Der arabisch-israelische Konflikt im Völkerrecht [1 ed.] 9783428424993, 9783428024995

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Der arabisch-israelische Konflikt im Völkerrecht [1 ed.]
 9783428424993, 9783428024995

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Schriften zum Völkerrecht Band 15

Der arabisch-israelische Konflikt im Völkerrecht Von

Heinz Wagner

Duncker & Humblot · Berlin

H E I N Z WAGNER Der Arabisch-Israelische K o n f l i k t i m Völkerrecht

Schriften zum

Völkerrecht

H e f t 15

Der Arabisch-Israelische Konflikt i m Völkerrecht

Von Professor D r . H e i n z Wagner

DUNCKER

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

Alle Rechte vorbehalten © 1971 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1971 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 02499 0

Inhalt Statt einer Einleitung: Allgemeiner

Die Problematik

der Darstellung

11

Literaturhinweis

Allgemeine Literatur schen Konflikt

19

zum Judentum, Zionismus und zum

Arabisch-Israeli-

20

Erster Teil Die Ausgangslage: Die politischen Ambitionen vor dem 1. Weltkrieg auf Palästina 1. Kapitel:

Der jüdische Nationalismus (Zionismus)

23

1. Grundlagen des Zionismus a) Der komplexe Charakter des Zionismus b) Die Judenfrage c) Die zionistische A n t w o r t

23 23 25 29

2. Die Thesen des Zionismus a) Der Volkscharakter der Juden b) Die Notwendigkeit der nationalstaatlichen Lösung c) Der jüdische Anspruch auf Palästina d) Die Notwendigkeit der Umschichtung

33 34 39 45 62

3. Die Organisation der zionistischen Bewegung (Verweis)

66

4. Die ideologischen Gruppierungen i m Judentum i m Verhältnis zum Zionismus a) Zionistische M a x i m a l - und Minimallösungen b) Zionisten, Nicht-Zionisten, Anti-Zionisten c) Die ideologisch-parteiliche Gruppierung

66 67 71 73

2. Kapitel:

Der arabische Nationalismus i m Ottomanischen Reich

84

3. Kapitel:

Der europäische Imperialismus i m ottomanischen Reich

94

Zweiter

Teil

Die Weichenstellung: Die Palästinapläne der Alliierten im 1. Weltkrieg 4. Kapitel:

Britisch-Französische Absprachen (Sykes-Picot-Abkommen) .. 102

5. Kapitel: Britisch-Arabische Absprachen (McMahon-Hussein) 1. Der Schriftwechsel McMahon —Hussein 2. Rechtliche Beurteilung der britischen Verpflichtungen

105 105 109

6. Kapitel: Britisch-Zionistische Absprachen (Balfour-Erklärung) 1. Das Zustandekommen der Balfour-Erklärung

110 110

Inhalt

6

2. Die völkerrechtliche Bedeutung der Balfour-Erklärung a) Die Erklärung als völkerrechtliches Dokument b) Die inhaltliche Bedeutung der Erklärung

117 117 118

7. Kapitel : Zusätzliche Erklärungen der A l l i i e r t e n u n d Harmonisierungsversuche 121 1. Weitere Erklärungen an die Araber a) Die sog. Hogarth-Message vom Jahre 1918 b) Die sog. Basset-Message vom Februar 1918 c) Die Erklärung an die Sieben v o m J u n i 1918 d) Britisch-französische Erklärung vom November 1918

121 122 123 123 123

2. Britische Harmonisierungsversuche

123

3. Arabisch-Zionistische Ausgleichsversuche

131

Dritter

Teil

Die Regelung: Palästina auf den Friedenskonferenzen 8. Kapitel: Die Mißgeschicke der Friedenskonferenzen 1. Die Beteiligten auf den Friedenskonferenzen 2. Das Scheitern des Großsyrischen Reiches

134 134 139

9. Kapitel: Die Ergebnisse der Friedenskonferenzen i m vorderasiatischen Raum 142 1. Die Verteilung der Mandate 142 2. Die „Historischen Grenzen" Palästinas 147 Vierter Teil Die Institutionalisierung des Konflikts: Die Mandatszeit 1920 - 1948 10. Kapitel:

Die Ergebnisse während der Mandatszeit

158

1. Allgemeine Beurteilung

158

2. Vorspiel: M i l i t ä r v e r w a l t u n g und Zionistische Kommission

168

3. Die Politik der Beteiligten

171

11. Kapitel:

Das Palästina-Mandat

198

1. Das System der Völkerbundmandate

198

2. Ausarbeitung u n d Konzeption des Palästina-Mandats a) Die Grundkonzeption des Palästina-Mandates b) Mandatsmacht u n d Mandatsregierung

206 206 213

3. Der Begriff des Nationalheims u n d die Doppelte Verpflichtung . . . . 216 12. Kapitel:

Das Palästina-Mandat i n arabischer Sicht

13. Kapitel:

Das Scheitern gemeinsamer staatsrechtlicher Institutionen . . . . 229

14. Kapitel: Die Organisation des palästinensisch-jüdischen Gemeinwesens 1. Zionistische Organisation u n d Jewish Agency 2. Die Organisation der palästinensisch-jüdischen Volksgruppe 3. Die Nationalen Institute 4. Würdigung: Von zwei Seiten gesehen

223

237 238 244 246 251

Inhalt 15. Kapitel : Die Organisation der palästinensisch-arabischen Volksgruppe 258 a) Der Oberste Moslemische Rat 265 b) Die Arabische Exekutive 266 c) Das Arabische Hohe Komitee 268 16. Kapitel:

Der jüdische Landerwerb Fünfter

269 Teil

Jüdische Erfüllung und arabische Niederlage: Staalsgründung Israels Teilung Palästinas, arabischer Exodus 17. Kapitel:

Die Palästinafrage vor den Vereinten Nationen

281

1. Die begrenzten Möglichkeiten der Vereinten Nationen

282

2. Das Verfahren bis zum Teilungsbeschluß

287

3. Das Verhalten der Betroffenen

295

4. Probleme des Teilungsbeschlusses a) Unmöglichkeit eines befriedigenden Teilungsplanes für Palästina b) Unmöglichkeit der Durchsetzung des Teilungsbeschlusses aa) Die Übertragung der Durchführung des Planes an Großbritannien bb) Die Palästinakommission der V N cc) Die antizipierte Befassung des Sicherheitsrates

306 306 309

18. Kapitel:

Der arabisch-israelische K r i e g 1947 - 1949

309 310 311 315

1. Der äußere Ablauf des Krieges

315

2. Die hauptsächlichen Vorwürfe

326

3. Die Tätigkeit der V N während des Krieges

337

Sechster Teil Die jüdische Enttäuschung: Von Krieg zu Krieg 19. Kapitel:

Der arabisch-israelische K o n f l i k t i n der Weltpolitik

343

20. Kapitel:

Das Scheitern der Schlichtungskommission der V N

357

21. Kapitel:

Der Zusammenbruch des Waffenstillstandssystems

364

1. Das System der Waffenstillstandsabkommen 2. Der Zusammenbruch dieses Systems 22. Kapitel:

Die Blockade der arabischen Staaten gegenüber Israel

365 370 379

1. Isolierung und Wirtschaftsblockade

379

2. Sperrung der Durchfahrt durch den Suez-Kanal

380

3. Sperrung des Golfes von Akaba

389

23. Kapitel:

Die entmilitarisierten Zonen

395

24. Kapitel:

Der Streit u m das Jordan-Wasser

411

25. Kapitel:

Der Sinai-Krieg 1956

422

26. Kapitel:

Der J u n i - K r i e g 1967

432

Inhalt 27. Kapitel:

Die palästinensischen Araber

443

1. Die Araber i n Israel

443

2. Die Flüchtlinge

448

3. Der palästinensische Widerstand

451

28. Kapitel: Der V o r w u r f des Kolonialismus und Imperialismus und die Forderung nach Entzionisierung 455 Stichwortverzeichnis

473

Karten Karte 1: Aufteilung des Ottomanischen Reiches nach dem Sykes-PicotAbkommen Karte 2: Die „Braune Zone" des Sykes-Picot-Abkommens

104 zw. 104/105

Karte 3: Ottomanische Verwaltungseinteilung

129

Karte 4: Grenzen Palästinas i m Zionistischen Memorandum 1919 zw. 150/151 Karte 5: Beispiel einer zionistischen Rekonstruktion der „historischen Grenzen" während der Mandatszeit

154

Karte 6: Karte extremistischer Gruppen nach dem Kriege 1967 Karte 7: Teilungsplan der U N 1947

155 zw. 294/295

Karte 8: Vergleich einiger Teilungspläne m i t den Grenzen 1949

308

Karte 9: Von israelischen Truppen während der 1. Feuereinstellung 1948 verteidigtes Gebiet 318 Karte 10: I m Waffenstillstandsabkommen von Jordanien an Israel überlassene Gebiete 325 K a r t e l l : Vergleich der i m Kriege gewonnenen Gebiete gegenüber dem UN-Teilungsplan Karte 12: Entmilitarisierte Zone Karte 13: Entmilitarisierte Zone und Verteidigungszonen Karte 14: Jerusalem nach dem Teilungsplan der U N

zw. 326/327 400 zw. 400/401 440

Abkürzungen AJ Anm. AVR Bd., Bde. Berber Cmd. Dahm Dok. EA EBr EJ

= — = = = = = = = = =

JL

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LJ o. O. o. J. PAO PM PO s., S. SDN Sm SVN TM

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UN UNTS UNYB VB VBS VN UNTSO WBV WBVR

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— —

American Journal of International L a w Anmerkung Archiv des Völkerrechts Band, Bände Fr. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, 3 Bde. (1960 ff.) Great Britain, Parliamentary Papers by Command G. Dahm, Völkerrecht, 3 Bde. (1958 ff.) Dokument Europa-Archiv Encyclopaedia Britannica Encyclopaedia Judaica. Das Judentum i n Geschichte u n d Gegenwart, 10 Bde. (Berlin 1928 ff.) Jüdisches Lexikon. E i n enzyklopädisches Handbuch des j ü d i schen Wissens, 5 Bde. (Berlin 1927 ff.) L e x i k o n des Judentums (Gütersloh 1967) ohne Erscheinungsort ohne Jahr Palestine (Amendment) Order-in-Council 1923 Palästinamandat Palestine Order-in-Council 1922 siehe; Seite Société des Nations Seemeile Satzung der Vereinten Nationen Les Temps Modernes (Paris) Bd. 22 (1967) Nr. 253 bis, Le conflit israélo-arabe United Nations United Nations Treaties Series United Nations Yearbook Völkerbund Völkerbundsatzung Vereinte Nationen United Nations Truce Supervision Organization Strnpp, Wörterbuch des Völkerrechts Strupp-Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, 4 Bde., 1960 ff. Zeitschrift f ü r ausländisches öffentliches Recht u n d Völkerrecht zum Beispiel

Statt einer Einleitung: D i e Problematik der Darstellung Ein Buch über den arabisch-israelischen Konflikt i m Völkerrecht kann nur einen Rahmen für den deutschen Leser versuchen, in dem er die gegenwärtige Diskussion u m diesen Konflikt auf der Grundlage seiner Weltanschauung verstehen könnte. Jedes Mehr wäre nur auf Kosten entschiedener Einseitigkeit möglich; an einseitigen Büchern aber fehlt es nicht. Ein gesamter Rahmen, der auf die Sicht beider Parteien eingeht, ist bis jetzt nicht versucht worden, und auch eine völkerrechtliche Betrachtung des ganzen Konflikts, möchte sie auch einseitig sein, scheint bis jetzt in allen Sprachen zu fehlen. Juden und Araber sehen den Konflikt nur jeweils aus ihrer Sicht, und sie glauben, Moral, Gerechtigkeit und Völkerrecht zur Gänze auf ihrer Seite zu haben: zwischen ihnen liegt nichts außer Feindschaft. Wenn sich dann ein nicht jüdischer Europäer um Wahrheit und Objektivität bemüht, so kann es nur die persönliche Wahrheit und Objektivität des Nichtzugehörigen sein. Zwischen Arabern und Israeli gibt es nichts, was sinnvollerweise „wahr" und „objektiv" genannt werden könnte, und selbst der nichtzugehörige Autor sieht, wertet und argumentiert i n einem zwingenden Bezugsrahmen, aus dem er nicht ungestraft fällt. Akzeptiert man die Kategorie „Bezugsrahmen", so läßt sich die Flut der Literatur in vier Ströme kanalisieren: — I n europäischen Sprachen fließt der Hauptstrom i m prozionistischen Bezugsrahmen. Alles drängt hier zur Staatsgründung Israels, seit biblischen Zeiten, jedes Faktum, jede Erwägung, kurz: die Vernunft. Repräsentativ für diese Darstellung etwa Böhm; ESCO-Foundation for Palestine; Eban. — Ein vornehmlich von britischen Autoren entspringender Strom steht i m Bezugsrahmen des distanzierten Interesses. Seine Autoren verkörpern die Objektivität der nicht unmittelbar Betroffenen und kommen dem Ideal bürgerlicher Objektivität am nächsten: wohlwollende und quasi-gerechte Betrachtung beider Seiten eines Geschehens, das sie nicht i m Existentiellen berührt. Sykes und Marlowe (vor IV. Teil) mögen diesen Strom repräsentieren. — Ein heute fast versiegter Strom mag als nicht-marxistisch (pro-) arabisch bezeichnet werden. Seinen Autoren erscheint der Aufbau

12

Statt einer Einleitung: Die Problematik der Darstellung

eines jüdischen Staates im arabischen Gebiet ungerecht, und sie argumentieren nach westlicher Sicht juristisch und geziemend; sie bemühen sich um westliche Denkkategorien, mit denen sie das Gerechte der arabischen Sache und den Rechtsirrtum der Zionisten nachweisen wollen. Arabische Autoren etwa Antonius (vor 2. Kapitel) und Khoury; pro-arabisch: Jef fries (vor IV. Teil). — Ein marxistisch orientierter pro-arabischer Strom schwillt immer stärker an. Seine Autoren transzendieren die dem status quo und dem positiven Recht verhaftete Vorstellungswelt. Ihnen sind die normativen Dokumente, die nach Israel geführt haben und Israel selbst nichts Anzuerkennendes: Sie artikulieren sich i m Rahmen der I m perialismustheorien, und in deren Lichte erscheinen Argumente und Argumentationsweisen der Autoren der anderen Ströme total irrelevant. Beste Vertreter dieses Stromes sind zwei Juden: Weinstock und Rodinson; alle Araber übernehmen heute i n verschiedenem Ausmaße die Argumente der antiimperialistischen Sicht. I m jeweiligen Bezugsrahmen bedeutet „Objektivität" jeweils etwas anderes. Schon die Fragestellungen sind nur innerhalb dieser Rahmen verständlich: ob es in Israel eine Kompradorenbourgeoisie gibt, und wer wo Surplusprofite macht, gibt nur i m marxistisch-orientierten Rahmen Sinn. Dort sind sie relevant, und damit entscheidet wieder der Bezugsrahmen des Autors über die Relevanz von Fakten und Argumenten. Auch das Völkerrecht vereinigt nicht die vier Ströme in einem Bezugsrahmen, i m Gegenteil: der Versuch endet noch hoffnungsloser. Der Jurist würde diese Hoffnungslosigkeit in seinen Kategorien etwa so formulieren: Rechtliche Begriffe und Argumente haben ihren Sinn nur innerhalb eines Bezugsrahmens, und daher sind identische Begriffe und Rechtssätze oft nur gleichlautend. „Demokratie", „Selbstbestimmungsrecht der Völker", „Aggression" und „Nichteinmischung" klingen in Ost- und Westberlin gleich, nichts weiter; wenn die Staaten sich i m Rahmen der Satzung der Vereinten Nationen zu derartigen Begriffen und Rechtssätzen bekennen, so binden sie sich nur dazu, ihre Konflikte in diesen Kategorien auszutragen und zu wenig mehr. Sie bekennen sich alle zur „souveränen Gleichheit", „Nichteinmischung", zum „Selbstbestimmungsrecht der Völker", und sie verurteilen die „Aggression", aber was sie damit meinen, differiert bis zum Gegensätzlichen. Alle diese Begriffe sind zu allererst politisch-polemische Begriffe, die ihren Sinn überhaupt erst aus ihrem jeweiligen Gegenbegriff empfangen; der Gegenbegriff kann auch ungesagt bleiben, wenn er eine vergangene oder gegenwärtige Situation, eine Bedrohung oder ein Ziel bezeichnet. Daher können alle die beispielhaft der Satzung der Vereinten Nationen entnommenen Begriffe

Statt einer Einleitung: Die Problematik der Darstellung

status quo-wahrender oder status quo-überwindender Natur sein, und deshalb haben identische Begriffe in den Köpfen Verschiedener gegenläufige Tendenzen. So dienen Begriffe wie „Souveränität", „Nichteinmischung" und „Selbstbestimmungsrecht" der Erhaltung eines für gut befundenen status quo, weil sie Einmischung und Aggression abweisen, aber sie werden zu Angriffswaffen zur Unterminierung eben dieses status quo in den Köpfen derer, denen ein bestehender Zustand bereits Verletzung ihrer „souveränen Gleichheit" und fortgesetzte „Aggression" dünkt. Geziemend vereinfacht war dies etwa die linguistische Situation i m Verhältnis zwischen Westeuropa und der Dritten Welt in der Entkolonialisierungsphase und kennzeichnet es das heutige Verhältnis der Dritten Welt zu den großen Industrienationen. Da Israel stets den Industrienationen, insbesondere den westlichen, zugerechnet wurde, geriet der ganze arabisch-israelische Konflikt in dieses semantische Zwielicht. Selbst positivrechtliche Regelungen klären wenig. Sieht man davon ab, daß auch diese Regelungen wieder verschieden verstehbare Begriffe enthalten; läßt man unberücksichtigt, daß der Wust völkerrechtlicher Rechtssetzungsakte, wie der Vereinten Nationen, und rechtlich relevanter Fakten dem geübten Juristen jede Auslegungskonstruktion erlaubt, so fällt heute die Radikalität auf, mit der jede Seite ihr unpassende Regelungen unter Berufung auf ein fundamentales Prinzip oder einfach durch den Nachweis einer bestimmten Interessenlage für nicht-existent erklärt. Was immer daher die Vereinten Nationen beschließen mögen: die unzufriedene Partei findet in der Satzung eine Grundnorm, gegen die eben dieser Beschluß in flagranter Weise verstößt, oder sie weist einfach die Interessenlage der unheiligen Allianz der den Beschluß tragenden Mehrheit nach: der Araber und Russen, von denen die einen Israel vernichten und die anderen in den Mittelmeerraum expandieren wollen, der Israeli und der Westmächte, die an der Erhaltung Israels und damit am geopolitischen status quo interessiert sind, und damit ist der Nachweis geführt, ist die betreffende Regelung widerlegt. Natürlich weiß der Jurist, daß jede rechtliche Regelung irgend jemand zum Vorteil gereicht, aber wenn mit dem Nachweis des Interessenten die Regelung als widerlegt gilt, dann w i r d das juristische Spiel unspielbar. Daher hat das Völkerrecht bis jetzt den arabisch-israelischen Konflikt kaum mildern können, und es kann auch dem Autor nur einen sehr ungefähren Leitfaden geben: es gibt beiden Parteien Begriffe, Kategorien und Institutionen und zwingt sie, ihr politisches Wollen in diesen Begriffen zu artikulieren; es kanalisiert den Fluß der Argumentation, mehr nicht. Wem dies als juristischer Defätismus erscheint, der sieht nicht, daß die Völkergemeinschaft gespalten ist, und daß sich i m arabischisraelischen Konflikt diese Spaltung noch potenziert. Der westlichproisraelischen Sicht steht die Auffassung des arabisch-islamischen Krei-

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Statt einer Einleitung: Die Problematik der Darstellung

ses und weitgehend auch der afro-asiatischen und kommunistisch geführten Staaten entgegen, die eben die arabische Seite stützen, und deren Juristen sich natürlich gleichfalls in völkerrechtlichen Begriffen und Institutionen artikulieren können. Wer hier an der Einheit des Völkerrechts festhält, muß seine hohe Unsicherheit in vielen existentiellen Fragen anerkennen — trotz gleichlautender Begriffe und Formeln. Ein radikal verschiedenes Selbstverständnis beider Parteien potenziert diese Diskrepanz. Das jüdische Selbstverständnis prägt:

ist vornehmlich durch zwei Fakten ge-

— Die jüdische Geschichtsmetaphysik sieht die heutigen Juden als Nachkommen der biblischen Israeliten, die aus Palästina vertrieben w u r den und fast 2000 Jahre i m E x i l leben mußten. Aus vielen Gründen sei dieses E x i l immer nur als zeitlich begrenzt gemeint gewesen und mußte irgendwann nach irgendwelchen Gesetzen zwangsläufig enden; die Staatsgründung 1948 war dann nur der längst fällige Schritt zur Rückkehr ins angestammte Land der Väter. Jeder Widerstand gegen dieses vorausbestimmte Ereignis war dann unvernünftig, beruhte auf selbst zu verantwortender Uneinsichtigkeit und war jedenfalls ungesetzlich, mochte dieses „Gesetz" religiös, historisch oder wie auch immer verstanden sein. Und wie immer es um Vertreibung und E x i l „objektiv" stehen mag — ein derart intensives Bewußtsein ist ein i n Rechnung zu stellendes Objektivum, ein Objektivum, das zur Staatsgründung Israels geführt hat. — Genau so stark bestimmten der europäische Antisemitismus und das traumatische Kollektiverlebnis nationalsozialistischen Vernichtungswahns das jüdische Selbstverständnis. Nach Auschwitz und Maidanek zählt für den Israeli nur noch das Uberleben, und eben dieses Uberleben stellt in Frage, wer „objektiv" den arabischen Standpunkt berücksichtigt — man mag es drehen und wenden wie man w i l l . Man braucht nicht die Vernichtungsparolen eines Schukeiri zu zitieren; Art. 6 des Palestinian National Covenant der Palästinensischen Befreiungsorganisation 1 sagt, wie viele Juden nach Ansicht der Befreiungsorganisation in Palästina bleiben dürfen: "Jews who were living permanently in Palestine until the beginning of the zionist invasion w i l l be considered Palestinians": also praktisch keine. Nahezu alle Widerstandsgruppen haben sich zu Art. 6 bekannt, mögen auch die Presseerklärungen anders klingen und mögen einige extrem linke Gruppen unter den Widerständlern ehrlich anders denken. Jede „objektive" Berücksichtigung arabischer Thesen ist für den Israeli Fortsetzung eines anti-jüdischen Vernichtungswillens, nichts weiter. 1 Angenommen auf Kairoer Konferenz vom 10. - 17. J u l i 1968; T e x t : New Middle East 1970, S. 48; dazu näher: 27. Kapitel.

Statt einer Einleitung: Die Problematik der Darstellung

Für das arabische Selbstverständnis ist nichts, was die Juden nach Palästina geführt hat, von allergeringster Bedeutung; i h m sind die Israeli Aggressoren, nichts weiter. Wer den arabisch-israelischen Konflikt verstehen will, muß sich mit dieser radikal anderen Grundeinstellung auseinandersetzen, die alle zionistischen und israelischen Argumente statt Verständnis nur zusätzliche Verbitterung auslösen läßt. Überspitzt formuliert: mehr noch als der Verlust Palästinas empören den Araber die Argumente, mit denen ihm Juden und Nichtjuden einreden, sich mit der Situation abzufinden: — Niemand kann vom Araber Verständnis für die jüdische Geschichtsmetaphysik, für biblisch-göttliche Verheißungen, für eine Geschichte, die er völlig anders sieht, für die Termini „Land der Väter", „Vertreibung", „ E x i l " , „Rückkehr" erwarten, für eine vorausbestimmte Folgerichtigkeit, i n der für ihn kein Platz ist, und in der seine Heimatliebe und nationalen Aspirationen nur böswilliger Terror, bestenfalls ein Problem wie etwa Malaria erscheint. — Die Funktion der Judenmassaker i m Rahmen dieser Rechtfertigung muß dem Araber als eine absonderliche Heuchelei erscheinen, vor allem aus nicht jüdischem Munde. A m europäischen Antisemitismus hat er keinen Anteil und keine Schuld, und er ist nicht i m geringsten bereit, für deutsche Ausrottungsmaßnahmen mit arabischem Land zu bezahlen. Antisemitismus ist ihm ein europäisches Problem; i n seiner Sicht gab es vor 1948 i m arabischen Räume kein Judenproblem. Die Selbstüberzeugtheit, mit der die Europäer mit der Balfour-Erklärung ihr an den Juden begangenes tausendjähriges Unrecht mit der Hingabe Palästinas ausgleichen und mit der die Bundesrepublik Deutschland durch die Ausrüstung Israels deutsche Unmenschlichkeit wiedergutmachen wollen, kann er sich nur als moralischen Defekt des europäischen Menschen oder eben als Imperialismus erklären. Sind aber dem Araber Zionisten und Israeli nur Aggressoren und Eindringlinge in arabisches Land, so ist auch für „Objektivität" in seiner Sicht kein Platz. Zwischen dem Aggressor und dem Opfer gibt es keine „Objektivität"; „objektiv" kann ihm nur die bedingungslose Zurückdrängung des Aggressors sein. Damit werden auch weitgehend alle Bewertungsregeln zwischen den beiden Kontrahenten außer Kraft gesetzt: zwischen Aggressor und Opfer gibt es keine Turnierregeln, wonach bestimmte Schläge des Opfers disqualifiziert erscheinen. Daher ist ihm jede jüdische und israelische militärische Maßnahme und selbst die Verteidigung einer jüdischen Siedlung nichts als verwerflichste Aggression, und jeder arabische Angriff auf Juden in Palästina nur erforderliche Notwehr, wie weit die Araber sich auch von irgendwelchen Kriegsregeln entfernen mögen.

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Statt einer Einleitung: Die Problematik der Darstellung

Erscheint so beiden Parteien nichts wahr oder objektiv außer der Totalübernahme ihrer jeweiligen Sicht, so kann nur Ignoranz an die prinzipielle Möglichkeit einer Darstellung glauben, in der beide Seiten wenigstens ein Bemühen um Objektivität zu sehen bereit wären. Ein solches Bemühen um Objektivität versucht sich meist so: — Der Autor berichtet über das Geschehen, über das Vorgehen beider Parteien und über ihre Standpunkte, kurz: er stellt beide Seiten „objektiv" nebeneinander und berichtet „unparteiisch". Nun müßten sich doch, so meint er, beide Seiten verstanden fühlen. Der I r r t u m ist tragisch. Denn bereits die gemeinsame Erörterung und damit Ineinssetzen der von beiden Seiten gebrachten Standardfakten dünkt beide eine infame Gleichstellung. Dem Juden ist dies so, als würde, sagen wir, ein Deutscher zwischen dem Reichssicherheitshauptamt und den in Konzentrationslagern eingelieferten Juden „objektiv" sein wollen und etwa die beiderseitigen „Rechtsansichten" objektiv darstellen. Es dünkt ihnen so „unparteiisch", als würde ein Deutscher zwar von den Krematorien berichten, aber auch berichten, daß einige Juden in Auschwitz Brot gestohlen hätten. I n der Tat: was ist Dair Yassin, wo Juden 1948 ungefähr 250 Araber ermordeten, gegen Auschwitz? Ohne diesen Hintergrund kann der Jude seine Geschichte und den arabischisraelischen Konflikt nicht sehen. Der Araber aber sieht keinen Grund, Dair Yassin gegen Auschwitz zu stellen und so zu relativieren: für ihn ist Dair Yassin absolut. — Andere Autoren glauben sich salviert, wenn sie sich eindeutig und heftig vom Antisemitismus absetzen und meinen, der Israeli würde nun ihr Verständnis für die Araber als solches nehmen. Aber verbales Bekenntnis ohne Folgerungen ist dem Juden nur „unverbindlicher Wortschwall", wie Levi Eschkol einmal auf ein Schreiben Ludwig Erhards klarstellte. Verbale Verurteilung des Antisemitismus verbunden mit „Objektivität" gegenüber seinem jeweiligen Feind — der Jude hat die Formel „Weder A n t i - noch Philosemitismus" zu oft als Konnivenz mit Pogromen erlebt, und er hat zu oft virulente Judenfeindschaft bei gleichzeitiger vehementer Verurteilung des Antisemitismus gesehen. Für ihn hat der Antisemitismus viele Gesichter, und eine pro-arabische oder antizionistische Sicht oder auch ein abstrakter Humanismus erscheint ihm als zeitgemäße Maske des säkularen Antisemitismus. Aus durch Verurteilung des Antisemitismus eingeleitetem Verständnis für arabische Thesen hört der Jude daher nur den alten Antisemitismus heraus, glaubt er den permanenten Vernichtungswillen erkennen zu können. Der Jude ist neurotisch, aber es war seine nicht jüdische deutsche Umwelt, die ihn hat neurotisch werden lassen.

Statt einer Einleitung: Die Problematik der Darstellung

— Wieder andere Autoren salvieren sich, indem sie alle Schuld an dem arabisch-israelischen Dilemma auf die deutschen Vernichtungsaktionen, auf den Imperialismus, auf das Versagen der Mandatsmacht oder der Vereinten Nationen sowie auf den Egoismus der Großmächte abschieben. Partiell stimmen ihnen beide Seiten zu, wenn auch Israel keineswegs als Produkt hitlerschen Wahnsinns erscheinen möchte, und die Araber ihre Positionen nicht nur durch russische Machtpolitik gestützt sehen wollen. Aber die Grenzen sind schnell erreicht: beide Seiten erwarten sofort Konsequenzen. Für den Juden kann die Konsequenz nur lauten: dem aus Europa vertriebenen jüdischen Volk muß wenigstens die jetzige Existenz in Palästina gesichert bleiben. Jedes Eingehen auf arabische Forderungen wie etwa Rückkehr in die Grenzen des VN-Teilungsbeschlusses von 1947 und Rücknahme der arabibischen Flüchtlinge ist i h m gleichbedeutend mit einer erneuten Vernichtung des jüdischen Volkes i n Israel. Und für den Araber ist die Anerkennung der Tatsache, daß Israel i m Kielwasser des britischen Imperialismus nach Palästina gekommen ist, gänzlich uninteressant, wenn nicht daraus auf den imperialistischen Charakter Israels geschlossen und daher seine Existenzberechtigung negiert wird. Und wenn Europa sein tausendjähriges an Juden begangenes Unrecht wieder gutmachen w i l l , dann scheint ihm die Folgerung klar: Rücknahme der Juden nach Europa, Wiedergutmachung auf europäische Kosten. Das Anerkenntnis, daß europäisches Unrecht zum Staate Israel geführt habe, ist ihm, falls daraus nicht die Auflösung Israels gefordert wird, nur Imperialismus in neuer Form: eine moralische Salvierung ohne Folgen. — Manche Autoren wollen sich salvieren, indem sie in redliche Gemeinplätze ausweichen, etwa so, daß man sich rechtzeitig hätte um gerechte Lösungen bemühen sollen. Insbesondere die „verpaßten Gelegenheiten" werden bemüht. Aber es gab niemals Gelegenheiten, die hätten wahrgenommen werden können, weil niemals irgendwelche Ausgleichsmöglichkeiten bestanden haben. Die waren immer nur scheinbar vorhanden und existierten nur in der Polemik und Apologetik aller Seiten, die die anderen als starr und unvernünftig, sich selbst aber als extrem kompromißbereit hinstellen. Zwar kann man für die Starrheit beider Seiten eindrucksvolle Beispiele zeigen, aber i m Ergebnis wäre es um nichts anders gewesen, wenn etwa die Zionisten gegenüber den Arabern nachgiebiger und wenn die Araber flexibler gewesen wären. M i t Nachgiebigkeit und Flexibilität läßt sich weder ein Territorium erobern noch verteidigen. Es gibt keine Möglichkeit, eine Bevölkerung davon zu überzeugen, daß auf ihrem Territorium in Zukunft andere Mehrheitsverhältnisse geschaffen werden müssen. Derartige nachträgliche Ratschläge sind um so seltsamer, wenn sie 2 Wagner

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Statt einer Einleitung: Die Problematik der Darstellung

von Westeuropa stammen: die Völker Westeuropas haben assimilierte jüdische Minderheiten über 1 °/o nie ohne Antisemitismus vertragen, aber für Palästina, wo zwei Volksgruppen sich nach Sprache, K u l t u r und Lebenshaltung total unterschieden, halten sie für totale Umwandlung der Mehrheitsverhältnisse derartige Sprüche bereit. Ihre eigene ideologische Bindung zum Land, auf dem ihre irgendwie umrissenen Vorfahren je gesessen haben, umschrieben sie selbst m i t dem Bekenntnis: „Unser blühendstes Leben für deinen dürrsten Baum", aber die Araber sollten gutwillig auf Jaffa und Haifa, auf Tiberias und Jerusalem verzichten. Das Reden von den verpaßten Gelegenheiten ist nichts anderes als Eskapismus des Autors, der die Spannung des Ausweglosen nicht ertragen kann. Daß ein deutscher Autor in ein potenziertes Dilemma gerät, sollte jedem Deutschen klar sein. Jeder Deutsche hat Judenvernichtung und -Vertreibung mitzuverantworten und er hat mitgeholfen, die Juden in die palästinensische Ausweglosigkeit zu treiben. Daraus folgt die „besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel", die für die Juden nur in der bedingungslosen Parteiergreifung der israelischen Sache liegen kann: wenn Israel ein Unrecht gegenüber den Arabern ist, dann hat Deutschland die Juden i n ihre Invasorenrolle getrieben und es ziemt am wenigstens dem Verfolger, die Flucht-Invasion seiner Opfer ein Unrecht zu nennen. Aber wenn Deutschland hauptverantwortlich für die arabischisraelische Sackgasse ist, dann müssen die Deutschen diese moralische Ausweglosigkeit auch aushalten. Sie müssen sehen, daß eine verbrecherische Vergangenheit fortgesetzt Unrecht gebärt: die arabischen Flüchtlingslager und die arabischen Ausrottungsvisionen sind gleichermaßen Fortsetzung unserer Endlösung. Hier läßt sich nichts glatt und sauber bewältigen, weder auf die Weise der BRD noch i n der A r t der DDR, und selbst das lauterste Aufbauwerk, wie etwa die Arbeit der Aktion Sühnezeichen in Israel muß hier einäugig bleiben. Wer dies nicht sehen will, der kann diesen Konflikt nicht verstehen; er kann nur Partei ergreifen.

Allgemeiner Literaturhinweis Die Überfülle der L i t e r a t u r erfordert gebieterisch eine Beschränkung; K r i t e r i u m ist die Beschaffbarkeit der zitierten L i t e r a t u r f ü r den deutschen Leser u n d die Brauchbarkeit der Weiterverweisung. Dies bedeutet: für das allgemeine Völkerrecht: Strupp-Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts; Dahm, Völkerrecht; Berber, Völkerrecht, auch w e n n inzwischen neuere L i t e r a t u r erschienen war. für Völkerbund und Vereinte Nationen : allgemein: Nachweise bei Strupp-Schlochauer u n d Dahm. Z u m Palästina-Problem w e r den die Dokumente der V N nicht nachgewiesen; n u r die N u m m e r n der wichtigsten Beschlüsse werden genannt. Dagegen jeweils Literatur, die ihrerseits das umfangreiche Material v o l l auswertet u n d nachweist. I m übrigen w i r d auf Darstellung u n d Nachweise der Signaturen i n den jeweiligen Bänden des TJNYB verwiesen. Für den arabisch-israelischen Konflikt und seine Grundlagen w u r d e n ziemlich vollständig die juristischen selbständigen Veröffentlichungen i n deutsch, englisch u n d französisch nachgewiesen; ebenso die juristische Aufsatzliteratur i n den gängigen völkerrechtlichen Zeitschriften; f ü r die allgemeine E n t w i c k lung des Zionismus u n d Israels mußte eine A u s w a h l genügen. Die Zeitschriftenliteratur konnte n u r ausnahmsweise aufgenommen werden. Schreibweise: Arabische u n d hebräische Namen oder Worte werden i n der i m Deutschen üblichen Schreibweise (nicht wissenschaftliche Umschrift) w i e dergegeben (also Schearim, aber Sharett); Autorennamen w i e i m jeweiligen T i t e l (also K a y y a l i u n d Kayali) ; auf spätere Namensumbenennungen (Sharett, Shertok) w i r d nicht hingewiesen. Die meisten hebräischen politischen Bezeichnungen sind Akronyme, d. h. aus den Anfangsbuchstaben der Wörter gebildet (vgl. „Hapag"). Die hebräische Wiedergabe ist erforderlich, da die europäischen Übersetzungen variieren. Der volle hebräische Name u n d deutsche Übersetzungen werden nicht gegeben. Die Bücher werden nach ihrem deutschen, englischen oder französischen Original zitiert; Übersetzungen werden nicht nachgewiesen; bei Originalübersetzungen aus dem Hebräischen oder Arabischen ins Deutsche w i r d diese Fassung zitiert. Bei mehrsprachigen Resolutionen, deren Sprachen gleichermaßen verbindlich sind, w i r d die deutsche Fassung, falls verbindlich, andernfalls die englische Fassung zugrundegelegt. Ausnahmen hiervon, w e n n die englische Fassung nicht zu bekommen war.

Allgemeine L i t e r a t u r z u m Judentum, Zionismus und z u m Arabisch-Israelischen Konflikt Allgemeine Darstellungen der jüdischen Geschichte: H. Graetz, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, 2. Aufl., 11 Bde. (1853ff.); S. Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, 10 Bde. (1925 - 1929); S. W. Baron , A Social and Religious History of the Jews, 2. Aufl., 13 Bde. (New Y o r k 1957 ff.); A. L. Sachar, A History of the Jews (New Y o r k 1953); C. Roth , A Short History of the Jewish People, 2. A u f l . (New Y o r k 1948) ; A. Eban, Dies ist mein V o l k (1970). Zum Antisemitismus: Darstellung und Nachweise zur unübersehbaren L i t e r a t u r : A r t i k e l „ A n t i semitismus" i n J L ; EJ; L J ; E B r ; alle Wörterbücher der Soziologie. Zum Zionismus: Die folgenden T i t e l behandeln ζ. T. den gesamten arabisch-israelischen K o n f l i k t : A. Böhm, Die Zionistische Bewegung, 2 Bde., 2. Aufl. (Tel A v i v 1935, 1937); I. Cohen, The Zionist Movement (London 1945); ders., The Progress of Zionism, 7. A u f l . (London 1944); I. Goldberg, Fulfilment; the Epic Story of Zionism (Cleveland 1951); Β . Halpern, The Idea of the Jewish State, 2. A u f l . (Cambridge, Mass. 1969); J. Heller , The Zionist Idea (New Y o r k 1949); R. Lichtheim, Die Geschichte des deutschen Zionismus (Jerusalem 1954); S. Halperin, The Political W o r l d of American Zionism (Detroit 1961); B. J. Vlavianos and F. Gross (Herausgeber), Struggle for Tomorrow: Modern Political Ideologies of the Jewish People (New Y o r k 1954) ; G. Landauer, Der Zionismus i m Wandel dreier Jahrzehnte (Tel A v i v 1957); ESCO Foundation for Palestine, Palestine, A Study of Jewish, A r a b and B r i t i s h Policies, 2 Bde., (New Haven - London 1947); A. R. Taylor, Prelude to Israel. A n analysis of Zionist Diplomacy 1897 1947 (London 1959); J.-P. Alem, Juifs et Arabes. 3 000 ans d'histoire (Paris 1968); J. Couland, Israel et la proche orient arabe (Paris 1968). Bibliographie: A r t i k e l „Zionismus" i n J L ; EJ; E B r ; Palestine and Zionism: A B i m o n t h l y Bibliography of Books, Pamphlets and Periodicals (New Y o r k 1945 ff.). Die Schriften der zionistischen Klassiker werden z.T. i m Text aufgeführt; i m übrigen gibt die angeführte L i t e r a t u r meist volle bibliographische Nachweise. Z u nennen sind insbesondere Hess, Pinsker, Herzl, Nordau, Achad Haam. Sammelband: The Zionist Idea. A Historical Analysis and Reader, hrsg. v. Α. Hertzberg (New Y o r k 1959,1969). Unerläßlich f ü r die Kenntnis der Probleme u n d Entwicklung sind die Darstellungen aus der Sicht der wichtigsten Persönlichkeiten sowie die L i t e r a t u r über sie; diese Schriften werden i m Text zitiert. Ferner die gesamte L i t e r a t u r zur Mandatszeit, s. vor I V . Teil.

Allgemeine Literatur zum Themenkreis

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V o n den zahlreichen jüdischen Periodika i n den westlichen Staaten (s. L J , „Zeitungen u n d Zeitschriften") insbesondere: Commentary (New York); The Jewish Frontier (New York) ; Jewish Social Studies (New York) ; New Outlook (Tel Aviv). Wichtige Beiträge ferner i n : The Middle East Journal (Washington); Middle Eastern Affairs (New York) ; New Middle East (London) ; Les Temps modernes (Paris). Antisemitische und antizionistische Darstellungen: A. Rosenberg, Der staatsfeindliche Zionismus (1938) ; G. Wirsing, Juden, Araber i n Palästina (1938).

Engländer,

Jüdische antizionistische Darstellungen: A. M. Lilienthal , What Price Israel (Chicago 1953); ders., Other Side of the Coin: A n American Perspective of the Arab-Israeli Conflict (New Y o r k 1965); ders., There Goes the Middle East (New Y o r k 1957); E. Berger, A Partisan History of Judaism (New Y o r k 1951); ders., Who Knows Better Must Say so (New Y o r k 1955); ders., Judaism or Jewish Nationalism (New Y o r k 1957); Emmanuel Lévyne , Judaisme contre sionisme (Paris, Le dossier arabe, Collection Monographies Nr. 8, 1969); M. Menuhin, The Decadence of Judaism i n Our Time (New Y o r k 1965); W. T. Mallison, Jr., The Zionist-Israel Juridical Claims To Constitute "The Jewish People" Nationality E n t i t y and To Confer Membership i n i t : Appraisal i n Public International L a w , 22, The George Washington L a w Review (1964), S. 983 ff.; Zeitschrift: Issues (New York, American Council for Judaism). Jüdische, antizionistische und marxistische Darstellungen: Ν. Weinstock, Le sionisme contre israel (Paris 1969) ; M. Rodinson, Israel, fait colonial? T M , S. 17 ff.; ders., Israel et le refus arabe, 75 ans d'histoire (Paris 1968); Lobel, Les juifs et la Palestine, i n : Sabri Geries, Les Arabes en Israel (Paris 1969); laufend i n : New Left Review (London); u n d anderen l i n k e n Zeitschriften. Arabische Darstellungen: Die meisten Autoren setzen erst m i t der Mandatszeit oder der Staatsgründung ein u n d behandeln die Grundlagen des Zionismus n u r nebenbei. Grundsätzlicher etwa: Samt Al Joundi, Juden u n d Araber. Die große Feindschaft (1968); arabische Beiträge i n L e conflit israélo-arabe. Dossier. 22, Les Temps Modernes (1967 Nr. 253 bis); Sami Hadawi , B i t t e r Harvest. Palestine between 1914 and 1967 (New Y o r k 1967); Auszug als: „The Arab-Israeli Conflict" (Beirut, Institute for Palestine Studies, 1967); ders., Loss of a Heritage (San Antonio 1963); Edward Atiyah, The Palestine Question (London 1948); E. Atiyah et Henry Cattan , Palestine, Terre des promesses et de sang (Paris, L e dossier arabe, Collection monographies Nr. 6, 1969); Tahar Branche , Les Surexilés (Paris, L e dossier arabe, Collection monographies Nr. 7, 1968); Constantine N. Zurayk, Palestine: The Meaning of the Disaster (Beirut 1956); Husan Sa'b, Zionism and Racism (Beirut, Research Center, Palestine Liberation Organisation 1956, Palestine Serie Nr. 2); Akram Zua'yter, The Palestine Question (Damaskus 1958); Fayez S. Sayegh, Zionist Colonialism i n Palestine (Beirut, Research Center, Palestine Liberation Organisation 1965, Palestine Monographie Serie Nr. 1); Fawwaz Trabulsi, The Palestine Problem: Zionism and

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Allgemeine L i t e r a t u r zum Themenkreis

Imperialism i n the Middle East, 57 New left review (1969), S. 53 ff.; A. R. Abdel Kader , L e conflit judéo-arabe (Paris 1961); As'ad Razzug , Chapitres de l'histoire sioniste (Beirut, Documents et Etudes du Centre de la Diffusion Libanaise, B u l l e t i n Nr. 56); Ahmed Fayez, Prélude à Israel (Paris, L e dossier arabe, collection monographies Nr. 1, 1969); Fayez Abdullah Sayegh , The Arab-Israeli Conflict (New Y o r k 1956); Abdulwahab Kayali , Die expansionistischen Machtinteressen des Zionismus (Liga der Arabischen Staaten, Bonn o. J.) ; Ibrahim el-Abid, Gewalt u n d Frieden (Rastatt 1969). Laufende Beiträge i n New L e f t Review (London); M i d d l e Eastern Affairs (New York); Middle East F o r u m (Beirut); The M i d d l e East Journal (Washington); Zusammenstellung v o n Veröffentlichungen des Arabischen Hohen Komitees, des A r a b Information Centers, der Arabischen Liga u. a. bei Fred J. Khouri, The Arab-Israeli Dilemma (Syracuse - New Y o r k 1968, S. 409 f.). Dokumentensammlungen : J. C. Hurewitz , Diplomacy i n the Near and Middle East. A Documentary Record: 1914 - 1956, Bd. 2 (Princeton 1956); W . Laqueur, The Israel/Arab Reader. A documentary history of the Middle East conflict (London 1969, Pocket Book 1969); O. J. Janowsky, Foundations of Israel. Emergence of a Welfare State (Princeton 1959); A. Ullman , Israels Weg zum Staat. V o n Zion zur parlamentarischen Demokratie (München 1964); The Arab-Israeli Conflict , Documents and Comments (herausgegeben v o n The I n d i a n Society of International L a w , New D e l h i 1967).

Erster Teil

Die Ausgangslage: Die politischen Ambitionen vor dem 1. Weltkrieg auf Palästina Erstes Kapitel D e r Jüdische Nationaliemus (Zionismus) 1. Grundlagen des Zionismus a) Der komplexe Charakter des Zionismus

Der Zionismus ist ein sonderlich komplexes Phänomen. Er versteht sich als national]üdische Bewegung. I m allgemeinen muß sich eine nationale Bewegung nicht erst umständlich erklären, sondern kann auf das Verständnis des Lesers rechnen. Nationalismus als Streben einer sich als Nation verstehenden Bevölkerung nach politischer Selbständigkeit ist allgemein verständlich und i m Prinzip akzeptiert. Der jüdische Nationalismus aber weicht i n allen Stücken vom Normalfall ab. Hier ist keine Gruppe, die zumindest i n ihrem Kernbereich von allen fraglos als Volk angesprochen würde. Die Juden bewohnen kein gemeinsames Gebiet und besitzen i m landläufigen Sinne keine gemeinsame Sprache, K u l t u r und Geschichte. Während sonst die Verbindung des Volkes zu seinem Gebiet problemlos und höchstens i n den Grenzgebieten fraglich ist, w i r d die jüdische Forderung auf ein bestimmtes Gebiet, nämlich auf Palästina, zum Problem. Die nationalen Aspirationen anderer Völker oder nationalstaatlich ambitionierter Gruppen müssen auch nur die allgemein üblichen Argumente auf sich anwenden. Sie zeigen, daß sie nach mehr oder weniger allgemein akzeptierten Kriterien ein Volk wie andere nationalstaatlich organisierte Völker sind und leiten daraus ihr Recht auf die eigene nationalstaatliche Organisation ab. Da sie ansonsten wie andere Völker seien, müßten sie es auch i n politicis sein. Dagegen muß der jüdische Nationalismus weitgehend seine eigene Grundlegung entwickeln, u m die sonst fraglosen Gegebenheiten — z. B. Verbindung seiner Menschen m i t einem bestimmten Gebiet — zu begründen. Er hat nicht wie die meisten Nationalbewegungen eine als fremd empfundene Herrschaft abzuschütteln, wofür er allgemein auf Verständnis rechnen könnte, sondern muß sich mit der Existenz einer autochthonen Bevölkerung auseinandersetzen.

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1 Teil: Die Ausgangslage

Andere Nationalismen können auch neue Gesellschaftsideologien einfach übernehmen; der jüdische Nationalismus muß derartige Ideologien (z. B. den Marxismus) so umformulieren, daß dies den übrigen Anhängern dieser Ideologie als Häresie erscheint. Die von diesem Nationalismus leidend Betroffenen, die palästinensischen Araber und die Araber überhaupt, stellen diese gedanklichen Grundlagen in Frage. So erstaunliche Erfolge der jüdische Nationalismus errungen hat, er hat nie die betroffenen Araber von der Richtigkeit seiner Grundlagen oder auch nur von ihrer subjektiven Vertretbarkeit überzeugt. Die Araber sehen i m Zionismus das genaue Gegenteil einer nationalen Bewegung, nämlich baren Kolonialismus, Errichtung einer imperialistischen Fremdherrschaft über die nationalberechtigte Bevölkerung und deren Vertreibung, und sie halten die theoretische Begründung nicht nur für objektiv falsch, sondern auch für subjektiv zynisch. Das ließe sich mit nahezu allen Dokumenten arabischer politischer Gruppen und Autoren belegen. Art. 22 des Palestinian National Covenant der Palästinensischen Befreiungsorganisation 1 mag vorerst für alle stehen: Zionism is a political movement organically related to w o r l d imperialism and hostile to a l l movements of liberation and progress i n the world. I t is a racist and fanatical movement i n its formation; aggressive, expansionist and colonialist i n its aims; and Fascist and Nazi i n its means. Israel is the Tool of the Zionist movement and a human and geographical base for w o r l d imperialism. I t is a concentration and j u m p i n g - o f f point for imperialism i n the heart of the A r a b homeland, to strike at the hopes of the A r a b nation for liberation, u n i t y and progress.

Noch weiter klaffen zionistisches Selbstverständnis und arabische Sicht i n der ethischen Einschätzung der jüdischen Nationalbewegung auseinander. Große Gruppierungen i m Zionismus verstehen sich als sozialistischprogressiv, andere Gruppen als religiös-sozialistisch; die Theoretiker fast aller zionistischen Richtungen betonen den universellen Humanismus und die hohe Ethik ihrer Ideologie. Der Auserwähltheitstradition des Judentums entsprechend artikuliert sich dieses Selbstverständnis oft als vorbildlich für eine humanere Welt. Die arabische Gegenansicht w i r d i n Kategorien wie Vertreibung, Flüchtlingslager, Napalm formuliert. Weil aber so alle Grundlagen des jüdischen Nationalismus und damit des Staates Israel so verschieden gesehen werden, muß eine Darstellung eben dieser Grundlagen erstaunlich vielfältig werden. Sie muß von Vorstellungen berichten, denen das heutige Völkerrecht und überhaupt modernes Denken so verständnislos gegenüberstehen wie — sagen w i r — alchimistischen Gedankengängen. Sie muß von göttlichen Versprechungen an geschichtlich fragliche Personen berichten, muß Abrahams Samen 1 Angenommen auf Kairoer Konferenz v o m 10.-17. J u l i 1968; T e x t : New Middle East 1970, S. 48.

. Kap.: Der

ische Nationalismus

ionis

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nachspüren und sich über die Bevölkerungsverhältnisse Palästinas in byzantinischer Zeit aussprechen 2. Dem Völkerrechtler erscheinen derartige Geschichten komplett irrelevant; der arabisch-israelische Konflikt zwingt ihn zu ihrer Erörterung. Der Zionismus ist auch deswegen so komplex, weil bei i h m Kräfte zusammenwirken, deren Ideen sich auf rationaler Ebene ausschließen. I m Zionismus haben sie zusammen zum israelischen Staat geführt. Die Vielfalt der Kräfte erklärt das Vorgehen der Zionisten, drückt sich in den Formulierungen der völkerrechtlichen Dokumente aus, führt zu der spezifischen Ausgestaltung des israelischen Staates und bestimmt den Zionismus noch heute stützend und belastend. Die Breite der ideologischen Grundlage macht die Stärke des Zionismus aus, weil sie viele anspricht. Sie erfaßt nicht nur die durch den jeweiligen Zeitgeist Prädisponierten, sondern auch die völlig quer zu diesem Zeitgeist Liegenden: sie erfaßt z. B. gleicherweise den atheistisch-revolutionären Sozialisten wie den konservativ-orthodox Religiösen, und sie findet auch noch eine für beide annehmbare Formel, die ihnen die Zusammenarbeit in einer Organisation gestattet. Ja, der Zionismus hat das Kunststück fertiggebracht, sowohl Anhänger wie Gegner eines jüdischen Staates unter derartigen Formeln zu beteiligen. Die zionistische Argumentation erfaßt eben ein ganzes Volk, wie ideologisch zerklüftet dies auch sein mag. Diese Totalität der Argumentation macht ihn aber auch angreifbar für seine Gegner. So weckte z. B. das sozialistische Element des Zionismus nach dem 1. Weltkrieg bei dem britischen Protektor mitunter den Vorwurf des „Bolschewismus"; heute hält sich der antizionistische Sozialist vornehmlich an die orthodoxreligiösen Züge i m israelischen Staat und erklärt Zionismus und Israel insgesamt für eine theokratisch-reaktionäre Angelegenheit. b) Die Judenfrage

Der Zionismus suchte eine A n t w o r t auf die Judenfrage und sah sie in einem jüdischen Nationalstaat in Palästina. Versteht man unter Judenfrage die Probleme des Judentums in der nicht jüdischen Umwelt, so stellten sich die Probleme zu verschiedenen Zeiten verschieden. Aber stets ließen sie sich auf die Frage zusammenfassen, wie Juden und Judentum i n dieser nicht jüdischen Umwelt leben und überleben konnten. Das 19. Jahrhundert schien hier die Antwort der Assimilierung zu geben, und von daher wurde die Judenfrage gesehen. 2 A l l dies w i r d z. B. von Arabern u n d Israelis wieder ausführlich abgehandelt i n dem Sonderband von Les Temps Modernes 1967, „ L e conflit israéloarabe".

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1 T e i l : Die Ausgangslage

Juden haben sich zu allen Zeiten ihrer nicht-jüdischen U m w e l t assimiliert. Die Assimilierung konnte sich auf eine ansonsten völlige Angleichung m i t Ausnahme der Religion beschränken („Staatsbürger mosaischen Glaubens") oder bis zum völligen Aufgehen i m Nichtjudentum gehen. Insbesondere seit der u m 1800 einsetzenden westeuropäischen Emanzipation hat diese Assimilierung i n Westeuropa große Fortschritte gemacht 3 . I n d e r 2. H ä l f t e des 19. J a h r h u n d e r t s schien v i e l e n J u d e n die A s s i m i l a t i o n k e i n e m ö g l i c h e A n t w o r t m e h r . V e r e i n f a c h t l ä ß t es sich so d a r l e g e n : i n Osteuropa erschien d i e A s s i m i l i e r u n g u n m ö g l i c h u n d das Ü b e r l e b e n d e r J u d e n g e f ä h r d e t ; i n W e s t e u r o p a h i e l t e n sie v i e l e f ü r gescheitert, u n d eine G r u p p e v o n J u d e n w o l l t e ü b e r h a u p t d i e A s s i m i l i e r u n g nicht. I n Osteuropa schien die A s s i m i l i e r u n g k e i n e A n t w o r t a u f d i e F r a g e nach d e r Ü b e r l e b e n s m ö g l i c h k e i t der J u d e n z u sein; sie b l i e b b e r e i t s i n d e n A n s ä t z e n stecken. I n g r o ß e n S i e d l u n g s g e b i e t e n d e r j ü d i s c h e n Massen w i e i n R u ß l a n d u n d R u m ä n i e n w a r e n die J u d e n quasi-rechtlos; i n R u ß l a n d k a m es ab 1881 z u s t a a t l i c h g e f ö r d e r t e n P o g r o m e n . V o m A u s m a ß dieser Rechtslosigkeit, v o n d e r B r u t a l i t ä t dieser P o g r o m e u n d d e r t o t a l e n A m o r a l i t ä t d e r h i e r f ü r v e r a n t w o r t l i c h e n russischen P o l i t i k e r u n d G o u v e r n e u r e l ä ß t sich i m R a h m e n dieses Buches k e i n B i l d v e r m i t t e l n . I n d e n l e t z t e n 16 J a h r e n v o r 1914 w a n d e r t e n u n g e f ä h r 1 300 000 J u d e n aus R u ß l a n d aus: dies m a g w o h l d i e These r e c h t f e r t i g e n , daß d o r t die A s s i m i l a t i o n n i c h t m ö g l i c h u n d also k e i n e L ö s u n g d e r J u d e n f r a g e w a r . I n Westeuropa h a t t e d i e E m a n z i p a t i o n d i e J u d e n w e i t g e h e n d gleichg e s t e l l t u n d i n t e g r i e r t . A b e r ü b e r a l l b l i e b eine außerrechtliche D i s k r i m i nierung; n u r deren Intensität variierte i n den einzelnen Ländern. I n Deutschland waren Assimilation u n d Antisemitismus am stärksten. I n der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mußten die Juden erbittert u m ihre bürgerliche Gleichberechtigung kämpfen. Die Restauration ließ einen A n t i semitismus zu, der offen zur Ausrottung aufforderte 4 . Erst i n der 2. Jahrhunderthälfte gelang die bürgerliche Eingliederung, die insbesondere eine weitgehende berufliche Gleichstellung erreichte. Gleichzeitig entwickelte sich jedoch ein virulenter Antisemitismus der führenden Schichten, der von der Staatsführung geduldet wurde. Es gab keine Pogrome, u n d die Juden waren formell gleichberechtigt, aber j e stärker sie sich assimilierten u n d integrierten, desto mehr wurde ihnen auf jede denkbare erniedrigende Weise vorgeführt, daß sie i m Bewußtsein des deutschen Volkes keine Deutschen waren u n d es niemals werden konnten. Auch v o m Ausmaß des deutschen Antisemitismus u n d seiner Infamität läßt sich m i t wenigen Sätzen k e i n Eindruck vermitteln. Dies könnten n u r Auszüge aus der unermeßlichen F l u t der antisemitischen Schriften. Formulierungen w i e 3 Nachweise: die entsprechenden Abschnitte der Werke zur jüdischen Geschichte; „Emanzipation" u n d „Assimilation" i n J L u n d EJ; Vlavianos/Gross, „Assimilationism", S. 207 ff. 4 M a n lese die polemische, aber sachlich zutreffende Darstellung bei Graetz, 11. Bd.; Dubnow, Bd. I X ; P. G. J. Pulzer, The Rise of Political A n t i - S e m i t i s m i n Germany (New Y o r k - London - Sidney 1964).

. Kap.: Der

ische Nationalismus

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„Die Juden sind unser Unglück" (Treitschke) galten selbst bei Juden noch als vornehm-professoral 5 . I n den übrigen westeuropäischen Staaten lebten weniger Juden. Die englischen u n d französischen Juden waren weitgehend assimiliert u n d beide Staaten hatten nicht, w i e Preußen u n d Österreich ein Reservoir noch nicht assimilierter Juden; England hatte 1905 die ostjüdische Einwanderung beschränkt. I n Frankreich w a r diese Emanzipation schon v o r der Revolution eingeleitet u n d dann durchgeführt worden; die Restauration hatte es dabei belassen. Aber auch i n Frankreich entwickelte sich zeitweise ein heftiger A n t i semitismus, der literarisch vorbereitet 6 , i m Dreyfußverfahren kulminierte. So sahen sich am Ende des 19. Jahrhunderts die westeuropäischen Juden i n zwiespältiger Lage. Sie waren emanzipiert u n d hatten sich sprachlich, k u l t u r e l l u n d wirtschaftlich eingegliedert. Dafür hatten sie ihre jüdische K u l t u r w e i t gehend aufgegeben u n d z . T . auch konvertiert. Trotzdem sah ihre U m w e l t sie als zweitklassige Bürger an, u n d einflußreiche Gruppen eben dieser K u l turen sprachen ihnen überhaupt die Fähigkeit ab, je vollgültige Staatsbürger werden zu können. Spitzen dieser K u l t u r e n erklärten sie m i t Bedacht u n d i n aller Seriosität zum nationalen Unglück. F ü r diese K u l t u r e n hatten sie erstaunliche Leistungen beigetragen, die w e i t über ihrem prozentualen Bevölkerungsanteil lagen; sie mußten sehen, wie die Repräsentanten eben dieser K u l t u r ihre Leistungen als hohl u n d zersetzend diffamierten u n d ihren K u l t u r b e i t r a g mehr oder weniger deutlich m i t Lues i n einem Körper verglichen. So schien v i e l e n J u d e n i n W e s t e u r o p a die A s s i m i l i e r u n g k e i n e A n t w o r t a u f die J u d e n f r a g e . A b e r auch eine m ö g l i c h e r w e i s e erfolgreiche Assimilation w u r d e nicht v o n a l l e n J u d e n als b e f r i e d i g e n d e A n t w o r t gesehen. Jede A s s i m i l a t i o n m u ß t e nach e i n i g e r Z e i t die a s s i m i l i e r t e n J u d e n v ö l l i g a u f g e h e n lassen. Dies w o l l t e n alle j e n e n i c h t , d i e i h r J u d e n t u m n i c h t aufgeben w o l l t e n . Sie w o l l t e n n i c h t als S t a a t s b ü r g e r mosaischen G l a u b e n s l e b e n : sie w o l l t e n jüdisches V o l k b l e i b e n . V o n diesem S t a n d p u n k t aus m u ß t e i h n e n die erfolgreiche A s s i m i l a t i o n noch w e n i g e r g e n e h m sein als die gescheiterte, u n d es g i b t g e n ü g e n d zionistische S t i m m e n , d i e sich entsprechend auslassen. I n s o w e i t w a r d i e A s s i m i l a t i o n s b e w e g u n g n i c h t n u r v o n n i c h t j ü d i scher, s o n d e r n auch v o n j ü d i s c h e r Seite gescheitert. D i e h u m a n i s t i s c h e n V o r s t e l l u n g e n d e r A u f k l ä r u n g u n d d e r französischen R e v o l u t i o n g l a u b t e n die J u d e n f r a g e d u r c h E m a n z i p a t i o n u n d v o l l e I n t e g r i e r u n g lösen z u k ö n n e n . Sie w o l l t e n d e n J u d e n als V o l k n i c h t s u n d i h n e n als I n d i v i d u e n alles geben. Diese V o r s t e l l u n g der l i b e r a l s t e n K ö p f e Westeuropas i m 18. u n d 19. J a h r h u n d e r t e r w i e s sich z u m i n d e s t b e i d e m T e i l d e r J u d e n als I l l u s i o n , der auch i n e r f o l g r e i c h e r A s s i m i l a t i o n n u r moralisches E l e n d u n d i n n e r e K n e c h t s c h a f t sehen w o l l t e . A u c h f ü r diese J u d e n w a r daher die A s s i m i l a t i o n k e i n e A n t w o r t a u f d i e J u d e n f r a g e . Die die Assimilation bekämpfende Literatur erweckt heute zwiespältige Gefühle. Jede auf das eigene V o l k s t u m gerichtete Ideologie fordert Absonderung 5 6

Hierzu: W. Boehlich (Hrsg.), Der Berliner Antisemitismusstreit (1965). Insbesondere Drummond's L a France Juive (Paris 1886).

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1 Teil: Die Ausgangslage

gegen die Umwelt. E i n Volk, das seine ethnisch und politisch befriedigende Form gefunden hat, k a n n auf eine solche Ethnozentrik verzichten. Seine L e bensform findet gelassenen Ausdruck, und es blickt m i t Verachtung auf schrillere, ethnozentrische Formen. Je offener es für die U m w e l t ist, desto größer ist der menschliche u n d kulturelle Gewinn. Anders, wenn die Gruppenexistenz nicht selbstverständlich ist. Eine sich bedroht fühlende Volksgruppe verliert notwendig alle Gelassenheit, wie die Volksdeutschen i n Osteuropa, die Algerienfranzosen u n d die Weißen i n Rhodesien zeigen: schließlich kommen die weißen Rhodesier aus England, dem klassischen Lande nationaler Gelassenheit. Das von der Assimilation sich bedroht fühlende Judentum mußte notwendig hochgradig ethnozentrisch werden. Es mußte zudem eine bereits w e i t gehend integrierte u n d damit i n ihrem Eigendasein aufgelöste Judenschaft wieder herauslösen u n d neu konstituieren. Dazu mußte es die Mehrheit der Gleichgültigen von der Notwendigkeit überzeugen, sich als gesondertes V o l k zu verstehen u n d zu erhalten. I n den westeuropäischen Staaten haben sich die assimilationsunwilligen Juden dieser Aufgabe m i t Energie und wenig Erfolg zugewandt. I h r Nachweis, daß die Juden ein V o l k seien u n d insbesondere, daß ihre Geistesschaffenden spezifisch Jüdisches schufen, mußte sich zwangsläufig i n hohem Maße m i t antisemitischen u n d rassistischen Formulierungen decken. Das v e r w i r r t manchen modernen Leser. Schließlich klingen Schriften w i e „Der Jude und sein Judent u m " nicht anders als „Der Deutsche u n d sein Deutschtum". Der Nachweis, daß jüdische Dichter spezifisch jüdisch schreiben, erinnert auch aus zionistischer Feder eben an A d o l f Bartels 7 . Die von Juden oft zustimmend zitierte Dichtung wie „ B l u t von Gewesenen — zu Kommenden rollts, / B l u t unserer Väter, v o l l Unruhe u n d Stolz. / In uns sind alle. Wer f ü h l t sich allein? / D u bist i h r L e ben — i h r Leben ist dein . . ." 8 ist schließlich, man mag es drehen u n d wenden wie m a n mag, B l u t - u n d Bodenromantik. Die m i t der Erhaltung des Judentums notwendig verbundene Einstellung gegenüber der U m w e l t muß die „Andersartigkeit des Judentums" betonen, muß sich be- u n d absondern und so zumindest formal antisemitische Vorstellungen übernehmen. So erscheint dem modernen Leser die national jüdische Einstellung gegenüber Mischehen nicht besser als entsprechende antisemitische Forderungen oder entsprechende Gebote der katholischen Kirche. Das israelische Eherecht w i r d denn auch von vielen als rassistisch gebrandmarkt 9 . E i n Beispiel f ü r das Selbstverständnis v o l l emanzipierter assimilationsunw i l l i g e r Juden i n Deutschland ist etwa Blumenfeld 1 0 , der von sich selbst sagte, daß er sich niemals m i t einer politischen Bewegung identifizierte u n d alle Probleme ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Judenfrage behandelte 1 1 . V o r dem 1. Weltkrieg forderte er, daß der deutsche Zionist aufhören müsse, sich als Deutscher zu betrachten; daß ein Jude niemals das Recht habe, die Angelegenheiten eines anderen Volkes wahrzunehmen, w e i l jeder Jude i n der ganzen Welt f ü r i h n verantwortlich gemacht werde 1 2 ; damit fordert er schließlich dasselbe w i e der Antisemit: keine Staatsstellung an Juden. 7

A u t o r antisemitischer Literaturgeschichten. Richard Beer -Hofmann, Schlaf lied f ü r M i r j a m . s. 27. Kapitel. 10 Führender deutscher Zionist, Präsident der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. 11 K . Blumenfeld, Erlebte Judenfrage (1962), S. 64. Uber Shmarya L e w i n heißt es: „Nie erlag er fremden Einflüssen. Er nahm sie auf u n d verarbeitete sie sofort seinem Wesen gemäß. Alles sah er aus dem Gesichtswinkel des Jüdischen." Ebenda, S. 77. 12 S. 143. Weitere Schrift von Blumenfeld s. Zionistisches Handbuch. 8

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29

Eine Zusammenstellung und Herausgabe der wichtigsten Dokumente dieser v o n der nicht jüdischen U m w e l t i n die Isolierung getriebenen u n d auf sich selbst zurückgeworfenen Gruppe erscheint zum Verständnis der Zeit u n d einer k u l t u r e l l bedeutenden Minderheit wünschenswert. M a n mag ihre H a l t u n g bedauern. Wer die Masse der infamen antisemitischen Schriften des deutschen 19. u n d 20. Jahrhunderts kennt, muß sie verstehen. U n d schließlich hat die nicht jüdische U m w e l t diesen Ethnozentrismus, dessen Tenor w a r : I h r mögt leisten was i h r wollt, die Deutschen werden euch nie akzeptieren 1 3 j a über alles Vorstellbare bestätigt. I n der Gegenwart v e r t r i t t J. Bloch einen derartigen Ethnozentrismus 1 4 . Er läßt dem Nichtjuden keine Chance: jede denkbare H a l t u n g des Nichtjuden ist i h m barer Antisemitismus — aber i h r Gegenteil u n d ihre Alternative auch.

c) Die Zionistische Antwort So g r u p p i e r t e n sich i m europäischen J u d e n t u m d r e i G r u p p e n , die a n dere L ö s u n g e n suchten: d e n osteuropäischen J u d e n b l i e b die A s s i m i l a t i o n v e r s a g t ; eine westeuropäische G r u p p e h i e l t die A s s i m i l a t i o n i n d e n L ä n d e r n d e r E m a n z i p a t i o n f ü r gescheitert; eine d r i t t e G r u p p e l e h n t e die A s s i m i l a t i o n ü b e r h a u p t ab. Die Gruppen lassen sich nicht k l a r scheiden. Oft w a r es die Erfahrung des Antisemitismus, die assimilierte Juden die Assimilierung ablehnen ließ, und die Assimilationsgegner zogen aus dem Antisemitismus ihre Argumente. U n d umgekehrt bezog der infolge antisemitischer Erfahrungen zum jüdischen Nationalismus Gedrängte aus jüdischem Ethnozentrismus wiederum seine Rechtfertigung. Beide Tendenzen konditionierten jedenfalls einen T e i l der Juden zur nationaljüdischen Lösung. Die situationsbedingte Verschiedenheit der Reaktionen findet i n der zionistischen L i t e r a t u r ihren Ausdruck i n der A l t e r native „Not der Juden" (hier liegt der Akzent auf der Unmöglichkeit f ü r Juden, menschenwürdig zu leben, auch nicht durch Assimilierung) u n d „ N o t des Judentums" (hier w i r d die größte Gefahr i m Untergang der jüdischen K u l t u r u n d also i n der erfolgreichen Assimilierung gesehen). Die Alternative kehrt später bei der Diskussion u m die Nationalheimpolitik u n d u m Zionisten und Nicht-Zionisten wieder, s. 1. K a p i t e l 4 b. S o m i t zeigten sich i n der 2. H ä l f t e des 19. J a h r h u n d e r t s i m europäischen J u d e n t u m G r u p p e n , die i n der A s s i m i l a t i o n k e i n e L ö s u n g f ü r die J u d e n frage sahen; sie suchten andere A n t w o r t e n . D i e gegebenen A n t w o r t e n d i f f e r i e r t e n erheblich. Ü b e r die g r u n d s ä t z l i c h e n R i c h t u n g e n ist i n a n deren R a h m e n zu b e r i c h t e n 1 5 ; h i e r ist v o n der zionistischen Lösung zu reden. 13 So etwa der erschütternde Aufsatz von M. Goldstein, Deutsch-Jüdischer Parnaß, i n : Der K u n s t w a r t (hrsg. v. Avenarius), 1912, S. 281 ff.; ferner G. Scholem, Wider den Mythos v o m deutsch-jüdischen Gespräch, in: A u f gespaltenem Pfad. F ü r Margarete Susman (1964). 14 Jochanaan Bloch, Das anstößige Volk. Uber die weltliche Glaubensgemeinschaft der Juden (1964) ; ders., Judentum i n der Krise (1966). 15 1. K a p i t e l 4.

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1 T e i l : Die Ausgangslage

Unabhängig voneinander und ziemlich gleichzeitig riefen jüdische Denker zur Abkehr von der Assimilierung und zu einem volksbewußten Judentum auf 1 6 . Einprägsame Formulierung fanden diese Bestrebungen i n Begriffen wie Autoemanzipation 1 7 und Selbstemanzipation 18 . Darunter verstanden sie die Emanzipation aus eigener K r a f t und zu eigenem Dasein. Sie erwarteten die Emanzipation nicht länger von der Umwelt und deren Bereitschaft, die Juden zu emanzipieren, sondern riefen dazu auf, sie selbst herbeizuführen. Und sie forderten nicht länger die Aufnahme i n den Volkskörper der Gastvölker, sondern die Konstituierung eines eigenen jüdischen Volkes. Die Vorstellung der Autoemanzipation richtete sich nicht nur gegen die Richtung der Assimilation; sie richtete sich auch gegen deren extremen Gegenpol, nämlich gegen die Religiöse Orthodoxie 1 9 , die die Befreiung nicht von weltlicher Hand, sondern vom Messias erwartete. Da diese ihr Diaspora-Dasein als die von Gott verhängte Strafe des Exils ansah, mußte i h r der Versuch einer politischen Befreiung als Auflehnung gegen den göttlichen Willen erscheinen. Nach ihrer Vorstellung war das Sonderdasein Israels von Gott verhängt, war Israel kein Volk wie die anderen Völker und also auch nicht zu nationalen Forderungen, sondern zu messianischen Hoffnungen berechtigt. Die Konstituierung eines eigenen jüdischen Volkes schien ohne territoriale Basis nicht möglich, sei es in autonomen Kolonisationsgebieten in den Ländern der Diaspora, sei es in einem jüdischen Nationalstaat 20 . Die Autonomielösung wurde i n verschiedenen Versionen verfochten. Die bekannteste ist die Forderung nach kultureller Autonomie i n den Ländern der Diaspora unter Absage an politische Autonomiewünsche. Sie forderte Selbstverwaltung der jüdischen Gemeinden, Sprachenfreiheit (Jiddisch und Hebräisch), Schulautonomie. Sie wurde insbesondere von Dubnow ausgearbeitet 21 . W i l l man ein allgemeines Urteil wagen, so w i r d man der Kulturautonomie keine Chancen geben: der moderne industrielle Verwaltungsstaat tendiert aus vielen Gründen mit Notwendigkeit zur Vereinheitlichung und schmilzt Gruppen ein. Autonomielösungen i n den Ländern der Diaspora haben schließlich sozialistische Gruppen, insbesondere die Bundisten vertreten 2 2 . M i t Auto16 z. B. N. Birnbaum, Die Assimilationssucht, ein W o r t an die sogenannten Deutschen usw. mosaischer Konfession (1882). 17 T i t e l der Schrift von L . Pinsker, 1882 i n deutsch erschienen, Neuauflage 1932. 18 T i t e l einer v o n Birnbaum ab 1885 i n Wien herausgegebenen Zeitschrift. 19 s. 1. K a p i t e l 4. 20 So insbesondere die programmatische Schrift Herzls, Der Judenstaat (1896); aus der L i t e r a t u r über Herzl s. etwa: J. Cohen, Th. H.: Founder of Political Zionism (New Y o r k 1959); A. Bein, Th. H.: A Bibliography (New Y o r k 1941); A. Chouraqui, Th. H. (Paris 1960). 21 Bedeutendster jüdischer Historiker des 20. Jahrhunderts, 1941 v o n Deutschen i n Riga ermordert, s. J L „Dubnow", „Autonomismus". 22 s . l . K a p i t e l 4.

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ische Nationalismus

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nomielösung mag man schließlich alle territorialen Versuche bezeichnen, die nicht auf Palästina fixiert waren, insbesondere der sog. Territorialismus 23.

I m folgenden ist nur von der nationalstaatlichen Lösung die Rede. Bei der Formulierung der Judenfrage übernahm der Zionismus i n überraschendem Maße die antisemitische Diktion; i n der Beantwortung folgte er den westeuropäischen politischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts. Er lehnte die Assimilation ab, weil sie die Judenfrage nicht lösen könnte. Die Juden würden als Fremdkörper empfunden und je stärker die Assimilierung werde, desto größer werde die Abwehr der nichtjüdischen Umwelt. Gerade die jüdische Assimilierung und Integrierung gäbe einen besonders gefährlichen und neuartigen Antisemitismus, denn die Umwelt betrachte den assimilierten Juden als einen noch gefährlicheren Feind ihres Volkstums. Dieser Antisemitismus ergreife alle sozialen Schichten und beschränke sich nicht auf das politisch rechts stehende Kleinbürgertum. Deshalb sei auch von sozialen Veränderungen keine Verbesserung zu erwarten. Die anormale Minoritätenstellung der Juden lasse erst die Judenfrage entstehen; eine Lösung sei daher i n der Diaspora, wo die Juden als Minorität und unter einer geschichtlich, geistig und national anders terminierten Bevölkerung lebten, prinzipiell unmöglich. Auch das Zusammenleben der Völker geschehe nicht ohne Spannungen; aber normalerweise seien diese Friktionen auf die Grenzgebiete beschränkt, und der Kern des Volkes lebe ohne diese psychische Belastung. Jeder Jude dagegen sei i n der Grenzlandsituation und deshalb lebe das ganze jüdische Volk unter einem unerträglichen Druck. Auch die Auswanderung helfe nicht; denn stets komme der Augenblick, da die Umwelt sich durch die einwandernden Juden bedroht fühle und antisemitisch reagiere. Jeder auswandernde Jude schleppe daher den A n t i semitismus mit sich. Bei der Analyse fällt weiter auf, wie leidenschaftslos alle zionistischen Klassiker den Antisemitismus beurteilen. Sie brandmarken den A n t i semitismus nicht, sondern sie vermitteln Verständnis für ihn. Er erscheint ihnen als die unvermeidliche Abwehrreaktion der nichtjüdischen Welt. Die staatslose Existenz des jüdischen Volkes sei unnatürlich, die Juden seien tatsächlich ein Fremdkörper, ein heterogenes Element, das keine Nation gut vertragen könne. Der Antisemitismus erscheint ihnen nur als die natürliche Reaktion der nicht jüdischen Umwelt auf diesen Fremdkörper. Die Antwort des Zionismus auf die Judenfrage ergibt sich nach dieser Analyse von selbst: sie kann nur auf die Forderung nach einem jüdischen 23

s. 1. K a p i t e l 2 c.

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1 Teil: Die Ausgangslage

Territorium hinauslaufen. Wenn Ursache die Zerstreuung ist, dann muß die Lösung i n der Sammlung liegen, d. h. i n eigener geschlossener Siedlung auf eigenem Territorium. I m Zeitalter des Nationalstaatsgedankens kann dies nur i n einem entsprechenden Staat mit einheitlicher Sprache und K u l t u r erfolgen. Daher müsse das jüdische Volk alle die Merkmale erwerben, die den Charakter eines nationalstaatlich organisierten Volkes ausmachten: Land, Sprache, einheitliche K u l t u r und Lebensform, geschlossene Wirtschaft, freie politische Verfügung über das eigene Schicksal und Territorium. Freie politische Verfügung über das eigene Schicksal auf eigenem Territorium: das ist die nationalstaatliche Forderung. Die Forderung nach einem jüdischen Territorium schien zunächst — trotz des auf dem 1. Zionistischen Kongreß 1897 verabschiedeten Basler Programms 24 — nicht auf Palästina fixiert, weder bei den Theoretikern noch bei den frühen Bewegungen, wTeder bei den Autonomie- noch bei den nationalstaatlichen Lösungen. Weder Pinskers autonome Kolonisationsgebiete mußten in Palästina liegen noch Herzl's Judenstaat; Herzl dachte auch an argentinische Gebiete. I n Großbritannien geriet der für irgendeine territoriale Lösung eintretende „Territorialismus" Zangwills i n Gegensatz zur Zionistischen Organisation, weil diese sich auf Palästina fixierte 25. Das britische Angebot, den Zionisten Uganda als Siedlungsgebiet zu überlassen, dem Herzl zustimmte, zerriß nahezu die Zionistische Bewegung 28 . Die Verbindung des Judentums zu Palästina war vornehmlich religiös fundiert und der Zionismus zog seine Kräfte zunächst nicht aus dem religiösen, sondern aus dem weltlichen, aufgeklärt-liberalen und sozialistischen Judentum. Von sozialistischen Vorstellungen her, gar von marxistischen Gedanken aus, war die Fixierung auf Palästina nicht zu begründen, und die jüdische Arbeiterbewegung war areligiös eingestellt. Dem jüdischen Volke fehle ein Land und nicht Palästina, meinte die i m Zionismus so bedeutende Gruppe der Poale Zion 2 7 . Die bedeutendste ostjüdische Arbeiterbewegung, der Bund, schließlich kämpfte für autonome jüdische Kolonisationsgebiete in Osteuropa 28 . A n dieser Stelle trat jedoch eine weitere Kraft auf den Plan, die den Zionismus fortan i m Positiven wie i m Negativen bestimmte: die religiösmystische Verbindung des jüdischen Volkes mit Palästina. Der weltlich fundierte Zionismus erkannte, daß außer Palästina keine andere territoriale Lösung die jüdischen Massen bewegen konnte. Zur Zeit der schlimmsten Verfolgung in Rußland wanderten jüdische Massen nach 24 25 26 27 28

s. unten. JL, „ Z a n g w i l l " ; „Territorialismus"; „Jewish Territoral Organisation". Böhm I, 20. Kapitel. s . l . K a p i t e l 4. s.l.Kapitel4.

. Kap.: Der

ische Nationalismus

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33

Amerika aus, aber i n totalem Desinteresse am Aufbau eines jüdischen Gemeinwesens. Entsprechende Vorschläge fanden schlicht keinen Widerhall. Der Appell zum Aufbau i n Palästina dagegen fand ein Echo, das schließlich alle Widerstände überwand. A u f dem 7. Zionistischen Weltkongreß 1905 wurde schließlich jede nichtpalästinensische Lösung und jede kolonisatorische Tätigkeit außerhalb Palästinas verworfen 2 9 . Grundlage der Zionistischen Politik war und blieb daher das Basler Programm

von 1897:

Der Zionismus erstrebt f ü r das jüdische V o l k die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte i n Palästina. Z u r Erreichung dieses Ziels n i m m t der Kongreß folgende M i t t e l i n Aussicht: 1. Die zweckdienliche Förderung der Besiedlung Palästinas m i t jüdischen Ackerbauern, Handwerkern u n d Gewerbetreibenden. 2. Die Gliederung u n d Zusammenfassung der gesamten Judenschaft durch geeignete örtliche u n d allgemeine Veranstaltungen nach den Landesgesetzen. 3. Die Stärkung des jüdischen Volksgefühls u n d Volksbewußtseins. 4. Vorbereitende Schritte zur Erlangung der Regierungszustimmungen, die nötig sind, u m das Ziel des Zionismus zu erreichen. 2. Die Thesen des Zionismus

Die Formulierung der Judenfrage und ihre Beantwortung durch den Zionismus impliziert einige Thesen, die in einem umfangreichen Schriftt u m vertieft und ausgebaut wurden. Sie sind eigentlich die Kernpunkte der Diskussion. U m ihre Berechtigung hat der Zionismus seine großen Schlachten geführt, die zum Staate Israel geführt haben; sie sind auch nach der Staatsgründung die Hauptstreitpunkte und sie stehen weiter i m Mittelpunkt des arabisch-israelischen Konflikts. I n diesen Thesen geht es um: a) den Volkscharakter der Juden ; b) die Notwendigkeit der nationalstaatlichen Lösung ; c) den j üdischen Anspruch auf Palästina ; d) die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Umschichtung. I n ihrer Erörterung lassen sie sich nicht v ö l l i g auseinanderhalten. So i m p l i ziert die These v o m jüdischen Anspruch auf Palästina die These v o m Volkscharakter der Juden; umgekehrt muß bei der These v o m Volkscharakter über die behauptete Abstammung der modernen Juden von den palästinensischen Juden der biblischen Zeit u n d ihrer behaupteten Vertreibung gesprochen w e r den. Abstammungs- u n d Vertreibungsthese behandeln weitgehend dasselbe unter zwei verschiedenen Aspekten. 29 Damals spaltete sich die Jewish Territorial Organisation Zangwills ab. Nachdem die Balfour-Erklärung den Zionisten Palästina als „ T e r r i t o r i u m " zugewiesen hatte, löste Z a n g w i l l die Organisation selbst auf.

3 Wagner

1 Teil: Die Ausgangslage

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Die Diskussion k a n n schließlich nicht außerhalb eines Kontexts geführt w e r den. Es geht u m den arabisch-israelischen K o n f l i k t u n d darum, was diese Thesen i n diesem K o n f l i k t bedeuten. a) Der Volkscharakter der Juden Schrifttum: H. L . Shapiro, The Jewish People. A Biological History (Genf, UNESCO, 1960); Baron, Bd. 1; W. F. Albright, The Archeology of Palestine (Harmondsworth 1956);Mallison (vor I. Teil). Allgemein zum Volksbegriff: L i t e r a t u r zur Staatslehre; zum Rassebegriff: Nachweise i n Wörterbüchern der Soziologie u n d Anthropologie.

Der Zionismus geht von der These aus, daß die i n aller Welt lebenden Juden ein Volk sind. A l l e zionistischen Dokumente sprechen vom Jüdischen Volke und der Staat Israel führt diese Tradition fort. Der Begriff „ V o l k " erschien bis ins 18. Jahrhundert selbstverständlich und wurde unreflektiert gebraucht. Danach galten auch die Juden stets als Volk. So sahen sie sich selbst und so sah sie die nichtjüdische Umwelt. I h r Volkscharakter war religiös bestimmt, und die religiöse Zugehörigkeit bestimmte ihre Existenz. I n biblischer, römischer, byzantinischer Zeit war dieser Volkscharakter nie strittig; fraglich war immer nur, welche Rechtsstellung dem jüdischen Volke eingeräumt wurde. Europäisch-christliches Mittelalter und Islam änderten daran nichts. Das ist so unstrittig, daß es keiner Belege bedarf. Erst die Nationalstaatsidee forderte weitere Überlegungen. Diese Idee erhoffte sich eine optimale, d. h. friktionsfreie staatliche und zwischenstaatliche Ordnung, wenn sich Nation (Volk) und Staat deckten und alle Nationen sich zu eigenen Staaten politisch organisierten. Nun mußte man sich darüber einig werden, welche Gruppen man als Volk ansprechen sollte und hierfür entsprechende K r i terien finden. Die Staatslehre stellt meist Volk oder Nation im soziologischen oder im

ethnischen

Sinne

d e m S t a a t s v o l k als Angehörigen

gleicher

Staats-

angehörigkeit gegenüber. I m Sprachgebrauch der westlichen Demokratien decken sich meist Volk (Nation) i m soziologischen und i m staatsrechtlichen Sinne: das englische Volk erfaßt nicht die Australier, das französische Volk nicht die Wallonen. Andere Volksbegriffe wie „Deutschtum", „Francité", „Wallisisches V o l k " werden hier als störend empfunden. Alle Versuche, Volk und Nation i m soziologischen oder ethnischen Sinne zu bestimmen, gehen von Homogenitätsvorstellungen aus, wobei i m Laufe der Geschichte biologische (gemeinsame Abstammung, „Rasse"), kulturelle (Sprache, Religion, Kultur) und politische (gemeinsame Geschichte) Kriterien i n Vorschlag gebracht wurden. Zu diesen mehr oder weniger objektiven Kriterien treten die z. T. durch diese objektiven Um-

1. Kap.: Der jüdische Nationalismus (Zionismus)

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stände bewirkten subjektiven Faktoren, wie das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und der existentiellen Schicksalsgemeinschaft. Diese subjektive Komponente kann sich zumindest dem einzelnen gegenüber objektivieren, sei es, daß diese Gruppe ihn auch gegen seinen Willen m i t Erfolg reklamiert, sei es, daß die Umwelt ihn gegen seinen Willen dieser Gruppe zuweist. Hieraus folgt aber auch, daß ein Volk geschaffen werden kann und das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und der Absonderung durch eine entsprechende Ideologie formbar ist, wobei diese Formung sowohl durch volkstumsbewußte Propaganda wie durch Abstoßung seitens der Umwelt geschaffen werden kann. Die Geschichte kennt Gruppen, die erst nach Indoktrinierung und schweren Kämpfen sich als Volk verstanden haben (Algerier). Alle Kriterien können sich kaleidoskopartig kombinieren. Kein K r i terium ist unerläßlich, jedes kann fehlen. Eine große Literatur, jüdische, nichtjüdische, anti jüdische hat versucht, nach all diesen Kriterien den Volkscharakter der Juden zu beweisen oder zu negieren 30 . Sie folgte den jeweiligen Anschauungen der Zeit und ist daher zeitgebunden. M i t neuen Anschauungen gilt die frühere Argumentation als verfehlt und überwunden, mag sie aus jüdischer oder anti jüdischer Feder stammen. Von diesen Theorien sind nur die wichtigsten darzulegen, die i n der gegenwärtigen Diskussion sind. Dabei w i r d sich zeigen, daß die Juden nicht nach biologischen Kriterien als Volk bezeichnet werden können; sie bilden weder eine Rasse noch eine Abstammungsgemeinschaft. Die Juden sind ein Volk, weil eine partiell gemeinsame Geschichte und K u l t u r ihnen das Bewußtsein der Volkszugehörigkeit gegeben und die nicht jüdische Umwelt sie als Volk betrachtet hat. Versteht man „Rasse" bio-anthropologisch, so sucht man biologische Charakteristika wie Kopfform, Augenfarbe, Haartyp, Nasenform, Grad der Pigmentierung und ähnliche beobachtbare und meßbare physische Züge. Alle Versuche, darüber hinaus physiologische und psychologische Merkmale zur Rasseneinteilung zu verwenden, haben keine anerkannten Ergebnisse gebracht. Da alle Bevölkerungen erhebliche physische Differenzierungen aufweisen, ist eine Rasse auch biologisch nie völlig homogen, sondern eine A r t statistischer Mittelwert, der auf den Messungen zahlreicher erblicher Züge beruht, i n denen die Angehörigen dieser Bevölkerung Ähnlichkeiten aufweisen. Nach allen ernsthaft diskutierbaren Kriterien können die Juden nicht als Rasse i m biologischen Sinne verstanden werden. Geht man von der heute vorherrschenden Einteilung aus, die von kaukasischen, mongoliden und negroiden Rassen spricht, so 30

Übersicht u n d Nachweise: JL, „Nation, Nationalität, jüdische". Hier auch die Differenzierung, wonach die Juden zwar ein V o l k , aber ohne nationalstaatliche A m b i t i o n e n seien. 3»

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1 Teil: Die Ausgangslage

gehören die Juden offensichtlich zur ersteren. Damit unterscheiden sie sich aber nicht von Europäern, Vorderasiaten und weißen Amerikanern. Jede weitere Unterteilung i n sog. Unterrassen aber zeigt, daß die Juden keine gemeinsame Unterrasse bilden: die meisten europäischen Juden unterscheiden sich von den sog. orientalischen Juden soviel und sowenig wie die nicht jüdischen Bewohner der verschiedenen europäischen Gebiete von den Herkunftsländern dieser Juden. Damit w i r d nicht verkannt, daß „Rasse" auch ein soziologischer, d. h. sozial definierter u n d wirksamer Begriff sein kann. Sozio-kulturelle Gegebenheiten können biologische Auswirkungen haben. Auch die biologisch verstandene Rasse ist also nicht v ö l l i g umweltstatisch, sondern i n begrenztem Maße u m weltplastisch. Der Rassebegriff w i r d überdies oft auf ethnische Gruppen angewandt, die sich nach nichtbiologischen K r i t e r i e n bestimmen. Anthropologisch ist ein solcher Rassebegriff unbrauchbar 3 1 .

Die größte Verwirrung und schließlich der Rassismus sind aus der Übertragung der biologischen Kategorie Rasse auf kulturelle, insbesondere sprachliche Gruppen entstanden. „Indogermanisch" und „Semitisch" bezeichneten Sprachfamilien und eventuell die geschichtliche Entwicklung der diese Sprache sprechenden Völker. I m biologisch-anthropologischen Sinne gibt es keine arische, semitische oder jüdische Rasse. Der Ausspruch „Araber u n d Juden sind beide Semiten" ist n u r i m linguistischen Sinne richtig. Er wurde aber stets i m politischen Sinne gebraucht, u m Araber u n d Juden zum Ausgleich zu bringen. Neuerdings versucht U r i A v n e r i unter diesem Banner eine „Pax Semitica-Bewegung" ins Leben zu rufen.

Ebensowenig können die Juden als Abstammungsgemeinschaft verstanden werden. Auch hier geht es nicht darum, daß soziologische Gegebenheiten wie Abgeschlossenheit durch Religion, Ghetto und Mella zu einer relativen und jeweiligen Abstammungsgemeinschaft geführt haben. I n der zionistisch-arabischen Diskussion geht es vielmehr um die behauptete gemeinsame Abstammung der heutigen Juden von den biblischen Juden Palästinas. Und wiederum geht es um die Frage, inwieweit eine solche Abstammungsgemeinschaf t sie gegenüber den übrigen Prätendenden auf Palästina labsondert. Gegen die Vorstellung der Abstammungsgemeinschaft sprechen zwei Überlegungen: — Abstammungsmäßig unterscheiden sich die palästinensischen Juden der biblischen Zeit kaum von den übrigen Bewohnern Palästinas. Das Herauskristallisieren der Juden aus der übrigen Bevölkerung Palästinas scheint ein sehr komplexer Vorgang gewesen zu sein, wie die heutigen Anschauungen über die biblischen Berichte vom Zuge nach Ägypten, aus 31 Das gilt m. E. auch f ü r den dynamisch-genetischen Rassebegriff (Rasse kein Zustand, sondern ein Prozeß) Sailers, i n : K . Thieme, Judenfeindschaft (1963), S. 180 ff.

. Kap.: Der

ische Nationalismus

ionis

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Ägypten und der Besiedlung Palästinas zeigen 32 . Die Bibel läßt ständig Mischungen m i t der übrigen Bevölkerung erkennen. Das Judentum hat i m biblischen Palästina große Teile der übrigen Bevölkerung i n sich aufgenommen wie auch Teile seiner Angehörigen wieder verloren 3 3 . Bei Eroberungen wurden fremde Bevölkerungsteile aufgesaugt; zeitweise hat das Judentum nichtjüdische Bevölkerungsteile sich zwangsweise eingegliedert 3 4 , wie etwa die Edomiter, und das Problem der Mischehen hat große Zeiträume die Bibel beschäftigt. Ebenso hat das Judentum große Teile verloren: von den 12 Stämmen gelten zehn als „verloren", nämlich die Juden des nördlichen Reiches: nach der Reichsteilung ist der nördliche Staat untergegangen und nicht wieder entstanden, und nach der Rückkehr aus dem babylonischen E x i l haben die Juden die ihnen abstammungsmäßig und religiös nahestehenden Nachkommen des nördlichen Königreiches Israel, die sog. Samaritaner aus politischen und religiös-dogmatischen Gründen verstoßen 35 . U m es genau und präzise zu sagen: die Juden kristallisierten sich aus einer Bevölkerung heraus, von der sie sich rassisch-genetisch um nichts unterschieden; sie inkorporierten sich große nicht jüdische Gruppen gleicher Rasse, und sie verloren große Teile an Gruppen, die ihnen gleich waren. Die Abstammungsgemeinschaft der palästinensischen Juden i n biblischer Zeit ist daher von palästinensisch-arabischer Sicht aus unhaltbar. Arabische Autoren machen geltend, daß die palästinensischen Araber sich i n höherem Maße als Nachkommen der biblischen Bewohner Palästinas ansehen könnten als die europäischen Juden. — Die Vorstellung der Abstammungsgemeinschaft w i r d unhaltbar, sobald sie die Juden der Diaspora einbezieht. Das ältere Judentum war, i m Gegensatz zur nachbiblischen Zeit, proselytisch eingestellt. Die Aufnahme von Bevölkerungsteilen und von einzelnen in der Diaspora ist zum Teil belegt. Anders glaubt auch die moderne Forschung das Anwachsen der jüdischen Gemeinde in der hellenistischen Zeit nicht erklären zu können 8 6 . Z u r „Abstammungsgemeinschaft" als Metapher des Bewußtseins der Z u sammengehörigkeit s. 1. K a p i t e l 2 c.

So angreifbar alle objektiven Komponenten sind, so unbestreitbar sind die subjektiven Komponenten, durch welche objektiven Umstände auch 32 Hier muß auf die Zusammenfassung der modernen Forschung bei Baron I verwiesen werden. W e i l dieser Vorgang komplex u n d u n k l a r ist, erlaubt er sehr unterschiedliche Darstellungen u n d Interpretationen. 33 Baron I 224. 34 Baron 1235. 35 Z u dem Problem der Samaritaner s. Darstellung und Nachweise bei Baron I I 26 ff.; I I I 10. Z u m topos der Verlorenen Stämme i n der jüdischen Geschichte s. JL, „Stämme, zehn". 36 Baron 1171 ff.

1 T e i l : Die Ausgangslage

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i m m e r sie ausgelöst séin m o c h t e n : D i e J u d e n v e r s t e h e n sich als V o l k , u n d d i e N i c h t j u d e n sehen sie so. E i n g e n ü g e n d großer T e i l d e r Judenheit versteht sich als J u d e n , u n d dies n i c h t n u r i m r e l i g i ö s e n Sinne. Dieses B e w u ß t s e i n einer religiösen, k u l t u r e l l e n u n d geschichtlichen Schicksalsgemeinschaft b e d a r f k e i n e r w e i t e r e n D a r l e g u n g . M a g auch e i n T e i l der J u d e n selbst sich gegen d e n V o l k s c h a r a k t e r aussprechen, es k a n n n i c h t b e z w e i f e l t w e r d e n , daß e i n großer T e i l d e r J u d e n sich als jüdisches V o l k v e r s t e h t . Diese s u b j e k t i v e K o m p o n e n t e , d i e auch ansonsten i m p o l i t i s c h e n S c h r i f t t u m i n a l l e n Sprachen p r ä g n a n t e F o r m u l i e r u n g e n g e f u n d e n h a t 3 7 , i s t nach h e u t i g e r A n s c h a u u n g das w i c h t i g s t e K r i t e r i u m z u r B e s t i m m u n g eines V o l k e s . D i e G r ü n d e f ü r dieses B e w u ß t s e i n müssen h i e r d a h i n s t e h e n ; idealistische u n d m a t e r i a l i s t i s c h e I d e o l o g i e n e r k l ä r e n sich diese B e w a h r u n g d e r j ü d i schen I d e n t i t ä t d u r c h die Z e i t e n verschieden. H i e r g e h t es n u r u m das unbestreitbare Faktum. A l s wichtiger Faktor dieses Bewußtseins gilt die jüdische Vorstellung, das v o n Gott auserwählte Volk zu sein 3 8 . Diese göttliche Auserwähltheit hat i m A l t e r t u m die Juden zur Selbstidentifizierung gebracht, hat zur Be- u n d A b sonderung beigetragen u n d hat den Juden durch die Zeiten die Welterklärung, d. h. Erklärung, Rechtfertigung u n d Sinn ihrer oft mißlichen Lage gegeben. Die U m w e l t hat an der Vorstellung der Auserwähltheit meist Anstoß genommen 3 9 . Wie immer der Theologe diese eigentümlich formulierte Verbundenheit des jüdischen Volkes m i t Gott erklären mag, w i e er auch zeigen mag, daß sie keine höheren Ansprüche sondern Verpflichtungen (zu vorbildlich-sittlichem Leben, zu Prüfungen u n d Leiden, zur Übernahme der Sünden der Welt) begründet, w i e immer der jüdische Ethiker die Auserwähltheit ins AllgemeinHumanitäre wenden mag 4 0 , die nichtjüdische U m w e l t hat diese Erklärungen selten akzeptiert 4 1 . Aber die Vorstellung erscheint als spezifische F o r m j ü d i scher Selbstidentifizierung. Ebenso u n s t r e i t b a r s i n d Sicht u n d Reaktion der Umwelt. A u f w e l c h e n W a h n i d e e n diese U m w e l t r e a k t i o n auch i m m e r b e r u h e n mochte, nach der gescheiterten A s s i m i l a t i o n u n d d e r E n d l ö s u n g k a n n n i c h t b e s t r i t t e n w e r d e n , daß h i e r s u b j e k t i v e F a k t o r e n a u f d i e E b e n e sozialer W i r k u n g s 87

A. France: U n peuple n'existe que par le sentiment q u ' i l a de son existence. J L ; E J, „Auserwähltes V o l k " ; Κ. Galling, Die Erwählungstraditionen Israels (1928). 39 J. Maier, Die religiös motivierte Judenfeindschaft (aus Mißdeutung des jüdischen Selbstverständnisses), i n : K. Thieme, Judenfeindschaft (1963), S. 22 ff. 40 ζ. B. Gor don: Juden sollen der spirituelle Führer aller Nationen werden, nicht w e i l sie besser wären, sondern w e i l sie mehr gelitten hätten. A b e r gerade insoweit ist die U m w e l t besonders intolerant: E i n V o r w u r f gegen Israel geht dahin, daß die ehemals Unterdrückten besonders wissen müßten, was dies bedeute u n d deshalb nicht i n Palästina zu ähnlichen Methoden greifen dürften. 41 Dagegen hat sie die negative Seite v o m „Verfluchten V o l k " freudig und gläubig übernommen. 38

. Kap.: Der

ische Nationalismus

ionis

39

faktoren gestiegen sind 4 2 . Wer immer sein Judentum leugnen wollte, die nichtjüdische Umwelt wies ihn zum Judentum zurück. Auch diese Sicht von der Gruppenbildung durch Außenstehende hat i m Schrifttum viele Formulierungen gefunden. Schon Herzl schrieb prägnant 4 3 : „ W i r sind ein Volk — der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu." Sartres „Betrachtungen zur Judenfrage" 4 4 formulieren die These vom „ j u i f par autrui" und stellen alles auf die Umweltreaktion ab: "Est j u i f celui que les autres considèrent comme juif." Sartres Schrift ist 1946 gegen die inhumane nicht jüdische Umwelt geschrieben und ließe sich so zusammenfassen, daß es kein jüdisches Problem, sondern nur ein Problem der Nichtjuden gebe. Die Prägnanz seiner Formulierung beruht i n ihrer Einseitigkeit. U m wissenschaftlich brauchbar zu sein, muß sie u m die Komponente des jüdischen Selbstverständnisses ergänzt werden. Zu Recht formuliert daher Soliman: "Est j u i f quiconque se considère ou que les autres considèrent comme tels 4 5 ." Die Juden sind daher ein Volk, weil ein genügend großer Teil von ihnen sich als Volk betrachtet, und weil große Teile ihrer Umwelt sie als Volk ansehen. b) Die Notwendigkeit der nationalstaatlichen Lösung

Die zionistischen Klassiker haben eingehend dargelegt, daß nur eine nationalstaatliche Lösung die Judenfrage beantworten könnte. Ihre A r gumente wurden oben bereits vorgetragen 46 und ergeben sich auch zwangsläufig aus ihrer Analyse der Judenfrage. Hier ist nur noch von zwei möglichen Einwänden zu sprechen. — Nach zionistischer Ansicht findet ein Volk nur i n einem Nationalstaat ein menschenwürdiges Dasein, weil es nur dann über sein eigenes politisches Schicksal verfügen könne. Der Antizionist w i r d hier auf die historische Bedingtheit dieser Antwort, auf ihre Eingebundenheit i n europäische Gedankengänge des 19. Jahrhunderts und auf die unkritische Übernahme der Nationalbewegungen i m österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat durch Herzl hinweisen. — Schließlich wäre zu fragen, ob es wirklich keine andere Lösung geben könnte, wie etwa die Erziehung der nichtjüdischen Umwelt zur Toleranz. Für die unmittelbare europäische Vergangenheit ist die A n t 42 Auch die bedenkliche Freund-Feindlehre von C. Schmitt gehört i n diesen Zusammenhang. 43 u n d an anderer Stelle: „Die Nation ist eine historische Gruppe v o n Menschen v o n erkennbarer Zusammengehörigkeit, die durch den gemeinsamen Feind zusammengehalten w i r d " , s. Herzl, Zionistische Schriften, 2. Aufl. (1920). 44 Réflexions sur la question j u i v e (Paris 1946). 45 T M S. 269.

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1. Kapitel 1 c.

