Der Begriff d. Doxa in der platonischen Philosophie 9783666250026, 9783525250020

157 23 5MB

German Pages [132] Year 1962

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Der Begriff d. Doxa in der platonischen Philosophie
 9783666250026, 9783525250020

Citation preview

HYPOMNEMATA

HEFT 2

HYPOMNEMATA U N T E R S U C H U N G E N ZUR

ANTIKE

U N D ZU I H R E M N A C H L E B E N

Herausgegeben von Albrecht Dihle / H a r t m u t Erbse Wolf-Hartmut Friedrich / Christian Habicht Bruno Snell

Heft 2

VANDENHOECK & RUPRECHT IN

GÖTTINGEN

JÜRGEN

SPRUTE

Der Begriff der DOXA in der platonischen Philosophie

VANDENHOECK & R U P R E C H T IN GÖTTINGEN

© Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 1962.—Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. — Gesamtherstellung·. Hubert & Co., Göttingen 8001

MEINEN ELTERN

VORWORT Die vorliegende Untersuchung ist die an einzelnen Stellen leicht überarbeitete Fassung meiner Göttinger Dissertation. Die PiatonZitate entstammen der Ausgabe von J . Burnet, Oxford 1900ff. An dieser Stelle möchte ich meinen Lehrern, Herrn Prof. Dr. J. König und Herrn Prof. Dr. K. Deichgräber, noch einmal aufrichtig und herzlich danken für die Förderung und Anteilnahme, die sie meiner Arbeit zukommen ließsn. Zu danken habe ich ferner den Herausgebern der Hypomnemata, ganz besonders Herrn Prof. Dr. H. Erbse, dem ich für seine Hilfe beim Lesen der Korrektur und für die drucktechnische Betreuung der Arbeit verpflichtet bin. Nicht zuletzt gilt mein Dank auch der Philosophischen Fakultät der GeorgAugust-Universität zu Göttingen, die durch einen Druckkostenzuschuß den Druck der Arbeit ermöglicht hat. Göttingen, im September 1962

Jürgen Sprute

INHALT Einleitung I. Das Problem der δόξα in der Platon-Literatur

9 16

II. Die Natur der δόξα Die Wortbedeutung von δόξα Piatons Verständnis des Begriffes δόξα a) Die Ansicht des Theaitetos (Theait. 184b—187a) b) Erläuterungen der δόξα in den späten Dialogen Die falsche Meinung und das Problem des Nicht-Seins Die Problematik der wahren Meinung Der platonische Erkenntnisbegriff a) Erfahrungs-„Erkenntnis" b) Eigentliche Erkenntnis Der platonische Wahrheitsbegriff Die erkenntnistheoretische Stellung der δόξα in der Politela Die εικασία Dianoetische und dialektische Erkenntnis δόξα und επιστήμη Die Wahrheit der Meinung Die wahre Meinung als Erfalirungsorkenntnis

60 65 69 78 83 86 90 92 95

III. Die Bedeutung der δόξα für die platonische Erkenntnis Der Erkenntnisbegriff in den spiiten Dialogen Schwierigkeiten der Interpretation (Menon, Sophistes) Der exklusive Charakter der έτπστήμη δόξα als positiv zu bewertendes geistiges Verhalten Der approximative Charakter der menschlichen Erkenntnis Das innere Verhältnis von δόξα und έπιστήμη Der Begriff der Erleuchtung

100 103 109 111 114 116 119

34 44 47 53 57

E x k u r s : Eine moderne Auffassung von der Natur des Wissens und der platonische Erkenntnisbegriff

124

Rückblick

128

Stellenregister

130

EINLEITUNG Zu den Grunderfahrungen des Menschen gehört der Irrtum. Ina Irrtum zeigt sich die Fehlform menschlichen Denkens. Da das Denken ständig der Gefahr ausgesetzt ist, in diese Fehlform abzugleiten, besteht eine der ursprünglichsten Fragen der Philosophie in der Frage nach einem unfehlbaren geistigen Verhalten. Ein solches seinem Charakter nach unfehlbares geistiges Verhalten müßte das Erkennen sein. An der Erkenntnisfrage entzündet sich deshalb das Philosophieren besonders häufig. Da das Wissen oder die Erkenntnis, wenn überhaupt 1 , dann nur eine Weise geistigen Verhaltens unter anderen ist, ergibt sich die Frage, was die Erkenntnis zur Erkenntnis macht im Gegensatz zu Schein-Wissen, Glauben, Meinung u. dgl. Diese Fragestellung f ü h r t in der platonischen Philosophie zur Abgrenzung der επιστήμη von der δόξα. Die Scheidimg zwischen Erkennen und Meinen entspringt nicht erst der philosophischen Einsicht Piatons. Wo immer philosophiert wird, geschieht dies im Bewußtsein einer solchen Distinktion. Es ist daher nahezu selbstverständlich, daß der Gegensatz zwischen Erkennen und Meinen bereits bei den Vorsokratikern seine sprachlichen Ausprägungen gefunden hat. Xenophanes äußert sich skeptisch über die Möglichkeit eines είδέναι von Übersinnlichem; allem, was darüber gesagt wird, haftet nur δόκος an, d.h. bloße „Annehmbarkeit" 2 , Wahrscheinlichkeit (cf. Diels-Kranz Β 34). Heraklit kennt ein φρονεϊν und γινώσκειν, das der Menge versagt bleibt, da ihr das δοκεΐν gemäß ist (cf. Β 17 u. 27). Die Dike des Parmenides kündet sowohl von der άλήθ-εια als auch von den βροτών δόξαι, denen keine πίστις άληθ-ής innewohnt (cf. Β 1,29—30). Empedokles redet von einem νοεΐν f¡ δηλov εκαστον (Β 3,13) und von einer σκοτόεσσα δόξα (Β 132). Ähnlich ist es bei Anaxagoras und Demokrit 3 . In der Sophistik, welche in ihren Hauptvertretern eine allgemeingültige Erkenntnis leugnet, könnte man ein Zusammenfallen beider Begriffe erwarten. Mag jedoch auch nach der Erkenntnistheorie des 1

Auf die Frage, worin eigentlich das Erkennen besteht, kann hier nicht eingegangen werden. Eine gute Entfaltung der schwierigen Problematik gibt A. J. Ayer, The Problem of Knowledge, Pelican Books A 377. Es wird sich im Laufe der Untersuchung zeigen, daß für Piaton das Erkennen in der Tat ein geistiges Verhalten ist. Vgl. S. 80 u. S. 124ff. 2 Vgl. H. Frankel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, New York 1951, S. 433. 3 Vgl. Anaxagoras Β 12 (II, 38,3 u. 9) u. Β 4 (II, 34,5 u. 35,4); Demokrit Β 7 u. 10.

10

Einleitung

Protagoras alles Erkennen nie mehr als ein Meinen sein, mag es mithin nach Protagoras ein Erkennen im eigentlichen Sinne des Wortes überhaupt nicht geben, so ist doch der eigentliche Begriff der Erkenntnis erst die Bedingung für ein solches Theorem. Protagoras selbst spricht von seiner Unfähigkeit, etwas über die Götter zu wissen (είδέναι) (cf. Β 4), und Gorgias bedient sich bewußt des Gegensatzes zwischen είδέναι und δοξάζειν bei der Argumentation in seiner Apologie des Palamedes (B IIa). Es lohnt sich, auf diesen Gegensatz von είδέναι und δοξάζειν bei Gorgias etwas näher einzugehen; denn Gorgias gibt sehr klare Bestimmungen von beiden Begriffen. Das Wissen (είδέναι, έπίστασθαι) ist f ü r ihn ein Wissen dessen, was tatsächlich so ist, wie es sich im Wissen bekundet, τό μή γενόμενον kann nicht als δν gewußt werden (cf. II, 295,21). Anders ausgedrückt: das Wissen ist stets ein Wissen der Wahrheit (cf. II, 300,13f.). Die Möglichkeit des Wissens beruht auf zwei voneinander unabhängigen Gründen, Autopsie und Hörensagen. Das Wissen beispielsweise vom Verrat des Palamedes ist möglich auf Grund des Gesehenhabens (ίδών) oder von persönlicher Teilnahme am Verrat oder auf Grund der Befragung eines Teilnehmers (cf. II, 299,25f.). Das δοξάζειν dagegen steht einem jeden ohne weiteres über alles mögliche frei 1 . Die δόξα ist daher auch σφαλερά und αβέβαιος (cf. 11,291,11). An anderer Stelle (11,300,13) wird sie einmal als das άπιστότατον πράγμα bezeichnet. Die Unzulänglichkeit der δόξα macht sich die Rede (λόγος) zunutze. Die Überredung 2 vollzieht sich dabei in der Weise, daß eine δόξα an die Stelle der anderen (δόξαν άντί δόξης II, 292,6) gesetzt wird. Dadurch kann das Unglaubliche und nicht Offenbare den Augen der Einbildung 3 deutlich erscheinen. Die δόξα steht somit bei Gorgias in enger Beziehung zur Rhetorik. Nicht das sichere Wissen, dessen Kriterium für Gorgias die Wahrheit des Gewußten ist, sondern das unsichere, der Beeinflussimg zugängliche Meinen bildet sowohl den Ausgangspunkt als auch das zu verwirklichende Ziel der rhetorischen Kunst. Wiewohl Gorgias auch über einen klaren Wissensbegriff verfügt, darf man daraus doch nicht schließen, daß er eine wesentlich andere erkenntnistheoretische Haltung eingenommen habe als etwa Protagoras. Die Entscheidung dieser Frage hängt ab von der Beurteilung seiner Schrift περί φύσεως, in welcher mit kaum noch zu überbietender Konsequenz ein radikaler Skeptizismus vertreten wird. Im Gegensatz zu dem erkenntnistheoretischen Relativismus der Sophistik geht es in Piatons Philosophieren im Anschluß an Sokrates 1

Vgl. II, 300,15 f. τό γε δοξάσαι κοινόν ίπασι περί πάντων. Vgl. 1 1 , 2 9 2 , 4 ή πειθώ προσιοϋσα τω λόγω. 3 Vgl. II, 292,7 τοις της δόξης δμμασιν. Die Paraphrase folgt Friedländer, Platon, Bd. I, 2. Aufl., Berlin 1954, S. 13. 2

Einleitung

11

immer um ein allgemeinverbindliches Wissen von den Dingen. Dabei wird nicht nur, wie etwa bei Parmenides und Heraklit, die Möglichkeit der Erkenntnis vorausgesetzt und im Bewußtsein des Gegensatzes von Erkennen—Meinen philosophiert, sondern die Reflexion erstreckt sich auch auf das Erkennen selbst. Es wird nach der Erkenntnis als solcher gefragt 1 . Das Fragen nach der Erkenntnis vollzieht sich dabei wesentlich unter dem Aspekt der Gegensätzlichkeit von δόξα und επιστήμη. In der Überzeugimg, daß αληθής δόξα und επιστήμη nicht dasselbe sind, besteht eine der Grundpositionen der platonischen Philosophie. Dabei handelt es sich zwar auch, aber nicht so sehr um den jedermann geläufigen Unterschied zwischen Erkennen und Glauben, Meinen, wie um die Überzeugung von der Möglichkeit einer philosophischen Erkenntnis, die ungleich wertvoller ist ale alle Kenntnisse und Einsichten, welche im praktischen oder geistigen Leben der Zeit gerade im Kurse stehen. Der Philosoph, der sich auf seine Erkenntnis beruft, distanziert sich damit von den Anschauungen der Menge (der πολλοί). Diese Distanz geht meist so weit, daß nur er allein sich im Besitz der Wahrheit sieht oder wenigstens einen Weg dorthin zu wissen glaubt. Von einem derartigen Standpunkt aus erscheint dann leicht alles, was sonst für Wissen und Erkenntnis gilt, als Schein-Wissen und unzulängliche Meinung. Bei Piaton führt diese Haltung zur Philosophie eines esoterischen Kreises, von der das Wesentliche schriftlich gar nicht mehr tradierbar ist. Der esoterische Charakter der platonischen Philosophie beruht vor allem darauf, daß die επιστήμη im Sinne Piatons keineswegs von jedem Menschen erlangt werden kann. Die Möglichkeit des έπίστασθαι hängt von einer beträchtlichen Anzahl von Bedingungen ab, deren Erfüllung eine seelische Konstitution erfordert, wie sie nur sehr wenige Menschen besitzen 2 . Mit einer philosophischen Haltung, die für sich allein den unbedingten Wahrheitsanspruch erhebt, steht Piaton in einer langen Tradition. Eine solche Haltung war erst möglich, als überhaupt fraglich wurde, was das Wahre und Richtige ist 3 . Solange der Mensch in den überkommenen religiösen und sozialen Ordnungen lebt, ergibt sich dies jeweils aus der Tradition. Ein Streit um die Wahrheit wäre für die archaische Zeit, d.h. die Zeit Homers, etwa ebenso gegenstandslos wie für einen gläubigen Christen ein Streit um die Frage nach dem Seinsgrund des Alle. Erst als die alten Ordnungen sich auflösten, entwickelte sich die griechische Philosophie. Demgemäß beruft sich Homer zwar auf die Musen 4 , aber nicht als Rechtsausweis, daß er, und gerade er, 1

Ein ganzer Dialog, der Theaitet, ist dieser Frage gewidmet. Vgl. S. 109ff. 3 Das Folgende verdankt viel einem Aufsatz von Bruno Snell : Menschliches und göttliches Wissen, in : Die Entdeckung des Geistes, 3. Aufl., Hamburg 1955, S. 184 ff. * Vgl. IL, 2, 484ff.; 11, 218; 14, 508; 16, 112. 2

12

Einleitung

ü b e r h a u p t die Wahrheit sagt, sondern als Rechtsausweis darüber, wieso er von Zuständen u n d Ereignissen zu berichten vermag, die er unmöglich selbst erlebt haben kann. Gegenüber Homer vollzieht Hesiod schon den ersten Schritt in die Distanz der eigenen Haltung zu den Meinungen der anderen. Auch nach Hesiod h a t der Dichter sein Wissen von den Musen. Aber Hesiods Musen künden nicht mehr die Wahrheit schlechthin, sondern — wie es ihnen gerade gefällt — sowohl ψευδέα πολλά . . . ετύμοισιν όμοια, als auch άληθέα (cf. Theog. 27f.). Hesiod selbst haben sie offenbar die Wahrheit gelehrt. Dadurch ist er, Hesiod, ausgezeichnet vor den anderen. Bei Hesiod begegnet uns damit zum erstenmal ein ausgeprägtes Wahrheitsbewußtsein. Es ist oft gezeigt worden, wie es in der frühgriechischen Lyrik zur Entdeckung des Individuellen kam. Diese Entdeckung war nur möglich auf Grund der Distanz der eigenen Haltung gegenüber dem Fühlen und Denken der anderen. Was somit in der Dichtung bereits angelegt ist, findet sich explizit bei den frühen Philosophen. Strenges Wahrheitsbewußtsein u n d Distanz gegenüber fremden Meinungen gehören fortan zur philosophischen Haltung schlechthin. Xcnophanes betont selbstbewußt den W e r t seiner σοφίη (vgl. Frg. Β 2). Die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten beurteilt er skeptisch. Inwieweit sich diese Skepsis auch gegen seine eigene Lehrmeinung richtet, ist auf Grund der spärlichen Fragmente, die wir von ihm besitzen, nicht zu sagen. Gänzlich überzeugt von der Wahrheit ihrer Lehren sind jedoch Heraklit und Parmenides. Besonders Heraklit distanziert sich verachtungsvoll von der Menge; denn die Menschen sind nicht in der Lage, seine Lehre vom Logos zu verstehen. Ihre Meinungen sind Kinderspiele (cf. Β 70). Gegen fast alle anderen Philosophen und Dichter scheint Heraklit polemisiert zu haben. Hesiod, Pythagoras, Xenophanes, Hekataios, Homer, Archilochos bezeichnet er als Vielwisser und Schwindler. Wie Heraklit, wenn auch nicht mit ganz derselben Schärfe, setzt sich Parmenides gegen die nichts Avissenden Menschen ab (cf. Β 6, 4ff.). Bei ihm findet das Bewußtsein seiner philosophischen Haltung Ausdruck in der scharfen Antithese zwischen der αλήθεια und den βροχών δόξαι, denen keine πίστις αληθής innewohnt (cf. Β 1, 29f.). Was ist das jedoch f ü r eine Wahrheit, von der diese Philosophen jeweils so fest überzeugt sind? Bekanntlich begann auch Hekataios von Milet eines seiner Werke mit dem selbstbewußten Hinweis auf die Wahrheit seiner Ausführungen. Es drängt sich die Frage auf, ob e t w a die αλήθεια des Parmenides identisch ist mit der Wahrheit der ionischen ίστορίη. Schon nach flüchtiger Lektüre des parmenideischen Lehrgedichtes wird m a n die Frage entschieden verneinen. Das Wissen des Hekataios ist das Wissen des Empirikers. Die άλήθεια des Parmenides hingegen besteht in einem metaphysischen Wissen vom έόν, das der Erfahrungserkenntnis völlig unzugänglich ist. Ebenso ist es bei Hera-

Einleitung

13

klit. Seine Lehre vom Logos begreift das Grundgesetz des Alls, das allen Erscheinungen zugrunde liegt. Und auch das Wissen des Xenophanes ist metaphysischer Natur. Zu seinen wesentlichsten Einsichten gehört der Gedanke der Ganzheit, Einheit und Unbeweglichkeit Gottes. Liegen somit die Gegenstände der Erkenntnis dieser Philosophen im wesentlichen außerhalb des menschlichen Erfahrungsbereiches, ist auch die Weise außergewöhnlich, wie sie dieser Erkenntnis teilhaftig zu werden vorgeben. Parmenides beschreibt im Prooimion seines Lehrgedichtes nach dem Vorbild von Hesiods Musenweihe seine Erkenntnis dessen, was er im folgenden ausbreitet, als Offenbarung durch die Göttin Δίκη. Auch Heraklits Erkenntnis trägt gewissermaßen intuitive Züge. Man hat nicht zu Unrecht auf das Prophetische seiner Haltung hingewiesen 1 . Für einen Vergleich mit Piaton ist von allen vorsokratischen Philosophen Parmenides am ergiebigsten. Ganz wesentliche Züge von Piatons philosophischer Haltung sind bei Parmenides bereits vorgegeben 2 . Beiden geht es um ein metaphysisches Wissen, das letzthin nur durch eine Art Offenbarung erreichbar ist. Gegenüber diesem Wissen werden alle anderen möglichen Erkenntnisse als bloße δόξαι begriffen und damit eigentlich ihres Erkenntnischarakters entkleidet. Wie Parmenides im zweiten Teil seines Lehrgedichtes, wo eine Art naturwissenschaftliches Weltbild entwickelt wird, ausdrücklich von den δόξαι βροτεΐαι handelt, so sind f ü r Piaton noch im Timaios alle naturwissenschaftlichen Kenntnisse, von denen gerade dieser Dialog voll ist, nichts als δόξαι gegenüber der eigentlichen philosophischen Erkenntnis. Wenn „Erkenntnis" wesentlich als philosophische Erkenntnis verstanden wird, ist die Frage nach der Möglichkeit und dem Sinn der Erkenntnis gleichbedeutend mit der Frage nach der Möglichkeit und dem Sinn der Philosophie überhaupt. In der scharfen Abgrenzung der επιστήμη von der δόξα spiegelt sich daher die scharfe Absetzung des Anliegens der Philosophie von allen übrigen menschlichen Bestrebungen. Da Piaton die philosophische Erkenntnis als die Erkenntnis schlechthin versteht, neben der es nichts anderes mehr gibt, das im eigentlichen Sinne Erkenntnis genannt werden dürfte, geht bei ihm das Problem des Unterschiedes zwischen Erkennen und Meinen in- und durcheinander mit dem Problem des Unterschiedes zwischen der philosophischen Erkenntnis und anderen eventuell möglichen Erkenntnisarten. Durch diesen doppelten Aspekt gewinnt das Erkenntnisproblem bei Piaton seine besondere Schwierigkeit. 1 Z.B. Werner Jaeger, Die Theologie der frühen griechischen Denker, Stuttgart 1953, S. 127 ff. 2 Von der Verwandtschaft ihrer ontologischen Konzeptionen soll hier abgesehen werden.

14

Einleitung

In den erkenntnistheoretischen Erörterungen Piatons spielt der Begriff der δόξα eine große Rolle. Piaton verwendet den Begriff vornehmlich, um zu zeigen, was die Erkenntnis nicht ist. Infolgedessen wird die δόξα meist nur so weit diskutiert, wie ihre Behandlung über die επιστήμη Aufschluß liefert. Dadurch ergeben sich für die Interpretation oft Schwierigkeiten, wenn man nach der Natur der δόξα selbst fragt. Besonders problematisch erscheint die δόξα in ihrem Verhältnis zur ontologischen Konzeption Piatons — der Ideenlehre —, welche die Grundlage für den platonischen Erkenntnisbegriff bildet. Vergrößert werden die Schwierigkeiten noch durch anscheinend einander widersprechende Ausführungen über die δόξα in den verschiedenen Dialogen. Die Problematik der δόξα ist daher von manchen PiatonInterpreten auch besonders betont worden. Nach Apelt hat Piaton „dem Wesen der δόξα nie vollkommen beikommen können. Sie war sozusagen ein irrationales Element in seiner Erkenntnistheorie, das ihm Schwierigkeiten bereitete, deren er nie ganz Herr werden konnte" 1 . Stenzel ist sich ebenfalls der „Schwierigkeit" bewußt, die „der in der platonischen Forschung immer problematischer gewordene Begriff der δόξα" in sich birgt ». Bei den in der Platon-Literatur bisher unternommenen Versuchen, eine Erklärung für die Problematik der δόξα zu finden, handelt es sich hauptsächlich um zwei Verfahrensweisen. Einmal gehen die Interpreten von einer modernen philosophischen Konzeption aus und legen die an dieser gewonnenen Maßstäbe an die platonische Philosophie an 3 . In solchen Fällen werden die sich darbietenden Schwierigkeiten und Widersprüche durch den Hinweis auf angebliche Mängel und Fehler der platonischen Konzeption erklärt. Die platonische Philosophie erscheint dann, zumindest in der Behandlung bestimmter Problemkomplexe — z.B. der Erkenntnis —, als die unzulänglichere, minderwertigere gegenüber derjenigen Konzeption, von deren Boden aus geurteilt wird. Angesichts einer solchen Interpretationsweise erhebt sich prinzipiell die Frage des Fortschritts in der Philosophie. J e nachdem, wie man zu dieser Frage steht, wird man auch eine sich an modernen Theoremen orientierende Interpretation beurteilen. Für die andere Verfahrensweise ist der entwicklungsgeschichtliche Aspekt der Dialoge maßgebend4. Unstimmigkeiten zwischen den einzelnen Dialogen werden erklärt auf Grund von Entwicklungshypo1 Piaton, Sämtliche Dialoge, hrsg. von O. Apelt, Bd. II, Menon, 2. Aufl., Leipzig 1922, S. 87 Anm. 45. 2 J . Stenzel, Studien zur Entwicklung der platonischen Dialektik von Sokratee zu Aristoteles, 2. Aufl., Leipzig u. Berlin 1931, S. 22. 8 U . a . Apelt, vgl. Einleitung zur Übersetzung des Theaitet, 3. Aufl., Leipzig 1920, S. 13; ferner Platonische Aufsätze, Leipzig u. Berlin 1912, S. 54. 4 Z . B . bei Stenzel.

Einleitung

15

thesen für die platonische Philosophie. In Verlegenheiten müßte eine solche Interpretationsweise führen, wenn offensichtliche Widersprüche innerhalb desselben Dialoges auftreten. Aber auch in derartigen Fällen ist nach dieser Methode weitergearbeitet worden, wenn es sich um umfangreiche Dialoge handelt, wie beispielsweise die Politela. Grundsätzlich muß jedoch jeweils sowohl nach der Möglichkeit als auch Berechtigung einer entwicklungsgeschichtlichen Interpretation gefragt werden. Die Fülle der Untersuchungen dieser Art von teilweise höchst verdienstvollen Gelehrten darf kein Freibrief sein, ohne methodische Besinnimg in der Richtung weiterzuarbeiten. Seit Schleiermacher und K. F. Hermann laufen die systematische und die entwicklungsgeschichtliche Platon-Interpretation in mannigfachen Formen nebeneinander her. Führt die entwicklungsgeschichtliche Interpretation leicht zu einem Ausweichen vor den Schwierigkeiten durch Entwicklungshypothesen und damit an der eigentlichen philosophischen Problematik vorbei, kann die andere Interpretationsweise — neben der bereits angedeuteten Gefahr der Verabsolutierung eines bestimmten philosophischen Standpunktes — in der Konstruktion eines Systems der platonischen Philosophie enden, welche die Dialoge vergewaltigt. Eine angemessene Interpretation müßte versuchen, die sich ergebenden Schwierigkeiten aus der Eigenart des platonischen Denkens selbst zu verstehen, ohne dabei dem Zwang systematischer Abrundung zu verfallen. Dies würde in methodischer Hinsicht eine Analyse platonischer Gedankengänge erfordern, die — möglichst nah am Text fortschreitend — eich offenzuhalten hätte für die möglichen Konsequenzen aus den platonischen Problemstellungen. Nicht wenige Fehldeutungen, auch bei der Behandlung des Problems der δόξα, in der Platonliteratur beruhen auf zu engen grundsätzlichen Vorstellungen vom Charakter der platonischen Philosophie. Da sich im Problembewußtsein der jeweiligen Platon-Interpreten mehr oder weniger die Problemlage spiegelt, soll vor der eigenen Auseinandersetzung mit der Problematik der δόξα eine Übersicht über die wichtigsten Arbeiten zu diesem Thema gegeben werden.

I. DAS P R O B L E M D E R ΔΟΞΑ I N D E R P L A T O N - L I T E RAT U R Von den allgemeinen Arbeiten über Piaton berühren die meisten die Problematik des Verhältnisses von δόξα und έπιστήμη nur sehr am Rande. Den Grund dafür hat man wohl im Charakter dieser Arbeiten zu suchen. Bücher, wie die von H. Raeder, Piatons philosophische Entwicklung, Leipzig 1905; C. Ritter, Piaton, sein Leben, seine Schriften, seine Lehre, München 1910/23; Α. E. Taylor, Plato, The Man and his Work, 6. Aufl., London 1949; P. Friedländer, Piaton, 2. Aufl., Berlin 1954 ff., bieten meistens geschlossene Interpretationen der einzelnen Dialoge. Da das Problem der δόξα in den Dialogen jeweils nur an einzelnen Stellen berührt wird und überdies einen umfangreichen Stellenvergleich erfordert, wenn man sich die Problemlage vergegenwärtigen will, verbietet sich eine Behandlung in den allgemeinen Darstellungen meistens schon aus Raumgründen. Andere Arbeiten, etwa U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Piaton, Berlin 1919, sind gar nicht in erster Linie aus philosophischem Interesse erwachsen. So will Wilamowitz den „Menschen" Piaton verstehen und eine Biographie schreiben. Daß dabei die philosophische Problematik nicht ausgelotet wird, ist ihm selbst klar gewesen 1 . Ergiebiger für das Problem der δόξα sind die spezielleren Untersuchungen zur platonischen Erkenntnistheorie. Diese Arbeiten haben häufig nur den Nachteil, daß sie sich zu einseitig auf den Theaitet konzentrieren, ja meistens schon ihrer ganzen Anlage nach nichts als Erläuterungsschriften zum Theaitet sein wollen. Dabei gilt das Interesse dieser Schriften vornehmlich dem ersten Teil des Theaitet, wo der schwer zu fassende Begriff der δόξα immer wieder zu neuen Interpretationsversuchen verlockt. Besonders für ältere Dissertationen und Gymnasialprogramme scheint der Theaitet ein dankbares Thema gewesen zu sein. Man findet die Arbeiten leicht in Apelts Literaturverzeichnis, das sich an die Einleitung zu seiner Übersetzung des Theaitet (3. Aufl., Leipzig 1920) anschließt. Von Untersuchungen dieser Art soll im folgenden nur über einen Aufsatz von J . Geyser referiert werden: Das Verhältnis von αΐσθησις und δόξα in dem Abschnitt 151 e—187a von Piatons Theaitet, in: Festgabe Clemens Baeumker = Beitr. zur Gesch. der Philos, des MA, Suppl.-Bd., Münster 1

Vgl. Wilamowitz, a.a.O. S. 8.

Das Problem der ΔΟΗΑ in der Platon-Literatur

17

1913, S. Iff. In ihrer Thematik nicht so eng begrenzt und damit für die vorliegende Untersuchung wichtiger sind die Arbeiten von D. Peipers, Untersuchungen über das System Platos, 1. Teil = Die Erkenntnistheorie Piatos, Leipzig 1874; O. Ihm, Über den Begriff der platonischen ΔΟΞΑ und deren Verhältnis zum Wissen der Ideen, Diss, phil., Leipzig 1877 und P. Joannou, Die Erfahrung in Piatons Ideenlehre, Diss, phil., München 1936. Ausschließlich der δόξα gewidmet ist ein Aufsatz von C. A. Viano, Il significato della „doxa" nella filosofia di Platone, Rivista di filosofia, Torino 1952, XLIII, 2, S. 167ff., ferner ein kurzes Kapitel in den Platonischen Aufsätzen von O. Apelt, Leipzig u. Berlin 1912, S. 53ff. F. M. Cornford, Plato's Theory of Knowledge, London 1935, bietet eine Übersetzung des Theaitet und der wichtigsten Teile des Sophistes mit fortlaufendem Kommentar. Die Anlage dieses hervorragend gearbeiteten Buches läßt es zweckmäßig erscheinen, auf ein Referat darüber in diesem Teil der Arbeit zu verzichten und es dafür im Verlauf der Arbeit bei der Interpretation der einschlägigen Dialogstellen heranzuziehen. Neben den Arbeiten, die entweder ausdrücklich die δόξα zum Thema haben oder doch im Rahmen einer Untersuchimg der platonischen Erkenntnistheorie von der δόξα handeln, beschäftigen sich auch Bücher, die ursprünglich von anderen Fragestellungen ausgehen, mit dem Problem der δόξα. So vor allem J. Stenzel, Studien zur Entwicklung der platonischen Dialektik von Sokrates zu Aristoteles, 2. Aufl., Leipzig u. Berlin 1931, und P. Natorp, Piatos Ideenlehre, eine Einführung in den Idealismus, 2. Aufl., Leipzig 1921, ferner H. Barth, Die Seele in der Philosophie Piatons, Tübingen 1921, und A. Diès, Autour de Piaton, Paris 1927, S. 459ff. Zu einzelnen Punkten sind außerdem die Ansichten von Bonitz1, Burnet2 und Taylor3 von Interesse. Für den Erkenntnisbegriff in der vorplatonischen Philosophie ist die Arbeit von B. Snell heranzuziehen : Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, Philolog. Unters., Heft 29, Berlin 1924. Die Übersicht der bisherigen Literatur zum Problem der δόξα macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es wurde nur das ausgewählt, was im Hinblick auf die Intention der eigenen Arbeit am wichtigsten zu sein schien. Bei den Referaten über die einzelnen Arbeiten ist es unmöglich, jeweils die ganze Arbeit zu charakterisieren. (Die Untersuchung von Peipers beispielsweise hat einen Umfang von 742 Seiten, und das Buch von Barth behandelt hauptsächlich ein Thema, das mit der vorliegenden Untersuchung sehr wenig zu tun hat.) Es wird daher immer nur das herausgegriffen, was die einzelnen Autoren zum Problem der δόξα geäußert haben. Dabei verrät sich ein recht 1

Platonische Studien, 3. Aufl., Berlin 1886. Greek Philosophy, Thaies to Plato, London 1914, repr. 1950. 3 Plato, The Man and his Work, 6th ed., London 1949, repr. 1952. 2 8001 Sprute, DOXA 2

18

Das Problem der ΛΟΞΑ in der Piaton-Literatur

unterschiedliches Problembewußtsein der Verfasser. Inwieweit ihre Ausführungen unbefriedigend bleiben, soll zu zeigen versucht werden, und zwar, wenn möglich, im Hinblick auf den erst im Laufe der Arbeit sich ergebenden eigenen Standpunkt zu den Fragen. Mit den Schwierigkeiten, die der Begriff der δόξα in der platonischen Erkenntnistheorie aufwirft, setzt sich besonders eingehend O. I h m 1 auseinander. E r diskutiert sowohl die Natur der δόξα als auch das Verhältnis zwischen άληθ-ης δόξα und έπ'.στήμη. Die δόξα entspricht dem Urteil. „Der enge deutsche Ausdruck ,Vorstellung' deckt bei weitem nicht den sprachlichen Umfang und die Begriffssphäre des griechischen Wortes δόξα. Unter δόξα befaßt Piaton nicht allein das psychische Erinnerungsbild empirischer Objekte, sondern im ersten und eigentlichen Sinne die Meinungen, Behauptungen und Ansichten jemandes, für welche derselbe einen allgemein gültigen und entscheidenden Bestimmungsgrund nicht anzuführen vermag. Wir haben nur deshalb δόξα meistens und gewöhnlich durch ,Vorstellung' wiedergegeben, weil dieses Wort einen ungleich umfassenderen Sinn als alle anderen derartigen Ausdrücke hat, vornehmlich aber, um wenigstens in allen Fällen eine feststehende Bezeichnung für den Bereich der platonischen δόξα zu haben" (a.a.O. S. 10). Damit scheint für Ihm der deutsche Ausdruck „Vorstellung" enger zu sein als der griechische „δόξα", im Vergleich mit anderen deutschen Ausdrücken dieser Art aber immer noch am umfassendsten. Weil nach Ihm für Piaton alles Erkennen und Lernen, sowohl höheres wie niederes, nur in „einem Bewußtwerden von den uns angeborenen, jedoch unbewußten Erkenntnissen und Wahrheiten" besteht und „sämtliche Erkenntnisstufen nur verschiedene Grade unseres Bewußtseins von den transzendenten Ideen sind" (vgl. a.a.O. S. 9), ist die δόξα für Piaton „nur eine dunkle und unklare Wiedererinnerung an die wahrhaft seienden εΐδη, welche die Seele in ihrem praeexistentiellen Leben geschaut hat. Dieser psychische Prozeß der Wiedererinnerung, welcher mit dem δοξάζειν abschließt, indem vermittelst der Sinne die in der Seele schon vorhandenen Vorstellungen erweckt und erregt werden, kann sich nach Piaton nur auf die Objekte der Erscheinungswelt beziehen" (a.a.O. S. 11). Gegenüber dieser Interpretation der δόξα ist auf den Menon hinzuweisen. Dort (97a ff.) wird ausdrücklich betont, daß sich die άληθ-ής δόξα nur durch ihre Unbeständigkeit von der επιστήμη unterscheidet. Von einer „dunklen und unklaren Wiedererinnerung" an die Ideen ist keine Rede. Ferner bezieht sich im Sophistes die δόξα nicht nur auf die Erscheinungswelt, sondern auch auf die γένη, welche sich durchaus als 1 Über den Begriff der platonischen ΔΟΞΑ und deren Verhältnis zum Wissen der Ideen. Diss, phil., Leipzig 1877.

Das Problem der ΔΟΞΑ in der Platon-Literatur

19

Ideen interpretieren lassen1. Es ist überhaupt sehr fraglich, ob sich die Doxa-Erkenntnis nur graduell von der Ideenerkenntnis unterscheidet. Diese Frage berührt jedoch bereits das Verhältnis zwischen αληθής δόξα und έπιστήμη, das Ihm besonders problematisch erscheint. Es sollen daher einige seiner Ausführungen hierzu angeführt werden: „Ganz besonders unklar formuliert Piaton den Gegensatz zwischen Wissen und richtiger Vorstellung, welcher einer kritischen Betrachtungsweise gegenüber sich als tatsächlich haltlos erweist." Piaton bemühe sich zwischen dem Wissen und der richtigen Vorstellung einen inneren, prinzipiellen Unterschied nachzuweisen, da er von der Wesensverschiedenheit beider Erkenntnisse die objektive Realität der Ideenwelt abhängig macht (a.a.O. S. 13). Im Anschluß an seine TheaitetInterpretation fragt Ihm nach den „Unterscheidimgemomenten, welche Piaton anführt, um den Unterschied zwischen Wissen und richtiger Vorstellung zu begründen. Direkt zwar bezeichnet Piaton dieselben nicht . . ., indes geht aus dem Verlaufe seiner Erörterung augenfällig das Dogma hervor : die richtige Vorstellung kann zum Irrtum werden, das Wissen nie. Ein innerer Unterschied ist gleichwohl nicht aufzufinden: beide Geistestätigkeiten, Wissen und wahre Vorstellung, gehen nach Piaton im Prinzip auf die Erkenntnis der Wahrheit" (a.a.O. S. 22f.). Es ist jedoch nicht einzusehen, wie nach Ihm die αληθής δόξα, sofern sie tatsächlich wahr ist, eher zum Irrtum werden soll als die έπιστήμη. Wenn meine δόξα wahr ist, dann ist sie wahr. Wie könnte sie wieder falsch werden ? Es ließe sich höchstens dann denken, wenn der Urteilsprozeß2, in dem sich die Seele selbst fragt und antwortet, noch nicht zur Entscheidung gediehen ist. In dem Fçille handelt es sich aber noch gar nicht um die eigentliche δόξα, den Abschluß (άποτελεύτησις, Soph. 264b) des Denkens, sondern um einen Moment im Denkprozeß. Habe ich dagegen das Stadium des δοκεϊ μοι einmal erreicht, kann sich meine wahre δόξα nicht mehr in eine falsche verwandeln, ich kann höchstens eine neue (auch falsche) fassen, weil ich der ersten beispielsweise durch Überredung verlustig gegangen bin. Meine αληθής δόξα hat sich dann eben als unbeständig erwiesen, was ganz den Ausführungen im Menon entspricht. Vielleicht will Ihm mit seiner etwas mißverständlichen Formulierung auch nichts anderes sagen. Daß zwischen Wissen und wahrer Vorstellung kein innerer Unterschied bestehen soll, begründet Ihm damit, daß beide auf die Erkenntnis der Wahrheit gehen (vgl. a.a.O.). Er unterläßt jedoch zu fragen, was dies für eine Wahrheit ist. Es könnte doch durchaus möglich sein, daß es sich für beide überhaupt nicht um denselben Wahrheitsbegriff handelt 3 . Ebenfalls vermißt man eine eingehende Untersuchimg des 1



Vgl. S. 54f.

2

Vgl. S. 47f.

3

Vgl. S. 92ff.

20

Das Problem der AO-A

in der Piaton-Literatur

platonischen Erkenntnisbegriffes, zumal Ihm den Widerspruch zwischen den Erkenntnisbegriffen im Theaitet bemerkt 1 . Eine solche Untersuchung würde auch Licht auf die άληθής δόξα werfen. Ihm versucht den Schwierigkeiten jedoch auf andere Weise beizukommen. Die Mittelstellung der άληθ-ής δόξα zwischen Wissen und Nicht-Wissen, die „in jeder Beziehung unklar und geradezu unverständlich ist", ergibt sich als Konsequenz der metaphysischen Grundlage der platonischen Erkenntnistheorie (vgl. a.a.O. S. 34). Piaton vermag den „schroffen Dualismus der transzendenten Idee und der sinnlichen Erscheinung nicht zu überwinden". „Das Dasein der erscheinenden Welt ist als ein unvermittelter Widerspruch des ganzen Systems vorhanden" (a.a.O. S. 37). In der Stellung „des Empirischen zwischen übersinnlichem Sein und absolutem Nichtsein" sieht Ihm den „eigentlichen Grundirrtum der platonischen Philosophie" (a.a.O. S. 36f.). Die Schwierigkeiten, auf die jeder Versuch einer angemessenen Interpretation der δόξα stößt, beruhen also nach Ihm letzten Endes auf der seiner Meinung nach mangelhaften ontologischen Konzeption Piatons. Ihm ist der Ansicht, „daß Piaton selbst von der Gründlichkeit und Richtigkeit seiner dialektischen Argumentationen nicht vollkommen überzeugt war" (a.a.O. S. 42). „Eine vollgültige und prinzipiell durchgreifende Unterscheidung zwischen Wissen und richtiger Vorstellung vermochte Piaton, aller intendierten Verschiedenheit ungeachtet, doch im strengen Sinne nicht durchzuführen. Was er in der Theorie als unterschieden festgestellt hatte, war er in der Praxis wieder gezwungen aufzugeben." „Sooft seine vorgefaßte Ansicht über das Wesen der Erkenntnis zurücktritt und er ohne Beziehung auf die Ideenlehre von einem allgemeinen Standpunkt aus rationell argumentiert", statuiert Piaton „tatsächlich keine prinzipielle Verschiedenheit des Wissens von der richtigen Vorstellung, sondern betrachtet vielmehr beide Erkenntnisformen, im Widerspruch mit seiner Grundansicht, gewissermaßen als zwei verschiedene Grade innerhalb einer und derselben Erkenntnis" (a.a.O. S. 48). Diese These glaubt Ihm mit Textstellen belegen zu können. Bedenken muß die Ihmsche Interpretation erregen, wenn man sich die wiederholte ausdrückliche Feststellung in den Dialogen vergegenwärtigt, daß άληθής δόξα und έπιστήμη nicht dasselbe seien2. Es scheint etwas leichtfertig, wie Ihm die Menonstelle 98b abtut (a.a.O. S. 42), obwohl Piaton dort Sokrates diese Uberzeugung mit besonderem Nachdruck aussprechen läßt. Unerachtet ihrer Ergebnisse, führt die Ihmsche Arbeit jedoch gut in die Problematik der δόξα ein. 1 Vgl. S. 60f. Auch Apelt (Einleitung zur Übersetzung des Theaitet, S. 13) beschränkt sich auf die Konstatierung des Widerspruchs. 2 Vgl. Men. 98b u. Tim. 51 d.

Das Problem der ΔΟΞΑ in der Piaton-Literatur

21

In den zahlreichen Untersuchungen zum Theaitet wird häufig die Natur der δόξα erörtert. Vornehmlich geht es dabei um die Frage, ob die δόξα als „Vorstellung" oder „Meinung" zu fassen sei. J . Geyser1 setzt den Begriff der δόξα im ersten Teil des Theaitet gegen die αΐσθ-ησις ab. Die αϊσθ-ησις faßt Geyser als „sinnliches Erlebnis" und das αίσθητόν entsprechend als das „sinnlich Erlebte", da „der moderne psychologische Begriff der Empfindung oder der Sinneswahrnehmung zu eng ist, um den ganzen Umfang von αΐσθησις zu bezeichnen" (a.a.O. S. 9). In der Tat werden unter der αϊσθησις u.a. auch die Affekte begriffen (cf. Theait. 156b). Der δόξα kommt nach Geyser Urteilscharakter 2 zu. „Das δοξάζειν muß . . . in sachlicher Hinsicht betrachtet werden als ein Urteil oder eine Annahme über das, was ist" (a.a.O. S. 15). „Mit der αίσθττ)σις aber hängt dieses Urteil insofern zusammen, als das sinnliche Erlebnis das Mittel des Urteilens bildet. Es gibt den Stoff, der im Urteil erfaßt wird" (a.a.O. S. 12). Es braucht sich aber nun nicht jede δόξα auf eine αϊσθησις zu beziehen. „Piaton hält den Begriff der δόξα für weiter als den der αίσθησις. ' ' Das heißt jedoch nicht, „daß Piaton in der αίσθησις eine Art der δόξα erblickt, sondern nur, daß er unter den δόξαι eine Art dadurch charakterisiert, daß sie eine αϊσθησις zum Inhalt und Gegenstande haben" (a.a.O. S. 19). δοξάζειν ist nämlich nach Geyser „der Gattungsbegriff3 für die unsinnlichen Erkenntnisfunktionen der Seele. Hierbei schließt es keineswegs ohne weiteres die Bedeutung ein, daß es sich um ein bloßes Meinen oder Annehmen handele. Der Ausdruck δόξα kann diesen Sinn haben, kann aber auch ein sicheres und wahres Urteil über das, was ist, ausdrücken, wie z.B. in 185e 8. In einem solchen Falle hat die δόξα den Charakter der επιστήμη" (a. a. O. S. 22). Ob die δόξα tatsächlich je den Charakter der έπιστήμη — als der im Sinne Piatons eigentlichen Erkenntnis — tragen kann, ist eine Frage, auf welche die vorliegende Untersuchung eine Antwort geben müßte. Sie kommt — um wenigstens so viel vorwegzunehmen — zu einem negativen Ergebnis und bestätigt damit die in den Dialogen wiederholt ausgesprochene grundsätzliche Unterscheidung zwischen επιστήμη und δόξα. Bei den Erörterungen der Natur der δόξα in der Piaton-Literatur liegt die Übersetzung „Meinung" für die Autoren nahe, welche den Urteilscharakter der δόξα betonen. H. Bonitz4 entscheidet sich unter 1 Das Verhältnis von αίσθησις und δόξα in dem Abschnitt 151 e - 1 8 7 a von Piatons Theaitet, in: Festgabe 60. Geburtstag Clemens Baeumker = Beitr. zur Gesch. der Philos, des MA, Suppl.-Bd., Münster 1913, S. Iff. * Ob der δόξα überall eindeutig Urteilscharakter und mithin die Bedeutimg „Meinung" zukommt, kann nur die Analyse der einschlägigen Textetellen zeigen. Vgl. dazu S. 37ff., wo auf eine Interpretation Geysers zurückgegriffen wird. 3 Geyser denkt dabei vornehmlich an die der Seele selbst eigentümliche Erkenntnistätigkeit, die Theaitetos 187 a als δοξάζειν bezeichnet. Vgl. S. 46. 4 Platonische Studien, 3. Aufl., Berlin 1886, S. 59 u. Anm. 13.

22

Das Problem der ΔΟΞΑ in der Platon-Literatur

Hinweiß auf Schleiermacher für die Wiedergabe im Deutschen durch „Vorstellung", wobei der Begriff „Vorstellung" f ü r Bonitz aber auch Meinungen und Ansichten mit unter sich begreift. H. Barth 1 hingegen lehnt die Übersetzung „Vorstellung" ab. „Der Doxa darf vor allem nicht der Anschein eines von vornherein unklaren, un präzisierten Erkenntnisaktes anhaften. .Doxazein' bezeichnet einen intellektuellen Vorgang . . ., der . . . in sich selbst durchaus geschlossen und klar abgegrenzt erscheint." Am nächsten liege es uns, in der δόξα das „Urteil" zu erkennen (a.a.O. S. 202). Die δόξα ist gegenüber der επιστήμη nach Barth „an und f ü r sich gegen Wahrheit und Irrtum neutral", bedarf mithin „immer erst der Anerkennung" (a.a.O. S. 203). „Sie ist der ,Gedanke', das ,Urteil', wie es unmittelbar dem Bewußtsein erwächst", und zwar „der isolierte ,Gedanke', dessen Recht und Begründung sich noch nicht erwiesen h a t ; nur durch seine unmittelbare Evidenz kann er sich beglaubigen" (a.a.O. S. 213). Wenn Barth die δόξα grundsätzlich f ü r zunächst indifferent gegenüber Wahrheit und Falschheit hält, verkennt er die Natur der platonischen άλη&ής δόξα, welche keineswegs erst noch eines zweiten Erkenntnisaktes zu ihrer Bestätigung bedarf. Es kann nämlich an Hand einschlägiger Textstellen gezeigt werden, daß der άληθ-ή δοξάζων im Zuge seiner Meinungsbildung abschließend sogleich zu einer wahren Meinung gelangt 2 . Nicht selten werden in der Platon-Literatur die Ausdrücke „Vorstellung" und „Meinung" als Übersetzung von δόξα ohne Differenzierung promiscue gebraucht 3 . D. Peipers 4 stellt eine „zwiefache Verwendung des Wortes δόξα" fest. Einmal findet sich δόξα als Ausdruck f ü r die „Eindrücke der Wahrnehmung" (a.a.O. S. 199). Die δόξα ist in dem Fall „das Resultat der Einwirkung des Objekts auf die Seele". Für diese Bedeutung von δόξα wird „Vorstellung" die passende Übersetzung sein. In einer anderen Bedeutung von δοξάζειν „handelt es sich aber offenbar nicht mehr um ein bloßes Aufnehmen und Einwirkenlassen von gegebenen Erscheinungen ..., sondern von einem Schalten mit bereits gewonnenem Material. . . Wir werden im Deutschen dieses Verfahren der Seele mit ihrem Besitz an Eindrücken besser und unzweideutiger .meinen' nennen als ,vorstellen' und in dieser bei weitem gewöhnlichsten Bedeutung δόξα mit,Meinung', nicht mit .Vorstellung', übersetzen" (a.a. 0 . S. 200). Peipers setzt die δόξα ausdrücklich •— auch in der ersten Bedeutung — gegen die αΐσθησις ab. αΐσθ-ησις ist die 1

Die Seele in der Philosophie Piatons, Tübingen 1921. Vgl. S. 59 u. 49 f. 3 U.a. Th. Gomperz, Griechische Denker, Bd. 2, 3. Aufl., Leipzig 1912, S. 446f.; H. Raeder, Piatons philosophische Entwicklung, Leipzig 1905, S. 132f. Ii. 287. 4 Untersuchungen über das System Piatos, 1. Teil =-- Die Erkenntnistheorie Piatos, Leipzig 1874. 2

Das Problem der ΔΟΗΑ in der Platon-Literatur

23

„nächste von der Erscheinung auf die Seele durch Vermittlung der körperlichen Organe ausgeübte Wirkung" (a.a.O. S. 200). Die δόξα ist demgegenüber etwas „Geistiges" und „nie und nimmer ein bloßer Effekt der Wahrnehmung . . ., sondern immer entweder ein im Urteil verwendbares Erinnerungsbild oder der Akt dieser Verwendimg selbst" (a.a.O. S. 201). Der schwierigen Frage des Verhältnisses von δόξα — die häufig als unzulängliches Erkenntnismittel von Piaton beschrieben wird — und άληθής δόξα sucht Peipers durch eine Modifikation des Wahrheitsbegriffes beizukommen. Wenn Piaton nämlich „z.B. die Wiedererkennimg einer Person . . . oder die getreue Auffassimg irgendeines in der Erscheinung gegebenen Sachverhaltes . . . auch άληθής δόξα nennt, so ist damit doch keineswegs das Wort αληθής im strengen und eigentlichen Sinn von ihm gebraucht, sondern nur in dem Sinne einer Übertragung in ein fremdes Gebiet . . .". άληθής δόξα bedeutet lediglich „eine möglichst genaue Wiedergabe der Erscheinung durch die Vorstellung. Denn von einer vollkommen genauen Auffassung kann bei ihr . . . keine Rede sein. Daher zieht es auch Plato häufig vor, zu sagen όρθή δόξα und so die Verwendung von άληθής in jener uneigentlichen Bedeutung zu vermeiden" (a. a. 0 . S. 1941.). Eine solche bewußte Tendenz im platonischen Sprachgebrauch von ορθός und άληθής dürfte sich aber schwerlich am Text belegen lassen 1 . Den Nachweis seiner Behauptung bleibt Peipers denn auch schuldig. So nützlich und notwendig im übrigen eine scharfe Scheidung zwischen der Wahrheit der δόξα und der Wahrheit der platonischen Erkenntnis ist, bleibt Peipers' Interpretation der άληθής δόξα doch unbefriedigend. Eine ernsthafte Kritik daran müßte sich auf eine eingehende Untersuchung des platonischen Wahrheitsbegriffes stützen, welche erst im Laufe dieser Arbeit vorgelegt werden wird 2 . An anderer Stelle betrachtet Peipers die Wahrheit der δόξα unter einem anderen Aspekt. Dort (a.a.O. S. 434) faßt er die Wahrheit der Meinung auf als Richtigkeit der Verknüpfung von Wahmehmungsund Erinnerungsbildern, δοξάζειν ist die „verknüpfende Tätigkeit der Seele". Verknüpft werden jeweils der sinnliche Eindruck (τό πάθος) mit einem Erinnerungsbild. „Auf der richtigen sachgemäßen Verknüpfung also beruht die Richtigkeit und Unrichtigkeit der Vorstellung oder Meinung und des Urteils" (a.a.O. S. 434). Peipers erhebt dann die Frage nach einem Kriterium f ü r die Richtigkeit und Fehlerhaftigkeit der Verknüpfung. Ein solches Kriterium liefert nur ein besonderer zweiter Erkenntnisakt. „Er besteht in der Nachprüfung, dem έπισκοπεϊν και έλέγχειν" (a.a.O. S. 435). Nachgeprüft wird die „Kongruenz" zwischen sinnlichem Eindruck und „Vorstellungsbild", das sich auf 1 2

Vgl. z.B. Men. 97b, wo beide Worte synonym gebraucht werden. Vgl. S. 69ff.

