenden Gegenwart Gottes im Leben des Menschen. Im Hören auf das Wort des Evangeliums verwirklicht sich die Verbundenheit mit Christus und damit die Relativierung aller Bestimmung durch Furcht. Dieser Zusammenhang wird in der klassischen Formulierung des Großen Galaterkommentars verdichtet: „Ideo nostra theologia est certa, quia ponit nos extra nos: non debeo niti in conscientia mea, sensuali persona, opere, sed in promissione divina, veritate, quae non potest fallere.“ 310 Fazit: Die Aufmerksamkeit auf das Thema der Angst ermöglichte es, Luthers Entwicklung von diesem Schlüsselproblem her zu periodisieren. Sowohl Leistung und bleibender Gewinn der frühen Theologie ließen sich gleichermaßen theologisch wie existenziell nachzeichnen. Der Umbruch im Glaubensverständnis war durch den Anfang 1518 deutlich erkennbaren Wandel von timor als Teil des Wortfeldes um Glaube und Buße bis zur Herausbildung einer klaren Opposition von Furcht und Glaube zu präzisieren. Darüber hinaus ist gleichermaßen die Unverzichtbarkeit religiöser Selbsterfahrung (im Gesetz) sowie deren Entsoteriologisierung (durch das Evangelium) plausibilisiert worden. Furcht verliert in der reifen Rechtfertigungsauffassung ihre begründende Funktion für das Gottesverhältnis. Sie ist weder notwendige pädagogische Anbahnung noch wesentliches Konstitutionselement des Glaubens. Zugleich ist der Zusammenhang mit menschlicher Selbsterfahrung nicht herstellbar ohne Durchgang durch die Erfahrung von Furcht als Moment existenzieller Betroffenheit. Rechtferti308 Vgl. N ÜSSEL, FRIEDERIKE : „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20a). Dogmatische Überlegungen zur Rede vom ‚Sein in Christus‘, ZThK 99 (2002) S. 480-502. „Christsein ist gekennzeichnet durch den unüberholbaren Bezug auf einen ganz bestimmten Anderen, nämlich Christus, als Grund des eigenen Lebens und manifestiert sich in einem neuen Selbstverständnis.“ (S. 482) Das Sein des Christen „realisiert sich in der exzentrischen Struktur des Glaubens, in der der Mensch außerhalb seiner selbst in Christus zu sich selbst kommt.“ (S. 501) 309 Vgl. RINGLEBEN, Heilsgewißheit, S. 86ff. 310 WA 40/I 589,8-10.

6.6 Systematische Zusammenfassung

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gung wird dadurch nicht zu einem Vorgang, der sich auf psychologische Kategorien wie Überwindung von Lebensfurcht oder das Bewusstsein des Angenommenseins reduzieren ließe.311 Zugleich ist es jedoch möglich und letztlich auch unverzichtbar, Rechtfertigung auf eine solche psychologische Ebene zu beziehen. Das Spannungsfeld von Angst und Mut ist somit mehr als nur eine mögliche lebensweltliche Konkretion. Dieser Zusammenhang erweist sich als wesentliche Herausforderung, ohne die die Struktur von Selbst- und Gottesverhältnis nur reduktiv zur Sprache zu bringen ist.

311 Zu Recht sprach D IETRICH K ORSCH im Blick auf solche Versuche von einer „Abflachung des Verständnisses von Rechtfertigung“. (KORSCH, DIETRICH: Glaube und Rechtfertigung, in: Luther Handbuch, hrsg. von Albrecht Beutel, Tübingen 2005. S. 372381. S. 372.)

Kapitel 7

Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

Haben wir bisher Entstehung und systematische Struktur der theologischen Bewältigung von Furcht bei Luther beschrieben, tritt nun die Auslegung bzw. die Bewährung dieser Zusammenhänge in der Reifezeit Luthers ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Wie im forschungsgeschichtlichen Überblick gesehen, ist es durchaus strittig, ob Luthers späterer Umgang mit dem Begriff der Furcht die Kontinuität mit der reformatorischen Anfangsgestalt seiner Deutung bewahrt hat. Ein viel diskutierter Bezugspunkt ist dabei die Auslegung des ersten Gebotes im Kleinen Katechismus: Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen. Wie verhält sich das Nebeneinander von Furcht, Liebe und Vertrauen zum bisher entwickelten Verständnis von Luthers Umgang mit timor? Zunächst vergewissern wir uns der systematischen Ausgangssituation Anfang der 1520er Jahre (7.1). Anschließend wenden wir uns der Entstehungsgeschichte der Katechismusformel in Luthers Auslegungen des ersten Gebotes zu (7.2). Dabei erweist sich eine nähere Beschäftigung mit Melanchthons Beitrag zu dieser Frage als unumgänglich (7.3). Ausgehend von den neuen Erfahrungszusammenhängen der 1520er Jahre (7.4) ist schließlich die systematische Deutung der Katechismusformel zu entfalten (7.5).

7.1 Explikationszusammenhänge der Furcht 7.1 Explikationszusammenhänge der Furcht

Lag der Fokus der Darstellung zuletzt auf der Überwindung der Furcht durch den Glauben, so gilt es, sich nun die unterschiedlichen Explikationszusammenhänge der Furcht vor Augen zu führen. Furcht wird nach Ausbildung der reifen Rechtfertigungslehre in drei Kontexten zum Thema der theologischen Reflexion: am häufigsten in der Zuordnung zum Gesetz als Erschrecken des Gewissens vor dem Zorn Gottes (7.1.1); sodann als emotionaler Kern der Anfechtungserfahrung (7.1.2), die nun ganz dem Zentralbegriff des Glaubens zugeordnet ist; und schließlich als Auslegung der biblisch-alttestamentlichen Furcht des Herrn (7.1.3).

7.1 Explikationszusammenhänge der Furcht

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7.1.1 Furcht als Schrecken des Gesetzes Zur Epistel des Neujahrstages (Gal 3,23-29) in der Kirchenpostille (1522) fasst Luther wie in einem Brennspiegel seine Anschauung über die Dynamik von Gesetz und Furcht zusammen. Das Gesetz habe auf den Menschen zunächst eine doppelte Wirkung. Als Zwangsordnung sorge es dafür, dass der Mensch aus Furcht einen äußerlichen Gehorsam an den Tag legt: „Denn eyn knabe, der unter seynem zuchtmeyster ist, thut nit, was er wil, sondern muß thun auß furcht der ruten, was seyn meister will.“ 1 Werde er dadurch äußerlich vom bösen Tun bewahrt, so verfalle er innerlich einem Hass gegenüber dem Zuchtmeister. So zeige es sich an allen Menschen, „das sie ynnwendig ym hertzen wahrhafftig dem gesetz und seyner straff feynd werden, und ßo viel feynder, ßo viel hertter die straff dringet. Wer ist dem todt und der helle nit feynd?“2 Dies aber bedeute, Gott feind zu sein. Solche Gottesfeindschaft verstricke immer tiefer in eine negative Dynamik aus Angst, Hass und Auflehnung nach dem Sprichwort „wer sich fur der helle furcht, der feret hyneyn.“ 3 Diese Dynamik zeige, dass der Mensch sich aus eigener Kraft im Blick auf das Gesetz nicht zu retten vermag. All sein von der Furcht abgepresstes Tun entferne ihn nur von Gott. Hilfreich sei ihm allein die Erkenntnis, „wie falsch und unrecht seyn hertz sey, wie fern er noch von gott sey, wie gar die natur nichts sey“ 4. In dieser Selbsterkenntnis als Sündenerkenntnis werde der Mensch bereit, sich nach der Erlösung in Christus zu sehnen, ja dass er „alle seynen trost auff Christum setze, der yhm alsdenn eyn andernn geyst gebe“ 5. In solchem Glauben des Menschen wandele sich das Herz und fürchte weder Tod noch Hölle. Im Sinne von Hebr 2,15 überwinde der Glaube die Furcht vor dem Tod, indem sich der Mensch an die Erlösung durch Christus halte: „Nu mag yhe von der furcht widder natur noch gesetz uns erloßen, ia, sie mehren alle beyde die furcht; alleyn Christus hatt uns davon erloßett, und ßo wyr ynn yhn glewben, ßo gibt er den freyen unerschrocknen geyst, der widder todt noch helle furcht“6.

Die Forderung des Gesetzes offenbart dem Menschen eine solch unüberbrückbare Differenz von göttlicher Bestimmung und ihrer faktischen Verfehlung, dass er in dieser Erfahrung nur der eigenen Abgründigkeit inne wird. Der mit dieser Erfahrung verbundene Schrecken ist nur durch die im Wort von Christus ermöglichte Neukonstituierung der Person überwindbar. 1 2 3 4 5 6

WA 10/I.1 450,7-8. WA 10/I.1 453,2-5. WA 10/I.1 453,24. WA 10/I.1 455,6-7. WA 10/I.1 455,10-11. WA 10/I.1 455,19-22.

254

Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

Allein im Glauben an Christus wird solche Furcht des Gesetzes überwunden. Aus der Furcht des Gesetzes kann insofern zweierlei werden: auf der einen Seite eine Chronifizierung der Furcht in der Anfechtung; auf der anderen Seite ein Wandel der Furcht zur vom Glauben und der Liebe her verstandenen Furcht des Herrn. 7.1.2 Furcht der Anfechtung Des Menschen Anfechtung ist durch die gesamten Operationes in Psalmos (1519-1521) hindurch ein Schlüsselthema. Anfechtungsangst wird etwa in Psalm 6 als Angst vor dem Gericht als die schlimmste Form der Angst verstanden. Die scholastischen Unterscheidungen vermögen in der Angst nicht mehr zu helfen. Hier könne niemand mehr sich unterfangen, zwischen der Liebe und der knechtischen Furcht unterscheiden zu wollen: „Non capitur hoc opus dei ulla intelligentiae magnitudine, tenebrae super faciem abyssi hic sunt“ 7. Die Besonderheit dieser Angsterfahrung zeigt sich darin, dass sie nach Luthers Auffassung nicht von allen Christen erlitten wird.8 Vielmehr widerfahre sie nur denen, die sich nicht in geistloser Sicherheit wiegen, sondern einen großen Glauben haben. Gleichwohl müsse man über sie Bescheid wissen, da Gott jeden in eine solche Prüfung führen kann. 9 Auch zu Ps 13,1-3 malt Luther diese schwerste Bedrohung des Menschen aus. In solcher Anfechtung vermag der Mensch keine Hoffnung mehr zu bewahren. Gott erscheine ihm als Feind, gegenüber dem es keine Rettung mehr gibt. Alles Fühlen und Empfinden des Menschen sei vom Zorn Gottes ausgefüllt. Diese Anfechtung habe auch Christus in Gethsemane und am Kreuz erlitten. 10 Solche Anfechtung erweise sich offenbar als eine zeitliche Streckung des Schreckens vor dem Zorn und dem Gericht Gottes. In der Anfechtung scheinen die Liebe und Barmherzigkeit Gottes entschwunden zu sein, der Zorn Gottes scheine endgültig. Die Auslegung von Ps 22 ist durchweg auf das starke Angstempfinden der Anfechtung bezogen. Der Glaube wird in dieser Erfahrung zu einem Kampfgeschehen. „Deinde fide contra fidem pugnet.“ 11 Nur der Kampf des Glaubens vermag es, diese Anfechtung zu überwinden. Auch der Gedanke der resignatio ad infernum taucht hier wieder auf, nur dass er eben jetzt stärker auf den Glauben bezogen ist.12 In der Anfechtung verliert der Glaube jedes Gefühl des Friedens oder Trostes. In seiner Selbstbeurteilung 7 8

WA 5 203,25-27. „Nec putandum est, universos Christi fideles huius psalmi cruce vexari.“ (WA 5 201,19) 9 WA 5 201,26-28. 10 WA 5 384-387. 11 WA 5 623,17. 12 WA 5 623,24-31.

7.1 Explikationszusammenhänge der Furcht

255

muss der Mensch das Sich-Gegebensein im affektiven Selbstgefühl transzendieren. Glaube und Gefühl geraten in den Gegensatz: „Agat ergo secundum fidem, idest insensibilitatem, et fiat truncus immobilis ad has blasphemias“13. 7.1.3 Die Furcht des Herrn Von dieser abgründigen Erfahrung der Anfechtung muss der einfache Gebrauch des Ausdrucks „Furcht des Herrn“ unterschieden werden. Diese ist nicht zu verwechseln mit der falschen Furcht vor Strafe: „Qui vero timorem domini non intelligunt nisi eum, qui a crassis peccatis et voluptatibus metu penae absterret, nihil intelligunt, nec unquam discent gloriari in domino, cum timor domini is sit, quo timemus, ne quicquam eorum, quae domini sunt, idest virtutem et nomen nobis arrogemus et arrogantes polluamus“ 14.

In solcher demütigen und nicht anmaßenden Furcht gilt es fortzuschreiten, in einer Furcht, die mit reverentia verbunden ist.15 Diese Furcht wird in der Auslegung zum locus classicus der Furchtlehre Ps 19,10 beschrieben.16 Die Reinheit dieser Furcht ist gegeben durch die Reinheit des Gerechten, der Gott und sein Gesetz nicht mehr hasst, sondern liebt. „Amantes vero, oculos illuminatos habentes et deum cognoscentes, vident, quam pura res sit timor domini, quam nihil negligat, qui timet dominum et declinet a peccato, delectatur in hac puritate, quia et ipse sic sentit, ut timor exigit, factus concors per omnia.“17

Diese Furcht ist durch die Einwilligung in Gottes Willen und damit durch die Liebe gestaltet. Sie ist nicht mehr äußerlich, wie die vom Gesetz erzwungene Furcht: „Tunc enim timet deum, sicut et amans voluntas desyderat, factus eidem concors per omnia. Amor enim delectatur, si deum timeri videat, id quod lex non solum iubet, sed et facit.“ 18 Die Furcht des Herrn ist der Affekt der Angst unter der Herrschaft bzw. der Bestimmung der Liebe. Die Bestimmung des Subjekts ist es, die dem Affekt seine Gestalt gibt; als unreine Furcht vor Strafe im Sünder gegenüber dem Gesetz, als reine Furcht des Herrn im Gläubigen gegenüber Gott. Wird in diesen Ausführungen die Gottesfurcht als kindliche Ehrfurcht und Frucht der Liebe beschrieben, so kann Luther den Begriff der Gottes13 14 15 16

WA 5 623,40-624,1. WA 5 193,31-35. WA 5 193,39-40. Vom traditionellen gradualistischen Schema der Furcht hat sich Luther hier entschieden getrennt. So wird zu Ps 19,10 die Furcht des Herrn nicht mit einem Beiwort versehen, um sie als reine von der knechtischen Furcht unterscheiden zu können, sondern sie wird in einfacher Bedeutung gefasst (Vgl. WA 5 559,32-35). 17 WA 5 560,10-14. 18 WA 5 560,22-25.

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Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

furcht auch im Sinne der Dialektik von Gesetz und Evangelium zur Geltung bringen wie etwa in der dritten Auslegung von Sir 15,1f. in der Kirchenpostille. Die gottis furcht wird hier ganz vom göttlichen Gericht her begriffen: „er weyß: wo gott mit ernst und nach seynem gericht mit yhm handellt, ßo wer er thausent mal vorloren.“ 19 Die anschließende Gegenüberstellung zum Gottvertrauen erweist sich als offensichtliche Konkretion der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium: „Alßo, das die tzwey mussen bey eynander bleyben, gericht und gnad, furcht und traw, das gericht soll furcht machen, die gnad soll traw odder tzuvorsicht machen.“20

Im Verständnis von Gottesfurcht gibt es insofern eine gewisse Bandbreite in Luthers Sprachgebrauch. Es hängt am jeweils auszulegenden Textbefund, ob Luther den Akzent eher auf kindliche Ehrfurcht oder furchtsames Gewahrwerden von Sünde und Gerichtsdrohung legt. Da letzteres der Furcht im Horizont der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium entspricht, kann man als dritten eigenständigen Typus die Deutung von Gottesfurcht als kindliche Ehrfurcht behaupten. Ist Luther also ein stimmiges Gesamtkonzept 21 gelungen, in dem er Furcht je nach Zusammenhang theologisch zu deuten vermochte? Oder 19 20

WA 10/I.1 291,3-4. WA 10/I.1 292,3-5. Diese Dialektik ist in der Kirchenpostille zuvor schon als Auslegung von Ps 147,11 vorgeführt worden: „Die furcht ist, das wyr glewben, all unßer ding sey eyn ungottlich weßen, wie unß seyner gnaden erscheynen tzeygt, darumb wyr unß fur yhm furchten und auß solchem weßen eylen tzu kummen und hynfurt davor unß huten. Die traw ist, das wyr nit tzweyffelln, er woll unß gnedig seyn und gottlich, gnadreich menschen machen.“ (WA 10/I.1 37,15-38,1) 21 Vgl. insgesamt B EUTEL, Gott fürchten, S. 51-54. Nach B EUTEL pflegt Luther bezüglich der Gottesfurcht einen „überaus heterogenen Sprachgebrauch“ (S. 49). Die verschiedenen Bedeutungen ließen sich auch nicht auf verschiedene Phasen seines Denkens verteilen. Statt jedes Harmonisierungsversuchs sei diese Heterogenität anzuerkennen. B EUTEL nennt vier Kontexte: 1. Die von 1514 bis zu den Antinomerstreitigkeiten sich durchhaltende Unterscheidung von timor servilis und filialis. 2. Furcht als Ehrfurcht (reverentia). 3. Furcht gegenüber Zorn und Strafdrohung. 4. Als weitere ambivalente Unterscheidung würde einerseits Furcht im Sinne von 1 Joh 4,18 als überwundenes Moment im Glaubensleben dargestellt und andererseits doch wieder als „Konstitutionsfaktor christlicher Existenz“ (S. 53) behauptet. Dass Luther die Unterscheidung timor servilis et filialis übernimmt und durchhält, wird der komplexen Entwicklung dieser Unterscheidung bei Luther (Kap 4-6) nicht ganz gerecht. Luther kann diese Begriffe bisweilen verwenden; ordnen lässt sich sein Furchtverständnis mit ihnen nicht. B EUTELS Nr. 2 reverentia entspricht dem hier vorgestellten Typ 3 und integriert das Erbe des timor filialis. Die Zornesfurcht (Nr. 3 bei BEUTEL) haben wir der Wirkung des Gesetzes zugeschrieben (Typ 1). Wenn BEUTEL seinen 4. Zusammenhang einleitet: „In abermaliger Variation hat Luther für das Verhältnis von Gottesfurcht und Gottesglaube eine ambivalente Bestimmung getroffen“ (S. 53), bringt er anschließend wiederum Belege, die sich von der dialektischen Bestimmung des Menschen durch Gesetz und Evangelium her verstehen lassen. Da B EUTEL timor sehr stark in

7.2 Die Auslegung des ersten Gebotes

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kommt noch einmal Bewegung in diese Fragen, die ihn in seiner theologischen Frühzeit so intensiv beschäftigt haben?

7.2 Katechismusformel und die Auslegung des ersten Gebotes 7.2 Die Auslegung des ersten Gebotes

Nach diesem Überblick fragen wir nun nach der inneren Kontinuität in Luthers Denken im Umgang mit Furcht. Der Ausgangspunkt zur Darstellung des Furchtproblems beim reifen Luther wird am besten bei der einprägsamen Formel genommen, mittels derer Luther in seinem Kleinen Katechismus das erste Gebot erläuterte. „Wir sollen Gott uber alle ding Furchten, Lieben und Vertrawen.“ 22 Wie gesehen erwies sich die Deutung dieser Gebotsauslegung als strittig: In welchem Verhältnis stehen die drei Momente zu einander? Sind sie einander gleichrangig? Oder besteht zwischen ihnen ein Unterordnungs- bzw. Folgeverhältnis? Ist ihre Bedeutung äquivalent oder antithetisch? Vergegenwärtigen wir uns daher zunächst die Entwicklung Luthers in der Auslegung des ersten Gebotes. Luther hat seit seiner Frühzeit regelmäßig den Dekalog in Predigten ausgelegt. 23 Dabei ist von Anfang an die Schlüsselstellung des ersten Gebotes betont, das alle anderen Gebote in sich begreife und als Haupt und Inbegriff des ganzen Dekalogs begriffen werden müsse.24 Schon in den ersten uns erhaltenen Versuchen, den Gehalt des ersten Gebotes formelhaft zusammenzufassen, begegnet uns eine dreigliedrige Formel. So wird die der Zuspitzung auf den Begriff der Furcht Gottes fasst, bleibt der Zusammenhang der Anfechtung (Typ 2) bei ihm ausgeklammert. Die größte Heterogenität lässt sich bei Luther letztlich im Terminus „Furcht Gottes“ ausmachen, den er im Sinne von Typ 1 und Typ 3 verwenden kann. 22 WA 30/I 284,2-3. Vgl. die Anmerkung A LBRECHTS zur Fassung 1531, WA 30/I 354-355. Diese dreigliedrige Formel erscheint auch im Großen Katechismus als Zusammenfassung des ersten Gebotes, WA 30/I 147,8. 23 Die erste vollständige Auslegung besitzen wir mit den Decem praecepta Wittenbergensi praedicata populo (1518, WA 1 394ff.), die auf eine Auslegungsreihe 1516/ 1517 zurückgeht. In den nächsten Jahren veröffentlichte er Eine kurze Erklärung der zehn Gebote inklusive einer leicht überarbeiteten lateinischen Fassung (WA 1 247ff. und 257ff.), eine Kurze Unterweisung der Beichte (1519; WA 2 57ff.), eine Kurze Form der 10 Gebote, des Glaubens und des Vaterunsers (1520, WA 7 194ff.) sowie schließlich die ausgereifteste Frühform, den Sermon von den guten Werken (1520; WA 6 204-276). Auch nach seiner Rückkehr von der Wartburg predigte Luther regelmäßig den Dekalog, wohl schon eine nicht erhaltene Predigtreihe 1522, dann 1523 (vgl. WA 11 30ff. und 36ff.). Schließlich spielte in seinen Auslegungen der Pentateuchtexte der Dekalog, zumal das erste Gebot, eine herausragende Rolle: in der Exodusauslegung von 1525, zum Dekalog veröffentlicht 1528 (WA 16 394ff.), sowie in der Vorlesung über das Deuteronomium (1525; WA 14 489ff. und 1529; WA 28 503-763). 24 WA 1 430,6; WA 5 395,4ff.

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Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

Erfüllung des ersten Gebotes in der Kurzen Erklärung von 1518 auf die Formulierung gebracht: „Gottes forcht unnd lieb ym rechten glauben und fest vortrawen.“25 Der Vergleich mit anderen frühen Auslegungen zeigt bald, dass diese Formel einen noch durchaus unbestimmten Charakter hat (wie auch die Ergänzung der Hoffnung in der lateinischen Fassung schon erweist). So begegnet hier eine Vielfalt von Formulierungen: In den Decem praecepta ist es die Erfüllung des ersten Gebotes, wenn der Mensch „deum super omnia diligit, sperat, quaerit, sitit“ 26. In der Kurzen Unterweisung der Beichte besteht der Bruch des Gebotes darin, „das man gott nye recht geliebt, geert noch geforcht hat.“27 So dominiert durchweg eine Reihe von offenen Formulierungen, die in Anknüpfung an die Tradition das Gottesverhältnis als Glaube, Liebe, Hoffnung, Furcht und Ehrerweisung beschreiben können. In der großen Auslegung der 10 Gebote im Sermon von den guten Werken (1520) begegnet dagegen ein eindeutiges Bild. Mit großer Geschlossenheit wird die Erfüllung des ersten Gebotes nun auf den Glauben bezogen. Die für den Verlauf des Ablassstreites typische Konzentration des Gottesverhältnisses auf Wort und Glauben findet auch in der Deutung des ersten Gebotes eine Ausdrucksmöglichkeit. Gleich zu Beginn der Auslegung wird diese Zentralstellung des Glaubens als Haupt aller Werke des Menschen betont, dass das „erste und hochste, aller edlist gut werck ist der glaube in Christum“ 28. Dieser Glaube ist das Werk des ersten Gebotes, so dass „einen Gott haben“ nichts anderes bedeutet, als dass der Mensch seine „gantze zuvorsicht, traw unnd glauben“29 auf Gott setzt. Die Zentralstellung des Glaubens als alleinige Erfüllung des ersten Gebotes wird in der Auslegung konsequent durchgehalten. Alle anderen Momente des Gottesverhältnisses lassen sich als Frucht und Folge des Glaubens entfalten, etwa wenn es heißt, dass „solch zuvorsicht und glaub bringt mit sich lieb und hoffnung.“30 In der Auslegung des ersten Gebotes wird die Furcht

25 WA 1 254,17. In der lateinischen Fassung heißt es entsprechend: „Timor et amor Dei in plena fide et spe.“ (WA 1 263,4) Statt der Doppelung Glaube und Vertrauen ist hier die Hoffnung eingefügt, in Anlehnung an Augustins Fassung der Erfüllung des ersten Gebotes in Glaube, Liebe und Hoffnung. 26 WA 1 430,27. 27 WA 2 60,36. Dort zugleich auch wieder die Zuspitzung auf den Glauben: „grossers vortrawen in gottes barmhertzickeyth“. (WA 2 64,20) 28 WA 6 204,25-26. Vgl. 1520 in den Operationes: „Cum sicut primum praeceptum est metrum, mensura, regula, virtus omnium aliorum praeceptorum, in quo tanquam in capite omnia membra pendent, vivunt, vegetantur, ita fides, opus eiusdem praecepti, est caput, vita et virtus omnium aliorum operum“. (WA 5 395,6-10) 29 WA 6 209,26. Vgl. entsprechend auch WA 6 209,33-35. 30 WA 6 210,5-6.

7.2 Die Auslegung des ersten Gebotes

259

nicht ausdrücklich thematisiert.31 Dies geschieht vielmehr in der Auslegung des vierten Gebotes. Die den Eltern zu erweisende Ehre wird in Aufnahme des klassischen Verständnisses des timor filialis erklärt: „Aber die ehre ist hoher, dan schlechte liebe, und hat mit sich ein furcht, die sich mit lieb voreynigt, unnd macht den menschen, das er mehr furcht sie zubeleydigen, dan die straff. […] Ein solche forcht, mit lieb vormischt, ist die rechte ehre.“32

Erst in diesem Zusammenhang wird die so von der Straffurcht abgehobene Furcht auch auf Gott bezogen. Denn die „straff furcht“ sei eine „andere furcht“, „es ist furcht on alle lieb, ja furcht mit hasz und feindschafft. Davon ist ein sprich wort S. Hieronymi: was wir furchten, das hassen wir auch.“33 Nach diesem Rückgriff auf diese ihn seit langem bewegenden Einsichten von der fatalen Dynamik der Straffurcht wird die Gottesfurcht davon kategorial unterschieden: „Mit der furcht will got nit gefurcht noch geehret sein, noch die eldern geehret haben, sondern mit der ersten, die mit liebe und zuvorsicht gemischt ist.“ 34 Eindeutig ist hier das Verhältnis von Furcht, Glaube und Liebe als ein solches beschrieben, in dem die Begriffe eine äquivoke Bedeutung haben und einander gegenseitig erläutern, nicht in Spannung zueinander, sondern in Einklang miteinander stehen. Die Furcht ist nicht auf Strafe oder Zorn bezogen, sondern als Frucht der Liebe bzw. des Glaubens darauf gerichtet, Gott nicht zu beleidigen. In diesem Zusammenhang kann die Gottesfurcht als Ziel der Erziehung erscheinen, dass die Kinder lernen „got trawen, glauben und furchten, und yhr hoffnung in yhn setzen“ 35. Dieses Gebotsverständnis hält sich in den folgenden Auslegungen des ersten Gebotes durch. Völlig analog zum Sermon von den guten Werken kann es in der Kurzen Form der zehn Gebote heißen, der Inhalt dieses Gebotes sei: von Gott sich Gutes versehen „yn aller trew, glauben und lieb, mit furcht zu allertzeyt, das er yhn nit beleydige, wie eyn kind seynen vatter.“ 36 Auch hier lässt sich unschwer die Intention einer kindlichen

31 Allein am Ende wird im rechtfertigungstheologischen Zusammenhang betont, dass der Mensch mit seinen Werken vor Gott nicht bestehen könne, sondern allein durch den Glauben an die Barmherzigkeit Gottes. Im Sinne der Dialektik von Gesetz und Evangelium heißt es: „Alszo mussenn wir der werck halben uns furchtenn, aber der gnaden gottis halben trosten“. (WA 6 216,5-6) 32 WA 6 251,5-7; 9-10. 33 WA 6 251,12-13. 34 WA 6 251,14-15. 35 WA 6 254,2-3. 36 WA 7 205,15-16. Entsprechend wird die Erfüllung angegeben: „Gottis forcht und lieb in rechtem glauben und altzeit in allen wercken fest vertrawen“ (WA 7 212,14-15), eine nur geringe Abweichung der Kurzen Erklärung (1518), vgl. WA 1 254,17f. Neu ist dann der nochmalige Rückbezug auf die klassische augustinische Fassung: „Da gehort

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Ehrfurcht finden, die weder in Spannung zu Glaube und Liebe steht noch auf Zorn und Strafe bezogen ist, sondern darauf, Gott nicht zu beleidigen. Die Auslegungen des ersten Gebotes in den zwanziger Jahren lassen sich sämtlich von dieser engen Zuordnung von Liebe, Hoffnung und Furcht zum Glauben in seiner zentralen Stellung her begreifen. Darum geht es auch in der Gebotsauslegung in den Exoduspredigten: „Gott denn recht erkennen, yhm gleuben und vertrawen“ 37. Der Glaube sei Erfüllung des vom Prolog her verstandenen ersten Gebotes: „So wird nu ynn Summa ym Ersten gepot erfoddert ein rechtschaffener glaube und zuversicht zu Gott“38. Von diesem Glauben her erhalten alle anderen Lebensäußerungen des Menschen ihre Gestalt. Dieser Glaube sei „das aller erste, hochste, beste werck, aus welchen alle andere fliessen, gehen und gericht werden“39. Wie im Sermon von den guten Werken ist auch hier erst beim vierten Gebot von der Gottesfurcht die Rede.40 In der Auslegung des Deuteronomiums spielt timor eine größere Rolle. Die vielen Belege des Textes nötigten Luther hier in anderer Weise, sich wiederholt darauf zu beziehen (vgl. Dtn 4,10; 5,29; 6,2.13; 8,6). Hier begegnen wieder Formulierungen, die entsprechend seinen ersten Ansätzen Furcht mit Glaube und Liebe zusammenstellen. 41 Nicht verändert hat sich dabei das Verständnis der Furcht. Diese wird nach wie vor als reverentia, als Ehrfurcht gefasst. Luther bezieht sich dabei wiederum auf die hebräiher alles, was in der gantzen schrifft vom glauben, hoffnung und der lieb gottis geschrieben ist, wilchs alles kurtzlich in dißem gepott begriffen ist.“ (WA 7 212,17-19) 37 WA 16 434,11-12. 38 WA 16 445,20-21. 39 WA 16 464,16-17. Ausdrücklich bezieht Luther dies auf die augustinische Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung und erläutert dieses Miteinander als ein Folgeverhältnis unter dem Primat des Glaubens: „Denn solche zuversicht bringt mit sich liebe und hoffnung.“ (WA 16 464,20-21) 40 Vgl. WA 16 494,34-495,30. 41 WA 14 626,2ff. Darauf verweist zu Recht KREUZER, SIEGFRIED: Summa totius legis et sapientiae populi Israel… Die Deuteronomium-Vorlesung Luthers in ihrer Bedeutung für sein Dekalogverständnis und seine Katechismen, KuD 46 (2002) S. 302-317. KREUZERS Versuch, gegenüber ALBRECHT BEUTEL (Ders., Gott fürchten) nachzuweisen, dass die polare Zuordnung von „fürchten und lieben“ im Sinne der Katechismusformel schon in den Deuteronomiumsvorlesungen vorweggenommen wird, misslingt allerdings. Seine Hauptbelege WA 14 638,20ff. und 675,21ff. lassen in keiner Weise eine „Polarität von Gott fürchten und lieben“ (S. 308) erkennen, wie unmittelbar nach dem von K REUZER zitierten Abschnitt überdeutlich wird: „Dixi supra, quod timor Dei apud Ebraeos valet id, quod apud nos cultus Dei.“ (WA 14 638,24-25) Eindeutig werden im Folgenden „timere, ambulare, diligere, servire“ (WA 14 638,26) in einem äquivalenten Sinne verstanden (ebenso Z. 29) und auf die Wurzel des Glaubens zurückgeführt: „virtus primi praecepti, quae est fides“. (WA 14 638,29-30). B EUTELS Beschreibung der Ausdrücke der 1520er Jahre als „nirgendwo terminologisch gefestigt“ (BEUTEL, Gott fürchten, S. 56; dagegen KREUZER, S. 309ff.) bleibt daher gültig.

7.2 Die Auslegung des ersten Gebotes

261

sche Bedeutung als Verehrung, was es ihm ermöglicht, solche Furcht von aller Straffurcht unterschieden zu halten. Unmittelbare Vorarbeiten der Katechismen waren die drei Reihenpredigten über den Katechismusstoff von 1528.42 Die beiden ersten Predigten über das erste Gebot bringen im Vergleich zu den vorangegangenen Erläuterungen wenig Überraschendes. Die Erfüllung des ersten Gebotes wird entschieden auf den Glauben konzentriert.43 Die dritte Reihe bringt dagegen mit ungeheurer Wucht ein beständiges Nebeneinander von timor und fides. 19 Mal wird allein in der Predigt zum ersten Gebot das Miteinander von timor und fides eingeschärft: „Deum habere est Deum timere et fidere ei.“ 44 Wie oben gesehen, vermochte Luther auch bisher schon immer wieder timor der Erfüllung des ersten Gebotes zuzuordnen. Aber das Verständnis des timor hat sich nun deutlich gewandelt. Eindeutig ist hier nicht von einer kindlichen Ehrfurcht die Rede, sondern timor wird auf Strafe bezogen: „Ideo furchte dich fur niemand denn fur mir, quia Ich kan dich schlahen, Et fide, quia possum te iuvare.“ 45 Darum sind die beiden Begriffe auch nicht äquivok wie Glaube und Liebe; zwischen beiden waltet ein dialektisches, polares Verhältnis. Diese polare Spannung wird von Luther ausdrücklich hervorgehoben: „Timor ist auff der lincken seiten, fiducia auff der rechten.“46 Auch ist die Furcht nicht mehr Folge des Glaubens; beständig wird die Furcht vor dem Glauben genannt. In diesem Sinne konnte Luther bisher die Dialektik von Gesetz und Evangelium zur Geltung bringen. Stets hieß es: Das Gesetz fordert, droht und lässt erschrecken, das Evangelium hingegen tröstet die Erschrockenen. Diese Dialektik aber hat Luther immer in Kontexten dargestellt, die deutlich unterschieden waren von der Auslegung des ersten Gebotes, das allein im Glauben erfüllt wird, bzw. von der Darlegung der rechten Gottesfurcht nach Spr 1,7 und Ps 110,11, die er teils alttestamentlich als reverentia, teils klassisch als kindliche Furcht beschreiben konnte. 47 Das Neue in der 42 WA 30/I 1-122. Vgl. MEYER, Kommentar, S. 53-57. Statt P I-III wie bei MEYER nennen wir sie ab jetzt Pr I-III. 43 Pr I: „Das heisst vera fides, quod fido deo, qui vult esse pater. Hic est intellectus 1. praecepti“. (WA 30/I 3,17-18) Pr II: „Das heisst den einigen Gott haben, ut ex corde illi confidas et credas, quia fidere et credere macht Gott.“ (WA 30/I 28,2-3) „Ergo intentio huius praecepti est, das es vil gebieten ein rechten glauben.“ (WA 30/I 28,6-7) „Sic 1. praeceptum exigit cor, fiduciam, fidem certam.“ (WA 30/I 28,12-13) 44 WA 30/I 59,4-5. Vgl. M EYER, Kommentar, S. 181. In den weiteren Predigten von Pr III folgen noch weitere 8 Belege. 45 WA 30/I 60,17-19 46 WA 30/I 60,14-15. 47 A LBRECHT B EUTEL sieht mit diesen beiden Formulierungen unterschiedliche Dinge beschrieben, vgl. B EUTEL, Gott fürchten, S. 51ff. Gewiss haben diese Begriffe verschiedene traditionsgeschichtliche Hintergründe. Luther verwendet aber beide Ausdrücke in

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Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

Auslegung vom November lässt sich also wie folgt auf den Punkt bringen: Luther verändert den Begriff der Furcht Gottes dahingehend, dass er nun ausdrücklich den Schrecken des Gesetzes und die Furcht vor Strafe mit einbezieht; und er wertet diesen neuen Begriff der Gottesfurcht dadurch auf, dass er ihn zur Erfüllung des ersten Gebotes zählt: Zwei Stücke verlange das erste Gebot, Glaube und Furcht. 48 Schauen wir uns von daher Luthers Einordnung der Furcht in den Katechismen an. Gemäß der hohen Wertschätzung des ersten Gebotes, die sich bei Luther von seinen Anfängen an beobachten lässt, hat er auch im Kleinen Katechismus die Möglichkeit genutzt, das erste Gebot als Haupt und Quelle aller Gebote zu verdeutlichen. Daher steht in der Erläuterung aller Gebote immer zunächst die Reminiszenz an das erste Gebot am Anfang: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir …“ 49 Zu Recht ist immer wieder betont worden, dass in der Katechismusformel „Lieben und Vertrauen“ eng zusammengehören.50 Dass Luther in der jeweiligen Einleitung der Einzelgebote die Dialektik von Furcht und Liebe anführt, ist ganz vom Paar „Furcht und Glauben“ her zu verstehen. Hier wird der Verweis auf die größere sprachliche Glätte (Fürchten und Lieben stehen mit dem gleichen Kasus) und die damit gegebene Einprägsamkeit das entscheidende Argument sein. Die Frage spitzt sich also darauf zu: In welchem Verhältnis steht Furcht zu Lieben/Vertrauen? Für den Kleinen Katechismus scheint sich diese Frage leicht klären zu lassen: Als Beschluss der Zehn Gebote führt Luther am Ende Drohung und Verheißung Gottes aus Ex 20,5 und Dtn 5,9 an. Damit gelingt ihm eine literarische Klammer des ersten Gebotes für den gesamten Dekalog. Eindeutig findet in der dazu gegebenen Erläuterung der Begriff des Fürchtens auch seine Präzisierung: „Gott drewet zu straffen den zwanziger Jahren in der Präzisierung des Furchtverständnisses weitgehend äquivok, so dass sich hier keine sinnvolle Differenzierung ausmachen lässt. 48 Dass Luther hier den biblischen Begriff der Gottesfurcht nach wie vor im Auge hat, zeigt der Bezug zu Ps 147,11, den er ganz auf die Polarität von Furcht und Glaube hin auslegt (WA 30/I 59,9f.). In diesem Zusammenhang wird auch an den klassischen Zusammenhang von Gottesfurcht und Weisheit (Ps 111,10) erinnert: „Ex hoc sequitur maxima sapientia.“ (WA 30/I 59,11-12; auch WA 30/I 61,11f.; 61,16ff.) Der Gesetzescharakter des Gebotes ist dabei unbestreitbar, vgl. die Kennzeichnung als Gebot und Gottes Wille (WA 30/I 60,23.27; 61,4) und die damit verbundene Verurteilung bzw. Drohung (WA 30/I 59,3ff.; 60,18). 49 WA 30/I 284-290. 50 Vgl. schon den Epilog im Kleinen Katechismus: „Gott drewet zu straffen alle die diese gebot ubertretten, darumb sollen wir uns furchten fur seinem zorn […]. Er verheisset aber gnade und alles guts, allen die solche gebot halten, darumb sollen wir yhn auch lieben und vertrawen“. (WA 30/I 291,25-293,1 Hervorhebung TD) Vgl. schon den Herausgeber des Kleinen Katechismus O TTO ALBRECHT WA 30/I 355 (1910); siehe auch MEYER, Kommentar, S. 172-173; BEUTEL, Gott fürchten, S. 49.

7.2 Die Auslegung des ersten Gebotes

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alle die diese gebot ubertretten, darumb sollen wir uns furchten fur seinem zorn und nicht widder solche gebot thun.“51 Furcht ist demnach eindeutig auf den Zorn Gottes und seine Strafe bezogen. Beim Großen Katechismus hat die ältere Forschung zu Recht herausgestellt, dass die erste Fassung schon im Anschluss an Pr II erarbeitet wurde, so dass die Auslegung des ersten Gebotes ganz in für Luther traditioneller Weise auf den Glauben bezogen wird.52 Nach Pr III hat Luther die neue Konzentration des ersten Gebotes auf Furcht und Glauben im Großen Katechismus im Beschluss zum Dekalog zur Geltung gebracht. Das Drohwort und die Verheißung Gottes hätten den Zweck, „uns zuschrecken und warnen, dazu zu locken und reitzen“53. Ausdrücklich wird dieser Schrecken als Begründung der Gottesfurcht und solche Gottesfurcht als Begründung des Gehorsams verstanden.54 Der Zweck des ersten Gebotes ist also ein doppelter: „Also hat die gantze schrifft uberal dis gepot gepredigt und getrieben, alles uff die zwey stuck, Gottes furcht und vertrawen, gerichtet“55. Damit stehen wir vor einer Problemanzeige: Gottesfurcht im Zusammenhang des ersten Gebotes und Furcht vor Zorn bzw. Strafe sind von Luther lange Zeit deutlich auseinander gehalten worden. In der Katechismusformel sind beide eng aneinander gerückt. Zeigt sich darin eine Veränderung in Luthers Theologie? Hat er sich hier missverständlich oder gar hinter den Möglichkeiten seiner Theologie zurück bleibend ausgedrückt? Oder lässt sich diese Besonderheit seiner Terminologie mit Rücksicht auf den besonderen Adressatenkreis der Katechismen, also pädagogisch erklären? Es wird die Aufgabe der folgenden Analyse sein, diese Akzentveränderung plausibel herzuleiten und nachvollziehbar zu machen. Die bisherige Forschung hat in dieser Frage eine Reihe von veranlassenden Momenten zusammengetragen, denen im Folgenden nachgegangen werden soll. 56 1. An erster Stelle ist das Verhältnis zu Melanchthon zu betrachten. Bei Melanchthon begegnen frühzeitig Formulierungen, die Luthers Katechismusformel vorwegnehmen. Durch die Auseinandersetzung im Umfeld der Visitationsartikel ist Luther genötigt worden, sich ausdrücklich mit Melanchthons Haltung und Ausdrucksweise in dieser Frage zu beschäftigen. 2. An zweiter Stelle ist der Entwicklung des Erfahrungshintergrundes bei Luther nachzugehen. Dabei wurde oft verwiesen auf die Visitationserfahrungen Luthers im Herbst 1528. Diese punktuellen 51 52 53 54

WA 30/I 291,25-29. WA 30/I 132,3-139,12. Vgl. MEYER, Kommentar, S. 57-61. WA 30/I 180,11-12. Gefordert ist ein Herz, „das alleine Gott furchtet und fur augen hat, und aus solcher furcht alles lesset, was widder seinen willen ist“. (WA 30/I 180,18-20) 55 WA 30/I 180,30-32. Anschließend erfolgt die Begründung mit Ps 147,11 (WA 30/I 180,30-32). Ganz entsprechend schon Pr III (WA 30/I 59,9). 56 BEUTEL, Gott fürchten, S. 62.

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Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

Erlebnisse im Kurkreis sollen jedoch im weiteren Erfahrungshorizont Luthers seit Mitte der 1520er Jahre betrachtet werden. 3. Sind diese beiden Momente auch in der bisherigen Forschung schon zu ihrem Recht gekommen, so soll darüber hinaus von der einschneidenden Bedeutung der erneuten Anfechtungserfahrung (1527/1528) die Rede sein, ohne die m. E. der hier zu beobachtende Wandel nicht hinreichend begriffen werden kann.

7.3 Melanchthons Umgang mit der Frage des timor 7.3 Melanchthons Umgang mit timor

Melanchthon ist früh mit der Frage nach dem Verständnis der Furcht in Berührung gekommen. Schon in seinen selten beachteten Bakkalaureatsthesen von 1519 finden wir ihn mit diesem Thema beschäftigt.57 In wenigen Thesen wird die negative Dynamik der Furcht unter der Erfahrung des Gesetzes entfaltet: Die Forderung der Gebote sei die Gottesliebe. Die Selbstliebe führe dazu, dass Gott von uns wie von Knechten gefürchtet wird, ja mehr noch, dass uns Gott durch das Gesetz verhasst wird. Solcher timor servilis könne aber nicht der Beginn eines timor filialis sein. Insofern aber sei auch der timor servilis nicht Beginn der Buße. In diesen wenigen Sätzen wird man eine kongeniale Umsetzung der lutherischen Auffassung von der Furcht erblicken können.58

57

Melanchthons Werke in Auswahl. Studienausgabe. Hrsg. von Robert Stupperich. 7 Bde., Gütersloh 21979-83. 1. Bd.: Reformatorische Schriften, S. 24-25. Melanchthons Umgang mit Furcht wird in seiner Entwicklung auch von AUGUST H ARDELAND rekonstruiert, allerdings in überaus kritischer Bewertung: H ARDELAND, AUGUST: Die Gottesfurcht als Erfüllung des ersten Gebotes bei Melanchthon. S. 123-126. Ders.: Der timor dei als Erfüllung des ersten Gebots bei Melanchthon. S. 147-151 und 159-163. Ders.: Der timor dei als Erfüllung des ersten Gebots in den älteren lutherischen Katechismen. S. 171-174. Alles in: Hannoversche Pastoral-Korrespondenz 1915. (Diese Texte fehlen im Literaturverzeichnis bei OTTO GÜHLOFF, gehören aber zur Auseinandersetzung zwischen HARDELAND und MEYER unbedingt dazu!) 58 W ILHELM M AURER nimmt an, dass Luther der Verfasser dieser Thesen war. (M AURER, W ILHELM : Der junge Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation, 2 Bde., Göttingen 1967/1969. M AURER I, S. 102.) Die Formulierungen scheinen mir jedoch eigenständig genug, um als genuin melanchthonisch gelten zu können. Sie zeigen eher, wie kongenial sich Melanchthon schon in den Anfängen seiner Wittenberger Zeit in die Theologie Luthers hineinversetzen konnte.

7.3 Melanchthons Umgang mit timor

265

Schon in seinen Loci communes (1521)59 spielt das Thema des timor eine auffällig große Rolle. Dieser Umstand ist durchaus naheliegend, wenn man bedenkt, welche Schlüsselfunktion die Affekte für den Aufriss der Glaubenslehre bekommen. Melanchthon hat bekanntlich in seinen Loci eine besonders profilierte Affektenlehre zugrunde gelegt. 60 Grundlegend ist für ihn die Einsicht, dass der Mensch wesentlich durch seine Affekte beherrscht wird. Von der Herrschaft eines Affektes vermögen weder Vernunft noch freier Wille ihn zu befreien, sondern nur ein anderer, stärkerer Gegenaffekt. Mit dieser Affektenlehre, die Melanchthon insbesondere durch die Verwendung der biblischen Redeweise vom Herzen im AT biblisch begründet, formuliert Melanchthon eine psychologische Plausibilisierung der reformatorischen Erbsündenlehre im Sinne Luthers. Unter der Herrschaft der sündigen Affekte können nur geistgewirkte, neue Affekte des Glaubens den Menschen verändern. Dieser empirisch-psychologischen Basis entsprechend gerät auch der Affekt des Schreckens bzw. der Furcht mit den entsprechenden Gegenaffekten des Friedens und des Trostes in das Blickfeld Melanchthons. Zum ersten Mal wird die Furcht in der Auslegung des Dekalogs näher thematisiert. Die ersten drei Gebote lege Jesus durch das Gebot der Gottesliebe (Mk 12,30) aus. Alle drei beziehen sich auf die wahre Verehrung Gottes. Das erste habe dabei vor allem die menschlichen Affekte im Blick. Wir sollen nichts lieben und fürchten als Gott allein („Ne quid amemus, ne quid formidemus praeter deum“ 61). In diesem Zusammenhang werden bereits die drei Glieder, die in Luthers späterer Katechismusformel auftauchen, zusammen erwähnt: fiducia, metus und amor.62 So kann er dann auch die Erfüllung des ersten Gebotes mit dieser Trias zusammenfassen: „Habes primi praecepti opus: fidere deo, diligere ac timere deum.“63 Die Zusam59

Zitiert nach der Ausgabe: MELANCHTHON, P HILIPP: Loci communes 1521. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt und mit kommentierenden Anmerkungen versehen von Horst Georg Pöhlmann, hrsg. vom Lutherischen Kirchenamt der VELKD, Gütersloh 1993. Zur Diskussion vgl. vor allem: M AURER II, S. 230-414; B IZER, ERNST: Theologie der Verheißung. Studien zur theologischen Entwicklung des jungen Melanchthon 1519-1524, Neukirchen-Vluyn 1964. S. 34-85; SCHÄFER, ROLF: Christologie und Sittlichkeit in Melanchthons frühen Loci (BHTh 29), Tübingen 1961; NEUSER, W ILHELM: Der Ansatz der Theologie Philipp Melanchthons, Moers 1957. S. 71-113. 60 M AURER II, S. 247ff.; Anm. 83 in MELANCHTHON, Loci, S. 44-45; ZUR M ÜHLEN, KARL-HEINZ: Melanchthons Auffassung vom Affekt in den Loci communes von 1521, in: Humanismus und Wittenberger Reformation. FS Helmar Junghans, hrsg. von Michael Beyer u. a., Leipzig 1996. S. 327-336; M ATZ, W OLFGANG: Der befreite Mensch. Die Willenslehre in der Theologie Philipp Melanchthons, Göttingen 2001. S.42ff. 61 M ELANCHTHON, Loci, S. 112. 62 Ebd. 63 M ELANCHTHON, Loci, S. 114. Dieses Dreierschema ist dabei nicht zufällig oder beliebig, sondern wird bewusst als Prägung beibehalten, wie der späte Rückgriff im Kapitel

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Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

menstellung in dieser Reihenfolge dürfte auch hier allein durch den Kasus bedingt sein, sachlich gehören vertrauen und lieben zusammen. Melanchthon musste diese drei Glieder nicht erstmals nebeneinanderstellen; schon bei Luther konnte er entsprechende Zusammenstellungen finden, ohne dass deren Zuordnung eindeutig gewesen wäre. 64 Spannender ist die Frage, in welcher Weise diese drei Ausdrücke von Melanchthon einander zugeordnet werden. Im Anschluss an die dreigliedrigen Formulierungen stellt Melanchthon fest, dass zwischen ihnen eine gewisse Spannung walte: Bald werd vom Gesetz Furcht, bald Vertrauen eingeschärft.65 Konkreter: Auf der einen Seite sei das erste Gebot eine Androhung göttlichen Zornes, was in uns Furcht und Schrecken auslöst; auf der anderen Seite sei es die Zusage seiner Güte, der wir vertrauen sollen. Wie schwierig das Verhältnis beider zueinander ist, macht Melanchthons Abschluss deutlich, der ganz auf die Notwendigkeit der Erfahrung dieser Dialektik verweist: „Omnino autem maiora exiguntur, quam quae verbis humanis queam consequi.“66 Gleichwohl zeigt sich, dass Melanchthon bereits hier in der Auslegung des ersten Gebotes eine polare Zuordnung von Furcht auf der einen und Vertrauen und Liebe auf der anderen Seite entwickelt hat; anders als Luther in seiner Frühzeit. 67 Nach dieser ersten Thematisierung der Frage der Furcht begegnet diese Frage nun ausführlich in der Entwicklung der Lehre von Gesetz und EvanDe discrimine erweist: „Flagare amore dei, fiducia, pavere metu dei oportuit, quae primo praecepto exiguntur.“ (MELANCHTHON, Loci, S. 316) 64 W ILHELM M AURER (Ders. II, S. 298, Anm. 48 = S. 555) will Melanchthons Zuordnung auf Luthers Auslegung des ersten Gebotes in den Operationes zurückführen. Seine Belege vermögen aber nicht zu überzeugen. In WA 5 394,24 wird eine offene Gruppe von „credere, sperare, diligere, timere“ genannt, ohne dass eine klare Zuordnung zu erkennen ist. Vielmehr wird die Auslegung des ersten Gebotes ein wenig später ganz wie im Sermon von den guten Werken (1520) auf den Glauben konzentriert: „fides est vere latria et primi mandati primum opus.“ (WA 5 394,33-34; auch 395,4-16) Auch die anderen angeführten Belege sind keine Vorstufe zu Melanchthons Formel. So entfaltet die Stelle WA 5 400,36ff. den klassischen Gegensatz von timor und fides im Sinne der Überwindung der Furcht durch den Glauben („contra timorem iudicii per fidem misericordiae pugnandi“ [WA 5 400,40-41]). Daher wird die dreigliedrige Formel allenfalls angeregt sein durch Luthers Kurze Erklärung der 10 Gebote von 1518 (WA 1 254,17) bzw. der lateinischen Instructio pro confessione peccatorum 1518 (WA 1 263,4); so auch richtig P ÖHLMANN in MELANCHTHON, Loci, S. 114, Anm. 291. 65 „Mirabiliter autem huius legis verba commendant nobis tum fiduciam tum metum.“ (M ELANCHTHON, Loci, S. 112) 66 M ELANCHTHON, Loci, S. 112. 67 So auch H ARDELAND mit der kritischen Beurteilung: „Überall macht sich die alte Unsicherheit geltend, dass er das, was als aus dem rechtfertigenden Glauben erwachsene Furcht Gottes angesprochen werden muss, mit der dem Glauben vorangehenden verwechselt. So kann es doch nie zu einer klaren Fassung des Furchtbegriffs kommen.“ (H ARDELAND, Melanchthon, S. 148)

7.3 Melanchthons Umgang mit timor

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gelium. Vielfach wurde beobachtet, dass man bei Melanchthon unschwer zwei Ebenen unterscheiden kann: eine heilsgeschichtliche Ebene, in der Gottes Gnade, Christi Werk, Gesetz und Evangelium einander zugeordnet werden, sowie eine Erfahrungsebene, in der die Wirkungen am Ort des Subjekts psychologisch konkretisiert werden in Furcht und Schrecken, Trost und Frieden. 68 Dieses Gegenüber von Gottes Handeln und menschlichem Erleben ist ein Grundzug seiner ganzen frühen Rechtfertigungslehre. Entsprechend seinem anthropologischen Einstieg ist es ihm darum zu tun, den affektiven Bezug zum individuellen Gewissen beständig auszuweisen. Die Furcht wird daher zunächst als affektiver Niederschlag der Gesetzeswirkung entfaltet. Als Maßstab der Forderungen Gottes ist es das Ziel des Gesetzes, die Sünde des Menschen anzuzeigen, dass wir diese fühlen und so auch erkennen. 69 Indem das Gesetz in dieser Anzeige der Sünde Gottes Zorn zur Geltung bringt, erschüttert es den Menschen, führt die Empfindung der Sünde im Herzen zum Erschrecken.70 Solches Erschrecken und Fürchten ist gemeint mit der paulinischen Redeweise, dass das Gesetz tötet.71 Dieses Werk des Gesetzes, Erschrecken und Furchteinflößen kann Melanchthon auch als Anfang der Buße („initium poenitentiae“72) verstehen. Dabei lehnt Melanchthon es ausdrücklich ab, auf diese Furcht des Gesetzes die klassische Unterscheidung von timor servilis und timor filialis zu beziehen. Wie viele andere scholastische Distinktionen hält er auch zu dieser prinzipiell Abstand; nicht ohne anzumerken, dass auch die Scholastiker diesen Unterschied nicht begriffen hätten. 73 Es hält sich bei Melanchthon als Sprachregelung durch, dass die Furcht auf das Gesetz bzw. die Drohungen Gottes bezogen ist, anders als der Glaube, der sich an die Verheißung Gottes hält und darin als Trost erfahren wird. Darin entspricht die Unterscheidung Furcht und Glaube der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. „Non est igitur fides credere minis 68 Durchgeführt wird diese Unterscheidung von Erfahrungsreihe und heilsgeschichtlicher Reihe etwa bei SCHÄFER, S. 28 und 30ff. Zurückzuweisen ist freilich die Kritik von RANGNAR B RING, im Willen zur psychologischen Konkretisierung zeige sich grundsätzlich ein egozentrischer Ausgangspunkt der melanchthonischen Rechtfertigungslehre (BRING, RANGNAR: Das Verhältnis von Glauben und Werken in der lutherischen Theologie, München 1955. S. 58-60.). Melanchthon konnte dafür genügend Vorbilder bei Luther finden, vgl. nur etwa die Auslegung von Ps 1 in den Operationes in Psalmos (WA 5 46,13-47,22). 69 MELANCHTHON, Loci, S. 175. 70 „Hoc est, ni lex mihi in corde peccatum ostendisset, ni me sensus peccati conterruisset, mortuum fuisset peccatum“. (MELANCHTHON, Loci, S. 182) 71 Vgl. M ELANCHTHON, Loci, S. 182/184. 72 M ELANCHTHON, Loci, S. 190. 73 M ELANCHTHON, Loci, S. 190/192. Vgl. zuvor schon die Ablehnung eines timor poenae als Motiv der Buße, M ELANCHTHON, Loci, S. 178.