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1 Teil: Die Ausgangslage

wort gefallen: die Zionisten haben ihre nicht jüdische Umwelt richtig (wenn auch zu milde) eingeschätzt. Trotzdem fordert die zionistische Sicht zu einigen Überlegungen über den Antisemitismus heraus. Hier glaubt insbesondere der Araber, in seinem Bereich gegenüber den Juden ein überzeugendes Vorbild gegeben zu haben. Hierzu ist einiges zu sagen, und zwar zum einen über den europäischen Antisemitismus, zum anderen über die Lage der Juden in arabischen Ländern vor 1948 und schließlich zur arabischen Argumentation. — Der Antisemitismus hat neuerdings viele Erklärungsversuche erfahren. Jeder Versuch erhellt Aspekte, bleibt aber eigentümlich unbefriedigend. Psychologie und Anthropologie, Religionswissenschaft und Gruppenforschung, Erkenntnisse über Aggressionsneigung und Sündenbocktheorie tragen ein Scherflein bei. Aber kein Ansatz kann die persistente Judenfeindschaft der nicht jüdischen Umwelt rationalisieren, keiner kann die Endlösung erklären. Der Antisemitismus ist beschreibbar, aber kaum erklärbar, genausowenig wie der Hexenwahn. So unbefriedigend dies dem rational strukturierten Menschen erscheint — manche sehen bereits i m Nichtbefriedigtsein m i t gerade ihrer Erklärung eine antisemitische Prädisposition 47 —, so unbestreitbar ist dies. Der am ehesten einleuchtende Ansatz liegt in der Gruppenmentalität, i n derem zwangsläufigen Ethnozentrismus und ihrem Mißtrauen gegen Andersartigkeit. Der Zusammenschluß der Menschen zu Gruppen ist unerläßlich; damit ist jedoch zwangsläufig eine Gruppenmentalität verbunden, die dazu neigt, ihre eigenen Handlungsmuster und Wertüberzeugungen als natürlich und richtig anzusehen. Alles Andersartige erscheint dann bedenklich. Diese Andersartigkeit kann verschiedenster A r t , real oder bloßer Wahn („Rasse") sein, und sie kann höchst irrationale Formen annehmen 48 . Religion, Sprache, gemeinsame Institutionen, Ideologien, Lebensanschauungen, Berufe, Klassen, Hautfarbe waren die wichtigsten Gruppendistinktionen. Zu verschiedenen Zeiten werden Kriterien relevant oder bedeutungslos, wie etwa die Religion. Der so begründete Ethnozentrismus findet sich i n der Geschichte zwischen Völkern, die durch Grenzen getrennt sind und zwischen Gruppen, die ein Gebiet gemeinsam bewohnen. Führt dieser Ethnozentrismus zur Xenophobie und zu widersprüchlichen Forderungen, so mögen Kriege und Unterdrückung von Minderheiten erfolgen. A l l dies ist unzähligen Gruppen geschehen. 47 z. B. manche Beiträge i n H. Huss u n d A. Schröder (Hrsg.), Antisemitismus. Z u r Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft (1965). Bereits der T i t e l der Schrift zeigt das modische u n d bequeme Vorurteil: als sei der Antisemitismus n u r der bürgerlichen Gesellschaft eigen. 48 Die deutschen Germanomanen lehrten, daß lange Haare ein Zeichen des freien Mannes, kurzgeschnittene Haare ein Zeichen des Sklaven seien; sie erklärten den Bamberger Reiter m i t seinen schulterlangen Haaren zum Symbol des Deutschtums u n d duldeten doch gleichzeitig n u r kürzesten Haarschnitt.

. Kap.: Der

ische Nationalismus

ionis

41

Beim Antisemitismus überrascht seine Persistenz. Sie überdauert die Relevanz der Kriterien, ja das K r i t e r i u m selbst. Die meisten Gruppenfeindschaften werden nach einiger Zeit gleichgültig. I m 17. Jahrhundert haben sich christliche Sekten gegenseitig ausgerottet; i m 18. Jahrhundert haben sie sich zusammengefunden. Der Jude wurde zum Feind schlechthin. Nacheinander oder gleichzeitig war er der Feind des christlichen und des germanischen Volkes, des Arbeiters, des Bauern, der Bourgeoisie. Der Jude wurde zum Gegentyp schlechthin, zur Stereotype des Negativen, des Verächtlichen und diese Stereotype wurde getreulich tradiert. Jedes Zeitalter füllte sie bereitwillig mit den Unwerten ihrer Zeit aus. So konnte die ursprünglich religiös geformte Stereotype ohne weiteres mit wirtschaftlichen, nationalen und rassischen Erwägungen ausgefüllt werden. A n Gründen fehlte es nie; die hohe Ethik des Judentums galt seit der Antike den Nichtjuden als verabscheuungswürdiges Ritual, diabolisch ersonnen, um die jeweils i n Kurs stehenden Werte der Umwelt zu degradieren, von der Hostienschändung, den Ritualmorden bis zur Weltverschwörung der Weisen von Zion. So konnte der unchristliche Nationalsozialismus ohne Anstrengung diej christlich geformte Stereotype mit rassistischen Schlagworten füllen und zur tragenden Staatsideologie machen. So wurde das Volk der „Gottesmörder" einer Zeit, der der Tod des Juden Jesus wohl kaum nahe ging, zu rassischen Untermenschen. Und so artikuliert sich heute der europäische Antisemitismus oft als Arabophilie 4 9 , als Antiimperialismus und Antizionismus. Hat so jede Zeit ihren Antisemitismus, so findet jeder Antisemitismus auch seine scheinbar einleuchtende Erklärung. Oft wurde nachgewiesen, wie außer jüdische Gründe die Juden in bestimmten Gesellschaftsordnungen in einzelne Berufe abgedrängt haben und wie gerade diese w i r t schaftliche Sonderstellung wiederum zur Judenfeindschaft führte. Andere Zeiten wiederum haben sich an anderen Besonderheiten gestoßen. Aber warum wurden dann andere Gruppen nie zu einem Problem? Die deutschen Hugenotten waren zeitweise weniger integriert (französische Schulen); sie standen während der napoleonischen Zeit i n gefährlicher Doppelloyalität und sie waren i n bestimmten Berufen wie i m Offizierskorps überrepräsentiert; aber ihnen wurden stets die wertvollen Eigenschaften zugesprochen. Alle Erklärungen versagen schließlich aus prinzipiellen Gründen. Erklärungen gehen rational vor; der Antisemitismus aber ist Haß, und Haß ist irrational. Rationales Argumentieren muß das Irrationale notwendig verfehlen. So wenig wie der Antisemitismus erklärt werden kann, läßt er 49 z. B. Deutsche Nationalzeitung v o m 10. Januar 1969 „Verbrecherstaat Israel w i l l uns M o r a l lehren".

42

1 Teil: Die Ausgangslage

sich daher auch rational widerlegen. Die Menschen hassen nicht aus Gründen, aber sie finden welche; das Emotionale scheint ratiofest zu sein. Die neuere europäische Geschichte hat auch gezeigt, wie schwer der Antisemitismus auf rationaler Ebene zu bekämpfen war, und wie leicht etwa der Einfluß von Lessing und Mendelsohn auszumerzen war. Die Forschung hat auch gezeigt, wie wenig hier Aufklärung helfen konnte. Sie hat gezeigt, daß der Antisemitismus unabhängig von Beruf, Bildung, Klasse und Parteiung war. Was immer die Parteidogmatiker sagen mögen — der Antisemitismus war kein Privileg kleinbürgerlicher und rechter Parteien 50 . Er war auch unabhängig von Bildung: Voltaire, Savigny, Grimm, Richard Wagner, Treitschke waren nach allen denkbaren Kriterien gebildet. Die Zeiten deutschen geistigen Aufschwunges, des deutschen Idealismus i n der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, des wissenschaftlichen Aufschwunges bis zum 1. Weltkrieg, der 20er Jahre waren Zeiten virulenter Judenfeindschaft. — Die Araber fühlen sich durch die Argumente des permanenten A n t i semitismus nicht betroffen. Sie haben i n ihrem Bereich nie ein jüdisches Problem gesehen; für sie war die Judenfrage immer nur i m europäischchristlichen Räume gestellt. Für diese Sicht bringen sie vor, daß die islamische Religion die Juden schütze; daß es i n der Geschichte keine moslemisch-arabische Judenverfolgung gegeben habe; daß i n ihrem Denken der inhumane europäische Rassebegriff fremd sei; daß die i m arabischen Räume lebenden Juden keinerlei gedanklichen Beitrag zum politischen Zionismus geleistet hätten 5 1 . Weil die Araber den Antisemitismus als europäische Angelegenheit betrachten, ist der Slogan: „Eine Heimstatt für verfolgte Juden" für sie kein Argument; dann solle Europa diese Heimstatt i n Europa schaffen. A n den deutschen Vernichtungsaktionen hatten sie nicht teilgenommen, und daher lehnen sie auch eine Wiedergutmachung zu ihren Lasten ab. Statt aller Lotf allah Soliman, U n transfert de culpabilité, T M , S. 270 f.: "Car, en ce q u i concerne les Juifs, les Arabes, eux, n'ont rien à se faire pardonner. Pas de pogroms, pas de Dreyfus, pas de Treblinka . . . I l faut bien que nos amis européens, Juifs et autres, fìnissent par comprendre: i l n'y a rien dans notre histoire q u i puisse nous amener à admettre que les Juifs aient droit à u n vocabulaire particulier, à u n traitement ou à des égards particuliers. Pour nous, ce sont des hommes comme les autres, q u i peuvent étre victimes ou bourreaux comme les autres. L'holocauste des Juifs en Europe ne nous concerne que dans la mesure mème ou nous nous sentons concernés par l ' u n i 50

M a n lese E. Silberner, Sozialisten zur Judenfrage (1962). Lit : Baron , Bd. 3 ; S. D. Goitein, Jews and Arabs (New Y o r k 1965); S. Landshut , Jewish communities i n the M u s l i m countries of the Middle East (London 1950); Zionistische Darstellung: The Position of the Jewish Communities i n Oriental countries, i n : The Jewish Case before the Anglo-American Committee of I n q u i r y on Palestine (Jewish Agency for Palestine, Jerusalem 1947), S. 372 ff. 51

. Kap.: Der

ische Nationalismus

ionis

43

versel, par Hiroshima, par exemple, par le génocide des peaux rouges ou par le racisme anti-noir aux Etats-Unis ou en A f r i q u e du Sud. N'ayant été partie prenante dans cet holocauste en aucune manière, n i activement, n i par passività, nous ne cultivons aucun complexe de culpabilité, nous ne nous sentons aucune conscience coupable." Ferner Abdallah Laroui, U n problème de l'occident, T M , S. 295 ff.

Nun kann hier nicht das Verhältnis der Araber zu den i n ihren Ländern lebenden Juden dargelegt werden. Vom 7. Jahrhundert bis 1948, von Marokko bis zum Indischen Ozean, i m vergleichsweise fortgeschrittenen Ägypten und i m mittelalterlichen Jemen, i m französisch beherrschten Algerien und i m türkisch regierten Syrien gab es offensichtlich viele jeweilige Verhältnisse. Aber es kann nicht genügend betont werden, daß die arabische Sicht i m Ganzen richtig ist, und daß der Islam gegenüber den Juden nahezu immer tolerant war, wenn man ihn m i t dem Christent u m vergleicht, mag es das byzantinische, das lateinische oder das osteuropäische Christentum sein. I n der langen Geschichte gab es i n begrenzten Gebieten Zeiten der Intoleranz, aber es gab nie und nirgends Pogrome, wie i n Westeuropa bei Ausbruch der Kreuzzüge oder i n Osteuropa i m 18., 19. und 20. Jahrhundert. Nirgends ist von Massakern berichtet, wie sie die christlichen Kreuzritter beim Auszug aus Westeuropa oder bei der Einnahme von Jerusalem veranstalteten. Nach der Austreibung aus Spanien und Portugal fanden die meisten Juden i m heutigen arabischen Raum Aufnahme. Wie immer man als Europäer den Islam sehen mag — und sei es auch nur m i t Unverständnis —, er hat sich i n bemerkenswerter Weise freigehalten von epidemischem Wahnsinn, der in verschiedenen Formen (Judenfeindschaft, Inquisition, Hexenwahn) das Christentum über große Strecken begleitet hat. Die spezifisch antisemitischen Beschuldigungen des Christentums, vom Gottes- bis zum Ritualmord fehlen i m Islam vollständig 5 2 . Auch genauere Forschung fördert wenig mehr zutage. Jüdische Gemeinden scheint der Islam nur i n seiner allerersten Zeit i m Kampf um die Ausbreitung i n Nordarabien vernichtet zu haben. Ansonsten forderte er stets Unterwerfung (und Steuerzahlung) und ging gegenüber Christen und Juden nicht auf Vernichtung aus. Die wenigen Gegenbeispiele der zionistischen Literatur sind eher lokale Friktionen und der mitunter ausgerufene „Heilige Krieg" scheint nirgends stattgefunden zu haben. Wenn von der großen Toleranz des Islams die Rede ist, dann heißt dies nicht, daß das Los der Juden stets beneidenswert war. Die Juden waren „Schutzbefohlene" und nur die Moslems vollberechtigt — was immer dies i n halbfeudalen Gesellschaften bedeuten mochte. Juden hatten eine ähnliche Stellung wie i n den jeweils guten Zeiten des europäischen Mittel52 Selbst die bekannte Damaszener Blutbeschuldigung 1840 w a r eine französisch-kapuzinische Kabale, JL, „Damaskus Affäre".

44

1 Teil: Die Ausgangslage

alters bis zur Aufklärung: eigenes religiöses Leben, eigene Gesellschaftsstrukturen mit zahlreichen rechtlichen Einschränkungen, die je nach Ort und Zeit schikanös bis zum Unerträglichen werden konnten; insbesondere der Jemen war hierfür berüchtigt 5 3 . Diese Situation kann hier nicht ausführlicher dargestellt und schon gar nicht beurteilt werden. Denn die Beurteilung ginge von gegenwärtigen Vorstellungen aus, die sie eventuell unreflektiert auf die Vergangenheit übertrüge. Dann würde der Betrachter feststellen, daß den Juden i m arabischen Räume zwar Kulturfreiheit zustand, daß sie aber nicht vollberechtigte Staatsbürger m i t allen politischen Rechten waren; natürlich ist die gesamte Terminologie für die Vergangenheit inadäquat: es gab keinen „Staat" und also keine „Staatsbürger". Jedenfalls weisen die Araber darauf hin, daß große Teile der Juden sich i m arabischen Räume assimilieren konnten und wollten; die Forschung bestätigt dies. Sie machen geltend, daß es vor der Zionistischen Bewegung keine jüdischen Emanzipationsbestrebungen i n ihrem Gebiet gab, woraus sie das mangelnde Bedürfnis hierzu ableiten. Die Diskussion selbst ist endlos und gleicht einem Dialog zwischen Taubstummen. Die arabische Seite verweist auf ihre Toleranz. Die zionistische Seite macht geltend, daß in einem theokratisch orientierten Staat, i n dem sich religiöse, gesellschaftliche und staatliche Normen nicht trennen lassen, der Nichtangehörige der Staatsreligion zwangsläufig ein Bürger zweiter Klasse sei — wie auch der Nichtjude in Israel. I m übrigen ging es dem Zionismus nicht um Toleranz und also um das immer prekäre Wohl verhalten der Mehrheit: er wollte den jüdischen Minderheitsstatus selbst beenden. Vor allem sei für die Juden i m arabischen Raum ebenfalls kein eigenes nationales Leben möglich, meint der Zionist; kein orientalischer Jude habe dies je gefordert, repliziert der Araber. Er ist vielmehr davon überzeugt, daß seine Juden sich i m Laufe der allgemeinen Säkularisierung voll assimiliert und die volle Gleichheit errungen hätten 5 4 . Die jüdische Seite verweist dagegen auf die allgemeinen Integrationsschwierigkeiten der Minderheiten i m arabischen Räume (Kurden, Drusen, Südsudanesen); der Zionist lehnt die Assimilierung überhaupt ab. Schließlich verweist die zionistische Seite auf die Judenverfolgungen, die i m arabischen Raum i m Zuge der Staatsgründung Israels 55 und später 56 stattfanden, und stellt die Frage, wieso es zu der großen Ein53 Besonders unerträglich erschien den Juden, daß i m Jemen jüdische W a i sen zwangsweise als Moslems erzogen werden (was durch Frühheiraten z. T. verhindert werden konnte). Aber verglichen m i t deutschen Maßnahmen gegenüber jüdischen K i n d e r n i m 20. Jahrhundert k a n n dies nur als A k t der Fürsorge gelten. 54 Zweifelnd m i t antisemitischen Untertönen: Benziane, T M , S. 333 f. 55 z. B. A n t i - J e w i s h Riots i n Tripolitania, i n : The Jewish Case, S. 392 ff. 50 z.B. Kairoer Schwarzer Sonntag 26.1.1952; die Spionageprozesse i m Irak.

. Kap.: Der

ische Nationalismus

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45

wanderungswelle aus arabischen Ländern gekommen sei, wenn es den Juden in arabischen Ländern erträglich gegangen sei. Dies ist allerdings ein so komplexes Problem, das hier nicht weiter verfolgt werden kann. Der Exodus der algerischen Juden (größtenteils nach Frankreich) erklärt sich damit, daß die Juden seit langem den Status französischer Bürger hatten, w o durch sie von der arabisch-algerischen Bevölkerung getrennt wurden; viele sehen i n der Verleihung des französischen Bürgerrechts an eine Gruppe eine imperialistische Beherrschungstechnik. Bez. der irakischen Juden müßte die Behauptung geprüft werden, erst die Jewish Agency habe 1947 durch Bombenanschläge u. ä. ein K l i m a geschaffen, das die dortigen Juden zur Ausreise veranlaßt habe, s. Lilienthal, What Price Israel, S. 197. Bez. der jementischen Juden müßte zunächst eine politische u n d rechtliche Darlegung der allgemeinen Verhältnisse des Jemen u n d die Geschichte ihrer Ausreise vorangehen; hierfür sei auf die recht umfangreiche L i t e r a t u r v e r wiesen. c) Der jüdische Anspruch auf Palästina Schrifttum: A l l e Werke über Zionismus, insbesondere ESCO, Bd. 1; E. Frankenstein, Justice for M y People. The Jewish Case (London 1943; New Y o r k 1944); Mallison. Aus der Dokumentarliteratur: The Historical Connection of the Jewish People w i t h Palestine. Memorandum submitted to the Palestine Royal Commission on Behalf of the Jewish Agency for Palestine, Jerusalem 1936, 1938; Memorandum der Zionistischen Organisation an den Obersten Rat der Pariser Friedenskonferenz v o m 3. Februar 1919; Hurewitz, Dok. 21; The Jewish Case before the Anglo-American Committee of I n q u i r y on Palestine. Statements and Memoranda (Jerusalem, Jewish Agency for Palestine, 1947), Political Memorandum Kap. I I , S. 265 ff. Unabhängigkeitserklärung des Israelischen Staates v o m 14. M a i 1948, Laqueur Dok. 26. Z. Werblonsky, Israel et Eretz Israel, T M , 371 ff.; Sh. Ettinger, Le peuple j u i f et Eretz Israel, T M , S. 394 ff. Arabische Darstellungen: v o r 1. Kapitel; ferner: Hadawi, Les revendications „bibliques" et „historiques" des sionistes sur la Palestine, T M , S. 91 ff.; ders., Bitter Harvest, I I I ; Sayegh, Do Jews have a „ d i v i n e r i g h t " to Palestine?, in: Palestine (hrsg. von der Palestine Liberation Organisation Research Center, Beirut), S. 14 ff.

Diesen Anspruch begründet eine eingehend ausgearbeitete Lehre vom historischen

Recht des jüdischen

Volkes

auf Palästina.

N a h e z u a l l e israe-

lischen Parteien halten an dieser Vorstellung fest, einschließlich der Kommunistischen Partei Israels. Statt „historischem Recht" heißt es oft „historische Verbindung" 57. Diese Terminologie entstammt der Präambel des Palästinamandats von 1920. Es gelang damals den Zionisten nicht, die völkerrechtliche Anerkennung ihres histo57

s. Stoyanovsky

(vor 11. K a p i t e l 2), S. 61 ff.

46

1 T e i l : Die Ausgangslage

Tischen Rechts zu erreichen, u n d sie mußten sich m i t der Anerkennung der „historischen Verbindung" zufriedengeben. Nach zionistischer Ansicht besteht kein Unterschied. Die völkerrechtlichen Dokumente sprechen von historischer Verbindung; die israelischen Dokumente stets von historischem Recht 5 8 . I n der Zeit zwischen der B a l f o u r - E r k l ä r u n g bis zum Mandat sprachen die Zionisten noch präziser v o n einem „historischen Rechtstitel" u n d versuchten, diesen Begriff i n das Mandat zu bekommen. Großbritannien lehnte diesen Begriff ab, da i h m aus „Rechtstitel" zu unvorhergesehene Verpflichtungen erwachsen k ö n n ten. „Historische Verbindung" w a r der erreichte Kompromiß.

Diese historischen Rechte halten die prozionistischen Juden noch heute für stärker als alle Rechte aus Balfour-Erklärung, Palästina-Mandat, tatsächlicher Inbesitznahme und Beschlüssen der Vereinten Nationen; diese Rechtstitel scheinen ihnen mehr zufällig, während ihre historischen Rechte essentiell sind. Diese Rechte scheinen ihnen auch stärker als die Rechte der palästinensischen Araber. Die gesamte Argumentation läßt sich auch nicht damit abtun, daß zumindest dem heutigen Staate Israel unter Berufung auf den völkerrechtlichen Grundsatz der Effektivität und auf die Anerkennung durch Vereinte Nationen und die Mehrzahl der Staaten die völkerrechtliche Existenz zugesprochen wird. Denn weit über dieses Recht hinausgehend beanspruchen Israel und alle prozionistisch eingestellten Juden ein Recht der Juden i n aller Welt auf Palästina. Zur Begründung dieses historischen Rechtes auf Palästina bringt die zionistische Ideologie religiöse, geschichtliche und modern-völkerrechtliche Argumente vor. Sie sollen sämtlich die enge, einzigartige Verbindung mit Palästina

zeigen u n d d a r ü b e r h i n a u s d e n Rechtstitel

des

jüdi-

schen Volkes auf Palästina beweisen. Die wichtigsten Argumente sind: — göttliche, i n der Bibel niedergelegte Versprechungen an das jüdische Volk59; — die Tatsache der vormaligen Besiedlung Palästinas durch die Juden und des jüdischen Gemeinwesens i n Palästina; — die Abstammungsthese: die heutigen Juden seien die Nachkommen der ehemaligen Bewohner des jüdischen Gemeinwesens i n Palästina 6 0 ; — die These von der Vertreibung und vom Exil: das jüdische Gemeinwesen sei nicht nur von Rom vernichtet, sondern seine Bewohner seien auch ins E x i l getrieben worden 6 1 ; — die fortdauernde Verbindung des exilierten jüdischen Volkes m i t Palästina. Für diese fortdauernde Verbindung führt die zionistische Ideologie insbesondere an: 58

z. B. mehrfach i n der Unabhängigkeitserklärung v o m 14. M a i 1948. s. ausführlicher i m folgenden. Z u r Abstammungsthese s. 1. K a p i t e l 2a. Z u r rechtlichen Bedeutung der These s. i m folgenden. 61 s. ausführlich i m folgenden. 59

60

. Kap.: Der

ische Nationalismus

ionis

47

— das f o r t d a u e r n d e B e w u ß t s e i n des j ü d i s c h e n Volkes, i m „ E x i l " z u leben62; — die S o n d e r s t e l l u n g Palästinas i n der jüdischen L i t u r g i e u n d i n Gebeten u n d Bräuchen.

Religion,

i n der

Die jüdische Religiosität, L i t u r g i e u n d selbst die Gebete sind i n hohem Maße auf Palästina ausgerichtet. Jede zionistische Darstellung bringt hierfür zahlreiche Beispiele, s. etwa JL, „Palästina. V. Der Palästina-Gedanke i m J u dentum". — D i e S o n d e r s t e l l u n g Palästinas i n der jüdischen den J u d e n s t a a t herbeisehnende L i t e r a t u r ;

Literatur

63

;

u n d die

— das V e r h a l t e n d e r J u d e n außerhalb Palästinas, z. B . d e r i m b a b y l o nischen E x i l gefaßte Entschluß, a u ß e r h a l b Jerusalems k e i n e n T e m p e l zu e r r i c h t e n 6 4 ; — d i e vorzionistische B e s i e d l u n g Palästinas d u r c h jüdische G r u p p e n , die zu einer u n u n t e r b r o c h e n e n Präsenz v o n J u d e n i n P a l ä s t i n a g e f ü h r t hätten65; — die zahlreichen ν orzionistischen Pläne zur jüdischen Besiedlung Palästinas66.

u n d gescheiterten Versuche

Als Anfänge der vorherzl'schen Besiedlung gelten die A k t i o n e n russischjüdischer Gruppen wie der Bilu u n d der Choveve Zion, die seit 1870 bäuerliche Gemeinschaften i n Palästina gründeten. Ihre Ungeschultheit brachte sie nahe an den Abgrund, u n d n u r die großzügige Hilfe Rothschilds hielt sie über Wasser. Ihre Schwierigkeiten und i h r Abgehen von zionistisch-sozialistischen Idealen führte zu einer großen Diskussion i m Zionismus u n d führte vor allem zu einer gründlichen Schulung der jüdischen Farmer-Pioniere, zur zentralen Leitung der Besiedlung durch zionistische Organe und zur Betonung der „jüdischen Arbeit". Literatur: alle Werke über Zionismus, unter Stichworten wie „ B i l u " u n d „Choveve Zion" (auch: Hoveve Zion). — D e r T a u m e l , der die gesamte jüdische W e l t r e g e l m ä ß i g b e i m A u f tauchen eines angeblichen Messias e r g r i f f , der das V o l k nach P a l ä s t i n a zurückzuführen versprach 67; 82

s. ausführlich i m folgenden. s. etwa: A. S. Halkin (Hrsg.), Zion i n Jewish Literature (New Y o r k 1961); weitere Nachweise i n J L „Palästina V " . M a n mag etwa darauf verweisen, daß der antizionistische u n d kommunistische A u t o r I I j a Ehrenburg seinen antizionistischen Helden Lasik Roitschwantz immerhin am Grabe der Rachel sterben läßt. 64 hierzu insbesondere Baron, Bd. 2. 85 hierzu muß auf die allgemeinen Werke zur jüdischen Geschichte verwiesen werden. 88 Über die verschiedenen Pläne u n d Versuche berichtet N. M. Gelber, Z u r Vorgeschichte des Zionismus: Judenstaatsprojekte i n den Jahren 1695 - 1845 (Wien 1927). 87 s. hierzu JL, „Messianische Bewegungen"; insbesondere Graetz und Dubnow zu Zabbataj Zewi u n d zu Frank. 63

1 T e i l : Die Ausgangslage

48

— die fortdauernde Anteilnahme

der Diasprora-Juden

am Schicksal

Palästinas sowohl vor wie nach der Staatsgründung Israels; — völkerrechtliche

Anerkennung

dieses historischen Rechts durch die

Staatengemeinschaft in Form von Balfour-Erklärung, Völkerbundsmandat, Beschlüsse der Vereinten Nationen, Anerkennung durch die Mehrzahl der Staaten 68 . Die verschiedenen Argumente sind offensichtlich sehr heterogener A r t u n d z. T. n u r schwer zu modernen völkerrechtlichen Vorstellungen i n Beziehung zu setzen. Der Jurist neigt hier zu einer Zweiteilung u n d zu fragen: ist die zionistische Sachdarstellung richtig (z.B. die Thesen von der Abstammung u n d der Vertreibung)? U n d falls sie z u t r i f f t : ergibt sich daraus ein Rechtstitel? Falls die zweite Frage zu verneinen ist, könnte die erste ununtersucht bleiben. Falls das moderne Völkerrecht aus göttlichen Versprechungen nichts herleiten kann, könnte i h r Vorliegen dahinstehen. Damit würde jedoch die gegenwärtige Diskussion verfehlt. Das Forum der Weltgeschichte scheint seine eigene Logik zu haben.

Die biblischen Versprechungen

Gottes an das jüdische V o l k werden

noch immer allen Ernstes diskutiert. Zionistische Staatsmänner beriefen sich zu allen Zeiten darauf 6 9 ; keine zionistische Darstellung läßt die entsprechenden Bibelstellen aus 70 : juristische und politische Werke diskutieren sie 71 . Auch arabische Autoren lassen sich ernsthaft auf diese Diskussion ein 7 2 . Hierbei handelt es sich um — göttliche Versprechen an Abraham 7 3 , später an Isak und Jakob auf das Gebiet des späteren Palästinas; — Prophezeiungen der Propheten während des babylonischen Exils auf Rückkehr, Wiedererrichtung des Tempels und der Stadtmauer von Jerusalem sowie des religiösen Lebens des jüdischen Gemeinwesens. Wer immanent argumentieren mag, kann sich erinnern, daß der „Same Abrahams" auch eine arabische Linie aufweist: Abrahams erstgeborener Sohn, Ismael, gilt als ihr Stammvater; gleiches gilt für Abrahams zweite Frau Ketura. Er mag sich auch mit der Frage auseinandersetzen, ob das an Isak und Jakob wiederholte Versprechen eine Einschränkung auf den jüdischen Stamm bedeutet. Angesichts der Vermischungen, Konversionen, Proselyten und der Tatsache, daß das jüdische Abstammungs08

s. i m folgenden. z.B. Weizmann vor der königlich britischen (Peel-)Kommission 1937: die echte Charta des jüdischen Volkes sei das göttliche Versprechen auf Palästina. 70 z. B. The historical Connection . . . , S. 4. 71 ζ. Β . (Peel-)Bericht 1937 Ziffer 24. 72 ζ. Β . Hadawi; Sayegh, die ihre antizionistische Interpretation auf christliche u n d jüdische Theologen u n d Bibelliteratur stützen. 73 Genesis (1. Buch Moses) 12,7: „Deinem Samen w i l l ich dieses L a n d geben." 69

. Kap.: Der

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recht seit langem mutterrechtlich orientiert ist, mag er zu der Erkenntnis kommen, der Same Abrahams sei nicht mehr feststellbar. Der moderne Mensch kann i m Streit um den Samen einer mythologischen Persönlichkeit höchstens Metaphern sehen, wobei „Samen", „ B l u t " , „Nachkommen" bald als Methaphern für naturwissenschaftlichbiologische Vorstellungen, bald für geistige und mythische Vorstellungen stehen. Das ließe sich mit zahllosen Autoren belegen. Schon Maimonides schrieb, daß Abraham Vater aller ist, die sich zum Judentum bekennen, und Rosenzweig formulierte i n modernen Termini, daß „ B l u t " i n all seiner fleischlichen Gebundenheit eine Kategorie des Geistes sei, daß der Blutzusammenhang nur um seiner symbolischen Einheit willen aufrechterhalten werde. Nicht anders drückt sich ein arabischer Autor zur Begründung der arabischen Nation aus: "What is important i n racial kingship is not the tie of Blood in itself but the belief in its existence 74 ." Was immer auch dahinter sein mag, derartige Methaphern von einem „Heiligen Körper" 7 5 überzeugen nur den Überzeugten. Sie mögen ein Selbstverständnis begründen, aber sie können keinen Gegner überzeugen. Metaphern hat auch der Araber. Soweit es u m die prophetischen Verheißungen der Rückkehr geht, mag man einwenden, sie bezögen sich auf ein spezifisches Exil, das babylonische, und seien m i t der (partiellen) Rückkehr und dem Bau des zweiten Tempels und der politischen Unabhängigkeit unter den Makkabäern erfüllt. A u f alle folgenden Exile erstreckten sie sich nicht. U m diese biblischen Verheißungen ist es eigentümlich bestellt. Sie waren eine starke Triebkraft des Zionismus, und sie fixierten schließlich die zionistische Bewegung auf Palästina. Da das alte Testament zum Gemeingut dér europäisch-amerikanischen K u l t u r gehört, war hier die politische Meinung zum Zionistischen konditioniert und konnte der Zionismus maßgebliche nichtjüdische Staatsmänner für seine Ziele mobilisieren. Untersucht man aber die etwaige Rechtsqualität der biblischen Verheißungen in den Kategorien des modernen säkulariserten Völkerrechts, so w i r d bereits die Formulierung dem Juden als Blasphemie erscheinen. Als Rechtstitel sind sie nach gegenwärtigen völkerrechtlichen Vorstellungen nicht diskutierbar. Dem Araber erscheinen die biblischen Versprechungen an die Juden auf normativer Ebene so irrelevant wie irgendein mythologisches Buch und, zudem falsch interpretiert. Angesichts des vorwiegend areligiösen Charakters des Zionismus und der führenden israelischen Parteien erscheint ihm die Berufung auf göttliche Versprechen zynisch und heuchlerisch 70 . Jedoch kann auch der moderne Mensch die biblischen Verspre74 75 76

Husani zit. nach Nuseibeh (vor 2. Kapitel), S. 89. T i t e l eines Aufsatzes von J. Bloch, i n : Judentum i n der Krise (1966). z. B. T. Benziane, Le problème palestinien et la question quive, T M 317.

4 Wagner

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1 T e i l : Die Ausgangslage

chungen i n seinen Kategorien formulieren: Als damaliger Ausdruck der engen Verbundenheit und der Sehnsucht der Juden mit und nach Palästina. Es ist daher auch gleichgültig, ob der zionistische Autor diese Versprechen m i t Überzeugung als Rechtstitel anführt, oder nur die jüdische Überzeugung formuliert. Wenn die Juden ihre Verbundenheit i n die Form göttlicher Versprechen gekleidet haben, so war dies i n religiös bestimmten Zeiten die stärkstmögliche Ausdrucksform und als Zeugnis dieser Verbundenheit kann sie auch eine säkularisierte Welt verstehen und i n ihre Kategorien umformulieren. Damit wechseln die biblischen Versprechen ihren Charakter. Sie sind nicht mehr objektive Rechtsnormen, sondern objektive Bezeugungen für etwas Subjektives: für die innerliche Verbundenheit. Z u r völkerechtlichen Bedeutung s. unten.

Daher zeigt sich: wer den Zionismus verstehen w i l l , muß von der Bibel ausgehen. Die Bibel hat den Juden geprägt, mag er selbst atheistisch sein, so wie auch der nichtgläubige Europäer von christlichen Vorstellungen und christlicher Pietät geprägt ist und etwa bei antichristlicher Blasphemie zumindest stockt. Ist man sich dieser vorrationalen Durchdrungenheit bewußt, dann w i r d man sie aus dem gesamten zionistischen Schrifttum herauslesen. I n welchen zeitbedingten Kategorien diese Palästinaverbundenheit artikuliert wird, ist dann ziemlich gleichgültig; sie mag sich rationalistisch, romantisch 77 , i n den Kategorien der Nationalstaatsidee ausdrücken; sie mag rassistisch daherreden 78 , mystisch reflektieren 7 9 , mag sich sozialistisch-tolstoiianisch 80 oder marxistisch artikulieren 8 1 : die Formulierung ist i m Grunde nur eine technische Aufgabe, die mehr oder weniger brillant gelöst sein mag, die Transformierung ein und desselben Themas i n andere Tonarten. Jüdische Antizionisten sehen die Verbindung zu Palästina anders. I n ihrer Sicht ist Palästina ein religiöses, geistiges, kulturelles und emotional-bindungsmäßiges Zentrum. Für viele Religionen gibt es solche Zentren, denen ihre Anhänger sich verbunden fühlen und für deren Befreiung von „Ungläubigen" sie zu kämpfen bereit sind, ohne daß ihre Weltanschauung sie verpflichten würde, dort i h r staatliches Leben zu organisieren. Palästina ist ihnen eine geistige Dimension, die lediglich mit Worten wie „Heimat" und (umgekehrt) „ E x i l " inadäquat ausgedrückt ist. Die Vertreibungsthese mag hier kurz so skizziert werden: Bis zu den römischen Kriegen 8 2 und der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. war die 77 78 79 80 81 82

So etwa die frühen Schriften M a r t i n Bubers zum Zionismus. z. B. S. Landmann, Die Juden als Rasse (1967). z. B. Rabbi Kook. z. B. Gordon. 1. K a p i t e l 4. 66 - 70 n. Chr. u n d der B a r - K o c h b a r - A u f stand v o n 133 - 135 n. Chr.

1. Kap.: Der jüdische Nationalismus (Zionismus)

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jüdische Nation eine Nation wie die anderen. Die Kriege führten nicht nur zur Vernichtung eines jüdisch-politischen Gemeinwesens, sondern auch zur Vertreibung des jüdischen Volkes aus seinem Heimatlande Palästina und zu seiner Zerstreuung i n aller Welt. Aber i m E x i l hat das jüdische Volk nicht nur seinen Charakter als Volk bewahrt, sondern auch niemals den Anspruch auf Palästina, niemals die Sehnsucht nach Zion und niemals die Hoffnung auf Rückkehr aufgegeben. Statt aller sei n u r zitiert: aus dem v o n der Zionistischen Organisation der Friedenskonferenz 1919 vorgelegten Memorandum, i n dem es unter „The Historie T i t l e of the Jews to Palestine" heißt 8 3 : The claims of the Jews w i t h regard to Palestine rest upon the following m a i n considerations: (1) The land is the historic home of the Jews; there they achieved their greatest development, from that centre, through their agency, there emanated spiritual and moral influences of supreme value to mankind. B y violence they were driven from Palestine, and through the ages they have never ceased to cherish the longing and the hope of a return." Ferner noch aus Historical Connection . . . , S. 39: "The Jews were driven out of Palestine by the overwhelming forces of the Assyrian and Roman E m p i r e s . . . " "Though the m a j o r part of the nation was forced into exile." Aus der Unabhängigkeitserklärung Israels v o m 14. M a i 1948: " E x i l e d from the land of Israel the Jewish people remained f a i t h f u l to i t i n a l l the countries of their dispersion, never ceasing to pray and hope for their return and the restauration of their national freedom."

Diese Sicht ließe sich m i t beliebig vielen Zitaten aus der zionistischen und jüdischen Literatur belegen. Sie ist auch nicht auf den Zionismus beschränkt, sondern ist auch die christliche Sicht gewesen, nach der das „verfluchte V o l k " zur Strafe für die Kreuzigung Gottes vertrieben wurde. Und weil die Juden sich verstockt weigerten, Christus anzuerkennen, sei nationales Unglück über sie gekommen, habe Gott sie aus ihrem Lande vertrieben, i h r Land Fremden zum Erbteil gegeben und sei das E x i l ihr irdisches Los. Und wenn die katholische Kirche sich gegen Zwangstaufen und Judenmassaker jemals ausgesprochen hat, dann meist m i t dem Argument, das jüdische E x i l sei Zeuge für die christliche Wahrheit. Auch der europäische A n t i semitismus hat stets so argumentiert: die aus Palästina vertriebenen Juden seien und blieben Fremdkörper i n den europäischen Völkern, und daher sollten sie nach Palästina zurückkehren. So ist es verständlich, daß auch nichtjüdische pro-zionistische Autoren ziemlich gedankenlos beginnen: „Seit der Vertreibung der Juden aus ihrer Heimat durch die Römer verließ sie nie die Sehnsucht nach dem Land ihrer Väter 8 4 ." 83

8. K a p i t e l 1. A n m . 1. Statt aller: M . Klesse, V o m alten zum neuen Israel. E i n Beitrag zur Genese der Judenfrage und des Antisemitismus (1965), S. 325. 84

4*

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1 Teil: Die Ausgangslage

„Vertreibung", „ E x i l " , „Rückkehr" und die damit verbundene Terminologie sind ein Beispiel dafür, wie ein bestimmtes Deutungsschema die Geschichte erfaßt, nur bestimmte Fakten dieser Geschichte einfängt, sie entsprechend interpretiert, und die diesem Deutungsschema nicht entsprechenden Fakten schlicht nicht sieht. So haben die Juden ihre Geschichte gesehen, und sie haben in diesen Kategorien selbst ihre vor der eventuellen Vertreibung liegende Geschichte erklärt. M i t der Terminologie hat der Westen die zionistische Ideologie, ihr Geschichtsbild und ihr politisches Wollen übernommen: Land der Väter, Vertreibung, Zerstreuung, E x i l prädisponieren psychologisch zwingend für Rückkehr und Wiedererrichtung des jüdischen Staates. Es ist dem Zionismus gelungen, die westlichen Politiker so bereits durch die Wortwahl für seine Pläne zu konditionieren: alle alliierten Staatsmänner (Balfour, Lloyd George, Smuts) drückten sich nie anders aus als i n Wendungen wie „again rendering", „restoring the ancient home of the Jews", „reconstituting the home". Und nicht umsonst hat der Zionismus große politische A n strengungen auf die redaktionelle Fassung der völkerrechtlichen Dokumente verwandt, insbesondere auf „Wiedererrichtung" des jüdischen Nationalheims statt bloßer „Errichtung". Diese Sicht entsprach dem Stande der jüdischen Geschichtsschreibung zur Zeit der Entstehung des politischen Zionismus. Repräsentativ hierfür sind die Werke von Graetz und Dubnov, die sich hierbei weitgehend auf die antiken Autoren stützen. Die neuere Forschung schreibt die Geschichte nicht um, aber sie setzt manche Akzente anders 85 . Die geschichtliche Tatsache ist das babylonische Exil, in das nach dem Fall von Juda 586 v. Chr. ein Teil der jüdischen Bevölkerung überführt worden war. Die Deportation von Teilen der Bevölkerung war i m assyrischen und babylonischen Reiche eine Kriegsmaßregel; sie hat viele Völker getroffen und auch die Juden der beiden Reiche 86 . Aber die anderen deportierten Völker gingen unter, d. h. sie verloren ihre volkliche Identität und gingen in der Umwelt auf. Nur die Juden wollten und konnten sich trotz Deportation als Volk bewahren. Sie schufen eine große jüdische Gemeinde i m babylonischen Gebiet, das zeitweise die geistige Führung im Judentum ergriff. Erst 1948 hörte die mesopotamische Judenheit zu bestehen auf, als 140 000 irakische Juden nach Israel einwander85 Für das folgende stütze ich mich vornehmlich auf jüdische Historiker, insbesondere auf Baron u n d M. Avi-Yonah, Geschichte der Juden i m Zeitalter des T a l m u d i n den Tagen von Rom und Byzanz (1962). Ferner: A. Bailey and Ch. Kent , History of the Hebrew Commonwealth, 2. Aufl. (New Y o r k 1949) ; K . Galling, Studien zur Geschichte Israels i m persischen Zeitalter (1964); P. F.-Μ. Abel, Histoire de la Palestine depuis la conquète d'Alexandre jusqu'à l'invasion arabe, 2 Bde. (Paris 1952). 86 Bereits 722 ν. Chr. wurden Teile der Bewohner des nördlichen Königreichs (Israel) deportiert; diese Bewohner galten als die Nachfolger der 10 Stämme u n d gelten seitdem als „verschollen".

. Kap.: Der

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ten. Das babylonische E x i l i n seiner „strengen" Form dauerte nur eine Generation: bereits 538 gestattete der Perserkönig Darius den deportierten Juden die Rückkehr nach Palästina. Die Historiker nehmen an, daß zur Zeit der Rückkehr aus dem babylonischen E x i l mehrere hunderttausend Juden i m damaligen Perserreich lebten, während nur ungefähr 55 000 (einschließlich 7000 Sklaven) nach Palästina zurückkehrten 87 . Die Historiker fragen, wieso gerade das jüdische Volk die Deportation überstanden hat. Sie sehen die Erklärung in der geistigen Vorbereitung des jüdischen Volkes durch seine Propheten, die ihm das E x i l als Strafe für seine Sünden und als zeitlich beschränkte Läuterung prophezeit hatten. M i t diesem Geschichtsbild versehen, erschien den Juden die Deportation nicht als blindes Fatum, sondern als von Gott verhängte Strafe, die bei aller Härte mit dem Einverständnis des zeitlich Begrenzten verbunden war. Diese Sicht des Exilschicksals hat dem jüdischen Volke i m Gegensatz zu anderen Völkern der Antike das Überleben gebracht. Das babylonische Exil, seine Prophezeiung sowohl des Eintritts wie der Beendigung, und die Erfüllung dieser Vorhersage bestimmten verständlicherweise das jüdische Selbstverständnis der biblischen Zeit, und die Kategorien „Sünde" und „hierfür Strafe m i t E x i l " übertrugen sich leicht auf jede Trennung von Palästina. So konnte rückwirkend der Aufenthalt einiger hebräischer Stämme 88 in Ägypten als E x i l des ganzen jüdischen Volkes und konnte die Landnahme Kanaans unter Joschua bereits als „Rückkehr in das Land der Väter" gesehen werden, und konnte später jede Zerstreuung, jedes Leben von Juden außerhalb Palästinas, jede Existenz von Jüdischen Gemeinden i n der Diaspora als E x i l und als Leben in Feindesland verstanden werden, gleichgültig, ob diese Juden freiwillig ausgezogen, oder ob es sich um bekehrte Judengemeinden i n der Welt handelte, wie etwa die zum Judentum bekehrten südarabischen Jemeniten oder die Chasaren. Und jede Diaspora erscheint dann als Exil, erscheint in religiöser Sicht als Strafe für Sünde, in national jüdischer Sicht als ein Unglück, beide Male aber als unnatürlich und vorübergehend, jedenfalls als zu beheben. Aber die Kategorien „Vertreibung" und „ E x i l " erfassen die jüdische Geschichte nicht vollständig. Nun könnten Geschichtsbild und Selbstverständnis eines Volkes weitgehend dahinstehen — wenn aus seinen konstituierenden Kategorien nicht der Anspruch auf Palästina hergeleitet würde, das ein anderes Volk aufgrund anderer Kategorien reklamierte. Gerade an diesem inadäquaten Deutungsschema setzen aber Araber und Antizionisten an, um den zionistischen Anspruch auf Palästina zu bestreiten: 87 88

Nachweise bei Baron, Bd. 1, S. 161. Baron, Bd. 1, S. 199.

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1 T e i l : Die Ausgangslage

Bereits für die römische und nachrömische Geschichte ist die Sicht vom E x i l nicht adäquat. "The Jews were driven out of Palestine by the overwhelming forces of the Assyrian and Roman Empires . . h e i ß t es i n zionistischen Dokumenten. Das t r i f f t für die jüdische Gemeinde i m babylonischen Gebiet zu, und auch nach Ägypten waren vor den babylonischen Heeren die Juden geflohen. Aber die großen jüdischen Gemeinden der Antike außerhalb Palästinas, die Gemeinden i n Syrien, Kleinasien, Ägypten und i n der Cyrenaika waren durchaus freiwillig entstanden. Seit der Zeit Alexanders des Großen wurden sie i m Zuge der Hellenisierung der damaligen Welt angesiedelt und waren, wenn man so w i l l , ein Instrument des hellenistischen Kulturimperialismus. Seleuciden und (zeitweise) Römer förderten starke jüdische Minderheiten, die i m Gegensatz zur Landesbevölkerung voll hellenisiert und von ihrem Schutze abhängig waren 8 9 . Lange vor den römischen Kriegen lebten große Teile des Judentums außerhalb Palästinas. Diese Diaspora-Juden schufen zwar ihre eigene Problematik, die zu gegenseitigen Vernichtungsaktionen großen Stils führten 9 0 , aber sie waren völlig frei von irredentistischem Denken 9 1 . Die jüdischen Aufstände in Palästina und i n der Diaspora waren nie synchronisiert; die beiden römischen Kriege mußten die palästinensischen Juden allein auskämpfen; nicht einmal die großen syrischen Judengemeinden unterstützten sie. Ebensowenig wurden die Judengemeinden i n den damaligen Reichen für die Aufstände ihrer Glaubensgenossen i n anderen Provinzen verantwortlich gemacht. Selbst nach den m i t so großer Erbitterung geführten römischen Kriegen beeinträchtigte Rom den außergewöhnlich günstigen Status der Juden außerhalb Palästinas trotz Drängens der einheimischen Bevölkerung nicht 9 2 . So ist es erklärbar, daß lange vor den römischen Kriegen drei Viertel des jüdischen Volkes außerhalb Palästinas und i n der Diaspora lebten. Diese Judenschaft war nicht exiliert, und niemand verwehrte ihnen die Auswanderung nach Palästina. Dieses Verhältnis änderte sich nicht wesentlich nach den römischen Kriegen. Zwar endete der erste römische Krieg mit der Zerstörung des großen Staatssymbols, des Tempels. Damit war auch die bestehende politische Organisation des jüdischen Gemeinwesens vernichtet. Aber der größte Teil des palästinensischen Judentums blieb i m Lande und große 89 Was seinerseits zum Antisemitismus der A n t i k e beitrug. Z u m antiken Antisemitismus s. die entsprechenden Abschnitte i n Graetz, Dubnow, Baron. 90 Alexandria; Cyrenaika; Zypern. 91 Baron 1,11103. 92 Die von Mommsen aufgestellte These über den verminderten Rechtsstatus der Juden i m römischen Reich w i r d seit J. Schuster, Les Juifs dans l'Empire romain, leur condition juridique, économique et sociale, 3 Bde. (Paris 1914), Bd. 2, S. 19 ff. nicht mehr vertreten; Nachweise Baron, I I 104.

. Kap.: Der

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Teile Palästinas blieben jüdisch besiedelt 93 . Es gelang sogar, für das jüdische Gemeinwesen wieder eine politische Leitung zu schaffen, die sich jetzt i n Form des Sanhedrins, einer A r t Gelehrtenrat, und i m Patriarchentum des Hillelschen Hauses etablierte. Auch der zweite römische Krieg, der Bar-Kochba-Aufstand (133 - 135) zeigt, wie stark das jüdische Gemeinwesen geblieben war. Der Aufstand konnte finanziell und militärisch gründlich vorbereitet werden, und das jüdische Gemeinwesen wurde militärisch und administrativ effizient geführt. Alle zeitgenössischen Darstellungen zeigen nicht nur die unbedingte Entschlossenheit des jüdischen Volkes zur politischen Unabhängigkeit, sondern auch die Stärke ihrer materiellen Ressourcen, die ihnen diesen Kampf gegen das römische Weltreich auf dem Höhepunkt seiner Macht ermöglichte. Selbst nach der zweiten Niederlage und der hadrianischen Verfolgung gelang erneut die Restaurierung des jüdisch-nationalen Lebens i n Palästina. Der Z u t r i t t zu Jerusalem blieb ihnen untersagt; ihre Siedlungen i n Judäa waren vernichtet, und die Römer siedelten syrische und arabische Kolonisten an. Hauptgebiet des palästinensischen Judentums wurde nun Galiläa. Hier gelang es den Juden wiederum, auf kulturell-religiöser Ebene ein nationales Gemeinwesen zu errichten. Soweit sich die Bevölkerungsverhältnisse für das zweite Jahrhundert schätzen lassen, scheinen die Juden nach dem zweiten römischen Krieg i n Galiläa etwa 75 °/o der Bevölkerung, in der Küstenebene und i m Ostjordanland 9 4 etwa 25 °/o der Bevölkerung ausgemacht haben. Während die jüdische Bevölkerung i n Palästina vor dem zweiten römischen Krieg auf etwa 1 300 000 geschätzt wird, belaufen sich die Schätzungen für die Nachkriegszeit auf 700 000 - 800 000 95 . Diesen Rückgang hat die Brutalität der damaligen Kriegsführung aller Völker und aller Seiten und die Gleichgültigkeit aller Kriegsführenden gegenüber der Bevölkerung, auch gegenüber der eigenen, verschuldet 96 . Aber die Zahlen korrigieren die Vertreibungsthese. Das j ü d i sche Volk i n Palästina wurde durch zwei große Aufstände reduziert und geriet i n Palästina i n die Minderheit. Aber das palästinensische Judent u m wurde weder vernichtet noch vertrieben, und selbst das zahlenmäßige Verhältnis zum außerpalästinensischen Judentum änderte sich 93

S. 29. 94

Baron

I, S. 89 ff.; Avi-Yonah,

S. 13; so auch Cohn, Zionist Movement,

Nicht Transjordanien, sondern v o r allem auf den heutigen Golanhöhen. Avi-Yonah, S. 19 f. Die älteren Historiker sprechen von über 1 M i l l i o n an Verlusten; sie stützen sich dabei ganz auf antike Autoren (Flavius, Tacitus). Die heutige Forschung ist vorsichtiger, Baron I I , 102 ff. Andere Schätzungen berechnen f ü r Palästina v o r der Tempelzerstörung eine Gesamtbevölkerung v o n ungefähr zweieinhalb Millionen, schließen allerdings hierin 500 000 Samaritaner, „Griechen" u n d Nabatäer (Araber) ein. 98 M a n lese bei Flavius Josephus, Geschichte des jüdischen Krieges, V. Buch über die Kriegsmethoden Titus. 95

56

1 Teil: Die Ausgangslage

nicht entscheidend. Innerhalb Palästinas bietet es weiter das B i l d eines zahlreichen und gesellschaftlich ausgewogenen Volkes mit starkem ökonomischen und militärischem Potential. Selbst zu einem dritten Krieg gegen Rom hätten die materiellen Voraussetzungen bestanden 97 . Aber die jüdische Führung entschied sich anders. Sie konnte ein erträgliches Verhältnis zu Rom herstellen und eine neue nationale Lebensform finden. Es erlebte Zeiten wirtschaftlichen Aufstiegs, und entgegen früherer Vorstellungen scheinen i m römischen Palästina keine Aufstände mehr stattgefunden zu haben 98 . Verglichen m i t anderen besiegten Völkern i m römischen Reich, etwa den Puniern oder den Samaritanern konnte es ein erstaunliches Maß an Selbständigkeit behalten. Es gewann Religions- und Lehrfreiheit zurück, behielt ein beachtliches Maß an gerichtlicher Selbständigkeit, eine autonome innere Organisation und i m Patriarchat eine von der gesamten Judenheit anerkannte zentrale Autorität. Die Entfaltungsmöglichkeiten dieses Gemeinwesens zeigt sich darin, daß es den palästinensischen Talmudverfassern für Jahrhunderte gelang, die geistige Führung des Judentums zu halten. Dieses Gemeinwesen bemühte sich mit religiös-administrativen M i t teln, Eigenart und Substanz des jüdischen Volkes zu erhalten. Der Erhaltung der jüdischen Eigenart diente die minutiöse Regelung des gesamten jüdischen Lebens, die sich gegen jegliche Assimilierung, insbesondere zur hellenistischen K u l t u r und zum Christentum richtete. Es sind die Dogmen dieser Zeit, die zwar das Judentum über Jahrhunderte haben bestehen lassen, die es aber seit Aufklärung und Emanzipation, seitdem Abschließung nicht mehr als ideal empfunden wird, belasten und die selbst i m israelischen Staat die Orthodoxie zum Problem machen. Und diese Haltung muß notwendig zu einer ethnozentrischen Sicht führen, muß das eigene Volkstum exaltieren und gelangt zu Formulierungen, die die nicht jüdische Umwelt irritieren. U m die Substanz zu erhalten, suchte das rabbinische Schrifttum mit religiös administrativen Mitteln die Auswanderung zu verhindern und die Einwanderung zu fördern, indem es i n unübersehbarer Kasuistik stets i m palästinensischen Sinne entschied. So war z. B. bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Ehegatten über Aus- und Einwanderung nicht etwa die Meinung des Mannes bestimmend, sondern die des propalästinensischen Ehegatten 99 . Die talmudischen Schriften enthalten auch die unzähligen Aussprüche ü b e r d i e Einzigartigkeit 97

Palästinas

für

das jüdische

Leben100.

Ein wahr-

So fast wörtlich Avi-Yonah, S. 25, 31. Ausgenommen der Aufstand 351. 99 Beispiele bei Avi-Yonah, S. 26 ff. u n d i n JL, „Palästina V (Der Palästina· gedanke i m Judentum)". 100 „Quaint rabbinical hyperbolies" (Bentwich). 98

. Kap.: Der

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haft gesetzestreues Leben sei überhaupt nur i n Palästina möglich, und ein Leben in Palästina übertreffe alle religiösen Anstrengungen i n der Diaspora. Es sind diese Aussprüche, die der Zionismus noch heute anführt, um die Verbundenheit des jüdischen Volkes mit Palästina zu belegen 1 0 1 . Der Niedergang des jüdischen Gemeinwesens in Palästina setzte erst i m dritten Jahrhundert ein. Das Patriarchat verlor an politischer und geistiger K r a f t und mußte die Führung an das babylonische Judentum abgeben. Das gesamte römische Reich erlebte eine wirtschaftliche Krise; deshalb wanderten viele palästinensische Juden in das damals besser gestellte Sassanidenreich aus 102 . Vor allem aber bedrängte das vordringende Christentum das palästinensisch-jüdische Gemeinwesen. Die Juden lebten i n Palästina und in der Diaspora vergleichsweise unbehelligt, solange diese glaubensmäßig heterogen war; auch der Hellenismus war glaubensmäßig heterogen. Die Stellung des Judentums wurde prinzipiell schwierig, als das Christentum zur Staatsreligion wurde. Homogene Gruppen sind meist intolerant, mögen sie religiös oder ethnisch homogen sein 1 0 3 oder sich rassisch homogen halten. Das römisch-byzantinische Christentum war unduldsam, seine Kleriker und Mönche waren fanatisch. Die justinianische Gesetzgebung hat das Judentum zur „religio illicita" erklärt, woran es noch heute i n manchen katholischen Staaten leidet 1 0 4 . Die byzantinische Herrschaft in Palästina ist reich an judenfeindlichen Maßnahmen, und die Juden hatten allen Grund, i m 7. Jahrhundert für die persische und dann für die islamische Oberhoheit Partei zu ergreifen. I n der byzantinischen Zeit scheint das palästinensische Judentum zahlen- und anteilsmäßig zurückgegangen zu sein: die Schätzungen für das Ende der byzantinischen Herrschaft rechnen mit 150 000 - 200 000 Juden, die etwa 10 - 15 °/o der Gesamtbevölkerung Palästinas ausmachten 1 0 5 . Aber die Geschichte berichtet weder von Vernichtungsaktionen noch von Vertreibungen. Die moderne Forschung nimmt vielmehr an, daß große Teile der jüdischen Bevölkerung assimiliert und sukzessive hellenisiert, christianisiert und islamisiert wurden, wie es auch den übrigen Völkern i m Vorderen Orient erging 1 0 6 . 101 s. etwa A. Ulimann, Israels Weg zum Staat (1964), m i t Beispielen aus dem babylonischen Talmud. z.B.: „Wer vier Meilen i n Israel gegangen ist, dem ist ein Platz i m Jenseits sicher." 102 Baron, I I 204, 209 f. 103 Baron, I 113. Wie auch das Judentum i n Palästina zeitweise intolerant war. So duldete die hasmonäische P o l i t i k keine Fremden i n ihrem H e r r schaftsgebiet. 104 Das V o l k der Samaritaner wurde praktisch ausgerottet. 105 Avi-Yonah, S. 24 f. 106 Baron I I I , S. 23.

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1 T e i l : Die Ausgangslage

I n hohem Maße scheint schließlich der Islam die Juden aufgesogen zu haben 1 0 7 . I m arabischen Raum hat es überall große jüdische Gemeinden gegeben, Nordarabien scheint weitgehend jüdisch-arabisch gewesen zu sein, und zeitweise scheint die theoretische Möglichkeit bestanden zu haben, daß sich der Großteil der Araber zum Judentum bekehren würde, wie es in Südarabien der Fall war. Umgekehrt waren die Araber als Volk der Nabatäer seit langem tief nach Palästina eingedrungen und hatten sich m i t der dortigen Bevölkerung vermischt. Es ist bekannt, daß die islamische Eroberung nie zu judenfeindlichen Aktionen geführt hatte 1 0 8 ; der Islam vernichtete nicht, sondern forderte Unterwerfung 1 0 9 . Jedoch scheint die Anziehungskraft des Islams erheblich gewesen zu sein, wozu nicht zuletzt die Besteuerung der Ungläubigen beigetragen haben mag. So nimmt die heutige Forschung an, daß die große Zahl der Juden i n Palästina und i m ganzen vorderen Orient sich zum Islam bekehrte 1 1 0 . So ist die Verbreitungsthese zumindest nicht wörtlich zu nehmen. Der größte Teil der Diaspora-Judenheit ist niemals vertrieben worden, sondern entweder freiwillig ausgewandert oder dort erst zum Judentum bekehrt worden. Nahezu während der ganzen Geschichte hinderte niemand die Juden an der „Rückkehr" aus dem „ E x i l " — wenn man von den wirtschaftlichen Grenzen Palästinas absieht. Die Kategorien „Vertreibung" und „ E x i l " haben nicht nur die Optik bestimmt, m i t der Juden und Christen die Juden in aller Welt sahen, sie haben gleichsam als Nebenprodukt auch die Sicht Palästinas zurechtgerückt. Denn nicht nur das Volk Israels war sündig geworden und mußte ins Exil, sondern auch das Land traf die Strafe 1 1 1 : die Erde konnte nicht gedeihen, ohne „ i h r " Volk, das Land erwartete „sein" Volk. Daher die oft bemerkte Sicht der Juden, die vom leeren Lande Palästina ausgingen und die arabische Bevölkerung schlicht nicht wahrnehmen. So konnte Zangwills Slogan vom „Land ohne Volk für ein Volk ohne Land" entstehen. Die vielen Reisen nach Palästina änderten hieran nichts: man sieht meistens das, was man zu sehen erwartet und wie es den Vorurteilen entspricht. Die Berichte jüdischer und christlicher Reisender decken sich, und aus ihren Reiseberichten könnten moderne Linguistikmethoden wahrscheinlich die prophetischen Formulierungen und Ausdrücke nachweisen; selbst die zeitgenössischen Stiche vermitteln den Eindruck von „last prophetic degree of desolation and depopulation" 1 1 2 . Und so konnte 107 Z u m folgenden s. insbesondere Baron , Bd. I I I , S. 60 ff.; S. D. Goitein, Jews and Arabs (New Y o r k 1965) ; R. Hamzaoui, Les relations judéo-arabes au moyen age, T M , S. 345 ff. toe £ j u r bei der ersten Eroberung wurden jüdische Siedlungen i n Nordarabien vernichtet, Baron I I I , S. 76. 109 Baron I I I , S. 95. 110 Baron I I I , S. 119, ebenso Ruppin: die palästinensischen Araber sind Nachkommen der zum Islam bekehrten Juden. 111 Hierzu Werbionski, S. 390.

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i n Europa der Glaube herrschen, daß i n Palästina nur einige schweifende (und natürlich räuberische) Nomaden lebten, obwohl die Bevölkerungsverhältnisse völlig anders waren 1 1 3 . Diese „moralische Kurzsichtigkeit" 1 1 4 der Zionisten ist das Ergebnis der Kategorien „Vertreibung" und „ E x i l " . Es ist daher verständlich, daß sie für den Araber Reizworte sind, auf die er allergisch reagiert und deren Gebrauch durch Nichtjuden i h m bereits die Parteinahme zu implizieren scheint. Daß i h m die weitere Terminologie, etwa den „Boden zu erlösen" — so, der hebräisch-zionistische Ausdruck für Landerwerb durch die Nationalen Institute — wenig zusagt, ist begreiflich. I m religiösen Kontext der Strafe Gottes für Sünden harmlos und verständlich, kann er i n arabischen Ohren — verbunden mit der weiteren Unveräußerlichkeit des Bodens und dem Prinzip der „ j ü d i schen A r b e i t " 1 1 5 — nur als „Erlösung vom Araber" lauten. Rechtliche Beurteilung. Das Völkerrecht kennt sonst keine Fälle einer ähnlich gelagerten „historischen Verbundenheit" einer zerstreut lebenden Gruppe m i t einem von anderen Gruppen bewohnten Territorium. Die zionistische Ideologie behauptet daher, ihr Recht sei einzigartig, sei sui generis, und daher könnten für seine Beurteilung nicht die allgemeinen Normen des Völkerrechts gelten. Stoyanovsky hat versucht, die „historische Verbundenheit" zu einem allgemeinen völkerrechtlichen Rechtsinstitut auszubauen, u m der immer prekären Lage eines „einzigartigen Rechtes" zu entgehen 1 1 6 . E r stellte dazu sechs Bedingungen auf, die f ü r eine „historische Verbundenheit" eines Volkes m i t seinem Lande, i n dem es nicht lebt, notwendig wären: — Das V o l k müsse zu irgendeiner Zeit seiner Geschichte i m Besitz jenes L a n des gewesen sein; — das V o l k dürfe nicht — direkt oder indirekt — auf das L a n d verzichtet haben; — das V o l k dürfe i n der Zwischenzeit kein anderes eigenes nationales L a n d erworben haben 1 1 7 ; — andere Rechte u n d Interessen, die i n der Zwischenzeit erworben worden seien, müßten geschützt sein 1 1 8 ; — die „historische Verbundenheit" müsse international anerkannt sein. Stoyanovskys Versuch, die „historische Verbundenheit" zu einem allgemeinen I n s t i t u t des Völkerrechts zu machen u n d den jüdischen Anspruch auf sichere Füße zu stellen, k a n n k a u m überzeugen. Es ist eine zirkuläre, tautologi112 Viele Zitate von Reisenden bei Frankenstein, S. 122 ff.; z.B. aus Brockhaus v o n 1817: „verödet u n d v o n arabischen Räuberbanden durchstreift". 113 V o n den 640 000 Arabern zu Beginn der Mandatszeit waren ungefähr zwei D r i t t e l Bauern u n d ein D r i t t e l Städter; n u r ungefähr 1 0 % der Araber waren Nomaden. 114 Werbionski, S. 391. 115 s. 16. Kapitel. 116 (Vor 11. K a p i t e l 2), S. 64 ff. 117 Damit w i r d das vorgebrachte Argument entkräftet, auch die Araber hätten ein historisches Recht auf Andalusien u n d die Italiener auf London. 118 Hier geht es u m die 2. Sicherheitsklausel i n der Balfour-Erklärung.

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1 Teil: Die Ausgangslage

sehe Argumentation, die i n anscheinend allgemeingültigen T e r m i n i eines positivistischen Völkerrechts haargenau die jüdische Situation nach der BalfourErklärung erfaßt: die „historische Verbundenheit" bleibt sui generis. A l l e v o n den Z i o n i s t e n a n g e f ü h r t e n G r ü n d e k ö n n t e n f ü r sich k e i n e n R e c h t s t i t e l nach d a m a l i g e m oder g e l t e n d e m V ö l k e r r e c h t v e r l e i h e n . G ö t t liche Versprechungen, V e r t r e i b u n g , f o r t d a u e r n d e i n n e r e V e r b i n d u n g der J u d e n m i t P a l ä s t i n a b e g r ü n d e n k e i n e n Rechtstitel. A u c h w e n n m a n die V e r t r e i b u n g s t h e s e i m F a k t i s c h e n anders b e a n t w o r t e t , k a n n das E r g e b n i s n u r n e g a t i v a u s f a l l e n : d i e Tatsache d e r V e r t r e i b u n g g i b t d e m v e r t r i e b e n e n V o l k nach I n b e s i t z n a h m e d u r c h andere V ö l k e r k e i n e n Rechtsanspruch. V o r allem Frankenstein hat sich bemüht, aus der Tatsache der Vertreibung einen Anspruch i n modern-völkerrechtlicher Argumentation zu begründen 1 1 9 . Danach hätten die Juden nach Völkerrecht i h r Recht auf Palästina nie v e r loren. Z w a r seien sie von den Römern vertrieben worden; Rom habe jedoch Palästina nicht i m völkerrechtlichen Sinne erobert. Denn Eroberung setze einen langdauernden, andauernden u n d unbekämpften Besitz voraus; die Juden hätten jedoch niemals auf Palästina verzichtet, sondern stets i n den ihnen möglichen Formen protestiert. Eine völkerrechtliche V e r j ä h r u n g dieses Rechts sei daher niemals eingetreten 1 2 0 . Damit sei die jüdische Souveränität zu keiner Zeit untergegangen; neue Souveränität sei nicht begründet worden. Auch die A r a ber hätten Palästina niemals erobert, denn die palästinensischen Araber seien nicht die Nachkommen der arabischen Eroberer. Auch aus dem McMahonBriefwechsel könnten die Araber keine Rechte herleiten, denn Großbritannien sei rechtlich nicht zu derartigen Versprechen i n der Lage gewesen (S. 94). Da somit weder Römer noch Araber noch T ü r k e n die Souveränität erlangt hätten, habe sie nach wie vor dem jüdischen Volke zugestanden, das sie n u n wieder ausüben sollte. Die gesamte Argumentation ist abwegig u n d vermengt alle Begriffe; hier w i r d n u r von i h r berichtet, w e i l Frankenstein ein international anerkannter Jurist w a r u n d w e i l das f ü r die zionistische Ideologie so repräsentative Werk der ESCO die These übernommen hat. A l l e diese G r ü n d e beweisen etwas ganz anderes: die s u b j e k t i v e V e r b u n d e n h e i t des j ü d i s c h e n V o l k e s m i t P a l ä s t i n a . Diese V e r b u n d e n h e i t h a t i m L a u f e der Geschichte i h r e n d e m j e w e i l i g e n Z e i t g e i s t entsprechenden A u s d r u c k g e f u n d e n : So müssen die g ö t t l i c h e n V e r s p r e c h u n g e n als s t ä r k s t m ö g l i c h e r A u s d r u c k dieser V e r b u n d e n h e i t i n einer m y t h o l o g i s c h - r e l i g i ö sen Z e i t v e r s t a n d e n w e r d e n . Z u Recht sprechen d a h e r die v ö l k e r r e c h t l i c h e n D o k u m e n t e v o n e i n e r historischen Verbindung, die sie völkerrechtlich anerkennen. Dieser s u b j e k t i v e n V e r b u n d e n h e i t g l a u b t d e r A r a b e r eine genauso s t a r k e eigene i n n e r l i c h e B i n d u n g entgegensetzen zu k ö n n e n , w i e er z i e m l i c h ä h n l i c h b e w e i s t 1 2 1 . E r f ü h r t d i e B e d e u t u n g Jerusalems f ü r d e n 119 Frankenstein, Justice for M y People (London 1943, New Y o r k 1944), S. 84 ff. 120 Z u r V e r j ä h r u n g i m Völkerrecht s. W B V R „ V e r j ä h r u n g " .

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ische Nationalismus

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Islam und die Tatsache einer 1300jährigen arabischen Besiedlung Palästinas an. Schließlich beruft er sich auf die arabische Opferbereitschaft für einen langdauernden Kampf; Vorbild ist i h m hierzu das algerische Volk, ist ihm das Volk der einen Million „Opferbereiten" 1 2 2 . Zu einem solchen Opfer sei er auch für Palästina bereit. Diese subjektive Vorstellung der Verbundenheit ist auf zwei Ebenen in der realen Welt zu objektiven Wirkungsfaktoren geworden und hat auf beiden Ebenen Recht geschaffen: — Sie hat einen großen Teil des jüdischen Volkes bewogen, nach Palästina zu ziehen oder den Aufbau wenigstens zu unterstützen. Sie hat damit zur Gründung eines effektiven jüdischen politischen Gemeinwesens geführt, das heute seine völkerrechtliche Existenzberechtigung hat wie jeder andere Staat. Ein derartiges effektives politisches Gemeinwesen ist damit zum} Völkerrechtssubjekt geworden und genießt die entsprechenden Rechte; dazu gehört insbesondere das Recht auf Existenz. Hiergegen w i r d von arabischer Seite die bekannte Literatur gegen den Grundsatz der Effektivität i m Völkerrecht angeführt 1 2 3 . Aus Unrecht könne kein Recht entstehen; eine andere Wertung sei eine Kapitulation des Völkerrechts vor der Gewalt. Aber die ganz vorherrschende Ansicht erkennt an, daß auch ein politisches Gemeinwesen, das sich unter Verletzung des Völkerrechts durchgesetzt hat, als solches anerkannt wird, genauso wie die nach ihrem Ursprung illegitime Staatsgewalt als solche anerkannt und behandelt wird. — Die einzigartige Verbundenheit hat die zu einer bestimmten Zeit völkerrechtlich führenden Staaten (von 1917 - 1950) bewogen, der Errichtung eines jüdischen politischen Gemeinwesens zuzustimmen, sie zu unterstützen und rechtlich zu sanktionieren. Sie hat ein Rückkehrrecht der Juden anerkannt, und die Rechte der arabischen Mehrheit auf eigene politische Entwicklung entsprechend zurückgedrängt. Es gehört zur Eigenart juristischen Denkens, daß es die Beweggründe zurückstellt, sobald diese zu einem juristisch relevanten Tatbestand (staatliche Existenz, juristisches Instrument) geführt haben. So wenig daher die für die Verbundenheit der Juden mit Israel zeugenden Fakten selbst einen Rechtstitel darstellen können, so haben sie doch zu zwei unbestreitbaren Rechtstiteln geführt, die den israelischen Staat heute tragen: die effektive Errichtung eines politischen Gemeinwesens und die Anerkennung durch den überwiegenden Teil der Völkergemeinschaft. 121 z.B. A. L. Tibawi, Visions of the Return: The Palestine Arab Refugees i n the Arab Poetry and A r t , The Middle Eastern Journal, Bd. 17 (1963), S. 508 f. 122 Algerien hat bei einer arabisch-algerischen Bevölkerung von 8 Millionen ungefähr 1 M i l l i o n Tote eingebüßt. 123 Z u diesem Begriff s. W B V R „ E f f e k t i v i t ä t " ; Dahm I § 15 I V 2.

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1 Teil: Die Ausgangslage d) Die Notwendigkeit der Umschichtung

Es ist eine Tatsache und ein alter Vorwurf, daß sich die Juden überwiegend i n bestimmten Berufen konzentrieren. Dies waren bis zur Emanzipation Geldverleih, Kleinhandel (Trödelhandel), Steuereinnehmer; später Bank- und Handelsgeschäfte. Gerade die Konzentration i n diesen Berufen schürte wiederum den Antisemitismus der Umwelt, die sich von Juden übervorteilt glaubte. Antisemiten und selbst jüdische Marxisten sahen das jüdische Volk als Handelskaste 124 . Nach der Emanzipation traten die freien Berufe hinzu: Arzt, Rechtsanwalt, Journalist, Schriftsteller, künstlerische und akademische Berufe. M i t fortschreitender Gleichberechtigung rückten die Juden i n richterliche und administrative Stellungen ein. I m Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil galten die Juden i n diesen Berufen als überrepräsentiert. Den Grund der Konzentration i n diesen nicht-manuellen Berufen glaubte der Antisemit i n der jüdischen Scheu vor körperlicher („anständiger") Arbeit und i m parasitären Charakter der Juden zu sehen. Nun sind die Gründe für diese Konzentration i n bestimmten Berufen für die verschiedenen Zeiten oft nachgewiesen: so versagte ihnen z. B. das mittelalterliche Christentum den Grunderwerb und den Zugang zu den (christlich bestimmten) Zünften; damit waren ihnen Landwirtschaft und nahezu alle Berufe verschlossen 125 . Schließlich besagte das heute an sich unverständliche Wort von den „freien" Berufen, daß sie nicht zunftmäßig gebunden waren. Die Juden wurden so i n Berufe gedrängt, die i n der Ideologie aller tragenden Kräfte negativ bewertet wurden: vom Christentum, vom Feudalismus, von den handwerklich eingestellten Zünften, vom Bauerntum. Jede dieser Kräfte konnte seine spezifisch soziale Funktion durch Ideologie und Symbole zu allgemeiner Wertschätzung bringen: man denke an die A u f märsche der einzelnen Zünfte, an den Mythos der Bergleute 1 2 6 und später der Bauern. Dagegen werden alle den Juden offenstehenden Berufe negativ bewertet und m i t Betrug assoziiert; man denke an Pferdehandel 1 2 7 oder Geldverleih. Geldverleih als Geschäft und also auf Zins war moralisch Sünde, rechtlich verboten, aber wirtschaftlich unabweisbar. Da das Volk den Mechanismus des Geldes und die wirtschaftlichen Zusammenhänge nicht verstand, mußten i h m Geldentwertung und Teuerung als Manöver der Juden erscheinen. I m aufkommenden Kapitalismus war das Volk m i t den Problemen des Marktgeschehens, des Wett124

Von deutschen Antisemiten des frühen 19. Jahrhunderts etwa Rühs (hierzu Graetz, Bd. X I ) ; f ü r jüdische Marxisten siehe außer Marx selbst etwa Leon (s. 1. K a p i t e l 4a). 125 V o r dem 10. Jahrhundert u n d i n nichtchristlichen K u l t u r e n waren die Juden i n allen Berufen zu finden, i m Jemen z. B. vorwiegend i m Handwerk. 128 s. noch etwa i n Novalis, Heinrich v o n Ofterdingen, die Erzählung des Bergmannes. 127 Der Pferdehändler hieß gleich „Roßtäuscher", wobei schon i m 13. Jahrhundert tauschen u n d täuschen zusammenfielen.

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bewerbs und des m i t der Entwicklung notwendig verbundenen Rückgangs traditioneller Berufe noch wenig vertraut und schob die Verantwortung für die ökonomischen Probleme wieder den Juden zu. Die A n t i semitismusforschung zeigt, wie diese Stereotype auch noch beibehalten wurde, als Großbanken und Börsen i n nichtjüdische Hände übergegangen waren. Nun haben diese Gründe noch keinen Antisemiten überzeugt. Aber auch die zionistischen Autoren haben diese Vorstellungen übernommen und forderten, das Judentum müsse seinen „Parasitismus" überwinden 1 2 8 . Es ist kein Glaubenssatz des Zionismus geworden, daß das Judentum die überkommene Konzentration i n wenigen, meist geistigen Berufen beenden und alle Berufe i n normaler Schichtung ausüben müsse. Die „umgekehrte Pyramide" müsse wieder auf die Füße gestellt werden, das Judentum müsse wieder eine soziologisch volle Nation werden. Gegen den Grundgedanken w i r d man nichts einwenden können. Ein Volk, das sich aus der Diaspora lösen und auf einem Territorium neu konstituieren will, kann nicht nur i n einzelnen Berufen leben, sondern muß die gesamte Breite der für eine soziale, ökonomische, kulturelle und politische Gemeinschaft erforderlichen Berufe ausfüllen. Andernfalls bleibt diese Gruppe einerseits in existentiellen Fragen stets abhängig von anderen Gruppen und w i r d andererseits zu einer volksbestimmten Oberschicht, wie zeitweise die Deutschen i n Westpreußen und dem Baltikum. Eine solche „Eroberung der Arbeit" erforderte eine ausgeprägte Ideologie, eine Exaltation und Glorifikation der manuellen Arbeit, kurz, eine „Religion der Arbeit". Hatte die überkommene jüdische K u l t u r das Talmudstudium, also lebenslanges Studium ohne Erwerbszweck m i t den höchsten Gemeinschaftswerten versehen, so mußten neue Werte gesetzt, neue Wertschätzungen entwickelt werden. Es ist dieser weltanschauliche Teilaspekt, der i m frühen Zionismus besonders auffällt und der mitunter geradezu mystische Formen angenommen hatte 1 2 9 , und diese Mystifizierung der manuellen Arbeit und ihre eindeutige Überbewertung gegenüber geistiger und kommerzieller Tätigkeit, selbst gegenüber der Ausübung von Führungsfunktionen, hat Teile der israelischen Bevölkerung geprägt. Sie hat zum israelischen Wertsystem beigetragen, i n dem viele einen pionierartigen Charakter erkennen wollen, wie es am ehesten i n der Kibbutzorganisation verwirklicht worden ist 1 3 0 . Und sie führt heute zu erheblichen Schwierigkeiten zwischen den Israeli europäischer Herkunft und orientalischen Israeli, da die letzten nicht von der zionistischen 128 s. etwa noch wörtlich bei M. Buber, Israel u n d Palästina (1950, 1968), T e i l 4 zu Gordon. 129 Hier ist insbesondere Gordon zu nenen, s. 1. K a p i t e l 4. 130 Gute Darstellung dieser Mentalität i n einem linksgerichteten Kibbutz bei M. E. Spiro, Kibbuz. Venture i n Utopia (New Y o r k 1956).

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1 T e i l : Die Ausgangslage

Ideologie Osteuropas und vom Sozialismus geprägt worden sind und daher zwangsläufig diesem Wertsystem wenig Verständnis entgegenbringen. Umschichtung, Religion der Arbeit und Kibbutzorganisation zeigen klar das Ambivalente allen menschlichen Handelns. Die zionistische Philosophie konnte gegen Ende des 19. Jahrhunderts diese Forderung als höchste Form eines progressiven Humanismus verstehen. Die Verstädterung zeigte ihre Nachteile; die Vorstellung vom „haltlosen Literaten" kam auf; der Kapitalismus erwies seine sozialen Ungerechtigkeiten. I n aller Welt zeigten sich Tendenzen, die dem entgehen wollten; so unterschiedlich und vielleicht auch gegensätzlich sie sein mochten — man denke an Thoreau, Tolstoi oder Worpswede —, sie glaubten alle an ein „gesundes" und einfaches Leben. Man mag sie alle als unreflektiert, i l l u sionär, rückwärtsgerichtet, reaktionär und als bourgeoisen Eskapismus abtun, sie entsprachen zumindest in ihrem Streben damaligen kritischen, antikapitalistischen und also progressiven Gedanken. Die gesamte Ideologie konnte auch i m Marxismus ihre stärkste Berechtigung finden: die Forderung nach Selbstarbeit konnte ebenso leicht die Ablehnung der Ausbeutung anderer, als Sozialisierung des kapitalistischen Mehrwertes formuliert werden. Die Kibbutzorganisation schien alle negativen Seiten des europäischen Lebens zu vermeiden, wie Verstädterung, Atomisierung des Einzelnen, Entfremdung, Geldwirtschaft usw. ; sie schien alle ansonst utopisch anmutenden Forderungen eines progressiven Humanismus zu erfüllen, wie überschaubare Gesellschaft, soziale Einbindung, Arbeit ohne Ausbeutung usw. Nicht umsonst hat die sich progressiv verstehende europäische Jugend der 50er Jahre die israelischen Kibbutzim idealisiert — als sie i n Israel bereits i m Rückgang begriffen waren —, bis durch kuriose Frontverschiebungen und Mißverständnisse ihnen Maos Kommunen den Rang abliefen — zu einer Zeit, als auch dort die Kommunenbewegung rückläufig gewesen zu sein schien. Über Glanz und Elend derartiger Gemeinschaften ist hier nichts weiter zu sagen; es geht um den arabisch-israelischen Konflikt. Und den Arabern gegenüber zeigt sich die Umschichtungsthese nicht nur als schöngeistiges Geplauder und interessantes Experiment, sondern als harte Tatsache, und dies in zweierlei Hinsicht: — Der Zionismus wollte sein Volk wieder in eine aktive Bindung zum Boden bringen: nicht nur jüdischer Besitz am Boden, sondern die Bearbeitung des Bodens sollte dem jüdischen Volk ein Recht am Boden geben. Von da ist es nicht mehr weit zu der Vorstellung, daß der Boden dem gehört, der ihn bearbeitet, und daß er dem am meisten gehört, der ihn am besten bearbeitet. Daß der zionistische Pionier wegen seiner besseren Schulung, größeren Kapitalinvestitionen und adäquater sozialer Strukturen den Boden besser bearbeitete als der palästinensische Fellache

. Kap.: Der

ische Nationalismus

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65

war nie strittig; aber daß damit die Rechte der Autochtonen untergehen, erscheint zumindest heute fraglich. Die antizionistische Seite verweist denn auch darauf, daß alle kolonialen Siedler ihr besseres Recht m i t der „besseren", d. h. intensiveren Bodennutzung begründen. — Die „Eroberung der Arbeit", insbesondere auch der „niederen" Tätigkeiten, ließ keinen Platz i n ihrem System für die Autochtonen. Sie k o n n t e n bestenfalls

neben

der

zionistischen

Gesellschaft

fortbestehen

oder sich neu strukturieren, aber nicht eingliedern. Eine A r t von arbeitsteiligem Zusammenleben beider Ethnien, wie sie andere Kolonisierungen etwa i n Plantageneigentümer, dem Verwalter und den Eingeborenen kannte, war hier unmöglich. Gerade hierin sieht der Zionismus seinen antikolonialistischen Charakter, seine Ablehnung der Ausbeutung der eingeborenen Bevölkerung; der Araber sieht gerade hierin den höchsten Rassismus, nämlich vollständige Absonderung beider Gesellschaft, keinerlei Chance des späteren „Aufrückens" und die letztendliche Vertreibung: verbunden m i t jüdischem Landerwerb durch den jüdischen Nationalfonds zu unveräußerlichem Eigentum und dem Prinzip der nur-jüdischen Arbeit war für ihn kein Platz mehr 1 3 1 . Die Diskussion und die beiderseitige Argumentation ist unerschöpflich; mehr ist aber kaum zu sagen. Beide Seiten betonen jeweils einen Aspekt: die jüdische Seite die Selbstarbeit und die Ablehnung der Ausbeutung der Autochtonen; jede andere Kolonisierungsform hätte lediglich eine europäisch-jüdische Oberschicht geschaffen, die die Araber beschäftigt hätte; eine solche Oberschicht wäre prinzipiell eine ausbeutende Gesellschaft gewesen und hätte irgendwann ihren Platz aufgeben müssen, wie etwa die Algerien-Franzosen. Die arabische Seite sieht Landerwerb und Prinzip der jüdischen Arbeit als eine Einheit; sie formuliert die jüdische Selbstarbeit als Vertreibung der Araber. I n den jüdischen Unternehmen und Farmen sei für sie kein Raum, nicht einmal für die allerniedersten Dienste. Sie hätten nicht einmal die Hoffnung, sich nach einigen Generationen zu vollgültigen M i t gliedern der Gesellschaft entwickeln zu können, wie i n allen anderen Kolonisationsformen. Dort wurden die Eingeborenen zwar ausgebeutet, aber ihre Existenzberechtigung wurde nicht prinzipiell bestritten. Das zionistische System dagegen ließ den Eingeborenen keinen Platz. Für sie ist daher der Zionismus die höchste und brutalste Form des Kolonialismus 1 3 2 . Die heutige marxistisch orientierte Sicht bewertet nicht nur alle Einzelheiten negativ; sie lehnt auch die zionistische Selbstsicht radikal ab. Eine große Diskussion geht insbesondere um die sozialistischen Züge des 131 132

16. Kapitel. s. 28. Kapitel. - Ferner: 14. K a p i t e l 3.

5 Wagner

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1 - T e i l : Die Ausgangslage

Zionismus. Die zionistische Seite betont, daß ihre Bodenpolitik den sozialistischen Gedanken des Gemeineigentums verwirkliche und eine Bodenspekulation unmöglich mache; die marxistische Seite sieht hierin nur Vertreibung der Fellachen. Die Histadrut habe als Gewerkschaft bestimmenden Einfluß auf die Wirtschaft, aber sie war natürlich eine zionistische Kolonisierungskooperative, bei der der Zionismus immer vor rein gewerkschaftlichen Belangen rangierte. Das Prinzip der jüdischen Arbeit erschien den zionistischen Arbeitern als klassenkämpferische Errungenschaft, weil die jüdischen Unternehmer so nicht die Löhne der Beschäftigten drücken konnten; der Marxist sieht hier nur den rassischen Aspekt. Ganz aussichtslos ist aber der Sreit u m den sozialistischen Charakter der Kibutzim: sie galten lange Zeit i m Westen als Realisierung einer kommunistischen Utopie. Die heutige marxistische Sicht qualifiziert die K i b butzorganisation als Mikrosozialismus ab. Dörfliche Gemeinschaften, die i m Inneren kein Privateigentum kennen und ihre Kinder kollektiv erzögen, seien zwar in sich sozialistisch, aber die gesamte israelische W i r t schaft sei kapitalistisch und werde nicht durch einzelne Dorfgemeinschaften zu einer sozialistischen. Das kapitalistische Ganze bestimmte den Stellenwert der Teile und so müßten auch die Kibutzim nach außen hin wie kapitalistische Unternehmen wirtschaften 1 3 3 . 3. Die Organisation der Zionistischen Bewegung s. 14. K a p i t e l 1. 4. D i e ideologischen Gruppierungen i m Judentum i m Verhältnis z u m Zionismus Schrifttum: v o r I. T e i l zum Zionismus, insbesondere: Heller, Vlavianos/ Gross; Halpern; Halperin; Böhm. Über Parteien in Israel: M. H. Bernstein, The Politics of Israel. The First Decade of Statehood (Princeton 1957); Zeuner , i n : Israel. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, herausgegeben von Κ . Sontheimer (1968), S. 174 ff.

Hier sind nicht die parteilichen und organisatorischen Gruppierungen des Judentums i n der Welt, i n den einzelnen Ländern und i n Israel sowie i m Zionismus darzustellen. A l l e i n i n den USA gibt es über 100 jüdische Organisationen 134 . Die Vielfalt der ideologischen Gruppierungen ist verwirrend. Die Parteien hinterlassen beim Betrachter den Eindruck, als hätten sie sich unablässig gespalten und kaleidoskopartig neu formiert. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Die Juden lebten i n verschiedenen 133 Z u m Stellenwert dieser Argumente i n der Diskussion u m den imperialistischen Charakter des israelischen Staates s. K a p i t e l 28. 134 Halperin, Appendix I ; außerdem die Bände des American Jewish Yearbook.

1. Kap. : Der jüdische Nationalismus (Zionismus)

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Gesellschaftsordnungen, und diese unterschiedlichen Umwelten haben die ideologischen Gruppierungen geformt. A l l e diese Gruppierungen mußten sich dann m i t dem politischen Zionismus auseinandersetzen, der nahezu alle ideologischen Gruppen gespalten hat. So gab es zionistische und antizionistische, sozialistische und religiöse Parteien. Das Schema w i r d noch komplizierter: auch anti-zionistische Gruppen traten für die Übersiedlung nach Palästina ein; streng orthodox-religiöse Gruppen haben sich teils als sozialistisch, teils als anti-sozialistisch verstanden. U n d i n fast allen Gruppen gab es Vertreter eines rein jüdischen Staates und Anhänger einer bloßen jüdischen Autonomie i n Palästina. Die kombinatorischen Möglichkeiten sind daher erheblich; hierfür muß auf die Literatur verwiesen werden. Hier sind nur einige Begriffe zu klären, die i n der arabisch-israelischen Diskussion auftauchen. Ferner ist die List der zionistischen Geschichte zu zeigen, infolge der die verschiedensten Gruppierungen und selbst apolitische, nicht-zionistische und selbst anti-zionistische Gruppen letztlich dem Zionismus zum Siege verholfen haben. Damit erklärt sich aber auch die arabische Sicht, die keine Differenzierungen sieht, und zwischen Zionisten und Nichtzionisten, zwischen zionistischen Extremisten und Bi-Nationalisten, zwischen — sagen w i r — M a r t i n Buber und Menahem Begin nicht unterscheidet. a) Zionistische Maximal- und Minimallösungen

Der Zionismus war die national jüdische A n t w o r t auf die Judenfrage. Aber die Zionisten erstrebten i n verschiedenem Ausmaß eine jüdische Ansiedlung i n Palästina. Die Maximalisten wollten einen jüdischen Staat für alle Juden und erstrebten also die Sammlung aller Juden i n Palästina 1 3 5 . Demgegenüber haben i n der Diskussion drei Minimallösungen Bedeutung gewonnen: — Der philantropische Zionismus erstrebte i n Palästina eine potentielle Zufluchtsstätte für verfolgte Juden, zunächst für verfolgte osteuropäische Juden, soweit sie nicht i n westeuropäische Länder auswandern wollten oder konnten; nach 1933 allgemein für europäische Juden. Der philantropische Zionismus erstrebte auch nicht unbedingt einen jüdischen Staat, sondern irgendeine A r t von jüdischer Autonomie i n Palästina. Diese philantropische Form des Zionismus war weitgehend die Haltung des assimilierten Judentums i n den westlichen Ländern bis zu den großen Verfolgungen i n Deutschland. Insbesondere das amerikanische Judentum sah überwiegend i m Zionismus keine nationale, sondern eine philantropische Angelegenheit, eine Hilfsaktion zugunsten bedrohter Juden. Dies gilt insbesondere für die Brandeisgruppe, die am Zustandekommen der Balfour-Erklärung, an der Abfassung des Palästina-Mandats und an der 135

*

Über gebietliche Maximalvorstellungen 9. K a p i t e l 2.

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1 Teil: Die Ausgangslage

Übertragung des Mandats an Großbritannien entscheidend beteiligt war. So sah Brandeis nach 1920 die Aufgabe des politischen Zionismus für erledigt an, da die Juden nunmehr i n Palästina eine Zufluchtsstätte gefunden hätten; die weitere Aufgabe sah er ausschließlich i n der Erschließung Palästinas und weder i n der Entwicklung zu einer politischen Gemeinschaft noch i n der Staatswerdung. Diese Meinungsverschiedenheit m i t den Ambitionen der Zionistischen Organisation und insbesondere m i t Weizmann hatte zum Rücktritt von Brandeis geführt 1 3 6 . Noch heute sehen fast alle amerikanische Juden den israelischen Staat eher als einen Zufluchtsort an, zu dessen Aufbau sie zwar finanziell beitragen, i n den sie selbst jedoch nicht auswandern wollen. — Als Minimallösung gilt auch der Kultur Zionismus. I n seiner reinen Form erstrebte er ein jüdisches „geistiges Zentrum", i n dem ein Teil der Juden nach jüdischer Weise leben und die geistig-kulturelle Erneuerung des jüdischen Volkes herbeiführen sollte. Auf die Diaspora-Judenheit sollte das geistige Zentrum die wiedergewonnenen moralischen, seelischen und kulturellen Werte ausstrahlen. Der Kulturzionismus ist vor allem mit dem Namen von Achad Haan, dem geistigen Führer der Choveve Zion, verbunden 1 3 7 . Die sehr widersprüchliche Gesamtlehre Haams kann hier nicht referiert werden: er trat meist für bestimmte Lösungen ein. deren Beginn der Realisierung er dann sofort scharf angriff. So wandte er sich mit einem berühmt gewordenen Aufsatz „Nicht dies ist der Weg" vehement gegen die vorherzl'schen Besiedlungsversuche, aber auch gegen den „Konferenzzionismus" Herzls; nach der Balfour-Erklärung wandte er sich gegen das Ziel eines jüdischen Staates. Seine Grundlehre aber blieb die gleiche: i h m war nicht das Nationale vorrangig, sondern die Wiedererweckung des geistigen jüdischen Lebens. Daher wandte er sich zumindest zeitweise gegen die Pläne von der Umsiedlung aller Juden und vom Ende der Diaspora und betonte die zu leistende Erziehungsarbeit in Palästina und in der Diaspora. Geistiges Zentrum des Judentums sollte Palästina sein, und von diesem Zentrum erwartete er geistige Rückwirkungen auf die jüdische Diaspora. Kritische Fragen drängen sich auf. Nichtjuden haben selten gesehen, worin i n einer v o l l säkularisierten Zeit die spezifisch moralischen und geistigen Werte des Judentums bestehen könnten. Der politische1 Zionist frug stets, wie ein solches Zentrum ohne die entsprechende politische Aktivität, die Haam so verabscheute, denn erreicht werden könnte. Zu Recht haben K r i t i k e r gefragt, ob der Theorie vom geistigen Zentrum nicht die talmudisch-rabbi tische Vorstellung von einer verbindlichen 136 Über Brandeis: S. Goldman (Hrsg.), The words of Justice Brandeis (New Y o r k 1953) ; J. de Haas, Louis D. Brandeis (New Y o r k 1929). 137 Achad Haam, A m Scheidewege, 2 Bde. (1923- 1924); L. Simon, A h a d h a - A m (Philadelphia 1962).

. Kap.: Der

ische Nationalismus

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Lehre zugrundelag, die von einem Wissenszentrum aus weitergegeben würde. Etwas Vordergründung hat man zu Zeiten die hebräische Universität i n Jerusalem und das Weizmann-Institut i n Rehovot 1 3 8 als Anfang eines solchen Zentrums angesehen. Die gegenwärtige Realität sieht anders aus. I n einer weitgehend säkularisierten Welt sind spezifisch judaistische Forschungs- und Lehrstätten für ein geistiges Zentrum unzureichend; i m übrigen hat man oft festgestellt, daß Israel auf religiösem Gebiet so lange steril bleiben muß, wie das Verhältnis von Religion und Staat nicht befriedigend gelöst ist. Und für die allgemeine Forschung kann ein kleines Land wie Israel nur einen seiner Größe entsprechenden bescheidenen Beitrag leisten. Bildung, Lektüre, F i l m und Funk des Diasporajuden kann Israel nur partiell beeinflussen. Die von Israel für die Diaspora ausgehenden Impulse scheinen eher existentieller A r t zu sein: Juden i n aller Welt bekunden, daß sie sich seit der Staatsgründung Israels freier und selbstbewußter fühlen als vorher; daß sie sich nicht länger völlig abhängig fühlen von der prekären Toleranz ihrer nicht jüdischen Umwelt und „Wirtsvölker"; daß jahrhundertealte Klischeevorstellungen (Feigheit, Arbeitsscheu, Unfähigkeit zu staatlichem Leben) weggefegt seien, und daß sie sich i m ganzen nicht mehr rückhaltlos fühlen. Der Kulturzionismus hatte in Israel insofern große Bedeutung erlangt, als er die spezifisch jüdische K u l t u r , die Erneuerung des jüdischen Lebens betonte. Da er nicht den Akzent auf das staatliche, sondern auf das k u l turelle Leben gelegt hat, und da viele zionistische Exponenten eines Ausgleichs m i t den Arabern sich zur Lehre vom geistigen Zentrum bekannt haben, wurden Achad Haam und die Lehre vom Kulturzentrum als i m Verhältnis zu den Arabern gemäßigt hingestellt. Für die Araber lag nie ein Unterschied zwischen politischem und kulturellem Zionismus: sie waren gegen jüdische Einwanderung i n jeder Form, und durch seine Bemühung u m ein spezifisch jüdisches Leben hat Achad Haam schließlich zur Separierung beider Volksgruppen beigetragen. Deutsch-jüdische Vertreter des Kulturzionismus waren vor allem M a r t i n Buber u n d Robert Weltsch 1 3 9 .

Alle diese Meinungsverschiedenheiten konnte der Zionismus überbrücken. Unter der genialen politischen Formel vom „Nationalheim" konnten politische und philantropische, Staats- und Kulturzionisten sich zu gemeinsamer Arbeit zusammenfinden und zunächst einmal arbeiten; Weizmann, der Chemiker, sprach vom „synthetischen Zionismus". Das Endziel konnte zurückgestellt bleiben; auch der antistaatliche Zionist konnte sich am Aufbauwerk beteiligen (z. B. finanzielle M i t t e l bereitstellen; einen jüdischen Gesundheitsdienst aufbauen); den politischen 138 Hierüber J. Wechsberg, Weizmann-Institute of Science (1969) ; engl. O r i ginal: A W a l k through the Garden of Science (London 1967). 139 Herausgeber der Jüdischen Rundschau.

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1 T e i l : Die Ausgangslage

Z i o n i s t e n w a r dieser B e i t r a g w i l l k o m m e n . F ü r d e n A r a b e r l i e f alles a u f das Gleiche h i n a u s : auf d e n k r a f t v o l l e n A u f b a u eines j ü d i s c h e n G e m e i n wesens, das b a l d ganz P a l ä s t i n a ü b e r n e h m e n k o n n t e . — D i e V o r s t e l l u n g v o m Bi-Nationalen Staat i n P a l ä s t i n a e n t s t a n d i n d e n 30er J a h r e n u n t e r d e m E i n d r u c k des arabischen W i d e r s t a n d e s gegen d e n A u f b a u des j ü d i s c h e n Gemeinwesens. Seine A n k l ä n g e z u m K u l t u r z e n t r u m l i e g e n i m V e r z i c h t a u f e i n e n j ü d i s c h e n S t a a t ; anders als der b l o ß e K u l t u r z i o n i s m u s e r s t r e b t e n d i e B i n a t i o n a l i s t e n jedoch e i n e n p a lästinensischen Staat, i n d e m A r a b e r u n d J u d e n gleiche politische Rechte g e h a b t h ä t t e n . D i e B i n a t i o n a l i s t e n k a m e n aus d e n verschiedensten p o l i t i schen L a g e r n u n d w a r e n m e h r eine P l e i a d e v o n S p l i t t e r g r u p p e n als eine politische B e w e g u n g . I h r e gemeinsame V o r s t e l l u n g w a r , daß d i e z i o n i stische F ü h r u n g n i c h t g e n ü g e n d g e t a n habe, u m das V e r t r a u e n d e r A r a b e r z u g e w i n n e n . Sie f o r d e r t e n d e n a u s d r ü c k l i c h e n V e r z i c h t auf e i n e n j ü d i schen S t a a t oder e i n jüdisches C o m m o n w e a l t h , b e k ä m p f t e n also das Biltmore-Programm. V o n den wichtigsten Bi-Nationalen Gruppen seien genannt: IHZJD, eine v o r allem m i t dem Namen v o n Judah L . Magnes, dem 1. Rektor der Jerusalemer Universität, verbundenen Gruppe. Lit.: Palestine, A B i - N a t i o n a l State. V o n M . Buber, J. L . Magnes u n d M . Smilansky (New Y o r k 1946); J. L . Magnes, L i k e a l l the Nations? (Jerusalem 1930); ders., A r a b - J e w i s h U n i t y . Testimony before the Anglo-American I n q u i r y Commission for the I H U D , by Magnes and M . Buber (London 1947); Magnes, Towards U n i o n i n Palestine, Essays on Zionism and Jewish-Arab Cooperation, edited b y M. Buber, J. L. Magnes, E. Simon, I h u d (Union) Association, Jerusalem 1947. N. Bentwich, Judah L . Magnes (London 1955). Die Liga für die jüdisch-arabische Annäherung und Zusammenarbeit (Chaim Kavalryski). Die linkssozialistische Haschomer Hatzair. M. Yaaci, L'Hachomer-Hatzair. H i e r et aujourd'hui, Cahiers Bernard Lazare 1967, November. Die Ali ja Chadascha, s. G. Landauer, Der Zionismus i m Wandel der Jahrzehnte (Tel A v i v 1957), I I I . Die Bi-Nationalisten hatten außergewöhnliche Persönlichkeiten (Magnes, M . Buber, H. Szold), blieben aber ohne jede politische Resonanz. I h r e G r u p pen waren keine politischen Parteien u n d konnten abwertend als Debattierklubs bezeichnet werden. Sie hatten nicht den allergeringsten Erfolg und, rückblickend besehen, nie eine Chance, w e i l sie an einem unlösbaren Widerspruch litten: sie traten f ü r das jüdische Nationalheim ein; sie sprachen sich gegen das Weißbuch 1939 u n d f ü r die weitere jüdische Einwanderung aus (etwas anderes wäre zur Zeit der deutschen Judenvernichtung gar nicht denkbar gewesen), u n d sie w o l l t e n doch die Verständigung m i t den Arabern; so mußten sie i m Bereich einer seltsamen U n w i r k l i c h k e i t agieren. Einige ihrer Vertreter gerieten i n scharfen Gegensatz zum offiziellen Zionismus, u n d die T r a g i k v o n Magnes mag man bei Bentwich nachlesen. Angesichts des Widerspruches, ein jüdisches Nationalheim m i t t e n i m arabischen Gebiet u n d m i t arabischer Zustimmung aufbauen zu wollen, muß m a n v o n Wunschdenken

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sprechen; bei Weinstock, einem ehemaligen Funktionär von Haschomer Hatzair u n d Verfasser von „ L e Sionisme contre Israel" muß m a n schon v o n Schizophrenie sprechen. Auch v o n arabischer Seite blieb die binationale I n i t i a t i v e ohne A n t w o r t ; selbst ein Verwandter v o n Hadsch A m i n , der sich m i t ihnen einließ (Darwisch Husseini) wurde v o n seinen Landsleuten ermordet. A l l das ist verständlich, denn auch die binationalen Gruppen waren i n arabischen Augen Zionisten u n d sonst nichts. Sie brandmarkten bereits zu Beginn der Mandatszeit die offiziellen Erklärungen des Zionismus als trügerische Formeln u n d bauten dennoch das Nationalheim m i t auf. Die zionistische Formel v o m „Nationalheim" erlaubte auch diesen Gruppen die Mitarbeit am Aufbauwerk, mochten sie noch so m i t der offiziellen zionistischen Politik differieren. J. L. Magnes verweigerte die Mitarbeit i n zionistischen Gremien, aber am Aufbauw e r k hatte er größten Anteil. Genau dies aber bekämpften die Araber, mochte sich das Endergebnis dieses Aufbauwerkes nennen, wie es wollte. Diese E r kenntnis mag die Formulierung rechtfertigen, daß i n arabischen Augen z w i schen verständnisbereiten u n d radikalen Zionisten kein Unterschied bestand: ob M. Buber oder Jabotinsky, ob heute der K o m m u n i s t Mosche Sneh oder Dayan u n d Begin, dies gilt ihnen gleich. N u r ein Anti-Moses, der sein V o l k aus Palästina wegführte, wäre ein akzeptabler Gesprächspartner. Heute w i r d die Vorstellung von einem bi-nationalen Staat i n Israel v o n einigen Kleingruppen u n d unter den Arabern v o n der Demokratischen Volksfront f ü r die Befreiung Palästinas vertreten, s. 27. K a p i t e l 3, 28. Kapitel. b) Zionisten, Nicht-Zionisten, Anti-Zionisten

Ist Zionist, wer sich zum Basler Programm bekennt, wer also für den Aufbau eines jüdischen Nationalheims in Palästina eintritt, so würde man annehmen, daß ein Nicht-Zionist gegen den Aufbau dieses Nationalheims oder wenigstens indifferent ist. Die politische Entwicklung hat dem Begriff eine andere Bedeutung verliehen. Der Zionismus hat von Anfang an den Aufbau des Nationalheims als eine Aufgabe des gesamten jüdischen Volkes verstanden; daher war er bestrebt, die Verantwortung für das Aufbauwerk dem gesamten Judentum und insbesondere den wichtigsten jüdischen Gemeinschaften i n aller Welt zu übertragen. Hierfür suchte die Führung der Zionistischen Organisation einen organisatorischen Rahmen; er wurde in der sog. erweiterten Jewish Agency gefunden 140 . Weizmann betrieb i n den 20er Jahren die Erweiterung energisch, weil er die Nichtzionisten, insbesondere die großen amerikanischen jüdischen Organisationen durch Übernahme von Mitverantwortung zu dauernder Mitarbeit verpflichten und dem jüdischen Aufbauwerk i n Palästina größere Finanzquellen erschließen wollte. Auch konnte die Erweiterung die Repräsentativität der Jewish Agency und damit ihr politisches Gewicht verstärken. Der achtjährige Kampf, den Weizmann für die Zionistische Organisation u m die Erweiterung der Jewish Agency führte, ist 140

Hierzu 14. K a p i t e l 1.