24

Das Problem der ΔΟΞΑ in der Platon-Literatur

Grund eines Assoziationszusammenhanges, den die Wahrnehmung auslöst, -— eigentlich als Erinnerung — einstellt. .,Sobald das Vorstellungsbild, welches der Eindruck hervorruft, sicli bei genauer Vergleichung der beiderseitigen Merkmale als kongruent mit dem Eindruck erwiesen hat . . . sagen wir: der Gegenstand ist . . . erkannt" (a.a.O. S. 442), die δόξα über ihn mithin άληθής. Hierzu muß — wie schon S. 22 — gesagt werden, daß von einem zweiten besonderen Erkenntnisakt, dem sich die ursprüngliche δόξα zu unterwerfen hat, bei Piaton keine Rede ist. Das Prüfen und Vergleichen macht im eigentlichen Sinne den Prozeß des δοξάζειν aus 1 . Als Abschluß (άποτελεύτησις) des Denkprozesses stellt sich sogleich die άληθής δόξα ein. Eine besondere Erkenntnis des Gegenstandes ist überflüssig, ja nach dem spezifisch platonischen Erkenntnisbegriff, der doch Ideenerkenntnis meint, auch unmöglich. Wenn Peipers die άληθής δόξα im Prinzip als Erkenntnis interpretiert — was, wie diese Untersuchung zeigen wird, durchaus berechtigt ist —, müßte sich ihm die Frage aufdrängen, wodurch sich dann die platonische Erkenntnis (έπιστήμη) von der άληθής δόξα unterscheidet, da beide nach Piaton nicht identisch sind. Erkenntnis im Sinne Piatons ist nach Peipers die Aufstellung der Definition des zu erkennenden Gegenstandes. .Voraussetzung" f ü r die „Aufstellung von Gattung und spezifischer Differenz" ist jedoch das „Vorhandensein eines Zusammenhanges der Wissensobjekte untereinander, einer Abstufung und Gliederung vom Allgemeinen zum Besonderen. Es muß also jedes Wissensobjekt als Ganzes doch wiederum ein Glied des einen allumfassenden Ganzen, der allgemeinsten Idee, sein. Die Auffindung seiner nächsten Gattung und spezifischen Differenz aber wird sich dann bezeichnen lassen als die Bestimmung der Stelle, welche ihm in dem abgestuften Systeme aller allgemeinen Wesenheiten, aller Gattungen und Arten, zukommt" (a.a.O. S. 545). „Die Erscheinungswelt" ist dabei gewissermaßen das Sprungbrett zu dieser Erkenntnis. Als unvollkommenes Abbild der Ideenwelt „bietet sie dem Menschen die Anhaltspunkte, um sich auf die in ihm liegenden Begriffe zu besinnen und so vom Boden der Erfahrung aus zum Erkennen des wahrhaft Wirklichen, der Ideen, zu gelangen" (a.a.O. S. 546). Mit diesen Ausführungen zur platonischen Erkenntnis weist Peipers zwar einen inhaltlichen Unterschied zwischen άληθής δόξα und επιστήμη auf, zur Frage eines eventuell möglichen formalen Unterschiedes ist damit aber noch nichts gesagt. Bei einem bloß inhaltlichen Unterschied zwischen άληθής δόξα und έπιστήμη läge der Unterschied nur in ihren Gegenständen, nicht aber im Charakter der beiden Vermögen als solchen. Bestünde kein formaler Unterschied zwischen άληθής δόξα und έπιστήμη, könnte es sich bei beiden im Grunde nur um 1

Vgl. S. 49f.

Das Problem der ΔΟΕΑ in der Piaton-Literatur

25

ein Erkenntnisvermögen handeln, das sich auf verschieden geartete Gegenstandsbereiche beziehen kann und gemäß der jeweiligen Beziehung als άλη&ής δόξα oder επιστήμη verstanden wird. Dem widersprechen ausdrücklich einige Stellen der Politeia 1 . Burnet und Taylor 2 stellen einen Bedeutungsunterschied des Wortes δόξα vom Theaitet an gegenüber den früheren Dialogen fest. In der früheren, sokratischen Periode bedeutet das Wort „belief, with the implication t h a t the belief is a mistaken one, or at any rate a doubtful one", in den späten Dialogen dagegen „judgment, intellectual conviction in general, without any suggestion of disparagement" (Taylor, a.a.O. S. 339). Diese Einteilung ist zweifellos zu grob. Im Menon beispielsweise, der doch der nach Burnet und Taylor „sokratischen" Periode angehört, handelt es sich keineswegs um eine falsche oder zweifelhafte δόξα, sondern die δόξα unterscheidet sich dort nur durch ihre Unbeständigkeit von der έπιστήμη. In den späten Dialogen tritt in der T a t die abwertende Charakteristik der δόξα zurück, aber es dürfte keinem Zweifel unterliegen, welchem von beiden, δόξα oder έπιστήμη, der Vorzug gebührt 3 . C. A. Viano gelangt in einer eingehenden und beachtenswerten Bedeutungsuntersuchung 4 der δόξα ebenfalls zu unterschiedlichen Ergebnissen f ü r die einzelnen Perioden der platonischen Philosophie. In der frühesten Bedeutung (significato socratico), bezeichnet δόξα die Gesamtheit der herkömmlichen und landläufigen „spiegazioni, valutazioni, atteggiamenti" (a.a.O. S. 168). Diese „pareri infondati . . . nozioni", wie sie Viano nennt, treten mit dem Anspruch auf, ein „sapere autentico" zu sein. Dadurch bilden sie ein Hindernis auf dem Wege zur Wissenschaft (scienza). „In questo senso dóxa acquista il significato di nozione apparente contrapposto a quello di nozione autentica" (a.a.O. S. 168). Viano betont, daß in dieser Periode nicht die Falschheit f ü r die δόξα charakteristisch ist — sie kann eventuell auch richtig sein —, sondern ihre „apparenza", d.h. ihre „Scheinbarkeit", ihr Gehabe, als ob sie Wissen sei, ohne es doch zu sein; denn gegenüber der δόξα gibt das Wissen (sapere autentico) „ragione di se stesso in un ragionamento e riconosce i propri limiti di validità" (a.a.O. S. 169). Der Übergang von der sokratischen Periode in Piatons Philosophieren zu spezifisch platonischem Denken läßt sich bei der Behandlung 1

Vgl. S. 80. J. Burnet, Greek Philosophy, Thaies to Plato, London 1914, repr. 1950, S. 248 ; A. E. Taylor, Plato, The Man and his Work, 6th od., London 1949, repr. 1952, S. 339. 3 Vgl. S. lOOff. 4 II significato della „dóxa" nella filosofia di Platone, Rivista di filosofia, Torino 1952, XLIII, 2, S. 167ff. 2

26

Das Problem der Δ Ο ^ Α in der Platon-Literatur

der δόξα nach Viano im Georgias fassen. Dort ergibt sich im Verlauf der Diskussion über die Rhetorik f ü r die δόξα folgende Bedeutung: „L' opinione è sapere e virtù apparenti, perché è legata ad un essere apparente" (a.a.O. S. 170); denn die Rhetorik, welche die δόξαι der Menschen bestimmt, vermag nur den Schein zu erwecken, als sei jemand so oder so beschaffen, nicht aber ein wirkliches So-Sein des Betreffenden hervorzurufen (mithin ein δοκεΐν είναι aber kein είναι). I m Phaidon und in der Politeia wird dann ausführlich dargelegt, wie der Charakter der δόξα als „conoscenza apparente" dadurch bestimmt ist, daß sie sich im Gegensatz zur „conoscenza" auf einen Gegenstandsbereich bezieht, der nur ein „essere apparente" hat. Die sokratische Bedeutung der δόξα wird mithin in diesen Dialogen beibehalten, aber ontologisch fundiert. Eine „positive" Bedeutung der δόξα zeigt sich nach Viano im Menon. Dort unterscheidet sich die δόξα nur durch ihre Unbeständigkeit von der έπιστήμη. Damit hat die δόξα im Grunde die Bedeutung einer „conoscenza che può essere vera" (a.a. O. S. 173). Für Viano ergibt sich daraus das Wahrheitsproblem der δόξα, d.i. die Frage, „come una conoscenza apparente possa essere vera" (a.a.O. S. 174). Im Hinblick auf diese Frage zeigt Viano, daß die δόξα in der Politeia auf eine „realtà intermedia" bezogen ist und „nulla vieta che essa, giudicata in relazione alle condizioni che la rendono possibile, sia considerata orthè dóxa" (a. a. O. S. 174). Mit diesem Hinweis hat Viano jedoch das eigentliche Problem noch nicht berührt, nämlich, warum und in welchem Falle von zwei δόξαι, welche sich beide auf die „realtà intermedia" beziehen, die eine wahr ist, die andere aber nicht. Viano betont, die δόξα sei nicht nur als Ausgangspunkt eine Bedingung des philosophischen Forschens, sondern geradezu „la dimensione umana della ricerca" (a.a.O. S. 175). Dieser Gedanke meint, daß der Philosoph „dell' opinione semplicemente una tappa della ricerca dell' essere" macht (a.a.O. S. 175). Darin ruht nach Viano die positive Bedeutung der δόξα, während die negative in der Erstarrung des Menschen in seinen Meinungen liegt. Die Deutung der δόξα als „dimensione umana della ricerca" scheint mir nicht ganz glücklich zu sein, da die philosophische Erkenntnis in der Dialektik doch sehr bald den Horizont des menschlichen Meinens verläßt, was auch Viano selbst sicher nicht bestreiten würde; denn er bestimmt ja die „ricerca" als ein „trascendimento dell' opinione" (a.a.O. S. 176). Hinter den mannigfaltigen Ausdrücken, mit denen im Theaitet das δοξάζειν beschrieben wird, steht nach Viano die Bedeutung der δόξα als „una convinzione di carattere soggettivo" (a.a.O. S. 178). Insofern die „opinione" in einer subjektiven Überzeugung besteht, ist sie ein Urteil, „perché la dianoia è dialogo dell' anima con se stessa e la dóxa è la conclusione di questo dialogo pronunciata in silenzio a se stesso (Theaet. 189e—190a) : cioè la convinzione soggettiva

Das Problem der ΔΟΞΑ in der Platon-Literatur

27

pone capo ad una formulazione linguistica, pronunciata o no, in cui consiste propriamente la dóxa (Theaet. 206d—e)" (a.a.O. S. 179). Aber nicht nur die „opinione", sondern auch die „scienza" „deve farsi enunciazione linguistica e diventare convinzione soggettiva se vuole penetrare veramente nel mondo dell' uomo" (a.a.O. S. 179). Im Hinblick auf ihren sprachlichen Ausdrucks-, d.i. Urteilscharakter, gibt es „un campo comune all' opinione e alla scienza" (a.a.O. S. 179), was ausführlich der Sophistes erörtert. Auf Grund der Interpretation der einschlägigen Stellen des Sophistes gelangt Viano zur Deutung der δόξα als linguistisches Mittel der επιστήμη. Dabei muß man sich vor Augen halten, daß das Denken für Piaton ein Selbst-Gespräch der Seele ist. Insofern man an dieser Beziehung zwischen Denken (d.h. Urteilen) und Sprechen festhält, versteht man, wie Viano zu der Unterscheidung zwischen δόξα und έπιστήμη als zweier „modi diversi di usare lo stesso mezzo linguistico" (a.a.O. S. 182) gelangen kann. Beides, sowohl Erkennen als auch Meinen, ist seiner Vollzugsweise nach ein Urteilen. Viano weist daher mit Recht auf den inneren Zusammenhang zwischen δόξα und έπιστήμη hin. Gegenüber dem Sophistes macht sich in der letzten Periode (Philebos, Timaios) der platonischen Spekulation wieder eine Vertiefung des Unterschiedes zwischen δόξα und έπιστήμη sowie die Rückkehr zur ontologischen Basis als Fundament ihrer Unterscheidung bemerkbar (vgl. a.a.O. S. 182). Abschließend kommt Viano zu dem Urteil, daß es zwar eine feststellbare Kontinuität in Piatons Behandlung der δόξα gebe, aber keine „unità fondantesi sulla rigidità di formule mantenute invariate" (a.a.O. S. 184). Die Kontinuität besteht in der Betrachtung der δόξα als „possibilità di atteggiamenti diversi" (a.a.O. S. 184), nämlich der Haltung, deren Charakteristica die „impressione sensibile" und der „discorso sofistico" sind, oder derjenigen, welche zur philosophischen „ricerca" führt. „Ma in nessun caso il sapere opinativo è una forma di sapere autosufficiente" (a.a.O. S. 185). Damit bestätigt der Aufsatz die bis in Piatons Spätphilosophie durchgehende Scheidung zwischen δόξα und έπιστήμη. Paul Natorp setzt sich mit dem Problem der δόξα im Anhang zur 2. Auflage seines bekannten Platon-Buches 1 auseinander. Nach Natorp „scheint die Doxa in ziemlich weiten Abständen zwischen drei kaum vereinbaren Bedeutungen zu schwanken: 1. der rein verneinenden, ja wegwerfenden des Schemens, aber nicht Seins, des Trugs, oder im gegebenen Fall vielleicht glücklichen, doch blinden Treffens; 2. der eines gegen Wahrheit und Falschheit nur indifferenten, Berichtigung vorbehaltenden Someinens, Dafürhaltens, Erachtens; 3. der rückhaltslos bejahenden des Urteilens, kraft der ursprünglichen Einheits1

Piatos Ideenlehre, eine Einführving in den Idealismus, 2. Aufl., Leipzig 1921.

Das Problem der ΔΟΞΑ in der Platon-Literatur

28

funktion, in deren Ausübung die ,Psyche selbst' . . . sich der Schwankung entrafft und zur bestimmten Entscheidung durchringt : Ja, es ist, oder: Nein, es ist nicht" (a.a.O. S. 474). Die so verstandene Doxa sei mit Episteme zwar nicht identisch, aber ihre unmittelbare Vorstufe, ganz auf sie gerichtet, während die Doxa erster Bedeutung ihr schroff gegensätzlich gegenüber, die zweite indifferent zu ihr stehe, keinesfalls sie einschließe. An anderer Stelle (a.a.O. S. 493) charakterisiert Natorp die Doxa als „das plötzliche Aufleuchten: So ist es! in der Psyche", den Logos ( = Episteme) dagegen als „das Befestigen solcher sonst nur zu flüchtigen Aufklärung durch die vom Grunde zur Folge fort- oder von der Folge zum Grunde zurückschreitende Rechenschaft". Wenn Natorp dann zur Interpretation der δόξα das Bild von dem plötzlich auf die Seele überspringenden Funken aus dem VII. Brief heranzieht (a.a.O. S. 494), verfährt er recht willkürlich mit Piatons Ausführungen. Der intuitive Charakter kommt im VII. Brief nicht der δόξα zu, sondern dem νοϋς, der höchstens Erkenntnisart 1 . Außerdem wird das δοξάζειν in den Dialogen wiederholt 2 als ein Urteilen auf Grund von Sinnesdaten beschrieben, aber nicht als eine Art Inspiration. Sollte Natorp mit dem von ihm der δόξα beigelegten intuitiven Charakter ihre „schlechthin notwendige Zweideutigkeit des Treffens und doch Verfehlens" (a.a.O. S. 494) erklären wollen, muß darauf hingewiesen werden, daß jedem Erkenntniserlebnis, etwa von der Art: „dort drüben steht Herr A", dieselbe Plötzlichkeit und Unbegründbarkeit anhaftet wie einer άληθής δόξα, die jemand faßt. Dieses gemeinsame Charakteristikum müßte dazu führen, einmal zu untersuchen, inwieweit sich die άληθής δόξα in formaler Hinsicht mit dem platonischen Erkenntnisbegriff vergleichen läßt. Eine solche Untersuchung bleibt auch 0 . Apelt schuldig, obwohl er in den Anmerkungen und Einleitungen zu seinen Platon-Übersetzungen ein deutliches Problembewußtsein verrät. Apelt kritisiert vom Boden der kantischen Erkenntnistheorie aus die Isolierung der platonischen Erkenntnisweisen und ihre jeweilige Beziehung auf gesonderte Gegenstandsbereiche 3 . Die falsche erkenntnistheoretische Konzeption Piatons beruht auf „dialektischen Fehlern" (a.a.O. S. 54) in Piatons System. Die Einsicht, daß Meinen und Wissen einander nicht ausschließen, sondern nur verschiedene Stufen unseres Fürwahrhaltens sind, sei auch Piatons eigene, ursprüngliche und von der Theorie noch nicht angekränkelte Ansicht gewesen, wie der Dialog Menon (97 A ff.) auf das schlagendste zeige. Das Beispiel von der Kenntnis des Weges von Athen nach Larissa im Menon lasse keinen Zweifel darüber, daß sich beide nicht nur auf den nämlichen Gegenstand beziehen 1 3

2 Vgl. S. 119f. Vgl. z.B. S. 49f. Piatonisehe Aufsätze, Leipzig u. Berlin 1912, S. 53ff.

Das Problem der ΔΟΞΑ in der Platon-Literatur

29

könnten, sondern daß dieser Gegenstand auch ein rein empirischer sein könne. „Erst die weitere Ausbildung seines Systems führte ihn von dieser ungekünstelten Auffassung zu der scharfen Scheidung beider Gebiete" (a.a.O. S. 54f.). Apelt erkennt zwar die Schwierigkeiten, die sich beim Versuch einer Interpretation der δόξα ergeben, sucht sich aber mit einer Theorie darüber hinwegzusetzen. Die Problematik der δόξα hat nach ihm ihren Grund in gewissen Mängeln der platonischen Philosophie, die man eben in Kauf nehmen muß. I m Gegensatz zu Apelt glaubt Stenzel die Problematik der δόξα lösen zu können, indem er die Entwicklung des platonischen Erkenntnisbegriffes aufzuzeigen sucht. I m Rahmen einer Untersuchung 1 , die in erster Linie die Entwicklung der Ideenlehre verfolgt, versucht Stenzel auch „die in der Tat sehr merkwürdige Entwicklung" des Begriffs der δόξα zu erweisen. „Der Gegensatz der δόξα, der sinnlichen Erfassung des Einzelnen, Werdenden und der επιστήμη, des Wissens vom Allgemeinen, beherrscht alle Dialoge bis zum Staate einschließlich." In dieser Periode von Piatons Philosophieren ist nach Stenzel „die wahre und falsche Vorstellung ihrem Begriffe nach kein Problem (Menon, Staat), ebensowenig die Abgrenzung der wahren Vorstellung gegen das eigentliche Wissen" (a.a.O. S. 22). „Die δόξα ist subjektives ,Meinen' und von der Objektseite her ,der Schein', trügerischer Ruhm, den auch Heuchelei erringen kann, und der gute Schein, der wenigstens kein Ärgernis gibt." Kurz, f ü r die Dialoge bis zum Staate sei der Unterschied — meint Stenzel — so klar, wie der zwischen γένεσις und ουσία (a.a.O. S. 23). Daß der Unterschied keineswegs „so klar" ist, wie es Stenzel dünkt, wird im Laufe dieser Arbeit die Interpretation der einschlägigen Stellen zeigen 2 . Gerade im Menon und der Politela ist das Verhältnis von δόξα und επιστήμη besonders problematisch, während sich in den späteren Dialogen nahezu die gleichen Bestimmungen der δόξα finden3. Nach der Politeia glaubt Stenzel in der Entwicklung der platonischen Erkenntnislehre eine entscheidende Wendung feststellen zu können. „Die bisher einfach als δόξα abgelehnte Wissenschaft vom einzelnen Wirklichen" wird nunmehr „als Aufgabe gestellt" (a.a.O. S. 25). „Die neue Aufgabe" bestimmt Stenzel folgendermaßen: „Läßt sich das Wissen ums Allgemeine verbinden mit der Vorstellung des Einzelnen? Kann die δόξα durch das spezifische Mittel der Wissenschaft, den λόγος, dargestellt, als wahr erwiesen werden?" (a.a. O. S.56). Die Bewältigung dieser Aufgabe f ü h r t nach Stenzel zu einer „die Objekte der sinnlichen Erfahrung ausdrücklich umfassenden Erkennt1

Studien zur Entwicklung der platonischen Dialektik von Sokratee zu Aristoteles, 2. Aufl., Leipzig u. Berlin 1931. 2 Vgl. S. 6Iff. » Vgl. S. 47 ff.

30

Das Problem der ΔΟΞΑ in der Platon-Lit-eratur

nistheorie" Daß die Stenzelsche These einer Modifikation des platonischen Erkenntnisbegriffes offenkundig im Widerspruch steht mit einschlägigen Stellen des Philebos und Timaios wird später 2 noch gezeigt werden. Wie versteht Stenzel nun den neuen „Wissenschaftsbegriff" Piatons? „Platon schafft sich in der διαίρεσις das Organon für die Bildung eines das Empirische mitumfassenden Wissensbegriffes" (Studien S. 73). Die Dihairese geht bis zum άτομον είδος. Dadurch soll nach Stenzel „das einzelne Objekt", das Individuum, erkannt werden können, denn „das Einzelne ist doch nach dem neuen Seinsbegriff nur, indem es dies ist; und dieses Diessein heißt doch dieses είδος haben, unter dieses είδος fallen: sonst ist das Objekt ja gar nicht faßbar, auch f ü r die αϊσθησις nur in uneigentlichem Sinne" (a.a.O. S. 87). Beim άτομον είδος 3 tritt nun „bei den naturwissenschaftlichen Objekten das äußere Sehen neben das innere, die αΐσθησις neben das είδος, eine δόξα, eine ,Vorstellung' des Einzelnen, neben den allgemeinen λόγος" (a.a.O. S. 83). Im άτομον είδος vereinigen sich gewissermaßen Sinneswahrnehmung und Logos. „Der λόγος erfaßt das είδος in der systematischen Definition, die δόξα erkennt den einzelnen Gegenstand als unter ein είδος fallend, sie konstituiert ihn in seiner Bestimmtheit als dies oder das" (a.a.O. S. 87). Die Idee, welche durch die Teilung bis zum Unteilbaren „individuellen" Inhalt erhalte, begründe in kunstgerechter Definition die Wahrheit und Richtigkeit von δόξα und αΐσθ-ησις, indem sie bis zu deren Sphäre herabsteigt (vgl. a.a.O. S. 105). Jeder richtigen Vorstellung wohnt daher nach Stenzel ein immanenter λόγος inne (a.a.O. S. 86). Wenn ich die Ausführungen Stenzeis richtig verstanden habe, interpretiert Stenzel die επιστήμη als άληθής δόξα (αίσθησις). Von der Wahrheit der δόξα — mithin von Erkenntnis — hinsichtlich einer Sache, sinnvoll zu reden, ist aber nur möglich auf Grund des Logos. Der Logos ist dabei die ganze Definition der einzelnen Sache im Sinne der Dihairesen des Sophistes. Das Zusammentreffen von είδος, δόξα und αΐσθησις in dem neuen Erkenntnisbegriff war nach Stenzel f ü r Piaton „der größte Triumph der logischen Methode, die endgültige Lösung des Methexisproblems durch das Denken" (a.a.O. S. 83). Abgesehen von der Frage, ob es überhaupt Piatons philosophischer Intention entspricht, triumphale Lösungen zu bieten, sei hier zur Kritik der Stenzel1

Über den Aufbau der Erkenntnis im VII. platonischen Brief, in: Kleine Schriften zur griechischen Philosophie, Darmstadt 1956, S. 94. 2 Vgl. S. lOOff. 3 In dem Buch von Stenzel ist immer wieder— als wäre es ein Zitat — vom άτομον είδος die Rede, obwohl sich dieser Ausdruck bei Platon gar nicht finden läßt. άτομος ist einmal in ähnlichem Zusammenhange Soph. 229d belegt und άτμητος Phaidr. 277b. „Die Begriffsspaltung führt auf das neue είδος, also auf ein άτομον είδος, gleichviel ob dieser Terminus genau vorkommt" (a.a.O. S. 57).

Das Problem der ΔΟΗΑ in der Platon-Literatur

31

sehen Ausführungen darauf hingewiesen, daß es sich in den platonischen Dihairesen keineswegs um die Bestimmung eines Individuums handelt, sondern um den Angelfischer, den Sophisten, den Staatsmann, mithin immer noch um etwas Allgemeines, modern gesprochen um einen Begriff, aber nicht um etwas sinnlich wahrnehmbar individuell Seiendes 1 . Unter entwicklungsgeschichtlichem Aspekt, ähnlich wie Stenzel, versucht P. Joannou in seiner Dissertation 2 „die Rolle zu bestimmen, die der Doxabegrifif in der Philosophie, bzw. in der Erkenntnistheorie Piatons spielt" (a.a.O. S. 5). Dabei glaubt er, eine ,,in normaler Weise" ablaufende „Entwicklung der Doxalehre" feststellen zu können (a.a.O. S. 6). Diese Entwicklung verläuft hauptsächlich in zwei Perioden, von denen die erste bis zum Gorgias3 geht. In der frühesten Gruppe: Jon—Protagoras—Hippias minor stand nach Joannou „das Problem der Doxa" vor Piaton auf in der Frage der „Rettung vor den Sinnestäuschungen" (a.a.O. S. 16). Laches—Charmides—Euthyphron führen zur Distinktion zwischen Doxa und Episteme. „Die Meinung . . . vermag nicht zum Eidos zu gelangen: sie bleibt bei den Einzelerscheinungen stehen" (a.a.O. S. 18). Im Gorgias erfolgt die Klärung des Verhältnisses der Meinung zum Wissen. „Der Unterschied und zugleich die Übergangsstufe zwischen beiden ist der Logos, die Kenntnis des ,Wie' ihres Gegenstandes : ein Wissen, das nicht den Logos besäße, wäre eine bloße Meinung, und umgekehrt : die Meinung plus Erkenntnis des Logos ist Wissen" (a.a.O. S. 20). K. Büchner hat in einer eingehenden Rezension 4 der Arbeit von Joannou gezeigt, daß mit diesen Thesen die einschlägigen Textstellen in den genannten Dialogen überinterpretiert sind. Büchner bemängelt u.a., daß Joannou es versäumt, „die Wortbedeutung an den einzelnen Stellen genau zu erklären". Überdies werden Stellen für das DoxaProblem in Anspruch genommen, an denen von δόξα überhaupt nicht die Rede ist. Für die mittlere Periode von Piatons philosophischer Entwicklung ist nach Joannou der „Dynamismus der Meinung" charakteristisch. Die Meinung „strebt nach dem Wissen" (a.a.O. S. 28). Zu dieser Deutung kommt Joannou auf Grund einer schwerlich ernst zu nehmenden Etymologie von δόξα im Kratylos (420b). Ihre Bestätigung findet Joannou dann besonders im Symposion. Von einer „Gleichsetzung" 1 Vgl. auch die Kritik an Stenzel von H. Barth, Philosophie der Erscheinung, 1. Teil, Basel 1947, S. 99 f. Barth wendet sich gegen Stenzeis Verwischung „des Problems des individuellen Seins bei Piaton". 2 Die Erfahrung in Piatons Ideenlehre, Diss, phil., München 1936. 3 Joannou folgt der von U. v. Wilamowitz aufgestellten genetischen Reihenfolge der Dialoge. 1 Gnomon, Bd. 13 (1937), S. 545£f.

32

Das Problem der A O i A in der Platon-Literatur

der Meinung „mit dem Eros in der Diotima-Rede des Symposion" — wie Joannou will a.a.O. S. 31 — kann aber nun wirklich keine Rede sein 1 . Der Aufstieg zum Schönen an sich f ü h r t Joannou zur Interpretation des Eidos als „Gestalt der Meinungen" (a.a.O. S. 45) 2 . „Indem die Seele durch die Gestaltung ihrer Meinungen die Schau der Gestalt gewinnt, gewinnt sie den Einblick in die wahre Wirklichkeit" (a.a.O. S. 48). „Die Empfindungen werden gestaltet in der Doxa, im Glauben an die physische Welt." Diese „neue Stellung" ist aber noch ungenügend, da der Seele eine „neue Vielheit" entgegentritt. Nach deren stufenweiser Zusammenfassung gewinnt die Seele „plötzlich die Einsicht, die Gestalt dessen, was gut, schön usw. ist. Diese Gestalt ist etwas ganz anderes als das Einzelne. Durch die Gestalt-Idee wurde die Gestalt-Doxa überwunden" (a.a.O. S. 55). Der letzten Periode platonischen Denkens war nach Joannou dann die „Erläuterung und Verteidigung der Lehre" vorbehalten (a.a.O. S. 56ff.). Die Arbeit Joannous ist ein besonders charakteristisches Beispiel dafür, wie unter der vorgefaßten Meinung einer schönen Entwicklungslinie sich die Schwierigkeiten der platonischen Philosophie zu verflüchtigen scheinen und die eigentliche Problematik gar nicht gesehen wird. Unter wesentlich anderem Aspekt stellt sich A. Diès das Problem der δόξα dar. Ausgehend von den vergeblichen Definitionsversuchen der επιστήμη im Theaitet, fragt Diès nach dem Verhältnis von δόξα und έπιστήμη 3 . Hinter den Versuchen, die έπιστήμη als άληθής δόξα μετά λόγου zu erklären, stand die Vorstellung von der επιστήμη als „une opinion qui s'explique" (a.a.O. S. 466). Für „la science" wurde „un fondement rationnel" gesucht. Ein solcher „fondement rationnel" wird im Menon (98a) im λογισμός gewonnen. Im λογισμός erfolgt der Übergang von der „instabilité de l'opinion à la stabilité de la science" (a.a.O. S. 465). Diès stellt Platon nun die Frage (a.a.O. S. 465): „Y a-t-il même une différence entre ce λόγος ou λογισμός et le λόγος de vos adversaires?" (gegen die sich Platon in den vergeblichen Definitionsversuchen der επιστήμη als άληθής δόξα μετά λόγου wendet). In der T a t gibt es einen ganz entscheidenden Unterschied. Der λογισμός im Menon ist die Wiedererinnerung, der Aufstieg zur réalité intelligible (a.a.O. S. 467). „L'opinion droite ne devient science qu'en se rattachant à la connaissance de la réalité intelligible, et cette connaissance est science, est la science" (a.a.O. S. 468). Dieser Prozeß entwickelt sich nicht organisch aus dem δοξάζειν, sondern die Verknüpfung im 1

Vgl. auch die Kritik Büchners daran (a.a.O.) Vgl. auch den Untertitel der Dissertation: „Die Idee als Gestalt der Erfahrung". Für Joannou stehen die Ideen weder über den Dingen noch sind die Ideen den Dingen immanent, sondern die individuellen Erscheinungen, konkreten Dinge, sind den Ideen immanent (a.a.O. S. 81). 3 A. Diès, Autour de Piaton, Paris 1927, S. 459ff. 2

Das Problem der ΔΟΞΑ in der Platon-Literatur

33

αιτίας λογισμός erfolgt von außerhalb. „II est fruit d'une connaissance qui est d'un tout autre genre que l'opinion droite" (a.a.O. S. 469). Diès hebt sehr richtig hervor, daß es zwischen έπιστήμη und δόξα keine Brücke gibt. In der Frage, wie man den αιτίας λογισμός, der die έπιστήμη erst zur έπιστήμη macht, verstehen soll, besteht eine sehr schwierige Aufgabe der Interpretation. Daß es sich dabei aber um etwas handeln muß, das — wie Diès meint — auf anderer Ebene liegt als die δόξα wird im Laufe dieser Arbeit seine Bestätigung finden. Die Besprechung der einschlägigen Arbeiten hat sehr unterschiedliche Auffassungen von der δόξα gezeigt. Gleich bei der Bedeutung des Ausdrucks wichen die Ansichten der Interpreten voneinander ab. Als besonders problematisch stellte sich in den Arbeiten immer wieder das Verhältnis von δόξα und έπιστήμη heraus. In dem Gegensatz der δόξα — und zwar weniger der bloßen δόξα als der άληθής δόξα — zur έπιστήμη besteht in dei Tat der Kern des Doxa-Problems. Wie hat man eine άληθής δόξα zu verstehen, die nicht Erkenntnis sein soll? Dieser Frage wird die vorliegende Untersuchung vor allem nachgehen, sobald die Wortbedeutung von δόξα und Piatons Verständnis dieses Begriffes analysiert sind. Dabei ist es unumgänglich, auch den platonischen Erkenntnis- und Wahrheitsbegriff zu untersuchen. In einem weiteren Teil wird dann nach der Bedeutung der δόξα für die platonische Erkenntnis gefragt werden. In methodischer Hinsicht arbeitet die Untersuchung ständig mit Stellen vergleichen. Da es der Arbeit auf den genauen Wortlaut Piatons ankommt, bleibt die doxographische Platon-Überlieferung bei Aristoteles u.a. unberücksichtigt. Es wird sich im Laufe der Untersuchung zeigen, daß dieselbe Problematik in einzelnen Dialogen, die nach der communis opinio verschiedenen Perioden von Piatons Schriftstellerei angehören, wieder auftaucht 1 . Daher schien es möglich, von chronologischen Fragen abzusehen, zumal die Untersuchung nicht entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhängen gilt, sondern den Problemkomplex der δόξα im Zusammenhang der philosophischen Konzeption Piatons verständlich machen möchte. 1

Vgl. S. 64f.

3 8001 Spnite, DOXA

II. D I E N A T U R D E R ΔΟΞΑ Die Wortbedeutung von δόξα Vor einer Untersuchung der erkenntnistheoretischen Bedeutung der δόξα muß gefragt werden, was das Wort bei Piaton überhaupt meint. Dabei ergeben sich die ersten Schwierigkeiten. Schleiermacher übersetzt δόξα in der Regel mit „Vorstellung", Apelt hingegen mit „Meinung". Nun dürfte die Meinung zwar eine Vorstellung sein, aber nicht jede Vorstellung auch eine Meinung 1 . Die Meinung ist eine Vorstellung, zu deren Charakter das mehr oder weniger ausdrückliche Bewußtsein gehört, daß der Inhalt dieser Vorstellung dem Gegenstand, auf den sie sich bezieht, vielleicht nicht angemessen ist. Auf Grund dessen kann eine Meinung im Gegensatz beispielsweise zu einem sinnlichen Eindruck wahr oder falsch sein. Wahrheit und Falschheit sind jedoch Urteilskriterien. Jede Meinung ist daher als Urteil aufzufassen. Die bloße Übersetzung des Wortes δόξα sollte mithin schon Ausdruck einer philosophischen Interpretation sein. Die etymologischen Wörterbücher leiten δόξα von δοκέω ab u n d dieses Verbum wiederum von δέκομαι (δέχομαι). Neben δοκέω gehen auch δοκεύω, δοκάζοί, προσδοκάω auf δέκομαι zurück 2 . In δέκομαι steckt die idg. Wurzel dek- (nach H o f m a n n 3 = „nehmen", auch „aufnehmen, begrüßen"). Dieselbe Wurzel hat man f ü r zahlreiche Wörter der indogermanischen Sprachen angesetzt, u.a. auch f ü r lat. „decet" ( = es ist angemessen, geziemt sich). F ü r δέκομαι hält Frisk als Grundbedeutung möglich: „etwas als angemessen betrachten, sich aneignen, gern aufn e h m e n " 4 . Von δοκέω ( = ansehen, meinen, scheinen) werden außer δόξα noch eine ganze Reihe anderer Substantivbildungen hergeleitet 5 : δόκησις, δόκημα, δόγμα, δόξις, δοκώ, δόκος, δοκή, ferner das Adjektivum δόκιμος. Auf δόκιμος gehen die Denominativa δοκίμωμι, δοκιμάζω, δοκιμόω zurück. Die Bildungsweise von δόξα ist unklar. Ältere Erklärungsversuche legen f ü r δόξα die Formen *δόκ-^ά oder *δόκ-σα 1 Für Kant (Kr. d. r. Vern. Β 376) ist „Vorstellung" oberster Gattungsbegriff, unter den bei ihm Begriffe fallen, wie Perzeption, Empfindung, Erkenntnis, Notion usw. 2 H . Frisk, Griechisches etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 1954ff., S. 373f. 3 J. B. Hofmann, Etymologisches Wörterbuch des Griechischen, München 1949, S. 54 u. 62. 1 A . a . O . S. 374. 5 Vgl. Frisk, a . a . O . S. 404ff.

Die Wortbedeutung von δόξα

35

zugrunde 1 . Manu Leumann 2 geht demgegenüber von dem adverbiellen Ausdruck παρά δόξαν aus und faßt δόξαν als acc. sing, neutr. part. aor. von δοκέω auf. Diese ursprünglich partizipiale Form sei dann, etwa nach παρά μοΐραν, umgedeutet worden zum Akkusativ eines ä-Femininums, also zu παρά (τήν) δόξαν. Die Verben δοξάζειν und δοξόομαι sind wiederum denominative Ableitungen von δόξα. Die semantischen Beziehungen der Verben, auf welche die Etymologie von δόξα führt, lassen sich nach Frisk (a.a.O. S. 405f.) leichter ahnen als genau verfolgen; dt. „annehmen, annehmbar, angenehm; auffassen, ansehen" könnten immerhin von der Bedeutungssphäre und den Bedeutungsübergängen eine allgemeine Vorstellung geben (a. a . 0.). Das Verbum δοκεΐν, das semasiologisch den Wörtern δόξα und δοξάζειν am nächsten kommt, bedeutet das Bestehen einer Ansicht, Meinung, und zwar sowohl der Meinung, die ich über etwas habe als auch der Meinung, die andere über mich haben 3 . Damit ergeben sich die beiden Grundbedeutungen: „glauben, meinen" und „scheinen (videri)". Ganz dementsprechend entfaltet δόξα die Bedeutungen „Glaube, Meinung" und „Ansehen, Ruf, R u h m " . In beiden Richtungen differenziert sich das Wort dann weiter in mannigfaltige Bedeutungsnuancen. Von diesen sollen nur einige hier angeführt werden, die sich von der einen Grundbedeutung „Ansicht, Meinung" herleiten lassen 4 . Wenn sich die Meinung auf etwas Zukünftiges bezieht, wird sie zur Erwartung. In dem Sinne hat man δόξα an einer Iliasstelie (K 324) zu verstehen 5 . Eine Erwartung ist auch die Hoffnung. Dieser Bedeutung® nähert sich das Wort bei Solon (I, 34 Diehl). Handelt es sich bei der Meinung um eine Willensmeinung, so kommt δόξα zur Bedeutung „Entschluß, Beschluß" Ihre häufige Unsicherheit macht die Meinung oft zum „unbegründeten Glauben", zur „bloßen Vermutung", Herodot gebraucht dafür an einer Stelle den zunächst paradox anmutenden Ausdruck: έπιστέατο δόξη (8,132). έπίστασθαι bedeutet bei Herodot jedoch nicht nur „wissen", sondern auch, „meinen, glauben, überzeugt sein" 8 . Im Zusammenhang mit Träumen und ähnlichem hat δόξα 1 So E. Boisacq, Dictionnaire étymologique de la langue grecque, 3. Aufl., Heidelberg u. Paris 1938, und Hofmann, a.a.O. 2 M. Leumann, Homerieche Wörter, Basel 1950, S. 173ff. 3 Vgl. auch den Art. δόξα von G. Kittel im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament, hrsg. v. G. Kittel, Stuttgart 1933 ff. 4 Zur Aufhellung der bedeutungsgeschichtlichen Zusammenhänge ist neuerdings Material gesammelt worden in einer Göttinger Staatsexamensarbeit von I. Heidelberg, Doxa und Verwandtes (1961), einzusehen im Inst. f. Altertumskunde Göttingen. 5 δόξα kommt bei Homer, abgesehen von dieser Stelle, nur noch einmal in der Odyssee (λ 344) vor, und zwar in derselben Wendung ούδ* άπό δόξης wie Κ 324. 4 Vgl. auch Soph. Ph. 1463. 7 Vgl. Soph. OR 911; Eur. Tro. 179. 9 Vgl. u.a. Her. I, 3; I, 122; V, 42. 3*

36

Die Natur der ΔΟΞΑ

ferner die Bedeutung „Vorstellung". Im Agamemnon des Aischylos redet der Chor einmal von όνειρόφαντοι . . . . δόξαι (420f.) 1 . Es entspricht dem gedanklichen Zusammenhang, in dem diese Bedeutung des Wortes auftritt, wenn δόξα als Vorstellung manchmal einen leicht abwertenden Beigeschmack erhält, etwa „der nichtige Wahn, welcher der Realität nicht entspricht" 2 . Das Denominativum δοξάζειν kommt erst seit Aischylos vor, und zwar in der Bedeutung „opinari, conicere". Herodot hat δοξάζειν jedoch nicht. Eine genaue Übersetzung des Wortes δόξα ist oft nicht leicht, weil man sich zwischen eng beieinanderliegenden Bedeutungen zu entscheiden hat. Bei Piaton handelt es sich speziell darum, zu bestimmen, ob δόξα die Bedeutung „Meinimg" oder „Vorstellung" trägt. Dazu ist eine eingehendere Prüfung des Wortgebrauchs unerläßlich. Zu einer Analyse der Wortbedeutung von δόξα bei Piaton ist der erste Teil des Theaitet besonders gut geeignet, da das Wort dort in mehreren Bedeutungsnuancen erscheint. Der Theaitet beschäftigt sich mit der Frage nach der Natur der έπιστήμη. Dabei wird im ersten Teil ( 151 e ff.) die von Theaitetos gegebene Bestimmung der επιστήμη als αϊσθησις erörtert. Als formale Kriterien der επιστήμη werden 152c Irrtumsfreiheit und Erfassen des Seienden genannt. Bezeichnenderweise wird jedoch nicht untersucht, ob dem αίσθάνεσθαι diese Kriterien zukommen, sondern es wird gezeigt, unter welchen ontologischen Voraussetzungen es keinen Irrtum geben kann und wie das Erfassen des Seienden auf Grund einer derartigen Ontologie zu verstehen ist. Die Möglichkeit einer allgemeingültigen αΐσθησις scheint f ü r Piaton von vornherein indiskutabel zu sein. Wenn επιστήμη = αισθησις sein soll, kann es überhaupt keine sichere Erkenntnis geben. Die erkenntnistheoretische Unmöglichkeit des Irrtums gewährleistet auch f ü r die αϊσθησις die Kriterien der έπιστήμη. Gibt es nämlich keinen Irrtum, ist jedes geistige Verhalten άψευδής. Nur wenn das Seiende so strukturiert ist, daß es sich allgemeingültiger Erkenntnis entzieht, können αίσθάνεσθαι und έπίστασθαι zusammenfallen. Als Ausdruck eines erkenntnistheoretischen Skeptizismus bietet sich der Homomensurasatz an. Die Bestimmung des Theaitetos wird daher sofort auf diesen Satz zurückgeführt 3 . Die philosophische Begründung der damit eingenommenen erkenntnistheoretischen Haltung liefert die Lehre der Herakliteer. Die beste Angriffsmöglichkeit der sensualistischen Erkenntnistheorie liegt bei der von ihr behaupteten Irrtumslosigkeit jeder beliebigen Meinung. Wird f ü r eine Erkenntnisweise die 1

Vgl. auch Eur. Rhes. 780. Vgl. Aesch. Ch. 1053. 8 Vgl. 152a „Auf eine etwas andere Weise hat er (Protagoras) dasselbe gesagt." Es folgt der Homomensurasatz. 2

Die Wortbedeutung von δόξα

37

Möglichkeit des Irrtums nachgewiesen, entfallt damit ihr Anspruch, έπιστήμη zu sein. Fast alle Argumente, die im Dialog gegen die Lehre des Protagoras angeführt werden, haben den Nachweis der Möglichkeit des Irrtums zum Ziel. I n den Auseinandersetzungen um die Richtigkeit oder Falschheit der durch die Bestimmung des Theaitetos festgelegten erkenntnistheoretischen Position erscheint der Begriff der δόξα häufig mit nur schwer faßbarem Bedeutungsgehalt. Läßt sich der Homomensurasatz durchaus an Beispielen der reinen sinnlichen Wahrnehmung erläutern (vgl. 152b, c), kann der Nachweis der Möglichkeit des Irrtums nur durch Beispiele aus der Urteilssphäre erfolgen. Da in den Erörterungen nicht immer klar zwischen Wahrnehmungs- und Urteilssphäre unterschieden wird, ist das Wort δόξα in den einschlägigen Partien manchmal weder mit „Vorstellung" noch mit „Meinung" genau übersetzbar. Der mutmaßlichen Bedeutung des Wortes kann man sich in solchen Fällen nur nähern, indem man nach dem Stellenwert des Begriffes in der Argumentation fragt. Es werden daher im folgenden besonders solche Dialogstellen untersucht, an denen kritische Einwände gegen die bisherigen Ergebnisse der Erörterungen gemacht werden. Aus der Bestimmung der έπιστήμη als αΐσθησις hatte sich im Laufe des Dialogs die Lehre von der Relativität und Richtigkeit jeder Wahrnehmung ergeben. Danach dürfte es keine falsche Wahrnehmung geben. 157 e ff. wird dagegen jedoch die Frage der ψευδείς αισθήσεις aufgeworfen, weil die Tatsache des παραισθ-άνεσθαι aus Träumen, Krankheiten und Wahnsinn bekannt ist 1 . Bei der näheren Erläuterung der Traum- und Wahnvorstellungen an einem Beispiel ergibt sich fast unvermerkt der Übergang vom παραισθ-άνεσθ-αι zum ψευδή δοξάζειν (158b). Ein als παραισθάνεσθαι oder ψευδή δοξάζειν zu charakterisierendes geistiges Verhalten liegt vor, wenn die Menschen im Traum Götter zu sein glauben oder zu fliegen meinen. Zur Umschreibung gebraucht Piaton dabei die Wörter οΐεσθαι und διανοεϊσθ-αι. Im folgenden wird der jeweilige Bewußtseinsinhalt als δόγματα (158d) und δοξάσματα (158e) charakterisiert. Die an dieser Stelle versuchten Übersetzungen von δοξάζειν, bzw. δόγμα mid δόξασμα weichen beträchtlich voneinander ab. Schleiermacher und Apelt übersetzen „Vorstellung", Cornford 2 ,,to believe", „conviction" und „belief". Nach Geyser 3 handelt es sich 1 Apelt (Übers, des Theait., S. 163f., Anm. 26) bemerkt richtig, daß Traumund Wahnvorstellungen eigentlich der Einbildungskraft entspringen und nicht der sinnlichen Wahrnehmung. Was als Wahrnehmung im Traum erscheint, sind Ausgeburten der Phantasie. Deshalb wird der Trauminhalt nicht sinnlich wahrgenommen, sondern vorgestellt. Man könnte höchstens von innerer Wahrnehmung reden. 2 Plato's Theory of Knowledge, S. 52 f. 3 Das Verhältnis von αΓσθησις und δόξα, S. 10. Vgl. zu Geyser auch S. 21.

38

Die Natur der ΔΟΞΑ

b e i m ψευδή δοξάζειν „ u m einen Z u s t a n d , der ins G e b i e t der Urteilsf u n k t i o n e n f ä l l t " . D e m k ö n n t e m a n e n t g e g e n h a l t e n , d a ß die T r a u m v o r s t e l l u n g eines fliegenden Menschen keineswegs d a s U r t e i l z u sein b r a u c h t : d e r u n d der M e n s c h fliegt. I c h urteile n ä m l i c h im T r a u m im a l l g e m e i n e n n i c h t , daß der Mensch fliegt, sondern ich stelle v o r , wie der M e n s c h fliegt; i c h sehe d a s B i l d eines fliegenden M e n s c h e n 1 . M a n ist d a h e r g e n e i g t , d a s ψευδή δοξάζειν der T r ä u m e n d e n z u n ä c h s t e i n f a c h als „ F a l s c h e s v o r s t e l l e n " z u übersetzen. P i a t o n g e b r a u c h t a b e r bei der B e s c h r e i b u n g d e s T r a u m i n h a l t s die W ö r t e r οίεσθαι u n d διανοεϊσθαι u n d l ä ß t die T r a u m v o r s t e l l u n g e n v o n S o k r a t e s als A r g u m e n t g e g e n die v o r g e b l i c h e I r r t u m s l o s i g k e i t eines jeden geistigen V e r h a l t e n s ins F e l d f ü h r e n . D a d u r c h b e k o m m t das δοξάζειν a u c h e t w a s v o m C h a r a k t e r des M e i n e n s . G e y s e r g e h t j e d o c h in seiner D e u t u n g z u w e i t u n d v e r k e n n t d e n U n t e r s c h i e d z w i s c h e n V o r s t e l l u n g u n d B e u r t e i l u n g der V o r s t e l l u n g h i n s i c h t l i c h ihrer R i c h t i g k e i t oder F a l s c h h e i t , w e n n er schreibt ( a . a . O . S. 10): „ D i e s e r W e c h s e l des A u s d r u c k s ist n i c h t Z u f a l l noch belanglos. D e n n n i c h t d a r i n , d a ß der T r ä u m e n d e sich geflügelt u n d fliegend , w a h r n i m m t ' , k a n n T h e ä t e t d e n I r r t u m suchen, sondern d a r i n , d a ß derselbe , a n n i m m t ' , t a t s ä c h l i c h diese E i g e n s c h a f t e n zu h a b e n . " D a s „ W a h r n e h m e n d a ß " u n d d a s „ A n n e h m e n d a ß " ist j e d o c h im T r a u m s a c h l i c h d a s s e l b e . I c h t r ä u m e die eine V o r s t e l l u n g des F l i e g e n s . D i e E n t s c h e i d u n g , o b die V o r s t e l l u n g „ r i c h t i g " oder „ f a l s c h " ist, f ä l l t n i c h t i m T r a u m s e l b s t — oder n u r in den seltensten F ä l l e n ; d e n n es ist u n g e w ö h n l i c h , einen T r a u m zu t r ä u m e n m i t d e m B e w u ß t s e i n v o n seinem C h a r a k t e r als T r a u m — , sondern in w a c h e m Z u s t a n d e , w e n n die T r a u m v o r s t e l l u n g e n m i t der R e a l i t ä t v e r g l i c h e n w e r d e n k ö n n e n 2 . 1 Abgesehen worden muß dabei allerdings von der Frage, ob und inwieweit in jeder beliebigen Vorstellung bereits Urteilselemente enthalten sind. Zweifellos besteht aber ein Unterschied zwischen Urteilen, deren Richtigkeit an der Realität überprüft werden kann und Vorstellungen, dio als reine Phantasieprodukte ihrem Charakter nach überhaupt keinen Urteilsanspruch über die Realität stellen. Bei den sinnlichen Wahrnehmungen ist dieses Kriterium nicht anwendbar; denn ein sinnlicher Eindruck von einer Sache kann durch erneute Wahrnehmung korrigiert werden. Gleichwohl werden in dieser Untersuchimg auch die sinnlichen Eindrücke als bloße Vorstellungen verstanden und den Meinungen (als Vorstellungen mit ausgesprochenem Urteilscharakter) gegenübergestellt. Diese Distinktion ist zweifellos etwas grob, da es überaus schwierig ist, zu sagen, inwieweit nicht in einem sinnlichen Eindruck von einer Sache bereits die dem Eindruck entsprechende Meinung über die Sache angelegt ist. Andererseits läßt sich aber doch der Unterschied zwischen Eindrücken und Meinungen nicht übersehen, insofern die ersteren vom Subjekt im wesentlichen passiv erlebt oder erfahren werden, die letzteren dagegen Ausdruck einer spontanen Stellungnahme des Subjekts sind. 2 An und für sich ist es überhaupt unkorrekt, von einer richtigen oder falschen Traum Vorstellung zu reden ; denn ein Traum ist ebensowenig richtig oder falsch wie ein sinnlicher Eindruck. Man kann sich jedoch Gedanken machen über die Abweichungen der Traumwelt von der realen Welt.