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Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

tantum, immo hoc potius timorem vocat scriptura, sed et promissionibus credere.“74 Furcht/Schrecken und Glaube sind daher psychologische Konkretionen des Vorgangs der Rechtfertigung. Ausdrücklich definiert Melanchthon: „Timorem scriptura vocat, quo minis illis creditur, fidem, qua evangelio seu promissionibus divinis fiditur.“75 Die Rechtfertigung kommt dabei allein dem Glauben und nicht der Furcht zu. Gleichwohl gehören beide zusammen, wie Melanchthon einmal im Blick auf die Buße, einmal im Blick auf die Rechtfertigung ausführen kann. So kann auch Anfang und Vollendung der Rechtfertigung psychologisch ausgewiesen werden als Gerichtsfurcht und Trost des Evangeliums. 76 Offenbar scheint diese polare Zuordnung von Furcht und Glaube auch der Auslegung des ersten Gebotes zu entsprechen. Nun gibt es allerdings noch eine Nebenlinie in den Timorausführungen der frühen Loci. Im engen Anschluss an Luther behauptet Melanchthon, dass dem Glauben an die Sündenvergebung auch Gewissheit („securitas“ 77) des Heils eignet, wie die christliche Erfahrung eindeutig erweise. In diesem Zusammenhang wirft er die mögliche Gegenfrage der Scholastiker („Sophisten“) auf, ob denn nicht auch die Furcht Gottes gewahrt bleiben müsse; dies nötigt ihn zu neuen Unterscheidungen. Zunächst abgrenzend stellt er fest, dass eine Furcht ohne Glauben gottlos ist. 78 Wie ist aber dann das Verhältnis zum Glauben zu beschreiben? Dazu stellt Melanchthon eine mit dem Glauben verbundene Furcht fest, die zugleich um die Barmherzigkeit Gottes weiß. „Porro qui cum coniunctus est, is non est misericordiae ignorantia.“79 Mit Bezug auf den klassischen Vers Hiob 9,28 wird diese Furcht auf die Werke des Menschen bezogen, wogegen das Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes ausgerichtet ist. Diese Verteilung auf die Werke und auf die Barmherzigkeit Gottes scheint das übliche polare Zuordnungsverhältnis zu meinen. Sodann stellt Melanchthon jedoch fest: Der Glaube ist der Urheber einer heiligen Furcht. 80 Damit greift Melanchthon auf eine begriffliche Prägung der scholastischen Distinktionen zurück. Wird diese noch im selben Sinne verwandt? Ist dies noch das Erschrecken vor dem Zorn Gottes? Oder dessen gewandelte Form? Die Zuordnung wird noch verstärkt: Wohl ist es allein der Glaube, der die Gewissheit des Heils ausmacht. Im Glauben kommt es zu einer Ver74 75 76

MELANCHTHON, Loci, S. 230. MELANCHTHON, Loci, S. 216. „Est enim iustificationis principium peccati cognitio et iudicii divini metus; consummatio fides et pax conscientiae“. (MELANCHTHON, Loci, S. 338) Auch hier zeigt sich das Nebeneinander der sachlichen und der psychologischen Ebene. 77 M ELANCHTHON, Loci, S. 272ff. 78 M ELANCHTHON, Loci, S. 274: „Si vacet fide timor, impius fuerit.“ 79 Ebd. 80 „Sancti timoris fides auctor est“. (M ELANCHTHON, Loci, S. 274)

7.3 Melanchthons Umgang mit timor

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bindung von Glaube und Furcht. „Sed ut fide misericordiam norunt, ita fideli timore se divinae voluntati iudicandos ac damnandos permittunt“81. Mit dieser gläubigen Furcht ist ein neuer Begriff gewonnen, der von der Furcht innerhalb der Dialektik von Gesetz und Evangelium zu unterscheiden wäre.82 Hier kann man nicht mehr von Furchtüberwindung reden, sondern von einem Aufheben der Furcht, die als Moment des Glaubens erhalten bleibt. Dann gilt: „Non potest enim a fide timor separari.“83 Man wird sagen können, dass es diesen Ausführungen Melanchthons an letzter Klarheit mangelt.84 Faktisch operiert Melanchthon hier mit einem doppelten Begriff von Furcht: auf der einen Seite das vom Gesetz bzw. der Androhung des Zorns bewirkte Erschrecken, auf der anderen Seite eine Furcht, die als Folge und Begleitung des Glaubens beschrieben wird.85 Dabei kommt freilich dem Begriff des Schreckens innerhalb der Polarität von Gesetz und Evangelium bzw. Schrecken und Trost eindeutig der Primat zu, bis in die Auslegung des ersten Gebotes hinein. Man wird kaum bestreiten können, dass Melanchthon sich mit dieser Dialektik von Furcht und Vertrauen durchaus auf Luther berufen kann. Luther selbst hat vor allem in den Operationes in Psalmos immer wieder seine Rechtfertigungslehre in vergleichbarer Weise affektiv zugespitzt zur Sprache gebracht. Wahr ist, dass das Geistwirken in den neuen Affekten bei Melanchthon eine größere Selbstständigkeit gewonnen hat und nicht in gleicher Intensität mit der Christuswirklichkeit und der Wirksamkeit des Wortes verbunden ist wie bei Luther. Trotzdem ginge es zu weit, von einer psychologisierenden Verfälschung der Rechtfertigungslehre bei Melanchthon zu sprechen; schon die außerordentlich hohe Wertschätzung Luthers 86 für dessen Loci steht dem entgegen. Können wir für die Loci also eine über81 82

MELANCHTHON, Loci, S. 278. Unzutreffend ist daher HORST-GEORG P ÖHLMANNS Anmerkung: „Der Gegensatz von Furcht und Glaube in diesem Abschnitt ist der Gegensatz von Gesetz und Evangelium“. (MELANCHTHON, Loci, S. 279, Anm. 882) 83 M ELANCHTHON, Loci, S. 278. 84 So auch der entschiedene Vorwurf von ROLF SCHÄFER , der zur Stelle bemerkt: „In Bezug auf den Begriff ‚timor‘ ist dort kein eindeutiger Befund anzutreffen.“ (SCHÄFER, S. 135) SCHÄFER versucht, Melanchthon eine schwere Selbstwidersprüchlichkeit im Blick auf seine Lehre von Glaube und Gewissheit des Heils nachzuweisen. Diese Konsequenzen gehen jedoch zu weit; es genügt die Feststellung, dass Melanchthon faktisch mit zweierlei Begrifflichkeit von Furcht operiert, ohne deren Verhältnis hinreichend zu klären. 85 Diesen zweiten Begriff der Furcht, der nicht dem Glauben vorangeht, sondern ihm folgt, verwendet Melanchthon auch noch einmal im Abschnitt „De discrimine“: „qui sunt in Christo, spiritu trahuntur ad legem faciendam et spiritu faciunt, amant, timent deum.“ (MELANCHTHON, Loci, S. 298) 86 „Melanchthonis de locis Theologicis invictum libellum, meo iudicio, non solum immortalitate, sed canone quoque Ecclesiastico dignum“. (WA 18 601,5-6)

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Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

wiegende Entsprechung zwischen Luther und Melanchthon feststellen, so gilt es auch zu bemerken, dass Melanchthon hier schon eine Auslegung des ersten Gebotes bietet, wie Luther sie erst in der dritten Predigtreihe über den Katechismusstoff aufgreifen wird. Sodann ist die weitere Entwicklung Melanchthons zu beachten. Vor allem die Visitationsartikel Melanchthons und der endgültige Unterricht der Visitatoren 87 haben eine Schlüsselfunktion für die Frage nach dem Verhältnis von Melanchthon und Luther. Melanchthon hatte sich im Zuge seiner „Berufskrise“ längere Zeit von der ausdrücklichen theologischen Arbeit ferngehalten und sich auf die humanistisch-sprachlichen Studien konzentriert.88 Im Zuge der Wittenberger Unruhen und noch stärker des Bauernkrieges vollzieht Melanchthon einen allmählichen Prozess der Aufwertung der Kategorie des Gesetzes sowie der Betonung humanistischer Bildung. Innerhalb dieser Orientierung gewinnt auch die Furcht Gottes einen zunehmend wichtigen Stellenwert in seinem Denken. Die stärkere Betonung der Furcht Gottes zeigt sich etwa auch in seinem Proverbienkommentar, der Melanchthon 1525 bis 1527 begleitete. Die zweigliedrige Auslegung des ersten Gebotes voraussetzend, konzentriert sich das Schwergewicht der Auslegung darauf, der Furcht ihren gebührenden Platz zu sichern: „Primum praeceptum est de timore Dei.“ 89 Der Glaube kommt erst da zur Sprache, wo die Unentbehrlichkeit der Furcht für denselben betont wird: „fides non potest esse nisi in cordibus perterritis agnitione peccati et iudicio Dei“90. Der Unterricht der Visitatoren beginnt mit einer Einleitung, die den Ansatz des Werkes präzise auf den Punkt bringt. Unübersehbar ist der starke Akzent, der auf die rechte Predigt zur Buße gelegt wird. Kann man im Blick auf die Loci sagen, dass Rechtfertigung und Buße noch Wechselbegriffe sind, die beide innerhalb der übergreifenden Dialektik von Gesetz und Evangelium ihre Auslegung finden, so ist nun deutlich, das der Zusammenhang der Buße zur umgreifenden Kategorie ausgebaut worden ist, die das Ganze der christlichen Heilsvermittlung auszudrücken vermag. Diese Zuspitzung wird im Unterricht der Visitatoren ausdrücklich in Abgrenzung von einer verflachten Rechtfertigungslehre und Praxis begründet. Es sei nämlich fälschlicherweise dahin gekommen, dass vielfach unmittelbar die Vergebung und das Wort vom Glauben gepredigt werde, was doch ohne vorhergehende Buße nicht verstanden werden könne. Die Folge da87 Vgl. die Darstellung von J UNGERMANN, D IETRICH: Buße und Glaube. Studien zur Bußlehre Melanchthons 1519-1559, unv. Diss. Göttingen 1967. S. 101-114. 88 Vgl. M AURER II, S. 415-454; SCHEIBLE , H EINZ: Melanchthon. Eine Biographie, München 1997. S. 78ff. 89 StA IV, S. 314. 90 Ebd.

7.3 Melanchthons Umgang mit timor

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von sei, dass die Menschen bloß „sicher und forchtlos“91 werden. Wo die Buße fehle, werde auch das biblische Verständnis von Glauben nicht rein bewahrt. Zur Buße vermahnen heiße: „Rew und leyd uber die sunde zu haben und zuerschrecken fu(e)r Gottes gericht.“92 Auf diesen Grundton ist die Ausführung Melanchthons gestimmt, dass entgegen der vulgär evangelischen Praxis in vielen Gemeinden die Verkündigung des Glaubens nicht isoliert im Mittelpunkt stehen darf, sondern Glaube im Zusammenhang der Buße zu verkünden ist. Glaube an die Vergebung ist nicht zu haben ohne Reue über die Sünde. 93 Im nachfolgenden Abschnitt wird mit diesem Verständnis weiter operiert: Ziel der Zehn Gebote sei immer auch, Gottes Strafe anzudrohen, „das sie Gott lernten fu(e)rchten.“94 Durchgängig wird die Furcht an prominenter Stelle genannt: „Und sollen also die leut zur Gottes forcht, zur busse und rew gereitzt und vermanet werden und das sicher und forchtlos leben gestrafft werden.“95 Neben diese Furcht tritt der Glaube, wobei Melanchton einschärft: „das dieser Glaub nicht ku(e)nne seyn on ernstliche und warhafftige rew und schrecken fu(e)r Gott“96. Der enge Zusammenhang wird ausdrücklich psychologisch begründet. Der echte Glaube zeige sich daran, dass er Trost und Freude bringe, was der Mensch nicht fühlen könne, „wo nicht Rew und schrecken ist“97. Auch in der Zusammenfassung der Bedeutung des ersten Gebotes sind Furcht und Glaube die beiden zu unterscheidenden Momente, in denen das erste Gebot erfüllt wird.98 Die pädagogische Motivation dieser Zusammenstellung wird deutlich in der Auslegung des vierten Gebotes: „Hie soll man auch leren wie die Eltern schu(o)ldig sind, yhre kinder zu Gottes forcht ziehen“99. Welchen Stellenwert die Furcht für Melanchthon hat, wird deutlich, dass die Furcht gegenüber den Eltern als die eine, die Furcht gegenüber der Obrigkeit als die „ander Forcht[,] das ist[,] das wir uns hertzlichen fo(e)rchten fu(e)r der o(e)brickeit“100 bezeichnet werden. 91 M ELANCHTHON, P HILIPP: Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn im Kurfürstentum Sachsen, in: Luther, Martin: Studienausgabe, in Zusammenarbeit mit Helmar Junghans, Joachim Rogge und Günther Wartenberg hrsg. von Hans-Ulrich Delius. Bd. 3, Berlin 1983. S. 402-462. S. 416. 92 StA 3, S. 417. 93 In diesem Sinne auch M AURER, W ILHELM : Historischer Kommentar zur Cofessio Augustana. 2 Bde., Gütersloh 1976/1978. S. 103. 94 StA 3, S. 417. 95 StA 3, S. 418. 96 StA 3, S. 418, mit Berufung auf Ps 111,10. 97 StA 3, S. 418. 98 StA 3, S. 419. So auch in der Zusammenfassung am Ende: StA 3, S. 450. 99 StA 3, S. 422. 100 StA 3, S. 423. Vgl. auch: „Darumb wir stetigs ynn Gottes forcht stehen sollen“ (StA 3, S. 428).

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Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

In der Auslegung der Buße kommt Melanchthon wiederum auf dieses Thema zu sprechen. Ausdrücklich wird die besondere Notwendigkeit der Bußpredigt unterstrichen, „das forchtlos wesen zu straffen das itzund ynn der welt ist“101. Um der Echtheit des Glaubens willen könne dieser nicht allein sein, sei es unverzichtbar, Buße als Reue und Leid über die Sünde ihm zur Seite zu stellen. Dazu gehöre ausdrücklich auch Furcht und Erschrecken. „Denn rechter Glaube kan nichtsein wo nicht rechte Rewe ist und rechte forcht und schrecken fu(e)r Gott.“102 Ausdrücklich wendet sich Melanchthon gegen diejenigen, „so die leut wol tro(e)sten und sagen viel vom Glauben und vergebung der sunde Sagen aber nicht von Busse Gottesforcht und Gottes gericht“ 103. Dass sich Melanchthon mit dieser Beschreibung durchaus in eine gewisse Spannung zur Ausdruckweise Luthers in der Auslegung des ersten Gebotes setzt, ist kaum zu verkennen. Luther wurde spätestens 1527 auf diese terminologische Differenz aufmerksam gemacht im Zuge der Auseinandersetzung von Melanchthon und Agricola. 104 Im Sommer begann die ausgedehnte Visitationstätigkeit Melanchthons, in deren Verlauf er stärker als seit Jahren wieder mit theologischen Themen konfrontiert wurde. Auf der einen Seite begegnete er einer großen Unwissenheit im Volk, auf der anderen Seite einer Predigttätigkeit der Evangelischen, die mit ihrer polemischen Abgrenzung von der altgläubigen Seite Melanchthon abstieß. Besonders stieß ihm auf, dass viele Pfarrer einseitig predigten vom Glauben der Sündenvergebung, Fragen wie Selbstverleugnung, Reue und Buße aber in ihrer Verkündigung nicht vorkamen. Unter diesem Eindruck griff Melanchthon zurück auf die Bußlehre seiner frühen Loci. Man wird in seiner Ausführung für die Visitationsartikel schwerlich einen inhaltlichen Bruch zur Frühzeit behaupten können. Die erneute Verwendung der Dreiteilung der Buße Melanchthon als Rückgang zum Katholizismus vorzuwerfen, konnte nicht im Ernst an den Texten bewährt werden, in denen dieser sich in großer Eindeutigkeit vom katholischen Bußverständnis abgrenzt. Neben einer gestiegenen Neigung zur Bewahrung traditioneller Formeln ist hier sicher auch in Rechnung zu 101 102 103

StA 3, S. 435. StA 3, S. 435. StA 3, S. 435. (Anm. 257: Dieses Kapitel ist so auf die Überarbeitung Luthers zurückzuführen, nach WA 26 217 Anm. 1.) 104 Vgl. die Darstellung bei BRECHT II, S. 258-265 und M AURER II, S. 481-489. Zum Verlauf vgl. die Darstellung und die Zeittafel bei HAMMANN, GUSTAV: Nomismus und Antinomismus innerhalb der Wittenberger Theologie von 1524-1530, Diss. Bonn 1952. S. 57-60. Vgl. HARDELANDS Bewertung: „Am klarsten hat den von Melanchthon gemachten Fehler Agricola erkannt.“ (HARDELAND, Melanchthon, S. 171) Für HARDELAND ist die Betonung des Furchtmotivs im Visitatorenunterricht kaum noch evangelisch zu nennen, so HARDELAND, Melanchthon, S. 149.

7.3 Melanchthons Umgang mit timor

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stellen, dass Melanchthon sich vielfach an Pfarrer bzw. Priester wendet, die noch vor dem reformatorischen Umbruch ihren Dienst angetreten hatten und denen er in Anknüpfung an den alten Sprachgebrauch das evangelische Verständnis von Buße nahezubringen sucht. Die Betonung liegt dabei freilich in großer Entschiedenheit auf Furcht und Reue als Bestandteile der Buße. Die von Agricola vorgebrachte Kritik warf ihm hingegen nicht weniger vor als Abfall von der ursprünglichen und eigentlichen Lehre Luthers. Melanchthon würde wie in vorreformatorischer Zeit wieder die Buße mit der Furcht beginnen lassen. Melanchthon versuchte, das Aufsehen um diese Kritik gering zu halten. Die Verärgerung ist ihm in seinen Briefen gleichwohl abzuspüren, zumal diese vermeintliche Differenz zu Luther im Herzogtum Sachsen ausführlich thematisiert wurde. Er selbst hat Luther in einem leider verlorenen Brief auf die vorgebrachte Kritik aufmerksam gemacht. Die Reaktion Luthers ist im nächsten Kapitel ausführlich zu vertiefen. Eine vorläufige Klärung ergibt sich Ende November beim Zusammentreffen Melanchthons mit Luther und Agricola in Torgau. 105 Luther hat offenbar wenig in die Diskussion eingegriffen. Der Angriff Agricolas war wohl nicht substanziell genug, um überzeugen zu können; zumal Melanchthon die Entkräftung des Gerüchts nicht schwer fällt, er würde zur katholischen Bußauffassung zurücklenken. Ein „Schiedsspruch“ Luthers ist es schließlich, auf den beide Seiten sich verständigen können, auch wenn es dadurch nicht zu einer tieferen Klärung des Sachverhaltes kommt. Dieser Schiedsspruch ist später vollständig in den Unterricht der Visitatoren eingegangen: „So sey es fu(e)r den gemeinen groben man das man solche stu(e)ck des glaubens las bleiben unter dem namen busse gebot gesetz forcht etc(etera) auff das sie deste unterschiedlicher den glauben Christi verstehen welche die Apostel iustificantem fidem das ist der da gerecht macht und sunde vertilget nennen welchs der glaub von dem gebot und busse nicht thut und doch der gemein man uber dem wort glauben irre wird und frage auff bringet on nutz.“106

Glaube wird im eigentlichen und uneigentlichen Sinn unterschieden. Ausdrücklich wird die Rede von der Furcht für den gemeinen groben man zugespitzt. Zurückgegriffen wird faktisch auf eine Unterscheidung von fides generalis und specialis. Furcht ist als Funktion des Gesetzes bestimmt. Dabei ist entscheidend, dass die Zuordnung zum Glauben gewahrt bleibt, es seien „solche Stu(e)ck des Glaubens“. Konnte Melanchthon also zeigen, dass er sich nicht in einem prinzipiellen Gegensatz zu Luther befand, bleibt es natürlich bei dem Unterschied, dass Melanchthon schon in 105

Die Diskussion fand vor allem am Vormittag des 29. November statt. Vgl. HAM-

MANN, S. 89. 106 StA 3,

S. 417.

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Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

dieser Zeit das erste Gebot auf Furcht und Glauben bezog und die Gottesfurcht auch mit Gottes Strafdrohung und Zorn zusammenbrachte. Doch wird man daraus kaum schließen können, dass Melanchthon mit dieser Bußlehre den reformatorischen Ansatz verraten habe, wie ihm in der Literatur bisweilen vorgeworfen wurde.107 Unbestritten ist es so, dass Melanchthon ein doppeltes humanistisches Interesse verfolgte: die Betonung der Bildung als Voraussetzung evangelischer Geistlicher und die Wertschätzung pädagogischer Elementarisierung für die Kinder wie die Christen insgesamt. Dies wird man kaum zu einem Gegensatz zu Luther stilisieren können, der Melanchthon darin entschieden unterstützte. Man wird sich hüten müssen, die späteren Unterschiede im Abendmahlsverständnis und bei der Prädestination möglichst weit zurückzuprojizieren. Denn der zu erläuternde Tatbestand ist nicht nur, dass Luther Melanchthon duldete und ertrug, sondern dass er sich terminologisch vielfältig auf ihn zu bewegte. Stärker als bei Luther ist bei Melanchthon die Buße zum Horizont der Lehre von der Rechtfertigung geworden. Gleichwohl wusste er dabei nach wie vor das sola fide als eigentliche Pointe der Rechtfertigung zur Sprache zu bringen. 108 107 Im Anschluss an die Melanchthon-kritischen Perspektiven von R ITSCHL, H OLL oder W ILHELM NEUSER deutet auch GUSTAV HAMMANN die Visitationsartikel Melanchthons als Preisgabe der reformatorischen Linie (HAMMANN, S. 69-71). Leider habe Agricola sich dadurch provozieren lassen, eine letztlich genauso haltlose Systematik zu entwickeln. Daher konnten seine völlig berechtigten Anfragen an Melanchthons neues System nicht die nötige Wirkung zeigen. Im Blick auf Luther fragt HAMMANN, warum dieser den Gegensatz Melanchthons zu seinem eigenen Denken nicht deutlicher gesehen und nicht entschiedener bekämpft habe (S. 143ff.). Im Sinne H AMMANNS müsste man die Frage noch verschärfen: Warum hatte er nicht nur Gefallen an den Thesen, sondern seinerseits die stärkere Betonung der Furcht übernommen? Der vermeintliche Gegensatz von Luther und Melanchthon kann nur gegen Luthers Wahrnehmung ihres Verhältnisses behauptet werden. Die artikulatorischen Differenzen in der Rechtfertigungslehre sollten nicht zu einem Gegensatz stilisiert werden. Wohl hatte Melanchthon keine vergleichbar tiefe Erfahrungen von Anfechtung und Schrecken erlitten und konnte sich nicht mit derselben existenziellen Wucht wie Luther darüber äußern. Auch kann Luther die unmittelbare Präsens Christi im Glauben eindringlicher zur Sprache bringen als Melanchthon, bei dem Christus stärker als Unterpfand des Heils, als objektiver Ermöglichungsgrund der Rechtfertigung zur Sprache kommt, kraft dessen das Heil durch Wort und Glauben angeeignet wird. Ist Christus bei ihm eine Voraussetzung der promissio, so kann man bei Luther umgekehrt sagen: Die promissio ist eine Funktion Christi. Einen Lehrgegensatz haben beide in diesen Differenzen nicht empfunden. 108 Vgl. auch die Apologie zu CA 12, wo Melanchthon Reue und Glaube als Inbegriff evangelischer Buße darstellt. Reue wird sowohl als Leid wie auch als Erschrecken über die Sünde verstanden. Im Blick auf die Reue verwirft Melanchthon die Unterscheidungen von attritio und contritio: „De Contritione praecidimus illas otiosas et infinitas disputationes, quando ex dilectione Dei, quando ex timore poenae doleamus.“ (BSLK S. 257,811) Das Gesetz klagt an und erschreckt die Gewissen. Dieser Schrecken führt zur Ver-

7.4 Furcht bei Luther in den 1520er Jahren

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7.4 Furcht bei Luther in den neuen Erfahrungszusammenhängen der 1520er Jahre 7.4 Furcht bei Luther in den 1520er Jahren

7.4.1 Bauernkrieg und Visitationserfahrungen Melanchthon selbst hatte betont, dass es vor allem die Erfahrung der Visitation gewesen sei, die ihn die Akzente in den Visitationsartikel setzen ließ.109 Im Herbst 1528 war Luther nun selbst im Kurkreis mit der Visitation dörflicher Gemeinden beschäftigt. Obwohl Luther seit längerem mit der Thematik vertraut ist, haben ihn die tatsächliche Unwissenheit und der Abstand zur Wittenberger Gesprächslage doch nachhaltig beeindruckt. Die Vorrede zum Kleinen Katechismus ist daher unbedingt ernst zunehmen: „Diesen Catechismon oder Christliche lere yn solche kleine schlechte einfeltige form zustellen, hat mich gezwungen und gedrungen die kleglich elende not, so ich newlich erfaren habe, da ich auch ein Visitator war. Hilff lieber Gott, wie manchen iamer hab ich gesehen, das der gemeine man doch so gar nichts weis von der Christlichen lere, sonderlich auff den dorffern, und leider viel Pfarrherr fast ungeschickt und untuchtig sind zu leren, Und sollen doch alle Christen heissen, getaufft sein und der heiligen Sakrament geniessen, können wider Vater unser noch den Glauben odder Zehen gepot, leben dahin wie das liebe vihe und unvernunfftige sewe, Und nu das Euangelion komen ist, dennoch fein gelernt haben aller freiheyt meisterlich zu missebrauchen.“ 110

Immer wieder begegnen in der Folgezeit diesbezügliche Beobachtungen. Bei seinen Visitationen wird Luther mit den nun verbindlichen Visitationsartikeln wiederholt umgegangen sein. Von daher erklärt sich, warum er in Pr III sich so stark von ihnen beeinflusst zeigt. Der Kern der angesprochenen Erfahrungen war dabei nicht nur die allgemeine Unwissenheit. Luther sah sich mit einer Haltung konfrontiert, die keinerlei Bedürfnis für den Zuspruch des Evangeliums zu kennen schien, was sich etwa in der Abstinenz von Abendmahl oder Beichte zeigte. Das Thema der Sicherheit ist es auch, das sich in den Auseinandersetzungen der letzten Jahre wie ein roter Faden hindurch zog.

zweiflung, wenn ihm nicht der Glaube zur Seite tritt. Die Überwindung der Furcht wird bei Melanchthon wiederum beschrieben mit dem Terminus der kindlichen Furcht in Ablehnung der knechtischen Furcht: „Et sic clare definiri potest filialis timor, talis pavor, qui cum fide coniunctus est, hoc est, ubi fides consolatur et sustentat pavidum cor. Servilis timor, ubi fides non sustentat pavidum cor.“ (BSLK S. 258,54-59) 109 So heißt es in einem Brief an Caspar Aquila Ende August oder Anfang September 1527: „Nulla res me movit, nisi quod omnes definiebant ‚poenitentiam‘ esse ‚mortificationem carnis‘, item esse ‚abnegationem sui‘, item esse ‚cognitionem peccati‘, quorum verborum nihil neque vulgus intelligit neque doctores aliquot, quos quidem in hoc itinere audivi.“ (MBW Brief Nr. 584a [Regest 604!]. S. 150-151) 110 WA 30/I 264,12-266,10. Zu den brieflichen Äußerungen dieser Zeit vgl. B EUTEL, Gott fürchten, S. 60.

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Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

Schon in den Wittenberger Unruhen von 1521/1522 findet sich ein interessantes Präludium unserer Thematik. Angesichts der Verunsicherung Melanchthons durch die Zwickauer Propheten gibt Luther Melanchthon ein Kriterium an die Hand, mittels dessen er ihren Geist prüfen soll. Entscheidend ist, ob diese Propheten auch die Erfahrung der Schrecken gemacht haben oder ob alles ganz leicht und angenehm war. 111 Die furchtlose Sicherheit der Opponenten genügte Luther als maßgebliches Kriterium, sie nicht zu akzeptieren. Diese Linie setzt sich fort in der Auseinandersetzung sowohl mit den radikalen Ausläufern der reformatorischen Bewegung als auch mit dem klassischen Humanismus eines Erasmus, aber auch eines Zwinglis. So kann er kritisch gegen Erasmus und die Kontrahenten in den Sakramentsauseinandersetzungen einwenden, dass sie nichts von solchen Grenzerfahrungen wüssten und ganz anders denken würden, müssten sie auch nur eine Viertelstunde lang seine Anfechtungen ertragen. 112 Schließlich ist der ganze Kontext des Bauernkrieges zu erwähnen. Luther hatte in dessen Vorfeld mit Predigten Einfluss zu nehmen gesucht. Anders als bei den Wittenberger Unruhen blieben seine Interventionen nicht nur erfolglos, er selbst geriet sogar in eine lebensbedrohliche Situation. 113 In all diesen Situationen verbindet sich eine neue, kritische Wahrnehmung furchtloser Sicherheit mit dem vertieften Bewusstsein der Notwendigkeit der Gottesfurcht als Moment des Gottesverhältnisses.114 Es wiederholt sich also in den zwanziger Jahren in eindrücklicher Weise eine Konstellation, die wir in Luthers Klosterzeit ausführlich kennengelernt haben: Die Auseinandersetzung um die Lehre ist nicht zu trennen von der existenziellen Verwurzelung im Lebensvollzug, von der Erfahrungsgestalt, die als Hintergrund des jeweiligen Glaubens sichtbar wird. Erneut ist die Auseinandersetzung ein Kampf gegen falsche Sicherheit und Furchtlosigkeit, wenn auch unter gänzlich anderen Vorzeichen. So heißt es in der Vorrede zum Großen Katechismus: „Uber das schlehet mit zu das schend111 Vgl. WAB 2 425,22-23: „Quaeres, num experti sint spirituales illas angustias et nativitates, mortes infernosque.“ Vgl. auch die ältere Diskussion um diesen Brief: G OTTSCHICK, J OHANNES: Die Erfahrung der Höllenschrecken und der Christenstand nach dem Urtheile Luthers, ZThK 1 (1891) S. 255-258. 112 Vgl. WAB 4 279,13-16. 113 Vgl. LEPPIN, V OLKER : Martin Luther, Darmstadt 2006. S. 223. Vgl. vor allem WA 19 278,24f.; WAB 3 480,21ff.; 482,88f. Siehe dazu auch: G RIEST, CHRISTIANE: Luthers Reise ins Aufstandsgebiet vom 16.04.1525 bis zum 06.05.1525, in: Mühlhäuser Beiträge zu Geschichte, Kulturgeschichte, Natur und Umwelt 12 (1989) S. 25-35. 114 Angesichts des Bauernkrieges führt die vertiefte Einsicht in die bedrohlichen Ausmaße politischen Chaos’ auch zu einer Aufwertung der Straffurcht. „Das man mit den armen leutten so grewlich feret, ist ja erbermlich. Aber wie soll man tun? Es ist not, und Gott wills auch haben, das eine furcht und schew ynn die leute bracht werde.“ (WAB 3 507,8-10) „Laßts euch nicht so hart bekummern, denn es vielen Seelen zu gut kommen wird, die dadurch abgeschreckt und erhallten werden.“ (WAB 3 508,14-16)

7.4 Furcht bei Luther in den 1520er Jahren

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lich laster und heymlich bose geschmeis der sicherheit und uberdrus“115. Zuletzt ist aber das unmittelbare Ergehen Luthers zu betrachten als Hintergrund des Umstandes, dass diese Sicherheit einen solch nachhaltigen Eindruck auf ihn ausüben konnte.116 7.4.2 Angst und Anfechtung Luther hatte Mitte der zwanziger Jahre eine Reihe von Erfahrungen zu bewältigen, die mit großen Ängsten verbunden waren. Neben dem Bauernkrieg ist auch auf die Pest von 1527 zu verweisen.117 Luther musste sich in dieser Zeit wiederholt mit dem Thema Tod und Sterben intensiv auseinandersetzen. Auch in seiner persönlichen Umgebung machten sich diese angstauslösenden Ereignisse bemerkbar. Ein großer Teil der Universität wurde 1527 wegen der Pest nach Jena verlagert. Nach den großen Krisen der Bauernerhebung, zeitlich parallel zum Einbruch der Pest in Wittenberg 118, kommt es zur Zuspitzung der persönlichen gesundheitlichen Situation, deren Beginn auf den 6. Juli 1527 zu setzen ist.119 Ohne die Fragen der medizinischen Diagnose120 zu vertiefen, konzentrieren wir uns auf den 115

WA 30/I 126,4-5. So heißt es auch zum Ende der Vorrede, die Pfarrherren mögen „mit aller sorge und vleis sich fursehen fur dem gifftigen geschmeis solcher sicherheit“. (WA 30/I 128,34-35) 116 Diese Frage stellt sich erst recht, wenn man die Schilderungen Luthers und Melanchthons als übertrieben empfinden mag, wenn man sie mit den Visitationsprotokollen vergleicht. In diesem Sinne stellt BRECHT fest: „Dagegen stellten sich die sittlichen Verhältnisse bei den Gemeindegliedern nicht so düster dar, wie sie Melanchthon erfahren hatte.“ (B RECHT II, S. 266) Umso mehr muss gefragt werden, worauf der Fokus der Wahrnehmung aufgrund der inneren Disposition der Visitatoren lag. 117 Vgl. die Darstellung dieser Zeit im Zusammenhang anhand Luthers Briefwechsel bei GERHARD EBELING: Seelsorge, S. 364-446. Leider sind weder der Begriff Angst noch der Begriff Furcht im Stichwortverzeichnis ausgewiesen. Es finden sich lediglich „Todesfurcht“ und „timor“ (ein Beleg!). „Angst“ wird offenbar unter dem Begriff der Anfechtung subsumiert. Damit bleibt jedoch auch die Anfechtungserfahrung oft unpräzise bestimmt. 118 E BELING betont zu Recht, dass Pestangst und Anfechtungsangst deutlich unterschieden werden müssen. Vgl. E BELING, Seelsorge, S. 379. Der Pest gegenüber bewahrt Luther Mut und Zuversicht, in der Anfechtung ist er aufs Tiefste erschüttert. 119 Schon in der ersten Jahreshälfte hatte es einige besorgniserregende Vorfälle wie Ohrensausen im Januar oder gar einen Predigtabbruch im April gegeben. Vgl. die minutiöse Rekonstruktion bei EBELING, Seelsorge, S. 364. Über die schwere Heimsuchung am 6. Juli vgl. die Berichte von Bugenhagen und Jonas (WAT 3 80,11-81,18 Nr. 2922a und WAT 3 81,19-90,25 Nr. 2922b). 120 Vgl. N EUMANN, H ANS-JOACHIM : Luthers Leiden. Die Krankheitsgeschichte des Reformators, Berlin 1995. Dem Berliner Professor und Klinikdirektor der Charité zufolge lassen die ausführlich berichteten Symptome mit ziemlicher Sicherheit auf die Menièresche Krankheit schließen (NEUMANN, S. 91f.). Im Zusammenhang mit diesem anfallsartigen Leiden spielen Panikattacken nicht selten eine große Rolle.

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Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

Erlebnisaspekt. Die Schilderungen Luthers in seinen Briefen sowie die Fremdberichte von Bugenhagen und Jonas lassen keine Zweifel aufkommen, dass immer wieder Angst im Zentrum der Anfechtungserfahrung steht. Unbeschadet des medizinischen Befundes wie gefühlte Herzenge, Schweißausbruch und Ohnmachtsanfälle: Die wesentlichen Symptome von Panikattacken sind auch hier wieder anzutreffen. Entscheidend ist dabei, in welchem Horizont Luther selbst sein Erleben und Erleiden gedeutet hat. Für Luther stand fest, dass das psychische Erleben weitaus schwerer zu ertragen war als die körperliche Symptomatik. Es ist keine Frage, dass schwerste Angstattacken dabei eine große Rolle spielten. Sowohl in seinen Briefen wie auch in den Fremdberichten von Bugenhagen und Jonas ist eindringlich von der Todeserwartung Luthers die Rede. 121 Mehrfach gibt er in seinen Briefen eindrückliche Schilderungen, dass er Christus fast völlig verloren habe und von Fluten und Stürmen der Verzweiflung, ja Gotteslästerung getrieben wird.122 In seinen brieflichen Zeugnissen sind es immer neue Ausdrücke des Angsterlebens, mit denen er sein Geschick beschreibt.123 Dieser Hintergrund ist es, der seine Wahrnehmung der gegenwärtigen Auseinandersetzungen stark bestimmte. So kann Luther ausdrücklich eine Verbindung ziehen von den neuen Anfechtungserfahrungen der letzten Zeit zur Anfechtung in der Klosterzeit; die gegenwärtige Erfahrung scheint den früheren an Intensität kaum nachzustehen. 124 Monatelang hatte Luthers Ergehen einschneidende seelische Auswirkungen zur Folge gehabt, auch wenn er in seinem Auftreten nicht nur von Niedergeschlagenheit, sondern

121 Vgl. die Berichte der beiden Augenzeugen: WAT 3 80,11-90,25 Nr. 2922a und b. Für Luthers unmittelbare Todeserwartung vgl. zunächst Bugenhagens Bericht vom Vormittag: WAT 3 83,13ff.; 83,23; 84,6ff. In Jonas Bericht mit dem vermutlichen Menièreschen Anfall ist die Todeserwartung noch akuter: „Wasser her oder was ir habt, oder ich vorgehe!“ (WAT 3 87,15) Siehe ferner zur Todesbefürchtung das Gebet (WAT 3 88,422) sowie die vermeintlichen Abschiedsworte an Käthe und seinen Sohn Hans (WAT 3 89,8-10; 90,6-11). Für den nächsten Tag berichtet Jonas die Selbsteinschätzung Luthers, dass die geistliche Anfechtung doppelt so schlimm wie das körperliche Leiden gewesen sei (WAT 3 90,23-25). 122 „Amisso fere toto Christo agebar fluctibus et procellis desperationis et blasphemiae in Deum.“ (WAB 4 226,10-11. An Melanchthon, 02. August 1527) 123 „Ego tempestate & pussilanimitate spiritus nunc multis mensibus angor.“ (WAB 4 277,11-12) Deutlich wird dies nicht zuletzt in den vielfach bekundeten Verlustbefürchtungen hinsichtlich seiner Christusverbundenheit bzw. seines Glaubens: vgl. WAB 4 307,14ff.; 310,7; 312,3-6; 313,1-2. 124 „Verum est hanc tentationem esse multo gravissimam Et mihi etiam ab adolescentia non incognitam, sed ita nunc ingravescentem non sperabam.“ (WAB 4 319,5-6; an Gerhard Wiskamp, 01. Januar 1528)

7.4 Furcht bei Luther in den 1520er Jahren

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auch von getrostem Glauben geprägt zu sein schien.125 Denn auch abgesehen von seiner Krankheit bringt der Herbst 1527 in jeder Hinsicht große existenzielle Belastungen mit sich. Die Frau Georg Rörers stirbt wenige Stunden nach einer Totgeburt an der Pest; die Schwangerschaft von Käthe verläuft sehr problematisch (Tochter Elisabeth wird am 10. Dezember geboren); Luthers Sohn Hans hat über 12 Tage lang nichts gegessen. Luther weiß sich selbst kaum zu trösten. 126 Daher sieht er sich auch außerstande, in seinem gegenwärtigen Zustand die Auseinandersetzung um das Abendmahl fortzusetzen. 127 Dieser Hintergrund ist für die gedankliche Entwicklung Luthers mit zu berücksichtigen. Von Melanchthon auf die Auseinandersetzung mit Agricola aufmerksam gemacht, antwortet Luther diesem am 27. Oktober. Zunächst einmal scheint es so, als ob Luther nicht allzu viel Interesse für diese Auseinandersetzung spüren lässt, ja sie für einen Streit um Worte hält, den man nicht vor dem Volk führen sollte. 128 Man wird bei dieser Aussage zweierlei zu berücksichtigen haben. Zum einen ist die Auseinandersetzung schon deswegen eine Belastung, weil der Streit vor allem im Herzogtum Sachsen öffentlich wurde, was am kursächsischen Hof für nicht geringe Verstimmung sorgte. Sodann ist für Luther vor allem der Fortgang der Visitationstätigkeit von Bedeutung, wie er Agricola gegenüber brieflich deutlich zu verstehen gibt. Dass die strittige Frage Luther inhaltlich gleichwohl durchaus bewegt, ist an einer knappen, aber bemerkenswerten Ausführung zum Thema zu sehen. Die Unterscheidung von timor poenae und timor Dei sei nämlich mit Worten leichter zu machen, als dass sie sich in der Erfahrung durchhalten lasse, führt Luther aus. Denn wo die Gottlosen allein die Strafe und die Hölle fürchteten, da würden die Gerechten zugleich (simul) Gott fürchten. Denn die Furcht Gottes könne in diesem Leben nicht ohne die Furcht vor der Strafe sein, auch wenn die Straffurcht ohne den timor Dei nutzlos sei. 129 125 Melanchthon berichtet von Luthers Heiterkeit auf einem ersten Torgauer Treffen Ende September: „Lutherus Dei beneficio satis hilaris erat“. (Melanchthon an Justus Jonas, 02. Oktober 1527. MBW Nr. 599) 126 Am 01. November: „ego, qui alios hactenos omnes consolari solebam, ipse consolationis omnis indigus sim.“ (WAB 4 274,2-3) 127 „Cupio respondere Sacramentariis, sed nisi fortior fiam animo, nihil possum.“ (WAB 4 275,9-10) 128 „Ego pugnam istam verborum non magni puto, praesertim apud vulgum.“ (WAB 4 272,15-16) 129 „Nam timor poenae et timor Dei quam differant, facilius dicitur syllabis et literis, quam re et affectu cognoscitur. Timeant poenam et infernum omnes impii, Deus aderit suis, ut simul timeant Deum cum poena. Neque fieri potest, ut sine timore poenae sit timor Dei in hac vita, sicut nec spiritus sine carne, etiamsi timor poenae sit inutilis sine timore Dei.“ (WAB 4 272,16-21)

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Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

Dass diese Bemerkung alles andere als beiläufig geschieht, sondern vertiefte Reflexion der Furchterfahrung voraussetzt, zeigt der Hintergrund der Vorlesung über den 1. Johannesbrief, die Luther in diesen Wochen für die wenigen verbliebenen Studenten hielt. So kommt er in der von Rörer mitgeschriebenen Vorlesung am 16. Oktober auf den locus classicus der Furchtlehre 1 Joh 4,18 zu sprechen und entwickelt angesichts der bedrängenden Zeitumstände eine Verhältnisbestimmung von Furcht und Glaube. Luther nimmt den Text und sein klassisches Verständnis auf: Wer an Christus glaubt, hat Liebe und Sicherheit, ja, je mehr Sicherheit, desto mehr er glaubt. Wer dagegen reine Furcht hat, der hat keinen Glauben. 130 Sogleich fällt Luther sich selbst ins Wort: Haben nicht die Apostel und Jünger, ja Christus selbst Furcht verspürt, fürchte nicht jeder Heilige den Tod? Darum müssten zwei Zeiten im Leben des Christen unterschieden werden; eine Zeit des Krieges und eine Zeit des Friedens. Wo der Glaube unversehrt sei, herrsche im Gewissen Frieden mit Gott. Anders in der Zeit der Anfechtung: Da werde der Glaube selbst angegriffen, geprüft und geübt. Hier greife der Satan Glaube und Hoffnung der Frommen an; so sei auch der Pfahl im Fleische des Paulus aufzufassen, eben als Anfechtung des Paulus. Solche Zeiten hätten nun auch ihn und seine Zuhörer erfasst: „Sicut nos pavidi sumus, concussa societas nostra est, diminuta et pugnae foris pestis et aliorum malorum, Et tamen non desperandum. Isto tempore belli nemo est, qui non habeat pavorem.“131

In Zeiten des Friedens stünden Vertrauen und Liebe im Gegensatz zur Furcht; sie seien nicht gleichzeitig, sondern schlößen einander aus. Anders im Krieg der Anfechtung: nun seien diese Affekte vermischt und keiner von ihnen besiege den anderen. 132 Glaube und Unglaube lägen miteinander im Streit, Furcht und Liebe seien gleichzeitig da.133

130 „Si credit in Christum, habet charitatem, securitatem et quanto fortius credit, tanto maior securitas. Si merus pavor, ibi nihil fidei.“ (WA 20 760,2-3) 131 WA 20 760,22-24. 132 „Sed in pugna et bello sic habet, ut sint mixti isti adfectus: Amo sed leviter: In bello sic habet res, ut neutra pars sit victrix.“ (WA 20 761,10-11) 133 Dieses simul von Furcht und Glaube wird einer weiteren Handschrift zufolge auf den angefochtenen Christus bezogen, ein Abschnitt, der bei Rörer fehlt, an dessen Authentizität m. E. nicht zu zweifeln ist: „Deus sustentat hanc infirmitatem, sicut in Christo, qui in media tentatione tamen pervicit dicens: Deus mi, Deus mi. Quanta haec erat fiducia: Non sicut ego volo, sed sicut tu vis. Ergo in voluntate Dei ponit fiduciam, Matth. 26.“ (WA 20 761,28-31) Bis „sicut in Christo“ (WA 20 761,13) ist die Überlieferung bei Rörer ganz entsprechend, der dann die Konkretion von Kreuz und Golgatha nicht berichtet; stattdessen fährt Rörer fort: „Sicut fit in bello, ut illi eher vincant, qui fuerunt desperatissimi, praesumentes fere percutiantur, sic in spiritualibus bellis. Infidelitas praesumit et vincitur, econtra fides.“ (WA 20 761,13-15)

7.5 Furcht und Glaube in der Katechismusformel

281

In Luthers Briefen tauchen in dieser Zeit einige Formulierungen und Gedanken der Vorlesung auf.134 Es lässt sich daher nicht halten, dass Luther beiläufig oder ohne echtes Interesse für die Frage an Melanchthon schreibe. Die Frage der Furcht hat ihn existenziell wie theologisch beschäftigt. Man wird daher von einer wesentlichen Einsicht sprechen müssen, dass die Unterscheidung von timor Dei und timor poenae in Zeiten der Anfechtung nicht aufrechtzuhalten ist. In der Anfechtung sind gegensätzliche Empfindungen gleichzeitig. 135 Dieser Zusammenhang ist ein ganz anderer als der, den Melanchthon in seiner pädagogischen Tätigkeit bewogen hat, die Furcht Gottes auch als Straffurcht auszulegen. Bei Luther finden wir in dieser existenziellen Krisenzeit sowohl in Vorlesung wie in brieflicher Mitteilung die Einsicht ausgedrückt, dass die Furcht vor Zorn und Strafe letztlich nicht zu trennen ist von der Ehrfurcht des Gottesverhältnisses. Man wird darin den existenziellen Boden bereitet sehen für die Umgestaltung seiner Auslegung auch des ersten Gebotes. In den ersten beiden Durchgängen Pr I-II trägt Luther noch den klassischen Bezug auf den Glauben vor. Nach der Visitation und der damit verbundenen Beschäftigung mit Melanchthons Visitatorenunterricht setzt sich in der ersten Predigt von Pr III die neue Zuordnung jedoch nachhaltig durch. 136

7.5 Furcht und Glaube in der Katechismusformel 7.5 Furcht und Glaube in der Katechismusformel

Abschließend ist die Summe in zweifacher Hinsicht zu ziehen. Systematisch soll dabei zunächst die Katechismusformel im Blick auf ihre Entfaltung des christlichen Gottes- und Weltverhältnisses betrachtet werden. Sodann ist im Vergleich zwischen Luther und Melanchthon das dabei deutlich werdende spannungsvolle Verhältnis von Einheit und Differenz innerhalb der Wittenberger Reformation aufzuzeigen.

134 Vgl. den Verweis auf die Anfechtung Hiobs (WAB 4 275,1f.) mit WA 20 761,4-5; die allgemeine Bedrängnis durch Furcht (WAB 4 276,9) mit WA 20 760,22-23; die Wendung „außen Bedrängnis, innen Furcht“ (2 Kor 7,5; in WA an beiden Stellen nicht identifiziert) begegnet WAB 4 275,19-20 und WA 20 760,5! 135 Vgl. BRECHT: „Die Furcht vor der Strafe und die Gottesfurcht ließen sich nicht scheiden, obwohl Furcht vor der Strafe für sich nichts nütze sei. Dass bei einseitiger Betrachtung beider Gesichtspunkte entweder die Verzweiflung oder eine falsche Sicherheit drohte, war Luther bewusst.“ (BRECHT II, S. 259) 136 Dass dabei die Visitationserfahrung und das Erleben persönlicher Angefochtenheit eng zusammenhängen dürften, zeigt der Umstand, dass es wenige Tage vor Beginn der 3. Predigtreihe in Luthers Briefen heißt, er sei wieder von seiner Anfechtung besucht worden; so an Melanchthon, 26.11.1528 (!): „Mea tentatio hodie me visitavit; ora, quaeso, pro me, sicut ego pro te, ne deficiat fides mea in ista cribratione.“ (WAB 4 614,6-8)

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Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

7.5.1 Gottesfurcht zwischen Gottes- und Weltverhältnis Was heißt also nun: Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen? Zweierlei muss systematisch betont werden: Luther gelingt mit dieser Formel sowohl eine didaktische Elementarisierung der Dialektik von Gesetz und Evangelium als auch eine mit der Aufwertung der Furcht als Moment des Gottesverhältnisses einhergehende Durchdringung des Weltverhältnisses. Dass die terminologische Änderung in der Auslegung des ersten Gebotes eine Angleichung an das von Melanchthon favorisierte Schema einer polaren Zuordnung von Furcht und Glaube als Auslegung des ersten Gebotes darstellt, hat die Forschung vielfach gezeigt. Vor allem Hintergrund und Reichweite dieses Wandels waren vertiefend zu bedenken. Zum einen ist der gewandelte Erfahrungszusammenhang der 1520er Jahre (und nicht nur der Visitation) zu nennen. Die Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse unter den Umständen von Aufruhr, Krieg, Krankheit und Not schärfte Luthers Blick für die Lebenswirklichkeit der Menschen, bei denen nicht oder nicht mehr die Erfahrung von Gewissensqualen und Anfechtung vorauszusetzen war. Durch eigene intensive Angsterfahrung und Anfechtung ist der Gegensatz von Angst und Sicherheit ihm neu existenziell lebendig geworden. Furcht wird insofern als unumgängliches Moment des Gottesverhältnisses in stärkerer Betonung als zuvor gewürdigt. Damit ist kein Bruch innerhalb seines Denkens gegeben, auch kein Preisgeben seiner früheren Einsichten. Vielmehr schlägt sich in dieser Akzentverlagerung nieder, dass Luther sowohl im Blick auf sich selbst als auch auf seine Zeit eine gewandelte Situation realisiert: Die einst gegebenen Voraussetzungen der evangelischen Verkündigung haben sich verändert. So heißt es in der Vorrede zum Kleinen Katechismus: „Unser ampt ist nu ein ander ding worden, denn es unter dem Bapst war“ 137. Die Voraussetzungen der evangelischen Verkündigung sind nun deutlicher als früher explizit zu machen. Auch zuvor ist die Wirkung des Gesetzes als Angst beschrieben worden. Die Rede war dabei überwiegend deskriptiv. Nur den Sicheren und „hart mutigen“ 138, um die Luther immer schon wusste, sollte das Gesetz ausdrücklich in dieser Zuspitzung verkündet werden. An dieser Stelle sind die Akzente in den Katechismen anders gesetzt. Die falsche Sicherheit ist nicht mehr die Ausnahme, sondern zunehmend die Regel. Die Deutung der Katechismusformel wird insofern vom Torgauer Schiedsspruch ausgehen. Dort stellt Luther klar, dass dieser Ausdruck der Furcht zu dulden ist als Umschreibung dessen, worum es theologisch gesehen in Buße und Gesetzeswirkung geht. Furcht ist dabei als Moment der 137 138

WA 30/I 280,18-19. WA 2 720,11.

7.5 Furcht und Glaube in der Katechismusformel

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Buße, als Wirkung des Gesetzes anzuerkennen. Unmittelbare Konsequenzen hat diese Klärung für Luthers eigenes Denken zunächst nicht. Noch in den ersten beiden Gebotsauslegungen der Katechismusreihenpredigten 1528 bleibt Luther bei seiner klassischen Bezugnahme des ersten Gebotes auf den Glauben. Der Wandel der Terminologie in der Novemberpredigtreihe und damit der Anschluss an Melanchthons Ausdrucksweise markiert ein neues Bewusstsein von der Notwendigkeit, das Gesetz ausdrücklich zu artikulieren. Die von Melanchthon geprägte dialektische Formel von Furcht und Glaube erweist sich nun offensichtlich für Luther als didaktische Möglichkeit, die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium elementar in ihrer anthropologischen Zuspitzung zu vermitteln. 139 Der terminologische Wandel deutet eine Akzentverlagerung an: Was bisher überwiegend deskriptiv als Wirkung des Gesetzes beschrieben wurde, wird verstärkt normativ zur Geltung gebracht. Was zuvor im Status der Ausnahme vorgetragen wurde (die Verkündigung für die „hart mutigen“), wird im Blick auf die volkspädagogische Herausforderung als Regelfall angesehen. Die Formel bot daher nicht nur Gelegenheit zur Elementarisierung, sondern auch zur Verstärkung dessen, was bisher an weniger prominenter Stelle betont worden war, nämlich der dialektischen Wirkung des Wortes Gottes in Gesetz und Evangelium. 140 Die vertiefte Betonung dieser Dialektik ist nicht zuletzt als Einrede gegen evangelische Formen falscher Sicherheit zu hören. Damit ist den Deutungen zu widersprechen, die von einer Homogenität der Begriffe ausgehen und „Fürchten“ im Sinne einer liebenden Ehrfurcht auslegen. 141 139 Auch A LBRECHT P ETERS betont zunächst das Nebeneinander „der Strafandrohung“ und „der Gnadenverheißung“ (P ETERS, S. 133) im Beschluss der Gebote. Nicht nachvollziehbar ist insofern sein Fazit: „Der Widerstreit von Gesetz und Evangelium tritt zurück. Im Zentrum steht Gottes schöpferisches Gebieten und gebieterisches Schaffen“ (P ETERS, S. 135-136). Überhaupt vermag P ETERS’ Interpretation hier nicht zu überzeugen, etwa wenn er herausstellt, dass Luther die Zuordnung von Furcht und Glaube in den Katechismen „lediglich predigtmäßig geschildert, nicht jedoch systematisch durchdrungen“ (P ETERS, S. 134) habe; dass die „rechte Zuordnung“ (ebd.) schon in P I von 1514 entfaltet worden sei; dass diese allerdings schon vorweggenommen sei bei Augustin und beim Lombarden (Sent. III dist. 34) und dass Luther diese Zuordnung auch in Leipzig gegen Eck verteidigt habe. 140 Diese Wirkung des Wortes Gottes ist festzuhalten gegenüber der rezeptionsästhetischen Pointe der Deutung von ALBRECHT B EUTEL. Wohl erweist sich die Bedeutung von Furcht am Ort des Subjekts. Dies ist jedoch keine Funktion subjektiver Auswahl, sondern Wirkung des Wortes. (Vgl. in diesem Sinne schon FRAAS: „Nicht der Mensch gibt dem Wort seinen jeweiligen Sinn, sondern der Wille Gottes konkretisiert sich in der jeweiligen Beziehung.“ [F RAAS, S. 38]) 141 So ist die Deutung von E ILERT H ERMS (Vgl. die Forschungsgeschichte) nicht einfach willkürlich und kann sich auf frühere Verhältnisbestimmungen Luthers berufen. Luther kann Gottesfurcht als Ehrfurcht bestimmen im Sinne der hermsschen Korrelation

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Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

Neben dieser didaktischen Elementarisierung ist eine mit der Aufwertung der Furcht als Moment des Gottesverhältnisses einhergehende Durchdringung des Weltverhältnisses zu betonen. Schon mit der Formulierung „über alle Dinge“ wird das erste Gebot konsequent auf das christliche Weltverhältnis bezogen. Diese Weite wie Konkretheit wird vor allem im Großen Katechismus eindrücklich vor Augen geführt. 142 Gott wird im ersten Gebot vorgestellt als derjenige, der „uns gibt leib, leben, essen, trincken, narung, gesundheit, schutz, fride und alle notdurfft zeitlicher und ewiger guter, Dazu bewaret fur ungluck, und so uns etwas widderfert, rettet und aushilfft“143. In dieser Weite ist der Gottesglaube bezogen auf die Gesamtheit der lebensweltlichen Bedrohungen und Krisen, wie sie die 1520er Jahre mit sich gebracht haben. Angesichts von angstauslösenden Geschichtsmächten wie Aufruhr und Krieg, Krankheit und Streit bringt die Ausrichtung des Furchterlebens auf Gott eine heilsame Relativierung aller anderen Mächte und Gewalten mit sich. Darum ist die lebensgeschichtliche Aneignung genauso universal auf die Gesamtheit der Lebensvollzüge ausgerichtet: „Und ein yglicher lasse es sein tegliche ubung sein ynn allerley fellen, gescheffte und hendeln“ 144. Angesichts dieser schöpfungstheologischen Weite hat Albrecht Beutel zu Recht betont, dass der Ausdruck „über alle Dinge“ sich kritisch bezieht auf alle anderen erschreckenden bzw. anziehenden Widerfahrnisse in der Welt. Nicht auf den Verben, sondern auf Gott als ihren Gegenstand habe daher die Betonung zu liegen: „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ 145 Im Vertrauen auf Gott werden die Anfechtungen von Offenbarung Gottes in seiner liebenden Zuwendung auf der einen Seite, zur Vertrauensgewissheit vertiefte Daseinsgewissheit auf der anderen Seite. Die Heilsintention Gottes ist in diesem Verhältnis eindeutig zum Ausdruck zu bringen. Die dialektische Spannung von Gesetz und Evangelium wird freilich in dieser Perspektive deutlich verringert; auch die Bedeutung der Bedrohtheit menschlicher Existenz lässt sich so weniger klar zur Sprache bringen. 142 Die heilsgeschichtliche Deutung bei A LBRECHT PETERS vermag nicht recht zu überzeugen („Lenkt Luther nicht mit Melanchthons Visitationsunterricht zurück ins Alte Testament?“ [PETERS, S. 124]). Ähnliches gilt für die Deutung GERHARD HEINTZES, für den die Betonung der göttlichen Strafandrohung einer pädagogischen Intention Luthers entstammt, die dieser glücklicherweise nicht konsequent durchgehalten habe (HEINTZE, S. 135). Was PETERS als „alttestamentliche Züge“ (P ETERS, S. 125) bezeichnet, deckt sich mit dem, was wir als Durchdringung des Weltverhältnisses bezeichnen: die Einbindung des irdisch-weltlichen Geschicks in eine vom Glauben bestimmte Wirklichkeitswahrnehmung. 143 WA 30/I 135,30-33. 144 WA 30/I 182,3-4. 145 Vgl. BEUTEL, Gott fürchten, S. 64. Nicht unproblematisch erscheint hingegen der Verweis auf Bismarck: „Fast scheint es, als habe sich Bismarck mit dem Satz ‚Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst Nichts auf der Welt‘ am Ende nur als ein gelehriger

7.5 Furcht und Glaube in der Katechismusformel

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des Weltverhältnisses wahrgenommen, können angenommen und bewältigt werden.146 Diesen Geist verkörpert eindringlich auch die vermutlich zeitnah entstandene Strophe: „Und wenn die Welt voll Teufel wär; und wollt uns gar verschlingen; so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen.“147 Die Vielfalt der Interpretationen hat ihren Grund in der diskontinuierlichen Weise, wie Luther im Laufe seiner Entwicklung das erste Gebot ausgelegt hat. Jede umfassende Interpretation wird diese Entwicklung berücksichtigen müssen. Dabei behält der Begriff der Furcht eine Offenheit, die unterschiedlicher, aber nicht beliebiger Füllung fähig ist. 148 Schüler des Katechismus erwiesen.“ (B EUTEL, Gott fürchten, S. 64) Die in diesem Zitat als Zustand behauptete Furchtlosigkeit äußerer Bedrohung gegenüber entspricht nicht ganz Luthers sensibler Wahrnehmung menschlicher Angefochtenheit. 146 Vgl. auch die Deutung von K ORSCH, D IETRICH: Dogmatik im Grundriß, Tübingen 2000. S. 60-63 und ders. Luther, S. 74-76; 100. Auch K ORSCH betont das polare wie ambivalente Verhältnis von Fürchten und Lieben. Einen Schritt weiter geht KORSCH, wenn er im Gottvertrauen die Grundlage sieht, die sich noch einmal zu dieser polaren Spannung der Affekte verhält und sie in ihrer Bewegung zu begründen vermag. Als fortführende Interpretation der lutherischen Katechismusformel verbindet KORSCHS Deutung zweierlei: Zum einen bringt sie die Dialektik von Gesetz und Evangelium so zur Geltung, dass die im Gottesverhältnis aufgegebene Einheit des Lebens als ihr existenzieller Horizont verdeutlicht wird. Zum anderen betont die Interpretation des Gottvertrauens als die das Selbstverhältnis allererst fundierende Begründung die besondere Stellung des Glaubens als Erfüllung des ersten Gebotes, wie Luther sie sowohl in der Frühzeit als auch ab 1530 weitgehend vertreten hat. Die damit beschriebene vertrauensbasierte Polarität von Fürchten und Lieben stellt insofern eine synthetische Zusammenschau der unterschiedlichen Motive dar, die Luther im Laufe der Jahre zur Geltung bringt. 147 Vgl. die Interpretation bei M EDING, W ICHMANN V.: Ein feste Burg ist unser Gott. Martin Luthers christliche Auslegung des Psalms 46, ZThK 90 (1993) S. 25-56. Begründet verwirft VON MEDING in seiner Studie die Versuche, die Entstehung des Liedes an ein bestimmtes Erlebnis zu binden (S. 28ff.). Dass das „wohl 1527/28 entstandene Lied“ (S. 37) allgemein auf die krisenhaften Zuspitzungen dieser Zeit bezogen ist, dürfte sich von selbst verstehen. Abgesehen vom überzeugend nachgezeichneten Aufbau des Liedes und seinem engen Bezug zu Ps 46 ist die Deutung als „Gottesbekenntnis trotz aller Gefährdung des Lebens“ (S. 49) zu unterstreichen: Im Unterschied zu Ps 46,3 behauptet die oben zitierte Strophe eben nicht die Furchtlosigkeit des Glaubenden (S. 54). „Die Sänger des Feste-Burg-Liedes bleiben die Armen.“ (S. 55) 148 Luther selbst hat von der Coburg an Justus Jonas geschrieben, er sei aufs Neue Schüler des Katechismus geworden (WAB 5 409,26-32). In der Folgezeit betont Luther mehrfach den Charakter des Prologs im ersten Gebot als promissio (bzw. Evangelium). Die stärkere Wahrnehmung des Prologs in seiner Eigenständigkeit führt zu einer erneuerten Form, das erste Gebot wieder ganz auf den Glauben zu beziehen: „Promissio omnium promissionum fons & omnis religionis & sapiencie caput, Evangelium Christum promissum complectens.“ (WA 30/II 358,1-4; Glossen zum Dekalog, 1530); ganz entsprechend auch im Fragment De loco iustificatione (WA 30/II 663,36ff.). Es führt jedoch zu weit, hier eine völlige Neudeutung anzunehmen. Die Zuordnung von Glauben und erstem Gebot hat Luther schon die 1520er Jahre hindurch herausgestellt.

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Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

7.5.2 Differenz und Komplementarität in der Wittenberger Reformation Abschließend sind noch einmal Einheit und Weite der Furchtauffassung bei Luther und Melanchthon in den Blick zu nehmen. In beider Werk sind Furchterfahrungen und -deutungen ein vielfältiger Bezugspunkt. In beider Leben lässt sich ihren Selbstzeugnissen zufolge eine hohe Furchtaffinität beobachten. Beide verstärken noch die Betonung von timor im Verlauf der zwanziger Jahre signifikant. Dies geschieht jedoch aus unterschiedlichen Gründen und vor jeweils anderem Erfahrungshintergrund. Zugespitzt: Bei Luther dominiert eine intrinsische Angsterfahrung, die sich an Gedanken bzw. Bewertungen innerhalb des Gottesverhältnisses (oder dessen satanischer Gefährdung) entzündet. Bei Melanchthon stehen hingegen extrinsische Furchterfahrungen im Vordergrund, die aus Befürchtungen um Chaos, Aufruhr und Krieg entstehen. 149 Wir haben vielfältig gesehen, welch große Relevanz Luther seinen Anfechtungen der Klosterzeit wie auch später den Erschütterungen der Reifezeit zumaß. Immer wieder wurden sie von ihm als existenzieller Hintergrund seiner Theologie benannt. Bei Melanchthon liegen die Akzente anders. Er übernahm die frühe reformatorische Theologie mit ihrer ganzen existenziellen Zuspitzung, indem er sie ganz auf die affektiven Grunderfahrungen des Menschen konzentrierte. Die Wittenberger Unruhen bedeuteten dann einen traumatischen Einschnitt in seinem Wirken, der sich zu einer Berufskrise verdichtete. Fortan begleitete ihn eine starke Aversion gegen Chaos und Aufruhr. Was in den Wittenberger Unruhen begann, vertiefte und verfestigte sich während des Bauernkrieges. Ob in der Aufwertung der Obrigkeit, der stärkeren Betonung von Ordnung und Tradition, der unnachsichtigen Strenge in der Verfolgung von radikalreformatorischen Kräften wie Müntzer, Aversion gegen das Chaos bleibt ein Grundzug seines Denkens. Seine starke Betonung der Gottesfurcht repräsentiert einen notwendigen Gegenaffekt gegen die Mächte des Aufruhrs und Chaos. Gottesfurcht wird für ihn zu einem stabilisierenden Ordnungsfaktor in Kirche und Gesellschaft. Der existenzielle Hintergrund bei Melanchthon und Luther ist insofern denkbar verschieden; sie treffen sich jedoch in gemeinsamer Abwehr gegen falsche Sicherheit und Furchtlosigkeit. Sie artikulieren diesen Widerspruch in unterschiedlichen Kontexten: Wenn Luther vor falscher Sicherheit und Vermessenheit warnt, versucht er innerhalb eines existenziell149 Luther selbst entwickelt im Vergleich zwischen seinen und Melanchthons Angsterfahrungen eine analoge Typologie, wobei er statt von intrinsischer und extrinsischer Furchterfahrung zwischen öffentlicher und privater Dimension unterscheidet: „In privatis luctis infirmior ego, tu autem fortior; contra in publicis tu talis, qualis ego in privatis“. (WAB 5 412,19-20; an Melanchthon, 30. Juni 1530) Vgl. EBELINGS Analyse dieses Briefes in: EBELING, Seelsorge, S. 304-311.