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1 Teil: Die Ausgangslage

ein Stück der zionistischen Organisation während der zwanziger Jahre. Gegen die Einbeziehung nichtzionistischer Kräfte machte die Opposition geltend, der Zionistische Kongreß begebe sich seiner Souveränität und übergebe das Aufbauwerk „Notabein", die vor keinem legitimierten Grem i u m verantwortlich seien. Der Kampf bestimmte seit 1923 die Zionistischen Kongresse und Konferenzen; es war vor allem ein Kampf gegen Weizmann, den auf Seiten der Opposition Jabotinsky führte. Organisatorisch wollte Weizmann vorgehen wie 1897 Herzl: er versuchte nach A r t des Zionistischen Weltkongresses einen jüdischen Weltkongreß einzuberufen, der eine Jewish Agency auf breiter Grundlage hätte schaffen können; dies war nicht durchführbar. Statt dessen mußte Weizmann m i t den führenden jüdischen Gruppen i n Großbritannien und den USA verhandeln und gelangte schließlich nach vielen Schwierigkeiten 1 4 1 1927 zu einer Vereinbarung; die Zionistische Organisation stimmte 1919 zu 1 4 2 . Hierbei kam es zu der sonderbaren Wortbedeutung des „Nichtzionisten", der sich dann immer noch vom Anti-Zionisten abhob. Die Definitionen blieben vage 1 4 3 . Den Nichtzionisten kam es vor allem darauf an, sich gegen die politischen Forderungen der Zionisten abzusetzen, und sie selbst formulierten ihre Vorstellungen bei der Mitarbeit dahingehend, daß sie rechtlich und völkisch Angehörige ihrer Heimatländer blieben und nicht Angehörige des jüdischen Volkes seien, dessen Nationalheim Palästina ist. Sie waren zionistische Juden m i t beschränkter Haftung. Zunächst war der erhoffte Zuwachs gering. Erst nach der Judenverfolgung ab 1933 bewährte sich der von Weizmann geschaffene organisatorische Rahmen. Der deutsche Antisemitismus zwang das Judentum zur Einheit, und gegen Ende der 30er Jahre war der Unterschied zwischen Zionisten und Nichtzionisten nahezu bedeutungslos geworden. I n der Organisation hatten die Zionisten die Führung ergriffen; sie führten das Weltjudentum, und das US-Judentum war zionistisch geworden, wenn nicht ideologisch, so doch praktisch. A u f der Strecke blieben infolge der geschichtlichen Entwicklung die organisierten Antizionisten. Zwar gab es zahlreiche antizionistisch eingestellte Juden i n der Welt, aber sie sind kaum organisatorisch zusammengefaßt. Der Antisemitismus hat diese Gruppierungen aufgelöst. 141 Z u den Problemen m i t der Marshall-Gruppe siehe z. B. J L , „ K r i m p r o j e k t " . Z u r organisatorischen Verbindung v o n Zionistischer Organisation und Jewish Agency s. 14. K a p i t e l 1. 142 Einzelheiten: Bericht der Joint Palestine Survey Commission (engl. u. dtsch., London 1928) u n d Bericht über die Konferenz der amerikanischen Nichtzionisten über die Frage der Jewish Agency f ü r Palästina (Jerusalem 1929). 143 «A person associated w i t h the Agency otherwise than i n the capacity of a member and representative of the Zionist Organisation."

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Als nennenswerte antizionistische Gruppe bleibt lediglich der American Council of Judaism 144. Sein Einfluß ist denkbar gering; er hat sich, w i e Halperin feststellt, außerhalb des jüdischen Konsensus gestellt. Seine V e r treter bestreiten dem Zionismus jedes Recht, f ü r die Juden i n aller Welt zu sprechen. c) Die ideologisch-parteiliche Gruppierung

Aus der Vielfalt der Parteien lassen sich mit Blick auf ihre Haltung gegenüber dem Zionismus vier ideologische Hauptgruppen unterscheiden: Sozialistische (oder Arbeiter-) Parteien, Zentrumsparteien, Religiöse Parteien, Rechtsparteien. Sozialistische Parteien 145. Juden hatten an allen sozialistischen Bewegungen einen großen Anteil; die Literatur hat dies oft auf jüdische religiöse Einflüsse und auf die spezifischen Bedingungen des Juden in der nichtreligiösen Umwelt zurückgeführt. Der Zionismus war stets von sozialistischen Gedanken geprägt; Israel versteht sich als sozialistischer Staat und w i r d vornehmlich von sozialistischen Parteien geführt. Zionistisch-sozialistische Parteien konnten sich jedoch aus ideologischen Gründen nur langsam bilden. Zionismus ist eine nationale Lösung; die sozialistischen Ideologien vor dem 1. Weltkrieg waren eher international als national ausgerichtet. Aus diesem Gegensatz entwickelten sich heftige Kämpfe des Zionismus m i t den antizionistischen sozialistischen Gruppen und dieser Streit bestimmt noch heute das Verhältnis zum Marxismus. Der Gegensatz formte aber auch den israelischen Sozialismus i n seiner Eigentümlichkeit und führte zu einer spezifisch israelischen Synthese sozialistischer und nichtsozialistischer Gedankengänge. I n Europa war der politisch wirksame Sozialismus marxistisch. Marxismus i n seiner überkommenen Form ist aber m i t einer rein nationalen Lösung, wie sie der Zionismus anstrebt, unvereinbar. Dem theoretischen Marxismus ist die Nation nichts, die Klasse alles. Quer durch alle Nationen sieht er eine weitgehend gleiche Klassenschichtung. Diese Schichtung ist allein durch wirtschaftliche Faktoren, nämlich durch die Produktionsverhältnisse und die Stellung des Menschen i m Produktionsprozeß bestimmt. Hier steht überall die Arbeiterklasse und damit das international verbundene Proletariat i m Kampf gegen Ausbeuterklassen. Insbesondere i m privatkapitalistischen System rühren die wahren Interessengegensätze ausschließlich aus der durch die objektive Interessenlage bedingten Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Bourgeoisie. Nation und nationale Bestrebungen dagegen entsprechen nicht der objek144 Über i h n Halperin, K a p i t e l 11. L i t e r a t u r : die Schriften von Elmer Berger (vor I. Teil) sind oberflächliche Pamphlete. Gründlicher: Lilienthal u n d Mallison. 145 Vlavianos/Gross, S. 53 ff.; Halperin, K a p i t e l 6.

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1 T e i l : Die Ausgangslage

tiven Interessenlage der Mehrheit der Bevölkerungen, sondern dienen vornehmlich dazu, das Ausbeutersystem aufrechtzuerhalten und die Massen von ihren wahren Interessen und dem Kampf hierfür abzulenken. Auch die Beziehung zwischen Völkern sieht der Marxismus i n diesem Schema. Die Unterdrückung von Völkern durch andere Völker ist ihm lediglich eine Folge des kapitalistischen Systems, das die herrschende Klasse der Industrienationen zu Expansion und Imperialismus zwingt. Aus dieser Sicht ist es allein die Aufgabe der Marxisten, den Kapitalismus zu beseitigen. Ist erst eine sozialistische Wirtschaftsordnung errichtet, dann entfällt die Unterdrückung von Klassen und von Völkern. I n einer solchen Sicht ist wenig Raum für nationale Bestrebungen. Vor dem 1. Weltkrieg bekämpfte sie der Marxist, da sie nach seiner Meinung ausschließlich den Interessen der herrschenden Klasse dienen und auf jeden Fall die Arbeiterklasse von der Erkenntnis ihrer Interessen und vom erforderlichen Kampf abhalten. Auch die Judenfrage sieht der Marxismus i n einer ökonomisch orientierten Sicht. Eine solche Sicht ist allerdings kaum ausgearbeitet. Von Marx bis Lenin gibt es nur einige Polemiken gegen die Juden überhaupt 1 4 6 oder gegen jüdische autonome 1 4 7 und nationale Lösungen. Erst der belgische Trotzkist Leon hat das jüdische Problem ausführlich vom marxistischen Standpunkt aus behandelt 1 4 8 ; seine Gedanken wurden neuerdings von Rodinson 149 und Weinstock 1 5 0 weitergeführt. Die alte Frage, wie das Judentum 2000 Jahre Diaspora als Volk überleben konnte, beantwortet der Marxismus m i t der wirtschaftlichen Sonderstellung der außerpalästinensischen Juden durch die Zeiten 1 5 1 . Seit der Antike habe das jüdische Volk i m Wechsel der Wirtschaftssysteme stets spezifische ökonomische Funktionen ausgeübt: Kleinhandwerker, Händler, Zwischenträger, Geldgeschäfte, Steuereinnehmer. Man vergleicht die Juden etwa m i t den Auslandschinesen i n Südostasien 152 . Die Teile des 146 Nachweise f ü r M a r x : E. Silberner, Sozialisten zur Judenfrage (1962), 8. K a p i t e l ; zur I I . Internationale: ebenda, 9. Kapitel. 147 Z u Lenins Polemik gegen die Bundisten: Weinstock (vor I. Teil), 13. K a p i tel A n n e x I I . 148 A. Léon (in Auschwitz ermordet), L a conception matérialiste de la question j u i v e (Paris 1946; neu herausgegeben von Rodinson 1968). Frühe marxistische Widerlegung der zionistischen Lösung: Kautsky, Rasse u n d Judentum (1914); J. Rennap, A n t i - S e m i t i s m and the Jewish Question (London 1942). 149 Μ . Rodinson, Israel et le refus arabe (Paris 1968) u n d S. 17 ff. 150 L e Sionisme contre Israel (Paris 1969). 151 Insoweit deckt sich die marxistische Sicht m i t der Sicht einiger bürgerlicher A n a l y t i k e r w i e W. Sombart, Die Juden u n d das Wirtschaftsleben (1911); zum Ganzen: Gerhard, Die wirtschaftlich argumentierende Judenfeindschaft, i n : K. Thieme, Judenfeindschaft (1963), S. 80 ff. 152 Geht allerdings nicht so weit, deren Chinesentum m i t ihrer Händlerstellung erklären zu wollen.

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jüdischen Volkes, die derartige Funktionen nicht übernommen hätten, seien durch Assimilation ausgeschieden worden; soweit derartige Funktionen infolge Änderung der Verhältnisse nicht mehr gefragt gewesen oder von den Wirtsvölkern selbst übernommen worden seien, sei das Judentum i n Krisen geraten und zum Teil zur Auswanderung gezwungen worden, wie in Osteuropa i n der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Léon hat für seine Sicht das Wort vom Judentum als „peuple-classe" geprägt. Aus dieser Sicht stellt sich der Antisemitismus teils als zwangsläufiges Mißtrauen der Umwelt gegen diese Berufe und als mangelnde Einsicht i n den kapitalistischen Geldmechanismus, teils als Konkurrenzneid des diese Berufe übernehmenden nichtjüdischen Kleinbürgertums dar 1 5 3 . Der Zionismus ist dann nur das Ergebnis der Zersetzung der feudalen Gesellschaftsordnung der russischen und österreichisch-ungarischen Reiche, sowie des Abstiegs des Kapitalismus und der damit verbundenen Blokkierung der Assimilation. Die Lehre v o m „peuple-classe" k a n n hier nicht weiter untersucht werden. Sie mag f ü r bestimmte Epochen — etwa f ü r das europäische Spätmittelalter — Funktion, Sonderstellung u n d Persistenz der Juden erklären. F ü r große Teile der jüdischen Geschichte befriedigt sie nicht. Der Versuch, das jüdische Problem ausschließlich i n ökonomischen Kategorien zu sehen, muß notwendig scheitern. Der Marxismus ist eben i m m e r dann unzureichend, w e n n er sich weigert, offensichtlich vorliegende nicht-ökonomische Faktoren zur Kenntnis zu nehmen. Auch i n seinem Einflußgebiet hat er weder das Judenproblem lösen können noch auch n u r vehementen Antisemitismus verhindert. Z u r Lage der Juden i n der Sowjetunion: G l i ebrei nell'U.R.S.S. (Mailand 1966, Sammelband); L . Lenneman, L a tragèdie des juifs en U.R.S.S. (Paris).

Die Lösung der Judenfrage ergibt sich i n dieser marxistischen Sicht von selbst: m i t der Umwandlung der privatkapitalistischen Gesellschaftsordnung i n eine sozialistisch-kollektivistische Ordnung werde auch das Judenproblem und der Antisemitismus entfallen. I n dieser Sicht ist weder für eine national-jüdische Palästinalösung noch auch nur für eigene jüdisch-sozialistische Gruppierungen Raum. Der offizielle Marxismus hat sich auch daher vehement gegen den Zionismus und ähnliche jüdischnationale Lösungen (wie etwa gegen die Bundisten) ausgesprochen. Dennoch haben sich, insbesondere i n Osteuropa, jüdisch-sozialistische Parteien gebildet, die einerseits i n heftigem Kampf m i t den übrigen Marxisten, andererseits sich am Zionismus untereinander schieden. Die osteuropäischen jüdischen sozialistischen Parteien waren zunächst vehe153 Diese E r k l ä r u n g auch bei Herzl, „ I n den Hauptländern des Antisemitismus ist er eine Folge der Judenemanzipation. A l s die K u l t u r v ö l k e r die U n menschlichkeit der Ausnahmegesetze einsahen u n d uns freiließen, k a m die Freilassung zu spät. W i r hatten uns i m Ghetto merkwürdigerweise zu einem Mittelstandsvolk entwickelt u n d kamen als eine fürchterliche Konkurrenz f ü r den Mittelstand heraus".

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ment antizionistisch — so sehr sie ihrerseits gegen den jede nationale Lösung bekämpfenden Marxismus selbst zu kämpfen hatten. Sie traten teils für eine national jüdische Autonomie i n der Diaspora (so Bund und Sejmisten), teils für eine territoriale Lösung außerhalb Palästinas (Zionisten—Sozialisten) ein. Der 1897 gegründete B u n d 1 5 4 war bis 1918 die stärkste jüdisch-sozialistische Gruppierung i n Osteuropa. Die Bundisten sahen das Judentum als staatslose Nation an, für die sie kulturelle Autonomie i n den Diaspora-Ländern der jüdischen Massenansiedlung erstrebten. I n der Diaspora wollten sie volle Gleichberechtigung der jüdischen Arbeiterschaft und eine sozialistische Gesellschaftsordnung verwirklichen. Der Bund hatte sich stets gegen territorialistische Lösungen und insbesondere gegen den Zionismus ausgesprochen. Bis 1918 hatte er dem Zionismus die größte Konkurrenz unter dem osteuropäischen Judentum gemacht, denn er war die stärkste Organisation des Judentums i n Rußland, Polen, Litauen und Rumänien. Innerhalb des Marxismus mußte er diese Stellung i n schweren Kämpfen mit den übrigen Marxisten durchsetzen. Insbesondere Lenin hat sich heftig gegen derartige Sondergruppierungen mit national kulturellen Autonomiebestrebungen ausgesprochen 155 . Seine Polemik gegen den Bund ist noch heute Teil des internationalen Kommunismus. Der Bund fand 1918 i n Rußland sein Ende; i n Polen, Litauen und Rumänien wurde er durch russische und deutsche Besetzungen i m 2. Weltkrieg praktisch vernichtet. Die Sowjets sollen die meisten Bundführer liquidiert haben, die Deutschen haben auch die Massen der Bundisten ermordet. Die übrigen sozialistischen nicht-zionistischen Parteien des Ostjudentums sind nach 1918 i n der Sowjetunion gleichfalls aufgelöst und i n Polen vom Bund aufgesogen worden. Innerhalb des Zionismus bildeten sich mehrere sozialistische Parteien, von denen Poale Zion innerhalb der Zionistischen Organisation den größten Einfluß gewann; ihre Ideen leben heute in Israel vornehmlich in Mapai und Mapam fort. Der zionistische Sozialismus ist jedoch eigener Art. Marxistische und nichtmarxistische Vorstellungen sind hier zusammengeflossen, und selbst das marxistische Gedankengut hat erhebliche theoretische Umbildungen erfahren. Außerdem sind i n seine Ideologien Gedanken russischer Sozialrevolutionäre und Tolstois eingeflossen; schließlich hat auch die jüdische Religiosität ihren Beitrag gegeben. Mögen auch die einzelnen Komponenten von den einzelnen Parteien unterschiedlich akzeptiert werden, so haben diese Einflüsse doch zu einer eigenartigen Synthese geführt. 154 Vlavianos/Gross, Y o r k 1958). 135 A n m e r k u n g 147-

S. 131 ff.; J. S. Hertz, The Jewish Labor B u n d (New

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Der Marxismus wurde insbesondere von Ber Borochow 1™ auf die spezifischen Probleme des Zionismus h i n neu interpretiert und zum PoaleZionismus ausgebaut. Der Poale-Zionismus w i l l zionistische Nationallösung m i t marxistischem Klassendenken erklären 1 5 7 . Sein Problem sieht so aus: Der Zionismus sieht die Judenfrage auch i m ökonomisch-sozialen Bereich als spezifisch an. Sie ist durch die Heimatlosigkeit und Minderheitenstellung der Juden i n nichtjüdischer Umwelt bedingt. Diese i m Vergleich zu anderen Nationen anormale Lage muß durch eine nationale Lösung beseitigt werden. Da der Zionismus gerade die Einheit der Nation postuliert, muß er von der Identität der Interessen aller seiner Klassen ausgehen. Der Poale-Zionismus geht vom Klassendenken aus. Nach seiner Theorie muß jedoch die jüdische Arbeiterschaft i m Gegensatz zu allen anderen Arbeitern sich erst ein Territorium erkämpfen. Denn das Territorium ist die wichtigste Produktionsbedingung; von ihm leiten sich alle anderen Produktionsbedingungen her. Also braucht das jüdische Volk zunächst ein eigenes Territorium, auf dem es eine eigene Wirtschaft schaffen kann. Solange eigenes Territorium und eigene Wirtschaft fehlen, kann auch die jüdische Bevölkerung sich nicht i n dem Prozeß der allgemeinen Proletarisierung einfügen und daher auch i n der Diaspora nicht an der Neuordnung der Gesellschaft mitwirken. Die jüdische A r beiterschaft kann daher i n der Diaspora den Kampf nicht führen, w e i l ihr die Kampfbasis fehlt, nämlich der Großbetrieb und sozial hochwertige Produktionszweige. I m Unterschied zum nichtjüdischen Proletariat müsse sich die jüdische Arbeiterschaft daher erst den Arbeitsplatz, die „strategische Basis" erobern. Daher müsse er sich erst ein Territorium schaffen. Habe er dann i m eigenen Lande die entsprechenden Arbeitsplätze geschaffen, dann könne er zum Klassenkampf übergehen und ein jüdischsozialistisches Gemeinwesen schaffen. Nationale und soziale Befreiung habe daher i n zwei aufeinander folgenden Etappen zu erfolgen, wobei die nationale Frage Vorrang habe und der Klassenkampf zurückzustellen sei zugunsten der nationalen Befreiung und der „Normalisierung" der Produktionsbedingungen. Den Nationalismus erklärt der Poale-Zionismus zum Minimalprogramm, den Aufbau des Sozialismus zum Endziel. 156 Ber Borochow, Die Klasseninteressen u n d die nationale Frage; Unsere Plattform (1905 und 1906; Nachweis der Ausgaben EJ, „Borochow") über i h n noch Weinstock, 13. Kapitel, A n n e x I I I . 157 Statut 1909: „Der Allweltliche Jüdische Sozialistische Arbeiterverband „Poale Zion" umfaßt alle diejenigen, die auf dem Boden der sozialistischen Lehre stehen u n d folgende Ziele erstreben: a) Abschaffung der kapitalistischen Ordnung u n d der Klassenherrschaft der Bourgeoisie durch den ökonomischen u n d politischen Klassenkampf des Proletariats u n d dieser Gesellschaft u n d der Produktionsmittel; b) die territoriale Lösung der Judenfrage durch die Schaffung einer jüdischen Volksgemeinschaft i n u n d u m Palästina.

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Diese „Theorie der Etappen" ist leicht angreifbar: der Poale-Zionismus w i l l eine klassengeschichtete Gesellschaftsordnung aufbauen, nur u m sie bekämpfen und stürzen zu können! Und es ist schwer ersichtlich, warum das alles gerade i n Palästina geschehen muß. Werden die ideologischen und gefühlsmäßigen Bindungen an Palästina geleugnet — und der überzeugte Marxist kann sie nur leugnen —, dann kann Palästina nichts bedeuten. Der Poale-Zionismus war darum lange Zeit nicht auf Palästina fixiert, sondern hat die territoriale Lösung vertreten. Aber durch die List der Geschichte ist der Poale-Zionismus noch zionistischer geworden als andere Gruppen: Durch sein Bekenntnis zur „praktischen Arbeit" und die frühzeitige Einwanderung seiner Gruppen hat er mitgeholfen, den Charterismus zu überwinden, d. h. die Vorstellung vom zeitlichen Vorrang der völkerrechtlichen Garantie des Aufbauwerkes. Heute lebt er i n den sozialistischen Parteien Israels fort und hat viele marxistische Vorstellungen i n die israelischen Strukturen gebracht. Die Poale Zion schloß sich 1907 als Sonderverband der Zionistischen Organisation zur Weltvereinigung zusammen. Als sozialistischer Verband gehörte sie der Sozialistischen Internationale an. Die auf kommunistischem Standpunkt stehenden Mitglieder der Poale Zion traten 1920 aus dem Sonderverband Poale Z i o n u n d aus der Zionistischen Weltorganisation aus u n d schlossen sich der I I I . Internationale an.

Eine nicht-marxistische Komponente hat Nachman Syrkin zum zionistischen Sozialismus beigesteuert 158 . Syrkin war vom russischen Sozialrevolutionismus geformt. Sein Beitrag gilt insofern als „idealistisch", als er weniger den objektiven Produktionsbedingungen als dem menschlichen Willen die entscheidenden Möglichkeiten zuweist, die gesellschaftlichen Strukturen zu formen. Er hat mitgeholfen, i n Israel auch eine nicht-marxistische Arbeiterbewegung aufzubauen. Einen nicht-marxistischen Beitrag bildet schließlich die Sozialethik von Aaron David Gordon. Bei i h m mischen sich sehr verschiedene Einflüsse: die religiöse Ethik der Juden, Ideen russischer Sozialrevolutionäre, Rousseauismus und Tolstois Idealisierung des bäuerlichen Lebens. Meist w i r d er als Tolstoianer bezeichnet. Gordon lehnte insbesondere den Klassenkampf ab: der Kampf spiele sich nicht zwischen Kapitalismus und Arbeit ab, sondern zwischen dem Schöpferischen und dem Parasitären. Seine Predigt von der Rückkehr zum einfachen Leben und zur Bodenbearbeitung, seine Lehre von der „Eroberung der Arbeit" haben eine „Religion der Arbeit" geschaffen, die i n weiten Kreisen Israels als Ideologie, Dogma und Norm gilt. Eigentümlich ist seine Exaltation der Nation und der Nationalsprache und seine Vorstellung, daß nicht nur der Mensch nach Gottes Vorbild geschaffen sei, sondern auch die Nation nach Gottes Vorbild geschaffen werden müsse. 158

Über Syrkin

s. Marie Syrkin,

Nachman S y r k i n (New Y o r k 1960).

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Bei den sozialistischen Einflüssen ist schließlich die jüdische Religiosität zu erwähnen. Natürlich w a r die biblische Gesellschaftsordnung theokratisch. Aber sie war naturgemäß (wie keine damalige Gesellschaftsordnung) nicht privatkapitalistisch, sondern enthielt Züge, die i m Gegenbild zum Kapitalismus als kollektivistisch bezeichnet werden können. Daher konnte etwa die biblische Bodenordnung als antikapitalistisch und i n gewissem Sinne als sozialistisch verstanden werden. Diese verschiedenen Einflüsse sind zu einer weitgehend einheitlichen Arbeiterbewegung zusammengeflossen. Gewisse Linksgruppen standen jeweils i n Opposition zu dieser Einheitlichkeit, aber es waren die vereinheitlichten Arbeiterparteien, die die Politik i n Israel bestimmten. I h r Ziel w a r nicht der Klassenkampf, sondern sie bemühten sich, den Sozialismus bereits beim Aufbau Palästinas zu verwirklichen. Sie bemühten sich von vornherein u m eine sozialistische Gesellschaft ohne die üblichen Klassengegensätze und u m dementsprechende wirtschaftliche Produktionseinrichtungen. Daher weist die israelische Struktur heute starke sozialistische Züge auf: die Gemeinschaftssiedlungen verschiedenster A r t , insbesondere die Kibbutzim; die eigentümliche Stellung der Histadrut als Gewerkschaftsorganisation und größter Wirtschaftsunternehmer; eia ausgebautes Genossenschaftswesen; die Nivellierung der Einkommensverhältnisse und ein außergewöhnlich gut ausgebauter Sozialdienst. Die wichtigsten sozialistischen Parteien seit der Staatsgründung sind Mapai und Mapam; beide Parteien haben die übrigen Linksgruppen weitgehend aufgesogen. Mapai setzt die Tradition der Poale Zion fort, lehnt also den Klassenkampf ab Es ist klar, daß hier die marxistischen Angriffe ansetzen und Mapai das Recht abstreiten, sich sozialistisch zu nennen. Mapam dagegen versteht sich dagegen als kommunistisch 1 5 9 . Die Partei kam m i t dem Hitler-Stalinpakt 1939 und infolge der antiisraelischen Politik der Sowjetunion i n eine schwierige Lage. Die Krise trat 1952 während des Slansky-Prozesses ein, als ein nach Prag entsandtes Parteimitglied als antikommunistischer Verschwörer mitangeklagt wurde. Die harte antizionistische und antisemitische Polemik des Verfahrens machte eine pro-sowjetische Partei i n Israel fast unmöglich und führte zu weiteren Spaltungen. Religiöse Parteien. E i n besonderes Problem für den Zionismus war stets die jüdische Religion 1 6 0 . Die Religion hat das Judentum i n seiner täglichen Lebensführung so geprägt, daß es i n der Diaspora bestehen blieb. Große Teile des Judentums haben keine Säkularisierung, keine 159 Vlavianos! Gross, S. 71 ff.; ihre Sicht des arabisch-israelischen Konflikts bei M. Sneh, Sortir du cercle vicieux de la haine, TM, S. 603; und S. Flapan, Le dialogue entre socialistes arabes et israéliens est une necessità historique, T M S. 559 ff.

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® Vlavianos!Gross, S. 77 ff.

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1 Teil: Die Ausgangslage

Trennung vom weltlichen und religiösen Leben mitgemacht. Nach ihrer Ansicht ist Israel nicht ein Volk wie andere Völker; bei i h m seien Rasse, Religion und Staat eine spezifische und unlösbare Verbindung eingegangen. Dennoch haben die Vorstellungen über die Rolle der Religion auch i m Judentum i m 19. Jahrhundert erhebliche Wandlungen und Aufsplitterungen mitgemacht. Das muß hier dahinstehen. Hier geht es ausschließlich um das Verhältnis zum Zionismus. A m Zionismus hat sich das gläubige Judentum gespalten in eine pro-zionistische und eine — zunächst — antizionistische Gruppe. Ein Bestandteil des jüdischen Glaubens ist die nationale Messiashoffnung; der von Gott gesandte Messias w i r d das Reich Israel wieder errichten. Hierzu haben — sehr vereinfacht gesagt — drei Gruppen verschieden Stellung bezogen: — Das Reformjudentum verzichtete auf alle Bindungen an Israel und auf die Vorstellung, ein Messias würde die zerstreuten Juden i n Israel zusammenbringen 161 . Über die bedeutende Literatur des Reformjudentums i n Deutschland und i n den USA kann hier nicht berichtet werden. I n den USA haben große Teile des Reformjudentums schließlich als Nichtzionisten i n der einen oder anderen Form den Zionismus unterstützt und bedeutende Reformrabbiner waren Zionisten (z. B. Juda L. Magnes, Stephen S. Wise). — Die pro-zionistische religiöse Gruppe formierte sich i n der Misrahi. Sie sah keinen Widerspruch zwischen messianischen Hoffnungen und menschlichem Einsatz für eine nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes. Wie immer sie zu politischen Forderungen des Zionismus stehen mochte — sie sah i m Zionismus die Möglichkeit, nach Palästina zurückzukehren. Zionismus war für sie eine religiöse Angelegenheit und lediglich Vollziehung der talmudischen Forderung, i n Palästina zu leben, da nur i n Palästina ein religionsgemäßes Leben möglich sei. A u f dieser Basis konnte die Misrahi als Sonderverband der Zionistischen Organisation mit den übrigen Zionisten zusammenarbeiten 162 . — Ein Teil der jüdischen Orthodoxie kam jedoch zu einer anderen Auslegung: sie betrachtete das menschliche Streben, das Reich Israel vor dem Kommen des Messias zu errichten, als unvereinbar m i t den religiösen Vorstellungen. Diese anti-zionistische Gruppe formierte sich außerhalb der Zionistischen Organisation als Weltorganisation der Agudath Israel 163. Ihre Ideologie räumte der Tora den unbedingten Vorrang ein. 181

s. etwa JL, „Reformjudentum" ; Halperin, K a p i t e l 4. „Der Misrahi ist eine Vereinigung v o n Zionisten, welche die V e r w i r k lichung des Basler Programms auf der Grundlage u n d i m Sinne der traditionellen jüdischen Gesetze erstrebt." 183 Z u m Agudismus s. Vlavianos/Gross, S. 200 f. Ihre theoretischen Schriften: J. Breuer, Judenprobleme (1918); ders., Messiasspuren (1918); J. Rosenheim, Aufsätze u n d Ansprachen, 2 Bde. (1930). 182

. Kap.: Der

ische Nationalismus

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Daraus folgerte sie die absolute Unabhängigkeit von jedem anderen W i l len außer der Tora, und deshalb glaubte sie, keiner Vereinigung beitreten zu können, die sich nicht voll der Tora verpflichtet hielt. Agudath Israel hat sich daher während der Mandatszeit und bis zur Staatsgründung antinational und anti-zionistisch verstanden. Sie hat von der Mandatsmacht die Anerkennung als selbständige religiöse Gemeinschaft, also außerhalb der ansonsten geschlossen anerkannten jüdischen Volksgruppe gefordert. Aber auch diese „Antizionisten" haben ihr Teil zur Staatsgründung beigetragen. Denn wenn i h r Glaube ihnen auch verbot, einen jüdischen weltlichen Staat zu errichten, so blieb doch immerhin das talmudische Gebot, i n Palästina zu leben. Und so tat die Weltorganisation der Agudath Israel nichts anderes als die Zionistische Organisation: sie organisierte die Einwanderung und Ansiedlung von (orthodoxen) Juden nach und i n Palästina und baute ihren eigenen Sozialdienst auf. M i t der Gründung des israelischen Staates hat Agudath Israel wie auch die übrigen religiösen Gruppen ihre Haltung partiell revidiert. Der israelische Staat war nun eine Tatsache geworden, und sie sah es als ihre Aufgabe an, daraufhin zu wirken, daß dieser Staat den religiösen Gesetzen entsprechend lebt. Sie ist daher i m Parlament und i n der Regierung vertreten. Eine winzige Gruppe ultrakonservativer Juden hat sich abgespalten u n d steht außerhalb der politischen Institutionen, die Neturei Kartä. I h r e M i t g l i e der erkennen den israelischen Staat nicht an, weigern sich, außer i m Gebet, hebräisch zu sprechen (sie sprechen Jiddisch), Personalausweise zu tragen usw. Sie sind heute eher eine A r t Touristenattraktion i n Mea Schearim geworden, wenn es auch m i t u n t e r zu erheblichen Problemen k o m m t 1 8 4 .

Die religiösen Gruppen, die Misrahi i n der Zionistischen Organisation und i m heutigen Staate, die Agudath Israel i m heutigen Staate haben zu allen Zeiten schwerste Probleme aufgeworfen. Ihnen ging stets die Religion vor dem Nationalen. I n vielen Fragen waren sie vehement antisozialistisch. Ihre Vorstellungen von einem Aufbau des jüdischen Gemeinwesens auf traditionell-gesetzestreuer Religionsanschauung laufen auf einen rein theokratischen Staat hinaus. Sie erschweren heute das politische Leben i n Israel, da eine Modernisierung nur um den Preis eines Kulturkampfes möglich wäre. Hier war jedoch zu zeigen, wie das ganze ideologische Spektrum des jüdischen Volkes zum Staate Israel führte, und wie selbst „antizionistische" Parteien tatkräftig beim Aufbau mitgeholfen haben. Zentrumsparteien. Der Begriff der Zentrumsparteien wäre i m heutigen Israel nicht einfach anzuwenden. Hier ist nur deshalb davon zu 164 s. etwa M . Keller, L'affaire Yossele Schumacher, Cahiers Bernard Lazare, Oktober 1961.

6 Wagner

1 Teil: Die Ausgangsage

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sprechen, weil er die spezifische Situation zur Zeit des Konferenzzionismus und während der Mandatszeit zeigt. Die Allgemeine Zionistische Partei 1 6 5 war lange die bedeutendste Partei i m Weltzionismus. Sie zeichnete sich dadurch aus, daß ihr politisches Ziel ausschließlich die V e r w i r k lichung des Basler Programms ohne sonstige weltanschauliche Ausrichtung war. Sie verfügte auch über die größte Mitgliederzahl, da automatisch jeder Schekelzahler, der sich nicht für einen Sonderverband entschied, den Allgemeinen Zionisten zugezählt wurde. Soweit ihre M i t glieder weltanschaulich gebunden waren, galten sie als liberal, gemäßigt, bürgerlich. Die Partei hat außerdem als Klammer für die weltanschaulichen Sonderverbände fungiert. M i t der Verwirklichung des Nationalheimgedankens i n der Mandatszeit wurde sie notwendig i n weltanschauliche Fragen verstrickt. Sie verlor durch Abspaltungen nach rechts. Ab 1931 hat sie den Weltzionismus zusammen mit den sozialistischen Parteien geführt; i n Israel selbst ist sie durch zahlreiche Abspaltungen reduziert worden. Rechtsparteien. Hier ist die Revisionistische Partei 1 6 6 der Mandatszeit, die heute als Heruth -Partei fortlebt, zu nennen. Die Revisionistische Partei wurde 1925 von der farbigsten und umstrittensten Figur des Zionismus, von Jabotinski 1 6 7 gegründet. Die Ziele der Partei liefen i n allen Fragen auf extremere Durchsetzung des allgemeinen Programms hinaus. Sie nannte sich revisionistisch, weil sie sowohl das P M als auch die zionistische Politik in bestimmter Weise revidieren wollte. Das P M sollte insoweit revidiert werden, als auch Transjordanien für die jüdische Besiedlung offenstehen sollte. Die Revisionisten und ihre Nachfolger in der Heruth-Partei waren stets bedingungslose Kämpfer für ein Gesamtisrael. Die Zionistische Politik sollte insoweit revidiert werden, als Jabotinski eindeutig dem Machtfaktor die erste Rolle zuwies. Die offizielle zionistische Politik, wie sie insbesondere von Weizmann vertreten wurde, erstrebte i m Schutze des P M einen allmählichen Aufbau des Nationalheims. Weizmann wußte stets, daß alle vertraglichen Sicherungen nur soviel Bedeutung haben, wie ihnen politische, insbesondere machtpolitische Positionen entsprechen. Eine derartige israelische Machtposition mußte aber erst aufgebaut werden. Dazu sollte i m Schutze der Mandatsmacht die Einwanderung durchgeführt und Kapital nach Palästina geführt werden. Innerhalb Palästinas sollte indessen das jüdische Gemeinwesen schrittweise ausgebaut werden. Dagegen hatte sich die zionistische Politik m i t der britischen Interpretation abgefunden, wonach Großbritannien zwar die Chance des Aufbaus eines National165

Vlavianos/Gross, S. 24 ff. Vlavianos!Gross, S. 86 ff. 187 J. Schechtmann, Rebel and Statesman (New Y o r k 1956); ders., Fighter and Prophet (New Y o r k 1961). 168

. Kap.: Der

ische Nationalismus

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heims geben, nicht aber selbst durchführen werde. Realistisch hatte Weizmann erkannt, daß der jüdische Aufbau von den Juden in allen Stücken selbst geleistet werden mußte. Daher hatte die Jewish Agency eine ausgebaute Einwanderungsorganisation. Diese verfügte über Einwanderungsbüros in den Ländern der Diaspora, die die Einwanderer auswählten und schulten 168 . Innerhalb Palästinas bauten die Jewish Agency und die Parteiorganisationen ein vollständiges politisch-sozial-kulturelles} Gemeinwesen auf mit allen Diensten, die ein moderner Verwaltungsund Sozialstaat benötigt. Die Revisionisten sahen dies alles anders. Sie akzeptierten nie die offizielle Sprachregelung, wonach der Zionismus ein Nationalheim und keinen jüdischen Staat forderte. Die Revisionistische Partei verstand zu allen Zeiten die Balfour-Erklärung als Verpflichtung zur Schaffung eines Staates. Dies sei ihr einziger Sinn gewesen. Alle revisionistischen Schriften stellten die Forderung stets an die erste Stelle — mochte diese Forderung, wie 1929, noch so unzeitig sein. Aber jedenfalls kann man ihnen nicht Doppelzüngigkeit vorwerfen. Dieser zionistische Staat sollte auch Transjordanien, Hedschasbahn, erfassen.

jedenfalls bis zur

Da Jabotinski in erster Linie eine militärische Machtposition der Zionisten anstrebte, war eine seiner Hauptforderungen stets auf die A u f stellung einer jüdischen Armee gerichtet. Jabotinski war Leutnant der jüdischen Mini-Armee i m 1. Weltkrieg, des Zion Mule Corps, er organisierte die jüdische Verteidigung bei den Unruhen 1920 und hat sein ganzes Leben unablässig für eine jüdische Armee gekämpft. Er definierte den Zionismus geradezu als die Bewegung zur Schaffung einer jüdischen Armee. Über den Versuchen, i m 2. Weltkrieg eine jüdische Armee zu schaffen, starb er 1940. Die zionistische Politik bekämpfte er ziemlich radikal. Während Weizmann den britischen Schutz für absehbare Zeit für unbedingt notwendig hielt und deshalb stets den Kompromiß mit Großbritannien anstrebte, war Jabotinski stets zur machtpolitischen Lösung bereit. Er wollte Palästina beiderseits des Jordans militärisch erobern. Die gesamte Palästina-Arbeit des Zionismus schien ihm zweitrangig. Nach seiner Ansicht war es Sache der Mandatsmacht, Schulen und Gesundheitsdienste aufzubauen; die zionistische Organisation sollte sich auf die Organisation von Masseneinwanderungen beschränken. Vor allem sah er darin auch eine Aufgabe der Mandatsmacht. Die Einwanderung müsse von der Mandatsmacht tatkräftig gefördert werden, insbesondere durch Übersiedlung und entsprechende legislative und administrative 168 Z u r Organisation u n d Tätigkeit dieser Palästina-Ämter s. Zion. Handbuch, S. 86 ff.

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Teil : Die

usgangsage

M a ß n a h m e n i n P a l ä s t i n a . Einziges Z i e l sei es zunächst, eine jüdische M e h r h e i t i m L a n d e z u erreichen; d a n n w e r d e sich der jüdische S t a n d p u n k t j e w e i l s a u f d e m d e m o k r a t i s c h e n Wege durchsetzen. Gegenüber d e r arabischen B e v ö l k e r u n g P a l ä s t i n a s w a r d i e Revisionistische P a r t e i t o t a l g l e i c h g ü l t i g . Sie b e k ä m p f t e d e n Versuch, z u e i n e m A u s g l e i c h z u gel a n g e n 1 8 9 , u n d m e i n t e , daß sich die A r a b e r n u r m i t der m a c h t p o l i t i s c h e n S t ä r k e d e r J u d e n v e r s ö h n e n w ü r d e n 1 7 0 . A n d e r s als d i e ü b r i g e n Z i o n i s t e n b e m ü h t e n sie sich w e n i g u m eine A p o l o g e t i k . F ü r sie w a r die P a l ä s t i n a A r b e i t K o l o n i s a t i o n u n d E r o b e r u n g , u n d d e n A r a b e r n geschehe l e d i g l i c h , w a s auch a n d e r e n k o l o n i a l i s i e r t e n V ö l k e r n geschehen sei. Es sind diese machtpolitischen Gedankengänge, die nach dem Kriege von 1967 die starke Gruppe der Gahal-Partei u n d damit z. T. die israelische Politik bestimmten. 1935 t r a t d i e Revisionistische P a r t e i aus der Z i o n i s t i s c h e n O r g a n i s a t i o n aus u n d g r ü n d e t e i h r e eigene W o r l d N e w Z i o n i s t O r g a n i s a t i o n , m i t eigenen Zweigstellen und einem paramilitärischen A u f b a u 1 7 1 .

Zweites

Kapitel

D e r arabische N a t i o n a l i s m u s i m O t t o m a n i s c h e n R e i c h e Schrifttum: F ü r den Nahen u n d Mittleren Osten gibt es i n englischer Sprache für jede Region, jeden einzelnen Staat u n d die einzelnen Aspekte (geschichtlich, politisch, militärisch, wirtschaftlich, soziologisch, entwicklungsmäßig) zahlreiche Darstellungen. Vornehmlich benutzt wurden: G. Antonius, The Arab Awakening. The Story of the Arab National Movement (1938; 2. Aufl. New Y o r k 1946; 1965); Don Peretz, The Middle East Today (New Y o r k 1963); S. G. Haim, Arab Nationalism. A n Anthology (Berkeley - Los Angeles 1962); M. Halpern, The Politics of Social Change i n the Middle East and N o r t h Africa (Princeton 1963); W. C. Smith, Islam i n Modern History (Princeton 1957); Hazem Z. Nuseibeh, The Ideas of Arab Nationalism (Ithaca 1956); M . Berger, The Arab W o r l d Today (New Y o r k 1962); A. R. H. Gibb, Modern Trends i n Islam (Chicago 1947); A. H. Hourani, Arabic Thought i n the Liberal Age 1798 1939 (London 1962); H. A. R. Gibb and H. Bowen, Islamic Society and the West (London 1950); Bassam Tibi, Die arabische L i n k e (1969); Hassan Saab, The 169 Einer der Vorkämpfer dieses Ausgleichs, Chaim Arioso roff, wurde 1934 ermordert, nach ziemlich herrschender Meinung von Revisionisten. Die den Revisionisten nahestehenden Autoren schieben den M o r d stets auf die Araber. 170 Von revisionistischen Führern w u r d e n Ausführungen zitiert wie: " O u r Zionist imperialism w i l l flourish under the protection and support of any power on condition that that power w i l l show no mercy to the Arab population and uses an iron fist under which the Arabs shall not be allowed to move"; zitiert nach Great B r i t a i n and Palestine, S. 23 A . 5. 171 I h r Programm: A Jewish State w i t h the boundaries of Solomon's realm: two banks of the Jordan, the one is ours and the other too.

2. Kap. : Der arabische Nationalismus i m Ottomanischen Reiche

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Arab Federalist of the Ottoman Empire (Amsterdam 1958); Zeine Zeine, The Emergence of Arab Nationalism (Beirut 1966); ders., The Struggle for Arab Independence. Western Diplomacy and the Rise and F a l l of Feisal's Kingdom i n Syria (Beirut 1960); J. Lugol, L e Pan-arabisme: Passé, Présent, A v e n i r (Paris 1946). WBVR, „Arabische Bewegung". Dokumentensammlungen: Hurewitz (vor I. Teil); H. Miller Davis , Constitutions, Electoral Laws, Treaties of States i n the Near and Middle East, 2. Aufl. (Durham, N. C. 1953). Zeitschriften: The Middle East Journal (Washington); Middle East Forum (Beirut) ; Middle Eastern Affairs (New York).

I m Rahmen dieses Buches geht es nicht um die vielerlei Probleme des heutigen arabischen Nationalismus in dem Räume vom Atlantik bis zum Indischen Ozean. Anders als beim Zionismus interessieren auch nicht die verschiedenen Richtungen der Nationalen Bewegungen, und ihre ideologischen Grundlagen müssen nicht dargestellt werden. Daß die einheimische Bevölkerung sich von auswärtiger Herrschaft frei sehen w i l l — in welcher Form diese Herrschaft auch immer auftreten mag oder empfunden w i r d —, dünkt uns heute selbstverständlich; die Darstellung kann insoweit mit dem Einverständnis des Lesers rechnen. I n der modernen Welt scheinen nur i m nationalen Rahmen die für jede Gesellschaftsstruktur unumgänglichen Herrschaftsverhältnisse erträglich, und daß eine Nation infolge ihrer relativen Homogenität die optimale Grundlage für ein politisches Gemeinwesen und für ausgeglichene internationale Beziehungen bildet, war schließlich europäischer Glaubenssatz. Verengt auf den Rahmen des arabisch-israelischen Konflikts zeigt sich der arabische Nationalismus bis jetzt eher in seinem Versagen, zumindest in einer Verspätung. Die palästinensisch-arabische Bevölkerung hat i m Zusammenstoß mit dem Zionismus versagt; es ist kaum strittig, daß eine effiziente Selbstorganisation der arabischen Palästinenser den MassenExodus von 1948 verhindert hätte. Auch die Hilfe der arabischen Nachbargebiete war ungenügend. Sucht man eine Erklärung, so stößt man auf ein Bündel von Gründen, die eine nationalstaatliche Strukturierung der Araber verhindert oder jedenfalls verzögert haben. Eine solche Umstrukturierung mußte alle überkommenen Strukturen beseitigen und durch nationalstaatliche Strukturen ersetzen; sie mußte alle traditionellen Vorstellungen verdrängen und die Menschen zum Nationalstaatlichen konditionieren. Die Diskussion über die Problematik stand zu lange zwischen polemischen Polen. Zionisten und allgemein die Europäer leugneten bereits das für einen Nationalismus erforderliche Substrat, nämlich die Existenz einer Arabischen Nation 1 . Sie sahen i m arabischen Räume von Marokko 1 Statt aller: E. Frankenstein, (London 1943, New Y o r k 1944).

Justice for M y People. The Jewish Case

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1 T e i l : Die Ausgangslage

bis Mesopotamien kein gemeinsames Arabisches Volk; sie verneinten eine gemeinsame Zusammengehörigkeit der syrisch-libanesisch-palästinensischen Bevölkerung und sahen statt dessen nur Syrer 2 , Libanesen, „Transjordanier", Iraker usf.; innerhalb Palästinas sahen sie keine Palästinenser, sondern nur „schweifende und räuberische" Beduinen, Drusen, Maroniten u. a. Trotz arabischer Sprache und K u l t u r seien sie keine Araber, denn „sie stammten nicht von Mohammeds Kriegern ab", seien lediglich arabisiert und nicht aus dem eigentlichen Arabien gekommen und gehörten nicht zur „Arabischen Hasse". Dem tatsächlichen Widerstand gegen Briten, Franzosen und Zionisten sprachen sie den Charakter einer Arabischen Nationalen Bewegung ab und unterlegten ihm wenig ehrenwerte Motive (Effendi-These) 3 . Wohlwollendere europäische Betrachter tendierten zu dem Glauben, die Araber seien nicht nur i n der politischen Entwicklung zurückgeblieben, sondern auch unfähig zur ordentlichen Strukturierung eines politischen Gemeinwesens. Die Ideologie dieser westlichen Sicht und ihre politische Funktion i m imperialistischen Rahmen müssen nicht besonders ausgeführt werden. Demgegenüber bewies die arabische These nicht nur die Existenz einer Arabischen Nation, sondern wollte auch den Nachweis eines langdauernden Kampfes um die nationale Einheit führen, die zuerst von der Türkei, dann vom europäischen Imperialismus verhindert worden sei; i n dieser Sicht gewinnen Zionismus und Israel ihren selbstverständlichen Stellenwert als Haupthindernis der arabischen Einheit. I n einer europäischen Sprache wurde die arabische These vor allem von der meisterlichen Darstellung v o n G. Antonius, einem christlichen Palästinenser, vertreten 4 . Das Buch ist i m K a m p f gegen Imperialismus und Zionismus geschrieben. Antonius bemühte sich u m den Nachweis, daß der Arabischen Nationalen Bewegung ein echter Nationalismus aller arabisch-sprechenden Völker zugrundelag. Geschickt vermied er rassische K r i t e r i e n u n d stellte alles auf die gemeinsame K u l t u r u n d das gemeinsame Bewußtsein der arabischsprechenden Völker ab. Er w a r damit vielen Schriften über Nationalismus u m eine Generation voraus. Diesen Nachweis eines entsprechenden Volksbewußtseins u n d eines Strebens nach politischer Unabhängigkeit f ü r die arabischsprechenden Völker suchte er f ü r das 19. u n d 20. Jahrhundert zu führen. Gleichzeitig wollte er zeigen, daß der arabische Nationalismus lediglich infolge der türkischen Unterdrückung nicht politisch w i r k s a m werden konnte. Ein großes Material aus dem 19. Jahrhundert u n d von vor dem 1. Weltkrieg sollte den arabischen K a m p f u m politische Unabhängigkeit zeigen. Antonius spricht von Geheimgesellschaften, Manifesten, Programmen, Flugblättern. Die moderne Forschung sieht hier manches anders. Es geht heute nicht mehr u m den Nachweis, daß die arabischsprechenden Völker sich als Nation fühlen; niemand 2 Die dann die französische Mandatsmacht weiter i n Drusen, A l e w i t e n usw. auf dividierte. 3 10. Kap. 4 The Arab A w a k e n i n g (1938); als Pocket-Buch 1965. Z u Antonius: S. Haim, The A r a b Awakening: A Source for the Historian? Die Welt des Islam, Neue Folge I I (1953), Nr. 4, S. 238 ff.

2. Kap. : Der arabische Nationalismus i m Ottomanischen Reiche

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bestreitet dies mehr. Es geht auch nicht mehr u m die Widerlegung der These vieler zionistischer u n d europäischer Autoren, die arabischsprechende Bevölkerung Palästinas sei nicht „arabisch", fühle sich nicht der arabischen Nation zugehörig, und die übrigen Araber fühlten sich nicht solidarisch m i t den Palästinensern. Auch das ist i n 20 Jahren Kriegszustand m i t Israel u n d den Arabern erwiesen. Aber die früheren Emanationen dieses Nationalismus, insbesondere auf politischer Ebene werden heute anders gesehen. Da sie nicht mehr beweisen müssen, was offensichtlich ist, brauchen sie nicht länger maßlos vergrößert, sondern können auch i n ihrer Folgenlosigkeit gezeigt werden. Es geht nicht mehr darum, den arabischen Nationalismus der Mandatszeit zu beweisen oder zu leugnen, sondern i h n i n seiner Schwäche darzustellen. Dann zeigt sich, daß die „Zentren" i n Damaskus, Beirut, Kairo u n d Paris w i n zige Z i r k e l waren; daß die Geheimgesellschaften m i t u n t e r eine Einmannangelegenheit waren; daß die Flugblätter einige m i t der Hand geschriebene A n schläge waren. Von irgendeiner Breitenwirkung, die n u n einmal f ü r eine politische Bewegung unerläßlich ist, kann keine Rede sein. Auch die politisch w i r k s a m gewordenen Bewegungen der Vorkriegszeit lassen sich n u r bedingt einem gesamtarabischen Nationalismus zurechnen. So waren die WahabitenBewegungen nicht nationalarabisch, sondern konservativ-puritanisch u n d wandten sich gegen die nach ihrer Ansicht zu laxe Religionsauffassung der Türken. Das Wahabiten-Reich Saudisch-Arabiens ist j a auch heute eher noch ein Hemmschuh für die Arabische Nationale Bewegung. U n d ebensowenig k a n n jede lokale F r i k t i o n m i t der türkischen Zentralgewalt als gesamtarabischer Nationalismus gesehen werden. Muhammed A l i Pascha i n Ägypten w a r kein Araber; er w a r türkischer Albaner u n d wollte herrschen u n d unabhängig sein. U n d die arabisch-libanesischen Bewegungen waren keineswegs nationalarabisch, sondern christlich, anti-moslemisch u n d pro-westlich orientiert. Schließlich gibt die Darstellung von Antonius über die Zentren der Arabischen Nationalbewegung ein unrichtiges Bild. So führte die ägyptische Entwicklung (seit 1882 von Großbritannien besetzt) die syrischen Nationalisten dazu, sich i n Kairo niederzulassen u n d ihre Veröffentlichungen außerhalb der türkischen Zensur erscheinen zu lassen. So wurde Kairo zwar das intellektuelle Zentrum der arabischsprechenden Welt. Aber die nationale Bewegung am N i l betrachtete sich als ägyptisch u n d k a u m als T e i l einer gesamtarabischen Bewegung. Sie w a r gegen ihre u n d d. h. gegen die britische Oberherrschaft gerichtet, w ä h rend die Nationalisten des ottomanischen Gebietes z. T. gerade von Großbritannien Hilfe erwarteten. Die Existenz einer arabischen Nation w i r d heute n i c h t m e h r e r n s t h a f t b e s t r i t t e n ; d a h e r m u ß ü b e r die L i t e r a t u r n i c h t a u s f ü h r l i c h b e r i c h t e t w e r den. D i e A u t o r e n e r ö r t e r n a l l e d i e n a t i o n e n b e s t i m m e n d e n K r i t e r i e n , die i m europäischen S c h r i f t t u m b e h a n d e l t w e r d e n : Rasse, K u l t u r (Sprache, R e l i g i o n ) , gemeinsame Geschichte, Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t s g e f ü h l 5 . A l s o b j e k t i v e K r i t e r i e n zeigen sich die arabische Sprache, d e r I s l a m , d i e v o n diesen b e i d e n E l e m e n t e n geprägte g e m e i n s a m e K u l t u r , die Geschichte des v o m A r a b i s c h - I s l a m i s c h e n g e t r a g e n e n I m p e r i u m s . Dies g i l t h e u t e auch f ü r nichtmoslemische M i n d e r h e i t e n . D i e L i t e r a t u r des arabischen N a t i o n a l i s m u s e r ö r t e r t die S t e l l u n g der c h r i s t l i c h e n A r a b e r seit u n g e f ä h r 30 J a h r e n . E i n vorläufiges E r g e b n i s scheint z u sein, daß der I s l a m i n 5

Kurze Darstellung der Diskussion bei Nuseibeh, S. 65 ff.

1 Teil: Die Ausgangslage

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Sprache, K u l t u r und Denken alle Araber geprägt hat, unabhängig von der Religion. Für die nichtmoslemischen Araber stellt sich lediglich die Frage, was diese Vorstellung von der islamischen Prägung für sie impliziert: Verbindlichkeit gewisser islamischer Vorstellungen für sie, partielle A n erkennung Mohammeds, Pflicht zum Koranstudium oder schlicht die alte Präponderanz des Moslems über die nicht-moslemischen Minderheiten. Die Autoren des arabischen Nationalismus variieren hierüber 6 . Als jedoch der Zionismus sich anschickte, i n Palästina Fuß zu fassen, war dies alles noch anders; die Araber sahen es noch nicht so, und Dritte hatten für ihre Kurzsichtigkeit einige Entschuldigungsgründe. Der arabische Raum war anders strukturiert; seine Menschen existierten i n völlig anderen Ebenen. Der arabische Raum war nicht national-homogen, und die Homogenitätsvorstellungen waren nicht arabisch. Derartige Strukturen lassen sich nicht schnell ändern; hierfür waren die Hindernisse zu groß und die verfügbare Zeit zu kurz. Für einen spezifisch arabischen Nationalismus fehlten zunächst alle Voraussetzungen und Realisierungschancen. Dies erklärt dann umgekehrt, warum Europäer und Zionisten die arabische Bevölkerung nicht als nächsten Anwärter für einen Nationalstaat sahen. Hält man die nationalstaatliche Strukturierung für eine notwendige Entwicklung, so sind auch die Araber eine „Verspätete Nation". Nationalismus als Strukturprinzip geht von der Annahme aus, daß die sich als Nation verstehende Gruppe nach bestimmten Homogenitätskriterien relativ homogen ist und sich nach diesen Kriterien gegen weitere Gruppen abhebt. I m arabischen Raum bieten sich hierfür die arabische Sprache, die arabische K u l t u r sowie Bewußtsein und Wollen, zur allarabischen Schicksalsgemeinschaft zu gehören, an. Hieran fehlte es vor dem 1. Weltkrieg völlig: die Homogenitätsvorstellungen waren nicht spezifisch arabisch, waren nicht am Arabismus orientiert und daher nicht auf ihn beschränkt; sie sonderten teilweise arabische Gebiete aus und schlossen den türkischen oder islamischen Raum ein. Die Umstrukturierung und Übertragung der Loyalität auf einen nationalstaatlichen Arabismus verzögerte sich aus vielen Gründen, die je nach Standort als Hindernis oder Beweis für die fehlende Notwendigkeit dieser Neugestaltung dienen können. Verzichtet man auf monokausale Erklärungen, so zeigt sich folgendes Bündel der wichtigsten Gründe: — I m Ottomanischen Reich und i m weiteren islamischen Räume waren die Nationen religiös bestimmt: die religiöse Zugehörigkeit bestimmte die Nationalität und damit Status und Loyalität des Einzelnen. Die organisatorische Möglichkeit hierzu bot das sog. Millet-System, das als ein System nahezu vollständiger Selbstverwaltung auf religiöser Grundβ

s. die Anthologie und Nachweise bei Haym und Nusetbeh.

. Kap. : Der r i s c h e

alismus i m Ottomanischen Reich

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läge bezeichnet werden kann. Die wichtigsten Millets waren: Moslems, Juden, griechisch-orthodoxe Christen, armenische (d. h. praktisch die anderen) Christen, katholische Christen usf. I m europäischen Sprachgebrauch der damaligen Zeit wurden diese religiösen Gruppen stets „Nationen" genannt. Da ein solcher Millet als sozio-religiöse Gruppe seine Angehörigen i n spiritueller und weltlicher Hinsicht voll erfaßte, war für andere Bindungen nach westeuropäischer A r t weder Raum noch Bedürfnis. Die Vollständigkeit der Bindung entsprach der jüdischen Ideologie, die mitunter als „weltliche Glaubensgemeinschaft" bezeichnet w i r d ; genauso wurde das Ottomanische Reich ein „empire of church-nations" genannt. I n einem solchen Reichs- und Gesellschaftssystem mußte die Umstrukturierung zum Arabisch-Nationalen auf ungeheure Hindernisse stoßen. Der Araber sieht die Hindernisse vorwiegend i n der außerarabischen Beherrschung, zunächst i m „türkischen Joch", dann i m europäischen I m perialismus und i m Zionismus. Europäische Selbsteinschätzung sah meist arabische Unfähigkeit am Werke. Die moderne Forschung verweist auf die ungeheuren Schwierigkeiten einer solchen Umstrukturierung und auf die weitgehende Akzeptierung der ottomanischen Herrschaft durch die Araber. Vor allem die These vom türkischen Joch w i r d heute modifiziert. Die moderne Forschung sieht nicht mehr ausschließlich Despotie, Grausamkeit, W i l l k ü r und Korruption. Selbst das Fehlen jeglicher Verwaltung i m modernen Sinne mag man etwas anders sehen als die fortschrittsgläubige Zeit nach dem 1. Weltkrieg. Unbestreitbar bleibt, daß die türkische Kriegsführung barbarisch, daß Sultan A b d u l Hamid ein finsterer Despot war, und daß die Jungtürken zu unfähigen nationaltürkischen Fanatikern entarteten. Unbestreitbar ist, daß die Türkei unfähig war, auch nur ein Mindestmaß an Verwaltung oder Ausbildungsund Gesundheitsdiensten zur Verfügung zu stellen. Aber die i m Ottomanischen Reich lebenden Völker haben in der ottomanischen Herrschaft nicht nur Unterdrückung gesehen. Der Islam aber war untrennbar mit dem Ottomanischen Reich verbunden; der Sultan war höchster geistlicher Würdenträger (Kalif). Die türkische Herrschaft wurde nicht als Fremdherrschaft (als „türkisches Joch") empfunden, teils weil sie eine moslemische Herrschaft war. Das Ottomanische Reich ließ zudem seinen Nationalitäten eine Eigenständigkeit, wie sie i n einem modernen I n dustrie-, Verwaltungs- und Wohlfahrtsstaat undenkbar wäre. Jahrhundertelange Türkenherrschaft haben kein Balkanvolk ausgelöscht oder türkifiziert, und i m arabischen Raum lebten die verschiedensten Minderheiten i n ihrer nationalen Eigenart. Gerade das völlige Fehlen jeglicher zivilen Verwaltung führte zu fast voller Autonomie für die verschiedenen Völker und Minderheiten, die z. B. den gesamten Z i v i l stand, die Religion und die Ausbildung (soweit sie daran interessiert

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1 T e i l : Die Ausgangslage

waren) selbst verwalteten. Die türkische Herrschaft konnte zwar Stammesfehden und Kämpfe zwischen den Gruppen mitunter nicht verhindern. Aber es herrschte doch ein Zustand, der auch Minderheiten vor dem Auslöschen bewahrte. Selbst die Grausamkeiten der türkischen Kriegsführung, etwa gegen die Armenier, sollte den heutigen Betrachter nicht zu einseitiger Verurteilung der Türken führen. Die Kriegsführung der Griechen i n ihrem Befreiungskampf oder Araber gegen die Kurden spricht zumindest gegen die These von der besonderen türkischen Grausamkeit. Als Europäer sollte er sich an die europäische Kriegsführung in Kolonialgebieten erinnern. Auch Deutschland hat in Deutsch-SüdwestAfrika 1904 i m Herero-Auf stand das Volk der Hereros von 80 000 auf 12 000 reduziert und anschließend die Hottentotten weitgehend ausgerottet. Die politisch bewußten Araber waren sich des Schutzes bewußt, den ihnen der Rahmen des Ottomanischen Reiches bot. Sie erkannten, daß die vom Ottomanischen Reiche losgelösten arabischen Gebiete nur eine Beute der europäischen Mächte werden würden; Nordafrika (Marokko, Algerien 1830, Libyen 1912, Ägypten 1882) boten ihnen Anschauungsmaterial. Vor 1908 erstrebten höchstens die nach Europa orientierten christlichen Araber die politische Unabhängigkeit. Aus heutiger Sicht ließe sich formulieren, daß das Ottomanische Reich die arabischen Gebiete 400 Jahre vor europäischem Imperialismus bewahrte; natürlich auch — wenn man w i l l —, daß es die Araber von den machtpolitischen Realitäten der modernen Welt abschloß, für die sie nach 1918 unvorbereitet waren. Die Nachteile des Ottomanischen Systems zeigen sich erst i m Verhältnis zu der nichtottomanischen dynamischen Umwelt, insbesondere Europas. Die ottomanische Herrschaft war erzkonservativ und dem status quo verhaftet. Die negative Seite i n heutiger Sicht ist die damit verbundene totale Stagnation und die Überführung politischer Zustände in eine Zeit, i n der die Umwelt sich politisch effizientere Strukturen gegeben hatte. Die positive Seite war die Erhaltung aller Volksgruppen, wie zerstreut und schlecht organisiert sie auch immer waren. Solange aber das Bewußtsein der Volksgruppen nicht dynamisch und auf Veränderungen eingestellt war, solange war für sie und auch für die Araber wenig Grund zur Unzufriedenheit. Ein nationaleres Eigenleben, als es die Araber i m Rahmen des Ottomanischen Reiches führen konnten, war nur in wenigen Köpfen konzipiert. — I m Prinzip akzeptierten daher die Araber das Ottomanische Reich, und der Arabische Nationalismus war zunächst keineswegs auf eine arabische Unabhängigkeit gerichtet 7 . Das Ottomanische Reich bot gerade 7

A l s Ausnahme mag Negib Azoury gelten, der 1904 i n Paris die „Ligue de

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den Arabern erhebliche Möglichkeiten. Das Arabische besaß i m Islam, i n dem der arabische Koran auch die Staats- und Gemeinschaftsideologie enthielt, eine Sonderstellung. Viele Araber waren hohe ottomanische Würdenträger. Dieser Kreis war zahlenmäßig klein, aber an eine politische Beteiligung der Massen dachte damals ohnehin niemand. Bis kurz vor dem 1. Weltkrieg forderte die Arabische Nationale Bewegung daher lediglich eine arabische Autonomie innerhalb des ottomanischen Reichsverbandes. Die damaligen „nationalen" Forderungen der politisch bewußten Araber gingen auf Anerkennung der arabischen Sprache als offizielle Verkehrssprache neben dem Türkischen; auf vermehrte Heranziehung von Arabern zu öffentlichen Ämtern; auf eine Milderung des Militärdienstes, insbesondere auf Verwendung der i m Lande Eingezogenen für örtlichen Militärdienst; auf eine Verbesserung des Steuerwesens und auf Abschaffung der Zensur und anderer Beschränkungen der Meinungsfreiheit. Die Inhalte einer solchen nationalen Bewegung lauten in unserer Terminologie eindeutig Dezentralisation, Selbstverwaltung, Autonomie i m Rahmen des Ottomanischen Reiches. Sie formulieren keinen Separatismus und fordern nicht die Unabhängigkeit vom türkischen Reich. Man hat zu Recht gesagt, daß zwar die Aspirationen der ottomanischen Balkanvölker sich an der westeuropäischen Nationalstaatsidee orientierten und daher nationalstaatliche Unabhängigkeit erstrebten, daß aber die arabischen Nationalisten i m Ottomanischen Reiche sich am österreichisch-ungarischen Modell orientierten, das ihnen eine Verbindung der nationalen Idee mit dem Islam zu geben schien. Eine solche arabisch-türkische Föderation hätte das ottomanische islamische Reich erhalten und den arabischen Provinzen eine Stellung nach A r t Ungarns gewährt. Der ottomanische Sultan wäre eine A r t Doppelsouverän der arabischen Königreiche und des Ottomanischen Reiches gewesen; als König und Kalif wäre er Symbol der islamischen Einheit gewesen. Erst der panturanische Nationalismus der Jungtürken nach 1908 bewirkte seinerseits einen auf politische Unabhängigkeit gerichteten arabischen Nationalismus. Dabei schien die jungtürkische Bewegung zunächst eine Dezentralisation und Liberalisierung einzuleiten, und die Araber setzten große Hoffnungen auf sie. Aus Gründen, die innerhalb des türkischen Kräfteverhältnisses lagen, artete die jungtürkische Bewegung jedoch lediglich in eine weitere türkische Despotie aus. Aber während die bisherigen türkischen Despoten die einzelnen Völker und insbesondere die Araber ungeschoren ließen, wurden die Jungtürken anti-arabisch. Der Grund lag darin, daß sie vom europäischen Nationalismus die Forderung nach nationaler Homogenität übernahmen, was i n einem Vielvölkerstaat zu einer gewaltsamen Umwandlung i n eine einzige Nation führen mußte. So wurden die Jungtürken Pan-Turanisten. la Patrie Arabe" gründete u n d die arabische Unabhängigkeit f ü r die ottomanisch-arabischen Gebiete (ohne Ägypten) forderte.

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1 T e i l : Die Ausgangslage

Der Pan-Turanismus reklamiert andere Völker so großzügig f ü r sich wie etwa der Pan-Germanismus: nach i h m scheint es k a u m Völker, Sprachen u n d Kulturleistungen gegeben zu haben, die nicht den T u r k v ö l k e r n zuzurechnen sind. I n der politischen Situation vor dem 1. Weltkrieg ist er schwer verständlich: er verlegte das geschichtliche u n d gefühlsmäßige Schwergewicht außerhalb des Ottomanischen Reiches, nach Rußland, China u n d i n die Mongolei, aus denen er seine turkomanischen Vorstellungen holte. Erstmalig i n der ottomanischen Geschichte ging er auf Turkifizierung seiner Reichsteile aus und wurde somit anti-arabisch. Das ist u m so bemerkenswerter, als die T ü r k e n den unterworfenen V ö l k e r n stets ihre nationale Eigenheit ließen. So rücksichtslos sie Aufstände niederwarfen, sie waren niemals auf Turkifizierung aus. Die Balkanvölker haben ihren Volkscharakter bewahrt. Griechenland, Albaner u n d Rumänen besaßen jahrhundertelang eine nahezu völlige Autonomie. A b gesehen von Mazedonien gab es k a u m türkische Kolonien. Wie alle Pan-Bewegungen rief auch der Pan-Turanismus starke Gegenkräfte aus. N u n wurden die arabischen Autonomieforderungen zu Unabhängigkeitsforderungen. Der Pan-Turanismus u n d die brutale anti-arabische Herrschaft eines seiner F ü h rer, Dschemal Paschas, i m 1. Weltkrieg, führten den arabischen Sezessionismus m i t herbei.

— Die Arabische Nationale Bewegung als Pan-Arabismus wurde eine Zeit lang durch den Pan-Islamismus hintangehalten, der den religiösorientierten millets eher entsprach und auf Moslems anziehend wirken mußte. Vor allem der Sultan Abdul Hamid II. (1876 - 1909) setzte auf diese Ideologie, um so ein gesamtottomanisches Nationalbewußtsein zu schaffen und es durch Kalifat und die Religion zu stärken. Sein PanIslamismus war gegen die jungtürkische Nationalbewegung gerichtet, die schließlich die Oberhand gewann. Die pan-islamische Ideologie konnte sich auch in Zukunft gegen nationale Bewegungen nicht durchsetzen, und pan-islamische Kongresse blieben ohne großen Erfolg. — Der Pan-Arabismus war zunächst wenig geschickt. Wie viele junge Nationalismen war er zunächst rückwärts gerichtet und konservativ. Die Parallele zum deutschen Nationalismus i n seiner romantischen Form bietet sich an. Beide Male wurde das Nationalbewußtsein durch Pflege und Bewußtmachung einer großen Vergangenheit geweckt; i n beiden Fällen wurde recht selektiv eine Vergangenheit glorifiziert und deren Schwächen übersehen. So wenig wie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und deutsches Mittelalter das Strukturschema für das 19. Jahrhundert abgeben konnten, so wenig konnte dies die arabischislamische Glanzzeit von 750 - 950 nach Christus. Ein auf dem Islam aufgebauter Nationalismus mußte schließlich zusätzliche Probleme überwinden. Da der Islam nicht nur das religiöse Leben, sondern auch die politische und gesellschaftliche Seite eines Gemeinwesens erfaßt, gab er, nach europäischer Terminologie, auch die Staatsund Gesellschaftsideologie. Damit mußte er zwangsläufig politische und soziale Strukturen der Vergangenheit konservieren. Bedenkt man, daß die moslemische Dogmatik von einer bestimmten Zeit ab die interpretato-

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rische Weiterentwicklung zu verbieten suchte, so mußte der Islam zwangsläufig zur Erstarrung, Stagnation und Einfrierung überkommener Strukturen werden. Viele Betrachter meinen daher, daß der Islam als zivilisatorische K r a f t seit dem 10. Jahrhundert stagnierte. Man mag seine humanen Aspekte i m Konservatorischen bewundern, aber innovatorische Kräfte w i r d man kaum noch sehen. Der Islam verlor daher seine Dynamik in dem Sinne, daß er seine soziale Umwelt nicht mehr veränderte. Natürlich läßt er sich, wie alle Weltreligionen, modern (etwa sozialistisch) interpretieren, aber die hierfür erforderlichen Impulse kommen von außerhalb. Es ist etwas anderes, ob eine Ideologie notwendig zu bestimmten Lösungen führt, wie etwa der Sozialismus, oder ob eine gewollte Lösung nur notdürftig m i t der Ideologie harmonisierbar ist. Daher ergab der Islam für sich allein nicht den nötigen Anstoß für die erforderliche U m strukturierung und die arabische Welt bedurfte weiterer Impulse, wie Demokratisierung, Laizisierung und Technisierung, um die verkrusteten Strukturen zu zerbrechen. — Besondere Probleme schufen dem arabischen Nationalismus die Minderheiten i m arabischen Raum 8 . I m syrisch-libanesisch-palästinensischen Räume mag auf die christlichen Araber verwiesen werden. Vor dem 1. Weltkrieg fühlten sie sich kaum den Moslems zugehörig; ihre Stellung war aus vielen Gründen prekär: w e i l Christen lange Zeit keinen Boden erwerben durften, waren sie i n Städten konzentriert und i n w i r t schaftlichen Berufen überrepräsentiert; die mitunter feindselige moslemische Reaktion wie das Massaker durch die moslemischen Drusen 1860 hatte sie nach europäischer Hilfe ausschauen lassen. Ihre westlich orientierte Bildung durch europäische Schulbildung mußte ihre Stellung weiter gefährden; ihre Einbindung i n den Arabischen Nationalismus forderte Zeit. I h r damaliges Abseitsstehen vom Arabischen Nationalismus mag aber auch die europäische und zionistische Sicht erklären, die für einen Arabischen Nationalismus kein Substrat wahrnahm. — Als letztes Hindernis ist natürlich noch der europäische Imperialismus zu nennen. Zwar w a r es eben dieser Imperialismus, der die türkische Herrschaft beseitigte, aber nur, u m sich an ihre Stelle zu setzen. Der Kampf gegen diesen Imperialismus absorbierte seitdem die arabischen Kräfte. Dieser Kampf mußte i m Rahmen der von Europäern diktierten Grenzen erfolgen, als syrischer, libanesischer, trans jordanischer, irakischer und ägyptischer Befreiungskampf; ein über diese Grenzen reichender Kampf wäre kaum zu organisieren gewesen. Das entsprechende nationale Bewußtsein mußte innerhalb dieser Grenzen entwickelt werden — ein i n arabischen Augen zwar notwendiger, aber i n sich sinnloser U m weg. Auch der Europäer muß zugeben, daß die nach 1918 verhängten 8 s. etwa A. H. Hourani, Minorities i n the A r a b W o r l d (London 1947); R. Mauries, K u r d i s t a n ou la m o r t (Paris 1967).

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1 T e i l : Die Ausgangslage

Grenzen ausschließlich nach europäischer Raison gezogen worden waren und, von Ägypten abgesehen, völlig widersinnig waren. Die Geschichte kennt wenige Beispiele einer unsinnigeren Grenzziehung als i m Falle Transjordaniens. Und quer zu allen arabischen Aspirationen lag und liegt das als europäische Kolonisierung gesehene Israel.

Drittes Kapitel D e r europäische Imperialismus i m Ottomanischen Reich Schrifttum: Allgemeine Nachweise sub „Imperialismus" i m W B V R u n d i n Wörterbüchern der Soziologie; ferner: vor I I . Teil; H.-U. Wehler (Herausgeber), Imperialismus (1970), m i t ausführlichen Literaturnachweisen f ü r die einzelnen imperialistischen Staaten.

Es ist sehr strittig geworden, welche Phänomene als „imperialistisch" begriffen werden dürfen; davon ist im 28. Kapitel noch ausführlicher zu reden. Diese Probleme können hier zunächst dahinstehen, denn unbestritten erfaßt dieser Begriff die europäischen Expansionsversuche i m ottomanischen Räume. Gleichgültig ist dabei, ob diese Expansion zu einer direkten, formellen kolonialen Gebietsherrschaft führte oder ob die europäischen Staaten nur eine indirekte, informelle Herrschaft errichteten oder anstrebten. Z u dem V o r w u r f , das heutige Israel sei ein imperialistischer Staat, s. 28. K a pitel.

I m Rahmen dieses Buches könnten die europäischen Expansionsversuche m i t dem Sykes-Picot-Abkommen angesetzt werden; dieses A b kommen präfigurierte die imperialistische Aufteilung des arabischen Raumes, betrog die Araber — wie sie es sehen — um ihre nationalen Hoffnungen und ihr Recht auf nationale Selbstbestimmung und schuf die heutigen Staatsgrenzen, die die arabische Nation dem Kräfteparallelogramm des europäisch-kolonialen Gerangeis entsprechend aufgeteilt haben. Aber man w i r d die Geschichte zwischen den Weltkriegen und die Literatur zur Mandatszeit und auch das arabische Versagen kaum verstehen, wenn man nicht einige schon vor dem ersten Weltkrieg geschaffene Fakten sieht. Die europäischen Mächte (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn, Rußland, Italien) versuchten, ihren Teil aus dem zerfallenden Ottomanischen Reiche zu erlangen. Rußland drang auf dem Balkan vor. Die afrikanischen Gebiete des Ottomanischen Reiches hatten die europäischen Staaten bereits unter sich aufgeteilt: Frankreich hatte Marokko, Algerien und Tunesien besetzt (und Deutschland i n Marokko

3. Kap. : Der europäische Imperialismus i m Ottomanischen Reich

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abgeschlagen); I t a l i e n h a t t e 1912 L i b y e n , G r o ß b r i t a n n i e n h a t t e 1882 Ä g y p t e n u n d T e i l e d e r arabischen S ü d k ü s t e besetzt. Das ü b r i g e o t t o manische G e b i e t b l i e b bis z u m 1. W e l t k r i e g e r h a l t e n , w e i l die e u r o p ä ischen M ä c h t e sich ü b e r d i e A u f t e i l u n g n i c h t h a t t e n e i n i g e n k ö n n e n u n d sie die v o r l ä u f i g e E r h a l t u n g des O t t o m a n i s c h e n Reiches d e m G e w i n n i h r e r K o n k u r r e n t e n vorzogen. T r o t z d e m a r b e i t e t e n sie a n e i n e r A u f t e i l u n g der o t t o m a n i s c h e n Gebiete. G r o ß b r i t a n n i e n suchte eine t e r r i t o r i a l e S i c h e r u n g östlich v o n Suez, u m d e n Seeweg nach I n d i e n z u sichern; gleichzeitig e r s t r e b t e es eine L a n d v e r b i n d u n g nach I n d i e n u n d suchte daher, sich i n P a l ä s t i n a u n d M e s o p o t a m i e n festzusetzen. F r a n k r e i c h besaß e i n e n t r a d i t i o n e l l e n E i n f l u ß i m syrisch-libanesischen K ü s t e n g e b i e t u n d w o l l t e das ganze G e b i e t des h e u t i g e n Syriens, des L i b a n o n s u n d P a l ä s t i nas e r w e r b e n . D e u t s c h l a n d h a t t e sich i m arabischen R a u m u m k u l t u r e l l e n u n d w i r t s c h a f t l i c h e n E i n f l u ß b e m ü h t 1 . I t a l i e n b l i c k t e auf I n s e l n i m östlichen M i t t e l m e e r u n d auf türkische Küstenstreifen. B i s z u m 1. W e l t k r i e g b e d i e n t e n sich d i e M ä c h t e h i e r z u verschiedener M i t t e l . N u r Deutschland hatte i n Palästina einige Siedlungen errichtet — falls m a n d i e T e m p l e r - S i e d l u n g e n ü b e r h a u p t d e m deutschen Staat zurechnen k a n n . I n der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts traten Protestanten u n d K a t h o l i k e n aus ihren Kirchen aus u n d gründeten die pietistisch inspirierte „Gesellschaft f ü r die Sammlung des Volkes Gottes i n Jerusalem" u n d siedelten i n Palästina unter ähnlich harten Bedingungen u n d m i t gleichem Erfolg wie die Zionisten (s. F. Lange, Die Geschichte des Tempels, Jerusalem 1899). Während der Mandatszeit zählten sie ungefähr 1 800 Mitglieder, meist Nachkommen i n 4. Generation der Auswanderer. Ihre Siedlungen waren v o r nehmlich Sarona (heute Hakirya) u n d Wilhelma (s. JL, „Palästina", Sp. 702). Die Siedler behielten die deutsche Staatsangehörigkeit u n d sprachen meist fließend arabisch. A b 1933 gerieten sie i n den Sog der nationalsozialistischen Politik gegenüber den Auslanddeutschen (s. H. D. Schmidt, The Nazi Party i n Palestine and the Levant 1932 - 9, International Affairs, Bd. 28 [1952], S. 460 ff.). I m 2. Weltkrieg wurden sie z. T. interniert, z. T. deportiert. Die deutsche Vernichtungspolitik gegenüber den Juden machte ihre Stellung i n Palästina u n haltbar: die Verbleibenden wurden nach dem 2. Weltkrieg von jüdischen Terroristen angegriffen u n d mußten nach Zypern deportiert werden; heute leben sie größtenteils i n Australien. 1 Die europäische Mentalität läßt sich k a u m besser wiedergeben als m i t einem Zitat aus W B V „Palästina" (von 1925!): „ I n gleichem Geist hat Moltke 1841 (Ges. Schriften I I , 279) die Ausscheidung eines Bezirks Palästina aus der T ü r k e i u n d ein unumschränktes deutsches Fürstentum gewünscht und dies eingehend begründet. So sehr dies v o m deutschen Standpunkt aus zu billigen und v o m internationalen aus als das Vernünftigste zu bezeichnen, da Deutschland am wenigsten unmittelbar interessiert, so w a r es bei der allgemeinen M i ß gunst gegen Deutschland vielleicht diplomatischer u n d den Ansichten des 20. Jahrhunderts entsprechender eine Neutralisierung zu empfehlen, wie dies Kirchenheim (Deutsche Revue, Dez. 1913) getan u n d ausgeführt hat — allerdings ,Neutralität' m i t ehrlicher Gesinnung u n d nicht nach der völkerrechtlichen M o r a l Englands."

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1 Teil: Die Ausgangslage

Eine Geschichte ihrer letzten Zeit i n Palästina ist noch nicht geschrieben. Nach zionistischer Darstellung waren die Siedlungen „Brutstätten rassischer Diskriminierung u n d antisemitischer Propaganda", die Templer „fanatische Nazis", breitete sich i h r Wesen „ w i e eine Seuche" aus. (Wiesenthal, Der Großm u f t i — Großagent der Achse, Salzburg 1947, S. 11.) Zionistische Darstellung i n : The Jewish Case (vor 17. K a p i t e l 2, A n m e r k u n g 6), S. 326 ff. I m 2. Weltkrieg waren sie z. T. Angehörige der Division Brandenburg u n d einige von ihnen wurden i m arabischen Räume zu Sabotageakten eingesetzt; i h r Einsatz scheint sich auf einige mißglückte Unternehmen beschränkt zu haben. Verläßliche Angaben fehlen.

I m übrigen gingen die europäischen Staaten anders vor. Ein Mittel ihrer Durchdringung war die Eisenbahnpolitik. Die europäischen Mächte wollten die Bahnen bauen, sie selbst verwalten und den Bau wirtschaftlich konkurrierender Bahnen verhindern. A l l e hatten verschiedene Interessen über die Trassierung: Großbritannien wollte Ost-Westbahnen, die seinen Landweg nach Mesopotamien und Indien vorbereiteten; es suchte Linien zu verhindern, die an den Suezkanal heranreichten, da sie den Anmarsch türkischer Truppen und eine türkische Rückeroberung Ägyptens erleichtert hätten. Frankreich bemühte sich um Linien i m syrischlibanesisch-palästinensischen Raum. Die Türkei war an Nord-Südverbindungen interessiert, u m die arabischen Gebiete besser an sich zu binden, u m die militärischen Bindungen zu stärken und um die Rückeroberung Ägyptens vorzubereiten. A l l e Mächte bemühten sich um entsprechende Konzessionen bei der Pforte, die ihrerseits die Bewerber gegeneinander ausspielte. Nachdem bereits belgisch-französische Linien gebaut waren, gab der Sultan Deutschland gewisse Linienkonzessionen, um gegen die bereits bestehenden Linien ein Gegengewicht zu schaffen. Deutschland hatte i m übrigen keine gebietlichen Ambitionen, und die erstrebten NordSüdtrassierungen entsprachen den türkischen Wünschen 2 . Schließlich teilten sich die europäischen Mächte das Gebiet weitgehend nach Einflußsphären auf; die so projektierten Linien wurden allerdings infolge des 1. Weltkrieges nicht mehr gebaut. Die Abgrenzung der Sphären ließ bereits die spätere Aufteilung des Ottomanischen Reiches erahnen 3 . Weitere Instrumente imperialistischer Durchdringung waren die Kapitulationen und die Schutzmachtvorstellung 4 . Kapitulationen wurden seit dem 16. Jahrhundert zunächst zwischen Frankreich und der Türkei, später auch mit anderen europäischen Mächten geschlossen. Zunächst waren sie auf Gegenseitigkeit aufgebaut und sahen vor, daß die Kaufleute beider Staaten nicht dem Rechte des an2

WBVR, „Bagdadbahn". s. Nachweise u n d Karte bei Frischwasser-Ra'anaan, Frontiers of a Nation (London 1955). 4 WBVR, „Kapitulationen"; „Konsulargerichtsbarkeit"; „Schutzmacht"; Nasim Sousa, The capitulatory Regime of Turkey, its origin and nature (Baltimore 1933). 3

3. Kap. : Der europäische Imperialismus i m Ottomanischen Reich

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deren Aufenthaltsstaates und nicht dessen Gerichtsbarkeit unterlagen. M i t dem Niedergang des Ottomanischen Reiches wurden die Kapitulationen einseitig. Der französische Gesandte wurde immer mehr zum Schutzherrn für alle katholischen Ausländer. Später konnte er seine Zuständigkeit auf alle Katholiken, auch die arabischen Maroniten ausdehnen. Er wurde praktisch das Oberhaupt der katholischen, ja der „christlichen Nation" (Millet) i m Ottomanischen Reiche. So entwickelte sich aus der quasi-diplomatischen Extraterritorialität eine Schutzmachtvorstellung, die ganze Gruppen generell zu „consular protégés" erhob und sie der ottomanischen Staatsgewalt entzog. Nicht nur i n Personenstandsangelegenheiten waren sie der türkischen Hoheitsgewalt entzogen, sondern auch polizeirechtlich: die türkische Polizei durfte das Haus eines solchen Schutzgenossen nicht betreten und konnte ihn auch nicht ohne M i t w i r kung seines Konsuls ausweisen. Wie Frankreich erzwangen auch die übrigen Mächte von der Türkei derartige Exemtionen für ganze Volksgruppen. Unter Berufung auf ihre Schutzmachteigenschaft konnten sie so ständig intervenieren, i m Ottomanischen Reiche selbständig tätig werden und besaßen auf Konferenzen erhebliche Druckmittel. So war Frankreich die Schutzmacht für die katholischen und maronitischen Christen, seine Stellung war besonders stark i m Libanon. Rußland war Schutzmacht für die orthodoxen Christen, aber — selbstverständlich — auch für die russischen Staatsangehörigen. Russische Staatsangehörige waren aber die meisten eingewanderten Juden; daher suchte Rußland die Zahl seiner Klienten zu vergrößern, indem es die Einwanderung russischer Juden förderte. Die Türkei war zwar gegen eine massive jüdische Einwanderung, weil sie weder die Zahl der ihrer Hoheitsgewalt entzogenen Bewohner noch ihre Nationalitätenprobleme vermehren wollte. Sie konnte aber weder eine wirksame Überwachung einrichten, noch die Bestechlichkeit ihrer Beamten beheben. So waren 1914 nahezu die Hälfte der ungefähr 80 000 palästinensischen Juden russische Staatsangehörige. Nach 1914 erwarben die meisten die türkische Staatsangehörigkeit; ungefähr 12 000 Juden wurden ausgewiesen. I n Palästina suchten schließlich Deutschland und Frankreich sich des Zionismus

für

ihre

kulturelle

Ausbreitung

zu bedienen.

Die jüdischen

Hilfsorganisationen beider Staaten suchten in Palästina die Verbreitung ihrer Sprache und K u l t u r zu fördern, indem sie deutschen oder französischen Sprachunterricht organisierten. Die französische Organisation war die „Alliance Israélite Universelle" 5 , die deutsche Organisation der „Hilfsverein der deutschen Juden" 6 . Diese Organisationen versuchten vor allem, das jüdische Ausbildungssystem in Palästina auszubauen und die Aus5 β

EJ; J L , „Alliance Israélite Universelle". EJ; JL, „Hilfsverein der deutschen Juden".

7 Wagner

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1 Teil: Die Ausgangslage

bildungsstätten an ihre Sprache zu binden. Erst nach einem heftig geführten Sprachenkampf anläßlich des Technikums in Haifa 7 konnte sich i n Palästina Hebräisch als Ausbildungssprache durchsetzen 8 . Das protestantische Großbritannien konnte nur schwer Klienten auf religiöser Grundlage finden; es versuchte, sich zum Schutzherrn der Drusen aufzuwerfen. Der Schutzmachtgedanke führte schließlich auch zur Verbindung des britischen Imperialismus mit dem Zionismus. B r i tische Pläne für eine Ansiedlung von Juden in Palästina unter britischem Schutz finden sich schon früh i m 19. Jahrhundert. Das britische Konsulat in Jerusalem setzte sich für Juden ein 9 . Auch das gescheiterte Projekt, Zionisten i m Räume von El Arisch anzusiedeln 10 , entstammt dem b r i t i schen Wunsche, den Suezkanal durch einen probritischen Protektoratsstaat zu schützen. I m arabischen Raum und insbesondere in Palästina hat schließlich weitgehend Großbritannien gesiegt. Der britische Imperialismus 11 kann nur verstanden werden, wenn man sich mit seinen intellektuellen Trägern beschäftigt. Sie haben die Vorstellung von der britischen Verpflichtung, außereuropäische Völker zu regieren, zu einer nationalen Ideologie gemacht. Wo die gegenwärtige Sicht nur Ausbeutung zu sehen geneigt ist, sahen sie nur die Erfüllung einer humanitären Verpflichtung. Die Vorstellung von des „weißen Mannes Bürde" haben sie in einem kaum nachvollziehbarem Maße internalisiert. „To serve India" nannten die britischen Beamten ihre Tätigkeit in der Indienverwaltung. Nachdem sich unsere Grundanschauungen über Wert und Unwert des Kolonialismus gänzlich verschoben haben, läßt sich diese Haltung nur schwer erklären. Man muß bereit sein, neben ökonomischen Erklärungen zumindest in ihren Trägern auch andere Motive gelten zu lassen. Große Teile der Literatur w i r d man nicht verstehen, wenn man diesen Trägern nicht wenigstens versuchsweise subjektive Lauterkeit und humanitären Idealismus zubilligt. Das gilt insbesondere für die Exponenten der britischen Mandatsverwaltung in Palästina, die zwischen arabischem und jüdischem Nationalismus zerrieben und diffamiert wurden, und die in heutiger Sicht nichts Positives aufweisen. U m sie zu verstehen, muß man ihre Schriften, Lebensbeschreibungen und Memoiren lesen. Dann zeigt sich, daß Imperialismus eine pseudoreligiöse Angelegenheit war. Sie haben 7

s. Böhm (vor 1. Kapitel), Bd. 1, S. 470 ff. R. Bachi , A Statistical Analysis of the Renewal of Hebrew i n Israel, Scripta Hierosolymitica, Bd. 3 (Jerusalem 1956), S. 179 ff. 9 Α. Μ. Hyamson , The B r i t i s h Consulate i n Jerusalem i n Relation to the Jews of Palestine 1838- 1914, 2 Bde. (London 1939 - 4 1 ) ; I. Friedman, L o r d Palmerston and the Protection of the Jews i n Palestine 1839 - 1851, Jewish Social Studies, Bd. 30 (1968), S. 23 ff. 10 Böhm, Bd. 1, S. 255 ff. 11 A. P. Thornton, The Imperial Idea and its enemies (London 1959); E. Monroe, Britain's Moment i n the Middle East 1914 - 1956 (Baltimore 1963); J. Marlowe, Arab Nationalism and B r i t i s h Imperialism (New Y o r k 1961). 8

3. Kap.: Der europäische Imperialismus i m Ottomanischen Reich

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auf ihre A r t den politischen zivilisatorisch weniger entwickelten Völkern den Fortschritt bringen wollen 1 2 , einen paternalistisch verabreichten Fortschritt, i n dem für die Wünsche der zu Fördernden kein Raum war. So wie heute die progressiven Kräfte die weniger entwickelten Völker emanzipieren wollen, wobei sie gleichfalls die Wünsche der zu Emanzipierenden zunächst entwickeln und konditionieren müssen. Die imperialistische Ideologie war dabei eine unbewußte Apologetik reiner Expansion; sie wurde von führenden Schriftstellern der Zeit formuliert und verbreitet 1 3 und von Politikern 1 4 , Gouverneuren 15 , Offizieren und Verwaltungsbeamten übernommen. Zu diesen Exponenten trat schließlich eine eigentümliche Gruppe hochqualifizierter Orientspezialisten: Orientalisten, Arabisten, Archäologen. Sie waren Imperialisten und Humanisten, Machtpolitiker und Romantiker, Geheimagenten und Gentleman-Abenteurer. I m Orient waren sie arabophil, manche araboman (Philby 1 0 , Gertrude Bell 1 7 ) oder pro-zionistisch (Wingate, Meinertzhagen). Sie waren so komplexe Persönlichkeiten, daß oft jede Qualifizierung vertretbar und belegbar ist. A m bekanntesten wurde Lawrence. Die einen sehen i h n als bedingungslosen Arabophilen an, als mißbrauchten Idealisten, der sich aus Verbitterung über den Wortbruch gegenüber den Arabern v o m öffentlichen Leben i n eine seltsame A n o n y m i t ä t zurückzog; die anderen zitieren sein V o r w o r t aus den „Sieben Säulen": „Ich riskierte den Betrug, da ich davon überzeugt w a r , . . . daß es besser ist, w i r gewinnen den K r i e g u n d brechen dann unser Wort, als daß w i r den K r i e g verlieren." Churchill hat i h n als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten bezeichnet, die er je getroffen habe, u n d andere sehen i h n als psychiatrischen Fall. Die Araber sehen i h n vornehmlich als britischen Geheimagenten; auf den Friedenskonferenzen hat er sich auch als Zionist bezeichnet; die Zionisten reklamieren i h n m i t Sicherheit nicht als einen der ihrigen. Lawrence w a r dies alles zusammen; er entzieht sich der normalen Schematisierung. Neue L i t e r a t u r etwa R. Aldington , Lawrence of Arabia (London 1955); Suleiman Mousa, Τ. E. Lawrence. A n Arab V i e w (London 1966). Auch die Zionisten hatten ihren Lawrence: Orde Wingate, eine i n vielen Zügen Lawrence ähnliche Persönlichkeit, der sich bedingungslos auf die zionistische Seite stellte (s. Chr. Sykes, Orde Wingate, London 1959).

Die Mentalität dieser Orientspezialisten hat am besten Hannah Arendt dargestellt 18 . N u r i m britischen Empire konnten sie ihrer Mentalität ent12 Sie haben den Sudan „wrested from barbarism and restored to civilisation". 13 A m bekanntesten etwa Kipling, Carlyle, Seeley. 14 ζ. B. Joseph Chamberlain (1836 - 1914) ; man lese etwa Cecil Rhodes Testament, „eine eigenartige Verschmelzung von Raubtierinstinkten u n d schwärmerischem Idealismus" (Dibelius, England [1929], Bd. 1, S. 224). 15 I m hier interessierenden Raum etwa Curzon (in Kairo). 16 H. St. J. Philby, Forty Years i n the Wilderness (London 1957). 17 G. Bell, The Letters of G. Bell, 2 Bde. (London 1927). 18 Hannah Arendt, Elemente totaler Herrschaft (1955).



1 Teil: Die Ausgangslage

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sprechend leben; i m Heimatlande wären sie gescheitert, wie schließlich Lawrence gezeigt hat. Auch i n nicht-imperialistischen Staaten leben Persönlichkeiten, die nicht für den jeweiligen Zeitgeist oder etwa für die Geregeltheit des modernen Industrie- und Verwaltungsstaates geschaffen sind. Ihre Energie verschleißt sich i n der erfolglosen Anpassung oder außerhalb ihres Heimatstaates; sie geht diesem Staat verloren. Imperialistische Staaten konnten diese Persönlichkeiten voll für sich einsetzen; ohne sie wäre das Empire kaum zustande gekommen. Diese Orientspezialisten waren m i t u n t e r erheblich desequilibrierte Personen; nach normalen Kategorien waren sie klinische Fälle, u m nicht mehr zu sagen. Infolgedessen haben sie sich ihren meist selbst gestellten Aufgaben m i t einer Einseitigkeit u n d Inbrunst gewidmet, die sie i n Europa sozial isoliert hätte. A m bekanntesten ist Lawrence; f ü r Orde Wingate gilt dies noch mehr. A m unerträglichsten w a r w o h l Colonel Meinertzhagen, der politische Offizier i n Allenbys Armee 1 9 . Er wurde zufällig m i t den zionistischen Ambitionen bekannt u n d setzte sich von da an bedingungslos f ü r sie ein, jedenfalls soweit es gegen die Araber ging. Als Tourist scheute er sich nicht, ohne jeden Grund K r i e g gegen die Araber mitzuspielen 2 0 . Sein Araberhaß w a r k r a n k h a f t ; sein Tagebuch besteht aus unsinnigen Beschimpfungen. z.B.: "The Jews are virile, brave, determined and intelligent. The Arabs decadent, stupid, dishonest and producing l i t t l e beyond eccentrics influenced by the romance and silence of the desert." S. 12: "The Jews means progress and perhaps upsetting a modern Government, the A r a b is stagnation and stands for immorality, rotten government, corrupt and dishonest society." I m 1. Weltkrieg hatte er i n Allenbys Armee als intelligence officer Juden u n d Araber beschäftigt, was i h n zu der Erkenntnis brachte: "Intelligence is a Jewish virtue; intrigue is an Arab vice", S. 81. Meinertzhagen ist schließlich ein Beispiel f ü r den arabischen V o r w u r f , daß virulenter Pro-Zionismus sich durchaus m i t einem latenten Antisemitismus verträgt: " B u t i f the Jews are going to gain a predominantly influence i n this country [gemeint: England], i n profession, i n trades, i n universities and museums, i n finance and as landowners, than of course we shall have to act against them", S. 183.

Das britische Empire gewährte ihnen ein weites Feld der Betätigung, da die Empirepolitik ungenügend koordiniert war. Die einzelnen Departements verfolgten weitgehend ihre eigenen Ziele, z. B. Kairo und Delhi i m arabischen Raum. Innerhalb der einzelnen arabischen Gebiete hatten die lokalen Arabisten (Lawrence, Philby, Kirkbride) fast volle Freiheit. Solange die Welt noch nicht verteilt war, brachte die unkoordinierte und auf eigene Faust der Orient- und Indienspezialisten erjagte Beute stets Gewinn für Großbritannien; wenn sie auf den Imperialismus anderer europäischer Mächte stieß, wie Kitchener bei Faschoda, dann brachte ein derartiges lokales und koloniales Abenteuer Großbritannien 19 20

R. Meinertzhagen, S. 222.

Middle East Diary 1917 - 1956 (Paris 1967).

3. Kap.: Der europäische Imperialismus i m Ottomanischen Reich

101

an den Rand eines europäischen Krieges. I m arabischen Räume hat es Großbritannien in ein Konfliktsnetz eingesponnen, aus dem es sich nur unter Verlust seiner gesamten Position i m nahen Osten befreien konnte. Der moderne Leser muß sich schließlich über die inzwischen eingetretene Frontenverschiebung bewußt sein. Heute sind i m Bewußtsein von vielen die Qualifizierungen „anti-zionistisch", „anti-imperialistisch", „pro-arabisch" und „progressiv" eine nahtlose Einheit eingegangen, während „zionistisch", „imperialistisch", „araberfeindlich" und „konservativ" den einheitlichen Gegenpol zu bilden scheinen; darüber soll jetzt nicht gerechtet werden. Aber jedenfalls verliefen bis i n die 50er Jahre die Fronten anders, und darauf ist in diesem Buch konstant hinzuweisen. Zwischen den Weltkriegen haben sich die damals Progressiven für das Mandatssystem des Völkerbundes ausgesprochen, und die Mehrheit der damals progressiven Kräfte war für Palästinapolitik und Zionistische Nationalheimpolitik. Pro-arabisch in dem Sinne, daß sie sich antizionistisch gebärdeten, waren überwiegend die Exponenten des britischen I m perialismus und des konservativen Lagers — wie es eben die britischimperialistische Interessenlage gebot. Pro-arabische Imperialisten, die das prozionistische Engagement Großbritanniens ablehnten, waren jedenfalls in der Überzahl, und es ist bezeichnend, daß das britische Oberhaus in einer Entschließung die Regierung zur Rücknahme der Balfour-Erklärung aufgefordert hatte. Britische Imperialisten wie Curzon hätten das Palästinamandat gerne den USA überlassen, weil sie die Belastungen mit der arabischen Welt sahen. Die gegen die Nationalheimpolitik agierenden Zeitungen Beaverbrooks, Rothermeres und Northcliffes kann man kaum als „progressiv" bezeichnen, und die heftigste Streitschrift, das Buch von Jef fries, „Palestine, the Reality", ist über ganze Passagen glatt reaktionär.

Zweiter Teil

Die Weichenstellung: Die Palästinapläne der Alliierten im 1. Weltkrieg Schrifttum: E. Kedourie, England and the Middle East. The Destruction of the Ottoman Empire 1914 - 1920 (London 1956); E. Adamov, Die Europäischen Mächte u n d die T ü r k e i während des Weltkrieges, Bd. 1 (1930); ders. (Hrsg.), Die Europäischen Mächte u n d die T ü r k e i ; Die A u f t e i l u n g der asiatischen T ü r k e i (1932); W. W. Gottlieb, Studies i n Secret Diplomacy during the First W o r l d War (London 1957).

Viertes Kapitel Britisch-Französische Absprachen (Sykes-Picot-Abkommen) Nachdem das Ottomanische Reich auf der Seite der Mittelmächte i n den Krieg getreten war, verständigten sich die Alliierten über seine spätere Aufteilung. Sie formulierten ihre Kriegsziele in einer Reihe von Verhandlungen; diese Verhandlungen führten zu mehreren Absprachen zwischen Großbritannien, Frankreich, Italien und Rußland, die eine weitgehende Aufteilung des Ottomanischen Reiches einschließlich der t ü r k i schen Gebiete vorsahen. Diese Aufteilung wurde i n vier Vereinbarungen fixiert: der Konstantinopel-Vereinbarung vom A p r i l 19151; dem Londoner Übereinkommen vom A p r i l 19152, dem Sykes-Picot-Abkommen vom Oktober 1916 und der Vereinbarung von Saint-Jean de Maurienne vom August 1917. Diese Abkommen waren geheim 3 und zum Teil nur i n einem Schriftwechsel niedergelegt, der sich über längere Zeit hinzog. Hier interessiert nur die vorgesehene Aufteilung der arabischen Gebiete durch das Sykes-Picot-Abkommen. Dieses Abkommen war i n einem (geheim gehaltenen) Schriftwechsel zwischen Großbritannien, Frankreich und Rußland ausgehandelt worden; der Briefwechsel erstreckte sich von A p r i l bis Oktober 1916. Italien wurde durch die Vereinbarung von SaintJean de Maurienne i m September 1917 i n das Abkommen einbezogen und erhielt i n den arabischen Gebieten gewisse Zugangsrechte zugespro1 2 3

Hurewitz, Dok. 5. Hurewitz, Dok. 6. Z u dem Problem der Geheimabkommen s. 7. Kapitel, A n m e r k u n g 3.

4. Kap.: Britisch-Französische Absprachen

103

chen4. Das Sykes-Picot-Abkommen 5 wurde durch einen Briefwechsel zwischen dem britischen Außenminister und dem französischen Botschafter geschlossen. Aus dem Abkommen interessiert hier nur die territoriale Aufteilung der arabischen Gebiete des Ottomanischen Reiches, wie sie insbesondere i m Schreiben von Grey an Cambon vom 16. Mai 1916 niedergelegt ist. I n den Verhandlungen hatte Frankreich für sich ganz Syrien gefordert, wobei es dem damaligen Sprachgebrauch folgend, auch den Libanon und Palästina verstand. Von den Verhandlungen m i t Scherif Hussein von Mekka 6 wußte Frankreich nichts. I m Sykes-Picot-Abkommen erreichten die Verhandlungspartner einen Kompromiß, der das asiatisch-arabische Gebiet (mit Ausnahme des heutigen Saudisch-Arabiens und des Jemens) in fünf Zonen aufteilte 7 . 1. Der südliche Teil von Mesopotamien (Irak) — die sog. „Rote Zone" — wird Großbritannien überlassen. 2. Ein Küstenstreifen von Syrien, der Libanon 8 sowie der Teil des westjordanischen Palästinas, der nördlich der Linie Akko—Nordspitze Tiberiassee liegt, sowie ein tief nach Norden ins türkische Gebiet laufendes Dreieck (Kilikien) — die sog. „Blaue Zone" — w i r d Frankreich zugesprochen. Die blaue Zone soll einen arabischen Staat unter französischem Einfluß bilden. 3. Das Innere von Syrien und Mesopotamien sowie das spätere Transjordanien sollte als unabhängiger arabischer Staat oder als Föderation arabischer Staaten unter französischem und britischem Schutz konstituiert werden 9 . Dieses Gebiet war wiederum aufgeteilt i n eine nördliche Zone A und eine südliche Zone B. Die Α-Zone sollte französisches, die B-Zone britisches Einflußgebiet sein. I n ihrer jeweiligen Zone sollten beide Mächte berechtigt sein, Unternehmen zu gründen, lokale Anleihen auszuschreiben sowie eine solche Verwaltung — direkt oder indirekt — oder eine solche Kontrolle auszuüben, die ihnen wünschenswert und für das Gebiet zweckmäßig erschien. Die Grenze zwischen beiden Zonen verlief nordöstlich vom Tiberiassee zur türkisch-persischen Grenze und ließ das Mossulgebiet in der (französischen) A-Zone. 4. Die sog. „Braune Zone" umfaßte den Rest des westjordanischen Palästinas, nach Abzug der britischen und französischen Zonen und verlief i m Süden auf der Linie Gaza-Hebron-Nordende Totes Meer 1 0 . Sie erfaßte 4

Hurewitz, Dok. 12. Hurewitz, Dok. 10. 5. Kapitel. 7 s. K a r t e 1. 8 Vgl. hierzu: Marmorstein, A Note on „Damascus, Horns, Hama and Aleppo", St. Anthony's Papers No X I (1961). 9 A r t . 1 : "France and Great B r i t a i n are disposed to recognize and protect an independent A r a b State or a Confederation of Arab States . . . under the suzerainty of an Arab Chief." 10 K a r t e 2. 5 6

104

2. Teil: Die Palästinapläne der Alliierten i m 1. Weltkrieg

Beirut.