Die Wortbedeutung v o n δόξα

39

D a ß Platon δοξάζειν direkt synonym mit οίεσθαι u n d διανοεϊσθαι gebraucht hat, wie Geyser behauptet, ist daher einmal der Sache nach unwahrscheinlich. Zum andern bietet auch der Zusammenhang keinen Anhaltspunkt f ü r eine derartige Bedeutung. Bisher gab es in den Erörterungen keinen Ausdruck aus der Urteilssphäre. Noch kurz vorher, 158 a, wird der Homomensurasatz mit φαίνεσθαι umschrieben. Da aber die Traumvorstellungen als Argument gegen die Irrtumslosigkeit angeführt werden und der Traumiiihalt mit Ausdrücken aus der Urteilssphäre beschrieben wird, erscheint die δόξα hier in schillernder Bedeutung zwischen Vorstellung u n d Meinung. Wie leicht der Übergang vom Vorstellen zum Meinen wird, mag folgende Aussagenreihe deutlich machen: ich nehme wahr, d a ß ich fliege ; ich habe die Empfindung, Vorstellung zu fliegen ; mir scheint, daß ich fliege; ich meine, glaube zu fliegen1. Die ersten beiden Aussagen konstatieren einen Sachverhalt ohne Vorbehalt eines möglichen Irrtums, während der formale Charakter der anderen beiden die Möglichkeit des I r r t u m s einschließt. Dieser formale Unterschied wird im Begriff des δοξάζειν verwischt. Die Wahrnehmungssphäre, in der ein seelischer Zustand bewußt wird, ist von der Urteilssphäre, in der auf den Zustand reflektiert wird, nicht deutlich geschieden. Dasselbe Schwanken in der Bedeutung von δόξα begegnet uns auch an anderen Stellen. 161 c ff. weist Sokrates auch auf die Relativität des Homomensurasatzes hin. Wenn man den Satz konsequent durchdenkt, k o m m t ihm selbst keine größere Gültigkeit zu als jeder beliebigen anderen Meinung. Es ist daher nicht ersichtlich, wieso der Mensch eher das Maß der Dinge sein soll als das Schwein oder der Affe. Protagoras selbst wird in seinem Beruf fragwürdig. I m Verlauf dieser Darlegungen, die wiederum auf den Nachweis des I r r t u m s abzielen, erscheint in einer Periode 2 , welche den Homomensurasatz umschreibt, die αΐσθησις als Mittel des δοξάζειν. Schleiermacher übersetzt: „was er mittels der Wahrnehmung vorstellt". I n Anbetracht der im selben Satz vollzogenen Unterscheidung zwischen πάθος u n d δόξα, welche parallel stehen zu δι' αίσθήσεως u n d δοξάζη, scheint die Übersetzung „Vorstellung" f ü r δόξα fragwürdig zu sein, zumal die δόξα d a r a u f h i n geprüft (έπισκέπτεσθαι) werden soll, ob sie richtig oder falsch ist. Sieht m a n im folgenden, d a ß die φαντασίαι (Vorstellungen), ausdrücklich noch neben den δόξαι a n g e f ü h r t werden (161 e), neigt man dazu, die δόξα in diesem Abschnitt als Meinung aufzufassen. Demgegenüber ist m a n aber wiederum weniger geneigt das τά αύτοΰ δοξάζειν (161 d) anders zu über1

Vgl. auch Cornford, Plato's Theory of Knowledge, L o n d o n 1935, S. 54. Vgl. 161 d ει γαρ δή έκάστω άληθές ίσται δ άν δι* αίσθήσεως δοξάζω, καΐ μήτε τό άλλου πάθος άλλος βέλτιον διακρίνει, μήτε τήν δόξαν κυριώτερος ίσται έπισκέψασθαι έτερος τήν έτέρου όρθή ή ψευδής, άλλ* δ πολλάκις είρηται, αυτός τά αύτοΰ έκαστος μόνος δοξάσει, ταϋτα δέ πάντα όρθά καΐ άληθή . . . 2

Die Natur der ΔΟΞΑ

40

setzen als „seine eigenen Vorstellungen haben". Das δοξάζειν des τά αύτοϋ „das insgesamt richtig und wahr ist", findet sich jedoch in derselben langen Periode wie die oben erörterten Beispiele. Selbst wenn eindeutig feststünde, wie δόξα in diesem Abschnitt zu übersetzen ist, bliebe der Ausdruck δι' αίσθήσεως δοξάζειν (161d) zunächst immer noch unverständlich ; denn mittels Wahrnehmung meint man weder noch stellt man vor, sondern nimmt wahr. Sieht man sich bei Piaton nach Parallelen zu diesem Ausdruck um, fällt eine Stelle im Sophistes auf. Dort ist 264a von einer δόξα die Rede, welche sich δι' αίσθήσεως einstellt 1 und als φαντασία bezeichnet wird. Im Sophistes hat die δόξα eindeutig Urteilscharakter 2 , so daß die φαντασία dort mehr als bloße Vorstellung sein muß. Man hat sie als eine Art Meinung zu verstehen, die auf Grund eines sinnlichen Eindrucks entstanden ist und sich wesentlich auf diesen Eindruck bezieht. Diese φαντασία des Sophistes ist jedoch schwerlich identisch mit der φαντασία, die im Theaitet begegnet; andernfalls hätte man die Nebeneinanderstellung von φαντασίαι und δόξαι (Theait. 161 e) rein pleonastisch aufzufassen, was sich im Hinblick auf den im Theaitet bedeutungsvollen Unterschied 3 zwischen φαίνεται und S ο κει verbieten dürfte. Immerhin könnte der in Frage stehende Ausdruck δι' αίσθήσεως δοξάζειν (Theait. 161 d) analog der Stelle im Sophistes verstanden werden, und der ganze Ausdruck würde bedeuten: was jemand auf Grund sinnlicher Wahrnehmung meint. Die sinnliche Wahrnehmung wäre dann nicht das Mittel, sondern der Anlaß zur Meinungsbildung. Diese Auffassung, welcher im folgenden an der besprochenen Theaitetstelle sehr gut die Scheidung zwischen πάθος und δόξα entspräche, scheint jedoch etwas bedenklich, wenn man auf den Stellenwert des Ausdrucks achtet. Der Ausdruck dient nämlich zur Umschreibung des Homomensurasatzes, und der Homomensurasatz dient als kurze Formel für die sensualistische Erkenntnistheorie, für welche die αίσθησις das wesentliche Erkenntnismittel ist. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sich Piaton des unglücklichen Ausdrucks „mittels Wahrnehmung δοξάζειν" bedient, um damit zugleich die Brüchigkeit der sensualistischen Erkenntnistheorie zu charakterisieren. In dem Falle dürfte jedoch die Übersetzung „Vorstellung" für δόξα angemessener sein als „Meinung". Der Ausdruck würde dann ein Vorstellen dessen meinen, was die Wahrnehmung an die Hand gibt. Der Vorstellungsinhalt müßte im Wahrgenommenen bestehen. Dabei erhebt sich allerdings sogleich die Frage nach dem Verhältnis von πάθος, αίσθησις und δόξα. 2 Vgl. dazu S. 48. παρ?] τινι Soph. 264a. Der Homomensurasatz wird mit φαίνεσθαι umschrieben, wenn er an Beispielen auß der Wahrnehmungssphäre erläutert wird (vgl. z.B. 152a, b), mit δοκεΐν, wenn Argumente gegen seine Gültigkeit beigebracht werden (vgl. z.B. 162c, 170a). 1

3

Die Wortbedeutung von δόξα

41

Theait. 179 c ist von diesen drei Begriffen ebenfalls die Rede. Dort spricht Sokrates von dem παρόν έκάστω πάθος, dem einem jeden gegenwärtigen Eindruck (eigentlich ist der Inbegriff der jeweils gegenwärtigen Eindrücke gemeint; Schleiermacher übersetzt „Zustand"), aus dem die Wahrnehmungen und die auf diese sich beziehenden oder ihnen entsprechenden Vorstellungen entstehen 1 . Grundsätzlich ist die Übersetzung von δόξα an dieser Stelle genau so angreifbar wie an den andern Stellen. S t a t t der Präposition κατά würde man jedoch eher περί erwarten, wenn δόξα die Bedeutung „Meinung" h ä t t e 2 . Ferner werden die δόξαι mit den αισθήσεις zusammengenommen und als möglicherweise άνάλωτοι bezeichnet. Die Irrtumslosigkeit der Meinungen ist aber schon 177 c ff. widerlegt worden. W a s nun das Verhältnis von Wahrnehmung und Vorstellung angeht, so sollen sich einerseits die Vorstellungen auf dieWahrnehmungen beziehen, andererseits wird man aber nicht umhin können, die Wahrnehmung selbst, ja sogar schon den sinnlichen Eindruck (πάθος) als Vorstellung zu bezeichnen. Schließlich besteht faktisch auch kein Unterschied zwischen sinnlichem Eindruck und Wahrnehmung ; denn jeder sinnliche Eindruck ist eine Wahrnehmung. 179 c erscheint der sinnliche Eindruck jedoch als notwendige Bedingung dür die E n t stehung einer Wahrnehmung. Das könnte dazu verführen, das πάθος als sprachlichen Ausdruck f ü r eine, wie auch immer zu denkende, unbewußte oder halbbewußte Affektion zu nehmen. Allein 161 d ist von der Beurteilung des πάθος die Rede 3 , so daß man demjenigen, der den Eindruck erleidet, sehr wohl das Bewußtsein dieses Eindrucks zugestehen muß. Scharfe und eindeutige begriffliche Distinktionen lassen sich zwischen πάθος, αϊσθησις und δόξα {— Vorstellung) nicht treffen. Zu den αισθήσεις gehören nicht n u r die Wahrnehmungen der f ü n f Sinne, sondern auch ήδοναί, λϋπαι, έπιθυμίαι, φόβοι sowie noch vieles andere, sowohl Benanntes als Unbenanntes (vgl. 156b). Damit wird die äußere sinnliche Wahrnehmung u m den Bereich der inneren Wahrnehmung, vorzugsweise den Bereich der Affekte vermehrt. Auffallenderweise werden auch den Pflanzen αισθήσεις zugeschrieben (vgl. 167c). Gegenüber der αΐσθησις 4 scheint die δόξα hier eher Ausdruck einer spezifisch geistigen Funktion zu sein, die den Pflanzen selbstverständlich abgeht. 1 Vgl. Theait. 179 c τό παρόν έκάστω πάθος, έξ ών αί αισθήσεις καί at κατά ταύτας δόξαι γίγνονται. 2 Vgl. u.a. Theait. 170d, 171a, 178c, d. 3 Vgl. S. 39 Anm. 2. 1 αίσθάνεσθαι begegnet bei Piaton sonst jedoch auch häufig in rein geistigem Sinne, ähnlich wie λαμβάνειν. Ast, Lexicon Platonicum, Bd. I, S. 58, führt dazu folgende Bedeutungen an: animadverto, intelligo, cognosco, comperio.

42

Die Natur der ΔΟΞΑ

Die Untersuchung der parallelen Stellen hat f ü r die Frage der Bedeutung von δόξα bisher ein recht mageres Ergebnis erbracht. Die Unsicherheit im Hinblick auf eine treffende Übersetzung ist nicht beseitigt worden, sondern eher noch gewachsen. Der Sache nach müßte δόξα in dem behandelten Theaitetabschnitt 161c ff. mit „Meinung'' übersetzt werden, da bloße Vorstellungen ohne Urteilscharakter streng genommen nicht widerlegt werden können. Es haben sich jedoch auch Argumente für eine Übersetzung durch „Vorstellung" finden lassen. Die δόξα zeigt wiederum die zwischen Vorstellung und Meinung schillernde Bedeutung wie schon 158 b 1 , nur daß dort der Akzent mehr auf dem Wahrnehmungscharakter, dagegen hier mehr auf dem Urteilscharakter liegen dürfte. Am auffälligsten ist die Vermengung von Wahrnehmungs- und Urteilssphäre in den Erörterungen der Verteidigungsrede des SokratesProtagoras 166 ff. Daß jemandem etwas gut erscheint und daß jemandem etwas bitter erscheint, wird formal als dasselbe sinnlichgeistige Verhalten betrachtet. Für beides findet sich der Ausdruck δοξάζειν. Einerseits hat das δοξάζειν nichts anderes zum Gegenstand als unsere Eindrücke (α αν πάσχη 167 a), andererseits besteht das δοξάζειν des Guten, Förderhöhen z.B. darin, daß einem das Heilsame „gerecht" (δίκαιον) scheint (δοκεΐ), was auch bezeichnet wird als ein Dafürhalten, Glauben (νομίζειν 167c). Das Substantiv δόξα findet sich in diesem Abschnitt nicht, dafür aber φάντασμα (167 b), was mit „Vorstellung" und ähnlichem übersetzt werden kann, auf keinen Fall aber mit „Meinung". Cornford versteht die δόξα in diesem Zusammenhang als „the judgment stating the fact of a sense-impression" und betont ihre Irrtumslosigkeit (a.a.O. S. 71 A n m . l ) . Zum Urteil gehört jedoch die Möglichkeit des Irrtums. Ein „Urteil", das lediglich die Tatsache eines sinnlichen Eindrucks konstatiert, ist nicht viel mehr als das Bewußtsein des sinnlichen Eindrucks, d.h. eine Wahrnehmung, Empfindung, kurz eine Vorstellung, die man haben oder nicht haben, die als solche aber nicht falsch sein kann. Versteht man δόξα jedoch als Meinung, so ist im vorhinein die Möglichkeit des Irrtums desjenigen, der da meint, mitgegeben. Wer etwas meint, hat beim Meinen mehr oder weniger ausdrücklich das Bewußtsein, daß seine Meinung unter Umständen den Sachverhalt nicht treffen, d.h. falsch sein könnte. Wer dagegen etwas wahrnimmt, hat zunächst nur das Bewußtsein des sinnlichen Eindrucks. Darin besteht der formale Unterschied zwischen einer Meinung und einer bloßen unreflektierten Vorstellung 2 . In den Erörterungen, in denen uns die δόξα bisher begegnet ist, war dieser formale Unterschied verwischt. Vorstellung und Meinung 1

Vgl. S. 37ff. Zur Problematik des Verhältnisses von Wahrnehmung und Meinung vgl. S. 38 Anm. 1. 2

Die Wortbedeutung von δόξα

43

wurden ohne Differenzierung durch dasselbe Wort ausgedrückt, δόξα als Vorstellung steht in enger Anlehnung an den Homomensurasatz. Überall wo der Satz gestützt werden soll, geschieht dies durch Beispiele aus der Wahrnehmungssphäre, innerhalb derer der Satz ja auch tatsächlich gilt, δόξα als Meinung findet sich vornehmlich an den Stellen, wo Kritik geübt wird an der vorgeblichen Irrtumslosigkeit jedes geistigen Verhaltens. Zwischen diesen beiden — wenn man so sagen darf — Bedeutungspolen der δόξα gibt es Übergänge, die es oft überaus schwierig machen, das W o r t angemessen zu übersetzen. I n der einschlägigen Literatur ist daraufhingewiesen worden, daß es in der vorplatonischen Philosophie keinen genauen Unterschied zwischen αΐσθησις u n d δόξα gegeben h a t 1 . Nach N a t o r p h a t „Protagoras eine genaue Grenze zwischen Wahrnehmung u n d Urteil, Wahrnehmungsurteil u n d Urteil überhaupt, nicht gezogen" 2 . Es ist durchaus möglich, d a ß die schillernde Bedeutung der δόξα, die weder eindeutig mit „Vorstellung" noch mit „Meinung" getroffen werden kann, dem genuinen Doxa-Begriff des Protagoras zukommt und von Piaton zur Charakterisierung protagoreischer Lehren beibehalten worden ist, d a die δόξα an anderen Stellen eindeutig als Meinung interpretiert werden k a n n 3 . Bei einer Theaitetinterpretation ist es nur etwas mißlich, sich auf den Doxa-Begriff des Protagoras zu beziehen, da die Lehre des Protagoras im wesentlichen aus dem Theaitet rekonstruiert wird. Gegenüber den bisherigen Bedeutungsschwankungen im Theaitet läßt sich die δόξα in den Partien nach der Verteidigungsrede des Sokratee-Protagoras eindeutig als Meinung fassen. Die Argumente, die 170 a ff. gegen die sensualistische Erkenntnistheorie vorgebracht werden, zielen sämtlich auf den Nachweis der Unmöglichkeit der vorgeblichen Irrtumslosigkeit jeglicher Meinung sowie der Unmöglichkeit der völligen Nivellierung hinsichtlich des Wissens unter den Menschen. Die Menschen glauben selbst, daß es σοφία u n d άμαθία bei ihnen gibt. Die σοφία halten sie f ü r άληθής διάνοια (170b). Apelt übersetzt diesen Ausdruck mit „wahrem Urteil", Cornford mit „thinking truly". I m Hinblick auf die Ausdrücke des Urteilens 170d: κρίσις, κριτής, κρίνειν scheint die Apeltsche Übersetzung nicht zu weit abzuliegen. Die άμαθία besteht nach Ansicht der Menschen in ψευδής δόξα (170b), die hier eindeutig als falsche Meinung zu verstehen ist. Bei der Umschreibung des δοξάζειν werden nämlich laufend die Verben ήγεϊσθαι, 1

P. Natorp, Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum, Berlin 1884, S. 18. Ähnlich H. Langerbeck, ΔΟΞΙΣ ΕΠΙΡΥΣΜΙΗ, Studien zu Demokrits Ethik und Erkenntnislehre ( = Neue Philolog. Unters. H. 10), Berlin 1935, S. 44ff. 2 A.a.O. S. 17. 3 Vgl. den folgenden Abschnitt sowie S. 47 ff.

44

D i e Natur der ΔΟΞΑ

οϊεσθαι, κρίνειν und die von ihnen abgeleiteten Substantiva gebraucht. Besonders deutlich ist dies 170d: άντιδοξάζοντες, ηγούμενοι ψευδή κρίνειν τε και οϊεσ&αι. 171a steht οϊησις synonym mit δόξα. 178d, e finden sich abwechselnd δοξάζει.ν, δοκείν und κρίσις, κριτής. Von αίσθ-ησις und αΐσθ-άνεσθ-αι ist keine Rede mehr. Der Charakter der δόξα ist jetzt eindeutig Urteilscharakter. Apelt übersetzt δόξα direkt mit „Urteil". Schleiermacher mit „Meinung" und „Vorstellung" (178c u. d). Piatons Verständnis des Begriffes δόξα a) Die Ansicht des Theaitelos (Theait.

184b—187a)

Im vorigen hat sich f ü r die δόξα u.a. die Bedeutung „Meinung" ergeben. Hinsichtlich der Aufgabe, die sich diese Arbeit gestellt hat, ist nunmehr zu fragen, wie Piaton das Meinen versteht. Die Untersuchung würde ihrem Ziel näherkommen, wenn sich in den Dialogen eine Theorie des δοξάζειν ermitteln ließe, sei dies nun als Meinen oder Vorstellen zu fassen. Theait. 184b ff. wird im Rahmen der Widerlegung der Bestimmung der έπιστήμη als αίσΟ-ησις eine von den Wahrnehmungen verschiedene Erkenntnisfunktion beschrieben, die 187a von Theaitetos als δοξάζειν bezeichnet wird. Die Erörterung beginnt 184 b mit einer Analyse der Wahrnehmung. Die Wahrnehmungen liegen nicht beziehungslos in uns nebeneinander, sondern beziehen sich auf die Einheit des Bewußtseins. Piaton drückt sich sehr vorsichtig aus ( 184d). Der einzige bestimmte Terminus ist ψυχή. Aber auch dieser wird nicht als der einzig angemessene betrachtet, um das auszudrücken, was wir am ehesten mit Bewußtsein umschreiben. Durch dieses Bewußtsein, das Piaton als ein identisches Etwas bezeichnet, das uns selbst angehört, 1 erfassen (έφικνεΐσθαι) wir mittels der Sinnesorgane die Farben, Töne u. dgl. Die Sinne sind nur die Organe eines von diesen verschiedenen, von Piaton im folgenden stets mit Seele bezeichneten Erkenntniszentrums in uns. Die Erkenntnis enthält nun Begriffe, derer die Seele nicht mittels sinnlicher Wahrnehmung teilhaftig werden kann. Dazu gehören das Sein, Identität und Diversität, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Zahlbestimmungen u. dgl. Bestimmungen hinsichtlich dieser Begriffe lassen sich von allen Wahrnehmungen treffen; denn diese Begriffe kommen allem Wahrgenommenen zu. Piaton bezeichnet sie deshalb als das bei allen Gemeinsame (το έπί πασι κοινόν 185 c). Derartige begriffliche Bestimmungen kann die Seele nach Piaton nicht mittels der Sinnesorgane treffen, weil jeder Sinn einen spezifischen Gegenstandsbereich hat und daher Bestimmungen, die beispielsweise f ü r die Wahrnehmung des Gesichtssinnes und des Gehörs gelten, weder mittels des einen noch des anderen 1

τινί ήμών αύτών τώ αύτώ Theait. 184d.

Piatons Verständnis des Begriffes δάξα

45

Sinnes getroffen werden können (cf. 185 a). Dieser Argumentation liegt die Ansicht zugrunde, daß verschiedene Sinneswahrnehmungen, beispielsweise Ton und Farbe, beiden gemeinsame Bestimmungen enthalten, die weder durch den Gesichtssinn noch den Gehörssinn erfaßt werden können. Inwieweit dies zutrifft, kann hier nicht erörtert werden. Auf die Frage des Sokrates, mittels welcher Organe derartige Bestimmungen getroffen werden, antwortet Theaitet 185d—e, daß es seiner Meinung nach dafür überhaupt kein besonderes Organ gebe wie für die Sinneswahrnehmungen, sondern die Seele selbst mittels ihrer selbst 1 das Gemeinsame bei allem betrachte 2. Diese Antwort findet das höchste Lob des Sokrates. Es wird noch einmal ausdrücklich festgestellt, daß die Seele τά μέν selbst durch sich selbst betrachte, τά δέ durch die Sinne des Körpers (185e). Wie ist nun das Verhältnis zwischen den gemeinsamen Begriffen und den Wahrnehmungen zu verstehen? Über die Richtung der Interpretation dieser Beziehung durch die Übersetzer gibt meistens schon die Übersetzung des τά μέν — τά δέ (185e) Aufechluß. τά μέν — τά δέ kann nämlich sowohl „das eine — das andere" heißen als auch „teils — teils". Apelt übersetzt „teils — teils" und interpretiert die gemeinsamen Begriffe als Kategorien im Sinne der Kantischen Philosophie (Übers, des Theait. S. 169fif. Anm. 47). Danach wäre es überhaupt nicht sinnvoll, von Wahrnehmungen zu reden, ohne daß man die gemeinsamen Begriffe gewissermaßen als deren Merkmale mehr oder weniger ausdrücklich mitdenkt; denn die Kategorien sind im Sinne Kants notwendige Bedingungen f ü r das Bewußtsein von etwas überhaupt. Durch die gemeinsamen Begriffe würde das sinnliche Erlebnis eines Tones oder einer Farbe überhaupt erst ermöglicht. Gegen diese Deutung wendet sich Cornford (a.a.O. S. 106 Anm. 2). „The common terms are not forms of thought, but objects of thought (νοητά), and they are separable from perception." Nach Cornford sind die gemeinsamen Begriffe in dem Sinne gemeinsam, wie ein Name einer Menge von einzelnen Dingen gemeinsam ist (a.a.O. S. 105). Er sieht in ihnen die Ideen und beruft sich auf Parm. 129d, wo von den Ideen der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Vielheit und Einheit u. dgl. die Rede ist. Der Text selbst bietet in der Piaton eigentümlichen, zwanglosen und terminologisch unverfestigten Umschreibung keine sicheren Anhaltspunkte f ü r die Richtigkeit einer der beiden Interpretationen. Die gemeinsamen Begriffe sind bei (έπί 185c) den Wahrnehmungen. Die 1

αύτή δι' αύτης ή ψυχή έπισκοπεΐν Theait. 185 e. Eine ähnliche Funktion hat bei Aristoteles der Gemeinsinn (κοινή αίσ&ησις), mit dem das wahrgenommen wird, was keinem der fünf Sinne eigentümlich zugehört (wie etwa der Schall dem Gehör), sondern allen gemeinsam ist, d.i. nach Aristoteles de an. 425a, 15f.: Bewegung, Ruhe, G«stalt, Größe, Anzahl, Einheit. 2

46

Die N a t u r der A O i A

Begriffe werden als solche erfaßt durch eine denkende Tätigkeit 1 der Seele, die sich auf die Wahrnehmungen bezieht. Die Art dieser Beziehung wird durch die Präposition περί c. gen. (185a. b, e) charakterisiert. 186d findet sich für diese mittels der Seele selbst vonstatten gehende geistige Tätigkeit der Ausdruck: ó περί εκείνων συλλογισμός, d.i. das Urteilen über die παθήματα, die sinnlichen Eindrücke. Aber auch diese Bestimmung gibt f ü r die Frage nach dem Verhältnis der gemeinsamen Begriffe zu den Wahrnehmungen nichts her; denn sowohl die kategorialen Bestimmungen der Dinge im Sinne Kants als auch die Ideen Piatons werden — allgemein gesprochen — durch die Urteilsfunktion erfaßt. Dennoch verdient Cornfords Interpretation den Vorzug, da zunächst grundsätzlich eine Interpretation vorzuziehen ist, die auf bekannte Elemente der platonischen Philosophie zurückgreift. Zum andern werden zu den gemeinsamen Begriffen 186 a auch das Schöne und Häßliche, Gute und Schlechte gerechnet. Der Versuch, das Schöne und Gute sowie deren Gegenteil als Kategorien zu interpretieren, dürfte eine recht gesuchte Interpretation ergeben, während die Bedeutung des Schönen und Guten f ü r die Ideenlehre auf der Hand liegt. Überdies erinnert die „Schwierigkeit" der άναλογίσματα (186c) an die langwierige und schwierige Ausbildung der Philosophen-Herrscher in der Dialektik in der Politela. Das Erkennen höherer Art, das mittels der Seele selbst vonstatten geht, wird von Piaton mit großer Ausdrucksfülle beschrieben. Es finden sich vorwiegend Ausdrücke des prüfenden Betrachtens und des Vergleichens und Urteilens 2 . Daneben wird διανοεΐσθαι gebraucht. Substantive verwendet Piaton nur zweimal, 186c άναλογίσματα und 186d συλλογισμός. Im συλλογισμός, im Urteilen über die sinnlichen Eindrücke, hegt die έπιστήμη, nicht aber in den Eindrücken selbst. Bezeichnenderweise wird nicht gesagt, daß dies Urteilen die έπιστήμη sei, sondern es wird bloß angedeutet, daß die έπιστήμη irgendwie unter dies Urteilen falle. Die Kürze und Unbestimmtheit des Ausdrucks, der die begriffliche Beziehung beschreibt, ist nicht mehr zu überbieten. Es heißt nämlich lediglich Ivi (186d). Die Begriffe συλλογισμός und άναλογίσματα sind nur vage Umschreibungen der geistigen Phänomene, unter denen man die επιστήμη zu suchen hat. Die Frage nach dem Wesen der έπιστήμη läuft damit hinaus auf die Frage nach dem Namen derjenigen Seelentätigkeit, die vorliegt, wenn sich die Seele selbst für sich selbst mit dem Seienden beschäftigt (187a). Dies ist nach der Ansicht des Theaitetos das δοξάζειν, das Meinen. 1

διανοεΐσθαι, έπισκέπτεσθαι, έπισκοπείν T h e a i t . 185a ff. έπισκέπτεσθαι, σκέπτεσθαι, έπισκοπεΐν, σκοπεΐσδαι u n d έπανιέναι, συ μ β άλλε ι. ν πρός άλληλα, κρίνειν, άναλογίζεσθαι vgl. T h e a i t . 185—186. 2

Piatons Verständnis des Begriffes δόξα

47

Stimmt die Ansicht des Theaitetos, k o m m t der δόξα eine sehr anspruchsvolle Bedeutung zu. Die Wahrnehmungssphäre und alles bloße Vorstellen liegt weit unter ihr. Gerade die schwierigste Art der Erkenntnis (vgl. 186c) wird als δοξάζειν bezeichnet. Das deutsche Wort „Mein e n " gibt den Bedeutungsgehalt, der hier f ü r die δόξα postuliert wird, nur unvollkommen wieder. Cornford übersetzt δοξάζειν an dieser Stelle mit „making judgments". Die erste Bestimmung der επιστήμη im Theaitet als αΐσθ-ησις ist damit überholt. Die επιστήμη ist nunmehr gleich δόξα, u n d zwar gleich άληθής δόξα, weil es ja auch eine ψευδής δόξα gibt (cf. 187 b). Da die Tatsache der ψευδής δόξα feststeht, wird zunächst nach der N a t u r der ψευδής δόξα gefragt, offenbar um durch deren Abgrenzung gegen die άληθής δόξα der N a t u r der letzteren auf die Spur zu kommen. Alle f ü n f Versuche, die im folgenden unternommen werden, um zu einer Erklärung des ψευδή δοξάζειν, d.i. zu einer Theorie des Irrtums, zu gelangen, schlagen jedoch fehl. Die zweite Bestimmimg des Theaitetos, daß die έπιστήμη gleich άληθής δόξα sei, wird vollends 201 a ff. direkt widerlegt. Auch der dritte Bestimmungsversuch der έπιστήμη als άληθής δόξα μετά λόγου (cf. 201c ff.) f ü h r t in Aporien. Dadurch, d a ß alle Versuche, die επιστήμη als δόξα zu verstehen, im Theaitet scheitern, entfällt die Berechtigung, die 184b ff. beschriebene Erkenntnisfunktion als δοξάζειν anzusprechen, wie das Theaitetos 187 a getan hatte. Die eingehenden Analysen jenes Abschnitts sind daher f ü r die N a t u r der έπιστήμη aufschlußreicher als f ü r die der δόξα. b) Erläuterungen der δόξα in den späten Dialogen Sucht m a n Aufschluß über die N a t u r der δόξα, wird man sich zunächst solchen Stellen in den Dialogen zuwenden, an denen gesagt wird, was u n t e r δόξα zu verstehen ist. Theait. 189e f. findet sich eine ausführliche Bestimmung dieses Begriffs. Sie wird zwar an dieser Stelle, was ihre Richtigkeit betrifft, nur mit Vorbehalt gegeben 1 , aber in anderen Dialogen 2 gibt es ganz ähnliche Ausführungen. Die Bestimmung der δόξα erhält im Theaitet noch besonderes Gewicht dadurch, daß an ihr ein Bestimmungsversuch der falschen Meinung scheitert ( 190 b ff. ). Ausgangspunkt f ü r die Erörterung der δόξα ist ganz allgemein das Denken (διανοεϊσθαι). Das Denken wird als ein Selbstgespräch der Seele verstanden, worin sich die Seele selbst fragt und antwortet, zus t i m m t u n d verneint. Wenn dieser Frage-Antwort-Prozeß hinsichtlich der zu untersuchenden Sache zu einer Entscheidung gediehen iat, ist die Seele im Besitz einer δόξα. Das δοξάζειν wird dementsprechend als ein Reden (λέγειν) bestimmt und die δόξα als eine schweigend sich selbst gegenüber geäußerte definitive Behauptung (λόγος είρημένος). 1 2

ώς γε μή είδώς σοι αποφαίνομαι Theait. 189 Θ. Z . B . Soph. 2 6 3 d ff., Phil. 3 8 b ff., Tim. 3 7 a ff.

48

Die Natur der ΔΟΞΑ

Diese Bestimmung liegt auch Theait. 206c ff. der ersten Erörterung des Wortes λόγος zugrunde, διάνοια (Gedanke) und δόξα werden synonym gebraucht. Ihr sprachlicher Ausdruck ist der λόγος. 208 c wird der λόγος als διανοίας έν φωνή ώσπερ είδωλον bestimmt. Im Sophistes (263d ff.) erfolgt nahezu dieselbe Bestimmung der δόξα wie im Theaitet. Da« lautlos vonstatten gehende Selbstgespräch der Seele -wird als διάνοια (Denken) bezeichnet. Insofern sich nun im Denken φάσις und άπόφασις (Bejahung und Verneinung) finden, spricht man von δόξα. Der Distinktion könnte folgender Gedanke zugrunde liegen: Wie es lange Reden gibt im Gegensatz zu dem kurzen aus Fragen und Antworten bestehenden διάλογος, so gibt es auch weitschweifige, ungezügelte Gedanken, denen der Frage-Antwort-Charakter abgeht. Dieser Charakter macht jedoch gerade die διάνοια zur δόξα. Die δόξα wird verstanden als διανοίας άποτελεύτησις, als Abschluß des Denkens (264b). διάνοια ist hier ein ganz allgameiner Ausdruck flu· die geistige Funktion der Seele 1 . Wenn der geistige Prozeß in der Seele zu einem festen Punkt gekommen ist, d.h. wenn die Seele, schneller oder langsamer verfahrend, etwas festgestellt hat (όρίσασα Theait. 190a) und nicht mehr zweifelt (vgl. Theait. 190a), befindet sie sich im Zustande des δοκεΐ μοι. In diesem Zustand wird zu einer Sache Stellung genommen. Insofern die Stellungnahme einen geistigen Prozeß, und zwar einen Urteilsprozeß voraussetzt, kann Piaton die δόξα als Abschluß des Denkens bezeichnen, das in der δόξα zu einem Ergebnis gekommen ist. Sprachlicher Ausdruck der διάνοια, bzw. der δόξα, ist auch im Sophistes der λόγος. Die angemessene Übersetzung f ü r δόξα dürfte auf Grund dieser Bestimmungen „Meinung" sein und nicht „Vorstellung", denn das deutsche Wort Vorstellung bezeichnet eigentlich nicht das Ergebnis eines Urteils 2 . Stellt sich die δόξα nicht f ü r sich bei jemandem ein, sondern δι' αίσθήσεως, mittels Wahrnehmung, spricht man von φαντασία (Soph. 264 a) 3 . φαντασία bedeutet den Zustand (πάθος) des „φαίνεται" (etwas erscheint mir, stellt sich mir dar als so und so beschaffen). Sie ist eine Mischung aus Wahrnehmung und Meinung und kann wie letztere auch falsch sein (264b). Apelt übersetzt „anschauliche Vorstellung". Dabei muß man sich jedoch vor Augen 1

διάνοια hat bei Piaton eine sehr reiche Bedeutungsskala. Das Wort begegnet — wie an dieser Stelle — als Ausdruck der geistigen Tätigkeit der Seele. Dann bedeutet es soviel wie διανοεϊσθαι ( = Denken). Es steht ferner im Sinne des Oedachten und bedeutet Gedanke (u.a. Theait. 208c). Weiterhin bezeichnet das Wort das Denk-Vermögen (u. a. Pol. 524d, 529d). Daneben hat das Wort noch eine Reihe anderer Bedeutungen, wie Geistesart, Gesinnung, Bewußtsein, Absicht u. dgl. Schleiermacher übersetzt es sogar mit ,.Seele" (cf. Phaid. 79a). Vgl. zu dem Wort Ast, a.a.O. Bd. I, S. 488ff. a So auch Apelt, Übersetzung des Theaitet, S. 173 Anm. 48. 3 δταν μή καθ' αυτό άλλά δι' αίσθήσεως παρη τινι Soph. 264 a. Vgl. dazu auch S. 40.

Piatons Verständnis dos Bogriffes δόξα

49

halten, daß diese „Vorstellung" nicht unmittelbar ist, sondern bereits reflektiven Charakter besitzt 1 . Was im Sophistes als φαντασία bezeichnet wurde, ist im Philebos (38b ff.) die δόξα. Ihre konstitutiven Elemente sind μνήμη und αϊσθησις. Der Gegenstand der δόξα wird mit dem Wort φαντάζεσθ-αι beschrieben 2 . Der definitive Charakter der δόξα (vgl. Sophistes 264 b) hat letztlich seinen Grund im menschlichen Streben nach Klarheit 3 . Der seelische Prozeß (διανοεισθαι 38e), der zur δόξα führt, wird wiederum als Selbstgespräch verstanden. Sprachlicher Ausdruck der δόξα ist der λόγος. F ü r die Wahrheit, bzw. Falschheit der δόξαι und λόγοι wird kein Kriterium angegeben. Piaton läßt Sokrates 39a lediglich an Hand eines Bildes deren Zustandekommen verdeutlichen. Die Seele gleicht einem Buch. „Die mit den Sinneswahrnehmungen sich verschmelzende Erinnerung" 4 sowie die seelischen Vorgänge (παθήματα), die sich bei diesem Prozeß abspielen, schreiben gleichsam Reden in die Seele. Wahre Meinungen und Reden entstehen, wenn dieser Schreiber Wahres schreibt, falsche, wenn er Falsches schreibt. Jedoch nicht nur Meinungen, sondern auch Bilder 5 finden sich in der Seele. Diese sind nun keineswegs reine Phantasievorstellungen wie etwa Wahn- und Traumbilder 6 , sondern ihnen liegen Meinungen und Reden zugrunde 7 . Piaton charakterisiert sie folgendermaßen (39b, c): Wann immer, nachdem jemand vom Gesichtssinn oder irgendeinem anderen Sinn das, was damals gemeint und gesagt wurde, abgezogen hat, nun das Bild des Gemeinten und Gesagten irgendwie in sich selbst sieht (handelt es sich um gemalte φαντάσματα in der Seele). Der Sinn dieser Stelle wird klarer, wenn man sich das Beispiel vor Augen hält, das Platon 38 c—d zur Illustration der δόξα angeführt hat. Jemand sieht einen Gegenstand unter einem Baum, ein φανταζόμενον, etwas, das sich als etwas darstellt. Er fragt sich : Ist es 1 Theait. 195 c, d ist im Zuge der Erörterungen, die sich an den Erklärungsversuch der falschen Meinung mittels des Gleichnisses von der Wachstafel anschließen, davon die Rede, daß die falsche Meinung nach den vorangehenden Ausführungen nicht in den Wahrnehmungen untereinander noch in den Gedanken, sondern in der Verbindung beider liege (έν τη συνάψει αίσθήσεως πρός διάνοιαν). Diese Erklärung des Irrtums ist jedoch — wie im folgenden gezeigt wird — nicht hinreichend, da sie z. B. den Irrtum beim Rechnen nicht zu erklären vermag. Vgl. ferner Theait. 161d und 179 c sowie die Ausführungen dazu S. 39 ff. 2 Vgl. Phil. 38d φανταζόμενον, φαντασθέντα, das, was sich sehen läßt, was erscheint. 3 Vgl. Phil. 38c βούλεσθαι κρίνειν. * ή μνήμη ταϊς αίσ&ήσεσι συμπίπτουσα εις ταύτόν Phil. 39a. Die Übersetzung folgt Apelt. 5 εικόνες Phil. 39b, ζωγραφήματα Phil. 39d, φαντάσματα έζωγραφημένα Phil. 40a. 6 Vgl. Theait. 157 e ff. und die Ausführungen zu der Stelle S. 37 ff. 7 Der durchgehende Parallelismus von Meinungen und Reden in diesem Abschnitt hat nichts weiter zu bedeuten. Die Meinung ist per definitionem (cf. 38e) lediglich die lautlose Form der Rede.

4

8001

Sprute, DOXA

50

Die Natur der ΔΟΞΑ

ein Mensch oder ein Bildnis, von Hirten aufgestellt, (etwa ein Götterbild oder eine Vogelscheuche)? Eine Zeitlang neigt er bald zu dieser, bald zu jener Antwort, bis er zu dem Urteil kommt : Der Gegenstand unter dem Baum ist ein Mensch. Dies ist nunmehr seine δόξα, — das, was ihm δοκεϊ —, der Form nach eine definitive Rede, eine den Prozeß des Denkens (διανοεΐσθαι) abschließende Behauptung. Der Mensch, der solches meint, hat diese Meinung auch unabhängig von der sinnlichen Wahrnehmung des Gegenstandes, auf den sich seine Meinung bezieht. E r kann die Meinung noch lange Zeit nach dem sinnlichen Eindruck haben, wenn er sich bereits an die Umstände nicht mehr zu erinnern vermag, z.B. ob der Baum eine Buche oder eine Eiche, der Mensch jung oder alt war usw. Er kann sich aber auch im Gegenteil sehr genau an die Umstände erinnern. Es ist möglich, daß ihm noch Jahre nach dem sinnlichen Eindruck, das ganze Bild plastisch vor Augen steht, ja es kann ihm seine Phantasie im Laufe der Zeit das Bild im Sinne der damals gefaßten Meinung sogar noch stärker ausgemalt haben, so daß er später ganz sicher einen Menschen unter dem Baum gesehen zu haben meint, obwohl der damalige Eindruck keineswegs so eindeutig war. Solcher Art sind die gemalten εικόνες in der Seele, von denen Sokrates spricht. Daß diesen Vorstellungen jeweils Meinungen oder Reden zugrunde liegen, macht es verständlich, inwiefern sie als richtig und falsch bezeichnet werden können. Ist die Meinung falsch, so ist auch das wesentlich durch die einmal gefaßte Meinung mitgeprägte Erinnerungsbild des Gegenstandes falsch, auf den sich die Meinung bezog. Läge diese Beziehung zwischen Meinung und bildhafter Vorstellung hier nicht vor, dürfte von richtigen und falschen Bildern nicht gesprochen werden, denn weder sinnliche Eindrücke noch reine Phantasievorstellungen können wie Meinungen richtig oder falsch sein. Die Meinungen können sich nicht nur auf gegenwärtige und vergangene Gegenstände richten, sondern auch auf zukünftige (vgl. Phil. 40c). Für den letzteren Fall wird im Philebos kein Beispiel gegeben, wohl aber im Theaitet (178c ff.), wo die Unsicherheit der Meinungen, die sich auf zukünftige Gegenstände beziehen, als Argument gegen die sensualistische Erkenntnistheorie des Protagoras dient. Dabei dürfte es schwer fallen, die Meinung betreffs eines zukünftigen Gegenstandes, in ihrem Charakter als Meinung, von der αίσθησις und μνήμη als konstitutiven Elementen her zu verstehen. Denn — um bei einem Beispiel aus dem Theaitet zu bleiben (178c) — wenn ein Arzt meint, daß ein bestimmter Kranker Fieber bekommen werde, hat der Arzt zu seiner Meinungsbildung durchaus nicht unbedingt die Wahrnehmung des betreffenden Kranken nötig. Er kann beispielsweise zu dem Urteil kommen auf Grund der Mitteilung von Symptomen, die ihm ein anderer macht. Im Sophistes wurde, wie gezeigt (S. 48), die Unabhängigkeit der δόξα von der Wahrnehmung beachtet. Auch im Theaitet

Piatons Verständnis des Begriffes δόξα

51

(besonders 195eff.) findet sich die Auffassung, daß es eine δόξα gibt, die mit W a h r n e h m u n g nichts zu t u n hat. Ungleich wichtiger als die Wahrnehmung ist das zweite der im Philebos angegebenen konstitutiven Elemente der δόξα. μνήμη (Gedächtnis) ist eine notwendige Bedingung jeglichen Meinens. Nur wenn derjenige, der meint, der Gegenstand unter dem Baum sei ein Mensch, weiß — d . h . sich im rechten Augenblick erinnert —, welche Merkmale einem Menschen u n d welche Merkmale einer Vogelscheuche zukommen, ist er zu seiner Meinung überhaupt imstande; denn alles Meinen und Erkennen, gleich welcher Art, ist letztlich ein Unterordnen von Sachen, deren Bekanntschaft ich mache, unter Begriffe, die mir zur Zeit des Meinens oder Erkennens jeweils schon bekannt sind. Welche Bedeutung Piaton der μνήμη im Bereich des Erkenntnisprozesses f ü r die έπιστήμη beimaß, geht, wie mir scheint, wenn auch nur indirekt, aus seiner Theorie der άνάμνησις hervor; f ü r die δόξα wird dieselbe Bedeutung ersichtlich aus der wichtigen Rolle, welche die μνήμη in den beiden letzten Bestimmungsversuchen der falschen Meinung im Theaitet spielt 1 . Als auffälliges Merkmal begegnete bei den Bestimmungen der δόξα in allen bisher herangezogenen Dialogen immer wieder der Gesprächscharakter des Denkens, bzw. Meinens. Diesen Charakter besitzt die geistige Funktion der Seele auch in den Ausführungen, die im Timaios (37a ff.) zu diesem T h e m a gemacht werden. Die Weltseele ist vernünftiger Überlegung (λογισμός 36 e) teilhaftig. Dies äußert sich darin, daß sie, wann immer sie mit etwas in Berührung tritt, sei dies nun teilbarer oder unteilbarer, d. i. ideeller Natur, sagt (λέγει), wie es mit diesem steht hinsichtlich I d e n t i t ä t u n d anderer Bestimmungen gegenüber anderem aus der gleichen Sphäre (κατά τά γιγνόμενά τε και προς τά κατά ταύτα έχοντα άεί cf. 37b) a . Die Seele fällt mithin Urteile über das Seiende, dessen Bekanntschaft sie macht. Daa Sprechen der Seele, das als Selbstgespräch verstanden werden muß, geht, wie in den andern Dialogen so auch hier, lautlos vonstatten®. Tritt die Seele mit Wahrnehmbarem (αΐσθητόν) als Gegenstand ihrer Denkakte in Berührung, entstehen in ihr vertrauenswürdige Meinungen (δόξαι και πίστεις), die Anspruch auf Zuverlässigkeit und Wahrheit machen können, wenn aber mit dem, was durch die Vernunft erfaßbar ist (λογιστικόν) 4 , einsichtsvolles Wissen (νους έπιστήμη τε). 1

191cff. Gleichnis von der Wachßtafel ; 196dff. Gleichnis vom Taubenschlag. Der schwierige Satz ist hier nicht in wörtlicher Übersetzung wiedergegeben, sondern paraphrasiert. Vgl. dazu Taylor, A Commentary on Plato 's Timaeus, S. 17 7. 3 Vgl. Tim. 37 b λόγος δέ άνευ φθόγγου καΐ ήχής. 4 Proklos erklärt in seinem Kommentar zum Timaios λογιστικόν = τό τω λογισμω της ψυχής περιληπτόν (ed. Ε. Diehl, Leipzig 1903ÊF., Bd. II., S. 312, 20/21). Gewöhnlich bezeichnet das Wort bei Piaton einen Seelenteil (u.a. Politela 439 d). 4· 2

52

Die Natur der ΔΟΞΑ

Aus den Bestimmungen der δόξα, die bisher behandelt wurden, ergibt sich f ü r die δόξα folgendes: Die δόξα ist das Ergebnis eines spezifisch geistigen Aktes, dieser Akt selbst scheint das δοξάζειν zu sein (cf. Theait. 189e f.). Es gab überhaupt nur eine geistige Funktion der Seele, die mit den verschiedensten Ausdrücken umschrieben wurde 1 . Als besonderes Charakteristikum des Denkens begegnete immer wieder sein Gespfächscharakter. Denken wird als Gespräch verstanden. Ein Gespräch besteht f ü r Piaton aus Fragen und Antworten, Bejahung und Verneinung. Dabei schwebt ihm offensichtlich der sokratische Dialogos vor. Die Art, wie in einem derartigen Gespräch Stellung genommen wird zu einer Sache, Entscheidungen gefällt werden, eignet sich besonders gut, um zu veranschaulichen, worin eigentlich das Urteilen besteht. Urteilscharakter bedeutet deshalb Gesprächscharakter f ü r die δόξα. Die der Seele eigentümliche geistige Funktion ist wesentlich das Urteilen 2 . Aus der weitgehenden Übereinstimmung der behandelten Dialogstellen, besonders was den Urteilscharakter der δόξα angeht, läßt sich entnehmen, daß Piaton mindestens in seiner Spätphilosophie einen bestimmten Begriff der δόξα gehabt h a t 3 . Als konstitutive Elemente der δόξα ergaben sich außer dem Urteilen noch Wahrnehmung u n d Gedächtnis (μνήμη). Daß das Eingedenk-Sein als Schon-Bekannt-Sein mit dem, als was etwas beurteilt wird, eine notwendige Bedingung des Urteils ausmacht — wiewohl Piaton dies nicht an jeder Stelle b e t o n t — , ist schon gesagt worden, μνήμη gehört mithin zum Charakter der δόξα, wenn anders die δόξα überhaupt als Meinung, d.i. Urteil, verstanden wird. Anders liegt es mit dem dritten angegebenen konstitutiven Element, der Wahrnehmung. Hinsichtlich des Verhältnisses von Wahrnehmung und Meinung gab es denn auch Schwankungen in den jeweiligen Ausführungen zur δόξα. Es handelt sich dabei um die Frage, ob es eine δόξα gibt, deren Gegenstand nicht in sinnlichen Eindrücken besteht. An der Tatsache eines Meinens, das sich nicht auf Wahrgenommenes bezieht, am Rechnen, scheitert im Theaitet (195eff.) ein Bestimmungsversuch der falschen Meinung. Vorher u . a . 167c, 178c ff. gab es schon andere nicht sinnlich erfaßbare Gegenstände, auf die sich die Meinungen bezogen, beispielsweise das Gute und Gierechte, sowie zukünftige Ereignisse 4 . Bei der Bestimmung der δόξα Theait. 189e f. wird die αΐσθησις übergangen. Als einziges strukturelles Merkmal der δόξα wird ihr Gesprächscharakter a n g e f ü h r t . Eine klare Distinktion zwischen einer von sinnlicher Wahrnehmung 1 Vgl. besonders Theait. 185 äff. und die Ausführungen zu diesem Abschnitt S. 46. 2 Vgl. oben S. 46. 3 Das bedeutet natürlich nicht, daß Piaton das Wort δόξα immer im Sinne dieses Begriffes gebraucht. Vgl. die Ausführungen zum ersten Teil des Theaitet S. 36 ff. 1 Charm. 158e f. ist von einer δόξα die Rede, die sich auf Grund von innerer Wahrnehmung bei jemandem einstellt.

Die falsche Meinung und das Problem des Nicht-Seins

53

unabhängigen δόξα einerseits und der φαντασία andererseits fand sich nur im Sophistes, wohingegen im Philebos die δόξα schlechthin an Wahrnehmung gebunden zu sein scheint. Die Nachlässigkeit in diesen Distinktionen könnte an einem mangelnden Interesse Piatons an einer genauen Analyse des Verhältnisses von αίσθησις und δόξα liegen. Es gibt keine Stelle bei Piaton, wo αΐσθησις und δόξα u m ihrer selbst willen behandelt werden. I m Philebos beispielsweise stehen die Ausführungen zur δόξα im Horizont der Frage nach der wahren und unwahren Lust. Da es dort nur um die Wahrheit, bzw. Unwahrheit der Meinung und Lust geht, spielt die Scheidung zwischen δόξα und φαντασία keine Rolle. Die falsche Meinung und das Problem des Nicht-Seins Die jeweiligen Bestimmungen der δόξα haben zwar den Urteilscharakter der δόξα ganz deutlich werden lassen, aber ein Kriterium f ü r die Richtigkeit oder Falschheit des Urteils ist bisher an den behandelten Stellen nirgends aufgewiesen worden ; anders ausgedrückt : mit der Bestimmung der Meinung ist keineswegs schon die falsche Meinung mitbestimmt. Solange sich jedoch nicht sagen läßt, was eigentlich falsch an der falschen Meinung ist, bleibt auch unklar, worin die Wahrheit der wahren Meinung besteht, es sei denn, man leugnet die Möglichkeit des I r r t u m s überhaupt, womit sich der erste Teil des Theaitet ja eingehend auseinandergesetzt h a t . Die falsche Meinimg bildete das Thema der Erörterungen des zweiten Teiles des Theaitet. Das eigentliche Ziel der Untersuchung bestand dabei in einer Bestimmung der wahren Meinung, der man durch die Bestimmung der falschen Meinung näherzukommen suchte. Die Erklärungsversuche im Theaitet schlugen jedoch sämtlich fehl. Eine — wenn auch nur in gewissem Sinne — ergebnisreichere Erörterung der falschen Meinung findet sich im Sophistes. Dort stößt die Bestimmung der Sophistik als φανταστική (scheinbildende Kunst) auf das Problem des ψευδή λέγειν und δοξάζειν (cf. 239d ff.). Falsches Meinen heißt dasjenige meinen, was nicht ist (τά μή δντα δοξάζειν Soph. 240d) l . Theaitet 188d fif., wo das μή 6v im Sinne des Parmenides als schlechthin Nicht-Seiendes (τό μηδαμώς 6v Soph. 237 b) verstanden worden war, h a t t e sich gezeigt, daß der Meinende, ob er nun Richtiges oder Falsches meint, in jedem Falle ein Etwas (εν γέ τι Theait. 189 a) meint, έν γέ τι ist jedoch 6v τι (189a) 2 . Wer schlechthin Nicht-Seiendes meint, meint 1 Diese Bestimmung findet sich auch sonst bei Piaton, u.a. Theait. 188d, Krat. 429d, Euthyd. 283e ff. 2 Der Betonung des Zahlbegriffes (Theait. 188c f.) in diesem Zusammenhang liegt sicher eine bestimmte Absicht zugrunde. Wenn überhaupt etwas als Seiendes betreichtet werden kann, dann auf jeden Fall auch die Zahlen, ist Piatons Meinung. Vgl. dazu auch Soph. 238 a, b, wo diese Überzeugung ebenfalls deutlich hervortritt. — Vgl. in diesem Zusammenhang noch Pol. 478b.