7.5 Furcht und Glaube in der Katechismusformel

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seelsorgerlichen Kontextes die Verderblichkeit einer Haltung zu erweisen, die er als Unempfindlichkeit für die Bedrohtheitsdimension menschlichen Lebens beschreibt. Die von Melanchthon kritisierte Sicherheit äußert sich dagegen in mangelndem Respekt vor Ordnung und Autorität, Neigung zu Aufruhr und Umsturz. Melanchthons Zugang ist dabei stärker humanistisch-pädagogisch geprägt, wohingegen bei Luther ein seelsorgerlichmonastisches Erbe nicht zu verkennen ist. Luther und Melanchthon unterscheiden sich dabei sicherlich auch in der Komplexität ihrer Affektwahrnehmung. Bei Melanchthon dominiert die Beschreibung eines sukzessiven Nacheinander der herrschenden Affekte; im Idealfall vom Schrecken des Gesetzes zum Trost des Evangeliums. Diese affektive Abfolge wird auch bei Luther vielfältig beschrieben. In seinen Anfechtungserfahrungen erweisen sich die Verhältnisse jedoch als komplexer. Hier ist er genötigt, die Gleichzeitigkeit miteinander im Kampf liegender antithetischer Affekte zu beschreiben. In dieser Simultanität liegt die Besonderheit der Anfechtung, die von einem kämpfenden Glauben erlebt und erlitten wird; ein Zusammenhang, in dem ein erhebliches Erbe seiner frühen Theologie sichtbar wird. Die grundlegende Differenz ihrer Furchterfahrungen bringt beide nicht zu einer gegensätzlichen Entwicklung ihrer Lehre. Dass beide Furcht als Moment des christlichen Glaubens aufwerten, verbindet sie, so dass sich eher von einer zunehmenden Komplementarität ihres Denkens reden lässt. Von unterschiedlichen Voraussetzungen kommend, zeigen sich auch beide für das Anliegen des anderen offen. Melanchthons Aufgeschlossenheit hinsichtlich der tiefen Anfechtungserfahrungen Luthers zeigt sich in einem Brief vom 21. Mai 1546. Einfühlsam beschreibt Melanchthon in diesem Brief die Erfahrung existenzieller Glaubensverunsicherung: „Du sprichst aber: ich höre solches alles, und bleibt dennoch gleichwohl Angst und Furcht. Antwort: Davon ist dieser Bericht: das heißt glauben, daß man wider solche Angst strebe, und sich mit der Verheißung tröste […]. Dieser Kampf wird einem Menschen schwer; aber in diesem Kampf lernet man, was glauben heißt.“150

Schließlich verweist Melanchthon auf seine Erfahrungen mit Luther: „Ich habe selbst gesehen, dass der Herr D. Martin Luther oft in großer Angst gewesen ist, und hat sich an diesen Spruch Pauli gehalten: Gott hat alles unter die Sünde geworfen oder beschlossen, dass er allen Gnade erzeige. Also muß ein jeder Glaubiger lernen, was Glaub ist, und muß fechten wider das Zweifeln und Zappeln“151.

Auch bei Luther gibt es eine vergleichbare Aufgeschlossenheit für Melanchthons Wahrnehmungszusammenhänge der Furcht. In den Wittenber150 Nach B AYER, O SWALD: Theologie (HST 1), Gütersloh 1994. S. 154. [„Ein Trostbrief Philippi Melanchthons in hoher geistlicher Anfechtung“] 151 B AYER, Theologie, S. 155.

288

Kapitel 7: Furcht Gottes zwischen Gesetz und Evangelium

ger Unruhen konnte Luther Melanchthons zurückhaltendes Auftreten noch missbilligen. Das Schicksalsjahr 1525 lässt den Abstand zwischen beiden deutlich geringer erscheinen. In seinen Schlichtungsversuchen in Thüringen erweist sich Luther nicht mehr als unumstrittener Herr der Lage und kommt selbst in Lebensgefahr. Einen zunehmend verstärkten Konservativismus, eine stärkere Anlehnung an die Ordnungsfunktion der Obrigkeit hat auch Luther mit Melanchthon gemeinsam. Aufruhr wird auch für Luther Inbegriff des Bösen, wie in seinen drastischen Schriften aus der Zeit der Bauernkriege ersichtlich ist. 152 Luther selbst hat früh einen Blick für die Komplementarität zwischen seinem und Melanchthons Wirken gewonnen.153 Die Differenz in der Angsterfahrung führt in der Ausgestaltung ihres Denkens daher zu einer neuen Konvergenz in der stärkeren Betonung der Furcht. Trotz unterschiedlicher Erfahrungshintergründe treffen sich beide in einer Aufwertung dessen, was in ihrer Frühzeit ein mehr vorausgesetzter als explizierter Hintergrund ihrer Verkündigung war.

152 „Denn auffrur ist nicht eyn schlechter mord, sondern wie ein groß feur, das eyn land anzundet und verwustet, also bringt auffrur mit sich eyn land vol mords, blutvergissen“. (WA 18 358,10-13) Darum soll man denken, „das nicht gifftigers, schedlichers, teuffelischers seyn kann, denn eyn auffrurischer mensch“. (WA 18 358,15-16. Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern, 1525) „Denn auffrur ist keyn schertz, und keyn ubelthat auff erden ist yhr gleich, andere untugent sind eyntzele stuck, auffrur ist eyne sindflut aller untugent.“ (WA 18 398,26-28. Ein Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern 1525) 153 Vgl. Luthers Vorrede zu Melanchthons Kolosserkommentar: „Ich bin dazu geboren, dass ich mit den rotten und teuffeln mus kriegen und zu felde ligen, darumb meiner bucher viel sturmisch und kriegisch sind. Ich mus die klotze und stemme ausrotten, dornen und hecken weg hawen, die pfutzen ausfullen und bin der grobe waldrechter, der die ban brechen und zurichten mus. Aber M. Philipps feret seuberlich und still daher, bawet und pflantzet, sehet und begeust mit lust, nach dem Gott yhm hat gegeben seine gaben reichlich.“ (WA 30/II 68,12-69,1)

Kapitel 8

Umgang mit Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde Kapitel 8: Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde

Der Kampf gegen falsche Sicherheit und die Betonung der unverzichtbaren Bedeutung von Furcht in der Aneignung des Heils waren Grundzüge der frühen Theologie Luthers. Erst im Umbruch der Ablassauseinandersetzungen wurde die Bewältigung der Furcht durch den Glauben ein zentrales Thema seiner reifen Rechtfertigungslehre. Luther traf damit offensichtlich einen nervösen Punkt seiner Zeit. Seine ungeheure Popularität der Anfangsjahre erklärt sich nicht nur durch seinen Widerspruch gegen Missstände, deren Missbilligung auf ein großes Protestpotential setzen konnte, sondern auch aus dem durchschlagenden Erfolg seiner Trosttheologie, die sich auf die Ängste seiner Zeit bezog. Offenbar konnte dieser Erfahrungshintergrund mit den Jahren immer weniger Allgemeinheit beanspruchen. In der Entfaltung seiner Rechtfertigungslehre geht es Luther daher zunehmend darum, die Voraussetzungen seiner Botschaft nicht nur zu benennen, sondern zu explizieren. Die Auseinandersetzungen der zwanziger Jahre galten zunächst der altgläubigen Seite und dann den innerprotestantischen Kontrahenten. In beiden Fällen stand die rechte Zuordnung von Wort und Sakrament bzw. Amt im Zentrum: die alleinige Heilsrelevanz des Glaubens und die Prägnanz des Evangeliums in den von Gott dafür eingesetzten Mitteln. In den dreißiger Jahren geht es Luther zunehmend um die prinzipielle Gestalt der Rechtfertigung als Lehre 1, unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes. Haben wir schon im Kontext der Katechismusformel die Zuordnung von Gesetz und Furchterfahrung beobachten können, so lässt sich dieser Zusammenhang in den dreißiger Jahren in dreifacher Hinsicht vertiefen. Furcht und Gesetz erweisen sich aufeinander bezogen im Hinblick auf Tod (8.1), Sünde (8.2) und Buße (8.3). In diesen Zusammenhängen erweist sich das Gesetz als die theologische Kategorie, die insgesamt die Gefährdung und Bedrohtheit des menschlichen Lebens zum Ausdruck bringt (8.4).

1 Siehe vor allem die große Galaterbriefvorlesung (WA 40/I-II) oder die Disputationen zur Rechtfertigung (WA 39/I 44-53; 82-86; 202-204 = LDStA 2, S. 401-440).

290

Kapitel 8: Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde

8.1 Furcht und Tod in der Vorlesung über Ps 90 8.1 Furcht und Tod in Ps 90

Die eindringlichste Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Furcht und Tod2 im Horizont des Gesetzes bietet Luther im Rahmen seiner dritten Psalmenvorlesung zu Ps 90.3 8.1.1 Gesetz, Zorn und Tod Luther ist in vielen Auslegungen darum bemüht, zu Beginn den zentralen Gehalt eines Textes in einem kurzen argumentum zusammenzufassen. In großer Ausführlichkeit werden argumentum und die Auslegung der Überschrift vorangestellt.4 Dabei legt Luther diesen Psalm ganz im Vorgriff auf seine Genesisvorlesung aus, die er in Kürze beginnen und bis zum Ende seines Lebens halten will. Die mosaische Verfasserschaft des 90. Psalms hat für Luther grundsätzliche Bedeutung. Wie zu Psalm 51 greift Luther wiederum die Ausrichtung auf die Selbst- und Gotteserkenntnis auf. 5 Diese Verknüpfung betreibt Mose aus seinem besonderen Auftrag, der Gesetzesverkündigung, heraus. Daher zielt sein ganzes Gebet vor allem auf eines: auf die Erkenntnis des Todes, des Zornes Gottes und der Sünde. 6 Wieder und wieder wird eingeschärft, dass es sich dabei um den besonderen Auftrag bzw. Dienst des Gesetzes handelt: „Est legis officium, sic ostendenda peccata et ira, Ro 1.“7 Dieses officium des Gesetzes sei die

2 Ein Präludium dieses Themenkomplexes wird man in Luthers Auslegung von 1 Kor 15 sehen können (WA 36 478-696). Siehe dazu die eindringliche Analyse von EBELING, GERHARD: Des Todes Tod. Luthers Theologie der Konfrontation mit dem Tode, ZThK 84 (1987) S. 162-194. Ist die Korintherauslegung stärker auf die Überwindung des Todes bezogen, so liegt der Akzent der Psalmenexegese auf der Einschärfung des Zusammenhangs von Tod, Gesetz und Zorn Gottes. 3 Als Literatur siehe die klassischen Rezeptionen bei E LERT, W ERNER : Morphologie des Luthertums, 2 Bde., München 31965 (1931). S. 15ff.; ALTHAUS, P AUL: Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 21963. S. 339ff.; STANGE, CARL: Luther und die Todesfurcht, Berlin/Leipzig 1932. Dazu vgl. LOHSE, BERNHARD: Gesetz, Tod und Sünde in Luthers Auslegung des 90. Psalms, in: Ders.: Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation, hrsg. von Leif Grane u. a., Göttingen 1988. S. 379-394. Zuletzt vor allem: S CHLICHT, M ATTHIAS: Luthers Vorlesung über Psalm 90. Überlieferung und Theologie (FKDG 55), Göttingen 1994. SCHLICHT weist im Vergleich der rörerschen Nachschrift mit der Druckbearbeitung von Veit Dietrich nach, dass Dietrich nicht nur wesentliche Momente des Vorlesungsstils getilgt hat, sondern auch inhaltliche Verschiebungen und Veränderungen durchführte. Als Grundlage einer Lutherdeutung kommen daher allein die authentischen Mitschriften von Georg Rörer in Betracht. 4 Vgl. SCHLICHT, S. 127ff. 5 WA 40/III 484,7-8. 6 „Vir legalis, minister mortis, irae, peccati.“ (WA 40/III 486,13-14) 7 WA 40/III 488,6.

8.1 Furcht und Tod in Ps 90

291

„Summa psalmi vel orationis.“8 In diesem Dienst sei das Gesetz nicht abzuschwächen oder zu verleugnen, sondern stark zu machen. Die Autorität des Moses wird von Luther deutlich herausgestellt: Gott selbst redet durch Mose auf diese Weise.9 Als göttlichen Gesandten und Diener Gottes müssen wir Mose hören, dessen Ausführungen göttliche und nicht menschliche Autorität haben.10 Das Gesetz in seiner besonderen Funktion zur Geltung zu bringen, sei daher der maßgebliche Horizont des 90. Psalms, dem Luther entschieden entsprechen will. In dieser Perspektive sei es vor allem das Problem des Todes, das Mose vom Gesetz her anvisiert. 11 Mit dem Tod sei es Mose um die schwerste und schrecklichste Sache der Welt zu tun.12 Zu aller Zeit hätten sich Menschen um den rechten Umgang mit dem Tod bemüht, dabei zur Verachtung des Todes oder zum entschiedenen Lebensgenuss aufgefordert. Doch Moses rede vom Tod in einer Weise, die aller bemühten Beschwichtigung entgegensteht. Seine Absicht sei es, den Tod groß und schwer zu machen. Diese Einsicht sei nicht von einer besonderen affektiven Gestimmtheit zu trennen: Ausdrücklich ziele die Rede vom Zorn Gottes darauf, dass die Menschen sich erschrecken und lernen, Gott zu fürchten. Nur so werde der Mensch bereit für die Gnade. Darum verwende Mose geradezu eine neue Sprache, wenn er in V. 7. vom Tod als Ausdruck des göttlichen Zornes rede. 13 Obwohl die Menschen um ihr Sterbenmüssen wissen und dies als schrecklich empfinden, verkennen sie dennoch Gewicht und Ausmaß dieser Frage und begreifen nicht „illa gravissima et horribilissima res, quae vocatur mors“14. Ist der Tod das spezielle Thema, dem Mose sich in seinem Dienst des Gesetzes zuwendet, so sei dieser in einer ganz bestimmten Hinsicht wahr8 9

WA 40/III 488,13. „Moses vir authoritatis et officii, ut credamus Mosi, ac deus loqueretur.“ (WA 40/III 491,2-3) 10 Vgl. WA 40/III 492,3-4. 11 Dieses besondere Profil des 90. Psalms wird in der Auslegung C ARL STANGES verkannt, wenn er sich einerseits wesentlich auf den Duktus dieser Vorlesung stützt, andererseits die verschiedensten Phasen und Zugänge Luthers zum Problem des Todes auf eine Ebene stellt und eine quasi situationsunabhängige Theologie des Todes bei Luther zu geben verspricht: „In der Theologie Luthers steht der Gedanke an den Tod im Mittelpunkt.“ (S TANGE, S. 7) 12 WA 40/III 485,3f. 13 WA 40/III 487,2-4. 14 WA 40/III 485,3. Luther kann dabei den ganzen Psalm als Auslegung des Liedes „In media morte“ verstehen. Im ersten Teil ginge es um die Wahrheit des Liedes, dass wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind. Auf diese Einsicht zielt die Verkündigung des Gesetzes: „Sic media morte in vita sumus, ut canitur. Das ist vox legis: Mitten“. (WA 40/III 496,3-4) Der Tod wird darin als der bestimmende Lebenshorizont ausgewiesen. Im zweiten Teil sei dann umgekehrt zu bedenken, dass wir mitten im Tod vom Leben umfangen sind.

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Kapitel 8: Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde

zunehmen. Hinter dem Tod gelte es, den Zorn Gottes zu erkennen. Dieser Hintergrund sei von Mose ausdrücklich herausgestellt, weil sich nur von dort her die eigentliche Bedeutung des Todes erschließe: „Opponit maiestatem illam intolerabilem et divinam iracundiam contra nos et dicit eam per iram intulisse mortem.“ 15 Erst im Licht des Zornes Gottes eröffne sich der Ausblick auf Schlimmeres als das zeitliche Ende, nämlich den ewigen Tod.16 Diese Zuspitzung sei denen gegenüber nötig, die den Tod zu einem quasi schicksalhaften Ereignis machen. Luther sieht darin eine epikuräische Haltung, die dieses zornige Wirken Gottes im Tode verkennt.17 Dieses Problem der Verkennung Gottes wird auch auf dem Gebiet der Gotteslehre weiter verfolgt. In der Auslegung des dritten Verses kommt es Luther vor allem auf eine Spannung an. Gott werde dabei als Schöpfer der Menschen zur Sprache gebracht, der nun auch ihren Tod wirke. Ausdrücklich würde von Mose hier der Zorn auf den Schöpfer zurückgeführt. 18 Es gebe in dieser Frage nicht die Möglichkeit einer Spaltung des Gottesbildes wie bei den Manichäern, deren Dualismus selbst Augustin lange angehangen hätte. Demgegenüber müsse man sich diese Einschärfung des Gesetzes gefallen lassen, die den Tod wirklich Gott selbst zuschreibt. 19 Die Schrecklichkeit des Todes ist auf die Größe dessen zu beziehen, der mit uns zürnt: „Et hoc etiam pertinet ad magnitudinem personae irascentis.“20 Denn nur wenn der Tod als Gottes Werk begriffen wird, ist auch der Gedanke einer Überwindung des Todes durch Gott möglich.21 8.1.2 Erschrecken und Gottesfurcht Diese Betrachtung des Todes mit dem besonderen Fokus, dass nichts anderes als der Zorn Gottes um unserer Sünde willen die wirkende Kraft hinter dem Tod sei, habe im Blick auf uns eine wesentlich pragmatische Intention, nämlich eine Verbindung von Selbst- und Gotteserkenntnis, die sich zunächst im Erschrecken erweise. Darauf ziele die ganze Unterweisung des Mose: „Hoc est docere vel docere de aeterna morte, ira dei, loquitur contra incredulos contemptores dei, ut perterrefiant et humilientur.“ 22 Diese Absicht sei natürlich nicht zu isolieren: Sie sei streng zu beziehen auf das Handeln Gottes in Gesetz und Evangelium, wonach das Gesetz die Siche15 16 17 18 19

WA 40/III 487,5-6. WA 40/III 487,7-8. WA 40/III 514,8ff. Vgl. auch WA 40/III 518,7; 524,1 u. ö. WA 40/III 516,13. „Ipsi deo ascribere illum horribilem effectum, quem omnes homines praeter Epicureos, quod ille effectus mortis venit ab ipso deo.“ (WA 40/III 518,6-8) 20 WA 40/III 523,1. 21 Siehe auch S TANGE , S. 50-51. 22 WA 40/III 488,14-489,2.

8.1 Furcht und Tod in Ps 90

293

ren erschrecken muss, die Erschrockenen sodann zu ihrem Erlöser gewiesen werden.23 Doch schon rein quantitativ kann kein Zweifel bestehen, welches Wirken im Zentrum der Auslegung Luthers steht. Die Entfaltung des trostvollen zweiten Teils hat Luther ausschließlich am letzten Vorlesungstag am 31. Mai 1535 vorgenommen!24 So entscheidend dieser Horizont ist, die Erschrockenen mit dem Evangelium zu trösten, der Schwerpunkt der Vorlesung ist eindeutig darauf bezogen, den Schrecken als Voraussetzung des Trostes zu entfalten.25 Diesen Auftrag muss das Gesetz ausüben gegenüber der Blindheit und Unempfindlichkeit der Menschen.26 Dabei ist es um die Unempfindlichkeit des Menschen eigentümlich bestellt. Denn natürlich wüssten die Menschen um den Tod wie um weitere Übel des Lebens. Diese Wahrnehmung des Todes ist daher auch selbstverständlicher Anknüpfungspunkt von Luthers Auslegung. In ihrem Empfinden kommt es jedoch zu einer doppelten Verfehlung. Zum einen wird der Tod nicht auf Gottes Zorn bezogen, so dass der Gottesbezug falsch oder uneigentlich wahrgenommen wird. Zum anderen wird auch die Bedeutung für das menschliche Leben nicht hinreichend wahrgenommen. Wir verkennen die Wahrheit: „Vivimus brevissimam vitam“ 27. Darum ist der ganze erste Teil des Psalms zu beziehen auf die sicheren, unempfindlichen und verhärteten Menschen.28 Die Menschen verkennen die sich im Lied aussprechende Wahrheit, mitten im Leben vom Tod umfangen zu sein. Das Verkennen dieser Allgegenwart des Todes macht des Menschen Unempfindlichkeit aus. Diese Unempfindlichkeit ist

23 24 25

WA 40/III 489,6-8. WA 40/III 580,5ff. B ERNHARD LOHSE hat in seiner Untersuchung über den 90. Psalm bestritten, dass die Erzeugung des Schreckens im Fokus von Luthers Auslegung steht. In Auseinandersetzung mit den klassischen Deutungen von E LERT und ALTHAUS betonte LOHSE, dass nicht das Erschrecken, sondern der Trost des Evangeliums letzter Horizont der Vorlesung sei. Natürlich ist unbestreitbar, dass der Schrecken nicht Selbstzweck ist, sondern zur Verzweiflung führt, wenn er nicht durch den Trost des Evangeliums überwunden wird. Zuzustimmen ist LOHSE, wo er sich gegen eine Prinzipialisierung des Gegensatzes von Gesetz und Evangelium wie vor allem bei WERNER ELERT wendet (LOHSE, Gesetz, S. 379ff. und S. 393f.). Zu weit führt LOHSES Gegenposition jedoch, wenn er behauptet, es sei „das Evangelium vom Gesetz umschlossen, es ist gleichsam der verborgene Kern des Gesetzes.“ (S. 388) Im Blick auf Luthers Vorlesung zu Ps 90 bringt LOHSE dabei dessen Pointe nur unzureichend zur Sprache, nämlich dass der Trost des Evangeliums nicht zugänglich sei ohne das Erschrecken angesichts des Todes und des Zornes Gottes. 26 Vgl. die Zuspitzung: „contra induratos et insensatos.“ (WA 40/III 487,10) So auch zuvor: „Ista est caecitas et superaddita miseria“. (WA 40/III 486,7) 27 WA 40/III 523,5-7. Dagegen gilt: „Non iam ista cura, sed vivunt, quasi in eternum.“ (WA 40/III 564,10-11) 28 WA 40/III 488,1-3.

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Kapitel 8: Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde

nichts anderes als eine Folge der Erbsünde („fructus originali peccati“29). Die Blindheit des Menschen für seine Situation besteht darin, dass er sein eigenes Elend weder recht zu empfinden noch zu begreifen vermag. Dieser Unempfindlichkeit gegenüber liegt das Augenmerk Luthers auf der Wiedergewinnung einer vertieften Furcht Gottes. Von daher erhält der Ausdruck des timor Dei seine besondere Zuspitzung. 30 Ziel des Mose sei es, dass die Menschen Gott fürchten, von seinem Zorn und dem drohenden Tod erschreckt und gedemütigt werden, kurz, zur Furcht Gottes bewegt werden, was nicht ohne den Aufweis des Zornes Gottes geschehen könne.31 So zeigt es sich in der Zusammenfassung der Absicht des ersten Teils: „1 pars: Mosen adigere ad timorem, reverentiam istius invisibilis dei et ad metum futurae ire“32. Die Unverzichtbarkeit der Dimension göttlichen Zorns hat sich auch erwiesen in der Herausstellung der Einheit Gottes in seinem schöpferischen und seinem vernichtenden Tun. Das Beieinander dieser Seiten im Gottesverhältnis zeigt sich in der Bitte um eine solche Gottesfurcht: „Da gratiam, ut in humilitate et timore faciamus, ut semper memores, nos esse sub ira, morte aeterna“ 33. Diese Furcht, die unseren ganzen Wandel bestimmen soll, wird als Furcht des Herrn ausdrücklich auch auf den göttlichen Zorn bezogen: „Nosse et sentire iram eius et agere postea, das ist sapienter agere. Sic in scripturis laudem ‚timoris dei‘, quod timemus iram et sentimus meruisse peccatis nostris.“34

Zurückgreifend auf De servo arbitrio zeigt Luther, dass man wohl unterscheiden müsse zwischen Gottes eigentlichem und seinem fremden Werk. Doch darauf kommt es an, dass wir auch das fremde Werk betrachten als nur geschehen kraft seiner Zulassung. Gegenüber einer dualistischen Auf-

29 30

WA 40/III 486,11. Luther kann in den 1530er Jahren das gesamte Bedeutungsspektrum von timor ausschöpfen und die Akzente je nach Anlass setzen. So begegnen in der vorangegangenen Auslegung der Stufenpsalmen durchaus wieder Abschnitte, wo die Furcht Gottes im Sinne der Ehrfurcht bzw. der Verehrung Gottes ausgelegt wird. (Vgl. den ganzen Abschnitt WA 40/III 352,1-358,17.) Auch das erste Gebot wird wieder ganz auf den Glauben konzentriert (WA 40/III 152,9-12). Auf der anderen Seite begegnet gleichermaßen die zweipolige Ausrichtung des ersten Gebotes auf Furcht und Glaube (WA 40/III 274,5f.). Luthers Begriffsverwendung ist darin nicht unscharf oder unreflektiert, sondern erweist sich in hohem Maße als text- und adressatenbezogen. 31 „Moses studeat efficere hac oratione, ut homines metuant deum, terreantur ira et morte humilientur, quia impossibile est homines permoveri ad timorem Dei nisi ostensa ira dei“. (WA 40/III 499,10-12) So auch WA 40/III 501,3-4. 32 WA 40/III 570,6-7. 33 WA 40/III 574,5-7. 34 WA 40/III 575,1-3.

8.1 Furcht und Tod in Ps 90

295

spaltung gilt: „Das wil unser Herr Gott nicht haben, sed vult, ut sciamus mala ista nobis non inferri nisi permittente ipso.“35 Die gesamte Auslegung hat deutlich gemacht, dass Furcht die eigentliche, pragmatische Zielsetzung der Aufrichtung des Gesetzes gewesen ist. Allein in der Furcht wird das Gesetz angemessen realisiert, weil offenbar nur in diesem Affekt die Empfindungslosigkeit des Menschen durchbrochen wird. Von daher können wir uns abschließend der Auslegung von Vers 7, dem Zentrum der Vorlesung zuwenden. Schon im argumentum erscheint diese Stelle als die eigentliche Mitte des Mosaischen Gebetes. 36 Zunächst stellt Luther heraus, dass der Tod des Menschen von uns mit Recht als ungeheures Übel empfunden wird, vor allem, wenn wir den göttlichen Zorn im Hintergrund sehen. Es sei nicht zu verwundern, dass die menschliche Vernunft durch diesen Gedanken empört werde und entweder mit Verachtung oder mit Lästerung reagiere. Auch Hiob und Jeremia seien von solchen Gedanken der Lästerung angefochten gewesen. Ausdrücklich betont Luther dazu: „Non est malum, hoc sentire.“ 37 Denn in dieser Empfindung werde zumindest das wirkliche Übel des Todes wahrhaft erfasst. Wichtig sei, dass man sich von solcher Anfechtung nicht fortreißen lasse, sondern diese zu beherrschen lerne. So wie die jugendliche Begierde nicht zu vermeiden sei, man sie aber beherrschen müsse, so sei es auch mit solchen Gedanken der Lästerung. Der Satan würde uns verklagen und in Verzweiflung treiben wollen. Demgegenüber könne der Mensch nur einsehen, dass seine Schwachheit Gott bekannt ist; solche Lästerung würde der Mensch mehr erleiden als bewirken, er solle nur solchen Gedanken der Verzweiflung nicht nachgeben, sondern widerstehen. Auf solche Erfahrung bezogen sieht Luther eine sinnvolle Verwendung des Begriffs der negativen Theologie, in Abgrenzung vom spekulativen Ansatz des Dionysius: „Theologia negativa, das heist heilig creutz, quod eitel ira et tantum ille gemitus.“ 38 In solcher Anfechtung ein Mensch sich nicht selbst zu trösten, wie Luther aus eigener Erfahrung weiß, sondern bedürfe des Zuspruchs eines anderen. Diese Anfechtung könne einen Christen ereilen angesichts der Einsicht, dass der Zorn Gottes hinter allem Tod steht. Um diesen tiefen Eindruck geht es Mose hier. 39 Kein Tier empfindet vergleichbare Todesangst, auch Heiden wie Epikur vermögen sich angesichts des Todes abzulenken bzw. zu beruhigen. Allein die Christen

35 36 37 38 39

WA 40/III 585,2-3. WA 40/III 487,4-6. WA 40/III 539,9. WA 40/III 543,1-2. „Ergo venit Moses ad summum affectum in narratione.“ (WA 40/III 544,4)

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Kapitel 8: Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde

erfassen dieses Elend völlig.40 Entscheidendes Gewicht gewinnt dabei die Frage der inneren Bewertung eines solchen affektiven Erlebens. Solchen Schrecken solle man nun nicht für ein schlechtes Zeichen halten. „Wenn mans erferet, non erschrecken, quia illa erit petitio Mosis: ‚Mache uns, ut an den iram ‚gedencken‘. Istis turbis nos Deus obruit.“41 Gott selbst sei Urheber solcher Furcht. Auch in den Klöstern sei dies bekannt gewesen, Gerson und die Altväter hätten hilfreiche Ratschläge im Umgang mit solcher Anfechtung.42 Es sei dann Gottes Wille, dass wir nicht verzweifeln, sondern solche Angefochtenheit in Christus überwinden. Wir empfinden den Tod, den Zorn, aber wir kämpfen im Glauben dagegen und überwinden.43 Darum müsse man diesen Schrecken richtig als Stachel des Todes, das Gift der Schlange. „Si ‚timor‘ mortis nihil, tum ‚mors‘ non timeretur. Mors esset mortua, ut serpens mortuus sine veneno.“44 Diese Furcht sei nötig, den Menschen aufzuwecken: „Es gehort, ut insensatos, veterem hominem auffweckt. Si ruten non helffen, Zuber stangen, schwebel, donner, blitz, hellisch feur, ut iste insensatus terreatur.“45

In der Auslegung dieses Verses verdichtet sich die gesamte Intention der Vorlesung. Allein die Furcht kann den homo insensatus in seiner Unempfindlichkeit aufwecken. Die darin unverkennbare Aufwertung der Furcht zieht sich auch durch die anschließenden Vorlesungen. Es sei eine Stumpfheit des Herzens, dass wir die Übel, die wir fühlen, nicht erkennen. Denn die wahrhaftige Empfindung der Furcht wäre wünschenswert: „Ideo optandus irae sensus et humiliatio et contritio.“ 46 Darum sollen wir Gott bitten, dass er uns die Empfindung für unsere wirkliche Lage gibt: „Ergo orandum, ut homo terreatur timore mortis et tremore erga deum“47. Solche Furcht des Herrn sei der Anfang der Weisheit, nämlich diese, die den Zorn Gottes erkennt. Dies sei das erste Stück der Seligkeit, wenn man sich vor 40 Vgl. zur Frage auch das Kapitel „Todesangst und Lebenshoffnung“ in E BELING, Seelsorge, S. 319-350. EBELING vollzieht eine eindringliche Exegese eines Lutherbriefes an Amsdorf, in dem Luther sich mit der Angsterfahrung der Evangelischen in Pestzeiten auseinandersetzt. Luther geht von einer paradoxen Beobachtung aus: Durch das Evangelium sei nicht nur mehr Trost da, sondern auch mehr Angst. Während des Papsttums wäre man berauscht gewesen von den eigenen Werken, jetzt habe man seine eigene Nichtigkeit und den Zorn Gottes viel tiefer erfasst. Dieser Brief liegt damit ganz auf der Linie der Vorlesung; auch hier geht es um die Aufwertung der Furchtempfindung. 41 WA 40/III 545,4-5. 42 WA 40/III 546,6-9. 43 „Omnes sentiunt ipsam iram, mortem, sed vincunt per Christum.“ (WA 40/III 549,8-9) 44 WA 40/III 549,13-550,1. 45 WA 40/III 550,4-6. 46 WA 40/III 568,7-8. 47 WA 40/III 573,8-9.

8.1 Furcht und Tod in Ps 90

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dem Zorn fürchtet. So würden wir wie die Erde durch den Pflug bereitet zur Aufnahme des göttlichen Samens. „Nosse ergo iram dei, non est damnabile, sed salutare et 1. gradus ad salutem, imo caput.“48 Es sei eine Gabe Gottes, ihn in solcher Weise fürchten zu können. 8.1.3 Fazit: Der Tod als Horizont der Theologie Der Tod ist eine der großen Konstanten in Luthers Theologie. In fragloser Selbstverständlichkeit ist er in der Frühzeit Voraussetzung seines gesamten Denkens. Immer wieder erweist er sich als Fluchtpunkt seiner Überlegungen, als existenzieller Horizont, auf den Leben und Glauben bezogen sind. 49 Die trostvolle Überwindung der Furcht vor dem Tod wird daher in einigen eindrücklichen Texten entfaltet, sei es im Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519), sei es in der Schrift Ob man vor dem Sterben fliehen möchte (1527). Entscheidender Gewinn der reformatorischen Klärungen bleibt die Bewältigung der Angst durch den Glauben und die besondere Bedeutung des Zuspruchs der Verheißung. Diese Vorlesung der dreißiger Jahre zeugt offenkundig von einem atmosphärischen Wandel. Unverkennbar bezieht sich Luther auf einen gewandelten Erfahrungshorizont. Nicht die Erschrockenen, sondern die Sicheren und Unempfindlichen sind ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit gerückt. Darum ist nicht Trost seine vordringliche Intention, sondern der Aufweis seiner Notwendigkeit. Im Umgang mit der Anfechtung kehren dabei viele Gedanken wieder, die ihn in seiner Frühzeit stark geprägt haben, wie es in den Verweisen auf Gerson und die Altväter sichtbar wird. Es bleibt wohl wahr, dass der Glaube die Furcht überwindet. Doch diese Überwindung ist nicht zu haben ohne Raum für den Prozess der Furchtaneignung, das Erdulden und Ertragen der Anfechtung. Die Überwindung der Furcht durch den Glauben wird weniger punktualisiert als in der Zeit des reformatorischen Aufbruchs, sondern in ihrem prozessualen Verlauf ernst genommen. Wie in den frühen Vorlesungen wird die Erfahrung der Furcht auch für den Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis bedeutsam. Beide vollziehen sich nicht in einer rein theoretischen Perspektive: Beide sind nur erschwinglich in einem Vorgang existenzieller Aneignung der menschlichen Lebenswirklichkeit. Das menschliche Sein zum Tode ist in seiner ganzen affektiven Vielfalt zu durchlaufen, weil sich nur in diesem Modus existenzieller Erschütterung die Wahrheit der menschlichen Situation begreifen lässt: als Leben unter dem Zorn Gottes um der Sünde willen. 48 49

WA 40/III 575,8-9. Vgl. den Beginn der ersten Invokavitpredigt vom 9. März 1522: „Wir seindt allsampt zu dem tod gefodert und wirt keyner für den andern sterben, Sonder ein yglicher in eygner person für sich mit dem todt kempffen.“ (WA 10/III 1,7-9)

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Kapitel 8: Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde

Dieser Sachverhalt will erfahren, gefühlt, empfunden werden und kann ohne diesen Aneignungsprozess in seiner Bedrohlichkeit auch nicht überwunden werden. Auch der Stellenwert der Anfechtungen Luthers verschiebt sich damit. In der Frühzeit illustrieren diese, welches Ausmaß die Gewissensangst ohne das Evangelium annehmen kann. Solche hohe Anfechtung gilt Luther dann als eine Sache von wenigen, die nicht vor die Menge des Volkes gehört. Nun wird sie angeführt, weil sich in solcher Anfechtung etwas von der Wahrheit des menschlichen Gottesverhältnisses erweist. Im Ansatz ist sie unverzichtbares Durchgangsmoment christlichen Glaubens überhaupt. Nur im Gewahrwerden seiner letzten Bedrohtheit kann das menschliche Selbstverhältnis geöffnet werden für den Umschlag in das vom Evangelium eröffnete heilvolle Gottesverhältnis.

8.2 Furcht und Sünde in der Genesisvorlesung 8.2 Furcht und Sünde in der Genesisvorlesung

Ein weiterer Textzusammenhang, in dem das Verhältnis von Furcht und Gesetz thematisch wird, sind die Auslegungen zu Gen 3 in der großen Genesisvorlesung von 1535ff. Luther hat die Vorlesung unmittelbar nach der Auslegung des 90. Psalms begonnen und mit großen Unterbrechungen bis kurz vor seinem Tod betrieben. Als die Universität am 18. Juli 1535 um der Pest willen wieder nach Jena verlagert werden musste, hatte Luther schon bis ins vierte Kapitel hineingelesen. 50 Insofern fällt die Auslegung von Gen 3 in die unmittelbare Nähe von Ps 90.51 Die Auslegung des Sündenfalls bot Luther Gelegenheit, sein Sündenverständnis noch einmal im Zusammenhang darzulegen. Dabei konzentriert er sich zunächst auf das rechte Verständnis des Wesens der Sünde, nämlich Unglaube und Abwendung von Gott: „Radix igitur et fons peccati est incredulitas et aversio a Deo, Sicut e contra fons iusticiae et radix est fides.“52 Ist Glaube als ein Hängen am Wort Gottes bestimmt, zeigt sich Unglaube als Abwendung von diesem Wort. Daher konzentriert Luther sich in der Auslegung der Geschichte in besonderem Maße auf den 50 51

WA 42 VII. Leider verfügen wir nicht mehr über die unmittelbaren Nachschriften Rörers bzw. Crucigers, sondern nur (für die erste Teillieferung) über die Druckbearbeitung Veit Dietrichs, die aber immerhin noch zu Luthers Lebzeiten erschienen ist (1544). Unsicherheiten im Einzelnen muss man daher zugestehen, zumindest die großen Linien werden zuverlässig sein (Vgl. BRECHT III, S. 139). Luther hatte vor seiner großen Genesisvorlesung schon in den zwanziger Jahren eine Predigtreihe zur Genesis vorgetragen. Vgl. die Mitschriften von 1523/1524 (WA 14 92-488) und den Druck (WA 24 24-710). 52 WA 42 122,12-13. Vgl. in diesem Sinne auch WA 42 129,14-15: „Nam ipsum peccatum est vera discessio a Deo“.

8.2 Furcht und Sünde in der Genesisvorlesung

299

Umgang mit dem Wort Gottes. Adam und Eva hatten im Paradies das Wort Gottes, das ihren Glauben, ihr Gottesverhältnis und ihren Gottesdienst begründete. Konkret ist dieses Wort gegeben in der Weisung bezüglich des Baumes der Erkenntnis. Evangelium und Gesetz gleichermaßen sei Adam dieses Wort gewesen, Begründung seines Gehorsams sowie seines Gottesdienstes. 53 Die Sünde wird im Umgang mit dem Wort offensichtlich. Luther malt mit großem Nachdruck aus, dass es die besondere Strategie des durch die Schlange wirkenden Teufels gewesen sei, das Glaubensverhältnis zum Wort zu zerstören. „[Satan] tentat, quomodo aut a verbo abducat homines aut depravet verbum.“ 54 Der Bezug zum Wort als Mitte des evangelischen Glaubens wird von Luther überwiegend gegen die Gegner in den Reihen der protestantischen Gruppierungen herausgestellt. Die Lösung des Glaubensverhältnisses vom Wort Gottes, das Disputieren über Gott unter Absehung vom Wort Gottes mache die Wurzel aller Versuchung zur Sünde aus: „Est autem haec omnis tentationis origo et caput, cum de verbo et Deo ratio per se iudicare conatur sine verbo.“ 55 Ist solche Abkehr von Gott und seinem Wort Wesen der Sünde, so ist es ihr ebenfalls eigentümlich, nicht Sünde sein zu wollen. „Sic videmus peccatum ubique idem esse et agere: non vult esse peccatum, non vult puniri pro peccato, sed vult esse iusticia.“56 Der Verlust des wahren Gottesverhältnisses erweist sich somit in einer Verkehrung des Selbstverhältnisses, nämlich der Blindheit gegenüber der eigenen Situation.57

53 „Hoc verbum erat Adae Evangelium et lex, erat eius cultus, erat servitus et obedientia, quam poterat Deo in ista innocentia praestare.“ (WA 42 110, 18-20) 54 WA 42 110,26-27. 55 WA 42 116,18-19. 56 WA 42 133,32-33. 57 Dieser Zusammenhang wird eindrücklich reflektiert in der vierten Thesenreihe der Disputationen über Röm 3,28 (WA 39/I 84-86 = LDStA 2, S. 430-435). Die eigentliche Wurzel und Hauptsünde des Menschen, der Unglaube an Christus (Th 7) sei auf der ganzen Welt „incognitum“ (Th 5). Dies zeige sich gleichermaßen in der scholastischen Sündenlehre (Th 11-20) wie in der menschlichen Vernunft; trotz aller vager Erfahrung mit den Sündenfolgen (Th 21-26). Allein die Schrift belehre in Gegensatz zu solcher Blindheit (Th 21) über den wahren Grund der Sünde. Um die Rechtfertigung zu begreifen, müsse daher die Sünde großgemacht und ausgeweitet werden (Th 28). GERHARD EBELING weist ist seiner minutiösen Auslegung dieser Thesenreihe zu Recht darauf hin, dass mit diesem „magnificare peccatum“ das Anliegen von Luthers früher Römerbriefvorlesung wieder aufgenommen sei. (EBELING, GERHARD: Sündenblindheit und Sündenerkenntnis. Zum Aufbau der vierten Thesenreihe über Rm 3,28, in: Ders.: Lutherstudien. Bd. III: Begriffsuntersuchungen – Textinterpretation – Wirkungsgeschichtliches, Tübingen 1985. S. 258-310. S. 307.) In unserem Duktus zeigt sich, dass auch mit dieser Forderung nach „Steigerung der Aufmerksamkeit“ (E BELING, Sündenblindheit, S. 308) für die Sündenblindheit es Luther darum zu tun ist, die Voraussetzungen der Rechtfertigung ausdrücklicher zu thematisieren und zu fokussieren als zuvor.

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Kapitel 8: Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde

Eine weitere Beobachtung lässt sich hinsichtlich der Furcht Gottes machen. Für Luther steht außer Frage, dass das Gottesverhältnis des Menschen vor dem Fall durch Glauben und Vertrauen gekennzeichnet war. Für unseren Zusammenhang wichtig ist, dass dieser prälapsarische Glaube auch schon mit Gottesfurcht verbunden war.58 Diesem Vertrauen entsprang auch die Furchtlosigkeit gegenüber der Welt, wie sie an der Furchtlosigkeit gegenüber der Schlange sichtbar wird. Luther begreift daher den Urstand recht unbefangen nach dem Maß des wahren Glaubensverhältnisses. Die sich an den Fall anschließende neue Selbsterkenntnis wird von Luther als eine Wirkung des Gesetzes interpretiert. Das Gesetz war dem Menschen bereits durch die Gebote Gottes bekannt. Im Gewissen wird diese Stimme nun lebendig: „Sed haec securitas non est perpetua. Cum primum enim Heuae oculi aperiuntur, reminiscitur legis“ 59. Damit ist eine gewisse Selbsterkenntnis verbunden, indem Eva nun den wirklichen Charakter ihrer Tat einsieht. Diese Selbsterkenntnis des Menschen wird sodann vom Satan benutzt, um ihn in Verzweiflung zu treiben. „Hic enim aliud compendium Satan sequitur, ut scilicet in desperatione pereant, qui peccaverunt.“ 60 Denn wo das menschliche Herz das Vertrauen auf Gott verloren hat, muss es die Folgen dieses Verlustes tragen. Die Natur des Menschen bleibt wohl erhalten, aber eben nicht unversehrt, wie die Scholastiker fälschlicherweise annehmen, sondern beschädigt und beeinträchtigt; nicht zuletzt ist die Furcht in ihrer bedrohlichen Gestalt eine solche Folge des Sündenfalls. 61 In der Auslegung von Vers 8 beschreibt Luther diese Wirkung des Gesetzes. Dabei konzentriert er sich ganz auf die Furcht als Folge der Grundsünde, nämlich des Unglaubens.62 „Postquam conscientia per legem 58 So mehrfach in der Auslegung von Gen 3,7 in der Auseinandersetzung mit der scholastischen Lehre der Urstandsgerechtigkeit: „Ita natura rationis et voluntatis in Adamo fuit nosse Deum, fidere Deo, timere Deum.“ (WA 42 124,11-12) „Integra naturalia igitur in homine fuerunt cognitio Dei, fides, timor“. (WA 42 124,18) In der Auslegung der zwanziger Jahre ist an den entsprechenden Stellen stets das ganze Gottesverhältnis auf den Glauben konzentriert. Vgl. WA 24 88,30-32; 89,21f.; 29f.; 90,32f.; 91,11f.; 25f. 59 WA 42 123,12-13. 60 WA 42 123,23-25. 61 „Manet quidem natura, sed multis modis corrupta, siquidem fiducia erga Deum amissa est, et cor plenum est diffidentia, metu, pudore.“ (WA 42 125,27-29) 62 Auch in der Predigtreihe 1523/1524 wird der Sündenfall gemäß dem dialektischen Handeln Gottes in Gesetz und Evangelium ausgelegt. Die Begegnung Gottes mit Adam Gen 3,8ff. wird zur Darstellung des göttlichen Handelns durch das Gesetz: Erschrecken angesichts der Sünde und des göttlichen Urteils. Große Betonung erfährt das Fühlen der Sünde. „Denn da kompt ein ander Gottes wort, das sie widder errettet, aber nicht ehe denn sie den tod zuvor fulen. […] Denn wo es nicht also gehet, da wird nymer kein Christen, Das wollen wir sehen.“ (WA 24 93,34-94,15) Und weiter: „wenn es dahin kompt, das einer verurteilt wird zum tode, gehet einem solche angst unter die augen, das

8.2 Furcht und Sünde in der Genesisvorlesung

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convicta fuit, territi sint Adam et Heua ad sonitum folii.“63 Das sprichwörtliche rauschende Blatt steht für die Ausmaße, in denen diese Furcht nun den gesamten Lebenskreis des Menschen durchdringt. Mit dieser Furcht vor Gott ist der Mensch überhaupt in die Gefahr einer daseinsdurchdringenden Angstverfallenheit gestellt. „Natura enim sic sumus vere perterrefacti, ut etiam, quae tuta sunt, metuamus.“ 64 Die bisherige Daseinssicherheit ist verloren gegangen. Mit dem Verlust des Gottesverhältnisses ist auch das Weltverhältnis von Furcht und nicht mehr von lebenstragendem Vertrauen bestimmt. Nach der Drohung des Mose kann nun jedes raschelnde Blatt dem Menschen Angst einflößen, genau so wie die Dunkelheit, deren furchteinflößende Wirkung für Luther in ihrer anthropologischen Allgemeinheit Zeichen der mit dem Sündenfall gekommenen Verbreitung der Furcht ist. Diese Allgemeinheit der Furcht mit ihrem teilweise daseinsbestimmenden Charakter hat gewissermaßen offenbarenden Charakter. Sie zeigt den Glaubensverlust des Menschen an: „Hic pavor, quo Adam et Heua in ipso diei lumine post peccatum excipiuntur, manifestum signum est cecidisse eos prorsus a fide.“ 65 Denn im Glauben war dem Menschen eine solche Lebenssicherheit eigen, dass er sich nicht gefürchtet hätte, wenn er den Himmel hätte einstürzen sehen.66 Die Furcht ist eine Folge des Unglaubens, der das Wesen der Sünde ausmacht. „Primum enim cadit homo ex fide in incredulitatem et inobedientiam. Incredulitatem autem sequitur pavor, odium et fuga Dei“67. Hinter aller Furcht, der der Mensch nun anheim gegeben ist, steht der Verlust des Vertrauens und der rechten Furcht gegenüber Gott. Wie äußert sich diese Furcht? In der Flucht vor Gott. Das Fliehenwollen und Nichtkönnen ist wesentlicher Ausdruck dieser Gottesangst. Im Sinne der Resolutiones bezeichnet Luther diese Bewegung der Flucht vor Gott als das Wesen der Hölle. „Ideo de inferni quoque poenis dicunt hanc fore maximam, quod impii volunt fugere, et sentient tamen se non posse effugere.“ 68

er nicht weys, ob er man odder weib sey“. (WA 24 94,24-26) Summarisch schließlich am Ende: „Des gleichen gehet es nach teglich, wenn Gott ein menschen bekeren wil von sunden, das er yhn erstlich ynn solch schrecken und angst furet.“ (WA 24 95,14-16) 63 WA 42 127,15-16. 64 WA 42 127,18-19. 65 WA 42 127,34-36. 66 Vgl. WA 42 128,8-9 67 WA 42 128,22-23. So auch WA 42 129, 4-5: „Ad hunc modum amissa fiducia Dei sequitur in voluntate horribilis pavor“. 68 WA 42 129,18-19. Vgl. auch: „Hic Adam, cum sic urgetur, in media morte et medio inferno fuit.“ (WA 42 131,30-31) Die Existenz des Fegefeuers hat Luther inzwischen ausdrücklich bestritten, so dass dieser Gedanke keine Rolle mehr spielt.

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Kapitel 8: Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde

Diese Flucht offenbart die Wahrheit über das Verhältnis zu Gott, macht den Hass und die Ablehnung Gott gegenüber kund.69 Gott selbst hält quasi Adam seine Gewissensangst als Beleg der Sünde vor: „Quia igitur paves, ostendis te contra hoc mandatum peccasse.“70 Die Angst hat darin einen indikatorischen Wert, dass sie als Folge der Sünde den Verlust der Gottesbeziehung anzuzeigen weiß. Als Wirkung des Gesetzes ist solches Fühlen unverzichtbar. Zugleich ist klar, dass diese Furcht in sich nicht nur keinen Wert hat, sondern zur Verzweiflung führt, wenn nicht das Evangelium tröstend hinzutritt. 71 Diese Furcht vor Gott könnte der Mensch nicht lange ertragen, ohne zu verzweifeln. Darum legt Luther großen Wert darauf, dass Gott Adam und Eva mit Gestalten des Evangeliums tröstet. Schon dass er redet, ist ein Zeichen der Barmherzigkeit. Darin sieht Luther im Rückblick den Fluch in der Zeit des Papsttums, dass es kein Evangelium, keine Botschaft von der Gnade Gottes gegeben habe, außer der Passionsfrömmigkeit, die dieses Moment noch am ehesten gekannt habe. 72 Die Leiden und Schrecken des Gewissens waren in dieser Zeit unüberwindlich. „Haec nonne plena horroris sunt?“73 Das Fehlen des eindeutigen Evangeliums sei es gewesen, was eine Bewältigung von Furcht schier unmöglich gemacht habe und viele in Schrecken und Verzweiflung sterben ließ. Darum sei die Lehre des Evangeliums in Ehren zu halten. Offensichtlich ist die Erinnerung an den Zustand unter dem Papsttum von der Sorge getragen, die Gegenwärtigen vermöchten den Wert des Evangeliums nur noch unzureichend nachvollziehen. Deutlich artikuliert sich in dieser Sorge die gewandelte Wahrnehmung der Gegenwart bei Luther. Denn sei am Beginn der Evangeliumsverkündigung der Zustand der Welt noch erträglich gewesen, so mangele es nun an Furcht Gottes. 74 Die Strafen Gottes werden von Luther als eine Beschreibung der condition humaine nach dem Sündenfall ausgelegt. Auch das natürliche Leben ist von Furcht gekennzeichnet. Der Tod ist die Größe, die den erschreckenden Horizont menschlichen Lebens markiert. „Quia enim mors naturae intolerabilis est, ideo parit desperationem et blasphemias.“ 75 Das ganze

69 Es ist anzunehmen, dass die starke Betonung der Flucht als Ausdruck der Sünde auf MARTIN HEIDEGGER besonderen Eindruck hinterlassen hat. Es ist ja für seine Ausführungen in Sein und Zeit wesentlich, dass die Angst darin offenbarenden Charakter hat, dass sie sich als Abkehr, als Flucht zeigt. Vgl. HEIDEGGER, S. 184ff.; S. 254f. 70 WA 42 131,39-40. 71 Vgl. WA 42 133,21-23. 72 Vgl. WA 42 134,11-21. 73 WA 42 134,20-21. 74 „Sub initia Evangelii innotescentis apud nos erat seculum satis tolerabile. Nunc cum timor Dei fere nullus sit“. (WA 42 154,29-30) 75 WA 42 133,11-12.

8.2 Furcht und Sünde in der Genesisvorlesung

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Leben ist gezeichnet vom Tod, so dass man sich seinem Einfluss nie wirklich entziehen kann. „Nam etsi vitam, quam hic vivimus, non volumus appellare mortem, tamen profecto aliud nihil est quam perpetuus cursus ad mortem. […] Statim enim ab utero matris mori incipimus.“76

Auch die Frau, die mit Mühe gebären soll, ertrage die Straffolgen der Furcht. Die damit verbundene schreckliche Angst sei eben Wirkung des drohenden Todes, der mit der Gefahr des Kinderkriegens verbunden ist. Diese Strafe gelte es anzunehmen und im Glauben zu tragen, in der Hoffnung des ewigen und damit endgültigen Lebens. Schließlich werde deutlich, dass der Glaube (und die mit ihm verbundene Hoffnung) die falsche Furcht beseitige und damit zur rechten Furcht Gottes zurückführe. 77 In seiner Genesisauslegung bezieht Luther die Analyse des menschlichen Furchterlebens Gott gegenüber auf das menschliche Weltverhältnis. Die daseinsbestimmende Allgemeinheit der Furcht im Lebensvollzug wird als Folge der Sünde, nämlich des Verlustes von Gottvertrauen beschrieben. Das Gesetz gewinnt dabei eine hermeneutische Funktion für das Verständnis des menschlichen Lebens insgesamt. Im Aufweis der anthropologischen Allgemeinheit der Furcht erweist sich die Existenzialisierung der Kategorie des Gesetzes. Solche Furchterfahrung vermag nicht die Realität der Sünde zu beweisen, besitzt für Luther aber durchaus unter der Wirkung des Gesetzes signifikatorischen Charakter. Die Offenbarung der Sünde hat somit einen für das menschliche Weltverhältnis aufklärenden Charakter. Die Entdeckung der Sünde als die den Menschen bestimmende Macht bedeutete in Luthers Frühzeit den Bruch mit der spätfranziskanischen Theologie. Die Einsicht in die soteriologische Ohnmacht des Menschen wurde zur Voraussetzung der bedingungslosen Gnadentheologie. Als kontroverses Thema gegenüber der römischen Theologie und Kirche hält es sich bis in die Spätzeit durch. Die Klärung von Unterschiedenheit und Zusammenhang von Sünde und Furcht erweist sich dabei als unverzichtbarer Hintergrund. Dabei zeigt sich auch die ganze Ambivalenz der Furcht. Die Aufhebung der Sündenblindheit ist nicht ohne Furcht realisierbar. Bleibt solche Furcht befangen im Horizont des Gesetzes, verfällt der Mensch der Dynamik der Verzweiflung. Allein der dem Evangelium trauende Glaube vermag diese Furcht zu überwinden. So ist es allein die Dialektik von Gesetz und Evangelium, die die Ambivalenz der Furchterfahrung zugleich beschreibbar und bewältigungsfähig macht. Diese Bewältigung ist nicht ein für allemal zu vollbringen, sondern eine bleibend 76 WA 42 146,21-22 und 25-26. Vgl. die Beschreibung des cursus ad mortem mit HEIDEGGERS Rede vom „Sein zum Tode als Vorlaufen“! (HEIDEGGER, S. 262) 77 „Hanc spem retineamus et vivamus in timore Dei“. (WA 42 176,16)

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Kapitel 8: Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde

auf den Lebensvollzug zu beziehende Herausforderung. Es ist diese existenzielle Logik von Notwendigkeit und Überwindbarkeit der Furcht, die sich als eigentliches Zentrum der Antinomerauseinandersetzung erweist.

8.3 Furcht und Buße in den Antinomerdisputationen 8.3 Furcht und Buße in den Antinomerdisputationen

Wird in der Rede von der Sünde die negative Voraussetzung menschlicher Wirklichkeit artikuliert, so ist im Kontext von Buße und Glaube der transitus in den positiven bzw. gelingenden Lebensvollzug des Menschen zu entfalten. Vor allem unter dem Stichwort der Buße war dabei eine spannungsvolle Konstellation gegeben. Im Horizont der Bußthematik hat Luther seine reformatorischen Einsichten überhaupt erst gewonnen und ausformuliert. Zugleich zeigte sich auch (exemplarisch in der Leipziger Disputation), wie schwierig sich Luthers Einsichten im Zusammenhang der überkommenen Begrifflichkeit vermitteln ließen. In Melanchthons Theologie hingegen behielt die Bußthematik eine beherrschende Stellung. Kein Wunder, dass sich unter diesem Gesichtspunkt die Diskussion um das evangelische Verständnis des Gottesverhältnisses in einer Reihe von Auseinandersetzungen entlud. In ihrem Verlauf war Luther genötigt, noch einmal im Blick auf seine theologische Entwicklung den Zusammenhang seiner Rechtfertigungsanschauung zu entfalten. Dabei kam dem Furchterleben und seiner Bewältigung abermals eine Schlüsselbedeutung zu. 8.3.1 Furcht als Schlüsselproblem der Antinomerstreitigkeiten In den Antinomerauseinandersetzungen kulminierte ein Konfliktpotential, das sich seit langer Zeit aufgebaut hatte. 78 Das Präludium der antinomistischen Streitigkeiten 1527 ist bereits dargestellt worden (7.3). Unabhängig von der Bedeutung der damaligen Kontroverse für Luther wird man im Blick auf die beiden Kontrahenten Agricola und Melanchthon sagen können, dass beide in ihren Auffassungen im Wesentlichen unverändert blieben. 79 Die damals gefundene Lösung in Luthers Schiedsspruch erwies sich als vorläufig und brüchig.80 Erst die unmittelbare Nähe von Agricola als Freund und Mitbewohner Luthers sowie als dessen Vertreter an der Uni78

Über die allmähliche historische Entwicklung dieser Auseinandersetzung vgl. BRECHT III, S. 150-173; ROGGE, JOACHIM: Innerlutherische Streitigkeiten um Gesetz und Evangelium, in: Junghans, Helmar (Hrsg.): Leben und Werk Martin Luthers von 15261546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag, Berlin 1983. S. 187-204. 79 Vgl. BRECHT zur Brüchigkeit dieser Lösung: „Eine eigentliche Klärung war damit nicht erreicht.“ (BRECHT II, S. 260) 80 Der Klärungsbedarf zeigte sich etwa auch in den Auseinandersetzungen zwischen Cruziger und Cordatus. Vgl. BRECHT III, S. 150-154.

8.3 Furcht und Buße in den Antinomerdisputationen

305

versität führte zum Anstieg der Spannungen und in die anschließende Eskalation. Im Unterschied zu anderen Auseinandersetzungen (mit den Altgläubigen, Erasmus etc.) ist es eine Besonderheit in diesem Konflikt, dass von antinomistischer Seite nachdrücklich mit Luther gegen Luther argumentiert wurde. Diese für Luther neue Konstellation der Auseinandersetzung stellte die gedankliche Einheit der Reformation in Frage und nötigte ihn in umfassender Weise zu einer Bilanz über seine eigene gedankliche Entwicklung in den beiden letzten Jahrzehnten. Da der Verlauf des Streites keinen wirklichen gedanklichen Fortschritt oder Wandel mehr generierte, werden wir uns in der systematischen Reflexion vom chronologischen Ablauf des Streites weitgehend lösen und die Texte der Jahre 1537-1540 als geschlossenen Zusammenhang zu Grunde legen. 81 Dass es formal auch um die gedankliche Einheit der reformatorischen Bewegung ging, erklärt teilweise, warum Luther sich wohl übermäßig in diesem Kampf engagierte. Worin ist aber nun inhaltlich das nervöse Zentrum der antinomistischen Infragestellung Luthers zu sehen? Scheinbar lässt sich diese Frage einfach beantworten. Es war vor allem das Verständnis des Gesetzes, das umstritten war, besonders hinsichtlich der Stellung des Gesetzes im Verlauf der Buße. Buße sei nicht aus dem Gesetz oder dem Dekalog zu predigen, sondern aus der Verletzung des Sohnes, so lautete die erste grundlegende Antinomerthese, die in Wittenberg 1537 für Aufsehen sorgte. Was aber stand hinter dem Bestreben, das Gesetz aus dem Kontext der Rechtfertigung konsequent auszuscheiden und die Buße ausschließlich auf den Zusammenhang von Christus, Evangelium und Heiligem Geist zu beziehen? Luthers Gegenargumentation verläuft ja insofern problematisch, als dass er sie konsequenzmacherisch so zuspitzt, als würde damit die Sünde bzw. der Zorn Gottes über die Sünde verloren gehen, so dass in letzter Konsequenz auch Christus und Gott selbst nicht mehr nötig seien. 82 Demgegenüber ließe sich ja argumentieren, dass die Antinomer durchaus sowohl an der Offenbarung der Sünde als auch am Aufweis des Zornes Gottes über diese festhielten.83 Das Evangelium enthüllt in antinomistischer Lesart die Sünde und offenbart den Zorn Gottes

81 Da es in unserem Zusammenhang vor allem um die Klärungen Luthers im Verhältnis zu seiner eigenen Entwicklung geht, können wir unsere Perspektive beschränken: Um den Antinomismus geht es in dem Sinne, wie Luther ihn wahrgenommen und verstanden hat. Dass man an die Angemessenheit dieser Wahrnehmung Anfragen haben kann, ist in der Lutherforschung mehr als einmal betont worden. Vgl. H ERMANN, S. 147; ROGGE, S. 203-204. 82 Vgl. etwa die 29. These der zweiten Reihe: „Revera autem tollit Christum, poenitentiam, peccatum et universam scripturam, una cum ipso Deo eius autore.“ (WA 39/I 349,7-8) 83 Vgl. die Thesen 17-18 der positiones antinomicae, WA 39/I 343,18-23.