Sidon

'Akko Tiberias'

ST A l t UNDER PROTECTION GREAT BR I Τ A II FRANCE AND RUSijA Jerusalem·

Hebron*

Karte 2 Braune Zone des Sykes-Picot-Abkommens (aus: V i l n a y , N e w I s r a e l A t l a s )

. Kap.: B r i t i s c h - i s c h e Absprachen

105

also den Teil Palästinas, der etwa dem türkischen „unabhängigen Sanjak Jerusalem" entsprach 11 . Ausgeschlossen blieb der Negev; ein Teil von Nordpalästina oder des heutigen Israels fiel i n die französische „Blaue Zone". Diese „Braune Zone" sollte internationalisiert werden: die genauen Verwaltungsmodalitäten waren späterer Abmachung vorbehalten, an der auch der Scherif von Mekka beteiligt sein sollte. Großbritannien sollte außerdem die Häfen von Haifa und Akko erhalten; Großbritannien und Frankreich behielten sich außerdem gewisse Privilegien in der „Braunen Zone" vor.

Fünftes

Kapitel

Britisch-Arabische Absprachen (Briefwechsel McMahon-Hussein) 1. Der Briefwechsel M c M a h o n —Hussein

Nach dem türkischen Kriegseintritt mußte Großbritannien an einem antitürkischen Aufstand i n den arabischen Gebieten interessiert sein. Die britischen Verbindungen zu den lokalen Autoritäten und die britischen Arabisten i n den einzelnen Gebieten boten verschiedene Möglichkeiten. Die britischen Zentralen in Kairo und Delhi favorisierten verschiedene Pläne. So versuchte etwa Sir Percy Cox die Iraker für einen Aufstand zu gewinnen; i m wahabitischen Nedsch wäre Philby ein geeigneter Verbindungsmann gewesen. I m Ganzen blieb jedoch der arabische Raum des Ottomanischen Reiches aus dargelegten Gründen weitgehend unbeteiligt. Nur im Hedschas kam es zu einem antitürkischen Aufstand. Die Gebiete des heutigen Saudisch-Arabiens hatten sich in ottomanischer Zeit eine erhebliche Selbständigkeit bewahrt. Das wahabitische Nedsch war fast unzugänglich und nahezu völlig selbständig — soweit man diesen Begriff überhaupt auf ein fast ganz von Beduinen bewohntes Gebiet sinnvollerweise anwenden kann. Der Hedschas war stärkerem ottomanischem Einfluß ausgesetzt; seine Städte Mekka, Medina und Dschidda waren für die ottomanische Regierung von erheblicher Bedeutung. Mekka mit den Heiligen Stätten war für die islamische Welt das spirituelle Zentrum. Die Städte Maan, Medina, Mekka hatten daher türkische Garnisonen. Die ottomanische Regierung übte ihren Einfluß auch dadurch aus, daß sie von Zeit zu Zeit den Herrscher des Hedschas und 11

Karte 3.

2. Teil: Die Palästinapläne der Alliierten i m 1. Weltkrieg

Verwalter der Heiligen Stätten, den Scherifen von Mekka, auswechselte1 und Familienmitglieder der Herrscherfamilien des Hedschas nach Konstantinopel zur Erziehung und zum Aufenthalt kommen ließ. Scherif Hussein von Mekka hatte schon vor dem Weltkrieg bei dem britischen Hohen Kommissar in Kairo (damals Lord Kitchener) angefragt, wie sich Großbritannien i m Falle eines von i h m geführten arabischen Aufstandes verhalten würde. Da vor dem Kriege die europäischen Mächte an der Erhaltung des Ottomanischen Reiches interessiert waren, hatte ihn Großbritannien nicht ermuntert. Nachdem aber Deutschland die Türkei auf seiner Seite i n den Krieg ziehen konnte, griff Großbritannien auf erneute Nachfragen Husseins zu. Großbritannien war an diesen Vorschlägen interessiert: — Ein türkenfeindlicher Hedschas mußte türkisch-deutsche Angriffe auf den Suezkanal erschweren; — eine Allianz mit Hussein schien die Gefahr zu bannen, der Kampf gegen die Türkei sei ein Kampf gegen den Islam, was die Alliierten angesichts ihrer mohammedanischen Gebiete in Nordafrika und Indien befürchteten. Der Sultan hatte als K a l i f zum Heiligen Krieg aufgerufen, aber Hussein hatte sich diesem Aufruf nicht angeschlossen. Der Aufruf blieb außerhalb der Türkei wirkungslos. Welchen Einfluß die Übernahme des Aufrufs durch Hussein auf die islamische Welt gehabt hätte, läßt sich nicht sagen; damals wurde er gefürchtet. Zwischen den Weltkriegen haben regelmäßig die auf arabischer Seite stehenden Autoren diese mögliche Auswirkung als sicher und für die Alliierten verheerend hingestellt, während die prozionistische Seite diesen möglichen Dienst als unbedeutend ansah. Kalif („Stellvertreter", „Nachfolger") nannten sich die Nachfolger Mohammeds; ihre Würde hieß Kalifat, ebenso i h r Reich. Später änderte sich die W o r t bedeutung; statt bloßer Nachfolger w i r d der K a l i f als Gesandter Gottes, jedenfalls als höchster geistlicher Würdenträger des Islam betrachtet. I m 16. Jahrhundert hatte der Sultan das K a l i f a t übernommen. A l s die modernisierte T ü r k e i das K a l i f a t abschaffte, ließ sich Hussein 1924 zum K a l i f e n proklamieren, aber I b n Sauds Eroberung von Mekka beendete das haschemitische K a l i f a t ; zur Zeit gibt es kein K a l i f a t mehr.

I n den Verhandlungen m i t Großbritannien übernahmen Hussein und sein Sohn Feisal das sog. Damaskus-Protokoll 2. Dieses Programm war von arabischen Nationalisten i n Damaskus für die Zusammenarbeit mit den Alliierten und zur Erlangung der arabischen Unabhängigkeit aufgestellt worden. Sie übersandten das Programm an Hussein, der als höchster Würdenträger der arabischen Welt als ihr Sprecher fungierte. Hus1 s. hierzu etwa G. Stitt , A Prince of Arabia. The E m i r Shereef A l i Haider (London 1948). 2 Antonius, Anhang.

. Kap.: B r i t i s c h - i s c h e Absprachen

107

sein wechselte mit dem britischen Hohen Kommissar in Kairo, McMahon (Nachfolger Kitcheners), von Herbst 1915 bis Januar 1916 zehn Briefe. Dieser Briefwechsel enthielt die beiderseitigen Verpflichtungen, und ihre Bedeutung wurde zwischen den Kriegen leidenschaftlich erörtert. Der genaue I n h a l t der Briefe steht allerdings noch immer nicht v o l l fest. V o n den 10 Briefen stammen 5 von britischer u n d 5 von arabischer Seite. Die 5 Briefe Husseins sind arabisch geschrieben u n d w u r d e n i n K a i r o ins Englische übersetzt. Die 5 britischen Briefe wurden i n London englisch geschrieben u n d i n Kairo ins Arabische übersetzt. Da aber die britischen Archive noch nicht geöffnet sind, liegen die Briefe McMahons nicht i m genauen englischen Wortlaut vor; n u r Rückübersetzungen aus dem Arabischen sind bis jetzt v e r öffentlicht. Selbst die offizielle Englisch-Arabische Delegation, die sich 1939 u m eine K l ä r u n g der britischen Verpflichtungen aus diesen Schreiben bemühte, verfügte n u r über die englische Rückübersetzung der arabischen Ubersetzungen der Briefe McMahons 3 .

Hussein forderte in diesen Briefen als Gegenleistung für seinen Aufstand von Großbritannien — die Anerkennung als Kalif; — die Unterstützung und Anerkennung der arabischen Unabhängigkeit für das Gebiet des heutigen Syriens, Libanons, Palästinas (einschließlich Israel, Jordanien, Gaza-Gebiet), Irak, Arabien. Die Grenzen waren geographisch genau bestimmt. I n seiner Antwort stimmte McMahon in der Frage des Kalifats zu und versuchte, die Grenzfrage bis nach dem Kriege zu vertagen. Hussein forderte jedoch klare Zusagen für die von ihm geforderten Grenzen; ebenso forderte er Garantien gegen einen Frieden der Alliierten ohne offene Unterstützung der arabischen Ansprüche. I n dem wichtigsten Brief vom 24. Oktober 1915 umreißt McMahon das Gebiet, i n dem Großbritannien bereit ist, die arabische Unabhängigkeit anzuerkennen und zu unterstützen. Es entspricht den Forderungen Husseins mit folgenden Einschränkungen: — a) Gebiete i m Südosten, wo Großbritannien Verträge m i t den Scheichtümern abgeschlossen hatte; — b) das Gebiet von Mersina und Alexandrette (heute Iskanderun); — c) das Gebiet westlich der Städte Damaskus, Horns, Hama, Aleppo; — d) und unbeschadet der Interessen Frankreichs. 3 Texte i n Correspondence between Sir Henry McMahon, His Majesty's H i g h Commissioner at Cairo, and the Sharif Hussein of Mecca, J u l i 1915 — March 1916, Cmd. 5957 von 1939. Ferner i n : Antonius, Anhang A ; Hurewitz, Dok. 8; Zeine, Struggle for A r a b Independence, S. 244 enthält Brief v o m 18. Februar 1916, der nicht i n obigen Werken enthalten ist; s. auch Jef fries, S. 64.

2. Teil: Die Palästinaplän der Alliierten i m 1. Weltkrieg

I m folgenden interessieren ausschließlich die Einschränkungen zu c) und d). Großbritannien war zu dieser Einschränkung gezwungen, weil Frankreich i n den gleichzeitig geführten Verhandlungen, die zum SykesPicot-Abkommen führten, bestimmte Gebiete für sich forderte. Das Ausmaß dieser Forderungen war McMahon unbekannt. I n der Folgezeit wurde vor allem strittig, inwieweit die beiden letzten Einschränkungen Palästina vom britischen Versprechen an Hussein ausschlossen. Hussein widersprach i m folgenden Schreiben diesem Ausschluß, erklärte sich aber bereit, diese Frage bis zum Kriegsende zurückzustellen. Die arabische Unabhängigkeit sollte in irgendeiner Form von Protektorat erfolgen, das ausschließlich Großbritannien unterstehen sollte. A m 15. Juni 1916 brach der Aufstand los, der i n Europa vor allem durch T. E. Lawrence bekannt wurde. Die militärische Bedeutung dieses Aufstands und damit des arabischen Beitrags, aber auch der Beitrag Lawrence's und schließlich der militärische Wert der gesamten britischen Offensive, die 1918 zu einer Einnahme von Jerusalem führte, sind strittig, insbesondere nachdem türkische Angriffe auf den Suezkanal kaum noch zu befürchten waren. Die pro-arabische Seite bewertete den arabischen Beitrag zur Vertreibung der Türken und damit zum Sieg der Alliierten hoch, um ihre Ansprüche zu rechtfertigen. Den Anteil von Lawrence halten die Araber wiederum für gering. Die pro-zionistische Seite kann Gründe für den geringen Wert der Hussein'schen Krieger anführen 4 und hebt hervor, daß die übrigen Araber nicht die Partei des Aufstandes ergriffen hätten. Die nicht auf arabischer Seite stehenden englischen Autoren heben den geringen militärischen Wert des Hedschas-Kriegers hervor, um ihre moralischen Verpflichtungen Hussein gegenüber zu verringern; außerdem stellen sie die Lawrence'sche Darstellung des Aufstandes als Phantasieprodukt dar. Die Zionisten hatten sich m i t großer Energie für die Aufstellung einer jüdischen Armee unter jüdischer Flagge eingesetzt. Eine jüdische Armee erschien ihnen wichtiger Schritt zur Anerkennung der Staatlichkeit; eine T r u m p f karte i n den Friedensverhandlungen, auf der die Kriegskoalitionspartner der Siegermächte nach ihren militärischen Beiträgen auftreten könnten; als u n erläßlich f ü r den Aufbau des Nationalheims i n Palästina. Insbesondere Jabot i n s k i hat diesen Aufbau i m m e r als militärische Eroberung gesehen u n d u n 4 Dagegen bewertet sie den Beitrag der jüdischen Agentengruppe N i l i u m Aaronson f ü r den britischen Sieg hoch; A. Engle, The N i l i Spies (London 1959), Α. Aaronson, W i t h the T u r k s i n Palestine (Boston 1916). E. Brémond, Le Ledjaz dans la guerre mondiale (Paris 1931); P. A. Wavell, The Palestine Campaigns (London 1929); Lord Hankey, The Supreme Command: 1914 - 1918, 2 Bde. (London 1961). F ü r Wert oder Bedeutungslosigkeit des Hedschasaufstandes k a n n jede Seite beliebig viele Autoren anführen, manchmal ein u n d denselben A u t o r f ü r beide Ansichten, z. B. D. Lloyd George, The T r u t h about the Peace Treaties, Bd. 2, S. 1028,1031,1063.

. Kap. : B r i t i s c h - i s c h e Absprachen

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ermüdlich i n zwei Weltkriegen für eine jüdische Armee gekämpft. Großbritannien ließ i m 1. Weltkrieg nur eine jüdische Transporteinheit, das Zion Mule Corps, zu. Literatur: Jabotinski, The Story of the Jewish Legion (New Y o r k 1945); J. H. Patterson, W i t h the Judeans i n Gallipoli (New Y o r k 1916); ders., W i t h the Judeans i n the Palestine Campaign (New Y o r k 1922); JL, „Legion, Jüdische" (dort weitere Nachweise).

I m November 1916 verkündete Hussein die Unabhängigkeit Arabiens und ließ sich durch die geistlichen Würdenträger Mekkas zum „König der Arabischen Nation" ausrufen. Damit geriet Hussein m i t Ibn Saud i m Wahabitischen Nedsch i n Konflikt. Auf britischem Druck nannte er sich in der Folgezeit nur „König des Hedschas". Uber weitere alliierte Zusagen an die Araber s. 7. Kapitel. 2. Rechtliche Beurteilung der britischen Verpflichtungen

Rechtsnatur: Der Briefwechsel führte nicht zu einem förmlichen Vertrag. Aber völkerrechtliche Verträge sind formlos gültig und Vertragsabschlüsse durch Briefwechsel sind üblich. Hussein sprach i m ersten Brief von „Vertrag" und Großbritannien erkannte diese Terminologie an. Es hat in der Folgezeit nie den Vertragscharakter bestritten und sich Frankreich gegenüber auf den Vertragscharakter dieser Abmachung berufen. Als sich Frankreich auf das Sykes-Picot-Abkommen berief, u m Syrien zu erhalten, wehrte Großbritannien mit Hilfe dieser Verpflichtungen die französischen Ansprüche ab, da sie seinen vertraglichen Verpflichtungen gegenüber Hussein zuwiderliefen 5 . Status von Hussein: Hussein nahm an, er könnte für alle Araber sprechen, wenn er das ganze asiatisch-arabische Gebiet für sich verlangte. Die arabischen Nationalisten vermittelten ihm den Eindruck, daß alle Araber damit einverstanden seien. Der Briefwechsel mit McMahon gab ihm den Eindruck, daß Großbritannien ihn als Vertragspartner für alle Araber akzeptierte. McMahon hatte i m Schreiben vom 24. Oktober 1915 erklärt, für Großbritannien zu handeln („on behalf of the British Government") und hatte Hussein als Repräsentanten und Vertragspartner aller Araber akzeptiert. I n der Folgezeit machten britische Autoren meist geltend, daß ihre Regierung niemals glaubte, daß Husein außerhalb des Hedschas von allen Arabern akzeptiert werden würde. Damit sollten sie Recht behalten, aber alle Araber beriefen sich in der Folgezeit auf diesen Briefwechsel, um britische Verpflichtungen zugunsten der Araber herzuleiten. Gebietliches Ausmaß: 7. K a p i t e l 2. 5

Lloyd George, Bd. 2, S. 1063.

2. T e i l : Die Palästinapläne der Alliierten i m 1. Weltkrieg Sechstes

Kapitel

Britisch-Zionistische Absprachen (Balfour-Erklärung) Schrifttum: L. Stein, The Balfour Declaration (London 1961); J. Kimche t The Unromantics. The Great Powers and the Balfour Declaration (London 1968); R. Neher-Bernheim, L a déclaration Balfour 1917; Création d'un foyer national j u i f en Palestine (Paris 1969). 1. Das Zustandekommen der B a l f o u r - E r k l ä r u n g D i e Zionistische O r g a n i s a t i o n m i t i h r e n A n g e h ö r i g e n i n gegnerischen L a g e r n versuchte zunächst, n e u t r a l z u b l e i b e n ; d a h e r v e r l e g t e sie i h r B ü r o v o n B e r l i n nach K o p e n h a g e n . A b e r b a l d ü b e r n a h m d e r englische L a n d e s v e r b a n d u n t e r W e i z m a n n die F ü h r u n g i m W e l t z i o n i s m u s . W e i z m a n n setzte f ü r die E r r e i c h u n g seines Zieles v o l l a u f die englische K a r t e , u n d es g e l a n g i h m gegen a l l e W i d e r s t ä n d e , auch u n t e r der englischen J u d e n s c h a f t 1 a m 2. N o v e m b e r 1817 die B a l f o u r - E r k l ä r u n g z u e r h a l t e n . I n diesem a n W a l t e r R o t h s c h i l d 2 g e r i c h t e t e n Schreiben e r k l ä r t e d i e b r i tische R e g i e r u n g : Foreign Office November 2nd, 1917 Dear L o r d Rothschild, I have much pleasure i n conveying to you, on behalf of His Majesty's Government, the following declaration of sympathy w i t h the Jewish Zionist aspirations which has been submitted to, and approved by, the Cabinet, "His Majesty's Government v i e w w i t h favour the establishment i n Palestine of a national home for the Jewish people, and w i l l use their best endeavours to facilitate the achievement of this object, i t being clearly understood that nothing shall be done w h i c h may prejudice the c i v i l and religious rights of existing non-Jewish communities i n Palestine, or the rights and political status enjoyed by Jews i n any other country." I should be grateful if you w o u l d b r i n g this declaration to the knowledge of the Zionist Federation. Yours sincerely, A r t h u r James Balfour 1 Antizionistische Stellungnahmen gegen die beabsichtigte B a l f o u r - E r k l ä rung gaben v o r allem die Präsidenten des Jewish Board of Deputies u n d der Anglo-Jewish Association ab. Das Judentum sei n u r eine religiöse Angelegenheit u n d rechtfertige nicht „a secular Jewish Nationality recruited on some loose and obscure principle of race and ethnological peculiarity". Sie müsse sich nachteilig auf die erreichte Rechtsgleichheit der Juden auswirken. Die Chartered Company m i t politischen Privilegien u n d wirtschaftlichen Präferenzen sei unvereinbar m i t dem jüdischen Streben i n der ganzen Welt f ü r Rechtsgleichheit. Insbesondere der Minister Sir E d w i n Montagu hat sich gegen den Zionismus ausgesprochen, s. ferner Schreiben Montefiore bei Chr. Sykes, T w o Studies i n V i r t u e (London 1953), Anhang A . * 1868 - 1937 R. w a r nicht i m Bankgeschäft u n d ist nicht zu verwechseln m i t seinem Verwandten, Baron Edmond de Rothschild, dem Haupt des französischen Zweiges.

6. Kap.: Britisch-Zionistische Absprachen

111

Diese Fassung kam in über zweijährigen Verhandlungen zwischen den Zionistischen Organisationen i n Großbritannien und in den Vereinigten Staaten und zwischen der britischen und der amerikanischen Regierung zustande; die Literatur referiert über mehrere Entwürfe, die schließlich zur Einigung unter den vier Beteiligten führten. Nahezu alle einflußreichen Zionisten diesseits und jenseits des Atlantiks waren befaßt, ihr Einfluß war eingesetzt worden. Vor allem die amerikanischen Zionisten und nichtzionistische Juden hatten sich bei der US-Regierung und bei Wilson bemüht 3 . Die lange und wechselvolle Geschichte dieser Erklärung kann hier nicht wiederholt werden; hierzu sei auf die Literatur verwiesen. Es gelang der Zionistischen Organisation, insbesondere Sokolow, eine A r t von Zustimmung anderer alliierter Mächte und des Vatikans zu erreichen. Die Historiker haben mit außergewöhnlicher Energie und Akribie untersucht, wie es zu dieser Erklärung kam. Insbesondere Stein hat wohl alle erreichbaren Dokumente einschließlich nicht veröffentlichter Nachlässe der damaligen Beteiligten ausgewertet. Dieses Interesse ist verständlich. Die wenigen Zeilen der Balfour-Erklärung sind auf völkerrechtlicher und politischer Ebene außergewöhnlich. Die damit eingeleitete Politik hat Großbritannien in der Folgezeit mehr als sein übriges Weltreich belastet und es erscheint uns heute, als müsse dies damals vorauszusehen gewesen sein. Was also bewog die britische Regierung zu dieser Erklärung? Aus heutiger Sicht bestand 1917 kein unmittelbarer humanitärer Grund, denn antisemitische Exzesse gab es während des Krieges nicht. Der unmittelbare Gewinn für Großbritannien konnte nicht allzu groß erscheinen, während die mit der Erklärung verbundenen zukünftigen Verwicklungen von vielen vorausgesagt wurden. Die oft erzählte Anekdote, Großbritannien habe Weizmann für seine Verdienste u m die britische Kriegsindustrie belohnen wollen, (Lloyd George: "Acetone converted me to Zionism") erscheint uns läppisch; manche Zionisten haben diese chemische Entwicklung Weizmanns zum kriegsentscheidenden Beitrag aufgewertet. Der Verweis auf die inneren Bindungen der puritanischen Staatsmänner zur Bibel erscheint uns heuchlerisch 4 ; der Wunsch, dem leidenden jüdischen Volk zu helfen und christliches Unrecht wiedergutzumachen 5 , erscheint unwahrscheinlich für ein Kriegskabinett. Die Forschung hat auch Aussprüche und Maßnahmen von Lloyd George und 5 Z u nennen sind hier die Zionisten Brandeis, Felix Frankfurter, Stephen S. Wise u n d Wilsons Berater Jacob Schiff, Bernard Bachuch u n d Simon Wolff. 4 Balfour : „ i t was undoubtedly inspired by natural sympathy and also by the fact t h a t . . . we had been trained even more i n Hebrew history than i n the history of our o w n country". * Balfour : "Christendom desired to right the wrong it has done."

2. Teil: Die Palästinapläne der Alliierten i m 1. Weltkrieg

Balfour zutage gefördert, die wenig philosemitisch sind 6 . Und der naheliegende Hinweis auf den Imperialismus wäre einleuchtend — wenn nur nicht gerade die Exponenten des britischen Imperialismus gegen die Balfour-Erklärung und ihre spätere Durchführung gewesen wären. Und doch handelt es sich bei all diesen Gründen um reale Faktoren, die vorlagen und mitbestimmend waren. Unter Verzicht auf monokausale Erklärungsversuche läßt sich ein Motivbündel zusammenstellen, dessen einzelne Elemente während der verschiedenen Etappen auf dem Weg zur Erklärung und bei den einzelnen Beteiligten ein ganz verschiedenes Gewicht angenommen haben: a) I n der britischen Regierung (Lloyd George, Balfour, Smuts) und i n den Ministerien (Samuel 7 , Sykes 8 , Sidebotham 9 ) waren pro-zionistisch eingestellte

Mitglieder.

b) Die puritanische Religiosität und die überkommene Bibelgläubigkeit hatten i n Großbritannien einen philo semitischen

Grundton

geschaffen.

Die Bibel war dort in stärkerem Maße Volksbuch und Bestandteil der eigenen Literatur geworden als auf dem Kontinent. Das englische Volk hat die jüdische Geschichte zuweilen i n seltsam romantischen Formen der eigenen Geschichte einverleibt. Die Vorstellung, die Engländer seien die Nachkommen der verlorenen zehn Stämme Israels und die göttlichen Prophezeiungen und Verheißungen seien auf die wahren Israeliten, nämlich die Engländer, übergegangen, war zumindest ein literarischer und volkstümlicher Topos 10 . Eine große philosemitische Literatur hat aus Bibel und Judentum Motive bezogen 11 , und der Glaube an die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes i n Palästina war i n England verbreitet. I m 19. Jahrhundert haben christliche Engländer Pläne zur Besiedlung Palästinas durch jüdische Einwanderer veröffentlicht, sei es aus

• z. B. unterstützte Balfour 1905 den Aliens Act, der die Einwanderung der v o r Pogromen fliehenden russischen Juden erschwerte. Z u diesem Gesetz s. D. Lipman, Social History of the Jews i n England 1850 - 1950 (London 1954), S. 141 ff.; über Balfour: Bl. E. C. Dugdale, A r t h u r James Balfour, 2 Bde. (London 1936). 7 Herbert Samuel, der spätere 1. Hohe Kommissar i n Palästina, Jude u n d Zionist. Über i h n die L i t e r a t u r zur Mandatszeit u n d J L , „Samuel"; J. Bowle, Viscount Samual, a biography (London 1957). 8 Mark Sykes, britischer Diplomat, zunächst federführend bei der Aushandlung des Sykes-Picot-Abkommens; dann f ü r den Zionismus gewonnen. L i t e r a t u r : Werke über Mandatszeit; Stein; Sh. Lesli, M a r k Sykes, his life and letters (London - New Y o r k 1923). * Herbert Sidebotham, politischer Journalist, arbeitete „Memorandum on B r i t i s h Policy" aus. Weitere prozionistische Beamte: C. P. Scott, F. Fitzmaurice. 10 s. W. Dibelius, England, 2 Bde., 5. Aufl. (1929), Bd. 21, S. 79. 11 z.B. George Eliot , Daniel Deronda; Disraeli, Tancred; Byron, Hebrew Melodies (aus: Oh! Weep for those:) "The wild-dove hath her nest, the fox his cave, m a n k i n d their country — Israel but the grave!"

6. Kap. : Britisch-Zionistische Absprachen

113

philosemitischen 1 2 , sei es aus imperialistischen 1 3 Motiven; imperialistische Politiker haben derartige Pläne i n die politische W i r k l i c h k e i t gebracht 1 4 . c) D i e überragende Persönlichkeit

Weizmanns

15

u n d Sokolows

16

und

deren außergewöhnliches Verhandlungsgeschick konnten bei den alliierten Staatsmännern diesen einmaligen Erfolg erzielen. Es w a r eine einmalige beiderseitige Konstellation: nach dem 2. Weltkrieg fand der Diplomat Weizmann zu dem Arbeiterführer u n d Premierminister Bevin keinerlei Kontakt. (Der Arbeiterführer Ben Gurion allerdings auch nicht.) A u f amerikanischer Seite w a r i n Wilsons Umgebung eine ähnlich günstige Situation f ü r die Zionisten. d) Großbritannien hoffte m i t dieser E r k l ä r u n g das amerikanische antizaristisch eingestellte Judentum f ü r die A l l i i e r t e n zu stimmen u n d für den Kriegseintritt gegen Deutschland zu mobilisieren. Außerdem fürchtete Großbritannien zeitweise, Deutschland könnte m i t einer solchen E r klärung zuvorkommen. e) Das russische Judentum sollte gegen die Revolution, die wenige Tage nach der Erklärung ausbrach, eingenommen werden. f) D e r imperialistischen

britischen

Politik

versprach d i e

Balfour-

Erklärung, sich als Schutzmacht des jüdischen Nationalheims i n Palästina festsetzen zu können. So konnte eine Landverbindung nach Mesopotamien u n d Indien erreicht werden. Die wichtigste Achse des britischen Weltreichs, der Suez-Kanal, schien so endgültig gesichert. Schließlich hoffte Großbritannien m i t Hilfe der Nationalheimpolitik die Absichten des französischen Imperialismus, der ganz Syrien beanspruchte, u n d jedenfalls i m Sykes-Picot-Abkommen sich Teile von Palästina gesichert hatte, zurückdrängen zu können. A u f den Friedenskonferenzen hat dann auch Großbritannien erfolgreich den Zionismus, insbesondere den amerikanischen, mobilisiert, u m das Alleinmandat f ü r ein größeres Palästina zu erhalten 1 7 . g) Schließlich haben einige Regierungsmitgleider der vage gehaltenen Erklärung („view w i t h favour", „ w i l l use their best endeavours to facilitate the achievement of their object") keine rechtliche Bedeutung beigemessen und das zionistische Streben nicht sonderlich ernst genommen. 12

L. Oliphant, The L a n d of Gilead (1880). z. B. Hollingworth, Jews i n Palestine (1852). Pläne von L o r d Palmerston, L o r d Beaconsfleld, L o r d Salisbury. 15 Insbes.: Ch. Weizmann, T r i a l and Error (New Y o r k 1949); die historischen Unrichtigkeiten sind berichtigt von O. K. Rabinowicz, F i f t y Years of Zionism: A Historical Analysis of Dr. Weizmann's T r i a l and Error (London 1951); über W.: J. Berlin, Chaim Weizmann (New Y o r k 1959); Chaim Weizmann, A Biography by Several Hands, hrsg. von M. W. Weisgal und J. Carmichael (London 1962). 16 K . Kling, Nachum Sokolow (New Y o r k 1961). 17 S. 8. K a p i t e l l . 13

14

8 Wagner

ί Ì4

2. T e i l : Die Palästinapläne der A l l i i e r t e n i m 1. W e l t k r i e g

Dieses Motivbündel erlaubt es jedem Interpreten, die seiner Weltanschauung gemäße These scheinbar zwingend darzustellen. Er w i r d die für seine These notwendigen Motive ausführlich bringen, betonen und für ursächlich erklären; er w i r d die anderen Motive für nicht ausschlaggebend oder gar für nur vorgeschützt, für Heuchelei erklären. Der Zionist kann beliebig viele Aussagen alliierter Politiker anführen, wonach sie ausschließlich aus humanitären Erwägungen und keineswegs aus machtpolitischen Interessen Großbritanniens gehandelt hätten; Lloyd George, Balfour 1 8 und Smuts haben bis an ihr Lebensende derartige Erklärungen abgegeben. Anti-Imperialisten, Marxisten und Araber können genau so viele Zitate für rein imperialistische Beweggründe angeben. Zionisten und Pro-Zionisten haben die zionistischen Ambitionen naturgemäß als empire-förderlich angepriesen und die große strategische Bedeutung eines pro-englischen Nationalheims in den imperialen Rahmen gestellt; Samuels Memorandum ließe sich hierfür zitieren. Schließlich paßt die Balfour-Erklärung vorzüglich i n ein anti-imperialistisches Deutungsschema: der Mantel der Humanität, die zugrundeliegende Machtpolitik, die antagonistische Situation, i n die Juden und Araber gebracht werden, und die alle Kräfte beider beherrschter Gruppen i n gegenseitiger Feindschaft erschöpft. Es gibt wenige Beispiele, auf die das Wort divide et impera besser zuzutreffen scheint. So haben es zwischen den Kriegen Frankreich und Deutschland gesehen; nahezu die gesamte deutsche politische und völkerrechtliche Literatur könnte zitiert werden (falls sie Palästina nicht einfach i m antisemitischen Rahmen der jüdischen Weltverschwörung sah 19 ). So sieht es seit eh und je das marxistische Schrifttum, und so sehen es heute die Araber. Statt ihre Kräfte auf den antikolonialen Befreiungskampf und den Aufbau einer adäquaten Gesellschaftsordnung richten zu können, seien sie auf die antizionistische Abwehr abgelenkt worden; Nutznießer sei der britische I m perialismus gewesen. Diese Sicht mag ihre Berechtigung haben. Jede kämpferische Bewegung muß sich auf vereinfachende, monakausale Schemata beschränken. Der geschichtlichen Wahrheit aber w i r d eine solche Sicht nicht gerecht. So läßt auch hier die anti-imperialistische Erklärung zu viele Fragen offen. Gerade die Hauptträger des britischen Imperialismus, Indienministerium, Kolonialministerium, Flotte und Armee haben sich i n ihrer Mehrheit immer gegen das britische pro-zionistische Engagement gesträubt, da ihre Analysen die Rückwirkungen i n der moslemischen Welt klar voraussahen. Das Indienministerium hat sich gegen die Erklärung gestellt, weil es antibritische Sentiments der moslemischen Inder fürchtete. Die Kolonialverwaltung und die für die arabischen Gebiete zu18 19

Balfour , Speeches on Zionism (London 1928). So ζ. Β . G. Wirsing, Engländer, Juden, Araber i n Palästina (1938).

6. Kap. : Britisch-Zionistische Absprachen

115

ständige Kairo-Zentrale waren eindeutig pro-arabisch eingestellt. Die britische Armee war lange Zeit an Palästina uninteressiert. Der SuezKanal war von asiatischer Seite her nicht mehr gefährdet. Die britische Militärverwaltung i n Palästina w i r d auch von Nichtzionisten als antizionistisch angesehen. Ihre Offiziere waren nicht bereit, ihre Arabienpolitik wegen dieser „grosse plaisanterie" zu gefährden. Die Offiziere der sich anschließenden Mandatsverwaltung haben i n ihrer Haltung geschwankt. Erst um der ihnen unverständlichen Mandatspolitik einen Sinn zu geben, haben sie sich allmählich selbst die militärische Bedeutung Palästinas eingeredet 20 . Die gesamte Literatur der Mandatszeit, zionistische und britische, könnte für diese wenig prozionistische Haltung zitiert werden. Erst i m 2. Weltkrieg gewann dann Palästina eine große militärische Bedeutung. Die imperialistische These ist vor allem deshalb ungenügend, weil schon die einfachste Überlegung zeigt, daß das pro-zionistische Engagement vornehmlich eine Belastung i m arabischen Räume sein mußte 2 1 . Der Imperialist aber braucht vor allem eine m i t den politischen Zuständen zufriedene Bevölkerung. Die imperialistisch eingestellten Politiker aber hätten auch ohne jüdisches Nationalheim sich i n Palästina festsetzen können; sie haben daher eine mesopotamische oder ägyptische Lösung erstrebt. I n der Folgezeit haben fast alle Araber Großbritannien gedrängt, das Mandat für alle arabischen Gebiete, auch für Syrien, zu übernehmen. Der wohl bedeutendste und einflußreichste Imperialist der damaligen Zeit i m britischen Kabinett, George Curzon, wandte sich mit einem ausführlichen Memorandum gegen die beabsichtigte Balfour-Erklärung 2 2 . So ungewohnt es heutigen Ohren klingen mag: die reinen I m perialisten waren antizionistisch und pro-arabisch; „pro-arabisch" bedeutete dabei eine weitgehende lokale Autonomie m i t britischer Oberherrschaft nach indischem oder ägyptischem Vorbild. Der entschlossene Anti-Imperialist sieht hier nur einen Streit u m zwei imperialistische Methoden: nur m i t eingelullten Arabern den Orient beherrschen oder Juden und Araber i n antagonistischen Gegensatz bringen, so daß Großbritannien herrschen kann. Das scheint einleuchtend, da zur damaligen Zeit die Verbindung mit Arabern schlicht nur m i t der herrschenden Klasse überhaupt stattfinden konnte, diese aber heute wiederu m als Lakaien des Imperialismus (was sie ja auch waren) abgeleugnet werden können. Die monokausale Sicht ist zutiefst unpolitisch. Sie sieht nicht, daß bei großen Bewegungen oft idealistische und handfeste materielle Beweg20

Gut dargestellt von Sykes, Crossroads (vor I V . Teil). So w i e auch nach dem 2. Weltkrieg das pro-israelische Engagement der USA (und Westdeutschlands) i m arabischen Raum n u r eine Belastung ist. 22 Das Memorandum v o m Oktober 1917 zeigte schon alle künftigen Gefahren der Nationalheimpolitik, abgedruckt bei Lloyd George, Bd. 2, S. 1123. 21

8*

2. Teil : Die Palästinapläne der A l l i i e r t e n i m 1. Weltkrieg

gründe zusammenkommen. Vieles i n der Geschichte konnte nur geschehen, weil sich eine ziemlich zufällige Kombination von Umständen fand; deswegen sind meist eine idealisierende und eine herabsetzende oder eine idealistische und eine materialistische Darstellung möglich. Das beste Beispiel auf weltpolitischer Ebene ist das Sklaverei-Verbot 2 3 . Es war längst humanistisch vorbereitet, als die britische Politik diese Gedanken aufgriff, die Sklaverei auf den Meeren ausrottete, sich dabei zur ersten Seemacht aufschwang und seine Konkurrenten u m die Weltmacht ausstach. Schließlich ist auch der Islam nicht nur aus religiöser Begeisterung, sondern auch in der Erwartung der Kriegsbeute ausgebreitet worden. Insbesondere Großbritannien hatte es lange verstanden, Machtpolitik und machtstaatliche Ziele m i t humanitären und progressiven Ideologien zu verbinden 2 4 ; ebenso hat es sich mit Vorliebe für religiöse Bewegungen und für kleinere Nationen und Volksgruppen eingesetzt, sobald dies seinen Zielen förderlich war. Das hat Großbritannien oft den Vorwurf der Heuchelei eingebracht. Aber während andere Staaten ihren Nationalismus meist nur i m Gegensatz zur übrigen Welt formulierten, hat es Großbritannien verstanden, auch andere Kräfte für sich einzunehmen. So konnte es stets Teile der progressiven Kräfte außerhalb Großbritanniens für seine Ziele gewinnen. Anders wäre ein solches Weltreich nicht so lange und durch zwei Weltkriege zu regieren gewesen. Man vergleiche damit etwa die deutschen hegemonialen Ideologien, die anderen schlicht nichts zu bieten hatten. Erst der sowjetische Marxismus ist wieder i n der Lage, i n der seine nationale Politik erfolgreich an große Teile der progressiven Kräfte und an die Massen in aller Welt appellieren kann. Auch hier müssen aber zur Ideologie politische Interessen des Ost-West-Gegensatzes kommen. Daß das sowjetische Eintreten für die arabische Sache ausschließlich selbstloser Kampf der sozialistischen Völker sei, w i r d wohl auch der Araber nicht annehmen. Akzeptiert man dagegen das ausgebreitete Motivbündel, so w i r d man erkennen, daß imperialistische, kriegsbedingte und humanitär-philosemitische Motive zusammenkommen mußten, und jedes Motiv unerläßlich war: ohne britischen Imperialismus keine Balfour-Erklärung, aber ohne Philosemitismus auch nicht. Eine andere Frage ist, ob je ein Araber bereit ist, dieses Motivbündel mit seinen humanitären Motiven zu sehen. So wie Deutschland die alliierten Erklärungen des 1. Weltkriegs, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen, an den realen Kriegszielen der Alliierten gemessen hat — z. B. dem zaristischen Rußland große Teile der Türkei zuzusprechen —, so 23 24

WBVR, „Sklavenhandel". Gute Darstellung bei Dibelius, Bd. 1, K a p i t e l 6.

6. Kap.: Britisch-Zionistische Absprachen

117

wenig haben die Völker des Orients die britische Erklärung über ihre Kriegsziele 25 als uneigennützig gesehen. Der moderne Betrachter w i r d sich schließlich fragen, wieso das arabische Problem so unbeachtet bleiben konnte. Zionisten und Briten agierten, als sei das Land menschenleer 26 . Aber „Eingeborene" waren eben damals von den europäischen Mächten nicht als homines politici gesehen. Diese Haltung war keineswegs auf Palästina und BalfourErklärung beschränkt: i n der ganzen Diskussion u m das Uganda-Projekt spielten die Eingeborenen die geringste Rolle 2 7 . Auch Deutschland hat zwischen den Kriegen seine ehemaligen Kolonien als Siedlungsgebiet gefordert 2 8 , und der Madagaskar-Plan scheiterte nicht an der Erkenntnis, daß Madagaskar bewohnt sei 29 . 2. Die völkerrechtliche Bedeutung der B a l f o u r - E r k l ä r u n g a) Die Erklärung als völkerrechtliches Dokument

Die Qualifizierung der Erklärung als völkerrechtlichen Vertrag oder als völkerrechtliche einseitige Erklärung ist problematisch. Ein völkerrechtlicher Vertrag kann grundsätzlich nur zwischen Völkerrechtssubjekten geschlossen werden. Die Völkerrechtslehre zur Zeit des 1. Weltkriegs ging davon aus, daß nur Staaten Völkerrechtssubjekte seien; das Völkerrecht war definitionsgemäß die zwischen Staaten geltende Rechtsordnung. Auch die sich später anbahnende Zuerkennung der Qualität eines Völkerrechtssubjekts an zwischenstaatliche Organisationen kann jedenfalls nicht auf die zionistische Organisation bezogen werden, die ein privatrechtlicher Verein war, deren Landesverbände in den einzelnen Ländern eingetragen waren. Die zionistischen Autoren sehen jedoch das jüdische Volk als Völkerrechtssubjekt an, das durch eben diese Erklärung als solches anerkannt worden sei 30 . Die These ist aber fast nur mit zionistischen Autoren belegbar. Auch eine einseitig verbindliche Erklärung kann nicht ohne weiteres angenommen werden. Inwieweit das damalige Völkerrecht ein25 z.B. die Erklärung des britischen Kabinettmitglieds L o r d Robert Cecil v o m Dezember 1917: " A r a b i a n c o u n t r i e s . . . for the Arabs, Armenia for the Armenians, and Judea for the Jews." 26 „ E i n L a n d ohne V o l k f ü r ein V o l k ohne L a n d " (Zangwill). 27 Britisches Angebot an die Zionisten, sich i n Uganda anzusiedeln. 28 Schließlich ist die Formel v o m „ V o l k ohne Raum" dem Schlagwort Zangwills sehr nahe. 29 M . wurde seit 1925 von französischen u n d polnischen Antisemiten als Siedlungsland f ü r Juden vorgeschlagen. Auch H i t l e r beschäftigte sich m i t einem solchen Plan. 30 s. unten b.

2. T e i l : Die Palästinapläne der A l l i i e r t e n i m 1. Weltkrieg

seitige Erklärungen überhaupt anerkannt hatte, mag strittig sein; heute jedenfalls erkennt das Völkerrecht sie i m Prinzip an. Diese Entwicklung beruht auf einem U r t e i l des Ständigen Internationalen Gerichtshofes i m Grönlandfall 3 1 von 1933. Hier hatte der norwegische Außenminister auf eine Anfrage des dänischen Gesandten erklärt, daß Norwegen der Ausdehnung der dänischen Souveränität auf Ostgrönland keinen Widerstand entgegensetze. Der Gerichtshof hielt diese mündliche Erklärung für Norwegen verbindlich, da die Erklärung i n den Geschäftsbereich des Außenministers fiel u n d auf eine Frage gegenüber einem völkerrechtlichen Organ abgegeben war. Die allgemeine Tragweite dieses Urteils ist allerdings strittig; es ist selbst wieder auslegungsfähig 32 .

Derartige einseitige Erklärungen werden entweder an bestimmte andere Völkerrechtssubjekte oder deren Organe oder an die Allgemeinheit der Völkerrechtssubjekte gerichtet. Grundsätzlich ist die Völkerrechtslehre hier sehr zurückhaltend, wie etwa die Beurteilung der Doktrinen zeigt. Auch taucht wieder das Problem auf, daß die Erklärung nicht an Völkerrechtssubjekte gerichtet ist, sondern an Rothschild, der sie an die Zionistische Organisation weiterleiten sollte. Rothschild besaß keine offizielle Stellung i n der Zionistischen englischen oder i n der Weltorganisation. Aber der zionistische Vorschlag für eine solche Erklärung erfolgte durch Rothschild, der auch das Verfahren vorgeschlagen hatte. Der formelle Vertreter der zionistischen Weltorganisation i n Großbritannien (Sokolow) war Ausländer (Russe) und M i t glied der Exekutive einer internationalen Bewegung, deren formeller Sitz noch i m feindlichen Ausland war. Weizmann war zwar britischer Staatsangehöriger, aber als Präsident des britischen Landesverbandes rangmäßig unter Sokolow. So übermittelte die britische Regierung die Erklärung an Rothschild als einem bedeutenden Vertreter der Judenschaft. Z u r schließlichen Verlagerung dieses Streites i n dem K a m p f u m die Auslegung des Palästinamandats siehe 6. K a p i t e l 2 b am Ende. b) Die inhaltliche Bedeutung der Erklärung

Zionistische Autoren haben i n der Erklärung immer zweierlei gesehen: Die Anerkennung des jüdischen Volkes als Völkerrechtssubjekt 33 und die völkerrechtliche Verpflichtung Großbritanniens zur Errichtung des Nationalheims oder wenigstens zu dessen aktiver Förderung. 31

s. WBVR, „Grönlandfall". s. etwa E. Hambro, The Ihlen Declaration Revisited. Festschrift f ü r Jean Spiropoulos (1957), S. 227 ff. 33 Ausführlichste Nachweise: Feinberg , The Recognition of the Jewish People i n International L a w , The Jewish Yearbook of International L a w 1948 (Jerusalem 1949), S. I f f . ; Mallison, The Zionist-Israel Juridical Claims to 32

6. Kap. : Britisch-Zionistische Absprachen D i e A n e r k e n n u n g des jüdischen

Volkes

als Völkerrechtssubjekt

119 durch

die Balfour-Erklärung ist eine der Grundthesen der zionistischen Literatur, läßt sich aber kaum mit nichtzionistischen Autoren belegen. Sie widerspricht auch weitgehend den völkerrechtlichen Grundsätzen 34 . Das Völkerrecht ist vornehmlich die Rechtsordnung zwischen Staaten. „ V o l k " i m völkerrechtlichen Sinne ist nur das staatsrechtlich verfaßte Volk. Ein jüdisches Volk i m Völker rechtssinne gibt es nicht (so wenig wie ein arabisches Volk i m Völkerrechtssinne). Daran ändert auch die seit der Jahrhundertwende einsetzende Erörterung um die Erweiterung des Kreises der Völkerrechtssubjekte wenig. Diese Erweiterung erfaßte vor allem internationale Organisationen 35 wie VB, VN, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft; darum geht es hier nicht. Es geht weiter u m die Rechtsstellung des einzelnen i m Völkerrecht 36 . Weiter werden die Rechtsstellung von Aufständischen und Insurgenten erörtert 3 7 . A m nächsten käme noch die Stellung von Minderheiten, denen jedoch i m allgemeinen keine Völkerrechtsqualität verliehen wurde 3 8 ; die Minderheitenverträge verpflichteten meist die Staaten (insbesondere zur Zulassung von Rechtsbeschwerden einzelner Minderheitsangehöriger und berechtigten sie, die Rechte der Minderheitsangehörigen jenseits ihrer Grenzen geltend zu machen. Die bloße Erwähnung von Volksgruppen dagegen erhebt diese nach vorherrschender Meinung nicht zum Völkerrechtssubjekt. Auch die Lehre von der partiellen Völkerrechtssubjektsqualität hilft kaum weiter, da sie für Territorien entwickelt wurde, die i n ihrer Handlungsfähigkeit beschränkt waren (z. B. für Mandatsgebiete). Zionistische Autoren müssen daher auch i n diesem Falle mit dem einzigartigen Charakter des jüdischen Volkes argumentieren, dessen Fall nicht mit den allgemeinen völkerrechtlichen Kategorien gemessen werden könnte. Allerdings wurde i m Anschluß an die Minderheitenschutzverträge nach dem 1. Weltkriege allgemein versucht, die Völker i m ethnologischen Sinne als Völkerrechtssubjekte zu begreifen. Diese Versuche haben zu keinen allgemein anerkannten Ergebnissen geführt. Nachweise bei Mallison u n d Feinberg; f ü r Constitute "The Jewish People" Nationality E n t i t y and to Confer Membership i n i t : Appraisal i n Public International L a w , 32 The George Washington L a w Review (1964), S. 983 ff. Neueres Z i t a t : "The connection between the Jewish people and the State of Israel constitutes an integral part of the l a w of n a t i o n s . . . The Balfour Declaration and the P M given by the league of nations to Great B r i t a i n constituted an international recognition of the Jewish People." Eichmann-Urteil, zitiert nach Mallison, S. 983. 34 s. etwa WBVR, „Völkerrechtsfähigkeit" ; Dahm I § 14. 35 s. WBVR, „Internationale Organisationen"; Wagner , Grundbegriffe des Beschlußrechts der Europäischen Gemeinschaften (1954). 36 s. W B V R , „ I n d i v i d u u m i m Völkerrecht". 37 WBVR, „Bürgerkrieg u n d Völkerrecht". 38 s. WBVR, „Minderheiten i m Völkerrecht".

2. Teil: Die Palästinapläne der A l l i i e r t e n i m 1. Weltkrieg Deutschland noch H. Liermann, Das Deutsche V o l k als Rechtsbegriff i m ReichsStaatsrecht der Gegenwart (1927).

Extrem verschieden sind schließlich die inhaltlichen Auslegungen einer eventuellen Verpflichtung. Wozu verpflichtete sich — falls überhaupt — Großbritannien? Das Dokument selbst nennt sich „Sympathie-Erklärung"; die eventuellen Verpflichtungen erschöpfen sich i n zwei Formulierungen: „view w i t h favour" und „ w i l l use their best endeavours to facilitate the achievements of this object". Juristisch sind sie extrem vage und nichtssagend. Die zionistischen Autoren haben hieraus stets die Verpflichtung Großbritanniens abgeleitet, das Nationalheim tatkräftig aufzubauen oder aktiv zu fördern. Extreme Zionisten wie die Revisionisten 3 9 haben Großbritannien die Verpflichtung auferlegen wollen, den Aufbau selbst zu bewerkstelligen; Großbritannien hat dies stets abgelehnt 4 0 . Die Auslegungsdifferenzen betrafen vor allem die Bedeutung des Wortes „Nationalheim" u n d die Bedeutung der beiden Sicherheitsklauseln; hierzu s. 11. K a p i t e l 3.

Die meisten Autoren sehen daher i n der Balfour-Erklärung nur eine politische Sympathieerklärung zugunsten der zionistischen Bewegung oder eine moralische Verpflichtung Großbritanniens. Eine rechtliche Bedeutung wurde der Erklärung überwiegend abgesprochen 41 . Aber der Streit u m Rechtsnatur und Inhalt der Balfour-Erklärung hat an Bedeutung verloren, weil — die übrigen Mächte (Frankreich, Italien, Vatikan) ihre Zustimmung zu der Erklärung gaben 42 ; — die eventuelle britische Verpflichtung i n die Friedensverträge m i t der Türkei (Verträge von Sèvres und Lausanne) 43 , i n das Abkommen von San Remo 4 4 und insbesondere i n das Palästinamandat 45 übernommen worden ist. Damit ist sie i n ein völkerrechtlich unangreifbares 46 Dokument aufgenommen und völkerrechtlich verbindlich geworden. Auch der Völkerbund selbst hat das Palästinamandat, d. h. den entsprechenden Vertrag, übernommen; 39

s . l . K a p i t e l 4. s . l l . Kapitel. z . B . Schwarzenberger (s. v o r 11. K a p i t e l 2). a . A . alle zionistischen A u t o ren, die sich m i t dem Palästinamandat befaßten, s. v o r 11. K a p i t e l 2; ebenso: Fauchille, Traité de droit international publique, 8. Aufl., Bd. 1, 1. T e i l (1922), S. 315. 42 s. 6. K a p i t e l l . 43 s.9.Kapitell. 44 s. 9. K a p i t e l 1. 45 s . l l . Kapitel 2 - 4 . 46 Z u r entgegengesetzten arabischen Auffassung hierzu s. 12. Kapitel. 40

41

7. Kap. : Zusätzliche Erklärungen der A l l i i e r t e n

121

— das Palästinamandat sehr viel präzisere Verpflichtungen Großbritanniens enthielt 4 7 . Siebentes

Kapitel

Zusätzliche Erklärungen der Alliierten und britische Harmonisierungsversuche Schrifttum: vor 1. Kapitel; vor I V . Teil; vor 12. Kapitel; insbesondere: ESCO, Bd. 1; Jef fries; Antonius, Boustany. Cmd. 5957 von 1939, Correspondence between Sir Henry McMahon and Sharif Hussein of Mecca: J u l y 1915 - March 1916. Cmd. 5974 von 1939, Report of the Committee Investigating the McMahon-Hussein-Correspondence. 1. Weitere Erklärungen an die Araber

Die widersprüchlichen Versprechungen 1 Großbritanniens scheinen gut i n das B i l d vom perfiden Albion zu passen. Englische Autoren setzten die Akzente anders. Tatsächlich scheinen die i m britischen Weltreich verteilten Zentralen erhebliche Freiheit besessen zu haben. Die Geschichte des britischen Empires zeigte mitunter eine für die britische Gesamtpolitik gefährliche Selbständigkeit: Kitcheners Ägyptenpolitik brachte Großbritannien an den Rand eines Krieges mit Frankreich. Die einzelnen Departements arbeiteten z. T. erheblich gegeneinander. Die indische Kolonialverwaltung verfolgte i m arabischen Raum eine andere Politik als die Kairoer Zentrale. Die Unterrichtung der einzelnen Zentralen war unvollständig; so war McMahon nur unvollkommen über britisch-französische Verhandlungen unterrichtet. Inwieweit hiermit die eventuellen Vorwürfe ausgeräumt werden können, mag dahinstehen; immerhin war einer der wichtigsten Unterhändler, Sykes, an den Verhandlungen m i t Frankreich und mit den Zionisten beteiligt. Die widersprechenden Verpflichtungen sowie die militärische und politische Entwicklung erforderten zwischen den Alliierten erneute Verhandlungen. Diese zogen sich über Jahre hin; davon ist hier nur das Ergebnis mitzuteilen, soweit es Palästina betrifft 2 . I n dem Maße jedoch, wie Balfour-Erklärung und Sykes-Picot-Abkommen i m arabischen Räume bekannt wurden, versuchten die Alliierten die Araber zu beruhigen. Die hierbei gegebenen Erklärungen und Zusicherungen faßten die Araber als weitere verbindliche Zusagen und Rechtstitel auf, auf die sie sich i n der Folgezeit beriefen. 47 1 2

s . l l . K a p i t e l 2. Daher „the too much promised land" ; „ l a terre troisfois promise". 9. Kapitel.

2. Teil: Die Palästinapläne der A l l i i e r t e n i m 1. Weltkrieg

Die Balfour-Erklärung war von Beginn an veröffentlicht. Sie wurde zwar i m arabischen Raum offiziell zurückgehalten, und die britische Militärverwaltung Palästinas hat sie niemals veröffentlicht; gleichwohl war sie den arabischen Politikern bekannt und wurde insbesondere Hussein von Hogarth erklärt. Das Sykes-Picot-Abkommen war geheim 3 und den Arabern zunächst unbekannt. Nach der russischen Revolution veröffentlichte die bolschewistische Regierung die Abkommen; die Türken sorgten für seine Verbreitung i n der arabischen Welt und versuchten sogar Hussein zur Umkehr zu bewegen. A u f die besorgte Anfrage Husseins tat Großbritannien das Sykes-Picot-Abkommen zunächst als türkische Kriegspropaganda ab. I n der Folgezeit gaben Großbritannien und Frankreich jedoch mehrere Erklärungen ab.

a) Die sog. Hogarth-Message vom Januar 1918*

I m Januar 1918 verhandelte der Leiter der Arabien-Abteilung i n Allenbys Generalstab, Hogarth, mit Hussein (inzwischen König) i n Dschidda. Hussein erklärte, daß er einen jüdischen Staat i n Palästina keineswegs hinnehmen würde 5 . Hogarth versicherte ihm, daß ein jüdischer Staat nicht beabsichtigt sei. Aber der moslemisch-christliche-jüdische Charakter Palästinas fordere ein „special regime approved by the world" 6 . Großbritannien fordere auch die Rückkehr der Juden nach Palästina, soweit die wirtschaftliche und politische Freiheit der dort lebenden Bevölkerung nicht beeinträchtigt werde 7 . Hogarth hob schließlich die Finanzkraft der Juden hervor und ihren günstigen Einfluß für die wirtschaftliche Entwicklung. Diese Erwägung scheint Hussein beeindruckt zu haben 8 ; jedenfalls scheint er einer begrenzten Einwanderung ohne zionistisch-politischen Charakter nicht feindlich gesinnt gewesen zu sein. Beide Teile haben diese Unterredung anscheinend nicht als Abkommen aufgefaßt und sich jedenfalls nie darauf berufen oder sie auch nur veröffentlicht; Hogarth veröffentlichte die Unterredung selbst 1939. Hogarths Bericht 3 Z u r Problematik der Geheimabkommen s. WBVR, „Geheimverträge"; ferner Geck, Völkerrechtliche Geheimverträge u n d Verfassungsrecht, i n : Festschrift f ü r Gebhard M ü l l e r (1970), S. 77 ff. 4 Hurewitz, Dok. 15. 5 "The K i n g w o u l d not accept an independent Jewish State i n Palestine, nor was I instructed to w a r n him, that such a State was contemplated by Great Britain." β Aus dieser Formulierung leiten pro-zionistische Autoren die Ausnahme Palästinas aus den britischen Zusagen an Hussein ab. 7 Balfour-Erklärung u n d Mandatsvertrag sprechen dagegen n u r von „ c i v i l and religious rights". 8 Hogarth: Der K ö n i g „agreed enthusiastically, saying he welcomed Jews to all Arab lands".

7. Kap. : Zusätzliche Erklärungen der A l l i i e r t e n

123

ist wenig günstig für Hussein; sein Urteil bezüglich Palästina lautet, der König wisse darüber nichts. b) Die sog. Basset-Message vom Februar 1918& c) Die Erklärung an die Sieben vom Juni 1918 10

I m Juni 1918 gab der Hohe Kommissar für Ägypten in Kairo gegenüber sieben Sprechern des arabisch-ottomanischen Nationalismus eine Erklärung ab, deren wesentlicher Inhalt darauf hinauslief, daß für Palästina ein besonderes Regime erforderlich sei, das eine jüdische Einwanderung ermögliche, aber die Belange der arabischen Bevölkerung nicht beeinträchtige. d) Britisch-französische Erklärung vom November 1918

Großbritannien und Frankreich veröffentlichten eine gemeinsame Erklärung 1 1 , wonach sich die französische und britische A k t i v i t ä t i m ehemals türkischen Gebiet auf das Angebot einer Hilfe für die dort frei gewählten Regierungen und Verwaltungen beschränken werde. Diese Erklärung zeigt den Einfluß Wilsons und seine Gedanken vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Alliierten sorgten damals für weiteste Verbreitung i m arabischen Gebiet. Wie immer man diese Erklärung interpretieren mag — bei genauer Lektüre enthält sie kaum eine britischfranzösische Verpflichtung zugunsten arabischer Souveränität 1 2 —, die Araber glaubten jedenfalls, damit sei das Sykes-Picot-Abkommen hinfällig oder zumindest erheblich eingeschränkt. Von der Balfour-Erklärung ist i n der Erklärung keine Rede. 2. Britische Harmonisierungsversuche

Liegen einander ausschließende Abkommen oder Normen vor, so w i r d der Jurist versuchen, sie durch Auslegung zu harmonisieren. Hierfür haben alle nationalen Rechtskulturen 13 und auch das Völkerrecht 1 4 ein ausgedehntes Methoden-Arsenal entwickelt, dessen Grundlagen tief i n Philosophie und Geistesgeschichte verwurzelt sind. 9

Antonius, Anhang C. Hurewitz, Dok. 15; Antonius, Anhang D. Hurewitz, Dok. 15; Antonius, Anhang E. 12 sondern sieht ausdrücklich „Berater" der A l l i i e r t e n vor, aber Berater, deren Ratschläge verbindlich sein sollten; „Unabhängigkeit" wurde von b r i t i scher Seite immer n u r als Unabhängigkeit unter einem britischen oder französischen Protektorat verstanden. 13 F ü r Deutschland s. etwa K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1960) ; H. Wagner, Interpretation i n L i t e r a t u r - u n d Rechtswissenschaft, Archiv f ü r civilistische Praxis (1965), S. 520 ff. 14 s. WBVR, „Vertragsauslegung" ; Dahm, Bd. 1, § 8. 10 11

2. Teil: Die Palästinapläne der A l l i i e r t e n i m 1. Weltkrieg

I m innerstaatlichen Bereich ist die Harmonisierung von einander widersprechenden Normen alltäglich; mehrere Normen erfassen oft ein und denselben Sachverhalt. Der größte Teil der dogmatischen Arbeit und der Rechtsprechung geht um die Anwendbarkeit der einen oder der anderen Norm. Je nach der Wahl der anzuwendenden Norm w i r d der Rechtsstreit entschieden, unterliegt oder obsiegt eine Partei. I m Rahmen einer nationalen Rechtsgemeinschaft ist dies meist erträglich. Homogenität, existentielle Gleichheit der Interessenlage und weitgehende Anerkennung der verschiedenen Verfahren zur Willensbildung und Austragung von Interessengegensätzen mildern die Konflikte. Die relative Bedeutungslosigkeit des Einzelfalles, das institutionelle Übergewicht der Gerichte mit den sachlich unbeteiligten Richtern, die dogmatische Arbeit der vom Sachverhalt losgelösten Juristen lassen die letztliche Harmonisierung als Recht, jedenfalls aber als vernünftigen oder tragbaren Ausgleich des Normwiderspruchs erscheinen und nicht als Parteinahme. So w i r d auch hingenommen, daß für die Harmonisierung letztlich teleologische und rechtspolitische Gründe maßgebend sind, d. h., daß ein vernünftiges Ergebnis angestrebt wird. I m zwischenstaatlichen Bereich fehlen die stillschweigenden Voraussetzungen der nationalen Gemeinschaft. Die Verfahren zur friedlichen Austragung von Interessengegensätzen sind rudimentär. Die soziologischen Voraussetzungen des nationalen Bereichs (Homogenität, existentielle Interessengleichheit), die erst den Grundkonsensus ermöglichen, fehlen. Dem nationalen Gesetzgeber kann unterstellt werden, daß er seine Normen nur i m Hinblick auf andere Normen erlassen hat; i h m kann auch unterstellt werden, daß er seine Normen anders formuliert hätte, wenn er den Widerspruch gesehen hätte. Gerade diese Grundvoraussetzung fehlt i m Völkerrecht: Hier muß eher angenommen werden, daß — falls der Konflikt gesehen worden wäre — kein Abkommen zustande gekommen wäre. Man kann schlicht nicht Hussein unterstellen, daß er McMahons Angebot auch noch mit den französischen und zionistischen Abstrichen angenommen hätte. Alle Harmonisierungsversuche scheitern schließlich daran, daß teleologische Gesichtspunkte für die davon benachteiligte Partei kaum annehmbar sind. Deshalb ist auch der keineswegs unbestrittene Grundsatz der Effektivität in der völkerrechtlichen Auslegung 15 hier von geringem Wert. Nach diesem Grundsatz soll ein Vertrag so ausgelegt werden, daß sein Zweck so weit wie möglich erreicht wird. Dieser Topos ist aber nur i m Verhältnis zur staatlichen Souveränität von Wert, wofür er auch entwickelt wurde. I m vorliegenden Falle dagegen verstärkt er nur die Konfliktssituation. 15

s. Dahm, a.a.O.

7. Kap. : Zusätzliche Erklärungen der A l l i i e r t e n

125

Zu Recht wurde daher gesagt, daß die britischen Verpflichtungen gegenüber Franzosen, Arabern und Zionisten zwar i n den Augen eines britischen Juristen, nicht aber i n den Augen der Beteiligten vereinbar wären. Gegenüber Frankreich versuchte Großbritannien seine Verpflichtungen aus dem Sykes-Picot-Abkommen zu verringern und Frankreich i m arabischen Räume zurückzudrängen. I n den Verhandlungen erreichte Großbritannien, daß entgegen dem Sykes-Picot-Abkommen Nordmesopotamien mit dem Erdölgebiet um Mossul dem britischen Mandatsgebiet zugeschlagen wurde; daß das französische Mandatsgebiet i m syrisch-libanesisch-palästinensischen Räume nach Norden zurückgedrängt wurde und daß die für eine internationale Verwaltung vorgesehene „Braune Zone" Restpalästinas ausschließlich britisches Mandat wurde. I n den Verhandlungen nutzte Großbritannien gegenüber Frankreich seine stärkere Stellung des militärischen Okkupanten aus. Vor allem berief es sich gegenüber Frankreich auf sein Abkommen m i t Hussein und mobilisierte die zionistische Hilfe in aller Welt, insbesondere i n den USA. Das Abkommen mit Hussein sollte zunächst dazu dienen, Syrien nicht i n den französischen Einflußbereich fallen zu lassen, sondern zu einem arabischen Staat unter britischem Protektorat werden zu lassen. Hierzu war Großbritannien gegenüber Hussein verpflichtet, und Großbritannien berief sich gegenüber Frankreich auf dieses Abkommen. Großbritannien war zunächst nur bereit, das Küstengebiet westlich der vier Städte Damaskus, Horns, Hama und Aleppo Frankreich zu unterstellen; gerieten dagegen diese Städte selbst in französisches Einflußgebiet, so sei dies ein Vertragsbruch gegenüber den Arabern. Auch der Völkerbund könne nicht dazu benutzt werden, dieses Abkommen hinfällig zu machen 16 . Z u r endgültigen Abmachung s. 9. Kapitel.

— U m die Verpflichtung zur Internationalisierung Palästinas zu umgehen, was praktisch ein britisch-französisches Kondominium bedeutet hätte, setzte Großbritannien die Balfour-Erklärung ein. Es ermunterte die Zinonisten, sich für ein ausschließlich britisches Mandat über Palästina einzusetzen. Insbesondere das amerikanische Judentum wurde mobilisiert und intervenierte massiv. Großbritannien und Zionisten erreichten denn auch, daß Großbritannien das Mandat allein zugesprochen erhielt. — Zusammen mit den Zionisten gelang es Großbritannien, die Grenzen Palästinas, genauer: der „Braunen Zone", erheblich nach Norden zu Lasten des französischen Einflußgebietes zu erweitern 1 7 . 16 17

Nachweise: Zeine, S. 77 ff.; Lloyd George (vor I I I . Teil), Bd. 2, S. 1063. 9. K a p i t e l 2.

2. T e i l : Die Palästinapläne der A l l i i e r t e n i m 1. Weltkrieg

Gegenüber den Arabern mußte Großbritannien das Sykes-Picot-Abkommen und die späteren französischen Mandate für Syrien und den Libanon sowie die Balfour-Erklärung, das spätere Palästinamandat und die Errichtung des jüdischen Nationalheims rechtfertigen. Das französische Mandat über Syrien und Libanon versuchte Großbritannien zunächst zu verhindern. Schließlich gab es auf den Friedenskonferenzen zu Lasten der Araber nach. Die Araber wurden insoweit ein Opfer der britisch-französischen Verständigung. Großbritannien hat sich kaum bemüht, hier eine Harmonisierung seiner widerstreitenden Verpflichtungen zu suchen; dies wäre auch aussichtslos gewesen. — Die Balfour-Erklärung und die spätere Nationalheimpolitik suchte Großbritannien so mit seinen Verpflichtungen gegenüber Hussein zu harmonisieren, daß es den vollen Ausschluß Palästinas behauptete. Bei diesen Zusagen über die arabische Unabhängigkeit sei ganz Palästina ausgenommen gewesen. Da die Araber das Abkommen McMahon—Hussein als ihren stärksten Hechtstitel gegenüber Großbritannien ansahen, haben sie sich stets darauf berufen, auch nachdem Hussein und die Haschemiten-Dynastie aus Hedschas vertrieben und der Hedschas mit Nedsch zu Saudisch-Arabien vereinigt worden w a r 1 8 . Der interpretatorische Streit u m den behaupteten Ausschluß macht einen großen Teil der juristischen Diskussion zwischen den beiden Weltkriegen aus. Er w i r d in offiziellen Weißbüchern über die britische Politik und i n den Berichten der Kommission abgehandelt. Er war Standardthema auf britisch-arabischen Konferenzen, und arabische Delegationen haben stets dazu Stellung genommen. Da sich Großbritannien und die Araber über den behaupteten Ausschluß Palästinas nicht einigen konnten, berief Großbritannien 1939 ein Gemeinsames Britisch-Arabisches Komitee, das diese Frage untersuchen sollte 1 9 ; auch dieses Komitee konnte keine Einigung erzielen. Für diesen Ausschluß gab Großbritannien i m wesentlichen zwei Begründungen: — die Verpflichtungen Großbritanniens gegenüber Hussein seien ausdrücklich durch den Hinweis auf die y )französischen Interessen" eingeschränkt gewesen, und Frankreich habe zu dieser Zeit Syrien i m weitesten Wortverständnis, also einschließlich des Libanon und Palästinas, gefordert 20 . Aber McMahon war nicht über das Ausmaß der französischen Forderungen unterrichtet, und Hussein konnten sie schlechterdings nicht be18

8. K a p i t e l 2. Cmd. 5974 von 1939. 20 s. 5. K a p i t e l 1, Brief v o m 24. Oktober 1915, Ziffer d. s. Argumentation auf Londoner Konferenz i m Februar 1939, Cmd. 5974 von 1939. 19

7. Kap. : Zusätzliche Erklärungen der A l l i i e r t e n

127

kannt sein. Vor allem aber hatte Großbritannien die französischen Forderungen auf Palästina und selbst die französischen vertraglichen Rechte aus dem Sykes-Picot-Abkommen unter Berufung auf das Abkommen mit Hussein abgewehrt. — Das i m Schreiben McMahons vom 24. Oktober 1915 ausdrücklich ausgenommene G e b i e t westlich

der vier

Städte

Damaskus,

Hama,

Horns

und Aleppo umschließe auch Palästina. Nun ist der Brieftext, soweit er bekannt ist 2 1 , eindeutig und schließt nur den Küstenstreifen aus, der etwa dem heutigen Libanon, verlängert bis zur türkischen Grenze, entspricht: „portions of Syria l y i n g to the west of the districts of Damascus, Horns, Hama and Aleppo".

U m ihr Argument glaubhaft zu machen, scheute die britische Regierung nicht vor Verdrehungen und an Fälschung grenzende Machenschaften zurück. Da der englische Originaltext unveröffentlicht ist und auch die Rückübersetzungen aus dem Arabischen wie überhaupt der gesamte Briefwechsel lange Zeit unveröffentlicht blieben, schien dies möglich 22 . — Beim ersten Versuch veränderte die britische Regierung den Wortlaut dahingehend, daß das gesamte Gebiet „westlich des Vilayet Damaskus" von der Zusage ausgenommen sei 23 . "This promise to recognize the independence of the Arabs was given subject to a reservation made i n the same letter, which excluded from its soope the country lying to the West of the Vilayet of Damascus " Ganz Palästina sei daher ausgenommen. U m diese Diskussion zu verstehen, muß kurz die türkische Verwaltungseinteilung dargelegt werden. Palästina existierte jedenfalls seit römischer Zeit nicht als politische oder administrative Einheit. I n t ü r k i scher Zeit war das heutige Palästina auf mehrere Verwaltungseinheiten aufgeteilt. Die innertürkischen Verwaltungsgrenzen haben sich öfter geändert; das mag hier dahinstehen 24 . Zur Zeit des 1. Weltkrieges war die wichtigste Verwaltungseinheit die Provinz (Vilayet); die Provinzen waren unterteilt i n Bezirke (sanjaks); sie lagen um kleinere Städte. Einige 21

s. 5. K a p i t e l 1. Die i n europäischer Diplomatie u n d Mobilisierung der öffentlichen M e i nung unkundigen Araber haben ihrerseits den Briefwechsel nicht veröffentlicht. Erst nach der Regierungserklärung von 1922 erschien er i n privaten Übersetzungen (in einer Fortsetzungsreihe v o n Jeffries i m Daily M a i l 1923 unter dem Titel: „The Palestine Deception"; weitgehend übernommen i n „Palestine, The Reality"; erstmalig wurde er von Großbritannien 1938 veröffentlicht, u n d auch hier nicht i n der Originalfassung. 23 Erklärung Churchills (Kolonialminister) i n Korrespondenz m i t der arabischen Delegation 1922. 24 Z u r geographischen Entwicklung C. Young , Corps de Droit Ottoman (Oxford 1925), Bd. 1, S. 139 ff.; Zeine, Emergence, S. 19 ff.; Atlas (vor 9. K a p i t e l 2) I X 12 A . 22

2. T e i l : Die Palästinapläne der A l l i i e r t e n i m 1. Weltkrieg

Bezirke waren provinzfrei und unterstanden als „unabhängige Sanjaks" unmittelbar Konstantinopel. Diese Provinzunabhängigkeit führte zu einer gewissen Autonomie und kam meist — so 1887 bei Jerusalem — unter Druck der Großmächte zustande. Zur Zeit des 1. Weltkrieges waren die asiatisch-arabischen Gebiete in folgende Verwaltungseinheiten aufgeteilt: Die Provinzen (vilayets) Mossul, Bagdad und Basra entsprachen ungefähr dem späteren Mesopotamien, dem heutigen Irak einschließlich Kuwait. Arabien war i m Küstengebiet des Roten Meeres des Vilayet Hedschas m i t nahezu nur nomineller Oberhoheit des Sultans; das innere Arabien war weitgehend selbständig. Die südlichen Gebiete (Jemen) können hier unberücksichtigt bleiben. Das geographische Gebiet Syrien umfaßte nach heutiger Einteilung die Staaten Syrien, Libanon, Israel und Jordanien. Palästina galt „seit den Tagen Nebukadnezars" als Südteil Syriens. So war auch der europäische Sprachgebrauch. Administrativ jedoch war dieses Gebiet aufgeteilt auf die Provinz Syrien (vilayet Scham), die von Damaskus aus verwaltet wurde und Transjordanien und den Hauran mitumfaßte. Eigene Provinzen waren Aleppo und Beirut, Deir-ez-Zar (heute Nordostteil Syriens); Libanon (kleiner als heute und auf die christlich bevölkerten Gebiete beschränkt) und Jerusalem waren unabhängige Sanjaks. Palästina 25 war also verwaltungsmäßig aufgeteilt: Transjordanien und der Hauran (falls man beide Palästina zurechnen will) gehörten zur Provinz Syrien, Samaria und Galiläa wurden von Beirut verwaltet, Judäa war unabhängiger Sanjak von Jerusalem 26 . Ein Blick auf die Karte zeigt, daß Palästina tatsächlich ausgenommen wäre, wenn der Vorbehalt das Gebiet „westlich des Vilayet Syrien" gelautet hätte oder auch nur hätte lauten können. Das stand aber offensichtlich nicht i n McMahons Schreiben, sondern nur das Gebiet westlich der vier Städte wurde ausgenommen. Deshalb zitierte Churchill den „Vilayet Damaskus". Aber weder stand in dem Schreiben von einem „Vilayet", noch gab es jemals einen „Vilayet Damaskus". Er gab nur einen „Vilayet Syrien" 2 7 m i t Hauptstadt Damaskus. Historiker haben darauf verwiesen, daß diese Interpretation so sei, als bezeichne man Bayern als „Freistaat München" oder Nordrhein-Westfalen als „Land Düsseldorf", und als bezeichne etwa die Fassung „das Münchner Gebiet" ganz Bayern. Mochte auch die türkische Verwaltung nahezu inexistent gewesen sein, die türkische Verwaltungseinteilung wTar in Europa bekannt, wie die diplomatischen Handbücher der Zeit zeigen. Englische Autoren sprechen vom „vilayet Churchill" oder von der „vilayet-fantasy". 25 26 27

Bis 1871 gehörte es verwaltungsmäßig zur Provinz Syrien. Auch Mutesarriflik, unter einem Gouverneur (mutesarrif). Vilayet Scham (Syrien) (heute gilt der Ausdruck „Scham" als veraltet).

Emery Walker L t d . sc.

Sketch-map showing the territorial divisions of Palestine under the Turkish régime Karte 3 Ottomanische Verwaltungseinteilung (aus: Sidebotham, vor I V . Teil)

130

2. T e i l : Die Palästinapläne der A l l i i e r t e n i m 1. Weltkrieg

— Nachdem die arabischen Vertreter die britische Regierung auf die Unhaltbarkeit der Vilayet-Theorie hingewiesen hatten, wurde die b r i tische Version für das Weißbuch 1922 dahingehend gefaßt, daß i n dem Schreiben McMahons „the portions of Syria, lying to the West of the district of Damascus" ausgeschlossen waren. Damit sei nicht nur der Libanon, sondern auch ganz Palästina von der britischen Zusage ausgenommen 2 8 . Auch dieser Austausch vom „district of Damascus" anstelle von „ V i layet Damascus" rettet die britische These nicht. — Zwar kann über den englischen Originalwortlaut so lange nichts gesagt werden, als er nicht veröffentlicht ist. I n der arabischen Fassung des Briefes steht nichts von Distrikt, sondern etwa „urban district" 2 9 . — Palästina (bis Akaba!) liegt offensichtlich nicht westlich, sondern südlich von Damaskus. Hierüber ist eine Diskussion kaum möglich. Die britische Regierung suchte ihre unhaltbare Darstellung dadurch glaubhafter zu machen, daß sie lediglich Damaskus nannte, anstelle der vier Städte Damaskus, Horns, Hama, Aleppo. Sind die vier Städte genannt, so bilden sie eine klare Linie, die von Damaskus nach Norden bis zur t ü r k i schen Grenze läuft, und eben den Küstenstreifen, also den Libanon und das nördliche Küstengebiet, erfaßt. Indem lediglich Damaskus genannt wurde, sollte verborgen bleiben, daß es sich lediglich u m eine nach Norden laufende L i n i e handelte; „Damaskus" sollte nun etwa die Funktion eines Längengrades annehmen, ganz so als hätte der Ausschluß etwa gelautet: „die Gebiete westlich der Hedschas-Bahn". Es ist aber aus dem Brief offensichtlich, daß der Ausschluß vor allem die christliche Bevölkerung i m Libanon betraf. Obwohl britische Autoren 3 0 und englischsprachige Veröffentlichungen 3 1 die Unhaltbarkeit des Ausschlusses von Palästina nachgewiesen hatten, verharrte die britische Regierung bis zuletzt auf ihrer Darstellung. Auch die eigens zur Prüfung eingesetzte Kommission aus britischen und arabischen Vertretern konnte sich hierüber nicht einigen. Die britischen Vertreter waren lediglich zu dem Bedauern bereit, daß der Ausschluß nicht eindeutiger formuliert worden sei 32 . 28 Government White Paper v. 30. 6.1922, Cmd. 1700 von 1922: "This reservation has always been regarded by His Majesty's Government as covering the vilayet of Beyrout and the independent Sanjak of Jerusalem. The whole of Palestine was thus exclused from Sir Henry McMahon's pledge."

29 30 31

Genauer s. Jeffries. Jeffries.

Antonius , The Arab Awakening. Cmd. 5974 v. 1939, S. 10: "On a proper construction of the correspondence, Palestine was in fact excluded... they agree that the language in which its conclusion was expressed was not so specific and unmistakable as it was thought to be at the time." 32

7. Kap. : Zusätzliche Erklärungen der A l l i i e r t e n

131

— Einige an den Verhandlungen Beteiligte erklärten sich i m Sinne der britischen Regierung. So erklärte insbesondere Hogarth 1939, er und die britische Seite seien damals davon ausgegangen, daß Palästina von den Zusagen ausgenommen gewesen sei. Wie immer Hogarth hierüber denken mochte, es fällt zumindest auf, daß er dann 1918 i n Dschidda Husein damit beruhigte, daß i n Palästina kein jüdischer Staat entstehen werde, und nicht einfach Hussein darauf hingewiesen hatte, daß Palästina ohnehin von der Zusage ausgenommen sei und die Balfour-Erklärung ihn also gar nicht berühre. 3. Arabisch-Zionistische Ausgleichsversuche Hier ist nicht von den frühen jüdisch-arabischen Beziehungen i n Palästina, noch von den arabisch-zionistischen Berührungen vor dem 1. Weltkrieg 3 3 zu sprechen; ebensowenig geht es an dieser Stelle u m die während der Mandatszeit unternommenen Annäherungen. Hier ist nur von zwei Dokumenten zu sprechen, die noch heute diskutiert werden 3 4 . a) Weizmann war mehrfach m i t Husseins Sohn, dem Emir Feisal, zusammengetroffen. Erstmals hatten sie sich i m Juni 1918 i n Akaba getroffen, als Weizmann m i t der Zionistischen Kommission 3 5 i n Palästina weilte. Beide besprachen die künftigen arabisch-jüdischen Beziehungen. I m Januar 1919 schlossen beide i n Paris ein öfter als „Freundschaftsvertrag" bezeichnetes Abkommen 3 6 . Hierin vereinbaren beide eine enge Zusammenarbeit zwischen dem arabischen Staat und Palästina; die volle Ausführung der Balfour-Erklärung und eine sofortige Masseneinwanderung und Ansiedlung von Juden. Das Abkommen ist von Weizmann und Feisal unterzeichnet. Juristisch ist das Abkommen durch die späteren Ereignisse gegenstandslos geworden. Denn es kam nicht zu dem „ A r a b i schen Staat", von dem das Abkommen spricht, und Feisal hatte außerdem einen Zusatz i n arabischer Sprache beigefügt, wonach er seine Verpflichtungen von der Erfüllung seiner auf der Friedenskonferenz vorgelegten Forderungen 3 7 abhängig machte. Hierin hatte Feisal unter anderem die Errichtung eines Großsyrischen Reiches unter seiner Herrschaft gefordert, von dem Palästina ein Teil sein sollte. Falls diese Forderungen nicht erfüllt würden, sei er nicht gebunden. b) Das zweite Dokument ist ein von Feisal für die Delegation des Hedschas am 3. März 1919 an Felix Frankfurter gerichtetes Schreiben. 33 Hierzu: Y. Ro'i, The Zionist Attitude to the Arabs 1908 - 1914; 4 Middle East Journal (1968), S. 198 ff.; N. Mandel , Attempts at an Arab-Zionist Entente 1912 - 1914,1 Middle Eastern Studies (1965). 34 Weitere Versuche bei Μ . Perlmann , Chapters of Arab-Jewish Diplomacy 1918 - 1922,6 Jewish Social Studies (1944), S. 124 ff. 35 s. 10. Kapitel 2.

36 37

9*

Text in Antonius, Anhang F; Laqueur, Dok. 8; ESCO I S. 141.

Es handelt sich um das Memorandum vom 1. Januar 1918, s. 8. Kapitel.

132

2. T e i l : Die Palästinapläne der A l l i i e r t e n i m 1. Weltkrieg

Frankfurter gehörte zu dem amerikanischen zionistischen Kreis um Brandeis und war auf den Friedenskonferenzen Mitglied der amerikanisch-zionistischen Delegation. Dieser Brief geht erheblich über das Weizmann-Feisal-Abkommen hinaus 38 . Darin heißt es, daß die Araber mit tiefster Sympathie der zionistischen Bewegung gegenüberstehen. Die Hedschas-Delegation sei v o l l vertraut mit den zionistischen Forderungen 3 9 und betrachte sie als gemäßigt und richtig. Schließlich w i r d erklärt, daß die jüdische Bewegung national und nicht imperialistisch sei. Das Schreiben geht sehr weit, da es voll auf das zionistische Memorandum verweist. Die Araber und die nicht pro-zionistischen Autoren haben stets die Echtheit des Schreibens bestritten; Feisal hat später als König des Iraks offiziell bestritten, es je geschrieben zu haben bzw. jede Erinnerung hieran bestritten. Das Original scheint jedoch gefunden worden zu sein 40 . Die Diskussion um dieses Schreiben ging um drei Punkte: — Was bewog Feisal zu dem Abkommen und dem Frankfurter-Brief? Feisal erstrebte ein Großsyrisches Reich; i n diesem Rahmen war Palästina nur ein Teilproblem. Palästina wäre überdies i n seinem Reiche gewesen. Gegen eine jüdische Einwanderung war von diesem Gesichtspunkt aus wenig einzuwenden. Vor allem mußte Feisal Hilfe gegen die französischen Ambitionen auf Syrien suchen. Hierfür mußte er sich mit Großbritannien arrangieren, das die Balfour-Erklärung i n irgendeiner Form durchsetzen wollte. Für seine anti-französische Politik erhoffte sich Feisal die zionistische und damit auch die amerikanische Unterstützung. Auch an jüdischer Finanzhilfe war er interessiert; hiermit hatten insbesondere die Engländer die Nationalheimpolitik den Arabern annehmbar zu machen gesucht. Feisals Ratgeber für diese Politik scheint Lawrence gewesen zu sein. — Warum hat sich zunächst keine Seite auf die Dokumente berufen? Das Feisal-Weizmann-Abkommen wurde erst 1936 von Weizmann veröffentlicht: — Die Zionisten beriefen sich nicht auf das Abkommen, w e i l sie mehr wollten als bloße Einwanderung. Sie wollten einen jüdischen Staat; nach dem Abkommen i n Verbindung mit Feisals Forderung auf der Friedenskonferenz dagegen sollte Palästina Teil des arabischen Großsyriens werden. — Großbritannien hatte kein Interesse an diesem Abkommen, weil Feisals Plan eines Großsyrischen Reiches nicht nur seinen eigenen A b sichten bezüglich Palästina widersprach, sondern es diesen Plan auch nur 38 39

Text in Laqueur, Dok. 8; ESCO IS. 143.

Es handelt sich um das Zionistische Memorandum vom 3. Februar 1919, s. 8. Kapitel. 40 Es soll im Zionistischen Archiv, Jerusalem, Nr. Ζ 4/25 001 sein.

7. Kap. : Zusätzliche Erklärungen der A l l i i e r t e n

133

gegen Frankreich hätte durchsetzen können. Frankreich hatte aber längst sich gegen Feisals Pläne gewandt. Ein Großsyrisches Reich wäre auch unter dem Sykes-Picot-Abkommen kaum zu verwirklichen gewesen, da es auf zwei „Schutzmächte" hätte aufgeteilt werden müssen. — Feisal konnte sich nicht mehr darauf berufen, da ihn der Syrische Kongreß desavouiert und das Abkommen verworfen hatte. Durch spätere Ereignisse wurde seine Stellung i n Syrien so geschwächt, daß er zu einer nationalistischen Haltung gezwungen wurde, einer Haltung, die nicht nur anti-französisch, sondern auch anti-britisch und anti-zionistisch wurde. — Schließlich ist die Bedeutung dieser Dokumente fraglich gewesen. Das Weizmann-Feisal-Abkommen ist zumindest durch die Ereignisse und durch Feisals Zusatz juristisch gegenstandslos geworden; der Frankfurter-Brief kann nicht als bindendes Dokument i m völkerrechtlichen Sinne angesehen werden. Gegenteiliges behauptet auch die zionistische Seite nicht. Die Dokumente zeigen jedoch nach ihrer Ansicht, daß die Errichtung des Nationalheims 1919 für die Araber oder jedenfalls ihre politischen Führer keineswegs so unannehmbar gewesen sei, wie i n der Folgezeit.

Dritter Teil

D i e Regelung: Palästina auf den Friedenskonferenzen Achtes Kapitel Die Mißgeschicke der Friedenskonferenzen Schrifttum: H. N. Howard , The Partition of Turkey: A Diplomatie History, 1913- 1923 (Norman, Oklahoma 1931); D. Lloyd George , The Truth about the Peace Treaties, 2 Bde. (London (1938); Ε. Μ . House and C. Seymour (Hrsg.), What Really Happened at Paris (New York 1921); Η. H. Cumming, FrancoBritish Rivalry in the Post-War Near East (London 1938); L. Wolf, Notes on the diplomatic history of the jewish question (London 1919).

1. Die Beteiligten auf den Friedenskonferenzen Die Serie der Friedenskonferenzen begann am 12. Januar 1919 i n Paris. Über den Ablauf kann hier nur das Ergebnis der Mandatsverteilung mitgeteilt und können die hierbei aufgetretenen Probleme aufgezeigt werden. Die Gesamtregelung selbst wäre zu umfangreich für den Rahmen des Buches. Stand auf den Konferenzen auch die europäische Neuordnung i m Vordergrund, so war doch das Schicksal des Ottomanischen Reiches ein wichtiges Problem. Alle Beteiligten bemühten sich u m eine für sie günstige Regelung; jeder versuchte insbesondere, die verschiedenen Kriegsabmachungen voll für sich auszuschöpfen. Die meisten legten umfangreiche Memoranden vor 1 . Die gegensätzlichen Interessen der Siegermächte, die Ansprüche der protegierten Zionisten und Araber, der Widerstand der Türkei und die politischen Umwälzungen i m Nahen Osten zögerten die endgültige Regelung für die ottomanischen Gebiete hinaus. Großbritannien und Frankreich suchten möglichst große Teile des Nahen Ostens zu annektieren, die USA wandten sich gegen Annektionen und traten für 1 Wichtig insbesondere Emir Feisals Memorandum an den Obersten Rat der Pariser Friedenskonferenz vom 1. Januar 1919, Hurewitz, Dok. 19; Memorandum der Zionistischen Organisation an den Obersten Rat der Pariser Friedenskonferenz vom 3. Februar 1919, Hurewitz, Dok. 21 (von dem umfangreichen Dokument sind nur Auszüge abgedruckt; dort weitere Nachweise).

8. Kap. : Die Mißgeschicke der Friedenskonferenzen

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das Selbstbestimmungsrecht der Völker oder wenigstens für eine internationale Verwaltung der eroberten Gebiete ein; der Kompromiß war das Völkerbundsmandat 2 . Großbritannien und Frankreich beanspruchten möglichst weite Gebiete des Ottomanischen Reiches als ihre Mandate, wobei Frankreich unter Mandat wenig mehr als eine Kolonialverwaltung alten Stils verstand, während Großbritannien mehr an weitgehende Selbstverwaltung, eventuell sogar Protektorat unter britischer Oberherrschaft dachte. Die Araber erstrebten die Unabhängigkeit oder wenigstens eine weitgehende Autonomie. Dieses Autonomiestreben war am ehesten noch m i t den britischen Vorstellungen zu vereinbaren, weshalb sie — wenn schon Mandat — überwiegend für ein britisches Mandat eintraten. Jedenfalls wehrten sich die moslemischen Araber gegen die Aufteilung Großsyriens i n Syrien, Libanon, Palästina und Transjordanien. Die Zionisten schließlich konnten nur von Großbritannien etwas erhoffen; auch die sofortige Unabhängigkeit kam angesichts der noch fehlenden j ü d i schen Bevölkerung nicht in Frage. Sie traten daher für ein großzügig abgegrenztes Palästina unter britischem Mandat ein. Großbritannien war i n günstiger Lage, weil es die strittigen Gebiete militärisch besetzt hielt. Zwar wurden ihm widersprechende Kriegsversprechen präsentiert, aber es nutzte dies zu seinem Vorteil, indem es den Ansprüchen des einen seine Verpflichtungen gegenüber anderen entgegenhielt. Den Arabern gegenüber berief es sich auf das Sykes-PicotAbkommen und auf die Balfour-Erklärung und Versprechen an die Araber, um die nach dem Sykes-Picot-Abkommen vorgesehene A u f teilung zu seinen Gunsten zu verändern. Die Zionisten setzte es ein, u m das Palästina-Mandat zu erhalten, und auch i n Mesopotamien konnte es seinen Bereich um das Mossulgebiet erweitern. Frankreich kämpfte auf allen Konferenzen und i n diplomatischen Verhandlungen u m seine Rechte aus dem Sykes-Picot-Vertrag. Seine Stellung war ungünstig: Großbritannien hielt das Gebiet militärisch besetzt; Lloyd George wies auf die britischen Kosten der Eroberung hin und höhnte, Frankreich solle sich anteilig beteiligen (was Frankreich angesichts seiner Kämpfe vor Verdun als perfide empfand); Großbritannien, Araber und Zionisten waren sich einig, daß — wenn schon Mandat — nicht Frankreich, sondern Großbritannien Mandatsmacht für das gesamte Gebiet sein sollte. Frankreich benötigte schließlich die britische Zustimmung für seine Forderung gegenüber Deutschland: Elsaß-Lothringen ohne Volksabstimmung; das Saargebiet; die Rheinlandbesetzung; Zugang zur Ruhr; Reparationsleistungen. Hierfür mußte Frankreich schließlich i m Nahen Osten nachgeben und überließ entgegen dem Sykes-PicotAbkommen Nordmesopotamien an Großbritannien, verzichtete auf die 2

s. 9. Kapitel 1.

136

3. T e i l : Die Regelung Palästina auf den Friedenskonferenzen

Internationalisierung Palästinas (der „Braunen Zone") zugunsten eines britischen Mandats und ließ zu, daß die Grenzen Palästinas nach Norden verlegt wurden. Alle anderen Mächte waren rechtlich und faktisch nachgeordnet. Nicht nur war es eine Konferenz der siegreichen Kriegskoalition — die deutsche Delegation konnte an den Verhandlungen nicht teilnehmen, sondern bekam die Friedensbedingungen ultimativ zugestellt. Auch unter den Alliierten und Assoziierten Mächten gab es Unterschiede 3 , was auf eine fast absolute Präponderanz der „Großen Vier" (Wilson, Lloyd George, Clemenceau, Orlando) hinauslief. Die Zionisten setzten voll auf die britische Karte und mobilisierten ihren Einfluß i m alliierten Lager. I h r Rennen w a r noch keineswegs gelaufen. Die Balfour-Erklärung war vage und erhebliche Gegenkräfte formierten sich. Die französischen und italienischen Zustimmungen 4 zur Erklärung waren nichtssagend, und i n Palästina widersprachen sich die Interessen erheblich. Die amerikanische Haltung war zumindest unklar: Die amerikanische Delegation auf der Friedenskonferenz formulierte Empfehlungen, die weit über die britischen Absichten hinausgingen: sie sprachen von einem jüdischen Staat i n Palästina unter britischem Mandat; die arabische Bevölkerung Palästinas wurde als ziemlich unbeachtlich hingestellt 5 . Wenig später entsandte Wilson die King-Crane-Kommission nach Syrien und Palästina, die die Wünsche der Bevölkerung erfragen sollte; natürlich sprachen sich die Araber nicht für die zionistischen Bestrebungen aus 6 . Selbst i n Großbritannien formierte sich Widerstand. Es gelang der zionistischen Seite jedoch, sich voll i n das Konferenzgeschehen einzuschalten und insbesondere Wilson und Lloyd George i n ihrem Sinne zu beeinflussen. Die zionistischen Anstrengungen wandten sich insbesondere gegen die i m Sykes-Picot-Abkommen vorgesehene Internationalisierung Palästinas und die dort vorgesehene Grenzziehung 7 . Von einer Internationalisierung, und das hieß von einem britisch-französischen Ko-Mandat versprachen sie sich nichts. Es war vorauszusehen, daß dann jede der beiden Volksgruppen i n einer der beiden Mandatsmächte ihren Protektor finden würde, und daß dann die weitreichenden 3

s. WBVR, „Versailler Friede von 1919", Β 1. Die katholische Kirche war keineswegs pro-zionistisch, vgl. J. Cohn (vor I V . Teil), S. 132 f. 5 Tentative Recommendations for President Wilson by the Intelligence Section of the American Delegation to the Peace Conference vom 21. Januar 1919, Ziffer 26, Hurewitz, Dok. 20; ferner: J. de Haas, Louis D. Brandeis (New York 1929). 6 s. 9. Kapitel 1. 7 Der sog. „Braunen Zone", s. 4. Kapitel. Zur endgültigen Grenzziehung s. 9. Kapitel 2. 4

8. Kap. : Die Mißgeschicke der Friedenskonferenzen

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zionistischen Pläne stagnieren und schließlich der britisch-französischen Verständigung geopfert würden. Daher schlug Weizmann Großbritannien vor, das Gesamtmandat für Palästina zu übernehmen. Großbritannien sollte die Nationalheimpolitik unterstützen und eine andere Grenzziehung herbeiführen; seinerseits bot er die Unterstützung des jüdischen und zionistischen Einflusses i n aller Welt an, die Übertragung des Alleinmandates an Großbritannien zu unterstützen 8 . I n Verfolgung dieser Bemühungen forderte daher das Zionistische Memorandum 9 ebenso wie verschiedene Resolutionen Zionistischer Verbände insbesondere der USA das Alleinmandat für Großbritannien. Praktisch gelang den Zionisten die Einschaltung auf verschiedenen Ebenen. Insbesondere die amerikanischen Zionisten entsandten eine kopfstarke Delegation kompetenter Juristen, die i n jeder Situation des Konferenzgeschehens die für sie optimalen Vorschläge formulieren und i n die entsprechende juristische Form gießen konnten. I n Einzelfragen schalteten sie etwa den Berater des US-Präsidenten, den Richter am Supreme Court, Brandeis, oder den einflußreichen Marshall ein. Die arabische Seite war i m Nachteil. Sie war kaum vertreten, hatte nicht den großen Beraterstab der nationalen Ministerien oder der zionistischen Seite hinter sich, war europäischem Konferenzgeschehen gegenüber ahnungslos und konnte keinen Druck der Weltmeinung mobilisieren. Eine gesamtarabische Repräsentanz über die Fronten hinweg hatte sich nie bilden können; i m türkisch-arabischen Teil fehlten alle Strukturen für eine solche politische Willensbildung. Soweit mehr oder weniger anerkannte Sprecher auftraten oder sich quasidemokratische Gremien (Syrischer Kongreß) bildeten, wurden sie von den Alliierten nicht anerkannt. So wollte z. B. der Leiter der ägyptischen Wafd-Partei — Saad Zaghlul, die arabischen Autonomieforderungen auf den Friedenskonferenzen vertreten. Er wurde deportiert 10 .

Von arabischer Seite war lediglich Emir Feisal auf den Friedenskonferenzen; seine Stellung war tatsächlich, juristisch und politisch, schwach. Sie war tatsächlich schwach, da Feisal dem Konferenzgeschehen hilflos gegenüberstand. Er verstand nur wenig Französisch, und einen arabischen Sprachendienst gab es nicht. Er war fast ohne Stab und ohne Berater und hätte schon physisch nicht i n den zahlreichen Gremien auftreten können. Von Mekka aus kam i h m keine Hilfe; Hussein stellte nur unrealistische Forderungen. Sein Berater und Dolmetscher war meist 8

Die Einzelheiten dieser Absprachen sind strittig. s. o. Anm. 1. 10 E. Kedourie, Sa'ad Zaghlul and the British, St. Antony's Paper Nr. 11 (London 1961). ö

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3. Teil: Die Regelung Palästina auf den Friedenskonferenzen

Lawrence 1 1 . Aber Lawrence war für diplomatische Verhandlungen wenig geschaffen; sein Arabisch war unzulänglich und er versuchte meist, Feisal zur Annahme der britischen Vorschläge zu bewegen. Verglichen m i t der Zionistischen Organisation waren die Araber sonderlich i m Nachteil. Die Zionisten hatten i n jedem europäischen Staat und i n den USA Mitglieder und Sympathisanten. Ihnen war keine Regierung, keine Delegation, kein Politiker unzugänglich. Dem hatten die Araber außer einigen Arabophilen nichts entgegenzusetzen. Juristisch war Feisals Vollmacht, für die Araber zu sprechen, zweifelhaft. Er trat zunächst als Vertreter seines Vaters, des Scherif Husseins von Mekka und als Leiter der Hedschas-Delegation auf. N u r i n dieser Eigenschaft wurde er (als „Kriegsführende Macht mit Sonderinteressen" 12 ) anerkannt; von den Arabern war so nur der Hedschas vertreten. Später stützte Feisal seine Legitimation auch auf den Syrischen Kongreß 13 . Mangels einer Repräsentativkörperschaft, die Hussein oder Feisal hätte legitimieren können, lagen deren Befugnisse i m McMahon-Abkommen und i n der allgemeinen Akzeptierung von Hussein und Feisal durch die Araber als ihren Sprecher. Großbritannien hatte i m Briefwechsel McMahon—Hussein mit letzterem „on behalf of all the Arabs" verhandelt. Frankreich konnte kein Interesse daran haben, einen gesamtarabischen Sprecher anzuerkennen oder den Briefwechsel McMahon—Hussein gegen sich gelten zu lassen. Da nur Großbritannien Partner dieses etwaigen Abkommens war, akzeptierte es Hussein nur als König des Hedschas 14 und nicht als anerkannten Sprecher der Araber. Offiziell blieb die arabische Repräsentanz insoweit beschränkt. I m März 1920 trat i n Damaskus der von Feisal einberufene Allgemeine Syrische Kongreß zusammen und wählte Feisal zum König des Vereinigten Syriens (einschließlich Libanons, Palästinas, Transjordaniens). Der Kongreß verabschiedete eine an die King-Crane-Kommission gerichtete Resolution, das sog. Damaskus-Programm, das die Unabhängigkeit für das Großsyrische Reich forderte. Die Legitimation des Kongresses war strittig. Weder Großbritannien noch Frankreich hatten Wahlen zugelassen; sie beriefen sich für diese Weigerung auf die Haager Landkriegsordnung, wonach bis zum Friedensvertrag die Besatzungsmacht die bestehende Rechtsordnung nicht einschneidend ändern dürfe. Die Kongreßmitglieder waren nicht un11

Über Lawrence s. 3. Kapitel. WBVR, „Versailler Friede von 1919", Β 1. 13 " I came to Europe, on behalf of my father and the Arabs of Asia", Memorandum, s. o. Anm. 1. 14 Hussein hatte im Januar 1919 den Titel des Königs vom Hedschas angenommen. Die Alliierten hatten dies durch gleichlautende Noten an Hussein vom 3. Januar 1919 anerkannt. 12

8. Kap. : Die Mißgeschicke der Friedenskonferenzen

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mittelbar gewählt. Vielmehr waren sie von den überlebenden Wahlmännern zum letzten Türkischen Kongreß gewählt worden. Die K i n g Crane-Kommission hat den Kongreß als repräsentativ angesehen. Der französische Einmarsch i n Damaskus beendete die Stellung Feisals als syrischer König. Wieweit Feisal politisch legitimiert war, d. h. inwieweit er tatsächlich von den Arabern als ihr gemeinsamer Sprecher anerkannt wurde, läßt sich nicht eindeutig beantworten. Für den Hedschas mochte er sprechen, ob aber für Damaskus, blieb immer strittig. Er war i n Syrien ein Fremder; außerdem war er lange auf europäischen Konferenzen und also nicht i m Lande. I m Schrifttum herrscht die Ansicht vor, daß er zwar legitimiert war, die arabischen Maximalforderungen zu vertreten, daß er jedoch keinerlei Konzessionen (etwa bezüglich Palästinas) oder auch nur ein französisches Mandat hätte zugestehen dürfen. So verlor er i n Damaskus die Unterstützung des Syrischen Kongresses, als er der französischen Forderung zustimmte, französische Berater und also das Mandat zu akzeptieren. Die Konferenz entschied noch nicht über die ottomanischen Gebiete; erst auf der weiteren Konferenz von San Remo wurden i m A p r i l 1920 die Gebiete aufgeteilt und die Mandate zugewiesen. 2. Das Scheitern des Großsyrischen Reiches Schrifttum: WVR, „Syrien". Zeine N. Zeine, The Struggle for Arab Independence. Western Diplomacy and the Rise and Fall of Faisal's Kingdom in Syria (Beirut 1960); P. David, U n Governement arabe à Damas, le Congrès Syrien; Α. Η. Η our ani, Syria and Libanon (London 1946); R. de Gontaut-Biron, Comment la France s'est installée en Syrie (Paris 1922); S. H. Longrigg, Syria and Libanon under French Mandate (London 1958).

Die Forderung nach einem Großsyrischen Reich wurde auf den Friedenskonferenzen zweimal nachdrücklich erhoben; die Haltung der arabischen Sprecher bezüglich des jüdischen Nationalheims war beide Male verschieden. Emir Feisal legte i m Januar 1919 dem Obersten Rat der Pariser Friedenskonferenz das Memorandum über die Forderungen der „Araber Asiens" vor 1 5 . Darin forderte er eine Föderation zwischen dem Hedschas, Nedsch, Großsyrien (einschließlich Libanon, Palästina, Transjordanien) und dem Irak unter dem einheitlichen Mandat einer europäischen Macht. Palästina sollte politisch zu Großsyrien gehören. Bezüglich der zionistischen Absichten sagte er nichts; die Juden werden als nahe verwandt hingestellt. Kurz, das Memonrandum ist insoweit vage, aber nicht antizionistisch. 15

s. 8. K a p i t e l l , A n m . l .