Die Natur der ΔΟΞΑ

54

überhaupt nicht (cf. 189a). Denn jedes geistige Verhalten, auch das Meinen, ist intentional. Fehlt das intendierte Objekt, kann von einem Verhalten, zu dessen formalem Charakter es gehört, Verhalten zu etwas zu sein, keine Rede sein. Andererseits konstatiert die falsche Meinung offensichtlich einen Sachverhalt, der nicht besteht. Wenn ich meine, das Krokodil sei ein Säugetier, so ist diese Meinung falsch. Die Falschheit der Meinung liegt darin, daß dasjenige, was die Meinung besagt, nicht vorkommt, nicht ist. Ein Krokodil, das seine Jungen säugt, gibt es nicht. Mithin ist eine Meinung falsche Meinung (ψευδής δόξα), wenn τάναντία τοις οδσι δοξάζουσα (Soph. 240d). Nichts als dies besagt die sprachliche Formel τά μή οντά δοξάζει,ν. Auf Grund dieses Charakters der falschen Meinung ergibt sich f ü r den Seinsbegriff eine gewisse Doppelbödigkeit. Der nicht bestehende Sachverhalt (das Krokodil ist ein Säugetier) ist das intendierte Objekt der falschen Meinung, und in diesem Sinne ist er, genau wie jedes andere Objekt, auf das sich ein geistiges Verhalten richten kann. Als Sachverhalt ist er jedoch auch wieder nicht ; denn er besteht ja nicht, da es säugende Krokodile nicht gibt. Die Bestimmung der falschen Meinung als τά μή δντα δοξάζειν schließt mithin die Voraussetzung ein, daß das Nicht-Seiende ist (το μή δν είναι Soph. 237 a). Eine andere Möglichkeit sich den Irrtum zu erklären, gibt es für Piaton nicht (cf. 237 a). Eine Untersuchung der falschen Meinung hätte also die Frage zu beantworten, inwiefern das Nicht-Seiende sein kann. Dabei ist eine Auseinandersetzung mit dem Satz des Parmenides 2 unumgänglich (cf. 241 d). Parmenides selbst gerät in Widersprüche, wenn er vom Nicht-Seienden redet, obwohl das schlechterdings Nicht-Seiende undenkbar und unaussprechbar ist (cf. 238c). Ein Ausweg aus der Aporie ist nur möglich durch eine Modifikation des parmenideischen Seinsbegriffes. Am Anfang der langen „gefährlichen" Untersuchung (παρακινδυνευτικός λόγος 242b) erfolgt eine eingehende Prüfung des Seinsverständnisses der früheren Philosophen (242 c ff.). Diese Prüfung f ü h r t jedoch keineswegs zur Klarheit, sondern als Resultat ergibt sich, daß man nun hinsichtlich des Begriffes des Seienden in einer noch größeren Aporie steckt als vorher hinsichtlich des Begriffes des Nichtseienden (cf. 250e). Als Hauptschwierigkeit tauchte immer wieder das Problem auf, wie es möglich sei, von gegensätzlichen Begriffen dasselbe Prädikat zu prädizieren, z.B. das Sein sowohl vom Nicht-Seienden als vom Seienden, sowohl von der Ruhe als von der Bewegung (cf. 250a ff.). Diese Frage f ü h r t zur ausführlichen Erörterung der κοινωνία . . . . των γενών (254b, c; 257a), der Gemeinschaft der Ideen2. 1

Diels-Kranz, Parm. Β 7, 1—2; cf. Soph. 237 a. ' γένος, είδος und Ιδέα werden in dem folgenden Abschnitt synonym gebraucht. Vgl. u.a. 253b, 253d, 254a, b, 255d, e. Das am häufigsten vorkommende Wort

Die falsche Meinung und das Problem des Nicht-Seins

55

Dabei handelt es sich nur um das Verhältnis der Ideen zueinander, nicht u m das Verhältnis der konkreten Einzeldinge zu den Ideen. Die Beziehung der Ideen untereinander darf nicht verwechselt werden mit der logischen Beziehung von Subjekt und P r ä d i k a t ; denn die Untersuchung dreht sich nicht um formallogische Probleme, wie manche I n t e r p r e t e n 1 glauben, sondern um die ontologische S t r u k t u r des Seienden. In der Erörterung der Gemeinschaft der Ideen geht es nämlich jeweils u m bestimmte inhaltlich fixierte Sätze, deren Wahrheit oder Unwahrheit mittels der διαλεκτική έπιστήμη (253d) eingesehen wird. Die Dialektik beschäftigt sich mit bestimmten Urteilen über die Vereinbarkeit u n d Unvereinbarkeit bestimmter γένη. I n den dialektisch richtigen Urteilen spiegelt sich die Ordnung und das Gefüge der ewig und unveränderlich seienden Ideenwelt®. I m Hinblick auf die Fragestellung nach dem Nicht-Seienden wird die N a t u r dreier der bedeutendsten (των μεγίστων λεγομένων 254c) Genera 3 untersucht, die das gesamte Ideenreich durchziehen: Sein (ov), I d e n t i t ä t (ταύτόν) und Diversität (έτερον). Diese werden verdeutlicht an den Genera R u h e und Bewegung. Jedes Genos ist mit sich selbst identisch (cf. 254d). Es ist das, was es ist. Die Beständigkeit u n d Unverwechselbarkeit seines Wesens macht seine I d e n t i t ä t aus. Ineins d a m i t ist es aber verschieden von allen übrigen Genera ; I d e n t i t ä t u n d Diversität koinzidieren. Von Identität und Diversität k a n n jedoch n u r die Rede sein hinsichtlich dessen, was überhaupt ist. Sein, I d e n t i t ä t u n d Diversität gehören zur ontologischen Struktur des Seienden schlechthin. ist γένος. Bei der Interpretation ist dieser Terminus oft wörtlich ins Deutsche übernommen worden und von „Genos" bzw. „Genera" die Rede, weil das Verhältnis des ganzen Abschnitts zur Ideenlehre umstritten ist. Auf eine ausführlichere Erörterung dieses Problems muß hier verzichtet werden. Meine Stellung zu dieser Frage wird jedoch in der folgenden Interpretation deutlich. I m übrigen vgl. Cornford, Plato's Theory of Knowledge, S. 252fF. und Ross, Plato's Theory of Ideas, S. 104fif. 1 U.a. Taylor: Plato, The Man and his Work, S. 387; Apelt: Piaton. Aufsätze, S. 271, Anm. 1, ferner die Einleitung zur Übers, des Sophistes. 2 Vgl. zum Vorhergehenden Cornford, a.a.O. S. 262ff. „κοινωνία" interpretiert Cornford als „compatibility" (Vereinbarkeit). Das Genos „Sein" ist beispielsweise vereinbar mit „Bewegung" und „Ruhe", da sowohl Ruhe als auch Bewegung ist, wohingegen die Genera „Ruhe" und „Bewegung" imvereinbar miteinander sind. Die Dialektik ist die Wissenschaft von den wechselseitigen Beziehungen der Ideen im Ideenreich. 3 Cornford (a.a.O. S. 273ff.) wendet sich gegen die Mißdeutung der fünf Genera: Sein, Identität, Diversität, Ruhe und Bewegung als „Platonische Kategorien". Trotz der Einwände von Roes, Plato's Theory of Ideas, S. 113, Anm. 6, hat man wohl die Genera : Sein, Ruhe und Bewegung, die als μέγιστα μήν των γενών, & νυνδή διημεν (254d) charakterisiert werden, auf Grund der Cornfordschen Argumentation (a.a.O. S. 273f., Anm. 2) nicht als „die bedeutendsten Genera", sondern als „einige der bedeutendsten Genera" aufzufassen.

56

Die Natur der ΔΟΞΑ

Indem ein Genos identisch mit sich selbst ist, ist es zugleich nicht identisch mit allen anderen, d.h. verschieden von allen anderen Genera. Die Bewegung beispielsweise (cf. 256d) ist verschieden vom Sein. Sie ist etwas, das nicht das Sein ist (ούκ δν). Nichtsdestoweniger ist sie jedoch etwas, das ist (ov), da sie am Sein teilhat (του δντος μετέχει). Ein jedes Genos ist nun in zahllosen, unübersehbaren Beziehungen etwas, das nicht ist (ούκ δν), nämlich in so vielen Beziehungen ist es ούκ ov, als es andere δντα. gibt, die jenes Genos nicht sein kann, da es mit ihnen nicht identisch ist (cf. 257 a). Das μή ov (das, was nicht ist) 1 bedeutet nun nicht mehr εναντίον τι . . . . του δντος (257b), das Gegenteil dessen, was überhaupt ist, d.h. das Nicht-Seiende schlechthin im Sinne des Parmenides (an anderer Stelle [237b], auch το μηδαμώς ov genannt), sondern nur ετερον, etwas, das verschieden ist (cf. 257 b). Und zwar bedeutet το μή δν = έτερον alles andere Seiende mit Ausnahme desjenigen Seienden, von dem es verschieden ist. Das Nicht-Schöne z.B. meint die Gesamtheit dessen, was nicht schön ist, d.h. alles andere außer dem Schönen. Wenn το μή δν als das Nicht-so-und-so-Bestimmte verstanden wird, steht es hinsichtlich seines Seins (ούσία) hinter keinem bestimmten Seienden zurück (cf. 258b). Der parmenideische Begriff des Nicht-Seienden schlechthin (το μηδαμώς δν) ist damit relativiert zum Begriff des Anders-Seienden. Auf Grund dieser Bestimmung ist es möglich το μή δν zu meinen und auszusprechen, ohne sich in Aporien zu verwickeln. Wenn ich μή δν meine, meine ich nicht mehr Nicht-Seiendes, sondern Anders-Seiendes. Hiermit scheint das Problem der falschen Meinung gelöst zu seil) ; denn das falsche Meinen war ja bestimmt worden als τά μή οντά δοξάζειν (240d). Die neugewonnene Bestimmung des falschen Meinens als Meinen des Anders-Seienden wird 263a ff. illustriert durch das Beispiel: Theaitetos fliegt. Dies ist offensichtlich eine falsche Behauptung im Gegensatz zu der den Sachverhalt treffenden Behauptung : Theaitetos sitzt. Die falsche Behauptung (λόγος) „Theaitetos fliegt" sagt das aus (λέγει), was den Theaitetos betreffend nicht ist, als ob es den Theaitetos betreffend wäre, d.h. sie sagt Verschiedenes aus von dem, was den Theaitetos betreffend ist (cf. 263b). Nichtsdestoweniger ist dies Verschiedene jedoch Seiendes (δντα ετερα 263b). Das Sein 2 des Genos „Fliegen" unterscheidet sich nämlich in nichts von dem Sein des Genos 1

Ν. Hartmann glaubt zwischen μή δν und ούκ δν bei Platon einen wichtigen Unterschied feststellen zu können. Die einfach konstatierende Negation ούκ könne auch nur die einfache, direkte Aufhebung desjenigen Begriffs bedeuten, den sie negiert, die beziehende μή dagegen die positive Setzung des „anderen". Das μή δν sei in seinem Begriffe so verschoben, daß es ganz den Sinn des Setzenden und nicht des Aufhebenden erhalten habe. Vgl. Piatos Logik des Seins, Gießen 1909, S. 146ff. 2 Im Sinne von Dasein, Existenz.

Die Problematik der wahren Meinung

57

„Sitzen". Sowohl wenn ich „Fliegen" sage, als auch wenn ich „Sitzen" sage, nenne ich ein Genos und damit etwas, das ist. Nur dadurch, daß Piaton im Sophistes die Ideenlehre zur Erklärung des I r r t u m s heranzieht 1 , gelingt es ihm zu zeigen, wie eine falsche Meinung möglich ist. Hierin liegt wohl auch letztlich der Grund, warum die Bestimmungsversuche der falschen Meinung im Theaitet alle fehlschlugen. Die falsche Meinung besteht nunmehr in einer dem bestehenden Sachverhalt widersprechenden Zuordnung eines Genos zur Sache, die sich verhält. Diese Bestimmung wirft jedoch einige Fragen auf. 263c wird gesagt, daß sich eine Behauptung auf etwas beziehen müsse. Sie m u ß τινός sein. Eine Behauptung, die sich auf nichts bezieht, ist keine Behauptung. Das Seiende, von dem nun im Sophistes etwas b e h a u p t e t wurde, waren entweder Genera oder konkret Seiendes, z . B . Theaitet. Zu fragen wäre dabei, ob auch von fiktiven Gegenständen nach dieser Bestimmung etwas behauptet werden kann. K a n n m a n beispielsweise etwas Richtiges oder Falsches über das Schlaraffenland behaupten? Ist das Schlaraffenland ein τί, ist es auch ein ov (cf. 237 d). D a es kein Schlaraffenland auf der Welt gibt, m u ß das Schlaraffenland entweder ein Genos sein oder eine Art des Seienden, die bisher noch nicht erörtert wurde. Man ist versucht, dabei an das Sein des είδωλον zu denken. 240 a ff. wird das εϊδωλον jedoch mit dem άληθινόν in Verbindung gebracht. Das εϊδωλον ist eine Art Abbild (άφωμοιωμένον, είκών) des Wahren, was f ü r das Schlaraffenland nicht zutrifft. Obwohl (cf. 239d) darauf hingewiesen wird, wie notwendig eine Bestimmung des είδωλον ist, bleibt sein Seinscharakter im Sophistes unklar. Es wird lediglich gesagt, d a ß das είδωλον irgendwie ist (εστι γε μήν πως 240b). Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich bei einer gewissen A r t von Prädikaten in falschen Behauptungen. Wenn ich die B e h a u p t u n g aufstelle: Theaitetos zaubert, (obwohl er in Wirklichkeit gerade frühstückt), ist das, wie mich der Augenschein lehrt, offensichtlich eine falsche Behauptung. Nach der Bestimmung des falschen Meinens als Meinen des Anders-Seienden, m ü ß t e es dann ein Genos „ Z a u b e r n " geben. Es m u ß hier dahingestellt bleiben, ob dies mit der Ideenlehre vereinbar ist oder nicht. Die Problematik der wahren Meinung Mit der neugewonnenen Bestimmung der falschen Meinung als Meinen des Anders-Seienden ist nur ein geringer Teil der Problematik der δόξα aufgehellt worden. Die Tatsache der falschen Meinung stand 1 Durch die Erörterung der κοινωνία των γενών Soph. 251ff. Vgl. dazu auch S. 54 Aiim. 2 und S. 107 Anm. 3.

58

Die Natur der ΔΟΞΑ

bereits im Theaitet fest 1 . Ihre Erklärungsversuche scheiterten jedoch. Im Sophistes wird ihre Möglichkeit auf dem Hintergrund der philosophischen Konzeption Piatons dargetan, was im Theaitet nicht gelang, da Piaton dort nur mit fremden Theoremen arbeitete. Mit dem bloßen Nachweis der Möglichkeit der richtigen und falschen Meinung ist jedoch noch kein Kriterium gegeben f ü r die Richtigkeit, bzw. Falschheit der Meinung. Ein solches Kriterium ist jedoch das wichtigste Problem, das die δόξα stellt hinsichtlich ihrer Abgrenzung gegen die έπιστήμη. Platon scheint im Sophistes absichtlich f ü r die falsche Meinung ein solches Beispiel gewählt zu haben, bei dem die Frage nach dem Wahrheitskriterium der Meinung überhaupt nicht auftaucht. Die Falschheit der Behauptung „Theaitetos fliegt" ist angesichts des sitzenden Theaitetos gewissermaßen augenfällig. Fragt man nach einem Kriterium dafür, kann man nur auf die sinnliche Wahrnehmung verweisen. Eigentlich ist im vorliegenden Fall die Feststellung „Theaitetos sitzt" überhaupt weniger eine Meinung, wie sie als Abschluß des lautlosen Zwiegespräches der Seele uns sonst begegnet ist, sondern eher die Konstatierung eines sinnlichen Eindrucks. Davon kann jedoch hier abgesehen werden; denn wenn ich, aus welchen Gründen auch immer, der falschen Meinung bin: Theaitetos fliegt, so bildet nichts als die sinnliche Wahrnehmung des sitzenden Theaitetos das Korrektiv dieser meiner falschen Meinung 2 . Sinnliche Wahrnehmung ist also in diesem Falle ein vielleicht nicht allein ausreichendes, aber immerhin notwendiges Mittel zum Erfassen der Wahrheit des bestehenden Sachverhaltes. Die Wahrheit war aber auch das Ziel des Erkennens. Erkenntnis (έπιστήμη) hatte jedoch, wie der erste Teil des Theaitet gezeigt hat, mit Wahrnehmung überhaupt nichts zu tun 3 . Es drängt sich die Frage auf, ob die Wahrheit einer Meinung identisch ist mit der Wahrheit einer Erkenntnis 4 . Ist man geneigt, auf Grund des Beispiels im Sophistes an der sinnlichen Wahrnehmung als Prüfstein f ü r die Wahrheit der Meinung festzuhalten, muß man sich vergegenwärtigen, daß die Wahrnehmung auch Anlaß zu falscher Meinungsbildung bietet, wie das Beispiel im Philebos zeigte 5 . Dort wurde die auf einer sinnlichen Wahrnehmung beruhende vorläufige falsche Meinung durch eine andere sinnliche Wahrnehmung korrigiert. Diesen Vorgang deutete Piaton so, daß die sinnlichen Eindrücke gleichsam wahre und falsche Reden in die Seele schreiben (cf. Phil. 39a). Welches Kriterium bietet mir jedoch die Gewähr, daß sinnliche Wahrnehmung das eine 1 Die entscheidende Widerlegving der vorgeblichen Unmöglichkeit des Irrtums erfolgt Theait. 177c ff. 2 Von der Unwahrecheinlichkeit des Fliegens als solchen muß abgesehen werden. Die Behauptung „Theaitetos steht" könnte genauso gut als Beispiel dienen. 3 1 5 Vgl. S. 46. Vgl. S. 93. Vgl. S. 49f.

Die Problematik der wahren Meinung

59

Mal zu einer falschen Meinung und das andere Mal zu einer wahren Meinung geführt hat, wenn anders die wahre Meinung nicht mit der Erkenntnis zusammenfallen soll? Daß jedoch wahre Meinung (άληθής δόξα) nicht identisch mit Erkenntnis (έπιστήμη) sein kann 1 , diesem Nachweis gelten die Erörterungen der ganzen zweiten Hälfte des Theaitet. Uns ist es zwar geläufig, von einer Meinung zu reden, aber keineswegs schon primär von einer wahren oder falschen Meinung. Wer etwas meint, tut dies mehr oder weniger bewußt immer unter dem Vorbehalt, daß der Inhalt seiner Meinung den Gegenstand, auf den sich die Meinung bezieht, vielleicht nicht treffend beschreibt. Erst auf Grund einer Erkenntnis des Gegenstandes, ist es mir möglich zu einem Urteil über meine Meinung zu gelangen hinsichtlich ihrer Wahrheit oder Falschheit. Wer von einer wahren oder falschen Meinung über einen Gegenstand redet, muß daher — wenn die Rede sinnvoll sein soll — im Besitz der Erkenntnis dieses Gegenstandes sein. Die Distinktion zwischen wahrer und falscher Meinung ist mithin etwas Sekundäres und gehört nicht primär zum Charakter des Meinens. Das Mittel zu dieser Distinktion ist ein Urteil, dem die Meinung als Gegenstand unterliegt. Der Urteilsgrund kann dabei nur die Erkenntnis der Sache sein, auf die sich die Meinung bezog. Der platonische Begriff der αληθής δόξα muß jedoch anders verstanden werden: denn, wie das Beispiel im Philebos zeigt, gelangt der Meinende im Zuge seiner Meinungsbildung — nach anfänglicher Unsicherheit — abschließend sogleich zu einer wahren Meinung über die Sache. Er bedarf keineswegs noch der Erkenntnis der Sache, um die Meinung als wahr zu beurteilen. Von einem Urteil über die Meinung ist auch gar keine Rede, sondern das Bewußtsein von der Wahrheit der Meinung scheint nach Piaton von vornherein zum Charakter des wahren Meinens zu gehören. Was die falsche Meinung anbelangt, so kann derjenige, der Falsches meint, dabei nicht zugleich das Bewußtsein der Falschheit seiner Meinung haben, da er sonst überhaupt nicht erst Falsches meinen würde. Aus den Beispielen im Philebos und Sophistes ging hervor, daß die sinnliche Wahrnehmung als Korrektiv der falschen Meinung diente. Auf Grund sinnlicher Wahrnehmung konnte aber auch eine falsche Meinung erst entstehen, wie der Philebos lehrt. Mithin kann wohl nur derjenige die Falschheit seiner falschen Meinung über eine Sache einsehen, der im Besitz der wahren Meinung über diese Sache ist, wobei man wiederum vor dem Problem der wahren Meinimg steht. Es ist daher notwendig, nach einem Kriterium, für die Wahrheit der Meinimg zu fragen (im Gegensatz zur Erkenntnis, die als Erkenntnis wahr sein muß). Auf die Frage nach einem solchen Kriterium fand sich bisher an keiner Stelle wo die δόξα 1

Dieselbe Überzeugung wird Men. 98 b ausgesprochen, ferner Tim. 51 d.

60

D i e N a t u r der Δ Ο Ξ Α

behandelt wurde, eine Antwort. J a , die Frage wird als solche von Piaton auch gar nicht aufgeworfen 1 . Es scheint, d a ß der vorliegenden Untersuchung hiermit dasselbe Schicksal widerfahren ist, wie den Erörterungen der falschen Meinung im Theaitet, wo Sokrates 200c feststellt, die Untersuchung mache mit R e c h t Vorwürfe und zeige, daß es nicht richtig sei, eher nach der ψευδής δόξα zu forschen als nach der επιστήμη. Es soll deshalb zunächst Piatons Erkenntnisbegriff untersucht werden, um von dort her eventuell zu einem Kriterium u n d damit zum Verständnis dessen zu gelangen, was Piaton unter wahrer und falscher Meinung versteht. Der platonische Erkenntnisbegriff a)

Erfahrungs-,,Erkenntnis"

Als Kriterien der επιστήμη waren im Theaitet (cf. 152c) „Irrtumslosigkeit" u n d „Erfassen des Seienden" genannt worden. Daß die Erkenntnis von I r r t u m frei sein muß, liegt im Begriff der Erkenntnis. Eine falsche Erkenntnis ist keine Erkenntnis. Problematischer erscheint das zweite Kriterium. Das Seiende (öv) ist ein mehrdeutiger Begriff, den P i a t o n keineswegs stets in einer Bedeutung gebraucht. Es ist daher, wo immer von Erkenntnis geredet wird, besonders darauf zu achten, was in der Erkenntnis jeweils erkannt worden ist. Theaitet 201 b-c wird gesagt, daß die Richter άνευ έπιστήμη: nur auf Grund von άληθής δόξα über Vorfälle entscheiden, bei denen sie nicht zugegen waren, da die έπιστήμη der Vorfälle nur durch Autopsie zu erlangen ist 2 . Die έπιστήμη ist an dieser Stelle Erkenntnis des Tatbestandes. Ein επιστήμων ist derjenige, welcher im Besitz der αλήθεια των γενομένων (201b) ist. Das „Seiende", da.s die έπιστήμη hier erfaßt, ist empirischer N a t u r . Die Welt des Werdens und Vergehens erscheint als Gegenstand der „Erkenntnis". Das Mittel zu dieser Erkenntnis ist allein die sinnliche Wahrnehmung, während man der άληΟ-ής δόξα durch andere Leute (έξ άκοής 201b) teilhaftig wird. Der Erkenntnisbegriff an dieser Stelle steht in krassem Widerspruch zu dem Begriff, den Piaton sonst im Theaitet von der έπιστήμη entwirft. Zunächst geht es im ganzen ersten Teil des Theaitet darum, zu zeigen, daß die έπιστήμη mit Wahrnehmung nichts zu t u n h a t . Hier hingegen ist die Wahrnehmung das einzige Mittel zur Erkenntnis. 187 a wird gesagt, d a ß die έπιστήμη in derjenigen Seelentätigkeit zu suchen sei, die vorhegt, wenn sich die Seele selbst f ü r sich selbst mit dem Seienden beschäftigt. Für das Seiende, auf das sich die höhere 1

Bei d e n E r k l ä r u n g s v e r s u c h e n der falschen Meinung im T h e a i t e t , h a n d e l t es sich lediglich d a r u m , d i e Möglichkeit d e r falschen Meinung einsichtig zu m a c h e n . 2 Vgl. T h e a i t . 2 0 1 b περί ών Ιδόντι μόνον ίΐστιν είδέναι άλλως 8έ μή.

Der platonische Erkenntnisbegriff

61

Erkenntnistätigkeit der Seele erstreckt, wurden als Beispiele die allen Wahrnehmungen gemeinsamen Begriffe angeführt, wie Sein, Identität, das Gute u. dgl., welche sinnlicher Wahrnehmung unzugänglich sind. An dieser Stelle jedoch erscheint als Gegenstandsbereich der Erkenntnis die Welt des Werdens und Vergehens, d.i. die empirische Realität. Es läßt sich auch kein Unterschied angeben zwischen dem Erkenntnisbegriff dieser Stelle und dem Begriff der wahren Meinung, wie er etwa im Philebos konzipiert worden war. Die wahre Meinung kam dort durch sinnliche Wahrnehmung eines gegenständlichen Objekts zustande, genau wie hier die έπιστήμη. Derselbe Erkenntnisbegriff begegnet uns auch im Menon (97a ff.). Dort soll gezeigt werden, daß die richtige Meinung keine schlechtere Leiterin des Handelns ist als die επιστήμη. Dazu f ü h r t Sokrates das Beispiel des Weges nach Larissa an. Es ist möglich eine richtige Meinung über den Weg nach Larissa zu haben und dadurch imstande zu sein, andere gut und richtig dorthin zu führen, ohne den Weg selbst schon gegangen zu sein und mithin zu kennen1. Die έπιστήμη (97b) wird auch hier durch unmittelbare Bekanntschaft mit den Dingen, d.i. sinnliche Wahrnehmung, gewonnen, während man sich die richtige Meinung offensichtlich wie an der Theaitetstelle durch Vermittlung anderer Leute entstanden denken muß. Im folgenden wird der Wertunterschied zwischen έπιστήμη und δρθή δόξα2 damit begründet, daß die richtige Meinung im Gegensatz zur Erkenntnis flüchtig und vergänglich sei, solange sie nicht gebunden ist durch die vernunftgemäße Erschließung des Grundes (αιτίας λογισμω 98 a). Dieser geistige Prozeß wird als άνάμνησις verstanden. I n ihm wird die ορθή δόξα zur έπιστήμη erhärtet (cf. 98a u. 85c ff.). Versucht man jedoch nach dieser Erkenntnistheorie das Beispiel von der Kenntnis des Weges nach Larissa zu verstehen, ergeben sich ausweglose Schwierigkeiten. 97 b war betont worden, daß das GegangenSein — also die unmittelbare Bekanntschaft mit der Sache durch sinn1

έληλυθώς δέ μή μηδ' έπιστάμενος Men. 97 b; είδώς 97 a. * όρθός und άληθής in Verbindung mit δόξα sind Synonyma (cf. 97 b). — In der Sophistik steht das Wort όρθός vornehmlich unter praktischem Aspekt. Von Protagoras ist der Titel einer Schrift überliefert: Über das, was von den Menschen nicht richtig (ούκ όρθώς) gemacht wird (Diels-Kranz IT, 255, 3). Vgl. ferner Thrasymachos (II, 322, 6) und Antiphon (II, 365, 3). Die Richtigkeit im Handeln ist jeweils vom handelnden Subjekt zu leisten. Sie kommt dem Handeln nicht an sich zu. Richtigkeit ist in dieser Hinsicht immer nur eine mögliche Vollzugsweise, nicht aber ein notwendiges Strukturmoment des Handelns überhaupt. Piaton gebraucht das Wort όρθός gelegentlich auch zur Beschreibimg von Strukturzügen des Seienden. In solchen Fällen nähert sich die Bedeutung von όρθός der Bedeutung von άληθής (vgl. S. 69 ff.)· Der platonische Idealstaat beispielsweise ist eine πόλις όρθή (cf. Pol. 543d f.). Die Idee des Guten ist όρθών τε καΐ καλών αιτία (Pol. 517c). Von einem allgemeinen synonymen Gebrauch der beiden Wörter kann jedoch keine Rede sein.

Die Natur der ΔΟ.=.Α

62

liehe Wahrnehmung — dasjenige Moment -war. das die Erkenntnis gegen die richtige Meinung abgrenzte. Durch die Erschließung welchen Grundes soll nun derjenige, der — wodurch auch immer — im Besitz einer richtigen Meinung über den Weg nach Larissa ist, diese seine Meinung zur Kenntnis des Weges vertiefen, die nur durch sinnliche Wahrnehmimg möglich ist? Wenn man den Grund, in dem die Meinung verankert werden soll, als dasjenige versteht, was die Seele in ihrer Praeexistenz gesehen und kennengelernt haben soll (μεμάθηκεν 81c), ergeben sich folgende Alternativen: Entweder es muß eine Idee des Weges nach Larissa geben, oder — wenn man auf seiten derjenigen steht, die jeglichen Zusammenhang der Ideenlehre mit der άνάμνησις im Menon leugnen 1 — die Seele muß in ihrer Praeexistenz den Weg nach Larissa schon einmal „gegangen sein" und in seiner genauen geographischen Position erkannt haben, so daß sie sich in ihrem menschlichen Leben an ihn wie an etwas Bekanntes, das man vor langer Zeit einmal gesehen und nachher vergessen hat, erinnern kann. Beide Alternativen sind unwahrscheinlich. Was die letztere betrifft, so wird zwar 81c gesagt, die Seele habe die Dinge hienieden und im Hades und überhaupt alle Dinge (πάντα χρήματα) gesehen, aber ob dies wortwörtlich verstanden werden darf, ist zumindest recht fraglich. In jedem Falle wäre die sinnliche Wahrnehmung, die gerade 97 b betont wurde, für das Erkennen des bereits den richtigen Weg Meinenden überflüssig. Es scheint, als ob in dem kurzen Abschnitt von 97 a—98 b beim Beispiel des Weges nach Larissa und bei der Erörterung des Wertunterschiedes zwischen Erkenntnis und richtiger Meinung von zwei verschiedenen Erkenntnisbegriffen die Rede sei2. Dasselbe Verhältnis von επιστήμη und ορθή δόξα, das uns bisher beschäftigte, findet sich auch an einer Stelle in der Politeia. Im X. Buch 601 d ff. wird im Zuge der Erörterung über den Wert der Dichtkunst ausgeführt, daß hinsichtlich der άρετή eines Gerätes nur derjenige, der dies Gerät gebraucht, eine έπιστήμη habe, während dem Handwerker, der das Gerät herstellt, lediglich eine ορθή δόξα (auch πίστις ορθή genannt 601e) darüber zukommt, da er nach den Anweisungen des Gebrauchenden und mithin Wissenden (είδώς) arbeitet; denn die έπιστήμη erwächst aus den Erfahrungen im Gebrauch des Gerätes 3 . 1

U.a. Klara Buchmann, Die Stellung des Menon in der platonischen Philosophie, Philol. Suppl.-Bd. X X I X , 1936, H. 3, S. 66ff. Dort finden sich auch ausführliche Literaturangaben zu dieser Frage. 2 Daa Beispiel des Weges nach Larissa wird nicht erörtert, um dabei dem Wesen der έπιστήμη auf die Spur zu kommen, sondern nur, um zu erweisen, daß richtige Meinung das Handeln genauso gut leitet wie έπιστήμη. Dies muß man sich vor Augen halten, wenn man den Erkenntnisbegriff an dieser Stelle richtig bewerten will. Über das Verhältnis von όρθή δόξα und έπιστήμη im Menon wird an späterer Stelle (S. 103ff.) gehandelt werden. 3 Vgl. Pol. 602a έκ τοϋ χρησθαι έπιστήμην έξει.

Der platonische Erkenntnisbegriff

63

Der ein Gerät Gebrauchende muß der am meisten Erfahrene (εμπειρότατοι 601 d) darin sein. Die richtige Meinung dagegen beruht nicht auf unmittelbarer Bekanntschaft mit der Sache (in diesem Falle der bestmöglichen Form beispielsweise eines Kampfschildes), sondern auf Vermittlung anderer, die darin ihrerseits Erfahrungen gesammelt haben. Aus den drei behandelten Stellen hat sich ergeben, daß Piaton über einen ErkenntnisbegrifF verfügt, dessen Inhalt Erfahrungserkenntnis1 ausmacht. Das Seiende, auf das sich diese Art der Erkenntnis bezieht, ist die empirische Realität 2 . Das Mittel zu dieser Erkenntnis besteht in der unmittelbaren Bekanntschaft mit den Dingen, d.i. — wie auch aus den Beispielen hervorgeht — wesentlich sinnliche Wahrnehmung. Bestand die richtige Meinung, sofern von ihr in Abgrenzung gegen diesen Erkenntnisbegriff die Rede war, in einem geistigen Verhalten zu einem Gegenstand, das sich nicht auf Grund immittelbarer Bekanntschaft mit diesem Gegenstand ergab, sondern von der Vermittlung anderer Leute abhing, so läßt sich zwischen diesem Erkenntnisbegriff und dem Begriff der richtigen Meinimg, wie er an den anderen bisher behandelten Stellen (beispielsweise im Philebos und Sophistes) konzipiert worden war 3 , kein Unterschied feststellen. Sowohl Erkenntnis als auch Meinung richten sich auf denselben Gegenstandsbereich. Ein wesentliches konstitutives Element ist bei beiden die sinnliche Wahrnehmung (wenn auch im Theaitet und Sophistes betont wird, daß es außerdem ein Meinen gibt, das mit sinnlicher Wahrnehmung nichts zu tun hat). Hinsichtlich ihres praktischen Wertes besteht ebenfalls kein Unterschied. Alles in allem, es läßt sich überhaupt kein Merkmal angeben, an dem man die Erkenntnis von der richtigen Meinung unterscheiden könnte 4 . Demzufolge drängt sich der Verdacht auf, daß der 1 s

Zum Begriff der Erfahrungserkenntnis vgl. S. 96. τά γιγνόμενα καΐ άπολλύμενα, die Welt des Werdens und Vergehens, Phil. 61 θ

u.ö. 3

Vgl. S. 48ff. Das Kriterium der Fähigkeit des λόγον διδόναι des έπιστήμων im Gegensatz zum richtig Meinenden (vgl. Symp. 202a u.ö.) bezieht sich, wie noch ausführlicher gezeigt wird, auf einen anderen Erkenntnisbegriff. Inwiefern sollte sich nämlich derjenige, der eine Erkenntnis besitzt, die nur durch sinnliche Wahrnehmung möglich ist, von demjenigen, der im Besitze einer richtigen Meinung ist, die ebenfalls nur durch sinnliche Wahrnehmung möglich ist, dadurch unterscheiden, daß er von seiner Erkenntnis Rechenschaft abzulegen vermag ? Die Rechenschaftsabgabe kann nur in einer Berufung auf die sinnliche Wahrnehmung bestehen, und dazu ist der richtig Meinende genauso gut in der Lage wie derjenige, der etwas erkannt hat. Was das Kriterium der Dauerhaftigkeit der Erkenntnis gegenüber der richtigen Meinung betrifft, von dem im Menon die Rede ist, so steht diese Dauerhaftigkeit im engsten Zusammenhang mit dem Begriff der άνάμνησις. Die Schwierigkeiten, diesen Begriff mit dem vorliegenden Erkenntnisbegriff in Einklang zu bringen, sind bereits aufgewiesen worden (vgl. S. 61 f.). Außerdem war von einem Merkmal der Dauerhaftigkeit an keiner der bisher behandelten Stellen die Rede. 4

64

Die Natur der ΔΟΞΑ

Begriff der richtigen Meinung und der vorliegenden Erkentnisbegriff ein- und dasselbe besagen. Daß dieselbe Sache verschiedene Bezeichnungen trägt, ist bei dem terminologisch unverfestigten Sprachgebrauch Piatons nicht ungewöhnlich. Auffallend wäre jedoch, daß Piaton, der, wie noch gezeigt wird, einen zweiten ganz anderen, der δόξα scharf entgegengesetzten Erkenntnisbegriff h a t , nichtsdestoweniger das, was er unter δόξα versteht, auch gelegentlich mit demselben Wort bezeichnet wie die philosophische Erkenntnis. Der Wortgebrauch an den behandelten Stellen ist insofern beachtenswert, als επιστήμη im Griechischen — wie Snell 1 gezeigt hat — meistens „nicht lediglich das Wissen um ein factum [ = είδέναι, gesehen haben und daher wissen], sondern die Kenntnis, die eine Tätigkeit ermöglicht, eine Fertigkeit, ein K ö n n e n " bedeutet (a.a.O. S. 83). Von dieser Bedeutung her gesehen ist auch der häufige Gebrauch des Wortes έπιστήμη im Sinne von τέχνη einleuchtend 2 . Daß Piaton bei der Beschreibung solch gewöhnlicher Vorkommnisse, wie es die angeführten Beispiele sind, έπίστασθαι synonym mit είδέναι gebraucht, h a t wohl nicht nur, aber vielleicht auch mit seinen Grund in der Ausrichtung des platonischen Erkenntnisbegriffes am Sehen. Wenn auch das höhere Erkennen als eine Art Sehen verstanden wird, ist es erklärlich, wieso Piaton einen Ausdruck, der bei ihm vornehmlich zur Bezeichnung der philosophischen Erkenntnis dient, gelegentlich auch f ü r eine Erkenntnis, die auf Gesichtswahrnehmungen beruht, verwenden kann. Wie immer man zu der Beziehung zwischen dem Begriff der αληθής δόξα und dem einen, bereits behandelten, der platonischen Erkenntnisbegriffe stehen mag, so sollte doch die gleichartige Bezeichnungsweise der letzteren den Platon-Interpreten ebenso vor einer Unterbewertung der δόξα wie vor einer Überbewertung des bisher behandelten Erkenntnisbegriffes zurückhalten. Die Tatsache der unterschiedlichen Begrifflichkeit bei der Charakterisierung derselben Phänomene läßt sich auch nicht mit irgendwelchen entwicklungsgeschichtlichen Hypothesen erklären, etwa in dem Sinne, daß Piaton in verschiedenen Stadien seiner philosophischen Entwicklung das, was ihm früher δόξα zu sein schien, später έπιστήμη schien und umgekehrt; denn der bisher behandelte Erkenntnisbegriff f a n d sich im Menon, in der Politeia u n d im Theaitet. I n der Politeia u n d dem Theaitet steht dieser Erkenntnisbegriff ganz deutlich neben einem zweiten Begriff 3 der Erkenntnis, dem Begriff der 1

Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, Philolog. Unters. H. 29, Berlin 1924, S. 81 ff. 2 Z.B. Charm. 165d, 174c, Phaidr. 268b, Gorgias 449d—450b u.ö. 3 Für den Theaitet wurde dies bereits gezeigt (vgl. S. 60 f.), der Begriff der philosophischen Erkenntnis in der Politeia wird S. 68 f. erörtert, eine angemessene Interpretation des Erkenntnisbegriffs im Menon (abgesehen einmal von der speziellen Erkenntnis des Weges nach Larissa) ist sehr schwierig (vgl. dazu S. 103ff.).

Der platonische Erkenntnisbegriff

65

philosophischen und damit für Piaton eigentlichen Erkenntnis. Überdies findet sich im Theaitet neben diesen beiden Erkenntnisbegriffen derselbe Begriff der δόξα, der uns auch in den anderen späten Dialogen begegnete. b) Eigentliche

Erkenntnis

Das Seiende, auf das sich der bisher behandelte Erkenntnisbegriff bezog, gehörte zum Bereich der sinnlich wahrnehmbaren Welt. RratyI08 439 d ff. wird jedoch von diesem Seinsbereich die Möglichkeit der Erkenntnis 1 geleugnet. Etwas, von dem Erkenntnis möglich sein soll, muß sich stets auf die gleiche Weise verhalten und dasselbe sein 2 . Dasjenige, was sich dauernd verändert, die sinnlich wahrnehmbare Welt 3 — als Beispiel wird ein schönes Gesicht angeführt und dergleichen — läßt überhaupt keine Bestimmung seines Seiend-Seins zu. Sokrates fragt: Wie könnte das überhaupt etwas Bestimmtes sein (εϊη τι), was sich niemals auf gleiche Weise verhält? Der Begriff der Erkenntnis setzt den Begriff eines feststehenden Seins — im Sinne des δτι ποτ' έστιν, das, was eine Sache ist — voraus. Nur dasjenige, das diesen Seinscharakter trägt, kann als so und nicht anders seiend erkannt werden. Für Piaton scheidet nun die ganze sinnlich wahrnehmbare Welt aus dem Seinsbereich des feststehenden Seins aus. Alle sinnlich wahrnehmbaren Dinge unterliegen ständiger Veränderung. Deshalb kann sich die Erkenntnis im eigentlichen Sinne des Wortes nicht auf die καλά πράγματα (Pol. 476c), sondern muß sich auf αυτό καλόν καΐ άγα&όν και êv Ικαστον των δντων (Kratyl. 439c) richten. Erkenntnis einer Sache ist Erkenntnis des An-sich-Seins dieser Sache, das allen zufälligen Bedingtheiten enthoben ist. 386e wird gesagt, die Dinge (πράγματα) hätten ein ihnen eigentümliches unveränderliches Wesen (αυτών ούσίαν . . . . τινά βέβαιον), völlig unabhängig von unseren Einbildungen (ήμέτερον φάντασμα). Zu diesem Wesen, dem An-sich-Sein der Dinge, vorzustoßen, ist die Aufgabe der Erkenntnis; denn in ihm offenbart sich die άλή&εια των δντων (438d)4. Auf denselben Gegenstandsbereich wie im Kratylos richtet sich auch die Erkenntnis im Phaidon. Das Wesen 6 der Dinge, das, was ein jedes 1

Für Erkenntnis finden sich die Ausdrücke μάθτ,σις und γνώσις sowie die ihnen entsprechenden Verben. ' Vgl. Krat. 439θ άεΐ ωσαύτως ϊχει καΐ τί> αύτό έοτι. 3 Vgl. Krat. 439d καΐ δοκεϊ ταύτα πάντα ¿εϊν. 4 Die Frage, ob unter dem An-sich-Seienden (das καλόν αύτό u.a.) im Kratylos bereits die substanziaiisiorte Idee zu verstehen ist, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. s Wenn hier und im folgenden ούσία mit Wesen übersetzt wird, so bedeutet Wesen dasjenige, was die jeweilige Sache in ihrer Vollendung ausmacht. Da nun niemals die Erfahrung beispielsweise eines vollkommenen Pferdes möglich ist, sondern stets nur einer mehr oder weniger annähernden Entsprechung des 5 8001 Sprnte, DOXA.

66

Die N a t u r der ΔΟΞΑ

ist 1 , ist das Wahrste der Dinge (αυτών το άληθέστατον Phaid. 65e) und dieser Wahrheit sucht die Seele in der Erkenntnis teilhaftig zu werden. Wer die Dinge in ihrem reinen An-sich-Sein2 erfaßt hat, hat damit ihr Wesen erfaßt. Das Wesen 3 der Dinge, das αύτό δ εστι (75d), ist den sinnlich wahrnehmbaren Dingen nicht immanent, sondern eine diese Dinge transzendierende Wesenheit 4 . Die Wesenheiten bilden eine selbständige Art des Seienden (cf. 79a). Das Schöne an sich (αύτό το καλόν 78d) beispielsweise, ist ein ετερον 6v (74b) von den vielen in der Welt begegnenden Erscheinungsformen des Schönen (των πολλών κοίλων, οίον άνθρώπων ή ίππων ή . . . . 78d). Das Schöne, wie es uns an den vielen schönen Gegenständen begegnet, bleibt hinter dem Schönen an sich zurück (ένδεΐ) und ist minderwertiger (φαυλότερον 74e). Alles Schöne ist aus keinem anderen Grunde schön, als weil es Anteil hat (μετέχει 100c) am Schönen an sich. Über die Beziehung der Wesenheiten zu den konkreten Dingen, deren Wesen sie jeweils ausmachen, macht Piaton nur Andeutungen. Sei es, daß diese Beziehung durch die Anwesenheit (παρουσία) oder Gemeinschaft (κοινωνία) des An-sichSeienden oder wie auch immer zu erklären ist 5 . Piaton will sich nicht festlegen 6 . Aber daß alle schönen Gegenstände vermöge des Schönen an sich schön sind, glaubt er ganz sicher behaupten zu können (cf. lOOd). Das An-sich-Sein ist der Grund des sinnlich wahrnehmbaren So-Seins der Dinge. Vermöge der σωφροσύνη, die ein Mensch besitzt, ist er σώφρων idealen Pferdes, sind Wesenserkenntnis und Erfahrungserkenntnis grundverschieden. Die Erkenntnis des Wesens des Pferdes, d.i. dessen, worin das ideale Pferd besteht, ist damit zugleich ein objektiver W e r t m a ß s t a b für alle Erfahrungserkenntnis. Das ideale Pferd wäre ein τελέως öv (cf. Pol. 597a, 477a; Soph. 248e), das sinnlich wahrnehmbare Pferd demgegenüber ein άμυδρόν τι δν πρός άλήθειαν (cf. Pol. 597a). Vgl. auch S. 88f. 1 άπάντων ή ούσία δ τυγχάνει έκαστον Òv Phaid. 65 d. 2 αύτό καθ' αύτό ειλικρινές έκαστον των ίίντων Phaid. 66a. Der Ausdruck καθ' αύτό k o m m t schon bei Parmenides vor (Parm. Β 8,29 u. 8,58). Vgl. dazu K . Deichgräber, Parmenides' Auffahrt zur Göttin des Rechts, Abh. Mainz. Ak., 1958, geistes- u. sozialwissensch. Klasse, Nr. 11, S. 684f. Der Ausdruck dient ursprünglich zur Beschreibung der Beziehungslosigkeit, sofern etwas ü b e r h a u p t beziehungslos sein kann, καθ' αύτό ist etwas, das ganz „gemäß sich selbst", d . h . ohne Rücksicht auf anderes, das ist, was es ist. 3 Die ούσία ist das eigentliche Sein der Sache, cf. 78 d : αύτη ή ούσία ή ς λόγον δίδομεν τοϋ είναι. Dieses Sein ist inhaltlich bestimmtes Sein, cf. 9 2 d : ή ούσία έχουσα τήν έπωνυμίαν την τοϋ ,,δ έστιν". 4 Besonders in der Politeia immer wieder als είδος oder ιδέα bezeichnet, cf. u. a. 507b, 596b, 479a, 476a, 597a; aber auch schon im Phaidon, cf. u . a . 104b—e, 102b. 5 Gewöhnlich wird die Bezeichnung als Teilhabe verstanden u n d m i t dem Verb μετέχειν umschrieben. Phaid. 101c findet sich auch das Substantiv μετάσχεσις; P a r m . 132d μέθεξις. ' Vgl. Phaid. lOOd ού γάρ ίτι τούτο διισχυρίζομαι.

Der platonische Erkenntnisbegriff

67

(vgl. Prot. 332a ff.). Der Besitz dieser Tugend ist die Bedingung eines ihr entsprechenden Benehmens des Menschen. Ganz analog versteht Piaton das So-Sein der Dinge. Wie das besonnene Benehmen eines Menschen Ausdruck seiner Besonnenheit ist, so ist das Schön-Sein der Dinge Ausdruck ihrer Schönheit. Die Dinge sind — in analoger Weise wie der Besonnene besonnen ist — insoweit schön, wie sie einem idealen Maß an Schönheit entsprechen. Dieses Idealmaß der Schönheit ist das Schöne an sich. Nur auf Grund dessen, daß es dieses ideale Maß der Schönheit gibt, können die Dinge schön sein. Das Seiende an sich, die Ideen oder Wesenheiten, wie immer man diesen platonischen Seinsbegriff umschreiben will1, hat wie die Seele ein eigenständiges Sein, das unabhängig von der gegenständlichen, unserer Erfahrung zugänglichen Welt ist. Die Seele hat vom Seienden an sich in ihrer Präexistenz die επιστήμη erlangt, bei ihrer menschlichen Geburt vergessen und erinnert sich ihrer wieder anläßlich sinnlicher Wahrnehmungen. Dieser Vorgang ist das Erkennen (μανθάνειν). Es wird definiert als „ein Wiederaufnehmen einer uns schon angehörigen Erkenntnis" (Schleiermacher) und kürzer charakterisiert als Wiedererinnerung (vgl. 75e). Das Seiende, auf das sich die Erkenntnis erstreckt, ist unvergänglich und unsterblich (άεί δν και άθ-άνατον 79d), eingestaltig (μονοειδές 6v 78d), nicht zusammengesetzt (άσύνθετον 78c) und mithin unauflöslich und sich immer gleich und auf ein und dieselbe Weise verhaltend (άδιάλυτον και άεί ωσαύτως κατά ταύτά έχον 80b). Es ist ferner göttlich (θείον 80b), rein (καθαρόν 79d; ειλικρινές 67b), unsichtbar (άιδές 81b) und nur mit der Vernunft erfaßbar (νοητόν 80b). Das Mittel, zu dieser Erkenntnis zu gelangen, ist allein das reine Denken, das sich aller Sinneserkenntnis entschlägt 2 . Die Sinneswahrnehmungen bringen keine Wahrheit mit sich, da sinnliche Erkenntnis stets voll Trug ist (cf. 83 a) ; denn dem einen scheinen die gleichen Dinge gleich, dem anderen nicht (cf. 74b) 3 . Etwas Genaues (άκριβές) läßt sich niemals wahrnehmen (cf. 65b). Aus diesem Grunde und wegen mancher anderer Hindernisse, die der Körper der erkennenden Seele in den Weg legt 4 , muß die Seele sich möglichst weitgehend vom Körper zu befreien suchen, um rein für sich durch eich selbst der Wahrheit teilhaftig zu werden. 1

Piaton selbst wechselt sehr häufig die Ausdrücke, wie schon aus den bisher zitierten Textstellen ersichtlich ist. 2 Vgl. Phaid. 66a αύτη καθ' αύτήν είλικρινεϊ τη διανοία χρώμενος. 3 Rose (Plato's Theory of Ideas, S. 23) weist mit Recht darauf hin, daß die Ausführungen im Phaidon hinsichtlich der sinnlich wahrnehmbaren Dinge nicht so eindeutig sind wie im Kratylos ; denn wenn dem einen dieselben Dinge gleich, dem anderen ungleich zu sein scheinen, schließt das noch nicht ein, daß die Dinge selbst nicht gleich sein und überhaupt keine festen Bestimmtheiten tragen könnten, so daß Erkenntnis von ihnen unmöglich wäre. 1 Vgl. Phaid. 66b.ff. 6·

68

Die Natur der ΔΟΞΑ

Es sei kurz auf die Übereinstimmung hingewiesen zwischen dem im Phaidon dargelegten Erkenntnisbegriff und dem Erkenntnisbegriff,der als Konzeption dem Theaitet zugrunde lag und am deutlichsten Theait. 184b ff. hervortrat. An beiden Stellen werden Wahrnehmung und Erkenntnis scharf getrennt. Die Gegenstände, die erkannt werden, sind an beiden Stellen sinnlicher Wahrnehmung unzugänglich. Im Theaitet ist zwar nicht von Ideen oder An-sich-Seiendem die Rede, aber auch dort steht die Sinneserkenntnis zur im Sinne Piatons eigentlichen Erkenntnis in eigentümlicher Beziehung. Theaitet 186d wird nämlich gesagt, daß die Erkenntnis unter ein Urteilen über sinnliche Eindrücke falle 1 . Im Phaidon vollzieht sich die Wiedererinnerung — und damit das Erkennen — anläßlich sinnlicher Wahrnehmung. Sinnliche Wahrnehmung kann mithin nicht verächtlich sein, sofern sie Anlaß zu philosophischer Erkenntnis bietet (vgl. auch Pol. 523a ff.). Ausführlich wird das Erkenntnisproblem auch in der Politeia erörtert. Es handelt sich wiederum um denselben Erkenntnisbegriff. Gegenstand der Erkenntnis 2 ist das An-sich-Seiende, das ausdrücklich als die Ideen bezeichnet wird 3 . Und zwar gibt es von jeder Sache eine Idee, die in Gemeinschaft (κοινωνία 476a) steht mit Handlungen und Körpern und dadurch überall sich darstellt (φανταζόμενα 476 a) und so als vieles erscheint. Der eine Sache Erkennende bleibt nicht bei den vielen Erscheinungsformen dieser Sache stehen, sondern sieht (ίδεΐν 476b) die Natur (φύσις 476b) der Idee der Sache, d.i. die Sache nicht in ihren Erscheinungsformen, sondern in ihrem An-sich-Sein. Das Wesen beispielsweise des Schönen hat erkannt, wer das Schöne an sich erschaut hat 4 . Das Mittel zur Ideenschau ist das Denken (νοεΐν cf. 507b). Erkenntnis (γνώσις 508 e) richtet sich — wie bereits gesagt — nicht auf die sinnlich wahrnehmbare Welt, sondern auf einen eigenen Gegenstandsbereich, den νοητός τόπος (509d), d.i. das Ideenreich. Von der Ideenerkenntnis scharf geschieden ist das, was wir gewöhnlich als Erfahrungserkenntnis bezeichnen, die sich auf den ορατός τόπος (509d) richtet. Dieser ganze Bereich unterhegt allein dem δοξάζειν, dem Meinen (cf. u.a. 508 d). Das bedeutet, daß es von der Sinnen weit Erkenntnis im eigentlichen Sinne des Wortes, d.h. ein Erfassen der Wahrheit, nicht gibt. Dasjenige, von dem Erkenntnis möglich ist (το γνωστόν) •— die Ideenwelt — verhält sich zu demjenigen, das dem Meinen unter 1

Vgl. S. 46. γνώσις Pol. 476c u.ö. ; έπιστήμη 477 b u.ö. 3 Vgl. Pol. 476a, 479a, 597a, u.ö. * Das Erkennen wird von Piaton sehr häufig mit den Verben des Sehens umschrieben. Dabei muß man sich jedoch vor Augen halten, daß das, was „gesehen" wird, unsichtbar ist. Nichtsdestoweniger wird jedoch das Unsichtbare gesehen (άιδίς δρα Phaidon 83b). Die Wesensschau ist ein geistiger Vorgang, den m a n nicht begreifen, sondern dessen Unbegreiflichkeit man sich höchstens durch paradoxe Analogien vergegenwärtigen kann. 2

Der platonische Wahrheitsbegriff

69

liegt (το δοξαστόν) — der Sinnenwelt —, hinsichtlich der Wahrheit und deren Gegenteil (άληβ-εία τε και μή) wie das Urbild zum Abbild (cf. 510a).

Nach dieser Stelle scheint die Wahrheit weniger Kriterium der Erkenntnis zu sein, d.h. Ausdruck der eigentümlichen Beziehung zwischen Erkenntnis und zu erkennendem Gegenstand, als vielmehr den Sachen selbst zuzukommen. In welchem Sinne ist hier das Urbild wahr oder wahrer als das Abbild, das Abbild hingegen unwahr oder weniger wahr als das Urbild? S. 60 war mit der Untersuchung des platonischen Erkenntnisbegriffes begonnen worden, weil sich kein Kriterium angeben Heß für die Wahrheit der wahren Meinung. Es sollte versucht werden durch die Abgrenzung der Erkenntnis — zu deren formalem Charakter es gehört, wahr zu sein — gegen die Meinung, dem Wesen der letzteren auf die Spur zu kommen. Jetzt steht die Untersuchung des Erkenntnisbegriffes vor der Frage, was das für eine Wahrheit ist, welche die Erkenntnis nach Piaton erfaßt. Von den Theait. 152 c genannten Kriterien der έπιστήμη, „Irrtumslosigkeit" und „Erfassen des Seienden", ist das letztere durch die Erörterung des Seinsbegriffes, dem der platonische Erkenntnisbegriff entspricht, in seiner Bedeutung einsichtig geworden. Nunmehr gilt es, die Beziehung zwischen ούσία und άλήθεια verstehen zu lernen. Dazu bietet sich zunächst ein Abschnitt aus dem Theaitet an. Der platonische Wahrheitsbegriff Theait. 185a ff. wird die ουσία zu den allen Wahrnehmungen gemeinsamen Begriffen gezählt 1 . Sie steht sogar immer an erster Stelle, wenn von diesen Begriffen die Rede ist. In der Politela fand sich ούσία in der Bedeutung „Wesen". Es wird im folgenden deutlich werden, daß diese Bedeutung dem Wort an dieser Stelle nicht entspricht. 185a stellt Sokrates von Ton und Farbe fest, daß sie sind (έστόν). Dieses Sein von Ton und Farbe bedeutet wohl zunächst nichts anderes, als daß Ton und Farbe etwas sind. Der Ton ist etwas, es gibt ihn. Er existiert in irgendeiner Weise; in welcher, ist zunächst belanglos, sei es in der Realität der äußeren Welt, in meinem Bewußtsein, im Reich der Ideen oder wo auch immer. Schwieriger wird die Sache beim Nicht-Sein, bzw. Nicht-EtwasSein, denn eine Sache, die nicht etwas ist, ist keineswegs in überhaupt keiner Weise nicht etwas, d.h. schlechthin gar nicht da. Träfe dies nämlich zu, wäre es mir unmöglich, Aussagen über sie zu machen, sie überhaupt im Umkreis meines Bewußtseins zu haben. Prädiziere ich von einer Sache Nicht-Sein, sage ich: A ist nicht etwas, d.h. A gibt es 1

Vgl. S. 44f.