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vom Himmel (nach Röm 1,18). So gesehen könnte man fragen, ob nun nicht in der Tat nur ein Streit um Worte vorliegt. Was die antinomistischen Thesen jedoch in besonderer Weise ablehnen, ist nicht die Offenbarung von Sünde und Zorn, sondern die erschreckende, furchteinflößende Wirkung des Gesetzes im Vorfeld des Evangeliumszuspruchs. Ausdrücklich gegen Luthers großen Galaterkommentar richtet sich der Vorwurf unreiner Lehre, es sei das „proprium officium“ 84 des Gesetzes, die Gewissen zu erschrecken und zu beunruhigen. Nicht dass jede Furcht ausgeschlossen sein soll, ist das Anliegen; Furcht und Zittern im Sinne von Phil 2,5 können ausdrücklich positiv aufgegriffen werden. Entscheidend ist, dass dies erst von der Begegnung mit der Vergebung her erfolgen soll. Die Ablehnung des Gesetzes richtet sich somit gegen ein Empfinden von Furcht und Zittern, das nicht schon von der Gnade umfangen ist. Insbesondere wurde bestritten, dass die Erfahrung solcher Furcht auch für die Frommen noch nötig sei. 85 Eine solche Erfahrung stellte für den Antinomismus einen noch nicht überwundenen katholischen Rest dar, gegen den der frühe Luther eigentlich auch schon gekämpft hätte. Daher erweist sich der Stellenwert der Furchterfahrung als Schlüsselproblem, um das in diesen Auseinandersetzungen in besonderer Weise gestritten wurde. 8.3.2 Luthers Ringen um Einheit und Kontinuität der Rechtfertigungslehre Dass in der Auseinandersetzung mit Luther gegen Luther gekämpft wurde, erklärt das hohe Engagement des Reformators. Er war nun gezwungen, sich selbst der gedanklichen Einheit seiner reformatorischen Verkündigung von ihren Anfängen an zu versichern. Dem entspricht das hohe Maß von ausdrücklichen Rückblicken auf die päpstliche Zeit, die sich in seinen Ausführungen finden. Selten ausführlich unterzieht Luther daher Ausdruck und Ansatz seiner frühen reformatorischen Schriften einer „Relecture“. Schon die erste Thesenreihe betont deutlich die Notwendigkeit, sich den historischen Gegensatz der frühen Reformation gegen die scholastische Bußlehre in Erinnerung zu rufen, um die gegenwärtige Auseinandersetzung einordnen zu können. Die Thesen 10-20 bieten eine konzentrierte Rekapitulation des damaligen Gegensatzes. Luther erinnert zunächst an den Kern der ursprünglichen Kontroverse: In der spätnominalistischen Bußlehre sei der Schmerz der Reue bzw. die beginnende Liebe des Menschen als dem Menschen mögliche Vorbereitung auf die Gnade gedacht worden. Möglich war dieser anthropologische Optimismus, indem man die Erbsünde mit der gesamten scholastischen Tradition als durch die Tauf84 85

LDStA 2, S. 452,20. (WA 39/I 344,20 = „quidem officium“) Vgl. etwa im 21. argumentum der zweiten Disputation: „Lex terret eos, quos non debet. Ergo lex non est docenda“. (WA 39/I 474,2-3) Vgl. auch WA 39/I 513,18; 564,9.

8.3 Furcht und Buße in den Antinomerdisputationen

307

gnade getilgt dachte.86 Mit These 16 bringt Luther seine damalige Kritik auf den Punkt: Das Gesetz zeigt als ein felsenzerschmetternder Hammer Gottes, dass der Mensch unter der Sünde ist. Luthers damaliger Kampf, die Sünde groß zu machen, interpretiert er nun rückblickend als Aufrichtung des Gesetzes. Erst von daher konnte er dann das Evangelium zur Geltung bringen. 87 Vom Evangelium her war dann zu betonen, dass die Buße nicht mit Furcht vor Strafe, sondern mit Liebe zu Gott beginne. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium macht Luther somit zum Interpretationshorizont, in dem die damalige Lehrentwicklung gedeutet werden muss. Der eigentliche Entdeckungszusammenhang des neuen Bußverständnisses, etwa der tröstliche Bußrat Staupitz’, wird nicht wieder aufgegriffen. Auch geht Luther nicht ein auf das Werden und die nähere Entwicklung seiner Verkündigung. Gerade die Berufung Agricolas auf einen „frühen Luther“ gegenüber einem „späteren“ dürfte es ihm unmöglich gemacht haben, dem Thema der eigenen Entwicklung auch nur von ferne Aufmerksamkeit zu zollen. 88 Dass er sich damals noch nicht wie später ausgedrückt hat, räumt Luther grundsätzlich ein: Wer seine damalige Redeweise heute gegen das Gesetz ausspiele, bedenke nicht die damaligen Zusammenhänge der behandelten Materie. 89 Man wird dies so zu verstehen haben, dass Luther seine einstige Ausdrucksweise als dem Sprachgebrauch der scholastischen Bußlehre sowie den damaligen Zeitverhältnissen geschuldet ansieht. Das damals Formulierte entspreche inhaltlich dem, was nun eindeutiger durch die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium auszudrücken sei. In den Disputationen kommt Luther wieder und wieder auf die damalige Frontstellung zu sprechen. Im Blick auf seine reformatorischen Anfänge ist er zu einer kontextuellen Selbstdeutung genötigt, die gleichermaßen die Differenzen im Ausdruck wie die Identität der Sache zu wahren weiß. So geht die Diskussion im 21. argumentum um die Frage, ob der Schmerz über die Sünde nur aus dem Gesetz komme oder nicht auch als Folge des Glaubens begriffen werden könne. Luther erinnert in diesem Zusammenhang an die Konfusion, die über die Lehre der Buße im Papsttum bestan86 An dieses ursprüngliche Gegenüber seiner frühen Einschärfung der Erbsünde erinnert Luther auch in seiner Vorrede zur zweiten Disputation, WA 39/I 419,7ff. 87 Vgl. die Formulierung: „Evangelion coepit docere“. (WA 39/I 346,26-27 = LDStA 2, S. 456,20-21) 88 Dieser Umstand wird zu wenig berücksichtigt in den Erörterungen der biographischen Rückblicke Luthers der dreißiger/vierziger Jahre. Auch die Vorrede von 1545 ist davon geprägt, dass Luther sich einerseits nur äußerst pauschal zu Wandlungen in seinem Denken in der Frühzeit äußert, andererseits möglichst spät die reife Gestalt seines Denkens ansetzt. Luthers sämtliche Rückblicke müssten daher viel stärker von den Voraussetzungen ihrer Entstehungszeit her interpretiert werden. 89 So die 23. These der ersten Reihe, WA 39/I 346,30-31.

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Kapitel 8: Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde

den habe.90 Mit Berufung auf Eccl 9,1 sei jede Gewissheit des Glaubens bestritten worden. Genugtuung war auf der einen Seite gefordert, zugleich war es auf der anderen Seite unmöglich zu wissen, ob man genug getan hatte, so dass eine Fortsetzung der satisfactio im Fegefeuer angenommen wurde. Die Folge sei Traurigkeit und Verzweiflung gewesen. Christus wurde mehr gefürchtet als der Satan. In dieser Situation sei am Beginn der Reformation Christus als Versöhner gepredigt worden, durch den Gewissheit der Vergebung möglich wurde. Freilich dürfe dies nicht so verstanden werden, als sei der Dienst des Gesetzes damit aufgehoben. Implizit macht Luther deutlich: Die Anklage des Gesetzes war so allgegenwärtig, dass in der Tat das Evangelium mit einer gewissen Einseitigkeit zur Geltung gebracht werden konnte. Der ganze Schwerpunkt der Verkündigung konnte auf die vergewissernde, tröstende Wirkung des Evangeliums gelegt werden. Dieser Ursprungssituation müsse man sich angesichts der frühen reformatorischen Texte erinnern: „Haec scire et meminisse debetis.“ 91 In der dritten Disputation erinnert Luther daran, wie erschrocken die Menschen unter der Herrschaft des Papstes gewesen waren: „Tum mundus erat plus satis perterrefactus“92. Bei diesen Erschrockenen und Verängstigten sei es in der Tat nicht nötig gewesen, das Gesetz so ausdrücklich wie heute zu lehren.93 Anders als in der Gegenwart habe damals geradezu ein „saeculum contritorum“94 bestanden; und darauf sei die damalige Verkündigung des Evangeliums eingerichtet gewesen. Luther Rückblicke verfolgen insofern einen doppelten Zweck. Zum einen will Luther keinen Zweifel daran lassen, dass die verfochtene Sache damals dieselbe gewesen sei wie heute und es keinen Grund gebe, hier einen Bruch in seiner eigenen Entwicklung anzunehmen, geschweige denn die Möglichkeit, einen frühen gegen einen späten Luther auszuspielen. Zum anderen machen die Erinnerungen an die konkrete Frontstellung damals implizit auch deutlich, dass, so sehr sich die Auseinandersetzung damals beschreiben lässt mit den Kategorien von Gesetz und Evangelium, diese Zuspitzung damals noch nicht so ausdrücklich vollzogen wurde, wie es in der weiteren Ausbildung der Lehre geschehen sei. Nicht eine Fortentwicklung der Lehre, sondern eine vertiefte Explikation ihrer Zusammenhänge sei im Laufe der Zeit also nötig geworden.

90 91 92 93

WA 39/I 396,13ff. WA 39/I 409,12. WA 39/I 571,13-14. „Sic iam oppressis, perterritis, miseris, anxiis, afflictis conscientiis non opus erat legem inculcare aut saltem docere.“ (WA 39/I 572,2-3) 94 WA 39/I 574,5-6.

8.3 Furcht und Buße in den Antinomerdisputationen

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8.3.3 Buße und Gesetz Sodann ist Luther um grundsätzliche Klärung der Rolle des Gesetzes im Vollzug der Buße bemüht. Wir konzentrieren unsere Darstellung auf das Verständnis von Buße und Gesetz, soweit dabei ausdrücklich die Erfahrung und Bedeutung von Furcht thematisch wird. In einem zweiten Schritt sind dann die Stellen auszuwerten, in denen die Bewältigung und Überwindung von Furcht im Mittelpunkt der Reflexion steht. Die Auseinandersetzung mit der Buße wird in der ersten Thesenreihe in Anknüpfung an die scholastische Bußlehre entwickelt. Dabei übernimmt Luther die Zweiteilung der Buße: Schmerz über die Sünde und Vorsatz eines besseren Lebens. Diese beiden Bestandteile werden in den folgenden Thesen auf Gesetz und Evangelium bezogen. Der Schmerz sei nichts anderes als die Empfindung des Gesetzes im Herzen. Scharf davon unterschieden werden müsse der gute Vorsatz. Dieser könne mitnichten aus dem Schmerz heraus erwachsen. Der Schmerz führe von sich aus nur zu Verzweiflung und Gotteshass. 95 Vielmehr ist es das Werk des Evangeliums, die Erschrockenen zu trösten, aufzurichten und ihnen das Gute vor Augen zu stellen. Insofern sei die Buße aus dem Gesetz lediglich die Hälfte oder der Beginn der Buße.96 Diese schematische Entfaltung der Bußlehre wirft durchaus Fragen auf. Es ist nicht ungezwungen, wie Luther versucht, die überkommene Begrifflichkeit der alten Bußlehre durch die Dialektik von Gesetz und Evangelium auszulegen. Denn die Aufteilung der Buße in zwei Hälften und die Fixierung auf eine Verlaufsform des sukzessiven Nacheinander wird nicht unbedingt der dialektischen Spannung gerecht, mit der Luther ansonsten die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zur Geltung bringt. Sowohl im Großen Galaterkommentar als auch in der zusammenhängenden Auslegung der Buße in den Schmalkaldischen Artikeln wird der Terminus der Buße weitgehend der Wirkung des Gesetzes subsumiert. 97 So stehen die Begriffe etwas unausgeglichen im Raum: Der Schmerz über die Sünde wird faktisch stets auf den Schrecken, die Furcht hin ausgelegt. In der spätscholastischen Bußlehre bei Gabriel Biel ist der Schrecken dagegen neben der Liebe zu Gott eines der Motive des dolor über die Sünde. In Luthers Aufnahme der alten Formel ist der Schrecken gewissermaßen der dolor. Das eigentliche Leidtragen über die Sünde bzw. ihr Bedauern 95 96 97

These 6, WA 39/I 345,26-27 = LDStA 2, S. 454,24-25. These 8, WA 39/I 345,30-31 = LDStA 2, S. 454,28-29. Vgl. WA 40/I 223ff. zu Gal 2,16. In den Schmalkaldischen Artikeln strukturiert Luther das Verständnis evangelischer Buße ganz mittels der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium (BSLK S. 436,16ff.). Das Gesetz wirkt Schrecken und Verzagen. Das Evangelium zielt im Glauben auf Trost und Vergebung. Besteht bei Melanchthon die Buße aus Reue und Glaube, so bei Luther die Rechtfertigung aus Buße und Glaube.

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kommt kaum in Sicht.98 Ähnlich verhält es sich mit dem guten Vorsatz. In der alten Bußlehre ist damit eine ethische Einstellung gemeint, in der das künftige Unterlassen der Sünde festes Vorhaben wird. Bei Luther ist der gute Vorsatz in These 22 der zweiten Reihe die Hoffnung und die Liebe zu Gott, aus der der Hass gegen die Sünde entspringt. Später wird dann konsequent der Glaube als der gute Vorsatz des Menschen bezeichnet. 99 Das ist folgerichtig und entspricht ja auch der von Melanchthon in der Apologie so vehement eingeschärften Unterscheidung der beiden Teile der Buße: Reue und Glaube. Allerdings wird man darin keine angemessene Interpretation der Begriffe dolor und propositum bonum erkennen können. Daher hat Luther in den Disputationen immer wieder auf die Buße Bezug zu nehmen und die Missverständnisse zu bekämpfen, die sich durch ihre zeitliche Entfaltung in eine erste und eine zweite Hälfte ergeben. Der erhobene Einwand geht dahin, dass die zweiteilige Buße den Gedanken nahe legt, der erste Teil sei notwendige Voraussetzung des zweiten, weil dieser auf jenen angewiesen sei. Damit erhält der durch das Gesetz bewirkte Teil eine Notwendigkeit für die Rechtfertigung, bekommt den Charakter einer Vorleistung und wird somit zu einer Infragestellung des sola fide. Vor allem in der zweiten Disputation wird diese Frage erörtert, so im 8. argumentum: Wenn das Gesetz Sündenerkenntnis bewirkt, wird es dann nicht nützlich für die Rechtfertigung? 100 So auch im 11. argumentum: wenn die Buße nötig ist für die Rechtfertigung und somit auch das Gesetz, ist dann dieses nicht notwendig zur Rechtfertigung? 101 Luther versucht dieses Missverständnis durch eine neue Unterscheidung zu beseitigen. Das Gesetz zeige die Sünde und habe darin seine erschreckende Macht. Diese Wirkung führe aber mitnichten aus sich heraus zu einem Umschlag der Negativität in ihr Gegenteil. Das Gesetz sei nicht solchermaßen Voraussetzung der Rechtfertigung, dass es diese mittelbar bewirke. Es ist im Sinne des scholastischen Sprachgebrauchs nicht formaliter, sondern nur materialiter Rechtfertigungsbedingung. 102 Im gleichen Sinne ist auch das Vorhandensein des Sünders Ermöglichungsgrund der Rechtfertigung, aber nicht dessen Wirkursache.103 Eine solche ist exklusiv das Evangelium. Die Rückkehr einer gewissen scholastischen Wissenschafts- und Diskurslogik in diesen Unterscheidungen ist unverkennbar. Auch im 18. argumentum der zweiten Disputation wird angesichts der Beteiligung des Gesetzes an der Buße dessen Notwendigkeit zur Rechtfer98 Vgl. allerdings die Traurigkeit der Heiligen und Gerechten: WA 99 „Fides est principale bonum propositum“. (WA 39/I 472,9-10) 100 WA 39/I 444,14-16. 101 WA 39/I 451,15f. 102 WA 39/I 452,1-3. 103 WA 39/I 452,3-6.

39/I 350,34-35.

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tigung behauptet. Luther versucht diesen synergistischen Schein mit sichtlicher Erregung durch neue Distinktionen abzuwehren: „O nein, der Teuffel. Nam dolor ducit ad inferos. Christus autem est prima et principalis pars. Dolor potest esse prima, sed non principalis“ 104. Auch der unvermeidlich zeitliche Primat der Gesetzeserfahrung könne den prinzipiellen Charakter der alleinigen Wirkursächlichkeit Christi nicht in Frage stellen.105 Die Schwierigkeiten der Argumentation machen deutlich, wie problematisch es ist, die Rechtfertigung im Verlaufsschema der klassischen Bußanschauung zur Geltung zu bringen. Letztlich löst Luther diese Aufgabe ähnlich wie Melanchthon, ohne dabei die Kerngedanken der Rechtfertigung vollständig zur Geltung bringen zu können. Die Pointe ist im Blick auf die Buße die untrennbare Zusammengehörigkeit von Gesetz und Evangelium in ihrem antagonistischen Wirken: „Sic ego ago poenitentiam, quando Deus me trifft lege et Evangelio.“ 106 Gerade im Horizont der Buße lässt sich dies relativ schwer explizieren. Es zeigt sich in dieser Auseinandersetzung, welche Problematik sich Melanchthon einhandelt, wenn er Buße bisweilen als Horizont der Rechtfertigung betrachtet (und warum Luther dies weitgehend nicht getan hat). Für unseren Zusammenhang ist entscheidend, dass die Interpretation der Buße mittels der Kategorie des Gesetzes wesentlich den Furchtaffekt der Buße betont. Von daher zieht die Klärung des Gesetzesbegriffs besonderes Interesse auf sich. So schwierig sich die Gestaltung einer geschlossenen Lehre von der Buße gestaltet, so eindeutig bringt Luther immer wieder seine Anschauung vom Gesetz und damit verbunden vom Evangelium zur Geltung. Dabei liegt das Schwergewicht ganz eindeutig auf dem umstrittenen Kom104 105

WA 39/I 471,15-472,1. Luthers Ausführungen beziehen sich immer wieder auf die Sackgassen der scholastischen Bußlehre, wobei er vor allem die notwenige Ungewissheit namhaft macht. (Vgl. vor allem in der vierte Thesenreihe die Thesen 1-12. WA 39/I 352,8-31) In diesem Zusammenhang bemüht Luther sich auch um eine Neuaufnahme seiner ersten These der 95 Thesen von der beständigen Buße des Christen. (Siehe vor allem in der dritten Thesenreihe die Thesen 5 und 7, WA 39/I 350,16ff.) Wie schon in den Schmalkaldischen Artikeln ist auch hier der maßgebliche Interpretationshorizont der bleibende Kampf des Gerechtfertigten mit der Sünde. „Und diese Buße währet bei den Christen bis in den Tod; denn sie beißt sich mit der ubrigen Sunde im Fleisch durchs ganze Leben“. (BSLK S. 447,20-21) Der Unterschied zu den 95 Thesen ist unverkennbar: Damals war die beständige Buße zugeordnet einer immerwährenden Aneignung des Heils; nun liegt der Akzent auf der Bewahrung des Heils beim Gerechtfertigten. 106 WA 39/I 369,14. So auch noch einmal zum letzten argumentum: „Lex et Evangelium non possunt nec debent separari, sicut nec poenitentia et remissio peccatorum. Ita enim sunt inter se colligata et implicita.“ (WA 39/I 416,8-9) Diese Zusammengehörigkeit war auch in den Schmalkaldischen Artikeln schon der Grundton. „Wo aber das Gesetz solch sein Ampt allein treibt ohn Zutun des Evangelii, da ist der Tod und die Helle“. (BSLK S. 437,24-25)

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plex des Gesetzes, der gegenüber seiner Infragestellung zu entfalten ist. Die antinomistische Infragestellung des Gesetzes 107 ging von zwei Voraussetzungen aus, mit denen die Auseinandersetzung zu führen war: Die eine war eine heilsgeschichtliche Interpretation, die das Gesetz als biblische Epoche auslegte, die in Christus beendet wurde, so dass das Gesetz mehr oder weniger mit dem Alten Testament bzw. den Geboten des Mose zu verbinden war. Die andere Voraussetzung war eine Dissoziierung von Gesetz und Heiligem Geist, Gesetz und Gottes Wort bzw. göttlicher Wirkung. Dieser doppelten Voraussetzung tritt Luther gebündelt mit der zentralen These 18 entgegen, die er im Verlauf der zweiten Disposition wieder und wieder entfaltete: „Quicquid ostendit peccatum, iram seu mortem, id exercet officium legis, sive fiat in veteri sive in novo testamento.“ 108 Mit dieser Gesetzesdefinition gelingt es Luther sowohl das heilsgeschichtliche Missverständnis als auch die unterstellte Wirkungslosigkeit des Gesetzes zurückzuweisen. Die Sache des „Gesetzes“ ist nicht an ihre ausdrückliche Nennung oder an bestimmte grammatische Kategorien (Imperativ, Forderung) gebunden. Das Wort könne wohl leicht aufgehoben werden. Es geht Luther um die Kraft (vis) des Gesetzes, seinen Dienst (officium), seine Empfindung. 109 Diese Funktion des Gesetzes steht im Zentrum und nicht sein Inhaltsaspekt.110 Das Gesetz ist eine wirksame Realität; es überführt von Sünde, zeigt den Zorn Gottes an, auch wenn diese Realität im Neuen Testament mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnet wird.111 Darum kommt es nicht darauf an, ob etwa das Gesetz in der Verkündigung buch-

107 108 109

Vgl. ROGGE, S. 196ff. WA 39/I 348,25-26. Es ist eine interessante Beobachtung, dass die Terminologie des usus weit zurückgetreten ist gegenüber der Galatervorlesung. (Vgl. dazu E BELING, GERHARD: Zur Lehre vom triplex usus legis in der reformatorischen Theologie, in: Ders.: Wort und Glaube, Tübingen 21962. S. 50-68.) Dies ist auffällig, weil ja die anderen Umschreibungen wie officium denselben Sachverhalt intendieren. Der Grund dürfte sein, dass der Ausdruck usus leichter zur Vorstellung verführen kann, das Gesetz sei eine Sache, die vom Prediger so oder so zu „gebrauchen“ sei, oder auf dessen Gebrauch er eben auch verzichtet. Genau dies ist aber nun die Kontroverse, ob man auf den „Gebrauch“ des Gesetzes nicht einfach verzichten könne, weil sich die Sünde ja auch durch Verweis auf die violatio filii erweisen lasse. In diesem Zusammenhang mag es für Luther ratsam gewesen sein, weniger vom „Gebrauch“ des Gesetzes zu reden als von seiner erfahrbaren Wirklichkeit. 110 Vgl. auch HERMANN, RUDOLF: Zum Streit um die Überwindung des Gesetzes. Erörterungen zu Luthers Antinomerthesen, in: Gesammelte und nachgelassene Werke, Berlin 1981. S. 145-169. Zum Funktionscharakter des Gesetzes vgl. vor allem S. 149f. 111 „Sunt enim in grammatica diversa vocabula poenitentia, imo et lex, sed tamen quoad rem idem est praedicare poenitentiam et praedicare legem, et non sunt diversa, sed idem.“ (WA 39/I 415,14-16)

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stäblich genannt wird, sondern ob es der Sache nach vorhanden ist: „Nam etsi non ponimus literas istas LEX, tamen ipsam rem consideramus.“112 Warum dann aber diese scharfe Auseinandersetzung, könnte man fragen; das Gesetz kann ja nach Luthers Zugeständnis auch durch den Verweis auf die violatio filii deutlich werden.113 Wo liegt dann die besondere Schärfe des antinomistischen Problems, wenn auch von antinomistischen Voraussetzungen her das eigentliche Werk des Gesetzes durchaus zur Geltung kommen kann, nur eben durchaus nicht unter der Bezeichnung des „Gesetzes“ in Luthers Sinn? Ließe sich der Streit auf eine Methodendifferenz der Homiletik reduzieren? Für Luther wird in der Ablehnung des Gesetzes eine Wirklichkeitserfahrung verkannt, die grundsätzliche Bedeutung hat. In verschiedenen Anläufen wird das Gesetz eindrücklich als Angsterfahrung namenlosen Schreckens interpretiert. Als Luther die buchstäbliche Verwendung des Terminus Lex von der Erfahrung seiner Sache unterschied, bezeichnete er diese Sache an erster Stelle als „pavor conscientiae“ 114. Diese Erfahrung wird im Verlauf der Disputationen wiederholt expliziert. So weist er die jungen Zuhörer der Disputation auf ihre spätere seelsorgerliche Aufgabe hin. Die vom Teufel Angefochtenen werden sagen: „Deus odit me, oblitus est mei, non vult me.“115 In dieser Erfahrung werde das Gesetz recht gefühlt. Darum greift Luther wiederholt auf die Perspektive der ersten Person zurück, weil allein in diesem Erfahrungsbezug sich die Wirkung des Gesetzes angemessen vor Augen führen lässt: „O we, O we, clamitans, actum est, perii, disperii, non vult me Deus, oblitus est mei, odit me, iudex et condemnator meus est, quo fugiam a facie irae eius?“116

Die Klage artikuliert den ganzen Zusammenhang der Angst: das Bewusstsein des Verworfenseins von Gott, den vergeblichen Wunsch der Flucht, die Befürchtung des Untergangs der Person. Die Sache des Gesetzes lässt sich nicht ohne Rückgang auf solche Binnenperspektive des Geängstigten angemessen begreifen. Darin liegt die Unverzichtbarkeit der wiederholten 112 WA 39/I 415,18-19. Vgl. in diesem Sinn auch WA 39/I 455,21-456,3. Dahinter verbirgt sich natürlich auch das hermeneutische Problem, dass Luther faktisch die Verkündigung Jesu (Tut Buße) mittels paulinischer Begrifflichkeit (Gesetz) interpretiert und bei aller Differenz im Ausdruck von einer sachlichen Identität überzeugt ist. 113 Vgl. in diesem Sinne die Ausführung zum 15. argumentum: „Concedo maxime urgendam esse violationem filii, ut prima propositio Antinomorum habet, hoc est, incrudelitatem in filium“. (WA 39/I 384,7-8) Denn darin wird ebenfalls das Amt des Gesetzes zur Geltung gebracht: „Quare cum incredulitas in filium urgetur, dupliciter lex urgetur.“ (WA 39/I 385,8-9) 114 WA 39/I 415,19. 115 WA 39/I 428,13. 116 WA 39/I 455,19-21.

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Betonung der Erfahrung, weil nur diese eine Perspektive erlaubt, in der sich der Zusammenhang von Angst und Angstüberwindung erschließt. Die klassische Metaphorik der Angst unterstreicht diesen emotionalen Gehalt der Gesetzeserfahrung: „Talis enim est doctrina legis, ut, si vere tangat cor, so wirt einen die weite welt zu enge“117. Diese Erfahrung kann formal genau so gut aus der Verkündigung der Güte Gottes entspringen. Luther macht damit deutlich, dass das Gesetz sich nicht definieren lässt über seinen grammatischen Bestand (als Imperativ) oder seinen nomistischen Inhalt (als Gebot). Auch angesichts der beneficia Christi kann das Gesetz seine Wirkung entfalten, dass es den Menschen mit ganzer Gewalt trifft: „Ach unnd wehe mir Armen, quo me vertam? quid primum incipiam?“ 118 Das Gesetz ist insofern auf einen Erfahrungszusammenhang des Menschen ausgerichtet: auf das Widerfahrnis existenzieller Angsterfahrung. Es ist keine Frage, ob man das Gesetz zur Sprache bringen oder dieses lassen kann. Es ist faktisch immer schon anwesend: „illas res, quae iam existunt in natura humana“119; „Nam lex iam adest, ist schon da. Lex prius adest in facto.“120 Schon die vierte Thesenreihe hat diesen Charakter des Gesetzes als Existenzial eingeschärft. „Lex enim nulla nostra necessitate, sed de facto iam invitis nobis adest“121. Weil das Gesetz so tief im Lebenszusammenhang verwurzelt ist, wie es sich vor allem angesichts des Todes herausstellt, darum muss das Gesetz eben auch gepredigt werden. Was sowieso die menschliche Situation ausmacht, das wird in der Predigt auch ausdrücklich gemacht, damit es im Lebensvollzug nicht verdrängt oder verleugnet werden kann. Darum erfolgt die Betonung der Predigt des Gesetzes. Darin ist in der Tat eine der großen langfristigen Verschiebungen in Luthers Entwicklung zu verfolgen. 122 Denn durch solche Predigt des Gesetzes wird der Schrecken des Todes nicht allererst erzeugt, sondern identifizierbar. Auch hier zeigt sich wieder die zunehmend hermeneutische Funktion des Gesetzes. 117 118

WA 39/I 456,7-8. WA 39/I 536,12. Luther erinnert in diesem Zusammenhang an den Hallenser Crauss, der durch das ängstliche Gedenken an Christus als den Richter in den Selbstmord getrieben wurde (WA 39/I 537,19ff.). 119 WA 39/I 361,30. 120 WA 39/I 477,7. 121 WA 39/I 353,37-38. 122 Vgl. die Beschreibung der Entwicklung bei SCHULKEN, CHRISTIAN: Lex efficax. Studien zur Sprachwerdung des Gesetzes bei Luther im Anschluss an die Disputationen gegen die Antinomer (HUTh 48), Tübingen 2005. Dominiert im Antilatomus noch die Sicht, dass der Christ im Glauben gegen die Sünde kämpft, so entwickelt Luther in der Folgezeit eine verstärkte Betonung, dass auch den Frommen das Gesetz zu predigen ist. (SCHULKEN, S. 47)

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Von diesem Zusammenhang von Gesetz und Schrecken her lässt sich auch eine besondere sprachliche Zuspitzung am ehesten verstehen. Luther überträgt in den Disputationen mehrfach die Begriffe deus nudus und deus in maiestate auf den Heiligen Geist als Urheber des Gesetzes. Als solcher muss er nämlich von seinem Charakter als Gabe des Evangeliums unterschieden werden. „Distinguimus igitur de Spiritu sancto ut de Deo in sua divina natura et substantia et nobis dato.“ 123 Als Gabe gehört der Heilige Geist in den Zusammenhang von Evangelium und Glaube. In seiner Majestät hingegen ist er unser Gegner, der uns anklagt und verurteilt. In dieser Eigenschaft hat er auch durch Mose das Gesetz gegeben: „Sic Spiritus sanctus, quando scribit digito suo legem in tabulas Moysi lapideas, est in maiestate sua ac certe arguit peccata et terret corda.“ 124 Dieser Zusammenhang ist dadurch angestoßen worden, dass in den antinomistischen Thesen das Gesetz als geistlos und wirkungslos dargestellt wurde, so dass Luther sich nachdrücklich genötigt sieht, die Wirkung des Geistes im Amt des Gesetzes zu betonen. Da diese Wirkung aber nun im Schrecken und nicht im Trost besteht, muss Luther die Uneigentlichkeit dieses Geistwirkens herausstellen. Analog zur Unterscheidung des eigentlichen und uneigentlichen Wirkens Gottes versucht Luther dies durch die Rede vom Geist in seiner verborgenen Majestät zur Geltung zu bringen. Vielfach wurde bemerkt, wie spannungsvoll Luthers Verwendung des Verborgenheitsmotivs damit wird. In De servo arbitrio ist es der Zusammenhang der Prädestination Gottes, wo Luther vor der Spekulation über den Ratschluss Gottes eindringlich warnt. Diese Warnung ist in der Diskussion um das Gesetz natürlich höchst kontraproduktiv. Die Zuordnung des Gesetzes zum verborgenen Gott in seiner Majestät wäre eine Steilvorlage für eine antinomistische Argumentation, deswegen erst recht auf die Predigt des Gesetzes zu verzichten. 125 Stand der in seiner Majestät verborgene Gott in De servo arbitrio für Gott abgesehen von seiner Offenbarung, so wird diese Begrifflichkeit nun auf die Offenbarung am Sinai und Gottes Reden im Gesetz bezogen. Luther hat sich offensichtlich verstrickt in die Eigenlogik seiner Bilder und Begriffe. 126 123 124 125 126

WA 39/I 370,12-13. WA 39/I 370,18-20. Vgl. auch WA 39/I 484,5-22. Vgl. SCHULKEN, S. 116. Vgl. die Kritik von D IETRICH KORSCH, dies sei „in jeder Hinsicht ein logischer wie theologischer Ungedanke“; die in seiner Konsequenz liegenden Annahme einer doppelten Trinität sei „theologisch unsinnig“. (KORSCH, D IETRICH: Glaubensgewißheit und Selbstbewußtsein. Vier systematische Variationen über Gesetz und Evangelium [BHTh 76], Tübingen 1989. S. 265.) Vgl. zum Zusammenhang von Gesetz und nudus deus ausführlich SCHULKEN, S. 114-127. SCHULKEN zeigt, dass der Zusammenhang von Gesetz und nudus deus bei Luther nicht singulär ist; schon in den Operationes in Psalmos oder in Luthers Vorlesung über Ps 51 ist dieser Zusammenhang von Gesetz und Verbor-

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Was aber mag Luther bewogen haben, gegen die innere Logik seiner Begriffe diese Verbindung zu ziehen? M. E. gibt es nur einen plausiblen Grund dafür: Gesetz und Verborgenheit Gottes müssten zwar theologisch präzise unterschieden werden, sind aber beide auf einen identischen Erfahrungsgrund der Furcht bezogen. Die Rede vom Geist in seiner Majestät unterstreicht in problematischer Weise noch einmal, dass das Gesetz als Kategorie auf die Erfahrung des Schreckens mit seiner ganzen Bodenlosigkeit bezogen ist. Dieser Zusammenhang zeigt sich eindrücklich im 17. argumentum der ersten Disputation. Auch hier wird die Wirkung des Geistes in seiner Majestät im Gesetz nachdrücklich unterstrichen. 127 Sodann lässt Luther eine längere Warnung vor der falschen Beschäftigung mit dem deus nudus in maiestate folgen, wie diese etwa in der mystischen Theologie des Dionysius gesucht wurde.128 Denn aus eigener Erfahrung wisse er, dass man vor diesem verborgenen Gott nur in abgründigen Schrecken versinken könne: „Ubi igitur nudus Deus in maiestate loquitur, ibi tantum terret et occidit.“129 Auch wenn Gottes Verborgenheit und seine Gesetzesoffenbarung an sich wenig zusammenpassen, wird dies für Luther offensichtlich von ihrer identischen Wirkweise überbrückt. Denn dieser unbedingte Schrecken war auch ein Merkmal der Sinaioffenbarung: „Viderunt et audierunt Iudaei in maiestate sua Deum loquentem ad radices Sinai, sed cum magno terrore et pavore“130. Sodann sind die Erfahrungen von Gesetz und Verborgenheit gleichermaßen zu beziehen auf eine Fluchtbewegung zum Offenbarsein Gottes bzw. zum Evangelium Gottes in Jesus Christus. In der Stimme Christi fallen gewissermaßen Gottes Offenbarsein und das Evangelium in eins: „Cum voles igitur cum Deo agere, hac ingredere via: Audi vocem Christi, quem pater constituit doctorem totius mundi“ 131. So problematisch die genheit Gottes zu greifen. Die Spannung mit der theologischen Logik von De servo arbitrio, auf die K ORSCH sich bezieht, kann SCHULKEN trotz seines Widerspruchs zu KORSCH (S. 122) jedoch auch nicht in Abrede stellen (vgl. S. 126-127). Auch SCHULKEN beobachtet dabei die Parallelen zu Luthers Frühtheologie und sieht „die Frage aufgeworfen, ob Luther in der Auseinandersetzung mit Agricola etwa auf diese frühe Phase seiner theologischen Entwicklung zurückgreift“. (S. 127) 127 WA 39/I 389,3ff. Vgl. am Ende dieses argumentum: „Summa, cum Spiritus sanctus est Deus in sua natura, est autor legis, sine quo lex not arguit peccata“. (WA 39/I 391,17-19) 128 Vgl. WA 39/I 389,10-12. Luther warnt dabei entschieden vor jedem Umgang mit Gott außer und ohne dessen Selbstvermittlung in Jesus Christus, und bezieht sich in diesen Zusammenhang auch auf Thomas Müntzer, die Wiedertäufer, die Zwickauer Propheten und am Ende offenbar auch auf islamische Sufis bzw. Derwische! 129 WA 39/I 391,3-4. Vgl. den Hinweis auf die eigene Erfahrung WA 39/I 390,1-3. 130 WA 39/I 390,13-15. 131 WA 39/I 391,4-5.

8.3 Furcht und Buße in den Antinomerdisputationen

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begriffliche Logik des Zusammenhangs von Gesetz und Verborgenheit Gottes sich also darstellen mag, im Horizont der existenziellen Logik der Furchterfahrung erweisen sich Erleiden und Bewältigung von Furcht angesichts der Gesetzesanklage und gegenüber der Verborgenheit Gottes als eng miteinander verbunden. 8.3.4 Furchterfahrung und -bewältigung Hatten wir bis jetzt das Thema der Furcht ganz aus der Perspektive des Gesetzes betrachtet, folgen nun die ausdrücklichen Reflexionen des Furchterlebens im Blick auf seine Bewältigung. Im 8. argumentum der ersten Disputation wird die Schwierigkeit auf den Punkt gebracht: Gegensätze könnten nicht Teil der gleichen Sache sein; nun seien aber timor und fides Gegensätze; also könnten sie nicht zur gleichen Zeit im selben Objekt anwesend sein. 132 Nach Luther ist dieser Sachverhalt im Blick auf die physische Welt zutreffend.133 Gerade darin trifft es aber nicht den Zusammenhang der Doppelnatur des Glaubenden, den man in Abgrenzung zur physischen Welt als geschichtlich bezeichnen könnte. Luther greift auf das Gleichnis der Gesundung des Kranken zurück. So wie im Genesenden Krankheit und Gesundheit anwesend sind, so treffen im Christen Glaube und Sünde zusammen. Insofern könnten sich in unterschiedlichem Ausmaß auch Gegensätze in derselben Person befinden. „Sic in diversis gradibus contraria bene possunt esse in eodem.“ 134 Sie sind aber nicht einfach beieinander, sondern miteinander im Kampf. Und dies so, dass der Glaube sich siegreich gegen die Sünde und die aus ihr stammenden Schrecken durchsetzt: „Fides item summa excludit terrores, non cedit eis.“135 Diese Beschreibung verweist auf eine klassische Problemstellung bei Luther, der des „simul iustus et peccator“136. Auf der einen Seite beschreibt das simul iustus et peccator die gleichzeitige Geltung zweier Totalbestimmungen. Der Mensch ist jeweils totus iustus und totus peccator. Gerecht ist der Mensch in Christus; Sünder ist er in sich, im Blick auf das Fleisch. In der christlichen Existenz erweist sich das Miteinander dieser beiden Totalbestimmungen als steter transitus, eine Bewegung, die immer wieder neu im Glauben den Übergang vollzieht. 137 Auf der anderen Seite gibt es jedoch eine Reihe von Beschreibungen bei Luther, in denen diese Systematik preisgegeben scheint. Nun ist nicht mehr vom Menschen unter 132 133 134 135 136

WA 39/I 375,15-19. „Illud argumentum est physicum“. (WA 39/I 376,1) WA 39/I 376,13-14. WA 39/I 376,16-17. Vgl. auch WA 39/I 395,17-20. Vgl. JOEST, W ILFRIED: Gesetz und Freiheit. Das Problem des tertius usus legis bei Luther und die neutestamentliche Parainese, Göttingen 31961. S. 55-82. 137 JOEST, Gesetz, S. 57-65.

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Kapitel 8: Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde

dem jeweiligen Totalaspekt die Rede, nun werden auch Partialaspekte unterschieden: Der Mensch ist partim iustus, partim peccator. Statt des transitus im Glauben vollzieht sich in der menschlichen Existenz ein progressus, ein Fortschreiten, was ein quantifizierendes Reden von mehr oder weniger Sündenherrschaft erlaubt. 138 Dieses spannungsvolle Verhältnis von Total- und Partialaspekt zeigt sich gerade im Blick auf das Furchtproblem. Ist oben das Furchtproblem offensichtlich unter der Dominanz des Partialaspekts betrachtet worden, so ergibt sich bei einer Reihe von Ausführungen zu dieser Problematik ein anderes Bild. Vor allem in der Interpretation von 1 Joh 4,18 kommt diese Frage zur Verhandlung. Besonders ausführlich geschieht dies im 5. argumentum der zweiten Disputation. Das Ausgangsdilemma wird aufgrund des johanneischen Satzes, dass die Liebe die Furcht austreibt, formuliert. Man dürfe nicht lehren, was uns von der Liebe Gottes fern hält; sofern das Gesetz Furcht auslöst, tut es dies offensichtlich; also müsse von ihm geschwiegen werden. Luther akzeptiert diese Problemstellung als „bonum argumentum“ 139 und lässt sich ausführlich darauf ein. Zunächst verweist Luther auf die scholastische Unterscheidung von timor bzw. amor servilis und filialis; eine Distinktion, die sich leichter mit Worten als in der Wirklichkeit vollziehen lasse.140 Sodann schärft Luther die einzunehmende Perspektive auf dieses Problem ein: „Itaque commodius est nos manere in tractatione legis et Evangelii. Also kompt mann neher darzu.“141 Das gradualistische Unterscheidungsschema der Furchtarten im Horizont des Bußverlaufs ist für Luther nicht geeignet, den Zusammenhang der Rechtfertigung angemessen zum Ausdruck zu bringen. Die damit gegebene Logik des Aufstiegs bzw. der Perfektibilität des Subjekts mache es unmöglich, die jeweilige Unmittelbarkeit der Person Gott gegenüber in Gesetz und Evangelium denken zu können. Von dieser Einsicht fällt bezeichnendes Licht zurück auch etwa auf die Leipziger Disputation, wo Luthers Ausführungen im Banne dieses Schemas nicht befriedigen konnten. Im Folgenden vertieft Luther die Beschreibung der Wirkungsweise von Gesetz und Evangelium. Die Furcht des Gesetzes wird wie in der Genesisvorlesung wiederum als Indikation der Sünde ausgelegt: „ille timor certissimum signum est et tibi et aliis, nullam charitatem esse in cordo tuo.“ 142 138 JOEST, Gesetz, S. 65-70. 139 WA 39/I 437,9. 140 WA 39/I 437,9ff. und 437,25ff.

Text A unterscheidet charitas servilis und filialis statt timor wie in Text B; das ist wohl die schwierigere Lesart, der Argumentationszusammenhang spricht jedoch eher für die Unterscheidung der timor-Arten. Die Differenz von sprachlicher und lebenspraktischer Unterscheidung ist uns bereits im Brief an Melanchthon vom 27. Oktober 1527 begegnet (WAB 4 272,16-21). 141 WA 39/I 437,11-12. 142 WA 39/I 438,3-4.

8.3 Furcht und Buße in den Antinomerdisputationen

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Des Weiteren wird der Kampfcharakter der christlichen Existenz entfaltet, in der Glaube bzw. Liebe mit der Furcht ringen bis zur Erlangung der vollkommenen Liebe, die die Furcht austreibt. Dieser transitorische Charakter des Glaubenden mache verständlich, warum Furcht und Liebe durchaus in derselben Person begegnen können. Diese Überlegung führt schließlich zu einer bemerkenswerten Unterscheidung, die hinsichtlich der Mehrdeutigkeit des Wortes Furcht am Platz ist: „In vocabulo timoris est aequivocatio. Timor enim est duplex. Timor sine charitate et timor cum charitate. Timor sine charitate avocat a charitate et est sathanicus et malus, quem non docet lex. Verum timor cum charitate seu ex lege, hic evangelice me vocat ad charitatem, ita ut humiliatus me ipsum, qui sim, agnoscam, scilicet, me non habere charitatem.“143

Bemerkenswert an dieser Unterscheidung ist, dass sie nicht mehr die Zuständlichkeit des Subjekts fixiert wie das klassische gradualistische Schema, sondern mehr auf die Dynamik der Bewegung achtet. Die satanische und schlechte Furcht ist diejenige, die in Verzweiflung und Gotteshass führt. 144 Die gute Furcht ist nicht dadurch von dieser unterschieden, dass sie schon mit Liebe vermischt ist, wie man angesichts der einleitenden Definition denken könnte.145 Denn die gute Furcht zeigt gerade das Fehlen der Liebe; sie verweist dann aber auf diese Liebe, wie sie in Christus vor Augen gestellt ist. Die Unterscheidung hinsichtlich der Furcht vollzieht sich also anhand ihrer teleologischen Ausrichtung. Diese gute Furcht ist es schließlich auch, um die es in der Gesetzesverkündigung geht (ex lege). Deutlich zeigt sich darin die einheitliche Ausríchtung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die das Gesetz darin zum Ziel kommen lässt, dass dem Evangelium geglaubt wird. In dieser teleologischen Ausrichtung ist die Furcht heilsam und auch unverzichtbar, weil sie eine mortificatio im Dienste des Evangeliums darstellt: „Haec avocatio et mortificatio salutaris est et Evangelii et utilis“ 146. In dieser Beschreibung wird das Problem ganz vom Totalaspekt christlicher Existenz her entfaltet. Die Furcht wird bezogen auf den transitus menschlicher Existenz: Wo dieser transitus im Glauben gelingt, ist die Furcht ein dem Gesetz zugeordnetes Moment des Durchgangs, das in seiner teleologischen Ausrichtung auf den Glauben 143 WA 39/I 440,1-6. Offensichtlich geht es Luther dabei nicht um eine vollständige Auffächerung seiner Verwendungsweisen des Terminus timor (dann müsste der klassische mit dem Glauben verbundene timor Dei vermisst werden), sondern um die Unterscheidung der grundlegenden Dynamiken. 144 „Diabolus ita agit, ita terret, ut pereas, ut moriaris.“ (WA 39/I 440,12-13) 145 Dies entspräche der melanchthonischen Unterscheidung von timor servilis und filialis, die dieser als Furcht ohne Glaube (wie bei Saul und Kain) oder als Furcht vermischt mit Glaube bestimmte (wie bei Petrus), so in der Apologie der CA Art. 12 (BSLK S. 254,8ff.). 146 WA 39/I 440,9-10.

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Kapitel 8: Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde

heilvoll und nützlich ist. Wo dieser Übergang des Glaubens jedoch ausbleibt, da erweist die Furcht ihre tödliche Dynamik der Verzweiflung. In der dritten Disputation wird der locus classicus der Furchtlehre noch einmal als vermeintliches Argument gegen die Gesetzesverkündigung überhaupt verwandt: „Ioannes inquit: Charitas expellit timorem. Lex docet timorem. Ergo lex non est docenda.“ 147 Luther erinnert zunächst an die Zweckbestimmung des Gesetzes, das nicht den schon Erschrockenen zu predigen ist. Sodann wird der johanneische Satz auf den Vollzug christlicher Existenz bezogen: „Charitas expellit timorem, sed non totum.“148 Offensichtlich bringt Luther nun wieder den Partialaspekt christlicher Existenz zur Geltung. Denn wir seien nicht wie die Engel, die um ihrer Vollkommenheit willen keine Strafe von Gott erwarten und sich daher nicht fürchten. Der Kampfcharakter christlicher Existenz nötigt daher wiederum dazu, in zwei Perspektiven vom Menschen zu reden. Vom Menschen, insofern er dem Evangelium glaubt und ihm dies von Gott in Gnaden angerechnet wird, kann gesagt werden, dass er ohne Furcht ist. 149 Anders sei vom Menschen außerhalb dieser Perspektive zu reden: „Sed alioqui infra nos et extra hanc sphaeram reputationis est, ut Paulus inquit, intus pavor, clamor foris et terrores“150. Über Furcht lässt sich nicht reden unter Absehung von der Relation zu Gott. Auch hier wird wieder der ungeheure Bruch zum gradualistischen Schema handgreiflich, das den Menschen in seiner Vorfindlichkeit zum Ausgangspunkt auch der theologischen Beschreibung macht. Luthers strenge Konzentration auf das Gottesverhältnis scheint die Einheit der Person zu gefährden. Sie macht Ernst damit, dass der Glaube nicht akzidentiell zur Person hinzutritt, sondern das Personsein im Kern bestimmt. Von Furcht und ihrem Verhältnis zum Glauben ist somit in zweifacher Weise die Rede: auf der einen Seite in einem Entweder-oder; auf der anderen Seite in einem Teils-teils. Es gibt die Überwindung der Furcht durch den Glauben und es gibt das simul von beiden. Und doch wird man nicht von einem gleichberechtigten Nebeneinander zweier Perspektiven reden dürfen. 151 Denn der Partialaspekt hinsichtlich der Furcht, das Beschreiben 147 148 149

WA 39/I 564,9-10. WA 39/I 565,3-4. WA 39/I 565,6. Vorausgesetzt ist dabei in der Tat der Gegensatz der Affekte: „non sunt simul pavor et consolatio, gaudere in Domino et timere poenam.“ (WA 39/I 565,6-7) 150 WA 39/I 565,7-9. Einschränkend schließt Luther an, dass jene Furcht, die ja schon aus der knechtischen zur kindlichen gemacht ist, den Menschen nicht mehr verderben (confundere) könne. 151 Vgl. ROSENBERGER , G ERD: Gesetz und Evangelium in Luthers Antinomerdisputationen, unv. Diss. Mainz 1958. S. 56ff. Zu Recht betont ROSENBERGER, „dass der PartialAspekt nur in seiner inneren Beziehung zum Total-Aspekt verstanden werden kann.“ (S. 57)

8.3 Furcht und Buße in den Antinomerdisputationen

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von mehr oder weniger Furcht im umgekehrt-proportionalen Verhältnis zum Glauben, würde konsequenter Weise ja die Rede im Modus des TotalAspekts aufheben. Nun hält Luther aber ausdrücklich auch an dieser Redeweise fest: In der Anrechnung bei Gott ist der Mensch ohne Furcht. Der Kampf des Glaubens vollzieht sich daher in immer neuem Einnehmen der Perspektive des Glaubens. Ist der Glaube der entscheidende Gesichtspunkt, vom dem her allein angemessen auch über die Furcht geredet werden kann, so nötigt das Verhältnis von Furcht und Glaube zu einer weiteren Unterscheidung. Glaube ist bei Luther seit der Hebräerbriefvorlesung untrennbar mit Gewissheit verbunden. Erst dieser gewisse Glaube konnte Furcht überwinden und insofern als ihr Gegenbegriff verwandt werden. Wird aber diese Gewissheit des Glaubens nicht in Frage gestellt, wenn auch der Gläubige teils noch unter dem Gesetz und seinem Schrecken steht? Demgegenüber unterscheidet Luther nun: Der Glaube ist seinem Wesen nach mit Gewissheit verbunden. Solcher Glaube ist jedoch nicht immer stark, sondern kann auch von Schwäche betroffen sein: „Hoc verum est, fides potest esse infirma, sed non incerta et dubia, quae longissime inter se distincta sunt. Quare hoc sciendum et tenendum perpetuo est, quod doctrina, fides, lex, Evangelium certissima sint ita, ut nihil posset esse certius, sed tamen fidem posse etiam esse infirmam et imbecillem, sed non incertam.“ 152

Was gewährt also die Gewissheit des Glaubens, unabhängig von der Frage, ob diese stets auch empfunden wird? Es ist die Gründung des Glaubens im zusprechenden Wort bzw. im empfangenen Sakrament.153 Die Gewissheit wird nach wie vor begründet in dieser Relation von fides und promissio, Glaube und Wort bzw. Sakrament. Den Gegensatz von Glaube und Furcht hat Luther während der Ablassauseinandersetzung immer deutlicher in Abgrenzung zu seinen Anfängen herausgearbeitet. Dieser Gegensatz ist nun aber zusammenzudenken mit der sich immer wieder erneut aufdrängenden Furcht auch im Leben des Glaubenden. Allein die Dialektik von Gesetz und Evangelium wird dieser Ambivalenz der Erfahrung gerecht. Als Wirkung des Gesetzes ist die Furcht nicht zu fliehen, sondern anzuerkennen und von Gott her anzunehmen. Als solche angenommene Furcht führt sie nicht in eine Dynamik der Verzweiflung, sondern treibt zum Glauben an Christus.

152 153

WA 39/I 563,2-6. Der Glaube ist „firmus assensus verbi Dei seu promissae gratuitae gratuitae“. (WA 39/I 562,1-2) Und weiter heißt es dann: „Iusti autem, quia certum est, nos baptizatos esse in sanguine Christi et receptos a patre in gratiam propter Christum“. (WA 39/I 562,1517)

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Kapitel 8: Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde

8.4 Das Gesetz und die Bedrohtheitsdimension des Lebens 8.4 Das Gesetz und die Bedrohtheitsdimension des Lebens

In drei Textzusammenhängen der dreißiger Jahre wurden wir in verschiedenen Zuspitzungen mit dem Zusammenhang von Furcht und Gesetz konfrontiert.154 Tod, Sünde und Buße ließen sich jeweils nur so thematisieren, dass ein enger Zusammenhang von Furcht und Gesetz deutlich wurde. Unverkennbar brachte Luther in dieser Frontstellung Anliegen zu Ehren, die in seiner Frühtheologie eine große Rolle gespielt haben. Die Unterschiede sind natürlich offensichtlich, verweist Luther ja selbst auf den gewandelten Horizont. Die Rechtfertigungslehre ist in einer deutlich höheren Reflexionsgestalt entwickelt, überhaupt ist ihr Charakter als Lehre viel stärker betont als zu Beginn der reformatorischen Bewegung. Anders als damals ist auch die antisynergistische Ausrichtung der Theologie unumstritten. Im Gegenteil, Luther muss sich gegen einen synergistischen Schein seiner Unterscheidung von Gesetz und Evangelium wehren. Konkret ist es vor allem die Kategorie des Gesetzes, die von ihrer jetzigen deutlich profilierten Fassung her gesehen in den frühen Texten nur schwach ausgebildet war. Es ist aber ausgerechnet diese Kategorie, in der sich eine Reihe von Anliegen verdichten, die mit den Motiven der frühen Theologie konvergieren. Abschließend können wir eine dreifache pragmatische Zielsetzung rekonstruieren: die Kritik religiöser Sicherheit (8.4.1), die Warnung vor einer negativen Dynamik der Furcht unter der Botmäßigkeit der Sünde (8.4.2) und die Anleitung zu einer Bewältigung bzw. Überwindung existenzieller Furcht (8.4.3). 8.4.1 Die Kritik religiöser Sicherheit Es sind zwei Zukunftserwartungen, die Luther angesichts des Antinomismus immer wieder entfaltet. Die eine entwickelt sich aus der Anschauung des Antinomismus als Missbrauch christlicher Freiheit. 155 Daneben tritt eine zweite Betrachtungsweise. In ihr wird der Antinomismus weniger in 154 Die Konzentration auf diese Themen soll dabei nicht den Eindruck erwecken, Luthers Spättheologie sei von einer verdüsterten, negativen Weltsicht geprägt. Sowohl seine dritte Psalmenvorlesung wie die Genesisvorlesung zeigen eindrücklich, welchen großen Stellenwert Haltungen wie Dankbarkeit und Gelassenheit für den Glaubensvollzug haben. Vgl. M IKOTEIT, MATTHIAS: Theologie und Gebet bei Luther. Untersuchungen zur dritten Psalmenvorlesung 1532-1535 (TBT 124), Berlin/New York 2004. Diese positive Seite ist aber nicht zu haben ohne den Hintergrund, auf den unsere Darstellung ausgerichtet ist. 155 So gibt Luther schon in den Schmalkaldischen Artikeln diesen neuen Geist wieder: „Tu, was du willt, gläubst du, so ist’s alles nichts, der Glaube vertilget alle Sunde“. (BSLK S. 448,12-13) Die Auseinandersetzung mit diesem wesentlichen Anliegen kann aus der Perspektive unserer Fragestellung heraus nicht weiter verfolgt werden. Vgl. aber die Schwerpunktsetzung bei H ERMANN, Streit auf die Erfüllung des Gesetzes durch Christus und die Konsequenzen dieses Gedankens für die Christen.

8.4 Das Gesetz und die Bedrohtheitsdimension des Lebens

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moralischer als in geistlicher Hinsicht zum Gegenstand der Kritik. Der Antinomismus wird vor allem verstanden als Ausdruck einer spezifischen Unempfindlichkeit des Menschen. Die Kritik dieser religiösen Sicherheit ist im antinomischen Streit das Ziel von Luthers Polemik. Die aus seiner Sicht abschließende Schrift Wider die Antinomer (1539) ist ganz von dieser Stoßrichtung bestimmt. Der beherrschende Vorwurf ist dahingehend ausgerichtet, dass die antinomische Verkündigung zur Sicherheit verführe. 156 Wir haben gesehen, dass Luther im Rückblick die Zeit der beginnenden Reformation als ein saeculum contritorum ansah. Im Gegensatz dazu sieht er seine Gegenwart als ein saeculum securorum. 157 Die Menschen seien nicht mehr erschrocken, sondern von epicuräischer Sicherheit geprägt.158 Solche Sicherheit aber erweise sich als mangelnde Selbsterkenntnis. Programmatisch kann es darum heißen: „Et qui securus est, non habet legem. Et certe securitas est absque et ante legem, sed veniente lege cessat securitas et ducit nos in cognitionem nostri.“159

Durch diese Sicherheit verlieren die Menschen den Kampfcharakter des Glaubens aus dem Blick.160 Dieser Selbsttäuschung gegenüber wird die Auseinandersetzung geführt, deren pragmatische Intention Luther auf Deutsch ausdrückt: „Schlaff nicht, schlaff nicht und schnarche nicht“161. Ohne das Moment der Furcht lässt sich auch Glaube als Inbegriff des Gottesverhältnisses nicht realisieren: „Securitas enim tollit fidem et timorem Dei facitque novissima peiora prioribus.“162 Die Kritik der Sicherheit betont insofern einmal mehr den unauflöslichen Zusammenhang von Gottesund Selbsterkenntnis. Der Mangel an Selbsterkenntnis besteht darin, dass der Mensch der Erfahrungswirklichkeit menschlichen Lebens nicht mehr gerecht zu werden vermag. Daher vermag der Sichere nicht mehr zu bestehen, wenn sich diese seine Sicherheit angesichts eines drohenden Todesgeschicks auflöst. Denn wenn Christus identifiziert wurde mit einem Gefühl der Sicherheit und nicht erfahren wurde als Überwindung des Gewissensschreckens, wird 156 157 158

„Er gehet aber damit umb, das er die leute sicher mache“. (WA 50 471,31-32) WA 39/I 574,6. Vgl. auch in den Schmalkaldischen Artikeln BSLK S. 448,4ff. Die Antinomer bedächten nicht, dass „homines nunc non esse tales et alios, quam erant sub carnifice papa, sed fieri et esse securos et malos, praefractos, iniquos raptores, imo et Epicuraeos, qui neque Deum neque homines revereantur“. (WA 39/I 572,11-13) Vgl. auch WA 39/I 489,15ff.; 490,2. 159 WA 39/I 530,10-15. 160 WA 39/I 494,15ff. Immer wieder ist die Sicherheit dabei der sich durchhaltende Hauptvorwurf (WA 39/I 494,15.18.20 und 495,1.8.16.24). 161 WA 39/I 496,6-7. Dies entspräche dem antinomischen Selbstverständnis: „Wir sind sicher, one furcht und sorge, Der Teuffel ist ferne von uns, Und ist jnn uns nicht solch fleisch, das jnn S. Paulo Rom vjj war“. (WA 50 477,28-30) 162 WA 39/I 356,25-26.