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3. Teil: Die Regelung Palästina auf den Friedenskonferenzen

A m 2. J u l i 1919 forderte der Allgemeine Syrische Kongreß 1 6 die volle Unabhängigkeit für ein Großsyrisches Reich und erklärte sich ausdrücklich gegen ein französisches Mandat. Die Resolution ist juristisch ein klares Dokument; sie erarbeitete erstmals die Argumentation gegen die Anwendung des Mandatssystems auf Syrien 1 7 . Eindeutig ist die Stellungnahme gegen den Zionismus. Die Resolution wendet sich sowohl gegen ein jüdisches Commonwealth als auch gegen zionistische Einwanderung 1 8 . A l l e großsyrischen Erwartungen waren m i t dem Sykes-Picot-Abkommen und den französischen Absichten unvereinbar. Frankreich dachte nicht daran, auf seine Rechte aus diesem Abkommen zu verzichten und forderte das Mandat für Syrien und Libanon. Die Aufteilung Großsyriens i n ein französisches und ein britisches Mandat machten selbst ein Großsyrisches Reich unter Mandat unmöglich, von Palästina ganz zu schweigen. Libanon hatte sich außerdem bereits i m März 1919 m i t französischer Hilfe von Damaskus unabhängig erklärt. Der britisch-französische Gegensatz verzögerte die endgültige Regelung erheblich. Aber schließlich gab Großbritannien nach, und die arabischen Ambitionen wurden der Verständigung m i t Frankreich geopfert. N u n schlug auch der Charakter der Friedenskonferenz als Versammlung der Siegerkoalition wieder durch. Hatte L l o y d George früher die Franzosen m i t der Aufforderung erzürnt, sich an den Kosten der Eroberung des Vorderen Orients zu beteiligen, so frug er nun, w o r i n eigentlich der arabische Beitrag zum Siege und zur Emanzipation vom türkischen Joche bestanden habe. Die Briten hätten den Arabern die Freiheit erkämpft. I m September 1919 zog sich Großbritannien aus Syrien zurück, und Frankreich marschierte ein 1 9 . Feisal geriet i n zunehmenden Gegensatz zu Frankreich. Er wurde i n den antibritischen Aufstand i m Irak verstrickt und mußte zunehmend radikaler und antizionistischer auftreten. So verlor er auch die britische Unterstützung. Als die Franzosen schließlich Damaskus militärisch besetzten — obwohl Feisal i h r vorheriges Ultimat u m angenommen hatte —, mußte er fliehen; Frankreich löste das Großsyrische Reich auf. Von der weiteren Entwicklung des arabischen Gebietes außerhalb Palästinas ist zum Verständnis des Folgenden nur mitzuteilen: 16

17 18

s. 8. Kapitel 1.

Hurewitz, Dok. 25 ; Laqueur, Dok. 10.

Ziffer 7: "We oppose the pretensions of the Zionists to create a Jewish commonwealth in the southern part of Syria, known as Palestine and oppose Zionist immigration to any part of our country; we do not acknowledge their title but consider them a grave peril to our people from the national, economical, and political point of view." 19 I m einzelnen und zum folgenden Zeine, S. 107 ff. s. auch Summary Record of a Secret Meeting of the Supreme Council at Paris to consider the SykesPicot-Agreement vom 20. März 1919; Hurewitz, Dok. 22.

. Kap. : Die

g e i e der Friedenskonferenzen

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M i t dem Zusammenbruch des Großsyrischen Reiches entstand i m südlichen Teil des früheren vilayet Syriens, i m späteren Transjordanien, ein herrschaftsloser Zustand. Das Gebiet fiel zwar unter britisches Mandat, aber der britische Hohe Kommissar verfügte i n diesem Gebiet über keine Streitkräfte und keine Verwaltung. I n dieses Vakuum stieß aus dem Hedschas der ältere Bruder Feisals, Emir Abdulla I b n Hussein. Er wollte eigentlich Damaskus den Franzosen wieder entreißen, kam aber nur bis Transjordanien 20 . Der Fortgang ist operettenhaft. Churchill als Kolonialminister sanktionierte die Lage kurzerhand auf der Kairoer Konferenz i m März 1921 und verteilte die Throne. Der aus Damaskus vertriebene Feisal wurde nach einem fragwürdigen Referendum König des Irak; Abdulla wurde als Emir von Transjordanien anerkannt. Transjordanien blieb formell unter dem sog. Palästina-Mandat und der Hohe Kommissar i n Jordanien blieb weiterhin zuständig; die Bestimmungen über die Heiligen Stätten und über das jüdische Nationalheim fanden jedoch keine Anwendung auf Transjordanien. 1928 erhielt Transjordanien die (formelle) Verfassungsautonomie. Offiziell blieb es bis 1946 unter dem Palästina-Mandat; alle Rechtsetzungsakte, die der Mandatar für Palästina erließ, beschränkten sich auf Palästina. Durch Bündnisvertrag mit Großbritannien wurde Transjordanien 1946 (nominell) unabhängig. Damit herrschte die Haschemiten-Dynastie i m Hedschas (Hussein), i m Irak (Feisal) und in Transjordanien (Abdulla). Eine ungeschickte Politik brachte Hussein i m Gegensatz zu den Wahabiten des Nedsch und zu Großbritannien. 1924 eroberten die Wahabiten den Hedschas und vertrieben die Haschemiten, ohne daß Großbritannien eingriff. Für die imperialistische Stellung Großbritanniens war dies bedeutungslos. Hussein war der Protégé des Kolonialministeriums und Lawrence'; Ibn Saud war Protégé des Indienministeriums.

20

Hierzu A. Kirkbride,

A Crackle of Thorns (London 1956).

Neuntes Kapitel D i e Ergebniese der Friedenskonferenzen i m vorderasiatischen R a u m 1. Die Verteilung der Mandate I m August 1920 wurde der Friedensvertrag von Sèvres geschlossen, der den Kriegszustand zwischen den Alliierten und der Türkei beenden sollte 1 . Aus heutiger Sicht erscheint der Vertrag seltsam bizarr. Er folgte dem Sykes-Picot-Abkommen und teilte die Türkei weitgehend unter die Alliierten und unter neu zu schaffende Staaten auf. Die türkischen Nordostprovinzen wurden als selbständiger Armenischer Staat gruppiert (Art. 88); Südostanatolien wurde zu einem autonomen Kurdistan, dem Unabhängigkeit i n Aussicht gestellt wurde. Griechenland und Italien erhielten Gebiete rund an der türkischen Küste. Die Dardanellen wurden entmilitarisiert; Armee und Finanzen i m resttürkischen Gebiet unter Aufsicht der Alliierten gestellt. Die Kapitulationen wurden wieder errichtet; Nichtmoslems hatten exzessive Hechte. Die arabischen Gebiete wurden abgetrennt und außer dem Hedschas dem Mandatssystem des Völkerbundes unterstellt. Für Syrien und Mesopotamien wurde auf Art. 22 I V der Völkerbundsatzung verwiesen 2 ; für Palästina 3 wurde außerdem die Verantwortlichkeit des Mandatars für die Durchführung der Balfour-Erklärung aufgenommen 4 . Das Mandats1

Nachweise zum folgenden, auch zu San Remo: WBVR, „Lausanner Friede". Art. 94: "The High Contracting Parties agree that Syria and Mesopotamia shall, in accordance with the fourth paragraph of article 22, part I (covenant of the League of Nations), be provisionally recognized as independent States subject to the rendering of administrative advice and assistance by a Mandatory until such time as they are able to stand alone." 3 Über die Grenzen Palästinas, insbesondere nach Norden und Osten war noch nichts bestimmt; s. 9. Kapitel 2. 4 Art. 95: "The High Contracting Parties agree to entrust by application of these provisions of Article 22 the administration of Palestine, within such boundaries as may be determined by the Principal Allied Powers, to a Mandatory to be selected by the said Powers. The Mandatory will be responsible for putting into effect the declaration originally made on the 2nd November 1917, by the British Government and adopted by the other Allied Powers in favor of the establishment in Palestine of a national home for the Jewish people, it being clearly understood that nothing shall be done that may prejudice the civil and religious rights of existing non-Jewish communities in Palestine or the rights and political status enjoyed by Jews in any other country." 2

. Kap. : Die

g e i e der Friedenskonferenzen

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regime für die einzelnen Mandatsgebiete war noch nicht ausgearbeitet; dies wurde i n Aussicht gestellt 5 , und die Türkei mußte dem i m voraus zustimmen 6 . Der Friedensvertrag wurde unterzeichnet 7 , aber das türkische Parlament ratifizierte ihn nicht. Die militärischen Erfolge der nationaltürkischen Bewegung unter Mustafa Kemal ließen den Friedensvertrag von Sèvres hinfällig werden. Erst 1922 kam es zu neuen Verhandlungen, die zum Friedensvertrag von Lausanne führten. U m der türkischen Entwicklung wegen nicht die gesamte weitere Neuordnung hinauszuzögern, nahmen die Alliierten auf der Konferenz von San Remo i m A p r i l 1920 einen Teil der Regelung vorweg. Sie kamen überein, die Bestimmungen des Sèvres-Vertrages über die arabischen Gebiete der Türkei i n ihren Beziehungen unter sich als bindend zu betrachten und verteilten i m sog. Obersten Alliierten Rat die Mandate unter sich auf. Der Hedschas wurde als unabhängiger Staat anerkannt. Auch Armenien wurde als Mandatsgebiet bestimmt; es fand sich jedoch keine Macht bereit, das Mandat zu übernehmen 8 . Nach dem Abkommen erhielt Frankreich das Mandat für Syrien und für den Libanon; i n der damaligen Terminologie einschließlich der Blauen Zone laut Sykes-Picot-Abkommen, aber ohne Kilizien, sowie die Zone A ohne das Vilayet Mossul. Die genaue Grenzziehung zu Palästina blieb einer Grenzziehungskommission vorbehalten. Großbritannien erhielt das Mandat für Palästina (die Braune Zone) sowie die Rote Zone und die Zone B. Das Palästina-Mandat erstreckte sich auf Transjordanien. Gleichzeitig löste Großbritannien die Militärverwaltung i n Palästina auf und errichtete eine Zivilverwaltung. Die Mandatsverteilung widersprach nicht nur der arabischen Forderung auf Einschluß Palästinas i n Syrien, sondern trennte auch das spätere Transjordanien von Syrien ab und unterstellte Syrien dem französischen Mandat. Und anders als noch i m Sykes-Picot-Abkommen vorgesehen bestand nun kein Unterschied mehr i n der Kontrollintensität der verschiedenen Zonen, also zwischen der Blauen, Roten und Braunen Zone einerseits, und der A - und B-Zone andererseits. Die Türkei verzichtete i m Friedensvertrag von Lausanne auf ihre arabischen Gebiete 9 . Über Mandate sagt der Vertrag nichts mehr; die waren 5 Art. 96: "The terms of the mandates in respect of the above territories will be formulated by the Principiai Allied Powers and submitted to the council for the League of Nations for approval." 6 Art. 97. 7 Der Hedschas verweigerte die Unterschrift wegen der inzwischen erfolgten Vertreibung Feisals aus Damaskus. 8 A. Mandelstam, La S D N et les Puissances devant le Problème arménien, Revue générale de Droit international X X I V (1922), S. 361 ff. 9 Art. 16, 132; Vertrag vom 24. 7.1923; Text: League of Nations Treaties Series, Bd. 28, S. 12 ff.

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3. Teil : Die Regelung· Palästina auf den Friedenskonferenzen

inzwischen längst verteilt, und die Mandatsverwaltungen waren aufgebaut. Aber die Türkei hatte Grenzen akzeptiert, die alle diese Gebiete außerhalb ihres Bereichs verlegten, woraus der völkerrechtliche Souveränitätsübergang auf den Völkerbund oder auf die Mandatare (strittig) hergeleitet wurde. Das Regime der einzelnen Mandatsgebiete w a r noch nicht ausgearbeitet 1 0 . Das entsprechende Abkommen für Palästina (Palästina-Mandat) wurde am 24. 7. 1922 vom Völkerbundsrat genehmigt. Es trat jedoch erst am 29. 9.1923 i n Kraft, da man es zugleich m i t dem am selben Tag genehmigten französischen Mandat für Syrien und Libanon wirksam werden lassen wollte, das Inkrafttreten des französischen Mandats sich jedoch wegen französisch-italienischer Verhandlungen verzögerte. Die Vereinigten Staaten stimmten dem Palästina-Mandat i n einem gesonderten Abkommen m i t Großbritannien zu. Zwar hatten die USA der Türkei nicht den Krieg erklärt und hatten bei der Wahl der Mandatare i n San Remo nicht teilgenommen; sie hatten den Versailler und den Lausanner Friedensvertrag nicht unterzeichnet und sie waren nicht Mitglied des VB. Sie verlangten jedoch einen gewissen Einfluß auf die Mandatsgebiete; ihren Anspruch hierauf leiteten sie aus ihrer „Beteiligung am Siege" her. Daher schlossen sie m i t den Mandatsmächten Verträge, die den USA und deren Staatsangehörigen i n den Mandatsgebieten die gleichen Rechte einräumen wie den Mitgliedern des V B und deren Staatsangehörigen 11 . Der Konferenz von San Remo waren langwierige Verhandlungen vorausgegangen, i n denen weder zwischen den Alliierten und den arabischen Vertretern noch unter den Alliierten selbst Einigkeit hergestellt werden konnte. Die arabische Seite forderte ein Großsyrisches Reich (einschließlich Libanon und Palästina) unter einem einzigen Mandatar; Frankreich bestand auf seinen Rechten aus dem Sykes-Picot-Abkommen, Großbritannien und die Zionisten traten für ein britisches Mandat eines weit gesteckten Palästinas ein. U m Meinungsgegensätze zu überwinden und u m den alliierten Erklärungen und Punkt 12 seiner 14 Punkte sowie u m A r t . 22 der Völkerbundssatzung zu entsprechen, der bezüglich der Wahl des Mandatars die Ansicht der betroffenen Bevölkerung berücksichtigt sehen wollte, schlug Wilson vor, eine alliierte Kommission zu entsenden. Großbritannien und 10

Hierzu 10. Kapitel 2 a. Nachweise: Q. Wright , Mandates under the League of Nations (1930), S. 55; W. R. Batsell , The US and the System of Mandates, International conciliation 213 (1925), S. 269 ff.; B. Gerig , The Open Door and the Mandates System (London 1930); für das Palästina-Mandat: Spiegel (s. vor 10. Kapitel) S. 47 ff. Allgemein s. WBVR, „Offene Tür-Politik". 11

. Kap. : Die

g e i e der Friedenskonferenzen

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Frankreich dachten nicht daran, die Bevölkerung zu befragen 12 und beteiligten sich nicht. So entsandte Wilson eine amerikanische Kommission in das Syrischlibanesisch-palästinensische Gebiet, die ausführliche Befragungen anstellte 13 . Ihre Ergebnisse lassen sich zusammenfassen: die Bevölkerung fordere ganz überwiegend die völlige Unabhängigkeit für ganz Syrien (einschließlich Palästina); falls das Mandatsregime unabwendbar sei, dann falle die Wahl an erster Stelle auf die USA, an zweiter Stelle auf Großbritannien; gegen die zionistischen Bestrebungen spreche sich die Bevölkerung entschieden aus. Die King-Crane Kommission hatte allerseits eine schlechte Presse 14 . Die Franzosen sahen i n ihr nur ein antifranzösisches Instrument, um sie aus Syrien zu vertreiben und sammelten ihrerseits auf kleinerer Ebene ähnlich pro-französische Erklärungen 1 5 . Die Zionisten sahen i n ihr ein Gruppe von Antisemiten 1 6 . Beide werfen ihr vor, sie sei willentlich schlecht unterrichtet und habe nur anti-französische und anti-zionistische Stimmen gehört. Historiker weisen auf die Inkonsistenz Wilsons hin, der die Balfour-Erklärung unterstützt hatte 1 7 und nun nachfragen ließ, was die ansässige Bevölkerung über ihre Durchführung denke. Der Politikwissenschaftler schließlich w i r d das ganze Unternehmen bedenklich finden. Man kann der Kommission nicht vorwerfen, daß ihre Befragungstechnik unvollkommen war; die damalige Interview-Technik, insbesondere für empirische Untersuchungen in fremden Kulturkreisen war nicht weiter entwickelt. Aber welchen Sinn sollte eine derartige Befra12

Hierzu werden bezeichnende Äußerungen Balfours zitiert: "Do we mean, in the case of Syria, to consult principally the wishes of the inhabitants? We mean nothing of the kind. According to the universally accepted view there are only 3 possible mandatories — England, America and France. Are we going 'chiefly to consider the wishes of the inhabitants' in deciding which of these is to be selected? We are going to do nothing of the kind. England has refused. America will refuse. So that, whatever the inhabitants may wish, it is France they will certainly have. They may freely chose; but it is Hobson's choice, after all." (Zeine, a.a.O., S. 205.) "In Palestine we dot not propose even to go through the form of consulting the present inhabitants. Zionism is of far greater import than the desire and prejudices of the 70 000 arabs who now inhabit that ancient land" (Bentwich, Mandate Memories, S. 69). 13 Harry N. Howard , The King-Crane Commission. A n American Inquiry in the Middle East (Beirut 1963); J. B. Benkson , The Abortive King-Crane Hecommandations-Science or Propaganda?, in: Hearings before the committee on foreign Affairs, House of Representatives, 87th Congress, H. Res. 418 and 419,1944, p. 213 ff.; weitere Nachweise: Hurewitz, Dok. 27. 14

15

Nachweise: Zeine, S. 96 ff.

Sie organisierten ζ. B. einen Syrisch-Palästinensischen Kongreß in Genf im Herbst 1921, s. etwa: La France en Syrie et au Liban. Le Mandat devant les faits (Paris o. J.). 16 ζ. B. ESCO I S. 213 ff. 17 s. 6. Kapitel. 10 Wagner

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3. Teil: Die Regelung Palästina auf den Friedenskonferenzen

gung überhaupt haben? Niemand konnte wissen, was der Zionismus jemals realisieren würde. Und die Formulierung, ob die Befragten der Einwanderung einer fremden Bevölkerung bis zu deren Mehrheit zustimme, kann entweder nur m i t „nein" beantwortet werden, oder die A n t w o r t hat — falls der Befragte politisch so unterentwickelt ist — keinen Wert. So w i l l es uns jedenfalls heute scheinen. Die Zionisten haben den Bericht bekämpft, w e i l seine Ergebnisse ihrem Dogma von der pro-zionistischen Einstellung der palästinensischen Araber widersprach. Liest man jedoch den Bericht unvoreingenommen, so w i r d man sein Ergebnis, wie immer es zustande gekommen sein mochte, kaum angreifen können: daß der überwiegende Teil der Syrer außerhalb der christlichen Gebiete des Libanon gegen das französische Mandat war, hat Frankreich erfahren müssen. Die antizionistische Einstellung der Araber kann gleichfalls nicht bezweifelt werden. Der Bericht blieb nahezu unbeachtet. Er wurde niemals offiziell und inoffiziell erst 1922 i n den USA veröffentlicht 1 8 . Das Vorgehen der Alliierten auf der Konferenz von San Remo ist k r i tisiert worden. Die Beschlüsse sind weder m i t dem Wortlaut des A r t . 22 VBS, der das Mandatssystem einführt, vereinbar noch m i t den Zusagen an die Araber. Bedenklich war auch, daß die Mandate verteilt wurden und daß die Mandatsverwaltungen errichtet wurden, bevor die Türkei den Friedensvertrag ratifiziert, das heißt bevor sie ihre Souveränität über diese Gebiete aufgegeben hatte. Nach Völkerrecht ist es der Besatzungsmacht untersagt, vor Entfall der Souveränität eine Zivilverwaltung zu errichten und die Rechtsordnung des besetzten Gebietes stärker zu verändern, als es zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung erforderlich ist 1 9 . Die Alliierten haben ihre Vorgehen damit verteidigt, daß sonst die arabisch-ottomanischen Gebiete noch für lange Zeit ohne Regelung geblieben wären. Die völkerrechtliche Literatur betrachtete vorherrschend das Mandat und alle darauf fußenden Rechtssetzungsakte zwar innerhalb des Mandatsgebietes als wirksam, völkerrechtlich jedoch als schwebend unwirksam und erst durch die endgültige Regelung des Friedensvertrages von Lausanne als geheilt. Zu den arabischen Vorwürfen gegen die Konferenz von San Remo s. 12. K a pitel.

18 King-Crane Report on the Near East, Editor and Publisher Vol. 55 Nr. 27 I I . Section, New York 2. Dezember 1922. Die Empfehlungen sind abgedruckt

in Hurewitz, Dok. 27; Antonius, Anhang Η; s. auch Marlow, S. 57.

19 Zum Grundsatz der Kontinuität der einheimischen Rechtsordnung im gegenwärtigen Völkerrecht s. WBVR, „Besetzung, kriegerische".

9. Kap. : Die Ergebnisse der Friedenskonferenzen

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2. Die „Historischen Grenzen" Palästinas Schrifttum:

H. F. Frischwasser - Ra'anaan, The Frontiers of a Nation (Lon-

don 1955); Z.Vilnay, The New Israel Atlas. Bible to Present Day (Jerusalem 1968); Atlas of Israel, herausgegeben vom Survey of Israel (Jerusalem - A m sterdam 1970). El-Abid, Gewalt und Frieden (vor 1. Kapitel) I I 5; Kayyali, Sionisme et expansionisme, T M , S. 141 ff.; ders. (Kayali), Die expansionistischen Machtinteressen des Zionismus (vor 1. Kapitel).

I n San Remo wurden die Mandate verteilt, aber die Grenzen des palästinensischen Mandatsgebietes und damit des jüdischen Nationalheims waren nicht genau gezogen worden. Dies mußte nachgeholt werden. Das Sykes-Picot-Abkommen w a r überholt, w e i l die türkischen Siege i m Norden andere Grenzen erforderten; weil Großbritannien und Frankreich sich i m Nordirak anders arrangierten 2 0 , und w e i l die Grenzen Palästinas gegenüber der ehedem für die Internationalisierung vorgesehenen „Braunen Zone" 2 1 neu gezogen werden mußten. Das Problem der Grenzen beschäftigte Engländer, Franzosen und Zionisten noch mehrere Jahre und wurde durch eine Reihe von Abkommen beigelegt. Während des palästinensischen Feldzuges hatten Großbritannien und Frankreich die türkisch-arabischen Gebiete zunächst unter sich verwaltungsmäßig aufgeteilt, wie es ungefähr der Aufteilung nach dem SykesPicot-Abkommen entsprach. Frankreich errichtete i m Küstenstreifen von Tyrus bis Alexandrette (heute Iskanderun) eine Militärverwaltung; i m Inneren Syriens errichtete Feisal eine Verwaltung; der Rest wurde britisches Verwaltungsgebiet. Formell blieben die drei Militärverwaltungsgebiete dem britischen Befehlshaber Allenby unterstellt. I n der englischen Literatur werden die Gebiete als O. E. T. A. (Occupied Enemy Territory Administration) South, East und North bezeichnet. Wie aber sollten Palästina und damit der Bereich der Nationalheimpolitik umrissen werden? Wo lagen die „Historischen Grenzen" Palästinas? „Palästina" war vor der Mandatszeit kein politisch-geographisch festumrissener Begriff. I n biblischer Zeit umfaßte „Falastin" nur die von den Gegnern der Juden, den Philistern, bewohnte Küstenebene u m das heutige Askalon und Aschdot. I n türkischer Zeit w a r das spätere Palästina auf verschiedene Verwaltungsbezirke aufgeteilt 2 2 und geographisch wurde es als Südteil Syriens verstanden. Die Juden sprachen i n der rabbinischen Literatur, also seit der Zerstörung des 2. Tempels 70 nach Christus und seither von „Eretz Israel"; vor der Balfour-Erklärung waren die genauen Grenzen jedoch zweit20 Insbesondere die Abgrenzung des Mossulgebietes war jahrelang nach allen Seiten hin strittig, s. etwa Q. Wright , The Mosul Dispute, 26 A J (1926), S. 453 ff. 21 4. Kapitel. 22 7. Kapitel 2. 10*

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3. Teil : Die Regelung Palästina auf den Friedenskonferenzen

rangig. Soweit die zionistischen Klassiker sich m i t Palästina befaßten, blieben sie vage; solange das gesamte Gebiet türkisch war, arabische Staaten nicht einmal projektiert waren und kein arabischer Nationalismus ins zionistische Blickfeld trat, bestand kein Bedürfnis für genaue Grenzen. Damals fielen Worte wie „vom N i l bis zum Euphrat" 2 3 , die Arabern als Beweis für einen dem Zionismus inhärenten Expansionismus dienen. Die territorialen Vorstellungen der Zionisten vor der Mandatszeit orientierten sich an drei ganz verschiedenen Schemata: die den Zwölf Stämmen zugewiesenen Gebiete 24 ; die tatsächliche jüdische Besiedlung i n biblischer, hellenistischer und römischer Zeit; die Grenzen jüdischer Reiche, insbesondere unter Saul, David oder Salomon 25 , manchmal auch die Reiche der Hasmonäer und Herodes 26 . Die wahrscheinliche Ausdehnung dieser Gebiete mag die Karte zeigen; gemeinsam ist all diesen Reichsgedanken, daß sie erheblich über die Grenzen des Palästina der Mandatszeit hinausgehen: das den 12 Stämmen zugewiesene Gebiet erfaßt den gesamten Libanon und das bewohnbare Syrien und Trans jordanien; Sauls Königreich erfaßte einen Teil von Transjordanien; Salomons Reich Teile von Syrien und dem Libanon und das Reich Davids erstreckte sich bis zum Euphrat unter Einschluß des heutigen Syriens. Auch die hasmonäischen Reiche und das Königreich von Herodes erstreckten sich tief ins heute arabische Gebiet. Zumindest die zionistischen Maximal Vorstellungen orientierten sich an den jeweils am weitesten vorgeschobenen Grenzen. Grundlage der Diskussionen auf den Friedenskonferenzen wurde das Zionistische Memorandum vom Februar 1919 27 ; die Karte gibt hiervon eine Vorstellung 2 8 . Gegenüber dem späteren Mandatsgebiet erfaßte dieses Memorandum vor allem den Süden des heutigen Libanon m i t dem Westabhang des Hermon; u m dieses Gebiet kämpften die Zionisten erbittert, um die Jordanquellen und den Unterlauf des Litani-Flusses in ihre Gewalt zu bekommen 29 . Vom heutigen Syrien sollte der jüdische Staat die Golanhöhen erfassen; von Transjordanien fast das gesamte bewohnbare Gebiet einschließlich des Jarmuktals bis zur Wüste oder zur Hedschas-Bahnlinie. I m Süden sollte schließlich der Negev einschließlich Akaba, i m Westen der heutige Gaza-Streifen erfaßt werden. 23

Herzl. Das Wort selbst entstammt der Bibel. Vilnay 78; Atlas I X 3 D. Karte. 25 Vilnay, 79 ff.; Atlas I X 3 E, F; I X 4 Α, Β und folgende; Karte. 28 Vilnay; Atlas I X 4 und I X 5, I X 6, I X 7. 27 8. Kapitel 1 Anm. 1; im Memorandum die entsprechenden Teile über Grenzen. Eigene Vorstellungen entwickelte Meinertzhagen (vor IV. Teil), S. 65. 28 Karte 4. 29 Hierzu 24. Kapitel. 24

. Kap. : Die

g e i e der Friedenskonferenzen

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Die Zionisten verloren an zwei Fronten: — Das Ostjordangebiet war bereits von Feisal, später von Abdulla i n Besitz genommen worden, die damit vollendete Tatsachen schufen. Großbritannien hatte sich zwar auch über Transjordanien das Mandat zugesprochen, und juristisch gesehen lag nur ein Mandat für Palästina und Transjordanien vor. Großbritannien trug der veränderten Lage Rechnung, indem es i m August 1921 nachträglich in den Entwurf über das Palästinamandat eine Klausel über Abtrennung Transjordaniens, genauer: über die mögliche Nichtanwendung der Bestimmungen über das Nationalheim aufnahm (Art. 25 PM). Zwar blieb für beide Gebiete der Hohe Kommissar in Jerusalem zuständig; Großbritannien machte jedoch von A r t . 25 P M Gebrauch; der Völkerbundrat stimmte dem Prinzip zu. Großbritannien verstand diesen Ausschluß i n der Folgezeit dahingehend, daß sowohl jüdische Einwanderung wie jüdischer Landerwerb i n Transjordanien untersagt seien. Südlich des Toten Meeres folgte die Grenze zunächst dem Wadi Arawa und verlief in den Golf von Akaba, wobei insbesondere der Hafen Akaba vom projektierten jüdischen Gebiet ausgeschlossen blieb. Akaba mit der Provinz Maan wurde Transjordanien zugeschlagen; die Hechtslage des Gebietes blieb lange strittig zwischen Saudisch-Arabien und Großbritannien, s. WBVR, „Akaba und Maan"; Bloomfield (vor 22. Kapitel 3), Kapitel 14; Frischwasser-

Ra'anaan, S. 35 ff.

Die Zionisten haben den Ausschluß Transjordaniens stets als eine Verletzung der völkerrechtlichen Pflichten Großbritanniens angesehen; der Alliierte Rat in San Remo habe Großbritannien das gesamte Gebiet zur Errichtung des Nationalheims zugewiesen. Dennoch stimmte die Zionistische Organisation zu: zu dieser Zeit hatte der Völkerbundsrat die Mandatsverteilung noch nicht genehmigt, völkerrechtlich gesprochen war Palästina noch kriegerisch besetztes Gebiet des Ottomanischen Reiches. I m übrigen waren die Anhaltspunkte für die Zionisten gering: die wenigen Versuche jüdischer Siedlungen i m Ostjordanland (abgesehen vom Hauran und den Golanhöhen) waren gescheitert; 1921 sollen i n Transjordanien nur zwei Juden gelebt haben. Die Zionisten hofften jedoch, die Frage der Besiedlung wieder aufrollen zu können; das Einwanderungsverbot für Juden schloß dies jedoch aus. I n der Folgezeit griffen die Zionisten immer stärker diese Abtrennung an; das Verbot jüdischer Einwanderung und jüdischen Landerwerbs bezeichneten sie als eine Diskriminierung nach Rasse und Religion, die nach dem für Trans jordanien geltenden Mandat untersagt wäre, unabhängig vom Nationalheim. Die Ständige Mandatskommission des V B hat diese Sicht übernommen — wie Großbritannien den Schutz jüdischer Siedler i n Trans jordanien hätte gewähren sollen, sagte die Kommission nicht. Für extremistische zionistische Gruppen wurde der Einschluß Transjordaniens i n das Nationalheim — i n den jüdischen Staat, wie sie es sahen —

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3. T e i l : Die Regelung Palästina auf den Friedenskonferenzen

immer mehr zur wichtigsten Forderung 3 0 , obwohl i h r Vertreter, Jabotinski, dem Ausschluß Transjordaniens zunächst zugestimmt hatte. 1925 gründeten sie deshalb ihre eigene Partei, die Revisionistische Partei: sie kämpfte für die entsprechende Revision des Mandates 31 . I m zionistischen Schrifttum w i r d schließlich die Ansicht vertreten, daß innerhalb des größeren Gebietes von Palästina und Transjordanien eher ein Bevölkerungstausch möglich gewesen wäre, insbesondere angesichts der geringen Besiedlung Transjordaniens. — I m Norden wurden die Grenzen zwar gegenüber der früheren „Braunen Zone" zugunsten der Zionisten verschoben, sie blieben jedoch hinter den Grenzen des Memorandums zurück. Hier fielen die britischen und die zionistischen Interessen nach einer Zurückdrängung des französischen Mandats über Libanon und Syrien zusammen; die arabische Seite hat es hier nur französischem Imperialismus zu danken, daß die Zionisten ihre nördlichen Ziele nicht erreichten. Bei den Verhandlungen gebrauchten die britischen Politiker m i t Vorliebe die biblische Wendung „von Dan bis Beerscheba", wenn es auch fraglich ist, was sie sich unter „Dan" vorstellten 3 2 . I n den Grenzabkommen von 1920 und 192333 erhielt das Mandatsgebiet seine Grenzen gegen Syrien und den Libanon. Danach blieben der heutige Südlibanon m i t dem L i t a n i und die Quellen von zwei Quellflüssen des Jordans (Hasbani und Banias) i m libanesischen und syrischen Gebiet; Syrien erhielt bestimmte Zugangsrechte zum Oberlauf des Jordans und dem Tiberiassee und der größere Teil des Jarmuks blieb außerhalb des Palästinamandats. Auch i m Norden versuchten die Zionisten die ihnen ungünstige Grenzziehung zu unterlaufen und i m Südlibanon jüdische Siedlungen anzulegen. Frankreich ließ dies nicht zu. Juden konnten zwar ungehindert i m Libanon siedeln; eine Irredenta an der Grenze verhinderte Frankreich jedoch. Gegenüber dem Sinai-Gebiet blieb es bei der historischen Grenze der Linie Rafah-Taba (ungefähr das heutige Elat). Zu dieser Grenze s. Frischwasser Ra'anaan, S. 35 ff.; Bloomfield (vor 22. Kapitel 3), Kapitel 14 ff.; Cmd. 3006 von 1906; die Ansicht von Bloomfield, die ägyptische Souveränität habe sich nie auf das Sinaigebiet erstreckt (Kapitel 16), ist unhaltbar.

Nach dem „historischen Recht" der Juden auf Palästina 3 4 erschwert nichts die Diskussion m i t den Arabern so wie die Formel von den „historischen Grenzen". Für den Araber ist dies lediglich die programmierte 30 s. etwa J. Schechtmann, Transjordanien im Bereiche des Palästinamandats (Wien o. J., ungefähr 1936). 31 1. Kapitel 4 c (Nachweise). 32 Dan galt als nördliche, Beerscheba als südliche Grenze der wirklichen Besiedlung. Wieweit Dan geographisch lokalisierbar ist (etwa in der Gegend der heutigen Siedlung Dan) scheint strittig zu sein, s. etwa JL und EJ „Dan".

Zu den Verhandlungen s. Halpern, S. 296. 33 34

Cmd. 1910 von 1922 und Cmd. 1195 von 1923. 1. Kapitel 2 c.

. Kap. : Die

g e i e der Friedenskonferenzen

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Expansion, und der Expansionismus ist einer der Hauptvorwürfe gegen den israelischen Staat 35 . Gegen diese „historischen Grenzen" bringen die Araber vor allem vor: — Die Formel ist äußerst unbestimmt, und die Zionisten haben sich nie genau festgelegt, welche historische Gestalt für ihre Ziele verbindlich sein soll. I n der Tat zeigt ein Blick auf die Karten, daß die Grenzen von den göttlichen Versprechungen an die 12 Stämme über die Reiche von Saul, David, Salomon bis zu Herodes extrem variierten. So wie die Araber es sehen, legen die Zionisten alle diese Karten aufeinander und zeichnen — unter Eliminierung des Zeitfaktors — die insgesamt weitesten Grenzen („vom N i l bis zum Euphrat"). — Welcher geschichtliche Umfang auch immer zugrundegelegt wird, die Juden hätten das Gebiet zu keiner Zeit voll in ihrem Besitz gehabt: z. B. konnten sie die Mittelmeerküste nie den Philistern und Phöniziern entreißen. — Wie immer auch die Grenzen verlaufen seien — was i n biblischen Zeiten überhaupt Grenzen gewesen wären — die Juden hätten diese Gebiete nie allein besiedelt. Selbst die jüdischen Karten zeichneten in diese Reiche die Namen anderer Völker ein wie etwa der Nabbatäer, der Aramäer u. a., also Araber oder später arabisierte Völker. Diese Gebiete seien — wie etwa das Ostjordanland, Teile des Negevs und Syrien — i n moderner Terminologie tributpflichtig gewesen, mehr nicht. Davids Reich z. B. sei i m heutigen Syrien eine Fremdherrschaft gewesen, die die Aramäer unter Salomon abschütteln konnten. — Die Unsicherheit w i r d verstärkt, weil die Juden zu keiner Zeit nur innerhalb ihrer jeweiligen politischen Gemeinwesen siedelten, sondern weil auch i n den umliegenden Gebieten große jüdische Kolonien ansässig waren. Seit hellenistischer Zeit wohnte der weitaus größere Teil des jüdischen Volkes außerhalb Palästinas. Nicht nur gab es seit der Zeit des babylonischen Exils große jüdische Siedlungen zwischen Euphrat und Tigris, sondern auch i m heutigen Syrien, i m Ostjordanland und i n Arabien war der jüdische Anteil groß. Nordarabien und Medina waren vor der Islamisierung i n so hohem Maße vom Judentum durchdrungen, daß manche Forscher einen Übergang der damaligen arabischen Welt zum Judentum i m Bereich des Möglichen sahen. Diese rund um Palästina liegenden jüdischen Siedlungen unterstanden meist, der damaligen politischen Situation entsprechend, oft keiner anderen Oberhoheit und können so, mit einiger Phantasie, als zu Eretz Israel gehörig reklamiert werden. 35

Statt aller s. 1. Kapitel 1 Anm. 1.

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3. T e i l : Die Regelung Palästina auf den Friedenskonferenzen

Die Araber sind fest davon überzeugt, daß Israel in diese Gebiete expansionieren w i l l . Liest man die Literatur, so besteht kein Grund, an dieser Überzeugtheit zu zweifeln und sie als Propaganda abtun zu wollen. Der Leiter der Palästinensischen Delegation bei den VN, Issa Nakla, formulierte nur die Ansicht vieler Araber: "Le programme colonialiste sioniste n'est pas achevé par l'occupation des 80 °/o de la superficie de la Palestine. Les sionistes aspirent à l'établissement du 'Grand Israel·, qui i n d u r a toute la Palestine, la Jordanie, la Syrie, le Liban, L'Irak, la péninsule de Sinai et la ville sainte islamique de la Mecque 36 ." Für diese Sicht stützten sich die Araber: — auf die sich ausdehnenden Grenzen von den Friedenskonferenzen (nur von „Dan bis Beerscheba") über die Teilungspläne von Peel bis UNSCOP, Staatsgründung und Grenzen nach dem Krieg 1967; — auf das — wie sie es sehen — aggressive Verhalten Israels i n den zahllosen Grenzzwischenfällen, dem Angriffskrieg 1956, dem Krieg 1967; — dem Ziel, alle Juden, also ungefähr 16 Millionen, i n Israel anzusiedeln; — dem Beharren Israels auf den eroberten Gebieten 1967 und der j ü d i schen Besiedlung (El-Arisch, Hebron, Golan-Höhen, Jerusalem); — und insbesondere auf die Reden der zionistischen Politiker von den „historischen Grenzen". I n der Tat haben zahlreiche zionistische Politiker, von Herzl über Weizmann bis zu Ben Gurion Gebiete außerhalb der Vorkriegsgrenzen von 1967 zum historischen Heimatland erklärt; arabische Autoren haben diese Formulierungen alle getreulich gesammelt und veröffentlicht 37 . Sie verweisen darauf, daß Ben Gurion 1956 das Sinaigebiet als jüdisches Heimatland bezeichnet hat, in das die Juden zurückgekehrt seien. Sie verweisen darauf, daß es angesichts der Besiedlungsweise in biblischer Zeit einfach wäre, irgendwelche Gebiete als „Heimat der Vorväter" zu bezeichnen. So bestand etwa auf der Insel Tiran i n byzantinischer Zeit während ungefähr 80 Jahren eine autonome jüdische Gemeinde 38 . Nach den Kriegen 1956 und 1967 hat Israel Tiran besetzt und mit seinem damaligen jüdischen Namen „ Jotaba" benannt. Sie verweisen darauf, das in Israel die expansionistischen Kräfte, insbesondere die „Bewegung für Groß-Israel" unter Berufung auf diese historischen Grenzen die 1967 eroberten Gebiete annektieren w i l l . Denn, so argumentieren diese Kräfte, wenn die Juden kein historisches Recht auf Hebron und Jericho, auf Nablus und Jenin haben, wieso hätten sie es dann auf Jaffa und Lod? 36 37

38

T M , S. 164. Angaben vor 9. Kapitel 2.

s. Avi-Yonah (1. Kapitel 2 c Anm.) s. 236 f.

. Kap. : Die

g e i e der Friedenskonferenzen

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Der Westeuropäer neigt dazu, extremistische Forderungen nicht allzu ernst zunehmen 39 . Daß derartige historische Reminiszenzen brisant werden können, haben deutsche Geschichtsbetrachtungen über Mömpelgard und Nowgorod gezeigt. Jedenfalls sind die „historischen Grenzen" i n arabischen Ohren ein politisch brisantes Faktum, das die Diskussion belastet.

39 Auch die Moslemische Bruderschaft soll mitunter Andalusien für die Araber reklamieren.

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T H E LAND OF

I S R A E L DURING THE TIME OF SOLOMON Scale of Miles 20 20

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Kilometer·

Karte 5 Repräsentatives Beispiel einer zionistischen Rekonstruktion der „historischen Grenzen" Israels nach der Ausdehnung unter Salomon (aus: W. Ziff,

The Rape of Palestine, New York 1938, London 1948)

. Kap.: Die

g e i e der Friedenskonferenzen

Karte 6 Beispiel einer extrem-expansionistischen, in Israel veröffentlichten Karte, in antizionistischer Schrift übernommen (aus: Lobel, Geries, vor 27. Kapitel)

Vierter

Teil

D i e Institutionalisierung des Konflikts : D i e Mandatszeit 1920 — 1948 Schrifttum: Allgemeine Darstellungen: insbesondere: Chr. Sykes , Crossroads to Israel (London 1965); J. Marlowe , The Seat of Pilate. A n Account for the Palestine Mandate (London 1959) ; J. C. Hurewitz , The Struggle for Palestine (New York 1950); Η. Sidebotham , Great Britain and Palestine (London 1937). Ferner: Μ . Hyamson, Palestine: A Policy (London 1942); ders., Palestine under the Mandate (London 1950); A. Revusky , Jews in Palestine (New York 1945); P. L. Hanna, British Policy in Palestine (Washington, D. C. 1942); Ν. N. Barbour, Nisi Dominus: A Survey of the Palestine Controversy (London 1946); J. Cohn, England und Palästina (1931); Great Britain and Palestine 1915 - 1936 (Royal Institute of International Affairs, London 1937) ; M. F. Abcarius, Palestine through the Fog of Propaganda (London 1946); F. F. Andrews, The Holy Land under the Mandate, 2 Bde. (Boston - New York 1931). Memoiren: R. Storrs, Orientations (London 1937); F. H. Kisch, Palestine Diary (London 1938); R. Meinertzhagen, Middle East Diary 1917 - 1956 (London 1959); N. and H. Bentwich, Mandate Memories 1918 - 1946 (London 1965). Arabische und pro-arabische Darstellungen: J. Μ. Ν. Jeffries, Palestine the Reality (London 1939); G. Antonius, The Arab Awakening (London 1938); ferner: die arabischen Memoranden und Petitionen an die Ständige Mandatskommission des VB. Antizionistische Darstellungen : G. Wirsing, Engländer, Juden, Araber in Palästina (1938). Sammelbände: Palestine. A Decade of Development. The Annals of the American Academy of Political and Social Science, Bd. 164 (Philadelphia 1932); P. Goodman (Herausgeber), The Jewish National Home (London 1943). Dokumente : Völkerbund: Minutes of the Permanent Mandates Commission (französisch: Procès-Verbaux des Sessions de la Commission Permanente des Mandats). Mandatsmacht: Materialien: N. Bentwich, Legislation of Palestine 1918 - 1925 (Alexandria 1926); R. Η. Drayton (Hrsg.), The Laws of Palestine (London 1934); E. L. Woodward and R. Butler (Hrsg.), Documents on British Foreign Policy 1919 - 1939 (London 1952). Cmd. 1540 von 1921, Report of the Commission of Inquiry on Disturbances of May, 1921 (Haycraft-Kommission). Cmd. 1700 von 1922, Palestine. Statement of Policy (Churchill Memorandum). Cmd. 1989 von 1923, Palestine: Proposed Formation of an Arab Agency. Cmd. 3229 von 1928, Incidents at the Wailing Wall, 1928. Cmd. 3530 von 1930, Report of the Commission of the Palestine Disturbances, 1929 (Shaw-Kommission). Cmd. 3582 von 1930, Palestine State-

4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

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ment of Policy. Cmd. 3686 von 1930, Palestine: Report on Immigration, Land Settlement and Development (Hope-Simpson-Bericht). Cmd. 3692 von 1930, Palestine: Statement with regard to British Policy (Passfield White Paper). Cmd. 5479 von 1937, Palestine. Royal Commission Report (Peel-Bericht). Cmd. 5119 von 1936, Prosposed New Constitution for Palestine. Cmd. 5513 von 1937, Palestine. Statement of Policy. Cmd. 5854 von 1938, Palestine Partition Commission, Report (Woodhead-Kommission). Cmd. 5893 von 1938, Palestine. Statement of Policy. Cmd. 6019 von 1939, Palestine. Statement of Policy (The White Paper of 1939). Cmd. 6180 von 1940. Palestine. Transfer Regulations. Cmd. 6808 von 1946. The Anglo-American Committee of Inquiry, Final Report. Cmd. 6873 von 1946, Information Relating to Acts of Violence. Cmd. 7044 von 1947. Proposals for the Future of Palestine. Ferner: A Survey of Palestine Prepared in December, 1945 and January, for the Anglo-American Committee of Inquiry, 4 Bde. (The Government of Palestine, Jerusalem 1946 - 47). Ferner Berichte, veröffentlicht als „Report of the Mandatory Power", als Report on Palestine and Transjordan to the Council of the League of Nations of the High Commissioner (von 1923 - 1939); „Report on the Administration of Palestine" (ab 1920). Parliamentary Debates, House of Lords and Commons, z. T. im Text.

U.S.A.: United States Senate Committee on Foreign Relations 66th Congress 1919; Hearings before the Committee on Foreign Affairs House of Representatives, 78th Congress sec. session (Resolutions relative to the Jewish National Home in Palestine) February 1944.

Dokumente der Zionistischen Organisation und der Jewish Agency: Zahlreiche Memoranden an die Britische Regierung, insbesondere regelmäßige Memoranden unter dem Titel: The Development of the Jewish National Home in Palestine: Memorandum submitted to Η . Μ . Government by the Jewish Agency for Palestine; jährliche Memoranden für die Ständige Mandatskommission (als: Memorandum on the Development of the Jewish National Home, submitted by the Jewish Agency for Palestine to the Secretary-General of the League of Nations for the Information of the Permanent Mandates Commission), jährlich von 1924- 1939; Petitionen an die Ständige Mandatskommission; Memorandum in besonderen Fällen (z.B.: Memorandum on the Western Wall, submitted to the Special Commission of the League of Nations on behalf of the Rabbinate, the Jewish Agency for Palestine, the Jewish Community of Palestine (Knesseth Israel), and the Central Agudath Israel. (Palestine, Juni 1930) ; z . T . gesondert veröffentlicht, z.B.: The Jewish Case against the Palestine White Paper (Jewish Agency for Palestine, London Juni 1939) ; Memoranden an den Völkerbundrat; Memoranden an die Kommissionen, insbesondere: Palestine: Land, Urban Development and Immigration. Memorandum submitted to Sir John HopeSimpson, Special Commissioner of Η . M. Government, Juli 1930; Memorandum submitted to the Palestine Royal Commission on behalf of the Jewish Agency for Palestine, November 1936 ; The Historical Connection of the Jewish People with Palestine. Memorandum submitted to the Palestine Royal Commission on behalf of the Jewish Agency for Palestine (Jerusalem 1936); The Jewish

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4. T e i l : Die Mandatszeit 1920 - 1948

Case before the Anglo-American Committee of Inquiry on Palestine. Statements and Memoranda (The Jewish Agency for Palestine, Jerusalem 1947); Political Survey 1946 - 1947, Memorandum submitted to the U N Special Committee on Palestine (The Jewish Agency for Palestine. Memoranda and Statements presented by the Jewish Agency for Palestine to the U N Special Committee on Palestine, Jerusalem 1947; Veröffentlichungen gegen die Kommissionsberichte und Regierungserklärungen, insbesondere: L. Stein, Memorandum on the „Report of the Commission on the Palestine Disturbances of August 1929, Jewish Agency for Palestine, London 1930; ders., Memorandum on the Palestine White Paper of the British Government of October 1930; The Statistical Bases of Sir John Hope-Simpson's Report on Immigration, Land Settlement and Development in Palestine, M a i 1931; Agricultural Development and Land Settlement in Palestine: Observations by the Jewish Agency on Mr. Lewis French's Report, 1933; L. Stein, Promises and Afterthoughts, Notes on certain White Papers relating to the Palestine Conferences (Jewish Agency for Palestine, M a i 1939) ; Arabische Exekutive und Arabisches Hohes Komité: s. 12. Kapitel. Zum 2. Weltkrieg: Playfair, Molony, Flynn and Gleeve, History of the Second World War, Bd. 4, „The Mediterranean and the Middle East" (London 1966); L. Hirszowicz, The Third Reich and the Arab East (London 1966).

Zehntes

Kapitel

D i e Ereignisse w ä h r e n d der Mandatszeit 1. Allgemeine Beurteilung Großbritannien h a t t e seine Z i e l e erreicht. Es beherrschte m i t verschiedenen M e t h o d e n d e n V o r d e r e n O r i e n t v o n Ä g y p t e n b i s I n d i e n . D a b e i w a r gleich, ob e i n G e b i e t n o m i n e l l u n a b h ä n g i g w a r oder n i c h t . So w a r e t w a T r a n s j o r d a n i e n , später J o r d a n i e n , der s t ä r k s t e P f e i l e r des b r i t i schen I m p e r i a l i s m u s i m V o r d e r e n O r i e n t 1 . E i n t o t a l l e b e n s u n f ä h i g e r Staat, d ü n n besiedelt, aber v o n A k a b a bis i n s M o s s u l g e b i e t reichend, bis 1956 v ö l l i g v o n b r i t i s c h e n S u b s i d i e n a b h ä n g i g , m i t der e i n z i g s t a a t s t r a genden M a c h t , d e r A r m e e aus b e d u i n i s c h e n A n a l p h a b e t e n m i t b r i t i s c h e n Offizieren u n d britischem K o m m a n d e u r zur stärksten militärischen E i n h e i t d e r arabischen L ä n d e r 2 g e f o r m t , w a r d e r b r i t i s c h e E i n f l u ß n a h e z u absolut. 1 R. Patai, The Kingdom of Jordan (Princeton 1958); Abd Allah ibn Hussein, The Memoirs of King Abdullah of Transjordan (New York 1950); ders., M y Memoirs Completed (Washington 1954). 2 Sir J. Bagot Glubb, A Soldier with the Arabs (London 1959); P. J. Vatikiotis, Politics and the Military in Jordan. A study of the Arab Legion 1921 - 1957 (London 1967); darüber, daß bis 1956 Glubb und der britische Botschafter Jordanien regiert haben s. H. M. King Hussein of Jordan, Uneasy lies the Head. Autobiography (London 1962).

10. Kap.: Die Ereignisse während der Mandatszeit

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A u f andere Weise, aber genauso wirkungsvoll, beherrschte Großbritannien Palästina, und i m 2. Weltkrieg wurde das Gebiet zu einem w i r t schaftlichen und logistischen Stützpunkt der Alliierten. Insoweit war die britische Politik erfolgreich. Verengt man jedoch den Blick und besieht ausschließlich die Mandatspolitik, so hatte Großbritannien eine undankbare Rolle. Viele Engländer haben dies bereits nach dem 1. Weltkrieg vorausgesehen. Aber die meisten erwarteten doch Dankbarkeit von allen Seiten. Hatte doch ihre Armee die Araber vom „türkischen Joch" befreit 3 . Ihre Verwaltung schuf erstmalig geordnete Verhältnisse. Nach europäischen Vorstellungen herrschten vorher nur Chaos, Despotismus und Willkür, Stagnation und Elend. Hier führten Europäer eine Rechtspflege ein, die erstmalig diesen Namen überhaupt verdiente; hier schufen sie erstmals einen Gesundheitsdienst; hier führten sie ein i m Mittelalter zurückgebliebenes Gebiet und seine Bevölkerung in lebenswürdige Verhältnisse. Kurz, Großbritannien und Frankreich glaubten, daß sie nach Vertreibung der Türken die Einwohner zivilisatorisch und verwaltungsmäßig beglücken würden. I n ihrer milden Oberaufsicht sahen sie keine Beschränkung der Unabhängigkeit oder gar einen Wortbruch früherer Versprechen, sondern nur die conditio für alle diese Segnungen 4 . Der Erfolg ließ sich schließlich augenfällig ablesen, wenn man europäische Maßstäbe anlegte und z. B. statistisch die Fortschritte des Gesundheitsdienstes, die Hebung des materiellen Lebensstandards und die Übernahme westlicher K u l t u r durch die Oberschicht aufzeigte. Nun ist diese Täuschung inzwischen erkannt. Noch kein Volk hat sich „die K u l t u r bringen" lassen und dies noch dankbar anerkannt. Und wie immer man „objektiv" die Fortschritte messen mag — dies hängt von der durchaus subjektiven Wahl der Maßstäbe ab — die als politische Unfreiheit empfundenen Beschränkungen scheinen dies alles aufzuwiegen. Es gehört wohl zu den psychologischen Beschränktheiten, daß die Europäer, die gerade erst Nationalismus und 3 z.B. Balfour in einer Rede 1920: " I hope they (die Araber) will remember t h a t . . . Great Britain (has) forced them, the Arab race, from the tyranny of their brutal conqueror, who has kept them under his heel for many centuries. I hope they will remember it is we who have established the independent Arab sovereignty of the Hedjaz. I hope they will remember it is we who desire in Mesopotamia to prepare the way for the future of a self-governing, autonomous Arab State. And I hope that, remembering all that, they will not grudge that small niche- for it is not more geographically in the former Arab territories than a niche-being given to the people who for all these hundreds of years have been separated from it, but who surely have a title to develop on their own lines in the land of their forefathers." 4 "Intelligent misapprehension: that men living in lands desolated by cynical misrule would prefer sound administration as the reward of victory, to the prestige of national independence, a blessing which, certainly in early stages, can confer nothing much more on the desparately needy people concerned than the privilege of looking at a new flag and listening to the banging of indigenous military bands" (Sykes, Crossroads)-

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4. T e i l : Die Mandatszeit 1920 - 1948

nationale Souveränität nahezu absolut gesetzt hatten und hierfür auch zu jedem Opfer bereit waren, dieses Gut bei anderen Völkern nicht in Ansatz brachten. Und es gehört wohl zur menschlichen Schizophrenie, daß die meisten Völker sich selbst als idealistisch i n dem Sinne begreifen, daß materielle Dinge für sie nicht der oberste Maßstab seien — daß aber noch alle Beherrschungsverhältnisse damit gerechtfertigt werden, daß es den Beherrschten doch „besser gehe" als den i n anderen Staaten Lebenden: den US-Farbigen besser als afrikanischen Negern; den südafrikanischen Negern besser als den i n unabhängigen Negerstaaten. So meinten die Mandatsmächte, daß es den Arabern Syriens und Palästinas besser gehe als vorher oder als in Saudisch-Arabien, insbesondere und gerade durch die Entwicklung des jüdischen Nationalheims 5 . Und dieses Argument bringen heute die Israeli gegenüber den israelischen Arabern vor, obwohl ihre staatsgründende Ideologie auf der inneren Knechtschaft der zwar materiell gutgestellten aber nicht zu politischer Selbstbestimmung fähigen assimilierten Juden beruht. I n Palästina wurde die schwierige Lage einer Mandatsmacht noch komplizierter durch die Politik des jüdischen Nationalheims. Großbritannien scheint der uns heute unverständlichen Täuschung unterlegen zu sein, es könnte Palästina aus einem moslemischen und arabisch sprechenden Land auf friedlichem Wege zu einem jüdischen und hebräisch sprechenden Land umformen. Trotz vieler Anzeichen wurde der arabische Nationalismus nicht ernst genommen, weil er noch keine Volksbewegung war. Man glaubte ernsthaft, die m i t dem westlich-jüdischen Aufbau verbundenen materiellen Vorteile könnten die Araber m i t der Umwandlung ihres Gebietes i n einen jüdischen Staat versöhnen. Großbritanniens Rolle wurde vor allem deshalb undankbar, weil beide Seiten unvereinbare und sich total widersprechende Forderungen stellten. Juristisch gesprochen sahen beide Seiten bestimmte Formulierungen als ihre Charta an, die sie extrem für sich auslegten. Beide Seiten waren so von ihrem Recht überzeugt, daß sie auch nur die geringste Berücksichtigung der anderen Seite als Felonie und Zeichen unversöhnlicher Feindschaft auffaßten. Beide Seiten hatten sich so in die extreme Interpretation ihrer Chartas hineingesteigert, daß sie jeden Abstrich m i t der extremen Feindschaft der Gegenseite identifizierten. Charta der Araber waren die Erklärungen der Alliierten, die die Araber als Verheißung des Selbstbestimmungsrechts und der nationalen Unabhängigkeit verstanden. Dies konnte nur die nationale arabische 5 "Speech after Speech this afternoon ... has shown not only what an immense thing this has been to the world, but what it has brought in happiness, comfort, wealth and education to the Arab population of Palestine", aus dem britischen Parlament.

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Unabhängigkeit sein, hic et nunc und nicht nach einer ihnen aufgezwungenen Masseneinwanderung europäischer Juden 6 . Liest man die deutsche Literatur zwischen den Weltkriegen, so w i r d man diese Haltung verstehen: auch Deutschland hat zu seinen Gunsten die 14 Punkte Wilsons völlig anders ausgelegt als die Siegermächte 7 . Die deutsche politische Ideologie zwischen den Kriegen läßt sich so zusammenfassen, daß Deutschland 1918 nur i m Vertrauen auf diese 14 Punkte die Waffen niedergelegt habe; da diese nicht eingehalten worden seien, müsse die i n Widerspruch hierzu ergangene Neuregelung revidiert werden. Genauso argumentierten die Araber. Charta der Juden waren Balfour-Erklärung und Palästina-Mandat nach ihrer eigenen Auslegung. Viele Zionisten hatten sich i n die Vorstellung hineingesteigert, daß Mandatsregierung und Zionistische Organisation i n wenigen Jahren Palästina zu einem vollen jüdischen Staate ausbauen würden, alles unter Hintanstellung der arabischen Bevölkerung. Zweck des Mandates war es nach ihrer Vorstellung, die Balfour-Erklärung durchzuführen, und das hieß, den Judenstaat zu errichten. Nur hierzu habe die Völkergemeinschaft Großbritannien überhaupt das Mandat erteilt. Zwar versäumte kein Zionist, die Sicherung arabischer Rechte zu betonen. Sie haben dies auch durchaus ehrlich gemeint, denn als Gegensatz verstanden sie die i n Rußland durchlebten Pogrome und die europäischen Kolonialmethoden i n Amerika und Afrika. Nichts dergleichen lag den Zionisten i m Sinn; insofern verstanden sie sich m i t Recht als Humanisten. Kolonisation und Zionisierung Palästinas aber blieb es; für politische, völkische oder gar nationale Aspirationen der arabischen Bevölkerung blieb hier kein Raum. Nur die „ c i v i l rights" waren ihnen garantiert — was immer man sich darunter vorstellte —, keine politischen Rechte. Und es ist klar, daß Zionisierung des Landes nicht m i t einer Stärkung der arabischen Volksgruppe verbunden werden konnte. Kein Zionist wollte den Arabern ihre Ländereien unentgeltlich nehmen und die Bevölkerung ausrotten, wie es schließlich die amerikanische Kolonisation getrieben hatte. Aber sie wollten die Grundstücke kaufen bzw. aus Staatsländereien übernehmen. Sie forderten daher eine Rechtsordnung, wobei die zahlreichen Formen des islamischen Gemeinschaftseigentums weitgehend als Staatseigentum galten. Sie forderten ein Bodenrecht, das den zionistischen Landerwerb begünstigte. Umgekehrt betrachteten sie proarabische Maßnahmen der Mandatsregierung, etwa paritätische Vergabe von Staatsländereien an Juden und Araber oder auch nur die Vergabe von Kleinkrediten an arabische Bauern als nationalheimfeindliche Maßnahme, als Bruch völkerrechtlicher Verpflichtungen, als bösartigen A n t i 6 7

12. Kapitel. s. etwa WBVR, „Wilsons 14 Punkte".

11 Wagner

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Zionismus und Antisemitismus. Alle zionistischen Darstellungen der Mandatszeit, insbesondere der zionistischen Führer i n Palästina, zeigen dies. Erkennt man diese total gegensätzlichen Erwartungen, m i t denen beide Seiten an die Mandatsregierung herantraten, so sieht man die unmögliche Rolle der Mandatsregierung. Die Araber betrachteten BalfourErklärung, P M und Nationalheimpolitik für rechtswidrig und alle ihre gegen Juden und die Mandatsregierung gerichteten A k t e als Notwehr. Sie klagten die Mandatsmacht an, daß nur ihre Macht die jüdische Einwanderung, die Aggression aus ihrer Sicht, ermögliche. Was die Engländer als unparteilich, Chancengleichheit und fair ansahen, ermöglichte aber die ständige Vergrößerung der jüdischen Bevölkerung, den sukzessiven Ausbau des jüdischen Gemeinwesens und demzufolge die Verminderung der Rechte der arabischen Bevölkerung. Aus dieser Sicht mußten folgerichtig die Zulassung jüdischer Einwanderer unter britischem Schutz und Polizeiaktionen Aggression, mußten britische Todesurteile gegen arabische Bandenmitglieder Mord sein. U m gekehrt beschuldigten die Juden Großbritannien, seinen Verpflichtungen aus dem P M nicht nachzukommen. Die Zionisten interpretierten die britischen Verpflichtungen zum Aufbau des Nationalheims unbeschränkt; jede Einschränkung war Rechtsbruch; Maßnahmen wie Einwanderungsbeschränkungen rechtswidrig, ihre Maßnahmen zur illegalen Einwanderung gerechtfertigte Notwehr. I n der gesamten Mandatszeit entsprach nie eine Maßnahme den Erwartungen der einen oder anderen Seite, ob es sich nun u m eine Maßnahme großer Tragweite oder u m eine der laufenden Verwaltung handelte. Jedes Zurückbleiben hinter der vollen Erwartung, deren volle Erfüllung der fordernden Seite nur der selbstverständlichsten Gerechtigkeit entspringen zu schien, erschien ihr als Bruch rechtlicher Verpflichtungen und Bestätigung für die volle Identifizierung der Mandatsregierung m i t der Gegenseite. So sahen die Araber die Mandatsregierung als zionistisch und die Zionisten sie als Araberregierung an. I n der Folgezeit mußte Großbritanniens Stellung noch schwieriger werden. Die umliegenden arabischen Gebiete wurden schrittweise unabhängiger. Mag man diese Unabhängigkeit m i t einem Fragezeichen versehen und auf die fortdauernden Beherrschungsmöglichkeiten Großbritanniens hinweisen, den palästinensischen Arabern mußte diese politische Entwicklung als Fortschritt erscheinen. So war der Irak 1932 unabhängig und Mitglied des Völkerbundes geworden. Transjordanien, ein i n palästinensisch-arabischer Sicht weniger entwickeltes Gebiet, wurde zumindest nominell unabhängig. Auch Libanon und Syrien emanzipierten sich stärker. Statt der erwarteten Dankbarkeit erntete Großbritannien so von allen Seiten nur Feindschaft. Die Araber sahen von Anfang an i n der Mandatsverwaltung nur britischen Imperialismus und Kolonialismus und i n der

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Nationalh^impolitik eine koloniale Beherrschungstechnik 8 . Die p o l i tischen Vertreter der palästinensischen Araber wurden so zunehmend radikaler und antibritischer. 1936 entwickelte sich ihr Widerstand zu einem regelrechten Krieg gegen die britische Mandatsmacht. Die außerpalästinensischen Araber übernahmen diese Sicht. Statt Dankbarkeit für die Befreiung vom türkischen Joch zu ernten, mußte Großbritannien so sehen, wie seine Mandatsverwaltung unvorteilhaft m i t der türkischen Zeit verglichen wurde. Unter türkischer Herrschaft seien die palästinensischen Araber sogar politisch freier und das türkische System sei demokratischer gewesen. Auch die Dankbarkeit der Juden schlug i n dem Maße um, wie Großbritannien aus politischen Gründen mehr und mehr den arabischen Standpunkt berücksichtigen mußte. Dies konnte nur zu Lasten der Juden geschehen. Große Teile des Judentums haben kein Verständnis für die schwierige Lage Großbritanniens aufgebracht. Sie haben unbeirrt die britischen Maßnahmen an ihrer extremen Auslegung der Balfour-Erklärung gemessen und Großbritannien eines Bruchs seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen bezichtigt 9 . Großbritannien mußte erleben, wie bereits von Beginn der Mandatszeit an ein Teil der Zionisten i n Palästina antibritisch w a r und wie manche Zionisten die Mandatsmacht nicht anders betrachteten als sie die zaristische Regierung gesehen hatten, nämlich als Feind 1 0 . I n dem Maße, wie durch deutschen Antisemitismus die Lage der Juden kritischer wurde, erschien Palästina als einziger Zufluchtsort der Juden; die politische Entwicklung zwang Großbritannien, die jüdische Einwanderung und den Aufbau des Nationalheims zu verlangsamen. I m gleichen Maße wurde der zionistische Standpunkt härter. Immer mehr Zionisten übernahmen partiell die arabische Sicht, daß die Balfour-Erklärung n u r eine vorgeschobene Fassade für britischen Imperialismus wäre. Insbesondere der amerikanische Zionismus und m i t i h m das ganze amerikanische Judentum wurden zunehmend antibritischer; bereits die Titel der Bücher zeigen dies 11 . I n der Beurteilung der britischen Politik unterschieden sie sich immer weniger von antibritischen und antisemitischen Schriften, etwa deutscher Autoren zur Zeit des Dritten Reiches. I n dem Maße, wie die deutsche Judenvernichtung während des 2. Weltkrieges bekannt wurde, die j ü d i 8 "The Mandate was merely a cynical device... for promoting British 'imperialism' under a mask of humane consideration for the jews", aus dem PeelBericht. 9 Diese Vorwürfe haben auch die britischen pro-zionistischen Politiker ausgesprochen, wenn sie in Opposition zur Regierung standen. Auch die ständige Mandatskommission des Völkerbunds hat einige britische Maßnahmen als Verletzung des P M beurteilt.

10 11

z. B. Menahem Ussischkin. St. S. Wise and J. de Haas, The Great Betrayal, New York 1930; W. B. Ziff,

The Rape of Palestine (New York 1938, London 1948). 1*

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sehe Einwanderung nach Palästina aber weiterhin aufgrund des Weißbuches von 1939 reduziert blieb, verloren Teile des Zionismus jede Beherrschung und stellten Großbritannien m i t Hitlerdeutschland gleich. Jüdische Autoren scheuten vor keiner Absurdität zurück, u m ein Einverständnis zwischen Großbritannien und den für Auschwitz zuständigen deutschen Organen und eine gemeinsame deutsch-britische antijüdische Vernichtungspolitik zu konstruieren 1 2 . Die der Revisionistischen Partei nahestehenden Zionisten übernahmen Teile dieser Sicht 1 3 ; ihre militärische Organisation, die Irgun Zwei Leumi organisierte den Kampf gegen die britische Mandatsregierung m i t terroristischen Methoden. Aus der Psyche des Juden ist diese Entwicklung verständlich: er mußte hilflos zusehen, wie das jüdische V o l k i n Europa vernichtet wurde. Er sah Flüchtlingsschiffe zurückgewiesen und Aktionen zur Rettung von 20 000 jüdischen Kindern an der Einreiseverweigerung scheitern. Aber hier geht es u m die gleichfalls ausweglose Situation Großbritanniens, das Dankbarkeit erwartete und (z. T. maßlose jüdische) Feindschaft erntete. Auch die beiden Volksgruppen entwickelten sich immer stärker auseinander. Jede Gruppe versuchte, sich zu einem effizienten politischen Gemeinwesen zu entwickeln. Dies erreichten allerdings nur die Juden. Die Gründe scheinen uns klar: sie waren auf diese Aufgabe ideologisch vorbereitet, waren diszipliniert und verfügten über die entsprechenden Fähigkeiten. Sie nutzten die ihnen sich i m Mandatssystem bietenden Möglichkeiten 1 4 . Sie verfügten schließlich über finanzielle Hilfsmittel des Weltjudentums, denen die palästinensischen Araber nichts zur Seite zu stellen hatten. Und schließlich konnten sie ihre K r a f t auf den Aufbau adäquater Strukturen konzentrieren, während die Araber bestehende und inadäquate Strukturen hätten überwinden müssen, was i m Rahmen des Mandats kaum möglich gewesen wäre 1 5 . Demgegenüber blieben die arabischen Bemühungen unzulänglich. Aber die Separierung beider Volksgruppen war beidseitig. Z u m Verständnis der Literatur der Mandatszeit muß schließlich das apologetische Dogma aller Beteiligten erwähnt werden. Die heute einfache Erklärung, daß nämlich arabischer Nationalismus und Nationalheimpolitik unvereinbar waren, konnten weder Zionisten noch Engländer akzeptieren. 12 Nachman M. Bloch, Verbrechen des Imperialismus (Tel Aviv, Lieber Press, 1956). 13 Beispiel dieser Hysterie, die auch die Zionistische Organisation und die Jewish Agendy in die Ausschwitz-Kollusion einbezieht: Ben Hecht, Perfidy (New York 1961). 14 s. 14. und 15. Kapitel. 15 s. 14. und 15. Kapitel.

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Für die Zionisten hätte dies die Aufgabe des Zionismus, für die Engländer hätte dies den Verlust ihres Hechtstitels für ihre Präsenz i n Palästina bedeutet. Wie jedes Volk sein Geschichtsbild hat, m i t dem es sich bestimmte Ereignisse deutet und insbesondere i h m unangenehme Tatsachen verdrängt, so haben die Zionisten den arabischen Nationalismus geleugnet und die Briten die grundsätzliche Vereinbarkeit beider Aspirationen verteidigt. Die Zionisten bestritten nicht nur die Berechtigung eines palästinensisch-arabischen Nationalismus, sondern leugneten bereits seine Existenz. — Grundsätzlich stellten sie die Existenz eines arabischen Volkes in Frage. Es gebe kein arabisches Volk, sondern nur Ägypter, Transjordanier, Syrier usw. Dabei wurde einmal der Volksbegriff auf die Staatsangehörigkeit beschränkt, eine bloße Begriffsvertauschung, denn dann gab es selbstverständlich auch kein jüdisches Volk. Oder es wurde zwar Volk i m ethnischen Sinne verstanden, hier aber irgendein objektives Volkskriterium zugrundegelegt, nachdem auch die Juden kein Volk wären. Offensichtlich ist unbestreitbar, daß nicht alle arabisch-sprechenden Völker von den Arabern aus der arabischen Halbinsel abstammen und daß sie sich auch i n ihrem äußeren Erscheinungsbild erheblich unterschieden. Wie dargelegt 16 , mag man über den Volksbegriff streiten. Aber alle Einwände gegen ein arabisches Volk träfen i n genau derselben Weise auch gegen die Vorstellung eines jüdischen Volkes zu. Wie dargelegt, kommt es hierbei ganz auf das Bewußtsein der Gruppen an, die sich als Volk versteht, gleichgültig m i t welchen angeblich subjektiven Kriterien sie dies begründet. Marokkaner und Algerier verstehen sich m i t den palästinensischen Arabern als ein Volk und engagieren sich m i t dem gleichen Recht für sie, wie etwa die nordamerikanischen Zionisten m i t den Juden i n Palästina. — A u f der gleichen Ebene, nur räumlich beschränkter, liegen die A r gumente, die i n Palästina lebende arabisch sprechende Bevölkerung seien keine Araber, da die islamische Ausbreitung nur wenige Araber aus dem arabischen Kernland nach Palästina gebracht habe. I n Palästina habe lediglich eine Mischung verschiedener Völker bestanden, die zum Islam bekehrt und arabisiert worden sei. Daher gebe es kein palästinensisch-arabisches Volk, das das Selbstbestimmungsrecht beanspruchen könnte 1 7 . Aber die Araber behaupten nicht, daß etwa alle arabisch sprechenden Völker von Mohammeds Kriegern abstammen. Ihre gegenwär16

s. 1. Kapitel 2 a. So vor allem ausführlich entwickelt von Frankenstein, Justice for M y People, S. 109 ff. Noch heute erscheinen Bücher, nach denen es keine Araber „im politischen Sinne" (?) gebe, sondern nur Jordanier, Syrier, Ägypter usw., aber keine Palästinenser. Lediglich die Juden sind Volk „im politischen Sinne", s. etwa G. Lisowsky, Kultur- und Geistesgeschichte des jüdischen Volkes — Von Abraham bis Ben Gurion (1968). 17

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tige Literatur betont, daß die vielen Völkerschaften des biblischen Palästinas einschließlich vieler Juden arabisiert worden seien und sie beanspruchen das Selbstbestimmungsrecht für die gegenwärtigen arabischsprechenden Palästinenser. — Die arabischen Palästinenser seien zunächst durchaus zionistenfreundlich gewesen. Sie hätten die jüdische Einwanderung willkommen geheißen. Hierfür berufen sich die Zionisten nicht nur auf die Versuche einer Übereinkunft zwischen Feisal und ihnen 1 8 , sondern auch auf die zunächst wenig feindselige Haltung gegenüber den Einwanderern. Von drei Seiten seien die Araber erst gegen den Aufbau des jüdischen Nationalheims aufgestachelt worden: — Während des 1. Weltkriegs von der antisemitischen deutsch-türkischen Militärverwaltung. Dieser Vorwurf ist lediglich polemisch zu verstehen und besaß angesichts der antisemitischen Haltung Deutschlands nach 1933 einige Glaubwürdigkeit. Aber die türkische Militärverwaltung war gegen jeden partikularen Nationalismus i n ihrem Gebiet und kehrte sich i n gleicher Weise gegen den arabischen Nationalismus. Ihr Vorgehen gegen die zahlreichen Zionisten russischer Staatsangehörigkeit war vom politisch-militärischen Standpunkt aus verständlich. Die Verbindung des Zionismus m i t der gegnerischen Macht Großbritannien, die Existenz einer gegen sie eingesetzten zionistischen militärischen Einheit 1 9 und eines palästinensisch-jüdischen Spionagerings zugunsten Großbritanniens 20 mußte die zionistischen Siedlungen schwer gefährden. Daß die deutschen Offiziere i m ottomanischen Räume antisemitisch und antizionistisch gewesen seien, ist unrichtig 2 1 . Die deutsche Regierung bemühte sich vielmehr aus politischen Gründen bei der türkischen Regierung u m ein Entgegenkommen gegenüber den Zionisten 2 2 und schützte die zionistischen Siedlungen 23 . Während pro-arabische Autoren heute die seit vor dem 1. Weltkrieg bestehende These übernehmen, der Zionismus sei überhaupt eine deutsche Erfindung und sei deutscher Kolonialismus. Vgl. etwa E. Lévyne, Judaisme contre Sionisme (Le dossier arabe, Collection Monographie Bd. 8, Paris 1969), S. 17 ff.: "Soutenir l'Etat d'Israel, c'est soutenir une oeuvre coloniale allemande. C'est fortifier l'impérialisme allemand et la race aryenne dans sa haine instinctive de la race sémite. Le 'Judenstaat' est une bombe inventée par le génie allemand pour faire sauter le monde d'Abraham. Non' à l'Allemagne! Car l'Etat d'Israel c'est l'Allemagne." 18

s. 7. Kapitel 3. 5. Kapitel 1. Nili, s. 5. Kapitel 1. 21 Der deutsche Befehlshaber Liman von Sanders war selbst jüdischer Abstammung. 22 Nachweise bei Stein (vor 6. Kapitel). 19

20

23

Lichtheim (vor 1. Kapitel), S. 209 f., 213.

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— Von der britischen Militär- und Mandatsverwaltung, die erst die Araber zum Antizionismus aufgestachelt habe. Die britische Militärverwaltung sei ganz überwiegend, die Mandatsverwaltung und das hinter ihr stehende Kolonialministerium weitgehend antizionistisch und antisemitisch gewesen 24 . Natürlich lassen sich in der britischen Verwaltung Namen nennen, die antizionistisch waren und Verhaltensweisen zur Stütze dieser Thesen aufzeigen. — Von der palästinensisch-arabischen Effendi-Klasse. Diese feudalen Kreise hätten durch die fortschrittlichen und sozialen Ideen der Zionisten ihre aus türkischer Zeit überkommenen feudalen Privilegien und Ausbeutungsmöglichkeiten der arabischen Massen bedroht gesehen. Die Effendis wollten Palästina für ihre Privilegien freihalten und stachelten daher die ungebildeten Massen gegen die Juden auf. Solange daher die Effendi-Klasse ausbeuten könne, solange gebe es keinen Frieden. Diese Effendi-These ließe sich m i t fast allen zionistischen Schriften der Mandatszeit nachweisen 25 und ist noch heute weitgehend zionistisches Dogma und allgemeine Vorstellung i n Israel. Das gesamte Spektrum der politischen Ideologien hat diese These übernommen, von den orthodoxreligiösen Gruppen bis zur marxistischen Haschomer Hatzair. Die eigenen Erfahrungen der Juden schienen diese These zu bestätigen: der nachbarliche Verkehr der jüdischen Siedler und Stadtbewohner m i t den Arabern war i m allgemeinen nicht schlecht. Aber damit wurde übersehen, daß individuelle Gegnerschaft und Gruppenfeindschaft durchaus Verschiedenes sind. Britische Autoren verweisen meist auf die Intransigenz beider Gruppen. Sie zitieren m i t Vorliebe E. T. Lawrence's Formulierung: "Semites have no halftones i n their register of vision . . . They knew only t r u t h and untruth, belief and unbelief, without our hesitating retinue of finer shades 26 ." Sie erklärten sich diese Intransigenz aus rassischer Veranlagung und m i t mangelnder politischer Erfahrung. I n britischer Manier stellen sie sie ironisch-gleichmütig dar. Gleichmut gehört zur britischen Ideologie, und Intransigenz betrachtet der Brite konventionsgemäß als esoterisch. Natürlich konnte man als Angehöriger der Hegemonialmacht des Empires leichter seinen Gleichmut bewahren; dagegen war m i t Gleichmut und Verständnis für die 24 Diese These vertrat insbesondere mit schwer erträglicher Radikalität und einem krankhaften Araberhaß der Politische Offizier der britischen Militärverwaltung, Colonel Meinertzhagen, s. 3. Kapitel, am Ende. 25 Statt aller etwa Frankenstein, S. 38. I m britischen Unterhaus hat etwa Colonel Wedgewood diese These vertreten. 26 Chapter I I I . Oder: "They inhabited superlatives by choice. Sometimes inconsistents seemed to possess them at once in joint sway; but they never compromised: they pursued the logic of several incompatible opinions to absurd ends, without perceiving the incongruity", ebenda.

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andere Volksgruppe weder ein jüdisches Gemeinwesen i m arabischen Gebiet aufzubauen noch dem zionistischen Vordringen Widerstand zu leisten. Gewiß, das Maß an Intransigenz überrascht auf beiden Seiten. So berichtet z. B. Bentwich, daß es unmöglich gewesen war, eine gemeinsame arabisch-jüdische Schule einzurichten, wie nach der Stiftung eines jüdischen Erblassers i m Irak vorgesehen w a r 2 7 . Die antizionistische L i t e ratur verweist etwa auf zionistische Versuche, Kleinkredite an arabische Pächter zu unterbinden. Die Literatur nennt Namen: die Anhänger der Revisionistischen Partei und Altzionisten wie Menahem Ussischkin. Manche meinen überhaupt, die europäischen Zionisten hätten sich mehr der orientalischen Juden zum Ausgleich m i t den Arabern bedienen sollen und verweisen auf einige pro-arabische Juden aus Ägypten 2 8 . I n Wahrheit ist dies alles Eskapismus: Angesichts der unzuvereinbarenden Vorstellungen von Arabern und Juden war es ziemlich gleich, ob die Gegenspieler verbindlich oder hart waren. Dies zeigt sich schnell, wenn man die Beurteilung und den Erfolg der Kompromißbereiten i n den Augen der Gegenseite ansieht. Ob Husseini oder Naschaschibi 29 , ja, ob Hadsch A m i n 3 0 oder George Antonius 3 1 , das machte i n zionistischen Augen wenig Unterschied; sie lehnten alle das Nationalheim und jede jüdische Einwanderung ab. U n d i n arabischen Augen waren die Vertreter des bloßen Kulturzionismus, waren Achad Haam 3 2 , Arlosorow 3 3 , Landauer 3 4 , M a r t i n Buber und Judah L. Magnes 35 schlicht Zionisten, genau wie die zionistischen Extremisten. Zur arabischen Gesamtansicht der ihnen gegenüberstehenden Zionisten, Juden und Briten s. 14. Kapitel 4.

2. Vorspiel: Militärverwaltung und Zionistische Kommission I m Zuge der britischen Eroberung des Vorderen Orients errichtete Großbritannien eine Militärverwaltung; die Militärverwaltungsbezirke 27

Mandate Memories, S. 92. Gerade die extremste jüdische Terroristengruppe, die Stern-Gang, hatte besonders viele orientalische Mitglieder; eine Autorin dieser Gruppe und heute Sprecherin der „Bewegung für ein Großisrael", Guéoula Cohen, ist jemenitischer Herkunft. Guéoula Cohen, Souvenir d'une jeune fìlle violente (Paris 1964). 29 15. Kapitel. 30 15. Kapitel. 31 Christlicher Araber, Verfasser von The Arab Awakening, ranghöchster arabischer Beamter in der Mandatsverwaltung, über ihn: S. Haim (2. Kapitel, Anm. 4) ; s. insbes. Ben Gurion, Wir und die Nachbarn (1968). 32 1. Kapitel 4. Haam entgeht auch in arabischer Sicht nicht der Verleumdung, die „Protokolle der Weisen von Zion" verfaßt zu haben. 33 1934 wahrscheinlich von Revisionisten wegen seines Eintretens für den Ausgleich mit den Arabern ermordet. 34 Über Landauer, s. vor 1. Kapitel und 1. Kapitel 4. 35 1. Kapitel 4. 28

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folgten dem Sykes-Picot-Abkommen und entsprachen weitgehend der endgültigen politischen Aufteilung 3 6 . Zur britischen Militärverwaltung stieß i m A p r i l 1918 die Zionistische Kommission. Diese von der Zionistischen Organisation eingesetzte Kommission sollte sowohl diese Organisation wie die Juden der alliierten Staaten repräsentieren und als beratendes Gremium die Militärverwaltung i n allen Fragen, die Juden und den Aufbau des Nationalheims betrafen, unterstützen 37 . Die Kommission wurde zunächst von Weizmann geführt, später von seinem Vertreter Ussischkin. Während es Weizmann noch gelang, mit der Militärverwaltung, insbesondere mit Allenby gute Beziehungen zu erhalten, geriet die Kommission unter Ussischkin schnell i n Gegensatz zur Militärverwaltung. Der Konflikt war unvermeidlich, auch ohne die sprichwörtliche Intransigenz Ussischkins. Die Vorstellungen der Zionisten und der Militärverwaltung waren unvereinbar. Die zionistischen Erwartungen waren nach der Balfour-Erklärung auf den sofortigen A u f bau des Nationalheims unter tatkräftiger Mithilfe aller Alliierten gerichtet. Alle zionistischen Schriften der Zeit und der Beteiligten zeigen dies. So verstanden sie die Balfour-Erklärung, und die Verpflichtung aller Beteiligten zu allen erforderlichen Maßnahmen erschien ihnen evident. Die Realität brachte sie i n eine psychologische Verfassung, die alle Zionisten mit Ernüchterung, Enttäuschung und Verbitterung beschreiben. Die britische Militärverwaltung hatte andere Vorstellungen: sie wollte das eroberte Gebiet militärischen und kolonialen Erfahrungen und Regeln gemäß verwalten, sonst nichts. Es waren Armeeoffiziere und Kolonialbeamte. Nach zionistischer Lesart weigerten sie sich, die Balfour-Erklärung durchzuführen. Es ist richtig, daß die meisten Offiziere sie für einen schlechten Scherz hielten. Doch versetze man sich in ihre Lage: wie soll man eine Erklärung durchführen, die etwas „wohlwollend betrachtet" (view w i t h favour)? Folgt daraus die Verpflichtung für jeden Beamten der Militärverwaltung, ein politisches Gemeinwesen aufzubauen für eine Bevölkerung, deren Kommen man erhofft? Und wie sollte die salvatorische Klausel, daß die Rechte der autochthonen Bevölkerung zu wahren seien, in die Praxis umgesetzt werden? Die zionistische Seite sah dies anders, und ihr schien der Weg vorgezeichnet. Sie hatte ihre Vorstellungen von den Erfordernissen des A u f baus. Die Kommission ging von der Konzeption der Chartergesellschaft 38 aus, wonach die britische Schutzmacht sich auf auswärtige Beziehungen, 36

s. 9. Kapitel 2. Zionistische Sicht bei Weizmann, ESCO Bd. 1. 38 s. 11. Kapitel 2 a. 37

Trial and Error, Kapitel 19 ff., ferner:

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Sicherheit und Schutz der Eingeborenen zu beschränken habe, während sie für den Aufbau — und das hieß weitgehend für die innere Verwaltung — zuständig sei. So verstand sich die Kommission von Anfang an als Landesregierung. I m Dezember 1918 berief sie i n Jaffa eine Zionistische Konferenz ein und veröffentlichte das Programm einer provisorischen Regierung für Palästina 39 . Von ihrem Standpunkt erscheinen alle Forderungen logisch: Die A n erkennung der jüdischen Flagge als Landesflagge; die offizielle Bezeichnung des Landes als Eretz Israel; eine jüdische Garnison i n Palästina; ein Mitsprache-, Kontroll- und Genehmigungsrecht bezüglich aller politischer Maßnahmen der Militärregierung; das Recht, die jüdischen Mitglieder der Polizei zu bestimmen usw. Entsprechende Forderungen stellte die Kommission für alle Fragen des Aufbaus, für die jüdische Einwanderung, den Landerwerb und für wirtschaftliche Konzessionen. Die britische Militärverwaltung war hierfür nicht vorbereitet. Der A u f bau des Nationalheims hätte eine totale Umwandlung aller palästinensischen Zustände erfordert. Die Militärregierung berief sich auf die kriegsvölkerrechtliche Verpflichtung der Besatzungsmacht, bis zum Friedensschluß den status quo zu wahren; auch das britische Kriegsrecht ging davon aus. Insbesondere sollte der bestehende Rechtszustand nur insoweit geändert werden, wie es zur Aufrechterhaltung der Ordnung durch die Besatzungsmacht unbedingt erforderlich war 4 0 . Die Militärverwaltung war daher nur bereit, Juden und Arabern gleiche Rechte einzuräumen. Sie sah die Zionistische Kommission nur zur Vertretung jüdischer Interessen befugt, ganz wie eine entsprechende arabische Organisation, die noch zu schaffen sei. Es war klar: so war das Nationalheim nicht zu schaffen und so war auch den arabischen Erwartungen nicht zu entsprechen. M i t Gleichheit konnten die für den Aufbau notwendigen Bedingungen nicht geschaffen werden, sondern nur mit aktiv auf die Umwandlung und Übernahme Palästinas durch die Juden gerichteten Maßnahmen. Dies zeigte sich an täglichen Forderungen. Die Zionisten wollten sich i n den Besitz des Landes setzen. Die Rechte der autochthonen Bevölkerung hielten sie für gewahrt, wenn sie das Land käuflich erwarben. Sie forderten daher eine Bodenordnung, die diesen Erwerb begünstigte und 39 Outline for the Provisional Government of Palestine, s. ESCO I S. 152; auch dieses Programm erweitert die Balfour-Erklärung dahingehend, daß Palästina das jüdische Heimatland sei, s. 11. Kapitel 2 a. 40 Zum Problem s. WBVR, „Besetzung, kriegerische"; zum britischen Kriegsrecht: Manual of Military Law, issued for the guidance of British Military administrators in occupied enemy territory; para. 353: die Besetzung „should only excercise such powers as are necessary for the purpose of the war, the maintenance of order and of safety, and the proper administration of the country".

Diskussion bei Jeffries.

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wandten sich selbstverständlich gegen Maßnahmen, die jüdischen Bodenerwerb erschwerten und arabische Bodenveräußerungen verhinderten. Daher forderten sie die Kontrolle des arabischen Agrarkredits durch die zionistische Bank und wandten sich gegen Kredite m i t niedrigem Zins an die Araber 4 1 . Die Unvereinbarkeit der Vorstellungen zeigt ein Schreiben des britischen Gouverneurs 42 von 1920: "They seek no justice from the military occupant but in every question in which a Jew is interested discrimination in his favour shall be shown . . . I t is manifestly impossible to please partisans who officially claim nothing more than a 'National Home' but in reality will be satisfied with nothing less than a 'Jewish State' and that it politically implies."

So wurde die Militärverwaltung den Erwartungen beider Parteien nicht gerecht und konnte es auch nicht werden. Die Beschuldigungen beider Seiten sind entsprechend. Aber alle um Objektivität bemühten Beobachter sind sich einig, daß die Militärregierung i m Ganzen eher antizionistisch war. Die Militärverwaltung endete am 30. Juni 1920; die Zionistische K o m mission beendete 1921 ihre Tätigkeit. Der Karlsbader Zionistenkongreß vom Herbst 1921 übertrug ihre Funktionen auf die Zionistische Palästina-Exekutive. 3. Die Politik der Beteiligten Die Geschichte der Mandatszeit ist wiederholt gut geschrieben worden; insbesondere sei auf Sykes (Crossroads, auch als Taschenbuch und auch deutsch), Hurewitz, Marlowe, Peel-Bericht (auch deutsch) verwiesen. Hier geht es nur um das allgemeine Verhalten Großbritanniens und der beiden antagonistischen Volksgruppen.

A u f der Konferenz von San Remo hatten die Alliierten Hauptmächte Großbritannien das Mandat für Palästina (einschließlich Transjordanien) und Mesopotamien zugewiesen. 1923 hatte der Völkerbundrat diese Zuweisung und das P M bestätigt. Großbritannien hatte bereits zum 1. J u l i 1920 die Militärverwaltung für Palästina aufgelöst und eine zivile Mandatsverwaltung eingesetzt. Anders als die Militärverwaltung hatte die Mandatsregierung nicht nur die vage Balfour-Erklärung auszuführen, die sie obendrein irgendwie m i t ihren Vorschriften über die Verwaltung militärisch besetzter Gebiete harmonisieren mußte. Sie hatte ein detailliertes PM, das überdies durch ein Weißbuch der britischen Regierung von 1922 noch ausführlicher intrepretiert worden war. Die hemmenden Bestimmungen über die militärische Verwaltung besetzter Gebiete galten für sie nicht. 41 42

Abcarius, S. 64.

Chief Administrator Sir Louis Bols.

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Die Zionisten versuchten i n der Mandatszeit die i m P M vorgesehenen Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Sie setzten große Hoffnungen auf den ersten Hohen Kommissar, Herbert Samuel, der bereits i n London als hoher britischer Beamter, als Jude und Zionist an der Abfassung der Balfour-Erklärung und des P M mitgearbeitet hatte. Nachdem sich manche ihrer Erwartungen als zu optimistisch, als extrem und unrealisierbar herausgestellt hatten und als insbesondere Großbritannien nicht bereit war, das Nationalheim selbst aktiv auszubauen, konzentrierte sich ihre Energie auf zwei Ebenen: der Abwehr von Restriktionen ihrer Möglichkeiten und dem eigenen tatkräftigen Aufbau des Nationalheims. Dem ersten Ziel diente, was heute als pressure politics und Öffentlichkeitsarbeit bezeichnet werden würde. Schauplätze dieser Tätigkeit waren vornehmlich London und Genf. I n London und allgemein i n Großbritannien versuchten sie ziemlich erfolgreich die öffentliche Meinung, die Presse und das britische Parlament (in dem die Mandatspolitik oft und ausgiebig diskutiert wurde) und die Politiker i n ihrem Sinne zu beeinflussen. B r i tische antizionistische Maßnahmen lösten meist einen Sturm i m britischen Parlament, eine F l u t von Protestbriefen und Leserzuschriften i n der britischen Presse aus. Bis zu Beginn der 30er Jahre war der zionistische Einfluß i n Großbritannien so stark, daß er sogar eine britische Regierung offiziell zum Widerruf ihrer gerade erst erklärten Palästinapolitik zwingen konnte. Nach 1933 zwang die weltpolitische Lage Großbritannien zunehmend, auf arabische Forderungen einzugehen und antizionistischer zu werden; der zionistische Einfluß ließ spürbar nach. I n Genf mußte Großbritannien seine Mandatspolitik vor der Ständigen Mandatskommission des Völkerbundes vertreten, und die Kommission war i m ganzen gesehen prozionistisch eingestellt. Hier war es die Aufgabe des Genfer Büros der Zionistischen Exekutive, später der Jewish Agency, eine nationalheimfreundliche Einstellung der Kommission zu erreichen, so daß Großbritannien nur schwer seine Verpflichtungen aus Balfour-Erklärung und P M reduzieren konnte. Petitionen an die Kommission und persönliche Kontakte m i t den Kommissionsmitgliedern sorgten bis zum faktischen Ende der Völkerbundstätigkeit und damit bis zum Ausbruch des 2. Weltkriegs für eine prozionistische Einstellung der Kommission. Die Araber konnten sich i m politischen Räume nur mühsam formieren 4 3 . Ihre Volksgruppe konnten sie zu keiner Zeit effizient organisieren. Daran litten sie bis zum Ende der Mandatszeit, und dies führte schließlich zur arabischen Niederlage i m Krieg 1947 - 1949 und zum Exodus der palästinensischen Araber 4 4 . I n den politisch allein zählenden Hauptstädten Westeuropas und der USA waren sie den Zionisten naturgemäß 43 44

s. 15. Kapitel. s. 18. Kapitel.

10. Kap. : Die Ereignisse während der Mandatszeit

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unterlegen. Ihre Öffentlichkeitsarbeit blieb völlig unzureichend. Trotz der Parteinahme eines Teils der britischen Presse 45 und der antizionistischen Einstellung der britischen Kolonialverwaltung und weitgehend der Exponenten britischen Imperialismus blieben ihre Aktionen unkoordiniert 4 6 . Ihre politischen Vertreter lehnten Balfour-Erklärung, P M und Nationalheimpolitik geschlossen und kompromißlos ab und forderten A u f hebung dieser Dokumente und der darauf gestützten P o l i t i k 4 7 . I m einzelnen forderten sie m i t steigendem Nachdruck: — sofortiges völliges Einwanderungsverbot für Juden; — Verbot j üdischen Landerwerbs 4 8 ; — parlamentarische Strukturen, die der arabisch-sprechenden Mehrheit Palästinas (z. Z. vor dem 1. Weltkrieg oder jeweils) entsprachen; — eine parlamentarisch verantwortliche Regierung 4 9 ; — die nationale Unabhängigkeit. Diese Forderungen wurden weitgehend schon auf dem 2. ArabischPalästinensischen Kongreß i n Haifa 1920/21 erhoben und erschienen i n der Folgezeit auf allen Ebenen. Sie wurden vor der Mandatsregierung erhoben; offiziellen britischen Besuchern vorgetragen; vor den Untersuchungskommissionen erörtert; von arabischen Delegationen i n London vorgelegt; i n endlosen Diskussionen m i t zionistischen Persönlichkeiten diskutiert 5 0 und i n Petitionen an die Ständige Mandatskommission des Völkerbunds i n Genf gerichtet. Sie wurden von arabischen Delegationen der verschiedensten Zusammensetzung, später von der Arabischen Exekutive und dann vom Arabischen Hohen Komitee vorgetragen 51 . Sie stellten das Programm der Nationalen Bewegung und aller arabischpalästinensischen Parteien dar 5 2 . Neben diesen teils i m Verhandlungswege vorgetragenen, teils i n Proklamationen, Petitionen und Kongreßbeschlüssen formulierten arabischen Forderungen formierte sich zunehmend der arabische Widerstand, der je nach Einstellung als arabischer Terror oder als Befreiungskampf, i n der Sprache der britischen Dokumente als „disturbances" erscheint. 45 Insbesondere die Northcliff-, Beaverbrook- und Rothermere-Presse. Intelligentester antizionistischer Journalist war Jef fries (vor IV. Teil). 46 Dies ist um so erstaunlicher, als die an die Ständige Mandatskommission gerichteten Petitionen gut ausgearbeitet waren. Es hätte genügt, diese Petitionen wieder und wieder zu veröffentlichen. 47 s. 12. Kapitel. 48 s. 16. Kapitel. 49 s. 13. Kapitel. 50 Besten Einblick in die Unvereinbarkeit der beiderseitigen Positionen und schließlich in das Frustrierende des arabisch-zionistischen Gesprächs gibt D. Ben Gurion, Wir und die Nachbarn. Gespräche mit arabischen Führern (1968). 51 Zu diesen Organen s. 15. Kapitel. 52 s. 15. Kapitel.

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

Dieser W i d e r s t a n d begann spontan a m 1. M ä r z 1920 als O p p o s i t i o n gegen die B a l f o u r - E r k l ä r u n g u n d artete i n b l u t i g e U n r u h e n aus; i m M a i 1921 k a m es erneut z u Ausschreitungen. Später insbesondere 1929 w u r d e er v o n arabischen F ü h r e r n , v o r a l l e m v o n Hadsch A m i n o r g a n i siert u n d erreichte 1936 - 1939 kriegsähnliche Ausmaße. D i e auslösenden Ursachen dieser U n r u h e n w a r e n meist u n w i c h t i g ; i h r R h y t h m u s folgte w e i t g e h e n d der jüdischen E i n w a n d e r u n g . Die Nichtigkeit der Anlässe zeigt insbesondere der Ausbruch der Unnahen von 1929, bei dem es vordergründig um eine der zahllosen Querelen zwischen den Religionen in Jerusalem ging. Hier ging es um die sog. Klagemauer. Diese Uberreste einer Mauer des 70 nach Christus zerstörten jüdischen Tempels sind gleichzeitig Mauerteile des Moscheen-Komplexes und gehören den Moslems. Juden konnten dort beten, durften aber keine Bauten errichten. 1929 stellten Juden ein Gitter auf, um die Betenden nach Geschlechtern zu trennen. Die Araber sahen hierin ein verbotenes Bauwerk, der Oberste Moslemische Rat und Hadsch Amin bauschten den Anlaß politisch auf und verbreiteten das Gerücht, die Juden wollten die Moschee zerstören und den Tempel wieder errichten. Es kam zu schweren Unruhen im ganzen Lande. Zu den juristischen Problemen einschließlich den konfessionellen Schwierigkeiten, die in Art. 14 P M vorgesehene Kommission einzusetzen, s. Cmd. 9096 von 1931; J. Cohn, S. 259 f. Zu den Unruhen: Cmd. 3229 von 1928, Incidents at the Wailing Wall; Cmd. 3530 von 1930, Report on the Palestine Disturbances of August 1929. G r o ß b r i t a n n i e n reagierte auf die U n r u h e n meist i n einer A r t D r e i schritt: es u n t e r d r ü c k t e sie m e h r oder w e n i g e r energisch; setzte K o m missionen ein; reduzierte die N a t i o n a l h e i m p o l i t i k u n d gab arabischen F o r d e r u n g e n nach. M i l i t ä r i s c h gesehen haben sich die Aufstände f ü r die A r a b e r n i c h t ausgezahlt. D i e J u d e n k o n n t e n sich z u n e h m e n d p a r a - m i l i t ä r i s c h organisieren, z. T . m i t H i l f e der M a n d a t s m a c h t 5 3 . Sie k o n n t e n alle Siedlungen v e r teidigen; l e d i g l i c h die r e i n o r t h o d o x e n jüdischen S i e d l u n g e n i n H e b r o n u n d Safed, die j e d e S e l b s t v e r t e i d i g u n g abgelehnt hatten, w u r d e n ausgelöscht. W ä h r e n d der b ü r g e r k r i e g s ä h n l i c h e n L a g e v o n 1936 - 1939 k o n n t e n sie sogar neue S i e d l u n g e n i n bislang r e i n arabischen Gebieten a n legen. Eine solche Neuanlage ging so vor sich: Nachdem das Land erworben worden war, besetzte zur Nachtzeit eine Abteilung der illegalen Haganna den „Punkt", meist eine Erhebung, ein Steinhügel. Am Morgen folgten auf Lastwagen die fertigen Palisadenwände, vorfabrizierte Hütten, Rohranlagen, Duschen, Kücheneinrichtungen. Auf einem Trägerwagen wurde der Wachtturm mit Scheinwerfern und Blinklichtanlage beigebracht. Die Siedlungen wurden meist so angelegt, daß sie sich gegenseitig mit Blinklichtanlagen erreichen, unterrichten und Hilfe anfordern konnten. 53 z. B. ging der Kern der späteren Haganna aus den Special Nights Squads hervor, die ein britischer Offizier aufbaute, s. Chr. Sykes, Orde Wingate (London 1959).

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Auch auf politischer Ebene hatte der Widerstand der Araber nur partiell Erfolg. Dies gilt insbesondere für die Streiks und Boykotts. Sie führten dazu, daß sich die jüdische Volksgruppe zu einem in sich autarken und effizienten Gemeinwesen entwickeln mußte und 1947 - 1949 den Krieg auch logistisch, wirtschaftlich und administrativ effizient führen konnte. Infolge dieser effizienten Organisation trafen arabische Streiks meist die eigene Bevölkerung und führten vor allem zur restlosen Durchführung der „jüdischen Arbeit". Nachdem die jüdische Volksgruppe derart zur eigenen Organisation gezwungen worden war, scheute sie vor keiner Anstrengung zurück. Als die Araber den Hafen Jaffa bestreikten, bauten die Juden für Tel A v i v einen Hafen. Der einzige politische Erfolg der Araber lag im zunehmenden Nachgeben der Mandatsmacht, s. u.

Die Kommissionen waren teils reine Untersuchungskommissionen, teils sollten sie auch politische Lösungsvorschläge ausarbeiten. Sie wurden teils von der Mandatsregierung, teils von der britischen Regierung eingesetzt und hatten dementsprechend verschiedenes Gewicht. I h r Auftrag war charakteristischerweise stets durch Richtlinien fest umgrenzt, die es den Kommissionen untersagen sollten, das P M und die Nationalheimpolitik selbst infrage zu stellen; sie sollten lediglich die „unmittelbaren Ursachen der Unruhen" untersuchen und die nötigen Schritte vorschlagen, u m Wiederholung zu vermeiden. So sollte die Fiktion aufrechterhalten werden, daß nicht die zugrundeliegende Politik der Einrichtung eines jüdischen Nationalheims Ursache gewesen sei, sondern lediglich kleinere, behebbare Mißstände 54 . A l l e Kommissionen haben sich mehr oder weniger über diese Schranken hinweggesetzt. Wenn der Shaw-Bericht als Grund der Unruhen die jüdische Einwanderung angab; wenn der HopeSimpson-Bericht ausführte, daß kein Land mehr für weitere jüdische Siedler zur Verfügung stünde, dann wurde damit praktisch die Nationalheimpolitik und damit die Grundlage des Mandats selbst infrage gestellt. Wenn der Peel-Bericht i n seinem darstellenden Teil die Schwierigkeiten aufzeigte und die weitere Durchführung nur m i t erheblicher militärischer Gewaltanwendung für weiterführbar hielt, so lief dies in der weltpolitischen Situation 1937 auf die Feststellung der Undurchführbarkeit hinaus. Die Berichte formulierten meist das Problem i n bestimmter Weise und machten Vorschläge, die mitunter zu neuen Kommissionen führten 5 5 . A n 54 z. B. die „terms of Reference" der Shaw-Kommission von 1929: „no inquiry is contemplated which might alter the position of this country with regard to the Mandate or the policy laid down in the Balfour-Declaration of 1917 and embodied in the Mandate of establishing in Palestine a National Home for the Jews", Cmd. 3550 von 1930. 55 ζ. B. führte der Shaw-Bericht zur Hope-Simpson-Kommission, da er eine genauere Erfassung der Besiedlungsmöglichkeiten forderte; der Peel-Bericht führte zur Woodhead-Kommission.

4. T e i l : Die Mandatszeit 1920 - 1948

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die Kommissionsberichte schloß sich mehrfach eine Neuformulierung der britischen Politik an. Die Kommissionsberichte sind die wichtigste und am leichtesten zugängliche Quelle für die Probleme und Entwicklung während der Mandatszeit. Sie haben mitunter ein hohes sachliches und stilistisches Niveau; der Bericht der Peel-Kommission von 1937 gilt allgemein als Klassiker der Verwaltungsprosa. Sie werden meist nach den Namen des Kommissionsvorsitzenden benannt. Die Kommissionsberichte konnten nur unverbindliche Empfehlungen aussprechen. Die offiziellen Erklärungen der britischen Regierung schlossen sich mitunter an und hießen meist „White Paper" (Weißbuch) und werden auch nach dem Namen des verantwortlichen Ministers zitiert (Passfield White Paper). Das wichtigste Weißbuch erschien 1922 und gab eine autoritative Interpretation des „Nationalheims" und formulierte das Prinzip der Doppelten Verpflichtung 56 . Es blieb zumindest offiziell die Richtlinie bis zum Weißbuch von 1939.