70

Die Natur der ΔΟΞΑ

nicht, so ist A auf jeden Fall in meinem Bewußtsein da, wohingegen es in irgendeiner anderen — sit venia verbo — Seinsebene nicht vorkommt. ,,A ist nicht etwas" bedeutet daher nichts als die Feststellung: I n bezug auf eine bestimmte Seinsebene 1 unter mehreren f ü r den Gegenstand möglichen ist es nicht sinnvoll, von A überhaupt zu reden. In diesem Sinne stellt Piaton die ούσία dem το μή είναι, gegenüber. Beide Begriffe entsprechen lediglich den finiten Verbformen Ιστιν und ούκ εστίν (185c). 186a wird noch einmal ausdrücklich gefragt, zu welcher Art von Erkenntnisobjekten die ούσία gehöre, obwohl längst feststeht, daß sie im Gegensatz zu den sinnlichen Qualitäten zu den Erkenntnisobjekten gehört, welche die Seele selbst f ü r sich selbst, d.h. ohne sich der Vermittlung eines anderen Organes zu bedienen, erfaßt. Sachlich ist hier zu fragen, ob es Sinn hat zu sagen, daß die Seele das Sein (ούσία) in der eben charakterisierten Bedeutung nicht durch die Sinne erfaßt, sondern αύτή καθ' αυτήν. Man ist geneigt zu behaupten, daß das Anwesend-Sein oder Nicht-anwesend-Sein eines Tones oder einer Farbe doch nur durch die Sinne erfaßt werden kann, indem man den Ton entweder hört oder nicht hört, die Farbe entweder sieht oder nicht sieht. Überdies, wenn ich mir über einen Ton, den ich höre, Gedanken mache, dürfte die Frage seines Anwesend-Seins das Letzte sein, worauf ich verfalle, da mir der Ton ja in der Wahrnehmung gegeben ist und dieses Gegeben-Sein überhaupt erst die Bedingung der Reflexion über ihn ist. 185a wird jedoch betont, daß die Vergewisserung des Seins des Tones oder der F a r b e das Erste sei, was die mittels der Seele selbst vonstatten gehende Erkenntnistätigkeit leiste 2 . Es ist daher recht zweifelhaft, ob m a n die ούσία hier als Anwesend-Sein interpretieren darf. Näher scheint eine andere Deutung zu liegen, nämlich die Interpretation der ούσία als denknotwendiges Sein ; denn nur wenn es eine Sache in irgendeiner Weise gibt, kann sie Objekt f ü r mich werden, kann ich etwas über sie aussagen. Die Denknotwendigkeit des Seins f ü r die Farbe ist die Voraussetzung aller anderen Aussagen über die Farbe. I n einer Vergewisserung der Rechtmäßigkeit dieser Voraussetzung h ä t t e in der T a t der erste Schritt einer theoretischen Untersuchung zu bestehen. Die Frage der Interpretation der ούσία in diesem Zusammenhang berührt aufs engste die Frage des Charakters der hier beschriebenen Reflexionen. Daß Piaton an dieser Stelle eine theoretische Untersuchung von Ton und Farbe überhaupt meint, u n d 1

Die Rede von verschiedenen Seinsebenen soll hier nichts anderes sein als ein Ausdruck der Tatsache, daß einer Sache zwar Sein in meinen Gedanken zukommen kann, welches ihr keineswegs in Wirklichkeit zuzukommen braucht. Wieviel mögliche Seinsebenen — d.h. Hinsichten, in denen es sinnvoll ist, von einer Sache zu sagen, daß sie sei — es gibt, braucht hier nicht erörtert zu werden. 2 Vgl. Theait. 185a πρώτον ή δ'.ανοτ,, ort άαφοτέρω έστόνι;

Der platonische Wahrheitsbegriff

71

nicht die Untersuchung dieser oder jener konkreten Farbe, scheint mir offenkundig zu sein. Die Seele gibt ein Urteil darüber ab, ob einer Sache Sein oder Nicht-Sein zukommt 1 . Ein Urteil der Seele hinsichtlich des Seins oder Nicht-Seins einer Sache im Sinne von bloßem AnwesendSein wäre überflüssig und weiter nichts als die Bestätigung eines sinnlichen Eindrucks, da das Anwesend-Sein einer sinnlichen Qualität in ihrer Wahrnehmung gegeben ist. I m Vollzug einer rein theoretischen Reflexion fällt die Seele vielmehr ihr Urteil über das Sein der Sache als denknotwendiges Sein. Das Anwesend-Sein der Sache ist kein notwendiges Sein; denn die Sache kann durchaus nicht anwesend sein. Die bloße Möglichkeit des Anwesend-Seins einer Sache setzt aber das Sein eines Grundes voraus, der das Anwesend-Sein ermöglicht. Diesem Grund muß notwendiges Sein zukommen, da sonst die Möglichkeit des Anwesend-Seins der Sache entfällt. Mögliches Anwesend-Sein der Sache bedeutet aber nichts als Erfahrbarkeit der Sache. I n ihrer Erfahrbarkeit besteht jedoch das Sein der Sache auf der Seinsebene der empirischen Realität. Mithin ist das denknotwendige Sein der Sache, d.i. der Grund der Möglichkeit ihres Anwesend-Seins, der Seinsgrund der Sache, und zwar der Sache in der empirischen Realität. Als Seinsgrund war uns in der platonischen Ontologie jedoch schon die Idee der Sache begegnet. Der Aufweis des Seinsgrundes erwies sich als Beantwortung der Frage : w a r u m ist das, was ist, so, wie es ist 8 ? Das So-Sein der Dinge h a t seinen Grund im An-sich-Sein der Ideen. Die Ideen sind aber nicht n u r der Grund des So-Seins der Dinge, sondern überhaupt auch des Da-Seins der Dinge. Phaid. 96 a ff. sagt Sokrates von sich, er habe sich in seiner J u g e n d mit derjenigen σοφία beschäftigt, die man περί φύσεως ιστορία nennt, weil er die αιτία f ü r ein jedes wissen wollte, warum (διά τί) es entsteht, warum es vergeht u n d warum es ist. Aber weder diese σοφία noch die des Anaxagoras vermochte ihm eine befriedigende Antwort auf seine Frage zu geben. Erst auf der zweiten F a h r t zur αιτίας ζήτησις fand er sie in jenem oft behandelten Satz 3 von der Existenz der Ideen (cf. Phaid. 100b). Die Idee ist die αιτία des Seins einer Sache. Wenn die Sache erfahrbar sein soll, m u ß es die Idee der Sache 4 geben. I m Sein der Sache auf der 1 Vgl. die Fragestellungen, die εί-Sätze, die Ausdrücke des Prüfens und Abwägens. 2 Vgl. S. 66f. u. Phaid. 99dff. 3 έκεΐνα τά πολυθρύλητα Phaid. 100b. 4 Hier erhebt sich die Frage, ob man von allem Ideen annehmen darf, also auch von Sinnesqualitäten, z.B. der Farbe oder des Tones. Von der Idee der Farbe oder des Tones ist bei Piaton ausdrücklich nicht die Rede, wohl aber u.a. von den Ideen des Bettes (Pol. 596b) und Feuers (Tim. 51b). Im Timaios (37d) wird die Zeit verstanden als bewegtes Abbild der Ewigkeit. Die Ewigkeit könnte danach verstanden werden als Idee der Zeit. Es liegt kein Grund vor, beispielsweise

72

Die Natur der ΔΟΞΑ

Seinsebene der Ideen besteht folglich das denknotwendige Sein der Sache. Im Sein einer Sache als denknotwendigem Sein liegt aber auch die αλήθεια der Sache (cf. Theait. 186c—d). „Wahr" ist eine Sache allein in der Idee der Sache, d.i. dem Seinsgrund der Sache. Nur wenn die Sache festgebunden ist durch αιτίας λογισμω, durch den Rückgriff auf die Idee der Sache, kann man von Wahrheit in bezug auf die Sache reden. Die Wahrheit, daß eine Sache ist, die erkannt werden soll, ist eine notwendige Bedingung f ü r das Erkennen der Sache. Nur im Rückgriff auf die Idee der Sache ist es daher sinnvoll von einem Erkennen der Sache zu reden, denn Erkenntnis der Sache ist nach Piaton immer Erkenntnis des Seinsgrundes der Sache, d.h. der Idee. Eine Erkenntnisfunktion der Seele — wie das Wahrnehmen — die den Seinsgrund der Sache nicht erreicht, kann kein έπίστασθαι sein. I n der bisherigen Erörterung hat sich gezeigt, daß die Wahrheit der Sache im Sein der Idee der Sache besteht, anders ausgedrückt: wahr ist eine Sache dann, wenn unser Denken uns zu der Annahme nötigt, daß die Sache auf der Seinsebene der Ideen ,,da ist", daß es die Idee der Sache gibt. Man könnte den Einwand machen, daß die Wahrheit der Sache damit sehr billig geworden sei, denn wenn Piaton sich generell bei der Suche nach dem Seinsgrund einer Sache genötigt fühlt, die Sache aus der Idee der Sache zu begreifen, so bezieht sich auf diese Weise jede Sache auf eine ihr entsprechende Idee und ist mithin durch diese Beziehung auf ihre Idee wahr. Demgegenüber ist zu sagen, daß zumindest in den späten Dialogen keineswegs jede beliebige Sache aus einer ihr zugrunde liegenden Idee begriffen wird, sondern vornehmlich solche Sachen, deren Struktur vom Guten und Sinnvollen bestimmt ist 1 . für Töne und Farben einen anderen Seinsgrund anzunehmen als die Ideen, zuma! der Demiurg im Timaios die Welt so genau wie möglich nach dem Vorbild des ewig seienden παντελές ζώον, dem Ideenreich, erschafft (cf. 30 c ff.). Zur Frage des Übels in der Welt vgl. das Folgende. — H. Leisegang (RE 40, 1950, Art. Piaton, 2482ff.), der das Ideenproblem an Hand des Parmenides diskutiert, glaubt im Sinne Piatons vier verschiedene Gruppen von Ideen feststellen zu können. Der platonische Terminus είδος bezeichnet für Leisegang nicht nur Ideen, sondern auch Begriffe im modernen Sinne. Vom Menschen, Feuer, Wasser und „allen anderen Dingen, die der logischen Bearbeitung und Ordnung fähig sind" (2483, 41 ff.) gibt es nach Leisegang nur Begriffe. Gegen eine derartige Auffassung scheint mir u.a. Tim. 51c zu sprechen. 1 Parm. 130c, d weist Sokratee, wenn auch zweifelnd, den Gedanken zurück, es müßten auch Ideen von solch niedrigen Dingen wie Haar, Kot und Schmutz angenommen werden. — Phileb. 26b wird ausgeführt, daß nur καλά πάντα zur dritten Gattung des Seienden gehören, zum Gemischten (μεικτόν), welche auch als μεικτή καΐ γεγενημένη ούσία (27 b) bezeichnet wird. Selbst wenn man wie Ross (Plato's Theory of Ideas, S. 136ff.) der Meinung ist, daß zwischen den Avisführungen des Philebos und der Ideenlehre kein direkter Zusammenhang be-

Der platonische Wahrheitsbegriff

73

Die zweite Entgegnung auf den vorgebrachten Einwand muß der Hinweis sein, daß es noch eine andere Seite des platonischen Wahrheitsbegriffes gibt, die bisher noch nicht erörtert wurde. Das Erkennen einer Sache besteht nicht nur im Erkennen, daß die Sache ist, sondern auch was die Sache ist. Die Tatsache des „daß" ist die notwendige Bedingung der Erkenntnis des „was". Die Frage nach dem „Was" der Sache ist die Frage nach dem Wesen der Sache. Und damit kommen wir zur zweiten Beziehung zwischen ούσία und άλήθίΐ,α. War die ούσία als denknotwendiges Sein der Sache das Vorhandensein der Sache auf der Seinsebene der Ideen, mit anderen Worten: war die ούσία das Sein der Idee, so ist die ουσία als Wesen der Sache die Idee selbst. Die Sache als Erfahrungstatsache ist gegenüber der Idee der Sache das „weniger Seiende". Sie ist in geringerem Grade1. Die Idee dagegen ist die Vollkommenheit und Wahrheit der Sache schlechthin2. Sie wird von Piaton häufig als δντως 6v bezeichnet3. Dieser Begriff besagt etwas über das Wesen der Sache. Er dient zur Umschreibung dessen, das den höchsten Seinsgrad besitzt. Im Hinblick auf die Existenz, das bloße „da" oder „nicht da", weist das Seiende keine Seinsgrade auf. Bezüglich der Existenz läßt sich nur von verschiedenen Seinsebenen reden, auf denen etwas ist oder nicht steht ·— ein Problem, das hier nicht erörtert werden kann —, ist es schlecht möglich, das Schöne und Gute als maßgerechte Mischung zu verstehen, das Übel hingegen auf einer Idee gründen zu lassen. •— Timaios 46 e werden zwei Arten von Ursachen unterschieden. Erstens diejenigen, die mit Vernunft das Schöne und Gute bewirken, zweitens diejenigen, die ohne Vernunft τό τυχόν ίτακτον hervorbringen. Zur ersteren Gruppe gehört der Demiurg, der aus der bereits vor der Erschaffung der Welt vorhandenen, aber maßlosen und ungeordneten Genesis-Sphäre nach dem Vorbild des Ideenreiches den Kosmos geschaffen hat. Da der Demiurg nicht beabsichtigen kann, etwas Schlechtes zu schaffen (cf. 30a), und das Vorbild, nach dem er schafft, das Schönste und in allen Stücken vollkommen ist (cf. 30 d), liegt für uns der Schluß nahe, als Seinsgrund des Schlechten in der Welt, die zweite Art von Ursachen anzunehmen, τό της πλανωμένης είδος αΜας, welche auch durch den Begriff άνάγκη charakterisiert wird (cf. 48 a). •— Vgl. auch Theait. 176a; dagegen Pol. 476a u. 402c. 1 515d werden im Höhlengleichnis die Gegenstände im Vergleich zu ihren Schatten als μάλλον δντα bezeichnet. 585 b ff. ist ebenfalls von einem μάλλον und ήττον δν die Rede. Im Gebiet des Seienden gibt es Unterschiede hinsichtlich des Seinsgrades (μάλλον είναι 585c) dessen, was ist. 2 Vgl. Phaid. 65e, Pol. 484c, Phaidr. 248b und Pol. 597a, 477a, Soph. 248e. 3 Pol. 597 d, 490b; Phaidr. 247 c, 249 c u.ö. — Daß δντως in diesem Zusammenhang nicht als Bekräftigung der Existenz dessen, was als δν bezeichnet wird, zu verstehen ist, sondern als eine Bestimmung, die das Wesen dieses δν betrifft, geht aus Beispielen wie etwa dem folgenden hervor : 6 γε δντως φιλομαθής (Pol. 490a). Der „wahrhaft oder wirklich Lernbegierige" ist nicht ein Lernbegieriger, der wirklich existiert, sondern einer, in dem das, was Lernbegierde sein kann, sich in vollem Maße realisiert. Vgl. auch die charakteristische Stelle Phaidr. 247 e : τό δ έστιν δν δντως, das in seiender ( = wirklicher, wahrhafter) Weise, was es ist, Seiende.

74

Die Natur der ΔΟΞΑ

ist. Über Seinsgrade v e r f ü g t das Seiende nur in der Intensität dessen, als das sich dasjenige, was da ist, kund gibt. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen. Ein Gewitter kann stärker oder schwächer sein. Das Gewitter als Ereignis ist oder ist nicht, aber das Gewitter als Gewitter k a n n in höherem oder niedrigerem Grade das realisieren, was man unter dem Begriff „Gewitter" versteht. Ein vollkommenes Gewitter wäre etwas, das in seiner Eigenschaft als Gewitter sozusagen evident wäre. I h m käme der höchste Seinsgrad zu, da sich kein Gre witter denken läßt, das in höherem Grade die Verwirklichung seiner selbst ist. E s wäre ein τελέως 6v, ein vollkommen Seiendes. Der Begriff des vollkommen Seienden besagt jedoch dasselbe wie der Begriff des όντως Óv, des wirklich (oder wahrhaft) Seienden. Ein Gewitter, das wirklich (όντως) Gewitter ist, ist ein Ereignis, das sich ganz klar als Gewitter erkennen läßt. J e wirklicher ein Gewitter ist, ein desto vollkommeneres Gewitter ist es; das wirklichste Gewitter 1 wäre die Erfüllung seiner selbst, nämlich die Idee eines Gewitters, die das Mehr oder Weniger aller irdischen Gewitter bei weitem übersteigt. E r s t das wirklichste Gewitter könnte auch das im eigentlichen Sinne wahrhafte Gewitter sein, denn das όντως δν, das wirklich Seiende, ist identisch mit dem άλη&ώς 6v, dem wahrhaft Seienden 2 . Der Begriff „Wirklichkeit" ( = άλήθεια) bedeutet in diesem Sinne nichts, Avas irgendwie mit der Realität der empirisch erfaßbaren Welt zusammenhängen könnte, sondern meint Verwirklichung der ganzen Seinsfülle, die ein Seiendes haben kann. Das Wirklich-Sein des Seienden, verstanden als die Erfüllung dessen, was ein Seiendes in seiner Vollendung sein muß, ist in der Erfahrungswelt nie erreichbar; es besteht allein in der Idee. I n der Idee zeigt sich der ganze mögliche Seinsgehalt eines Seienden. Es zeigt sich, was das Seiende eigentlich ist, wenn es aller zufälligen Bedingungen und Einbußen enthoben ist. Dieses eigentliche Sein des Seienden ist das Wesen (ούσία) des Seienden. E s besteht in der Wirklichkeit des reinen vollen Seinsgehaltes des Seienden u n d wird von Piaton häufig verstanden als Wahrheit des Seienden. „ W a h r " u n d „Wirklich" (im definierten Sinne von „verwirklicht") sind in diesem Zusammenhange zwei synonyme Übersetzungen des einen griechischen Wortes άληθής. 1 Das Gewitter eignet sich zwar einerseits hier gut als Beispiel (weil es unterschiedliche Intensitätsgrade haben kann), in anderer Hinsicht ist es jedoch weniger geeignet, denn in Piatons Konzeption der Idee gehört auch der Gedanke des rechten Maßes (vgl. dazu besonders den Philebos), welcher beim Beispiel des Gewitters nicht deutlich wird, da man sich die Intensität eines Gewitters in infinitum gesteigert denken kann. 2 Vgl. S. 77 Anm. 1. Auch im Deutschen stehen die Begriffe „wirklich" und „wahrhaft" einander sehr nahe. Vgl. z.B.: Etwas ist wirklich so, etwas ist wahrhaftig so.

Der platonische Wahrheitsbegriff

75

Dieser Begriff der αλήθεια dient mithin zur Beschreibung der ontologischen Struktur des Seienden, nicht aber zur Beschreibung der eigentümlichen Beziehung zwischen Erkenntnis und deren Gegenstand, was dem common sense gemäß wäre. Gewöhnlich denkt man, wenn von Wahrheit die Rede ist, an die Wahrheit einer Aussage. Läßt sich das, was über etwas ausgesagt wird, als Erkenntnis beschreiben, ist die Aussage wahr. Einzig und allein im Erkenntnischarakter der Aussage besteht deren Wahrheit. Erkenntnis ist jedoch immer Erkenntnis von etwas. Von Wahrheit zu reden ist daher in dieser Hinsicht nur sinnvoll in bezug auf das Verhältnis, in dem das Ausgesagte zu dem steht, wovon es ausgesagt worden ist, nicht aber in bezug auf den möglichen Gegenstand einer Aussage allein. M.Heidegger 1 und vor ihm N . H a r t m a n n 2 interpretieren άλήθεια als „Unverborgenheit". „Das im Sinne der αλήθεια anfanglich griechisch gedachte Wesen der Wahrheit" ist nach Heidegger „die auf Verborgenes (Verstelltes und Verhülltes) bezogene Unverborgenheit" 3 . Das Verborgene, auf das sich die Unverborgenheit bezieht, ist das Sein. „Das Sein entzieht sich, indem es sich in das Seiende entbirgt. Dergestalt hält das Sein mit seiner Wahrheit an sich. Dieses Ansichhalten ist die frühe Weise seines Entbergens. Das frühe Zeichen des Ansichhaltens ist die Ά-λήθεια. Indem sie Un-Verborgenheit des Seienden bringt, stiftet sie erst Verborgenheit des Seins." * Mit Bezug auf Piaton sagt Heidegger: „Das Unverborgenste zeigt sich in dem, was je das Seiende ist. Ohne ein solches Sichzeigen des Wasseins (d.h. der Ideen) bliebe dies und jenes und all solches und damit überhaupt alles verborgen." (Piatons Lehre von der Wahrheit, S. 30.) Mit Recht betont Heidegger in seiner Interpretation des Höhlengleichnisses den unterschiedlichen Grad der jeweiligen „Entbergung" des Seienden. Von den unterschiedlich gearteten Sachen, die nacheinander geschaut werden, heißt es nämlich im Gleichnis, sie seien αληθές, άληθέστερον, bzw. το άληθέστατον. In diesen Praedikaten bekundet sich die Stellungnahme des Menschen; denn „was in dem Aufenthaltsbezirk des Menschen jedesmal das offen Anwesende ist", bildet den jeweiligen Orientierungspunkt seines Wahrheitsbewußtseins. Bei Piaton vollzieht sich nach Heidegger nun der „Wandel der Wahrheit aus der Unverborgenheit des Seienden zur Richtigkeit des Blickens" (a.a.O. S. 46). Der Wandel ergibt sich, indem „sich das Wesen der Wahrheit nicht als das Wesen der Unverborgenheit aus eigener Wesensfülle entfaltet, sondern sich 1

Sein und Zeit, Halle 1927, S. 219. * Piatos Logik des Seins, Gießen 1909, S. 239. Für Hartmanns Piatonverständnis spielt diese Interpretation nicht im entferntesten eine solche Rolle wie bei Heidegger. 3 Piatons Lehre von der Wahrheit, 2. Aufl., Bern 1954, S. 33. 4 Der Spruch des Anaximander, in: Holzwege, Frankfurt 1950, S. 311.

76

Die Natur der ΔΟΞΑ

auf das Wesen der ιδέα verlagert" (a.a.O. S. 41). Als Unverborgenheit ist die Wahrheit nach Heidegger „noch ein Grundzug des Seienden selbst. Als Richtigkeit des ,Blickens' aber wird sie zur Auszeichnung des menschlichen Verhaltens zum Seienden" (a.a.O. S. 42). Diese Verlagerung hat weitreichende Folgen ; denn „das Gepräge des Wesens der Wahrheit als der Richtigkeit des aussagenden Vorstellens" ist nach Heidegger von Piaton an „maßgebend f ü r das gesamte abendländische Denken" geworden (a.a.O. S. 44). Heideggers weitreichender Deutung des platonischen Wahrheitsbegriffes kann die vorhegende Untersuchung nicht folgen 1 . In Übereinstimmung mit Heidegger ergab sich jedoch, daß άλήθ-εια ein Strukturzug des Seienden ist. Die άλήθειχ einer Sache besteht f ü r Piaton im Wesen (ούσία) der Sache, wobei das Wesen der Sache dasjenige ist, was die Sache in ihrer Vollendung sein muß, nämlich die Idee der Sache, άλήθεια, ούσία und ιδέα beschreiben bei Piaton ein und dasselbe : το δντως ov. Daß Piaton den Begriff der άλήθ-εια nicht nur im gewöhnlichen Sinne, sondern vornehmlich in der bereits erläuterten Bedeutung gebraucht, läßt sich leicht nachweisen. Pol. 515d wird im Höhlengleichnis von demjenigen, der, entfesselt und plötzlich umgewendet, die Gegenstände sieht, deren Schatten er vorher nur gesehen hat, gesagt, daß er infolge der Blendung durch den Feuerschein der Meinung sei, die vorher gesehenen Schatten seien άληθέστερα als die ihm nimmehr gezeigten Gegenstände. Dies kann nur so verstanden werden, daß das Seiende als das, was es ist, jeweils in verschiedenem Maße erfahren wird. (Man vergegenwärtige sich die Situation des Geblendeten, der nicht richtig sehen kann.) Dabei unterliegt es keinem Zweifel, daß ein Ding mehr von seinem Seinsgehalt — von dem, was es ist — kundgibt als sein Schatten. Der Schatten ist gegenüber dem Ding kein eigenständig Seiendes, sondern hängt in seinem Sein vom Sein des Dinges ab und bedeutet nach Piaton, wie das Ding selbst, nur eine Realisationsstufe dessen, was das Ding eigentlich ist. Der Unterschied im Seinsgehalt zwischen Ding und Schatten wirft die Frage nach dem Maximum an Seinsgehalt auf. Auf welcher Realisationsstufe ist das Ding am meisten, d.i. am wahrsten, das, was es ist? Die wahrhaftigste Ausprägung dessen, was das Ding ist, ist noch nicht das empirisch erfaßbare Ding, sondern die Idee, das reine An-sich-Sein des Dinges 2 . In der Idee offenbart sich der ganze Seinsgehalt eines Seienden ohne jede Beeinträchtigung, und in diesem totalen Seinsgehalt besteht die Wahrheit des Seienden. Damit ist die Wahrheit ·— wie bereits gesagt — nichts anderes als das Wesen des Seienden, denn das Wesen (ούσία) 1

Zur Frage der Etymologie von άλήθεια vgl. u.a. P. Friedländer, Piaton, Bd. I, 2. Aufl., Berlin 1954, S. 233ff., neuerdings auch E. Heitseh, Die nichtphilosophische άλήθεια, Hermes, Bd. 90, 1962, S. 24ff. 2 τό άληθέστατον Phaid. 65e und Pol. 484c.

Der platonische Wahrhe its begriff

77

eines Seienden bestand in dem, was das Seiende in seiner Vollendung sein muß, d.h. in der Idee. In diesem Sinne kann Piaton Pol. 602c sagen, die Nachahmungskunst beschäftige sich mit Sachen, die drei Grade άπό αληθείας, von der Wahrheit — d.h. vom Wesen der Sachen, von dem, was sie eigentlich sind — entfernt seien. Ferner Pol. 587c, der Tyrann lebe mit einem Schattenbild dritten Grades von Lust πρός άλήθειαν, gemessen an der Wahrheit, d.h. an dem, was Lust eigentlich sein kann. Pol. 490b ist von einem άληθώς ζην die Rede. Das bedeutet nicht „in Wirklichkeit leben" im Gegensatz zum „Totsein", sondern so leben, wie es dem Wesen und damit zugleich objektiven Maßstab des menschlichen Lebens entspricht1. Nur wenn man die αλήθεια als Wesen versteht, ist es auch sinnvoll zu sagen, daß die Dinge αληθέστερα seien als ihre Schatten, weil sich das Wesen der Dinge in den Dingen und Schatten in verschiedenem Maße realisiert. Nunmehr wird auch die bereits zitierte Stelle, Pol. 510a 2 , verständlich, wo sich die Ideenwelt von der Sinnenwelt hinsichtlich der άλήθεια linterschied wie ein Urbild zum Abbild. Insofern in der Sinnenwelt das Wesen der Dinge unvollkommener realisiert wird als in der Ideenwelt, ist die Sinnenwelt weniger,,wahr' ', weniger ihrem Wesen gemäß, und zwar ist der Unterschied an „Wahrheit" der gleiche wie der Unterschied an Seinsgehalt bei Urbild und Abbild. Bisweilen finden sich auch die Ausdrücke Wahrheit und Wesen in paralleler Stellung (z.B. Pol. 525c έπ* άλήθειαν τε καί ούσίαν, Pol.508dάλήθειά τε καΐ τό 6v). Dann kann man beide Ausdrücke als Hendiadyoin auffassen3. Die Beziehung zwischen άλήθεια und έπιστήμη wird Pol. 508 e f. aufgewiesen. Die ιδέα τοϋ άγαθοϋ verleiht demjenigen, das erkannt wird, αλήθεια und demjenigen, der erkennt, die Erkenntnisfahigkeit. Mit anderen Worten : die ιδέα τοϋ άγαθοϋ ermöglicht es, daß das, was eine Sache ist, sich offenbaren kann. Die άλήθεια der Sache ist das offenbar gewordene Wesen der Sache4. In der Möglichkeit der Offenbarung seiner selbst besteht die Erkennbarkeit der Sache. Die Offenbarung des Wesens ist jedoch nur möglich in bezug auf etwas, demgegenüber es offenbar wird. Zwischen Erkennendem und Erkennbarem besteht eine 1 Häufig gebraucht Piaton auch άληθώς synonym mit βντως, z.B. Pol. 486β άληθώς φιλόσοφος und Pol. 490a δ γε δντως φιλομαθής. * Vgl. S. 68 f. 3 Als weitere Beispiele zur Verdeutlichung des Wahrheitsbegriffes aus anderen Dialogen könnten hier Eingeführt werden: Men. 86b, Phaid. 67b, Phaidr. 248b. * 509b wird gesagt, daß durch das άγαθόν demjenigen, das erkannt wird, nicht nur die Erkennbarkeit, zukomme, sondern auch τό εϊναί τε καί ή ουσία, das Sein und das Wesen. Daß hier noch einmal nach der άλήθεια die ούσία (das Wesen) aufgeführt wird, braucht der Interpretation der άλήθεια als „offenbar gewordenes Wesen" nicht zu widerstreiten. 508e f. war die άλήθεια als Offenbarung, als Erkennbarkeit des Wesens betont worden. 509 b wird τό άγαθόν angeführt als Grund des Seins und des Wesens, und zwar des Wesens diesmal unangesehen einer möglichen oder immöglichen Erkenntnis.

78

Die Natur der ΔΟΞΑ

unaufhebbare Korrelation, die allein durch das Medium der ιδέα του άγαθοϋ ermöglicht wird. Deshalb kann sich philosophische Erkenntnis auch nicht auf jeden beliebigen Gegenstand richten, genauso wenig wie jeder beliebige Mensch der Ideenschau fähig ist. Beide Seiten in der Erkenntniskorrelation müssen nämlich die Bedingung erfüllen, άγαθοειδή (509a) zu sein. Wie der Mensch diese Bedingung erfüllen kann, zeigt Piatons Erziehungstheorie in der Politela. Als Ergebnis der Untersuchung des Wahrheitsbegriffes hat sich ergeben : Die Wahrheit des Seienden besteht einmal in der Notwendigkeit der Existenz der Idee als des Seinsgrundes des Seienden, zum anderen im Wesen des Seienden. In beiderlei Hinsicht ist der platonische Wahrheitsbegriff an die Idee gebunden. Für die Erkenntnis des „Was" einer Sache, des ô-u ποτ' εστίν, ist der Wahrheitsbegriff in der zweiten Bedeutung entscheidend. Wahrheit bedeutet in diesem Sinne das, was eine Sache eigentlich ist, das είδος, die Idee. Da das Erfassen der Wahrheit zur Bestimmung der Erkenntnis gehört, kann — wenn nach Piaton Erkenntnis möglich sein soll •— nur das erkannt werden, was wahr ist. Das Wahr-Sein einer Sache ist mithin im Sinne Piatons eine notwendige Bedingung der Erkenntnis der Sache. Wahr sind jedoch nur die Ideen. Daraus folgt, daß Erkenntnis im ausgezeichneten Sinne immer auf die Idee bezogen ist. Alles das, was nicht Idee ist, kann nicht erkannt werden, weil dieser platonische Wahrheitsbegriff 1 keine Hinsicht offen läßt, in der es möglich wäre, bezüglich dessen, was nicht im eigentlichen Sinne, d. h. nicht Idee ist, von Wahrheit zu reden. Da es außer den Ideen jedoch noch anderes Seiendes gibt, das Gegenstand geistigen Verhaltens — wenn auch nicht des Erkennens — ist, muß es f ü r diesen ganzen Gegenstandsbereich eine vom eigentlichen Erkennen verschiedene intellektuelle Funktion geben. Diese Funktion ist das seelische Vermögen des δοξάζειν. Bevor nunmehr auf dem Hintergrund des erörterten Wahrheits- und Erkenntnisbegriffes die Frage nach der Wahrheit der wahren Meinung erneut aufgerollt wird, ist es zweckmäßig, noch einige wichtige Partien der Politeia zu behandeln, in denen zum Teil neue Gesichtspunkte die Charakteristik der δόξα bestimmen. Die erkenntnistheoretische Stellung der δόξα in der Politeia Um den eigentümlichen Charakter der δόξα herauszuarbeiten, wäre ein kritischer Vergleich zwischen δόξα und επιστήμη angebracht. Einen derartigen Vergleich beider Erkenntnisvermögen 2 hat Piaton in der 1

Von einem anderen Wahrheitsbegriff wird S. 92ff. die Rede sein. Mangels eines passenderen Ausdrucks werden im folgenden außer der επιστήμη auch andere geistige Verhaltensweisen als Erkenntnisarten bezeichnet, obwohl es sich dabei nicht um eigentliche Erkenntnis im Sinne Piatons handelt. 2

Die erkenntnistheoretische Stellung der δόξα in der Politeia

79

Politeia unternommen, allerdings nicht um der δόξα, sondern um der έπιστήμη willen. Die Ausführungen über die δόξα sind dort von systematischerer Art als in den bisher behandelten Dialogen. Dabei steht die Scheidung zwischen έπιστήμη und δόξα im Vordergrund der Erörterungen. Hinsichtlich ihres Erkenntniswertes liegt die δόξα zwischen άγνοια und έπιστήμη (Pol. 478d). Sie ist etwas Dunkleres (σκοτωδέστερον) als die γνώσις 1 und etwas Helleres (φανότερον) als die άγνοια (478c). Dabei wird vorausgesetzt, daß sich die Erkenntnis auf das Seiende richtet, die Unwissenheit aber auf das Nichtseiende 2 . Weshalb die έπιστήμη — was wiederholt betont wird, vgl. 477 b und 478a •— Erkenntnis des Seienden, und zwar des An-sich-Seienden (vgl. 476c, d), sein muß, ist von Piaton bereits anderwärts 3 hinreichend begründet worden. Neu und zunächst unverständlich erscheint der Gedanke, daß sich die Unwissenheit, das Nicht-Wissen (άγνοια 478c), auf das Nicht-Seiende beziehen soll; denn sowohl Wissen als auch Nicht-Wissen erfordern einen Gegenstand, der gewußt, bzw. nicht gewußt wird. Das Nichts schlechthin kann weder gewußt noch nicht gewußt werden, weil es dem Denken überhaupt nicht zugänglich ist, es sei denn, man vergegenständlicht es. Daß es trotzdem sinnvoll ist, wenn Piaton der άγνοια das μή Óv zuordnet, zeigt sich, wenn man bereit ist, den platonischen Gedanken von der Erkenntnis als Wesensschau nachzuvollziehen. 477 a heißt es, das vollkommen Seiende (παντελώς 6v) sei auch vollkommen erkennbar (παντελώς γνωστόν), das Nicht-Seiende hingegen schlechterdings unerkennbar (μη δα μη πάντη άγνωστον). Das bedeutet, daß die Erkenntnis im Sinne der Wesensschau um so befriedigender und vollkommener ausfallen muß, je vollkommener der Gegenstand ist. Eine vollkommene Wesensschau ist nur von demjenigen möglich, das das, was es ist, in vollem Maße realisiert, d.h. von der Idee einer Sache. Alles, was an dieser Idee teilhat und die mannigfaltigen empirisch erfaßbaren Exemplare der Sache verkörpert, realisiert das Wesen, das βτι ποτ' εστίν der Sache in geringerem Grade. Eine Erkenntnisweise, die auf die Erscheinungsformen der Sache in der empirischen Realität gerichtet ist, kann mithin dasjenige, was die Sache eigentlich ist, nur unvollkommen erfassen. Noch unvollkommener muß eine Erkenntnis ausfallen, die sich auf die Schatten und Abbildungen der gegenständlichen Verkörperungen der Sache richtet, weil diese Abbilder der Sache sogar drei Grade vom Wesen der Sache entfernt sind 4 . Nichtsdestoweniger läßt jedoch noch der schwächste und undeutlichste Schatten 1 I m Sinne von έπιστήμη (u.a. 477d, e, 478a, 478d) stehen auch γνώσις (u.a. 477a, 478c, 480a), νους (51 Id) und νόησις (51 id). - άγνωσία 8' έξ άνάγκης έπΐ μή δντι 477a; cf. auch 478c. » Z.B. im Kratylos und Phaidon, vgl. S. 65ff. 4 Vgl. Pol. 602c und dazu S. 77.

80

Die Natur der ΔΟΞΑ

einer Sache etwas von dem, was die Sache ist, erkennen. Es d ü r f t e schwer halten, im Umkreis dessen, was in irgendeiner Weise ist, etwas zu finden, bei dem sich das Wesen diesen Seienden ganz u n d gar verflüchtigt hätte. Gäbe es nämlich derartiges, wäre es ü b e r h a u p t nicht feststellbar, da mir Seiendes stets n u r als so und so seiend, d . h . diesen oder jenen Bestimmungen unterliegend, begegnen k a n n . D a h e r ist völlige άγνοια im Sinne der platonischen Wesensschau tatsächlich n u r beim Nicht-Seienden möglich. Unter der Voraussetzung, d a ß die Erkennbarkeit einer Sache mit dem Seinsgrad der jeweiligen Realisation der Sache wächst, steht der Begriff des Nicht-Wissens (αγνοία) nicht in kontradiktorischem, sondern in konträrem Gegensatz zum Wissen (επιστήμη). Dieser U m stand darf jedoch nicht den Anschein erwecken, als ob der gradweise Anstieg von der άγνοια zur έπιστήμη auf einer sich den Gegenständen anpassenden Leistungsfunktion ein u n d desselben Erkenntnisvermögens beruhe. Vielmehr trifft genau das Gegenteil zu. δόξα u n d έπιστήμη sind zwei eigenständige Erkenntnisvermögen 1 , die als δυνάμεις in eine Reihe gestellt werden mit dem Gesichtssinn und Gehör (cf. 477b ff.). Danach k a n n die eigentliche Erkenntnis (έπιστήμη) so wenig eine vertiefte u n d erweiterte Doxa-Erkenntnis sein, wie etwa Gesichtseindrücke vertiefte und erweiterte Gehörseindrücke sind. D a ß Piaton die έπιστήμη als δύναμις versteht u n d auf eine Stufe stellt mit den anderen δυνάμεις zeigt, d a ß das Erkennen (γιγνώσκειν) f ü r ihn ein geistiges Verhalten ist. Das Erkennen wird als besonderer geistiger Akt verstanden, f ü r den es in der Seele eine besondere δύναμις gibt. Erlangt jemand επιστήμη von einer Sache, von der er vorher n u r eine δόξα gehabt hat, richtet er sich ineins d a m i t in seinem geistigen Verhalten auf einen anderen Gegenstandsbereich. Diese Änderung der Einstellung entspricht einem Wechsel in der Art des geistigen Verhaltens selbst. Das Vermögen der έπιστήμη löst das Vermögen der δόξα in seiner Tätigkeit ab. E s handelt sich mithin nicht u m einen Übergang zwischen δοξάζειν u n d έπίστασθ-αι, sondern u m einen Wechsel zwischen beiden Erkenntnisweisen. Streng genommen d ü r f t e deshalb auch nicht von einer mehr oder weniger vollkommenen Wesensschau als Leistung der einzelnen E r kenntnisvermögen die R e d e sein, wie es Piatons Ausführungen über die Stellung der δόξα in der Politela einschließen ; denn eigentliche E r kenntnis einer Sache, d.i. ihre Wesensschau, die notwenigerweise vollkommen ist, ist n u r von der Idee der Sache möglich. D o x a - E r k e n n t n i s der Sache ist keine weniger vollkommene Wesensschau, sondern ü b e r h a u p t keine Wesensschau. Insofern sich jedoch n u r der έπιστήμη der ganze Seinsgehalt eines Seienden erschließt u n d die anderen E r k e n n t 1 Mit δόξα bzw. έπιστήμη wird sowohl das Vermögen des δοξάζειν bzw. έπίστασθαι als auch die Leistung (δ άπεργάζεται) dieses Vermögens bezeichnet, cf. 477c ff. — Vgl. auch S. 91 f. u. S. 92 Anm. 1.

Die erkenntnistheoretische Stellung der δόξα in der Politeia

81

nisweisen das Sein eines Seienden nur in mehr oder weniger großen Beeinträchtigungen erfassen können, ergibt sich für Piaton ein Gesichtspunkt, die Erkenntnisweisen nach Maßgabe von Deutlichkeit und Undeutlichkeit 1 einzuteilen. Dabei bildet die επιστήμη, die Wesensschau, — als dasjenige, was vollkommene Erkenntnis sein muß und eigentlich allein den Namen Erkenntnis verdient 2 — den Maßstab, an dem die übrigen Erkenntnisweisen gemessen werden. Die erkenntnistheoretische Mittelstellung der δόξα entspricht der ontologischen Mittelstellung ihres Gegenstandsbereiches. Hinsichtlich seines Seinscharakters liegt der Gegenstandsbereich der δόξα mitten zwischen dem είλικρινώς δν und dem μηδαμη 6v (cf. 477 a). Von diesem Bereich ist — was bereits betont wurde — nur Doxa-Erkenntnis möglich. Piaton charakterisiert ihn kurz als das δοξαστόν8. δοξαστόν ist, alles das, was nicht an sich ist, sondern nur insofern es am Ansich-Seienden Anteil hat (τά μετέχοντα 476d) 4 . Im sog. Liniengleichnis 510a wird des näheren angeführt, was in diesen Seinsbereich fällt. Es sind dies die uns umgebenden sinnlichen Lebewesen, das ganze Pflanzenreich, die gesamte Gattung der künstlich hergestellten Dinge, sowie deren Schatten, Abspiegelungen und ähnliche Erscheinungen 5. Die ontologische Mittelstellung des δοξαστόν zwischen An-sichSeiendem und Nicht-Seiendem wird an einigen Stellen damit begründet, daß es zugleich als seiend und nicht seiend (δν τε καΐ μή δν 47 8 d) erscheint, sowohl am Sein als am Nicht-Sein (του είναι τε και μή είναι 478e) Anteil hat. Das Sein (bzw. Nicht-Sein), von dem hier die Rede ist, bedeutet Bestimmt-Sein als etwas. 479 b wird nämlich darauf hingewiesen, daß ein jedes der vielen Dinge „das, was man sagt, daß es sei" (δ άν τις φη αύτό είναι) nicht mehr ist als nicht ist. Dies Argument ist zunächst nicht ganz verständlich. Daß keine eindeutigen Bestimmungen hinsichtlich solcher Prädikate wie „schön", „gerecht", „gut" u. dgl. von Dingen der Erfahrungswelt möglich sind, würde man wohl zugeben. Anders steht es mit Bestimmungen wie etwa „Mensch-Sein", „Pferd-Sein" u. dgl. Wie läßt sich sinnvoll behaupten, daß etwas, was gemeinhin als Pferd bestimmt wird, in dem Maße, wie es Pferd ist, auch 1

σαφήνεια und άσάφεια vgl. Pol. 478 c u. 509 d. Vgl. Pol. 533d. 3 478 a u.ö., im Gegensatz dazu τό γνωστόν. 4 Ale Beispiele werden 476c die καλά πράγματα angeführt, im Gegensatz zu αύτό κάλλος. Schöne Dinge sind beispielsweise schöne Töne, Farben, Gestalten und alles, was aus derartigem geschaffen ist (cf. 476b). 5 Die Einteilung ist grob und unvollständig. Genau wäre sie, wenn sie alle Arten des Seienden erfaßte, welche die Sinnenwelt enthält. — Die letzte der aufgezählten Gruppen (die Schatten und Spiegelbilder) ist Gegenstand der είκασία, einer Unterart der δόξα. Vgl. dazu S. 83ff. 5

0

8001

Sprute, DOXA

82

Die Natur der ΔΟΞΑ

kein Pferd ist? Auf diese Frage gibt eine Stelle des Timaios (49a if.) eine Antwort. Dort wird des näheren ausgeführt, es sei schwierig zu bestimmen, welchem der Elemente man einen bestimmten Namen (z.B. Wasser) und nicht vielmehr den aller oder eines einzelnen von ihnen zu geben hat, wenn man sich dabei eines zuverlässigen und sicheren Namens bedienen will, d.h. mit keinem der gängigen Ausdrücke f ü r die jeweiligen Elemente kann die Natur eines Elementes angemessen beschrieben werden. Die Elemente bilden nämlich einen Kreislauf und gehen beständig ineinander über. Aus Wasser werden Steine und Erde oder Luft, aus Luft Feuer oder Wolken und Nebel und aus diesen wiederum Wasser. Bei all dem, was wir bald so, bald anders werden sehen, kann man daher nichts Wasser oder Feuer im Sinne eines „dieses" (τοϋτο), sondern nur im Sinne eines „derartig" (τοιούτον) nennen. Das bedeutet: was wir mit dem Namen eines der Elemente bezeichnen, ist damit keineswegs hinsichtlich eines feststehenden So-und-nicht-anders-Seins charakterisiert, sondern nur hinsichtlich seiner Erscheinungsweise, die jeweils derartig ist, wie wir sie mit den Bezeichnungen der Elemente beschreiben. Da das, was da erscheint, keine βεβαιότης (cf. 49d) besitzt, sondern sich dauernd verändert, ist es im empirischen Bereich unmöglich, etwa mit der Bezeichnung „ L u f t " eine Sache zu beschreiben, die stets und genau dieses, nämlich Luft ist. Der Gedanke des Kreislaufs von Werden und Vergehen kann mithin verständlich machen, wieso Piaton dem δοξαστόν die Mittelstellung zwischen Sein und NichtSein zuweisen kann. Das, was gewöhnlich als Pferd bezeichnet wird, kann nach Piaton auch kein Pferd sein, da es, bevor es Pferd wurde, u.a. ein Embryo war und später einmal u.a. ein Kadaver werden wird. Ein anderer Grund, der Piaton ebenfalls zu der ontologischen Mittelstellung des δοξαστόν geführt haben könnte, liegt in dem Verhältnis zwischen der Idee und ihren sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungsformen. Ein konkretes Pferd ist kein Pferd im eigentlichen Sinne, wenn man seine Vorstellung vom Pferd-Sein an der Idee des Pferdes ausrichtet. Da kein konkretes Pferd jemals der Idee des Pferdes entsprechen kann, steht es in der Tat zwischen Pferd-Seiendem in eigentlichem Sinne und Nicht-(Pferd)Seiendem. In den bisher behandelten Dialogen gab es nur die Scheidung zwischen Ideenwelt und Sinnenwelt mit den auf sie bezogenen Erkenntnisvermögen έπιστήμη und δόξα. In der Politela wird jedoch noch weiter differenziert. Das ganze Gebiet des Seienden teilt sich in den νοητός τόπος und ορατός τόπος (cf. 509d). Beide durch diese erste, grundlegende Scheidung sich ergebenden Gebiete (auch γένος genannt, 509d) sind nochmals unterteilt, so daß sich im ganzen vier Seinsbereiche er-

Die εικασία

83

geben 1 . Die Gegenstände dieser Gebiete unterscheiden sich voneinander durch ihren Seinsgrad, d.i. nach Maßgabe ihrer Teilhabe an der αλήθεια (51 le), an dem, was die Dinge eigentlich sind. Jedem Seinsbereich korrespondiert ein eigenständiges Erkenntnisvermögen 2 , dem untersten, der am wenigsten Anteil h a t an der άλή&εια, die εικασία; den beiden jeweils nächsthöheren, die δόξα (spezieller auch πίστις genannt, 51 l e , 534a) u n d die διάνοια; dem obersten, dem Bereich der uneingeschränkten αλήθεια, die επιστήμη 3 . Die beiden unteren Erkenntnisarten werden unter dem Begriff δόξα, die beiden oberen unter dem Begriff νόησις zusammengefaßt (534a). Die Doxa-Erkenntnis unterscheidet sich von der Vernunfterkenntnis dadurch, daß sie im Gegensatz zu dieser nicht unfehlbar (μή άναμάρτητον 477e) iet und deshalb auch nicht Erkenntnis im eigentlichen Sinne sein k a n n ; die δόξα richtet sich auf die Welt des Werdens (περί γένεσιν), die νόησις auf die Welt des wesenhaften Seins (περί ούσίαν). Dabei stehen ούσία u n d γένεσις im selben Verhältnis zueinander wie νόησις und δόξα und letztere wiederum im selben Verhältnis wie sowohl επιστήμη u n d πίστις als auch διάνοια u n d εικασία (cf. 534a). Nach dieser Stelle herrscht eine durchgängige Proportionalität innerhalb der Erkenntnisarten und Seinsbereiche, sowie eine strenge Korrespondenz zwischen ersteren u n d letzteren. Die εικασία Als Besonderheit der Ausführungen zur δόξα in der Politela gegenüber anderen Dialogen fällt die Distinktion der δόξα in πίστις u n d εικασία auf. πίστις, auch anderwärts belegt u . a . in der Bedeutung „Überzeugung, Glaube" 4, ist lediglich eine andere Bezeichnung f ü r das geistige Verhalten, das tins bisher unter dem Namen δόξα begegnete 5 , εικασία, wörtlich genommen, wäre im Deutschen „Mutmaßung, Verm u t u n g " . I n dieser Bedeutung besteht zwischen εικασία u n d πίστις (im Sinne von „Überzeugung") ein Unterschied hinsichtlich der Sicherheit des geistigen Verhaltens zu den Gegenständen. I n der Politela kann jedoch — wie Ross mit Recht betont, a.a. O. S. 67 — von einem unterschiedlichen subjektiven Sicherheitsgefühl bei den mit εικασία u n d 1 Die Unterscheidung der Seinsbereiche wird veranschaulicht an der Unterteilung einer Linie. Dabei wird in ungleiche Abschnitte (άνισα τμήματα) geteilt. Die Ungleichheit der Abschnitte entspricht der Ungleichheit des Seinsgehaltes der Gegenstände in den verschiedenen Seinsbereichen, welche die Abschnitte der Linie symbolisieren. a δύναμις 477c ff.; πάθημα der Seele 511d. » Vgl. 511 d, e u. 533e—534a. 4 U.a. Parm. Β 8, 12. Emped. Β 114, 3. 5 Bisweilen findet sich πίστις für δόξα auch in anderen Dialogen, z.B. Gorg. 454 d.

β·

84

Die Natur der ΔΟΞΑ

πίστις bezeichneten Arten geistigen Verhaltens keine Rede sein. Ihre Gegenstandsbereiche haben vielmehr einen unterschiedlichen Grad an Deutlichkeit (σαφήνεια 509d) oder Wahrheit (αλήθεια 51 le). Dadurch linterscheiden sich εικασία und πίστις in ihrem Erkenntniswert. Der Erkenntniswert wird dabei bemessen nach dem Richtmaß der vollkommenen Wesenserkenntnis, der επιστήμη. Ausdruck des Erkenntniswertes einer Erkenntnisart ist ihre ranggemäße Einstufung durch Piaton. εικασία und πίστις nehmen die letzt« und vorletzte Stelle in der Rangfolge der Erkenntnisarten ein (cf. 51 Id, e u. 533e f.). Über die subjektive Seite der Erkenntniskorrelation wird hinsichtlich der δόξα in der Po li tei a nichts Näheres gesagt. Es wird noch nicht einmal der sonst so viel behandelte Unterschied von richtiger und falscher Meinung berührt. Die Eigenständigkeit der εικασία gegenüber der πίστις beruht darauf, daß im Gegenstandsbereich der δόξα ein bestimmter Bereich einen niedrigeren Seinsgrad als der übrige hat. Nur dieser Umstand rechtfertigt die Ausklammerung jenes Bereiches aus dem Gesamtbereich der δόξα und die damit einhergehende Scheidung der δόξα in εικασία und πίστις. Der Gegenstandsbereich, um den es sich dabei handelt, besteht aus den Abbildern der sinnlich wahrnehmbaren Dinge 1 , εικασία bedeutet daher in diesem Zusammenhang nicht „Vermutung", sondern das „Erfassen von Abbildern", als da sind Schatten, Spiegelbilder und ähnliches. Einige Interpreten 2 sind der Ansicht, die Teilung der δόξα in πίστις und εικασία sei hauptsächlich vorgenommen worden, um den Unterschied zwischen επιστήμη und διάνοια durch ein analoges Beispiel noch deutlicher zu machen. In der Tat spielt die εικασία als geistiges Verhalten des Menschen nur eine geringe Rolle. Das Erfassen von Schatten und Spiegelbildern ist gegenüber dem Erfassen der körperlichen Gegenstände recht unwichtig. Daß dem Gegenstandsbereich der εικασία überhaupt ein niedrigerer Seinsgrad als dem der πίστις zugeschrieben wird — wodurch er sich als eigenständiger Seinsbereich erst konstituiert —, ist eine Konsequenz der platonischen Ontologie, in welcher der Urbild-Abbild-Beziehung entscheidende Bedeutung zukommt. In den zitierten einschlägigen Partien der Politela, wo von εικασία und πίστις gehandelt wird, gibt es keinen Anhaltspunkt, der es rechtfertigen könnte, der εικασία eine über das Erfassen von Schatten und Spiegelbildern hinausgehende Bedeutung zuzuschreiben. I m zehnten 1

Vgl. 509e f. Soph. 235d ff. ist von einer εικαστική τέχνη als Kunst der Ebenbilder die Rede. Das Ebenbild (είκών) ist im Gegensatz zum Trugbild (φάντασμα) maßstabgetreu und entspricht den Verhältnissen des Urbildes (παράδειγμα). 2 U.a. Ross, Plato's Theory of Ideas, S. 68f.; ähnlich Apelt in seiner Übers, der Pol., S. 500 Anm. 99.