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Kapitel 8: Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde

der Tod zu einer Anfechtung, in der der ehemals Sichere nicht standzuhalten weiß.163 Denn der Tod ist der bestimmende Horizont, von dem die menschliche Existenz nicht abzulösen ist. In der Anfechtung wird nur die Angst akut, die mit dem Todesgeschick jeder menschlichen Existenz implizit ist. Insofern ist die Anfechtung nicht mehr eine religiöse Sondersituation, sondern bringt nur das zur Geltung, was wesentlich zur durch den Tod geprägten Grundsituation menschlichen Lebens gehört. Die Ablehnung des Gesetzes sei insofern nur als Symptom zu betrachten. Dahinter stehe die Verkennung der Sündenmacht sowie die Verharmlosung des drohenden Todesgeschicks. Weil die Antinomer damit jedoch die Grundsituation des menschlichen Lebens nicht richtig einschätzten, sei ihre Theologie nicht geeignet, in der existenziellen Herausforderung des Lebens, wie sie in der Anfechtung offenbar wird, zu bestehen. Darum könnten die Antinomer auch nicht trösten angesichts schwerer Anfechtung. 164 Für Luther besteht der Fehler dieser Theologie letztlich darin, dass sie von einem existenziell indifferenten Denken geprägt ist. Eine Haltung, die sich die Erschütterung durch das Gesetz ersparen will, ist nichts anderes als eine neue Form intendierter Furchtvermeidung. Der damit verbundene Verlust des Trostes ist unvermeidlich. Denn ein Denken, das nichts mehr von der Anfechtung weiß, wie sie sich in der Ohnmacht gegenüber der Erschütterung des Todes zeigt, vermag der Furcht in ihrer elementaren Gewalt nur scheinbar zu entgehen. Auch hier zeigt sich, dass jeder Versuch der Furchtvermeidung sich als vergebliche Flucht erweisen wird. 8.4.2 Sündenerkenntnis und die Dynamik der Verzweiflung Neben die Kritik der Sicherheit tritt ein zweites Motiv von Luthers Frühtheologie, das in der Römerbriefvorlesung so nachdrücklich betonte magnificare peccatum. Darum geht es nach der Vorrede zur dritten Disputation, dass die bleibende Sünde betont wird, sowohl im Christen wie im Blick auf die Kirche. 165 Der Hintergrund dieser Aufgabe ist denkbar verschieden. Damals ist es eine Gerechtigkeit aus den Werken gewesen, der gegenüber die bleibende Sünde betont werden musste, jetzt ist es eine falsch verstandene Gerechtigkeit aus dem Glauben, welche die Sünde nicht mehr wahr-

163

„Auff das, wenn sie ein mal plotzlich mit sterben oder bosem gewissen ubereilet, so zuvor eitel susser sicherheit gewonet, mussten on allen rat zur hellen sincken, als die nichts anders geleret hetten jnn Christo, denn susse sicherheit, darumb solch schrecken ein gewis zeichen were, das Christus (der eitel sussigkeit sein mus) sie hette verstossen und verlassen“. (WA 50 471,32-37) 164 „Nunc autem Antinomi nihil illorum intelligunt, neque possunt, si vellent sibi consentanei esse, in gravissimis tentationibus consolari conscientias.“ (WA 39/I 537,17-19) 165 WA 39/I 490,6ff.

8.4 Das Gesetz und die Bedrohtheitsdimension des Lebens

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nehmen will. Die Auseinandersetzung ist darin gleich, dass erneut das Gewicht der Sünde eingeschärft werden muss. Auch wenn man im konkreten Gegenüber zum historischen Antinomismus Luthers Argumentationskette konsequenzmacherisch finden wird, das Anliegen ist nicht zu verkennen. Die in der Sicherheit zum Ausdruck kommende Unempfindlichkeit des Menschen ist Ausdruck der Sünde. Solche Sünde erweist ihre Macht aber auch dort, wo es zu einer anfänglichen Erkenntnis des Gesetzes und damit zu einem Aufbrechen der Furcht gekommen ist. Unter der Macht der Sünde kommt es zur vielfach beschriebenen negativen Dynamik der Furcht. Das Gesetz unter der Botmäßigkeit der Sünde treibt den erschrockenen Menschen in Verzweiflung. Denn in der Furcht bringt das Gesetz vor allem seine innere Bedingungsstruktur zur Geltung und steigert darin die Furcht des auf sein Wirken zurückgeworfenen Menschen ins Unermessliche. Die darin bestehende existenzielle Gefährdung des Menschen hat Luther in seiner Frühzeit in der Kritik des timor servilis ausformuliert. Allein die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium vermag diese verheerende Dynamik zu identifizieren und sie durch Aufhebung der Bedingungslogik des Gesetzes zu unterbrechen. 8.4.3 Glaube als Furchtbewältigung An dritter Stelle erweist sich die Bewältigung existenziellen Furchterlebens als bestimmender Horizont der Überlegungen Luthers. Diese Furcht wird überwunden im Glauben an das Evangelium. Im Evangelium ist Jesus Christus selbst durch den Heiligen Geist präsent als Erlöser von Sünde und Furcht. Gerade weil sich solche Überwindung der Furcht durch das geistvermittelte Präsentwerden Gottes im Wort des Evangeliums vollzieht, lässt sich diese Bewegung nicht ein für alle Mal vollziehen. Darum muss die grundlegende Erfahrung betont werden, dass Furcht sich nicht überwinden lässt ohne eine Haltung der Furchtbereitschaft. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium erlaubt es insofern, heilsame Unterscheidungen im Blick auf das Angsterleben zu treffen. In Furchtlosigkeit und Sicherheit verfehlt der Mensch die Abgründigkeit der menschlichen Situation angesichts des Todes. Die durch das Gesetz bedingte Unverzichtbarkeit der Furcht ist in sich höchst ambivalent. In diesem Erleben ist der Mensch der elementaren Gefährdung einer Dynamik der Verzweiflung ausgesetzt. Dieser Gefährdung ist nicht zu entgehen durch prinzipielle Vermeidung von Furcht. Die vermeintlich gute Absicht des Antinomismus, dem Menschen Furcht und Schrecken ersparen zu wollen, kann angesichts der tatsächlichen Bedrohtheitsdimension menschlicher Existenz nicht zum Ziel führen. Als affektiver Niederschlag menschlicher Selbsterkenntnis ist Furcht die existenzielle Realisation solcher menschlicher Gefährdung: im

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Kapitel 8: Todesfurcht zwischen Gesetz und Sünde

Blick auf den eigenen Lebensvollzug angesichts des Todes, im Blick auf die Verfehlung der Gottesbeziehung angesichts der Rede von Gottes Gericht. Angesichts solcher Anfechtungen kann Luther stark zurückgreifen auf die Bewältigungslogik seiner Frühtheologie. Als Moment der Gesetzeswirkung ist Furcht deutungsfähig als ein gutes Zeichen. Im Schrecken realisiert der Mensch einen Wahrheitszuwachs, nämlich die Erkenntnis der Bodenlosigkeit des eigenen Selbstverhältnisses. Diesem Gewahrwerden letzter Haltlosigkeit kann der Mensch nicht entkommen, er muss es annehmen. Anders als in der Frühtheologie besitzt diese Haltung der Annahme nun nicht mehr soteriologische Qualität, sie wird vielmehr dem Kampf des Glaubens zugeordnet, der sich mit dieser Einsicht ganz Christus überlässt und auf dessen Zusage seiner heilvollen Gegenwart vertraut: „Sed quid ego ibi faciam? Nihil, sed patiar. Nam Christus dominus nos transferet in coelum, non nos ipsi.“ 166 Die Wiederaufnahme solcher Anliegen, die Luther in seinen reformatorischen Anfängen bestimmt haben, ist trotz aller terminologischer Wandlungen und situativen Verschiebungen unverkennbar. Dabei ist es offensichtlich die Kategorie des Gesetzes 167, die als Integral die Anliegen der Frühtheologie repräsentiert. Das Gesetz gewinnt damit eine auf die Lebenswirklichkeit bezogene hermeneutische Funktion. Es steht für eine Lebensdeutung, die gleichermaßen die Bodenlosigkeit menschlicher Existenz aufzeigt wie darin eine Hinwendung zur heilvollen Selbstvermittlung Gottes im Evangelium anstößt. Die soteriologische Ohnmacht des Gesetzes steht dabei außer Frage, weil es letztlich die Ohnmacht des Menschen unter der Herrschaft der Sünde erweist. Mittels der Kategorie des Gesetzes wird dieses Unvermögen ausdrücklich gemacht, und das um des Evangeliums willen. 168 Denn seiner Ohnmacht kann der Menschen nicht tiefer innewerden als im Affekt der Furcht. Als Durchgangsmoment ist die Erfahrung von Furcht nicht soteriologisch notwendig; sie ist aber unter den Bedingungen des Menschseins angesichts des Sterben-Müssens faktisch unvermeidlich. In solcher Furcht erschließt sich dem Menschen nicht weniger als seine Erlösungsbedürftigkeit. In diesem erleidenden Dabeisein des Menschen wird die Alleinwirksamkeit Gottes zum Heil nicht in Frage gestellt, sondern auch existenziell evident. Der Glaube an die im Evangelium zugesagte Liebe Gottes ist immer auch bezogen auf die Bewältigung der Todesfurcht.

166 167

WA 39/I 447,13-14. In diesem Sinne konnte EBELING zu Recht betonen: „Gesetz ist für Luther eine existentiale Kategorie, in der die theologische Interpretation des faktischen Menschseins zusammengeballt ist.“ (EBELING, triplex, S. 65) 168 Vgl. in diesem Sinne auch K ORSCH, Glaube, S. 380f.

Kapitel 9

Die Dialektik der Angst im Gottesverhältnis Kapitel 9: Dialektik der Angst im Gottesverhältnis

Haben wir nach der Darstellung der Texte des jungen Luthers systematisch nach dem Ertrag des Furchtthemas für das Verständnis der Entwicklung Luthers und insbesondere seiner Rechtfertigungstheologie gefragt, so ist nun die Fragerichtung umzukehren: Welchen Gewinn erbringt Luthers Theologie der Rechtfertigung für die Deutung und Bewältigung von Angst als Phänomen menschlichen Lebens? Daher gilt es nun, das Profil seiner Theologie so zuzuspitzen, dass sie im Horizont gegenwärtiger Lebensdeutung zur Geltung kommen kann. Dafür werden in einem ersten Schritt psychologische Deutungszugänge zur Angst vorgestellt (9.1). Diese werden sodann in eine erneute Wahrnehmung der Angstbewältigung Luthers einbezogen (9.2). Abschließend wird in der Auseinandersetzung mit der modernen Rezeption Luthers die Skizze einer von Luther angeregten Theologie der Angst entwickelt (9.3).

9.1 Angst zwischen Theologie und Psychologie 9.1 Angst zwischen Theologie und Psychologie

Im Blick auf das Thema Angst muss sich die theologische Perspektive unter heutigen Bedingungen auf die Begegnung mit psychologischen Beschreibungsweisen einlassen. Dies gilt zunächst gegenüber zwei problematischen Tendenzen innerhalb der Theologie: auf der einen Seite gegenüber dem Versuch einer prinzipiellen Überbietung jeglicher Psychologie durch den Anspruch einer alleingültigen religiösen Deutung des menschlichen Lebens, auf der anderen Seite gegenüber der völligen Ausblendung der psychologischen Dimension im Glaubensvollzug. 9.1.1 Theologie zwischen Überbietungsanspruch und Ausblendung Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte eine starke Strömung eines theologischen Überbietungsanspruchs. Getragen war diese Haltung oft von einer geistesgeschichtlichen Deutung des Angstphänomens. So beschrieb etwa Emil Brunner das Geschick des ‚modernen Menschen‘: „Den Gottesglaube der Christen hat er nicht mehr, den hat er, wie Hans im Glück seinen Goldklumpen, eingetauscht gegen das billige Leichtmetall

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Kapitel 9: Dialektik der Angst im Gottesverhältnis

seines Selbstvertrauens, und mit diesem Tausch hat er nun alle Gewissheiten verloren, und darum lebt er in Angst.“1 Die Deutung der Angst als Folge eines verbreiteten Glaubensverlustes ermöglichte die vermeintlich situationsgemäße Darstellung des christlichen Glaubens als Lösung des Angstproblems.2 Von einem apologetischen Überbietungsprogramm dieser Art hat sich die jüngere Forschung jedoch zu Recht vielfältig distanziert.3 Vor allem durch Klaus Schwarzwäller sind zwei kritische Gesichtspunkte in der Diskussion betont worden. Erstens bekommt innerhalb einer solchen Theologie die Angst quasi die Funktion eines psychologischen Gottesbeweises zu gewiesen. Die Beschreibung der Angst als Anknüpfungspunkt der christlichen Verkündigung soll die Plausibilität des Glaubens als lösende Antwort erweisen. Ein solcher Anspruch muss jedoch zur Überforderung werden, vor allem dann, wenn die theologische Reflexion der Angst mit der psychologischen Theoriebildung und Behandlungspraxis nicht Schritt halten kann. Zweitens wird mit dieser Gegenüberstellung von Angst und Glaube das Ideal eines quasi angstfreien Glaubens aufgerichtet. Ein solches Ideal entspricht aber nicht nur nicht der Lebenswirklichkeit der Christen, sondern kann ernst genommen nur als verheerende Überforderung erfahren werden. 4

1 BRUNNER , EMIL: Von der Angst, in: Ders.: Ein offenes Wort II. Vorträge und Aufsätze 1917-1962, Zürich 1981. S. 287-301. S. 297. Vgl. auch W ANDRUSZKA, MARIO: Was weiß die Sprache von der Angst? In: Angst und Schuld in theologischer und psychotherapeutischer Sicht. Ein Tagungsbericht, hrsg. von Wilhelm Bitter, Stuttgart 51971. S. 1422: „Die ‚Angst vor dem Nichts‘ ist der Preis, den Europa seit zweihundert Jahren für den Glaubensverfall bezahlt. Es ist die Angst des europäischen Atheisten, der nicht mehr an Gott glauben kann, aber sich vor ihm fürchtet, der Angst hat vor dem leeren Raum, in dem gestern noch Gott war.“ (S. 19) Vgl. in diesem Sinne auch T HIELICKE, HELMUT: Theologische Dimensionen der Angst, in: Angst und Schuld, S. 23-38. 2 Vgl. den Abschluss bei EMIL B RUNNER : „Noch ist es Zeit: Die Angst kann durch Christus überwunden werden.“ (BRUNNER, S. 301) 3 Grundlegend vgl. SCHWARZWÄLLER , K LAUS: Die Angst – Gegebenheit und Aufgabe (ThSt 102), Zürich 1970. Ähnlich innerhalb der Praktischen Theologie SCHARFENBERG, J OACHIM: Das Problem der Angst im Grenzgebiet von Theologie und Psychologie, WZM 20 (1968) S. 314-324. Aufgenommen ist diese kritische Auseinandersetzung mit der Nachkriegstheologie etwa bei K ÖRTNER, ULRICH: Weltangst und Weltende. Eine theologische Interpretation der Apokalyptik, Göttingen 1988; Ders.: „Um Trost war mir sehr bange“. Angst und Glaube, Krankheit und Tod, in: Ders. (Hrsg.): Angst. Theologische Zugänge zu einem ambivalenten Thema, Neukirchen-Vluyn 2001. S. 69-86; SCHNEIDERFLUME, GUNDA: Angst und Glaube, ZThK 88 (1991) S. 478-495. 4 Vgl. zu Recht E BERHARD J ÜNGEL: „Prinzipiell angstfreies Dasein gibt es nicht.“ (Ders.: Mut zur Angst. Dreizehn Aphorismen zum Jahreswechsel [1978], in: Ders.: Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, München 1986. S. 362-370. S. 363.) Vgl. die Kritik am Ideal der Angstfreiheit bei SCHWARZWÄLLER, S. 8; KÖRTNER, Trost, S. 73ff; SCHNEIDER-FLUME, S. 479.

9.1 Angst zwischen Theologie und Psychologie

329

Auf der anderen Seite hat sich, wie in der Forschungsgeschichte gesehen, bis heute überhaupt eine deutliche Abgrenzung der Theologie gegenüber psychologischen Beschreibungen menschlichen Erlebens im Gottesverhältnis durchgehalten. Im Zuge der Wort-Gottes-Theologie und ihrer Ablehnung einer liberalen Religionspsychologie wurde die Ausblendung der psychologischen Dimension des Glaubens zum übergreifenden Konsens verschiedener theologischer Schulen. Hat sich hier im Zuge der humanwissenschaftlichen Wende innerhalb der Praktischen Theologie ein Umschwung vollzogen, so lässt sich das von der Systematischen Theologie nur bedingt sagen. Die beständige Warnung vor einem psychologischen Reduktionismus des Gottesverhältnisses auf vermeintlich innerpsychische Relationen führte nicht selten zu einer Ausblendung jeglicher Erlebensperspektive. 5 Der vielfach zu beobachtende antipsychologische Reflex innerhalb der Lutherforschung war verständlich als Reaktion auf reduktionistische Deutungsformen, die etwa Luthers Ringen um den gnädigen Gott zurückführten auf eine Vater- bzw. Über-Ich-Problematik. Solche Reduktionismen nach dem Prinzip, etwas zu erklären als „nichts anderes als“, erklären faktisch nichts, sondern heben das zu Erklärende auf. 6 Die theologische Rede von Gott sollte allerdings auch nicht den Verzicht begründen, den Vollzug menschlicher Selbstdeutung und -beschreibung nachvollziehbar zu machen. Vielmehr muss sie sich der Herausforderung stellen, „Nachzeichnung des Handelns Gottes am Spiegel der inneren Veränderung auch des gefühlten Lebens“ 7 zu sein. Dabei kann sie auf die Perspektive des erlebten und gefühlten Lebens nicht verzichten. Gerade die bei Luther vorgenommene enge Verschränkung von Gottes- und Selbsterkenntnis leitet dazu an, weder gottlos vom Menschen noch seelenlos von Gott zu reden. 8 5

Vgl. beispielsweise die Kritik an Eugen Drewermann bei SCHNEIDER-FLUME, S. 486ff. 6 Vgl. die Kritik an naturalistischen Formen des Reduktionismus bei K ORSCH, D IETRICH: Religionsbegriff und Gottesglaube. Dialektische Theologie als Hermeneutik der Religion, Tübingen 2005. S. 250. 7 K ORSCH, Religionsbegriff, S. 348. Darin ist auch eine „Anleitung zur Ordnung der Gefühle“ (ebd.) impliziert. 8 Für den Begriff seelischen Erlebens siehe B ARTH, U LRICH: Selbstbewusstsein und Seele, ZThK 101 (2004) S. 198-217. Im modernen Wandel vom Substanzdenken zum Funktionsdenken habe der Seelenbegriff der Substanzmetaphysik seine Schlüsselstellung verloren. Gleichwohl stehe der Begriff der Seele auch unter gewandelten Bedingungen für Unaufgebbares, wie B ARTH mit Bezug auf Kant, Husserl und Heidegger verdeutlicht: „Mit der Innenperspektive konstituiert sich ein Erlebnisfeld eigener Art. Die Phänomene, die wir unter dem Begriff der Seele zusammenfassen, betreffen also vornehmlich die in der Innenperspektive zugänglichen Erlebnisse eines Menschen.“ (S. 209) Im Sinne einer solchen Innenperspektive oder Erstperson-Perspektive ist auch hier von der Unverzichtbarkeit der Dimension seelischen Erlebens die Rede.

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Kapitel 9: Dialektik der Angst im Gottesverhältnis

9.1.2 Psychologische Zugänge Zunächst ist eine grundsätzliche Annäherung an heutige psychologische Deutungsformen der Angst zu vollziehen (9.1.2.1). Sodann wird eine Konzentration auf zwei psychologische bzw. therapeutische Theorien vorgenommen. Aufgrund ihres Verbreitungsgrades sowie ihrer wissenschaftlichen und historischen Bedeutung legen sich dabei die Berücksichtigung des psychoanalytischen (9.1.2.2) und des verhaltenstherapeutischen (9.1.2.3) Ansatzes nahe. Für die Verhaltenstherapie wird der Ausgangspunkt beim Lehrbuch der Verhaltenstherapie von Jürgen Margraf und Silvia Schneider 9 genommen; für die Psychoanalyse wird hingegen der Fokus auf Sigmund Freud gelegt. 9.1.2.1 Psychologie der Angst in naturalistischen und kulturalistischen Perspektiven Haben wir die Bedeutung der Angst für Luthers Theologie durch die unterschiedlichen Formen seines Denkens wie Phasen seiner Theologie verfolgt, so gilt es, den Ertrag abschließend in einen gegenwärtigen Kontext einzuzeichnen, der maßgeblich von der modernen Psychologie bestimmt ist. Denn konnte Kierkegaard im 19. Jahrhundert noch klagen, dass Angst vielfältig übersehen wird 10, so kann dies für das 20. und 21. Jahrhundert nicht behauptet werden. In Philosophie, Psychologie und Literatur ist Angst ein herausragender Gegenstand der Verständigung über das eigene Selbstverständnis. Die mehrfach vorgenommenen Selbstdeutungen der Gegenwart als „Zeitalter der Angst“ erweisen den hohen Stellenwert der Aufmerksamkeit auf dieses Phänomen. Die unterschiedlichen Deutungszugänge, die in den diversen Wissenschafts- und Kulturbereichen entwickelt worden sind, kann man dabei auf zwei Grundtypen zurückführen. Auf der einen Seite steht ein geisteswissenschaftlicher bzw. kulturalistischer Angstbegriff, wie er im Gefolge von Kierkegaard, Jaspers und Heidegger entwickelt worden ist. Auf der anderen Seite entwickelt sich mit zunehmendem Gewicht ein naturwissenschaftlicher Ansatz, der von der modernen Psychologie, der Biologie und den Neurowissenschaften auf empirischer Basis entfaltet wird. Im geisteswissenschaftlichen Zugang wurden Beschreibungen favorisiert, die Angst 9

MARGRAF, J ÜRGEN und SILVIA SCHNEIDER: Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Bd. 1: Grundlagen und Verfahren, Bd. 2: Störungen des Erwachsenalters – Spezielle Indikatoren – Glossar, 3., vollständig bearbeitete und erweiterte Auflage, Heidelberg 2009. 10 Vgl. K IERKEGAARD, S. 40. Vgl. aber auch N IETZSCHES Zarathustra: „Furcht nämlich, das ist des Menschen Erb- und Grundgefühl; aus der Furcht erklärt sich Jegliches, Erbsünde und Erbtugend.“ (N IETZSCHE, FRIEDRICH: Also sprach Zarathustra I-IV. Kritische Studienausgabe, Bd. 4, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988. S. 376-377.)

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mit Bezug auf eine Erlebensperspektive reflektieren. Vielfach sind diese Deutungsbemühungen von dem Ziel geleitet, die Mannigfaltigkeit menschlicher Angsterfahrungen zurückzuführen auf eine Grundangst, eine verstehbare Basis in der menschlichen Person, sei es das Phänomen menschlicher Freiheit, das menschliche Minderwertigkeitsgefühl, umgewandelte, da verdrängte Libido, eine Reaktion des Ichs im Dienste der Bedrohungsabwehr etc. 11 Nachdem lange Zeit solche Perspektiven die Deutungshoheit innehatten, die den Menschen primär als auf Verstehen angelegtes Kulturwesen betrachteten12, wurde zuletzt mehr und mehr eine biologische Perspektive auf den Menschen als Naturwesen maßgeblich.13 Eine biologische Beschreibung wird Furcht zunächst immer so einordnen: Sie ist eine in einem langen evolutionären Prozess erworbene Reaktionsmöglichkeit auf wahrgenommene Bedrohung. Diese Reaktion besteht in einer Steigerung der Sensitivität und somit einer Alarmierung der Motorik. In dieser Bereitschaftshaltung kommt es zu einer Antizipierung der speziell animalischen Reaktionen auf Gefahr: Flucht oder in Ausweglosigkeit Angriff und Aggression. Diese biologische Beschreibung ist in jüngster Vergangenheit vor allem neurologisch konkretisiert worden. Mögen naturalistische und kulturalistische Perspektiven zunächst gegenläufig erscheinen, ist doch auffällig, welche Gemeinsamkeiten sich zeigen. 14 1. Alle wesentlichen Deutungsansätze sind sich darin einig, dass Angst nicht mit Verdrängung oder Verleugnung überwunden werden kann. Nicht Angst an sich ist das eigentlich Problematische bzw. Krankhafte, sondern eher ein bestimmter Umgang mit ihr. 2. Einigkeit besteht ferner 11

Vgl. den Überblick über das Angstverständnis bei Freud und Adler in L ACHMANN, FRIEDRICH: Unsere Ängste und ihre Ursachen, München 1981. S. 62-91 und S. 92-130. Vgl. ferner klassische wie populäre Darstellung zum Thema Angst wie FROMM, ERICH: Die Furcht vor der Freiheit, Stuttgart 71998 (1941); R IEMANN, FRITZ: Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie, München/Basel 1992 (1961); R ICHTER, HORSTEBERHARD: Umgang mit Angst, Hamburg 1992. 12 Man vgl. nur, in welch starkem Maße sich Ärzte und Psychiater dieser Perspektive anschlossen, z. B. GEBSATTEL, V IKTOR E. FREIHERR V.: Anthropologie der Angst, in: Ders.: Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, ausgewählte Aufsätze, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1954. S. 378-389. 13 Vgl. ERNST T UGENDHAT (Ders.: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2003.), der sich mittels einer biologischen Perspektive philosophisch der menschlichen Furcht vor dem Tod annähert (S. 98ff.). 14 Daher wäre es wünschenswert, den bisweilen geschürten Gegensatz zu überwinden und stärker der komplementären Bedeutung beider Perspektiven Rechnung tragen zu können. Vgl. in diesem Sinne auch D ANIEL HELL: „Die größte Herausforderung dürfte sein, die Drittperson-Perspektive weiter auszudifferenzieren, ohne die ErstpersonPerspektive des Leidenden zu übergehen.“ (HELL, DANIEL: Seelenhunger. Der fühlende Mensch und die Wissenschaft vom Leben, Bern 2003. S. 130.)

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darin, dass keine Beschäftigung mit Angst daran vorbeigehen kann, dass diese sich als zutiefst ambivalentes Phänomen zeigt. Schon als grundlegende animalische Reaktion hat Angst ein Janusgesicht. Sie erweist sich einerseits als ein biologisch unverzichtbares Warnsystem, andererseits kann sie zur Lähmung führen und Leben gefährden. 15 Sie kann zur Macht werden, die das Leben nicht mehr bewahrt, sondern einschränkt, ja gefährdet. Daher ist Angst stets eine ambivalente Erfahrung, sie ist weder bloß nützlich noch nur gefährlich. Es ist eine Grundaufgabe, in der Lebensführung einen angemessenen Umgang mit Angst zu finden. Als Phänomen der natürlichen Lebenswirklichkeit verlangt Angst eine ausdrückliche Gestaltung. 3. Konsens besteht zuletzt darin, dass Angsterfahrungen stets deutungsbedürftig sind. Denn in jeder Angst stecken biographisch vermittelte Bewertungen, die ihrerseits kontingent bzw. veränderungsfähig sind. 16 Diese Deutungsbedürftigkeit der Angst ist gerade auch in naturwissenschaftlich-biologischer Perspektive immer deutlicher geworden. Die neuere Forschung zeigt, dass es offenbar zwei Entstehungswege der Angst gibt.17 Auf der einen Seite gibt es einen (evolutionär ausgebildeten) direkten Weg des Reizreaktionsmusters. Dabei führt der Reiz über den sensorischen Thalamus direkt in die Amygdala (Mandelkern), die die Entstehung von Emotionen steuert. Dieser kurze Weg braucht nur ein paar Millisekunden. Nach Antonio Damasio kommt dieser kurze Weg bei Schlüsselreizen wie Geschwindigkeit, Lautstärke, plötzlicher Veränderung zustande (z. B. also bei Blitzeinschlägen!). Der langsamere (etwa halb so schnell), indirekte Weg verläuft hingegen auch über die Großhirnrinde. Hier geschieht eine komplexere Verarbeitung der Reizinformation, unter anderem im Austausch mit den menschlichen Gedächtnisspeichern. Dabei wird eine Interpretation und Wertung des Reizes vorgenommen, was eine bewusstseinsgesteuerte Reaktionsbildung ermöglicht.

15 „Angst kann eine notwendige Warnfunktion übernehmen, ein Nichtbeachten ängstigender Ereignisse kann fatale Folgen haben. Auf der anderen Seite kann Angst ihrerseits lähmend wirken und Weiterentwicklung erschweren oder verhindern.“ (H ÜLSHOFF, THOMAS: Emotionen. Eine Einführung für beratende, therapeutische, pädagogische und soziale Berufe, München 32006. S. 77.) In biologischer Perspektive wird die lähmende Wirkung der Angst auf den animalischen Todstellreflex zurückgeführt, der für die heutigen Lebensbedingungen des Menschen als ein eher problematisches biologisches Erbe erscheint. 16 Im Blick auf die Vermittlungsfähigkeit unterschiedlicher philosophischer und therapeutischer Ansätze vgl. vor allem auch die Beiträge in: Das Phänomen Angst. Pathologie, Genese und Therapie, hrsg. von HERMANN LANG und HERMANN FALLER (stw 1148), Frankfurt/Main1996. 17 Vgl. die Darstellung von ANTONIO D AMASIO, S. 183ff. (D AMASIO, ANTONIO R.: Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn [List-Taschenbuch 60443], Berlin 42006.)

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Im zweiten Fall ist es also wesentlich für die Entstehung von Angst, dass ein Phänomen als Furcht erregend bewertet wird. Dieser Bewertungsvorgang geschieht im Durchgang durch den präfrontalen Cortex, die Großhirnrinde, in einem komplexen Abgleich mit bisherigen Erfahrungen und Erinnerungen. Somit ist solche Bewertung immer schon kulturell bzw. biographisch vermittelt. Ist die Bewertung eines Reizes als Gefahr also weder willkürlich noch unmittelbar durch das Bewusstsein zu steuern, sondern durch die bisher abgespeicherte Lebenserfahrung bestimmt, so ist andererseits diese Bewertungsebene auch veränderungsfähig, sei es durch neue Lebenserfahrungen, sei es durch bewusste Auseinandersetzung mit kognitiven Einstellungen. Daher zeigt sich auch in neurologischer Perspektive: Angst ist nicht vollständig naturalisierbar. Sie verwickelt durch ihre Nichtnotwendigkeit in Deutungsvorgänge, die Aufgabe bewusster Lebensführung sind. An dieser Stelle ergibt sich die Anschlussfähigkeit für Auseinandersetzungen mit Angst wie im Falle Martin Luthers. Der Stellenwert von Deutungen der Angst ließ sich in den verschiedenen Phasen seiner gedanklichen Entwicklung ausführlich exemplifizieren. Für die Genese seiner Theologie ist es entscheidend, dass Luther einschneidende Veränderungen seines Denkens bzw. seines Glaubens als theologische Umdeutungen beschreiben konnte, die sich zentral auf die Erfahrung von und den Umgang mit Angst bezogen. Gerechtigkeit18 bzw. Buße19 waren gedankliche Komplexe, die Luther im Lebensvollzug als stark angstauslösend erfuhr. Jeweils entdeckte er eine grundlegend neue Deutung dieser Begriffe, die zu einer erneuerten Erfahrung führte, die Luther als heilsam und befreiend beschrieb. Daher kann Luthers Umgang mit Furcht als Deutungsprozess rekonstruiert werden. Weil in diesem Deutungsprozess die Möglichkeiten der Erfahrung und der Bewältigung von Angst im Gottesverhältnis in seltener Radikalität ausgelotet werden, hat Luther in der Frage nach einem theologischen Verständnis von Angst eine so anregende und herausfordernde Bedeutung.

18 19

Vgl. Luthers Vorrede von 1545: WA 54 179-187 = LDStA 2, S. 491-509. Vgl. den Widmungsbrief an Staupitz vom 30. Mai 1518: WA 1 525-527 = LDStA 2, S. 17-23.

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9.1.2.2 Die Psychoanalyse (Sigmund Freud) Die überragende Bedeutung Sigmund Freuds (1856-1939)20 als Pionier psychologischer Forschung und als Entwickler des therapeutischen Ansatzes der Psychoanalyse ist heute unstrittig. Freud selbst hat in seinem Ansatz drei Dimensionen unterschieden: Es handelt sich bei der Psychoanalyse um ein besonderes „Verfahren zur Untersuchung seelischer Vorgänge“, um „eine Behandlungsmethode neurotischer Störungen“ sowie schließlich um eine aus psychologischen Einsichten gewonnene wissenschaftliche Disziplin insgesamt (z. B. eine spezifische Theorie des Menschen und seiner psychosozialen Entwicklung). 21 Zugespitzt auf unser Thema wollen wir zunächst a) den wissenschaftlichen Ansatz (Untersuchungsverfahren) und das Menschenbild entfalten. Konkretisiert wird dies dann b) im Blick auf die Theorie und die Pathologie der Angst. Zuletzt soll c) vom therapeutischen Ansatz (Behandlungsmethode) der Psychoanalyse die Rede sein. a) Ansatz und geschichtliche Entfaltung der Psychoanalyse Am Anfang der Entwicklung Sigmund Freuds steht das Bestreben des Mediziners, analog zu körperlichen Krankheiten auch seelische Störungen heilen zu wollen. Dieser medizinisch-naturwissenschaftliche Ausgangspunkt ist nicht nur in den Anfängen bestimmend, sondern hält sich auch in den weiteren Phasen seiner Entwicklung durch. In der klinischen Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Joseph Breuer kam es zunehmend zu einer psychologischen Erweiterung dieser Perspektive. Dabei trafen mehrere Momente zusammen: 1. Zum einen erkennt Freud schon in dieser Frühzeit, welchen wesentlichen Stellenwert das Gespräch bzw. die intersubjektive Interaktion in der Behandlung der Patienten erlangt (talking cure 22). 2. Die Auflösung seelischer Störungen zeigt sich in der Therapie zunehmend verwoben mit der Arbeit an Erinnerung und Biographie der Betroffenen. 20 Vgl. vor allem LOHMANN, H ANS-M ARTIN und J OACHIM P FEIFFER (Hrsg.): FreudHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2006. Zum Überblick siehe LOHMANN, HANS-MARTIN: Die intellektuelle Biographie, in: ebd., S. 49-76. Siehe auch BRENNER, CHARLES: Grundzüge der Psychoanalyse, Frankfurt/Main 1976; STORR, ANTHONY: Freud (Herder/Spektrum Meisterdenker), Freiburg 1999. FREUD wird zitiert nach FREUD, S IGMUND: Gesammelte Werke, London 1940-1952 und Frankfurt/Main 1968/1987. 21 Vgl. FREUD, SIGMUND: „Psychoanalyse“ und „Libidotheorie“ (1923), GW XIII. S. 209-233. S. 211. 22 Dieser Ausdruck stammt von der berühmten Patientin „Anna O“. Im Gespräch machte sie die Erfahrung, dass das Aussprechen ihrer Phantasien zu einer Aufhebung von Symptombildungen führte und eine merkliche Besserung ihres Gesamtzustands nach sich zog. Daher bezeichnete sie dieses Vorgehen als „talking cure“ oder „chimney sweeping“. Vgl. FREUD, SIGMUND: Über Psychoanalyse (1910), GW VIII. S. 1-60. S. 7.

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3. Besondere Bedeutung erlangt Freuds Erfahrung mit seiner Selbstanalyse, in der er allein wie im Austausch mit seinem Freund Wilhelm Fließ seine eigene Lebensgeschichte einer gewissenhaften Betrachtung unterwirft. Von Anfang an ist somit im psychoanalytischen Verfahren die Theoriebildung mit der klinischen Praxis eng verwoben, wie in der klinischen Praxis die Erfahrung im Umgang mit den Patienten nicht zu trennen ist von der Selbsterfahrung des Analytikers. In dieser Perspektive entwickelte sich allmählich das spezifische Bild vom Menschen, wie es für die Psychoanalyse prägend werden sollte. Am Anfang der eigentlichen Theoriebildung stand die Entdeckung des Unbewussten, zu dem mittels der Analyse von Träumen oder Fehlleistungen des Alltagslebens (Versprecher etc.) Zugang zu gewinnen ist. Am Ende der Traumdeutung (1900) 23 stellte Freud die Zuordnung von Unbewusstem, Vorbewusstem und Bewusstem vor, wie sie den Grundriss seines ersten topischen Modells bilden sollte. Seine Leistungsfähigkeit musste dieses Modell in der Erklärung des menschlichen Trieblebens erweisen. Sowohl in seiner Selbstanalyse wie im Umgang mit sämtlichen seiner frühen Patienten war Freud zu der Erkenntnis gelangt, dass bei allen Bildungen von Neurosen sexuelle Erfahrungen im Hintergrund standen. In seiner Anfangsphase ging Freud davon aus, dass reale Sexualerlebnisse der frühen Kindheit die Patienten traumatisiert hatten, was sich nun in unterschiedlichen Symptombildungen niederschlug. Allmählich ging Freud dazu über, die Möglichkeit solcher Traumatisierung zwar nicht völlig zu bestreiten, aber zunehmend unbewusste Phantasien und Wünsche bzw. den Prozess ihrer Verdrängung am Ausgangspunkt der neurotischen Störung zu sehen. Verdrängung ist dabei der entscheidende Vorgang, in welchem Sexualtriebe (Libido) nicht nur an ihrer Verwirklichung, sondern an ihrer Bewusstwerdung gehindert werden. Deren nicht abgeführte Energie ist es, die sich in Störungen aller Art zur Geltung bringt. Mit seiner These der zentralen Bedeutung menschlicher Sexualität hatte Freud teil am neuen Interesse an Sexualtheorie, das sich vielfach um die Jahrhundertwende bemerkbar machte. Zugleich sorgte seine kontraintuitive Behauptung frühkindlicher Sexualität für gleichermaßen Befremden wie Aufmerksamkeit. Die Beschreibung der psychosexuellen Phasen im menschlichen Leben (orale, anale und phallische), wie sie nach Veröffentlichung der Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) 24 zum eisernen Bestand der Psychoanalyse gehörte, legte den Grundriss einer generellen Entwicklungstheorie des menschlichen Lebens fest. Mit der Verknüpfung von phasenspezifischen Entwicklungsherausforderungen des Menschen mit bestimmten Krankheitsbildern vertiefte Freud die enge Zusammengehörig23 24

FREUD, SIGMUND: Die Traumdeutung (1899/1900), GW II/III. GW V. S. 27-145.

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keit einer psychopathologischen Krankheitslehre mit einer biographischganzheitlichen Sicht des Lebens seiner Patienten. Als die Unterteilungen des dynamischen Modells des Unbewussten, Bewussten und Vorbewussten immer mehr Phänomenen gegenüber an ihre Grenze stießen, entwickelte Freud ein neues Strukturmodell der Seele. In seinem zweiten topischen Modell etablierte er die Unterscheidung von Ich, Es und Über-Ich. Letztlich verarbeitete Freud mit diesem metapsychologischen Ordnungsmodell die therapeutischen Erfahrungen der letzten Jahre, die sich mit dem alten Modell zunehmend weniger fassen ließen. Damit war keine Abkehr vom Triebmodell gegeben, das Freud in seiner Schrift Jenseits des Lustprinzips (1920) 25 zur einer dualistischen Theorie der beiden Grundtriebe der Libido und des „Todestriebes“ ausgebaut hatte. Wohl aber traten neben der Triebdynamik und dem Verdrängungsgeschehen viel stärker die Anpassungsleistungen des Ichs ins Zentrum der Aufmerksamkeit. 26 Dem naturwissenschaftlichen Determinismus zum Trotz wurde damit ein neuer Ausgangspunkt in der menschlichen Subjektivität begründet, der sich auch als Grundlage einer übersichtlichen Darstellung der Krankheits- wie der Therapielehre erwies. Bis zuletzt hielt sich bei Freud ein spannungsvolles Verhältnis von medizinisch-naturwissenschaftlichem Anspruch und zunehmend interpretativer, hermeneutischer und kulturwissenschaftlicher Praxis. 27 Auf der einen 25 26

GW XIII. S. 1-69. Gleichwohl bleibt das Ich bei FREUD in einer merkwürdigen Schwebe befangen. Auf der einen Seite vertritt es gegenüber dem Es die Vernunft und das Selbstbewusstsein, ist mit der Bestimmung der Selbststeuerung und der bewussten Erschlossenheit aller seelischen Funktionen betraut; auf der anderen Seite kann F REUD dann doch wieder verblüffend grob und dinghaft vom Ich als evolutionär ausdifferenzierter Außenseite des Es reden. Zu Recht hat E ILERT HERMS diese Unklarheit zurückgeführt auf die unbefriedigende Befangenheit FREUDS in einem naturwissenschaftlichen Positivismus (vgl. HERMS, EILERT: Die Funktion der Realitätsauffassung in der Psychologie Sigmund Freuds. Überlegungen zur möglichen Bedeutung von Theo-logie für die psychoanalytische Theoriebildung, in: Ders.: Theorie für die Praxis – Beiträge zur Theologie, München 1982. S. 214-252. S. 229f.). Insofern sich deutlich nachvollziehen lässt, dass letztlich die klinischen Erfahrungen wesentliche Anstöße zur Entwicklung der Ich-Psychologie gegeben haben, ist deren weitere Fortentwicklung innerhalb der psychoanalytischen Tradition mehr als folgerichtig. 27 J ÜRGEN H ABERMAS prägte diesbezüglich den viel zitierten Ausdruck vom „szientistischen Selbstmissverständnis“ (Ders.: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/Main 1968. S. 300ff.) bei Freud. Damit wurde sicher zu Recht betont, dass die klinische Praxis und die theoretische Entwicklung sich nicht unter naturwissenschaftlichen Kategorien subsumieren lassen, sondern mit ihrer Interpretationspraxis eine große Nähe zur hermeneutischen Tradition besitzen. Umgekehrt hat es der Psychoanalyse sicher nicht nur zum Guten gereicht, sie geradezu prinzipiell auf einen unüberwindlichen Gegensatz zum Modell naturwissenschaftlicher Erklärung festzulegen. Einflussreich wurde dabei neben H ABERMAS vor allem R ICOEUR, P AUL: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud,

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Seite wuchs bei ihm unverkennbar das Bewusstsein, sich von der medizinisch-biologischen Praxis weit entfernt zu haben; auf der anderen Seite blieb er tief verwurzelt in der Hochschätzung naturwissenschaftlicher Wahrheitsansprüche. Darum konnte Freud bis zuletzt festhalten am Anspruch eines naturwissenschaftlichen Paradigmas für die Psychoanalyse. 28 Gleichwohl kann man sagen: Spätestens mit der Wende zur Ich-Psychologie in den 1920er Jahren hat Freud eine Tendenz angestoßen, die sich in der Psychoanalyse noch weit über seinen Tod hinaus in einer Fülle von theoretischen wie therapeutischen Neubildungen fortsetzen sollte. 29 Es ist die Theorie und Pathologie der Angst, an der sich diese Entwicklung besonders gut nachvollziehen lässt. b) Theorie und Pathologie der Angst Schulübergreifend anerkannt ist inzwischen, dass Freud bis heute überzeugende Beschreibungen des Phänomens Angst entwickelt hat. 30 Was man gegenwärtig als Panikattacke bezeichnen würde, wurde von ihm als Angstanfall eindrücklich und bis heute gültig beschrieben: Frankfurt/Main 1969. Zuspitzungen, dass die analytische Erfahrung „weit größere Ähnlichkeit mit dem Verstehen als mit dem Erklären“ (S. 383) habe und insofern jede Annäherung an die akademische Psychologie als „Verkennung“ (S. 378) oder gar an den Behaviorismus als „Verrat“ (S. 366) zu begreifen sei, haben vielleicht mehr als nötig einen Kontaktverlust der unterschiedlichen psychologischen Ansätze begünstigt. Die zunehmende Öffnung psychoanalytischer Forscher gegenüber empirischen Untersuchungs- und Überprüfungsmethoden etwa in der Säuglingsforschung (vgl. dazu Veröffentlichungen wie D ORNES, MARTIN: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt/Main 1993 etc.) zeigt, dass die Gegensatzbildungen vergangener Jahrzehnte nicht immer nötig oder hilfreich waren. 28 Vgl. nur die Zukunftsvision am Ende seiner Schrift Abriß der Psychoanalyse: „Die Zukunft mag uns lehren, mit besonderen chemischen Stoffen die Energiemengen und deren Verteilung im seelischen Apparat direkt zu beeinflussen. Vielleicht ergeben sich noch ungeahnte andere Möglichkeiten der Therapie.“ (GW XVII. S. 63-138. S. 108) 29 Vgl. nur die bekannten Weiterentwicklungen der Folgezeit (Ich-Psychologie nach Heinz Hartmann und Anna Freud, Objektbeziehungstheorie nach Melanie Klein und Wilfred Bion oder die Selbstpsychologie nach Heinz Kohut), die alle in der ichpsychologischen Wende Freuds ihren Ausgangspunkt genommen haben. Bei allen Differenzen ist die Tendenz deutlich, das Ich in seiner Funktion als organisierendes Zentrum (im Blick auf seine Konflikte, seine primären Beziehungen etc.) auszubauen. Im Blick auf den aktuellen Stand der Lehrentwicklung vgl.: KUTTER, PETER und T HOMAS MÜLLER: Psychoanalyse. Eine Einführung in die Psychologie unbewusster Prozesse, Stuttgart 2008. Zur Pathologie der Angst vgl. vor allem S. 201ff.; 210ff. 30 Vgl. zur Angst bei Freud und in der Psychoanalyse grundlegend M EYER, G UIDO: Konzepte der Angst in der Psychoanalyse. Bd. 1: 1895-1950, Frankfurt/Main 2005. Bd. 2: 1950-2000, 1. Halbband, Frankfurt/Main 2007. Zur Darstellung Freuds und seiner Entwicklung siehe M EYER I, S. 27-104. In gedrängter Form vgl. die klassische Darstellung bei BRENNER, S. 72ff.

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„Ein solcher Angstanfall besteht entweder einzig aus dem Angstgefühle ohne jede assoziierte Vorstellung oder mit der nahe liegenden Deutung der Lebensvernichtung, des ‚Schlagtreffens‘, des drohendem Wahnsinns“. Verbunden ist mit der Angstempfindung „eine Störung irgendeiner oder mehrerer Körperfunktionen, der Atmung, Herztätigkeit, der vasomotorischen Innervation, der Drüsentätigkeit“. „Aus dieser Kombination hebt der Patient bald das eine, bald das andere Moment besonders hervor, er klagt über ‚Herzkrampf‘, ‚Atemnot‘, ‚Schweißausbrüche‘, ‚Heißhunger‘ u. dgl., und in seiner Darstellung tritt das Angstgefühl häufig ganz zurück oder wird recht unkenntlich als ein ‚Schlechtwerden‘, ‚Unbehagen‘ usw. bezeichnet.“ 31

Neben diesen anfallartigen Erscheinungen von Angsterleiden gibt es eine weitere Form des Angsterlebens, die Freud so beschrieb: „Eine allgemeine Ängstlichkeit, eine sozusagen frei flottierende Angst, die bereit ist, sich an jeden irgendwie passenden Vorstellungsinhalt anzuhängen, die das Urteil beeinflusst, die Erwartungen auswählt, auf jede Gelegenheit lauert, um sich rechtfertigen zu lassen. […] Personen, die von dieser Art Angst geplagt werden, sehen von allen Möglichkeiten immer die schrecklichste voraus, deuten jeden Zufall als Anzeige eines Unheils, nützen jede Unsicherheit im schlimmsten Sinne aus.“32

Von Anfang an spielte das Phänomen der Angst in diesen Ausprägungen eine Schlüsselrolle in den Theoriebildungen der Psychoanalyse. „Es steht fest, dass das Angstproblem ein Knotenpunkt ist, an welchem die verschiedensten und wichtigsten Fragen zusammentreffen, ein Rätsel, dessen Lösung eine Fülle von Licht über unser ganzes Seelenleben ergießen müsste.“ 33 Im Laufe seiner Entwicklung hat Freud zwei Theorien der Angst entwickelt. Die frühe Theorie ist ganz bestimmt von der zentralen Entdeckung des Unbewussten sowie des Verdrängungsmechanismus. Freuds erste Angsttheorie vertritt dabei einen somatischen Ansatz. Angst wird als Folge des zentralen Mechanismus der Verdrängung aufgefasst. Das frühe Ich weiß sich des Ansturms eines Libidotriebs nicht zu wehren. Nach erfolgter Verdrängung wird die Angst somatisch umgewandelt in den Affekt der Angst. „Die Angst ist also die allgemein gangbare Münze, gegen welche alle Affektregungen eingetauscht werden oder werden können, wenn der dazugehörige Vorstellungsinhalt der Verdrängung unterlegen ist.“ 34 Die 31 FREUD, SIGMUND: Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomenkomplex als „Angstneurose“ abzutrennen (1895), GW I. S. 315-342. S. 319. Hochinteressant und aktuell ist auch die Beobachtung, dass „nahezu jedes begleitende Symptom den Anfall ebenso wohl allein konstituieren kann wie die Angst selbst.“ (Ebd.) 32 FREUD, SIGMUND: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/1917), GW XI. S. 412. Natürlich kennt FREUD auch die klassischen Beispiele der Phobien, die sich auf Tiere, zu enge oder zu weite Plätze etc. beziehen können. Vgl. nur den berühmten „kleinen Hans“ (GW VII. S. 241-377). 33 GW XI, S. 408. 34 GW XI, S. 419.

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Verdrängungstätigkeit ist in dieser Theorie der Schlüssel sowohl zur Entwicklung der Krankheitslehre wie zur Symptombildung. Für die Krankheitslehre insgesamt ist charakteristisch, dass Freud immer einen typischen Zusammenhang von Symptomen (Phobie, Anfall etc.) zusammenbringt mit einer Entstehungstheorie. Die einzelnen Symptome sind insofern Ausdruck einer bestimmten Störung. Phobien gehören zur Hysterie, die Angstanfälle sind Ausdruck der Angstneurose etc. Freuds frühe Theorie der Angst litt daran, dass sie eine Reihe von grundlegenden Fragen nur sehr unzureichend beantworten konnte. Zum einen musste die These einer Verwandlung von Triebenergie je länger je mehr unbefriedigend bleiben. Warum findet eine solche Transformation statt und auf welchen Wegen? Noch gewichtiger ist die Frage: Wenn Angst die Folge von Verdrängung ist, was ist dann deren Ursache? Ist es intuitiv nicht viel plausibler, Angst als Ursache von Verdrängung aufzufassen? Dringend wurden solche Fragen durch die zunehmende klinische Erfahrung in den Analysen, dass bei vielen Patienten sich herausstellte, dass sie unbewusst von tiefen Ängsten bestimmt waren, ohne dies zunächst wahrhaben zu wollen. Wenn also Angst offensichtlich verdrängt werden kann, wie kann sie dann exklusiv Folge der Verdrängung sein? Im Bestreben, diese Fragen zu lösen, entwickelte Freud allmählich seine zweite Angsttheorie, die in wichtigen Grundzügen gleichursprünglich mit seinem zweiten topischen Modell ist, dem reifen Strukturmodells seiner Metapsychologie. Es ist eine wesentliche Leistung der neuen Zuordnung von Ich, Es und Über-Ich im Sinne seiner epochalen Schrift Das Ich und das Es (1923), das Angstproblem auf eine neue Grundlage zu stellen. Am Ende der prinzipiellen Ausführungen ist die Behandlung der Angstfrage die Probe aufs Exempel, in der die neue Zuordnung ihre strukturierende Kraft erweisen kann. Die grundlegende Neuorientierung wird thetisch zugespitzt: „Das Ich ist ja die eigentliche Angststätte.“ 35 Das Angstproblem wird nun nicht mehr vom dynamischen Tatbestand des Verdrängungsvorgangs her entschlüsselt, sondern von der Topik des psychischen Apparats her strukturiert. Die Angst ist eine ursprüngliche Erlebensweise des Ichs, die Verdrängung somit eine Folge von Ichangst und nicht deren Ursache. Aus der Schlüsselrolle des Ichs ergeben sich nun auf elegante Weise die Grundmöglichkeiten ängstlichen Erlebens. Erfährt das Ich eine Bedrohung durch die Außenwelt, so empfindet es Realangst. Fühlt es sich den Anforderungen der Triebwelt mit ihrem Lustprinzip nicht gewachsen, erleidet es Triebangst; sind es hingegen die überstrengen, ja tyrannischen Vorwürfe des Über-Ichs, die dem Ich zu schaffen machen, ist es von Gewissensangst betroffen (in der Perspektive des entwicklungsgeschichtlichen Phasenmo35

FREUD, SIGMUND: Das Ich und das Es (1923), GW XIII. S. 235-289. S. 287.

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dells als „Kastrationsangst“ gedeutet). Die immer neuen Diskussionen unter den Analytikern über Formen von Urangst (bezogen auf den Tod oder das Geburtserlebnis im Sinne Otto Ranks) ließen Freud seine neue Angsttheorie in seiner Monographie Hemmung, Symptom und Angst (1926)36 im Zusammenhang vorstellen. Ausgehend vom neuen Strukturmodell entwickelt Freud die Gründe, die zur Revision der frühen Angsttheorie geführt haben. Klassische, im Horizont der frühen Theorie vollzogene Untersuchungen und Darstellungen wie „Der kleine Hans“ oder der „Wolfsmann“37 werden einer Relecture im Licht der neuen Einsichten unterzogen. Die Krankheitskonzepte der Phobie, der Zwangsstörung oder der Angstneurose werden mit ihrer jeweiligen Dynamik vom auslösenden Konflikt her, mit ihren Verdrängungsvorgängen und der anschließenden Symptombildung entwickelt. Die Neurose insgesamt lässt sich dabei als vergeblicher Versuch der Angstbewältigung fassen. Die Verdrängung ist „im Grunde ein Fluchtversuch“ 38, die in einer Phase der frühkindlichen Ichschwäche vielleicht unvermeidlich war, in ihrer Symptomatik aber den Patienten „infantil bleiben und verjährte Angstbedingungen nicht überwinden“39 lässt. Gleichwohl bleibt in Hemmung, Symptom und Angst Freuds Darstellungsweise von einem zurückhaltenden, skeptischen Tonfall getragen. Die weitere Entwicklung der psychoanalytischen Theoriebildung ist nicht zuletzt darin begründet, dass Freud alles andere als davon überzeugt war, dem Phänomen Angst schon umfassend gerecht geworden zu sein. Bei aller Unterschiedlichkeit der nachfolgenden Entwicklung kann man zumindest dies feststellen, dass sich an der Schlüsselstellung der Angst für das Verständnis seelischer Störungen nichts geändert hat. 40

36 37

GW XIV, S. 111-205. FREUD, SIGMUND: Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (1909), GW VII. S. 241-377; Ders.: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose (1918), GW XII. S. 27157. Vgl. dazu GW XIV, S. 129-139. 38 GW XIV, S. 185. Vgl. auch S. 176f. 39 GW XIV, S. 180. 40 Vgl. die groß angelegte Überblicksdarstellung bei G UIDO M EYER, dem es vom Problem der Angst her gelingt, mindestens eine selektive Geschichte der Psychoanalyse bei Freud und nach ihm zu schreiben. In seiner Zusammenfassung des ersten Bandes hält M EYER fest, worin in der weiteren Entwicklung Kontinuität und Wandel sich ausgedrückt haben (M EYER I, S. 307-314): Geblieben ist es beim ich-psychologischen Ausgangspunkt der 1920er Jahre (von Außenseitern wie Wilhelm Reich abgesehen), geblieben ist es auch beim Konfliktmodell psychischer Störungen, sei es im biographischen, sei es im instanzentheoretischen Sinn. Erhalten blieb auch der allem Reduktionismus abholde Anspruch, das Phänomen Angst in seiner biologischen, psychologischen und sozialen Bedingtheit als Warnsystem zu begreifen, das sich in emotionaler wie kognitiver Weise zur Geltung bringt.

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c) Therapeutische Verfahrensweisen Abschließend ist der Grundriss des therapeutischen Verfahrens vorzustellen, den die Psychoanalyse entwickelt hat. Konzentrieren wir uns sogleich auf die Beschreibungen der Reifezeit Freuds. Ausgangspunkt ist das Verständnis seelischer Not als eine innere Konfliktsituation im Sinne des zweiten topischen Modells. Die unterschiedlichen Bedürfnisse und Ansprüche von Es, Gewissen und Außenwelt verstricken das Ich in einen Konflikt, dem gegenüber es sich als zu schwach erweist. „Das Ich ist durch den inneren Konflikt geschwächt, wir müssen ihm zur Hilfe kommen.“ 41 Die Therapie macht sich in dieser Situation die Partei des Ichs zu eigen, indem der Arzt und das Ich „eine Partei bilden gegen die Feinde, die Triebansprüche des Gewissens und die Gewissensansprüche des ÜberIch.“ 42 Grundlage der Therapie ist eine regelrechte Vertragssituation. Das Ich verspricht Offenheit, der Arzt Diskretion und Einbringung seiner Erfahrung. Ziel dieses Kontrakts ist die Stärkung des Ichs zum Zwecke einer besseren Selbstbehauptung im Konflikt der unterschiedlichen Ansprüche: Es soll dem „Ich die Herrschaft über verlorene Bezirke des Seelenlebens wiedergegeben“ 43 werden. Im idealtypischen Vollzug des Therapieprozesses können (analog zu Freuds berühmten Aufsatz) drei unterschiedliche Momente unterschieden werden: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten.44 Zunächst vollzieht sich die Analyse als Arbeit an der Erinnerung. Der Umgang mit den freien Assoziationen, den Träumen etc. dient dabei der Aufspürung verdrängter, der Erinnerung nicht zugänglicher Teile der Seele. Ziel ist dabei ein Prozess der Selbsterkenntnis, in dem es um ein „Bewusstmachen des Unbewussten“ 45 geht. Dabei geht es nicht um eine vollständige Auflösung seelischer Konflikte. Bescheidener formuliert gilt: In der „Übersetzung des Unbewussten in Bewusstes […] heben wir die Verdrängungen auf, beseitigen wir die Bedingungen für die Symptombildung, verwandeln wir den pathogenen Konflikt in einen normalen“ 46. Nicht um die Beseitigung der Konflikte geht es dabei, sondern um die Befähigung, sich ihnen in reifer und bewusster Weise zu stellen. In diesem Prozess kommt es nach und nach zu einem Phänomen, dessen Handhabung die eigentliche Schlüsselrolle in der analytischen Therapie zukommt. In der Begegnung mit dem Therapeuten entwickelt sich auf 41 42 43 44

GW XVII, S. 98. Ebd. Ebd. FREUD, SIGMUND: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse II (1914), GW X. S. 126-136. 45 GW XI, S. 451. 46 Ebd.

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Seiten des Patienten zunehmend eine Wiederkehr solcher Gefühle und Einschätzungen, die ihre Gestalt in der Kindheit des Analysanden gewonnen haben. Es kommt zu einer Übertragung grundlegender Einstellungen und Gefühlslagen auf den Analytiker (der durch seine Neutralität und Abstinenz einen solchen Prozess auch wissentlich ermöglicht). Kurz: Die seelische Problemlage hört auf, nur ein gesuchtes Objekt der „archäologischen“ Rekonstruktion zu sein, es kommt zur Wiederholung, zum realen Ausagieren in der therapeutischen Interaktion. Was anfänglich ein Hindernis der therapeutischen Arbeit zu sein schien, wird recht betrachtet zu einem „Hilfsmittel von unersetzlichem Wert“ 47. Die Bearbeitung dessen, was sich in der Interaktion von Therapeut und Patient unvermeidlich einstellt, ist der eigentliche Schlüssel der analytischen Behandlung. Diese Wiederholung der Vergangenheit wird zum Ansatzpunkt, die in der frühkindlichen Entwicklung des Analysanden ausgebliebenen Reifungsschritte nun nachzuholen. Es kann zu einer regelrechten „Nacherziehung“ 48 kommen, in denen das Ich die Reifung vollzieht, die ihm in seiner biographischen Genese verwehrt war. Denn in der Interaktion mit dem Analytiker kann es für das Ich zu einem zweifachen Fortschritt kommen. Zum einen ist ihm nun ein Bewusstwerden derjenigen Dynamik möglich, die nicht nur seine Kindheit, sondern auch sein weiteres Leben nachhaltig geprägt hat. In dieser kognitiven Dimension kommt es zu einer „Erweiterung seiner Selbsterkenntnis“ 49. Da die Verdrängung dieser Umstände eine bisher konstitutive Bedeutung für den Selbsterhalt des Ichs hatte, ist es nur zu natürlich, wenn sich dieser Prozess nicht ohne eine Phase des Nichtwahrhabenwollens vollzieht (Widerstand). Gerade darin hat die Erfahrung gegenwärtigen Ausagierens ihre so besondere Bedeutung. Neben diesem kognitiven Moment vertiefter Einsicht in die eigene Geschichte mit ihren Verstrickungen tritt ein zweites Moment, nämlich das einer korrigierenden emotionalen Erfahrung. In seinem Beziehungsangebot als „Autorität und Elternersatz, als Lehrer und Erzieher“ 50 ermöglicht der Therapeut dem Patienten einen Weg, aus dem unbewussten Wiederholungszwang auszusteigen. Er kann die Erfahrung machen, dass das reifere Ich des Therapeuten sich anders verhält, als es die eigenen Prägepersonen der frühen Kindheit getan haben. Das Ich gewinnt in solcher Durcharbeitung eigener verfehlter Handlungsmuster und ihrer schrittweisen Ersetzung durch reifere, angemessenere Handlungsoptionen einen vermehrten Spielraum an Autonomie zurück. Es ist in seinem Verhalten weniger festgelegt auf ste-

47 48 49 50

GW GW GW GW

XVII, XVII, XVII, XVII,

S. 100. S. 101. S. 103. S. 107.

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reotype Rollenzuschreibungen, sondern erlangt eine erweiterte Fähigkeit zur Objektdifferenzierung. Freud war sich der Tatsache bewusst, dass ein solches Verfahren nicht ohne den Aufwand einer erheblichen Menge an Zeit praktizierbar sein würde.51 Denn die Therapie hat nicht nur die Beseitigung einzelner Symptome oder die Verbesserung des Befindens zum Ziel, sondern die Nachreifung des Ichs in der Aufarbeitung seiner eigenen Geschichte mit den darin gegebenen Deformationen des Erlebens und Verhaltens. Nicht bloße Überwindung von Störung, sondern Autonomiegewinn des Ichs insgesamt sind Zielhorizont, oder wie Freud es in seiner berühmten Formulierung zuspitzte: „Wo Es war, soll Ich werden. Es ist eine Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung des Zuydersee.“ 52 Die Realisierung der Größe solcher Kulturarbeit ließ daher die Therapieziele immer auch bescheiden formulieren. „Es gibt fast immer Resterscheinungen, ein partielles Zurückbleiben.“53 Nüchtern heißt es insofern: „Man wird sich nicht zum Ziel setzen, alle menschlichen Eigenarten zugunsten einer schematischen Normalität abzuschleifen oder gar zu fordern, dass der ‚gründlich Analysierte‘ […] keine inneren Konflikte entwickeln dürfe. Die Analyse soll die für die Ichfunktion günstigsten psychologischen Bedingungen herstellen; damit wäre ihre Aufgabe erledigt.“54

9.1.2.3 Verhaltenstherapie (Jürgen Margraf) a) Ansatz und Entfaltung der Verhaltenstherapie Ausgehen lässt sich von Margrafs Definition der Verhaltenstherapie und ihren anschließend formulierten neun Grundprinzipien: „Die Verhaltenstherapie ist eine auf der empirischen Psychologie basierende psychotherapeutische Grundorientierung. Sie umfasst störungsspezifische und unspezifische Therapieverfahren, die aufgrund von möglichst hinreichend überprüftem Störungswissen und psychologischem Änderungswissen eine systematische Besserung der zu behandelnden Problematik anstreben.“55

Diese Definition und die anschließenden Grundprinzipien lassen sich letztlich auf drei prinzipielle Orientierungen zurückführen. 51 Vgl. vor allem FREUD, SIGMUND: Die endliche und die unendliche Analyse (1937), GW XVI. S. 59-99. 52 FREUD, SIGMUND: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933), GW XV. S. 86. Klar ist dabei, dass man diese Formel nicht wörtlich, sondern als griffige Überspitzung des erstrebten Autonomiegewinns lesen muss. Nicht an einer Ersetzung des Es ist zu denken, sondern an einen Zugewinn eigener Selbstdurchsichtigkeit und bewusster Lebensführung im Ausgleich von Lust- und Realitätsprinzip. 53 GW XVI, S. 73. 54 GW XVI, S. 96. 55 M ARGRAF/SCHNEIDER, Lehrbuch I, S. 6.