Regierungen setzen Kommissionen nicht nur ein, u m Erkenntnisse zu gewinnen, sondern auch und vor allem, um politisch nicht lösbare Probleme ins Technizistische zu sublimieren oder einfach zu vertagen. Aber diese Taktik des „government by reports" verbraucht sich. Zählt man alle Kommissionen von King-Crane bis UNSCOP zusammen, so haben 20 Kommissionen die Palästinafrage erörtert. Aber keine Kommission konnte einen Weg finden, der die antagonistischen Forderungen beider Volksgruppen zusammenführen konnte. So mußte diese Politik bei beiden Parteien i n Mißkredit kommen. Die jüdische Seite hatte jedoch stets die große Bedeutung der Information gesehen und daher bei allen Kommissionen energisch mitgearbeitet. Fast allen Kommissionen hat sie bereits bei Aufnahme ihrer Arbeit sehr ausführliche, geschickte Unterlagen i n Form von Memoranden vorgelegt. Ihre Repräsentanten haben bereitw i l l i g vor den Kommissionen ausgesagt. Die Berichte der Kommissionen hat sie selbst verbreitet; so sind z. B. alle Kommissionsberichte und Weißbücher der Mandatsmacht bezüglich Palästina ins Deutsche übertragen und veröffentlicht worden. Jeder Bericht und jedes Weißbuch wurde von ihren Experten ausgiebig kritisiert und m i t ihrer Stellungnahme konfrontiert. So weit es der zionistischen Seite nicht gelang, i h r günstige Berichte und regierungsamtliche Stellungnahmen zu erreichen, hat sie ihnen auf anderer Ebene entgegengearbeitet. Diese Ebenen lagen i n London (im britischen Parlament, bei der Regierung, bei der britischen Öffentlichkeit) und i n Genf (Ständige Mandatskommission). Hier war die zionistische Seite i m allgemeinen erfolgreicher als i n Palästina. A n Ort und Stelle ließ sich der arabische Widerstand nicht übersehen und zeigte sich zunehmend das britische Unvermögen, die Nationalheimpolitik m i t den 56

11. Kapitel 3.

10. Kap.: Die Ereignisse während der Mandatszeit

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zur Verfügung stehenden und politisch möglichen Mitteln durchzusetzen. London und Genf dagegen sahen dies aus der Ferne und hier hatten die Appelle an britische Verpflichtungen aus Balfour-Erklärung und PM, aber auch einfach politischer Druck von Zionisten und Pro-Zionisten ein anderes Gewicht 5 7 . Der Wechsel des Kampfplatzes war für die Zionisten auch günstig, weil die kompromißlose Haltung der Araber Briten und Völkerbundsmitglieder zurückstieß, während die kompromißbereite Haltung, insbesondere Weizmanns, Lösungen anzubieten schien. Bestes Beispiel hierfür sind die beiden um 1930 erstellten Berichte der ShawKommission und der Hope-Simpson-Kommission und das sich daran anschließende (Passfield-) Weißbuch der britischen Regierung über ihre weitere Mandatspolitik.

Diese Erfahrungen ließ die Araber die Kommissionen zunehmend als Verschleierungs- und Ablenkungspolitik sehen. Denn wenn auch die Mandatspolitik stärker die arabische Seite berücksichtigte und den A u f bau des Nationalheims abbremste: sie sah nur, daß es überhaupt weiter ging und sie forderten die völlige Einstellung. Von ihrem Standpunkt aus verständlich: I n der Schaffung von Mehrheitsverhältnissen ist der Zeitfaktor von untergeordneter Wichtigkeit. Sie sahen, daß — zwar langsam, aber weiter — eine jüdische Mehrheit zustande kam. Sie sahen weiter, daß es den Zionisten gelang, etwaige arabische Erfolge i n Kommissionen, Kommissionsberichten und Weißbüchern auf anderer Ebene (Genf, London) wieder zunichte zu machen. Nach den Erfahrungen mit Shaw und Hope-Simpson erklärten daher die Araber auf spätere Vorschläge der Mandatsregierung, eine Kommission zur Untersuchung ihrer Beschwerden und Abhilfe einzusetzen, daß sie kein Vertrauen mehr hätten. Ähnlich war später ihre Haltung gegenüber der Untersuchungskommission der VN. Die Kommissionen konnten nicht umhin, den arabischen Widerstand gegen die Nationalheimpolitik beim Namen zu nennen und zunehmend pro-arabischer zu werden. Bereits die 1921 eingesetzte Haycraft-Kommission 58 wandte sich gegen die zionistische These, der arabische Widerstand sei weniger gegen den Zionismus als gegen die Mandatsregierung gerichtet und widersprach auch der Effendi-These. Der Widerstand gegen die jüdische Einwanderung sei zu echt und zu verbreitet, u m so oberflächlich erklärt werden zu können. Die Araber fürchteten eine steigende jüdische Einwanderung und ihre endliche politische und wirtschaftliche Unterwerfung. Dieses Ziel werde auch nicht nur von jüdischen Extremisten wie Jabotinsky verfolgt, sondern auch von 57 So hatte die Ständige Mandatskommission 1930 die Berichte sehr kritisch insbesondere hinsichtlich der Frage, ob Großbritannien die Unruhen hätte verhindern können, besprochen. 58 Cmd. 1540 von 1921.

12 Wagner

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gemäßigten Vertretern des Zionismus. Auch sei die jüdische Einwanderung der Grund für die arabische Arbeitslosigkeit. Noch härter formuliert der Shaw-Bericht die Ursachen der Unruhen von 1929 59 : Ursache sei die Nationalheimpolitik und die daraus herrührenden Folgen für die Araber. Der Bericht empfahl, daß die britische Regierung baldigst ihre künftige Politik und ihre Ziele klar formuliere. Zu erläutern sei dabei, was unter der Wahrung der Interessen der „nicht-jüdischen Gemeinschaft" zu verstehen sei. Die Einwanderungsmethoden seien zu überprüfen und eine Wiederholung der „exzessiven Einwanderung" der Jahre 1925 und 1926 zu vermeiden. Auch das Problem des Landerwerbs müsse überprüft werden, u m die Entstehung eines landlosen arabischen Proletariats zu vermeiden. I n Zusammenarbeit m i t den nicht jüdischen Vertretern sollte ein wissenschaftlicher Bericht über die Aussichten verbesserter Methoden der Landwirtschaft erarbeitet und eine dem Ergebnis entsprechende Bodenpolitik durchgeführt werden. Die Hope-Simpson-Kommission erarbeitete die vom Shaw-Bericht empfohlene Untersuchung 60 . Auch dieser Bericht ging eindeutig zugunsten der Araber aus. Vorausgesetzt, die Berechnungen stimmten und dann entsprechend angewandt, wäre die weitere Einwanderung und damit der Ausbau des Nationalheims unmöglich geworden. Denn der Bericht erklärte praktisch die wirtschaftliche Aufnahmefähigkeit des Landes für erschöpft. Bis dahin war die Mandatsregierung bei ihrer Einwanderungspolitik davon ausgegangen, daß noch erhebliche Mengen kultivierbaren Landes für die weitere Expansion der jüdischen Kolonisierung zur Verfügung stünden, ohne daß arabische Interessen beeinträchtigt würden. Die Berechnungen hierüber mochten differieren: optimistische zionistische Berechnungen sprachen von mehr als 16 Millionen Dunam; der Landkommissar der Mandatsregierung ging von ungefähr 10,5 Millionen Dunam aus (ohne den Berscheba-Distrikt). Der Hope-Simpson-Bericht errechnete nur ungefähr 6,5 Millionen. Aus diesen Berechnungen zog der Bericht zwei Folgerungen: Selbst wenn alles kultivierbare Land unter die arabische Landbevölkerung aufgeteilt werde, reiche es nicht zum Lebensunterhalt für alle Familien. Bis das jüdische Land weiter entwickelt und bewässert sei und die arabische Landbevölkerung bessere Bearbeitungsmethoden übernommen habe, sei kein Platz für einen zusätzlichen Siedler, falls der Lebensstandard der Fellachen auf dem gegenwärtigen Stand gehalten werden sollte. Auch Staatsland stehe nicht mehr zur Ansiedlung zur Verfügung. 59 60

1930.

Cmd. 3530 von 1930. Hope-Simpson-Bericht,

veröffentlicht im Oktober 1930, Cmd. 3686 von

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Nur wenn das Land gründlich verbessert werde, könne der Lebensstandard der Landbevölkerung gehoben werden und sei Platz für weitere 20 000 Siedler. Die ganze gegenwärtige Politik müsse sich daher auf die landwirtschaftliche Verbesserung durch Araber und Juden konzentrieren. Das Ergebnis war eindeutig: weitere Siedler könnten keine mehr einwandern; die Möglichkeiten für Industriearbeiter wurden nicht viel optimistischer beurteilt. Die den beiden Berichten entsprechende offizielle britische Politik formulierte das Passfield-Weißbuch von 193061. Das Weißbuch wiederholte zunächst die Grundsätze des Weißbuches von 1922. Tapfer und gegen alle Einsicht erklärte es beide Mandatspflichten (zur Errichtung eines jüdischen Nationalheims und zum Schutze der Rechte der arabischen Bevölkerung) für gleichgewichtig und miteinander vereinbar. Es versprach Sicherheit für die jüdischen Siedler und konzipierte die jüdische Verfassungsentwicklung. I m wichtigsten Teil, nämlich i n den Ausführungen über Einwanderungs- und Ansiedlungsmöglichkeiten übernahm es die Schlußfolgerungen aus den Berichten von Shaw und Hope-Simpson und formulierte noch schärfer, daß kein Siedlungsland für Einwanderer mehr zur Verfügung stände und deshalb Einwanderung und Landerwerb strenger als bisher kontrolliert werden müßten. Die Zionisten empfanden die Berichte von Shaw und Hope-Simpson sowie das Passfield-Weißbuch als ungerecht. Die Berechnungsgrundlagen für die Einwanderungsmöglichkeiten schienen ihnen einseitig und falsch (was die Zukunft zum Teil bestätigt hat); die Exkulpierung der Mandatsmacht, die es zu den Unruhen kommen ließ, erschien ihnen skandalös; Berichte und Weißbuch erschienen ihnen als antizionistisch. Die normale Einwanderung, zu deren Förderung Großbritannien völkerrechtlich verpflichtet war, war als „exzessiv" gebrandmarkt worden. Wenn nun der Aufbau des Nationalheims verlangsamt würde, so würden damit die arabischen Terrorbanden belohnt. Dies mag die juristische Unvereinbarkeit arabischer und zionistischer Argumentation zeigen. Die Zionisten haben i m Rahmen von BalfourErklärung, P M und PO und insoweit rechtmäßig gehandelt; die arabischen Terroristen waren die Rechtsbrecher, gegen die vorzugehen die Mandatsmacht völkerrechtlich und staatsrechtlich verpflichtet gewesen 61 H. Samuel, Beneath the Whitewash (London 1930); L. Stein, Memorandum on the Report of the Commission on the Palestine Disturbances of August 1929; ders., Memorandum on the Palestine White Paper of the British Government of October 1930 (beide herausgegeben von der Jewish Agency for Palestine, London 1930); Dokumente zur Palästina-Politik 1929 - 1930 (Schriftenreihe der Jüdischen Rundschau 5,1930).

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sei. Die Araber hielten diese Normen für rechtswidrig und beriefen sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker (s. 12. Kapitel). Der europäische Jurist würde, falls er den arabischen Standpunkt akzeptiert, vom Widerspruch zwischen Legalität (dem geltenden „positiven" Recht gemäß) und Legitimität (übergesetzlichen, allgemeinen Rechtsanschauungen oder Gerechtigkeitsforderungen gemäß) sprechen. Schließlich wehrten sie sich dagegen, daß die Begünstigten des PM: „das jüdische V o l k " durch „die jüdischen Einwohner Palästinas" ersetzt wurden, wodurch die britische Verpflichtung zur Förderung der Einwanderung entfallen und die Nationalheimpolitik nahezu beendet worden wäre 6 2 . Gegen das Weißbuch mobilisierten die Zionisten ihren Einfluß i n Großbritannien. Weizmann und andere Führer der Zionistischen Organisation traten zurück; zahlreiche Protestschreiben gingen bei den Redaktionen der großen Zeitungen ein; i m Parlament wurde das Weißbuch erörtert. Aus den Reihen der konservativen und liberalen Opposition wurde die britische Regierung heftig angegriffen; das Weißbuch wurde zu einem innenpolitischen Thema. Die Folge dieser Pression war eine A r t Widerruf der offiziellen Regierungspolitik, wie sie gerade erst i m Weißbuch formuliert worden war. Zwar widerrief die Regierung nicht offiziell, aber in einem „explanatory letter" vom Februar 1931 an Weizmann interpretierte Premierminister J. Ramsay McDonald das Weißbuch i n einer für die Zionisten beruhigenden Weise. Inwieweit sich Weißbuch und Schreiben tatsächlich unterschieden, mag man nachlesen; hier kann es dahinstehen. Jedenfalls fühlten sich die Zionisten i n allen entscheidenden Punkten beruhigt. Die arabische Seite nannte den McDonald-Brief — i m Gegensatz zum „White Paper" — „Black letter". Sie sahen ihren Verdacht bestätigt, daß eine Kommission auf die andere folgte und i n Palästina zugunsten der Araber urteilte, daß es dann aber den Zionisten in London gelänge, das proarabische Ergebnis zu hintertreiben. Diese Erfahrung bestärkte sie i n ihrer Ablehnung der, wie sie meinten, zwecklosen Zusammenarbeit mit Mandatsregierung und m i t den Kommissionen und bestätigte ihre Sicht von der anti-arabischen Einheit zwischen Zionisten, Mandatsregierung und britischen Politikern i n Großbritannien. Wenn auch die Araber mit ihren Forderungen nicht durchdrangen, so schränkte doch die Mandatsregierung die Nationalheimpolitik ein. Sie 62 So erklärte Lloyd George im britischen Unterhaus, das Weißbuch werde „almost universally regarded as a revocation of the Mandate — a practical revocation ... not merely the Jews but the Arabs take this v i e w . . . I n their hearts they believe... that this means an end to the establishment of the National-Home for the Jews in Palestine".

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reduzierte insbesondere zunehmend die jüdische Einwanderung und erschwerte den jüdischen Landerwerb 6 3 . Bereits 1920 sah sich der Hohe Kommissar erstmalig gezwungen, die Jüdische Einwanderung vorübergehend auszusetzen. Der Kampf um die Einwanderung, u m Einwanderungszahlen und -quoten sowie die K r i terien der Berechnung bestimmte das britisch-zionistische Verhältnis bis zum Ende der Mandatszeit. Zunächst machte die Mandatsregierung die Einwanderung vom K r i t e r i u m der „Wirtschaftlichen Aufnahmefähigkeit" Palästinas abhängig 64 und ließ damit den Zionisten die Möglichkeit, durch entsprechende Schaffung von Arbeitsplätzen die Einwanderungsquote zu beeinflussen. Dieses K r i t e r i u m blieb bis 1936 verbindlich. A b 1937 führte die Mandatsmacht den Begriff des „political high level" ein, eine zumindest dem P M fremde Beschränkung. Hier wurde die Einwanderung aus politischer Rücksichtnahme beschränkt. Das Weißbuch von 1939 setzte in dieser Entwicklung den vorläufigen Schlußpunkt. Für die politische Entwicklung gewann vor allem der nach den Unruhen von 1936 von der Peel-Kommission erarbeitete Bericht 6 5 Bedeutung, da hier erstmalig in einem quasi-offiziellen Dokument das Prinzip der Teilung formuliert wurde. Der Bericht nannte die Gründe klar beim Namen: das arabische Streben nach Unabhängigkeit und die Ablehnung des jüdischen Nationalheims. Hiergegen seien alle anderen Faktoren zweitrangig und hätten höchstens auf Zeitpunkt und Ausmaß der jeweiligen Unruhe Einfluß; sie seien bloße Symptome. Die Vorstellung eines gemeinsamen Staatswesens sei utopisch; weder Araber noch Juden fühlten sich i m geringsten einem gemeinsamen Staate verbunden. Die Schulen beider Volksgruppen erzögen zum ausschließlichen Nationalismus. Ein Bi-Nationalismus sei nicht mehr möglich. Jeder Versuch, sich m i t dem gemäßigten arabischen Nationalismus zu arrangieren, sei zwecklos; Hadsch A m i n sei eine solche Macht geworden, daß er als Parallelregierung bezeichnet werden müsse. Die Empfehlungen der Komission waren alternativ: Fortführung des Mandats oder seine Beendigung in der bisherigen Form. 63

16. Kapitel. s. High Commissioner's Interim Report, Cmd. 1459 von 1921, S. 8 f. (economic absorptive capacity). 65 Cmd. 5479 von 1937. J. M. Machover, Jewish State or Jewish Ghetto. Dangers of Palestine Partition. Royal Commission's proposals Examined London 1937); D. Ben Gurion, Peel-Bericht und Judenstaat (Tel Aviv 1938); Schule, Der Plan der Teilung Palästinas, ZaöRV 8 (1941), S. 470 ff.; Weiß, Die Entwicklung der Palästina-Frage seit dem Peel-Bericht, ZaöRV 9 (1942), S. 382 ff. Die Anhörungen sind, soweit sie öffentlich waren, veröffentlicht in: Palestine Royal Commission, Minutes of Evidence heard at Public Sessions, Colonial No 134 (London 1937). Die Memoranden der Mandatsregierung sind veröffentlicht in: Palestine Royal Commission, Memoranda prepared by the government of Palestine, Colonial No 133. 64

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a) Bei Fortsetzung des Mandats bestehe die Nationalheimverpflichtung i n Form der einzelnen Mandatsverpflichtungen weiter. Dann bleibe die Verpflichtung bestehen, die geschlossene Ansiedlung von Juden auf dem Lande bei gleichzeitiger Wahrung der Rechte der Araber zu gewährleisten. Dieses Land sei jedoch nicht verfügbar. Daher empfahl die Kommission, den Landverkauf an Juden i n bestimmten Zonen zu verbieten. Für die Einwanderung könne die wirtschaftliche Aufnahme nicht mehr alleiniger Maßstab sein; alle Faktoren müßten berücksichtigt werden. Daher müßten endgültige Zahlen festgelegt werden. Die Kommission empfahl eine Begrenzung für die nächsten fünf Jahre auf jährlich 12 000 Einwanderer. Danach sollte die jährliche Quote einvernehmlich m i t den Arabern festgesetzt werden 6 6 . Aber all dies, warnte die Kommission, berühre gar nicht den Kernpunkt und w i r k e höchstens palliativ. Weder würden so die Araber versöhnt noch weitere Zwischenfälle verhindert. Denn blieben Nationalheim und Mandat bestehen, so versperrten sie den palästinensischen Arabern den Weg zu der politischen Emanzipation, die die übrigen arabischen Staaten inzwischen erreicht hätten. Hier helfe es nicht mehr, das weitere Wachsen des Nationalheims zu beschränken, da es nach arabischen Vorstellungen schon zu groß sei. Eine so formulierte Alternative konnte kaum als solche bezeichnet werden. Hier wurde eine Möglichkeit durchgespielt, um sie als Unmöglichkeit zu zeigen. b) Für den Fall, daß das Palästinamandat in seiner bestehenden Form beendet werden sollte, schlug die Kommission eine Teilung vor. Dies war der erste halboffizielle Teilungsplan. Nach diesem Teilungsplan sollte ein kleiner jüdischer Staat geschaffen und das restliche Palästina mit dem Emirat von Transjordanien vereinigt werden. Der Teilungsplan folgte der damaligen jüdischen Besiedlung, die besonders i m Küstengebiet nördlich von Tel A v i v konzentriert war. Er war i n drei Teile gegliedert: — Ein Teil Palästinas sollte Mandatsgebiet bleiben: die Städte Jerusalem und Bethlehem; ein Korridor von Jerusalem nach Jaffa einschließlich des Flugplatzes Lod; der Hafen von Haifa; die bevölkerungsmäßig gemischten Städte Tiberias, Safed, Nazareth, Akko. — Der Jüdische Staat hätte ungefähr 4000 k m 2 betragen. Er hätte die Scharon- und Emekebene sowie den größten Teil von Galiläa umfaßt. Eine kleine Enklave hätte i m Süden zwischen Jaffa und Ramie gelegen. — Das arabische Gebiet hätte den Rest Palästinas einschließlich Jaffas erfaßt. 66

Was einem völligen Einwanderungsverbot gleichgekommen wäre.

10. Kap.: Die Ereignisse während der Mandatszeit

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Da das dem jüdischen Staate zugesprochene Gebiet das fruchtbarste war, sollte dieser jährliche Ausgleichssummen an Transjordanien zahlen. Gedacht war dies w o h l als Entschädigung für eventuellen Wegzug der Araber aus dem jüdischen Gebiet. Denn erstmalig taucht hier i n einer halboffiziellen Veröffentlichung der Gedanke eines Bevölkerungsaustausches auf 6 7 . Zur allgemeinen Problematik palästinensischer Teilungen s. 17. Kapitel 4 a. Peel-Teilungsplan: Karte 8.

Die m i t dem Bericht gleichzeitig veröffentlichte britische Regierungserklärung 6 8 führte aus, daß sie bislang trotz aller Enttäuschungen von der Vereinbarkeit der beiden Mandatsverpflichtungen ausgegangen sei. Erfahrung und der Bericht hätten sie jedoch zu der Einsicht geführt, daß ein unlösbarer Konflikt zwischen dem Streben beider Volksgruppen bestünde, das nicht i m Rahmen des Mandates erfüllt werden konnte. Damit gab die britische Regierung erstmals offiziell die Unvereinbarkeit beider Verpflichtungen, genauer: die Unvereinbarkeit beider unter dem Mandat verfolgten Ziele, zu und gab die seit dem Weißbuch 1922 offiziell vertretene Vereinbarkeit und der dual obligation auf. Wenn auch allgemein die hohe Qualität, die Sachlichkeit und Unparteilichkeit des Berichtes anerkannt wurde, so fand er keineswegs ungeteilte Zustimmung. Die britische Opposition nannte i h n skandalös (Lloyd George). Die Ständige Mandatskommission sah sich einer neuen Lage gegenüber, i n der sie sich überfordert fühlte. Sie rügte die Gesamtkonzeption des Berichts und meinte, sobald das Mandat für undurchführbar erklärt werde, sei es auch undurchführbar; i m übrigen bezweifelte sie die Durchführbarkeit der Teilung 6 9 . Die Zionisten waren i n einer schlechten Lage. Der deutsche Antisemitismus zwang sie auf die britische Seite, wie immer Großbritannien sich auch verhalten mochte. Weizmann erkannte auch, daß die vordem vorherrschende pro-zionistische Strömung i n Großbritannien geschwunden war; der W i n d wehte gegen den Zionismus. Akzeptierten sie dagegen den Teilungsvorschlag, so konnten sie sofort — und weit über alles bisher Zugestandene — einen eigenen Staat erhoffen, der vor allem die bedrohten europäischen Juden ungehindert hätte aufnehmen können. 67 "There would be a transfer of land and, as far as possible, an exchange of population." 68 Palestine. Statement of Policy by Η . M. Government in the United Kingdom, Cmd. 5513 von 1937. 69 Großbritannien erlangte vom VB-Rat die grundsätzliche Zustimmung zu einem evtl. Teilungsplan. Nachweise im einzelnen: Schule, S. 494 f.; Schule erörtert auch die damaligen Rechtsfragen um den Teilungsplan aus der Völkerbundssicht, S. 480 ff.

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4. T e i l : Die Mandatszeit 1920 - 1948

A u f dem 20. Zionistischen Kongreß i n Zürich (August 1937) gelang es Weizmann gemeinsam mit Ben Gurion, parteimäßig gesprochen der Verbindung von Allgemeinen Zionisten und Arbeiterpartei gegen die Rechte und Orthodoxe 70 , den Kongreß zu einer gemäßigten Entschließung zu veranlassen, die zwar die vorgeschlagenen Grenzen des jüdischen Staates für unannehmbar erklärte, jedoch prinzipiell die Teilung akzeptierte. Die arabische Seite lehnte die Teilungspläne ab 7 1 . Das Arab Higher Committee sprach sich gegen sie aus, und auf sein Ersuchen protestierten arabische Staaten. Eine i n Bludan (bei Damaskus) tagende arabische Konferenz, an der 400 Delegierte teilnahmen, faßte einen Beschluß (8. September), wonach Palästina ein integraler Bestandteil des arabischen Heimatlandes sei, von dem mit arabischer Zustimmung kein Teil abgetrennt werden könne. Stattdessen sei die Balfour-Erklärung für nichtig zu erklären und das Mandat aufzuheben. Als einzige Konzession stellte die Entschließung einen Britisch-Palästinensischen Minderheitenschutzvertrag in Aussicht. Erstmalig wurde Großbritannien vor den Folgen einer araberfeindlichen Politik gewarnt und auf ein mögliches Überschwenken ins Lager der Achsenmächte hingewiesen 72 . Wegen dieses Widerstandes gegen den Peerschen Plan rückte Großbritannien vom Teilungsplan ab 7 3 und sah die Lösung i n einer erneuten Kommission 7 4 . Die Kommission sollte die Teilungspläne des Peel-Berichts näher ausarbeiten. Der Auftrag, so zu teilen, daß möglichst wenig Araber i m j ü d i schen Gebiet verblieben, konnte nur dahingehend verstanden werden, den jüdischen Raum kleiner abzustecken. Stattdessen erklärte die Kommission die Peel-Entwürfe aus wirtschaftlichen Gründen für undurch70 Vgl. z. B. Erklärung der Agudath Israel. Diese Erklärung ist kennzeichnend für das faktische Zusammenwirken des religiösen Antizionismus mit dem extremen Zionismus: „the frontiers of our holy land are defined by the creator of the world, it is therefor impossible for the Jewish people to renounce these frontiers". 71 Für Differenzierungen in der arabischen Haltung s. Nachweise bei Hirszowiczy S. 24. Ausführlich die verschiedenen arabischen Petitionen an die Ständige Mandatskommission. 72 "We must make Great Britain understand that she must choose between our friendship and the Jews. Britain must change her policy in Palestine or we shall be at liberty to side with other European powers whose policies are inimical to Great Britain." 73 Britische Regierung an Hohen Kommissar im Dezember 1937: " H M G is in no sense committed to the approval of that plan (partition) and in particular they have not accepted the Commissioners proposal for the compulsory transfer . . . of Arabs from the Jewish to the Arab Areas." 74 eine „technische Kommission" mit der Aufgabe: to consider „in detail the practical possibilities of partition . . . it is . . . obvious that for some time to come any action will only be of an explanatory nature" ; die sog. Palestine Partition Commission oder Woodhead Commission. Teilungsplan: Karte 8. Bericht vom 9. November 1938, Cmd. 5854 von 1938; dazu White Paper Cmd. 5893 von 1938.

10. Kap.: Die Ereignisse während der Mandatszeit

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führbar 7 5 und arbeitete drei eigene Alternativen aus, die aber nur darauf hinausliefen, die Peel'schen Teilungspläne ad absurdum zu führen; vielleicht war dies überhaupt nur ihre Aufgabe. Auch diese Kommission verlangte den Arabern die Aufgabe eines Teiles von Palästina ab 7 6 . Aber da die britische Regierung sich inzwischen gegen Masseinwanderungen erklärt hatte, sahen die Pläne nur einen kleinen jüdischen Staat vor. Er hätte sich auf ungefähr 400 sq miles belaufen, d. h. nur auf ungefähr ein Zwanzigstel des von der Balfour-Erklärung erfaßten Gebietes und hätte nur Tel A v i v als einzige größere Stadt umfaßt. Die drei Pläne müssen nicht weiter erläutert werden; es genüge die Karte. Großbritannien benutzte den Woodhead-Bericht, um den Peel-Bericht beiseite zu legen; es war an der Teilung nicht mehr interessiert. Seit Oktober 1938 hatte sich Großbritanniens Lage verschlechtert. Die arabische Welt hatte die Palästinafrage zum Prüfstein ihrer Haltung gegenüber den Mandatsmächten erklärt. Auf dem arabischen Kongreß i n Bludan (Juli 1937) hatten die dort repräsentierten arabischen Gruppen m i t einer möglichen Orientierung nach Deutschland und Italien gedroht. Ein noch repräsentativerer „World Interparliamentary Congress of Arab and Moslem Countries for the Defense of Palestine" i n Kairo (November 1938) wiederholte diese Drohungen. Die weltpolitische Lage zwang Großbritannien zum Einlenken gegenüber den Arabern. Es mußte seine Position i n der arabischen Welt und seine Stützpunkte i m Vorderen Orient halten. I n Palästina konnte es nur bleiben, wenn das P M i n irgendeiner Form erhalten blieb, denn das P M war der einzige Rechtstitel. Da die Teilung undurchführbar schien, mußte Großbritannien wieder auf die alte Formel von 1922 zurückgehen — die es gerade aufgegeben hatte — und beide Verpflichtungen und das Mandat wieder für durchführbar erklären. Den Arabern mußte es weitere Konzessionen gewähren; diese konnten nur zu Lasten der Nationalheimpolitik erfolgen. Das Ergebnis dieser Überlegungen war die Londoner Konferenz von 1939 und das gleichzeitig ausgearbeitete Weißbuch von 1939. Für Februar 1939 berief Großbritannien eine Konferenz nach London ein, an der die Delegationen Ägyptens, Saudisch-Arabiens, des Iraks, Jemens und Transjordaniens teilnahmen; die palästinensischen Araber waren durch das Arabische Hohe Komitee vertreten, deren inhaftierte 75 "We have been unable recommand boundaries which will afford a reasonable prospect of the eventual establishment of self-supporting Arab and Jewish States." 76 S. 296: „the Arabs must acquiesce in the exclusion from their sovereignty of a piece of territory long occupied and once ruled by them".

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

Mitglieder für diese Konferenz freigelassen wurden. Der geflüchtete Hadsch A m i n wurde nicht zugelassen, stand aber m i t den Delegierten in Verbindung. Die arabische Seite hatte erhebliche Einwände gegen die Konferenz überhaupt. Nach ihrer Ansicht war das Palästina-Problem ein Problem zwischen Großbritannien und den Arabern unter Ausschluß der Juden und des Völkerbundes. Die jüdische Seite hatte selbstverständlich Bedenken gegen ein Mitspracherecht der arabischen Staaten. Die Konferenz war gescheitert, bevor sie anfing, denn die Palästinensischen Araber weigerten sich, mit den Zionisten an einem Tisch zu sitzen. So mußte die britische Regierung die Gespräche mit den beiden Parteien getrennt führen; eine eigentliche Verhandlung kam nicht zustande. Während die zionistischen Vertreter 7 7 die Peel-Vorschläge als zwar ungeeignet, aber immerhin als akzeptabel ansahen, waren die Araber zu keinem Kompromiß bereit. Sie verweigerten jede Diskussion außer über die sofortige Errichtung einer arabischen Regierung i n Palästina. So mußte diese Konferenz scheitern. Nach dem Scheitern der Londoner Konferenz veröffentlichte die britische Regierung das Weißbuch vom Mai 193978. I n den allgemeinen Ausführungen rückte die britische Regierung nicht allzu sehr von ihrer bisherigen Linie ab. Sie erklärte nachdrücklich, ihre Politik verfolge nicht die Schaffung eines jüdischen Staates, und ein solcher Staat entspräche nicht ihren politischen Zielen. Vielmehr sollte Palästina ein unabhängiger Staat werden, in dem sich Juden und Araber unter Berücksichtigung ihrer beiderseitigen Interessen die Regierung teilen würden. Dieser Staat sollte binnen zehn Jahren errichtet werden; er sollte vertragliche Beziehungen zu Großbritannien unterhalten, die den wirtschaftlichen und strategischen Interessen beider Länder entsprächen. Zwischenzeitlich sollten Juden und Araber zunehmenden Anteil an der Regierungsgewalt übernehmen. A l l e Teilungspläne wurden verworfen. Der Kernpunkt lag jedoch i n den drei speziellen Ausführungen, die sofort Bedeutung erlangten: die Ausführungen über Einwanderung, endlichen Bevölkerungsanteil, Landerwerb. — Von 1939 bis 1944 sollten insgesamt nur noch 75 000 jüdische Einwanderer zugelassen werden. Dies sollte die letzte Rate sein. Danach sollte weitere Einwanderung nur noch mit arabischer Zustimmung möglich — und das hieß endgültig unmöglich — sein. — I n dem vorgesehenen palästinensischen Staat sollte der jüdische A n teil keinesfalls ein Drittel der Gesamtbevölkerung übersteigen — die Juden sollten also für immer eine Minderheit i m Lande bleiben. 77 Angesichts der deutschen Gefahr erklärten sich alle zionistischen Gruppen außer den Revisionisten zu einem Kompromiß bereit. 78 Cmd. 6019 von 1939.

10. Kap.: Die Ereignisse während der Mandatszeit

— Der Hohe Kommissar wurde ermächtigt, den Verkauf Landes an Juden in bestimmten Zonen zu verbieten.

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arabischen

Diese Zonen wurden i m Land Regulations-Act von 1940 festgesetzt 79 ; danach war der jüdische Landerwerb i n ungefähr 95 % Palästinas verboten. Das Weißbuch von 1939 wurde auch von Nichtzionisten überwiegend abgelehnt 80 . Die Ständige Mandatskommission des V B erklärte es einstimmig für eine Völkerrechtsverletzung, weil es m i t der bisherigen britischen Auslegung seiner Mandatsverpflichtungen unvereinbar sei; eine Mehrheitsansicht i n der Kommission erklärt es überdies für unvereinbar mit jeder möglichen Auslegung. Das Weißbuch beende die Politik des Nationalheims und stelle eine Änderung der Mandatspflichten dar; jede Änderung des P M bedürfe jedoch, um gültig zu sein, der Zustimmung des Völkerbundrates. Über diese Zustimmung sollte der Völkerbundsrat i m September 1939 beraten; dazu kam es infolge des Kriegsausbruches nicht mehr. Da somit das Weißbuch von kompetenter Stelle für unvereinbar, zumindest für zustimmungsbedürftig erklärt worden war, diese Zustimmung aber niemals gegeben wurde, betrachtete die Jewish Agency das Weißbuch 1939 offiziell stets als „illegal"; ebenso alle Gesetze und Verordnungen, die auf dem Weißbuch basierten 81 . Sie hat ihm niemals zugestimmt, sondern stets den Kampf angesagt. Umgekehrt hat sich die Jewish Agency stets geweigert, die Überschreitung der Einwanderungsquoten als „illegal" anzuerkennen, diese Einwanderung als „illegale" zu bezeichnen, die Mithilfe bei der Umgehung der Einwanderungsbeschränkungen und sonstige Verstöße gegen die aufgrund des Weißbuches erlassenen Normen als Gesetzesverstöße anzuerkennen. Von arabischer Seite stimmten nur Transjordanien und die von den Naschaschibi geführte nationale Verteidigungspartei zu. Das (offiziell aufgelöste) Arabische Hohe Komitee lehnte ab, ebenfalls einige arabische Staaten; die übrigen enthielten sich öffentlicher Stellungnahmen. Das Weißbuch 1939 war nur der Endpunkt einer notwendigen politischen Entwicklung. Der arabische Widerstand wurde zunächst nicht ge79

Cmd. 6180 von 1940. Churchill: „a breach and repudiation of the Balfour-Declaration". Ausführungen britischer Oppositionspolitiker im Parlament, abgedruckt in: Hearings . . . (vor IV. Teil), S. 422 ff. 81 Jewish Agency for Palestine, The Jewish Case against the Palestine White Paper (London 1939); ebenfalls in: Hearings . . . (vor I V . Teil), S. 478 ff.; L. Stein, Promises and Afterthoughts. Notes on certain White Papers Relating to the Palestine Conferences (London 1939). 80

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

sehen, ignoriert und weginterpretiert („aufgeputscht von der EffendiKlasse, die ihre Privilegien behalten w i l l " ) , für ephemer gehalten. Eine Verständigung erschien Großbritannien möglich. Die relative Ruhe der 20er Jahre schien optimistische Einschätzungen zu rechtfertigen. Aber als es dann zu erneuten Auseinandersetzungen kam, waren die beiden Volksgruppen bereits so eigenständig entwickelt und gegeneinander organisiert, daß keine Verständigung in irgend einer Form mehr möglich war. M i t den zunehmenden Schwierigkeiten Großbritanniens i n Europa und der wachsenden Bedeutung der arabischen Welt in der sich vorbereitenden Auseinandersetzung des 2. Weltkrieges konnte keine britische Regierung anders handeln. Eine Erhebung der arabischen Welt hätte den 2. Weltkrieg entscheidend beeinflußt; Großbritannien mußte alles unternehmen, um die Araber wenigstens zum Stillhalten zu bewegen. Die Nationalheimpolitik war der Prüfstein für die Araber. Und wie immer man über das Weißbuch 1939 denken mag, sein Ziele hatte es erreicht: die arabische Welt erhob sich nicht gegen die Alliierten. Die Lage der Zionisten wurde verzweifelt. Sie hatten Großbritannien und den Alliierten nichts zu bieten und nichts entgegenzustellen. Die deutsche Politik ließ ihnen nicht die allergeringste Chance des Seitenwechsels; wie immer Großbritannien sich verhalten mochte, sie konnten nur voll auf alliierter Seite stehen 82 . Anders als die Araber besaßen sie keinen nuisance-value. Dieses Dilemma formulierte Ben Gurion zu der berühmten Richtlinie der zionistischen Politik des 2. Weltkrieges: "We shall fight w i t h Great Britain i n this war as if there were no White Paper. A n d we shall fight the White Paper as if there were no war." Die Mandatsgebiete standen unter der Treuhandschaft der Mandatsmächte; sie waren nicht Teil von deren Staatsgebiet. I n Kriegszeiten galten sie theoretisch als neutral 8 3 ; es war dies eines der Chrakteristika des Regimes der Mandatsgebiete. I m 2. Weltkrieg blieb dies blasse Theorie. Palästina wurde von Anfang an in den Krieg hineingezogen und wurde wichtiges Aufmarschgebiet der Alliierten. Die Deutschen wurden interniert. Zahlreiche palästinensische Juden kämpften auf alliierter Seite, zum Schluß i n eigenen Brigaden. Auch ungefähr 600 palästinensische Araber kämpften i n arabischen Einheiten. Auch von Seiten der Achsenmächte war Palästina als Durchmarschgebiet nach Norden vorgesehen. Die jüdische Bevölkerung hätte m i t einer Fortsetzung der deutschen Vernichtungsaktionen rechnen müssen. 82 Nur damals unbedeutende Splitter linker und rechter Extremisten sahen es anders. 83 N. Bentwich, The Mandated Territories during the 2nd World War 1939 1942, BY 1944, S. 164 ff.

10. Kap.: Die Ereignisse während der Mandatszeit

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Der Kampf um das Weißbuch 1939 bestimmte für eine Dekade den politischen Kampf. Je nach der Kriegslage wurde dabei das eine oder das andere Element der doppelten Kampfansage betont oder eingefroren 84 . Bis El Alamein (1942) arbeiteten die Mandatsmacht und die Jewish Agency partiell zusammen. Die zionistische Seite bot zwar vergeblich, wie bereits i m 1. Weltkrieg 8 5 , eigene jüdische Streitkräfte an. Großbritannien akzeptierte nur kleinere jüdische Einheiten i m Rahmen b r i tischer Verbände 86 . Großbritannien arbeitete für bestimmte Aktionen auch mit der noch immer illegalen Haganna zusammen 87 . Die extreme Irgun, deren Führer z. T. 1939 interniert waren, hatte Großbritannien für die Zeit des Krieges einen „Waffenstillstand" angeboten 88 und wurde gleichfalls von den Briten für Spezialeinsätze herangezogen. Als die deutsche Bedrohung nach der Niederlage von El Alamein nachließ, verloren beide Seiten das Interesse an der Zusammenarbeit. Die britische Politik wurde pro-arabischer. Und in dem Maße, wie die Ausmaße der Judenvernichtung bekannt wurden 8 9 , legten Jewish Agency und Haganna den Akzent auf den Kampf gegen das Weißbuch. Politisch setzten sie auf das Biltmore-Programm, das einen jüdischen Staat forderte. Die A k t i v i t ä t i m Lande konzentrierte sich auf die illegale Einwanderung. Das Biltmore-Programm 90. Unter der Schirmherrschaft des Emergency Council der amerikanischen zionistischen Organisation wurde i m Mai 1942 eine zionistische Konferenz i m New Yorker Biltmore-Hotel abgehalten. A n ihr nahmen über 600 amerikanische Juden, vorwiegend Zionisten, teil. Ausländische zionistische Vertreter und Nichtzionisten waren gleichfalls anwesend. Der Kongreß verabschiedete die von Ben Gurion redigierte Biltmore-Entschließung, die dem Weißbuch die moralische und rechtliche Gültigkeit absprach und forderte: „die Tore Palästinas zu öffnen, der Jewish Agency die Kontrolle über die Einwanderung nach Palästina zu übertragen sowie diese Körperschaft i m erforderlichen Umfange m i t dem Aufbau des Landes zu betrauen, wozu auch die Erschließung herrenloser und nicht bestellter Landstücke gehört, und Palästina als ein eigenstaatliches Jüdisches Commonwealth i n die Struktur der neuen demokratischen Welt zu integrieren" 9 1 . 84 s. etwa: D. Trevor, Under the White Paper. Some aspects of British Administration in Palestine from 1939 - 1947 (Jerusalem 1948). 85 s. 5. Kapitel 1. 86 Die Stärke betrug etwa 1700 Juden und 400 Araber, s. G. Kirk, Middle East in the War (London 1954), S. 231. 87 Hurewitz, Struggle for Palestine, S. 117. 88 den sie im Januar 1944 kündigte. 89 gegen Ende 1942. 90 Halperin (vor 1. Kapitel), Kapitel 9. 91 Jewish Agency for Palestine, Book of Documents submitted to the general

assembly of the UN, Mai 1947, S. 227; Hurewitz, 234; Halperin, Kapitel 9.

4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

Die Bedeutung dieser Entschließung ist nicht ohne weiteres von der Lektüre her verständlich. Sie scheint sich kaum von sonstigen Erklärungen zu unterscheiden, und die obige Forderung ist nur die letzte Ziffer der Entschließung. — Aber die Entschließung forderte einen jüdischen Staat (Commonwealth) und erhob damit erstmals diese Forderung zum offiziellen zionistischen Programm. Seit dem Basler Programm von 1897 hatten die offiziellen zionistischen Programme immer nur vom Nationalheim gesprochen 92 — was immer dies sein mochte. Seit 1897 hatten alle offiziellen zionistischen Sprecher jedenfalls i n offiziellen Stellungnahmen wieder und wieder abgestritten, daß sie einen jüdischen Staat errichten wollten. Die Biltmore-Resolution forderte den Staat. Die Entschließung ging noch weiter. Sie stellte diese Forderung nicht etwa als eine durch die Umstände bedingte Weiterentwicklung hin, sondern verleugnete alle bisherigen Erklärungen, wenn sie die Gewährung der Möglichkeit, einen jüdischen Staat zu errichten, zum eigentlichen Zweck von Balfour-Erklärung und Mandat erklärte 9 3 . — Das Biltmore-Programm forderte praktisch die Beendigung des Mandats. Denn sie verlangte alle Befugnisse für die Jewish Agency, die Einwanderung selbst i n die Hand zu nehmen und Palästina für das jüdische Aufbauwerk zu entwickeln. Da kaum zu erwarten war, daß die Mandatsmacht alle diese Befugnisse auf die Jewish Agency abgeben und sich ausschließlich der Niederhaltung des arabischen Widerstandes w i d men würde, konnte dies nur Beendigung des Mandats bedeuten. I n dieser Frage haben sich Weizmann und Ben Gurion bitter zerstritten 9 4 . Natürlich erstrebte auch Weizmann einen jüdischen Staat, was immer er auch Gegenteiliges sagen mochte. Aber Weizmann wollte die bisherige Linie des Gradualismus weiter verfolgen und über die A b schaffung des Weißbuches 1939 geduldig verhandeln. Er wollte noch nicht auf den Schutz der Mandatsmacht verzichten und lehnte daher alles ab, was als Verwerfung des Mandates verstanden werden und diesen Schutz gefährden konnte. Ben Gurion setzte auf das US-Judentum und damit auf die USA, von der er sich einen Druck auf Großbritannien zur A u f hebung des Weißbuches 1939 versprach. — I m Weltjudentum und i n der zionistischen Organisation gewannen härtere Flügel die Oberhand. Bezeichnend ist, daß die Revisionistische 92

s. 5. Kapitel 2 d. Ziffer 6. Formell knüpfte Ben Gurion an einen Aufsatz Weizmanns an, den dieser 4 Monate vorher in Foreign Äff airs (Januar 1942) veröffentlicht hatte. W. hatte geschrieben, die Araber „should be clearly told that the Jews will be encouraged to settle in Palestine and will control their own immigration; that here Jews who so desire will be able to achieve their freedom and self-government by establishing a state of their own". 93

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10. Kap.: Die Ereignisse während der Mandatszeit

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Partei, die 1935 ihre eigene Neue Zionistische Organisation gegründet hatte, i m Biltmore-Programm die eigenen Ziele formuliert fand, 1946 ihren Sonderbund auflöste und wieder der Zionistischen Organisation beitrat 9 5 . Die Bedeutung des Biltmore-Programms kann schließlich kaum überschätzt werden. Ben Gurion hatte nicht nur der zionistischen Bewegung neue Ziele gesetzt und der offiziellen zionistischen Politik bis zur Staatsgründung 1948 eine neue Grundlage gegeben. Er hatte nicht nur Beendigung des Mandates und schnelle Gründung des jüdischen Staates i n einem ungeteilten Palästina gefordert. Er hatte auch die Führungsstrukturen verändert. Anders als Weizmann setzte Ben Gurion erstmals auf die inzwischen in Palästina erreichte Machtposition. Auf politischem Bereich übernahmen der palästinensische Teil der Exekutive 9 6 und damit Ben Gurion die Führung i m Zionismus. I m Weltjudentum brachte Ben Gurion nahezu alle jüdischen Kräfte, Zionisten, Nicht-Zionisten und zum Teil selbst Anti-Zionisten 9 7 auf die bislang als extrem-zionistisch bezeichnete Position 98 . Es gelang Ben Gurion auch, die Zustimmung zu diesem Programm i n anderen zionistischen und palästinensischen Gremien zu erhalten. Seit 1941 hatte kein Zionistischer Kongreß mehr stattfinden können. Das B i l t more-Programm konnte also nur so legalisiert werden, daß die Organisationen, von denen die Teilnehmer der Konferenz delegiert waren, zustimmten. Die US-Organisationen und der palästinensisch-jüdische Nationalrat gaben sie. Die Erklärung dieses Phänomens ist einfach. I n dem Maße, wie das Ausmaß der deutschen Vernichtungsaktionen bekannt wurde, wurde auch das Judentum in aller Welt zionistischer. Die zionistische Lösung erschien als einziger Ausweg; das von Zionisten verbreitete Wort „ i t could happen here" entsprach einem allgemeinen jüdischen Gefühl. Das völlige Versagen der gesamten Welt gegenüber der deutschen Judenvernichtung konnte nur diese Wirkung haben. Hatten doch schließlich alle „zivilisierten" Staaten sich 1938 i n Evian geweigert, ihre Tore auch nur für Teile der gefährdeten Juden zu öffnen. 1938 besprachen in Evian 32 Staaten die Einwanderungsmöglichkeiten für die 500 000 deutschen Juden, deren Lage unhaltbar geworden war. Die Konferenz ging nahezu ergebnislos auseinander". Lediglich die Dominikanische Republik 95 96

Vlavianos/Gross,

Kap. 5.

Zur Organisation s. 5. Kapitel 5 a. Zu dieser Unterscheidung ebenda. 98 Nicht nur stand die Revisionistische Partei Jabotinsky, die als einzige offen den jüdischen Staat forderte, seit 1935 außerhalb der Zionistischen Organisation, sondern eine sog. „State Party" war verboten. 99 A. Tartakower und K. Grossmann, The Jewish Refugee (New York 1944); dort vollständige Literaturnachweise bis 1944. Zu Evian, S. 412 ff.; zur späteren Konferenz auf den Bermudas: S. 420 ff. 97

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

bot an, 100 000 jüdische Siedler aufzunehmen 100 . Auf diesen Konferenzen verwiesen alle jüdischen Organisationen, insbesondere auch der World Jewish Congress auf Palästina als einzige Einwanderungsmöglichkeit 101 . A u c h a u f i n t e r n a t i o n a l e r E b e n e bedeutete B i l t m o r e e i n e n Wechsel. Z u Recht h a t m a n i n B i l t m o r e d e n Ü b e r g a n g v o n d e r b r i t i s c h - z i o n i s t i s c h e n Seite a u f d i e aggressivere Seite des U S - Z i o n i s m u s gesehen. U n d d a m i t w a r auch n i c h t l ä n g e r G r o ß b r i t a n n i e n , s o n d e r n w u r d e n die U S A der P r o t e k t o r des Z i o n i s m u s , begab sich, w i e der M a r x i s t es sieht, d e r Z i o n i s m u s u n t e r d e n Schutz des a m e r i k a n i s c h e n I m p e r i a l i s m u s . Gegen E n d e des 2. W e l t k r i e g e s verschlechterte sich das V e r h ä l t n i s der Z i o n i s t e n z u r b r i t i s c h e n M a n d a t s m a c h t w e i t e r . D a s z u n e h m e n d e Wissen u m d i e deutschen V e r n i c h t u n g s a k t i o n e n u n d die f o r t d a u e r n d e n E i n w a n d e r u n g s b e s c h r ä n k u n g e n m u ß t e n die palästinensischen J u d e n i n e i n G e f ü h l der H i l f l o s i g k e i t u n d i n steigende E r b i t t e r u n g b r i n g e n ; sie a n t w o r t e ten m i t verstärkter Bemühung, illegale Einwanderer an L a n d zu bringen. Z u dieser Z e i t w a r die T ä t i g k e i t der H a g a n n a w e i t g e h e n d a u f d i e O r g a n i s a t i o n der i l l e g a l e n E i n w a n d e r u n g k o n z e n t r i e r t . D i e v o n d e r M a n datsmacht gefaßten i l l e g a l e n E i n w a n d e r e r w u r d e n z. T . nach M a u r i t i u s , nach K r i e g s e n d e nach Z y p e r n d e p o r t i e r t . D i e Schicksale d e r F l ü c h t l i n g s schiffe m u ß t e n v i e l e J u d e n i n i r r a t i o n a l e n A k t i v i s m u s t r e i b e n . Die sog. Flüchtlingsschiffe während des 2. Weltkrieges waren meist seeuntüchtige Schiffe, oft alte Donau- und Schwarzmeerküstenschiffe, die meistens von rumänischen Häfen aus starteten und versuchten, Juden vor der Vernichtung zu retten und nach Palästina zu bringen. Die deutsche Besatzungsmacht hat zeitweise diesen Fluchtweg offen gelassen 102 . Soweit die Schiffe von Großbritannien aufgebracht wurden, wurden die Flüchtlinge deportiert („Atlantic"); die im Haifaer Hafen liegende „Patria" wurde gesprengt 103 ; andere Schiffe wurden in türkischen Gewässern trotz Seeuntüchtigkeit zur Ausfahrt gezwungen und sanken infolge dieser Seeuntüchtigkeit oder durch 100 von diesem Projekt blieben 472 Siedler in Sosua. Trotz umfangreicher Untersuchungen (Nachweise bei Tartakower/Grossmann, S. 319) ist unklar, warum das Projekt scheiterte. 101 Siehe Memoranda bei Tartakower/ Grossman, Anhang. Zu dem antizionistischen Vorwurf, die Zionisten hätten bewußt andere Einwanderungsmöglichkeiten hintertrieben, sagen die Autoren nichts. Zum Problem der Flüchtlinge von der International Relief Organisation (IRO) s. Robinson (vor 17. Kapitel 2), Kapitel I I ; zu dieser Organisation: WBVR, = „Internationale Flüchtlingsorganisation". 102 Gute Darstellung über die Organisation dieser Fluchtwege bei J. Rohwer, Die Versenkung der jüdischen Flüchtlingstransporter Struma und Mefkure im Schwarzen Meer, Februar 1942, August 1942 (1964). 103 Die zionistische Propaganda hat diesen Vorfall zeitweise so hingestellt, als hätten die Flüchtlinge sich selbst in die Luft gesprengt, um nicht deportiert zu werden. Es scheint heute festzustehen, daß Angehörige der Irgun von Land aus gehandelt haben. Die „Patria" war kein eigentliches Flüchtlingsschiff, sondern hatte 1771 illegale Einwanderer übernommen, die deportiert werden sollten. Die Irgun wollte anscheinend die „Patria" lediglich fahruntüchtig machen, um die Ausfahrt und Deportation zu verhindern. Versehentlich geriet die Sprengung größer.

10. Kap.: Die Ereignisse während der Mandatszeit

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Kriegseinwirkung 104 . Ungefähr 2 000 Flüchtlinge verloren auf diesen Schiffen ihr Leben 1 0 5 . Da die Mandatsmacht auch nach Kriegsende die Einwanderung weiter beschränkte, gingen illegale Einwanderung und Deportation weiter. A m bekanntesten wurde die „Exodus", ein Flüchtlingsschiff mit ungefähr 4 500 Überlebenden aus deutschen Konzentrationslagern. I m Hafen von Haifa w i dersetzten sich die Flüchtlinge der britischen Internierung mit Gewalt, wobei einige Flüchtlinge den Tod fanden. Die „Exodus" wurde zur Rückkehr nach Deutschland gezwungen, was angesichts der Lage der Flüchtlinge damals von aller Welt als besonders unhaltbar angesehen wurde. Die „Exodus" lief Marseille an; auch dort widersetzten sich die Flüchtlinge der Aussetzung. I n Hamburg wurden sie schließlich gewaltsam von Bord geholt und wieder in ein Lager gesperrt. A n Bord selbst herrschten während dieser Zeit absolut menschenunwürdige Verhältnisse, da das Schiff nicht für so viele Menschen geeignet war. Der Fall trug sich zu, als die Untersuchungskommission in Palästina weilte und wurde naturgemäß von der zionistischen Propaganda ausgewertet. Bekannt wurden der Roman von Leon Uris und der darauf fußende Film.

Die Tätigkeit der jüdischen Terroristen stieg wieder an. Die Irgun kündigte den gegenüber Großbritannien bei Kriegsausbruch erklärten „Waffenstillstand"; die Stern-Gruppe organisierte sich neu und nahm ihre terroristische A k t i v i t ä t wieder auf; sie gipfelte i m Mord — die Zionisten sprechen von „Exekution" — an dem britischen Deputy M i nister i n Kairo, Lord Moyne. Die Irgun Zvai Leumi war die militärische Organisation der Revisionistischen Partei: Die Irgun hatte sich 1937 von der Haganna abgespalten. Sie wurde zunächst von dem Jabotinsky-Schüler David Raziel geführt, der bei einem Kommando-Einsatz der Alliierten fiel; dann von Begin 1 0 6 . Die Irgun lehnte die Autorität und Leitung der Jewish Agency ab. Sie lehnte ebenfalls den Grundsatz der Haganna, keinen Gegenterror gegen die arabische Bevölkerung auszuüben ab und wurde Haupträgerin des Terrors gegen die britische Mandatsmacht. Sie wurde vor allem von amerikanischen Zionisten unterstützt 107 . Die „Altalena" war von US-Zionisten ausgerüstet worden. Die Irgun scheint etwa 1 000 Mitglieder gehabt zu haben. Von der Irgun spaltete sich die noch radikalere Stern-Gruppe, auch von Zionisten nur „Stern-Gang" genannt, ab. Sie lehnte auch den Waffenstillstand der Irgun mit der Mandatsmacht während des Krieges ab. Da ihr Gründer, Abraham Stern, zu Beginn des Krieges bei einer britischen Razzia erschossen 104 s. J. Rohwer, W. Rostenstock, Jewish Emigration from Germany, in Jahrbuch des Leo-Baeck-Instituts (1956); The Wiener Library Bulletin Bd. 16 Nr. 2 (1962) ; Bd. 18 Nr. 3 (1964). 105 Nahezu 800 auf der „Struma". 106 Später Vorsitzender der rechtsextremen Herut-Partei und Abgeordneter; seit dem Krieg von 1967 Minister. Uber die Irgun s. M. W. Begin, The Revolt. Story of the Irgun (New York 1951) ; Y. Meridor, Long is the Road to Freedom (New York 1961). 107 V o r allem die Gruppe um Peter Bergson und den Schriftsteller und Drehbuchautor Ben Hecht. Der Zionist G. Landauer (Der Zionismus im Wandel dreier Jahrzehnte, Tel Aviv 1957), S. 242, spricht von der Hetzorganisation der Assimilanten.

13 Wagner

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4. T e i l : Die Mandatszeit 1920 - 1948

wurde, verlor sie zunächst an Bedeutung und konnte sich erst gegen Ende des Krieges wieder organisieren. Ihre spektakulärste Tat war die Ermorderung Moynes im November 1944 in Kairo. Über die Stern-Gruppe (auch: F F I oder Lehi) ist wenig bekannt; das allgemein zitierte Buch von G. Frank, The Deed (New York 1963, London 1964), ist Kolportage; Y. S. Brenner, The Stern Gang 1940 - 1948, Middle Eastern Studies, Bd. 2,1965, Nr. 1. Die Stern-Gruppe scheint nie über 200 Mitglieder gehabt zu haben.

Diesen Terror mag man verschieden beurteilen. Eine moralische Beurteilung ist heute kaum mehr möglich, da Terror als M i t t e l eines nationalen Befreiungskampfes allmählich allgemein akzeptiert ist — was nicht ausschließt, daß die Terroristen der anderen Seite stets als „Mörderbanden" bezeichnet werden 1 0 8 . Auch den größten Teil des Krieges 1947 1949 haben die beiden dissentierenden Gruppen unabhängig von der Haganna gekämpft; militärisch werden sie — außer von ihnen nahestehenden Autoren — gering eingeschätzt. Militärische Beobachter verweisen auf die Aktionen der Irgun i n Jerusalem und Jaffa. Ihre militärisch sinnlosen „Strafexpeditionen" gegen Araber rächten sich oft bitter an Juden 1 0 9 . Das Massaker von Dair Jassin 110 führte zu arabischen Gegenaktionen und belastet den israelischen Staat noch heute. Jedenfalls hat der Terror der beiden Gruppen zwei Auswirkungen gehabt: er hat Großbritannien veranlaßt, das P M an die V N zurückzugeben und damit den Weg für die israelische Staatsgründung frei zu machen. Und er hat zum Exodus der Araber beigetragen und somit die Bevölkerungsverhältnisse zwar radikal zugunsten der Juden verändert, langfristig aber auch dem israelischen Staate in den palästinensischen Flüchtlingen das größte Problem und das bedeutendste Hindernis zum Frieden geschaffen. Die Haltung der zionistischen Organe gegenüber den beiden extremen Gruppen variierte erheblich. Die politischen Meinungsverschiedenheiten waren aus parteilichen Gründen groß: die Extremisten gingen aus der Revisionistischen Partei hervor, die offizielle Führung in der zionistischen Organisation, i n der Jewish Agency und in den übrigen Organen des palästinensischen Judentums ging aus den Allgemeinen Zionisten und den Sozialistischen Parteien hervor. Zionisten haben ihre parteipolitischen Meinungsgegensätze stets vehement ausgetragen — aber sie haben auch immer beachtliche Fähigkeiten zur Zusammenarbeit gezeigt. Wie weit die Zusammenarbeit der Jewish Agency und der Haganna mit 108 Ein Beispiel für diese Schizophrenie bietet der letzte britische Hohe Kommissar Cunningham (Palestine: The Last Days of the Mandate, International Affairs Bd. 24 (1948), S. 481 ff., 486: Irgun und Stern übernahmen die erfolgreiche Untergrundpraxis der Résistance des 2. Weltkrieges, aber in Palästina nennt er sie „dastardly crimes against civilzation". 109 Man verweist etwa auf einen Überfall auf arabische Arbeiter in der Erdölraffinerie in Haifa am 30. Dezember 1947, der zum arabischen Gegenschlag führte, bei dem 40 jüdische Arbeiter getötet wurden. 110 s. 18. Kapitel.

10. Kap.: Die Ereignisse während der Mandatszeit

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den terroristischen Gruppen reichte, ist sehr strittig, und mangels veröffentlichter Dokumente läßt sich wenig mehr als mutmaßen. Die Mandatsmacht glaubte, Beweise für die Zusammenarbeit von Jewish Agency und Haganna m i t der Irgun zu haben; sie hat Dokumente und abgefangene Funksprüche i n einer Veröffentlichung zusammengestellt 1 1 1 ; die offizielle zionistische Propaganda bezeichnet das Material als gefälscht. Nach dem Mord an Lord Moyne wies die Jewish Agency die Haganna an, gegen die Terroristen vorzugehen und erstmalig insoweit m i t der Mandatsregierung zusammenzuarbeiten; 279 Irgun- und Sternanhänger konnten daraufhin inhaftiert werden. I n der Folgezeit kam es aber erneut zur Zusammenarbeit und die Haganna hat viele erfolgreiche Operationen gegen die Mandatsmacht m i t der Irgun unternommen. I n den Krieg 1947 - 1949 gingen Haganna, Irgun und Stern zunächst organisatorisch getrennt, wenn sie auch ihre Operationen zum Teil gemeinsam führten. Während des Krieges gelang es der politischen Führung, die drei Armeen i n der neuen israelischen Armee zusammenzufassen. Die Beziehungen der Zionisten zur Mandatsmacht verschlechterten sich naturgemäß 1 1 2 . Als 1945 i n Großbritannien die Labour-Partei die Regierung übernahm, machten sich die Zionisten zunächst große Hoffnungen. Hatte doch die oppositionelle Labour-Partei sich seit langem sehr pro-zionistisch ausgesprochen. Noch 1944 hatte sie das Weißbuch von 1939 heftig verurteilt. Sie hatte nicht nur seine Aufhebung und die Durchführung einer konsequenten Nationalheimpolitik gefordert, sondern sogar von einer Zwangsaussiedlung der palästinensischen Araber gesprochen. Dies w a r mehr, als die Zionisten je ausgesprochen oder gefordert hatten und selbst die Jewish Agency distanzierte sich von diesen Äußerungen. Die Zionisten wurden jedoch schnell enttäuscht, als die Labourregierung aus außenpolitischen Gründen genau dieselben Rücksichten auf die Araber nehmen mußte wie ihre Vorgängerin. Insbesondere blieb die vom Weißbuch 1939 bestimmte Politik der Einwanderungsbeschränkung i n Geltung. Besonders schwierig gestaltete sich das Verhältnis der Mandatsmacht zu den USA. Hier hatte sich inzwischen der amerikanische Zionismus formiert und beträchtlichen Einfluß auf die US-Regierung genommen; i h r Einfluß wurde um so größer, wie sich fast alle jüdischen Gruppen einigen konnten 1 1 3 . Die US-Regierung setzte ihrerseits Großbritannien bezüglich ihrer Mandatspolitik unter starken Druck. 111

Acts of Violence in Palestine, Cmd. 6873 von 1946. s. etwa R. D. Wilson , Cordon and Search: with the 6 t h Airborne Division in Palestine 1945 - 1948 (Aldershot 1949). 113 Wie anläßlich der Biltmore-Konferenz gezeigt. 112

12*

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

Die amerikanischen Juden hatten seit langem mit wechselndem Erfolg versucht, die US-Regierung zugunsten gesamt jüdischer Belange einzusetzen. Den frühesten Erfolg konnten sie nach den Kischinew-Pogromen 1903 114 verbuchen, als die USA nach vergeblichem Druck auf Rußland den amerikanisch-russischen Handelsvertrag kündigten 115 . I m 1. Weltkrieg gelang es ihnen, die USRegierung und insbesondere den US-Präsidenten Wilson für die BalfourErklärung zu gewinnen 116 . Bei den Friedensverhandlungen in Paris waren die Zionistische Delegation und die US-Delegation (solange sie teilnahm) kaum zu unterscheiden. I n die Abfassung des P M schaltete sich die US-Regierung ein 1 1 7 . Nach 1933 versuchte das amerikanische Judentum die US-Regierung zu Schritten gegen Deutschland zu bewegen; hier blieb ihm fast jeder Erfolg versagt.

M i t der Stärkung, die sie i m 2. Weltkrieg und nach der BiltmoreKonferenz unter der sehr energischen Leitung von Stephen S. Wise und Abba Hillel Silver gewannen, setzten sie sich gegen Ende des Krieges vornehmlich auf zwei Ebenen ein: sie versuchten die US-Regierung zu bewegen, auf Großbritannien Druck auszuüben, daß es das Weißbuch von 1939 widerrufe; sie führten den Kampf vor den V N um die Staatswerdung Israels 118 . Wie später für den Kampf vor den V N organisierten die amerikanischen Zionisten i n jedem amerikanischen Gliedstaat, i n jedem Kongreßdistrikt und i n allen größeren Städten Aktionsgruppen. Diese überschütteten die Kongreßmitglieder und das Weiße Haus m i t Briefen, Telegrammen und sonstigen Materialien, mit denen die Regierung aufgefordert wurde, sich offiziell für die unbegrenzte jüdische Einwanderung nach Palästina und für die jüdische Autonomie in Palästina auszusprechen. Der zionistische Erfolge war so groß, daß 1944 beide amerikanische Parteien die unbeschränkte Einwanderung nach Palästina und die Errichtung eines „freien und demokratischen jüdischen Commonwealth" i n ihre Wahlprogramme aufnahmen 1 1 9 ; sie sollen diese Forderungen i n Tafeln auf den Rednertribünen propagiert haben. I m Dezember 1944 faßten die beiden Häuser des Kongresses (Repräsentantenhaus und Senat) Resolutionen, i n denen die Regierung ihrerseits zu entsprechenden Erklärungen 114

JL und EJ, „Kischinew". C. Adler, Amerikas Stimme zu dem Massaker von Kischinew (Philadelphia 1905) ; C. Adler und A. Margalith, With firmness in the right, American diplomatic action affecting jews (New York 1946). 116 6. Kapitel 1. 117 11. Kapitel 2. Siehe ferner Nachweise zum nicht jüdischen pro-zionistischen Einfluß in den USA, der schließlich zur Resolution des Kongresses von 1923 geführt hat, bei Halperin, Kapitel 7 und dort Anm. 3. 118 17. Kapitel 2 und 3. 119 Zum Ganzen etwa R. P. Stevens, American Zionism and U.S. Foreign Policy, 1942- 1947 (New York 1962), Kap. I I - V I und insbes. S. 55 ff., 116 ff.; ferner ausführlich: Hearings... (vor I V . Teil); dort auch alle Resolutionen und Statements. 115

10. Kap. : Die Ereignisse während der Mandatszeit

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aufgefordert wurde 1 2 0 . Damit war es praktisch dem amerikanischen Zionismus gelungen, die US-Politik auf das Biltmore-Programm festzulegen. Zu den spezifischen Vorwürfen der Araber gegen das US-Judentum s. 17. K a pitel 3 am Ende.

Der jüdische Einfluß richtete sich vornehmlich an den Präsidenten, und der Präsident forderte dann auch i n öffentlichen Erklärungen Großbritannien periodisch auf, die Einwanderungsbeschränkungen aufzugeben 121 . Der Streit konzentrierte sich insbesondere auf die Zahl 100 000, was ungefähr der Zahl der in westeuropäischen Lagern verbliebenen jüdischen Überlebenden und Flüchtlingen aus dem kommunistischen Bereich entsprach. Die Diskussion m i t Großbritannien zog sich längere Zeit hin. Großbritannien forderte von den USA die Mitübernahme der Verantwortung für die Durchführung — und das hieß ein militärisches Engagement —, die USA waren hierzu nicht bereit, forderten aber mehrfach von Großbritannien die sofortige Zulassung von 100 000 Flüchtlingen. Großbritannien antwortete i n gewohnter Weise: mit einer Untersuchungskommission; es war dies mittlerweile die 18. Kommission, die sich m i t Palästina befaßte. Dieses Mal wurde eine gemischte britisch-amerikanische Kommission eingesetzt, die Lösungsvorschläge ausarbeiten sollte; Großbritannien sagte i m voraus die Durchführung der Vorschläge zu. Die englisch-amerikanische Untersuchungskommission 122 erreichte zwar unter sich Einigkeit, keineswegs jedoch zwischen Washington und London. Die Kommission empfahl Großbritannien, sofort 100 000 Flüchtlinge einwandern zu lassen. I m übrigen wurde empfohlen, daß Großbritannien das Mandat fortführen sollte, bis die beiden Völker sich verständen und gute Beziehungen zueinander hätten. Danach sollte Palästina i n ähnlicher Weise wie nach dem Peel-Plan geteilt werden. Journalistischer konnte man über das Problem kaum hinweggleiten. Aber die Situation war eben ohne Gewalt nicht mehr zu lösen. Wer sich von der 120 Die US-Regierung sollte erklären: "We favor the opening of Palestine to unrestricted Jewish Immigration and colonisation, and a policy which would result in establishing a free and democratic Jewish Commonwealth." 121 Bereits Roosevelt hatte 1944 einer jüdischen Delegation erklärt, die USRegierung hätte niemals dem britischen Weißbuch 1939 zugestimmt. 122 Anglo-American Committee of Inquiry. Report to the United States Government and His Majesty's Government in the United Kingdom (Lausanne - Washington 1946). Weitere Literatur zur Kommissionsarbeit und zur Problematik: A Survey of Palestine, prepared in December 1945 and January 1946 for the Information of the Anglo-American Committee of Inquiry, herausgegeben von der Mandatsregierung, 2 Bde. (Jerusalem 1946) ; The Jewish Case before the Anglo-American Committee of inquiry on Palestine, as presented by The Jewish Agency for Palestine, Statements and Memoranda, herausgegeben von The Jewish Agency for Palestine (Jerusalem 1947); R. Crossmann, Palestine Mission. A Personal Record (London 1947).

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

subjektiven Ehrlichkeit der Kommission überzeugen will, lese das Buch von Crossmann, der m. E. zu Unrecht von arabischer Seite als Zionist bezeichnet wird. D e r a m e r i k a n i s c h e P r ä s i d e n t ü b e r n a h m aus d e m U n t e r s u c h u n g s b e r i c h t l e d i g l i c h die E m p f e h l u n g a u f sofortige Z u l a s s u n g der 100 000 F l ü c h t l i n g e ; i m ü b r i g e n b e h i e l t er d i e a m e r i k a n i s c h e S t e l l u n g n a h m e v o r . G r o ß b r i t a n n i e n dagegen f o r d e r t e v o n d e n U S A die M i t ü b e r n a h m e der V e r a n t w o r t u n g , v o n d e r J e w i s h A g e n c y die A u f l ö s u n g d e r H a g a n n a . So b l i e b auch diese K o m m i s s i o n konsequenzlos. Von den weiteren Versuchen Großbritanniens, insbesondere von zwei weiteren Plänen zur Befriedigung Palästinas ist wenig zu berichten: Nach dem Morrison-Grady-Plan 1 2 3 sollte das Palästina-Mandat in eine britische Treuhandschaft der V N umgewandelt werden. Palästina sollte in eine jüdische und eine arabische autonome Provinz umgewandelt werden. Ausgenommen sollten zwei Distrikte bleiben, die ausschließlich britisch verwaltet werden sollten: Jerusalem—Bethlehem sollte aus religiösen Gründen, der Negev sollte aus strategischen Gründen der Autonomie vorenthalten bleiben. Der Bevin-Plan wollte Palästina einer fünfjährigen britischen Treuhandschaft der Vereinten Nationen bei weitgehender lokaler Selbstverwaltung von Juden und Arabern unterstellen. Monatlich sollten während zweier Jahre 4 000 Juden einwandern können; danach sollte der Oberkommissar die Einwanderung regeln. Beide Pläne wurden von beiden Volksgruppen abgelehnt. Die Pläne führten nicht einmal mehr zu einer vorübergehenden Beruhigung; die britische Zeit war abgelaufen.

Elftes

Kapitel

Das Palästina-Mandat 1. Das System der Völkerbundmandate Schrifttum:

WBVR, „Mandate".

D i e M a n d a t e des V B ( A r t . 22 V B S ) w a r e n e i n K o m p r o m i ß zwischen d e m A n n e x i o n s s t r e b e n d e r europäischen Siegermächte u n d d e n I d e e n v o m S e l b s t b e s t i m m u n g s r e c h t d e r V ö l k e r . Insbesondere W i l s o n w a n d t e sich gegen britisch-französische A n n e x i o n s a b s i c h t e n . S o w e i t die K o l o n i a l gebiete n i c h t entsprechend p o l i t i s c h e n t w i c k e l t schienen, sollte eine i n t e r n a t i o n a l e V e r w a l t u n g sie z u r S e l b s t ä n d i g k e i t f ü h r e n . A u s dieser i n t e r n a t i o n a l e n V e r w a l t u n g w u r d e schließlich die V o r m u n d s c h a f t e i n i g e r 123

Vom 21.7.1946; der Plan wurde offiziell nie veröffentlicht. Nachweise etwa in The Jewish Plan for Palestine (17. Kapitel 2, Anm. 6), S. 11 ff.

11. Kap.: Das Palästina-Mandat

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europäischer Siegerstaaten und eine gewisse Aufsichtsbefugnis des Völkerbundes über die Ausübung dieser Vormundschaft. Die ehemaligen deutschen Kolonien sollten wegen ihres soziologisch-politischen Rückstandes von der Mandatsmacht unmittelbar verwaltet werden. Die ehemals türkischen Gebiete wurden für „vorläufig unabhängig" erklärt. Hier sollten die Mandatsmächte nationale Regierungen errichten und sich auf Ratschläge und Unterstützung beschränken. Die oberste Entscheidungsgewalt i n Mandatssachen war nach A r t . 22 V I I und I X dem Völkerbundrat übertragen. Er sollte Verstöße der Mandatsmächte gegen A r t . 22 VBS oder gegen die Mandatssatzungen feststellen. Theoretisch w a r er auch für die Änderung der Mandatssatzungen und für eine etwaige Rücknahme des Mandats zuständig. Manche Autoren haben hieraus eine Souveränität des Völkerbundes über die Mandatsgebiete hergeleitet. Die Mandatsmacht war gegenüber dem Völkerbundsrat verantwortlich; vorgeschaltet war die Ständige Mandatskommission 1. Diese Mandatskommission bestand aus neun, nach dem Beitritt Deutschlands aus zehn Mitgliedern. Die Mehrheit der Mitglieder mußten Angehörige aus Nichtmandatarstaaten sein. Die Kommission bearbeitete die i n A r t . 22 VBS vorgeschriebenen Jahresberichte der Mandatsmacht, an die sich meist eine mündliche Erörterung m i t dem Vertreter der Mandatsmacht anschloß. Dies war für Palästina oft der Hohe Kommissar selbst. Daran schloß sich ein Bericht der Mandatskommission an den Völkerbundsrat an 2 . Die Verantwortung für die Mandatspolitik verblieb beim Mandatar; die Kommission konnte insoweit keine Entscheidungen treffen, sondern nur beraten und empfehlen. Die Grenze ihrer Befugnisse wurde am Regime der Petitionen erarbeitet 3 . Die Kommission hat schriftliche Petitionen angenommen und erörtert, aber weder hat sie die Petitionäre empfangen noch hat sie selbst Inspektionen vorgenommen. Die Kommission hat daher zionistische und arabische Petitionen angenommen und erörtert 4 , soweit sie sich sachlich für zuständig hielt. Sie hat das Petitions1 H. Roth , Das Kontrollsystem der Völkerbundsmandate (1930). C. L. Upthegrove , Empire by Mandate. A History of the Relations of Great Britain with the Permanent Mandates Commission of the League of Nations (1954). 2 Die Diskussionen der Ständigen Mandatskommission sind veröffentlicht unter dem Titel: League of Nations. The Permanent Mandates Commission, Minutes (nach Sitzungen geordnet) 1921 - 1939; (französisch: Procès-verbaux). Die Berichte der Kommission an den Völkerbundsrat sind veröffentlicht als „Rapports présentés au Conseil de la S. d. N. au Nom de la Commission Permanente des Mandats". 3 Hierzu s. etwa Bentwich, The Mandates System, S. 113 ff.; Upthegrove, S. 71 ff. 4 Viele Beispiele aus Palästina bei Upthegrove, a.a.O

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

system nicht zu einer allgemeinen Appellationsinstanz gegenüber Maßnahmen an der Mandatsmacht werden lassen. A r t . 22 enthält eine Reihe ethisch-politischer Grundsätze, die redaktionell nicht i n normative Fassung gebracht wurden; i m übrigen Kontext bleibt er bereits sprachlich ein Fremdkörper. Er hat außergewöhnlich viele Fragen aufgeworfen, die i n der Denkweise und den Kategorien der damaligen Völkerrechtslehre erörtert wurden. Die Diskussion wurde sonderlich verworren, wenn versucht wurde, die tatsächliche Praxis m i t dem System des A r t . 22 i n Einklang zu bringen. So sollte nach A r t . 22 I V die Bevölkerung der ehemals türkischen Gebiete bei der Wahl der Mandatare befragt werden. Das ist bei keinem Mandat geschehen. Völkerbundfreundliche Autoren haben den Völkerbundrat für die Verteilung der Mandate zuständig sein lassen, während i n Wahrheit die alliierten Hauptmächte sich die Mandate selbst zuteilten. Eine große Literatur hat sich hier um Harmonisierung bemüht 5 . Die Mandate selbst hatten ihre rechtliche Grundlage i n den einzelnen Abkommen; diese Abkommen legten auch das Regime des Mandatsgebietes fest. Theoretisch wurden die Abkommen zwischen der Mandatsmacht und dem Völkerbundrat geschlossen. I n Wahrheit hatte der Völkerbund keinerlei Einfluß auf die Abfassung und hat sie lediglich bestätigt 6 . Diese Abkommen heißen i m Deutschen meist Mandatsvertrag, Mandatssatzung oder einfach Mandat. Das infragestehende Mandat w i r d i m folgenden dem Sprachgebrauch entsprechend Palästinamandat (PM) genannt. Die Gegenwart sieht i n dem Mandatssystem meist nur eine andere Form kolonialistischer Beherrschung und eine imperialistische Farce. Bereits die von Smuts stammende D i k t i o n des A r t . 22 VBS, die das „Wohlergehen und die Entwicklung der Völker" zur „heiligen Aufgabe der Zivilisation" erklärt, und die „Vormundschaft über diese Völker an die fortgeschrittenen Nationen" überträgt, erscheint heute unerträglich. Man kann diesen Formulierungen zynische Äußerungen alliierter Staatsmänner entgegenstellen, die das Mandat offen als Kolonialregime m i t Geste gegenüber Wilson ansahen. Die völkerrechtliche und politische Literatur hat es vielfach so gesehen. Für viele französische Autoren war die britische Palästina-Politik glatter Imperalismus 7 ; britische Autoren sprachen von der französischen Kolonialisierung Syriens. Deutsche Autoren empörten sich über die Heuchelei 5 Zu den Versuchen, diese Praxis mit Art. 22 zu harmonisieren, s. Spiegel, S. 39 ff. 6 Diskussion: Spiegel, S. 49 ff. 7 s. z. B. die pro-französische Schrift von Ch. Ayoub, Les Mandats orientaux (Paris 1924).

11. Kap.: Das Palästina-Mandat

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beider 8 . Gerügt wurde aber immer nur der imperialistische Erfolg des anderen und die mandatshumanitäre Verbrämung: die deutschen A u toren forderten nicht nur Kolonien für Deutschland; das repräsentative Wörterbuch des Völkerrechts hielt auch eine deutsche Oberherrschaft über Palästina für das Vernünftigste 9 . Die marxistische Lehre sieht das Mandatssystem nur als Nachkriegsform britisch-französischen Imperialismus und selbst das gegen die Annexion gerichtete Streben Wilsons w i r d als Methode des Finanzimperialismus gesehen 10 . So ist es natürlich, daß auch die Araber das Palästinamandat so sahen 11 . Aber man kann alle Institutionen des V B und der V N nach ihrem Scheitern und nach ihrem Gelingen darstellen. Nach ihrem Scheitern: die Einflußmöglichkeiten des Völkerbundes waren gering, und i n seinen Organen waren die Mandats- und Kolonialmächte selbst wieder führend. Man mag darauf hinweisen, daß Japan aus dem V B austrat und die ihm unterstellten Mandatsgebiete behielt. Nach ihrem Gelingen: Man kann darauf hinweisen, daß es Großbritannien und Frankreich nicht gelang, die Α-Mandate voll zu annektieren und daß Syrien, Libanon, Transjordanien und Mesopotamien die volle Unabhängigkeit erlangt haben 12 . Natürlich überzeugt auch dies den Skeptiker wenig; er w i r d die Unabhängigkeit Transjordaniens bezweifeln und die der übrigen Gebiete auf antikolonialistische Aufstände wie i n Mesopotamien und die politischen Ereignisse wie i n Syrien und Libanon zurückführen. Die unterschiedliche Sicht zeigt sich insbesondere bei der Beurteilung der Ständigen Mandatskommission. Eine solche, die Souveränität durchbrechende Zuständigkeit zur Erörterung der Mandatspraxis durch ein internationales Gremium galt damals als großer Fortschritt. Aber i m Falle des Palästinamandats sahen beide Parteien i n den Mitgliedern nur Parteilichkeit: Die Araber warfen der Mehrzahl eine prozionistische Haltung vor 1 3 . Die Zionisten sahen i n ihnen oft Antizionisten und A n t i semiten; so verfehlten sie nicht, bei ihnen nicht genehmen Äußerungen 8

s. z. B. Schwarzenberger

(vor 11. Kapitel 2); E. Topf, Die Staatenbildungen

in den arabischen Teilen der Türkei seit dem Weltkrieg nach Entstehung, Bedeutung und Lebensfähigkeit, S. 58 f. 9 WVR, „Palästina" (1925), Bd. 2, S. 225. 10 Wörterbuch der Außenpolitik (1965), „Mandatssystem". Zur amerikanischen Politik, die Mandatsgebiete für ihre Wirtschaft zu erschließen, s. 9. K a pitel 1. 11 "The so-called pro-Jewish policy of the Mandatory is but a screen for oppressing Imperialism and an excuse for withholding from the people of Palestine their elementary right of independence." 12 Für Β und C Mandate enthält Art. 22 kein Versprechen der Selbständigkeit. 13 s. Bentwich , Mandate Memories, S. 145 f. ζ. B.: most members of which — some of them are mentioned by name — are, in its opinion, conspiring with the Zionist authorities to despoil the Arabs of their rights", Minutes, X X V . Session (1934), S. 134 f.

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

des italienischen Vorsitzenden Theodoli zu bemerken, er habe „Arab connections by marriage" 1 4 . Daß die Zionisten tatsächlich bei der Kommission gegenüber den Arabern i m Vorteil waren, lag an der allgemein wirksamen Tatsache, daß die Weltpolitik damals von den europäischen Mächten und den USA gemacht wurde, und daß die Zionisten hier die besseren Verbindungen hatten. I n Genf unterhielt die Zionistische Organisation (Jewish Agency) ein eigenes Büro. Das ist alles eine Frage der Einstellung und der Erwartung, m i t der man an die Kommission herantritt. Sie war nicht willfährig. Aber sie blieb i m Rahmen des V B - und Mandatssystems, sie blieb i m Rahmen des Möglichen und i m Rahmen der Zeit. Sie bemühte sich u m einen humaneren Kolonialismus und erschwerte gewisse koloniale Praktiken. I n den arabischen Gebieten 15 drängte sie oft auf eine gewisse Entwicklung, wie sie sie verstand, und sie forderte die Erziehung zur Selbstverwaltung zugunsten der gesamten palästinensischen Bevölkerung. Man darf daher von der Kommission bestenfalls eine loyale Einstellung zum Mandatssystem erwarten, aber keine grundsätzlich antikolonialistische und antiimperialistische Haltung. Von ihrer Rechtsgrundlage und ihrer Funktion aus konnte sie weder das Mandatssystem selbst noch das einzelne Mandat i n Frage stellen. Auch nach ihrer personellen Zusammensetzung w a r die Kommission nicht antikolonialistisch eingestellt. Die Mehrzahl der Mitglieder durfte zwar keiner Mandatsmacht angehören — aber sie waren meist doch Vertreter von Kolonialmächten oder solchen, die es wieder werden wollten (Deutschland 16 ). Fast alle Mitglieder hatten „Kolonialerfahrung". Eine Passage mag den Wandel der Anschauungen charakterisieren. I n der Diskussion um die arabischen Forderungen nach einem demokratischparlamentarischen System für Palästina 1 7 stellte das portugiesische M i t glied (ehemals Gouverneur von Mozambique) die rhetorische Frage, was geschähe, wenn das Mehrheitsprinzip angewandt würde. Er beantwortete nach damaliger Anschauung wohl überzeugend: " I n African parliaments such a principle would mean a majority of natives." Zionistische Autoren beriefen sich gegenüber den arabischen Forderungen auf diese Äußerung, die w o h l als konkludent galt 1 8 . 14 Halpern, S. 316; andererseits war Theodoli ehemals Unterstaatssekretär im italienischen Kolonialministerium und daher kaum antikolonialistisch eingestellt. 15 Für die afrikanischen Gebiete sah Art. 22 VBS nicht die Entwicklung zur Selbstverwaltung vor. Der geistige Vater des Mandatssystems, Smuts, wollte die Kolonien einfach annektieren. Die Bewohner galten als Barbaren, für die Selbstverwaltung nicht in Frage kommen konnte. 16 Namentliche Zusammensetzung: Roth, S. 47. 17 s. 13. Kapitel. 18 Machover (vor 13. Kapitel). Dort auch Nachweis für Zitat.

11. Kap.: Das Palästina-Mandat

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Aus heutiger Sicht hat die Kommission der gesamten arabischen Welt verständnislos gegenüber gestanden. Das Schweizer Mitglied Rappard etwa bezeichnete Transjordanien als „Parasitenstaat", weil es von b r i t i scher Unterstützung lebte 1 9 . Es kam ihm nicht in den Sinn, daß dieses Gebiet m i t grotesken Grenzen niemals i n seiner Geschichte eine politische, administrative oder ethnische Einheit war, weder Zentren noch Bevölkerungsloyalität besaß und als Restgebiet i m imperialistischen Gerangel geblieben war und kaum lebensfähig sein konnte. Die damalige Einstellung zeigt am klarsten die Stellung der Kommission gegenüber der Beendigung der Mandate. Sie hat, kurz gesagt, die von der britischen Mandatsmacht geplante Entlassung i n die Unabhängigkeit als Mandatsverletzung gerügt, so bei Trans jordanien, bei Palästina anläßlich des Peel-Berichts und insbesondere anläßlich der Unabhängigkeit Mesopotamiens. I m letzten Fall hat sie die Verfolgung der Assyrer zum Anlaß genommen, das britische Verfahren als übereilt hinzustellen 20 . Seit 1928 ging die Diskussion um diese Unabhängigkeit. Die sogenannten „Assyrer" waren nestorianische Christen, die zunächst i n Südostanatolien lebten und i m ersten Weltkrieg die russischen Truppen unterstützten. Die Türken vertrieben sie nach Mesopotamien. Dort wurden sie von Großbritannien gegen die Mesopotamier i m nationalen Aufstand eingesetzt. Bei einem Massaker wurden ungefähr 400 von ihnen getötet. Dies hatte die Kommission bewogen, Irak die „Reife" abzusprechen. Man erinnere sich aber an die Abrechnung der Sowjets und der französischen und italienischen Resistance m i t Kollaborateuren des 2. Weltkrieges. Für eine solche Entlassung in die Unabhängigkeit arbeitete die Kommission einen Katalog von Kriterien aus: Das Gebiet müsse arbeitsfähige Regierung und Verwaltungsdienste haben; müsse seine territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit aufrechterhalten können; müsse innerhalb seines ganzen Territoriums die Ordnung und rechtsstaatliche Verhältnisse aufrechterhalten können; müsse über genügend finanzielle Hilfsmittel für normale Regierungsbedürfnisse verfügen und müsse seinen rassischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten einen effektiven Schutz gewähren. Die Sonderrechte aus den Kapitulationen müßten aufrechterhalten, die Meistbegünstigung allen Völkerbundmitgliedern eingeräumt werden. Der Katalog wurde als Mindestbedingung angesehen, an die sich Mandatskommission und Völkerbundsrat halten w o l l ten, wenn ein Gebiet i n die Unabhängigkeit entlassen werden sollte. Aus heutiger Sicht erscheint der Katalog der Anforderungen schon aus ökonomischen Gründen schlicht unerfüllbar. Das Mandatssystem ging 19

Minutes X X I I , 119. Hierzu Upthegrove, S. 130 ff.; H. W. Ritscher, Independence (Jerusalem 1934). 20

Criteria of Capacity for

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

darüber hinaus von der Vorstellung aus, daß gerade die Europäer andere Völker und Minderheiten zum geordneten Zusammenleben erziehen könnten; inzwischen haben w i r erlebt, daß das System des Minderheitenschutzes in Europa fast überall zusammengebrochen ist 2 1 . W i r wissen sogar, daß eine Mandatsverwaltung zur Lösung dieser Probleme nichts beiträgt und einen Erfolg eher erschwert, weil jedes Eintreten für gefährdete Minderheiten diese i n den Augen ihrer nationalistischen Umwelt als Kollaborateure erscheinen läßt und sie noch stärker gefährdet. Da die Kommission Mandatssystem und Einzelmandat nicht infrage gestellt hat, hat sie sich auch i m Rahmen des P M gehalten 22 ; dieses verpflichtete aber nun einmal Großbritannien auch zur Nationalheimpolitik. Sie hat diese Verpflichtung i n einer etwas anderen A r t m i t der allgemeinen Mandatsverpflichtung kombiniert als Großbritannien und setzte sich daher mitunter auch zur Mandatsmacht i n Widerspruch. So hat die Kommission i m allgemeinen die Nationalheimpolitik verteidigt und jedes Nachgeben der Engländer als Bruch dieser Verpflichtung gerügt. Vom arabischen Standpunkt aus, der das ganze P M kompromißlos verwarf, konnte dies nur als prozionistisch angesehen werden. Die Kommission hat die Abtrennung Transjordaniens gerügt, und Großbritannien aufgefordert, das Verbot jüdischer Ansiedlung i m Ostjordangebiet aufzuheben. Dieses Verbot sei eine unzulässige Diskriminierung; auch hätten die Juden das notwendige Kapital, das sie ohne „rassische Diskriminierung" einsetzten. Angesichts der Tätigkeit der zionistischen nationalen Institute ist die Vorstellung der Kommission von Diskriminierung wohl fragwürdig. I n der Sache hat die Kommission die britische Interpretation von 1922 bezüglich der doppelten Verpflichtung 23 des Mandatars verfochten. Dem britischen Nachgeben gegenüber den Arabern hat sie nie zugestimmt. Nach ihrer Ansicht war Großbritannien verpflichtet, das Mandat und die Nationalheimpolitik auch militärisch durchzusetzen, und sie hat den Mandatar wiederholt gerügt, daß er nicht ausreichende Streitkräfte zur Verfügung halte und einsetze 24 . Sie legte auch Großbritannien die Pflicht auf, die Einwanderung aufrechtzuerhalten und hielt sich stets an das K r i t e r i u m der wirtschaftlichen Aufnahmefähigkeit. Sie hat die Legislativvorschläge von 1935 mißtrauisch betrachtet und dem Peel-Bericht 1937 m i t Bedenken gegenübergestanden. Wenn das Mandat einmal für undurchführbar erklärt worden sei, meinte sie, dann sei es auch undurchführbar. M i t dem Teilungsvorschlag wollte sie wenig zu tun haben und sprach sich für die Fortführung 21

WBVR, „Minderheiten". Darstellung: Upthegrove, Kapitel 6. s . l l . Kapitel 4. 24 Insbesondere nach den Unruhen 1929 und bei der Diskussion des ShawBerichts. 22

23

11. Kap.: Das Palästina-Mandat

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des Mandats aus. Das Weißbuch 1939 schließlich ist von der Mehrheit der Kommission als mandatswidrig, jedenfalls als Widerspruch zur bisherigen Interpretation der Doppelten Verpflichtung und damit als Bruch des Palästinamandats bezeichnet worden. Auch bei der Beurteilung des Mandatssystems sollte der Leser sich zumindest versuchsweise i n die damalige Situation versetzen, und damals war das Mandatssystem progressiv. Denn die damals mögliche Alternative war das überkommene Kolonialsystem ohne jede Milderung. Die damaligen Verteidiger der Mandate wären i n heutiger Terminologie als progressiv zu bezeichnen, während die europäischen Gegner vornehmlich aus dem Lager konservativer Imperialisten oder aus dem Lager der Verlierer (deutsche Autoren) kamen. Daß selbst diese „Progressiven" etwa die afrikanischen Eingeborenen keineswegs zu emanzipieren gedachten, darf darüber nicht hinwegtäuschen. So muß Smuts w o h l als völkerrechtlich progressiv angesprochen werden: er hat sich gegen A n nexion, für den Völkerbund und für humanitäre Ideale i m Völkerrecht eingesetzt. Aber die deutschen Kolonien i n A f r i k a wollte er einfach annektieren. A n ein Selbstbestimmungsrecht der Neger hat er nie gedacht und etwa später beim Bondelzwaart-Massaker die Polizei voll gedeckt 25 . Der moderne Betrachter w i r d eben hier nur Heuchelei sehen können. Aber die Rechtsentwicklung ging immer i n kleinen Schritten voran: die Magna Charta bleibt ein Dokument der Menschenrechte, auch wenn es sich 1215 ausschließlich u m feudale Privilegien einiger Barone gehandelt hat. Auch die damals als progressiv erscheinenden Ideen schienen das P M zu stützen, soweit es das Selbstbestimmungsrecht der existierenden Bevölkerung beschnitt. Diese Ideen proklamierten die Vorherrschaft des Völkerrechts über die nationale Souveränität und sahen i m V B den Anfang einer Weltregierung und einer völkerrechtlichen Legislative. Denn die Katastrophe des Weltkrieges wurde gerade der schrankenlosen Souveränität der Staaten zugeschrieben, die es einzuschränken galt. Dies wurde einerseits durch die Vorrangstellung des Völkerrechts, zum anderen durch eine internationale Normsetzung versucht. N u r indem der Wille der Völkerrechtsgemeinschaft partiell anstelle der souveränen Entscheidung der Staaten trat, schien diese Verlagerung möglich; dann sollte allerdings die nationale Entscheidungsbefugnis zurücktreten. So führte der wohl progressivste Völkerrechtler der damaligen Zeit, der Niederländer Krabbe aus: „Wenn die internationale Gemeinschaft ein besonderes staatliches Leben nicht duldet, so erlischt der Anspruch eines Volkes auf eigenes Rechtsleben. Nur jene Völker haben ein Recht darauf, denen von der internationalen Gemeinschaft der Staatscharakter zuerkannt wird." 25

s. Roth, S. 90.

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4. T e i l : Die Mandatszeit 1920 - 1948

Es ist einsichtig, daß nach dem ersten Weltkrieg zunächst ausschließlich die alliierten Siegermächte als Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft auftraten und daß der Vorrang des Willens dieser Gemeinschaft sich leichter gegen Besiegte und Schwache durchsetzen ließ. Damit soll nicht der Eindruck erweckt werden, als könnte diese Darlegung den Araber überzeugen. Nahezu kein Deutscher hat sich nach dem ersten Weltkrieg von dieser Ordnung überzeugen lassen, sondern i n ihr das Werkzeug des Siegers gesehen 26 . 2. Ausarbeitung und Konzeption des Palästina-Mandates Schrifttum: N. Bentwich, Mandated Territories: Palestine and Mesopotamia (Iraq) BY 1921 - 2 2 , S. 48 ff.; ders., The Mandate for Palestine, BY 1929, S. 137 ff.; ders., The Mandate System (London 1930); E. Markus, Palästina — ein werdender Staat (1929); Μ . Spiegel, Das Völkerrechtliche Mandat und seine Anwendung auf Palästina (1928); J. Stoyanovsky, The Mandate for Palestine (London 1928); Ν. Feinberg, Some Problems of the Palestine Mandate (Tel Aviv 1936); G. Schwarzenberger, Das Völkerbunds-Mandat für Palästina (1929); Palestine. A Decade of Development. The Annals of the American Academy of Political and Social Science, Vol. 164 (1932), Philadelphia (Sammelband); S. Kaznelson, Zionismus und Völkerbund (1922); Μ . Bernfeld, Le sionisme, étude de droit international public (Paris 1920); W. F. Boustany, The Palestine Mandate Invalid and Impracticable (Beirut 1936); Akzin, The Palestine Mandate in Practice, 25 Iowa Law Review (1939), S. 32 ff.; Halpern, Kap. 9; ESCO, I S. 156 ff.; WVR, „Palästina". Mallison. Text des PM: englisch: Stoyanovsky; Spiegel; Laqueur, Dok. 11; Hurewitz, Dok. 38; Janowsky; deutsch: Spiegel, Markus. Text der PO: Stoyanovsky; Marcus. Text der PAO: Marcus.

Die Grundkonzeption

des Palästina-Mandates

Das P M wurde i n langwierigen Verhandlungen zwischen der britischen Regierung und der Zionistischen Organisation ausgearbeitet. Die Zionistische Organisation formulierte eine Reihe von Entwürfen, die die Vorstellungen ihres Memorandums vom 1. Februar 191927 weiter ausführen. Wie bereits bei der Balfour-Erklärung arbeiteten auch amerikanisch-zionistische Gruppen intensiv mit. A u f britischer Seite war insbesondere Herbert Samuel, der spätere Hohe Kommissar, tätig. Kein arabischer Vertreter wurde zugezogen. Die Zionisten versuchten, erheblich über das Basler Programm 2 8 hinauszugelangen und auch präzisere Zugeständnisse als i n der BalfourErklärung zu bekommen. Rücksichten auf türkische Souveränität ent26 Das große Schrifttum um die Revision der Friedensverträge oder etwa das Wörterbuch des Völkerrechts von Strupp bezeugen dies (s. etwa Laun, Bd. 2, S. 82 f.). 27 s. 8. Kapitel 1 Anm. 1. 28 s. 1. Kapitel 1 b.

11. Kap.: Das Palästina-Mandat

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fielen, und so forderten sie zunächst die Anerkennung der jüdischen Souveränität und das Endziel eines jüdischen Staates oder jüdischen Commonwealth. Ihre Maximal Vorstellungen sahen etwa so aus: Das jüdische Volk habe wie andere historische Völker das Recht zur Selbstbestimmung. Da die Juden aber aus ihrem Heimatlande exiliert seien, könnten sie dieses Recht erst ausüben, wenn sie i n ihrem Lande die Souveränität wieder erlangt hätten. I m P M sei dieser historische Rechtstitel auf jüdische Souveränität i n Palästina zu verankern und das Endziel eines jüdischen Staates i n Palästina anzuerkennen. Diesem jüdischen Rechtstitel auf Selbstbestimmung und Souveränität mochten andere Rechte auf Selbstbestimmung entgegenstehen, die durch die Wiedererrichtung des jüdischen Staates beeinträchtigt werden könnten. Daher sei schonend vorzugehen, aber i m Konfliktsfalle müßten diese Rechte zurücktreten. Die offizielle Bezeichnung Palästinas sei Eretz Israel, Staatsflagge sei die jüdische Flagge, hebräisch und arabisch die Amtssprachen 29 . I n der technischen Ausgestaltung schienen zwei Wege gangbar: — Der eine Weg ging von der Herzischen Chartergesellscha ft aus. Vor dem 1. Weltkrieg konnte die zionistische Bewegung nicht ernsthaft einen souveränen Judenstaat i n Palästina fordern. Palästina war Teil des Ottomanischen Reiches. Nur eine weitgehende jüdische Autonomie i n einem jüdisch bevölkerten Palästina unter türkischer Oberhoheit schien denkbar. Das damalige Völkerrecht kannte insbesondere i m Rahmen des zerfallenden ottomanischen Reiches das Institut der Suzeränität (oder Vasallität). Ein solcher abhängiger Staat besaß meist die nahezu vollständige Regierungsgewalt für sein Gebiet und die Abhängigkeit zum Suzerän beschränkte sich auf Tribut- und Heerfolgepflichten, und er war in seiner völkerrechtlichen Handlungsfähigkeit beschränkt. Die Abhängigkeit konnte aber auch rein nominell sein: so stand z. B. Ägypten noch bis 1914 nominell unter türkischer Oberhoheit, obwohl es seit 1882 von Großbritannien besetzt w a r 3 0 . Herzl bemühte sich um eine vom türkischen Sultan gewährte und von den Großmächten gesicherte Charta und sprach sich gegen vorherige Masseneinwanderung aus; andere Zionisten traten für die sofortige Masseneinwanderung ein. Herzl war stets gegen die sofortige Einwanderung, insbesondere gegen Infiltration, bevor eine gesicherte Rechtsgrundlage erreicht sei. Denn stets komme der Moment, wo die 29 30

s. etwa ESCO I S. 156 ff.

1914 proklamierte Großbritannien Ägypten zum britischen Protektorat.

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

Regierung auf Veranlassung der sich bedroht fühlenden Bevölkerung den weiteren Zustrom der Juden unterbinde 3 1 . Die Meinungsverschiedenheiten wurden innerhalb des Zionismus m i t Erbitterung geführt und sind Teil der zionistischen Geschichte. Herzl (gest. 1905) und die „Charteristen" unterlagen endgültig 1907 auf dem 8. Zionistenkongreß, der sich für die „praktische Arbeit", d. h. für die sofortige massive Einwanderung entschied. Denkkategorien und Terminologie des Chartergedankens bestimmen jedoch noch lange die Diskussion. Als Form der jüdischen Selbstverwaltung i m Rahmen des türkischen Reiches, später unter der Oberherrschaft einer europäischen Macht erschienen Herzl und den späteren Zionisten die europäischen Kolonialgesellschaften, insbesondere die englische Chartered Company 32 . Solche Chartergesellschaf ten waren m i t Schutzbriefen und Hoheitsrechten ausgestattete privatrechtliche Gesellschaften, insbesondere nach A r t der ostindischen und südafrikanischen Gesellschaften. Seit dem 16. Jahrhundert vergaben europäische Regierungen Schutzbriefe an einzelne oder an Gesellschaften, die ein neues Gebiet erwarben. Auch Siedler erhielten mitunter einen solchen Charterbrief (Massachusetts). Zu Beginn des politischen Zionismus lebte die Chartergesellschaft erneut auf, wobei den Gesellschaften vornehmlich die Entwicklung und Verwaltung unter der Aufsicht des Staates übertragen wurden, während die Außenbeziehungen und die Behandlung der Eingeborenen stärkeren Einflußmöglichkeiten des Staates vorbehalten blieben. Stets war diese Form der mittelbaren Verwaltung eine Vorstufe zur endgültigen Inbesitznahme durch den Staat selbst. A l l e Charterbriefe zeichnen sich durch weitgehende Detaillierung aus. Dies rührt zum einen aus der englisch-rechtlichen ultra-vires-Doktrin her, die dazu zwingt, in jedem Gesellschaftsstatut minutiös festzulegen, was die Gesellschaft tun darf (z. B.: „Grundstücke erwerben, mieten, pachten, hypothekarisch beleihen" usw. usw.). Zum anderen wurden den Gesellschaften nahezu alle staatlichen Funktionen und wirtschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten (z. B. auch das Recht der Konzessionserteilung für Bergbau, Industrie und Handel) ausschließlich übertragen. I n moderner staatsrechtlicher Terminologie wäre ein Charterbrief praktisch als Staatsverfassung zu bezeichnen, die gewisse Aufsichtsbefugnisse einem Oberstaat vorbehält, alle staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Funktionen an die Gesellschaft überträgt, die sie ausschließlich zugunsten ihrer Mitglieder (Siedler, Kaufleute) auszuüben hat und die Eingeborenen, also die eigentliche Bevölkerung, ignoriert. 31 Die Charteridee wurde auch von Birnbaum vertreten; man sollte nicht vorher „den Massen das Zeichen zum Aufbruch geben". 32 EBr, „Chartered Company".

11. Kap.: Das Palästina-Mandat

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Herzl sprach seit dem 3. Zionistenkongreß von einer Charter und verstand darunter eine vom Sultan zu erteilende und von den europäischen Großmächten zu garantierende Urkunde, w o r i n den Zionisten unter t ü r kischer Souveränität 3 3 die Selbstverwaltung Palästinas und seine Entwicklung zu einem jüdischen Gemeinwesen übertragen werden sollte; Herzl hat selbst mehrere Charterentwürfe vorgelegt 3 4 . Die Hoheitsrechte („Privilegien") — und das hieß die alleinige Zuständigkeit der zionistischen Organe — sollten die jüdische Einwanderung, den Landerwerb, Bewässerung und Industrialisierung betreffen. Diese Charter sollte „öffentlichrechtlich gesichert" sein, was sowohl „völkerrechtlich garantiert" hieß als auch sich gegen die seit 1870 betriebene Besiedlung durch private Förderervereine nach A r t der Chowewe Zion 3 5 wandte 3 6 . Die Chartergesellschaft sollte — wie i n Indien und Südafrika — der Vorläufer einer jüdischen staatlichen Organisation sein. Die zionistischen Dokumente, ihre Terminologie und das zionistische Vorgehen spiegeln die Charteridee wider. So forderte bereits das „Baseler Programm" 1897 eine „öffentlich rechtlich gesicherte Heimstätte". Wie das Wort „Heimstätte" eine Beschwichtigung gegenüber dem Sultan w a r 3 7 , so war auch „öffentlichrechtlich gesichert" die Umschreibung für eine völkerrechtliche Garantie, w o r i n die Türkei eine Beeinträchtigung ihrer Souveränität hätte sehen können. Die Zionistische Kommission hat sich als eine derartige Chartergesellschaft verstanden 38 . Balfour-Erklärung, viele Bestimmungen des Mandats, Organisation, Befugnisse und Vorgehen der Jewish-Agency, Rutenberg-Konzessionen und zionistische Instrumente wie die Finanzinstitute wurden als Erfüllung der Charteridee angesehen; es war diese Charteridee, die zum weitgehenden Ausschluß der arabischen Palästinenser geführt hat und heute so bekämpft wird. Der Charteridee folgte entsprechend das Zionistische Memorandum vom Februar 191939. Die Funktion der Chartergesellschaft sollte ein Jewish Council übernehmen; diesem sollte ein Jüdischer Kongreß, der aus Vertretern des gesamten Weltjudentums bestehen sollte, wählen. 33 Auch: Suzeränität; das Wort „Mandat" wurde erst von Smuts im ersten Weltkrieg verwandt. 34 Einen dieser Entwürfe bei Böhm, I, Anhang; ein weiterer bei H. S. Bodenheimer, I m Anfang der zionistischen Bewegung. Eine Dokumentation auf der Grundlage des Briefwechsels zwischen Th. Herzl und Max Bodenheimer von 1896 bis 1905 (1965), S. 151 ff. 35 Hierzu etwa Böhm (vor 1. Kapitel), Bd. 1 Kapitel 8; JL, „Zionismus I I B". 36 Der bedeutende Zionist Nordau ließ beide Deutungen ausdrücklich offen. 37 Zu diesem Wort s. 11. Kapitel 3. 38 s. 10. Kapitel 2. 39 s. 8. Kapitel 1 Anm. 1.