Die εικασία

85

Buch jedoch finden sich Ausführungen, die — ohne daß von der εικασία die Rede ist — auf Grund gewisser Anklänge mit der εικασία in Verbindung gebracht worden sind. Es handelt sich dort um die Erörterung des Wertes der Poesie. Das Kunstwerk wird als ein nachgeahmtes εΐδωλον (599 a) des Naturdings 1 verstanden und letzteres wiederum als Abbild der Idee. Der Seinsgrad des Kunstwerks ist gegenüber dem Naturding um einen Grad niedriger (cf. u.a. 599a, 599 d, 602 c). Es scheint in ontologischer Hinsicht zwischen Kunstwerk und Naturding dasselbe Verhältnis zu bestehen wie zwischen den Gegenstandsbereichen der εικασία und πίστις im Liniengleichnis. Der Künstler (speziell der Maler) wird in Anbetracht seiner Arbeit mit einem Menschen verglichen, der einen Spiegel herumträgt und darin alle Dinge am Himmel und auf Erden sich spiegeln läßt (cf. 596d, e). Der Vergleich kann an die Spiegelbilder denken lassen, von denen 510a bezüglich der εικασία die Rede ist. Es findet sich sogar derselbe, allerdings reichlich unbestimmte Ausdruck zur Charakterisierung der Spiegelbilder und Kunstwerke: φαντάσματα (510a u. 599a). Diese Übereinstimmungen nimmt Ross (a.a.O. S. 78) als Hinweis dafür, daß Piaton uns lehren wolle, die Betrachtung von Kunstwerken sei eine Form der εικασία. Damit ist der Abschnitt jedoch wohl überinterpretiert worden. Es ergäbe sich nämlich als Konsequenz des Gedankens von der Urbild-Abbild-Struktur alles Seienden die notwendige Annahme eines fünften Erkenntnisvermögens, wenn das vierte, die εικασία, auch auf Kunstwerke gerichtet sein sollte ; denn nicht nur von einem lebendigen Pferde, sondern auch von dessen Abbild, einer Pferdeplastik, gibt es einen Schatten, der dann noch einen geringeren Seinsgrad haben müßte als der Schatten eines lebendigen Pferdes. Hierin zeigt sich, in welche Schwierigkeiten der Versuch einer systematischen Abrundung der platonischen Gedanken führt. Gegenüber der εικασία ist in dieser Hinsicht besonders große Zurückhaltung geboten, da Piaton in keinem anderen Dialog außer der Politela die εικασία als eigenständiges Vermögen behandelt und in der Politela anscheinend auch nicht um ihrer selbst willen, sondern wohl in der Absicht, damit den Unterschied zwischen έπιστήμη und διάνοια zu verdeutlichen 2 . 1 Piaton schreibt 599 a einfach τί> μιμηθησόμενον. Dieser Ausdruck ist treffender als der von mir gewählte Begriff, da nicht nur Dinge, die von Natur sind, sondern auch hergestellte Dinge zum Vorwurf eines Kunstwerks dienen können, und selbst Kunstwerke wiederum kopiert werden. — Anderwärts führt Piaton bestimmte Gegenstände an, die der Künstler nachahmt, ζ. B. 598b einen Schuster und einen Zimmermann. 2 Ross weist a.a.O. S. 68 darauf hin, daß Piaton 509d ff. den Abschnitt der Linie, der das δρώμενον γένος symbolisiert, in 12 Zeilen erörtert, während er für den Abschnitt des νοητόν γένος 56 Zeilen benötigt.

86

Die Natur der ΔΟΞΑ

Dianoetische u n d dialektische E r k e n n t n i s Wenn richtig sein sollte, d a ß die εικασία n u r rücksichtlich des Verhältnisses von έπιστήμη und διάνοια gegen die πίστις abgegrenzt worden ist, gewinnt die διάνοια u m so größere Bedeutung, je geringere der εικασία zukommt. Die διάνοια ihrerseits wird nicht zum wenigsten in der Absicht behandelt, zu zeigen, was die έπιστήμη noch nicht ist. Der ausführliche Vergleich beider Erkenntnisarten 510bff. ist letztlich f ü r die έπιστήμη aufschlußreicher als f ü r die διάνοια selbst 1 , διάνοια wird oft im Deutschen mit „Verstandeserkenntnis" u n d έπιστήμη, f ü r die auch νους u n d νόησις gesagt wird (51 l d ) , mit „ V e r n u n f t e r k e n n t n i s " wiedergegeben Ob diese von modernen philosophischen Theoremen beeinflußte Übersetzimg angemessen ist, scheint zweifelhaft, d a sowohl διάνοια als auch έπιστήμη unter dem Begriff νόησις zusammengefaßt werden u n d sich als νόησις auf den νοητός τόπος beziehen. D a r a u s geht hervor, d a ß das Element des νοειν auch in der διάνοια enthalten ist. U n t e r διάνοια versteht P i a t o n die mathematische E r k e n n t n i s 3 . Der Unterschied zwischen mathematischer und dialektischer 4 E r k e n n t n i s (έπιστήμη) wird wesentlich als Unterschied in der Methode dargestellt (510b ff.). Die mathematische Erkenntnis geht von b e s t i m m t e n als evident (παντί φανερόν) betrachteten Voraussetzungen aus u n d bedient sich bei ihrem Verfahren anschaulicher Hilfsmittel (Figuren, Winkel usw.). Allein schon infolge dieser Methode kann sie nicht wie die dialektische Erkenntnis zuletzt zu einer άρχή άνυπόΟ-ετος gelangen, sondern immer nur von den als άρχαί betrachteten Voraussetzungen zu einem selbstgesteckten Ziel (τελευτή) 5 . Die dialektische E r k e n n t n i s hingegen n i m m t die Voraussetzungen nicht als άρχαί, sondern als τω οντι υποθέσεις (511b), als „wirkliche" Voraussetzungen (Unterlagen), d . h . mit P l a t o n 1 Die ganze vorliegende erkenntnistheoretische Erörterung ist nur angestellt worden um der Idee des Guten willen, die das μέγιστον μάθημα bildet für die Wächter des Staates und der Gesetze (cf. 505a). Die Idee des Guten ist jedoch allein der höchsten Erkenntnisart zugänglich. Ihr gilt daher vornehmlich Piatons Interesse. 2 U.a. Schleiermacher, Wiegand, Apelt. Für διάνοια finden sich bei Schleiermacher: Verstand, Verstandesgewißheit, Verständnis. 3 In den Ausführungen dazu handelt es sich speziell um die Geometrie. Vgl. 510b ff. 4 Philosophische Erkenntnis ist ihrer Methode nach dialektisch. Dialektik ist die τέχνη der philosophischen Erkenntnis. Worin die διαλεκτική μέθοδος (533c) besteht, zeigt am eindrucksvollsten der Sophistes. Vgl. dazu S. 116. 5 Hier erhebt sich die Frage, was in der mathematischen Erkenntnis eigentlich erkannt wird. Dabei steht man vor dem Interpretationsproblem, ob die Gegenstände der mathematischen Erkenntnis einen eigenständigen Seinsbereich bilden oder irgendwie dem Seinsbereich der Ideen angehören. Für beide Auffassungen liefert der Text Anhaltspunkte. Vgl. dazu K. v. Fritz, Piaton, Theaetet und die antike Mathematik, Philol. Bd. 87, 1932, S. 159ff. u. Ross, a.a.O. S. 58fF.

Dianoetische und dialektische Erkenntnis

87

wie Anlaufspunkte und Anstöße, um über sie hinauszuschreiten bis zum Voraussetzungslosen, der του παντός άρχή, d.i. der Idee des Guten, dem absoluten Seinsgrund des Alls 1 . Das Hinausgehen über die Voraussetzungen ist die Art des Erkennens, die nicht an Hand von εικόνες (wie die Geometrie) ihren Fortgang nimmt, sondern αύτοϊς εϊδεσιν Si' αυτών (510b). In den Übersetzungen ist an dieser Stelle meistens von Begriffen die Rede, was leicht zu einem falschen Bild von der dialektischen Erkenntnis führen kann. Geometrische Erkenntnis ist nämlich genauso auf Begriffe angewiesen wie dialektische. Welche Erkenntnis könnte überhaupt auf Begriffe verzichten ? Die Geometrie gewinnt ihre Begrifflichkeit nach Piaton jedoch aus der Anschauung (Winkel, Gerade, Kreis usw.), die Dialektik hingegen aus der Beschäftigung mit den Ideen selbst. Die Dialektik besteht in einer „Durchmusterung" der Ideenwelt, wobei sowohl jede einzelne Idee als auch ihr Zusammenhang mit anderen Ideen erkannt werden müssen. Dabei rückt die κοινωνία 2 der Ideen untereinander in den Vordergrund der Betrachtung. Die Durchforschung der Ideenwelt muß abschließend zu einem hinreichenden Prinzip (ίκανόν τι Phaid. 101 e) führen, das den Seinsgrund ausmacht f ü r alles Seiende schlechthin. Dieses Prinzip ist die Idee des Guten. Wenn die intellektuelle Funktion der Seele (αύτός ó λόγος 511b) 3 ihrer teilhaftig geworden ist, steigt sie von dort herab zu ihrem Ziel (έπί τελευτήν 511b), d.i. zu demjenigen, dessen Wesen sie erkennen wollte. Bei ihrem Abstieg — der Rückschritt hinter die Voraussetzungen wird als Anstieg verstanden, cf. 511 a u. 511 d — hält sie sich an das, was mit der άρχή des Alls in Zusammenhang steht (έχόμ,ενος των έκείνης έχομένων 511b). I n methodischer Hinsicht könnte mit dem, was Piaton hier metaphorisch als An- und Abstieg beschreibt, das dialektische Verfahren gemeint sein, welches ausführlicher in den späten Dialogen (z.B. dem Sophistes) erörtert wird 4 . Eine derartig verfahrende Erkenntnisweise 1 Zur Idee des Guten vgl. S. 77f. u. 88ff. Die άνυπ6θετος άρχή identifizieren mit der Idee des Guten u. a. Raeder (Piatons philosophische Entwicklung, S. 225), Natorp (Piatos Ideenlehre, S. 194), Ross (a.a.O. S. 54). Gegenteiliger Ansicht sind z.B. K . v . F r i t z (a.a.O.) und H. Leisegang (RE 40, Art. Platon, 2463). Nach K. v. Fritz „ist unter der άνυπάθετος άρχή jedes objektive είδος zu verstehen" (a.a.O. S. 172). * Daß der Gedanke der κοινωνία der Ideen nicht erst im Sophistes konzipiert wird, zeigt Pol. 476a. Überdies war bereits im Phaidon 103e ff. vom Zusammenhang der Idee der Dreiheit mit der Idee des Ungeraden die Rede. Stenzel (Studien, S. 48 ff.) bestreitet entschieden einen Zusammenhang derartiger Stellen aus früheren Dialogen mit der Dialektik des Sophistes. Apelt dagegen betont den Zusammenhang (vgl. Die Ideenlehre in Piatos Sophistes = Beitr. zur Gesch. der griech. Philosoph., Leipzig 1891, II, S. 87ff., ferner Einleit. zur Übers, des Soph., S. 8f.). 3 Schleiermacher: „die Vernunft"; Apelt „der denkende Verstand". 4 Vgl. S. 116.

88

Die Natur der ΔΟΞΑ

müßte ihren Gegenstand von der Struktur des Ideenreiches her begreifen und damit gleichsam seinen ontologischen Ort bestimmen. Der Gegenstand wäre dabei die Idee derjenigen Sache, deren Erkenntnis sie unternommen hat (cf. 5 1 1 c τελευτα εις είδη) 1 . Wollte man den Unterschied zwischen der geometrischen und dialektischen Erkenntnis des rechtwinkligen Dreiecks angeben (zu welcher Erkenntnis auch der Pythagoreische Lehrsatz gehört), müßte man sagen: die dialektische Erkenntnis erkennt und begreift das rechtwinklige Dreieck aus seinem Seinsgrund 2 , also letztlich aus der Idee des Guten, die geometrische Erkenntnis hingegen aus bestimmten Voraussetzungen, hinter die nicht weiter zurückgefragt, sondern die als evident hingenommen werden. Auffallig ist die Betonung der Idee des Guten in den erkenntnistheoretischen Erörterungen der Politeia. Bisher war die Untersuchung zu dem Ergebnis gekommen : die Erkenntnis einer Sache besteht in der Erkenntnis des Seinsgrundes einer Sache, d.i. in der Erkenntnis der Idee der Sache. In der Politeia wird nun noch die Idee des Guten dabei ins Spiel gebracht. Der Grund dafür liegt in der Beziehung zwischen der Idee des Guten und allen anderen Ideen. F ü r das Verständnis des platonischen Erkenntnisbegriffes ist es daher unumgänglich, sich über die Natur dieser Beziehung klar zu werden. Pol. 517 c heißt es von der Idee des Guten, sie sei πάντων ορθών τε και καλών αιτία, καλός im ausgezeichneten Sinne kann aber nach Piaton nur das Vollkommene 1 Stenzel (a.a.O. S. 51 f.) wendet sich gegen eine derartige Interpretation der Stelle. Nach ihm hat der An- und Abstieg zur und von der Idee des Guten mit den Dihairesen des Sophistes nichts zu schaffen. Es handele sich vielmehr darum, sich des Zusammenhanges zwischen der Idee des Guten und den in bezug auf diese Grundvoraussetzung bedingten anderen Wissenschaften bewußt zu werden, insofern sie apriorische, zu unmittelbarer Vernunfterkenntnis hinleitende Züge aufweisen (vgl. a.a.O. S. 52). — Ross (a.a.O. S. 65) hingegen vergleicht die hier beschriebene Erkenntnisweise in methodischer Hinsicht mit der „discussion of the 'greatest classes' in the Sophistes". R. Robinson (Plato's Earlier Dialectic, 2th ed., Oxford 1953, S. 162£f.) diskutiert mehrere Interpretationsmöglichkeiten. Nach Robinson schließt der Anstieg zur Idee des Guten die hypothetische Methode des Phaidon ein (cf. Phaid. 100a ff.). Dabei erlangt der Dialektiker durch „intuition" die Einsicht, daß die letzte Hypothese, die Idee des Guten "is certainly true, that it is no longer an hypothesis, but an anhypotheton" (vgl. a.a. O. S. 173). 2 Warum ist das rechtwinklige Dreieck so, wie es ist (mit allen Verhältnissen, die sich an ihm finden) ? Es ist so, wie es ist, weil es die Idee des rechtwinkligen Dreiecks gibt. Auf die Frage nach dem Seinsgrund der Idee wäre auf die Idee des Guten zu verweisen. Über die Idee des Guten, die έπέκεινα της ούσίας (509 b) ist, lassen sich keine direkten Aussagen mehr machen. Man kann nur versuchen, sich auf indirekte Weise, durch Analogien, über sie zu verständigen. — Zur Frage der Möglichkeit dialektischer Erkenntnis von mathematischen Gegenständen vgl. Pol. 51 l d u. dazu u.a. Ross a.a.O. S. 63f. — Der Aufweis des Semsgrundes ist das, was Piaton λόγον διδόναι nennt (cf. 510c). Wer dazu nicht in der Lage ist, hat keine Einsicht (νους 51 ld) in die Sache, die er betrachtet.

Dianoetische und dialektische Erkenntnis

89

sein 1 . Vollkommen-Sein gibt es lediglich auf der Seinsebene der Ideen. Die sinnlich wahrnehmbaren Dinge streben (όρέγεσθαι) zwar danach, so zu sein wie die ihnen entsprechenden Ideen, verhalten sich aber diesen gegenüber ένδεεστέρως (cf. Phaid. 75a). Vom mangelhaften Sein einer Sache kann nur gesprochen werden im Hinblick auf etwas, das in vollkommener Weise das ist, was es ist. Dies ist die Idee. Sie wird von Piaton daher auch öfter beschrieben als τελέως oder παντελώς όν2. Wenn nunmehr nach der zitierten Stelle der Politela die Idee des Guten der Seinsgrund des Schönen ist, das Schöne aber immer das Vollkommene sein muß, ist die Idee des Guten der Grund des VollkommenSeins der Idee. Im Hinblick auf die zweite Prämisse könnte es Schönheit im eigentlichen Sinne dann nur im Ideenreich geben. Sollte man Bedenken hegen, ob diese Voraussetzung ganz der platonischen Intention entspricht, kann man auch auf anderem Wege zu demselben Ergebnis kommen. Die vollkommene Realisation einer Sache, d.i. ihre Idee, wird von Piaton als άλήθ-εια der Sache verstanden 3 . Für eben diese αλήθεια wird jedoch als αιτία die Idee des Guten angegeben (cf. Pol. 508 e u. 517 c). Die Idee des Guten erweist sich damit als Grund des spezifischen Seinscharakters der Ideen. Dieser Seinscharakter hatte sich als die optimale Realisation der Sache herausgestellt, als die Realisation, in der von Piaton das Wesen der Sache gesehen wird. Insofern die Ideen das, was sie sind, nur durch die Idee des Guten sind, darf die Erkenntnis — wenn anders sie vollkommene Erkenntnis einer Sache sein will — nicht bei der Idee als Seinsgrund der Sache stehen bleiben, sondern muß auch noch den Seinsgrund der Idee erfassen. Da die Idee das Vollkommen-Sein der Sache ist, bildet das Gute dasjenige Element, das auch den verschiedenartigsten Ideen gemeinsam ist und sie eigentlich überhaupt erst zu Ideen macht. Jemand dem die Erkenntnis des Guten versagt ist, kann daher streng genommen auch nicht der Wesenserkenntnis, d.i. der Ideenschau, teilhaftig werden, weil er den Seinscharakter der Idee gar nicht erfassen kann. Es müßte folglich entweder ein f ü r alle Mal die Idee des Guten und damit der allgemeine Seinscharakter der Ideen schlechthin erfaßt werden, bevor eine Erkenntnis bestimmter Ideen zustande kommen könnte, oder es müßte sich in jeder echten Ideenschau zugleich die Idee des Guten offenbaren, weil ohne die Wesenserkenntnis des Guten keine Erkenntnis des Wesens — d.i. der Idee — einer beliebigen Sache möglich ist. Danach wäre die Erkenntnis der Idee des Guten entweder 1

Vgl. Tim. 30c άτελεΐ γάρ έοικός ούδέν ποτ' αν γένοιτο καλόν. In der Gütertafel des Philebos (66b) stehen in einer Reihe τό σύμμετρον καΐ καλόν καΐ τύ τέλεον καΐ ίκανόν. 2 Vgl. Pol. 477a, 597a. Soph. 248e. Im Timaios (z.B. 31b) wird das Ideenreich als παντελές ζώον beschrieben. 3 Vgl. S. 73ff.

90

Die Natur der ΔΟΞΑ

ein einmalig zu leistender geistiger Akt, oder sie würde mit der Wesenserkenntnis jeder beliebigen Sache koinzidieren. Es hat sich mithin gezeigt, daß einmal unter dem Aspekt der Wesenserkenntnis (des 6 τι ποτ' εστίν einer Sache) der Rückgang auf die Idee des Guten erforderlich ist. Der andere Aspekt, unter dem die Notwendigkeit dieses Rückgangs noch einleuchtender ist, ist derjenige der Ursachenerkenntnis (ή της αιτίας ζήτησις Phaid. 99d). Daß das Fragen nach dem „Warum" einer Sache nicht eher als bei der ersten, absoluten Ursache aufhören kann, ist selbstverständlich. Die platonische Ontologie und Erkenntnistheorie bringen es mit sich, daß beide Aspekte in Piatons Erkenntnisbegriff ineinander aufgehen. Die Erkenntnis des Wesens einer Sache ist zugleich die Erkenntnis des „Warum" der Sache. δόξα und επιστήμη Im Hinblick auf die επιστήμη macht sich in der Politeia eine gewisse Abwertung der δόξα bemerkbar. 506c werden die bloßen Meinungen ohne Erkenntnis durch ein besonders negatives Adjektiv herabgesetzt. Es heißt von ihnen dort, sie seien insgesamt αίσχραί, weil noch die besten von ihnen als „blind" betrachtet werden. Mit den „besten" sind die wahren Meinungen gemeint: denn — wie aus dem nächsten Satz hervorgeht •— unterscheiden sich diejenigen, die ohne Einsicht (άνευ νου) etwas Wahres meinen, nicht von Blinden, die den richtigen Weg gehen. Der Vergleich mit Blinden wird auch 484c gezogen. 508d charakterisiert Piaton das δοξάζειν etwas milder als άμβλυώττειν (kurzsichtig sein). 476c ist von träumen (όνειρώττειν) die Rede. Nicht nur von Meinungen sondern sogar von der Geometrie und verwandten Wissenschaften heißt es im Vergleich mit der επιστήμη, sie träumten über das Seiende 1 . Bezeichnenderweise werden zur negativen Charakteristik der δόξα wie anderwärts zur positiven der έπιστήμη Begriffe verwandt, die sich auf den Gesichtssinn beziehen. Erkennen wird von Piaton in Analogie zum Sehen verstanden, wobei die έπιστήμη als Wesensschau gleichsam die bestmögliche, jedoch nicht die einzige Sichtweise ist 2 . 1

ώς δνειρώττουσι μέν περί τό 8ν Pol. 533b. Der Vergleich mit dem Sehen ist für Piatone Erkenntnisbegriff besonders treffend, da Umfang und Deutlichkeit des Gesehenen, wie beim platonischen Erkennen, nicht allein vom sehenden Subjekt abhängen, sondern wesentlich von Faktoren, welche die Gegenständlichkeit erst in der Weise ihrer Sichtbarkeit bestimmen, z.B. Entfernung, Lichtverhältnisse usw. — Welche Bedeutung dem Gesichtssinn für den Erkenntnisbegriff im griechischen Denken überhaupt zukommt, hat B. Snell in seiner Untersuchung der „Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie" gezeigt. „Die Wahrnehmung durch das Auge blieb dem Griechen anders als für uns Typus jeder Möglichkeit überhaupt, ein Wissen zu gewinnen" (a.a.O. S. 26). 2

δόξα u n d έπι,στήμγ;

91

Die Zuordnung spezifischer Gegenstandsbereiche zu den einzelnen Erkenntnisarten in der Politela erscheint willkürlich und unbefriedigend, wenn man sie lediglich auf Grund der Ausführungen zu verstehen sucht, mit denen sie am Ende des sechsten Buches eingeführt wird. Die Folgerichtigkeit der Scheidung von verschiedenen Seinsbereichen läßt sich jedoch nicht verkennen, wenn man den platonischen Wahrheitsbegriff verstanden hat. Weshalb Erkenntnis im eigentlichen Sinne des Wortes nur von dem Seinsbereich möglich sein kann, der wahr ist, d.i. vom Seinsbereich der Ideen, ist eingehend erörtert worden. Es bleibt jedoch noch die Frage offen, weshalb es keine Meinung über die Ideenwelt geben soll, wenn auch Erkenntnis von der Sinnenwelt unmöglich ist. Warum sollte nicht „etwas Wahres meinen" bedeuten „eine Idee meinen"? Hierbei wäre natürlich an ein Meinen zu denken, das unabhängig von sinnlicher Wahrnehmung ist, wie es uns etwa im Sophistes und Theaitet begegnet. Auf den skizzierten Einwand könnte man entgegnen, daß für Piaton δόξα und επιστήμη sich zwar grundlegend unterscheiden, aber doch nicht so weit, daß sie überhaupt nicht miteinander verglichen werden könnten. Die δόξα ist eine unzulängliche und daher in gewissem Sinne überhaupt keine Erkenntnis. Insofern sie jedoch an der vollkommenen und damit eigentlichen Erkenntnis gemessen wird, steht sie mit der επιστήμη auf derselben Vergleichsebene und erscheint als Erkenntnis. Minderwertig ist die δόξα gegenüber der επιστήμη in zwiefachem Sinne: erstens ist sie trügerisch und zweitens unvollkommen. Durch sie wird niemals ganz das erkannt, was erkannt werden kann ; denn die Möglichkeit zu vollkommener Erkenntnis einer Sache besteht nur bei der Idee der Sache, welche der δόξα unzugänglich bleibt. Da Piaton das Erkennen analog dem Sehen versteht, kann man δόξα und έπιστήμη als zwei unterschiedliche geistige Sichtweisen auffassen. Die Gegenständlichkeit, die gesehen wird, ist jedoch in der Weise ihrer Sichtbarkeit nicht vom Sehenden abhängig 1 . Was in mein Blickfeld gerät, sehe ich und zwar das eine nicht mehr oder weniger genau als das andere 2 , sondern so, wie es ist. Versteht man nun das Meinen als eine Sichtweise, so kann, wenn es sich auf die vollkommene Realisation einer Sache (die Idee) richtet, von dei· Sache kein unvollkommener Eindruck, d.i. eine δόξα, entstehen. Unvollkommene Erkenntnis, δόξα, ist nur möglich, wenn die Gegenständlichkeit ihrerseits unvollkommen ist. Unvollkommen im Vergleich mit der Ideenwelt ist die Sinnen weit. Daher bildet die Sinnenwelt den spezifischen Gegenstandsbereich der δόξα. Wie weit die Analogie zwischen Erkenntnis und Gesichtseindruck getrieben werden darf und mithin die eben beigebrachten Argumente stichhaltig sind, ist eine andere Frage. Mit Sicher1 E s sei denn, man versucht absichtlich, entweder gar nichts zu sehen oder bestimmte Dinge zu übersehen. 3 Von der Entfernung soll hier abgesehen werden.

92

Die Natur der ΔΟΞΑ

heit kann jedoch gesagt werden, daß der Charakter der Erkenntnis im Sinne Piatons wesentlich vom Objekt her bestimmt wird und nicht von der subjektiven Erkenntnisfähigkeit. Die Fähigkeit selbst zur höchsten Erkenntnis ist der Seele nämlich — im Gegensatz zu ihren übrigen άρεταί — stets eigen (cf. Pol. 518d ff.). Es kommt für den Charakter der Erkenntnis nur darauf an, worauf sich das Erkenntnisvermögen der Seele (ή της ψυχής οψ'.ς 519b) richtet, entweder nach unten (κάτω) auf die irdischen Dinge oder εις τά άλη&ή (519b). In beiden Richtungen ist die Intensität der Erkenntnis gleich 1 . Ob die Seele statt der minderwertigen Erkenntnis von Welt und Menschen, der philosophischen Erkenntnis teilhaftig wird, ist hiernach nicht in erster Linie eine Frage der geistigen Anlagen und deren Entwicklung sondern der περιαγωγή der Erkenntnisfunktion von der Welt des Werdens zur Welt des Seins. In der τέχνη einer derartigen περιαγωγή besteht daher auch die platonische παιδεία 2 . Die Wahrheit der Meinung In der Politela fanden sich zwar eingehende Ausführungen über das Verhältnis von δόξα und επιστήμη, aber kein Wort über den Unterschied zwischen wahrer und falscher Meinung. Es erhebt sich daher nach der Untersuchung des platonischen Erkenntnis- und Wahrheitsbegriffes sowie des Verhältnisses von philosophischer Erkenntnis und Doxa-Erkenntnis nunmehr erneut die Frage nach der Wahrheit der wahren Meinung ; denn allein ihretwegen wurde die Untersuchung des Erkenntnisbegriffes und daran anschließend des Wahrheitsbegriffes unternommen 3 . Es hat sich gezeigt, daß Piaton über einen Wahrheitsbegriff verfügt, der zur Beschreibung der Gegenständüchkeit philosophischer Erkenntnis dient. Nur das, was dem Anspruch dieses Wahrheitsbegriffes Genüge tut, kann im eigentlichen Sinne erkannt werden. Das „Erfassen der Wahrheit" als Kriterium der Erkenntnis bedeutet das Erfassen der der Erkenntnis als solcher eigentümlichen Gegenständlichkeit. Die Eigenart dieses Wahrheitsbegriffes bringt es mit sich, daß es als Gegensatz zu ihm nicht den Begriff der Falschheit 1 Diese Ausführungen stehen in gewissem Widerspruch zu den Ausführungen 477b ff., wo gerade die Eigenständigkeit der Erkenntnisvermögen betont wurde. 518e zufolge scheint die eine δύναμις des φρονεΐν sich sowohl auf die Sinnenwelt als auch auf die Ideenwelt richten zu können. Hinter diesem Widerspruch steckt die Problematik des inneren Verhältnisses von δόξα und έπιστήμη. Bislang ist noch nicht untersucht worden, wodurch sich δοξάζειν und έπίστασθαι als Erkenntnisprozesse unterscheiden. — Vgl. dazu S. 116ff. 2 Vgl. aber auch S. 109ff., wo die Stellen erörtert werden, an denen Piaton in gewissem Gegensatz zu dieser Stelle den exklusiven Charakter der Erkenntnis betont. 3 Vgl. S. 60ff. und S. 69£f.

Die Wahrheit der Meinung

93

geben kann. Von Falschheit als Gegensatz der Wahrheit zu reden, ist nur dann sinnvoll, wenn etwas entweder wahr oder falsch sein kann. Kann jedoch dasjenige, hinsichtlich dessen überhaupt von Wahrheit die Rede ist, rein als solches stets nur als wahr bezeichnet werden, verliert die gegensätzliche Bestimmung „falsch" ihren Sinn. Ein dem erörterten Wahrheitsbegriff kontradiktorisch entgegengesetzter Begriffschlösse zugleich die Kontradiktion dessen ein, von dem der Wahrheitsbegriff praediziert wird. Ideen, die nicht wahr sind (mag man sie falsch oder wie auch immer nennen), sind keine Ideen. Der bisher behandelte Wahrheitsbegriff kann insofern zum Verständnis der wahren Meinung beitragen, als er zeigt, worin die Wahrheit der Meinung nicht besteht; denn die S. 58 aufgeworfene Frage, ob die Wahrheit der Meinung identisch sei mit der Wahrheit der Erkenntnis, muß jetzt eindeutig verneint werden. Im Gegensatz zu dem für die Erkenntnis ausschlaggebenden Wahrheitsbegriff gewinnt der Wahrheitsbegriff, welcher der Rede von einer „wahren Meinung" zugrunde liegt, allein dadurch seinen Sinn, daß ihm der Begriff der Unwahrheit, d.i. der Falschheit, entgegengesetzt ist. Nur weil die Meinung etwas ist, das als solches weder ein für alle Mal wahr noch falsch ist, sondern wahr oder falsch sein kann, ist es sinnvoll, von wahren und falschen Meinungen zu reden. Zwischen beiden Wahrheitsbegriffen besteht mithin ein formaler Unterschied. Während der erste Begriff der Wahrheit zur Charakterisierung der Gegenständlichkeit der philosophischen Erkenntnis dient, dient der zweite zur Charakterisierung der Meinung über die ihr eigentümliche Gegenständlichkeit. Dabei bildet der erste Wahrheitsbegriff ein notwendiges, der zweite hingegen nur ein alternatives Charakteristikum. Wahrheit und Falschheit gehören nach einer Stelle im Sophistes (263a, b) zur Beschaffenheit (ποιόν) der Rede. Jede Rede muß sich auf etwas beziehen 1 , d.h. sie muß einen Gegenstand haben. Der Gegenstand muß, wenn es überhaupt sinnvoll sein soll, von einem Gegenstand zu reden, etwas sein, das in irgendeiner Weise ist. Die wahre Rede sagt nun das, was ist, so wie es ist (τά οντά ώς Ιστιν 263b), die falsche dagegen Verschiedenes von dem, was ist (έτερα των δντων), d.h. sie sagt das, was nicht ist, als ob es wäre (τά μή οντ' άρα ώς δντα). Diesen Ausführungen liegt der Gedanke zugrunde, daß zwischen Meinung und Gegenstand jeweils ein bestimmtes Verhältnis besteht. Dabei kann das Verhältnis als solches verschiedener Natur sein. Die Art des jeweils vorliegenden Verhältnisses ist entscheidend dafür, ob hinsichtlich der Meinung von „wahr" oder „falsch" zu reden ist. Die Bestimmung einer Meinung oder Rede als falsche, bzw. wahre Meinung oder Rede sagt mithin nur etwas aus über das Verhältnis zwischen Meinung und Gegen1

λόγον άναγκαΐον . . . . τινός είναι λόγον Soph. 262e.

94

Die Natur der ΔΟΞΑ

stand, nichts über den Gegenstand als solchen. Dabei gibt es offensichtlich noch Gradunterschiede in der Treffsicherheit der Beschreibung des Gegenstandes durch die Meinung; denn zuweilen ist von άληθέστερον λέγειν und ähnlichem die Rede (z.B. Gorg. 493d u. 527a). Die Bestimmbarkeit einer Meinung als wahre, bzw. falsche Meinung setzt voraus, daß mir das Seiende so, wie es ist — was ja mit dem Inhalt der Meinung getroffen werden soll —, bekannt ist oder doch bekannt werden kann. Die Mögüchkeit der Bekanntschaft mit dem, was ist, wie es ist (cf. Soph. 263b), bildet die notwendige Bedingung einer sinnvollen Redeweise von Wahrheit und Falschheit; denn die Meinung wird, da sie das Seiende, wie es ist, zu beschreiben versucht, rücksichtlich der Angemessenheit oder Unangemessenheit dieser Beschreibung als wahr oder falsch bestimmt. Von der Angemessenheit der Beschreibung, d.i. von einer wahren Meinung zu reden, ist sinnlos, wenn mir das Richtmaß dieser Beschreibung, das Seiende, unbekannt ist. Da f ü r Piaton wahre Meinung und eigentliche Erkenntnis nicht dasselbe sind, hängt für das Verständnis der Wahrheit der wahren Meinung alles davon ab, einsichtig zu machcn, wie für Piaton eine Bekanntschaft mit dem, was ist, wie es ist, möglich sein kann, ohne daß diese Bekanntschaft die eigentliche Erkenntnis des Seienden ist oder voraussetzt 1 . Zu diesem Zweck soll im folgenden untersucht werden, in welchem Zusammenhang Piaton von Wahrheit redet, ohne daß es sich dabei um die Wahrheit der Ideen handeln kann. Philebos 48e werden als eine Gruppe von Menschen, die sich selbst nicht kennen, diejenigen angeführt, welche meinen (δοξάζουσι), sie seien größer und schöner und in allem, was den Körper betrifft, vorzüglicher als die ihnen eigene Wahrheit (της ούσης αύτοίς αληθείας). Die den Leuten eigene Wahrheit besteht hier in einer bestimmten Beschaffenheit, einem So-Sein der Leute, über das sie selbst sich täuschen. Welche Gewährleistung gibt es nun dafür, daß die Leute eine falsche Meinung von sich haben und die Wahrheit gerade in diesem und keinem anderen So-Sein besteht? Die Antwort darauf fällt nicht schwer. Es sind die anderen Leute, die mittels ihrer fünf Sinne und ihres gesunden Menschenverstandes das So-und-nicht-anders-Sein der in Selbsttäuschung befangenen Menschen erfassen. An der zitierten Stelle im Philebos hat man sich darunter die Zuschauer vorzustellen, da es sich dort um die Erörterung des Lächerlichen auf der Bühne 1 Daß die wahre Meinung nicht so verstanden werden darf, als beruhe ihre Bestimmung auf einem Urteil, dem die gegenüber den Begriffen „wahr" und „falsch" zunächst noch indifferente Meinung unterworfen wird — wobei der Urteilsgrund die Erkenntnis desjenigen ist, auf das sich die Meinung bezieht — ist bereits S. 59 gezeigt worden. Außerdem gibt es vom platonischen Begriff der eigentlichen Erkenntnis keine Brücke zum Begriff der wahren Meinimg, da sich Erkenntnis und Meinung auf verschiedene Gegenstandsbereiche beziehen.

Die wahre Meinimg als Erfahrungserkenntnis

95

handelt. An einer bereits behandelten Stelle 1 im Theaitet (201b) ist von der άλήθεια των γενομένων die Rede. Die Wahrheit des Geschehenen besteht — wie aus dem Zusammenhang hervorgeht — im So-Sein des Tatbestandes, über den die Richter urteilen sollen. Das So-Sein des Tatbestandes wird dabei durch sinnliche Wahrnehmung als So-undnicht-anders-Sein erfaßt. Die Möglichkeit der Bekanntschaft dessen, was ist, wie es ist, scheint demzufolge in der Erfahrung gegeben zu sein. Dieselbe Auskunft bietet auch der Sophistes. 234c heißt es von den Jünglingen, sie ständen noch fern von der Wahrheit der Dinge (των πραγμάτων της άληθείας). Die Wahrheit der Dinge bedeutet : die Dinge so, wie sie sind, unverzerrt durch sophistische Trugbilder. Wie aus dem folgenden (234d) hervorgeht, vermittelt im Laufe der Zeit die Erfahrung den Jünglingen die Bekanntschaft mit den Dingen, wie sie sind. Ineins damit werden die in ihnen durch die Sophisten hervorgerufenen falschen Ansichten über das Seiende destruiert. Die Erfahrung erscheint geradezu als Korrektiv der falschen Meinung. Erfahrung bedeutet f ü r Piaton, nach den angeführten Beispielen zu urteilen, sinnliche Wahrnehmung im Zusammenhang — wie man wohl hinzufügen darf — mit dem gesunden Menschenverstand. In der Erfahrung bekundet sich das, was ist, wie es ist. Bemerkenswerterweise wird an den behandelten Stellen nicht der leiseste Zweifel an der Zuverlässigkeit der Erfahrung laut. Was die Erfahrung an die Hand gibt, hat man offenbar als evident zu betrachten. Die wahre Meinung als Erfahrungserkenntnis Mit der Wahrheit, derer man durch Erfahrung teilhaftig wird, hat sich ein neuer Wahrheitsbegriff ergeben. Bestand die Wahrheit in der S. 69ff. erörterten Bedeutung in dem, was eine Sache eigentlich ist, besteht sie in der neuen Bedeutimg in dem, uñe eine Sache uneigentlich ist, d.h. jeweils in wahrnehmbare Erscheinung tritt. Der Unterschied zwischen beiden Wahrheitsbegriffen entspricht dem Unterschied zwischen dem Wesen des Seienden und dem So-Sein des Seienden, wie es sich jeweils in der Sinnen weit manifestiert. Neben diesen Bedeutungen findet sich — wie bereits S. 93f. erwähnt — „Wahrheit" in einer dritten Bedeutung als Ausdruck f ü r die eine Art des Verhältnisses von Meinung und Gegenstand. Wenn Piaton von der Wahrheit erfahrbarer Dinge u. dgl. redet, widerspricht er damit seiner eigenen These, daß im Bereich der Sinnenwelt nichts Genaues zu erfassen sei 2 . Derselbe Widerspruch war schon beim Erkenntnisbegriff aufgetreten, da an einigen Stellen von einer επιστήμη die Rede ist, die sich auf die Sinnenwelt richtet 3 . Beide Male handelt es sich um denselben Widerspruch, 1

Vgl. S. 60.

2

Vgl. S. 67f.

3

Vgl. S. 6Off.

96

Die Natur dor ΛΟΞΑ

da Erkenntnis und Wahrheit einander korrespondieren. Gibt es einen Erkenntnisbegriff, der sich auf die Sinnenwelt bezieht, muß es auch einen auf diese bezüglichen Wahrheitsbegriff geben, wenn anders es zum Charakter der Erkenntnis gehört, die Wahrheit zu erfassen. Theait. 201 b finden sich auch beide Begriffe ausdrücklich im Zusammenhang miteinander. Wie aus den einschlägigen Stellen hervorging 1 , handelt es sich bei diesem Erkenntnisbegriff zweiter Ordnung um Erfahrungserkenntnis. Erfahrung ist das Mittel, des So-Seins konkreter Dinge und zeitlicher Ereignisse teilhaftig zu werden. Der hier verwandte Begriff der Erfahrungserkenntnis könnte Anlaß zu Mißverständnissen geben, sofern man dabei an naturwissenschaftliche Erkenntnis denkt, die ihren Ausdruck stets in allgemeinen Sätzen findet. Bei Piaton handelt es sich jedoch um die Erkenntnis das Einzelnen. Auf Grund sinnlicher Wahrnehmung wird ein einzelner Gegenstand als der und der identifiziert oder werden ihm die und die besonderen Eigenschaften zugeschrieben. Die Frage einer durch Induktion zu gewinnenden Erkenntnis allgemeinen Charakters von sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen wird von Piaton nicht berührt. Soweit im Rahmen dieser Arbeit von Erfahrungserkenntnis geredet wird, ist daher stets die Erkenntnis des Einzelnen gemeint. Damit knüpft der hier verwendete Begriff der Erfahrungserkenntnis an den aristotelischen Begriff der έμπειρία an 2 . Hinsichtlich der wahren Meinung ergibt sich nun folgendes Problem : Einmal führt sinnliche Wahrnehmung zur Erkenntnis, ein andermal zur wahren Meinung und ein drittes Mal zur falschen Meinung. Dabei wird in den platonischen Dialogen nirgendwo ein Kriterium angegeben, auf Grund dessen entschieden werden könnte, zu welcher der drei Möglichkeiten sinnliche Wahrnehmung in einem bestimmten Fall geführt hat. Selbst wenn man die Meinung zunächst als indifferent gegenüber Wahrheit und Falschheit verstehen wollte, müßte man zu ihrer nachträglichen Bestimmung als wahre oder falsche Meinimg das So-Sein ihres Gegenstandes erfaßt haben. Da dies nur durch Erfahrung möglich ist, steht man wiederum vor derselben Schwierigkeit. Nun hat sich jedoch gezeigt3, daß die Meinimg nicht nachträglich erst als wahr beurteilt wird, sondern die wahre Meinung als wahre Meinung über eine Sache ebenso unmittelbar erlebt wird wie die Erfahrungserkenntnis der Sache. Darüber hinaus fanden sich an dem, was jeweils als wahre Meinung und Erfahrungserkenntnis bezeichnet wurde, keine Merkmale, auf Grund derer es in sachlicher Hinsicht gerechtfertigt wäre, das eine Mal von Erkenntnis, das andere Mal dagegen nur von Meinung zu reden 4. Soll die scharfe Abgrenzung der eigentüchen Erkenntnis gegen 1 2 3

Vgl. S. 63. Vgl. Metaph. 981a 15f. ή μέν έμπειρία των κα!>' εκαστόν έστι γνώσις. 1 Vgl. S. 63f. Vgl. S. 59f.

Die wahre Meinung als Erfahnmgserkenntnis

97

die wahre Meinung nicht ihren Sinn verlieren, bleibt f ü r eine Erfahrungserkenntnis neben der wahren Meinung kein Raum. Es kann daher επιστήμη im Sinne von Erfahrungserkenntnis nichts anderes bedeuten, als auch άληθής δόξα bedeutet 1 . Nur wenn m a n umgekehrt die άληθής δόξα auch als Erfahrungserkenntnis versteht, erklärt sich, wieso Piaton von wahrer u n d falscher Meinung reden kann, ohne jemals die Frage nach einem Kriterium aufzuwerfen, das mir angibt, wann es sich u m eine wahre u n d wann um eine falsche Meinung handelt ; denn das Erkennen ist ein tinmittelbares Erlebnis, dessen Bedingungen nicht feststellbar sind. Daß es sich bei einem Erkenntnisprozeß, wie er etwa Phil. 38c—d beschrieben wird 2 , tatsächlich um ein Erkennen handelt, d a f ü r bietet n u r das Erlebnis dieses seelischen Vorganges als Erkennen die Gewähr. Nach einem Wahrheitskriterium der Erkenntnis zu fragen, hieße nach der Möglichkeit der Erkenntnis selbst fragen; denn die Frage nach einem Wahrheitskriterium der Erkenntnis kann nur bedeuten : Wieso ist diese Erkenntnis überhaupt Erkenntnis ? Sie ist Erkenntnis, weil sie Erkenntnis ist, d. h. weil es die Erkenntnis überhaupt gibt. Zeigt man, wieso es überhaupt Erkenntnis gibt, d.h. wie Erkenntnis möglich ist, zeigt man damit zugleich, daß diese Erkenntnis — wenn anders der Ausdruck sinnvoll sein soll — Erkenntnis ist. Die Möglichkeit der philosophischen Erkenntnis wird f ü r Piaton garantiert durch die Idee des Guten (cf. Pol. 508 e). Da echte philosophische Erkenntnis der Idee des Guten teilhaftig sein muß, weil die zu erkennende Sache erst im Horizont der Idee des Guten erkannt wird (cf. Pol. 511b), ist jeder philosophische Erkenntnisakt auch zugleich Vergewisserimg u n d Einsicht der Möglichkeit philosophischer Erkenntnis überhaupt. Der Anstieg zur Idee des Guten besteht in einem dialektischen Prozeß. H a t jemand etwas in eigentlichem Sinne erkannt, vermag er Rechenschaft davon zu geben (λόγον διδόναι). E r kann einem anderen gegenüber dialektisch den ontologischen Ort der erkannten Sache demonstrieren und dadurch in gewissem Sinne nachweisen, daß er die Sache erkannt h a t 3 . Einen derartigen Erkenntnisnachweis gibt es bei 1 Der unterschiedliche Gebrauch eines solch wichtigen Wortes wie έπιστήμη darf den Platon-Interpreten nicht stören. Pol. 533d weist Sokrates darauf hin, daß die häufig έπιστημαι genannten τέχναι, wie u.a. die Geometrie, eigentlich einer anderen Bezeichnung bedürften. Jedoch έστι S', ώς έμοί δοκεϊ, ού περί ¿νάματος άμφισβήτησις. Der terminologisch unverfeetigte Sprachgebrauch Piatons entspricht auch der geringen Meinung vom Wert schriftlicher Ausführungen überhaupt, die Sokrates im Anschluß an den Theuth-Mythos im Phaidroe äußert. Danach können schriftliche Ausführungen bestenfalls nur eine Gedächtnishilfe für denjenigen sein, der bereits weiß, wovon das Geschriebene handelt (cf. Phaidr. 275c, d). 2 Vgl. S. 49f. 3 Ob die Erkenntnis im Sinne Piatons in dem dialektischen Prozeß aufgeht oder ob noch ein irrationales Moment mitspielt, wird später erörtert werden. Vgl. S. 119ff.

7

8001

Sprute, D O X A

98

Die Natur der ΔΟΞΑ

der Erfahrungserkenntnis, wie sie uns bei Piaton begegnete, nicht. Ein λόγον διδόναι von der im Philebos beschriebenen Erkenntnis könnte nur in einer Berufung auf die sinnliche Wahrnehmung bestehen. Sinnliche Wahrnehmung ist jedoch ein höchst unzuverlässiges Vermögen, das oft zu Sinnestäuschungen f ü h r t und damit der Grund von Irrtümern werden kann. Nicht zum wenigsten auch wegen der Unbegründbarkeit des Erkenntniserlebnisses scheint Piaton die Erfahrungserkenntnis meistens als wahre Meinung und nicht als Erkenntnis (επιστήμη) zu bezeichnen. Die Untersuchung hat nunmehr ergeben, daß im Sinne Piatons keineswegs jedes geistige Verhalten, das nicht dem Begriff der philosophischen Erkenntnis entspricht, als unsicheres Meinen verstanden werden darf, welches zufällig wahr oder zufällig falsch sein kann. Vielmehr muß Piaton auch der Gedanke der Erfahrungserkenntnis zugeschrieben werden. Als Erfahrungserkenntnis lassen sich insbesondere zwei Arten von Urteilen ansprechen, die uns bisher bei Piaton begegneten. Erstens diejenigen Urteile, in denen ein Gegenstand auf Grund sinnlicher Wahrnehmung als der und der bestimmte identifiziert wird ; z.B. „der Gegenstand unter dem Baum ist ein Mensch" 1 . Zweitens Urteile, die etwas über die Beschaffenheit eines sinnlich wahrnehmbaren Gegenstandes aussagen 2 . Für diese Art findet sich noch ein eindrucksvolles Beispiel Pol. 602 c ff. Als Korrektiv der durch die unsicheren Gesichtseindrücke hervorgerufenen widersprüchlichen Ansichten über die Beschaffenheit eines Gegenstandes werden dort das Messen, Rechnen und Wägen angeführt. Durch Messen des Gegenstandes muß es mithin möglich sein, zu einem richtigen Urteil über seine Größe zu kommen 3 . Das Urteilen wird in beiden Fällen, sei es, daß es lediglich auf dem Gesichtseindruck beruht, sei es, daß es vom Messen abhängt, als δοξάζειν bezeichnet. Piaton verwendet für die Erfahrungserkenntnis den abwertenden Ausdruck άληθής δόξα, weil sie sich grundlegend von der f ü r ihn eigentlichen, der philosophischen, Erkenntnis unterscheidet. Dabei rückt die Erfahrungserkenntnis als „wahre Meinung" in die Nähe des unverbindlichen Meinens und Vermutens und wird, mit diesem oft zusammengenommen, der eigentlichen Erkenntnis gegenübergestellt. Die Vernachlässigung des eigentümlichen Charakters der Erfahrungserkenntnis durch Piaton hat man sich daher zu erklären, daß sie ihn nicht interessiert. Nur die eigentliche Erkenntnis steht im Brennpunkt seiner philosophischen Interessen. Sie allein ist entscheidend f ü r den Menschen und sein Leben. Deshalb werden alle anderen Erkenntnis1

Vgl. Vgl. έπιστήμη 3 Vgl. 2

Phil. 38c, d, dort als wahre Meinung bezeichnet. dazu die S. 60ff. behandelten Stellen. Dort ist sogar ausdrücklich von die Rede. auch Euth. 7b—c.

Die wahre Meinung als Erfahrungserkenntnis

99

arten in den Dialogen jeweils nur so weit erörtert, als es f ü r die philosophische Erkenntnis erforderlich ist. Befragt man nun das einschlägige Stellenmaterial nach den Differenzierungen, die Piaton innerhalb dessen macht, was er im weitesten Sinne δόξα nennt, ergibt sich folgendes Bild: I m Gegensatz zur philosophischen Erkenntnis, f ü r die sich die Ausdrücke έπιστήμη, γνώσις und ähnliche finden1, begreift Piaton die Erfahrungserkenntnis als άληθής δόξα. Soll der Unterschied hervorgehoben werden zwischen einer άληθής δόξα, die einem die eigene Erfahrung an die Hand gibt, und einer solchen, derer man durch andere Leute teilhaftig wird, findet sich dafür in der ersten Bedeutimg das Wort έπιστήμη, während der Ausdruck άληθής δόξα in der zweiten Bedeutung verwandt wird 2 . Jedwede Meinung — d.i. ein Urteil über etwas, das nicht dem Gegenstandsbereich der philosophischen Erkenntnis angehört — wird allgemein als δόξα bezeichnet. Gelegentlich trifft Piaton dabei noch die Distinktion zwischen einer Meinung, die unabhängig von sinnlicher Wahrnehmung und einer solchen, die mittels sinnlicher Wahrnehmung zustandekommt. I n dem Falle wird manchmal die letztere als φαντασία gegen die erstere als δόξα abgesetzt 3 . Zu einem von sinnlicher Wahrnehmung unabhängigen δοξάζειν gehört im Theaitet (195e ff.) auch das Rechnen, wohingegen es in der Politela unter die διάνοια fällt. Als Unterart der δόξα in weiterem Sinne wird schließlich in der Politeia die εικασία mit einem eigenen Gegenstands bereich ausgegrenzt und der δόξα in engerem Sinne ( = πίστις) gegenübergestellt. 1 1 3

Vgl. die bisher behandelten Stellen S. 65ff. Vgl. die behandelten Stellen S. 60ff. Z.B. im Sophistes, vgl. S. 48f.

III. D I E B E D E U T U N G D E R ΔΟΞΑ F Ü R PLATONISCHE

DIE

ERKENNTNIS

Der Erkenntnisbegriff in den späten Dialogen Die Untersuchung des Charakters der επιστήμη und άληθ-ής δόξα hat zwar auf Grund des bisher behandelten Stellenmaterials zu einem eindeutigen Ergebnis geführt. Es besteht jedoch die Frage, ob dieses Ergebnis nicht nur für die zitierten, sondern für alle Dialoge Piatons als verbindlich anerkannt werden darf. Wird die Scheidung der Gegenstandsbereiche von δόξα und έπιστήμη in allen Dialogen vorausgesetzt? Und darf die άληθής δόξα grundsätzlich als Erfahrungserkenntnis interpretiert werden? Gibt es mithin auch beim späten Piaton nicht den Begriff der επιστήμη im Sinne einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis ? Eine Beantwortung dieser Fragen ist unerläßlich, zumal in der Platon-Literatur die Entwicklungshypothesen auch die Interpretation des platonischen Erkenntnisbegriffes beeinflußt haben. Stenzel, der sich eingehend zu der nach ihm anscheinend offenkundigen Entwicklung der platonischen Erkenntnislehre äußert, sieht im Theaitet die entscheidende Wandlung des platonischen „Wissenschaftsbegriffs" 1 , wie er die έπιστήμη auffaßt. Im Theaitet handelt es sich nach Stenzel „um die Frage : in welchem Sinne gibt es eine έπιστήμη der Objekte des Werdens?" (a.a.O. S. 37). Nach dem Staat erfolgte nämlich die Hinwendung Piatons zu „wirklicher wissenschaftlicher Erfahrungserkeimtnis". „Piaton ist -— um seine eigenen früheren Worte Staat 476a auf ihn anzuwenden — φιλοθ-εάμων geworden" (a.a.O. S. 55). E r begründet nunmehr „Naturwissenschaft" (vgl. a . a . O . S. 87). Selbst wenn man die Interpretation der bisher vorgelegten Stellen — im besonderen diejenigen des Theaitet —• als unzulänglich erachten und sich den S. 29ff. charakterisierten Ansichten Stenzeis anschließen wollte, stehen den Stenzelschen Thesen auch in den späten Dialogen eine Reihe von Zeugnissen für den Erkenntnisbegriff der Politela entgegen, die sich schwerlich hinweginterpretieren lassen. Tim. 51b, c wird die Frage aufgeworfen, ob es außer den sinnlich wahrnehmbaren Dingen ein An-sich-Sein dieser Dinge gäbe, d.i. ein είδος έκάστου νοητόυ, oder ob das letztere nichts als ein λόγος sei. Die Beantwortung der Frage ist abhängig von erkenntnistheoretischen E r 1 Studien zur Entwicklung der platonischen Dialektik von Sokrates zu Aristoteles, 2. Aufl., Leipzig u. Berlin 193Í, S. 25, 37 u.ö.