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1. Wissenschaftsorientierung. Zum grundlegenden Selbstverständnis gehört das Bewusstsein, das in der empirischen Psychologie erworbene Wissen therapeutisch umsetzen zu wollen (Prinzip 1). Als Grundlagenwissenschaft bietet die empirische Psychologie auf der einen Seite Störungsund Veränderungswissen und setzt auf der anderen Seite methodische Standards, was die empirische Überprüfung des eigenen Handelns angeht (Prinzip 9). Diese konsequente Wissenschaftsorientierung mit ihrer Wertschätzung nicht nur der Nachvollziehbarkeit, sondern auch der Nachprüfbarkeit, macht die besondere Transparenz der Disziplin aus (Prinzip 7). Diesen Gesichtspunkt führt Margraf mittels der fünf methodischen Grundprinzipien weiter aus (Suche nach Gesetzmäßigkeiten, Beobachtbarkeit, Operationalisierbarkeit, Testbarkeit und experimentelle Prüfung). 56 In ihren Anfängen stand die Psychologie als universitäre, wissenschaftliche Disziplin unter verschiedenen geistigen Einflüssen, die sie mal mehr als Teildisziplin der Medizin, mal mehr als hermeneutische Form der Geisteswissenschaften, mal als eigenständige, naturwissenschaftlich ausgerichtete Erforschung des menschlichen Erlebens und Verhaltens verstanden. Dabei hat sich der zuletzt genannte Trend immer eindeutiger durchgesetzt. Erfahrungsorientierung, Ausgang von der empirischen Wahrnehmung, der Versuch, durch Messung, statistische Auswertung und Experiment das Wissen um psychologische Zusammenhänge systematisch zu erweitern, haben der Psychologie das Selbstbewusstsein einer empirischen (Natur-) Wissenschaft gegeben. Im inneren Fächerspektrum ist in den letzten Jahrzehnten das Gewicht biologischer und neurophysiologischer Grundlagenfächer eher noch gewachsen, etwa im Vergleich mit der Berücksichtigung historischer oder soziologischer Fragestellungen. Bis heute ist diese Debatte aktuell: Teils werden Vorwürfe erhoben, der vermeintliche Empirismus der Psychologie würde die Abhängigkeit der eigenen Forschungen von vorwissenschaftlichen, lebensweltlich fundierten Orientierungsmustern verdecken; die heutige Psychologie würde so der historisch-sozialen Einbettung allen menschlichen Handelns in der Kultur nicht genügend Rechnung tragen. 57 Umgekehrt mag durch Erfolge der Gehirnforschung oder der pharmazeutischen Entwicklung motiviert eine noch konsequentere Rückführung der psychologischen Perspektive auf ihre naturwissenschaftlichen Ausgangsbedingungen als möglich erscheinen. 56 57

MARGRAF/SCHNEIDER, Lehrbuch I, S. 8. Vgl. etwa HEINE, SUSANNE: Grundlagen der Religionspsychologie (UTB 2528), Göttingen 2005. S. 67-106. Vgl. grundsätzlich auch E LBE-SEIFFART, T IL: Gewissheit und Motivation. Eine theologische Auseinandersetzung mit der Motivationspsychologie, Stuttgart 2008. Vgl. die grundlegenden Ausführungen zur Psychologie als Wissenschaft S. 37-62. Zur Kritik aus soziologischer Sicht vgl. KEUPP, HEINER u. a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Hamburg 42008. S. 13.

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Man wird jedoch gut beraten sein, die tendenziell unfruchtbaren Entgegensetzungen von Natur- und Kulturwissenschaften nicht endlos fortzuschreiben. Psychologie lässt sich als Realwissenschaft beschreiben, die den Erwerb von Handlungs- und Orientierungswissen zum Ziel hat, um im Umgang mit menschlichen Erleben und Verhalten eine Verbesserung individuellen Empfindens und sozialer Interaktionen zu ermöglichen. 58 2. Problemorientierung (Prinzipien 2-4). Von den Grundlagen empirischer Wissenschaft her ist das Verfahren in Forschung und therapeutischer Praxis zu einer möglichst präzisen Erfassung der Phänomene genötigt. Diese Problemorientierung ist im Blick auf das wissenschaftliche Selbstverständnis der modernen Psychologie die notwendige Konsequenz des Anspruchs, alle ihre Aussagen auf die Möglichkeit empirischer Beobachtung, experimenteller Überprüfung und statistischer Auswertung zu beziehen. Der Anspruch der konsequenten Überprüfung an der Empirie muss dabei nicht mit der erkenntnistheoretisch unmöglichen Position eines radikalen Empirismus belastet sein. 59 So wird im Lehrbuch der Verhaltenstherapie in wissenschaftstheoretischer Hinsicht die Position eines sozialen Konstruktivismus zum Ausgangspunkt gewählt, der sich der immer schon gegebenen Theoriehaltigkeit aller Wahrnehmung im hohen Maße bewusst ist.60 Insofern ist die Relevanz vorgängiger Theorien für die empirische Überprüfung selbstverständlich. Entscheidend ist, diese in solcher Weise operationalisiert zuzuspitzen, dass ihre Validität mittels Befragungsmethoden oder experimenteller Überprüfung nachvollziehbar ist. Forschungsgegenstand kann insofern nicht unmittelbar der einzelne Mensch mit seiner konkreten Individualität sein, noch auch bestimmte Krankheitsbilder, die immer ein erhebliches Maß von theoretischer Interpretationsarbeit in sich enthalten. Die Störung bzw. das Problem (Prinzip 2) und ihre Beseitigung oder wenigstens Verminderung (Prinzip 4) sind die 58 Zur Beschreibung der Psychologie als Realwissenschaft vgl. H ARTMANN, D IRK: Naturwissenschaftliche Theorien. Wissenschaftstheoretische Grundlagen am Beispiel der Psychologie, Mannheim 1993. S. 15ff. Ders.: Philosophische Grundlagen der Psychologie. Transdisziplinäre Reflexionen, Darmstadt 1998. S. 11f. Fraglich erscheint bei H ARTMANN die schematische Aufteilung der Psychologie in zwei Teilbereiche, in denen das natur- und kulturwissenschaftliche Verfahren in besonderer Weise praktiziert wird (H ARTMANN, Theorien, S. 30ff.). Am Beispiel der Angst zeigt sich, dass bei ihrem Verständnis weder von der biologischen Basis menschlichen Lebens abzusehen noch von den kulturellen Gehalten ihrer konkreten Gestaltung zu abstrahieren ist. 59 Vgl. E LBE -SEIFFART, S. 48. Eine solche Position, die den Anspruch einer theoriefrei gegebenen Erfahrung als Grundlage aller Erkenntnis behaupten würde, ist in der wissenschaftstheoretischen Diskussion spätestens seit Karl Popper hinfällig geworden. 60 Vgl. WESTMEYER , H ANS: Wissenschaftstheoretische Aspekte, in: M ARGRAF/ SCHNEIDER, Lehrbuch I, S. 47-62. Dass sich innerhalb der Psychologie dabei Spannungen zu den bisweilen im Sinne eines realistischen Naturalismus argumentierenden naturwissenschaftlichen Grundlagenfächern ergeben mögen, steht auf einem anderen Blatt.

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Größen, die sich am ehesten präzise fassen und bearbeiten lassen. Anders als in der Psychoanalyse ist das Ziel nicht die Entwicklung des Menschen in seiner Autonomie, Wahrnehmung- und Handlungsfähigkeit, sondern die konkrete Bearbeitung einer Problematik. Die Konzentration auf präzise, definierbare Problembeschreibungen mag für die Wahrnehmung des Menschen ihre Grenzen haben, unverkennbar ist auch ihre Chance. 3. Handlungsorientierung (Prinzipien 5-6 und 8). Innerhalb der Verhaltenstherapie geht es weniger um die Gewinnung von Einsichten in biographische Entstehungsbedingungen jetzigen Erlebens im Sinne einer vertieften Selbsterkenntnis, sondern um die Arbeit an konkreter Veränderung und Verbesserung der jeweiligen Erlebens- und Verhaltensweisen. Diese Arbeit am Problem ist der Kern der Interaktion sowohl innerhalb des jeweiligen therapeutischen Settings (Prinzip 5) als auch außerhalb desselben (Prinzip 6). Klar ist dabei, dass eine solche Verhaltensänderung ausdrücklich vom Patienten angeeignet und somit zum Teil seines Selbstpotentials gemacht werden will (Prinzip 8). 61 61 In der deutlich erweiterten 3. Auflage des Lehrbuchs von M ARGRAF/SCHNEIDER wurde neben der wissenschaftstheoretischen und verfahrenspraktischen Reflexion auch ein ausdrücklicher Beitrag über das Menschenbild innerhalb der Verhaltenstherapie aufgenommen (M ARGRAF/S CHNEIDER, Lehrbuch I, S. 63-82 [ERWIN P ARFY, GERHARD LENZ]). Man wird es sicher positiv bewerten, dass damit ausdrücklich die Einsicht ausgesprochen wird, dass jede menschliche Interaktion in weltanschaulichen Grundüberzeugungen verwurzelt ist. Problematisch erscheint freilich die Durchführung. Zunächst einmal fraglich ist der Ausgangspunkt, die Verhaltenstherapie nun doch wieder als therapeutischen Ansatz, Richtung oder Schule zu fassen, geht die Definition von M ARGRAF doch ausdrücklich weg von solchen Versuchen und bestimmt sie als Grundorientierung im Anschluss an die empirische Psychologie. Sodann wird deutlich, dass die Quellen für die Verhaltenstherapie denkbar unspezifisch sind; es ist allgemein die Wissenschaft vom Menschen, konkret die empirischen Psychologie und die Medizin, darüber hinaus werden auch „umfassendere Forschungsparadigmen“ wie die Evolutionslehre oder die Systemtheorie berücksichtigt (S. 64). Freilich: es ist nicht klar, warum es für ein solches naturwissenschaftlich orientiertes Menschenbild den Ausgangspunkt der Verhaltenstherapie bedarf. Vor allem müsste man sich an dieser Stelle bewusst machen, dass die Naturwissenschaften hier in einer Weise weltanschaulich prinzipialisiert werden sollen, die weder erklären kann, was sie dazu befähigt, noch welche tatsächliche Orientierungsleistungen diese mit ihrem Wissen erbringen können. Nur am Rande streifen die Ausführungen den Bereich, den sie als „das angestammte Territorium von Philosophie und Theologie“ (S. 81) empfinden. Der pauschale Eindruck, dass dort „die tradierten Wortgebäude jedoch zunehmend den Kontakt mit der Lebenswelt der Menschen zu verlieren“ (ebd.) scheinen, mag Theologie und Philosophie Anlass zum Nachdenken geben. Der abschließende Rat, es sei „in einer solchen Situation vielleicht jeder Mensch wieder ganz für sich gefordert, einen unverstellten Zugang zu seinem eigenen Dasein zu finden und sich der Einbettung im Gesamt aller bekannten Phänomene bewusst zu werden“ (ebd.), zeigt zumindest dies ganz deutlich, dass ein so entwickeltes Menschenbild eine eigentliche Orientierungsfunktion gar nicht für sich in Anspruch nehmen will und wohl auch nicht kann.

9.1 Angst zwischen Theologie und Psychologie

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b) Theorie und Pathologie der Angst Am Verständnis der Emotionen lassen sich nach und nach Entwicklungsphasen der empirischen Psychologie insgesamt nachvollziehen. Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts bestimmten Emotionstheorien die Diskussion, die entweder einen Primat physiologischer Erregungszustände im Zustandekommen von Emotionen behaupteten (James-Lange-Theorie 62) oder die umgekehrt von einer Vorrangigkeit kognitiver Bewertungshandlungen ausgingen (Singer-Schachtner-Modell), welche unspezifische, physiologische Erregungszustände des Menschen in solcher Weise deuten bzw. bewerten, dass die Emotionen letztlich ein Epiphänomen von Bewertungsvorgängen sind. 63 Empirische Untersuchungen wiesen zunehmend die Grenzen beider Modelle auf. Inzwischen ist es Konsens, dass beide Theorien ihre berechtigten Momente haben, das Phänomen der Emotionen als Ganzes aber nicht erschließen können. Stattdessen dominieren heute unterschiedliche Ansätze von Mehrkomponententheorien. Emotionen wie Furcht, Freude, Ekel etc. haben ihre tiefe somatische Wurzel, wie sie vor allem im Phänomen der Grundemotionen vorbewusst und kulturübergreifend identisch (Gesichtsausdruck etc.) ablaufen können. Zugleich erweisen sich die komplexeren Gestalten affektiven Erlebens in erheblichem Maße als abhängig von Bewertungs- und Verarbeitungsvorgängen, in die eine Vielfalt kultureller Gehalte eingeht. Als multidimensionale Systeme sind Emotionen weder auf naturale Zustände noch auf kulturelle Gehalte rückführbar. Nirgendwo zeigt sich der Siegeszug der Verhaltenstherapie eindrücklicher als in der Umstellung der anerkannten Klassifikationsverfahren. Nach Jürgen Margraf seien solche Klassifikationssysteme für die Einordnung psychischer Störungen letztlich unvermeidlich und unverzichtbar. Wohl sei zunehmend das Bewusstsein gewachsen für problematische Zuschreibungen oder Festlegungen, die so ein System mit sich bringen könne. Aber da solche Ordnungsprozesse ohnehin unausweichbar seien, sei eine einheitliche und stets wissenschaftlich diskutierte Verfahrensweise am sinnvollsten. Voneinander unterscheiden kann man dabei nosologische, symptomatische und syndromatische Klassifikationsmodelle. Eine nosologische Differenzierung arbeitet letztlich auf der Ebene von komplexen Krankheitstheorien, in denen Symptomzuordnungen und ätiologische Deutungen eine Synthese eingehen. Faktisch haben die Psychoanalyse und andere

62 Benannt nach dem amerikanischen Psychologen und Philosophen William James und dem dänischen Physiologen Carl Lange. Vgl. I ZARD, CARROLL: Die Emotionen des Menschen. Eine Einführung in die Grundlagen der Emotionspsychologie, Weinheim 2 1994. S. 75ff. 63 Vgl. I ZARD, S. 51f.

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Therapieschulen mit solchen Modellen gearbeitet.64 Als Problem erwiesen sich zunehmend die theoretischen Gegensätze der therapeutischen Schulen, die eine schul- und grenzüberschreitende Kommunikation unmöglich machten. Klar ist, dass eine bloße Aufzählung von Symptomen auch zu wenig wäre. Den Mittelweg beschreitet ein syndromorientiertes Klassifikationsschema, das zusammengehörige Gruppen von Symptomen zusammenfasst. Ist es innerhalb der WHO mittels der ICD-Schemata nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt erstmals gelungen, eine weltweite Vereinheitlichung der Diagnoseverfahren zu erreichen, so bedeutete die Entwicklung des amerikanischen DSM-III einen wesentlichen Fortschritt. Hier wurde die Umstellung auf präzise Syndromschilderung unter Verzicht auf theoretische Ableitungen konsequent durchgeführt. Mit dieser entschiedenen Orientierung an einem deskriptiven Ansatz vollzog sich eine verstärkte Durchsetzung des empirischen Paradigmas innerhalb der Psychologie überhaupt. 65 Im Blick auf die Angststörungen wurden folgende Gruppen gebildet66: 1. Panikstörungen (mit und ohne Agoraphobie)67, 2. Spezifische und Soziale Phobien68, 3. Generalisierte Angststörungen (GAS)69, 4. Posttraumatische und Akute Belastungsstörungen70, 5. Zwangsstörungen71. Mit diesen 64 Vgl. dementsprechend auch die psychoanalytische Kritik am neuen Klassifikationsschema bei T HOMÄ, HELMUT und HORST KÄCHELE: Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie. Bd. 2: Praxis, Berlin 32006. S. 428. 65 Die nachfolgenden Überarbeitungen im DSM-IV oder im (dem amerikanischen Schema stärker angeglichenen) ICD-10 erbrachten eine weitere Ausdifferenzierung der Beschreibungen sowie eine stärkere Berücksichtigung der Multidimensionalität von Störungsbildern bezüglich ihrer psychischen, medizinischen, psychosozialen etc. Rahmenbedingungen. Vgl. M ARGRAF/SCHNEIDER, Lehrbuch I, S. 191f. 66 Vgl. auch die knappe Übersicht bei D AVISON, G ERALD C., J OHN M. NEALE und MARTIN H AUTZINGER: Klinische Psychologie. Ein Lehrbuch, 7., überarbeitete und erweiterte Auflage, Weinheim/Basel 2007. S. 151. Ausführlich siehe SCHULTE, D IETMAR: Angststörungen, in: LAZARUS-MAINKA, GERDA und STEFANIE S IEBENEICK: Angst und Ängstlichkeit, Göttingen 2000. S. 370-424. 67 M ARGRAF/SCHNEIDER, Lehrbuch II, S. 3-30 (M ARGRAF/SCHNEIDER). Vgl. auch ausführlich: MARGRAF, J ÜRGEN und SILVIA SCHNEIDER: Panik. Angstanfälle und ihre Behandlung, Berlin 21990. 68 M ARGRAF/SCHNEIDER, Lehrbuch II, S. 31ff. und 45ff. (LARS G ÖRAN Ö ST, T HOMAS FYDRICH). 69 M ARGRAF/SCHNEIDER, Lehrbuch II, S. 87-104 (ENI B ECKER ). Vgl. auch B ECKER , ENI und J ÜRGEN MARGRAF: Generalisierte Angststörung: Ein Therapieprogramm, Weinheim/Basel 2002. 70 M ARGRAF/SCHNEIDER , Lehrbuch II, S. 105-124 (ANDREAS M AERCKER, T ANJA M ICHAEL). 71 M ARGRAF/SCHNEIDER, Lehrbuch II, S. 65-86. (P AUL M. SALKOVSKIS, ANDREA ERTLE, J OAN KIRK).

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Klassifikationen sind vielfach Spezifizierungen gelungen, die nun schon seit Jahrzehnten in relativer Konstanz beschrieben, kulturübergreifend diagnostiziert, und mit zunehmenden Erfolg auch behandelt werden können, was vor allem für die weniger komplexen Störungen im Bereich der Panikstörungen oder der Phobien gilt. Problematischer verhält es sich etwa noch beim Generalisierten Angstsyndrom, das bei seiner erstmaligen Einführung quasi als Restgruppe aller bisher nicht klassifizierbaren Störungen mit zentralem Angsterleben entwickelt wurde. Auch das Phänomen vielfältiger Konmorbidität (Gleichzeitigkeit mehrerer Diagnosen 72) lässt sich auf diese Weise noch eher unbefriedigend unterbringen. Der Unterschied zur Psychoanalyse ist deutlich: Was dort als Symptom eines Krankheitsbildes wie Hysterie galt, ist nun vielfach zur eigentlichen Krankheit geworden. Der nachhaltige Erfolg der internationalen Diagnostik und die dadurch möglich gewordene Intensivierung einer störungsspezifischen Forschung sind durch eine deutlich größere Präzision in der Phänomenbeschreibung möglich geworden. Der Preis für diesen Präzisionsfortschritt ist aus Sicht einiger Kritiker eine Perspektive, in der nicht mehr der gestörte Mensch, sondern die Störung im Fokus der Aufmerksamkeit steht. c) Therapeutische Verfahrensweisen Dass die Behandlung von Angsterkrankungen in den letzten Jahrzehnten eine Erfolgsgeschichte des verhaltenstherapeutischen Ansatzes war, wird inzwischen kaum noch bestritten. Insofern lassen sich am Beispiel der Angststörungen wesentliche therapeutische Herangehensweisen besonders gut darstellen. Entsprechend der historischen Entwicklung der modernen Verhaltenstherapie kann man dabei lerntheoretische, kognitive und integrative Zugänge unterscheiden. Die frühen verhaltenstherapeutischen Ansätze basierten sämtlich auf den Grunderkenntnissen der modernen Lerntheorie. 73 Grundlegend ist dabei die Unterscheidung klassischer Konditionierung (im Anschluss an Pawlow) und operanter Konditionierung (im Anschluss an Skinner). Im Modell der klassischen Konditionierung geht es um solche ReizReaktionsbildungen, in denen ein auslösender Stimulus (konditionierter Reiz, z. B. Blitzeinschlag) zu einer Reaktion (z. B. Angst) mit der Konsequenz führt, dass diese Reaktion künftig auch im Zusammenhang mit ei72 Bei bis zu 40 % der Patienten mit einer Angststörung liegt auch eine weitere vor, 20–40 % leiden zugleich unter Depression. Vgl. SCHULTE in LAZARUS-MAINKA, S. 382. 73 Vgl. den Beitrag „Lernpsychologische Grundlagen der Verhaltenstherapie“ (von T ANJA MICHAEL und ANKE EHLERS) in: MARGRAF/SCHNEIDER, Lehrbuch I, S. 101-114. Siehe in therapeutischer Perspektive den Abschnitt „Operante Verfahren“ (ANDREAS MAERCKER) in: MARGRAF/SCHNEIDER, Lehrbuch I, S. 669-678.

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nem im Auslösungsereignis gegebenen unkonditionierten Reiz (z. B. Unwetter oder Dunkelheit) erfolgen kann. Solche Lernerfahrungen erwiesen sich in der Praxis zumindest als bedingt aufhebbar oder umkehrungsfähig durch Verfahren der Löschung bzw. der Gegenkonditionierung. Im Modell der operanten Konditionierung wurde von Skinner beschrieben, dass menschliches Verhalten offenbar nicht nur durch seine jeweils vorangehenden Reize bestimmt wird, sondern genauso von seinen nachfolgenden Stimulusbedingungen abhängig ist. Die Folgen einer bestimmten Handlung können so oder so eine verstärkende oder abschwächende Wirkung auf künftiges Handeln gewinnen. Stellt sich auf ein bestimmtes Verhalten ein als angenehm empfundener Reiz ein, so fungiert dieser als positiver Verstärker, der zur Begründung der Wiederholung der Handlung wird. Ergibt sich dagegen aus einem bestimmten Tun ein unangenehmer Effekt bzw. Reiz, so redet man von einem negativen Verstärker, der auf die künftige Unterlassung dieses Tuns hinwirkt. Diese lerntheoretischen Einsichten sind zunächst einmal geeignet, die Dynamik angstbestimmten Handelns besser zu verstehen: Die Vermeidung angstbestimmter Handlung erweist sich als eine Verstärkung des Vermeidungsverhaltens als solchem und kann zu zirkulären Aufschaukelungsprozessen (Angstkreis) führen. Zugleich ergeben sich aus der Einsicht in diese Wirkzusammenhänge die Möglichkeiten therapeutischer Intervention, in denen es um die Löschung oder die Verminderung solcher Verstärkungszusammenhänge geht. Eines der ersten konsequent lerntheoretisch entwickelten Therapieverfahren war die Systematische Desensibilisierung nach Wolpe. 74 Da das Vermeidungsverhalten des Patienten gegenüber einem als unangenehm empfundenen Reiz als positiver Verstärker fungierte, geht es konsequent um eine solche Erfahrung des Angststimulus, in dem die erwartete Angstreaktion ausbleibt. Der Patient erlernt zunächst Entspannungsmethoden wie die progressive Muskelentspannung; sodann erstellt er mit dem Therapeuten eine der Intensität nach hierarchisierte Skala befürchteter Situationen. Ziel der Therapie ist es, sich in einem Zustand der Entspannung gedanklich oder visuell mit angstauslösenden Vorstellungen auseinanderzusetzen (Konfrontation in sensu), entsprechend ihrer Rangordnung in zunehmender Stärke. Die Erfahrung, zunehmend mehr vermeintlich angstauslösende Reize in entspannter und somit angstfreier Haltung aushalten zu können, führt zu einer allmählichen Löschung der Angstreaktion. Hatte dieses Verfahren lange Zeit eine Schlüsselstellung innerhalb der verhaltenstherapeutischen Angstbehandlung inne, so haben fortgesetzte Untersuchungen ergeben, dass es vor allem das Moment der Konfrontation 74 Vgl. M ARGRAF/SCHNEIDER , Lehrbuch I, S. 507-513, Systematische Desensibilisierung (ANDREAS MAERCKER, ALMUT L. W EIKE).

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mit dem gefürchteten Reiz ist, was eine Verbesserung des Empfindens mit sich bringt. Als noch wirksamer haben sich sodann solche Verfahren erwiesen, in denen nicht nur eine graduelle und gedankliche Annäherung an extrem angstbesetzte Gehalte vollzogen wird, sondern in denen unmittelbar mit schwersten Angstreizen, und dies in einer realen Situation, begonnen wird. Für viele Angststörungen haben sich inzwischen solche Konfrontationsverfahren als Methode der Wahl durchgesetzt. 75 Nach einer eingehenden Diagnose der vorhandenen Störung und der psychologischen Erläuterung des therapeutischen Verfahrens geht es darum, den Patienten in intensiven Konfrontationsübungen zu begleiten, bei denen die gefürchteten Situationen oft stundenlang durchlebt werden. Eine solche Konfrontation in vivo hat sich der gedanklichen Auseinandersetzung (in sensu) als überlegen erwiesen. Auch hat sich entgegen dem graduellen Anstieg der Angstreize ein nachhaltiger Beginn mit der für den Patienten am schlimmsten angstbesetzten Situation (Flooding) als am nachhaltigsten erwiesen. Die in solchen Expositionen häufig (nicht immer!) zu machende Erfahrung besteht im allmählichen Nachlassen der Angsterregung (Habituation). Der Patient kann daher eine Löschung im Blick auf den auslösenden Reiz bzw. eine Gegenkonditionierung erfahren. 76 In den 1960er Jahren wurde eine Reihe von kognitiven Therapieansätzen entwickelt, die für die Behandlung von Angststörungen ebenfalls große Bedeutung erlangen sollten.77 Als bahnbrechend erwiesen sich die Ansätze von Beck in der Behandlung mit Depressionen. Anstatt die negativen Gedanken und langen Phasen destruktiven Grübelns als Folge der Störung zu betrachten, sah Beck diese selbst als Wesen der Depression an. Die Arbeit an solchen kognitiven Verarbeitungsmustern, ihre methodische Unterbre75 Vgl. M ARGRAF/SCHNEIDER , Lehrbuch I, S. 515-530, Konfrontationsverfahren (T ANJA MICHAEL, BRUNNA TUSCHEN-CAFFIER). 76 Ausdrücklich wird betont, dass dieses Verfahren bei allen positiven statistischen Ergebnissen weder immer zum Erfolg führe noch in seinen genauen Wirkmechanismen hinreichend verstanden sei (vgl. ebd., S. 527). Zunehmend würden daher in der Forschung emotionale, kognitive und intersubjektive Begleitprozesse berücksichtigt. 77 Vgl. M ARGRAF/SCHNEIDER, Lehrbuch I, S. 611-628, Kognitive Verfahren nach Beck und Ellis (RENATE DE J ONG-MEYER). Die Therapieverfahren Kognitive Therapie nach Aron T. Beck und Rational-emotive Therapie nach Albert Ellis haben neben dem Konzept des Lernens am Modell nach Albert Bandura eine Vorreiterrolle in der Etablierung kognitiver Gesichtspunkte in der Verhaltenstherapie gehabt, die im ursprünglichen behavioralen Ansatz konsequent ausgeblendet waren. Es waren die methodisch einwandfreien und vom Effekt her eindrücklichen Wirksamkeitsstudien solcher Ansätze, die zu einer grundsätzlichen Erweiterung der frühen Theorien zur heutigen Synthese eines kognitiv-verhaltenstherapeutischen Ansatzes geführt haben. Dass die Kritik am vermeintlich mechanistischen bzw. positivistischen Menschenbild mit der kognitiven Wende weitgehend hinfällig ist, wird inzwischen auch von vielen anderen Schulansätzen grundsätzlich zugestanden.

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chung durch Gedankenstopps, ihre kritische Hinterfragung im inneren Dialog, ihre Ersetzung durch alternative Überlegungen eröffnete neue Behandlungsmöglichkeiten. Ähnliche Verfahren wurden auf eine Reihe von Angststörungen übertragen. Folgende Momente erweisen sich dabei als wesentlich: a) Zunächst gilt es, sensibel zu werden für die kognitiven Automatismen, die das eigene Erleben, Bewerten und Interpretieren immer schon bestimmen. Dabei wird der Patient ermutigt, durch Selbstbeobachtung oder Gedankentagebuch die Gefühle und automatischen Gedanken (dysfunktionale Kognitionen) in bestimmten Situationen zu identifizieren. b) In einem zweiten Schritt geht es darum, die Realitätsangemessenheit der eigenen Gedanken kritisch zu überprüfen. Mittels eines sokratischen Dialogs sensibilisiert der Therapeut den Patienten für die unangemessene Neigung etwa zu katastrophierenden Gedankenketten. Die bewusste Auseinandersetzung mit solchen kognitiven Mustern ermöglicht sodann c) eine kognitive Umstrukturierung sowohl im Umgang mit einzelnen kognitiven Mustern wie mit einer verzerrten Informationsverwertung insgesamt. Dabei ist es zunächst das Ziel, realistischere Gedanken und Grundannahmen zu entwickeln, die an die Stelle der automatisierten Muster treten sollen. Entscheidend ist dabei, das eigene Erleben anders interpretieren bzw. deuten zu können. Schließlich ist es d) die Aufgabe der Therapie, die neuen Denkmuster in ihrer Gültigkeit und Tragfähigkeit auszuprobieren und einzuüben. Mit Hilfe von erlernten Techniken wie Gedankenstopp und Selbstinstruktion erlernt der Patient, dysfunktionalen Kognitionen zu widerstehen bzw. sie zu ersetzen. Dabei erweisen sich neue Denkmuster nur dann als tragfähig, wenn es mit ihrer Hilfe gelingt, neue, positive Erfahrungen im Lebensalltag zu machen. Neben diesen klassischen Verfahren ist ein zunehmender Trend zu integrativen Ansätzen unverkennbar. Verhaltenstherapeutische Konfrontationsmethoden und kognitive Ansätze werden inzwischen vielfach kombiniert. Zunehmend ist auch die Bedeutung der emotionalen Dimension erkannt worden. Mehr und mehr setzt sich eine verhaltenstherapeutische Orientierung als Basis durch, die auch andere therapeutische Interventionsformen aufzugreifen vermag. Dabei geraten auch solche Wirkmechanismen in den Blick, die bisher in anderen therapeutischen Ansätzen stärker im Fokus gestanden haben, wie das Therapeuten-PatientenVerhältnis oder die ausdrückliche Berücksichtigung einer emotionalen Erlebnisdimension. 78 78 Vgl. diesbezüglich vor allem H OFMANN, N ORINA: Kognitiv-behaviorale und tiefenpsychologisch fundierte Therapie der Generalisierten Angststörung. Ein Therapieprozessvergleich, Diss. Göttingen 2007. Angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung der jeweiligen Ansätze sei es N ORINA HOFMANN zufolge unvermeidlich, dass zunehmend bei Wirksamkeitsvergleichen nicht nur der Ansatz der jeweiligen Therapieform, sondern

9.2 Luthers Angstbewältigung

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9.2 Der Prozess der Angstbewältigung bei Luther 9.2 Luthers Angstbewältigung

Auf dem Hintergrund der erarbeiteten psychologischen Ansätze soll nun von der Problemkonstellation des Spätmittelalters ausgehend (9.2.1) der Prozess der Angstbewältigung bei Luther rekapituliert werden (9.2.2). Dabei sollen sowohl Luthers Einsichten in die Problematik seiner Angstverstrickung (9.2.2.1) als auch die einzelnen Schritte seiner allmählichen Bewältigung und Überwindung der Furcht (9.2.2.2) vorgeführt werden. Abschließend ist Bilanz zu ziehen (9.2.3); hinsichtlich der generellen Verhältnisbestimmung von Theologie und Psychologie (9.2.3.1), im Blick auf die hermeneutische Leistungsfähigkeit der psychoanalytischen und verhaltenstherapeutischen Paradigmen (9.2.3.1) und schließlich bezogen auf den möglichen wechselseitigen Gewinn eines Dialogs von theologischen und psychologischen Perspektiven insgesamt (9.2.3.3). 9.2.1 Angst und ihre Bewältigungsmöglichkeiten im Spätmittelalter Betrachten wir zunächst noch einmal den Horizont der Furchtbewältigung in der Scholastik und der Frömmigkeitstheologie. 79 Die allgemein verbreitete Furcht vor Gottes Zorn und vor seinem Gericht erfährt im kirchlichen Bußsystem eine Deutung, mit deren Hilfe menschliche Angsterfahrungen im religiös orientierten Lebensvollzug pädagogisch integriert werden können. Furcht wird dabei einerseits als Motiv der Verhaltensänderung (Bekehrung) anerkannt, andererseits wird ihr mit dem Verweis auf die göttliche Liebe eine bestimmende Wirkung im Lebensvollzug abgesprochen. Auf die Integration der Angst im Leben kann im Idealfall eine allmähliche Ersetzung durch die Liebe als vorherrschenden Lebensaffekt erfolgen. Damit gelingt eine Interpretation des Lebenslaufes, die einem für auch der tatsächliche Therapieprozess in die Untersuchung mit einzubeziehen sei. Auch HOFMANN betont, dass wesentliche Wirkmechanismen des therapeutischen Verfahrens noch nicht hinreichend genug erforscht sind. Von den Ergebnissen ist für unseren Vergleich vor allem ein Umstand interessant. Die Therapieerfolge in den jeweiligen Ansätzen waren umso größer, je mehr die Therapeuten in ihrem Vorgehen eher untypische Verfahrensweisen, die mehr dem Gegentypus entsprachen, einbezogen. Verhaltenstherapeuten erzielten größere Wirkung, wenn sie ausdrücklich emotionale Aspekte oder Träume ansprachen, Tiefenpsychologen konnten hingegen bessere Ergebnisse erzielen, wenn sie sich auf verhaltenstherapeutische Interventionen einließen. (H OFMANN, S. 117) Es ist nachvollziehbar, dass angesichts solcher Befunde die klassischen Schulgegensätze in der Praxis zunehmend zurücktreten. 79 Vgl. dazu die Darstellung bei HERMS, E ILERT: Luther und Freud. Ein Theorievergleich, in: Ders.: Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1992. S. 102-123. S. 107ff. Die hier vorgenommene Darstellung versucht sich präziser auf die Ausgangslage des Spätmittelalters zu beziehen, wie sie Luther von seiner universitären und klösterlichen Bildungsgeschichte her vorfand.

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viele bestimmenden Grundgefühl den Stachel des Bedrohlichen nimmt, indem dieses in den sittlich-religiösen Fortschritt des Menschen eingeordnet wird. Dieser Gradualismus ist zu Recht als Grundzug des mittelalterlichen Christentums herausgearbeitet worden. 80 Zugleich wird dieser individuelle Lebenslauf mit seiner Angsterfahrung eingebettet in die Gemeinschaft der Kirche. Diese kann den Prozess in unterschiedlicher Weise entlastend begleiten. Im Institut der sakramentalen Buße stiftet sie den Rahmen, in dem die menschliche Entwicklung einen Prozess der Umgestaltung im Sinne der göttlichen Zielbestimmung des Lebens durchläuft. Sie bietet mit der Beichte die Möglichkeit (und zugleich die Notwendigkeit), die mit der menschlichen Selbsteinschätzung verbundene Schuldangst zu artikulieren und somit das „Gewissen zu erleichtern“. Die mit der Absolution gegebene Sündenvergebung erneuert das auf gegenseitige Liebe hin bestimmte Gottesverhältnis des Menschen. In der Festlegung der Bußleistungen vermag die Kirche unbestimmte Strafangst zu bündeln hin auf eine konkret zu leistende Satisfaktion. Mögliche Ungewissheit im Blick auf das Heil vermag sie zu relativieren durch Geltungseinschränkung der menschlichen Selbsteinschätzung im Namen kirchlicher Autorität. Dieses Angebot der Furchtmilderung beinhaltet natürlich als Kehrseite stets auch die Möglichkeit, Furcht erzeugen zu können: durch Ausschluss aus der Gemeinschaft, Verweigerung der Absolution etc. Die Problematik der klassischen Furchtdeutung kann man so zusammenfassen: Die Verwirklichung des religiösen Ideals bleibt an die erfahrungsbezogene Selbstauslegung des Menschen gebunden. Unvermeidlich ist dabei der Aufbau einer Erwartungshaltung an eine bestimmte emotionale Disposition in der eigenen Selbsterfahrung. Die prinzipiell positive Wertung der Furcht als Moment geistlicher Entwicklung muss das Ausbleiben von Furcht als falsche Sicherheit erscheinen lassen. Methodische Furchterzeugungen in Verkündigung oder meditativer Verinnerlichung werden insofern zum selbstverständlichen Bestandteil der Frömmigkeit. Positiv ist hingegen die Erwartungshaltung im Blick auf das eigene Selbsterleben auf das Empfinden von Liebe gerichtet. Demgegenüber stellt das Überhandnehmen von Furcht den sittlich-religiösen Fortschritt in der Liebe in Frage. Furchterfahrung führt somit sowohl in zu geringer wie in zu hoher Intensität zu einer Infragestellung des Lebensvollzugs. Von dieser Ausgangslage her fällt ein ungeheures Gewicht auf die menschliche Selbsteinschätzung und die daraus resultierende religiöse Lebensführung. Die mit der Bindung des gradualistischen Entwicklungsdenkens an das Institut der Beichtbuße vielfach zu beobachtende Verfeine80 Vgl. vor allem die einschlägigen Studien von B ERNDT H AMM ; vgl. auch die Zusammenfassung in Kapitel 3.5.

9.2 Luthers Angstbewältigung

355

rung der Selbstwahrnehmung führt zu einer vertieften Kultur der Introspektion. Die Schlüsselstellung der subjektiven Selbstwahrnehmung und -beurteilung in der Gewissenserforschung bringt offenbar eine zunehmende affektive Sensibilisierung mit sich. Der damit gegebenen Gefährdung durch gesteigerte Angstempfindungen begegnete im Spätmittelalter ein weites Spektrum seelsorgerlicher Hilfsangebote, das sich zwischen zwei Polen erstreckte. Auf der einen Seite stand der Ansatz des nominalistischen Kontritionismus (Gabriel Biel), der in dieser Situation mit der Betonung der religiösen Leistungsfähigkeit des menschlichen Subjekts diesem einen solchen Autonomiegewinn in Aussicht stellte, dass sich Furchtbewältigung auf dem Wege gesteigerter willensmäßiger Bemühung erreichen lasse. Erfolgreich konnte ein solcher Weg nur sein, wenn der Mensch in seinem Vertrauen auf die Steuerungsfähigkeit des eigenen Lebens nicht beeinträchtigt wurde. Auf der anderen Seite des Spektrums stand das Minimalisierungsprogramm des konsequenten Attritionismus (Johannes von Paltz), das stark auf das Entlastungsangebot kirchlicher Heilsvermittlung setzte. Angesichts skrupulöser Zweifel wurde hier eine ekklesiologische Relativierung destruktiver Selbsteinschätzungen ermöglicht. Dieser Ausweg setzte natürlich ein ungebrochenes Vertrauen zum heilsvermittelnden Charakter des kirchlichen Systems voraus. Es gehörte zum Prozess spätmittelalterlicher Entwicklung, dass beide Voraussetzungen zunehmend weniger selbstverständlich gegeben waren. Man sollte nicht behaupten, dass man da, wo man diese Ausgangsbedingungen ernst nahm, entweder verzweifeln oder das System grundsätzlich sprengen musste. 81 Erst da, wo gleichermaßen das Vertrauen in das eigene Leistungsvermögen wie das Vertrauen in die kirchliche Vermittlungsfähigkeit in Frage gestellt wird, entsteht eine ausweglose Situation. Offensichtlich war dies bei Luther der Fall. 9.2.2 Angstbewältigung bei Luther Dieses Auseinanderfallen von Selbsterfahrung und theologischen Bewältigungsangeboten stieß bei Luther einen Prozess an, die überkommenen Deutungsmuster in Frage zu stellen und ein neues Gottes- und Selbstverständnis aus der Bibel zu gewinnen. Dieser Prozess und die damit verbundene Wandlung von Luthers Theologie wurden in den Kapiteln 4-6 ausführlich dargestellt. Zuspitzend kann man sagen: Auf der einen Seite gewinnt Luther ein vertieftes Verständnis des Phänomens Furcht, insbe81 Vgl. die These von E ILERT H ERMS „Die ganze reformatorische Theologie verdankt sich dem […] Faktum, dass eine etablierte theologische Theorie nach allen damals gültigen Regeln der Kunst im Selbstexperiment falsifiziert und durch eine sachgemäßere Theorie ersetzt wurde.“ (H ERMS, Luther und Freud, S. 107)

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sondere im Blick auf die problematische Wirkung der Bedingungslogik des Gesetzes; auf der anderen Seite entwickelt er eine Praxis der Umdeutung von Furcht, die nicht Furchtlosigkeit des Lebens zum Ziel hat, Furcht aber auch nicht mehr die bestimmende Lebensmacht sein lässt. 9.2.2.1 Luthers Einsicht in die Problemstruktur seiner Angstverstrickung Es sind gleichermaßen erfahrungsbasierte und biblisch gewonnene Gründe, die Luther eine Bewältigung seiner Angsterfahrungen im Kontext der damaligen theologischen Deutungsangebote unmöglich machten. In seinen Erfahrungen erreichte die Angst eine solche Intensität, dass sie innerhalb des geistlichen Bewältigungssystems des Bußsakraments nicht mehr zu schlichten war. 82 Gerade die Mittel, denen eine angstlösende Wirkung zugedacht war: Beichte, Messe, die Einhaltung religiöser Verpflichtungen vertieften Luthers Angsterfahrungen. Deuten ließen diese sich allenfalls als „Skrupulosität“, als übertrieben strenge Selbstbeurteilung, der durch die Betonung kirchlich-autoritärer Entlastung zu begegnen sei. Luther machte sich diese Deutungsmöglichkeit zu eigen und griff die in diesem Zusammenhang angebotene Bewältigung teilweise sehr positiv auf. 83 Allein, sie konnte doch nicht genügen als erschöpfende Deutung seines Angsterlebens. Die Selbstbeurteilung lässt sich nicht als überstreng abtun, wenn sie sich nur der unbedingten Geltung des göttlichen Willens verpflichtet weiß. Die Relativierung solcher Selbstbeurteilung durch Autoritäten der Kirche 82 Zur Frage der Ätiologie von Luthers Angsterfahrungen wird man soviel sagen können: In der Auseinandersetzung mit der tiefenpsychologischen Beschäftigung mit Luther dürfte es inzwischen Konsens geworden sein, dass etwaige persönlich-biographische Konflikte in Luthers Leben angesichts des vorhandenen Quellenmaterials nicht zu erschließen sind. Überzeugender dürfte es sein, von einem Vulnerabilitäts-Stress-Modell auszugehen. Man wird Luthers besondere Vulnerabilität hinsichtlich des Angsterlebens in dieser Hinsicht anzuerkennen haben, ohne dass sie historisch erklärbar oder begründungsfähig ist. Die plausibelsten biographischen Hinweise auf belastende Erfahrungen, die wir m. E. besitzen, sind wohl die beiden Todesbedrohungen vor dem Eintritt ins Kloster durch die Selbstverwundung und den Blitzeinschlag. (Vgl. B RECHT I, S. 55-57.) Über die unterschiedlichen Ansätze der Ätiologie bei Angsterkrankungen vgl. B ANDELOW, B ORWIN: Panik und Agoraphobie. Diagnose, Ursachen, Behandlung, Wien 2001. S. 57-181. Luthers Erfahrungen von Lebensgefahr könnten auf Grundlage allgemeiner Vulnerabilität die Funktion auslösender Ereignisse gehabt haben, in deren Folge eine starke Sensibilisierung für Angstempfindungen und Neigung zu Generalisierung auf andere Zusammenhänge (z. B. Messe und Beichte) Teil des Lebensmusters wurden. Man wird besser Abstand davon nehmen, Luthers Erfahrungen mit irgendwelchen Diagnosen zu versehen („Paniksyndrom“, „Generalisiertes Angstsyndrom“) oder gar den Grad des Pathologischen bestimmen zu wollen. Die Entwicklung der Psychologie der letzten hundert Jahre hat nachdrücklich gezeigt, wie wandelbar sowohl Symptombilder menschlichen Erfahrens als auch theoretische Deutungen und Klassifikationen sind. 83 Vgl. dazu WA 56 266,25ff. und 282,19ff.

9.2 Luthers Angstbewältigung

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wird dann fraglich, wenn die Möglichkeit einer von der Bibel her begründeten Relativierung kirchlicher Autoritäten denkbar wird. Kann aber die extreme eigene Erfahrung nicht mehr als Skrupulosität gedeutet werden, lässt sie sich gar nicht mehr heilsam interpretieren. Versuchen wir die Verstrickung in Angsterfahrungen präziser zu beschreiben: Ausgangspunkt ist das Erlebnis einer unheilvollen Dynamik, in der das Angstempfinden durch einen von Forderungen und Bedingungen bestimmten Deutungshorizont eine permanente Steigerung erfährt. In dieser destruktiven Dynamik steigert sich die Furcht ins Ungeheure und hinterlässt im Nachlassen ein Gefühl der Verzweiflung im Blick auf sich selbst und/oder der Aggression gegenüber Gott. Dieser Zusammenhang lässt sich mit folgendem Schaubild illustrieren:

Auslöser (z.B. Gedanken, körperliche Veränderungen)

Körperliche Symptome

Wahrnehmung

Körperliche Veränderungen

Gedanken „Gefahr“

„Angst“ Flucht, Bewältigung, Vermeidung Abb 1: Angstkreis nach Margraf/Schneider, Panik

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Diese Erfahrung lässt sich aus heutiger Perspektive als religiöse Form eines Angstkreises beschreiben.84 Dieser Kreislauf sieht im Grundriss so aus: Eine bestimmte Erfahrung affiziert das menschliche Bewusstsein. Dieser Reiz wird, unmittelbar oder mittelbar, als Gefahr eingeschätzt. Dieser Bewertungszusammenhang ist untrennbar mit dem Gefühl der Angst verbunden. Dieses bringt nun physiologische Veränderungen mit sich und wird als leibliche Symptomatik zur erneuten Erfahrung des Bewusstseins. In einem weiteren Bewertungsvorgang wird dieses Selbsterleben als Intensivierung der Gefahr eingestuft, was die Angst steigert. Kann dieser Wahrnehmung nicht mit Flucht, Vermeidung oder Bewältigung begegnet werden, kommt es zu einer sich aufschaukelnden Vertiefung der Angst, die zu einer regelrechten Panik führt. Konkretisieren wir diesen Angstkreislauf im Blick auf die besondere Problematik Luthers. 85 In den vielfältigen introspektiven Selbsterforschungen geistlicher Praxis wird dem Bewusstsein irgendeine Regung des Begehrens, der Nachlässigkeit oder des Mangels an Liebe offenbar. Diese Wahrnehmung geht mit der Bewertung als Sünde und der damit verbundenen Selbstverurteilung einher; denn das wahrgenommene Moment des eigenen Lebens entspricht nicht der auf die Empfindung von Liebe (Geduld, Freude etc.) ausgerichteten Anforderung an das Affektleben. Diese Bewertung als Sünde bringt weitergehende Gedanken mit sich: an das Gericht Gottes, Gottes Zorn und die drohende Verdammnis. Diese Gedanken lösen Angst aus. Diese Angst bringt ihrerseits körperliche, physiologische Veränderungen mit sich. Solche Veränderungen werden dem Bewusstsein wiederum offenbar in der Bildung einer angstspezifischen körperlichen Symptomatik. Luther selbst hat beschrieben, wie Empfindungen der Enge und der Beklemmung es erschweren, die vom religiösen Ideal her vorgesehenen Stimmungen (wie Liebe, Freude, Trost) zu erfahren. 86 Je mehr Furcht die Gefühlswelt bestimmt, desto weniger lässt sich die geforderte Liebe empfinden. Die erneute Selbstwahrnehmung im Zu84 Dieses 1986 von CLARK entwickelte Modell wurde im deutschen Raum bekannt gemacht durch MARGRAF/S CHNEIDER, Panik; von dort stammt auch die Grafik (Anhang 7, Abbildung Nr. 15). Das psychophysiologische Modell nach MARGRAF/EHLERS (1989) erlaubt differenziertere Unterscheidungen im Blick auf die Aufschaukelungs- bzw. Unterbrechungsmöglichkeiten der leiblisch-seelischen Rückkoppelungsprozesse (vgl. MARGRAF/SCHNEIDER, Lehrbuch II, S. 12). Im Blick auf Luther ist das einfachere Modell aber hinreichend. 85 Im therapeutischen Prozess folgt nach Vermittlung der allgemeinen Natur des Teufelskreises die Erarbeitung eines individuellen Musters. Vgl. M ARGRAF/SCHNEIDER, Panik, S. 69ff. 86 Vgl. die Beschreibung in der Römerbriefvorlesung: „In spiritu timoris non est clamare, Sed vix hiscere et mutire. Quia fiducia dilatat cor, frontem et vocem, Timor vero hec omnia contrahit et stringit, Ut experimentia satis testatur.“ (WA 56 368,12-15)

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stand der Angst führt daher zu einer Verstärkung der Selbstverurteilung. Das Bemühen der Gegensteuerung wird als gescheitert bzw. ohnmächtig erlebt. In der Konsequenz dieser Selbstverurteilung werden die Gedanken an Gericht und Verlorenheit vertieft, was den Menschen noch nachhaltiger in Angst verstrickt. Restlos verzweifelt wird die Situation, wenn sich in Folge der Angst ein Gefühl von Aggression oder Hass Gott gegenüber bemerkbar macht. 87 Eine solche Selbstwahrnehmung kann nur als sicheres Zeichen eigener Verdammnis bzw. Verwerfung deutbar erscheinen. Was wir zunächst in einer Außenperspektive verdeutlicht haben, entspricht genau der Weise, wie Luther selbst das eigentliche Dilemma der Buße beschrieben hat. Verdeutlichen konnte Luther dies am Sprichwort: „Wer sich vor der Hölle fürchtet, der kommt hinein.“ 88 Diese Sentenz ist für Luther die richtige Beschreibung einer Zirkulationsdynamik: Die mit der Selbstverurteilung gegebenen Ängste vor Gericht und Strafe gewinnen zunehmend die Herrschaft über das eigene Erleben. Die Angst vor einem bestimmten Zustand scheint diesen geradezu unvermeidbar zu machen. Alles widerstrebende Wollen verkrampft notwendig; je mehr man diese Erfahrung vermeiden will, desto schneller ergreift sie Besitz von einem. Hier war das „Schweiß- bzw. Angstbad“ 89 gegeben, die Erfahrung, die zu Panik und Verzweiflung trieb. In diesem Kreislauf kommt es zu einer jeweiligen Verstärkung der einzelnen Momente. Dabei ist es vor allem eine Stelle, an der es zu einer Beschleunigung der Dynamik kommt: in der Bewertung der eigenen affektiven Selbstwahrnehmung als von Sünde bestimmt und den damit verbundenen Gedanken an Gottes Zorn und Gericht. Aus diesem Kreislauf vermochte das Angebot der Beichte nicht herauszuführen. Es gab wohl die unmittelbare Entlastung durch den Vergebungszuspruch, der die Gedanken an das göttliche Gericht aufhob. Zugleich aber war mit der sakramentalen Auffassung von Beichte die Vorstellung verbunden, dass die Mitteilung der Gnade zu einem Ende der als Sünde wahrnehmbaren Regungen führen sollte. Darum beschrieb Luther vor allem die Zeit nach der Beichte als besondere Krise, wenn sich 87 Vgl. noch einmal Luthers Erinnerung in seinem Rückblick von 1545: „Non amabam, imo odiebam iustum et punientem peccatores Deum.“ (WA 54 185,23-24 = LDStA 2, S. 504,25-26.) 88 Vgl. in P I: WA 4 664,11-12. 89 Vgl. die panikspezifischen Begleiterscheinungen wie Schweißausbruch, Herzrasen und Engegefühl: „Also ward ich gebadet und getaufft jnn meiner Müncherey und hatte die rechte Schweissucht, Gott sey lob, das ich mich nicht zu tod geschwitzet habe“. (WA 38 148,8-10) „Und ich der selbigen einer gewest, der jnn diesem schweis, ja angst bade wol gebadet habe“. (WA 45 152,36-37) Aus der Reifezeit (Rückblick auf 15-jährige Zeit des Messehaltens) stammt dieses Widerfahrnis: „Hier brach mir warlich der schweis aus, und das Hertz begonst mir zu zittern und pochen“. (WA 38 198,1-2) Vgl. auch WAT 1 59,29-30 Nr. 137.

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doch wieder Erfahrung von Sünde einstellte. Solche erneute Erfahrung setzte nicht nur den Kreislauf der Angst wieder in Gang; er untergrub auch das Vertrauen auf die Regulierungsfähigkeit der Beichte. Solche Beichte vermochte daher wohl vorübergehende Entlastung verschaffen; sie verwies aber grundsätzlich unter die Deutungshoheit eines unerbittlichen Bedingungsgefüges und der damit verbundenen Gerichtsdrohung. In der Auseinandersetzung mit dieser Dynamik der Angst nimmt Luther zunächst eine Haltung ein, die konsequent auf Verdrängung oder Verleugnung dieser Problematik verzichtet. Stattdessen entwickelt er eine grundsätzliche Kritik solcher Verhaltens- und Deutungspraxen, die diesen Zirkel nicht sprengen können. Psychologisch gesprochen gelingt ihm damit eine Identifikation dysfunktionaler Kognitionen. 90 Angst lässt sich nicht auf den Wegen von a) Vermeidung oder b) Kompensation überwinden. Denn so lassen sich die Zusammenhänge zuspitzen, die in Luthers Kritik an der securitas sowie am timor servilis zu entfalten waren. a) Die Kritik der unterschiedlichen Formen von Sicherheit richtet sich gegen unterschiedliche Weisen der Furchtvermeidung. Als Verleugnung entspricht sie der vulgären Sicherheit derer, die die Gedanken an Gott, Tod und Gericht gar nicht erst aufkommen lassen möchten. Wer sich in solcher Weise die Erfahrung der Negation ersparen möchte, wird nach Luther auch zu einer Negation der Erfahrung gezwungen sein, nämlich unser aller Bedrohtheit vom Todesgeschick. In diesem Sinne entfaltet Luther die Kritik an denen, die um ihrer Sicherheit willen „schlafen“ und sich der Erfahrung des Lebens in seiner Bedrohtheitsdimension entziehen wollen. Vor allem angesichts des Todes demonstriert Luther, dass auf diesem Wege der Furcht nicht dauerhaft auszuweichen ist. Eine andere Form solcher Vermeidung ist die vermeintlich religiös begründete Gewissheit eigener Unbedrohtheit. Die Abwesenheit von Gefährdungsbewusstsein ist hier weniger unmittelbar gegeben, sondern Ergebnis religiöser Reflexion, sei es im Hinblick auf eigenes Verhalten (Verdienste), sei es hinsichtlich der eigenen Anteilhabe an religiösen Schutzzusammenhängen (von der Zugehörigkeit zu einer Ordensgemeinschaft bis hin zur Teilhabe am Ablass). Luther zufolge lässt sich eine solche Haltung nur diesseits vertiefter Selbsterfahrung bewahren. b) Die andere Weise der Furchtvermeidung besteht im Versuch religiöser Kompensation. Dieser ist dann gegeben, wenn die Erfahrung eigenen Ungenügens das Bedürfnis nach Ausgleich weckt, wenn also eigenes Ungenügen durch religiöse Praxis wieder ausgeglichen werden soll. Solche Kompensationsabsicht sieht Luther hinter der Vielzahl religiöser Werke, Gebete und asketischer Übungen und schließlich hinter der Ablasspraxis. In all diesen Praktiken soll der Furcht der vermeintliche Grund im Selbst90

Vgl. MARGRAF/SCHNEIDER, Panik, S. 66.