14 Wagner

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4. T e i l : Die Mandatszeit 1920 - 1948

Der Jewish Council sollte erhebliche Befugnisse für die Übernahme 40 und Umgestaltung 4 1 des Landes haben. Die Zionistische Kommission hat sich so verstanden 42 . Die Mandatsmacht hätte sich dann auf die auswärtigen Beziehungen, innere Sicherheit und Ordnung und auf gewisse Kontrollbefugnisse beschränkt. Auch über die Mandatsverwaltung hatte die zionistische Seite feste Vorstellungen: an ihrer Spitze müsse ein Jude stehen 43 ; die Mandatsregierung sei mehrheitlich durch Juden wahrzunehmen 44 . — Oder man konnte von der Charteridee abgehen und den gesamten Aufbau des jüdischen Commonwealth der Mandatsmacht übertragen. Da nicht mehr die Türkei, sondern das pro-zionistische Großbritannien Mandatar war, konnte etwa die gesamte Aufbauarbeit i h m als völkerrechtliche Verpflichtung übertragen werden. Eine starke Gruppe i n der Zionistischen Organisation (Jabotinski) hat immer nachdrücklich diese Lösung empfohlen, weil sie alle Kräfte der Zionistischen Organisation ausschließlich auf die Aufgabe der jüdischen Masseneinwanderung konzentrieren wollte. Die zionistischen Maximalisten dringen i n vielen Punkten nicht durch. Großbritannien weigerte sich, das Endziel eines jüdischen Staates oder eines jüdischen Commonwealth i n irgendeiner Form i n das P M aufzunehmen, weder als eigene Verpflichtung noch als Möglichkeit. Es blieb bei der alten Formel vom jüdischen Nationalheim. Ebenso verweigert es sich einem historischen Rechtstitel des jüdischen Volkes auf Palästina. Ein derartiger Rechtstitel erschien der britischen Regierung i n seinen Auswirkungen und bezüglich der etwaigen territorialen Grenzen zu unübersehbar. Damals wurde der Kompromiß der „historischen Verbundenheit" gefunden 45 . Große Bedeutung legten beide Seiten einzelnen Formulierungen bei. So akzeptierte Großbritannien nicht die zionistische Forderung, Palästina als das jüdische Nationalheim anzuerkennen, sondern nur die Schaffung eines jüdischen Nationalheims in Palästina. Ebenso verwei40 z. B. ist die Rede von „compulsory purchase at a fair pre-war price and further by making available all waste lands unoccupied and inadequately cultivated lands or lands without legal owners, and state lands". Zur Bedeutung dieser Formulierungen angesichts des palästinensischen Bodenrechts s. 16. Kapitel. 41 " . . . the Jewish Council may take over all lands available for close settlement and intensive cultivation." 42 s. 10. Kapitel 2. 43 Nur der erste Hohe Kommissar, Sir Herbert Samuel (1920-1925) war Jude. 44 Nur wenige Juden waren höhere Mandatsbeamte, s. 14. Kapitel 4. Unter arabischem Druck verringerte die Mandatsmacht ihre Zahl. 45 s. 1. Kapitel 2 c.

11. Kap.: Das Palästina-Mandat

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gerte Großbritannien Formulierungen wie „Wiedererrichtung des j ü d i schen Nationalheims" und beließ es bei der Schaffung eines jüdischen Nationalheims 4 6 . Offensichtlich hätte die erstere Formulierung der j ü d i schen Volksgruppe i n Palästina ein ausschließliches Recht auf ein politisches Gemeinwesen gewährt, während die palästinensisch-arabische Bevölkerung kein solches Gemeinwesen hätte bilden können. Die „Wiedererrichtung" erschien der britischen Regierung zu sehr m i t Forderungen nach den historischen Grenzen des jüdischen Staatswesens i n seiner weitesten Ausdehnung, etwa unter David, verbunden. Die Formulierungsdifferenzen zeigten sich i n der Folgezeit vor allem an zwei Problemen: — Die zionistische Seite hat stets darum gekämpft, die Mandatsverpflichtungen als gegenüber dem gesamten jüdischen Volke u n d keineswegs nur gegenüber der jüdischen Volksgruppe zu konstruieren und zur Anerkennung zu bringen. — Unter dem politischen Druck hat Großbritannien zunehmend versucht, seine Verpflichtungen gegenüber den Juden zu verringern oder gar als erfüllt anzusehen. War Großbritannien nur verpflichtet, ein j ü d i sches Nationalheim zu schaffen, so ließ sich diese Verpflichtung als erfüllt ansehen, wenn i n Palästina eine lebensfähige Gemeinschaft von etwa einem D r i t t e l der Bewohner zustande gekommen war. So hat Großbritannien i n der Folgezeit argumentiert. Eine Pflicht zur „Wiedererrichtung" dagegen ging offensichtlich weiter. I n der technischen Ausgestaltung wurde keine der beiden oben genannten Grundkonzeptionen verwirklicht. Die Zionisten bemühten sich, beide Konzeptionen optimal zu verbinden, und das P M spiegelt beide wider. Von der Charteridee i n der modernen Form eines Repräsentativrats m i t nahezu ausschließlichen Herrschaftsbefugnissen innerhalb Palästinas blieb nur die Jewish Agency. Offiziell blieben Regierung und Verwaltung Palästinas Sache der Mandatsregierung. Die Zionisten sahen daher i n der Jewish Agency nur einen schwachen Abglanz ihrer Vorstellungen. I n welch hohem Maße trotzdem die Jewish Agency die Verwaltung der jüdischen Volksgruppe übernehmen konnte, ist noch zu zeigen; Ausläufer der Chartergesellschaft sind jedoch die Bestimmungen, nach denen der Jewish Agency bestimmte Funktionen, z. B. die Ausbeutung der Natur- und Bodenschätze übertragen werden konnte. 46 I n der Präambel dagegen hieß es: „Wiedererrichtung ihres Nationalheims in diesem Land." Hierum ging noch jahrelang der Streit. Die Araber forderten noch 1924 von der Ständigen Mandatskommission des VB, insoweit „zurück zur Balfour-Erklärung" zu gehen und die Präambel zu novellieren. Die Mandatskommission hat es aber immer abgelehnt, das P M infrage zu stellen.

14*

4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

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Ebensowenig war Großbritannien bereit, sich selbst zur Schaffung des Nationalheims zu verpflichten. Es wollte nur die Voraussetzungen schaffen, unter denen die Zionisten das Nationalheim errichten könnten. Insbesondere finanzielle Verpflichtungen ging es nicht ein. Daher war Großbritannien nicht verpflichtet, selbst die zum Nationalheim führenden Maßnahmen zu ergreifen. Die Ausläufer der weitergehenden Vorstellungen finden sich i n den Mandatsbestimmungen über Einwanderung (Art. 4); geschlossene Ansiedlung von Juden auf dem Land zu fördern und Staatsland zur Verfügung zu stellen (Art. 6); Einführung einer für die jüdische Besiedlung günstigen Bodenordnung; Verleihung der palästinensischen Staatsangehörigkeit an jüdische Einwanderer; Schaffung günstiger wirtschaftlicher Bedingungen (Art. 2 i. V. m. Präambel Abs. 3). Diese Bestimmungen können zumindest so gelesen werden, daß Großbritannien hier weitgehende Verpflichtungen übernahm. Insgesamt war das P M ein zionistischer Erfolg. Die Balfour-Erklärung war ein völkerrechtlich schwaches Dokument und keine allgemein verbindliche Rechtsgrundlage 47 . Die Zustimmungen der Alliierten waren vage gehalten und nur für diese verbindlich. Der Friedensvertrag von Sèvres war nicht in K r a f t getreten; der Friedensvertrag von Lausanne noch nicht ratifiziert und i m übrigen nur vage i n der Übernahme der Balfour-Erklärung. Ähnliches gilt für das Abkommen von San Remo. M i t der Übernahme der Balfour-Erklärung i n das P M und seiner Bestätigung durch den V B (und die USA) wurde die Balfour-Erklärung in einem völkerrechtlich unangreifbaren Dokument verankert. Praktisch die gesamte Staatenwelt hatte in völkerrechtsmäßiger Form das Recht des jüdischen Volkes auf Errichtung eines Nationalheims anerkannt und einem der bedeutendsten Staaten, Großbritannien, die völkerrechtliche Pflicht auferlegt, i n Palästina politische, administrative und wirtschaftliche Bedingungen für die Errichtung eines jüdischen Nationalheims zu schaffen. Über die Balfour-Erklärung hinausgehend erkannte das P M die „historische Verbundenheit des jüdischen Volkes mit Palästina" an. Hierauf stützten die Zionisten ihre Ansicht von der Anerkennung des jüdischen Volkes als Völkerrechtssubjekt. Eine solche Interpretationsmöglichkeit war in einer Zeit, i n der die überwiegende Lehre nur Staaten als Völkerrechtssubjekte anerkannte, ein großer Erfolg. Noch heute ist das Völkerrecht bezüglich der Rechtssubjektivität eines Volkes wegen der dam i t verbundenen Brisanz äußerst zurückhaltend. Jüdische Autoren sahen diese Anerkennung nicht nur auf das jüdische Volk, sondern auch auf sein Handlungsorgan, auf die Jewish Agency erstreckt. Nach vorherrschender Ansicht war die Jewish Agency jedoch kein Völkerrechtssubjekt; jeden47

s. 6. Kapitel 2.

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falls hätte sie vor keinem internationalen Forum nach damaliger A n sicht auftreten können. Zu dem Vorwurf, vor Abschluß des Friedensvertrages mit der Türkei seien die Zuweisung des Mandats an Großbritannien, das Palästinamandat sowie alle darauf fußenden Rechtsakte unwirksam, s. 9. Kapitel 1 am Ende.

Mandatsmacht und Mandatsregierung Durch das Abkommen von San Remo war Großbritannien zur Mandatsmacht für Palästina bestimmt worden; die Mandatsr e gierung wurde von Großbritannien errichtet. Nach A r t . 22 I V VBS sollten die ehemals türkischen Gemeinwesen als „unabhängige Nationen vorläufig anerkannt werden". Die Mandatare sollten sie zur Unabhängigkeit führen und sie, wie man es ausgedrückt hat, nur mittelbar regieren. Diese vorläufig unabhängigen Nationen sollten lediglich Ratschläge und Unterstützung des Mandatars annehmen. Wie immer man die i m Verfolg dieser Bestimmung errichtete Mandatsregierungen in Syrien, i m Libanon und i m Irak beurteilen mag, die Mandatssatzungen für die Gebiete weisen zumindest äußerliche Ansätze für eine Respektierung von Art. 22 Abs. I V VBS auf. Das P M dagegen wich eindeutig von A r t . 22 I V zugunsten einer unmittelbaren Regierung durch die Mandatsmacht ab: Art. 1 P M übertrug dem Mandatar die volle legislative, administrative (und weitere Bestimmungen auch die judikative) Kompetenz. Der Aufbau der Mandatsregierung erfolgte gemäß einer Order-in-Council von 192248, die oft als Palästinaverfassung bezeichnet wurde. Da sie vor Inkrafttreten des Mandats erlassen wurde, konnte ihre Gültigkeit zweifelhaft sein. Nach obiger Darlegung 4 9 war sie innerhalb Palästinas gültig und höchstrangiges Recht, obwohl sie i n der völkerrechtlichen Sphäre erst mit der Genehmigung durch den V B (29. 9. 23) i n Kraft trat. Der Ausdruck „Palästinaverfassung" ist irreführend, da „Verfassung" im heutigen staatsrechtlichen Wortgebrauch eine Beteiligung des Volkes sowie die Vorstellung der obersten Rechtsquelle impliziert. Auch das P M wurde mitunter als „Verfassung" bezeichnet. Order-in-Council war die gewöhnliche (nicht-parlamentarische) Legislativform der britischen Regierung für Überseegebiete. Ihre Bezeichnung rührte von der alten Vorstellung her, daß der König diese Kabinettsorders in einer Sitzung des geheimen Staatsrates erließ. Zur Mandatszeit ergingen sie aufgrund des Foreign Juridiction Act von 1890 und wurden vom Parlament en bloc und ohne Aussprache genehmigt. Sie hatten den gleichen Rang wie ein 48 49

I m folgenden PO (Palestine Order-in-Council) genannt. s. 9. Kapitel 1 am Ende.

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4. T e i l : Die Mandatszeit 1920 - 1948

Act of Parliament. Man kann sie also als gesetzesvertretende Verordnungen oder als Gesetze bezeichnen.

Die von der PO vorgesehene Struktur folgte der i n Europa üblichen Dreiteilung und sah Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung vor. Für die Gesetzgebung war ein noch einzusetzender Legislativrat vorgesehen, der allerdings nie zustande kam 5 0 . Deshalb blieb die wichtigste Legislativform der Mandatsregierung die vom Hohen Kommissar erlassenen Ordinances; i m Deutschen könnten sie mit Verordnungen wiedergegeben werden. Das P M untersagte Verordnungen, die dem P M widersprachen; betraf die Verordnung von dem P M geregelte Materie, so traten sie erst nach Bestätigung durch den britischen Secretary of State i n Kraft. So sollte das Inkrafttreten von Normen verhindert werden, die den völkerrechtlichen Verpflichtungen Großbritanniens widersprachen. Das von der Order-in-Council vorgesehene System konnte insoweit nicht arbeiten, als der Legislativrat nicht zustande kam. Eine Novelle von 192351 suspendierte deshalb die Bestimmungen des Legislativrats und verwies die entsprechenden Normsetzungsbefugnisse an den Hohen; Kommissar, dem ein von i h m ernannter beratender Ausschuß zur Seite stand. Statt der Mandatsregierung konnte auch die Mandats macht Normen setzen: sie konnte weitere Order-in-Councils erlassen oder britische Gesetze auf Palästina erstrecken 52 . Der juristische Unterschied zwischen den von der Mandatsmacht (britischen Regierung) erlassenen Order-in-Councils und den aufgrund der PO von der Mandatsregierung (Hoher Kommissar) erlassenen Ordinances zeigte sich insbesondere i n der Nachprüfungsbefugnis der palästinensischen Gerichte 53 : die Order-in-Councils waren außerpalästinensische Rechtsquellen, die weder am P M selbst noch an der PO gemessen werden konnten; die Ordinances dagegen konnten von den Gerichten auf ihre Vereinbarkeit mit der PO und dem P M hin überprüft werden. Die Vollziehende Gewalt wurde vom Hohen Kommissar geführt. Dieser wurde von der Mandatsmacht durch Order-in-Council ernannt und 50 51

1923.

s. 13. Kapitel. Zitiert: PAO (Palestine [Amendementi Order-in-Council), Cmd. 1889 von

52 Nach den von der Ständigen Mandatskommission erarbeiteten Grundsätzen war das Mandatsgebiet kein Teil des Mandatarstaates und daher nicht automatisch dessen Gesetzen unterworfen. 53 und des Judicial Comitee des Privy Councils in London als oberster I n stanz.

11. Kap.: Das Palästina-Mandat

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unterstand deren Weisungen; i h m stand ein Exekutivrat aus britischen Beamten zur Seite 54 sowie ein Advisory Council 5 5 . Der Hohe Kommissar hatte eine Doppelstellung, die sich aus dem P M ergab: das P M legte sowohl der Mandatsmacht Rechte und Pflichten auf als auch der Verwaltung von Palästina. Die Verwaltung oblag dem Hohen Kommissar, der unter der Kontrolle der Mandatsmacht stand; er war aber auch gleichzeitig Vertreter der Mandatsmacht. Man hat darin einen ersten Schritt zur Anerkennung späterer Selbständigkeit Palästinas sehen wollen. Ein vielerörtertes Problem der Mandatszeit w a r die Frage, inwieweit das P M höchste Rechtsquelle i n Palästina w a r 5 6 . Juristisch lief dies auf die Frage hinaus, inwieweit gegenüber Maßnahmen der Mandatsmacht oder der Mandatsregierung geltend gemacht werden konnte, sie widersprächen dem P M und seien daher rechtswidrig. Dies wurde insbesondere für die Zionisten zunehmend wichtiger, da Großbritannien unter arabischem Druck Einwanderungsbeschränkungen und Landerwerbsverbote erließ, die als unvereinbar m i t dem P M betrachtet werden konnten. Das P M war als völkerrechtlicher Vertrag zu qualifizieren; die Rechtsqualität und Ranghöhe völkerrechtlicher Verträge i m innerstaatlichen Recht richtet sich grundsätzlich nach dem jeweiligen Staatsrecht 57 . Nach englischem Staatsrecht sind völkerrechtliche Verträge nur dann innerstaatliches Recht, wenn ein staatlicher Rechtsetzungsakt sie i n die innerstaatliche Rechtsordnung aufgenommen hat. K e i n Rechtsakt hat jedoch das P M i n die palästinensische Rechtsordnung inkorporiert. Die palästinensischen Gerichte sprachen daher den Bestimmungen des P M nur insoweit innerpalästinensische W i r k u n g zu, als die innerpalästinen-» sischen Rechtsnormen dies ausdrücklich vorsahen. Dies wurde bezüglich der Bestimmung der PO anerkannt, die es dem Hohen Kommissar untersagte, dem P M widersprechende Verordnungen zu erlassen 58 . Daher konnten zwar die Ordinances von den Gerichten auf ihre Vereinbarkeit m i t dem P M überprüft werden, nicht jedoch die PO selbst oder weitere Order-in-Councils. Die Mandatsmacht konnte daher jederzeit eine Materie regeln und sie der Nachprüfungsbefugnis der Gerichte entziehen, indem sie eine Order-in-Council erließ; dies ging noch weiter: 54 Dem Exekutivrat gehörten an: der Hohe Kommissar, der Chief Secretary to the Administration, der Attorney-General, der Treasurer. 55 Dem Beratenden Ausschuß gehörten an: die Mitglieder des Exekutivrates und Abteilungsleiter sowie der Gouverneur von Jerusalem. 56 Zum folgenden Nachweise aus der Rechtsprechung bei Klinghofjer, Die Entstehung des Staates Israel, Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Bd. 10 (1961), S. 439 ff., 442 f. 57 Hierzu H. Wagner, Monismus und Dualismus: Eine methodenkritische Betrachtung zum Theorienstreit, Archiv des öffentlichen Rechts (1964), S. 212 ff. 58 Art. 18 (2) PO; Art. 17 (1) (c) PAO.

4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

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die Order-in-Council konnte auch den Hohen Kommissar zu Verordnungen ermächtigen. Auch die vom Hohen Kommissar kraft solcher Spezialermächtigungen erlassenen Verordnungen waren mandatsfest, da sie ihre Grundlage nicht i m P M hatten. A u f diese Weise hat Großbritannien insbesondere die der Nationalheimpolitik widersprechenden Regelungen erlassen.

3. Der Begriff des Nationalheims und die Doppelte Verpflichtung Schrifttum:

alles vor 1. Kapitel; 10. Kapitel; 11. Kapitel 2; insbesondere

Weißbuch 1922, Cmd. 1700 von 1922; Stoyanovsky, S. 69 ff.; Mallison.

Die Balfour-Erklärung w a r bewußt außerordentlich vage gehalten. Wozu sich Großbritannien verpflichtete, blieb jeder Auslegung offen, denn die entsprechenden Prädikate („view w i t h favour", „ w i l l use their best endeavours to facilitate") sagten fast nichts aus; die entscheidenden Substantiva waren bis dahin fast inhaltslos (Nationalheim, civil and religious rights, existing non-jewish communities); die etwaige Verpflichtung Großbritanniens zugunsten der Zionisten war durch zwei einschränkende Klauseln, eine zugunsten der nichtjüdischen Gemeinschaften, eine zugunsten der Juden außerhalb Palästinas begrenzt. Eine so vage Verpflichtung m i t zwei solchen Sicherheitsklauseln läßt jeder Seite jede denkbare Möglichkeit der Interpretation; jeder Begriff kann gegensätzlich verstanden, die Sicherheitsklauseln können bis zur Außerachtlassung heruntergespielt oder bis zur Negierung der Nationalheimpolitik betont werden. A l l das ist i n der Mandatszeit i n ganz außerordentlichem Ausmaß geschehen 59 . Nationalheim. Dieser sonst i m Völkerrecht unbekannte Begriff 6 0 w a r bis zur Staatsgründung Israels 1948 der Angelpunkt gegensätzlichen politischen Wollens und widersprüchlicher Auslegungen. Der Ausdruck entstand auf dem 1. Zionistischen Kongreß 1897 i n Basel und wurde bereits i m Basler Programm 6 1 verwendet. Er w a r ein verbaler Kompromiß zwischen dem politischen Wollen eines jüdischen Staates, der politischen Gegnerschaft eines solchen Staates, die lediglich ein K u l t u r zentrum oder einen Zufluchtsort m i t irgendeinem Grad von Autonomie anstrebte 62 , und politischen Rücksichten. Eine solche gemeinsame Platt59

Neuere zusammenfassende Darstellung der gegensätzlichen Auslegung bei

Mallison. 60

Nachdem der im Frieden von Sèvres vorgesehene armenische Staat (Art. 88) gescheitert war, wurde im V B zeitweise ein armenisches Nationalheim erörtert, s. 8. Kapitel. 61 1. Kapitel lc am Ende. 62 1. Kapitel 4 a.

11. Kap.: Das Palästina-Mandat

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form für Verschiedenstes blieb der Begriff bis zum Biltmore-Programm 194263. Herzl hatte 1896 zum „Judenstaat" aufgerufen. U m aber überhaupt mit dem Ottomanischen Reich verhandeln zu können, wurde seit dem 1. Zionistischen Kongreß 1897 in offiziellen Dokumenten immer nur eine „Heimstätte für das jüdische Volk" gefordert. „Heimstätte" wurde als „National Home" übersetzt. I n dem Maße, wie der Weltzionismus sich vom deutschsprachigen Raum in die angelsächsische Welt verlagerte, und auch weil der englische Begriff das Nationale des jüdischen Wollens stärker ausdrückte, setzte sich dieser Begriff durch und wurde als „Nationalheim" ins Deutsche rückübersetzt.

Die Entstehungsgeschichte ist insoweit eindeutig. Der damals bedeutende Schriftsteller und Mitarbeiter Herzls, Max Nordau, schreibt es sich zu, die Konferenzteilnehmer von Basel 1897 von der Notwendigkeit einer die Türken weniger provozierenden Umschreibung als das Wort „Staat" zu verwenden. „Heimstätte" sei aber nur ein Synonym für Staat. Die bewußte Zweideutigkeit sei gewollt gewesen, aber niemand habe sich darüber i m Unklaren befunden, daß ein „Staat" gemeint und gewollt war. Dieser Formelkompromiß pflanzte sich i n den späteren Dokumenten fort, i n Balfour-Erklärung, P M und offiziellen Erklärungen. I n der Balfour-Erklärung war „Nationalheim" der Kompromiß zwischen den Ministern des britischen Kabinetts, die einen jüdischen Staat wollten, und deren Gegnern 64 . Die Frage, was nun Nationalheim juristisch bedeuten solle, hat die Gemüter zwischen den Weltkriegen beschäftigt. Die zionistische Seite versuchte zunächst, den Begriff i n der Sache genau so zu verstehen wie „Staat". Bekannt wurde die Formulierung Weizmanns, wonach es das Ziel des Nationalheims sei, Palästina so jüdisch werden zu lassen, wie England englisch sei. Der Begriff des Nationalheims zusammen mit den britischen Verpflichtungen wurden schließlich verbindlich interpretiert im Weißbuch von 192265. Es sei nicht Ziel der Balfour-Erklärung, ein gänzlich jüdisches Palästina zu schaffen 66 und die arabische Bevölkerung, Sprache oder K u l t u r i n Palästina unterzuordnen oder verschwinden zu lassen. Die Balfour-Erklärung spreche m i t Absicht nicht davon, daß Palästina als Ganzes i n das jüdische Nationalheim umgewandelt werden sollte, son63

s. 10. Kapitel. Die Differenzen zeigten sich auch darin, daß die zionistischen Entwürfe der Balfour-Erklärung „the establishment of Palestine as the National Home of the Jewish people" lauteten, während die Erklärung nur „the establishment in Palestine of a National Home" vorsah. 65 White Paper, Cmd. 1700 von 1922, einschließlich der Korrespondenz des Kolonialministeriums mit der zionistischen Organisation und der arabischen Delegation. Als Hauptverfasser gilt H. Samuel, der 1. Hohe Kommissar. ββ was sich gegen die obige Weizmann'sche Formulierung richtete. 64

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4. T e i l : Die Mandatszeit 1920 - 1948

dern daß solch ein Heim in Palästina gegründet werden sollte. Sinn der Entwicklung der Heimstätte sei zwar nicht die Auferlegung jüdischer Nationalität auf die Bewohner Palästinas als Ganzes, aber die weitere Entwicklung der bestehenden jüdischen Gemeinschaft unter dem Beistand der Juden i n allen Teilen der Welt, so daß sie ein Zentrum werden könne, an dem das jüdische Volk als Ganzes Anteil nehmen könne. U m dieser Gemeinschaft die besten Aussichten auf freie Entwicklung und damit dem jüdischen Volk volle Gelegenheit zur Entfaltung seiner Fähigkeiten zu verschaffen, müsse es wissen, daß es i n Palästina „von Hechts wegen und nicht aufgrund von Duldung" sei. Die Juden müßten i m Sinne dieser Politik in der Lage sein, ihre Zahl durch Einwanderung zu verstärken; nur dürfe die Immigration die wirtschaftliche Aufnahmefähigkeit des Landes nicht übersteigen. Damit wurde erstmalig die Einwanderung vom K r i t e r i u m der wirtschaftlichen Aufnahmefähigkeit abhängig gemacht. Die Zionistische Organisation stimmte dem Weißbuch nach einigen Kämpfen zu (wenn auch nicht ausdrücklich der „doppelten Verpflichtung"). Es blieb ihr wenig anderes übrig; das Mandat war zu diesem Zeitpunkt noch nicht vom V B akzeptiert. Die arabische Delegation verweigerte die Zustimmung. Was ein Nationalheim sei oder einmal werden würde, blieb weiterhin offen; dies hing von der Einwanderung ab. Die Zahl der einwanderungswilligen Juden war aber völlig unbekannt. Insbesondere Weizmann sah keinerlei Grund, diese Frage aufzurollen. Natürlich wollte er den j ü d i schen Staat, aber er war sich bewußt, daß er entweder infolge der j ü d i schen Einwanderung Zustandekommen würde oder mangels Einwanderung nicht. I h m kam es darauf an, diese Entwicklung, diesen „Gradualismus" offenzuhalten. Dies wurde um so wichtiger, weil Großbritannien i n der Folgezeit unter arabischem Druck das Weißbuch von 1922 immer mehr als eine Absage an einen jüdischen Staat auslegte. I n aktuellen Forderungen nach einem jüdischen Staat, wie sie etwa Jabotinski und seine Revisionistische Partei lautstark verkündeten, sah er nur sinnlose Provokationen, und Jabotinskis Reden auf dem 16. Kongreß 1929 haben denn auch zum Wiederaufleben der arabischen Aufstände beigetragen. Der offizielle Zionismus hat daher diese Sprachregelung akzeptiert. Gegenteilige politische Richtungen, die ausdrücklich einen Staat forderten, wurden als dissident bezeichnet, und die Revisionistische Partei Jabotinskis war ab 1935 von der Zionistischen Organisation gesondert. Die State-Party wurde i n Palästina verboten. Erst 1942 m i t dem sog. B i l t more-Programm schwenkte die Zionistische Organisation um und forderte unter der Führung Ben Gurions und des amerikanischen Zionismus ausdrücklich einen jüdischen Staat.

11. Kap.: Das Palästina-Mandat

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Die Formulierung des Weißbuchs von 1922 hat niemals die Araber beruhigt. — Staat oder Nationalheim, sie wandten sich m i t gleicher Kompromißlosigkeit gegen beides. Sie waren gegen die Masseneinwanderung von Europäern und die Konstituierung eines politischen Gemeinwesens i n ihrem Lande, gleichgültig wie sich dieses Gemeinwesen nannte. Auch unter der Anerkennung des Nationalheims haben die Juden niemals ihre Absicht verhehlt, i n Palästina eine jüdische Mehrheit zu erreichen. Dann bleibt für die anderen höchstens ein Minderheitenschutz. F r e i w i l l i g w i r d sich m i t einer solchen Veränderung keine Volksgruppe abfinden. Die Araber hielten daher jede Nationalheimlösung für unvereinbar m i t dem Selbstbestimmungsrecht. — Die Araber haben niemals an die These vom bloßen Nationalheim als einem Minus gegenüber einem jüdischen Staat geglaubt. Sie wußten, daß die Zionisten einen Staat wollten, und sie sahen diese Absicht i n zahlreichen Äußerungen zwar nicht offizieller Sprecher, wohl aber einflußreicher Zionisten bestätigt. Es sind die vielen Beteuerungen offizieller Zionisten, keinen jüdischen Staat anzustreben und zu wollen 67, die ihnen den V o r w u r f der Doppelzüngigkeit eingetragen haben. Es lassen sich beliebig viele Äußerungen zionistischer Führer anführen, die darlegen, daß ihr Ziel nach wie vor der Judenstaat sei, und daß dies von Beginn an der Sinn der Balfour-Erklärung gewesen sei. Nordau wurde bereits genannt. Viele Zionisten sprachen davon, daß sie „nicht sofort einen Staat" wollten. Auch nahezu alle alliierten Staatsmänner, die an der Balfour-Erklärung mitgearbeitet hatten und viele Teilnehmer der Friedenskonferenz ließen sich für die Staatsthese heranziehen. Balfour, Smuts, L l o y d George, Wilson, sie alle haben 1918 und 1919 erklärt, daß i n Palästina i n Zukunft ein jüdischer Staat entstehen werde 6 8 . Seit dem Biltmore-Programm forderte der Zionismus wieder offen den jüdischen Staat. I n den Verhandlungen vor den V N um die Schaffung 67 z.B. Sokolow, History of Sionisme, London 1919 I, S. X X I V f . : " I l a été dit et répété obstinément par les antisionistes, que le but du sionisme était la création d'un état juif indépendant. Mais c'était tout à fait inexact. L'Etat juif n'a jamais fìguré au programme sioniste." Das ist nach dem Buchstaben richtig: im zionistischen Programm stand „Heimstätte". Auch Ben Gurion bezeugte noch 1937 vor der Peel-Kommission, daß die Zionisten keinen Staat errichten wollten (Landauer, S. 39). 68 s. etwa Lloyd George , The Truth about the Peace Treaties, Bd. 2 (London 1938), S. 1138 f.; für Balfour: Meinertzhagen , S. 9; H. W . V. Temperley (Hrsg.), History of the Peace Conference of Paris, Bd. V, S. 137. So sagt Frankenstein , Justice for my people, S. 144 ff.: „there cannot be the slightest doubt that the Balfour Declaration was meant to prepare the way for a Jewish State".

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

eines jüdischen Staates erklärten die Vertreter der Jewish Agency, H i l l e l Silver und Shertok emphathisch, daß es Ziel der Balfour-Erklärung und des P M gewesen seien, den jüdischen Staat zu schaffen. Sie könnten sich hierzu insbesondere auf die Äußerungen der alliierten Staatsmänner berufen. Das Nationalheim sei nur ein Durchgangsprozeß, Ziel sei der jüdische Staat gewesen, und so sei der Begriff des Nationalheims immer verstanden worden 6 9 . Auch jüdische Autoren gaben zu, daß alle zionistischen Führer, von Weizmann bis Ben Gurion den jüdischen Staat wollten, und daß alle gegenteiligen Äußerungen nur taktisches Verhalten waren. Aber die Araber sehen i n den zionistischen Beteuerungen bis 1941, keinen Staat zu wollen, den Beweis für zionistische Doppelzüngigkeit. Er fügt sich i n i h r B i l d von der zionistischen Amoralität, und sie führen ihn heute dafür an, daß auch den offiziellen Äußerungen Israels nach 1948 kein Glaube geschenkt werden könne. Die Doppelte Verpflichtung. Der Aufbau des Nationalheims — was immer dies sein mochte — stellte die Zionisten und die Mandatsmacht vor die Frage, was m i t der arabischen Bevölkerung Palästinas geschehen sollte. Auch insoweit differierten die Vorstellungen erheblich. Liest man die Balfour-Erklärung, so erscheint die Sicherheitsklausel zugunsten der nichtjüdischen Gemeinschaften eine A r t Schranke für den Aufbau: die religiösen und zivilen Rechte der übrigen Bewohner durften nicht beeinträchtigt werden. Die zionistische Auslegung sah i n der Verpflichtung zur Nationalheimpolitik — was immer die Verpflichtung wiederum beinhalten mochte — die eigentliche Verpflichtung und i n der Sicherheitsklausel eine bloße Schrankenziehung zum Schutze der religiösen und zivilen Rechte. Schutz der zivilen Rechte bedeutete etwa i n zionistischer Auslegung Enteignung arabischen Landes nur gegen Entschädigung und jedenfalls nicht irgendwelche politischen Rechte. M i t dieser Begründung wurden insbesondere die britischen Legislativvorschläge bekämpft, da sie der arabischen Bevölkerung politische Rechte verschafft hätten 7 0 . Insbesondere hat die zionistische Seite lange Zeit bestritten, daß überhaupt zwei Verpflichtungen Großbritanniens vorlägen: Großbritannien habe gegenüber den Arabern keine Verpflichtung; die Zionisten hätten 69

Nachweise: Robinson (vor 17. Kapitel 2), S. 207. Nur zur Illustration über die eigentümliche Naivität mancher Juden zu Beginn der Mandatszeit diene ein Zitat des Oberrabbiners von Großbritannien, der die Sicherheitsklausel zugunsten der Araber in der Balfour-Erklärung begrüßte, da sie nur Ausdruck der mosaischen Gesetzgebung sei: Wenn ein Fremdling bei dir in eurem Lande sein wird, so sollt ihr ihn nicht schinden (3 Moses Levitikus 19.33), zitiert nach Sykes, Two Studies in Virtue, S. 222. 70

11. Kap.: Das Palästina-Mandat

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i n Palästina die Stellung der Meist-Begünstigten Nation 7 1 , und ob eine britische Maßnahme i n Palästina m i t der britischen Verpflichtung vereinbar sei, bemesse sich allein daran, ob sie dem Aufbau des Nationalheims diene 72 . Diese extreme Auffassung hat sich i n der Realität nie durchsetzen können; die Verweigerung aller politischen Rechte war i n der Mandatszeit jedenfalls i m arabischen Räume nicht mehr offiziell vertretbar. Aber auch das Verhältnis von Verpflichtung/Schranke war eine extreme, nur grammatikalisch sinnvolle Vereinfachung. I m staatlichen Leben und i m Verhältnis von Volksgruppen zueinander gibt es nicht die Förderung und den Ausbau einer Gruppe und die bloße Bewahrung einer anderen. Hier bedarf der Schutz der einen Gruppe der aktiven Maßnahmen und der Förderung, andernfalls w i r d diese von der geförderten und damit dynamisierten Gruppe an die Wand gespielt. Auch insoweit hat Großbritannien versucht, i m Weißbuch von 1922 den Knoten durchzuhauen und die Balfour-Erklärung i m Sinne einer doppelten Verpflichtung ausgelegt: beide Verpflichtungen seien gleichgewichtig. Indem die Ständige Mandatskommission des Völkerbunds und der Völkerbundsrat diese Interpretation akzeptierten, galt Großbritannien qua Mandatar als völkerrechtlich verpflichtet, beide Verpflichtungen auszuführen. I n der Folgezeit kreiste die Diskussion u m zwei Probleme: was bedeutet die doppelte Verpflichtung i m jeweiligen Einzelfall? Und sind beide Verpflichtungen tatsächlich vereinbar? — Großbritannien hatte sich von Anfang an auf den Standpunkt gestellt, daß der Aufbau des Nationalheims vom jüdischen Volke selbst zu leisten sei, und daß es insoweit zu keiner aktiven Unterstützung verpflichtet sei. Insbesondere sei es zu keiner finanziellen Unterstützung verpflichtet. I m übrigen habe es lediglich die Bedingungen zu schaffen, unter denen die Zionisten das Nationalheim aufbauen könnten und vor allem die Hindernisse der überkommenen türkischen Gesetzgebung aus dem Wege zu räumen. Daher sei ein Rechts- und Verwaltungssystem zu schaffen, das für eine zunehmende Bevölkerung günstig sei; daher sei die Einwanderung i m Rahmen der wirtschaftlichen Aufnahmefähigkeit zu ermöglichen und der Ausbau des jüdischen Gemeinwesens i n w i r t schaftlicher und kultureller Hinsicht zu fördern. Dagegen sei der Landerwerb für jüdische Siedlungen, die Organisation der Landwirtschaft und der Kolonialisierung, die Einrichtung neuer Industrien, Schulen u. ä. von der Zionistischen Organisation selbst zu schaffen. 71 72

z. B. Meinertzhagen, S. 25; Machover, Governing Palestine, S. 163.

z. B. Machover , S. 159. Andere Formulierungen: „political conditions that would give the Jewish minority majority rights in Palestine".

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

Es ist offensichtlich, daß diese These von der strikten Wahrung der Neutralität keinen überzeugen konnte. I h r liegt ein extremer Dualismus von Staat und Gesellschaft zugrunde, der heute als bestimmte Zuständigkeitsverteilung aller für die Gemeinschaft wesentlichen Tätigkeiten i n eine staatlich organisierte Tätigkeit und i n einen der privaten Initiative überlassenen Bereich erkannt ist. Wie immer man darüber denken mag — i m Palästina der Mandatszeit war er unhaltbar. Die zionistische Tätigkeit war keine gesellschaftliche oder gar private Initiative, sondern ein Staat i m Staate; die Anlage neuer Kolonien, der Ausbau des Schulund Sozialdienstes war keine private Angelegenheit, und wenn eine j ü d i sche Gesellschaft die Konzession zur Elektrifizierung Palästinas erhielt, so wurden große Teile der Wirtschaft i n zionistische Hände gelegt. Für den Landerwerb ist diese Fiktion noch aufzuzeigen. Und wenn der arabische Teil die Vorstellung der dual obligation ablehnte und jedem Ausbau des Nationalheims entgegentrat, jedoch mit britischer Waffengewalt zurückgewiesen wurde, so ist er nicht bereit, hierin eine unparteiisch ausgeübte zweifache Verpflichtung zu sehen. Selbst gegenüber den Juden konnte Großbritannien diese Gleichheit nicht durchhalten. Denn i n dem Maße, i n dem das Nationalheim ausgebaut wurde, die Araber jedoch hoffnungslos zurückblieben, mußte die Mandatsmacht versuchen, die arabische Volksgruppe aktiv zu fördern. Dies führte dazu, daß die jüdische Volksgruppe ihren Erziehungs- und Sozialdienst weitgehend selbst ausbaute, während die entsprechenden Dienste für die Araber von der Mandatsmacht errichtet wurden — mit jüdischen Steuergeldern, wie die Zionisten Großbritannien vorwarfen. Ist man sich dieser Problematik bewußt, so kann man eine große Literatur der Zionisten und der Engländer beiseite lassen, die sich um irgendwelche verbalen Harmonisierungen bemühte. Z.B.: "The Zionists seek predominance, not domination." "The Arab rights are safeguarded effectively in a context which emphasizes that they are subordinate, but not in any way antagonistic to the progressive fulfilment of the main purpose of the mandate.". "The two obligations are indeed of equal weight, but they are different in character. The first obligation is positive and creative, the second obligation is safeguarding and conciliatory."

Die Problematik zeigte sich vornehmlich bei der Einwanderungspolitik. Großbritannien hatte i m Weißbuch von 1922 als K r i t e r i u m die „ w i r t schaftliche Aufnahmefähigkeit" Palästinas festgelegt. I n der Folgezeit ging dann der Kampf um diese Aufnahmefähigkeit, und eine große Literatur hat diese Aufnahmemöglichkeiten herauf- oder heruntergespielt. Zumindest gelang es den Zionisten, stets neue Arbeitsplätze zu schaffen, so daß die Einwanderung jedenfalls nicht an diesem K r i t e r i u m scheitern konnte. Auch die arabische Arbeitslosigkeit hielt sich i n engen Grenzen, trotz einer erheblichen Einwanderung von Arabern aus den Nachbarstaaten. Die zunehmende Verhärtung der arabischen Seite zwang

12. Kap.: Das Palästinamandat i n arabischer Sicht

223

jedoch Großbritannien, von diesem wirtschaftlichen K r i t e r i u m abzurücken. Die Araber stellten zusätzliche „soziologische Forderungen", d. h. sie wollten ihren bevölkerungsmäßigen und wirtschaftlichen status quo i m Verhältnis zu den Juden behalten. So interpretierten sie auch Art. 6 PM, wonach die Lage anderer Teile der Bevölkerung nicht beeinträchtigt werden dürfe; jede einseitige bevölkerungsmäßige, politische und w i r t schaftliche Entwicklung beeinträchtige jedoch die andere Volksgruppe. I n dem Maße, wie Großbritannien den status quo als Richtlinie nahm, mußte die dual obligation zumindest eine andere Form annehmen als i n der Frühzeit der Mandatszeit. — Großbritannien hatte i m Weißbuch von 1922 erklärt, daß beide Verpflichtungen gleichgewichtig seien und hielt bis zum Peel-Bericht daran fest, daß sie auch faktisch miteinander vereinbar wären. Gegen alle Einsicht hat es wieder und wieder tapfer wiederholt, daß sie „keineswegs unvereinbar seien". Erstmalig sprachen der Peel-Bericht und die ihm folgende Regierungserklärung die Einsicht von der Unvereinbarkeit beider Verpflichtungen aus — eine Einsicht, die Großbritannien dann sofort wieder widerrief. Die Ständige Mandatskommission hielt bis zu ihrem eigenen Ende an dieser Fiktion fest.

Zwölftes

Kapitel

Das Palästina-Mandat i n arabischer Sicht Schrifttum:

vor 11. Kapitel 2; insbesondere: W. F. Boustany, Abdul A. Η adi,

The Balfour Declaration, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Science 164 (1932); Schwarzenberger, S. 32 ff.; insbesondere: die den Protokollen der Ständigen Mandatskommission beigehefteten Memoranden und Petitionen der Arabischen Exekutive und des Arabischen Hohen Komitees.

Die Araber lehnten zu allen Zeiten 1 Balfour-Erklärung und P M kompromißlos ab 2 . Ihre Argumente waren vor allem 3 : 1. Wie immer man die Balfour-Erklärung völkerrechtlich klassifiziere, sie sei nichtig, weil darin Großbritannien etwas versprochen habe, was es nicht besessen und worüber es kein Verfügungsrecht gehabt hätte 4 . 1

Zum Feisal-Weizmann-Intervall s. 7. Kapitel 3. s. z. B. Art. 20 des Palestinian National Covenant der Palästinensischen Befreiungsorganisation vom 17. Juli 1968: "The Balfour Declaration, the Mandate Document and what has been based upon them are considered null and void." 3 s. etwa Cmd. 1700 von 1922, S. 1. Leitsatzähnliche Zusammenfassung der arabischen Vorwürfe bei Boustany. 4 Unter diesem Gesichtspunkt wären allerdings auch die an die Araber gegebenen Kriegsversprechen der Alliierten bedenklich. 2

4. T e i l : Die Mandatszeit 1920 - 1948

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— Balfour-Erklärung und Ρ Μ seien für die Araber nicht verbindlich, weil sie bei keiner Konferenz zugegen gewesen und niemals gehört worden wären. Beides seien imperialistische Machenschaften, um eine europäische Bevölkerung in arabisches Gebiet zu verpflanzen und britischen Einfluß zu sichern. — Der Balfour-Erklärung und dem P M stellten die Araber ihr natürliches Recht langdauernder und effektiver Besiedlung Palästinas entgegen. Sie stützten sich insbesondere auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das jedem Volk das Recht auf politische Unabhängigkeit und auf eigene Gestaltung seiner politischen Verhältnisse gewähre. Dieses Recht sei ein natürliches Recht und von den Alliierten mehrfach anerkannt. Punkt 12 und 14 der Punkte Wilsons sähen ausdrücklich die Unabhängigkeit der arabischen Länder vor. Es ist insbesondere dieses Selbstbestimmungsrecht, auf das sich die Araber noch heute berufen, auch gegenüber dem Teilungsplan der V N von 19475. Die große Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht hat zu der vorherrschenden Ansicht geführt, daß es sich nicht u m einen Rechtssatz des positiven Völkerrechts handelt 6 . Zwar bekennen sich alle Staaten zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, halten ihn jedoch immer gerade auf ihrem Territorium für voll verwirklicht und gegenteilige Bestrebungen für rechtswidrig, Anteilnahme von Drittstaaten für Verletzung ihrer Souveränität. Für die Mandatszeit kann kaum zweifelhaft sein, daß das Selbstbestimmungsrecht, etwa i n Form der Punkte 12 und 14 Wilsons nicht als Rechtssatz anerkannt worden war. Die Satzung des V B enthielt ihn nicht. Das Selbstbestimmungsrecht wurde überwiegend als politische Forderung als als politisches Gestaltungsprinzip und nicht als Norm des positiven Völkerrechts verstanden. Die moderne Rechtsdogmatik würde ihn als Rechtsgrundsatz qualifizieren, dem i m Gegensatz zum Rechtssatz die Möglichkeit unmittelbarer Anwendungsfähigkeit fehlt 7 . Als mögliches Gestaltungsprinzip diente es vorwiegend der Rechtfertigung der Zerschlagung multinationaler Staaten (Österreich-Ungarn, Ottomanisches Reich), die auf Kosten der Bevölkerung der besiegten Staaten neu strukturiert wurden. Die Satzung der V N dagegen bekennt sich mehrfach zum Selbstbestimmungsrecht; sie schränkt es jedoch durch das Souveränitätsprinzip derart ein, daß es praktisch gegenüber bestehender Staatsδ

6 7

s. 17. Kapitel 3.

Schrifttum:

WBVR, „Selbstbestimmungsrecht"; Dahm, I, § 69.

s. etwa J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts (1956). Wenn zionistische Autoren die Feststellung, die Annahme des Prinzips einer jüdischen Heimstätte laufe direkt der Doktrin von dem Recht jedes Volkes auf Selbstbestimmung entgegen, als „nur-juristisch" abtaten, so war sie das gerade nicht.

12. Kap. : Das Palästinamandat i n arabischer Sicht

225

hoheit zurücktreten muß. I n der Praxis der V N hat es einen ausschließlich antikolonialistischen Charakter angenommen; nur dann hat es sich gegenüber dem Souveränitätsrecht durchsetzen können. Als antikolonialistische Forderung w i r d es auch überwiegend von den Staaten der D r i t ten Welt verstanden, z. B. von den Teilnehmern der Bandung-Konferenz 19558. Außerhalb des Rahmens der klassischen Kolonial Verhältnisse ist das Selbstbestimmungsrecht weder i n Europa (Deutschland, Südtirol, baltische Staaten) noch i n der Dritten Welt (Nigeria: Biafra; Sudan: Südsudan; Irak: Kurdistan; Indonesien: Westirian) wirksam geworden. Insbesondere die Staaten der Dritten Welt sehen heute i n einer Anwendung dieses Prinzips auf ihrem Staatsgebiet einen imperialistischen Versuch der Balkanisierung der früheren Kolonialgebiete, um sie so wieder neo-kolonialistischen Einflüssen auszusetzen. So zeigt sich das sog. Selbstbestimmungsrecht als ein Gestaltungsprinzip, das auf politischen Wertvorstellungen beruht, die weit über geltendes Völkerrecht hinausgreifen. Dies hindert nicht, daß die sich vergeblich darauf Berufenden stets glauben, Opfer einer Völkerrechtsverletzung zu sein. Deutsche und Araber hatten beide die 14 Punkte Wilsons anders verstanden als die Alliierten. 2. Die vertraglichen Verpflichtungen Großbritanniens gegenüber Hussein, den arabischen Ländern die Unabhängigkeit zu gewähren, erfaßten auch Palästina 9 . 3. Das Sykes-Picot-Abkommen stehe m i t der VBS i n Widerspruch und sei daher gemäß A r t . 20 der VBS unwirksam. Gleiches gelte für die Balfour-Erklärung (falls man sie überhaupt als völkerrechtliche Verpflichtung qualifizieren wolle), sowie für das Mandat. Die arabische Auffassung betrachtet also die VBS nach A r t der Verfassung als überrangige Rechtsquelle. 4. Art. 22 der VB-Satzung und damit das Mandatssystem seien für die arabischen Länder nicht anwendbar. Denn diese hätten i n Wahrheit eine Entwicklungsstufe erreicht, die den Ländern, die bereits früher aus der türkischen Herrschaft entlassen worden waren (Balkanstaaten) entspreche 10 . 8 WBVR, „Bandung-Konferenz von 1955"; ferner: O. Guitard, Bandoeung et le réveil des anciens peuples colonisés (Paris 1961). 9 Diskussion s. 7. Kapitel 2. 10 So argumentiert das Damaskus-Protokoll. Hiergegen hat Großbritannien geltend gemacht, Palästina werde keineswegs als weniger fortschrittlich angesehen denn Irak und Syrien. Aber Großbritannien sei durch die Verpflichtung, das Nationalheim zu fördern, gebunden und könne keine Verfassungsentwicklung zulassen, die diese völkerrechtliche Verpflichtung verhindere, Cmd. 1700 von 1922, S. 6.

15 Wagner

4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

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5. Falls aber A r t . 22 und das Mandatssystem auf Palästina angewendet werden, so verstoße die tatsächliche Durchführung, d. h. das P M mehrfach gegen A r t . 22: — Das P M verstoße gegen A r t . 22 Abs. 4, weil Palästina als ehemaliges Gemeinwesen, das zum Türkischen Reiche gehörte, als sog. A-Mandat verwaltet werden müsse, d. h. wie Syrien, Libanon und der Irak. Demzufolge müsse Palästina weitgehende Autonomie gewährt werden und sei nur verpflichtet, „die Ratschläge und die Unterstützung eines Mandatars" anzunehmen. Die Rolle des Mandatars beschränke sich auf Ratschläge und Unterstützungen. Dagegen führe das P M eine unmittelbare Verwaltung der Mandatsmacht ein, da A r t . 1 P M dem Mandatar alle Legislativ- und Exekutivbefugnisse zuweise. Palästina werde also entgegen dem A r t . 22 Abs. 4 nicht als A-, sondern als B-Mandat verwaltet. Die Versuche, das P M mit A r t . 22 zu harmonisieren, sind kaum haltbar 1 1 . A r t . 22 sah für alle arabischen Gebiete eine lediglich mittelbare Verwaltung vor, d. h. beschränkte die Mandatsmacht auf die Erteilung von „Ratschlägen und Unterstützung". Die Durchführung der Balfour-Erklärung und die Errichtung des Nationalheims wären damit bei Beachtung des A r t . 22 unmöglich geworden. Diese Durchführung war nur möglich, wenn die Verpflichtung zur Durchführung der Balfour-Erklärung als eine zusätzliche und gleichzeitig neben der Verpflichtung aus A r t . 22 stehende Pflicht (dual obligation) anerkannt wurde 1 2 . — Das P M verstoße gegen A r t . 22 Abs. 4 VBS, wonach bei der Wahl des Mandatars i n erster Linie die Wünsche der Bevölkerung zu berücksichtigen seien. Die Bevölkerung sei aber nicht befragt worden 1 3 . Dieser Vorwurf ist nicht spezifisch für das PM, da bei keinem Mandat die Bevölkerung befragt worden war. Die zionistische Seite hat sich um den Nachweis bemüht, daß Absatz 4 des A r t . 22 VBS auf Palästina nicht anwendbar sei. Die Wünsche der Bevölkerung seien lediglich zu berücksichtigen, sie seien aber nicht ausschlaggebend. Oder sie hat darzulegen versucht, daß i m Falle Palästinas nicht die Wünsche der aktuellen, sondern der potentiellen Bevölkerung zu erfragen seien; potentielle Bevölkerung sei aber das ganze jüdische Volk, und das habe sich für das P M ausgesprochen 14. 11 z. B. Art. 22 Abs. 4 sei insoweit nur fakultativ. Oder die Trennung beider Autoritäten im P M : „Mandatsmacht" und „Verwaltung von Palästina", s. etwa

van Rees, S. 100. 12

s. 11. Kapitel4; 13. Kapitel. Zur tatsächlichen Verteilung der Mandate s. 9. Kapitel 1. Zur Argumentation s. Y. Wright, Mandates under the League of Nations (Chicago 1930), S.591. 13

14

s. etwa Stoyanovsky, S. 42 ff.; Spiegel, S. 39 ff.

12. Kap.: Das Palästinamandat i n arabischer Sicht

227

I n der völkerrechtlichen Literatur hat sich die Interpretation Hymans durchgesetzt, der auch der Völkerbundrat zugestimmt hat. Hymans hatte versucht, die tatsächliche Praxis, nämlich die Verteilung der Mandate durch die Alliierten Hauptmächte und die bloße Bestätigung durch den Völkerbundrat mit A r t . 22 zu harmonisieren; von den Wünschen der Bevölkerung war keine Hede mehr. — Das P M sei m i t A r t . 22 Abs. 4 VBS unvereinbar, weil die tatsächliche Bevölkerung zu begünstigen sei, nicht die virtuelle, d. h. die noch nicht eingewanderten Juden. Die Gegenargumentation versuchte, den Begriff der „Gemeinschaft" i m Sinne des A r t . 22 Abs. 4 auf das gesamte jüdische Volk, auf die v i r tuelle Bevölkerung auszudehnen. Diese Bestimmung müsse i m Zusammenhang m i t der gesamten VBS gesehen werden: deren Grundsatz sei die nationale Unabhängigkeit, was auch für das jüdische Volk gelten müsse. Die vom V B gebilligte Nationalheimpolitik stelle das zerstreute jüdische Volk den Völkern gleich, die sich noch nicht selbst regieren könnten, wenn auch aus anderen Gründen als die i n A r t 22 Abs. 4 genannten Gründe 1 5 . 6. Schließlich wandten sich die Araber gegen eine Reihe von Mandatsbestimmungen, die ihnen zu prozionistisch formuliert schienen. Sie fanden es z. B. untragbar, daß sie, die rechtmäßigen Einwohner und — nach ihren Berechnungen — 94 °/oige Mehrheit nur als „nicht-jüdische Volksgruppe" angesprochen wurden. Die zionistische Gegenargumentation hat dieser Rechnung stets das ganze jüdische Volk gegenübergestellt und die Beschränkung auf die aktuelle jüdische Bevölkerung in Palästina abgelehnt. Es ist klar, daß die Argumentation m i t der virtuellen Bevölkerung die Araber nicht überzeugte. I n ihren Augen handelte es sich u m bloße Rabulistik, m i t der das eindeutige Selbstbestimmungsrecht umgangen wurde. Die Araber haben ihre Beschwerden insbesondere vor der Ständigen Mandatskommission des V B erhoben. I n den Kategorien einer Rechtsquellenlehre gesprochen, haben sie die Grundsätze (14 Punkte Wilsons; Selbstbestimmungsrecht der Völker) und Normen (Art. 22 VBS), auf die sie sich beriefen, als die gegenüber dem P M höherrangigen Rechtsquellen angesehen, denen das P M als niederrangige Norm weichen müsse. Demgegenüber hat die pro-zionistische Seite einschließlich Großbritanniens stets versucht, das P M m i t diesen Grundsätzen und Normen als vereinbar 15 Daher der harte Kampf der Zionisten für die Anerkennung der historischen Verbindung des gesamten jüdischen Volkes mit Palästina und ihr Kampf gegen britische Versuche (wie etwa im Shaw-Bericht), die britischen Verpflichtungen auf die palästinensischen Juden zu beschränken.

15*

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

zu bezeichnen. Großbritannien sah i n den Friedensverträgen von Sèvres und Lausanne eine authentische Interpretation des A r t . 22 der VBS durch die Hauptmächte der Alliierten, wodurch A r t . 22 bezüglich Palästina zugunsten der Nationalheimpolitik eingeschränkt worden sei. Hier seien w o h l Mesopotamien und Syrien, nicht aber Palästina als vorläufig selbständige Staaten anerkannt worden. Auch sei die i n A r t . 22 vorgesehene Verpflichtung, die Bevölkerung zur Selbständigkeit zu führen, u m die vom V B akzeptierte und Großbritannien auferlegte zusätzliche Verpflichtung zur Durchführung der Balfour-Erklärung erweitert worden. Beide Verpflichtungen müßten harmonisiert werden. Die zionistische Seite hat die Vereinbarkeit des P M m i t den obigen Grundsätzen und Normen meist so erreicht, daß sie als begünstigte Bevölkerung i m Sinne des A r t . 22 Abs. 4 der VBS nicht die aktuelle Bevölkerung Palästinas, sondern das ganze jüdische Volk ansah. Dies wurde teils aus dem „Geist des V B " begründet, der vom Nationalstaatsgedanken für alle Völker und also auch für das jüdische Volk ausgehe 16 , teils aus der Balfour-Erklärung und der Übernahme des P M durch den VB, die das ganze jüdische V o l k als v i r tuelle (potentielle) Bevölkerung des Mandatsgebiets ansehe. Diese Realisierung der Nationalheimpolitik müsse denn auch gegen den Willen der derzeitigen Majorität der palästinensischen Bevölkerung durchgesetzt werden; die derzeitige numerische Stärke der aktuellen Bevölkerung sei daher unerheblich. Die Ständige Mandatskommission konnte sich dieser Problematik weitgehend entziehen. Obwohl sie ihre Kompetenz unmittelbar auf A r t . 22 der VBS gründete, erklärte sie sich stets für unzuständig, das P M selbst i n Frage zu stellen. A l l e diesbezüglichen Petitionen und Argumente ließ sie deshalb unerörtert. Stattdessen ging sie vom P M aus und interpretierte, wie die Mandatsmacht, A r t . 22 und P M i m Sinne einer zweifachen Verpflichtung. Sie nahm zu Zeiten die Harmonisierung dieser beiden Verpflichtungen anders vor als Großbritannien und keineswegs i m zionistischen Sinne; Streitpunkte waren insbesondere die Legislativ Vorstellungen. Aber sie blieb i m Rahmen einer möglichen Interpretation des PM, und hat nur insoweit arabische Petitionen erörtert 1 7 . Zur arabischen Beurteilung der Mandatsmacht und der Zionisten s. 14. K a pitel 4. 16 z. B. Spiegel, S. 75 ff.: „Eine Vergewaltigung des von der ganzen Kulturwelt anerkannten Rechtes des jüdischen Volkes auf seine Heimstätte in Palästina wäre also zwangsläufig die Folge der Übertragung des Bestimmungsrechts über das Land an die derzeitige Bevölkerung." 17 Nachweise: F. F. Andrews , The Holy Land under the Mandate (1931) I I , 114 ff., 148 ff.; C. L. Upthegrove , Empire by Mandate. A History of the Relations of Great Britain with the Permanent Mandates Commission of the League of Nations (1954), Kapitel 6; J. M. Machover , Governing Palestine. The Case against a Parliament (London 1936).

13. Kap.: Das Scheitern gemeinsamer Institutionen

Dreizehntes

229

Kapitel

Das Scheitern gemeinsamer staatsrechtlicher Institutionen Schrifttum: vor IV. Teil; Berichte, insbesondere Peel-Bericht; vor 11. Kapitel 2. J. M. Machover, Governing Palestine. The Case against a Parliament (London 1936). Mamun Hamuni, Die Britische Palästina-Politik; Dokumentenwerk (1943).

Das Mandatssystem ging von der Vorstellung aus, die unter Mandat stehenden Völker schrittweise zur Selbständigkeit zu führen, A r t . 22 Abs. 2 VBS. Die Bevölkerung des Gebietes sollte sich i n immer weiteren Bereichen selbst verwalten und so langsam die spezifischen Fähigkeiten erwerben, die für die selbständige Führung eines politischen Gemeinwesens i n der heutigen Welt nötig sind. Dieses Ziel verlangte den A u f bau von Strukturen, die allmählich die Verwaltungs- und Regierungsfunktionen 1 hätten übernehmen können. Hierüber haben sich alle Mandatssatzungen vorsichtig ausgedrückt. Aber die Mandatssatzungen für den Libanon, für Syrien und Mesopotamien enthielten die Verpflichtung der Mandatare, Institutionen der Selbstverwaltung und der Selbstregierung zu entwickeln 2 . Der entsprechende A r t . 2 des P M indes war recht auslegungsfähig 3 . Hier entstanden nämlich Sonderprobleme. Nach den Vorstellungen der Alliierten und der Hauptmächte i m V B konnten die Muster für die künftigen staatsrechtlichen Strukturen der Mandatsgebiete nur i n den Demokratien Westeuropas und der USA gesucht werden. Dies hätte bedeutet, daß die Mandatssatzungen die Mandatare verpflichteten, neben der Mandatsregierung demokratische Strukturen, insbesondere ein parlamentsähnliches Gremium zu schaffen, dem zunächst Anhörungs-, Mitsprache und Legislativbefugnisse gegeben worden wären, und das zunehmend die Regierungsgeschäfte hätte übernehmen können. I m Falle Syriens, Libanons und Iraks wurde die „Entwicklung von Instituten der Selbstverwaltung und Selbstregierung" i m Sinne westlicher Demokratien verstanden, und die Mandatsmächte errichteten entsprechende parlamentsähnliche Gebilde, zu denen die Abgeordneten nach (mehr oder weniger) gleichem Wahlrecht gewählt wurden. 1 I m folgenden werden für das englische „self-government" der Klarheit wegen die beiden deutschen Begriffe verwandt. 2 z. B. Art. 1 Absatz 2 des Mandats für den Libanon und Syrien verpflichtete Frankreich, „Maßnahmen zu treffen, um die allmähliche Entwicklung Syriens und Libanons zu unabhängigen Staaten zu erleichtern". 3 Art. 2: The Mandatory shall be responsible for placing the country under such political, administrative and economic conditions as will secure the establishment of the Jewish national home, as laid down in the preamble, and the development of self-governing institutions, and also for safe-guarding the civil and religious rights of all the inhabitants of Palestine, irrespective of race and religion.

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4. T e i l : Die Mandatszeit 1920 - 1948

Ein weiteres Problem war zu lösen. Die Mandatsmächte wollten zwar die Bevölkerung der Mandatsgebiete zu demokratischem Gebahren erziehen, nicht aber die Regierungsgewalt auf demokratisch legitimierte Institutionen übertragen. Das Problem stellte sich ganz genau so i n ihren Kolonien und ist den Problemen der deutschen Konstitutionellen Monarchien des 19. Jahrhunderts ähnlich. I m britischen Empire — zu dem das Palästina der Mandatszeit gezählt werden muß — kreiste die Problematik um die parlamentarisch verantwortliche Regierung (responsible government) und um die repräsentative Regierung (representative government) 4 . I n einem System parlamentarisch verantwortlicher Regierung liegen nicht nur die legislativen Befugnisse beim Parlament, sondern von ihm hängt auch die Exekutive ab. I n staatsrechtlichen Termini bedeutet das, daß das Parlament die Regierung ernennt und entläßt. Bei lediglich repräsentativer Regierung hat das parlamentsähnliche Grem i u m Legislativbefugnisse, während sie auf die Bestellung und Amtsführung der Exekutive (formell) keinen Einfluß hat. Die Mandatsmacht ernennt die Spitze der Exekutive und erteilt i h r Weisungen, während diese Spitze ihrerseits die übrigen Mitglieder der Exekutive ernennt. Selbst die Legislativbefugnisse des parlamentsähnlichen Gremiums sind beschränkt. Nicht nur ist es, wie jedes Parlament an die Verfassung, an die Mandatssatzung gebunden, sondern die Exekutive kann entweder widersprechen oder die Gesetzesnorm t r i t t nicht ohne ihre Zustimmung in Kraft, und bestimmte Materien sind ihrer Legislativgewalt entzogen. Dieses Repräsentativsystem bot sich überall da an, wo eine einheimische Bevölkerung nicht die volle Gewalt über ihr politisches Schicksal hatte, also i n Kolonien, Protektoraten, Mandaten. Großbritannien hat es i n seinen Kolonien angewandt, ohne daß es immer gut gearbeitet hätte. Das Problem läßt sich so zusammenfassen: Einer gewählten Legislative ohne echte Verantwortung für die Politik steht eine unabsetzbare Exekutive gegenüber, die zudem an die Parlamentsbeschlüsse nicht gebunden ist. Erfahrungsgemäß erschöpfen sich Parlamente, die ihre Forderungen nicht selbst realisieren können und müssen, i n steriler K r i t i k und unrealisierbaren Forderungen. Die Exekutive ihrerseits findet keine Unterstützung beim Parlament für ihre Politik. So sind Paralysierung und Frustrierung unvermeidlich. Der Exekutive bleibt nur das Veto oder sie muß (nach Mandats- oder Kolonialrecht) rechtswidrige Legislativakte hinnehmen; sie selbst kann nur m i t parlamentsfreien Verordnungen regieren. Der erhoffte Demokratisierungseffekt bei der Bevölkerung t r i t t nicht ein, weil sich die parlamentarische Tätigkeit i n folgenloser Rhetorik erschöpft, und weil die Abgeordneten nicht zum politisch Möglichen er4 Report of the Commission on Closer Union of the Dependencies in Eastern and Central Africa (Hilton-Young-Bericht), Cmd. 3234 von 1929.

13. Kap.: Das Scheitern gemeinsamer Institutionen

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zogen werden. A l l das ist m i t Sicherheit i n Zeiten politischer Kämpfe zu erwarten, sei es, daß die Bevölkerung die Fremdherrschaft — und das heißt dann die Exekutive — überhaupt, sei es, daß sie — wie i n Palästina die Mandats-(Nationalheim-)Politik ablehnt. Schließlich war i n Palästina ein weiteres Problem zu bedenken: hier stießen zwei Volksgruppen aufeinander. Nach britischer Ideologie sollen sich antagonistische Gruppen in demokratischer Zusammenarbeit einander verstehen und miteinander auskommen lernen. Es kann so sein. Aber wenn die Volksgruppen entschlossen sind, sich nicht zu mögen, dann lassen sie sich auch durch gemeinsame Selbstverwaltungsinstitutionen nicht von ihren Antipathien abbringen. Trotz demokratischer Institutionen hat das Zusammenleben i n Osteuropa zwischen Deutschen und ihrer Umwelt, aber auch i n Algerien nur mit Vernichtung und Austreibung geendet. Auch Großbritannien hat in seinen Gebieten mit Volkstumskonflikten (Indien/Pakistan; Nigeria; Zypern) wenig Erfolg gehabt. Wenn dagegen die Bevölkerung homogen oder zum Zusammenleben bereit ist, dann scheinen die Institutionen ziemlich gleichgültig zu sein. Obwohl Frankreich weniger Energie auf die Einübung zur Selbstverwaltung und Ausbildung eines hochqualifizierten einheimischen Beamtentums verwandt hat als Großbritannien, sind die ehemals französischen Gebiete weniger von Bürgerkriegen heimgesucht. I n Palästina potenzierte sich diese Situation. Hier standen sich nicht Volksgruppen gegenüber, die sich zwar nicht mögen, aber sich immerhin i m gegenseitigen Nichtmögen eingerichtet haben. Hier ging es auch nicht um wirtschaftliche oder politische Sonderstellungen von Gruppen. Hier strömten Europäer ein, die die Araber als fremde Invasoren empfanden, und die ein palästinensisches Gemeinwesen aufbauten, an dem die autochthone Bevölkerung keinen Anteil hatte. Man kann nachträglich voraussagen, daß hier auch die gemeinsamen Selbstverwaltungsinstitutionen nicht hätten helfen können. Schließlich stellte sich i n Palästina ein letztes Problem: demokratische Strukturen waren — sollte diese Vorstellung nicht zumindest sehr entfremdet werden — m i t dem Aufbau eines Nationalheims unvereinbar. Demokratische Strukturen müssen mehr oder weniger die Bevölkerungsverhältnisse i m Lande widerspiegeln; zu große Abstriche an der allgemeinen Gleichheit — etwa Klassenwahlrecht, Beschränkung des aktiven Wahlrechts auf bestimmte Bildungsgrade oder Quotenzuteilungen — werden nicht mehr als demokratisch empfunden. Aber jede nur denkbare Ausgestaltung demokratischer Grundsätze hätte die arabische Mehrheit ins Übergewicht gebracht und die existente jüdische Bevölkerung zur politisch bedeutungslosen Minderheit gemacht. Schließlich betrug die gesamte jüdische Bevölkerung Palästinas keine zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Insoweit die Institutionen über Materien wie Einwanderung und jüdischen Landerwerb zu legiferieren gehabt hätten,

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4. T e i l : Die Mandatszeit 1920 - 1948

wäre der Aufbau eines jüdischen Gemeinwesens von einem Tag auf den anderen total und endgültig abgebrochen worden. M i t dieser Einsicht ist der Streit u m die Selbstverwaltungs- und Selbstregierungsinstitutionen während der Mandatszeit zu sehen. Die Forderung nach Selbstregierung ist i n abhängigen Gebieten meist gleichbedeutend m i t der Forderung nach nationaler Unabhängigkeit. Auch i n Palästina forderten die Araber von Anfang an und bedingungslos die nationale Unabhängigkeit und Abschaffung des Mandats; die Forderung nach Selbstregierungsinstitutionen ist insoweit nur eine andere A r t i k u lation. Gleichzeitig hatte diese Forderung jedoch auch i m Rahmen des Mandats ihre eigene Bedeutung. Mandat hin, Mandat her, die nationale Unabhängigkeit konnte auch später kommen. Aber auch ohne Gewährung der Unabhängigkeit konnte eine gewisse Autonomie, etwa gesetzgeberischer Natur den Ausbau des Nationalheims verhindern. Wenn es den Arabern gelang, die Legislativkompetenz über Einwanderung und Landerwerb zu erringen, dann war es m i t dem Nationalheim zu Ende. Ihre Forderung nach demokratischer Struktur, die den realen Mehrheitsverhältnissen i m Lande entsprach, war insoweit nichts als die radikale Ablehnung des P M und der Nationalheimpolitik. A l l e Beteiligten waren sich hierüber i m klaren und formulierten ihre Forderungen entsprechend. Die zionistischen Vorstellungen bei der Abfassung des P M liefen insoweit auf eine A r t demokratisierter Chartergesellschaft hinaus. Danach sollten sich Selbstverwaltung und Selbstregierung aus dem jüdischen Nationalheim entwickeln 5 . Die künftige politische Struktur sollte also allein von der jüdischen Volksgruppe getragen werden; der arabische Bevölkerungsanteil hätte danach einen unpolitischen Eingeborenenstatus gehabt. Auch i n der Folgezeit haben zionistische Autoren diese Konzeption verteidigt. Jeder Legislativvorschlag, der von den tatsächlichen Bevölkerungsverhältnissen Palästinas ausgehe, sei m i t dem P M unvereinbar und daher völkerrechtswidrig. Denn der Aufbau des Nationalheims sei Sache des gesamten jüdischen Volkes i n aller Welt; das P M sei zugunsten des gesamten jüdischen Volkes und nicht lediglich zugunsten der jüdischen Palästinenser ergangen. Daher könne die numerische Zahl der Juden i n Palästina nicht Basis der Vertretungskörperschaft sein; damit würden die gegenwärtigen Bewohner anstelle der 15 Millionen Juden i n aller Welt gesetzt. Diese Konzeption setzte sich nicht durch; die gegenteilige allerdings auch nicht deutlich. Die Fassung des A r t . 2 P M ließ nicht klar erkennen, ob der Satzteil „Entwicklung von Institutionen der Selbstverwaltung und Selbstregierung" lediglich die Fortsetzung des Teiles über das Jüdische Nationalheim ist oder ob er bereits m i t dem letzten 5

Nachweise: Halpern, S. 312 ff.

13. Kap.: Das Scheitern gemeinsamer Institutionen

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Satzteil zusammen zu lesen ist, der von allen Einwohnern Palästinas spricht. Beide Auslegungen wären textlich möglich. I n der Folgezeit hat sich die zweite Lesart durchgesetzt. Sowohl die Mandatsmacht als auch die Ständige Mandatskommission des V B haben seit 1923 diesen Satzteil aus seinem zionistischen Kontext herausgelöst 6 und die britische Verpflichtung zur Errichtung derartiger Institutionen auf alle Einwohner bezogen. Die Mandatsmacht hat zweimal versucht, i n Palästina Selbstverwaltungs- und Selbstregierungsinstitutionen zu errichten, i n denen beide Volksgruppen gemeinsam vertreten gewesen wären, 1922/1923 und 1935. Beide Versuche scheiterten. I n der Form befolgte Großbritannien seine kolonialen Erfahrungen und sah eine repräsentative Regierung vor. Als parlamentsähnliches Gremium w a r ein Legislativrat vorgesehen, während die Exekutive v o l l dem Hohen Kommissar unterstellt gewesen wäre. Der Hohe Kommissar wäre weiterhin Vertreter der Mandatsmacht geblieben, wäre von i h r ernannt worden und hätte von ihr Weisungen empfangen. Er hätte seinerseits die Mitglieder der Exekutive ernannt und wäre ihnen gegenüber weisungsbefugt gewesen. Die Legislativbefugnisse des Legislativrats wären sowohl sachlich beschränkt als auch der Bewilligung durch den Hohen Kommissar unterworfen gewesen. Außerdem blieben dem Hohen Kommissar gewisse Legislativbefugnisse ausschließlich vorbehalten. Der Legislativvorschlag von 1922 w a r Teil der Palästinaverfassung 7 . I n diesem Legislativrat sollten der Hohe Komissar, 10 weitere Beamte der Mandatsmacht, 12 gewählte nicht-beamtete Mitglieder (8 moslemische und 2 christliche Araber, 2 Juden) sitzen. Die Gesetzesbeschlüsse bedurften der Bestätigung durch den Hohen Kommissar. Die Wahlen sollten i m Februar 1923 stattfinden. Der Vorschlag von 1935 erweiterte den Legislativrat auf 28 Mitglieder 8 . Der A n t e i l der ernannten Mitglieder verringerte sich zugunsten der gewählten Mitglieder auf fünf beamtete Mitglieder. Ihnen standen 11 weitere ernannte Mitglieder (3 Moslems, 4 Juden, 2 Christen und 2 Vertreter von Wirtschaftsinteressen) zur Seite. Ihnen gegenüber standen 12 gewählte Mitglieder (8 Moslems, 3 Juden, 1 Christ) sowie ein neutraler Vorsitzender (ohne Beziehung zu Palästina) gegenüber; er hatte kein Diskussions- und Stimmrecht. Beide Volksgruppen haben sich die Mehrheitsverhältnisse zu ihren Ungunsten ausgerechnet. So haben die Juden beim Vorschlag 1922 so gerechnet: Einer Mehrheit von 10 gewählten Arabern (8 Moslems, 2 christ6 7 8

Halpern, S. 314. Dort auch Nachweise. 11. Kapitel 2; PO von 1922, Teil I I I , „Legislative", Art. 17 - 21. Cmd. 5119 von 1936.

4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

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liehen Arabern) stehen zwei jüdische Mitglieder gegenüber. Zwar haben sie zusammen m i t den beamteten Mitgliedern gegenüber den Arabern die Mehrheit, aber sie müssen auf Gedeih und Verderb m i t der Mandatsregierung stimmen. Umgekehrt sahen die Araber nur ihre numerische Unterlegenheit, und betrachteten Juden und Mandatsregierung als ihnen feindlichen Block. Der Vorschlag von 1935 läßt sich verschieden aufgliedern. Von den 28 Mitgliedern sollten 12 gewählt und 16 (5 Regierungsbeamte und 11 weitere Mitglieder) ernannt werden. Gliedert man auch nach Volksgruppen, so sieht er kompliziert aus: 28 Mitglieder, davon

5 ernannte beamtete Mitglieder 2 Vertreter von Wirtschaftsinteressen 3 ernannte 1l 8 gewählte Jf Moslems 4 ernannte 1 3 gewählte J Juden 2 ernannte 1[ 1 gewählter Jf Christen ( = Araber) 1 unparteiischer Vorsitzender

Auch hier sahen die Juden nur die Möglichkeit ihrer Überstimmung. Den Arabern schienen beide Vorschläge unannehmbar. Sie haben stets und auf allen ihnen erreichbaren Ebenen (Konferenzen i n London und Petitionen an die Ständige Mandatskommission) eine den existenten Mehrheitsverhältnissen Palästinas entsprechende Vertretung mit parlamentarisch verantwortlicher Regierung gefordert. Z. B. auf der Konferenz in London 1922: „nothing w i l l safeguard the interests of the Arabs against the dangers of immigration, except the creation of Representative National Government which shall have complete control over immigration", Correspondence with the Palestinian Arab Delegation and the Zionist Organization, Cmd. 1700 von 1922.

Gegenüber den arabischen Forderungen haben Großbritannien und Ständige Mandatskommission 9 das Problem klar formuliert: i n Palästina könnten keine „ freien demokratischen Institutionen" eingeführt werden, da dies den völkerrechtlichen Verpflichtungen des Mandatars widerspräche. Eine demokratische und parlamentarische Regierung sei vom P M nicht vorgesehen; ihre Einführung wäre m i t den Pflichten der Mandatsmacht unvereinbar und verletzte das PM. Eine echte Selbstregierung könne es erst geben, wenn die Araber die Verpflichtungen zum Nationalheim anerkennen würden. Diese Pflicht müßten die Araber anerkennen. Solange dies nicht der Fall sei, müßte Palästina notwendigerweise unmittelbar von der Mandatsmacht regiert werden. Man könne es der 9

Auswertung der Verhandlungen vor der Kommission bei Machover.

13. Kap.: Das Scheitern gemeinsamer Institutionen

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palästinensisch-arabischen M e h r h e i t n i c h t e r l a u b e n , d i e E r f ü l l u n g d e r V e r p f l i c h t u n g aus d e m P M , das N a t i o n a l h e i m z u errichten, z u v e r h i n dern. Diese V e r p f l i c h t u n g e n b e s t ü n d e n n i c h t n u r g e g e n ü b e r der tatsächl i c h e n B e v ö l k e r u n g Palästinas, s o n d e r n gegenüber der v i r t u e l l e n , der abwesenden j ü d i s c h e n B e v ö l k e r u n g v o n P a l ä s t i n a . Z.B.: "In the opinion of the Mandatory, it was impossible to reconcile the above provisions with the granting of unqualified autonomy to the present population of Palestine, since such autonomy would imply the right to dispose of the country by legislative and administrative measures, even against the obligations assumed by the Mandatory." "Since the effect of meeting the wishes of the Arab Delegation as regards democratic government would have been to render it impossible for H M G to carry out their full responsibility as Mandatory for Palestine... it became evident that this matter would not usefully pursued further." Ähnlich hat sich die Ständige Mandatskommission ausgedrückt: "To all the sections of the population which are rebelling against the Mandate, whether they object to it on principle or wish to retain only those of its provisions which favour their particular cause, the Mandatory Power must return a definite and categorical refusal. As long as the leaders of a community persist in repudiating what is at once the fundamental charter of the country, and as far as the Mandatory Power is concerned, an international obligation which it is not free to set aside, the negotiations would only unduly enhance their prestige and raise dangerous hopes among their partisans and apprehensions among their opponents." (Aus einer Sitzung vom Juni 1930 angenommen vom Völkerbundsrat.) Die nichtoffizielle zionistische Literatur lehnte die Vorschläge schroff ab. So beschrieb etwa Machover beide Vorschläge von 1922 und 1935 so: "The first was a carefully cloaked and curbed surrender to Arab violence . . . The second is an unconcealed and utter surrender to Arab violence and a complete reversal of the policy hitherto pursued by successive British Governments", S. X . D i e Vorschläge b r a c h t e n d i e o f f i z i e l l e F ü h r u n g der Zionisten in Verl e g e n h e i t . D e r Z i o n i s m u s h a t sich i m m e r als sozialistisch u n d d e m o k r a tisch v e r s t a n d e n u n d m u ß t e , insbesondere u n t e r b r i t i s c h e r O b e r h e r r schaft, z w a n g s l ä u f i g z u m p a r l a m e n t a r i s c h e n S y s t e m f ü h r e n . B e i d e n M e h r h e i t s v e r h ä l t n i s s e n d e r M a n d a t s z e i t m u ß t e n jedoch L e g i s l a t i v v o r schläge u n d p a r l a m e n t a r i s c h e s S y s t e m z u r a b s o l u t e n U n t e r l e g e n h e i t des j ü d i s c h e n B e v ö l k e r u n g s t e i l s f ü h r e n u n d sie z u e i n e r bedeutungslosen M i n d e r h e i t v e r u r t e i l e n 1 0 . Sie w o l l t e n „ n u m b e r s before D e u t e r o n o m y " . A b e r dieser E i n w a n d w a r p o l i t i s c h schwer v e r t r e t b a r . M i t g r o ß e m M u t a k z e p t i e r t e n die Zionistische O r g a n i s a t i o n u n d der N a t i o n a l r a t die L e g i s l a t i v v o r s c h l ä g e v o n 1922. Dagegen l e h n t e n sie d e n L e g i s l a t i v v o r s c h l a g v o n 1935 e i n m ü t i g a b 1 1 . Selbst d i e a n t i - z i o n i s t i s c h e Judenschaft Palästinas, A g u d a t h Israel, w i 10

1922: 590 000 Moslems; 80 000 Christen und Drusen (also Araber); 83 800 Juden. 1935: 825 000 Moslems; 100 000 Christen (meist Araber); 320 000 Juden. 11 Machover, Nachweise.

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

dersprach. Die jüdischen Gründe lassen sich in einem Satz zusammenfassen: nach dem Vorschlag komme die arabische Mehrheit zum Zuge, was die Errichtung des jüdischen Nationalheims unmöglich mache. Ihre Befürchtungen waren klar: der Legislativrat m i t — wie sie zählten — arabischer Mehrheit hätte über die für sie wichtigsten Punkte beschließen können: über Einwanderung und über Landerwerb. Von den Sicherheitsklauseln und dem Vetorecht des Hohen Kommissars versprachen sie sich wenig, da die Mandatsregierung unter politischem Druck gezwungen werden konnte, den arabischen Forderungen nachzugeben. Es gelang ihnen, erhebliche Widerstände i m britischen Parlament und die Ständige Mandatskommission gegen den Plan zu mobilisieren. Auch die Ständige Mandatskommission sprach sich gegen den Legislativvorschlag von 1935 aus. Neben anderen Gründen machte sie vor allem geltend, daß eine Regelung, bei der die Mehrheit ihre Mehrheitsentscheidung nicht durchsetzen könne, lediglich zu Friktionen führe. Andererseits wäre die Mandatsregierung unter Umständen gezwungen, politischem Druck nachzugeben und ihr Veto auch bei mandatswidrigen Beschlüssen nicht auszuüben. Als die Wahlen 1923 abgehalten wurden, wählte der jüdische Bevölkerungsteil. Die arabischen Gruppen hatten bereits bei der Konsultation alle Legislativvorschläge abgelehnt 12 ; sie boykottierten daher die angesetzten Wahlen. Abgesehen von ihrer grundsätzlichen Weigerung, i m Rahmen des Mandats m i t der Mandatsmacht zusammenzuarbeiten, machten sie insbesondere geltend, daß der Hohe Kommissar zu viele Befugnisse für sich zurückbehielt, so vor allem die Einwanderungskontrolle, und daß so keine demokratische Machtausübung stattfinde. Außerdem rügten sie, daß die ernannten Mitglieder zusammen m i t den zwei j ü d i schen Vertretern die Araber überstimmen könnten. Der Legislativrat sei daher für sie unannehmbar, weil die arabischen Mitglieder über diesen Rat nicht die Durchführung der durch Balfour-Erklärung, Mandat und Weißbuch von 1922 definierten Politik blockieren könnten. Sie k r i tisierten auch die Zusammensetzung: maßgebend für die Berechnung der Proportionalität müßten die Bevölkerungsverhältnisse vor der Mandatszeit sein. Die Mandatsmacht annullierte daraufhin die Wahlen, soweit sie stattgefunden hatten und suspendierte die Einsetzung des Legislativrates 13 . Die arabische Ablehnung, insbesondere jedoch der Ausbruch der Unruhen 1935 enthob alle Beteiligten dieser Probleme. So wurde Palästina bis zum Ende der Mandatszeit vom Hohen Kommissar durch Verord12 "No object would be gained in discussing details when the foundation on which the details are built is subject to disagreement", Cmd. 1700 von 1922, S.11 - 15. 13 Art. 2,6 der PAO 1923; Cmd. 1889 von 1923.

14. Kap. : Das palästinensisch-jüdische Gemeinwesen

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nungen (ordinances) regiert. I h m standen ein Exekutivrat und ein Beratender Ausschuß zur Seite. Aber der Exekutivrat hatte die Funktionen eines Kabinetts, und seine Mitglieder waren ernannte britische Beamte. Auch die Mitglieder des Beratenden Ausschusses waren ernannte Beamte der Mandatsregierung. I m Oktober 1920 setzte der Hohe Kommissar einen Beratenden AusSchuß (Advisory Council) aus ernannten Mitgliedern ein. I h m gehörten zehn Beamte der Mandatsregierung, vier moslemische und zwei christliche Araber und zwei Juden an. Er sollte bis zur Einsetzung einer gewählten Körperschaft amtieren. Der Ausschuß arbeitete zwei Jahre m i t einigem Erfolg, wurde aber 1922 i n Erwartung des Legislativrates aufgelöst. Nachdem der Legislativrat 1923 nicht zustandekam, wollte die Mandatsregierung wieder den Ausschuß einsetzen und änderte seine Zusammensetzung entsprechend den Legislativvorschlägen. Die Araber boykottierten nunmehr auch den Ausschuß. Das arabische Verhalten w i r d verschieden beurteilt. Die liberale K r i t i k hält die Ablehnung für falsch, da die Araber i n den Legislativräten größeren Einfluß besessen hätten, als sie so erreichen konnten. A u f dem arabisch-moslemisch-christlichen Kongreß von 1928 scheint diese A n sicht überwogen zu haben. Beide Male hatte sich jedoch die Ansicht durchgesetzt, daß eine derartige Mitarbeit die Anerkennung des P M impliziere, das die Araber kompromißlos ablehnten. A u f dem Standpunkt bedingungsloser Ablehnung jeglicher Zusammenarbeit steht heute vorwiegend die außerisraelische marxistische Sicht. So waren die Versuche gemeinsamer Staatseinrichtungen gescheitert. Lediglich auf gemeindlicher Ebene 14 und i n einigen rein technischen Ausschüssen ohne offiziellen Charakter gab es partiell und punktuell eine gewisse Zusammenarbeit. Beide Gruppen konzentrierten sich auf den Ausbau ihrer eigenen Strukturen.

Vierzehntes

Kapitel

D i e Organisation des palästinensisch-jüdischen Gemeinwesens Schrifttum: Zur Zionistischen Organisation: vor 1. Kapitel (Zionismus) insbesondere: Böhm I ; zur Organisation während der Mandatszeit und in Palästina: vor 10. Kapitel; vor 11. Kapitel 2; insbesondere Revusky, Markus, Peel-Bericht. 14

Über die gemeindliche Selbstverwaltung s. etwa Marcus, S. 178 ff.

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Da sich keine gemeinsamen staatsrechtlichen Strukturen bilden konnten, gewannen die Strukturen des separaten Aufbaus um so größere Bedeutung. Den Zionisten gelang ein fast vollständiger Staats- und Gesellschaftsaufbau. I m Verhältnis zur Mandatsmacht und zum arabischen Bevölkerungsteil wurde ihr Gemeinwesen nahezu autark. Diese Autarkie bewährte sich bei arabischen Streiks und arabischen Aufständen: weder konnten die Araber die Wirtschaft des jüdischen Gemeinwesens lähmen noch jüdische Siedlungen erobern und die Anlage neuer Siedlungen verhindern. Gegen die Mandatsmacht bestand dieses Gemeinwesen einen regelrechten Krieg. Gegen alle Aktionen der Mandatsmacht rief dieses Gemeinwesen 1948 den israelischen Staat aus und übernahm auch effektiv alle Regierungs- und Verwaltungsaufgaben. Gegen die vereinten Anstrengungen der arabischen Volksgruppe und Armeeteile der arabischen Nachbarländer behauptete sich dieses Gemeinwesen. Alle Beobachter sehen diese Erfolge i n der effizienten Organisation des jüdischen Gemeinwesens i n Palästina und seiner eigenartigen Verknüpfung m i t den Juden i n aller Welt, insbesondere mit den Juden i n den politisch jeweils entscheidenden Staaten. Das jüdische Gemeinwesen gab sich mehrere Strukturen, die z. T. auf verschiedenen Ebenen lagen. Das Eigentümliche dieser Strukturen ist die institutionalisierte Verbindung m i t den außerpalästinensischen Juden; daher ist an dieser Stelle auch der Aufbau der Zionistischen Organisation darzustellen. 1. Die bedeutendste Rolle spielte die Jewish Agency, deren Funktion zunächst die Zionistische Organisation, später eine Parallelorganisation mit dem Namen „Jewish Agency" ausübte. 2. Die palästinensischen Juden entwickelten zusätzlich noch Strukturen nach dem Vorbild westlicher Demokratien mit Parlament, Regierung und Landesparteien. 3. Eine bedeutende Rolle spielten die sog. Nationalen denen einige wiederum weltweit verflochten waren.

Institute,

von

1. Zionistische Organisation und Jewish Agency a) Die weltweite Zionistische Organisation wurde auf dem 1. Zionistischen Kongreß 1897 i n Basel begründet 1 . Die Zionistische Weltorganisation war wiederum i n Landesverbände gegliedert, deren Bereiche grundsätzlich den Staatsgrenzen entsprachen. 1 I m folgenden wird die Satzung in der Fassung von 1938 (d. h. die auf dem 12. Kongreß 1921 angenommene und bis zum 20. Kongreß mehrfach geänderte Fassung) zugrundegelegt: Constitution of the Zionist Organisation, hrsg. von Executive of the Zionist Organisation (Jerusalem 1938). Ein deutscher Text

(Fassung 1926) in Ullmann, Dok. 26.

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1936 bestanden in 45 Staaten Landesverbände, 1945 in 61 Staaten. I n Sowjetrußland, in der Türkei und in einigen orientalischen Staaten waren Zionistische Organisationen verboten, ebenso heute im arabischen (und moslemischen) und sowjetischen Machtbereich.

Daneben gab es ideologisch orientierte Sonder verbände, d. h. zionistische Organisationen m i t speziellen sozialen, religiösen und politischen Zielen 2 . Sie blieben außerhalb der Landesverbände, i n derem territorialen Bereich sie als Sonderverbände organisiert waren und entsandten ihre Delegationen zu den Kongressen der Zionistischen Weltorganisation; i m allgemeinen unterwarfen sie sich der gewählten Leitung, wenn auch oft nach harten Kämpfen. Wie die Zionistische Organisation selbst bekannten sie sich zum Basler Programm 3 , verfolgten jedoch zusätzliche Ziele: Misrahi: einen jüdisch-theokratischen Staat auf Grundlage der Tora 4 ; die Poale Zion: einen sozialistischen Staatsaufbau 5 ; die Revisionistische Partei: die Einbeziehung Trans j or daniens i n die Nationalheimpolitik und deren radikale Verfolgung 6 . Jeder Jude (und jede Jüdin) über 18 Jahren, der sich zum Basler Programm bekannte und den Schekel 7 zahlte, wurde Mitglied 8 . M i t der Schekelzahlung erwarb das Mitglied das Wahlrecht zum jüdischen Kongreß. Innerhalb der Landes- oder Sonderverbände herrschte allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht; Frauen waren stimmberechtigt. Die Parteien stellten Namenlisten auf, zu denen nach einem Verhältniswahlrecht gewählt wurde. Oberstes Organ der Zionistischen Weltorganisation war der Kongreß (Art. 15); er trat grundsätzlich alle zwei Jahre zusammen 9 . Er hatte den Bericht der Exekutive entgegenzunehmen und zu erörtern; über wichtige Fragen zu entscheiden; quasi-legislative Maßnahmen zu treffen (z. B. Erlaß von Satzungen für die „Nationalen Institute") und vor allem die Führungspersönlichkeiten zu bestimmen, d. h. die Mitglieder des Aktionskomitees und der Zionistischen Exekutive, später die Zionistischen Mitglieder der Jewish Agency zu wählen (Art. 17). Nach dem Kongreß folgte theoretisch das Aktionskomitee, Art. 37 ff.; es sollte zwischen dem Kongreß und der Exekutive stehen 10 . Das Aktions2 Die Bezeichnung für die Landes- und Sonderverbände wechselt, insbesondere infolge der Übersetzungen. 3 1. Kapitel lc am Ende. 4 1. Kapitel 4. 5 1. Kapitel 4. 6 1. Kapitel 4. 7 Biblische Silbermünze; Wert 1 französischer Franken oder Äquivalent in Landeswährung. 8 Mitgliederzahlen: 1913:130 000; 1939:1 040 000. 9 Zählung der Kongresse s. etwa LJ, „Zionismus". Sie werden oft als „Zionistische Weltkongresse" bezeichnet. 10 Früherer Name: „Großes Aktions-Komitee"; danach auch: „Greater Actions Committee", dann „General Council".

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komitee hatte nie große Bedeutung erlangt und ist i n den 30er Jahren aufgelöst worden. N u r i n der Parallelorganisation, der Jewish Agency, gewann dieses Zwischenorgan (unter der Bezeichnung „Rat") mangels eines Kongresses einige Bedeutung. Die Exekutive hatte nach der Satzung die laufende Politik und Verwaltung zu führen und entsprach voll der Regierung i n einem Staatswesen 11 . Wie eine Regierung war sie ministerialbereichsähnlich gegliedert. Innerhalb der Organisation hatte sie stets die stärkste Stellung. Dies rührte daher, daß nur sie permanent handlungsfähig war, während der Kongreß nur periodisch oder (während des Krieges) gar nicht zusammentrat. Vor allem hatte sie m i t Hilfe von Personalunion die übrigen Lenkungsinstitute, wie die Jewish Agency und die sog. Nationalen Institute fest i n ihrer Hand. b) Die Jewish Agency. Nach Art. 4 P M sollte „eine angemessene j ü d i sche Vertretung 1 2 als öffentliche Körperschaft anerkannt werden, u m die Verwaltung Palästinas i n solchen wirtschaftlichen, sozialen und anderen Angelegenheiten zu beraten und m i t ihr zusammenzuwirken, die die Errichtung des jüdischen Nationalheims und die Interessen der j ü d i schen Bevölkerung i n Palästina betreffen und vorbehaltlich der Kontrolle durch die Verwaltung, an der Entwicklung des Landes zu helfen und teilzunehmen". Als solche Vertretung sollte die Zionistische Organisation anerkannt werden (Art. 4 PM). Jewish Agency i m Sinne der P M war also zunächst kein weiteres Organ, sondern nur die Bezeichnung der Zionistischen Organisation i n der Terminologie des Mandatsrechts. U m ihre Aufgaben entsprechend erfüllen zu können, teilte sich die Exekutive der Zionistischen Organisation i n eine Londoner Exekutive und eine Jerusalemer Exekutive (Palestine Executive of the Zionist Organisation). Die erweiterte Jewish Agency. Ab 1928 wurde die Jewish Agency u m nichtzionistische Gruppen erweitert. Organisatorisch übernahm eine neue Organisation die i m P M vorgesehene Funktion; Erweiterung der bestehenden Zionistischen Organisation w i r d jedoch dem Vorgang besser gerecht. Nach A r t . 4 Abs. 2 P M sollte sich die zionistische Organisation u m die Mitarbeit der nichtzionistischen jüdischen Gruppen bemühen. Alle Juden i n der Welt sollten am Aufbau des Nationalheims mitarbeiten, soweit sie dem Aufbauwerk günstig gegenüberstanden, auch wenn sie keine Zionisten waren. Die erweiterte Jewish Agency kam 1928 zustande 13 ; sie wurde vom 16. Zionistischen Kongreß 1929 i n Zürich be11 Art. 44 ff., früher: Engeres Aktionskomitee und The Smaller Actions Committee; dann: Central Executive, schließlich allgemein: Zionist Executive. 12 I m Englischen und auch meistens im Deutschen sowie hier im folgenden stets Jewish Agency. 13 Zum Kampf um die Erweiterung der Jewish Agency um die „Nichtzionisten" s. 1. Kapitel 4 b.

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stätigt und von Großbritannien als Agency i m Sinne des A r t . 2 P M 1930 anerkannt. Die erweiterte „Jewish Agency for Palestine" folgte strukturell der Zionistischen Organisation. Es fehlte lediglich der Kongreß, da kein gesamtjüdischer Kongreß 1 4 etabliert werden konnte. Ihre Organe beschränkten sich daher auf den Rat, das Verwaltungskomitee und die Exekutive. Sie entsprachen i n Struktur und Kompetenzen den entsprechenden Organen der Zionistischen Organisation. Die durch das Nebeneinander von Organen möglichen Friktionen wurden durch weitgehende Personalunion vermieden; so war der Präsident der Zionistischen Organisation auch ex officio Präsident der Jewish Agency. Oberstes Organ war der Rat 15. Er bestand aus 224 Mitgliedern, von denen 112 Vertreter der zionistischen Organisation vom Zionistischen Kongreß gewählt wurden. Die 112 nichtzionistischen Vertreter wurden von den nicht mit der Zionistischen Organisation verbundenen jüdischen Organisationen der verschiedenen Länder entsandt. Da kein gemeinsamer Wahlkörper (etwa i n Form eines gesamtjüdischen Weltkongresses) vorhanden war, wurden die Ratsmitglieder nach unterschiedlichem Bestimmungsmodus gewählt. Die zionistische Hälfte wurde vom Zionistischen Kongreß bestimmt und ging so mittelbar aus allgemeinen Wahlen hervor. Das nicht-zionistische Judentum verfügte über keinen einheitlichen Wahlkörper; hier wurden die Mitglieder von Landesgemeinschaften gemäß ihrer lokalen Verhältnisse bestimmt. Meist fehlte auch i n den einzelnen Ländern ein übergreifender Wahlkörper, so daß die Ratsmitglieder nach sehr verschiedenen Modalitäten benannt wurden. Während die zionistischen Vertreter lediglich gewählt wurden, mußten sich die nichtzionistischen Gruppen vorher mühsam abstimmen. Die Sitzungen des Rates sollten alle zwei Jahre i n Verbindung m i t und unmittelbar anschließend an die Sitzungen des Zionistenkongresses stattfinden. Das Verwaltungskomitee 16 sollte zwischen den Ratssitzungen zusammentreten, die Berichte der Exekutive entgegennehmen und zwischen den Ratssitzungen anfallende politische Fragen entscheiden. Dazu oblag i h m die Überwachung der Exekutive. Es trat gewöhnlich gleichzeitig m i t dem Zionistischen General Council zusammen. Es bestand aus 40 M i t gliedern, die ebenfalls je zur Hälfte Nichtzionisten und Zionisten waren. Sie wurden sämtlich dem Rat entnommen. Das wichtigste Organ war die Exekutive 17. Sie übte die wesentlichen Funktionen aus. Dies lag daran, daß sie permanent arbeitete und nicht 14 Etwas anderes ist der World Jewish Congress, der nach 1936 als freiwilliger Zusammenschluß und als Dachorganisation jüdischer Vereinigungen zustandekam. 15 Council, Art. 5 Agency-Verfassung. 16 Art. 6 Agency-Verfassung. 17 Art. 7 Agency-Verfassung.

16 Wagner

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von Sitzungen abhängig war; daß sie wie ein Kabinett m i t ministeriellem Unterbau gegliedert war und daß infolge weltpolitischer Ereignisse die übrigen Organe nicht regelmäßig zusammentreten konnten. Beide Institutionen wuchsen zu einer einzigen organisatorischen Strukt u r zusammen, wobei die Führung bald ganz i n zionistische Hände gelangte. Die Mitgliedschaft i n den Führungsorganen der Jewish Agency wurde identisch m i t der Mitgliedschaft i n den zionistischen Organen 18 . 1942 waren alle Mitglieder der zionistischen Exekutive auch Mitglieder der Jewish Agency. Der Präsident beider Organisationen war derselbe; er w a r auch gleichzeitig Präsident der Exekutiven. So wurden z. B. die sechs nichtzionistischen Mitglieder des palästinensischen Landesverbandes aus dem palästinensisch-jüdischen Nationalrat gewählt, der aber selbst wieder zionistisch war. So bestand 1936 die Exekutive der Jewish Agency aus sämtlichen Mitgliedern der zionistischen Exekutive, also aus 17 Zionisten sowie drei weiteren nicht-zionistischen Mitgliedern, die jedoch palästinensische Juden waren. Seit 1937 wurden keine Nichtzionisten mehr i n die Exekutive gewählt, und 1945 war das Verhältnis noch das gleiche. Funktion und Stellung der Jewish Agency. Die Jewish Agency baute die jüdische Gemeinschaft i n Palästina auf, wenn sie sich auch nie offiziell als die höchste Instanz der palästinensischen Juden verstanden hat. Staatsrechtliche Organe der palästinensischen Juden waren vielmehr Knesset Israel und Nationalrat (Vaad Leumi) 1 9 . Die Agency verstand sich als Repräsentantin der gesamten Judenheit i n aller Welt, soweit es u m den Aufbau des Nationalheims ging. Denn Begünstigter von Balfour-Erklärung und P M war i n zionistischen Augen das jüdische Volk als Ganzes, und die Jewish Agency war insoweit sein Vertretungsorgan. Zionistische Autoren schrieben der Jewish Agency die Völkerrechtsqualität zu. Es kommt darauf an, wie man „Völkerrechtssubjekt" definiert bzw. welche Funktionen man dem Begriff zuweist. Nach damaliger überwiegender Vorstellung waren nur staatlich organisierte Völker, also Staaten Völkerrechtssubjekte; vielleicht könnte das heutige Begriffsverständnis die Jewish Agency als Organ der Zionistischen Organisation und damit als Organ einer Internationalen Organisation ansehen, auch wenn nicht Staaten ihre Mitglieder sind. Das kann hier dahinstehen. Die Jewish Agency konnte nicht vor den V B auftreten, sondern mußte sich der Vermittlung der Mandatsmacht bedienen. Auch ihre offiziellen Beziehungen zur Ständigen Mandatskommission beschränkten sich auf Petitionen und Memoranden, genau wie bei den palästinensisch-arabischen Vertretungsorganen. 18 19

M. Lasky , Between Truth and Repose (New York 1956), S. 15. 14. Kapitel 2.

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Auch nach palästinensischem Staatsrecht war ihre Stellung nicht m i t herkömmlichen Kategorien zu fassen. Ihre Rechtsgrundlage war hier das PM. Da das P M ein die Mandatsmacht völkerrechtlich verpflichtendes Dokument war, betonten Zionisten, daß ihre Stellung ranghöher sei, als ihr die Mandatsmacht hätte verleihen können. Daraus wurde nicht nur geschlossen, daß Großbritannien die Stellung der Jewish Agency nicht beeinträchtigen durfte, sondern auch eine Arab Agency gleicher Stellung nicht errichten konnte. Denn eine solche Agency konnte nicht m i t gleicher Normqualität von Großbritannien errichtet werden, und i m P M war sie nicht vorgesehen. Auch ein arabisches Konkurrenzunternehmen nach nur innerpalästinensischem Staatsrecht sei unzulässig, da so die völkerrechtlich garantierte Sonderstellung der Jewish Agency gemindert würde. Daher hielten viele Autoren den britischen Vorschlag, i n der Arab Agency ein Gegenstück zur Jewish Agency zu schaffen, für eine Verletzung des P M 2 0 . Es ist klar: Ging man von der Vorstellung der Kolonialgesellschaft aus, so war kein Platz für eine zweite Agency. Viele zionistische Autoren waren noch so i n Charterideen befangen und hatten so wenig Sinn für die politische Realität, daß sie die schlechte Fassung des P M rügten, die derartiges nicht verhindere. Soweit sie eine Arab Agency für zulässig hielten, betonten sie den rechtlichen Qualitätsunterschied, der i n der völkerrechtlichen Verankerung der Jewish Agency i m Gegensatz zur bloß innerstaatlichen Rechtsgrundlage der Arab Agency läge. Da die Arab Agency nie zustande kam, kann die Frage dahinstehen. Der Ständige Internationale Gerichtshof hatte anläßlich des Mavrommatis-Streites die Rechtsstellung der Jewish Agency untersucht. Über gewisse klassifikatorische Begriffe und beschreibende Ausführungen kam er nicht hinaus. Sie habe eine privilegierte Stellung und arbeite m i t der Mandatsregierung bei der Entwicklung Palästinas zusammen. Die Mandatsregierung könne auch das wirtschaftliche Programm von ihr durchführen lassen. Eine abweichende Stellungnahme bezeichnete sie als zwangsläufiger Mitarbeiter der Mandatsregierung 21 . Kernpunkt aller Diskussion war, ob die Jewish Agency eine Nebenregierung zur Mandatsregierung sei. Genau das war sie. Zwar hatte die offizielle Interpretation sowohl der Mandatsmacht als auch der Zionisten dies stets verneint. Politiker vermeiden Reizworte. Das britische Weißbuch von 1922 führte aus, daß die Jewish-Agency keinen Anteil an der allgemeinen Verwaltung des Landes gewünscht habe und ihn nicht innehabe; auch gestatte ihre Stellung es ihr nicht, i n irgendeiner Weise an der Verwaltung des Landes teilzunehmen, sondern nur an der 20 21

16*

z. B. Marcus, S. 119; a. A. Stoyanovsky, S. 100.