Der Erkenntnisbegriff in den späten Dialogen

101

wägungen. Wenn νους und άληθ-ής δόξα zwei verschiedene Arten (γένη) sind — so wird 51 d argumentiert —, dann muß es schlechterdings die Ideen geben 1 . Wenn aber, wie es einigen scheint, die άληθ-ής δόξα sich in keiner Weise vom νοϋς unterscheidet, muß das, was wir mittels der körperlichen Organe 2 wahrnehmen, für das sicherste gehalten werden. Daß αληθής δόξα und νοϋς nicht dasselbe sind, ergibt sich ganz eindeutig, wenn man ihre Entstehung und Beschaffenheit betrachtet (cf. 51 e f.). Erstere entsteht in uns durch Überredung 3 , letztere durch Belehrung. Die erste ist άλογος, die zweite verbunden mit άληθής λόγος. Diese Distinktion läßt sich dahin interpretieren, daß derjenige, welcher des νους — d.h. der Vernunfteinsicht oder wie auch immer man den schwer erfaßbaren Gehalt des Wortes wiedergeben will — teilhaftig ist, im Gegensatz zum άληθ-ή δοξάζων von seiner Erkenntnis Rechenschaft abzulegen (λόγον διδόναι) vermag. Ferner gehört es zum Charakter der άληθ-ής δόξα, da sie ja durch Überredung entsteht, auch durch Überredung veränderlich zu sein, wohingegen der νοϋς der Überredung unzugänglich ist. Endlich hat an der άληθ-ής δόξα jedermann teil, am νους aber nur die Götter und ein geringer Teil der Menschen. Da sich mithin die wahre Meinung und die Vernunfteinsicht als verschieden voneinander erweisen, muß es die Gattung des An-sich-Seienden geben, dessen prüfende Betrachtung der νόησις zukommt. Die Gattung des Werdenden und Vergehenden ist demgegenüber δόξγ] μετ' αίσθήσεως erfaßbar 4 . Der Zuordnung der Vernunfteinsicht zum Gegenstandsbereich des An-sich-Seienden, d.i. der Ideen, liegt auch im Timaios die bekannte 1

Vgl. Tim. 51d παντάπασιν είναι καθ* αύτά ταϋτα, άναίσθητα ύφ' ήμών είδη, νοούμενα μόνον. 2 δια τοϋ σώματος Tim. 51 d. 3 E s wäre voreilig, wollte m a n von dem, was hier über die Entstehung der αληθής δόξα gesagt wird, auf einen von der sonstigen Konzeption der άληθής δόξα — etwa der des Philebos — abweichenden Charakter schließen. Von einer άληθ-ής δόξα, die durch Überredung zustande k o m m t , ist auch Theait. 201 a f. die Rede (vgl. S. 60). Pol. 601 d ff. k o m m t die όρθή δόξα des Unwissenden durch ein έξαγγέλλειν u n d έπιτάττειν des Wissenden zustande. Dabei m u ß es dahingestellt bleiben, ob diese Vermittlung den Charakter einer Überredung oder Belehrung trägt, wenngleich m a n eher dem letzteren zuneigen möchte (vgl. S. 62f.). Außer der hier angeführten Stelle ist im Timaios andererseits noch in einem Zusammenhang von δόξα die Rede, in dem m a n schwerlich an Überredung bei deren Zustandekommen denken d ü r f t e . Die Welt, der Bereich des Werdenden u n d Vergehenden, ist δόξη μετ' αίσθήσεως erfaßbar (cf. 28 a u n d 52 a). I n dieser Formel weist sich die δόξα wieder ganz im Sinne uns schon bekannter Charakterisierungen aus. Soph. 264a stellt sich die δόξα jemandem δι' αίσθήσεως ein. D o r t trägt die δόξα den Charakter eines Urteils, dessen Urteilsgrund die Wahrnehmung ist. I n demselben Sinne läßt sich auch die ganz ähnlich lautende sprachliche Formel im Timaios verstehen. Vgl. auch Theait. 161 d. 4 Dieselbe Scheidung zwischen δόξα μετ' αίσθήσεως άλόγου, die sich auf das γιγνόμενον καΐ άπολλύμενον, δντως δέ ούδέποτε δν richtet, u n d der νόησις μετά λόγου, gerichtet auf das δν άεΐ, γένεσιν δέ ούκ έχον, wird auch 27 d—28 a ausgesprochen.

102

Die Bedeutung der ΔΟΞΑ für die platonische Erkenntnis

Erwägung Piatons zugrunde, daß nur von dem, was sich immer auf ein und dieselbe Weise verhalte, sichere Erkenntnis möglich sei. Der Gedanke ist jedoch an der zitierten Stelle nicht ausgeführt, sondern klingt nur an 1 . Ausdrücklich wird diese Überzeugung hingegen im Philebos ausgesprochen. Phileb. 59a, b fragt Sokrates, ob von dem, was sich weder jemals auf ein und dieselbe Weise verhalten habe noch verhalten werde noch augenblicklich verhalte, etwas rücksichtlich der genauesten Wahrheit deutlich werde 2 . Was selbst keine Beständigkeit (βεβαιότης) besitzt, hinsichtlich dessen ergibt sich auch für uns nichts Beständiges (βέβαιον) als Erkenntnis. Es kann daher vom Gegenstandsbereich des Werdenden weder Vernunfteinsicht noch irgendeine Erkenntnis geben, welche die Wahrheit enthält 3 . Zu welchem Seinsbereich nun f ü r den späten Piaton die Gegenstände der modernen Naturwissenschaft gehören, wird Tim. 28b—c deutlich. Das Weltall 4 ist sichtbar, fühlbar, körperlich — mithin wahrnehmbar. Das Wahrnehmbare aber hatte sich als γιγνόμενα καί γεννητά erwiesen und ist δόξη περιληπτά μετ' αίσθήσεως. „Naturwissenschaft" wäre also Sache der δόξα. Da die Welt und die Natur auch in den späten Dialogen Piatons den Seinsbereich des Werdenden und Vergehenden ausmachen, kann von einer Wandlung des Begriffs der επιστήμη im Sinne einer Begründung der Naturwissenschaft durch den alten Piaton — wie Stenzel will •— keine Rede sein. An einer Stelle des Philebos (59a) verwahrt sich Piaton überdies ausdrücklich gegen den Gedanken, in der Erforschung der Natur könne die eigentliche Erkenntnis bestehen. Wenn jemand meint, Untersuchungen über die Natur anzustellen (περί φύσεως), untersucht er die Verhältnisse dieser Welt (τά περί τον κόσμον τόνδε), wie sie entstand, wie sie etwas erleidet und wie sie etwas bewirkt. Derartige Untersuchungen erstrecken sich mithin nicht auf das, was immer ist, so, wie es ist (τά οντά άεί), sondern auf das, was wird, was werden wird und was geworden ist. Die άληθεστάτη γνώσις richtet sich demgegenüber jedoch auf το ov καί το δντως καί το κατά ταύτόν άεί πεφυκός (58a). Es besteht mithin kein Zweifel, welches f ü r Piaton die eigentliche Erkenntnis ist 5 . Zwar ist einmal (61 d, e) auch die Rede von einer επιστήμη, die sich auf das Werdende und Vergehende bezieht, 1

51d θετέον βεβαιότατα, vgl. die Übersetzung des ganzen Satzes S. 101. Vgl. Phil. 59a, b σαφές . . . τη ακριβέστατη αλήθεια γίγνεσθαι. 3 Vgl. Phil. 59b ούδ' ápa νους ούδέ τις έπιστήμη περί αυτά έστιν το αληθέστατο ν ίχουσα. 4 Als Bezeichnungen werden von Platon angeführt ó πάς ουρανός und κόσμος, aber auch andere gelten gelassen. Vgl. Tim. 28 b. 5 Daß Piaton auch in den späten Dialogen an seinem Begriff der eigentlichen, d. i. philosophischen, Erkenntnis festhält, schließt nicht aus, daß er auch an dem, was wir naturwissenschaftliche Erkenntnis nennen, interessiert ist, wie ja deutlich der Timaios zeigt. 2

Schwierigkeiten der Interpretation (Menon, Sophistes)

103

aber dieser επιστήμη wird an der betreffenden Stelle die επιστήμη, welche auf die κατά ταύτά δέ και ωσαύτως οντά άεί gerichtet ist, als die wahrere gegenübergestellt, επιστήμη in der ersten Bedeutung an dieser Stelle meint dasselbe, was δόξα, bzw. αληθής δόξα, im Tímalos bedeutet. Es handelt sich um denselben, jedoch verschieden benannten Begriff der Erfahrungserkenntnis, der auch in den früheren Dialogen geläufig ist 1 . Schwierigkeiten der Interpretation (Menon, Sophistes) Die Untersuchung der einschlägigen Stellen zweier weiterer Dialoge hat nichts ergeben, was den bisherigen Ergebnissen widerstreiten könnte. Finden sich nun wirklich keinerlei Zeugnisse in den platonischen Dialogen, die sich in das im Laufe der Untersuchung gewonnene Bild der platonischen Erkenntnistheorie nicht einfügen lassen? Die Frage muß bejaht werden. Es gibt in der Tat sehr gewichtige Zeugnisse im Menon und Sophistes, die mit anderen Dialogstellen offenbar in striktem Widerspruch stehen. Im Menon richten sich δόξα und έπιστήμη auf denselben Gegenstandsbereich. Men. 85 c ff. heißt es anläßlich des Sklavenexperimentes, dem Nicht-Wissenden (τω ούκ είδότι) wohnten άληθεΐς δόξαι inné über das, was er nicht weiß. Nach dieser Stelle müßte die δόξα zunächst als etwas Unbewußtes verstanden werden, denn wenn die άληθεϊς δόξαι bewußt werden, d.h. wenn der Nicht-Wissende weiß, was er als NichtWissender nicht weiß, ist er kein Nicht-Wissender mehr. Die Annahme einer zunächst unbeioußten δόξα findet in den nächsten Sätzen des Sokrates ihre Bestätigung. Die δόξαι dämmern (άνακεκίνηνται) dem Nicht-Wissenden nämlich zuerst traumartig auf. Durch häufiges und verschiedenartiges Fragen über denselben Gegenstand werden die αληθείς δόξαι dann zu έπιστημαι 2 . Dieser Prozeß ist ein άναλαμβάνειν έπιστήμην des Betreffenden aus sich selbst, anders ausgedrückt: ein άναμιμνήσκεσθαι. Erinnert, d.h. erkannt, wird das, was die Seele in ihrer Praeexistenz gesehen und kennengelernt hat (vgl. 81a ff.). Alle Erkenntnisse stammen demnach aus der Seele selbst und sind ihr unverlierbarer Besitz, dessen sie sich nur nicht immer bewußt ist. δόξα und έπιστήμη bezeichnen dabei lediglich Gradunterschiede des Wissens. Zwischen beiden ist ein allmählicher Übergang möglich. Die δόξα wird durch Fragen zur έπιστήμη erhärtet. Das bedeutet, daß sich δόξα und έπιστήμη auf denselben Gegenstand beziehen. I n dem Beispiel, das uns Piaton vor Augen f ü h r t , dem Sklavenexperiment, handelt es sich um einen Gegenstand der Mathematik. 1 2

Vgl. S. 60ff. u. S. 95ff. Vgl. auch 86a: άληθεις δόξαι, at έρωτήσει έπεγερθεΐσαι έπιστημαι γίγνονται.

104

Die Bedeutung der ΔΟΞΑ für die platonische Erkenntnis

Einen absoluten Wertunterschied zwischen άληθής δόξα und επιστήμη gibt es nicht, denn die άληθής δόξα ist keine schlechtere Leiterin zum richtigen Handeln als die έπιστήμη (vgl. 97 b). Es besteht jedoch ein relativer Wertunterschied zwischen beiden, insofern die αληθείς δόξαι flüchtig und vergänglich sind, die έπιστημαι hingegen dauerhaft (μόνιμοι). Mit dieser Distinktion scheint Piaton anzudeuten, daß derjenige, der einmal eine επιστήμη erlangt hat, sich fortan ständig deren Besitzes erfreut und sie zu seiner Verfügung hat. Die έπιστημαι sind gebundene1 όρθαί δόξαι. Der Unterschied zwischen einer έπιστήμη und einer όρθή δόξα2 besteht — wie ausdrücklich gesagt wird — in einem Band. Die Weise des Bindens der όρθ-αί δόξαι, in dessen Vollzug aus den δόξαι έπιστημαι werden, ist die άνάμνησις (98a). Das Binden und mithin die Wiedererinnerung vollzieht sich dabei durch vernunftgemäße Erschließung des Grundes (αιτίας λογισμω 98a). Das Verständnis des Erkenntnisbegriffes im Menon hängt damit wesentlich ab von einer Interpretation der άνάμνησις, verstanden als αιτίας λογισμός. Was ist das nun f ü r ein Grund, der in der Wiedererinnerung erschlossen wird? Oder zweckmäßiger gefragt: durch die Erschließung welchen Grundes könnte aus einer δόξα eine έπιστήμη werden ? In der Platon-Literatur 3 ist als Parallele zu dem αιτίας λογισμός dieser Stelle wiederholt das λόγον διδόναι angeführt worden, das — oder wenigstens die Fähigkeit dazu — in den Dialogen häufig als Kriterium des επιστήμων genannt wird 4 . Die έπιστήμη ist an jenen Stellen auf die Ideen bezogen. Der αιτίας λογισμός, verstanden als λόγον διδόναι, wäre mithin ein λόγον διδόναι von Ideen als dem Erkenntnisinhalt. Wer in diesem Sinne Rechenschaft ablegt von seiner Erkenntnis, beantwortet die Frage: warum ist das, was ich erkannt habe, so, wie es ist? Eine befriedigende Antwort müßte die gesamte platonische Ontologie aufrollen. Hält man an der Interpretation des αιτίας λογισμός als λόγον διδόναι fest, so würde eine δόξα dadurch zur έπιστήμη, daß ich zur Einsicht des Seinsgrundes des Seienden komme, das mir in der δόξα vorstellig geworden ist. Das würde jedoch bedeuten, daß die άνάμνησις, als welche der ganze Prozeß von Piaton beschrieben wird, eine Wiedererinnerung der Ideen ist. Diese Annahme birgt gewisse Schwierigkeiten in sich. Selbst wenn man davon absieht, daß im Gegensatz zum Phaidon und Phaidros im Menon die άνάμνησις mit der Ideenlehre nicht aus1

Die Metapher des Bindens (δείν) führt Piaton ein durch einen Vergleich der όρθαί δόξαι mit den Standbildern des Dädalus, die nur angebunden von Wert sind, da sie in gelöstem Zustande fortlaufen und ausreißen wie ein δραπέτης άνθρωπος, ein entlaufener Sklave (vgl. 97 d, e). 2 όρθή δόξα findet sich in synonymen Gebrauch mit αληθής δόξα. 3 U.a. Stenzel: Studien, S. 22; Klara Buchmann: Die Stellung des Menon in der Platonischen Philosophie, S. 63. 4 U.a. Pol. 53le, Phaid. 76b, Symp. 202a.

Schwierigkeiten der Interpretation (Menon, Sophistes)

105

drücklich in Zusammenhang gebracht wird 1 , scheint eine allmähliche Ideenerkenntnis mit der Tatsache unvereinbar zu sein, daß δόξα und επιστήμη sich im Menon auf denselben Gegenstand beziehen, ja überdies, solange die δόξα bewußt ist, völlig gleichwertig sind. Wodurch soll sich die δόξα von der έπιστήμη unterscheiden, wenn der δόξα derselbe Erkenntnisinhalt zukommt wie der επιστήμη, zumal die έπιστήμη — wie die Untersuchung gezeigt hat (vgl. S. 90) — als Ideenerkenntnis zugleich Erkenntnis des Wesens einer Sache und des Seinsgrundes der Sache ist 2 ? Versteht man den αιτίας λογισμός nicht als λόγον διδόναι in dem eben charakterisierten Sinne, sondern als eine andere, wie auch immer geartete Verifikationsweise, die nicht auf Ideen zurückführt, bleibt es unverständlich, was die Seele sonst — wenn nicht die Ideen — in ihrer Praeexistenz gesehen haben sollte, an das sie sich im hiesigen Leben wiedererinnern könnte. Daß mit den πάντα χρήματα (81c) nicht die Ideen gemeint sein können, wie Klara Buchmann (a.a.O. S. 65) glaubt, geht aus dem generalisierenden Ausdruck allein nicht hervor. Die Erkenntnisse, welche als Beispiele erörtert werden, bieten ebenfalls keine Anhaltspunkte zur Charakterisierung dessen, was έπιστήμη im Menon meint. Die zu erkennende Sache im Sklavenexperiment gehört in den Bereich der Mathematik, deren Gegenstände auch in der Politeia nicht eindeutig charakterisiert sind 3 . Das Beispiel von der Kenntnis des Weges nach Larissa läßt sich — wie bereits gezeigt 4 — mit der Anamnesislehre sehr schlecht in Zusammenhang bringen. Ohne mehr oder weniger problematische Hypothesen kann 1 81 c ist nur von πάντα χρήματα — und zwar hienieden und im Hades — die Rode, welche die Seele in ihrer Praeexistenz geschaut hat und an die sie sich daher wieder erinnern kann. 2 Bei der Interpretation des αίτιας λογισμός als λόγον διδόναι ist in der PlatonLiteratur (u.a. Th. Gomperz, Griechische Denker, Bd. II, S. 446) eine Stelle des Symposion (202 a) herangezogen worden, an der tingeblich „ohne einen Schatten des Zweifels das Wissen als richtige Meinung, wovon Rechenschaft abgelegt werden könne (όρθή δόξα μετά λόγου), definiert wird" (H. Raeder, Piatons philosophische Entwicklung, S. 83). Dem steht jedoch der dritte Teil des Theaitet entgegen, wo nachgewiesen wird, daß die έπιστήμη gerade nicht als άληθ-ής δόξα μετά λόγου verstanden werden darf. Gomperz (a.a.O.) erklärt sich diesen Widerspruch als eine spätere „Selbstberichtigung" Piatons. Die angeführte Interpretation der Symposionstelle ist aber keineswegs sicher. Es heißt dort, das richtige Meinen ohne die Fähigkeit des λόγον διδόναι (wörtlich : τό όρθά δοξάζειν καΐ άνευ τοϋ ίχειν λόγον δοΰναι) sei weder έπίστασθαι noch άμαθία. Daraus folgt jedoch logisch noch längst nicht das Umgekehrte, daß nämlich das richtige Meinen mit der Fähigkeit des λόγον διδόναι das έπίστασθαι sei. Es ließe sich sehr wohl denken, daß Piaton den Zusatz άνευ τοϋ ίχειν λόγον δοϋναι nur zur allgemeinen Charakteristik des όρθά δοξάζειν gemacht hat, etwa zur Betonung der Unmöglichkeit des λόγον διδόναι von der δόξα. 8 Vgl. S. 86 Anm. 5. 4 Vgl. S. 61 f.

106

Die Bedeutung der ΔΟΞΑ für die platonische Erkenntnis

daher über den Charakter der επιστήμη im Menon nichts Eindeutiges gesagt werden 1 . Vielleicht ist überhaupt die Entschiedenheit und Konsequenz, mit denen die Analyse der Stellen im Menon durchgeführt wurde, dem Gegenstand in diesem Falle nicht ganz angemessen. Sokrates sagt nämlich 98b, er spreche nicht als Wissender, sondern είκάζων. Nur daß ορθή δόξα und επιστήμη voneinander verschieden seien, könne er — wenn er überhaupt etwas zu wissen behaupten dürfe — zu dem wenigen rechnen, das er wisse. Diese Einschränkung all dessen, was im Menon über δόξα und έπιστήμη außerdem noch gesagt wird, gibt der Interpretation gewissermaßen ein Recht zur Selbstbescheidung, entbindet sie jedoch nicht der Pflicht, nach dem Grund für die Zwiespältigkeit der Darlegungen zu suchen. Überblickt man die erkenntnistheoretisch wichtigen Stellen des Menon im ganzen, ergeben sich hauptsächlich in drei Punkten Abweichungen von den bisherigen Ergebnissen der Untersuchung : 1. Die δόξα richtet sich auf dasselbe Objekt wie die έπιστήμη. 2. Zwischen beiden ist ein allmählicher Übergang möglich 2 . 3. Ein prinzipieller Wertunterschied zwischen der aktuellen δόξα und έπιστήμη besteht nicht. Von den drei Punkten gilt der erste in gewisser Hinsicht auch f ü r den Sophistes. Dort ging es im Verlauf des Bestimmungsversuches des Sophisten um das Problem der falschen Meinung 3 . Ihre Möglichkeit wurde einsichtig gemacht durch die Deutung des Begriffs des NichtSeienden als Begriff des Anders-Seienden. Diese Deutung gelang unter Heranziehung der Ideenlehre, nämlich durch die Erörterung der κοινωνία των γενών. Wer Falsches meint, d.i. das, was nicht ist (το μή δν), meint nach der im Sophistes entwickelten Theorie keineswegs das, 1 Klara Buchmann, die auch an den Stellen im Menon, wo ausdrücklich vom είδος die Rede ist, das είδος nicht als transzendente Idee wie in den späteren Dialogen, sondern als „gegenstandsimmanentes Eidos" (cf. a.a.O. S. 72) auffaßt, lehnt einen Zusammenhang der άνάμνησις im Menon mit der Ideenlehre, wie sie uns aus dem Phaidon und der Politeia geläufig ist, ab. Die άνάμνησις diene im Menon zum Nachweis der „Möglichkeit der Erkenntnis" überhaupt. Dieser Nachweis wird auf Grund metaphysischer Voraussetzungen geführt, nämlich „der Annahme, daß die Seele in der Präexistenz genau das erkannt hat, was wir auch im Diesseits erkennen können" (cf. a.a.O. S. 70f.). Auch für Raeder, Piatons philosophische Entwicklung, S. 178, hat Piaton im Menon „no6h nicht die Lehre von den selbständigen, auf die Dinge einwirkenden Ideen erreicht". Das είδος faßt er auf als „konstituierendes Merkmal des Begriffes". — Pohlenz, Aus Piatos Werdezeit, S. 312, ist dagegen der Ansicht, daß die Ideenlehre „im Kern schon für den Menon Voraussetzung" ist. — Ähnlich urteilt Friedländer, Platon, Bd. II, S. 265, nämlich, „daß der Mittelteil des Menon in jenem unlösbaren Zusammenhang, den er zwischen Ewigkeit der Seele und Ideenerkenntnis setzt, . . . eine erste Fassung dessen ist, was dann der Phaidon ausbreitet". 2 Hierzu steht vor allem Pol. 477b ff. in krassem Widerspruch. Vgl. S. 80. 3 Vgl. S. 53ff.

Schwierigkeiten der Interpretation (Menon, Sophistes)

107

was schlechterdings nicht ist (το μηδαμώς δν), sondern das, was anders ist (als der bestehende Sachverhalt, den der Inhalt der Meinung beschreiben soll). Dabei ist das, was anders ist (ετερον), in demselben Maße seiend wie das, was ist (το δν), nämlich das, was der Falsches Meinende gemeint hätte, wenn seine Meinung dem bestehenden Sachverhalt angemessen, d.h. richtig gewesen wäre. Dieser Gedanke erhält daher seinen Sinn, daß sich der Meinende in jedem Falle — sei es, daß er Falsches oder Wahres meint — mit dem Inhalt seiner Meinung auf γένη stützt; denn jede Aussage, d.i. Meinung, ordnet ihrem Gegenstand ein γένος zu Die Idee des Gegenstandes, auf den sich die Meinung bezieht, steht ontologisch gesehen in einer bestimmten Konstellation zu anderen Ideen. 2 Ein Aspekt dieses vielschichtigen Verhältnisses, in welchem die Idee des Gegenstandes steht, wird nun jeweils durch eine Aussage über den Gegenstand in der Sprache reproduziert. Ist die Aussage falsch, entspricht sie nicht den „idealen" Verhältnissen; nichtsdestoweniger ist aber auch die falsche Aussage nur möglich, weil dem fälschlicherweise vom Gegenstand Ausgesagten ebenfalls eine Idee entspricht, ohne daß sie jedoch in derjenigen Beziehung steht, welche die Aussage über den Gegenstand in der Sprache entwirft. Insofern sich nun eine Idee in ihrem Charakter als etwas, das ist, ebensowenig von der anderen unterscheidet wie ein Baum seinem Dasein nach von dem neben ihm stehenden oder allen anderen zugleich mit ihm wahrnehmbaren Gegenständen, kann Piaton sagen, daß τό έτερον = τό μή δν, das der Falsches Meinende meint, nicht weniger sei (cf. 258b) als τό δν, das der Wahres Meinende meint. Sein bedeutet dabei ideales Sein, d.h. Sein in der Welt der Ideen. Die Ideenwelt erweist sich damit als Bedingung der Möglichkeit von Aussagen überhaupt, und die δόξα steht in indirekter Beziehung zu den Ideen 3 ; denn ihre Beziehimg auf einen empirischen Sachverhalt (beispielsweise den sitzenden Theaitetos) ist nur möglich auf Grund einer — wie auch immer zu denkenden — Beziehung des δοξάζων zu den Ideen. Zum Verständnis dieser letzteren Beziehimg müßte man vielleicht auf Piatons Anamnesislehre verweisen. Im Menon war von Anamnesis die Bede, ohne daß sich diese Anamnesis hätte als Prozeß der philosophischen Erkenntnis deuten lassen 4 . Nach Phaidr. 249b kann eine Seele, die niemals in ihrer Praeexistenz die άλήθεια geschaut hat, überhaupt nicht in die menschliche Daseinsform eingehen. Nicht nur der Philosoph, sondern schon der 1

Vgl. S. 56 f. Hinsichtlich des Sachverhalts vom sitzenden, bzw. fliegenden Theaitetos müßte es sich um die Ideen Mensch und Sitzen, bzw. Fliegen handeln. 3 Auf die Frage der Berechtigung, im Sophistes die Ideenlehre anzusetzen, kann, wie bereits S. 54 Anm. 2 betont wurde, hier nicht eingegangen werden. Die Untersuchving schließt sich der Interpretation Cornfords und Ross' an, welche die γένη als Ideen auffassen. 4 Vgl. S. 104ff. 2

108

Die Bedeutung der ΔΟΞΑ für die platonische Erkenntnis

Mensch als solcher scheint nach Piaton in einer ihm eigentümlichen, vielleicht unbewußten Beziehung zur Ideenwelt zu stehen. Die Ideen galten bisher — abgesehen einmal vom Menon, wo die Frage unentschieden bleiben muß — ausschließlich als Gegenstandsbereich der έπιστήμη. Verglichen mit der Wesenserkenntnis des Phaidon und der Politeia ergibt sich von der δόξα im Sophistes auch ein anderes Bild als dort von der έπιστήμη 1 . Von einer Wesensschau, •welche ohnehin meist durch die spezifischen Ausdrücke des Sehens charakterisiert ist, kann im Sophistes keine Rede sein. Das δοξάζειν ist vielmehr seinem Charakter nach ein gewöhnliches Urteilen. Das Interessante der platonischen Urteilstheorie liegt aber darin, daß — wie die Beispiele vom sitzenden und fliegenden Theaitetos zeigen — der Urteilende selbst bei einem Urteil über einen Gegenstand der Wahrnehmung in einem bestimmten — wie auch immer gearteten — Verhältnis zur Ideenwelt steht 2 . Versucht man, sich über die Eigenart der erkenntnistheoretischen Erörterungen im Menon und Sophistes genau Rechenschaft zu geben, fällt auf, daß die Ausführungen im Menon hauptsächlich die psychologische Seite der Erkenntnis betreffen. Im Gegensatz zur Politeia, wo dergleichen, wenn überhaupt, dann nur metaphorisch behandelt ist 3 , wird im Menon das Erkennen als seelischer Prozeß beschrieben. Die Deutung der Ergebnisse des Sklavenexperimentes erfolgt freilich von metaphysischen Voraussetzungen aus (z.B. in der Anamnesislehre). Im Sophistes stehen die Erörterungen der falschen Meinung nicht unter genetischem Aspekt. Es handelt sich dort — wie bereits betont — lediglich um die Erklärung ihrer Möglichkeit. Für den Versuch einer genetischen Betrachtung dessen, was f ü r Piaton „Erkennen" bedeutet, muß jedoch die hinter der Erklärung des falschen Meinens stehende und sie erst ermöglichende Urteilstheorie von großem Interesse sein. Erkenntnis (έπιστήμη) ist f ü r Piaton Ideener kenn tnis. Jeder Erkenntnis liegt jedoch in irgendeiner Form ein Urteil zugrunde, auch der έπιστήμη, wie Theait. 186a ff. lehrt 4 . Als Urteilen hatte sich im Sophistes das δοξάζειν erwiesen. Die δόξα, verstanden als Urteil, muß mithin in einem bestimmten inneren Verhältnis zur έπιστήμη stehen. Eine genetische Betrachtung der επιστήμη müßte in der Lage sein, etwas von diesem inneren Verhältnis aufzudecken. Dabei dürfte vielleicht auch verständlich werden, aus welchem Grunde die δόξα ungewöhnlicherweise 1

Von der έπιστήμη ist im Sophistes nicht die Rede. Vgl. S. 56 f. 3 Man vergleiche das Höhlengleichnis und das Sklavenexperiment. Der Sinn des Höhlengleichnisses erschöpft sich gewiß nicht in einer Metaphorik psychologischer Phänomene, aber es gibt Züge darin, die sich durchaus so deuten lassen, z.B. die langsame Gewöhnung des Entfesselten an die Helligkeit u.a. 4 Vgl. S. 46. 2

Der exklusive Charakter der επιστήμη

109

in einigen Dialogpartien als auf denselben Gegenstandsbereich wie die επιστήμη bezogen erscheint. Es sollen daher im folgenden die Texte besonders daraufhin befragt werden, was sich an Darlegungen über das Erkennen als Prozeß und seine psychologische Seite findet. Die Untersuchung wird dabei nicht in der Absicht geführt, einen Weg zu finden, auf dem die Schwierigkeiten, die sich ergeben haben, hinweginterpretiert werden könnten, sondern, wenn möglich, den Grund einsichtig zu machen, der zu den Widersprüchen zwischen den einzelnen Dialogen geführt hat. Zusammen damit ist nach der Bedeutung zu fragen, die in diesem Zusammenhang der δόξα f ü r die philosophische Erkenntnis zukommt. Der exklusive Charakter der επιστήμη Wer der Ideenerkenntnis teilhaftig werden will, muß bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Er hat sich so weit wie möglich aller Sinnlichkeit zu entschlagen, da die Seele nur im Zustande des reinen Fürsich-Seins eigentlicher Erkenntnis fähig ist (vgl. Phaid. 66b ff.). Dies bedingt eine allen weltlichen Freuden entsagende, ganz der Philosophie gewidmete Lebensführung. Aber Selbstüberwindung und Selbstzucht allein genügen nicht. Der nach Erkenntnis Strebende bedarf außerdem bestimmter natürlicher Anlagen, wenn sein Bemühen zum Ziele führen soll. Die notwendigen Naturanlagen des Philosophen 1 werden ausführlich in der Politela diskutiert, anläßlich der Erörterung über Auswahl und Erziehung der φύλακες. 487 a erfolgt eine gedrängte übersichtliche Zusammenfassung aller der Anlagen, die man haben muß, um τήν του οντος ίδέαν εκάστου (486d) zu erfassen. Danach sind erforderlich : ein gutes Gedächtnis (μνήμων), leichte Auffassungsgabe (εύμαθής), großmütige und hohe Gesinnung (μεγαλοπρεπής)2, Sinn f ü r Maß 3 und A n m u t (εδχαρις), ferner Neigung und Verwandtschaft 4 zur Wahrheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit. Die in dieser nicht eben kurzen Liste aufgeführten notwendigen Bedingungen sind jedoch keineswegs schon hinreichend f ü r das Zustandekommen von Erkennt1 Pol. 484b werden die φιλόσοφοι definiert als ot τοϋ άεΐ κατά ταύτα ωσαύτως έχοντος δυνάμενοι έφάπτεσθαι. 521c wird die άληθής φιλοσοφία verstanden als έπάνοδος zum ίίν. 2 Als Gegensätze werden dazu 486 a άνελευθερία und σμικρολογία (Kleingeistigkeit, Pedanterie) angeführt. Unter μεγαλοπρέπεια ist das zu verstehen, was sonst im Griechischen häufig auch mit μεγαλοφροσύνη bezeichnet wird. 3 486 d stehen έμμετρος und εύχαρις als Attribute zu διάνοια in Parallele. 4 Die zur Erkenntnis erforderliche innere Verwandtschaft des Erkennenden mit dem zu erkennenden Gegenstande in ethischer Hinsicht wird stark betont im VII. Brief (cf. 343e f.). Wer das ευ περυκός erkennen will, muß selbst εύ περυκώς sein. Intellektuelle Begabung allein reicht nicht aus. Vgl. auch Pol. 509a. Beide Seiten der Erkenntniskorrelation sind άγαθοειδή.

110

Dio Bedeutung der ΔΟΞΑ für die platonische Erkenntnis

nis. Welche Faktoren sonst noch dabei mitspielen, wird sich später zeigen 1 . Die angegebenen f ü r einen Philosophen erforderlichen Naturanlagen finden sich zusammen nur selten bei einem Menschen. Es gibt daher jeweils nur wenige, für welche eigentliche Erkenntnis überhaupt möglich ist (vgl. Pol. 491 a f. u. 503b). Erkenntnis des An-sich-Seienden, das höchste Gut, das der Mensch nach Platon erringen kann, bleibt somit einem stets relativ kleinen Kreis von Menschen vorbehalten; die große Menge ist von vornherein davon ausgeschlossen 2 . Der exklusive Charakter kommt der Erkenntnis nicht nur in der Politela zu, sondern wird auch im Phaidros (cf. 250a) ausdrücklich betont. Zwar hat — nach den Ausführungen des Phaidros — jede Menschenseele von Natur aus in ihrer Praeexistenz das Seiende geschaut, sonst wäre sie nämlich gar nicht erst in diese Lebensform gekommen, aber die Wiedererinnerung auf Grund des Diesseitigen an jenes ist aus bestimmten Gründen nicht für jede leicht. Wenige bleiben daher übrig, denen das Gedächtnisvermögen (το της μνήμης) in hinreichendem Maße zu Gebote steht. Auch im Symposion scheint der Gedanke der Exklusivität der Erkenntnis angedeutet zu sein. Diotima zweifelt nämlich 210a, ob Sokrates imstande sei, sich in die höchste Weihe der ερωτικά einweihen zu lassen, nachdem sie dies f ü r deren untere Stufen bejaht hat. Die Einschränkung des Möglichkeitsbereiches der platonischen Erkenntnis auf einen kleinen Kreis von Menschen ist um so erstaunlicher, als derjenige, der έμφρόνως πράττειν will, sei es im Privatleben oder in Staatsangelegenheiten, die Idee des Guten geschaut haben muß (cf. Pol. 517c). Bevor man nicht weiß, inwiefern das Gerechte und Schöne — d.h. das, was dafür gehalten wird—gut sind, hat man es auch nicht hinreichend erkannt (cf. 506 a). Gerade f ü r das praktische Handeln ist jedoch die Kenntnis dessen, was das Gute einer Sache ausmacht und damit die Kenntnis dessen, was beispielsweise das Gerechte und Schöne im eigentlichen Sinne sind, unerläßlich, denn nur auf diese Weise kann das Handeln zu wahrem Nutzen gereichen 3. Dadurch daß dem Durchschnittsmenschen die Erkenntnis der Idee des Guten, das μέγιστον μάθημα, das ein Mensch erlangen kann, verwehrt bleibt, wird 1

Vgl. S. 119ff. Hierzu scheint Pol. 518 c ff. im Widerspruch zu stehen. Dort ist die Rede davon, daß im Gegensatz zu den übrigen άρεταΐ die Fähigkeit des φρονεϊν jeder Seele ursprünglich innewohnt. Es kommt nur darauf an, die δψις της ψυχής auf den richtigen Gegenstandsbereich zu lenken, wenn die Seele der eigentlichen Erkenntnis teilhaftig werden soll. Die Hinlenkung der Seele auf den richtigen Gegenstandsbereich, die περιαγωγή, ist damit zum entscheidenden Faktor des Erkenntnisprozesses geworden. Die περιαγωγή, die έπάνοδος zum δν, besteht jedoch nach 521c in der φιλοσοφία άλη&ής. Dazu bedarf es aber — wie gezeigt — der angeführten Naturanlagen. Der exklusive Charakter der Erkenntnis ist mithin Pol. 518c ff. nur scheinbar aufgegeben. 3 Vgl. dazu besonders Pol. 505a. 2

δό;α als positiv zu bewertendes geistiges Verhalten

111

er von vornherein ganz wesentlich in seinem menschlichen Wert beschnitten. Die Möglichkeit zu wahrem Menschsein ist ihm versperrt. Zu einem αληθώς ζην (490b) kann er es niemals bringen, auch wenn er sich noch so sehr anstrengt. Es zeigt sich, wie weit Piaton davon entfernt ist, die Menschen, sei es auch nur in ihrem spezifischen Charakter des Mensch-Seins, als von Natur aus gleich zu betrachten. Seine Philosophie ist letzthin die Philosophie eines esoterischen Kreises, in welcher das Wesentlichste nicht einmal in Wort und Schrift fixierbar ist 1 . Eigentliche Erkenntnis (επιστήμη) und damit der Weg zum Göttlichen 2 , steht grundsätzlich nur einer kleinen Schar von Auserwählten frei, alle anderen dagegen sind auf die τροφή δοξαστή (Phaidr. 248b) angewiesen.

δόξα als positiv zu bewertendes geistiges Verhalten Unter dem Aspekt der Exklusivität der επιστήμη gewinnt nunmehr der Begriff der δόξα erneut an Bedeutung, δοξάζειν ist das normale geistige Verhalten des Menschen zur Welt, wobei „Welt" nicht nur im Sinne physikalisch faßbarer Gegebenheiten zu verstehen ist, sondern in dem weiten Sinne der Gesamtheit dessen, was dem Menschen in irgendeiner Weise gegenüberstehen kann. Wenn in diesem Verhalten ein Gegenüber nicht nur bloß vorstellig wird, d.i. wahrgenommen oder in der Phantasie vorgestellt, sondern in einem Urteilsakt geistig bewältigt wird, kann das Verhalten dem Gegenstand angemessen oder unangemessen sein. Ein in seinem Charakter als Verhalten angemessenes Verhalten wäre als ein Erkennen anzusprechen. Ein solches Verhalten begegnete bei Piaton in der άληθής δόξα, die sich als Erfahrungserkenntnis erwies 3 . Ein in seinem Charakter gegenüber Angemessenheit oder Unangemessenheit sich nicht eindeutig festlegendes Verhalten ist das Meinen. Versteift sich dieses Verhalten in dem anmaßenden Anspruch, angemessenes Verhalten zu sein, handelt es sich um eine Pseudo-Erkenntnis, ein Schein-Wissen. Hierher gehören die grundlosen, meist falschen Meinungen, gegen die Piaton an vielen Stellen seiner Dialoge polemisiert. Ein Verhalten, in dem ein Gegenüber lediglich vorstellig wird, machte ebenfalls eine — wenn auch nicht ganz eindeutige — Bedeutung der δόξα ( = Vorstellung) aus, wie die Analyse einschlägiger Stellen im Theaitet ergab 4 . Im Hinblick auf den exklusiven Charakter der έπιστήμη kann die δόξα nun eigentlich nicht schlechtweg negativ bewertet werden, wenigstens 1

Vgl. Ep. V I I , 3 4 1 c ; Phaidr. 2 7 4 c ff. Vgl. Theait. 176b όμοίωσις θεω . . . φρονήσεως γενέσθαι. 3 1 Vgl. S. 95ff. Vgl. S. 42. 2

όμοίωσις 8è δίκαιον καΐ δσιον μετά

112

Die Bedeutung der ΔΟΞΑ für die platonische Erkenntnis

nicht in den Bedeutungen der Erfahrungserkenntnis, der unbefangenen Meinung und der Vorstellung. Denn abgesehen von der noch ausstehenden Frage, ob die wenigen Philosophen selbst der δόξα entraten können — was sollte die Mehrzahl der Menschen wohl sonst tun, wenn nicht δοξάζειν ? In der Tat erscheint auch die δόξα in den Dialogen gar nicht so selten ohne abwertenden Beigeschmack. In den S. 47ff. behandelten Bestimmungen der δόξα aus den späten Dialogen fanden sich keine negativen Charakteristica. Pol. 585b werden δόξα άληθής, επιστήμη, νους und überhaupt πάσα άρετή in einem Atem genannt und zu einer Gattung zusammengefaßt. In einer ähnlichen Reihe tritt die δόξα im Philebos auf (cf. I I b ) . Krit. 46c ff. wird zwischen χρησταί und πονηραΐ δόξα', unterschieden, χρησταί sind die Meinungen der Vernünftigen (φρόνιμοι.) und Sachverständigen (επαΐοντες) ; πονηραί diejenigen der Unvernünftigen, der großen Menge. In der Politela (412e) sollen die angehenden Philosophenherrscher bei ilirer Auswahl aus den übrigen Wächtern auf allen Altersstufen daraufhin beobachtet werden, ob sie φυλακικοί, d.h. geschickt sind im Bewachen der grundsätzlichen Meinung (δόγμα), man müsse stets das tun, was für den Staat das beste ist, und ob sie diese Meinung (δόξα) weder infolge Bezauberung noch Gewalt vergessen und verlieren. Pol. 429c wird die Tapferkeit 1 bestimmt als ein Bewahren (σωτηρία) der vom Gesetz mittels der Erziehung hervorgerufenen Meinung (δόξα) über das, was zu fürchten ist (περί των δεινών)2. Κ. Buchmann (a.a.O. S. 96f.) weist auf die Verwandtschaft dieser beiden Stellen in der Politeia mit der die Unbeständigkeit der δόξα betreffenden Stelle im Menon hin 3 . An allen drei Stellen unterliegt die δόξα ihrem Charakter nach stets der Gefahr, verlustig zu gehen. Diese Eigentümlichkeit wird jedoch an den betreffenden Stellen nicht zu einer negativen Charakteristik ausgenutzt. Als weitere Parallele zu den Ausführungen des Menon zieht K. Buchmann Phaidr. 237 d heran. Dort unterscheidet Sokrates in seiner ersten Rede 1 Und zwar die άνδρεία πολιτική. Apelt (Übers, der Politeia, 6. Aufl. 1923, S. 468, Anm. 37) verweist hierzu auf Ar. Eth. Nie. 1116a 17f. Dort wird diese Tapferkeit dahin erklärt, daß die Bürger wegen der gesetzlichen Strafe sowie wegen Schande und Ehre die Gefahren auf sich nähmen. Piaton deutet durch die nähere Bestimmung der Tapferkeit an dieser Stelle an, daß es für ihn noch eine andere Tapferkeit gibt, die sich nicht auf die Achtung vor den Gesetzen zu gründen braucht. 2 Die Meinung nämlich, daß τά δεινά das sind, als was und von welchem Charakter es der Gesetzgeber bei der Erziehung festgesetzt hat (cf. 429 c). Im folgenden (430b) wird von dieser richtigen Meinung eine richtige Meinung, die ohne Erziehung entstanden ist, sich aber auf dieselben Gegenstände erstreckt wie eretere, als θηριώδης und άνδραποδώδης abgegrenzt. Damit ist angedeutet, daß es sich bei der Meinung über das, was zu fürchten ist, nicht um eine Meinung handelt, die blindlings das Richtige trifft, sondern um eine in den Gesetzen fundierte Meinung. 3 Vgl. Men. 97c ff. und dazu S. 104.

δόξα ale positiv zu bewertendes geistiges Verhalten

113

über den Eros eine έπίκτητος δόξα έφιεμένη του άριστου im Menschen von einer έμφυτος επιθυμία ήδονών. Im Gegensatz zur επιθυμία verfolgt die δόξα ihr Ziel mit vernünftigen Erwägungen (λόγος), δόξα bedeutet hier mehr als bloß eine Meinung. Es ist eher an den Inbegriff aller im Laufe des Lebens erworbenen Ansichten und Überzeugungen zu denken, die sich im Menschen zur Gesinnung verdichten, mit welchem Ausdruck Schleiermacher die Stelle treffend übersetzt. Wenn K. Buchmann glaubt1, an den drei angeführten Stellen nicht nur ähnliche Züge, sondern denselben Sinn8 der δόξα wie im Menon feststellen zu können, geht sie damit über das rein vom Text her Vertretbare hinaus; denn an den zitierten Stellen der Politela ist von Wissen oder ähnlichem keine Rede. Für die Phaidrosstelle scheint K. Buchmanns Interpretation am ehesten zuzutreffen ; aber fraglich bleibt, ob λόγος im Sinne von έπιστήμη verstanden und überhaupt die δόξα der Phaidrosstelle mit der δόξα des Menon identifiziert werden kann. An den behandelten Stellen zeigte sich die δόξα als ein geistiges Verhalten zur Welt, das zwar positiv zu bewerten ist, aber seinen Charakter als δόξα nicht verkennen läßt. Im Politikos (309 c) findet sich hingegen eine Stelle, an der die δόξα ihren bisherigen Bedeutungskreis zu sprengen droht. Der Fremde redet dort von einer auf das Schöne, Gerechte und Gute sowie deren Gegenteil bezogenen befestigten wahren „Meinung' , welche in wahrhafter Weise das ist, was sie ist (ίντως οΰσα αληθής δόξα μετά βεβαιώσεως). Diese άληθής δόξα wird überdies als göttlich bezeichnet. Man ist versucht, sie in der Bedeutung zu verstehen, die anderwärts die επιστήμη hat3. Gegenüber den angeführten Stellen, an denen die δόξα neutral oder gar positiv gesehen zu sein scheint, findet sich die negative Charakteristik der δόξα vornehmlich da, wo die δόξα als unzulängliche Erkenntnieart gegen die έπιστήμη abgesetzt wird. Als besonders markantes Beispiel möge dazu noch einmal auf Pol. 506c hingewiesen werden4. Dort heißt es von den δόξαι ohne έπιστημαι, sie seien insgesamt αίσχραί. Ein anderer Punkt, dei zur abwertenden Charakterisierung führt, ist das Vorherrschen grundloser, sich als Erkenntnis gebärdender Meinungen über Sachen, von welchen dem Menschen, besonders in ethischer Hinsicht, sicheres Wissen not tut. In diesem Sinne wird die ψευδής δόξα Gorg. 458 a als μέγιστον κακόν für den Menschen bezeichnet. Beide Aspekte, der erkenntnistheoretische wie der ethische, sind meistens zusammen für die negative Charakteristik der δόξα an einer Stelle ausschlaggebend. 1 A.a.O. S. 97 Anm. 241. * „Weil sie nicht durch Wissen gesichert ist, hat sie keinen festen Bestand in der Seele" (a.a.O. S. 97). a Vgl. S. 65 ff. 4 Vgl. S. 90.

8 8001 Sprute. DOXA

114

Die Bedeutung der ΔΟΞΑ für die platonische Erkenntnis

Der approximative Charakter der menschlichen Erkenntnis Durch den Aufweis des exklusiven Charakters der επιστήμη hatte der Begriff der δόξα im vorigen bereits an Gewicht gewonnen. Die ganze Bedeutung der δόξα f ü r den Menschen und sein Philosophieren zeigt sich jedoch erst, wenn man den platonischen Erkenntnisbegriff verstanden hat. Dies Verständnis kann, soweit es überhaupt möglich ist, nur in einem Bewußtsein der Problematik bestehen. Die Problematik, von der im folgenden die Bede sein wird, liegt dabei nicht im „Was" der Erkenntnis, sondern vielmehr im „Wie" des Erkennens. Was die Erkenntnis ist, d.h. wessen man in der Erkenntnis teilhaftig wird, ist von Piaton in den Dialogen hinlänglich auseinandergesetzt worden. Schwierigkeiten ergeben sich, wenn man verstehen will, wie sich das Erkennen als Prozeß vollziehen muß, um zu seinem Ziel zu kommen, d.i. wirkliches Erkennen im Sinne Piatons zu sein. Obwohl die Erkenntnis nach Piaton für den Menschen vielleicht der höchste oder — wenn man mit Rücksicht auf den Philebos so weit nicht gehen will — mindestens einer der höchsten Werte ist, das Erkenntniserlebnis ferner als das Beglückendste gilt 1 , was der Mensch erreichen kann —, obwohl die έπιστήμη überhaupt ein Angelpunkt des platonischen Denkens ist und die ihr gewidmeten Erörterungen weite Partien der Dialoge füllen, gewinnt man auf Grund einiger Stellen den Eindruck, daß die eigentliche Erkenntnis dem Menschen überhaupt versagt und nur annähernd erreichbar ist. Nach Phaid. 66e f. ist der Erwerb von Erkenntnis 2 entweder niemals oder nur nach dem Tode möglich, da die Seele in Gemeinschaft mit dem Körper nichts rein erkennen kann (καθαρώς γνώναι). Wahrend des Lebens ist es nur möglich, έγγυτάτω του είδέναι zu sein, und zwar dann, wenn man sich möglichst weitgehend von allen Ansprüchen des Körpers frei macht. Phaidr. 278d bleibt der Begriff σοφός allein einem Gott vorbehalten, während einem Menschen die Bezeichnung φιλόσοφος angemessen ist. Die Philosophen stehen nämlich nach Symp. 204a f. zwischen σοφία und άμαθία, und aus diesem Grunde philosophieren sie. Von den Göttern philosophiert niemand, da sie schon σοφοί sind, desgleichen nicht, wenn sonst noch jemand σοφός ist. Ob jedoch außer den Göttern noch jemand σοφός sein kann, und wer dafür in Frage käme, wird nicht gesagt. In der Politela sind es jedenfalls nur die Philosophen — also Menschen, die laut Symposion und Phaidros nicht σοφοί sein können —, welche überhaupt die Voraussetzungen zur Erkenntnis mitbringen 3 . Parm. 134a ff. ergibt die Argumentation des Parmenides, daß die έπιστήμη αύτή, die Ideenerkenntnis, außerhalb des menschlichen Bereiches liegt. Der Wert 1 Vgl. besonders Sympos. 211d und Pol. 519dff. * κτήσασθαι τό είδέναι Phaid. 66e. 3 Vgl. S. 109.

Der approximative Charakter der menschlichen Erkenntnis

115

dieser Feststellung hängt natürlich ab von der jeweiligen Deutung und Einstellung des Interpreten zur Ideenkritik im Parmenides. Sie kann daher gewissermaßen nur eingeklammert hier angeführt werden. Auch ohne eine solche Einschränkimg dürfte aber vielleicht die Behauptung des Parmenides hingenommen werden, daß, wenn überhaupt etwas der Erkenntnis an sich teilhaftig sei, diese άκριβεστάτη επιστήμη niemandem eher als Gott zukomme (cf. 134c)1. Es kann hier nicht entschieden werden, ob Piaton, sooft er von der Erkenntnis des An-sich-Seienden redet, dies in dem Bewußtsein tut, daß eine solche Erkenntnis für den Menschen stets approximative Erkenntnis bleiben muß Es führt auch nicht weiter, danach zu fragen, ob nicht einmal die wenigen Philosophen, welche allein die zur Erkenntnis erforderlichen Anlagen mitbringen, vollkommener Erkenntnis fähig sind, oder ob der approximative Charakter lediglich einer — wie auch immer möglichen — Erkenntnis der übrigen Menschen zukommt. Wesentlich im Rahmen dieser Untersuchung ist vielmehr die Frage, wie sich dieses, sei es auch nur approximative, Erkennen vollzieht. Eine befriedigende Antwort auf die Frage ist jedoch sehr schwierig, denn wo in den Dialogen vom eigentlichen Erkennen die Rede ist, geschieht dies meist in vagen metaphorischen Ausdrücken. Abgesehen von den Verben des Sehens", die am häufigsten vorkommen, wird das Erkennen beschrieben als ein έφάπτεσθαι (Pol. 484 b), τυγχάνειν (Phaid. 66a) des Seienden, ferner als δρέγεσθαι (Phaid. 65c), θηρεύειν (Phaid. 66 a). Dazu kommen die Ausdrücke des Anstiegs, besonders in der Diotima-Rede des Symposion sowie im VI. und VII. Buch der Politela : έπανιέναι, έπαναβασμοί, έπιβάσεις, άνοδος u. dgl. Ein beliebtes Wort, das ebenfalls in diesen Zusammenhang gehört, ist πορεύεσθ-αι*. Pol. 532b wird das Erkennen, d.h. metaphorisch der Anstieg zur Idee des Guten, als διαλεκτική πορεία bezeichnet. Damit ist der wesentlichste Begriff genannt, den Piaton zur Charakterisierung der Methode seiner Erkenntnis verwendet*. Philosophische Erkenntnis ist dialektische Erkenntnis. Aufschlüsse über die Vollzugsweise des Erkennens dürften daher am ehesten von einer Analyse der Dialektik zu erwarten sein. Als Technik der philosophischen Erkenntnis bildet die Dialektik den Inhalt einer επιστήμη, einer Wissenschaft. Und zwar ist die διαλεκτική επιστήμη von allen anderen έπιστημαι (gedacht ist dabei vornehmlich 1 Vgl. auch Pol. 505a δτι αύτήν [seil, τήν του άγαθοΰ Ιδέαν] ούχ Ικανώς ίσμεν. Die Stelle kann jedoch auch aus der Situation des Gesprächs verstanden werden. Symp. 211b läßt ebenfalls verschiedene Interpretationen zu. Ep. VII 342 d heißt es, der νοΰς keime dem Fünften, dem άληθώςίν, am nächsten (έγγύτατα πεπλησίαχεν). * Pol. 477 a heißt es zum Beispiel, daß παντελώς δν sei auch παντελώς γνωστόν. 3 Z.B. θεασθαι, θεωρειν, σκοπεΐν, ipäv und Komposita. 1 Pol. 510b, 534c; Soph. 253b u.ö. 5 Vgl. Pol. 533c f.