9.2 Luthers Angstbewältigung

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erleben genommen werden. Die Problematik dieses Weges hat Luther in der Kritik des timor servilis entfaltet. Wird die Angst in diesem Sinne zum Motiv des Handelns, so dass religiöses Verhalten die Ursache der Furcht beseitigen oder aufheben soll, wird der Mensch die Uneinholbarkeit der Angst erfahren. Im Horizont eines geängstigten Bewusstseins kann kein Minimalisierungsprogramm innerhalb des Bedingungsgefüges zu einem „Genug“ führen. Die menschliche Selbstgegebenheit im Gefühl erweist sich als für das bewusste Wollen nicht mehr steuerbar. An dieser Stelle erweist sich die religiöse Variante des Angstkreises als wahrhaft unentrinnbarer Teufelskreis. 91 In der Beschäftigung mit dem antipelagianischen Augustin und Paulus kommt Luther mehr und mehr dazu, das Bedingungsgefüge der Selbsteinschätzung als die Größe zu beschreiben, die in diesem Kreislauf ihre destruktive Wirkung ausübt. Dies ist der Ausgangspunkt seiner grundlegenden Kritik am scholastischen Bußmodell. Dabei setzt sich Luther an zwei Stellen kritisch vom Möglichkeitsspektrum der damaligen Diskussion ab: in der Vertiefung der Sündenlehre sowie in der Problematisierung des Gesetzes. In beiden Fällen hat er sowohl durch eigene Augustinlektüre als auch die Begegnung mit der augustinischen Gnadentheologie in der Gestalt seines Seelsorgers Staupitz wesentliche Anregungen erfahren. 9.2.2.2 Bewältigung der Furcht Kommt Luther in der Kritik des menschlichen Sicherheitsstrebens und der Beschreibung der Dynamik der Sünde im Horizont der Forderung Gottes zu einem vertieften Verständnis der Furcht, so tritt neben diesen diagnostischen Teil seines Denkens sogleich sein Weg der Furchtbewältigung. Zuerst hat es sich als eine Aufgabe erwiesen, die Angst als subjektives Erleben mehr und mehr wahrnehmen und artikulieren zu können. Im geschlossenen Kreislauf ist die Angst unsichtbar. 92 Das Bewusstsein ist erfüllt vom Bedrohlichen, konkret des Gerichts bzw. des Zornes Gottes. Die Angst zur Sprache zu bringen ist ein erster Schritt in der Aufbrechung des Angstkreislaufs. Mit der Wahrnehmung dieser destruktiven Dynamik wird 91 Vgl. zu dieser Vergeblichkeit der Angstüberwindung durch Verleugnung und Kompensation die stark von K IERKEGAARD beeinflussten Ausführungen GEBSATTELS: „Angstfreiheit, die aus bloßer Verneinung der Angst stammt, ist also nur ein Trugbild der Freiheit.“ (GEBSATTEL, S. 388) Der Widerstand gegen die Angst verstricke in einen wahren „Teufelszirkel“ (S. 387). Darin zeige sich, dass nicht die „Bekämpfung der Angst und ihre Abwehr, nicht das Ausweichen vor ihr, nicht einmal ihre Umgehung mit Sicherheit von ihr zu befreien vermag.“ (S. 387) 92 Vgl. auch M ARGRAF/SCHNEIDER , Panik, S. 3: „Dabei berichten die Betroffenen zunächst manchmal gar keine Angst im üblichen Sinne des Wortes. Sie betonen vielmehr sehr stark körperliche Symptome, die für sie Anlass zu großer Sorge sind.“

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für Luther allmählich die Furcht ausdrucksfähig. Erst mit zunehmender Ausreifung seines Denkens wird es die Kategorie der Anfechtung, über die die Artikulation der Angsterfahrung zugänglich gemacht wird.93 Schon in den Dictata ist ein neuer Umgang mit Angst zu beobachten. In ausführlichen Bußmeditationen werden Unheilsszenarien durchdacht und im Sinne einer Exposition existenziell angeeignet. Luther kommt zu regelrechten Hierarchisierungen von angstauslösenden Vorstellungsinhalten, die der Reihe nach einer persönlichen Meditation empfohlen werden. 94 (vgl. das Konzept einer Konfrontation in sensu!) Nun sind solche meditativen Praxen der Angsterzeugung durchaus in der Frömmigkeitstradition zu finden, neu ist nur der theologische Zusammenhang: In seiner Kritik am timor servilis hat Luther nachdrücklich eingeschärft, dass Furcht in keiner Weise als Motiv geistlichen Handelns in Frage kommt, da sie in dieser Funktion nur Selbstüberschätzung oder Verzweiflung zur Folge haben kann. In Luthers meditativen Aneignungen hat Furcht daher eine radikale Umdeutung erfahren: Sie ist zum Zeichen des Heils geworden, zum affektiven Ausdruck unbedingter Unterwerfung unter das Gericht Gottes. Durch die Einwilligung in die eigene Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit bejaht der Mensch das göttliche Urteil über die Sünde. Diese Einwilligung in die Angsterfahrung ist theologisch begründet durch die Angst Christi. Der geängstigte Christus ist das Modell, das eigene Angstübernahme ermöglicht und zugleich in eine neue Deutungsperspektive stellt. Wer sich in solcher Weise mit Christus unter das Gericht stellt, hat zugleich Anteil an der Heilszuwendung Gottes in seinem Sohn. Dieser existenzielle Umgang mit Angst ist offensichtlich begründet in theologischen Deutungsvorgängen, die wir im Blick auf die Angsterfahrungen Luthers als kognitive Umstrukturierung beschreiben können. Zunächst entwickelt Luther einen neuen Deutungsrahmen des Angsterlebens, der den fatalen Zusammenhang von Bewertung und Vertiefung der Angst auflöst. 95 Die Erfahrung der prinzipiellen Nichtkompensationsfähigkeit der Furcht durch bewusstseinsgesteuertes Handeln kommt zusammen mit der augustinisch neu verstandenen paulinischen Gnadenlehre. Was in seinen Ansätzen in den Dictata bereits zu greifen ist, wird in der Römerbriefvorlesung voll entfaltet. Eine Grundeinsicht der Paulusexegese ist die prinzipielle soteriologische Ohnmacht des menschlichen Handelns Gott gegenüber. Damit bricht Luther nicht nur mit der optimistischen Einschätzung menschlicher Möglichkeiten im Nominalismus, er verwirft insgesamt 93 In diesem Zusammenhang war die grundlegende Bedeutung der großen Anfechtungsschilderung in den Resolutiones zu schildern, vgl. WA 1 557,33-558,13. 94 Vgl. Kapitel 4.2.5.3. 95 Vgl. den zweiten Schritt nach der Identifikation dysfunktionaler Kognitionen, das „Korrigieren von Fehlinterpretationen“ (M ARGRAF/SCHNEIDER, Panik, S. 66).

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die scholastische Annahme über die Entmachtung der Erbsünde in der Taufe. Dieser soteriologischen Ohnmacht des Menschen wird nun in rechtfertigungstheologischer Sprache die Unbedingtheit der göttlichen Gnade gegenübergestellt. Einsicht in die eigene Verlorenheit im „Großmachen der Sünde“ und unbedingte Überlassung an die Gnade Gottes in einer existenziellen Bewegung von Gerichtsbejahung, Selbstverurteilung und Glaube an die Christusgerechtigkeit: Dieser Zusammenhang kennzeichnet die frühe Rechtfertigungstheologie Luthers. Diese Einsicht in die Totalität der Sünde und die Erkenntnis der Alleinwirksamkeit der göttlichen Gnade brechen den Teufelskreis der Angst an entscheidender Stelle auf. Angst wird für Luther bewältigungsfähig, weil der menschlichen Selbsterfahrung jegliche soteriologische Relevanz abgesprochen wird. Dieser Zusammenhang greift selbst angesichts religiöser Zwangsgedanken. 96 Stattdessen wird Gnade nun nicht mehr als eine göttliche Voraussetzung begriffen, der menschliches Handeln im Vorhinein oder Nachhinein zu entsprechen habe. In der Entdeckung des Angstkreises erkennt Luther deutlich: „Die conditio richtet alles unglück an.“97 Daher wird seit der Römerexegese die Gnade von jeglicher Konditionalisierung befreit. Nur solche bedingungslose Gnade vermag eine unerbittlich gewordene Selbstbeurteilung heilsam zu relativieren. Psychologischer Bedingungszusammenhang und theologische Einsicht müssen an dieser Stelle sorgfältig aufeinander bezogen werden. So brachte Heinrich Denifle den Vorgang auf die kurzschlüssige Formel, Luther habe sich in der Beherrschung seiner Begierden als unfähig erwiesen und ange96 Vgl. dazu die Römerbriefvorlesung zu Röm 9,19: Selbst wenn ein Mensch unter dem Zwang der Anfechtung Gott lästere, gehe er darüber nicht zugrunde. Wenn ein Mensch durch solche „cogitationibus blasphemiarum“ (WA 56 401,11-12) gequält werde, könnten solche Lästerungen in Gottes Ohr willkommener klingen als selbst das Halleluja („gratiores sonent in aure Dei quam ipsum Alleluia“. [WA 56 401,13-14]). Dies gelte da, wo solche Lästerung vom Menschen leidend ertragen würde, wie es in der Angst und dem Erschrecken darüber ja offenbar sei. Solche Angst sei geradezu Zeichen eines guten Herzens („evidens signum sui cordis boni est ille pavor mali“. [WA 56 401,18-19]). Eine solche Umdeutung ermögliche es in der Tat, Zwangsgedanken gelassen zu ignorieren („Ideo remedium illorum est non curare eiusmodi cogitationes“. [WA 56 401,19-20]). Vgl. die Ausführungen in M ARGRAF/SCHNEIDER, Lehrbuch II: Ausdrücklich werden hier auch religiöse Formen von Zwangsgedanken erwähnt: „Je unannehmbarer ein aufdringlicher Gedanke für eine Person ist, desto unbehaglicher fühlt sie sich, wenn der Gedanke auftritt. So kommt es zu dem scheinbar paradoxen Fall des Priesters, der unter blasphemischen Gedanken leidet“ (S. 67). Luthers Umgang mit Zwangsgedanken erweist sich als ein Musterfall, wie man seine „Interpretationsmuster“ (S. 86) dergestalt verändern kann, dass Versuche der Unterdrückung oder der kompensatorischen Abwehr von Zwangsgedanken hinfällig werden. „Das Ziel muss darin bestehen, aufdringliche Gedanken erleben zu können, ohne sich von ihnen stören zu lassen.“ (S. 78) 97 WAT 5 440,6-7 Nr. 6017.

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sichts seines moralischen Scheiterns sein Unvermögen mit der Erbsünde identifiziert.98 Dass das Leiden an triebhafter Begierde bei Luther nur ganz am Rande steht, ist in der Forschung seither vielfach gezeigt worden. Genauso wird man sich hüten müssen vor Aussagen, Luther habe unmittelbar die Übermacht der Sünde in sich erfahren. Entscheidender Gedanke der Römerbriefvorlesung ist ja gerade, dass die Sünde nicht unmittelbar erfahren, sondern von Gott offenbart wird und als solche geglaubt werden muss. Luthers Verzweiflungserfahrungen und seine vertiefte Sündenlehre müssen vielmehr so aufeinander bezogen werden: Im vom Bedingungsgefüge des Gesetzes bestimmten Kreislauf der Angst machte Luther im maßlosen Anwachsen der Angst ungeheure Ohnmachtserfahrungen. Solche Verzweiflung ist nicht einfach unmittelbar der Schlüssel zur Sündenlehre, sie ist vielmehr der existenzielle Hintergrund, in dem Luther Zweifel an der Wahrhaftigkeit der überlieferten Gnaden- und Sündenlehre bekommen konnte. Auf seinem Erfahrungshintergrund war ihm die augustinisch vermittelte paulinische Rede von der Sünde als einer totalen Bestimmungsmacht eine Entdeckung. Diese Einsicht erwies sich ihm auf dem Hintergrund seiner Erfahrung des Scheiterns als einleuchtend. Die Erfahrung, dass Furcht sich in keiner Weise handelnd bewältigen lässt, dass das menschliche Bewusstsein seines affektiven Erlebens nicht mächtig ist und nicht mächtig zu werden vermag 99, verband sich in der Römerbriefvorlesung mit der doppelten Einsicht in die Übermacht der Sünde und in die Alleinwirksamkeit der göttlichen Gnade zum Heil des Menschen. Luthers Erfahrungen der Angst sind daher nicht Grund und Erklärung seiner neuen Theologie; sie sind der existenzielle Hintergrund, vor dem diese paulinischen Gedanken besonders evident und lebenspraktisch heilsam erfahren werden konnten. Seine theologischen Erkenntnisse erklären sich nicht aus seinen Erlebnissen, geschweige denn, dass sie an sie gebunden wären, sie vermochten sich aber in ihnen zu bewähren. Diese Bewährungserfahrung wird man als Grund der inneren Wahrheitsgewissheit ansehen können, mit der Luthers Schriften von Anfang an großen Eindruck gemacht haben. Abschließend ist die Entwicklung in der Ablassauseinandersetzung in den Blick zu fassen. Zugespitzt kann man sagen, dass hier erst die Gegebenheitsweise des Heils ins Zentrum der Aufmerksamkeit tritt. Das neue Zentrum des Rechtfertigungsgeschehens wird ab 1518 immer eindeutiger die Korrelation von promissionalem Evangelium und fiduzialem Glauben. 98 99

DENIFLE I, S. 404ff. Vgl. auch die Beobachtung der willensmäßig nicht kontrollierbaren Erfahrung von Angst in Existenzanalyse und Logotherapie: LÄNGLE, ALFRIED: Im Bann der Angst. Das versteckte Wirkprinzip der Paradoxen Intention von V. Frankl, WzM 58 (2007) S. 266280.

9.2 Luthers Angstbewältigung

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Gott teilt seine Gnade mit durch das als Zusage und Zuspruch begriffene Evangelium. Dieses ist nicht mehr nur anzeigendes Zeichen des Heils, sondern selbst Heilsgegenwart Gottes, welche den Glauben als unbedingtes Vertrauen im Menschen bewirkt. Die Entwicklung des Jahres 1518 ist in besonderer Weise auf die Frage der Gewissheit bezogen. Die paradoxe Gewissheit der Römerexegese war ein wesentlicher Fortschritt gegenüber Luthers Anfängen. Zugleich verblieb der Mensch jedoch solange in einem introspektiven Zirkel, wie die vertrauende Überlassung an Gott in einer Weise beschrieben wurde, dass die Tiefe der erfahrenen Negation noch Bedingung der Möglichkeit eines Umschlags in die Positivität des heilen Gottesverhältnisses war. Die im Ablassstreit erfahrene radikale Infragestellung von außen („Realangst“) und das damit aufgeworfene Problem der Wahrheitsgewissheit lassen sich als Veränderungskatalysator im Verlauf der Auseinandersetzung begreifen. In der konsequenten Ausrichtung auf das Hören des äußeren Wortes wird eine Vertikale im menschlichen Lebensvollzug dominant, mit deren Hilfe das menschliche Selbstverhältnis seiner destruktiven Dynamik entrissen wird und seinen Grund im Gottesverhältnis als gegeben erfahren kann. Die Alternative von Verdrängung oder Zwang der Furcht wird damit unterlaufen. Zu beschreiben bleibt, wie sich in der Folge dieser Entwicklung der Prozess der Bewältigung der Angst bzw. ihre Überwindung im Glauben darstellen. Folgende Momente lassen sich dabei unterscheiden: a) Der Umschlag in die heilvolle Gottesgemeinschaft nimmt ihren Ausgangspunkt nicht mehr im meditativen Kontext von Selbstanklage und Überlassung an Gott. Das äußere Wort des Evangeliums unterbricht vielmehr die Reflexionsvollzüge des geängstigten Selbstbewusstseins. Es hat formal die Funktion eines Gedankenstopps; dessen Gelingen kann in keiner Weise vom Subjekt erzwungen werden, sondern sich nur unverfügbar einstellen. b) Ist das Wort Gottes nur als ein von Menschen zugesprochenes Wort denkbar, so ist die religiöse Verwirklichung des Gottesverhältnisses nicht möglich, ohne dass Menschen dabei in den Raum intersubjektiver Beziehungen zu anderen Menschen gestellt werden. Das Institut der Beichte wird dabei nicht negiert, aber erweitert einerseits in einer neuen Konzentration auf die öffentliche Verkündigung in der Predigt, andererseits hinsichtlich der Verwirklichung des Priestertums aller Gläubigen in der christlichen Gemeinde. Die Bewältigung von Angst vollzieht sich somit stets im Zusammenhang von Beziehungserfahrungen. c) Neben seinem formalen Charakter als Gedankenstopp ist das äußere Wort in seinem Gehalt als Selbstzusage Gottes wahrzunehmen. Das religiöse Verhältnis zu Gott erfährt eine Intensivierung seiner personalen Beziehungsgestalt. Gott selbst wird als derjenige geglaubt, der vermittels der

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Anrede eine solche Lebensgemeinschaft aufbaut, die sich auf menschlicher Seite im Hören und Vertrauen ausdrückt. Neben diesem relationalen Aspekt geht es inhaltlich um die Gegenwart Gottes im Glauben, die Einheit mit Gott am Ort des gelebten Lebens. In dieser Verbindung begegnet dem Menschen die Zusage der Liebe, die sich als Neubestimmung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses erweist. d) Dieses Deutungsangebot wird angeeignet in einer Haltung des Vertrauens. Nur das unbedingte Vertrauen entspricht der bedingungslosen Gnade. Diese Fiduzialität des Glaubens ist die neue heilvolle Wirklichkeit. Vertrauen ist dabei das exzentrische Verhalten, indem der Mensch dergestalt in seine Bestimmung von außen einwilligt, dass er dabei zugleich die Begründung seiner selbst (und insofern Ichstärkung) erfährt. e) Diese Neubestimmung der eigenen Person geht mit dem Wandel des affektiven Selbsterlebens einher. Die Überzeugung vom Wahrsein der Selbstzusage Gottes erweist sich affektiv im Gefühl der Freude, des Friedens und Trostes. Dieser Erfahrungsraum wird selbst wiederum nicht zur Bedingung des Wahrseins des christlichen Glaubens. Er erweist sich als eine positive Verstärkung dergestalt, dass sich das Glaubensverhältnis auch im Spiegel der eigenen affektiven Verfasstheit der Wahrheit des Evangeliums vergewissert. f) Solche Erfahrungszusammenhänge lassen sich nicht vom Menschen her auf Dauer stellen. Das Auseinandertreten von Glaube und Erfahrung und damit das Fraglichwerden des Gottesverhältnisses bleibt beständige Möglichkeit der Anfechtung. Das Widerfahrnis ängstlicher Verstörung in der Wahrnehmung eigener seelischen Bodenlosigkeit ist zugleich wieder darin annehmungsfähig, das es als Erfahrung des Gesetzes gedeutet wird. Heilsam zu begegnen ist diesem Erleben wiederum auf keinem anderen Wege als auf dem gerade beschriebenen. 9.2.3 Das Verhältnis von Theologie und Psychologie 9.2.3.1 Hermeneutischer Gebrauch der Psychologie Ziehen wir Bilanz für das Verhältnis von theologischer und psychologischer Perspektive. Es ist klar, dass für die Theologie jeder psychologische Zugang zur Religion problematisch ist, der auf Formen des Reduktionismus hinausläuft. Unter Reduktionismus ist eine solche Haltung zu verstehen, die religiöse Gehalte oder Deutungsvollzüge immer schon auf anderes zurückführen will. Dabei setzt ein harter Reduktionismus prinzipiell die Illusionshaftigkeit religiöser Vorstellungen voraus. Ein weicher Reduktionismus fasst die religiösen Vollzüge als Epiphänomen anderer seelischer Wirkzusammenhänge auf und stellt so die prinzipielle Eigenständigkeit religiöser Erlebens- und Verhaltensweisen in Frage. Dass für die Theologie

9.2 Luthers Angstbewältigung

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Religion in einem solchen Sinne weder ableitungsfähig von Anderem noch rückführungsbedürftig auf Anderes ist, ist offensichtlich. In dieser Untersuchung wurde von der Psychologie ein hermeneutischer Gebrauch gemacht, der auf ein besseres Verständnis der Bedingungszusammenhänge religiöser Erfahrungen und theologischer Deutungsprozesse zielt. In einer solchen hermeneutischen Perspektive geht es um den Versuch, mittels psychologischer Kategorien und Beschreibungen die Entstehungsbedingungen und Vollzugsumstände religiöser Orientierung präziser zu erfassen und zu formulieren. Ein solch deskriptiver Gebrauch ersetzt oder verhindert die theologische Reflexion nicht im Mindesten, sondern nötigt diese nur zu gesteigerter Präzision. In diesem Sinne berührt sich der hier gewählte Zugang mit dem Ansatz von Gerd Theißen. 100 Die kritische Anfrage, damit würden sachfremde, moderne Kategorien an historische Texte von außen herangetragen, sollte nicht die Möglichkeit verkennen, dass auch vormoderne oder antimoderne Kategorien in die Texte hineininterpretiert werden können. Der konkrete Bezug auf aktuelle Deutungskategorien unseres heutigen Weltumgangs ist in seinen Voraussetzungen wenigstens transparent, konkret kritisierbar und offen für vertiefte Reflexion. 9.2.3.2 Psychoanalyse und Verhaltenstherapie Nachdem wir noch einmal den Prozess der Angstüberwindung bei Luther mittels psychodynamischer und verhaltenstherapeutischer Perspektiven betrachtet haben, lässt sich rückblickend deren Leistungsfähigkeit einschätzen: Mit den verhaltenstherapeutischen Beschreibungen waren die strukturelle Verfasstheit angstgesteuerter Erfahrungen und die Bedeutung kognitiver Interpretationsschemata differenziert zum Ausdruck zu bringen. a) Mit Hilfe des Panikkonzepts konnten semantische Potenziale erschlossen werden, den Angstkreislauf in seiner dynamischen Zuspitzung so 100 Vgl. T HEISSEN, GERD: Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007; T HEISSEN, GERD und P ETRA VON GEMÜNDEN (Hrsg.): Erkennen und Erleben. Beiträge zur psychologischen Erforschung des frühen Christentums, Gütersloh 2007. Mit GERD T HEISSENS Ansatz berührt sich die hier vorgelegte Untersuchung in zweierlei Hinsicht: zum einen in der Forderung nach einer Historischen Psychologie, die sich ihrer hermeneutischen Herausforderung bewusst ist, zugleich aber den Forschungsstand der heutigen empirischen Psychologie voraussetzt (T HEISSEN, S. 15ff.); zum anderen in der Rezeption lerntheoretischer, tiefenpsychologischer und kognitiver Ansätze (S. 40ff.). Anders als bei T HEISSEN wurde hier nicht ein spezifisch religionspsychologischer Zugang als Horizont der Untersuchung gewählt. Stärker als bei diesem wurde eine prinzipielle Unterscheidung von theologischer und psychologischer Perspektive aufrechterhalten.

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zu beschreiben, wie er sich in seiner religiösen Form bei Luther rekonstruieren ließ. Der Zusammenhang von aufrechterhaltenden Bedingungen des Angsterlebens (das tief verinnerlichte Bedingungsgefüge innerhalb des Bußsakraments) sowie der Ansatz zu ihrer möglichen Unterbrechung auf der Ebene kognitiver Bewertungen konnten plastisch vor Augen geführt werden. Dabei geht diese Untersuchung davon aus, dass auch Luther selbst analoge Beschreibungen dieser Zusammenhänge gelungen sind, dass sich diese aber mit Hilfe heutiger Begrifflichkeiten noch deutlicher formulieren lassen. b) Durch die Analogiebildung zu kognitiven Ansätzen ließ sich plausibel machen, inwiefern der theologische Umbruch in Luthers Denken zugleich auf sein Erleben durchschlagend sein konnte. Luthers Erkenntnis der Rechtfertigungslehre erweist sich auf sein Angsterleben bezogen als eine kognitive Umstrukturierung, die eine völlig neue Gestaltung der Gottesbeziehung eröffnete. 101 Wichtige theologische Zusammenhänge konnten dabei in Analogie zu therapeutischen Interventionen (entkatastrophierender Umgang mit Zwangsgedanken, Gedankenstopp etc.) gedeutet werden. Es macht den Charme dieses Zugangs aus, mit seiner Hilfe die lebensweltliche Relevanz theologischer Reflexion deutlich herausarbeiten zu können. Im Blick auf die Psychoanalyse ist es schon von der historischen Quellenlage her klar, dass eine tiefenpsychologische Betrachtung in einem solchem Fall ihre wesentliche Stärke, die Berücksichtigung und Bearbeitung der individuell-biographischen Entwicklung eines Menschen, gar nicht ausspielen kann. 102 Der Gewinn einer solchen Perspektive kann insofern 101

Am Rande sei vermerkt, dass solche Möglichkeiten ihre Rezeption innerhalb der theologischen Seelsorgelehre im Wesentlichen noch vor sich haben dürften. Es ist nachvollziehbar, dass sich in den teils ideologischen Gegensätzen der 1960er und 1970er Jahre die Seelsorgebewegung stärker auf die hermeneutisch-geisteswissenschaftliche Psychoanalyse einließ. (Vgl. S CHARFENBERG, JOACHIM: Einführung in die Pastoralpsychologie, Göttingen 21990, bei dem sich die Psychoanalyse als „Paradigma der Pastoralpsychologie“ theologischerseits im Zenit ihrer Anerkennung befand.) Immerhin ist der grundlegende Wandel der verhaltenstherapeutischen Ansätze inzwischen auch in der Pastoralpsychologie rezipiert worden, so dass es keine grundsätzlichen Vorbehalte mehr gegen eine stärkere Berücksichtigung ihrer Erkenntnisse gibt. (Vgl. K LESSMANN, M I2 CHAEL: Pastoralpsychologie. Ein Lehrbuch, Neukirchen 2004. S. 185.) Es gibt keinen Grund für eine völlige Abkehr von der Psychoanalyse bzw. einen prinzipiellen Vorrang der Verhaltenstherapie; dass aber eine seit der empirischen Wende prinzipiell erfahrungsund wissenschaftsorientierte Seelsorgelehre erheblichen Aufholbedarf in der Rezeption der empirischen Psychologie sowie der Verhaltenstherapie besitzt, wird man kaum bestreiten können. 102 Vgl. in diesem Sinne auch: H ERMS, E ILERT: ‚Antichrist‘ – Tiefenpsychologische Hintergründe eines klassischen Falls theologischer Praxis, WzM 37 (1985) S. 90-106. S. 95ff.

9.2 Luthers Angstbewältigung

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kein diagnostischer sein, sondern muss sich ebenfalls strukturell erweisen. Vor allem die Stichworte a) Abwehrmechanismen und b) Freiheitsgewinn scheinen für einen Vergleich geeignet: a) Die tiefenpsychologische Theorie der Abwehr bzw. der Verdrängung besitzt interessante Anschlussmöglichkeiten an Luther. Die Erkenntnis der Vergeblichkeit einer angstgesteuerten religiösen Praxis ist ein wesentlicher Gewinn in Luthers früher Theologie. Luthers Einsicht in die willentlich nicht steuerbare Dynamik affektiver Bestimmung steht in erheblicher Nähe zu Freuds Beschreibungen des Ichs, das nicht mehr Herr im eigenen Haus ist. 103 Luther nimmt damit letztlich die Kritik an dem zwangsneurotischen Dilemma der Frömmigkeit vorweg.104 Die Vergeblichkeit religiöser Abwehrmechanismen ist Kern der Frömmigkeitskritik, die Luther im Zusammenhang seiner frühen Rechtfertigungslehre entwickelt und die in der Auseinandersetzung um den Ablass zentral zum Tragen kommt. Auf der einen Seite bestätigt Luther damit die Behauptung möglicher zwanghafter Züge des Religionsvollzugs, auf der anderen Seite relativiert er diese zugleich in ihrem Universalitätsanspruch durch den Nachweis, dass das religiöse Bewusstsein zu solcher Selbsterkenntnis durchaus auch von religiösen Einsichten her fähig ist. 105 b) Die berühmte Perspektive Freuds „Wo Es war, soll Ich werden“ zielt auf den Gewinn individueller Freiheit als Resultat des therapeutischen 103 Vgl. in diesem Sinne auch den Theorievergleich bei E ILERT H ERMS, Luther und Freud, S. 117ff. Beide Theorien stellen HERMS zufolge das Personzentrum des Menschen als Entscheidungsinstanz in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung, um zugleich den Vorrang des Gefühlslebens und somit die Einschränkung der Steuerfunktion des Ichs nachzuweisen. Der Unterschied besteht darin, dass diese Abhängigkeit der Willenstätigkeit vom Affektleben bei Freud immanent-biographisch, bei Luther dagegen transzendent im Horizont des Gottesverhältnisses beschrieben wird. 104 Vgl. vor allem FREUD, SIGMUND: Zwangshandlungen und Religionsübungen (1907), GW VII. S. 127-139, mit der berühmten Zuspitzung, es sei „die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universale Zwangsneurose zu bezeichnen“. (GW VII, S. 138f.) 105 Interessant ist in diesem Zusammenhang FREUDS Bemerkung, dass es angesichts von Übertreibungen auf dem Gebiet ritueller Zeremonien zu „ruckweise einsetzenden Reformen“ komme, „welche das ursprüngliche Wertverhältnis herzustellen bemüht sind“ (GW VII, S. 138). In dieser wohl auch auf die Reformation gemünzten Anspielung ist freilich ein positiver Begriff von Religion impliziert, den F REUD in seinen kulturtheoretischen Werken nicht weiter auszuführen vermochte! Zur positiven Bedeutung der freudschen Religionskritik für die Theologie vgl. SCHARFENBERG, J OACHIM: Sigmund Freud und seine Religionskritik als Herausforderung für den christlichen Glauben, Göttingen 3 1973. Ähnlich vgl. auch KOCH, TRAUGOTT: Freuds Entdeckung und ihre Bedeutung für eine gegenwärtige Theologie, in: Freuds Gegenwärtigkeit. Hrsg. von Aron Ronald Bodenheimer. Zwölf Essays, Stuttgart 1989. S. 284-310. K OCH gelingt es in seinem Beitrag in überzeugender Weise, menschliche Gefangenschaft unter dem Zwang der Angst in Verbindung zu bringen mit der christlichen Rede von der Sünde, vgl. S. 300.

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Prozesses. Vor allem das Moment einer emotional korrigierenden Erfahrung in intersubjektiver Beziehung lässt sich an dieser Stelle auch für Luther festhalten. Zunächst wird man dabei an Luthers Begleitung durch Staupitz denken, aber nicht zuletzt auch auf die Erfahrung einer neuen Gottesbeziehung verweisen müssen. 106 9.2.3.3 Wechselseitiger Gewinn Die wechselseitige Bezugnahme theologischer und psychologischer Perspektiven zielt letztlich auf einen beiderseitigen Gewinn. Vorausgesetzt ist dabei der historische Umstand, dass sich seelische Erlebnisbedingungen nicht unabhängig von ihrer geschichtlich-kulturellen Genese erfassen lassen. Die Selbsterfahrung menschlicher Subjektivität innerhalb der westlichen Moderne lässt sich dabei nicht ohne die spezifischen Schübe der Individualisierung begreifen, die vom Einfluss des christlichen Glaubens gar nicht zu trennen sind. Sowohl die Begriffs- wie die Mentalitätsgeschichte der Angst sind in diesem Sinne bisher nur sehr unzureichend geschrieben worden. In systematischer Perspektive zielt der Dialog auf folgenden Ertrag: Der theologische Gewinn besteht zunächst in einem phänomenologischen Zuwachs von Beschreibungsmöglichkeiten. Im Dialog mit psychologischen und therapeutischen Kontexten vertieft die Theologie ihre Ausdrucks- und Verstehensmöglichkeiten im Bezug auf menschliches Erleben. Diese treten zu den theologischen Gehalten nicht in Konkurrenz, sondern schärfen den Blick für die existenziellen und lebensweltlichen Bedingungen ihrer Aneignung im religiösen Glauben. Zugleich erwächst der Theologie damit die Herausforderung, die spezifische Funktion der religiösen Gehalte in ihrer Deutungskompetenz gegenüber der menschlichen Lebenspraxis genauer zu bestimmen. Damit verbunden ist auch ein sachlicher Präzisionsgewinn. Mit Hilfe der psychologischen Kategorien lässt sich m. E. deutlicher formulieren, worin die seelische und geistliche Problematik der frühen Anfechtungen Luthers bestanden hat. Luthers theologische Erkenntnisse lassen sich mit-

106 Vgl. die Beobachtung von H ERMS: „Nicht nur die psychoanalytische, sondern auch die theologische Theorie bringt bestimmte Formen von personaler Interaktion als den entscheidenden Rahmen für den Reifungsprozess der Person in Anschlag.“ (H ERMS, Luther und Freud, S. 121) Aus theologischer Sicht dürfte es darüber hinaus die besondere Anschlussfähigkeit der Psychoanalyse ausmachen, dass sie eine Sicht des Menschen impliziert, die diesen in der Ganzheit seines Lebensvollzugs und in der Einheit seines Selbsterlebens ernst nimmt. Der Aspekt der Ganzheit steht dabei für die Geschichtlichkeit des Menschen, der nur mit seiner Biographie er selbst ist. Einheit bezieht sich auf die Integration der leiblichen, seelischen und geistigen Funktionen.

9.2 Luthers Angstbewältigung

371

tels solcher Beschreibungen besser abheben von den seelischen Erlebnisbedingungen, die sie ermöglicht haben. Zu fragen ist aber abschließend auch, ob es einen psychologischen Gewinn geben kann in der Beschäftigung mit religiösen bzw. theologischen Praxen der Angstbewältigung. Ein religiöser Umgang mit Furcht knüpft an die im Phänomen der Angst selbst wahrnehmbare Unbedingtheitsdimension menschlichen Erlebens an. Ein solcher Horizont vermag nicht die therapeutische Bemühung psychologischer Ansätze zu ersetzen. Im Gespräch mit diesen kann sich aber der Glaube als eine Lebensdeutung erweisen, die nicht aus den naturalen und emotionalen Bedingungen menschlichen Erlebens ablesbar ist, diese aber konstruktiv aufzunehmen und zu gründen weiß. Freud bestimmte die Religion als den „Versuch, die Sinnenwelt, in die wir gestellt sind, mittels der Wunschwelt zu bewältigen.“ 107 An den Gedanken der Lebensbewältigung ist positiv anzuknüpfen. Jenseits einer Konzentration auf nur pathologische Muster ist Glaube bezogen auf Erfahrungen von Angst und Freiheit, Glückssehnsucht und Scheitern, Erfüllung und Tod. Damit sind Sinndimensionen menschlichen Lebens angesprochen, die zu ignorieren man sich nur um den Preis lebensweltlicher Abstraktheit leisten kann. Im religiösen Glauben wird die Entwicklung der Person thematisch in der Einheit ihrer seelischen und geistigen Dimension. Es geht dabei um die Chance, auch angesichts des Misslingens freiheitsbestimmter Lebensentwürfe in Erfahrungen von Schuld und Versagen einen Neuanfang erfahren zu können; um das Gelingen des Lebens auch im Horizont von Tod und Sterben. Letztlich sind damit Fragen berührt, an denen jedes humane Interesse an einer gelingenden Lebensführung Desinteresse und Unbetroffenheit auf Dauer nur vorschützen kann. Zugleich hält die religiöse und theologische Tradition einen reichen Fundus von Symbolen und Ritualen vor, mittels derer eine geistliche Bewältigung lebensweltlicher und unbedingter Angsterfahrungen gesucht wird. Die traditionellen Redeformen von Gott, Erlösung und Versöhnung sind genauso wie die spirituellen Vollzüge Singen, Beten und Meditieren auf die Herausforderung erheblicher Verstörungen und Traumatisierungen des Lebens bezogen. Die Gottesbeziehung erweist sich als Raum unbedingter Artikulation der eigenen Selbsterfahrung und zugleich als Ressource bedingungsloser Annahme. Menschliche Freiheit wird in diesem Horizont lebbar auch unter den Bedingungen von Schuld und Scheitern, 107 GW XV, S. 181. Eine solche Religionskritik lebt von den Implikationen eines positivistischen Weltbildes, die ihrerseits alles andere als voraussetzungslos bzw. evident sind. Zu ihrer religionsphilosophischen Reichweite vgl. M AHLMANN, T HEODOR: Was genau verstand Sigmund Freud unter ‚Illusion‘ oder wie weit reicht die Religionskritik? WzM 46 (1994) S. 79-101.

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eigene Endlichkeit wird annehmbar auch angesichts letzter Bedrohung durch den Tod. Diese Zusammenhänge haben in der Theologie Luthers eine exemplarische Bearbeitung erfahren. Die besondere Bedeutung seines Umgangs mit Furcht wird man darin erkennen müssen: Luthers theologisches Denken von Gott und Mensch ist in hohem Maße darauf eingestellt, Angst unverstellt wahrnehmen und empfinden, dabei aber auch bewältigen und überwinden zu können. Die darin implizierte Praxisweisheit dürfte in vielfacher Hinsicht noch so manchen ungehobenen Schatz möglicher Lebensbewältigung enthalten. Der lebensweltliche Rang solcher Fragen sollte eine Auseinandersetzung mit der religiösen Tradition auch aus psychologischer Perspektive als sinnvoll erscheinen lassen.

9.3 Die Dialektik der Angst im Gottesverhältnis 9.3 Dialektik der Angst

Abschließend gilt es, wenigstens skizzenhaft die Koordinaten einer von Luther inspirierten Theologie der Angst im Horizont der Gegenwart zu zeichnen. In seiner theologischen Durchdringung des ersten Gebotes hat Luther die dialektischen Bestimmungen des Gottesverhältnisses so formuliert, dass das menschliche Gefühlsleben in seiner Lebensvielfalt sowohl artikulierbar bleibt als auch bewältigungsfähig wird. Als Ausgangspunkt wählen wir dabei sowohl kritische Anfragen wie konstruktive Fortsetzungen in der Rezeptionsgeschichte von Luthers Umgang mit Angst. Im Aufbau orientieren wir uns dabei an vier maßgeblichen Gesichtspunkten: Gott, Glaube, Welt und Jesus Christus. Im Blick auf Gott geht es um die im Anschluss an Luther diskutierte Dialektik von Liebe und Allmacht (9.3.1). Unter dem Gesichtspunkt des Glaubens ist die grundlegende Kategorie der Anfechtung vertiefend aufzugreifen (9.3.2). Die Reflexion auf die Welt als geschichtlichen Horizont des Glaubens entfaltet das Phänomen des Gestaltwandels menschlicher Angsterfahrungen auch im Blick auf das Gottesverhältnis (9.3.3). Zuletzt ist die orientierende Mitte (9.3.4) des christlichen Gottesverhältnisses in der Gestalt Jesu Christi zu betonen. 9.3.1 Angst im Gottesverhältnis In die Auslegung des ersten Gebotes hat Luther eine bleibende Dialektik des Gottesverhältnisses beschrieben. Das polare Gegenüber von „Fürchten“ und „Lieben und Vertrauen“ erwies sich als didaktische Kurzform der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und war bezogen auf das Verhältnis von Gerichtszorn und Liebe Gottes. Schon in der Forschungsgeschichte ist deutlich geworden, dass eine solche dialektische Bestimmung des Gottesverhältnisses zunehmend als problematisch empfunden wurde.

9.3 Dialektik der Angst

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Vergegenwärtigen wir uns daher noch einmal eine exemplarische Kritik vom Gesichtspunkt des Angstproblems her. Oskar Pfister108 stellt ein typisches Beispiel einer solchen Luther-Rezeption dar, in der die Überwindung der Furcht so zu Ende gedacht werden soll, dass die Furcht überhaupt aus dem Gottesverhältnis zu beseitigen ist. Pfister rekonstruiert die schweren Ängste des jungen Luthers dahingehend, dass die Allgegenwart der göttlichen Straf- und Höllendrohung des mittelalterlichen Christentums Luther in permanenter Furcht quälte. Nachdem die angebotenen Formen der Angstbeschwichtigung ihm keinen Trost verschaffen konnten, hätte Luther in seinem Turmerlebnis eine grundlegende Wende erfahren, in deren Folge das Gottesverhältnis allein von Liebe und Gnade geprägt wurde. „Die Inthronisierung der Liebe war für ihn die Entthronung der Angst.“ 109 Leider habe Luther diese Umstellung des Gottesverhältnisses nicht völlig konsequent durchführen können. Retardierende Elemente wie die Vorstellungen eines göttlichen Zorns und der Hölle oder des prädestinierenden Wirkens Gottes habe Luther leider nicht abstoßen können, so dass diese Elemente durch ihre angstauslösende Kraft den Gedanken der Liebe immer wieder verdunkeln konnten. Pfister stellt fest: „Von einer völligen Befreiung von Angst kann bei Luther daher nicht geredet werden“, so wie „er auch in seiner Lehre die Angst als etwas Normales, ja Notwendiges hinstellt.“ 110 Diese von Pfister formulierte Kritik des Gottesgedankens ist eingebunden in einen umfassenden Wandel des neuzeitlichen Gottesbewusstseins, dessen Beweggründe und Konsequenzen hier nicht zu entfalten sind. An prominenter Stelle sind sie uns in der Forschungsgeschichte nicht zuletzt in der Lutherdeutung Albrecht Ritschls begegnet. Dessen Zurückdrängung der Rede von einem göttlichen Zorn (so berechtigt dies gegenüber einer falschen Vergegenständlichung dieses Gedankens auch sein mag) oder auch die Beurteilung von Luthers De servo arbitrio als „unglückliches Machwerk“ 111 ist hinter manchen Auseinandersetzungen der Lutherdeutung unverkennbar. In der vom Krisenbewusstsein nach dem Ersten Weltkrieg bestimmten theologischen Neubesinnung hat die dialektische Beschreibung des Gottesverhältnisses bei Luther neue Aufmerksamkeit gefunden. Denn offensichtlich war es der überwältigende Eindruck einer Generation, dass sich die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges nicht nach dem Muster eines allein auf die Liebe konzentrierten Gottesgedankens deuten und bewältigen ließen. Die für viele so zündende Beschreibung Gottes als des „Ganz Ande108 Vgl. OSKAR P FISTER ; P FISTER kommt das Verdienst zu, frühzeitig als Pfarrer und Psychoanalytiker für eine Vermittlung beider Perspektiven eingetreten zu sein. 109 P FISTER , S. 307. Zu Luther vgl. S. 298-321. 110 P FISTER , S. 320. 111 R ITSCHL, S. 221.

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Kapitel 9: Dialektik der Angst im Gottesverhältnis

ren“112 markiert das empfundene Ungenügen.113 Rudolf Otto brachte mit seiner Rede von Gott als mysterium tremendum und fascinans einen Erfahrungsraum zur Sprache, der in dieser Umbruchsituation vielfältig aufgegriffen wurde. Otto hat dabei selbst auf den wesentlichen Einfluss Luthers verwiesen, der ihn diese Dimension des Gottesgedankens entdecken ließ. 114 Im Kontext dieser Theologie der Krise hat Rudolf Bultmann den Gottesgedanken vermeintlich unspektakulär, aber doch folgenreich formuliert als „der Allmächtige bzw. die alles bestimmende Wirklichkeit“115. In der Wirkungsgeschichte116 dieser Formulierung ist die Einsicht festgehalten, dass der Gottesgedanke auf die Gesamtheit der Wirklichkeit bezogen werden muss, wenn überhaupt ernsthaft von Gott geredet werden soll. Von Gott kann in diesem Gegenüber zur Welt aber nur im Sinne einer schlechthin überlegenen Macht gesprochen werden. Es war Luthers tiefe Überzeugung in den Antinomerdisputationen, dass der Mensch nur dann angesichts des Todes oder der Macht des Schicksals bestehen kann, wenn Gott im Gottesverhältnis als die überlegene Instanz angenommen wird, die sowohl hinter diesen Widerfahrnissen steht als auch diese zu überwinden vermag. Gott kann nur dann „über alle Dinge“ im Glauben gefürchtet und geliebt werden, wenn er auch als der „Herr“ (Ich bin der Herr, dein Gott) über alle Dinge geglaubt wird. Dass diese „Herrschaft“ Gottes ihre angstauslösenden Seiten hat, ist in der Religionsgeschichte eindrücklich und teilweise 112 O TTO, RUDOLF: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (Beck’sche Reihe 328), München 1991 (1917). S. 28ff. 113 Vgl. etwa W ALTER , J OHANNES V.: Die Theologie Luthers, Gütersloh 1940. Es war „der Weltkrieg, der hier Wandel geschaffen hat. Das furchtbare Erleben Gottes, das in diesem Weltgericht liegt, hat der jüngsten theologischen Generation das Verständnis für Luthers Gottesbegriff geöffnet.“ (W ALTER, S. 27) 114 „Ja, an Luthers ‚De servo arbitrio‘ hat sich mir das Verständnis des Numinosen und seines Unterschiedes gegen das Rationale gebildet lange bevor ich es im Qädosch des Alten Testaments und in den Momenten der ‚religiösen Scheu‘ in der Religionsgeschichte überhaupt wiedergefunden habe.“ (O TTO, S. 123) 115 B ULTMANN, RUDOLF: Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? (1925) In: Ders.: Glauben und Verstehen. Bd. I, Tübingen 21954. S. 26-37. S. 26. Zum Gottesgedanken vgl. auch ders.: Die Krisis des Glaubens (1931), in: Glauben und Verstehen. Bd. II, Tübingen 1952. S. 1-19. In den unterschiedlichen Anläufen der Ausformulierung des Gottesgedankens wird man eine Konkretion sehen können dessen, was alles bestimmende Wirklichkeit bedeutet: „Die Macht, die des Zeitlichen und Ewigen mächtig ist, ist Gott.“ (S. 3) „Gott ist die rätselhafte Macht, jenseits der Zeit und des Zeitlichen mächtig, jenseits des Daseins und im Dasein wirkend.“ (S. 4) „Für den Glauben ist Gott die unverständliche, rätselhafte Macht, die mein konkretes Dasein durchwaltet und begrenzt.“ (S. 7) „Die dunkle, rätselhafte Macht, die uns in der Welt, in der Zeit begegnet.“ (S. 8) 116 Vgl. die positive Rezeption dieses Gottesbegriffs bei HÄRLE , W ILFRIED: Dogmatik, Berlin/New York. 32006. S. 211; P ANNENBERG, WOLFHART: Wissenschaftstheorie und Theologie (stw 676), Frankfurt/Main 1987. S. 304 und K ORSCH, Religionsbegriff, S. 341.

9.3 Dialektik der Angst

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auch erdrückend dokumentiert. Dass Gott diese seine Herrschaft als Allmacht der Liebe in Jesus Christus zur Geltung gebracht hat, ist dem gegenüber als die Summe des Evangeliums zu betonen. Dabei ist es insbesondere der christliche Osterglaube, der sich auf die Durchbrechung der Macht des Todes in der Auferstehung Jesu Christi bezieht. Der auf solche Dialektik von Macht und Liebe eingestellte Glaube wird in diesem spannungsvollen Zusammenhang zur Wahrnehmung von Furcht nicht nur im Gottesverhältnis, sondern auch im Selbst- und Weltverhältnis befähigt. Im Hören auf das Zeugnis des Evangeliums von der Übermacht göttlicher Liebe gegenüber letzter Bedrohtheit menschlicher Existenz findet der Glaube den tragenden Grund seiner Existenz, von dem aus die unvermeidlichen Widerfahrnisse von Furcht bewältigungsfähig werden. Das nach den Krisenerfahrungen des Ersten Weltkriegs entwickelte Bewusstsein von Gott als der alles bestimmenden Wirklichkeit hat den Vorzug, auf eine moderne Wandlungsgeschichte im Gottesbewusstsein bereits kritisch eingestellt zu sein. In diesem Sinne ist die Lehre von der Allmacht Gottes im Verhältnis zu seiner Liebe der Horizont, in dem das von Luther beschriebene Gottesverhältnis bedacht werden muss. 117 Dass die Herausforderungen der theologischen Gotteslehre an dieser Stelle erheblich sind, ist offensichtlich. Sie sind freilich nicht schwerwiegender, als die Herausforderung des menschlichen Lebens angesichts seiner vielfältigen Bedrohungen. 9.3.2 Angefochtener Glaube Kann der christliche Glaube Luther zufolge nicht so von Gott reden, dass jedes angstauslösende Element des Gottesgedankens getilgt wird, so kann umgekehrt nicht vom Glauben geredet werden, ohne diesen als angefochtenen Glauben zu bedenken. Auch hier können wir von der kritischen Wahrnehmung von Luthers Verhältnisbestimmung von Angst und Glaube in der Rezeptionsgeschichte ausgehen. Niemand hat dabei das Ideal eines angstlosen Glaubens entschiedener entfaltet als Hans Urs von Balthasar. 118 Ausdrücklich erhebt Balthasar den Anspruch, von einem biblischkatholischen Ausgangspunkt aus eine angemessenere Angstdeutung entwickeln zu können, als es in der Nachfolge der lutherisch-kierkegaardschen Tradition in der modernen Existenzphilosophie geschehen sei. Ausgangspunkt ist für ihn die These, es gebe eine „vollkommene und endgültige Besiegung der menschlichen Angst durch das Kreuz“ 119. Damit sei jede 117 Siehe zuletzt in diesem Sinne B AYER, O SWALD: Gottes Allmacht, in: Ders.: Zugesagte Gegenwart, Tübingen 2007. S. 111-125. 118 B ALTHASAR , H ANS URS V.: Der Christ und die Angst, Einsiedeln 1953. 119 B ALTHASAR , S. 42.

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Kapitel 9: Dialektik der Angst im Gottesverhältnis

Angst für den Christen unmöglich geworden; die Angst sei ihm weggenommen und durch die Liebe ersetzt. Diese „Angstlosigkeit des Christen vor Gott“ sei als ein „striktes Gebot“120 zu betrachten: für die moderne bzw. neurotische Weltangst gelte: „Der Christ hat zu dieser Angst schlechterdings keine Erlaubnis, keinen Zugang. Ist er trotzdem Neurotiker und Existenzialist, dann fehlt es ihm an christlicher Wahrheit, dann ist sein Glaube krank oder schwach.“121 In diesem Zusammenhang sucht von Balthasar die Auseinandersetzung mit Luthers Angstdeutung. Luther habe den gebotenen Ausschluss der Angst aus dem Gottesverhältnis nicht nachvollziehen können, sondern Angst und Gewissheit des Glaubens als eine „flackernde Dialektik“122 beschrieben: „Hier irgendwo hat Luther versagt, so abgründig tief im übrigen sein Wissen um die christliche Angst gewesen sein mag. Er musste zu seiner dialektischen Lösung gelangen, weil sein Erlösungsbegriff allzu nah beim alttestamentlichen, das heißt Verheißungshaften und Eschatologischen verharrte“123.

Balthasars Überbietungsversuch der gesamten neueren Existenzphilosophie und Psychotherapie sieht in dieser letztlich eine säkularisierte Umsetzung lutherischer Grundgedanken. Gegen dessen Gleichzeitigkeit von Glaube und Angst, Furcht und Gewissheit setzt er das Ideal eines angstfreien Glaubens, der als „angstloses Ja zur Gnade“ 124 auf eine ontologische Umgestaltung des Menschen aufbaut.125 120 121 122

B ALTHASAR, S. 45. B ALTHASAR, S. 46. Ebd. Vgl. in diesem Sinne auch schon die Abgrenzung vom lutherischen simul iustus et peccator. (B ALTHASAR, S. 54) 123 Ebd. Etwas später verdeutlich B ALTHASAR , wie er in Abgrenzung zum katholischen Heilsverständnis sich die lutherische Erlösungslehre vorstellt: „Weil der Katholik die Erlösung nicht bloß als eine objektive Tatsache, die am Kreuz gewirkt worden ist und die der Glaubende mitsamt ihrer Wirkung zur Kenntnis nimmt, ansehen kann, sondern zwischen der objektiven und subjektiven Erlösung die Forderung der teilnehmenden Aneignung sieht, darum ist für ihn der Weg der Sündenangst zu einer erlösenden Angst ein wirklicher Weg“. (B ALTHASAR, S. 59) Wie wenig Luthers Glaubensverständnis mit dieser Karikatur zu tun hat, dürfte im Verlauf der Darstellung deutlich geworden sein; sowohl, dass es in Luthers Verständnis des Glauben gerade um eine eminente Weise teilnehmender Aneignung geht, als auch wie verfehlt es ist, dies unter die Kategorie der „Forderung“ zu stellen. 124 V ON B ALTHASAR , S. 47. Trotz eines völlig anderen Ausgangspunktes zeigt sich bei E UGEN DREWERMANN eine vergleichbare Problematik. Vgl. DREWERMANN, EUGEN: Psychoanalyse und Moraltheologie. Bd. 1: Angst und Schuld, Mainz 1982; Ders.: Erlösung von der Angst, in: Ders.: Wort des Heils. Wort der Heilung. Bd. II: Reden von Gott, Gespräche und Interviews, hrsg. von Bernd Marz (Serie Piper 1623), München 1994. S. 134-153. Auch D REWERMANN geht es darum, dass Furcht durch Vertrauen verdrängt wird. „Am ‚Baum in der Mitte des Gartens‘ zu leben, bedeutet, ohne Angst sich inmitten der Welt geborgen zu fühlen und die Erde zu erleben wie einen Garten, in den hinein

9.3 Dialektik der Angst

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Dem gegenüber ist hier die prinzipielle Bedeutung der Kategorie der Anfechtung für die Theologie Luthers zu betonen. Die Geschichte der Anfechtungsthematik ist bisher nur unzureichend geschrieben worden. Sowohl Luthers Rezeption der spätmittelalterlichen Tentatiolehre und die Bildung seines Anfechtungsbegriffs in der Frühzeit 126 als auch dessen systematische und phänomenologische Spannbreite bedürften viel intensiverer Aufmerksamkeit. In der Tradition ist der Begriff der tentatio ganz von dem her entwickelt, was wir als „Versuchung“ beschreiben würden. Das Begehrungsvermögen wird verlockt, sich einer anderen Bestimmung zu unterwerfen als der, der sich der Mensch im Glauben zugehörig weiß. In der Versuchung entsteht ein Widerspruch von Sein und Sollen. Luthers besonderer Beitrag zur Begriffsgeschichte besteht in der Erweiterung dieses Schemas. Der Grundbegriff der tentatio steht ihm für die Infragestellung des Gottesverhältnisses überhaupt; und zwar in solcher Radikalität, dass auch jedes mögliche menschliche Selbstverhältnis darin aufgehoben wird. Nicht allein das Begehrungsvermögen steht im Fokus, sondern auch das Überhandnehmen anderer affektiver Betroffenheitsformen wie Furcht und Traurigkeit. Anfechtung wird somit zu einer Kategorie, die das affektive Gefährdetsein des Menschen insgesamt auszulegen vermag. Die Zuspitzung liegt dabei stets auf der Störung des Gottesverhältnisses. 127 Gott selber den Menschen gesetzt hat.“ (DREWERMANN, Psychoanalyse, S. 166) DREWERMANN vertritt zwar kein radikales Ideal eines angstfreien Glaubens, wie in der grundsätzlichen Kritik von GUNDA SCHNEIDER-FLUME behauptet. So vertritt er im Blick auf Jesus nicht dessen Angstfreiheit. „So verstehe ich Getsemani und Golgota als Durcharbeiten eines Extrems von menschlicher Angst und Erlösungsbedürftigkeit.“ (DREWERMANN, Erlösung, S. 138) Gleichwohl besteht die problematische Quintessenz seiner Sicht von Rechtfertigung oder Erlösung in der Ersetzung der Angst durch Vertrauen, womit er nicht ohne Unterschätzung der Lebenswirklichkeit oder Überschätzung religiöser Bewältigungspraxis auskommen dürfte. 125 Nicht vertieft werden können an dieser Stelle B ALTHASARS Ausführungen über die Kreuzesangst im Sinne einer mystischen Nacht (B ALTHASAR, S. 61) bzw. das Mitängstigen mit Christus (S. 48). Im Blick auf eine solche „begnadete Angst“ kann B ALTHASAR durchaus zu (an Johannes Tauler und Johannes vom Kreuz erinnernde) Beschreibungen kommen, die positiv beziehbar wären auf Luthers Umgang mit der Anfechtungserfahrung: „Niemand ist so waffenlos exponiert wie der Heilige zu Gott hin, niemand deshalb so bereit, auch von jeder Angst überschwemmt zu werden“. (S. 95) Solche Angstbereitschaft will B ALTHASAR jedoch entschieden trennen von jeder menschlichen Angsterfahrung, indem er sie als übernatürliche Angst (S. 64) nur solchen zugesteht, die die volle Tiefe des angstlosen Glaubens erfahren haben (S. 61; 66) und nun zu einem mystischen Mitleiden berufen werden (S. 54). Eine daraus sich ergebende Deutungskompetenz für das Phänomen Angst wird nicht entfaltet, stattdessen bleibt das Ideal des angstfreien Glaubens bestehen. 126 Vgl. immer noch HELMUT APPEL und V OGELSANG, Christus, S. 15ff. 127 Vgl. in diesem Sinne auch die Deutung der Anfechtung als „Leiden an Gott, Ringen mit und um Gott“ bei STOLINA, RALF: Gebet – Meditation – Anfechtung. Wegmarken

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Anfechtung ist insofern das Auseinanderfallen von geglaubter und erfahrener Wirklichkeit. Luther hat in seinem Denken immer wieder Anläufe unternommen, den Begriff der Anfechtung systematisch zu entfalten. Besonders einflussreich wurde die Strukturierung des Phänomens nach den drei traditionellen Verderbensmächten Fleisch, Welt und Teufel. In der Anfechtung des Fleisches rekapituliert Luther den traditionellen Gehalt der auf das Begehrungsvermögen bezogenen Versuchlichkeit des Menschen und lässt darin die Gefährdung des Menschen in seinem Selbstverhältnis aufbrechen. An zweiter Stelle stehen die dem Weltverhältnis zuzuordnenden von außen kommenden Widerfahrnisse, sei es in ausdrücklicher Verfolgung, sei es sublimer in Nachrede und Verleumdung. 128 Was Luther als Anfechtung des Teufels bezeichnet, markiert eine Erfahrungswirklichkeit, die er an anderer Stelle als hohe, geistliche oder eigentliche Anfechtung versteht, und die insofern unmittelbar das Gottesverhältnis in Frage stellt. Diese geistliche Anfechtung ist nicht einfach identisch mit einem bestimmten Gefühlszustand. Im Großen Katechismus greift Luther die Einsicht seiner Frühzeit wieder auf, dass das Ausbleiben der Anfechtung die schlimmste Form von Anfechtung sei. Als Bedrohung des Gottesverhältnisses vermag Anfechtung jedoch auch auf die Gefühlswelt bezogen werden, wie sie sich in Angst, Traurigkeit und Verzweiflung zeigt. Auch in dieser Anfechtungsform müssen vom affektiven Gehalt her mindestens zwei Grundformen unterschieden werden. Auf der einen Seite stehen Erscheinungsformen der Traurigkeit und Schwermut, ein Komplex, in dem Luther das reiche Erbe der monastischen Tradition der acedia rezipiert. 129 Auf der anderen Seite finden sich schließlich die in dieser Untersuchung im Zentrum stehenden Erfahrungen von Furcht und Schrecken. Auch hier lässt sich diese Angsterfahrung im Gottesverhältnis nach ihren konkreten Inhalten noch einmal differenzieren, etwa in der Unterscheidung von tentatio de indignitate und die tentatio de praedestinatione. In diesen beiden Anfechtungen geht es um die Gestalten einer theologia experimentalis, ZThK 98 (2001) S. 81-100. S. 93. Im Kontext der Seelsorgelehre vgl. zu Anfechtung und Trost bei Luther vor allem ESCHMANN, HOLGER: Theologie der Seelsorge. Grundlagen – Konkretionen – Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 2 2002. S. 138ff. 128 In einer besonders wirkmächtigen Variante, den drei Regeln rechter Theologie „oratio, meditatio und tentatio“, stellt Luther diese äußere Anfechtung in den Vordergrund, vgl. B AYER, Theologie, S. 96ff. 129 Vgl. beispielsweise die Briefe, die Luther an die von Schwermut betroffenen Mitglieder der Familie Weller geschrieben hat: WAB 5 373-375; 518-520; 546-547; WAB 6 86-88; WAB 7 104-106. In Luthers Tröstungen fehlt hier völlig die im Zusammenhang der Angst beschriebene Haltung der Annahme oder Überlassung. Gegenüber depressiven Formen der Anfechtung betont Luther durchgängig die Abwehr, Vermeidung und Austreibung solcher Gedanken aus dem Bewusstsein.