116

Die Bedeutung der ΔΟΗΑ für die platonische Erkenntnis

an die mathematischen) die am höchsten stehende und gleichsam deren Schlußstein (θριγκός vgl. Pol. 534e). Über die Methode (το λέγεσθαι) dieser — fast möchte man mit Aristoteles sagen πρώτη έπιστήμη läßt sich einiges aus den an verschiedenen Stellen gegebenen Charakteristiken der Dialektik entnehmen. Das innere Verhältnis von δόξα und έπιστήμη Die Dialektik ist die Wissenschaft von der Struktur der Ideenwelt, d.i. von der Gemeinschaft und Ordnung der Ideen untereinander 1 . Dio Einsicht in den strukturellen Zusammenhang der Ideen erfolgt durch die διαιρέσεις και συναγωγαί (Phaidr. 266b). Die διαίρεσις besteht in der naturgemäßen Einteilung der Ideen in andere ihnen untergeordnete, die συναγωγή ist dagegen umgekehrt das Zusammenfassen des Ungeordneten zu einer Idee 2 . Für eine richtige Einteilung ist dabei wichtig, nicht dasselbe είδος f ü r ein anderes zu halten und eines, das anders ist, f ü r dasselbe (cf. Soph. 253d). Danach wäre das διαλέγεσθ-αι wesentlich ein Urteilen über die Identität von είδη und — wie hinzugefügt werden muß, vgl. Soph. 227a f. — über deren Verwandtschaft 3 . Dem philosophischen Erkennen muß mithin Urteilscharakter zukommen. Dieses zunächst, wie von vornherein selbstverständlich scheinende Ergebnis wird noch gestützt durch eine Reihe von Ausdrücken aus der Urteilssphäre, mit denen die Erkenntnis beschrieben wird. So finden sich häufig λογισμός, λογίζεσθαι, λόγος1 zur Charakterisierung des Mittels, durch das sich das Erkennen vollzieht. An der bereits behandelten Theaitetstelle 184 b ff.s war eine besonders große Ausdrucksfülle beobachtet worden, u.a. συλλογισμός, άναλογίσματα, συμβάλλειν προς άλληλα, κρίνειν, άναλογίζεσθαι. Kommt es einerseits f ü r unsere gängigen Vorstellungen von Erkenntnis nicht überraschend, wenn sich die Weise des platonischen Erkennens als Urteilen herausstellt, f ü h r t andererseits gerade dieser Unistand in erhebliche Schwierigkeiten ; denn auch das δοξάζειν war ja als Urteilen verstanden worden 8 , δόξα und έπιστήμη sollen sich jedoch nicht nur als Erkenntnisse, sondern nach Pol. 477 b ff. auch als Erkenntnisvermögen grundlegend voneinander unterscheiden 7 . Es läßt sich jedoch nunmehr nicht einsehen, weshalb das διαλέγεσθαι, als Prozeß betrachtet, nicht als δοξάζειν angesprochen werden könnte, 1

Hierzu vgl. besonders Soph. 253d und Phil. 16c ff. Vgl. Phaidr. 265d είς μίαν τε ίδέαν συνορώντα άγει ν τα πολλαχη διεσπαρμένα. Vgl. auch Pol. 537c δ μέν γάρ συνοπτικός διαλεκτικός, ό 8έ μή ου. 3 Auf die Frage nach dem Urteilsgrund dürfte Piaton auf seine Anamnesislehre verweisen. 1 U.a. Soph. 254a, Phaidr. 249c; Phaid. 65c; Pol. 532a, 534b, c. 5 6 Vgl. S. 46. Vgl. S. 108. ' Vgl. S. 80. 2

Das innere Verhältnis von δόξα und έπιστήμη

117

zumal die δόξα keineswegs nur auf eine sinnlich wahrnehmbare Gegenständlichkeit bezogen w a r 1 . I n allen S. 47ff. behandelten Bestimmungen der δόξα wurde nämlich immer wieder ihr Gesprächscharakter — d.i. ihr Urteilscharakter — betont 2 . Denken (διανοεϊσθαι) und δοξάζειν waren gleichgesetzt und das Denken als Selbstgespräch der Seele verstanden worden. I m Sophistes wurde gegen den allgemeinen Gesprächscharakter des Denkens noch besonders der Frage-AntwortCharakter des δοξάζειν abgehoben. I m Wechselspiel von Frage und Antwort besteht jedoch die ursprüngliche Unterhaltung, das Zwiegespräch (διάλογος). Nicht zufallig scheint Piaton f ü r die philosophische Technik die Bezeichnung διαλέγεσθαι gewählt zu haben. Ein Dialektiker ist derjenige, der zu fragen u n d zu antworten versteht (cf. R r a t . 390c), u n d zwar so zu antworten, daß der Fragende jeweils die logische Stringenz der Antwort einsehen m u ß (cf. Men. 75d). L ä ß t schon der gemeinsame Gesprächscharakter zumindest auf nahe Verwandtschaft zwischen διαλέγεσθαι u n d δοξάζειν schließen, könnte man sogar ihre Identität folgern, sofern man sich nicht scheut, aus einer Phaidrosstelle so weitgehende Konsequenzen zu ziehen. Wenn nämlich nach Phaidr. 266b die διαιρέσεις und συναγωγαί — dialektische Techniken — zum Sprechen und Denken erforderlich sind 3 , müßte jeder δοξάζων in Anbetracht der Vollzugsweise seines geistigen Erlebnisses als διαλεκτικός bezeichnet werden können. Umgekehrt wäre auch der Dialektiker als Urteilender u n d Denkender ein δοξάζων, u n d zwar sowohl nach der Gleichsetzung zwischen διανοεϊσθαι u n d δοξάζειν als auch nach der Interpretation der δόξα als Urteil*. Man gewinnt mithin den Eindruck, daß sich philosophische Erkenntnis und Doxa-Erkenntnis in ihrer Vollzugsweise nicht unterscheiden. E s dürfte demnach jeweils nur ein u n d denselben Prozeß des Erkennens geben. Diese Auffassung läßt sich durch eine Stelle des Timaios stützen. Nach Tim. 37 a scheint es n u r eine intellektuelle Funktion der Seele zu geben. Diese besteht in einem Urteilen5 über das Seiende hinsichtlich der I d e n t i t ä t 6 und anderer Bestimmungen. Ob sich dabei als Resultat νους und έπιστήμη oder nur άληθεΐς δόξαι ergeben, hängt davon ab, worauf sich die intellektuelle Funktion der Seele richtet, auf το λογιστικόν oder το 1

Vgl. Theait. 167c, 178c ff., 195eff., Soph. 264a, Charm. 158ef. und dazu S. 52 f. 2 Vgl. S. 52. 3 ίνα οΐός τε ώ λέγειν τε καΐ φρονεΐν Phaidr. 266b. Es ist nicht klar, ob Sprechen lind Denken überhaupt gemeint sind oder nur das richtige Sprechen und Denken. Im letzteren Falle würde die Stelle für die Argumentation der Arbeit nicht so viel hergeben. • Vgl. S. 51 f. u. S. 108. 5 I m Text : λέγει, vgl. jedoch S. 52, wo der Gesprächscharakter als Urteils, Charakter interpretiert wird. • Vgl. dazu Soph. 253 d und S. 116.

118

Die Bedeutung der ΔΟΞΑ für die platonische Erkenntnis

αίσθητόν. Auch Pol. 518c ff. ist von n u r einer δύναμις des φρονεΐν die Rede, welche sich nach u n t e n auf die Sinnenwelt und nach oben auf die Ideen richten k a n n 1 . Wenn es tatsächlich n u r ein u n d denselben Prozeß des E r k e n n e n s geben sollte u n d wenn das διαλέγεσθαι, die Weise des philosophischen Erkennens, als δοξάζειν verstanden werden muß, beginnt die K l u f t zwischen der philosophischen Erkenntnis und den anderen Erkenntnisarten zu schwinden. I n der T a t erscheint die Dialektik im V I I . Buch der Politela zwar als Schlußstein der übrigen έπιστημαι u n d ü b e r ihnen stehend, aber doch in gewisser Weise auf derselben Linie hegend wie sie. Die Philosophenherrscher werden in den mathematischen έπιστημαι ausgebildet zu dem Zweck, dadurch leichter die Idee des G u t e n zu schauen (cf. 526e). Die mathematischen Disziplinen h a b e n nämlich die Eigenschaft, die Seele vom Werdenden zum Seienden hinzuziehen (cf. 521 d f f . u . 525a f.). Dieser Zug zum Seienden besteht darin, d a ß sie irgendwann einmal zu Wesensfragen f ü h r e n 8 . Die Anregung des Denkvermögens (νόησις), die durch das Studium der mathematischen Wissenschaften erfolgt, ist dabei der entscheidende Gesichtspunkt, u n t e r dem diese Wissenschaften erörtert werden. Die νόησις m u ß zur έπίσκεψις aufgerufen werden. Darin scheint f ü r die Philosophenherrscher das Bildungsziel ihrer vorbereitenden Ausbildung zu bestehen 3 . Nichts als die νόησις ist aber auch das Mittel, der Idee des Guten teilhaftig zu werden 4 . Gerade weil die philosophische Erkenntnis von der νόησις abhängt, sind die mathematischen Wissenschaften f ü r die Dialektik von propädeutischem Wert. Mathematische Erkenntnis sowohl wie dialektische Erkenntnis ist noetische Erkenntnis 5 . Es zeigt sich mithin auch in der Politeia, d a ß die Erkenntnisarten etwas Gemeinsames haben. Zieht m a n in diesem Zusammenhang noch eine Theaitetstelle (195e ff.) heran, an der das Rechnen als δοξάζειν verstanden wird, sieht m a n sich wieder dazu g e f ü h r t , den Philosophen wie den Mathematiker u n d Empiriker als δοξάζων zu verstehen, zumal der Philosoph Pol. 525b ausdrücklich als λογιστικός bezeichnet wird. Die äußerlich d u r c h P i a t o n 1 Vgl. dazu S. 92 u. Anm. 1 und S. 110 Anm. 2. * Vgl. 524e, ferner auch 524b f. s Die Ausdrücke νόησις und νοεϊν finden sich auffallend häufig, z . B . 523a, b, 523d, 524b, c, 524d, 525c, 526b. Gelegentlich kommen außerdem im selben oder sehr ähnlichen Sinne vor: λογισμός (524b), διάνοια (524d), fwoia (524e). Schleiermacher übersetzt νόησις in der Regel mit „Vernunft", gelegentlich auch einfach mit „Erkenntnis" (532b), Apelt mit „Vernunft, Vernunftkraft, Vernunfttätigkeit" und „Denken". * Vgl. 532b. Dazu vgl. 525c und 526b, wo mit derselben sprachlichen Wendung αύτη τη νοήσει die Erkenntnis der Mathematiker beschrieben wird. 6 Dies wird ausdrücklich 534a betont, wo die beiden oberen Erkenntnisarten έπιστήμη und διάνοια unter dem Begriff νόησις zusammengefaßt werden, νόησις bedeutet hier natürlich nicht das Erkenntnisvermögen, sondern eine Erkenntnisgattung.

Der Begriff der Erleuchtung

119

so weit von der έπιστήμη abgerückte δόξα darf daher in ihrem formalen Charakter als Urteil, unter dem im vorigen gezeigten Aspekt, zunächst als allgemeine Form menschlicher Erkenntnis überhaupt betrachtet werden. Da das diskursive Denken in der Mathematik wie in der Dialektik sich nachdrücklich als δοξάζειν erwiesen hat, muß nunmehr gefragt werden, ob das philosophische Erkennen, sich für Piaton im diskursiven Denken erschöpft. Hat der Dialektiker, der den λόγος der ούσία einer Sache erfaßt 1 , d.i. ihren ontologischen Ort bestimmt 2 , damit auch schon die ούσία selbst erfaßt? Man hat Grund, die Frage zu verneinen; denn einige Textstellen erwecken den Eindruck, als bedürfe es letztlich zur Wesensschau noch eines irrationalen Momentes, ohne das alle dialektischen Untersuchungen nicht zum Ziel führen. Dieser irrationale Faktor bei der eigentlichen Erkenntnis ist als eine Art Erleuchtung zu verstehen, f ü r die es — wie im folgenden gezeigt wird — nur wenige, aber gewichtige Belege gibt. Der Begriff der Erleuchtung Nach Ep. VII 342 a ff. gibt es mehrere Momente, an welchen sich der Erkenntnisprozeß fortschreitend vollzieht. Das erste ist der Name (δνομα) einer Sache, daw zweite die Definition (λόγος) — als Beispiel wird die geometrische Definition des Kreises angegeben —, das dritte die sinnlich erlebbare Manifestation der Sache in der Erfahrungswelt (εϊδωλον), das vierte sind die möglichen Erkenntnisweisen (έπιστήμη και νους άληθής τε δόξα), das fünfte — das eigentlich außerhalb dieser Reihe stehen müßte — ist die Sache in ihrem An-sich-Sein (αυτό δ δή γνωστόν τε και άληθώς έστιν 8ν). Das vierte Moment, das Platon nicht ausdrücklich mehr unterteilt, muß jedoch — wie die Ausführungen zeigen — noch weiter differenziert gedacht werden. Von den unter der Einheit des vierten Momentes begriffenen Erkenntnisweisen kommt nämlich der νους dem fünften, dem άληθ-ώς δν, am nächsten. Gegenüber der έπιστήμη und άλη&ής δόξα hat der νους mithin eine Vorzugsstellung inne 3. Über das Verhältnis von έπιστήμη und άληθής δόξα wird nichts gesagt. Nur wer die vier Momente irgendwie durchlaufen hat, kann der έπιστήμη des fünften, offenbar des νους, vollkommen teilhaftig werden. Der Prozeß schreitet jedoch nicht kontinuierlich zum νους fort, sondern die eigentliche Erkenntnis wird durch einen Sprung 1 Vgl. Pol. 534b ή καΐ διαλεκτικών καλείς τόν λόγον έκάστου λαμβάνοντα της ουσίας; " I m Sinne der Dihairesen des Sophistes. 3 νους und φρόνησις als Bezeichnung der höchsten Erkenntnis begegnen auch im Philebos. Phil. 66b rangieren νους und φρόνησις in der Gütertafel vor den έπιστημαι τε καΐ τέχναι καΐ δόξαι ¿ρθαΐ λεχθεϊσαι. Phil. 59 b stehen νοϋς und έπιστήμη aber wieder in Parallele; ebenso Tim. 37c. Tim. 51 d ff. wird als Gegensatz zur δόξα άληθής nur vom νοϋς gesprochen.

Die Bedeutung der ΔΟΞΑ für die platonische Erkenntnis

120

erreicht. Der hinauf- und hinabschreitende Gang durch alle Momente erzeugt nämlich kaum έπιστήμη vom εδ πεφυκός bei einem, der selbst εδ πεφυκώς ist (cf. 343e). N a c h d e m αύτών έκαστα, ονόματα και λόγοι όψεις τε

και αισθήσεις mit Mühe verglichen und wohlmeinend geprüft sind in vorurteilslosen Untersuchungen 1 , leuchten φρόνησις und νους plötzlich auf (έξέλαμψε 344b). 341 c f . wird das plötzliche Aufleuchten der Erkenntnis, d. i. die Erleuchtung, mit einem von einem springenden Funken entzündeten Licht verglichen, das sich sodann in der Seele selbst nährt. Die erkenntnistheoretischen Ausführungen des VII. Briefes lassen sich durchaus in das Bild der platonischen Erkenntnistheorie, das die Untersuchung bisher gewonnen hat, einfügen 2 . Hält man im VII.Brief an der Interpretation der αληθής δόξα als Erfahrungserkenntnis fest, könnte die έπιστήμη als mathematische und dialektische Erkenntnis verstanden werden, welche in rein diskursivem Denken μετά τριβής πάσης καί χρόνου πολλού (344b) erlangt wird, wohingegen im νους durch das irrationale Moment der Erleuchtung sprunghaft die ούσία, das reine Wesen selbst, erschaut wird. Zu einem solchen letzten entscheidenden Sprung im Prozeß des philosophischen Erkennens, der έπάνοδος zum δντως ov, passen auch gut die vielen oft ans Mystische gemahnenden Metaphern, mit denen Piaton die philosophische Erkenntnis so häufig beschreibt 3 . In ähnlicher Weise wie im VII. Brief wird im Symposion der letzte Schritt im Erkenntnisprozeß beschrieben. Im Verlauf der DiotimaRede über den Anstieg zum Schönen-an-sich heißt es Symp. 210e, wer das viele Schöne (τά καλά Plural!) der Reihe nach und aufrechte Weise (εφεξής τε καί ορθώς) betrachtet habe, würde — endlich zum Ziel der έρωτικά gelangend — plötzlich (εξαίφνης) ein Schönes von wunderbarer Natur erblicken (θαυμαστόν τήν φύσιν καλόν). Das wunderbare Schöne ist das καλόν αύτό, um dessentwillen alle vorherigen πόνοι unternommen wurden. Die πόνοι bestehen in der Zusammenschau der vielen Formen des Schönen zu immer höheren Einheiten. Dazu gehört Geduld und 1

δνευ φθόνων έρωτήσεσιν καί άποκρίσεσιν χρωμένων (344b). Auf die Frage der Echtheit des VII. Briefes kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Die philosophische Stelle im VII. Brief halte ich durchaus für platonisches Gedankengut, selbst wenn der Brief nicht von Piaton selbst, sondern von einem seiner Schüler abgefaßt worden sein sollte. Mit G. Müller (Die Philosophie im pseudoplatonischen VII. Brief, Arch. f. Philos.III, 1949/50, S. 251 ff.), der das Gegenteil nachzuweisen versucht hat, haben sich schon andere auseinandergesetzt. Vgl. u. a. H. Patzer, Mitteilbarkeit der Erkenntnis und Philosophenregiment im VII. Platobrief, Arch. f. Philos. V, 1954, S. 19ff. 3 Ein Problem, das hier nicht angeschnitten werden kann, da es einer eingehenderen Interpretation der ganzen erkenntnistheoretischen Stelle des VII. Briefes bedürfte, liegt im Verhältnis der einzelnen Momente des Erkenntnisprozesses zueinander. Vgl. dazu Stenzel, Der Begriff der Erleuchtung bei Piaton (Kleine Schriften S. 151ff.) ; W. Andreae, Die philos. Probleme in den plat. Briefen, Philol. 78, 1923, S. 34ff. und H.Patzer a.a.O. 2

Der Begriff der Erleuchtung

121

Genauigkeit, denn es muß έφεξής τε και όρθώς verfahren werden. Man dürfte die Stelle sicher nicht überinterpretieren, wenn man dies mühselige Verfahren mit den dialektischen Untersuchungen in Zusammenhang bringt, die uns anderwärts begegneten. Wie im VII. Brief wird auch hier beim letzten Schritt im Erkenntnisprozeß die bisherige Kontinuität unterbrochen. Das Ziel wird zuletzt sprunghaft erreicht. Das An-sich-Seiende offenbart sich έξαίφνης, urplötzlich. Von einem Aufleuchten der Erkenntnis ist im Symposion zwar keine Rede, aber es erscheint nicht abwegig, als Ursache der Plötzlichkeit wie im VII. Brief ein irrationales Moment anzunehmen, mag man dies nun Erleuchtung oder wie auch immer nennen. Stenzel (a.a.O.) glaubt den Gedanken der Erleuchtung auch in der Politela nachweisen zu können 1 . Er bezieht sich dabei besonders auf das VI. Buch, wo die Idee des Guten durch den Vergleich mit der Sonne eingeführt wird, sowie auf die Bedeutung, die der Idee des Guten in pädagogischer und ethischer Hinsicht zukommt. Ausdrückliche Hinweise zu einer solchen Deutung bietet der Text jedoch nicht. Die Lichtmetaphorik macht eine derartige Interpretation aber durchaus nicht unwahrscheinlich. Überdies fordern die Ausführungen über die Idee des Guten, die έπέκεινα της ουσίας (509b) ist, geradezu dazu heraus, an ein irrationales Moment zu denken, das ihre Erkenntnis ermöglicht 2 . Pol. 506 d ff. erklärt sich Sokrates außerstande, die Idee des Guten selbst 3 zu bestimmen. Er will daher nur über einen έ'κγονος του άγαθ-οΰ berichten 4 . Es folgen der Vergleich der Idee des Guten mit der Sonne und das sog. Liniengleichnis. Pol. 533 a gibt Sokrates auf das Drängen des Glaukon, doch den Charakter (τρόπος) der Dialektik zu erklären, nicht nach, da Glaukon dahin nicht mehr folgen könne ; denn er würde nicht mehr ein Bild (είκών) von dem Gegenstande der Unterredung sehen, sondern αύτο τό αληθές, allerdings wie es Sokrates erscheine. Darauf bringt Sokrates im wesentlichen noch einmal eine Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse der Erörterung. Man fragt sich, weshalb Sokrates den Glaukon nicht bis zur letzten Stufe in die Erkenntnis einführt, wenn sie bloß durch diskursives Denken erreichbar sein sollte. Nach der Interpretation der einschlägigen Stellen erhebt sich nunmehr die Frage, ob die Erleuchtung prinzipiell als konstitutives Ele1

Vgl. ebenso Robinson, Plato's Earlier Dialeetie, S. 172ff. G. Misch (Gesch. der Autobiographie, Bd. I, 1. Hälfte, 3. Aufl., Frankfurt 1949, S. 112) spricht davon, daß die Seele, „die Dialektik weit hinter sich lassend, in einem plötzlichen Akt unmittelbarer Berührung die höchste Idee aus dem Ganzen schaut: die Idee des Guten". 3 αυτό μέν τί ποτ' εστί, τάγα&όν Pol. 506 d. 4 Nach Phil. 65 a ist es nicht möglich, das Gute μια Ιδέα. zu erfassen, sondern nur σύν τρισί. Diese drei sind κάλλος, συμμετρία und άλήθει,α. Das Gute selbst entzieht sich dem Zugriff (καταπέφευγεν 64θ). 2

Die Bedeutung der ΔΟΞΑ für die platonische Erkenntnis

122

ment der eigentlichen Erkenntnis vorausgesetzt werden darf. Eine verbindliche Entscheidung dieser Frage ist unmöglich, zumal der Gedanke der Erleuchtung nur für den VII. Brief als sicher, für das Symposion als nahezu sicher und für die Politela als sehr wahrscheinlich angenommen werden kann. Wenn man sich demgegenüber dennoch entschließt, allgemein an einem irrationalen Moment für die platonische Erkenntnis festzuhalten, bekommt nicht nur die Metaphorik, in der Piaton die Erkenntnis beschreibt, einen tieferen Sinn, sondern wird auch das innere Verhältnis von δόξα und επιστήμη verständlicher. Es ist dann nämlich durchaus möglich, das philosophische Erkennen seiner kontinuierlichen Vollzugsweise nach als δοξάζειν zu verstehen, ohne daß dadurch die eigentliche Erkenntnis von ihrer ausgezeichneten Stellung herabgezogen wird. Die philosophische Technik, das διαλέγεσθαι, besteht in einem Urteilen, einem δοξάζειν. Aber alle Erkenntnis, welche durch diese Technik erlangt wird, ist propädeutischer Natur und noch nicht die eigentliche Erkenntnis. Dialektische Erkenntnis, wie sie uns etwa in den Dihairesen des Sophistes vorgeführt wird, ist eine επιστήμη in engerem Sinn 1 , welche der mathematischen επιστήμη nahe steht. Die eigentliche Erkenntnis, der νους, kann demgegenüber nur durch einen Sprung erreicht werden. Hat der Philosoph die Voraussetzung der rein rational durchzuführenden dialektischen Untersuchungen erfüllt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als darauf zu warten, daß sich ihm plötzlich durch Erleuchtung das Wesen der zu erkennenden Sache offenbart. In dieser Offenbarung des Seienden in seinem An-Sich-Sein besteht die Wesensschau, die Piaton nicht müde wird, mit den leuchtendsten Metaphern zu beschreiben. Wenn man sich zu der vorgelegten Interpretation des platonischen Erkenntnisbegriffes bekennt, wird auch das Neben- und Durcheinander der beiden Hauptzüge verständlich, welche den Charakter der Erkenntnis in den Dialogen bestimmen: diskursives Denken und kontemplative Schau. Es ließe sich kaum einsichtig machen, wie man das Objekt der platonischen Erkenntnis — d.i. das, was eine Sache in ihrer Vollendung sein muß — überhaupt erfassen könnte, wenn nicht durch eine 1

Es soll hier nicht über die Schwierigkeiten hinweggegangen werden, welche die Unterscheidung zwischen dialektischer und eigentlicher Erkenntnis mit sich bringt. Es erhebt sich nämlich dann, ähnlich wie bei der mathematischen Erkenntnis (vgl. S. 86 Anm. 5), die Frage, wessen man in der dialektischen Erkenntnis teilhaftig wird, da es sich ja nicht um die eigentliche Ideenerkenntnis handeln kann. Ferner wäre nach einem Wahrheitsbegriff zu fragen, welcher der dialektischen und mathematischen Erkenntnis entspricht, da die bisher erörterten platonischen Wahrheitsbegriffe hier versagen (vgl. S. 95). Andererseits wird man sich auch angesichts dieser aufgezeigten Schwierigkeiten schwerlich zu einer Identifizierung der beiden Erkenntnisbegriffe entschließen können, da man sonst die durch die Dihairesen im Sophistes gewonnene dialektische Erkenntnis als νοϋς und φρόνησις verstehen müßte.

Der Begriff der Erleuchtung

123

Art irrationaler Wesensintuition. Ferner versteht man, wie es zu gewissen Widersprüchen in den erkenntnistheoretischen Ausführungen kommen kann, je nachdem, von welchem Aspekt her das Erkenntnisproblem betrachtet wird. Betrachtet man die Erkenntnis als Prozeß, zeigt sich zunächst kein prinzipieller Unterschied zwischen δόξα und έπιστήμη, wie der Menon lehrt. Ein ganz anderes Bild ergibt sich hingegen, wenn man δόξα und έπιστήμη von ihrem Inhalt her vergleicht, wie es in der Politela geschieht. In dieser Hinsicht erscheint der Unterschied so groß, daß für beide sogar verschiedene Erkenntnisvermögen angenommen werden 1 , was im Hinblick auf die letzte Stufe im Erkenntnisprozeß auch durchaus sinnvoll zu sein scheint. Unter dem Gesichtspunkt der Erleuchtung wirkt auch der exklusive Charakter der Erkenntnis nicht mehr so befremdend. Die Exklusivität verliert ihren anmaßenden Beigeschmack, wenn die Erkenntnis nur durch Erleuchtung, d.h. also durch eine außermenschliche Kraft, zu erreichen ist. Dieser Verständnisgrund reicht natürlich nur so weit, wie der exklusive Charakter der Erkenntnis nicht auf den zur Erkenntnis erforderlichen Naturanlagen beruht. Wurde im vorigen versucht, die Gründe für einige Schwierigkeiten aufzudecken, vor die sich die Interpretation im Laufe der Untersuchung gestellt sah, soll damit keineswegs der Anschein erweckt werden, als sei jetzt eine Formel gefunden worden, mit der sich alle Probleme lösen ließen. Es kann sich in dieser Arbeit nur um einen Versuch handeln, gewisse oft verdeckte Zusammenhänge im platonischen Denken deutlich zu machen. Dies geschah zuletzt durch die Untersuchung des inneren Verhältnisses von δόξα und έπιστήμη. Dabei zeigte sich, daß das menschliche Erkennen in seinen gewöhnlichen Ausprägungen — von der Erfahrungserkenntnis konkreter Gegenstände bis zur dialektischen Erkenntnis — seiner Vollzugsweise nach ein δοξάζειν, ein Urteilen, ist. Die Bedeutung der δόξα für den Philosophen ergibt sich aus der Notwendigkeit, vor der im Sinne Piatons eigentlichen Erkenntnis sämtliche anderen Erkenntnisweisen — angefangen bei der sinnlichen Wahrnehmung 2 — vollzogen zu haben. Über dem δοξάζειν, der normalen Erkenntnisfunktion der Seele, steht die Erleuchtung, in welcher der Mensch der eigentlichen Erkenntnis teilhaftig wird. Ereignet sich dieses Phänomen überhaupt, dann nur bei philosophischer Lebensführung nach langem kommunikativem Miteinander in freundschaftlichem Zusammenleben 3 . 1

Vgl. S. 80. Im Phaidon wird die Wiedererinnerung der Ideen anläßlich sinnlicher Wahrnehmung ausgelöst (vgl. u.a. Phaid. 75a), ebenso im Phaidros (249b, c). Theait. 186d fällt die έπιστήμη unter ein Urteilen über sinnliche Eindrücke. 3 Vgl. Ep. VII 341c. 2

EXKURS Eine moderne Auffassung von der Natur des Wissens und der platonische Erkenntnisbegriff I m vorigen ist vielfach von „Erkenntnis" die Rede gewesen. Es zeigte sich, daß Piaton mehrere Erkenntnisbegriffe unterschied. Neben der philosophischen, der im Sinne Piatons eigentlichen Erkenntnis, gab es die mathematische und dialektische Erkenntnis. Und auch die άληθής δόξα erwies sich als Erkenntnis, und zwar als Erfahrungserkenntnis. Für eine Untersuchung des platonischen Erkenntnisbegriffes ergäbe sich nun die Frage, was diese verschiedenen Erkenntnisbegriffe gemeinsam haben, so daß der Platon-Interpret sie jeweils als „Erkenntnis" ansprechen und Piaton selbst sie mit dem griechischen Wort επιστήμη benennen kann. Diese Fragestellung f ü h r t auf die Frage nach der Natur der Erkenntnis als solcher bei Piaton. I n welche Schwierigkeiten der Versuch einer Beantwortung dieser Frage führen würde, läßt sich schon daraus entnehmen, daß Piaton nur die philosophische Erkenntnis als Erkenntnis im eigentlichen Sinne gelten läßt, nichtsdestoweniger aber genötigt ist, auch die übrigen Erkenntnisarten als έπιστημαι und damit als Erkenntnis zu verstehen. Da die vorliegende Arbeit nicht in erster Linie der επιστήμη, sondern der δόξα gilt, soll im folgenden nur noch kurz Piatons Begriff der eigentlichen Erkenntnis im Hinblick auf die Frage nach der Natur der Erkenntnis beleuchtet werden. Gleich zu Anfang der Arbeit (S. 9) wurde die Frage offengelassen, was ganz allgemein das Erkennen sei. In einem mehr vorläufigen Sinne war dann im Verlauf der Arbeit mitunter vom Erkennen und Glauben, Meinen als von geistigen Verhaltensweisen die Rede. Ist es nun sinnvoll, das Erkennen allgemein oder auch nur das Erkennen im Sinne Piatons als ein besonderes geistiges Verhalten anzusprechen? Ein moderner Autor, A. J . Ayer 1 , hat den ersten Punkt der Frage eingehend erörtert und ist zu einem eindeutig negativen Ergebnis gekommen. Ayer geht vom Sprachgebrauch des englischen „to know" aus und fragt: „Does knowing consist in being in a special state of mind?" Nachdem er eine Reihe von Fällen ausgeschlossen hat, wo man im Englischen „to know" im weiteren Sinne sagen kann, schränkt er seine Frage auf die Fälle ein, bei denen „knowing something" bedeutet „knowing that 1

The Problem of Knowledge, Pelican Books A 377.

Eine moderne Auffassung von der Natur des Wissens usw.

125

something is the case", d.i. „knowing something to be true" (a.a.O. S. 14). Es ist in diesem Zusammenhang unerheblich, ob die Bedeutungssphäre des englischen Wortes ,,to know" sich mit dem deutschen „erkennen" ganz deckt oder nicht; denn es geht ·— wie Ayer S. 28f. betont •— nicht um das Wort als solches, sondern um „the work that the word ,know£ does". Ayer setzt dabei stillschweigend voraus, daß dieselbe „nature of the facts", die er untersuchen will, von den verschiedensten Wörtern der verschiedensten Sprachen beschrieben werden kann. Aus Ayers Argumentation wird deutlich, daß er weniger die Erkenntnis als Prozeß, als das Ergebnis dieses Prozesses im Blick hat. I m Deutschen hat man daher „knowing that something is the case" durch „wissen, daß etwas der Fall ist" wiederzugeben. Ob der Unterschied zwischen „Erkennen" und „Wissen" f ü r die anfängliche Fragestellung von Bedeutung ist, soll hier dahingestellt bleiben. Ayer geht nun davon aus, daß, wenn ,knowing that' in einem besonderen geistigen Verhalten (being in a special state of mind) besteht, es dann auch ein Anzeichen f ü r das Vorhandensein dieses „state oí mind" geben müsse. Ein solches Anzeichen könnte man in der Überzeugung sehen (vgl. a.a.O. S. 16); denn wer auch immer etwas weiß, muß überzeugt sein, daß das, was er weiß, wahr ist. Jedoch, auch einmal abgesehen davon, daß ,to be sure of', ,to be convinced of' „is rather a matter of accepting the fact in question and of not being at all disposed to doubt it than of contemplating it with a conscious feeling oi conviction" (a.a.O. S. 17), so braucht hinsichtlich des Überzeugt-Seins kein Unterschied zwischen einem Wissenden und einem bloß Meinenden zu bestehen, denn es ist durchaus möglich, „that the man's state oi mind is such that he is absolutely sure that a given statement is true, and that the statement is false" (a.a.O. S. 19), so daß es sich bei dem Menschen mithin nicht um ein Wissen, sondern bloß um eine falsche Meinung handeln konnte. Die bloße Überzeugung kann daher niemalf ein Kriterium des Wissens sein und insofern auch nicht als Argumenl f ü r eine bestimmte Auffassung von der Natur des Wissens dienen Nach Ayer ist es überhaupt logisch unmöglich, daß das Wissen „ir someone's being in a cognitive mental state" (a.a.O. S. 18) besteht, ir dem Sinne, daß dieser „mental state" eine notwendige und hinreichend« Bedingung f ü r das Wissen wäre ; denn aus der Tatsache, daß jemanc überzeugt ist, daß etwas wahr ist, folgt logisch niemals — wie stari auch die Überzeugung sein mag —, daß es tatsächlich wahr ist (vgl a. a.O. S. 19). Eine Behauptung ist dann wahr und nur dann wahr, went das, was sie behauptet, tatsächlich so ist. Einen „infallible state o mind", der die Wahrheit dessen garantiert, was man weiß, gibt ei nicht. Um davon reden zu können, man wisse, daß etwas der Fall ist müssen nach Ayer lediglich drei Bedingungen erfüllt sein: „First tha

Exkurs

126

what one is said to know be true, secondly that one be sure of it, and thirdly that one should have the right to be sure" (a.a.O. S. 35). Über den letzten Punkt hat man sich auszuweisen durch Beweis oder Begründung seines Wissens. Allgemeine Maßstäbe für die Hinlänglichkeit einer solchen Begründung gibt es nicht. Es ist hier nicht der Ort, sich mit den Argumenten Ayers auseinanderzusetzen. Im folgenden soll jedoch Ayers Auffassung von der Erkenntnis der platonische Erkenntnisbegriff gegenübergestellt werden. Diese Gegenüberstellung geschieht nicht, um zu entscheiden, ob Piatons Standpunkt oder der Ayers der Sache angemessener ist, sondern allein, um zur Klärung des platonischen Erkenntnisbegriffes beizutragen. Einer der wichtigsten Punkte, in denen Piaton sich von Ayers Auffassung unterscheidet, ist der Wahrheitsbegriff. Wenn Ayer von Wahrheit redet, meint er die Satzwahrheit. Diesen Wahrheitsbegriff kennt Piaton zwar auch 1 , aber für seinen Erkenntnisbegriff spielt er keine Rolle. Wo Piaton von Wahrheit redet, bedeutet Wahrheit zumeist eine Eigenschaft der Gegenständlichkeit, auf welche sich die Erkenntnis bezieht. Die Ideen sind „wahr", sind „das Wahre". Damit steht die Wahrheit dem Erkennenden gegenüber. Sie ist gewissermaßen ein Ziel, das anvisiert werden muß. Im Anvisieren der Wahrheit besteht der Prozeß der philosophischen Erkenntnis, der ganz unten bei den sinnlichen Wahrnehmungen beginnt und von dort stufenweise immer höher steigt. Seine Erfüllung findet dieser Prozeß in der Schau der Wahrheit. Die Schau der Wahrheit einer Sache ist die Erkenntnis dessen, was die Sache in ihrer Vollendung sein muß. Letzteres ist die Idee, das transzendente Wesen (ουσία) der Sache. Demgegenüber bedeutet Erkenntnis für Ayer Erkenntnis eines Sachverhalts. Auch dem Begriff der Erfahrungserkenntnis entspricht bei Piaton ein Wahrheitsbegriff, der die Gegenständlichkeit beschreibt 2 . Die Wahrheit besteht in dieser Hinsicht im So-Sein der Dinge oder einem Tatbestand. Von dieser Wahrheit, beispielsweise dem Tatbestand eines Raubüberfalls, ist Erkenntnis nach Piaton nur möglich auf Grund sinnlicher Wahrnehmung 3 . Erfahrungserkenntnis hängt mithin von einem besonderen Vermögen ab. Das Vermögen der Wahrnehmung ist die notwendige Bedingung der Erfahrungserkenntnis. Das Wahrnehmen — z.B. das Sehen eines Hauses mit offenstehenden Fenstern — ist ein sinnlich-geistiges Verhalten. Die Erkenntnis „ich weiß, daß die Fenster des Hauses offenstehen", kann nach Piaton nur auf solch einem sinnlich-geistigen Verhalten beruhen 4 ; alle anderen möglichen Informationsquellen über diesen Sachverhalt können nämlich bloß zur Meinung, nicht zum Wissen darüber führen. Da Piaton nun die philo1 3

Vgl. S. 93f. Vgl. S. 60ff.

2 1

Vgl. S. 94f. Vgl. S. 63.

Eine moderne Auffassung von der Natur des Wissens usw.

127

sophisehe, d.i. die in seinem Sinne eigentliche Erkenntnis, analog dem Sehen versteht, nimmt es nicht wunder, wenn er für die eigentliche Erkenntnis ein besonderes Erkenntnisvermögen ansetzt1; denn das Sehen setzt das Vermögen des Gesichtssinnes voraus. Der Gesichtssinn taugt jedoch nur zum Sehen einer konkreten Gegenständlichkeit. Soll es eine Erkenntnis geben, die sich nicht auf diese Gegenständlichkeit bezieht, aber trotzdem ihrem Charakter nach ein „Sehen" ist, muß es per analogiam ein besonderes Vermögen dafür geben. Nur die Tätigkeit dieses Vermögens gewährleistet dann die eigentliche Erkenntnis. Derjenige, welcher die Ideen schaut, vollführt mithin in der Tat einen „special mental act", den Ayer für die Erkenntnis bestreitet. Der tiefgreifende Unterschied zwischen dem „Wissen eines Sachverhaltes" im Sinne Ayers und dem platonischen Erkenntnisbegriff springt sofort in die Augen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß man zwar sagen kann „ich weiß, daß der Baum grün ist", daß aber Piaton niemals sagen könnte „ich weiß, daß die Schönheit ist . . ." und nun folgen ließe, was sie ist. Denn Erkenntnis als intuitive Wesensschau kann nur erlebt, nicht aber mit den Mitteln der Sprache fixiert werden. Dies dürfte auch ein Grund dafür sein, daß so viele Bestimmungsversuche in den Dialogen aporetisch enden. Auf Grund der charakterisierten Eigentümlichkeit des platonischen Erkenntnisbegriffes entgeht Piaton den Schwierigkeiten, in die sich Ayer verwickelt, wenn er versucht, die Erkenntnis als geistiges Verhalten zu verstehen. Das Hauptargument Ayers, daß ein „state of mind" nicht die Wahrheit dessen garantieren könne, was man weiß, wird hinfällig, wenn Wahrheit nichts anderes bedeutet als eine Gegenständlichkeit, die sich rein als solche nur intuitiv — d.i. in einem besonderen geistigen Verhalten — erfassen läßt. 1

Vgl. S. 80.

RÜCKBLICK Das Problem, dem die vorliegende Untersuchung nachgegangen ist, entspringt dem von Piaton gezogenen Unterschied zwischen άληθής δόξα und έπιστήμη. Wenn die wahre Meinung nicht mit der Erkenntnis identisch sein soll, erhebt sich die Frage nach einem Wahrheitskriterium der Meinung. Sofern diese Frage in der Piatonliteratur bisher überhaupt aufgeworfen wurde, suchte man sie durch die Annahme eines besonderen zweiten Erkenntnisaktes zu lösen 1 . Das Kriterium f ü r die Wahrheit einer Meinung über eine Sache muß dann die Erkenntnis der Sache sein. Daß diese Deutung den Charakter der platonischen άληθής δόξα verkennt, konnte die Untersuchung der einschlägigen Stellen zeigen 2 . Der Zugang zu dem Problem ergab sich über den platonischen Erkenntnisbegriff. Wiewohl in der Piatonliteratur gelegentlich bei dem, was Piaton jeweils επιστήμη nennt, Widersprüche festgestellt worden waren 3 , gab es keine systematische Untersuchung dieses Begriffes. Der in der vorliegenden Arbeit unternommene Versuch einer solchen Untersuchung zeigte zunächst, daß Piaton über zwei Erkenntnisbegriffe verfügt (später stellten sich im ganzen vier heraus), einmal über den der Ideenerkenntnis — der im Sinne Piatons eigentlichen Erkenntnis — und zum andern über den der Erfahrungserkenntnis, etwa im Sinne der aristotelischen εμπειρία, d.i. der Erkenntnis des Einzelnen. Für beide Begriffe fand sich in den Texten dasselbe Wort: έπιστήμη. Da die επιστήμη als Erkenntnis notwendigerweise in einem Bezug zur Wahrheit steht, ergab sich die Frage, ob die Wahrheit der έπιστήμη bei Piaton identisch sei mit der Wahrheit der δόξα. Für die έπιστήμη in der Bedeutung der eigentlichen Erkenntnis mußte die Frage verneint werden. Zu dieser Feststellung war eine ausführliche Untersuchung des platonischen Wahrheitsbegriffes erforderlich. Als Ergebnis stellten sich drei Wahrheitsbegriffe heraus, von denen derjenige Wahrheitsbegriff, welcher der platonischen Erfahrungserkenntnis entsprach, zur Beschreibung derselben Gegenständlichkeit diente, auf die sich auch die άληθής δόξα bezog. Auf Grund eingehender Stellenvergleiche ergab sich als Lösung f ü r das den Ausgang der Untersuchung bildende Problem eines Wahrheitskriteriums der wahren Meinung die Identität von άληθής δόξα und έπιστήμη in der Bedeutung 1 2 3

So Peipers, vgl. S. 23. Vgl. S. 59. Z.B. von Ihm und Apelt, vgl. S. 20.

Rückblick

129

der Erfahrungserkenntnis. Wenn άληθής δόξα als Erfahrungserkenntnis verstanden werden muß, ist die Frage nach einem Wahrheitskriterium der άληθής δόξα unsinnig, da die Erkenntnis als solche wahr ist. Daß Piaton bei den Erörterungen über die αληθής δόξα in den Dialogen nie die Frage nach einem solchen Kriterium aufwirft, kann gewissermaßen mit als Bestätigung f ü r die Richtigkeit der in dieser Arbeit versuchten Interpretation der αληθής δόξα genommen werden. Für den schwankenden Gebrauch der Bezeichnungen άληθής δόξα und επιστήμη zum Ausdruck des einen Begriffs der Erfahrungserkenntnis wurde eine Erklärung im Erfordernis terminologischer Differenzierungen gesucht, die jeweils nur an einzelnen Stellen für Piaton von Interesse sind. Anläßlich der interpretatorischen Aufgabe, die bisherigen Ergebnisse der Untersuchung mit bestimmten Partien des Menon und Sophistes in Einklang zu bringen, ergab sich im folgenden Teil der Arbeit die Frage nach der Bedeutung der δόξα für die eigentliche Erkenntnis. Da sowohl Erfahrungserkenntnis als auch philosophische Erkenntnis sich in Form eines Urteils vollziehen, andererseits sich aber δόξα und έπιστήμη nicht nur als Erkenntnisse, sondern auch als Erkenntnisvermögen grundlegend voneinander unterscheiden sollen, stand die Untersuchung vor dem Problem der Vollzugsweise des jeweiligen Erkennens. Bei einer Analyse des διαλέγεσθαι, der Technik des philosophischen Erkennens, Heß sich kein Unterschied feststellen zwischen der Vollzugsweise der dialektischen Erkenntnis und der Erfahrungserkenntnis. Beide Male handelte es sich um ein Urteilen, ein δοξάζειν. Auch die mathematische Erkenntnis erwies sich in ihrer Vollzugsweise von gleichem Charakter. Es schien überhaupt nur ein und denselben Prozeß des Erkennens zu geben. Diesem Ergebnis gegenüber müßten éin gut Teil von Piatons Ausführungen über die eigentliche Erkenntnis ihren Boden verlieren, da dann der Prozeß der eigentlichen, d.i. der Wesenserkenntnis, in dem der dialektischen Erkenntnis — etwa im Sinne der Dihairesen des Sophistes — aufgehen muß. Um dieser Aporie zu entgehen, zog die Untersuchung zum Verständnis der Wesenserkenntnis den Begriff der Erleuchtung heran. Auf Grund einiger Belege in den Texten scheint es gerechtfertigt zu sein, die letzte Stufe im Erkenntnisprozeß, die Offenbarung des reinen Wesens einer Sache, auf Grund eines irrationalen Momentes zu verstehen. Die Bedeutung der δόξα f ü r die eigentliche Erkenntnis besteht einmal darin, daß der vorherige Vollzug sämtlicher Erkenntnisarten, also auch der Erfahrungserkenntnis (άληθής δόξα), die notwendige Bedingung der Wesenserkenntnis ist, zum andern darin, daß außer der höchsten, der Wesenserkenntnis, alle anderen Erkenntnisarten, von der Erfahrungserkenntnis bis zur dialektischen Erkenntnis ihrer Vollzugsweise nach ein δοξάζειν sind.

STELLENREGISTER Gorgias 458a

Politeia 412e 429 c 476a ff. 65 476c 65 476c, d 477a 112 477b 477b ff. 477 e 103 478e 61 f., 104ff. 478d 478 d, e 114 f. 479b 484 c 487a 67 490b 65 f. 491 a f. 67 503b 67 506 a 67 506c 66, 67 506d ff. 66 507 b 89 508 d 66 508 e 67 508e f. 67 609b 66, 67 509 d 66 510a 67 67 510b ff. 67 511a 67 511b ff. 66 511d f. 511e 112f. 515d 111 517c 110 518d ff. 116 521 d ff. 114 525a f. 526e 49 ff. 533a 94 533b 533e, f. 102 534a 102 f. 113

Kratylos 386e 439 d ff. Kriton 46c

ff.

Menon 85c 97a

ff. ff.

Parmenides 134a ff. Phaidon 65 b 65 d ff. 66a 66b ff. 67 b 74b 74e 75 a 75d 75e 78c 78d 79a 79d 80b 81b 83a 100 d Phaidros 237 d 248b 250a 265 d ff. 278d Philebos 38b ff. 48 e 59a, b 61 d, e

112 112 68 90 79 79, 81 79 80 f. 83 79 f. 79 81 f. 81 90 109 77, 111 110 110 110 90, 113 121 68 90, 68 68, 89 77 121 68, 82, 84 69, 77 81, 85 86 f. 87 87 84 83 76 88f., 110 92 118 118 118 121 90 84 83

585b 587c 596d, Θ 599a 599d 601 d ff. 602 c

112 77 85 85 85 62 f. 77, 85

Politikos 309 c

113

Protagoras 332 a ff.

66 f.

Sophistes 234c, d 239d ff. 250a ff. 253 d 262 e ff. 263a ff. 263 d ff. 264a

95 53 f. 54ff. 116 93 56 f. 48 40

Symposion 204a f. 210e

114 120f.

Theaitet 157 e ff. 161c ff. 166a ff. 170a ff. 179c 184b ff. 185a ff. 189e f. 201b f. 206c ff.

37ff. 39ff. 42 43 f. 41 44 ff. 60ff. 47 60, 95 48

Timaios 37 a ff. 49a ff. 51b ff.

51, 11^ 82 lOOff.

Ep. VII 342a ff.

119f.

CARL B E C K E R

Das Spätwerk des Horaz 1962. Etwa 264 Seiten, Leinen etwa 22,— DM Hier knüpft der Marburger Ordinarius für klassische Philologie an die neuere Horaz-Forschung an, die gerade die Werke im letzten Jahrzehnt seines Dichtens eingehend untersucht hat, und sucht die isolierte Betrachtung der einzelnen Werke zu überwinden. Auf den inneren Zusammenhang der literarischen Gattungen, auf Eigenart und Leistung der ganzen horazischen Dichtung und auf die Stellung des Horaz zu Augustus fällt neues Licht.

KARL REINHARDT

Die Ilias und ihr Dichter Herausgegeben von Uvo Hölscher 1961. 540 Seilen und 3 Abbildungen, kart. 29,— DM, Leinen 36,— DM In diesem Werk ist etwas ganz Seltenes, in unseren trüben Jahren besonders Tröstliches erreicht. Der Leser wird durch Betrachten aus immer anderer Ferne so nah an das Geheimnis einer Dichtung herangebracht, daß sie sich ihm erschließt . . . " Dr. Rudolf Hirsch ir. ,Die Weltwoche"

Tradition und Geist Gesammelte Essays zur Dichtung. Herausgegeben von Carl Becker 1960. 448 Seiten, Leinen 26,— DM „Es ist der Widerhall eines weiten, von künstlerischer Leidenschaft durchglühten Herzens, das den reinen Ton hoher Dichtung aufzunehmen und lebendig werden zu lassen vermag, wie es nur wenigen vergönnt ist. So wird der Band auch selbst Widerhall bei vielen —· und gewiß bei den Besten — finden." „Die Welt"

Vermächtnis der Antike Gesammelte Essays zur Philosophie und Geschichtsschreibung Herausgegeben von Carl Becker 1959. 41S Seiten, Leinen 23,— DM „Wie Nietzsche war Beinhardt unter der Maske des Philologen insgeheim Philosoph, nur mit ungleich schärferer Kenntnis der eigenen Grenzen. Darum mögen seine streng geführten Untersuchungen, selbst in historischen Details, fast immer auch den Laien fesseln . . . Reinhardts Sprache, ein herrlich, fast herrisch-präzises Deutsch . . . " „Frankfurter Allgemeine Zeitung"

Sophokles, Antigone Griechisch-Deutsch. Übersetzt und eingeleitet von Karl Reinhardt Kleine Vandenhoeck-Reihe 116/17. 3. Auflage 1961. 119 Seiten, englisch broschiert 3,60 DM „Vielleicht ist Beinhardt der letzte gewesen, der das Wissen des Wilamowitz-Erben mit der Interpretationskunst unserer Zeit zu vereinigen wußte." W. Jens in „Die Zeit,"

Aischylos als Regisseur und Theologe 168 Seiten, gebunden 9,60 DM (Das Werk ist bei A. Francke/Bern erschienen, kann aber über unseren Verlag bezogen werden)

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN UND ZÜRICH

Lexikon des frühgriechischen Epos In Zusammenarbeit mit dem Thesaurus Linguae Graecae Herausgegeben von Bruno Snell und Hans Joachim Uette Mua 26 Lieferungen zu je 96 Seiten, bzw. 192 Spalten. Je Lieferung 24,— DM 3 Lieferungen liegen vor, die vierte folgt 1963

BRUNO SNELL

Die alten Griechen und wir Kleine Vandenhoeck-Reihe 138. 1962. 77 Seiten, englisch broschiert 2,40 DM

BRUNO SNELL

NeunPlaudereien Tage Latein Kleine Vandenhoeck-Reihe 10. 5. Auflage 1962. 70 Seiten, englisch broschiert 2,40 DM

ALBRECHT DIHLE

Studien zur griechischen Biographie Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften In Göttingen, Phil.-hist. Klasse, III. Folge, Nr. 37 19S6. 121 Seiten, broschiert 10,80 DM WOLF-HABTMÜT FRIEDRICH

Verwundung und Tod in der Ilias Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, III. Folge, Nr. 38 1966. 122 Seiten, broschiert 10,80 DM

Menandros' Dyskolos Herausgegeben von Hans-Joachim Mette 2., erweiterte und um vollständige Indices vermehrte Auflage. 1961. 64 Seiten, kart. 9,SO DM WOLFGANG WIELAND

Die aristotelische Physik Untersuchungen über die Struktur und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles 1962. 354 Seiten, Leinen 42,— DM

ERNST LOCKER

Rückläufiges Wörterbuch der griechischen Sprache Im Auftrage der Wiener Akademie der Wissenschaft unter Leitung ihres o. Mitgliedes Paul Kretschmer ausgearbeitet 2., durchgesehene Auflage in Vorbereitung, erseheint 1963

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN U N D ZÜRICH