9.3 Dialektik der Angst

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der Angst, die von seiner Frühzeit an herausragende Bedeutung besaßen: Angst im Blick auf den im Gesetz offenbar werdenden Zorn Gottes und Angst im Blick auf die angesichts der göttlichen Alleinwirksamkeit schmerzliche Verborgenheit Gottes. Beide haben Luther in seinen theologischen Anfängen beschäftigt, beide sind aufeinander bezogen, zunächst aber grundlegend zu unterscheiden. In der Kategorie des Gesetzes wird Gott als fordernder und beurteilender Richter vor Augen gestellt. Die damit gegebene Beanspruchung des Menschen kann furchtauslösend erfahren werden. Zugleich ist wiederum durch das Evangelium ein Weg der Bearbeitung vorgezeichnet: indem dem Moment der Forderung das Motiv der Gnade und Versöhnung gegenübertritt und der Mensch vom Gesetz zum Evangelium „flieht“. Der verborgene Gott ängstigt hingegen im Zusammenhang der Erwählungsfrage. Luthers Unterscheidung leitet dazu an, diese Dimension nicht zu überspringen; zugleich ist aber durch den offenbaren Gott in Jesus Christus die Möglichkeit gegeben, innerhalb des Gottesverhältnisses diese Krise auch zu bearbeiten. Auch hier redet Luther von der Flucht vom verborgenen zum offenbaren Gott. Es ist auffällig, wie spät im Prozess seiner theologischen Entwicklung Luther die kategoriale Beschreibungsweise des Anfechtungsbegriffs entwickelt. 130 Darin zeigt sich, dass diese Beschreibung nicht unabhängig zu gewinnen oder zu denken ist von der Fähigkeit einer grundlegenden Bewältigung. Man mag formulieren: Erst wo das Rettende wächst, vermag der Anblick des Bedrohlichen ausgehalten werden. Wo das Bedrohliche freilich grundsätzlich nicht artikuliert werden kann, wird die Rede vom Rettenden sinnlos. In diesem Sinne ist in der neueren Theologie zu Recht die alttestamentliche Redeform der Klage in ihrer grundsätzlichen Bedeutung anerkannt worden. 131 Luthers Kategorie der Anfechtung hat genau diese Funktion: Die Bedrohtheitsdimension menschlichen Lebens und Glaubens wahrnehmen und im Sinne der Klage artikulieren zu können und sie so bewältigungsfähig zu machen. Ist Glaube prinzipiell von Anfechtung bedroht, so verhält er sich darin nicht nur leidend, sondern eben auch kämpfend. Viele Darstellungen des 130 131

Vgl. das große Selbstzeugnis in den Resolutiones, WA 1 557,33-558,13. Vgl. etwa bei SCHNEIDER-FLUME: „Die Intensivierung der Angst im Glauben führt zur Klage, weil Angst ein Gegenüber hat. Dadurch erhält Angst zunächst einmal Worte, und nur wenn sie Worte findet, kann Angst ausgehalten, gedeutet und, wenn möglich, verändert werden.“ (SCHNEIDER-FLUME, S. 492) Vgl. auch J ÜNGEL: „Angst macht sprachlos. Wenn sie uns die auf Alleingültigkeit Anspruch erhebende Sprache des Beweises wenigstens für einen Augenblick verschlägt, könnte sie unsere Ohren für Angebote empfänglich machen, die den in die Unbestimmtheit verdrängten souveränen Lebensvorgängen konkrete Sprache und damit ihre Identität neu zu geben vermögen. Der christliche Glaube ist ein solches Angebot.“ (J ÜNGEL, Mut, S. 370)

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christlichen Angstumgangs reden von der Überwindung der Anfechtung so, dass der Angsterfahrung durch den Glauben eine positive Gegeninstanz gegenübergestellt wird. Genannt werden objektiv Jesus Christus selbst oder die Liebe Gottes, subjektiv als Wesensmerkmale des Glaubens die Hoffnung, der Mut, die Tugend der Tapferkeit oder das Vertrauen. 132 Auch hier besteht in solchen Punktualisierungen die Gefahr einer Verkürzung. Das gilt sowohl für den Versuch, die Angstüberwindung einer psychischen Gegenpotenz zuzuschreiben, wie für die Neigung, Angstüberwindung als potenzielles Durchbruchserlebnis zu begreifen. Diese wenig hilfreiche Suche nach furchtüberwindenden Potenzen verkennt leicht den Prozesscharakter, in dem sich der Umgang mit Angst bei Luther darstellt. Als daseinsbestimmendes Vertrauen ist Glaube die durch das Evangelium ermöglichte und verwirklichte Erfahrung, dass der Mensch sich selbst entnommen und in Gott neu begründet weiß. In solchem Begründetsein außerhalb seiner erfährt der Mensch sich als befreit für sich selbst und kann sich auf die vielfältigen Weisen affektiver Selbsterfahrung einlassen. Glaube erweist sich auch mitten in der Angst als eine Neubestimmung der Person, durch die der Menschen in die Lage ist, sich zu affektiven Erfahrungen wie Angst ins Verhältnis zu setzen. Ziel eines solchen (im Gottesverhältnis gegründeten) vertrauensbasierten Selbstverhältnisses kann nicht die Auslöschung oder Überwindung der Angst sein, sondern die Brechung ihrer Herrschaft. Analog zur Sündenlehre lässt sich von herrschender und beherrschter Angst reden. 133 Es ist bezeichnend, wie es bei Luther im Inbegriff des Glaubensliedes schlechthin heißt: „Und wenn die Welt voll Teufel wär, / und wollt uns gar verschlingen; / so fürchten wir uns nicht so sehr“. (EG 362,3) Nicht die völlige Abwesenheit von Furcht ist Inbegriff ihrer Überwindung, sondern die Brechung ihrer absoluten Macht. Furcht ist da überwunden, wo sie nicht mehr den Menschen treibt (in Verzweif132 T HIELICKE : „Das Gegenteil von Furcht und Angst […] ist die Liebe.“ (T HIELICKE, S. 38) BRUNNER: „Die Angst kann durch Christus überwunden werden.“ (BRUNNER, S. 301) MOLTMANN verweist im Anschluss an Ernst Bloch auf die Hoffnung als maßgebliche Gegenkraft gegenüber der Furcht. (MOLTMANN, J ÜRGEN: „Begnadete Angst.“ Religiös integrierte Angst und ihre Bewältigung, in: Angst und Gewalt. Ihre Präsenz und ihre Bewältigung in den Religionen, hrsg. von Heinrich von Stietencron, Düsseldorf 1979. S. 137-153. S. 140ff.) Im Anschluss an T ILLICH hat U LRICH KÖRTNER stark betont, dass der Glaube in der Gestalt des Mutes die Angst auf sich nehmen kann. (KÖRTNER, Weltangst, S. 377) DREWERMANN hat vor allem die Antithetik von Angst und Vertrauen entwickelt. Dass der Mut des Glaubens eine solche Basis hat, betont auch K ÖRTNER: „Glaube, so wird gezeigt, ist Mut zur Angst, der aus einer letzten, von allen falschen Ängsten freimachenden Gewissheit erwächst.“ (K ÖRTNER, ULRICH: Vorwort, in: Ders. [Hrsg.]: Angst. Theologische Zugänge zu einem ambivalenten Thema, Neukirchen-Vluyn 2001. S. V-VI. S. V.) B ALTHASAR versuchte gegenüber der Vieldeutigkeit des Mutes eindeutiger von der „christlichen Tugend der Tapferkeit“ (B ALTHASAR, S. 94) zu reden. 133 Vgl. die Latomusschrift, WA 8 96,18ff. = LDStA 2, S. 316,28ff.

9.3 Dialektik der Angst

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lung oder den Versuch religiöser Ersatzleistungen) oder in seinem Handeln bestimmt (sei es in Flucht, Vermeidung oder Aggression). Eindringlich kann Luther die Überwindung der Herrschaft der Angst in der Kirchenpostille zur Sprache bringen: „Es mag wol eyn streyt hie seyn, das der mensch fule und sorge, er sey nit kind, lasz sich duncken unnd empfind auch gott als eynen tzornigen, strengen richter ubir sich, wie Job geschach und viel mehren. Aber ynn dem kampff musz dieße kindlich tzuvorsicht endlich obligen, sie tzitter oder bebe, ßonst ists alles vorloren.“134

Zweierlei kommt in dieser Ausführung zur Sprache: Zum einen die Radikalität der Anfechtung, die den Gläubigen so weit treibt, „das der mensch fule und sorge, er sey nit kind.“ Anfechtung ist insofern mehr als eine Beeinträchtigung des Glaubens, sie kann erfahren werden bis zur Verdunkelung der Gegenwart Gottes oder des eigenen Gnadenstandes. 135 Nicht der Glaube geht in der Anfechtung verloren, wohl aber dessen Erfahrungshorizont von Friede, Trost und Freude und insofern sein Gefühl von Gewissheit.136 Zum anderen aber erweist sich im Kampf des Glaubens auch das Sich-nicht-Abfinden des Gläubigen mit der Verdunkelung seines Gottesverhältnisses und der sich darin erweisende Bestand des Gottesverhältnisses im Glauben. Und auch im gefühlten Überhandnehmen der Glaubenszuversicht ist nicht vollständige Freiheit von Zittern und Beben das Ziel („sie tzitter oder bebe“), sondern eine Gewissheit, die zuletzt stärker ist als die Macht der Angst. Eine Fixierung auf Durchbruchserfahrungen ist daher kein realistisches Paradigma der Angstbewältigung. Zu einer realistischen Beschreibung gehört die Prozesshaftigkeit eines Weges, in dem ein Mensch lernt, anders mit Angst umzugehen. Im Blick auf die von Angst geprägte Situation hat Luther einen Angstumgang entwickelt, der nicht auf Verdrängung, Verleugnung oder Kompensation hinauslief, sondern die Angst als anfechtendes Moment im Gottesverhältnis integrierte. Allein eine solche Haltung der Angstfähigkeit oder Angstbereitschaft vermag der destruktiven Dynamik der Angst zu entrinnen. Dieser in der Frühtheologie entwickelte Gedanke 134 135

WA 10/I.1 371,9-13. Hervorhebung TD. Problematisch erscheint mir insofern die Unterscheidung von EILERT HERMS: „Die Unerschütterlichkeit der Glaubensgewissheit schließt nicht aus, dass der Glaube angefochten wird. Ausgeschlossen ist nur, dass diese Anfechtungen in ihrer Substanz Erschütterungen der Gewissheit des Glaubens sind.“ (H ERMS, EILERT: Äußere und innere Klarheit des Wortes Gottes bei Paulus, Luther und Schleiermacher, in: Ders.: Phänomene des Glaubens. Beiträge zur Fundamentaltheologie, Tübingen 2006. S. 1-55. S. 1.) 136 Vgl. in diesem Sinne RALF STOLINA: „Die Anfechtung stellt indes, das bleibt festzuhalten, nicht bloß eine Problematisierung der Glaubensgewissheit dar, sondern deren Gefährdung, drohendes Zerbrechen oder Ausbleiben und erleidet eine aufs äußerste bedrängende Trostlosigkeit.“ (STOLINA, Gebet S. 92) In diesem Sinne dürfte „Vertrauen“ eine noch grundlegendere Dimension des Glaubens bezeichnen als „Gewissheit“.

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Kapitel 9: Dialektik der Angst im Gottesverhältnis

der Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen (simul) bleibt auch Teil seines Angstumgangs in seiner Reifezeit. Glaube erweist gerade darin seine Bewältigungskompetenz, dass er Ambivalenzerfahrungen zu integrieren vermag. 137 Im Umgang mit diesen ist zuletzt Luthers Betonung der Übung zu unterstreichen. In diesem Kontext kommt Luther auf spirituelle Praxen zu sprechen wie Meditation, Umgang mit dem Wort, Gesang usw. Will man Luthers Impulse für die Praktische Theologie fruchtbar machen, so ist nicht zuletzt auch von solchen Aneignungsweisen des Glaubens zu reden. Es macht die Bedeutung der Studie von Otto Haendler aus, dass in ihr diese pragmatische Dimension des Angstumgangs im Sinne von Meditation und Gebet eine große Rolle spielt. 138

137 Vgl. zum Gedanken der Ambivalenzbewältigung des Glaubens auch S TEINMEIER, ANNE M.: Wiedergeboren zur Freiheit. Skizzen eines Dialogs zwischen Theologie und Psychoanalyse zur theologischen Begründung des seelsorgerlichen Gesprächs (APTh 33), Göttingen 1998. S. 206. Zu wenig wird dieser Gesichtspunkt berücksichtigt in der Studie von H UXEL, K IRSTEN: Das Phänomen Angst. Eine Studie zur theologischen Anthropologie, NZSTh 47 (2005) S. 35-57. In Auseinandersetzung mit Kierkegaard, Heidegger und Schleiermacher stellt HUXEL heraus, dass Furcht kein bestimmendes Grundgefühl des Glaubenden sein könne, weil dessen Lebensgefühl immer schon von der Gewissheit des Glaubens fundiert werde. Vgl. ähnlich auch E LBE-SEIFFART, S. 410ff. Die dort vorgenommene Gegenüberstellung eines „christlichen Lebensgefühls“ und eines „hochmütigen“ bzw. „verzweifelten“, ängstlichen Lebensgefühls lässt von Luther her betrachtet zu wenig Raum für Erfahrungen der Gleichzeitigkeit des Widersprüchlichen (simul). Die Rede von der Gewissheit des Glaubens sollte besser nicht dessen Bewältigungskompetenz von Ambivalenzen in Frage stellen. 138 H AENDLER , O TTO: Angst und Glaube, Berlin 1952. Festzuhalten bleibt dabei stets, dass Spiritualität nicht als menschliche Technik zu fassen ist, sondern zugleich als die Weise, in der Gott selbst sich im Leben des Menschen vergegenwärtigt. In diesem Sinne sind in Luthers Rede von der Übung des Glaubens immer menschliches und göttliches Handeln ineinander verwoben. Vgl. den Überblick bei Z IMMERLING, P ETER: Die Spiritualität Martin Luthers als Herausforderung, LuJ 73 (2006) S. 15-40. In der empirischen Psychologie ist durch viele Studien nachgewiesen, welche positive Bedeutung Meditations- und Konzentrationspraktiken für die Bewältigung von Angst haben können. Vgl. dazu die Darstellung „Achtsamkeit“ von T HOMAS HEIDENREICH und J OHANNES MICHALAK in M ARGRAF/SCHNEIDER, Lehrbuch I, S. 569-578. Es ist bezeichnend, dass die Methode der Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (MBSR = mindfulness-based stress reduction nach JON KABAT-ZINN) starke buddhistische Anleihen machen musste, obwohl die Ähnlichkeit mit Formen der klassisch-christlichen Meditation augenfällig ist. (Vgl. die Formulierung „das aus östlichen Meditationstraditionen stammende Achtsamkeitsprinzip“ MAGRAF/SCHNEIDER, Lehrbuch I, S. 577.) Insofern ist es sinnvoll, vor allem in der Praktischen Theologie auch die spirituellen Vollzüge etwa in Luthers Seelsorge nachdrücklich ins Bewusstsein zu heben. Vgl. den Überblick bei N ICOL.

9.3 Dialektik der Angst

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9.3.3 Gestaltwandel der Angst Am Beispiel der Angst ließ sich immer wieder die starke Erfahrungsbezogenheit von Luthers Denken erweisen. Von seinen Auseinandersetzungen im Ablassstreit bis zu den späten Kontroversen über den Antinomismus: Luthers Argumentieren geht immer wieder grundsätzlich ein auf eine Ebene des Selbsterfahrenen, des Erlebten als für die Sache notwendigen Bezugspunkt. Dieser Erfahrungsbezug zieht sich durch alle Formen der Kommunikation, von der Vorlesung über den persönlichen Brief bis zur akademischen Disputation. Die vielfachen Formen direkter Rede in den Antinomerdisputationen stehen dabei für die Unverzichtbarkeit einer solchen Erstperson-Perspektive. Diese Dimension des Erlebens ist in einer bloßen Beobachter-Perspektive nicht einzuholen. Geht es in der Anfechtung jeweils um das Ganze des Gottesverhältnisses, so ist in der konkreten Gestalt der Angst gleichwohl mit Veränderungen zu rechnen. Schon Luther hatte damit zu tun, dass die unmittelbaren Voraussetzungen seiner reformatorischen Erkenntnis eine Generation später nicht mehr selbstverständlich waren. So sehr die Grundkonstellation seines Denkens nach dem Ablassstreit sich nicht mehr verändert, ist Luther durchweg bemüht, sich auf die Erfahrungen seiner Zeit und damit der jeweiligen Weltsituation zu beziehen. Die lange Debatte um die Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungslehre zeigt, dass die protestantische Theologie sich dieser Herausforderung bewusst gestellt hat. Fraglos klar ist, was Oswald Bayer so beschreibt: „Wir dürfen Luther nicht einfach zu unserem Zeitgenossen machen. Sein Erfahrungshorizont, den er mit seinen Zeitgenossen teilte, war ein anderer als der heutige. Unsere Zeitgenossen haben zwar viele Ängste, zumeist aber keine Angst vor dem Weltenrichter“139.

Auch bei dieser Fragestellung lohnt ein Ausgangspunkt in der Rezeptionsgeschichte von Luthers Umgang mit Angst. Werner Elert zufolge habe schon die Generationen nach Luther vielfach nicht mehr seine komplexe Sicht übernommen.140 Elert deutet dies als Verfall, weil er von der Allgemeingültigkeit eines „Urerlebnisses“ bei Luther überzeugt ist. Diesen Erfahrungshorizont wiederzugewinnen ist für ihn erklärtes Ziel eines lutherischen Christentums. Seine eigene systematische Anknüpfung an Luther verwirklicht diese Intention freilich auch nur gebrochen. Denn auch Elert lässt sich stark ein auf das Krisenbewusstsein seiner Gegenwart, indem er in Anlehnung an Oswald Spengler die Kategorie des Schicksals zu einer Grundbestimmung 139 B AYER , OSWALD: Rechtfertigung. Grund und Grenze der Theologie, in: Ders.: Leibliches Wort. Reformation und Neuzeit im Konflikt, Tübingen 1992. S. 19-34. S. 27. 140 Vgl. E LERT, Morphologie I, S. 44ff.

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Kapitel 9: Dialektik der Angst im Gottesverhältnis

des Angsterlebens macht. Auf der anderen Seite vermerkt er den Abstand dieser Gefühlslage zum unmittelbaren Erschrecken der Lutherzeit vor dem Gesetz und will diese Angst durch Verkündigung des Zornes Gottes wieder beleben. 141 Nur: Wenn schon das einzelne menschliche Bewusstsein seine Gefühle nicht unmittelbar zu steuern vermag, ist es sehr die Frage, ob kirchlicher Verkündigung dies besser gelingen mag. Viel grundsätzlicher wird das Phänomen eines Gestaltwandels von Angst bei Sören Kierkegaard reflektiert. So sehr dieser Angst zunächst einmal im Selbstverhältnis des Menschen begründet sieht, bemüht sich Kierkegaard zugleich um geschichtliche Konkretion (auf dem Felde des „objektiven Geistes“ bzw. des Weltverhältnisses) und entwickelt eine historische Typologie der Angsterfahrungen. Dessen einzelne Momente der heidnischen Furcht vor dem Schicksal, der jüdischen Furcht vor der Schuld usw. sind hier nicht zu entfalten. Bedeutsam ist jedoch, wie Kierkegaard selbst mit seinem Werk einen epochalen Übergang markiert zwischen einer christlichen und „nachchristlichen“ Erfahrung von Angst. Unter der Überschrift „Angst vor dem Bösen“ entfaltet er eine Problematik, die sich in starkem Ausmaß auf den bei Luther nachvollzogenen Sachverhalt bezieht: Angst vor dem Bösen zeigt sich in einem ethischen Kontext, in welchem sich die Reue als willentliche Anstrengung nicht als stark genug erweist, den Angstkreislauf zu unterbinden. Dem stellt Kierkegaard mit der „Angst vor dem Guten“ eine Erscheinung gegenüber, die er mehrfach als Herausforderung „unserer Zeit“ bezeichnet. In der Ausführung erweist sich der Verlust der Ewigkeitsdimension bzw. das Schwinden des Gottesverhältnisses als tragender Grund menschlichen Selbstverhältnisses als die eigentliche Problematik dieser Angst. Kierkegaard versucht dabei eine Phänomenologie des Angsterlebens in solcher Weise zur Geltung zu bringen, dass die Bewältigung der Angst im christlichen Glauben zugleich dessen Regulierungsfähigkeit menschlichen Lebens unter Beweis stellt. 142 Auch Paul Tillich unternahm es wie Kierkegaard (und erheblich von diesem angeregt), den Gestaltwandel der Angsterfahrung ausdrücklich in einer gleichermaßen historischen wie systematischen Typologie zu be141 Vgl. die programmatischen Ausführungen in E LERT, W ERNER : Die Forderung unseres Zeitalters an die Sprecher der Christenheit, AELKZ 55 (1922) S. 386; 402-404; 418-421; 434-436. 142 Zur Nähe zwischen Kierkegaard und Luther vgl. die Interpretation bei T RAUGOTT KOCH: Kierkegaard zeige, dass „der Glaube nicht gewonnen wird und nicht ist ohne den Durchgang durch die Angst und ohne das bleibende Bewusstsein der Angst […]. Allein der Glaube besteht die Angst – aber nur der Glaube, der sich der Angst stellt.“ (KOCH, TRAUGOTT: Die Angst und das Selbst- und Gottesverhältnis. Überlegungen im Anschluss an Sören Kierkegaards „Der Begriff Angst“, in: Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre. FS Wolfhart Pannenberg, hrsg. von Jan Rohls und Gunther Wenz, Göttingen 1988. S. 176-195. S. 186/187.)

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schreiben.143 Dabei konzentrierte er diese auf die Momente von Tod (ontologische Angst) für die Alte Kirche, Schuld (moralische Angst) für Mittelalter und Reformation und Sinn (existenzielle Angst) als Merkmal der modernen Angst. Diese Angstformen stehen durchaus in einem Zusammenhang miteinander, lassen sich jedoch als Signatur einer jeweiligen Epoche voneinander differenzieren. Wie bei Luther und Kierkegaard ist es wiederum der Begriff des Glaubens, der auf diesen gewandelten Horizont der Angst konstruktiv bezogen wird. Auffällig ist hingegen bei beiden Klassikern der Moderne, dass die Kategorie des Gesetzes nicht mehr die unmittelbare Plausibilität hat wie bei Luther. 144 Beide lassen sich in der Thematisierung von Ewigkeitsverlust und Sinnverlust viel stärker der Kategorie der Verborgenheit zuordnen.145 Es ist der grundlegende Erfahrungsbezug, der lutherische Theologie im Horizont der Welterfahrung zum Ernstnehmen solchen Gestaltwandels anleitet.146 Diesen Gestaltwandel kann evangelische Theologie nicht igno-

143 Vgl. die Studie Mut zum Sein von P AUL T ILLICH. In einem ausgeführten Vergleich ließe sich die Nähe dieser Lösung vor allem zum jungen Luther zeigen: da der Angst der Sinnlosigkeit nicht mit Gründen oder Entscheidungen zu entraten ist, zeigt sich der Mut zum Sein im Annehmen dieser Angst. Der absolute Glaube hat insofern viel mit der von Luther her bekannten Haltung der Überlassung und Einwilligung zu tun, weniger mit dem wortbestimmten Glauben der Reifezeit. 144 Gerade über den Gestaltwandel der Kategorie des Gesetzes ist in der lutherischen Theologie des 20. Jahrhunderts intensiv gearbeitet worden. Vgl. GERHARD EBELINGS Gesetzesinterpretation als ein auf die menschliche Grundsituation bezogenes Existenzial, oder die Reformulierung der reformatorischen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in der Dialektik von Selbstbewusstsein und Glaubensgewissheit bei D IETRICH KORSCH, Glaubensgewißheit. 145 Parallel zu T ILLICH findet sich eine ähnliche Einsicht bei O TTO H AENDLER . Rückgreifend auf KIERKEGAARD stellt HAENDLER gegenüber der oft einseitigen Konzentration des Protestantismus auf die Schuldangst die gegenwärtig dominierende Erfahrung der Schicksalsangst heraus. Auch dieser gegenüber müsse und könne sich der Glaube bewähren. (H AENDLER, S. 139ff.) 146 In diesem Sinne plädiert auch RALF STOLINA für eine Ausweitung des Anfechtungsbegriffs: „Es darf weder eine geschichtliche Erfahrungsgestalt der Anfechtung zur einzig gültigen, normativen erhoben werden, […] noch darf die Problematik der Anfechtung in ihrer theologischen Reflexion auf eine dogmatische Thematik, etwa Sünde und Vergebung, Gerechtigkeit und Zorn Gottes, beschränkt werden.“ (S TOLINA, Gebet, S. 89) Ist Anfechtung zentral auf den Glauben bezogen als Infragestellung des Gottesverhältnisses, dann ist diese Krise nicht mit einem bestimmten Phänomenbestand zu identifizieren, auch nicht mit den Kämpfen des jungen Luthers (S TOLINA, Gebet, S. 89). STOLINA nennt zwei Beispiele gegenwärtiger Anfechtungserfahrung: die Anfechtung angesichts des Leidens und den horror vacui, die Angst vor der Leere des Kosmos. Im Sinne einer solchen Berücksichtigung des Gestaltwandels der Angst ist auch die Studie K ÖRTNER, Weltangst herauszuheben. Dass die Ausprägungen apokalyptischer Zeitstimmung der 1980er Jahre (Wettrüsten, Tschernobyl) sich als weniger epochebestimmend erwiesen

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rieren und wird sich daher auch nicht auf die Repristination überkommener Konstellationen zurückziehen können; und seien es die, in denen Luther selbst seine Rechtfertigungslehre formuliert hat. Die Konkretion des biblischen Zeugnisses in einem bestimmten Kontext erweist sich von Luther her als Aufgabe jeder bibel- und erfahrungsbezogenen Theologie. 9.3.4 Theologia crucis und Evangelium Erweist sich die Herausforderung des christlichen Glaubens durch immer neue Erfahrungszusammenhänge als eminent veränderlich, so ist abschließend die bestimmende Mitte des christlichen Gottesverhältnisses zu unterstreichen. Vielfältig ist uns der Zusammenhang von Gottesverhältnis und Selbstverhältnis im Vollzug des Glaubens begegnet. Nicht zuletzt darin liegt die grundlegende Bedeutung Jesu Christi für Luthers Theologie, dass in ihm immer schon beide Seiten aufeinander bezogen sind. Im Gedanken der Menschwerdung Gottes ist das vereint, was in der menschlichen Lebenswirklichkeit auseinandergerissen zu werden droht. Luthers Deutung und Bewältigung von Furcht ist von Anfang an auf die Person Jesu Christi bezogen. Es war der Gedanke der Furcht Christi, der Luther in seinen Anfängen in neuer Weise einen Weg im Umgang mit Angst finden ließ. Im Blick auf den geängstigten und leidenden Christus muss eigene Angst und Not nicht mehr nur als Zeichen verlorener Gottesgemeinschaft, sondern kann als Ausdruck einer Gleichgestaltung mit Christus gedeutet werden. Menschliche Erfahrung der Furcht und überwindende göttliche Liebe verbinden sich in diesem Bild. Im Zeichen des Kreuzes kommen gleichermaßen menschliche Not und göttliches Erbarmen, menschliche Ohnmacht und göttliche Allmacht zusammen. Im Gekreuzigten ist sowohl das Bei-uns-Sein Gottes in dieser Welt als auch das extra nos der Gnade gegenüber den Verwirklichungsgraden menschlicher Frömmigkeit ausgedrückt. Zu Recht ist dieser Grundzug der theologia crucis vielfach als Strukturprinzip lutherischer Theologie ausgelegt worden. 147 Im Sinne einer Konformitätschristologie ist dieser Zusammenhang auch in den Erschütterungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von vielen Christen und Theologen als Halt erfahren worden. So betont Jürgen Moltmann die existenzielle Bedeutung dieser

haben, muss nicht heißen, dass die Erörterungen von KÖRTNER sich nicht auch im Zuge weiterer Wandlungen des Zeitempfindens wieder als hochaktuell erweisen könnten. 147 Vgl. zuletzt den Überblick bei K ORTHAUS, M ICHAEL: Kreuzestheologie. Geschichte und Gehalt eines Programmbegriffs in der evangelischen Theologie (BHTh 126), Tübingen 2007.

9.3 Dialektik der Angst

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„Konformitätschristologie von dem ‚Christus mit uns‘, von Christus dem Bruder auf unserem Weg durch Angst, Anfechtung, Gefangenschaft, Vertreibung und Gottverlassenheit. Sie hat in den zwanziger Jahren die Lutherrenaissance bestimmt und durch Jochen Klepper und Heinrich Vogel in den Ängsten der Kriegs- und Nachkriegszeit vielen Menschen die Seele und das Leben gerettet.“ 148

Im Zeichen des Kreuzes erweist sich die menschliche Angst gleichermaßen als aneignungsfähig wie überwindbar. Die geglaubte Gegenwart Gottes im Raum gefühlter Bedrohtheit vermag der Abgründigkeit heilloser Selbsterfahrung ihren Stachel zu nehmen. Eigene Angst und Not verliert wohl nicht ihre Schwere, wohl aber ihre Aussichtslosigkeit, wo in ihr die Gemeinschaft mit Christus geglaubt werden kann. Im Bild des Gekreuzigten verdichtet sich die wesentliche Einsicht, dass das Problem der Angst nicht nur das ihrer Beseitigung sein kann. Unter den Bedingungen des Lebens erweist sich die Aufgabe unabschließbar, Angst anzunehmen und mit ihr zu leben. Und zugleich kommt im Evangelium als Wort vom Kreuz der Gesichtspunkt ihrer Überwindung nachdrücklich zur Sprache: „Fürchte dich nicht!“ (Jes 41,14, Lk 1,30 etc.) Im Glauben erfährt der Mensch ein von Gott selbst im Heiligen Geist begründetes Lebensverhältnis der Gemeinschaft mit Jesus Christus erschlossen, in welchem angenommene Angst je und je ihre Macht verliert. Denn im Wort vom Kreuz wird dem Glauben zuletzt die Entmachtung des Todes durch die Übermacht göttlicher Liebe zugesagt. So ist das Kreuz das Symbol schlechthin, das zur Wahrnehmung und Bewältigung lebensweltlicher Negativität mahnt und anleitet. Im Eingang seiner Magnificatauslegung bringt Luther diesen Zusammenhang eindringlich zur Geltung: „ynn die tieffe will niemant sehen, wo armut, schmach, not, jamer und angst ist, da wendet yderman die augen von.“ 149 Solche Tiefenerfahrungen, unter denen Angst ausdrücklich genannt wird, werden nach Luther vielfach geflohen, und damit die Menschen, die von solchen Erfahrungen der Abgründigkeit betroffen sind. Zu Gottes Wesen gehört es daher, dass er sich ausdrücklich auf diese Tiefenerfahrungen bezieht: „Darumb bleibt got allein solchs ansehen, das ynn die tieffe, not und jamer sihet, und ist nah allen den, die ynn der tieffe sein.“ 150 Es ist aber das Kreuz der präzise Ort, an dem Gott selbst sich die Erfahrung der Tiefe zu eigen macht: „Alszo hat er auch seinen einigen liebsten sun Christum selbs, ynn die tieffe allisz jamers vorworffen Unnd an yhm furtreflich ertzeigt seyn sehen, werck, hilff, art, radt unnd willenn, wo das allisz hyn gericht sey.“ 151 An diesem Ort abgründiger Erfahrung offenbart Gott also 148 149 150 151

MOLTMANN, S. 149. WA 7 547,25-26. WA 7 547,33-34. WA 7 548,20-22.

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gleichermaßen seine Gegenwart und seine Hilfe. Die Bedrohtheit des Lebens wird in dieser Perspektive unbedingt ernst genommen: „Mitten wir im Leben sind / mit dem Tod umfangen.“ (EG 518,1) Und zugleich ist der Glaube an den Gekreuzigten im Ausblick auf dessen Auferstehung der stete „Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten.“ 152 Mitten in der Angst ist Glaube somit hinein genommen in eine Perspektive der Überwindung: „Mitten in der Hölle Angst / unsere Sünd’ uns treiben. / Wo solln wir denn fliehen hin, / da wir mögen bleiben? / Zu dir, Herr Christ, alleine.“ (EG 518,3) Die darin grundgelegte Lebensbewegung, die gleichermaßen Anerkennung und Bewältigung des Grauenhaften umfasst, erweist sich als spezifische Pointe christlicher Rede von Gottes Offenbarung am Ort des Kreuzes. In diesem Ermöglichungszusammenhang von Angstannahme und -überwindung zeigt sich das Besondere der christlichen Angstbewältigung. „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Joh 16,33)

152 ADORNO, T HEODOR W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Bibliothek Suhrkamp 236), Frankfurt/Main 1971 (1951). S. 333.

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Personenregister Adorno, T. 388 Agricola 10, 12, 272-274, 279, 304, 307, 316 Albertus Magnus 49 Albrecht v. Magdeburg 182, 201 Alexander v. Hales 49 Althaus, P. 290, 293 Anselm v. Laon 45 Appel, H. 33, 377 Aristoteles 49, 119, 136, 139, 173 Assel, H. 29 Augustin, A. 2, 13, 33-43, 45-47, 57, 60, 71, 79, 82, 87-89, 98-100, 102, 114, 117, 124-125, 127, 129, 132, 134-136, 141-143, 147, 153, 155, 161, 163, 166, 172-173, 181, 198199, 209, 216-224, 230, 234, 242, 247, 258, 260, 283, 292, 361-364

Brandenburg, A. 121 Brecht, M. 32, 62, 128, 136, 161-162, 172, 181, 184, 186, 204, 213, 224, 232, 240, 272, 277, 281, 298, 304 Bring, R. 267 Brunner, E. 327-328, 380 Bühler, P. 20-21, 144 Bultmann, R. 374 Burger, C. 26-28, 102

Balthasar, H. U. v. 375-377, 380 Bandelow, B. 356 Barth, H.-M. 23 Barth, U. 201-202, 329 Bayer, O. 14-15, 128, 139, 170, 175, 195, 197, 199, 202, 204-211, 230, 232-233, 240, 245, 287-288, 375, 378, 383 Becke, U. 30 Beintker, H. 20-23 Bell, T. 59, 94, 122, 204, 209 Bergenholz, H. 6 Bernhard v. Clairvaux 59-62, 70-71, 86, 94, 99-102, 120-125, 139, 149, 151, 153, 209, 212, 217, 219 Beutel, A. 6, 27, 76, 78, 256-257, 260263, 275, 283-285 Biel, G. 53-57, 62, 68-70, 87, 97, 170, 209, 224, 309, 355 Bizer, E. 14, 178-179, 240, 265 Bonaventura 48-49, 51, 54

Ebeling, G. 13, 28, 78, 240, 277, 286, 290, 296, 299, 312, 326, 385 Eck, J. 12, 213-224 Elbe-Seiffart, T. 344-345, 382 Elert, W. 290, 293, 383-384 Erasmus v. Rotterdam 276 Erikson, E. H. 30-31 Eschmann, H. 378

Damasio, A. 332 Delumeau, J. 2-3, 181 Denifle, H. 75, 363-364 Dinzelbacher, P. 2, 33, 59 Drewermann, E. 329, 376-377, 380 Duns Scotus 50-55, 68 Durandus 50 Düsing, E. 5

Ficker, J. 75, 132, 204 Flasch, K. 41-42 Fraas, H.-J. 23, 283 Freud, S. 330-331, 334-343, 369-371 Fromm, E. 30 Galley, A. 11-12 Gebsattel, V. E. v. 331, 361 Gerson, J. 63-66, 68-71, 142-143, 145, 154, 167-168, 296-297 Gnädinger, L. 150, 164 Goethe, J. W. 2-3

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Personenregister

Gottschick, J. 276 Grane, L. 54-55, 86, 117, 128, 133, 143 Gregor d. Gr. 40, 43-45, 50, 60-61, 63, 71, 97, 170, 205, 217, 219 Grosse, S. 63-66, 68, 142-143, 160, 167 Gühloff, O. 23, 25, 264 Haas, A. 149, 153, 160 Haendler, O. 382, 385 Hagen, K. 207 Hamm, B. 59, 67-68, 71, 74, 97, 111, 123, 127, 160, 243, 354 Hammann, G. 272-274 Hardeland, A. 23-27, 264, 266, 272 Härle, W. 240-241, 374 Harnack, A. v. 11, 29, 39, 44, 52 Hausammann, S. 12, 180, 222-223, 234 Heidegger, M. 2, 4-5, 302-303, 330, 382 Heintze, G. 23, 284 Hell, D. 331 Hermann, R. 29, 240, 305, 312, 322 Herms, E. 26, 247, 284, 336, 353, 355, 368-370, 381 Herrmann, W. 10-12, 223 Heynck, V. 50-52 Hieronymus 56, 107, 217 Hirsch, E. 13, 29, 33, 59, 204-205 Holl, K. 13, 16, 29, 100, 144, 169-170, 248, 274 Hülshoff, T. 332 Hunzinger, A. W. 9, 19, 28, 33, 36, 3941, 43-50, 53-54, 60 Huxel, K. 382 Iwand, H.-J. 128 Izard, C. 347 Jaspers, K. 5 Joest, W. 249, 317-318 Johannes v. Damaskus 45 Johannes Mauburnus 104 Jüngel, E. 23, 241, 247, 328, 379 Jungermann, D. 270 Kabat-Zinn, J. 382 Kähler, E. 213, 218 Kaufmann, T. 239 Kawerau, G. 75 Keupp, H. 344

Kierkegaard, S. 2-5, 16, 18, 330, 361, 382, 384-385 Kjeldgaard-Pedersen, S. 12, 213, 216, 220, 223 Klessmann, M. 368 Koch, T. 369, 384 Köpf, U. 139 Korsch, D. 239, 246, 251, 285, 315316, 326, 329, 374, 385 Körtner, U. 328, 380, 385-386 Kreuzer, S. 260 Kroeger, M. 75, 128, 136, 163, 170, 195, 199-200, 202, 204-205, 208, 210-211 Landgraf, A. 33, 45, 47, 49, 59, 61-62 Längle, A. 364 Leppin, V. 160, 184, 276 Link, W. 240 Lipsius, R. 11-12 Loewenich, W. v. 144 Lohse, B. 122, 128, 135, 199-200, 213, 230, 239, 290, 293 Margraf, J. 330, 343-352, 357-363, 382 Matz, W. 265 Maurer, W. 264-266, 270-272 Mechthild v. Magdeburg 164 Meyer, G. 337, 340 Meyer, J. 23-26, 76, 261-263 Meding, W. v. 285 Melanchthon, P. 10, 27, 263-283, 286288, 304, 309-311, 318 Metzger, G. 75, 82-86, 92, 102, 110 Mikoteit, M. 322 Minges, P. 52 Moeller, B. 144-145, 148, 150 Moltmann, J. 380, 386-387 Zur Mühlen, K.-H. 32, 83, 128, 137, 145, 202, 230, 232, 240, 265 Müller, V. 144, 148 Müntzer, T. 286, 316 Neumann, H.-J. 278 Neuser, W. 265, 274 Nicol, M. 62, 110-111, 113, 382 Niebergall, A. 78 Nietzsche, F. 330 Oberman, H. A. 54-57

Personenregister Ockham, W. 50, 53, 224 Otto, H. 143 Otto, R. 374 Ozment, S. 121, 143-146

Paltz, J. v. 58-59, 67-68, 97, 111, 209, 355 Pannenberg, W. 160, 162, 374 Pesch, O. H. 105, 123, 239 Peters, A. 23, 76, 283-284 Petrus Lombardus 44-48, 50, 54-55, 79, 85, 129, 161, 217, 220, 283 Pfister, O. 30, 373 Pinomaa, L. 18-20, 29, 76, 82, 86, 97, 105, 122, 159 Poschmann, B. 50-52 Ratschow, C. H. 23 Reiter, P. J. 29-31 Richter, H.-E. 331 Riemann, F. 331 Rimml, R. 40-41 Ringleben, J. 3, 241, 246, 248-250 Rogge, J. 304-305, 312 Rörer, G. 279-281, 290, 298 Rosenberger, G. 320 Rühl, A. 148 Schäfer, R. 265, 267, 269 Scharfenberg, J. 328, 368-369 Scheel, O. 31, 75, 144 Scheible, H. 270 Schlicht, M. 290 Schneider, S. 330, 343-352, 357-363, 382 Schneider-Flume, G. 328-329, 377, 379 Schubert, A. 213 Schulken, C. 314-316 Schulte, D. 348-349

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Schwab, W. 197, 204, 209, 229-231, 233-234 Schwarz, R. 13-14, 28, 33, 43-44, 47, 50-51, 54-55, 60-62, 75, 82-83, 87, 92, 108-110, 114-116, 188 Schwarzwäller, K. 328 Seeberg, R. 52, 57, 60 Stange, C. 28, 290-292 Staupitz, J. v. 10, 34, 68, 127-128, 135, 143, 153, 161-163, 170, 185, 242, 247, 307, 333, 361, 370 Stock, U. 230, 233 Stockmann, R. 141 Stolina, R. 150, 377, 381, 385 Süß, T. 178 Tauler, J. 34, 143-160, 163-166, 172173, 179, 189, 215, 237, 243, 248, 377 Thielicke, H. 328, 380 Thomas v. Aquin 40, 48-54, 67, 82-83, 117, 213-215 Tillich, P. 5, 380, 384-385 Tugendhat, E. 31 Vogel, L. 181 Vogelsang, E. 16-18, 74-75, 105, 114, 153, 163, 205, 242, 377 Vorgrimler, H. 50-51, 58 Walter, J. v. 374 Wandruszka, M. 328 Welker, M. 241 Bei der Wieden, S. 75, 78 Winterhager, W. E. 33, 181 Wolf, E. 162-163 Wriedt. M. 128, 162-163 Zütphen , G. Z. v. 62-63 Zimmerling, P. 382

Sachregister Abendmahl 63, 69, 151-152, 225-226, 232-238, 279 Ablass 17, 33, 94, 126, 181-184, 187188, 194, 201-204, 213, 216, 360 – Ablassstreit 14-15, 98, 143, 174, 181, 199, 202, 243-245, 248, 258, 289, 321, 364-365, 369, 383 – Ablassthesen 181-185, 213-214, 245 – Resolutiones zu den Ablassthesen 10, 18-19, 186-204, 205, 209-213, 217, 231, 245, 301, 362, 379 Affekte 22-23, 27, 54, 82-92, 97, 107108, 110-112, 116, 153, 176, 179181, 198-199, 265, 267, 269, 280, 285-287, 291, 296-297, 320, 325, 347, 355, 366, 377-378, 380 – affektive Disposition 58, 93-94, 246-247, 249, 255, 359 amor 35, 39-43, 46, 66, 82-89, 92, 100-101, 108, 130, 192, 194, 206, 219, 258, 265, 318 – amor sui 51, 54, 88, 98, 125, 130, 140, 176 – siehe auch Liebe Anfechtung 16-23, 63, 66, 69-70, 95, 97, 103-105, 127, 134, 140-142, 144, 148-156, 159, 173, 177-178, 185, 189-194, 206, 215-216, 225, 230, 237-238, 254-255, 257, 276-281, 285-288, 295-298, 324, 326, 362363, 366, 370, 375-382, 385, 387 – Prädestinationsanfechtung 160-169, 379 – Christi 17, 116 – siehe auch tentatio Angst 1-3, 16, 22, 28, 33, 42, 64, 68, 87, 126-127, 151, 167-168, 171, 191-192, 212, 225, 228-229, 254, 277-281, 286-288, 296, 301-303,

313, 327, 337-340, 347-349, 375377, 380-388 –, immerwährende 139-140 –, naturalistisch 331-333, 345 –, philosophisch 3-6, 16, 330-331, 345, 384 –, psychologisch 327, 330, 334-352, 356, 367-370 –, theologisch 327-329, 372, 375 – Angstattacke/-anfall 278, 337-339, 348 – Angstbewältigung 8, 63, 127, 143, 242, 297, 325-326, 327, 340, 353, 355-366, 371-372, 381 – Angstdeutung 31, 33, 125, 152, 160, 167, 172, 242, 327-328, 333, 362, 375-376 – Angstkreis 350, 357-361, 363-364, 384 – Angstüberwindung 17, 97, 179, 183, 196, 201, 229, 314, 361, 380 – Angst als Heilszeichen 167, 169, 172-173, 177, 246 – Christi 17, 47, 54, 206, 242, 362, 386 – siehe auch Furcht Annahme der Furcht/Angst 66, 110, 112, 126, 156, 158-159, 178-179, 181-185, 193-194, 198, 201, 245, 248, 378, 385, 387-388 Antinomerdisputationen 222, 304-321, 323-324, 374, 383 attritio 51-53, 55, 58, 68, 275 – Attritionismus 53-54, 58, 68, 72, 97, 180, 355 Bauernkrieg 270, 275-277, 286-288 Beichte 9, 50, 53, 63-64, 96, 131, 179, 195, 229, 276, 354, 356, 359-360, 365

Sachregister – Bedingungsgefüge der Beichte 243, 361, 363, 367-368 Bibel 5, 85-86, 123-124, 127, 144, 218, 242, 244, 356 Buße 9-15, 43-47, 50-67, 90, 96, 99, 101, 106-111, 113, 126, 131, 147, 151, 171-172, 180, 182-185, 193, 199, 201, 209-210, 216-224, 225226, 229, 231, 234-236, 239, 267268, 270-274, 283, 304-321, 333, 353-354 – Bußgericht 13, 115, 122, 168, 179, 363 – Bußsakrament 14, 50-58, 62, 68, 120, 124, 203, 232, 245, 356, 368 Christus, Christologie 13-14, 16-18, 103-106, 108-109, 112-116, 121, 136-138, 157-160, 178-179, 200, 205-208, 233, 240, 241-243, 247250, 253, 267, 274, 305, 362-363, 386-388 – Konformitätschristologie 17-18, 112, 115-116, 138, 159-160, 163, 167, 178-179, 191, 207, 226, 242, 386-387 Deutung 5, 11, 31, 160, 327, 333, 353, 386 Devotio moderna 62-63, 97, 104 Dialektik 78-79, 93, 142, 176, 248, 256, 259, 261, 266, 269-270, 282285, 309, 327, 372-375 Dictata 13, 16, 18-20, 82-127, 129132, 154-155, 159-161, 172-173, 180, 199, 204, 226, 244, 249, 362 Durchbruch, reformatorischer 17-20, 128, 136, 159, 174, 211, 239-245 Dynamik der Angst/Verzweiflung 98, 171-172, 181, 192, 228, 230, 244, 253, 259, 264, 303, 320-322, 324325, 357, 359-361, 365, 367, 369, 381 Erstes Gebot 23-28, 252-264, 265-266, 281-285, 294, 372 Evangelium 11, 15, 93, 115, 127, 143, 199-201, 203-204, 222-223, 234, 240, 245-247, 249-250, 289, 293, 302-303, 306-308, 315-316, 325-

409

326, 364-366, 375, 379-380, 386387 extra nos 136-138, 202, 235, 240, 243, 240, 250, 386 Exzentrizität 248-250, 366 Fegefeuer 183-184, 187-194, 213-216, 218, 301, 308 Freiheit 4-5, 35, 60-61, 99-102, 133134, 157, 161, 168, 211-212, 322, 369-371, 381 Freude 26, 57, 100, 120, 167, 199-200, 235, 245, 249, 271, 358, 366, 381 Frieden 141, 164, 168, 171, 195, 197199, 201, 204, 235-239, 249, 154, 265, 267, 280, 366 –, falscher 94-95, 110, 126, 185, 201 Frömmigkeitstheologie 58-66, 86, 353 Furcht/Angst –, heilige 89, 101 –, kindliche 24, 34, 213, 218-219, 256, 261, 275 –, knechtische 33-35, 46, 50, 54, 60, 79, 81, 98-99, 101-102, 117, 134, 213-214, 219-221, 254-256, 275, 320 – vor Christus 308 – vor Gericht/Zorn 10-11, 13, 25-26, 36-37, 43-44, 50, 61, 103-107, 109110, 138, 157-158, 171-172, 176, 186, 206, 208, 214, 216, 220, 223, 236, 242, 244, 246, 256, 263, 268, 274 – vor Gott 14, 49, 84, 91, 94, 149, 185, 259, 279, 301-302 – vor Hölle/Verdammnis 12, 38-39, 68, 79-81, 103-110, 112, 116, 124125, 127, 159, 177-178, 186, 206, 214, 226, 246, 253, 279, 359 – vor Strafe 24-26, 35-36, 39, 41, 44, 48-51, 59, 67, 71, 79-81, 98-103, 124-125, 132-134, 182, 212, 216, 219-220, 223, 255, 259, 261, 263, 276, 279-281 – vor Sünde 70, 138, 157, 226 – vor Tod 28, 79, 112, 127, 157, 159, 186, 205-206, 224, 227, 253, 277, 280, 290-298, 326, 331, 340 – Ehrfurcht 24-27, 69, 79, 119, 239, 255, 260-261, 281, 284

410

Sachregister

– Gottesfurcht 7-8, 24-28, 74, 79, 94, 97, 131, 139, 149, 151, 175, 183, 187, 255-256, 259-264, 274, 276, 281-287, 292, 294, 300 – des Herrn 34, 38, 78, 107, 124, 131132, 138, 140, 168-169, 218-221, 239, 254-256, 294, 296 – Furchtbewältigung 199, 242, 325326, 353, 355, 361 – Furchtlosigkeit 80, 90, 92-93, 175176, 182, 206, 277, 285, 287, 300, 325, 356 – Furchtvermeidung 126, 141, 324, 360 – Gewissensfurcht 225, 229, 239 – siehe auch Angst Gedankenstopp 352, 365, 368 Geist, Heiliger 35-36, 49, 54, 124, 133, 177, 242, 305, 315-316, 325, 387 – der Knechtschaft/Kindschaft 35, 99, 134-135, 206-207 Gerechtigkeit Gottes 13-17, 35-36, 105, 115, 135-138, 147, 158, 168, 178, 204, 217, 240, 242, 324, 333 Gesetz 8, 10-12, 16, 35-36, 38-40, 47, 56, 78, 98-101, 119, 124, 132-135, 139, 143, 171-172, 199-201, 203, 205-206, 218-220, 222-223, 227, 246-248, 250, 252-255, 262, 264, 267, 270, 273, 275, 282-283, 287, 289-293, 295, 300-303, 305-326, 356, 361, 364, 366, 379, 385 – Gesetz und Evangelium 11, 27, 29, 170, 199-200, 203, 223, 248, 250, 256, 259, 261, 266-267, 269-270, 282-285, 299, 303, 307, 309, 318319, 321-322, 325, 371, 379 Gewissen 5, 16-19, 69-70, 341, 354355 –, erschrockenes 17, 22, 24, 93, 108, 114, 134, 151, 183, 192-193, 212, 225-227, 275, 282, 298, 302, 306, 323, 339 –, getröstetes 141, 157, 195, 200-201, 212, 225, 235, 280 Gewissheit 14-15, 26, 44, 69, 170, 172, 186, 191-193, 195-196, 199201, 203-205, 211, 235, 239, 247250, 268, 308, 321, 365, 381-382

–, paradoxe 169-171, 248 – Heilsgewissheit 15, 21, 44, 63, 161170, 193, 203, 239, 241, 247-250 – Heilsungewissheit 44, 57, 63, 70, 97, 142, 170-171 Glaube 10-12, 14-15, 19-22, 90-92, 101, 106, 115, 135-142, 144-147, 153-160, 168, 171-172, 178-179, 182-184, 188-189, 194-199, 200212, 221, 230, 233-239, 244-245, 247-250, 254-263, 268-269, 271274, 281-288, 298-300, 309-310, 321, 325-326, 365-366, 371, 385 –, angstfreier 328, 375-377 –, kämpfender 280, 287-288, 296, 317, 319, 321, 323, 326, 379-382 –, reflexiver 249 – im uneigentlichen Sinn 273-274 Gnade 10-11, 19-20, 38, 96, 102, 112113, 121, 133-134, 137-138, 140142, 155, 170-173, 178-181, 195, 198, 202, 218-224, 242-248, 302, 359 –, bedingungslose 162, 243, 303, 363, 366 – Gnadenlehre, scholastische 49-58, 63-65, 68, 71-72, 116-119, 126-127, 131, 137, 220, 223, 306, 364 – Gnadenlehre, augustinische 20, 3443, 57, 147, 166, 172, 199, 224, 242, 361-362 – Gnadenwahl 161-169, 247 Gott 4, 20-23, 27, 69, 84-85, 129, 146, 200, 245-246, 249, 258, 284-285, 365-366, 372-375 –, verborgener 23, 155-156, 315-317, 379, 385 – Gotteserkenntnis 19, 93-96, 175178, 246, 290, 292, 297 – Gotteslästerung 79, 104, 124, 168169, 278, 295, 363 – Gottesverhältnis 4, 6, 27, 83, 92, 129, 176, 200, 224-225, 245-251, 258, 285, 294, 298-301, 320, 327, 333, 365, 372-375, 377-381, 386 Gradualismus 59, 71-73, 82, 102, 126127, 176, 218, 222-224, 242, 255, 318-320, 354-355

Sachregister

411

Hass/odium 21, 79, 82-84, 87-90, 120, 124, 126, 134-135, 158, 206, 216218, 253, 259, 302, 309-310, 319, 359 Hebräerbriefvorlesung 14, 19, 204212, 233, 321 Hoffnung 15, 17, 44, 51, 65-66, 81, 88, 113-114, 121, 141, 167-169, 179180, 213-214, 280, 303, 380

– Mystikforschung 144-149, 160

Introspektion 70, 169, 227-230, 235, 239, 246, 355, 358, 365

Papst/Papsttum 182, 195, 197, 203, 213, 216, 218, 221, 296, 302, 307308 particula exclusiva 241-242, 245 Passivität 143, 147, 153-160, 172, 243 Paulus/paulinisch 20, 39-41, 47, 81, 93, 98-102, 117, 124, 128-129, 133, 166, 171-173, 181, 185, 203, 218223, 242, 280, 313, 361-364 Pelagianismus 12, 20, 22, 35, 40-42, 47, 56-57, 61-62, 72, 102, 141, 361 Pest 90, 108, 275-280, 296, 298 Philosophie 2-6, 139, 162, 330, 346, 375-376 Prädestination 161-169, 247-248, 274, 315 Predigt 74-75, 78, 314-315, 365 – Predigt P I 19, 27, 32, 74-82, 87, 89, 92-93, 97-98, 103, 107, 116, 118127, 143, 206, 283, 359 – Predigt Pr I-III 24-25, 261-263, 270, 281-283 promissio 15, 25, 118, 142-143, 170, 203, 210, 232-234, 240, 274, 285286, 321, 364 Psychologie 4, 8, 23, 30-32, 251, 327353, 356, 366-371, 382 – Psychotherapie 334-353 – Pastoralpsychologie 368

Katechismusformel 23-27, 257-265, 281-285 Kirche 42, 55, 57, 71, 94-96, 126, 354356 Kleinmütigkeit/pusillanimitas 64, 140141, 154, 167 Leipziger Disputation 213-224, 283, 304, 318 Liebe Gottes 11, 17, 26-27, 34-36, 4244, 113, 133, 206, 223, 284, 318, 326, 353, 366, 372-375, 380, 387 – zu Gott 8-10, 16, 23-26, 35, 54-61, 67-68, 78, 81, 83, 87-89, 98, 107, 118, 120, 129, 131, 133, 167, 176, 188, 194, 214, 217, 252, 254, 257, 260, 262, 264-265, 282, 285, 307308, 310, 357-358 – Stufen der Liebe 37, 46, 59-62, 81, 149, 171 – Selbstliebe 36, 55, 59, 81, 102, 129, 176, 264 – siehe auch amor/amor sui Meditation 60, 62-63, 71, 90, 104, 110-116, 163, 225, 362, 382 Messe 64, 68-70, 87, 95, 225, 356, 359 – siehe auch Abendmahl Motiv/Motivation 11-12, 14, 24-26, 29, 35, 40, 42, 52, 58-59, 63, 98102, 124-126, 133, 140, 149, 172, 176, 198, 228, 267, 271-272, 285, 344, 353, 361-362 Mut 2-3, 5, 70, 81, 251, 277, 380, 385 Mystik 34, 66, 137, 144-149, 153, 160161, 184, 237, 316, 377 – Mystikkritik 23, 144-145

Nominalismus 48, 53-58, 72, 86, 118, 306, 355, 362 Ohnmachtserfahrung 127, 171, 246, 324, 326, 359, 362, 364, 386 –, soteriologische 130, 137-138, 158, 170, 242, 244, 302, 326, 362-363

Rechtfertigung 7, 14-15, 22, 52, 56, 109, 135-143, 145, 198, 203, 268, 274, 299, 310-311, 318 Rechtfertigungslehre 13, 128, 203, 240-242, 269-270, 274, 306-308, 322, 327, 368, 383 –, frühe 126, 128, 135-143, 158-159, 171, 175, 178, 200, 203, 243-244, 267, 363, 369

412

Sachregister

–, reife 15, 171 201-203, 209, 222223, 246, 249-250, 252, 289, 364 - systematische Struktur 239-251 Reformation, Wittenberger 2, 7, 67, 71, 282, 286-288, 306, 308, 323, 369, 385 Religion 1-2, 329, 366-367, 369 – Religionskritik 2, 369, 371 – Religionspsychologie 12, 29, 329, 344, 367 resignatio ad infernum 17, 66, 143, 154, 163, 165, 167, 254 Reue 9-12, 43-44, 50-55, 58, 60, 6263, 66-68, 106-107, 112-114, 131, 181-184, 197-198, 216-218, 229, 271-275, 306, 309-310, 384 – Furchtreue/Galgenreue 43-44, 5253, 55, 58, 60, 63, 68, 172, 180 – Liebesreue 43-44, 52, 55, 58, 60 Römerbriefvorlesung 14, 19, 117, 128143, 153-173, 178, 180, 182, 185, 199-202, 206-211, 236-237, 242245, 299, 324, 358, 362-364 Sakrament 51-53, 64, 69, 72-73, 198, 209, 211, 229-236, 321 Scholastik 13, 75, 81-82, 148, 153, 202, 218-221, 224, 267-268, 353 – Frühscholastik 33, 43-47, 50, 55 – Hochscholastik 48-53 – Spätscholastik 48, 52-58 – Scholastikkritik 116-121, 185, 300 Schöpfung 145, 190-191, 247, 284 Seelsorge 53, 56, 63-68, 96-97, 162163, 168, 177, 182, 225, 228, 287, 313, 355, 361, 368, 378, 382 Schrecken 6, 12, 21-22, 25-26, 33, 38, 41-42, 64, 68, 79-80, 89-92, 105, 111, 113, 126, 157, 168, 177-179, 189-193, 200, 215, 226, 246, 253254, 261, 265-272, 275-276, 292297, 300-302, 309, 313-317, 321, 326, 363, 378, 384 Selbsterfahrung 1, 6, 73, 137, 245-246, 249-250, 335, 354-355, 360, 363, 370-371, 380, 387 Selbsterkenntnis 19, 93-96, 175-178, 246, 290, 292, 297

Selbstverhältnis 4, 176, 245-251, 285, 298-299, 326, 365, 377-378, 380, 384, 386 Sicherheit/securitas 44, 80, 92-98, 110, 119, 126, 129-132, 135, 139-141, 157, 169-171, 175-176, 181-189, 198, 201, 203, 239, 248, 254, 276278, 280-283, 287, 289, 301, 322325, 354, 360-361 simul 81, 84, 93, 116-121, 127, 136138, 142, 146-147, 202, 240, 243, 279-280, 287, 317, 322, 376, 382 Skrupel/Skrupulosität 53, 58, 64-66, 70-71, 141, 355-357 sola fide 200-204, 210, 241, 244, 247, 274, 310 sola gratia 57, 203, 241-243 solus Christus 140, 158, 241, 243 Spiritualität 62, 67, 187, 199, 371, 382 Sünde 4, 17, 37-38, 44, 51-54, 62-63, 75, 78, 87, 93-97, 106, 110-111, 113, 117, 119-127, 129-142, 146-147, 168, 170-171, 175-176, 185, 205206, 212, 216-218, 231-232, 238, 244, 248, 267, 292, 298-307, 310312, 317, 358-364, 380 – Sündenblindheit 97, 299, 303 – Sündenerkenntnis 60, 94, 110, 136, 140-141, 175, 181, 195, 226, 253, 256, 299, 310, 324-325 – Sündenvergebung 22, 52, 137, 179, 196, 203, 209, 226, 232, 236, 268, 272, 354 – Machtcharakter der Sünde 93, 117, 129-131, 133-135, 303, 318, 324326, 363-364 – Erbsünde 93, 108, 130, 132, 141, 231-232, 265, 294, 306-307, 330, 363-364 – Todsünde 62, 65, 69-70, 117, 185, 209 Systembruch mit der Scholastik 131, 135, 171, 221-224, 243, 355 Taufe 93, 108, 123, 131, 225, 231-234, 236, 238, 363 tentatio 17, 20, 63, 94-96, 134, 215216, 279-281, 299, 377-378 – tentatio de praedestinatione 17, 162 – tentatio de indignitate 17, 162

Sachregister Teufel 20, 94-95 207, 285, 299, 313, 378, 380 – Teufelskreis 358, 361, 363 Theologie 1, 8, 28-29, 173, 241, 324, 327-329, 346, 366, 370-372, 374, 383-387 – theologia crucis 116, 144, 195, 386388 – monastische Theologie 58, 61, 86, 287, 378 timor 7, 24-28, 34-40, 43-58, 71-73, 77-82, 98-116, 132-143, 149-153, 171-173, 186-199, 204-208, 219221, 254-257, 264-274, 290-303, 317-322 –, castus 34-35, 38, 43, 45-46, 48, 54, 60, 85 –, filialis 14, 26-28, 34-35, 39, 45, 4849, 63-64, 68, 71, 79, 85, 88, 109, 214, 219, 223, 256, 259, 264, 267, 275, 318-319 –, initialis 45-50, 54, 63, 86, 100, 124125, 217 –, nocturnus 84-86, 100-102 –, servilis 26-28, 34-40, 43, 45-49, 51, 53-55, 57, 59-64, 66, 68, 71, 80-81, 85-89, 98-102, 107, 116, 124-126, 132-135, 139, 171-172, 176, 180, 214, 217-220, 223, 242, 256, 264, 267, 275, 318-319, 325, 360-362 Tod 5, 16-17, 21, 60-63, 90, 109, 111113, 158, 185, 187, 205, 207, 215, 226-229, 231, 277-278, 290-298, 302-303, 311, 314, 322-326, 331, 356, 360, 371-372, 375, 385 Trost 15, 20, 57, 65-68, 72, 97, 140143, 147, 158, 162-163, 167-170, 173, 179, 195-196, 199-201, 203204, 208, 225, 235-237, 245, 249, 254, 261, 265, 267, 269, 271, 287, 293, 296-297, 302, 309, 315, 324, 358, 366, 373, 378, 381 Überlassung 66, 142, 154, 159, 165166, 178-179, 210, 237, 243-244, 326, 363, 365, 378, 385

413

Umstrukturierung, kognitive 352, 362, 368 Vergebung 52, 65, 93, 131, 184, 195197, 208-209, 212, 231, 234-236, 238, 245, 247, 271, 306-309, 359, 385 Verhaltenstherapie 8, 330, 343-353, 367-368 Verinnerlichung 60-62, 67-68, 87, 113, 354 Vertrauen 4, 23-28, 72-73, 106, 140141, 179, 183, 185, 187-188, 193194, 200-201, 208, 233, 244, 247, 252, 262, 266, 268-269, 280, 282285, 300-303, 355, 365-366, 376377, 380-381 –, unbedingtes 363, 365-366 Verzweiflung 18, 22, 25, 55, 62, 6566, 92, 98, 100, 102, 104, 106, 109, 116, 124-126, 135, 140-142, 153, 158, 163, 168, 171-172, 181, 183, 190, 192, 215, 222-223, 227, 230, 275, 278, 281, 295, 300-303, 308309, 319-321, 324-325, 357, 359, 362, 364, 378 Visitation, kursächsische 10, 25, 263, 272, 275-282 – Unterricht der Visitatoren 10-11, 270, 273 Vollkommenheit 80-81, 121, 123, 129, 320 Weltverhältnis 282-285, 301, 303, 366, 375, 378, 384 Wort Gottes 14-15, 89, 91, 94, 105, 131, 138, 167, 175, 240, 246-247, 283, 298-299, 365 –, inneres 179, 199 – Entdeckung als Heilsmittel 203, 211, 240, 245 – als Anrede Gottes 246-247, 365-366 Würdigkeit 55, 64, 69-70, 113, 118, 147, 162, 211, 228-230 Zwangsgedanken 363, 368