Nachweise WBVR, „Mavrommatis-Konzessionen-Fall".

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Entwicklung des Landes 22 . Diese Sprachregelung blieb bis zum Ende des Mandats die offizielle: Die Jewish Agency habe keine direkten Verwaltungsfunktionen. Aber diese Sprachregelung ist lediglich definitorisch haltbar, indem ihre Aufgaben auf die Errichtung des jüdischen Nationalheims beschränkt, diese Errichtung und alles, was damit zusammenhing, aber aus der allgemeinen Verwaltung des Landes ausgeklammert werden. Denn was soll die Unterscheidung, daß die Agency keine Verwaltung, sondern nur die Entwicklung des Landes wahrnehme? Schließlich oblag ihr die gesamte Kolonisationsarbeit, also doch die „Verwaltung" par excellence. I m britischen Parlament und i m Peel-Bericht wurde die Jewish Agency daher als äußerst effiziente Nebenregierung bezeichnet. Die Jewish Agency leitete die Kolonisierung und Ansiedlung; auch die Einwanderung lag i n ihren Händen. Sie verhandelte m i t der Mandatsregierung über die Einwanderungsquoten. Die Quoten wurden zwar von der Mandatsregierung festgesetzt, aber von der Agency vergeben. Dazu unterhielt sie Auswanderungsbüros i n den größeren europäischen Städten und vergab die Einwanderungszertifikate prioritär an landwirtschaftlich und handwerklich geschulte Zionisten. I n Palästina leitete sie schließlich die nationalen Institute, besonders die beiden Fonds. Sie baute einen Sozialdienst (Erziehungs- und Gesundheitswesen) für die jüdische Gemeinschaft auf; i n dem Maße, wie die staatsrechtlichen Strukturen der palästinensischen Juden sich entwickelten, gab sie diese Aufgaben ab. Die für die Entwicklung des Landes so bedeutende Histadrut war engstens m i t ihr verflochten; die Haganna, die spätere Armee, wurde politisch von i h r geführt 2 3 . A u f internationaler und diplomatischer Ebene führte die Jewishi Agency die Verhandlungen. Ihre Verzweigungen i n aller Welt machten sie hierfür hervorragend geeignet. Zwischen den Kriegen hat die Exekutive der Jewish Agency i n London die großen Kämpfe u m das Nationalheim geführt; während der Verhandlungen vor den V N ist schließlich die Jewish Agency offiziell vor den VN-Organen zugelassen worden. Zur Funktion der Zionistischen Organisation und der Jewish Agency seit der Staatsgründung s. 28. Kapitel.

2. Die Organisation der palästinensisch-jüdischen Volksgruppe M i t dem Aufbau des jüdischen Gemeinwesens organisierte sich die jüdische Gruppe nach dem Vorbild westlicher Demokratien. Sie schuf sich ein Parlament und eine Regierung. I n den Kategorien des Mandats22

Cmd. 1700 von 1922, S. 18. Zur Organisation der Haganna s. Lorch (vor 18. Kapitel); Y. Bauer , The Beginning of The Palmach 1940 - 41, in: Studies in History (Hebrew University of Jerusalem 1961); ders., From Cooperation to Resistance: The Haganah 1938 1946, Middle Eastern Studies, Bd. 2 (1966, Nr. 3). 23

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rechts handelte es sich um eine religiöse Organisation, und die Grundlage hierfür war die Religious Communities Ordinance von 1926, die auf Art. 83 PO gestützt war. Diese Ordinance war eine A r t Rahmengesetz und galt für alle religiösen Gruppen, also ebenso für die Moslems, die Christen, die Drusen, führte also das Millet-System fort 2 4 . Diese religiöse Organisation war i n Wahrheit eine nationale, politische Organisation der jüdischen Volksgruppe, die vor allem weltliche Belange wahrnahm, nämlich den Aufbau des Nationalheims. Dies war deshalb möglich, weil sowohl nach islamischen und überkommenen ottomanischen als auch nach jüdischen Vorstellungen Nation und Religion untrennbar waren. Religionsgemeinschaft war gleichbedeutend m i t Nation. So hat sich die jüdische religiöse Gemeinschaft stets auch als nationalen Zusammenschluß aller palästinensischen Juden verstanden. Die Mandatsregierung erhob hiergegen keine Einwände. Nach der Religious Communities Ordinance konnte jede religiöse Gruppe auf Antrag von der Mandatsregierung das Recht erhalten, ihre eigenen religiösen, kulturellen und erzieherischen Einrichtungen sowie Gerichte m i t Zuständigkeiten i n Personenstandsangelegenheiten wie Ehe, Scheidung, Erbfragen, zu errichten. Die jüdische Religionsgemeinschaft war schon durch A r t . 53 PO anerkannt worden; ihre Anerkennung aufgrund der Ordinance erfolgte erst durch die Jewish Community Ordinance 1927, die das palästinensische Judentum zu einer alle Juden nach dem Personalitätsprinzip umfassenden öffentlich-rechtlichen K ö r perschaft erklärte. Die Anerkennung hatte sich lange verzögert, weil die Mandatsmacht den jüdischen Organen gewisse Befugnisse, insbesondere das Besteuerungsrecht mit Zwangscharakter nicht zugestehen wollte und weil die jüdische Gemeinschaft selbst Differenzen aufwies. Die palästinensischen Juden waren so i n einer 1928 als „religious community" anerkannten Knesset Israel 25 zusammengeschlossen. Ihr gehörten alle palästinensischen Juden an, soweit sie nicht aus weltanschaulichen Gründen außerhalb blieben. Außerhalb der Knesset Israel blieb die orthodox-religiöse Agudath Israel 26 . Sie verweigerte die Mitarbeit in Institutionen m i t areligiösen Juden; der äußere Anlaß war für sie das Frauenstimmrecht 27 . Agudath Israel blieb bis zur Staatsgründung Israels eine organisatorische Minorität von ungefähr 5 °/o der jüdisch-palästinensischen Bevölkerung; sie lebte hauptsächlich i n den Altstädten von Jerusalem und Safed. 24 25

2. Kapitel 2. Nicht zu verwechseln mit der Knesset (ohne Israel-Zusatz), dem Parlament

des Staates Israel. 26

s.l.Kapitel 4. Zur religionsgesetzlichen Problematik JL, „FrauenWahlrecht", dagegen akzeptierte der religiöse Flügel des Zionismus, die Misrahi, (s. 1. Kapitel 4) das Frauenstimmrecht, s. JL, „Gemeinde, jüdische", I I Ziffer 15. 27

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Die Mitglieder der Knesset Israel wählten nach allgemeinem Wahlrecht die Abgeordnetenversammlung 28. Wahlberechtigt waren alle Männer und Frauen i m Wahlalter, die länger als sechs Monate i n Palästina lebten. Diese Versammlung war das Parlament der palästinensischen Juden. Sie hatte gewisse steuerhoheitliche Befugnisse, sie formulierte die jüdischen Forderungen gegenüber der Mandatsmacht, und sie wählte jährlich den Nationalrat. Der Nationalrat 29, das Exekutivorgan der Abgeordnetenversammlung, hatte die Funktion einer Regierung. Seine Aufgabe war es, „alle Angelegenheiten der palästinensischen Judenheit zu leiten und sie nach innen und außen zu vertreten". Diese Organe konnten sich nur nach Mühen bilden. Die inner jüdischen Schwierigkeiten mit den religiösen Gruppen (insbesondere die Frage des Frauenstimmrechts) verzögerte die Bildung. Die britische Mandatsmacht wiederum weigerte sich, den Organen gewisse Befugnisse zuzugestehen, insbesondere die Steuerhoheit. Es blieb bei der freiwilligen Besteuerung. 1928 erkannte die Mandatsmacht die Struktur an, insbesondere den Nationalrat, als offizielle Vertretung der palästinensischen Juden. Die Exekutive der Jewish Agency und der Nationalrat haben stets eng und ohne klare Zuständigkeitsabgrenzung zusammengearbeitet. So oblagen z. B. gewisse Materien, wie Einwanderung und Kolonisierung, offiziell ausschließlich der Jewish Agency. Aber auch i n diesen Bereichen ist der Nationalrat tätig geworden. M i t dem Anwachsen des jüdischen Gemeinwesens gewann der Nationalrat an Bedeutung und übernahm zunehmend Aufgaben, die zunächst von der Jewish Agency wahrgenommen worden waren. So übernahm der Nationalrat 1933 das von der Zionistischen Organisation aufgebaute und unterhaltene Schulsystem und auch den Gesundheitsdienst 30 . Als geistliche Oberbehörde fungierte ein Rabbinischer Rat, dem die lokalen Rabbinatsämter unterstanden. Die rabbinische Gerichtsbarkeit erstreckte sich auf Personenstandsangelegenheiten; auf die Schiedsgerichtsbarkeit, wenn beide Parteien sich ihr vorher unterworfen hatten; auf die Verwaltung jüdischer karitativer Stiftungen und auf die Aufnahme von Testamenten.

3. Die Nationalen Institute Neben den politischen und administrativen Strukturen müssen weitere zum Aufbau des jüdischen Gemeinwesens unerläßliche Institutionen 28

Assefat Niwcharim, Jewish National Assembly. Waad Leumi (gesprochen: Leh-ummi), Jewish Community Council. I m englisch-sprachlichen Schrifttum meist „Vaad". 30 Auch die von der US-Frauenorganisation Hadassa geleiteten Aktivitäten des Gesundheitsdienstes gingen auf den Nationalrat über. Die Hadassa konzentrierte sich auf die Kinder-Einwanderung und andere Bereiche. 29

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genannt werden. Gliedert man nach den wichtigsten Erfordernissen zum Aufbau eines gesellschaftlich-politisch autonomen Gemeinwesens, so galt es, Land zu erwerben („jüdischen Boden") und zu erschließen; auf wirtschaftlicher Ebene einen abgeschlossenen Produktions- und Distributionszusammenhang zu entwickeln („jüdische Arbeit" und „jüdische Ware"). Zur Realisierung dieser Forderung schuf sich der Zionismus die entsprechenden Institute. Hier sind zunächst die Zionistischen Finanzinstitute zu nennen. Ohne sie und ihre eigenartige Verzahnung m i t der Zionistischen Organisation wären weder die erforderlichen Kapitalien zu beschaffen noch die technische Durchführung des Aufbaus möglich gewesen. Sie haben aber auch mehr als alles andere zum separaten A u f bau beider Gemeinwesen beigetragen und so, wenn man w i l l , auch ein Zusammenleben beider Volksgruppen verhindert. Gegen diese Finanzinstitute richten sich heute die arabischen Vorwürfe, da sie für die Araber Ausdruck eines imperialistischen Finanzkapitalismus und einer politisch-ökonomischen Struktur auf rassischer Grundlage sind, i n der für sie kein Platz ist. Die gegenwärtige Forderung nach Entzionisierung impliziert die Auflösung dieser Institute. Die beiden wichtigsten Finanzinstitute sind die beiden Fonds, der Keren Hajessod und der Keren Kayemet. Ihre Zuständigkeiten sind (im Prinzip) leicht abzugrenzen: Der Keren Kayemet kaufte den Boden und stellte i h n den jüdischen Siedlern zur Verfügung; der Keren Hajessod trug die Kosten der Erschließung und der Besiedlung (Kosten der Infrastruktur und sonstige Kapitalinvestitionen außer dem Bodenkauf). Der Keren Kayemet? 1 ist ein 1901 als Gesellschaft des englischen Rechts errichteter Fonds. Seine Aufgabe w a r es, i n privatrechtlicher Weise i n Palästina (und Syrien) Grund und Boden für landwirtschaftliche, industrielle und Besiedlungszwecke zu erwerben. Die Finanzmittel bezog er durch Spenden aus aller Welt. Lange vor der Mandatszeit hat der Fonds den jüdischen Landerwerb i n Palästina zentral betrieben. So hat er verhindert, daß zionistische Käufergruppen gegenseitig die Preise hochtrieben; auch Bodenspekulationen hat er verhindert, da er sich bemühte, die Gebiete frühzeitig zu erwerben. Von besonderer Bedeutung war die statutenmäßige Bestimmung, daß der gekaufte Boden unveräußerliches Eigentum des jüdischen Volkes sei und nur der Besiedlung des erworbenen Landes m i t Juden diene. Auch an jüdische Siedler und an Gemeinschaftssiedlungen wurde der Boden nur jeweils für 95 Jahre i n Erbpacht gegeben. Nach zionistischer Ansicht wurde damit die altbiblische Bodenordnung, wonach das Land i m Prinzip 31 Keren Kayemeth le-Israel (KKL), englisch: Jewish National Fund; deutsch: Jüdischer Nationalfonds. Schrifttum: JL, „Keren Kayemeth"; A. Böhm, le Kéren Kayémeth lé israel (Paris o. J.).

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unverkäuflich war 3 2 , in moderner, sozialistischer Form wiederbelebt. Der Boden sollte kein Spekulationsobjekt sein, und, einmal vom Keren Kayemet erworben, waren weder Landwucher noch Bodenspekulation mehr möglich. Zionisten sahen hierin eine Garantie zur Vermeidung von sozialen Gegensätzen. Da schließlich die Leitung des politischen Gemeinwesens auch über die Verwendung des Bodens entschied, war auch eine optimale gesellschaftliche Nutzung gewährleistet. Der Keren Hayessod wurde erst 1920 von der Zionistischen Organisation als Gesellschaft des englischen Rechts mit beschränkter Haftung gegründet 33 . Er war der Finanzierungsfonds der zionistischen Aufbauarbeit. Seine Errichtung war nötig geworden, da m i t der Realisierung des Nationalheims erhebliche Kosten für die Infrastruktur anfielen, während frühere Erwerbsquellen (Spenden und Beiträge der russischen Juden) entfielen. Auch seine Einnahmen entstammten jüdischen Spenden aus aller Welt. Aufgabe dieses Finanzierungsfonds war die Bestreitung aller Ausgaben für den Aufbau der jüdischen Heimstätte i n Palästina, die sonst von den Mutterländern eines Koloniallandes oder von der Landesregierung bei der Erschließung neuer Gebiete gedeckt werden, und die erst die Aufbauarbeit durch private Initiative ermöglichen 34 . Die heutige Terminologie würde von Infrastruktur sprechen: die Kosten der Immigration, der Vorbereitung der Kolonisation, der Erziehung, der K u l t u r und des Sanitätswesens (d. h., soweit das jüdische Gemeinwesen und nicht die Mandatsregierung diese Funktion übernahm). Zwar gehörte auch der privatrechtliche Landerwerb zu den statutenmäßigen Aufgaben; doch blieb diese spezielle Aufgabe dem (mit dem Gründungsfonds zusammenarbeitenden) Nationalfonds vorbehalten. Schließlich könnten noch einige Finanzinstitute genannt werden, wie die Jüdische Kolonialbank, die Jüdische Palästina-Bank u. a. Zweierlei ist zu diesen Finanzinstituten darzulegen: — Leitung: A l l e diese Institute waren (im Prinzip und nach manchen Kämpfen) fest i n Händen der Zionistischen Organisation (und der Jewish Agency). Für den Keren Kayemet wählte der Zionistische Kongreß die Aufsichtsratsmitglieder und blieb oberste Instanz; die Aufsichtsratsmitglieder sind identisch m i t der Exekutive der Zionistischen Organisation, das seinerseits wieder weitgehend auch die Mitglieder der Exekutive der Jewish Agency stellte. Auch i m Keren Hayessod war der Einfluß der Zionistischen Organisation gewahrt: Die Zeichner (d. h. die Beitragslei32

s. EJ, „Boden". Englisch: The Eretz Israel Foundation Fund, auch: Foundation Fund; deutsch: Palästina-Grundfonds oder Gründungsfonds. Seit 1926 war sein Sitz in Jerusalem. 34 «το bring about the settlement of Palestine by Jews at well-ordered plan and in steadily increasing numbers." 33

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Stenden) wählten einen Rat, der seinerseits die Hälfte der Mitglieder des Direktoriums wählte; die andere Hälfte wurde von der Zionistischen Organisation ernannt. Auch die Banken konnten niemals aus den Händen der Zionistischen Organisation und hier wieder der Exekutive entgleiten. So konnte i n der Jüdischen Kolonialbank nur ein Mitglied der Exekutive Aufsichtsrat sein 85 . Der Aufsichtsrat hielt 100 Gründeranteile, die i h m das gleiche Stimmrecht gewährten, wie allen anderen i n der Generalversammlung erscheinenden Aktionären; dies war nach englischem Aktienrecht zulässig. Die Fonds waren wirtschaftliche Lenkungsinstrumente. M i t ihrer Hilfe konnte die Jewish Agency nicht nur den Landerwerb zentral lenken, sondern auch große Teile der Wirtschaft führen. Das könnte etwa an der Palestine Electric Corporation näher ausgeführt werden, die über die Beteiligung des Keren Hayessod geführt werden konnte. Dieser K o r poration gelang es i n den 20er Jahren, die sog. große und kleine Rutenberg-Konzessionen zu erlangen, die i h r nahezu für ganz Palästina die Ausnutzung der Wasserkraft und der Elektrifizierung des Landes übertrugen. Damit w a r praktisch die gesamte Industrialisierung Palästinas i n zionistischen Händen 8 6 . — Finanzierung: Der Zionismus finanzierte sich bis zum 1. Weltkrieg weitgehend von Beiträgen und Spenden seiner Mitglieder. Die großen jüdischen Philanthropen waren nur schwer für zionistische Ziele zu gewinnen, wenn schließlich auch manche ihrer Zuwendungen nach Palästina dem Zionismus letztlich zugute gekommen sind 8 7 . M i t der V e r w i r k lichung des Nationalheims reichte die Vorkriegsfinanzierung nicht mehr aus. Der Zionismus hat daher die Ideologie entwickelt, daß der Aufbau Palästinas vom ganzen jüdischen Volke getragen werden müsse, zu dem jeder Jude — ob Zionist oder Nichtzionist — beizutragen habe. Der X I I . Kongreß hat diesen Gedanken weiter ausgeführt: Steuer (Maasser), nicht Spende habe der Einzelne zu leisten. Als Grundlage der Steuer sollten während fünf Jahren jeder Jude 10 °/o von seinem Einkommen und 10 °/o von seinem Vermögen zahlen 88 . Das Prinzip einer obligatorischen Steuer hat sich nicht durchsetzen können; es blieb bei freiwilligen Spenden. Dieses System wurde allerdings sehr tatkräftig aufgebaut. Insbe35

Seine Tätigkeit übte er durch sog. Gouverneure aus. Zu den völkerrechtlichen Problemen s. WBVR, „Mavrommatis-Konzessionen-Fall"; zu der praktischen Bedeutung das Schrifttum der Mandatszeit. 37 Dies gilt etwa für die großen Zuwendungen Rothschilds, der die in Not geratenen zionistischen Besiedlungen unterstützte, s. etwa J. Margalith, Le Baron Edmond de Rothschild et la colonisation juive en Palestine 1882 - 1889 (Paris 1957); diese Rothschild-Kolonien wurden von den Zionisten oft gerügt, weil sie nach Art europäischer Siedler die Arbeit weitgehend von den billigeren arabischen Arbeitskräften verrichten ließen. 38 Gut und beredt, einschließlich der psychologischen Ratschläge an die Steuereinnehmer: Zionistisches Handbuch, S. 115. 36

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sondere das amerikanische Judentum wurde auf diese A r t herangezogen. Die Führer des Zionismus haben die beschwerlichen fund-raisingtours auf sich genommen: eine derartige Tour haben z. B. Weizmann und Einstein (dessen Zionismus zumindest fraglich war 3 9 ) gemeinsam unternommen. Zu den Nationalen Instituten muß auch die Histadruth gerechnet werden 40 . Oben wurden einige Züge der Histadruth aufgezeigt; hier geht es lediglich u m ihre M i t w i r k u n g bei der Separierung der beiden Volksgruppen. Es wurde gezeigt, daß die Histadruth nicht nur die Gewerkschaftsbewegung ist, sondern gleichzeitig auch der größte Unternehmer i m Lande. Daher verfügt sie über die meisten Arbeitsplätze. U m so größere Bedeutung hat es, daß die Histadruth auf der ausschließlichen jüdischen Arbeit bestand. Nicht nur aus ideologischen Gründen und um der Umschichtung willen 4 1 , sondern zunächst um für die europäischen Einwanderer vor der für sie sonst konkurrenzlos billigen Arbeit der Araber zu schützen und ihnen ein Lebensminimum zu garantieren. Es gehört zu den seltsamen Beschränktheiten der jüdischen Arbeiterschaft, daß sie allen Ernstes das Verbot, arabische Arbeiter zu beschäftigen, als klassenkämpferisch empfunden hat, w e i l so die Unternehmer die Löhne jüdischer Arbeitnehmer nicht drücken konnten. I m Zuge der Einwanderungsbeschränkungen schließlich kam es für die Zionisten darauf an, Arbeitsplätze zu beschaffen, da die meisten ihrer Einwanderungsquoten von der wirtschaftlichen Aufnahmefähigkeit abhängig gemacht wurden. Nun zwang die Bedingung der nur jüdischen Arbeit die jüdischen Unternehmer dazu, Arbeitsplätze für neue Einwanderer zu schaffen. Es ist diese Politik der „wirtschaftlichen Apartheid", die am meisten zur Separierung beider Volksgruppen beigetragen hat. Die Histadruth war so auf wirtschaftlichem Sektor das wichtigste Instrument der zionistischen Aufbau- und Separierungspolitik. I n arabischen Augen ist sie nichts als eine zionistische Kolonisierungskooperative und Marxisten sprechen i h r jeden Gewerkschaftscharakter ab, da die zionistischen Inhalte immer die gewerkschaftlichen Inhalte überwogen hätten. Die Forderung der „jüdischen Waren" oder, anders ausgedrückt, der Boykott arabischer Waren wurde von einer Verkaufskooperative (Tnouva) realisiert. Vor allem bei arabischen Streiks konnte das jüdische Gemeinwesen entsprechende Schritte zur Autarkie machen. Als letzte Institution müßte noch die Kibbutzorganisation genannt werden. Der Idealismus ihrer Mitglieder erlaubte die Besiedlung und 89

A. Einstein, Out of M y Later Years (New York 1950). Th. Pirker, Die Histadruth (1965); W. Preuss, The Labour Movement in Israel (Jerusalem 1965); Weinstock, Kapitel 10. 41 s. 1. Kapitel 2 d. 40

14. Kap.: Das palästinensisch-jüdische Gemeinwesen

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Urbarmachung unwirtlicher Gebiete, die von strategischen oder sonstigen Gesichtspunkten besiedelt werden sollten. Hier muß die absolute Ausschließlichkeit der jüdischen Mitglieder nicht des langen und breiten belegt werden. Dieses schwer darstellbare Zusammenspiel von Jewish Agency, Nationalrat, den beiden Fonds, den Ruthenberg-Konzessionen und der Histadruth ermöglichte es den Zionisten, das Land planmäßig i n ihren Besitz zu bringen und eine abgeschlossene Gesellschaftsordnung aufzubauen. Die Gründe ihres Erfolges i m Aufbau und gegen den arabisch-palästinensischen Widerstand sind auch die Gründe für das Scheitern eines zionistisch-arabischen Ausgleichs, falls man hierzu überhaupt jemals eine Möglichkeit sehen wollte. 4. Würdigung: Von zwei Seiten gesehen Eine Gesamtansicht der zionistischen Strukturen kann sie i n ihrem Gelingen sehen, muß sie aber auch einmal mit arabischen Augen betrachten. Ihr Erfolg war angesichts der Schwierigkeiten erstaunlich. Die Zionisten hatten außerordentliche organisatorische Probleme zu meistern. Sie mußten Strukturen schaffen, die die Kräfte eines i n der Welt zerstreut lebenden Volkes zusammenfassen und konzentriert einsetzen konnten. Gegenüber ihren Angehörigen verfügte sie über keine Zwangsmittel und konnte gleichgültige und antizionistische Juden oder Gruppen nicht wie ein organisierter Staat zwingen; nicht einmal die ansonsten selbstverständliche Mittelbeschaffung durch obligatorische Steuern stand ihnen zur Verfügung. Dazu kamen ungewöhnlich tiefe ideologische Zerklüftungen, wie etwa zwischen amerikanischen und russischen Zionisten, zwischen orthodox-religiösen und sozialistischen Gruppen. Und jede Gruppe verlangte die Führung oder wenigstens weitreichenden Einfluß. A l l dies mußte durch Uberzeugung und Diskussion zur Einheit gebracht werden. Ihre politische Gestaltung mußten sie vorwiegend beim britischen Protektor erreichen. Anders als andere Völker, die ihre politische Bestimmung weitgehend selbst i n Händen haben und unmittelbar verwirklichen, mußten sie auf andere Völker und deren Institutionen einwirken: deren Ministerialverwaltungen, Regierungen, Parlamente, deren Zeitungen und öffentliche Meinung mußte i m prozionistischen Sinne bewegt werden. Vor allem fehlte ihnen zunächst die i n der bloßen Existenz eines Volkes sich realisierende Machtbasis, die auch und gerade dann ins Gewicht fällt, wenn widrige Umstände die Geneigtheit des Protektors erschlaf-

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fen lassen. Ihre Machtbasen waren entweder prekär oder erst noch zu schaffen. Prekär war die aktuelle Machtbasis, nämlich die öffentliche Meinung i n den politisch entscheidenden Staaten; noch zu schaffen war die i n einer sich entwickelnden und effizient organisierten jüdischen Volksgruppe i n Palästina liegende Machtbasis. Es war Weizmann, der sein Volk zu dieser politischen Grundwahrheit erzogen hat: internationale Versprechungen wie Balfour-Erklärung und P M sind wenig, wenn ihnen keine Machtposition entspricht. Sie mögen noch so aufrichtig gemeint sein, aber sie können auf lange Zeit nicht selbständig bestehen. Ihnen muß eine Machtposition entsprechen, eine politische Gemeinschaft, deren politisches Wollen nicht mehr umgangen werden kann. Daher akzeptierte Weizmann auch britische Einschränkungen, solange er keine andere Machtbasis besaß und solange er überhaupt unter britischem Schutz diese Basis ausbauen konnte. Er nahm die Abtrennung Transjordaniens und das Weißbuch 1922 hin und gab sich 1931 mit dem McDonald-Brief („Black letter") zufrieden. Aber i n dem Maße, wie die Zionisten andere Machtbasen ausbauen konnten, verließen sie sich auf diese: auf das amerikanische Judentum und auf die inzwischen effizient aufgebaute Machtbasis i n Palästina. Nun scheute die Zionistische Organisation auch nicht den Kampf gegen den britischen Protektor. Die Araber haben diese politische Grundwahrheit nie begriffen. Sie hielten die 14 Punkte Wilsons und das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts für ausreichend. Westliche Beobachter berichten noch aus dem Krieg von 1947 - 1949, wie schwierig rein militärische Erörterungen waren, etwa, ob eine Position militärisch gehalten werden konnte oder nicht: „they speak about rights and that's i t " . Bewunderswürdig war die Beweglichkeit des zionistischen Apparates. Kaum überwindbare ideologische Gegensätze wie zwischen Sozialisten und Orthodoxen, schwerste Krisen wie m i t der Marshall-Gruppe i n den 20er Jahren und die Abspaltung der Revisionisten-Partei 1935 konnten ihn nicht entscheidend lähmen. Die nahezu weltweite Organisation konnte anscheinend ohne Schwierigkeit ihre Zentren jeweils an die Brennpunkte der Entwicklung verlegen. Vor dem 1. Weltkrieg konnte der organisatorische Schwerpunkt der Zionistischen Organisation in Deutschland liegen, während Finanzzentrum London war, und die Massen der Mitglieder i n Osteuropa wohnten. Obwohl das Führungszentrum m i t der Führung i n Deutschland lag, konnte während des Krieges Weizmann i n London die Führung übernehmen. Während der Friedenskonferenzen lag der — i n staatsrechtlichen Kategorien ausgedrückt — ministerielle Schwerpunkt bei der Delegation der amerikanischen Zionisten. Während der Mandatszeit lag der politische Schwerpunkt zunächst in London; insoweit war Jerusalem eher eine A r t Außenstelle. I n dem Maße, wie das Nationalheim sich strukturierte, ging die Führung des

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Aufbauwerkes auf Jerusalem über und London wurde eine A r t von vorgeschobenem Außenministerium. Und während der Diskussion vor den V N wurde Lake Success das faktische Hauptquartier. Zwei amerikanische Rabbiner und Zionisten, Stephen S. Wise und A. H i l l e l Silver, bauten eine weltumspannende Zentrale auf und orchestrierten die prozionistischen Kräfte i m Rahmen der V N bis zum Teilungsbeschluß der Vollversammlung mit einer Sicherheit, als hätten sie ihr Leben lang das Pentagon gelenkt 4 2 . Scheinbar ohne Schwierigkeit konnte Silver die Führung des Zionismus übernehmen — und sie nach der Staatsgründung sofort an Jerusalem verlieren. Kennt man die Schwerfälligkeit, mit der ansonsten Zentralen ihr A k tionszentrum verlagern, so muß man diese Beweglichkeit anerkennen. Man muß weiter wissen, daß diese verschiedenen jeweiligen Zentren von unterschiedlichen Parteikonstellationen getragen wurden; die palästinensischen Gremien waren überwiegend sozialistisch bestimmt; in der Zionistischen Weltorganisation hatten überwiegend die Allgemeinen Zionisten, also ein rechtes Zentrum, die Führung. Die Haganna-Führung war in vieler Augen glatt kommunistisch 43 . Die ökonomischen Vorstellungen von Mapam und Histadruth müssen amerikanischen Zionisten als reiner Kommunismus erscheinen. N i m m t man zu all dem noch die religiöse Komponente, so w i r d man die Fähigkeit, zur Zusammenarbeit zu gelangen, anerkennen müssen. Die Umstände, die so außergewöhnliche Schwierigkeiten aufwarfen, hatten gerade infolge ihrer Vielschichtigkeiten auch ihre günstigen Seiten: die Zionistische Organisation lief so schnell nicht auf das Ende ihrer Möglichkeiten auf. Innerhalb eines staatlichen Rahmens gibt es Endgültigkeiten; endgültig konnte aber immer nur die eine oder andere Bahn des Zionismus blockiert werden. Als die russischen Juden 1918 vom Zionismus abgeschnitten wurden, übernahmen westliche Juden die Arbeit; als der zionistische good-will i n Großbritannien verbraucht war, weil er die britische Politik zu sehr belastete, sprangen die amerikanischen Juden ein. Stieß sich der palästinensisch-jüdische Nationalrat am „Nein" der Mandatsregierung i n Palästina, so appellierte die Zionistische Organisation an die Mandats macht i n London, an deren Parlament, an deren öffentliche Meinung. Die Jewish Agency war durch keine staatsrechtlichen Kompetenzen gebunden: sie war vom P M unabhängig und konnte in London ihre Ziele verfolgen, und sie konnte i n den USA i n einer antibritischen Weise tätig werden, die einer der Mandatsregierung 42 Hierzu 17. Kapitel 3. Zu Wise s. außerdem noch: C. H. Voss, Rabbi and Minister, The Friendship of St. S. Wise and John Haynes Holmes (Cleveland 1964). 43 Der heutige Vorsitzende der moskautreuen kommunistischen Maqui-Partei Mosche Sneh, war lange Zeit Chef des Generalstabs der Haganna.

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

unterstellten Agency Verbot und Auflösung eingetragen hätte. Die Einflußmöglichkeiten der Zionistischen Organisation reichten dabei über ihre formelle Organisation hinaus. Da es i h r gelungen war, das Judent u m der westlichen Länder zu einer zumindest wohlwollenden Neutralität zu bringen, konnte sie i m Einzelfall fast immer prominente jüdische Bürger des jeweiligen Landes für ihre Ziele einsetzen, zumindest u m Kontakte herzustellen. Und so gab es kaum Regierungen und Parlamente i n den westlichen Demokratien, zu denen Juden und prozionistisch eingestellte Nichtjuden keinen Zugang besaßen. Dieser von der arabischen Gegenseite durch keinerlei Anstrengungen erreichbare Zugang rührte einfach von dem großen Reservoir voll assimilierter jüdischer Staatsbürger i n den verschiedenen Ländern, die i n Sprache, Denkkategorien und Lebensweise voll ihren nichtjüdischen Gesprächspartnern entsprachen. So konnte z. B. die Zionistische Organisation i n den 20er Jahren Kisch an die Spitze ihrer Palästina-Exekutive stellen, der zwar bis dahin nicht einmal Zionist war, aber als Colonel der britischen Armee den Mesopotamienfeldzug mitgemacht hatte und als britischer Offizier natürlich guten Kontakt zur britischen Mandats Verwaltung hatte 4 4 . Das dem amerikanischen Judentum entstammende Exekutiv-Mitglied, die so einflußreiche Zionistin Henrietta Szold, hatte die Verbindung zum amerikanischen Judentum 4 5 . Für eine fund-raising-tour i n den USA setzte die Zionistische Organisation nicht nur Weizmann ein, sondern konnte auch Einstein gewinnen. I n Palästina selbst konnte die Zionistische Organisation und ihre KoOrgane ein voll effizientes politisches Gemeinwesen aufbauen, das i n arabischen Streiks und i m Krieg mit der Mandatsmacht autark und schlagfertig war. Bereits der Peel-Bericht 1937 stellte fest, daß die Zionisten eine Regierung neben der Mandatsregierung errichtet und wichtige Teile des staatlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens übernommen hätten 4 6 . Nach dem Ende der Mandatszeit konnte sich dieses Gemeinwesen voll selbst verwalten, regieren, verteidigen. Es brauchte nur seine Dienststellen von Jewish Agency und Nationalrat zusammenzuwerfen. Arabische Augen setzten die Akzente anders. Sie bestreiten die offensichtliche Effizienz nicht, aber sie finden zum Teil andere Gründe, und jeder zionistische Erfolg w i r d mit Unwerturteilen belegt. Ihre Perspektive ist anders. A l l e prozionistischen Darstellungen zeigen, wie die Juden sich gegen die Araber und gegen die Mandatsmacht durchsetzen konnten. Araber sehen immer nur eine von britischen Imperialisten und Zionisten gemein44 45 46

und was umgekehrt als britische Beherrschungstechnik erscheint. J. Fineman, Woman of Valor (New York 1961). S. 174.

14. Kap. : Das palästinensisch-jüdische Gemeinwesen

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sam verübte antiarabische Aggression; sie sahen sich immer Zionisten und Mandatsmacht gegenüber; Jewish Agency und Mandatsregierung war für sie weitgehend eins. Das ist nicht verwunderlich, denn nur unter britischem Schutz konnten die Einwanderer an Land kommen und vordringen, nur unter britischem Schutz jüdische Siedlungen anlegen. Ihre — wie sie es sahen — legitime Notwehr konnten sie nicht legal ausüben: die britischen Antworten auf ihre Beschwerden wurden lange Zeit als Anekdoten herumgereicht und dünken uns heute eher frivol; britische Politiker redeten ihnen von der Heiligkeit des Landes, das so heilig sei, daß die Autochthonen nichts zu sagen hatten. Die mögliche Notwehr war „illegal" und wurde von der Mandatsmacht unterdrückt: von 1920 bis 1937 hat die Mandatsmacht 1200 aufständische Araber getötet 47 . So ist es verständlich, daß sie Jewish Agency und Mandatsregierung als eine antiarabische Einheit ansahen. Diese Sicht war i n ihren Augen auch personell bestätigt: Zwischen Jewish Agency und Mandatsregierung schien ihnen auch personenmäßig kein Unterschied zu sein. Sie verwiesen auf zionistische Juden i n der Mandatsverwaltung. A n erster Stelle stand selbstverständlich der u m Balfour-Erklärung und P M so verdiente 1. Hohe Kommissar (Sir) Herbert Samuel. Daß er i n zionistischen Augen keineswegs v o l l auf zionistischer Seite stand und i n einigen Fragen — aus seiner Sicht — unparteiisch entschied, machte nicht den geringsten Unterschied. Wenn er etwa bei der Vergabe von Staatsländereien gegen starken zionistischen Widerstand auch die Araber berücksichtigte, so sahen die Araber nur, daß er überhaupt Land an die Zionisten abgab, arabisches Land, das ihnen gehörte. Das ließe sich an einigen anderen Beamten der Mandatsregierung weiter demonstrieren. Norman Bentwich 48, ein überzeugter Zionist, Jude und staatstreuer Engländer, hatte während der 20er Jahre i n der Mandatsregierung die Stellung eines Justizministers und Generalstaatsanwalts; er hatte nahezu alle Gesetze der Mandatsregierung redigiert und Anklagen vertreten. Wie unparteiisch er sein mochte — er schuf die Rechtsordnung, das Boden- und Wirtschaftsrecht, das den jüdischen A u f bau und die Übernahme des Landes ermöglichte; er vertrat die Anklage gegen arabische Terroristen. Wahrscheinlich hat Bentwich mehr i m zionistischen Sinne gewirkt als der farblosere Leiter der Palästina-Exekutive, Colonel Kisch. So ist es nicht verwunderlich, daß Bentwich nach 47 Die Zahl der bei der Unterdrückung der späteren Aufstände bis 1939 getöteten Araber ist nicht genau bekannt. 48 Bentwich hat mehrere Bücher über Judentum, Zionismus und Mandatsfragen geschrieben, insbesondere auch über Judah L. Magnes, den Rektor der Jerusalemer Universität. Seine Autobiographien: Wanderer between two Worlds (London 1941) ; Ν. and Η . Bentwich , Mandate Memories 1918 - 1946 (London 1965).

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4. T e i l : Die Mandatszeit 1920 - 1948

1930 auf arabischen Druck aus der Mandatsregierung ausschied. Daß ihn zionistische Nationalisten zeitweise an seinen Universitätsvorlesungen hinderten, w e i l er i n ihren Augen wiederum antizionistisch war, verrückt das arabische B i l d nicht. Dies könnte noch an einigen anderen Beamten der Mandatsregierung gezeigt werden: Wenn der Leiter der Abteilung für Einwanderung Jude w a r 4 9 , so war er i n arabischen Augen für die Einwanderung verantwortlich, mag er auch noch so „objektiv" sich verhalten haben und mögen die Zionisten gerade i h n als antizionistisch sehen. Dem hatten sie auf ihrer Seite nichts entgegenzustellen. Die britische Mandatspolitik ließ keine Araber i n höhere Verwaltungspositionen gelangen 50 . Da i n ihren Augen aber Mandatsregierung und Zionistische Exekutive eine Einheit bildeten, mußten ihnen jüdische Beamte an der Spitze der Mandatsregierung, wie Samuel, Bentwich und Hyamson eine nicht ausgleichbare zionistische Vorrangstellung sein. Erschienen den Arabern so zionistische Strukturen und Mandatsregierung als ein antiarabischer Block, so verlängerte sich diese Einheit i n London und Genf i n die europäischen Strukturen. Zionistischer als Ormsby-Gore konnte auch ein Zionist nicht sein. Liest man heute Debatten des britischen Parlaments, so fehlte es zwar nicht an pro-arabischen Stimmen. Aber die pro-zionistischen Stimmen überwogen, und was sie ausführten, konnte die Araber — gelinde gesagt — nicht überzeugen. Gewiß, diese Reden wollten ihre englischen Zuhörer überzeugen und daher waren sie insoweit richtig. Versetzt man sich jedoch versuchsweise i n die Rolle des Arabers, so zeigt sich das damalige Unverständnis für „Eingeborene". Bösartigere Reden, als sie ein Viscount Milner und ein Colonel Wedgewood i m britischen Parlament gehalten haben 51 , könnte kein anti-imperialistischer ghost-writer seinen Gegnern unterschieben. So erfreulich diese Fakten für die Zionisten sein mögen, so unerfreulich ist für sie die arabische Reaktion und Interpretation. Denn die Tatsache, daß die Araber auf allen Ebenen i n aller Welt ausgespielt wurden, mußte sie zu irrationalen Interpretationen führen, die i m Wahn einer gigantischen antiarabischen Weltverschwörung gipfelten. Die nationalsozialistische These vom staatsfeindlichen Zionismus 5 2 , die sowjetische These vom imperialistischen Zionismus, beide sind nicht weit davon ent49 Albert Hyamson , Autor von: Palestine. A Policy, und Palestine under the Mandate (vor IV. Teil). 50 Der ranghöchste Araber war Deputy-Director in der Abteilung für Bildungswesen, George Antonius, der Verfasser von „The Arab Awakening". Zur Behandlung durch die Engländer s. Bentwich, Mandate Memories, S. 197. 51 oder ihre pro-zionistische Unterstützung damit begründeten, daß die Juden das Volk der Bibel und die Engländer ein die Bibel liebendes Volk seien. 52 Titel einer Schrift von A. Rosenberg; daraus: „ . . . die unwiderlegbaren Tatsachen der letzten Jahre (werden) näher bekunden, daß der zionistische Verband in Deutschland nichts anderes ist, als eine Organisation, die eine legalisierte Unterhöhlung des deutschen Staates betreibt", S. 20.

14. Kap.: Das palästinensisch-jüdische Gemeinwesen

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fernt. Daher kursieren i n der arabischen Welt auch die „Protokolle der Weisen von Zion", die ja schon die Antisemiten dem Zionismus zugeschrieben hatten: Achad Haam sollte sie für den 1. Zionistischen Kongreß 1897 i n Basel geschrieben haben 5 3 ; Ziel der Weisen sei es gewesen, die christliche Zivilisation zu zerstören und auf ihren Ruinen einen jüdischen Staat zu errichten. N u n sind Unsinnigkeit und Fälschung dieses Machwerks oft nachgewiesen, aber den Chor der Antisemiten hat dies nie umgestimmt. Von Rosenberg über Schwartz-Bostunitsch 54 bis zu Hans Blüher wurden die Protokolle als Deutungsschema Jüdischen Imperialismus gesehen und damit jenseits der Echtheitsfrage gestellt. Statt aller H. Blüher, Die Erhebung Israels gegen die christlichen Güter (1932), S. 110: „Die ganze Frage nach der Echtheit ist ja falsch; wer sie stellt und etwas zu beweisen vermeint, der zeigt nur das eine, daß er selber die Judenfrage nicht geistig stellt. Dieser Fall liegt ja auch vor bei den sog. Protokollen der Weisen von Zion. Auch hier besagt die Echtheit oder Unechtheit gar nichts, sondern nur ihr intelligibler Inhalt. Dieser aber i s t . . . unbedingt wahr. Denn das Judentum hat danach gehandelt. (Die Protokolle sind) das Merkmal eines politischen Ingeniums von durchdringender Weisheit... Hat man einmal den Unterschied verstanden zwischen dem Empirisch-geschichtlichen mit seinen Bergen von Dokumenten und seinem endlosen H i n und Her von Passiertsein oder nicht: und der Ebene, von der wir hier immer reden, so wird man auch den Satz billigen: in dieser Ebene (sind die Protokolle) unbedingt geschrieben worden; ohne (sie) ist die weitere Geschichte und das Auftreten des Judentums in der europäischen Welt unerklärbar. Nimmt man aber seine Wahrscheinlichkeit an, so verliert das geschichtliche Gesetz, unter dem das Judentum steht, jede Spur von Undeutlichkeit."

I n derselben Weise wie die Antisemiten können die arabischen A n t i zionisten die Protokolle lesen, nicht als historisches Dokument, aber als Deutungs- und Erklärungsschema des zionistischen Erfolges, als Paradigma, dem sowenig wie einer Romangestalt eine geschichtliche Person zugrundeliegen mag, und die doch ihre Epoche darzustellen vermag. Dies u m so mehr i n der arabischen Welt, von der zumindest die Europäer glauben, daß sie Metapher und Realität nicht unbedingt scheidet. So verständlich die arabische Sicht sein mag, so unsinnig erscheint die Verschwörungsthese auf objektiver Ebene: man muß sich nur an die totale Hilflosigkeit dieser all jüdischen Weltregierung gegen antisemitische Maßnahmen eines europäischen Staates erinnern. Der ganze jüdische Einfluß zusammengenommen konnte nicht die nackte Barbarei i n Deutschland verhindern, mußte auf der Konferenz von Evian hilflos bleiben und scheiterte bei dem Versuch, einige Tausend Kinder vor den Gaskammern zu retten. 53 U m diese Behauptung ging es in einem Prozeß in Berlin. Neuere Literatur: J. S. Curtiss, A n Appraisal of the Protocols of Zion (New York 1942); N. Cohn, Histoire d'un mythe: la conspiration juive et les Protocols des Sages de Sion (Paris 1967). 54 G. Schwartz-Bostunitsch , Jüdischer Imperialismus (1939).

17 Wagner

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

Fünfzehntes

Kapitel

D i e Organisation der palästinensisch-arabischen Volksgruppe Schrifttum:

vor 2. Kapitel.

Verglichen m i t der jüdischen und zionistischen Organisation konnten sich die Araber gar nicht oder nicht effizient organisieren. Über Palästina hinausgreifend gab es bis zur Gründung der Arabischen Liga 1945 keinen institutionellen Rahmen. Während der Mandatszeit sind die arabischen Staaten nur sporadisch für die palästinensischen Araber eingetreten, und sie haben sich dabei erst kurz vor dem 2. Weltkrieg gegen die Mandatsmacht gewandt. Die meisten arabischen Gebiete waren noch Kolonial- und Mandatsgebiete und daher selbst von den Mandatsmächten abhängig. Die formell unabhängigen Staaten standen noch weitgehend unter britischem Einfluß. Aus heutiger marxistischer Sicht waren die damals politisch aktiven Gruppen zu sehr m i t den imperialistischen Kräften verbunden, um sich antibritisch zu gebärden. Und falls es von diesen Schichten unabhängige nationale Kräfte gegeben hat — das wäre eine Definitionsfrage — so waren sie vom Kampf gegen die imperialistische Beherrschung des eigenen Territoriums und gegen ihre eigene Oberklasse absorbiert. Schließlich kommt der bei den Arabern zwangsläufige Interessenkonflikt hinzu, der auch die Arabische Liga bezüglich Palästina lähmt und der bei den Juden fehlt: die arabischen Nachbarstaaten können sich nicht m i t der Ausschaltung des Zionismus begnügen, sondern müssen sich auch bezüglich des weiteren Schicksals Palästinas entscheiden: Aufteilung (und wie?) oder Selbständigkeit, und wenn ein unabhängiges Palästina entstehen soll, i n wessen Hegemonialbereich soll es fallen oder wem sich ideologisch zugesellen? Nach dem 1. Weltkrieg wäre Palästina von Syrien als sein Südteil beansprucht worden und außerdem i n die Fehde der Haschemiten-Wahabitendynastien gezogen worden; nach dem 2. Weltkrieg hätte es i m Hegemonialstreit des Dreieckes Kairo - Damaskus - Bagdad gestanden, und der Gegensatz der Gesellschafts- und Staatsform wäre hinzugekommen (Dynastie oder Republik, konservativ oder progressiv). Für Transjordanien wäre auch ein selbständiges arabisches Palästina problematisch gewesen. Schließlich kamen persönliche Feindschaften selbst zwischen an sich gleichförmigen Kräften hinzu: Der während des arabisch-israelischen Krieges von 1947 - 1948 als Führer Palästinas vorgesehene Hadsch A m i n hat 1951 König Abdulla von Jordanien ermorden lassen. Schließlich waren die Zionisten i n den politisch führenden Staaten i m Westen eindeutig überlegen. Wie immer die Araber sich auch hätten organisieren mögen, i n London und Genf (Sitz des V B und damit der Ständigen Mandatskomission), später i n Washington und allgemein i n

15. Kap.: Die palästinensisch-arabische Volksgruppe

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den westlichen Hauptstädten waren die Araber den zionistischen Möglichkeiten von Anfang an hoffnungslos unterlegen. Auch innerhalb Palästinas konnte sich die arabische Volksgruppe zu keiner Zeit effizient organisieren. Der europäische Betrachter w i r d hierfür mehrere Gründe finden: — A u f überkommenen Strukturen konnten die Araber nicht aufbauen. Die ehemals türkisch-arabischen Gebiete konnten sich bis zum Ende der türkischen Herrschaft nicht politisch strukturieren. Wie immer man das Experiment des türkischen Parlaments sehen mag, es war eine gesamtottomanische Angelegenheit und war keine Struktur für die arabischen Gebiete. Soweit die Rudimente dieses Parlaments zum Allgemeinen Syrischen Kongreß von 1920 geführt haben, blieben sie auf „Notabein" beschränkt und konnten nicht zu modernen demokratischen Strukturen weitergeführt werden. So fehlte arabischen Sprechern zumindest nach europäischen Vorstellungen oft die Repräsentanz. 1922 z. B. traten auf der Konferenz i n London als arabische Delegation acht „Notabein" auf, die vorgaben, die gesamte arabische Bevölkerung Palästinas zu vertreten 1 . Es handelte sich bei den handelnden Notablen meist um die Häupter einiger bedeutender Familien sowie u m amtierende und ehemalige Bürgermeister von Jerusalem und Nablus. Die Araber können jedoch fragen, wie sich unter diesen politischen Umständen legalrepräsentative Vertreter hätten bestimmen lassen; schließlich sind auch i n Westeuropa zuzeiten nicht voll legalisierte Vertreter als Repräsentanten anerkannt worden, wie De Gaulle i m 2. Weltkrieg. Auch Weizmann war, genau besehen, i m 1. Weltkrieg nicht legitimiert, für die Zionistische (Welt-)Organisation zu sprechen, und Nichtzionisten streiten ohnehin dem Zionismus die Berechtigung ab, das ganze jüdische Volk zu vertreten. A u f lokaler Ebene gab es gewisse Strukturen und sogar etwas wie Wahlen zu Gemeindeorganen. Aber gemeindliche Strukturen greifen nicht über die Gemeinde hinaus; außerdem waren gemeindliche und eventuelle übergemeindliche Strukturen für die auf sie zukommenden Aufgaben ungeeignet. — Die kompromißlose Ablehnung des PM und alle darauf fußenden Institutionen ließ die Araber alles ablehnen, was ihnen an organisatorischen Möglichkeiten i m Rahmen des P M möglich gewesen wäre. Zweimal lehnten sie Legislativvorschläge ab, die ihnen erhebliche Strukturierungsmöglichkeiten eingeräumt hätten 2 . Sie lehnten den Vorschlag ab, die Arab Agency nach A r t der Jewish Agency zu schaffen, die die palästinensischen Araber hätte wirkungsvoll strukturieren können. Von ihrem rigoristischen Standpunkt aus zwar logisch, aber politisch verhängnisvoll. 1 Großbritannien hat sie nicht offiziell anerkannt; das Kolonialministerium hat jedoch mit ihnen verhandelt. 2 13. Kapitel.

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4. T e i l : Die Mandatszeit 1920 - 1948

Hätte den Zionisten eine organisierte arabische Volksgruppe entgegen gestanden, dann hätte das jüdische Gemeinwesen nicht Teile der Staatsfunktionen übernehmen können. Dann hätte eine arabische Führung ihre Volksgruppe i n der Hand gehabt, sei es, um z. B. Landverkäufe an Juden zu verhindern, sei es, u m den Exodus 1948 zu unterbinden. Dies betraf außer den palästinensischen Legislativräten 3 die Arab Agency. U m arabischen Beschwerden wegen der Ungleichheit der Behandlung zu entgehen, schlug die britische Regierung die Errichtung einer Arab Agency nach dem Vorbild der Jewish Agency vor 4 . Die arabischen Vertreter haben dieses Angebot abgelehnt, weil sie Unabhängigkeit und nicht Gleichstellung mit den Juden wollten. Eine Arab Agency sei für sie so unannehmbar wie für die Engländer in England eine English Agency. Diese arabische Ablehnung wurde oft als politisch falsch hingestellt, weil die Araber so eine Chance der politischen Organisation versäumt hätten. Jedenfalls wäre dieses arabische Gegenstück nur ein schwacher Abglanz der Jewish Agency gewesen. Sie hätte nicht die arabischen Völker, sondern die palästinensischen Araber vertreten. Schon aus personellen Gründen hätte sie niemals weltweites politisches Gewicht erlangen können, da i n den westlichen Hauptstädten keine Massen hinter ihr gestanden hätten. Und schließlich lag das Gewicht der Jewish Agency darin, daß sie durch ihre vielfältigen Beziehungen Zugang zu allen Regierungsstellen hatte. Nichts dergleichen wäre für die Arab Agency zugetroffen. Sie wäre bestenfalls eine Vertretung der palästinensischen Araber bei der Mandatsregierung geworden 5 . Die zionistische Seite hat den Vorschlag einer Arab Agency als unvereinbar mit dem Mandat bekämpft. Jedenfalls wurde der rechtliche Unterschied zwischen beiden Agencies herausgearbeitet: die Jewish Agency vertrete das gesamte Judentum i n aller Welt, die Arab Agency könne nur die arabische Bevölkerung Palästinas vertreten. Die Jewish Agency sei völkerrechtlich anerkannt, ihre Rechtsgrundlage sei das Mandat, nicht das palästinensische Verfassungsrecht. Die Arab Agency dagegen sei i m P M nicht erwähnt und könne daher nur auf innerpalästinensischem Recht beruhen. Da die Arab Agency nicht zustandekam, muß dem nicht weiter nachgegangen werden. — Die Clan-Strukturen und die ihnen eigentümlichen Rivalitäten beherrschten alle Strukturen, die sich i n der Mandatszeit bilden konnten. Deren Geschichte und damit die politische Geschichte der palästinensischen Araber während der Mandatszeit ließe sich geradezu als ClansFehde beschreiben. 3

13. Kapitel. Text in Cmd. 1989 von 1923; ebenfalls arabische Ablehnung. Erst der Peel-Bericht schlug eine Arab Agency mit Vertretern der arabischen Nachbarstaaten vor, S. 183 ff. 4 5

15. Kap. : Die palästinensisch-arabische Volksgruppe

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Zu Beginn der Mandatszeit w a r die palästinensisch-arabische Bevölkerung wie große Teile der damaligen arabischen Welt um Dorf, Clan und Familie organisiert. Die meisten Dorfbewohner gehörten einem der wenigen Clans („Hamulah") an. Dessen Mitglieder sollen väterlicherseits von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen. Eine solche Familienbeziehung geht weit über die europäische Familienbindung hinaus; die Großfamilie ist für ihre Mitglieder rechtlich und fürsorgerisch verantwortlich, sorgt für Disziplinierung und Erziehung und leistet dem Einzelnen Hilfe. Sie n i m m t also Funktionen wahr, die i n den moderneren Gesellschaftsordnungen übergreifende soziale Einheiten und insbesondere der Staat übernommen haben. Versucht man, Werturteile zu vermeiden und nicht von „ p r i m i t i v e n " Gesellschaftsordnungen zu sprechen, so w i r d man Vor- und Nachteile so verteilen können: Die Clan-Organisation erfaßt den Einzelnen i n existentieller Weise, gliedert ihn völlig ein. Es ist eine A r t Totalbindung, die i h m Schutz gewährt, aber wenig Optionen läßt. A u f einer bestimmten materiellen Entwicklungsstufe ist sie die optimale Lebensform, da nur sie dem Einzelnen das Überleben gestattet. Verglichen m i t dieser Einbindung des Individuums erscheinen modernere Gesellschaftsstrukturen atomistisch und isolierend, lassen den Einzelnen vereinsamen. Andererseits ist klar, daß die jeweils den Einzelnen prägende und stützende Gemeinschaft auch seine Loyalität fordert und i h n nach ihren Gesichtspunkten leitet. Die Stärke des modernen Staates liegt gerade darin, daß er alle Clans-, Regional- und Gruppenloyalitäten zerbrochen und die Loyalitäten der Einzelnen auf sich zentriert hat. Er kann den Einzelnen und alle zusammen nach seinen gesellschafts- und machtpolitischen Zielen einsetzen. Eine solche übergreifende, lokale Loyalitäten überwindende Gemeinschaft muß sich jedoch erst bilden; sie muß überkommene Strukturen abbauen und neue schaffen. Unter britischem Mandat war dergleichen nicht möglich. Aber übersieht man die Dauer und die schweren Kämpfe, die diese Strukturierung i n den europäischen Nationalstaaten erforderte, so fehlten den Arabern schlicht 400 Jahre Entwicklung. Diese Gesellschaftsordnung, insbesondere in Verbindung mit dem Palästinaproblem, wird oft „feudalistisch" genannt. Versteht man diesen Begriff rein polemisch und meint damit eine rückständige, reaktionäre Ordnung, die man ablehnt und die funktionslos gewordene Strukturen bewahrt, so mag dies hingehen. Versteht man darunter, wie der Marxismus, Großgrundbesitz mit abhängigen Bauern, so war die palästinensische Gesellschaftsordnung in hohem Maße feudalistisch. Ein präziseres Wortverständnis versteht unter Feudalismus nur das System des westeuropäischen Lehenswesens vom 9.-15. Jahrhundert. Dieses System ist zwar auf Grundbesitz aufgebaut, aber der Grundherr ist nicht bloßer Eigentümer (gerade dies nicht!) und keineswegs funktionsloser Nutznießer der Bodeneinkünfte, sondern gleichzeitig auch Regent seines Territoriums. Daher übte er auf seinem Territorium die wichtigsten Herrschaftsfunktionen

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aus: insbesondere Friedenswahrung (in heutiger Terminologie die polizeilichen Funktionen der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung), Durchsetzung der Gesetze, Abhaltung von Gericht, Erzielung von Einkünften; andererseits hat er als Vasall gegenüber seinem Lehensherrn gewisse Pflichten. Gegenüber dem bloßen „Pfründenfeudalismus" erfüllte also das Lehenswesen gesellschaftliche und politische Funktionen: der Grundbesitzer übte auf seinem Besitz die Herrschaftsfunktionen aus, regierte also ein Territorium, und gegenüber seinem Lehensherrn brachte er das Gebiet geschlossen hinter sich. Dieser Feudalismus war also ein System dezentralisierter Herrschaft und ermöglichte es, in administrativ wenig entwickelten Gesellschaften größere Räume politisch zu regieren. Es war ein territoriales Regierungssystem, das durch persönliche Beziehungen in Gang gehalten wurde: Regierung und Verwaltung waren zwar private Vorrechte bestimmter Personen, aber auch ihre Funktion und Pflicht. Inwieweit dieses System jemals auf den byzantinischen und auf den islamischen Kulturkreis zutraf, mag dahinstehen®. Nach dem Fortfall der türkischen Strukturen gab es jedenfalls nichts dergleichen mehr. Der Großgrundbesitzer war funktionslos geworden. Erst neuerdings differenzieren marxistische Autoren und wollen Feudalismus von wirtschaftlicher Rückständigkeit und Latifundienbesitz unterscheiden; s. etwa L. Vitale, Ist Lateinamerika feudal oder kapitalistisch?, in: A. G. Frank, Guevara, Marini u.a.: Kritik des bürgerlichen Anti-Imperialismus (1967), S. 67 ff. I h r e N a c h t e i l e s i n d offensichtlich. W e n n w e s t l i c h e Beobachter v o n einer soziologisch-organisatorischen R ü c k s t ä n d i g k e i t sprechen, so m e i n e n sie d i e d a m i t v e r b u n d e n e n Schwächen. Sie v e r m i s s e n ü b e r g r e i f e n d e S t r u k t u r e n , die b e s t i m m t e Gebiete oder G r u p p e n d e r B e v ö l k e r u n g m e h r oder w e n i g e r v o l l s t ä n d i g erfassen u n d sprechen v o m U n v e r m ö g e n z u w e i t r ä u m i g e r D i s z i p l i n . Sie v e r m i s s e n i n s t i t u t i o n a l i s i e r t e V e r f a h r e n f ü r e i n heitliche Willensbildung, friedliche A u s w a h l der Führungskräfte, friedliche A u s t r a g u n g v o n K o n f l i k t e n . W i e i m m e r es h e u t e i n d e n arabischen S t a a t e n h i e r u m b e s t e l l t sein m a g — dies w ä r e n i c h t m e h r unser T h e m a —, f ü r das P a l ä s t i n a d e r M a n datszeit t r i f f t die obige C h a r a k t e r i s i e r u n g zu. D i e A r a b e r t e n d i e r e n dazu, h i e r f ü r die T ü r k e n u n d später d i e M a n d a t s r e g i e r u n g v e r a n t w o r t l i c h z u m a c h e n 7 ; auch m a r x i s t i s c h e A u t o r e n sehen es so 8 . — Schließlich w i r d d e r europäische B e t r a c h t e r a u f die i m arabischen R ä u m e a l l g e m e i n z u beobachtende Gleichgültigkeit gegenüber dem Organisatorischen h i n w e i s e n . Das zeigt sich b e i d e n f o l g e n d e n S t r u k t u r i e β Die Suzeränität des Ottomanischen Reiches galt als völkerrechtlicher Ausfluß der Vasallität. Ein Unterschied zum westeuropäischen Lehenswesen lag im hierarchischen Aufbau: die westeuropäischen Reiche waren auf einer Hierarchie von Lehen aufgebaut, wobei jeweils ein Vasall dem nächsthöheren Lehensherrn pflichtig war; in Byzanz und dem islamischen Reich unterstand ein Vasall jeweils unmittelbar dem Souverän. 7 Auch die Ständige Mandatskommission rügte hierfür die Mandatsmacht. 8 Inbesondere Weinstock.

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rungsversuchen. Die Organisation galt dem Nationalen Befreiungskampf und nur diesem; jede Gruppe wollte die Nationale Bewegung für sich gewinnen, aber sie nahm sich nicht der Leitung der arabischen Volksgruppe an. Sie erkannten nicht, daß ein Nationaler Befreiungskampf i n erster Linie den geduldigen Aufbau von Strukturen voraussetzt, die die Massen nicht nur indoktrinieren, sondern auch leiten können, und die es der Volksgruppe erst ermöglichen, Kampfzeiten ideologisch, wirtschaftlich und militärisch durchzustehen. I n diesem Licht sind die folgenden Strukturen zu sehen. I n der Mandatszeit strukturierten sich die Araber auf drei Ebenen; auf allen kam der Familieneinfluß zum Ausdruck: a) Die Zusammenfassung der palästinensischen Araber i m Obersten Moslemischen Rat; ihr Präsident: Hadsch A m i n el Hussein. b) Die von Arabischen Kongressen gewählte Arabische Exekutive, die von 1920 - 1934 als politische Vertretung der palästinensischen Araber auftrat; ihr Präsident: Musa Kasim Pascha, ebenfalls Husseini. c) Das von den politischen Parteien gebildete Arabische Hohe Komitee, das von 1936 bis zu seiner Auflösung 1937 für die Nationale Bewegung handelte; ihr Präsident: Hadsch A m i n al Hussein. I n der Geschichte der Mandatszeit tauchen meist dieselben Familien auf, die Husseini, Naschaschibi, Khalidi u. a. Insbesondere die Husseini und Naschaschibi besaßen seit türkischer Zeit großen Einfluß; man hat sie die Colonnas und Orsinis von Palästina genannt. Beide hatten grundbesitzbedingte clan-mäßige Gefolgschaften; beide nutzten sie die bestehenden Strukturen, um den Einfluß ihrer Familien auszudehnen; beide scheuten sie nicht davon zurück, den Kampf der Palästinenser gegen Zionisten und Mandatsmacht zugunsten ihrer Clan-Fehden zu unterbrechen. Beim Vergleich ihrer Politik drängt sich die Parallele zu Allgemeinen Zionisten und Revisionisten auf. I m Ziele waren sich die Rivalen u m die politische Macht auf beiden Seiten weitgehend einig. Aber Revisionisten und Husseini glaubten an den kompromißlosen Kampf. Allgemeine Zionisten und Naschaschibi waren flexibler. So glaubten die Naschaschibi ihre Ziele eher i m Rahmen des P M erreichen zu können und deshalb galten sie und die von i h r beherrschten Parteien und Zeitungen als gemäßigt. Wie oft i m Streit zwischen Extremisten und Gemäßigten — und anders als i m Zionismus — gewannen die extremen Husseini. Als Allenby 1918 Jerusalem besetzte, war ein Husseini M u f t i von Jerusalem und ein Husseini Bürgermeister. Wegen Teilnahme an nationalen Demonstrationen setzten die Engländer den Husseini-Bürgermeister ab und einen Naschaschibi als Bürgermeister ein. Musa Kasim engagierte sich darauf völlig i n der arabischen nationalen Bewegung. Er wurde Präsident der Arabischen Exekutive (bis zu seinem Tode 1934) und

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mehrerer arabischer Kongresse, Sprecher mehrerer moslemisch-christlicher Vereinigungen und Leiter arabischer Delegationen i m Ausland. Als i m März 1921 der amtierende (Husseini-)Mufti von Jerusalem starb, unterstützte der Hohe Kommissar Samuel die Wahl eines weiteren Husseini-Muftis, des später i n Deutschland als Großmufti von Jerusalem bekannt gewordenen Hadsch A m i n al Husseini 9 . Dies war die von allen Seiten am meisten kritisierte Maßnahme des Hohen Kommissars. Schließlich hatte der höchste britische Mandatsbeamte und zionistische Jude Samuel den später unerbittlichsten Gegner Großbritanniens und der Juden an die politisch wichtigste Stelle gebracht... Seine rechtliche Befugnis hierzu war fraglich; die Wahl oder genauer: das Eingreifen Samuels in das Wahlverfahren wahrscheinlich rechtswidrig 10 . Der Hohe Kommissar hatte geglaubt, daß mit der Übertragung der Verantwortung auf den radikalen Führer die politischen Kräfte am ehesten gezügelt würden; im allgemeinen ist Großbritannien mit diesem Verfahren gut gefahren. Schließlich wollte Samuel mit der Wahl Hadsch Amins die Familie der Naschaschibi, die den Jerusalemer Bürgermeister stellte, ausbalancieren. Jedenfalls bleibt, daß die Mandatsmacht und nicht die Araber Hadsch Amin auf diese Stelle gebracht haben 11 . Bis zu seinem Tode 1934 galt Musa Kasim als Führer der Nationalen Bewegung. Danach ging sein Einfluß auf Hadsch Amin über. Die Arabische Exekutive wurde nicht formell aufgelöst, stellte aber ihre Tätigkeit ein; Hadsch Amin hatte sich 1936 im Arabischen Hohen Komittee eine breitere Grundlage geschaffen.

Auch die Parteien zeigen Clan-Strukturen. Nachdem der Völkerbundrat 1923 das P M gebilligt hatte, erschien die kompromißlose Politik der Husseini gescheitert. Die Naschaschibi glaubten i m Rahmen des P M politisch mehr erreichen zu können als die Husseini-Politik der radikalen Ablehnung gebracht hatte. Gleichzeitig suchten sie eine Gegenposition zu den Husseini zu schaffen, die zu dieser Zeit den M u f t i und Präsidenten des Obersten Mohammedanischen Rates stellten. Als Instrument gründeten sie 1923 die Nationale Partei (sowie Bauern-Parteien i n ländlichen Bezirken). Aber bevor die Nationale Partei politisch tätig werden konnte, lähmte eine fünfjährige Fehde m i t den Husseinis die palästinensischarabische Politik. Erst 1932 - 1935 führte die Unzufriedenheit m i t der Verquickung von National- und Familienpolitik zur Bildung von neuen Parteien. Die beiden Clan-Parteien führten jedoch weiterhin. So organisierten sich die Husseini i n der Palästinensisch-Arabischen Partei, die praktisch m i t dem Obersten Moslemischen Rat eine Einheit bildete. I h r Präsident w a r ein naher Verwandter und engster Vertrauter von Hadsch Amin, Dschamal al Husseini. 9 Mufti: „religiöser Gelehrter und Gutachter", höchster religiöser Würdenträger, gewohnheitsrechtlich auf Lebenszeit gewählt. 10 Zum Verfahren: Bentwich, Mandate Memories, S. 190; Weinstock, S. 126. 11 Zur Person Hadsch Amins 17. Kapitel 3.

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Die Naschaschibi-Opposition formierte sich i n der zweitstärksten Partei, die sich Nationale Verteidigungspartei nannte. Auch einige andere Parteien wurden i n ähnlicher Weise geführt. Ihre politischen Programme ähneln sich weitgehend: sie übernehmen die allgemeinen Forderungen der nationalen Bewegung: Widerruf der Balfour-Erklärung; sofortiges Einwanderungsverbot für Juden; vollständiges Verbot des Landverkaufs an Juden; sofortige nationale Unabhängigkeit Palästinas als arabischer Staat. Gesellschaftspolitische Ziele treten fast völlig zurück 1 2 . a) Der Oberste Moslemische Rat U m dem umstrukturierten arabischen Volksteil wenigstens religiöse Autonomie zu gewähren, wurde 1921 ein Oberster Moslemischer Rat geschaffen, also lange vor der Religious Communities Ordinance von 1926. Der Rat sollte auf religiösem Gebiet die höchste Autorität sein und weitgehend dem Rabbinischen Rat entsprechen. Er hatte die Richter der moslemischen geistlichen Gerichte zu ernennen, zu entlassen und die Aufsicht über sie zu führen. Diese Gerichte waren für alle Personenstandsangelegenheiten wie Eheschließung, Scheidung, erbrechtliche Entscheidungen zuständig. Dem Rat oblag schließlich die Verwaltung der religiösen Stiftungsgüter (Wakf). Der Rat sollte bestehen aus einem auf Lebenszeit gewählten Präsidenten und vier für die Dauer von vier Jahren gewählten Mitgliedern, von denen jeder für einen Verwaltungsbezirk Palästinas zuständig sein sollte. Er sollte einer gewählten Körperschaft verantwortlich sein, die auch die vier Mitglieder wählen sollte; der Präsident dagegen sollte i n allgemeiner Wahl gewählt werden. U m sofort diese wenigstens den religiösen Bereich umfassende Selbstverwaltung anlaufen zu lassen, gestattete die Mandatsregierung 1921, daß eine Gruppe von Wahlmännern nach dem Wahlregister zu den letzten türkischen Kammerwahlen bestimmt wurde, die ihrerseits einen Ausschuß wählte. Dieser Ausschuß bestimmte seinerseits die Ratsmitglieder, jedenfalls den kürzlich zum M u f t i von Jerusalem gewählten Hadsch A m i n al Hussein zum Präsidenten auf Lebenszeit. Die späteren Wahlen zur Neubestimmung der nicht auf Lebenszeit gewählten Mitglieder w u r den für nichtig erklärt, und die weitere Rechtslage des Rats ist kompliziert; das mag hier dahinstehen 13 . Sowenig Nationalrat u n d Abgeordnetenversammlung der jüdischen Volksgruppe religiöse Organe i m westeuropäischen Sinne waren, sowenig blieb der Oberste Moslemische Rat auf religiöse Bereiche beschränkt. Hadsch A m i n baute den 12 13

Nur Istiqlal war rechtsradikal und pan-arabisch. s. etwa Marcus, S. 196 f.

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

Rat zum stärksten politischen Machtinstrument der palästinensischen Araber aus. Dies gelang ihm, w e i l nahezu alle Kompetenznormen und also Kompetenzschranken fehlten. Die politischen Einflußmöglichkeiten des Rates beruhten unter anderem auf der Verwaltung der Wakf-Güter. Wakf, pl. aukaf, sind religiöse Stiftungen des moslemischen Rechts, insbesondere auch Grundstücke, die religiösen, erzieherischen und wohltätigen Zwecken dienen (Moscheen, Schulen, Krankenhäuser, Ländereien, Gasthäuser, städtischer Hausbesitz, ganze Dörfer). Sie stehen im Eigentum der moslemischen Religionsgemeinschaft, sind Immobilienbesitz der toten Hand und wurden damals vom Obersten Moslemischen Rat nach religiösen Gesetzen verwaltet. Da Wakf-Ländereien unveräußerlich sind, haben manche Araber zeitweise darin eine Möglichkeit gesehen, Grund und Boden dem jüdischen Erwerb zu entziehen und der Unveräußerlichkeit des vom Keren Hayessod erworbenen Grundbesitz die gleiche Einrichtung entgegenzusetzen. Die Wakf-Verwaltung gab Hadsch Amin große Einflußmöglichkeiten, weil sie den Rat mit erheblichen Erträgen versah 14 . Hiervon hatte der Rat vor allem die religiösen Beamten einschließlich der Richter an den Scharia-Gerichten und der Lehrer zu bezahlen. Verbunden mit einem Anstellungs- und Aufsichtsrecht hatte sich Hadsch Amin so erhebliche Möglichkeiten der Lenkung und Indoktrinierung geschaffen.

Der Oberste Moslemische Rat wurde 1937 vom Hohen Kommissar aufgelöst und für seine religiösen Funktionen durch eine ernannte K o m mission ersetzt. b) Die Arabische Exekutive Bereits unter der Militärverwaltung bildeten sich überall i m Lande moslemisch-christliche Vereinigungen, die den Anschluß an Syrien und den Widerruf der Balfour-Erklärung erstrebten. Nach dem Scheitern des Großsyrischen Reiches 15 mußte sich die palästinensisch-arabische Bewegung auf Palästina beschränken. Hierbei knüpfte man an die beiden Arabischen Kongresse an, die 1919 und 1920 i n Damaskus stattgefunden hatten. Der erste palästinensisch-arabische Kongreß fand i m Dezember 1920 i n Haifa statt und gilt als der Beginn des palästinensisch-arabischen Nationalismus. Die Kongresse werden unterschiedlos als „Arabische" oder als „Palästinensisch-Arabische Kongresse" bezeichnet; die beiden Damaszener K o n gresse werden mitgezählt, so daß der erste palästinensische Kongreß i n Haifa als „3. Arabischer Kongreß" erscheint. 14 Für 1936 wurden diese Erträgnisse auf ungefähr 600 000 Dollar geschätzt. U m die Ausdehnung dieser Güter darzustellen, mag erwähnt werden, daß z. B. außerhalb Palästinas erörtert wurde, ob die Hedschas-Bahn Wakf-Gut sei, da sie religiösen Zwecken (Pilgerfahrten nach Mekka) diente. 15 8. Kapitel 2.

15. Kap. : Die palästinensisch-arabische Volksgruppe

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Arabische Kongresse, Zählweise und Bezeichnung 1. Arabischer Kongreß = Allgemeiner Syrischer Kongreß, J u n i - J u l i 1919, Damaskus. 2. Arabischer Kongreß, Februar - März 1920, Damaskus. 3. Arabischer Kongreß = 3. Palästinensisch-Arabischer Kongreß, Dezember 1920, Haifa. 4. Arabischer Kongreß = 4. Palästinensisch-Arabischer Kongreß usf., Mai - Juni 1921, Jerusalem. 5. Arabischer Kongreß, August 1922, Nablus. 6. Arabischer Kongreß, Juni 1923, Jaffa. 7. Arabischer Kongreß, Juni 1928, Jerusalem. Der 3. Arabische Kongreß 1920 i n Haifa wurde von den MoslemischChristlichen Vereinigungen einberufen. Diese Vereinigungen hatten sich i n verschiedenen Orten Palästinas gebildet. Der gemeinsamen zionistischen Gefahr wollten sie eine moslemisch-christliche Gemeinsamkeit entgegensetzen. Der Kongreß setzte sich aus den Repräsentanten dieser Vereinigungen zusammen. Er gilt als Gründung der Nationalen Bewegung und forderte von Großbritannien ein von der 1914 i n Palästina lebenden arabisch-sprechenden Bevölkerung gewähltes Parlament (Repräsentativrat), der seinerseits eine i h m verantwortliche Regierung einsetzen solle 16 . Dieser Kongreß wählte einen Exekutiv-Ausschuß, die sog. Arabische Exekutive, die die Araber i n Palästina bei den Verhandlungen mit Großbritannien über ihre Forderungen vertreten sollte. Er bestand aus 24 Moslems und arabischen Christen; ihr Präsident war Musa Kasim Pascha (Husseini); der Sekretär des Rats und eigentliche Führer der Nationalen Bewegung war gleichfalls ein Husseini: Dschemal Hussein. Die Mandatsregierung weigerte sich zunächst, m i t der Arabischen Exekutive zu verhandeln, da der Kongreß nicht die wahren Wünsche der Bevölkerung zum Ausdruck bringe; sie mußte aber bald m i t i h m verhandeln. Die zionistische Seite hat stets den demokratischen Charakter dieser „Moslemisch-Christlichen Vereinigungen" und der von diesen beschickten Kongresse und folglich auch der Arabischen Exekutive sowie ihre Repräsentativität angezweifelt. Der 7. Palästinensisch-Arabische Kongreß (Juni 1928) i n Jerusalem erweiterte die Arabische Exekutive auf 48 Mitglieder (36 Moslems, 12 Christen) und räumte der Opposition Einfluß ein. Auch diese Exekutive wurde von der Mandatsregierung als offizielle Vertretung der Arabischen Volksgruppe anerkannt. 16

13. Kapitel.

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

Nach dem arabischen Boykott der Wahlen und der offensichtlichen Erfolglosigkeit dieser Politik schwand der Einfluß der Moslemisch-Christlichen Vereinigungen und die Führung ging zunehmend auf den Obersten Moslemischen Rat und dessen Präsidenten Hadsch A m i n al Hussein über. I m März 1934 starb Musa Kasim Pascha al Husseini, der seit 1920 ständiger Präsident aller arabischen Kongresse und arabischer Komitees war. Eine Einigung über die Nachfolge kam nicht zustande. Die Arabische Exekutive stellte — zwar nicht formell, aber faktisch — ihre Tätigkeit ein. Die politische Tätigkeit ging auf Parteien über; Hadsch A m i n übernahm die politische Führung. Er schloß die Parteien i n einer Koalition zusammen, dem Arabischen Hohen Komitee, das er repräsentierte. c) Das Arabische Hohe Komitee I n den 30er Jahren bildeten sich politische Parteien. Von politischen Parteien i m westlichen Sinne unterschieden sie sich jedoch erheblich. I n den arabischen Nachbarstaaten hatten sich wenigstens auf der Selbstverwaltungsebene politische Parteien gebildet. Hatte eine politische Partei genügend Stimmen erreicht, so war sie in den Selbstverwaltungsgremien und eventuell auch auf Regierungsebene vertreten. Dort besaß sie ein Mitspracherecht bei der Abfassung von Gesetzen und bei den sonstigen politischen Maßnahmen. Nichts dergleichen erstrebten die Araber i n Palästina, denn dies hätte Anerkennung und Unterstützung des Mandats bedeutet. Nachdem ihre Forderungen nach einem ihren Mehrheitsverhältnissen entsprechenden parlamentarischen System abgelehnt wurden, bemühten sie sich nicht mehr u m den Aufbau adäquater Strukturen. Ihnen ging es ausschließlich u m den Kampf gegen das Mandat. Dies war das Programm der Nationalen Bewegung 1 7 ; hierin ergossen sich die palästinensisch-arabischen Energien. Ziel der verschiedenen Parteien war es daher nicht, Instrumente der Selbstverwaltung zu entwickeln und wenigstens ihre eigene Volksgruppe so zu organisieren, daß sie dem erstarkenden jüdischen Gemeinwesen ebenbürtig gewesen wäre; jede Partei wollte vielmehr die Nationale Bewegung in den Griff bekommen. Diese Bewegung selbst besaß keinerlei Strukturen; sie war überwiegend die Domäne der Husseini. Marxisten stellen die Frage, wie es kam, daß i n Palästina die Nationale Bewegung vom M u f t i und damit vom Klerus geführt wurde. Aus den Parteien gelang es 1936 das Arabische Hohe Komitee zu bilden 18 . Es war die höchste politische Vertretung der Araber i n Palästina und ähnelt z. T. dem Obersten Moslemischen Rat, wobei allerdings auch 17 18

Michel Assaf, Die arabische nationale Bewegung (Prag 1936). Englisch: Arab Higher Committee.

16. Kap.: Der jüdische Landerwerb

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die christlichen Araber vertreten waren. Organisatorisch war es allerdings wenig mehr als eine lose Koalition unter der Führung von Hadsch A m i n ; einige Parteien traten wieder aus. Es bestand aus 10 Mitgliedern. Das Arabische Hohe Komitee übernahm während der Unruhen 1936 die politische Führung. Seine erste Maßnahme w a r es, den Streik zu verlängern, u m die britische Regierung zur Aufgabe der Nationalheimpolitik zu zwingen und als erste Maßnahme ein Einwanderungsverbot zu erreichen. Gleichzeitig forderte es das Verbot von Landerwerb durch Juden. Bereits i m Oktober 1937 wurde das Arabische Hohe Komitee nach der Ermordung eines britischen Distriktkommissars von der Mandatsmacht verboten und Hadsch A m i n auch von seinem Posten als Präsident des Obersten Moslemischen Rates enthoben. Hadsch A m i n und Dschemal Hussein flohen und wurden exiliert; andere arabische Führer wurden deportiert. Die deportierten Führer konnten 1939 zurückkommen. Einige von ihnen, i m Einverständnis m i t Hadsch A m i n , wurden Delegationsmitglieder i n London 1939. Aber eine gemeinsame palästinensisch-arabische politische Vertretung gab es nicht mehr. Hadsch A m i n leitete zwar den Aufstand von Damaskus aus. Aber daraus wurde vor allem ein Kampf u m die Husseini-Herrschaft. Seit 1942 bemühten sich die Araber erfolglos u m eine Neugründung des Arabischen Hohen Komitees. Die Führer der arabischen Staaten und die Arabische Liga drängten die palästinensischen Führer. A m 23. November 1945 wurde das Zweite Arabische Hohe Komitee gegründet. Der frühere Sekretär der Arabischen Exekutive und Verwandte Hadsch Amins, Dschamal al Husseini, übernahm die führende Rolle.

Sechzehntes Kapitel Der jüdische Landerwerb Schrifttum: D. Warriner , Land Reform and Development in the Middle East. A Study of Egypt, Syria and Iraq, 2. Aufl. (London 1962); dies., Land Poverty in the Middle East (London 1948); A. Granott , The Land System in Palestine. History and Structure (London 1952) ; M. Ma'oz, Ottoman Reform in Syria and Palestine 1840 - 1861 (Oxford 1968); J. Stoyanovsky, Law and Policy under the Palestine Mandate, The Jewish Yearbook of International Law 1948 (Jerusalem 1949), S. 42 ff., 64 ff. Fast alle Titel zur Mandatszeit, insbesondere die Berichte.

Der zionistische Landerwerb sei als symptomatischer Einzelaspekt des zionistisch-arabischen Konflikts betrachtet, der i n zionistischer Sicht als Grundlage des Aufbauwerks und rechtmäßiger entgeltlicher Erwerb, i n arabischer Sicht als Depossedierung und Verdrängung der Araber und

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4. T e i l : Die Mandatszeit 1920 - 1948

daher als Raub erscheint. Er sei ohne moralische Wertung referiert: das Aufbauwerk war nun einmal die Übernahme des Landes durch die Zionisten. Sieht man dieses zionistische Ziel i n positivem Lichte, dann ist es bloßer Eskapismus, sich über die einzelnen Maßnahmen zu entrüsten. Gerade der Landerwerb zeigt das Illusorische einer „objektiven" Sicht und die Sinnlosigkeit der Balfour-Formulierung, die Zionismus mit dem Schutz der Rechte der nicht jüdischen Volksgruppen harmonisieren wollte. Rechtstechnisch ging das so vor sich, daß unter „Rechten", die noch geschützt wurden, lediglich nominelle Positionen verstanden wurden, denen materiell nichts mehr entsprach. Nach zionistischer These haben die Juden das Land von den jeweiligen rechtmäßigen Eigentümern gekauft, meist zu vielfach überhöhten Preisen: Sie haben es also rechtmäßig und teuer erworben. Die Ländereien waren meist durch jahrhundertelange Mißwirtschaft heruntergewirtschaftet, z. T. malariaverseucht oder mangels Bewässerung nicht nutzbar, und mußten erst m i t modernen Methoden, mit großem Kapitalaufwand und unter persönlichen Opfern der Siedler urbar gemacht werden. Soweit Araber überhaupt das Land bestellt hätten, sei dies mit völlig unzulänglichen Methoden geschehen. Zur Verbesserung hätte ihnen das Kapital, die Schulung, die Bereitschaft zur Änderung und oft die persönliche Einsatzbereitschaft der Siedler gefehlt. Die arabische These ist komplizierter. Die zionistische Selbstdarstellung und die rechtliche Situation der Mandatszeit hat die Araber zu vielen Einzelthesen gezwungen, die die Diskussion verkomplizieren und insgesamt den Kern des Problems verfehlen. Zu lange wurde diskutiert, ob die Zionisten die guten oder die schlechten Ländereien erworben hatten; wie überhöht der Kaufpreis war; ob erst der zionistische Landerwerb die Bodenpreise gesteigert habe; wem die Gelder dann wieder zugute gekommen seien; daß überhaupt nur die damaligen Träger des arabischen Nationalismus (die „Effendis") Boden an Zionisten verkauften usf. Hier konnte jeder seine Gründe vorbringen, und beide sprachen am Thema vorbei: das brutale Faktum der Depossedierung der arabischen Palästinenser gerät dabei i n Vergessenheit. Aber diese Depossedierung geschah durch eine ganze Kombination von Faktoren, die insgesamt gegen die arabischen Palästinenser, insbesondere gegen Fellachen und Beduinen, spielten und die keineswegs alle den Zionisten anzulasten sind. Diese setzten z. T. vor der zionistischen Landnahme ein, und sie kamen lediglich den Zionisten i n besonderem Maße zugute. Ins Allgemeine gewendet handelte es sich u m die Probleme, die beim Wechsel der Gesellschaftsordnungen und insbesondere der Bodenordnung überall und zu allen Zeiten auftraten. U m dies zu sehen, muß sich der Leser mit einigen Fakten der überkommenen ottomanischen Bodenordnung vertraut machen.

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Das islamisch'ottomanische Bodenrecht erscheint dem Europäer von höchster Irrationalität. A l l e Darstellungen der Mandatszeit versuchen mehr oder weniger, das Regime des Bodensrechts i n europäisch-rechtlichen Kategorien darzustellen. Aber moderne Darstellungen zeigen, wie schwierig dieses Unterfangen ist (insbesondere Granott und Warriner): Jede Formulierung muß sofort vielfach eingeschränkt und durch (europäischrechtliche) Begriffswidrigkeiten berichtigt werden. I n einem wasserarmen Lande wie Palästina besagen z. B. Rechte am Boden wenig, wenn über die Wasserquellen ein anderer verfügen kann. I m übrigen wäre bereits eine noch so schematische Darstellung des Bodenrechts sehr kompliziert, da die ottomanischen Reformen der Bodenordnung nur partiell verwirklicht wurden und z. T. zu recht anderem führten, als es der Gesetzgeber wollte; außerdem blieb auch die ottomanische Bodenordnung vom früheren islamischen Bodenrecht und lokalen Besonderheiten durchmischt, und zu allem hat sich die punktuelle Gesetzgebung der Mandatsmacht gesellt. Versuchen w i r also eher, den Gesamtvorgang des Wechsels i n seinem Ergebnis aufzuzeigen. Europäische Vorstellungen über Bodenordnung und -recht gehen vom Eigentumsrecht an genau umrissenen Grundstücken aus; grundsätzlich steht der Eigentümer fest und sind alle Grundstücke vermessen und registriert. Über Lage und Rechtsverhältnisse gibt es genaue Unterlagen (Vermessungs- und Katasteramt, Grundbuchamt). Die genaue Vermessung und Registrierung sämtlicher Grundstücke ist aber nur i n hochadministrativen Gesellschaftsordnungen durchführbar; i m ottomanischen Reiche fehlten bereits die erforderlichen Katasterämter. Auch ein einheitliches Bodenrecht fehlte. Es gab einmal das überkommene islamischottomanische Recht, das sich einerseits überall i m Vorderen Orient fand, und dessen Grundlagen z. T. bis i n antike Zeiten zurückverfolgt werden können, das aber andererseits für so viele lokale gewohnheitsrechtliche Abweichungen Raum bot, daß man nur schwer von einer bestimmten Bodenordnung sprechen konnte. Diese herkömmliche Bodenordnung suchte das Ottomanische Reich i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf europäischen Druck durch ein Bodenrecht europäischer Provenienz zu ersetzen. Aber durch das nahezu völlige Fehlen einer staatlichen Verwaltung und vor allem der fehlenden Vermessungsämter und Katasterämter konnte sich diese neue Bodenordnung nur unvollkommen durchsetzen; i n Gebieten, i n denen türkische Verwaltung intensiver war, wurde sie eher verwirklicht, i n Gebieten ohne effektive türkische Verwaltung weniger. Das Ergebnis war eine eigentümliche Mischung mehrerer Bodenordnungen, wodurch die Rechtslage des einzelnen Grundstücks nur schwer feststellbar war, und Recht und tatsächliche Lage weit auseinanderklaffen konnten. Diese Kombination half zeitweise den Fellachen, spielte aber letztlich gegen sie.

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

Die überkommene islamisch-ottomanische Bodenordnung ließe sich m i t einiger Euphemie als sozialistisch bezeichnen, wenn man darunter das Zurückdrängen des privaten zugunsten des Kollektiveigentums zählen w i l l . Richtiger müßte es aber Kollektivbesitz heißen, denn formell war der Staat kraft Eroberung Eigentümer des Landes, was i n unseren Kategorien aber wieder als Souveränität und Gebietshoheit ausgedrückt wird. Die hervorstechenden Unterschiede zum europäischen Bodenrecht waren zum einen die große Bedeutung des Gemeinbesitzes; zum anderen die Rechtstitel kraft Bebauung und schließlich die Berechtigungen an Grund und Boden, die m i t unseren Begriffen kaum wiederzugeben sind. Große Teile Palästinas waren danach i m Besitz dörflicher Gemeinschaften. Das europäische Pendant wäre etwa das Gemeindeeigentum (Mescha'a); die Grundstücke wurden alle zwei Jahre neu an die Dorfangehörigen verlost. So blieb das Land unveräußerlicher Gemeindebesitz und Privateigentum konnte sich nicht bilden. Als Nachteil dieses Systems gilt, daß der Anreiz zur Verbesserung des Landes entfällt, zumindest für den einzelnen; das System ist nur i n statischen Gesellschaftsordnungen haltbar: z. B. ist schon das Ausscheiden aus der Dorfgemeinschaft mit erheblichem Verlust verbunden, so daß keine Mobilität der Bewohner sich entwickelt. I n diesem System war der Begriff des Staatslandes ein Schlüsselbegriff, aber keineswegs einfach gegen den Gemeindebesitz abgrenzbar. Jedenfalls spielten die Staatsländereien i n der Mandatszeit eine große Rolle, wo sie allgemein als Staatseigentum i m europäischen Sinne angesehen wurden. Nach altem ottomanischem Recht konnte aber jeder Fellache derartiges unbebautes Staatsland i n Besitz nehmen, bearbeiten und erwarb so ein Nutznießungsrecht am Boden, solange er ihn bearbeitete. Er hatte der Regierung Abgaben von der Ernte zu leisten. Mangels anderweitiger Verwertungsmöglichkeit hatte der Staat keinen Anlaß, diesen Rechtstitel zu bestreiten, da er an der Ernte des Fellachen partizipierte. Die vielen Berechtigungen an Grund und Boden, die an den verschiedensten Kategorien des Bodens bestanden, können hier nicht aufgezählt werden. Nur erwähnt sei, daß z. B. die Beduinen an ihren traditionellen Weideländern eine A r t von gewohnheitsrechtlichem Titel besaßen. I n dieses traditionelle System brach die ottomanische Landreform herein. Sie scheint durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Die Reform suchte europäisches Privateigentum durchzusetzen und drängte daher den Gemeinbesitz zurück; die ottomanischen Behörden suchten, den dörflichen Gemeinbesitz i n Privateigentum umzuwandeln; i h r Eigeninteresse waren vor allem die dabei anfallenden Registriergebühren. Außerdem erklärte die Regierung große Teile von Land zu Staatseigentum (Staatsländereien) i m europäischen Sinne, vornehmlich

16. Kap.: Der jüdische Landerwerb

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alles unbebaute Land. Einigkeit herrschte darüber, daß das letztere eine Konfiskation größten Ausmaßes war; der Begriff des „Unbebauten" scheint sehr willkürlich gehandhabt worden zu sein; mangels Vermessung und Kataster konnte viel geschehen. Dabei wurde auch das Weideland der Beduinen als Staatsland konfisziert; für ihre Berechtigung war nach den neuen Kategorien kein Raum mehr. Diese Staatsländereien hat die ottomanische Regierung dann wieder in einer A r t von ewiger Pacht an Pächter abgegeben; die Landreform war für das Ottomanische Reich eine große Finanzquelle. Für große Teile der Bevölkerung brachte die Reform zunächst nichts Neues, und die Änderung der Rechtslage berührte sie so lange nicht, wie die Kategorien der neuen Bodenordnung noch keine allgemeinen Vorstellungsinhalte waren. Die rein rechtliche Depossedierung berührte niemand, solange faktisch alles beim alten blieb. Bald wurden aber die aus den neuen Kategorien fließenden Folgerungen gezogen, und der rechtlichen Depossedierung folgte die faktische. Vorher muß jedoch noch gezeigt werden, auf welch eigentümliche Weise die beiden Hauptelemente der Reform, die Parzellierung des Gemeindebesitzes zu Privateigentum und die Staatsländereien zum privaten Großgrundbesitz und zum Latifundiensystem führten. Das Aufbrechen des Gemeindebesitzes führte zu Privateigentum und erlaubte nun erstmals den Verkauf und damit den Entzug des Grundstückes aus dem Bereich der Gemeinde. Aber die Auflösung des Gemeindeeigentums zugunsten von Individualeigentum spielte sich i n Wahrheit recht eigentümlich ab. Denn die technische Operation konnte mangels Vermessung und Katasteramt nur so vor sich gehen, daß man entsprechende Urkunden bei den türkischen Behörden hinterlegte. Aus zwei Gründen führte dies selten zu Privateigentum der Fellachen: — Infolge der großen Korruption i m Ottomanischen Reiche konnten fiktive Geschäfte geschehen: gegen Bestechungsgelder konnten sich reiche Familien als Eigentümer eintragen lassen; demgegenüber mußten die Fellachen i n Beweisnot bleiben: eine auch in der europäischen Geschichte als „Bauernlegen" bekannte Erscheinung; die Dorfbewohner hätten oft die Registriergebühren nicht zahlen können; die Araber haben die Landreform als etwas gänzlich anderes betrachtet: als militärische Konskription, als listenmäßiges Erfassen der Familien. U m der Aushebung zu entgehen, hatte sich die — noch i n der britischen Mandatszeit wirkende — Gewohnheit herausgebildet, die Behörden zu meiden; daher ließen sie (sich) überwiegend nicht registrieren. Soweit die Fellachen irgend etwas taten, blieben sie i n den überkommenen sozialen Kategorien und unterstellten sich dem Schutz einer einflußreichen Familie, auf deren Namen das gesamte Land registriert wurde und an die sie Pacht zahlten. So w u r den Familien Grundeigentümer, und die herkömmlichen Rechte der 18 Wagner

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4. T e i l : Die Mandatszeit 1920 - 1948

Dorfbewohner blieben unregistriert und gingen vergessen. Erst mit dem Durchsetzen des westlichen Eigentumsbegriffs verloren die Bauern auch tatsächlich alle Rechte am Boden. — Auch die Konzeption der Staatsländereien führte paradoxerweise zur Konzentration großer Latifundien i n Privatbesitz. Denn das Ottomanische Reich verpachtete die Ländereien an reiche Familien, und diese Pächter entwickelten sich de facto zu Eigentümern. Das Steuerpachtwesen scheint i n der Geschichte überall ähnlich gewesen zu sein. Der Steuerpächter war verpflichtet, jährlich eine bestimmte Pacht (Steuer) an den Staat abzuführen; er durfte seinerseits aus der Bevölkerung herausholen, was er wollte und konnte; notfalls stellte i h m die Regierung Truppen zur Verfügung. Die Steuerbeträge der Fellachen schwankten zwischen einem Zehntel bis zu einem Drittel. Dazu kumulierte der Steuerpächter noch den Beruf des Ernte-Aufkäufers und des Geldverleihers; man spricht von Zinsen bis zu 60 %. Praktisch waren die Fellachen total und lebenslang verschuldet, und das System der Steuerpacht war eine kaum erträgliche Ausbeutung durch die Kaste der „absentee landlords". Aber es war zunächst eines nicht: Es war kein Grundeigentum i m europäischen Sinne, sondern eher eine Pfründe über die Bevölkerung eines bestimmten Gebietes 1 . Aber m i t der Zeit wurde die Steuerpacht ununterscheidbar vom Eigentum. Z u Recht hat man gesagt, daß erst das Eindringen der Europäer das Roulieren der ottomanischen Landeigentümer zum Halten brachte und die zuletzt an die Spitze gekommenen zu Feudalherrren gemacht hat. So haben beide Elemente, die Registrierung des Gemeinbesitzes auf den Namen einflußreicher Familien und die Verpachtung von sog. Staatsland, zu kaum unterscheidbaren Latifundien geführt. Solange der Fellache auf dem Boden lebte, war all dies ziemlich gleichgültig für ihn. Unterdrückung i n jeder Form war er gewohnt. Erst das Zusammentreffen dieser Bodenordnung m i t dem Zionismus hat sein Leben radikal geändert. Als Musterbeispiel für die Bodenverhältnisse und Auswirkungen der zionistischen Bodenkäufe galt der Kauf der Sursok-Ländereien. Die Beiruter Familie Sursok erwarb 1872 einen Rechtstitel über ein ganzes Gebiet von ungefähr 50 000 acres m i t 22 Dörfern 2 i m heutigen Emek-Tal bei Haifa. Sursok kaufte das Gebiet von der ottomanischen Regierung für geringes Geld; es handelte sich um fruchtbares und bebautes Land. Die arabische Landbevölkerung berief sich gegenüber den ottomanischen Behörden nicht auf etwaige eigene Titel, sei es, w e i l sie keine besaß, sei 1

Warriner: Landòwnership is a credit operation, nothing more. Andere Maßangabe: 230 000 Dunam (1 Dunam = 0,1 ha) oder 18 000 ha. Zum Vergleich: im Durchschnitt verfügte die Familie eines Fellachen in Palästina über ungefähr 0,5 Dunam. 2

16. Kap.: Der jüdische Landerwerb

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es, weil sie die ottomanischen Behörden vermeiden wollte. Sursok übernahm die Rolle des Steuereinnehmers, des Geldverleihers, des A u f käufers der Ernten; man rechnet, daß er 100 °/o Gewinn pro Jahr hatte. Nach dem 1. Weltkrieg war die Sursok-Familie i n Beirut von ihren Ländereien abgeschnitten und konnte sie nicht mehr nutzen wie bisher. Daher verkaufte sie das Land für 726 000 £ 3 an die Zionisten, deren Siedler das Land übernahmen. Dabei sollen 8000 Araber vertrieben worden sein. Die Unterpächter wurden m i t ungefähr 1 h £ pro Kopf abgefunden, die übrigen Landarbeiter nicht. Der beschriebene Vorgang ist nicht spezifisch für Palästina. Er läßt sich überall nachweisen, wo eine agrarisch-dörfliche Gesellschaftsordnung vom Großgrundbesitz verschiedenster A r t (z. B. Feudalismus) aufgebrochen und aufgesogen wurde („Bauernlegen") und ist für alle europäischen Staaten belegt. Der Vorgang wiederholte sich, als agrarisch-feudalistische Gesellschaftsordnungen vom kapitalistischen System verdrängt wurden. Die Rechtstechniken waren stets ziemlich ähnlich: stets wurden dabei das (für den modernen Menschen schwer verständliche) Geflecht der Berechtigungen durch die harten Kategorien: Eigentümer und Nichteigentümer ersetzt; hier haben auch die Klagen gegen das Römische Recht ihren Grund. Auch außerhalb Europas hat die Einführung dieses Rechtes zu ähnlichen Problemen geführt, wie etwa am Beispiel Indien untersucht worden ist. I n allen anderen Beispielen findet man sich schließlich damit ab. Die Verdrängung vom Boden w i r d i m Zuge der Verstädterung und Industrialisierung als notwendig erkannt oder gerechtfertigt; die nachfolgenden Generationen der verdrängten Bauern richten sich anderweit ein, und die Gemeinsamkeit des Volkes läßt depossedierte Gruppen auf die Dauer höchstens als Klassen, nicht als Volksgruppen separiert bestehen. I n Palästina aber führte gerade dieser Vorgang zur Separierung beider Volksgruppen. Die britische Mandatsregierung hat auch hier, wie bei allen übrigen Problemen, die Widersprüche zunächst nicht gesehen und sich dann hindurchlavieren wollen. Ausgangspunkt für sie war A r t . 6 des PM, wonach die geschlossene Ansiedlung von Juden auf dem Lande mit Einschluß der Staatsländereien und Brachländereien zu ermutigen war, alles wieder, natürlich, ohne die Rechte und Lage der anderen Teile der Bevölkerung zu beeinträchtigen. Der Streit darum, ob die Mandatsregierung A r t . 6 des P M nachgekommen ist oder die Bestimmung verletzt hat, ist lang und bitter 4 . Die zionistische Seite hatte nicht nur die vollständige Übergabe der Staatsländereien gefordert, sondern auch vor allem die 3 1872 soll er weniger als 20 000 £ bezahlt haben; manche sprechen von 6 000 £. 4 s. alle zionistischen Darstellungen der Mandatszeit; etwa Stoyanovsky;

ferner: Spiegel, Art. 6. 18*

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4. T e i l : Die Mandatszeit 1920 - 1948

Einführung einer Bodenordnung, die den zionistischen Landerwerb begünstigte. I n arabischer Sicht ist jede Vervollkommnung des europäischen Rechtssystems eine pro-zionistische Maßnahme, die Vorschriften über Registrierung, die Survey Ordinance oder einfach die genauere Vermessung des Landes. Es ist klar: sobald die sog. Staatsländereien überhaupt einmal vermessen wurden, war die Aneignung durch Nutzung nicht mehr möglich. Die arabische Seite verweist daher auf die M a k l u l Ordinance 1920, die es den Fellachen untersagte, ihr Land nach t ü r k i schem Gewohnheitsrecht zu vergrößern, oder auf die Mawet Land Ordinance 1921, die die Inbesitznahme durch Nutzung endgültig untersagte. Jede Übergabe von sog. Staatsland ist für die arabische Seite nur Depossedierung, nichts weiter. Die ganze Diskussion der Mandatszeit um das sog. Staatsland ist ein unablässiges Aneinandervorbeireden: i n zionistischen Augen ist Staatsland Eigentum, über das verfügt werden kann; i n arabischen Augen besagte Staatseigentum höchstens etwas über die Person des Steuergläubigers und berührte die Lage der Landbewohner nicht. Dieses Aneinandervorbeireden kennzeichnet die gesamte Diskussion: die Araber sprechen von „Depossedierung", die Zionisten können keinen Depossedierten sehen: für sie war Sursok der Verfügungsberechtigte, und die Fellachen hatten keinerlei Rechte, deren sie hätten beraubt werden können. Andererseits hat die britische Mandatsmacht seit Beginn der Mandatszeit versucht, die Landverkäufe zu unterbinden, wenn sie mit Eviktionen verbunden waren. Die Land Ordinances durchziehen die Mandatszeit von 1921 bis 1940. So verbot bereits die Transfer of Land Ordinance von 1920 die Grundstücksveräußerung an nicht i n Palästina Ansässige (residents) und machte den Kauf von einer behördlichen Genehmigung abhängig. Die Behörde sollte den Kauf nur genehmigen, wenn sie geprüft hatte, „that any tenant i n occupation w i l l retain sufficient land i n the district or elsewhere for the maintenance of himself and his family". Das System funktionierte i m Prinzip nicht. Zwar verbesserte die Mandatsregierung die Ordinances unaufhörlich und verbot schließlich i n weiten Zonen den zionistischen Erwerb überhaupt: aufgrund der Transfer Ordinance von 1940 war der Verkauf an Nichtaraber schließlich i n 95 °/o Palästinas überhaupt untersagt 5 . Aber die Land Ordinances waren Fehlschläge. Teile des Landes waren unbewohnt, jedenfalls i m Rechtssinne; hier gab es keine tenants. Vor allem aber beschwerte sich kaum je ein Araber. Die übereinstimmenden Erklärungen gehen dahin, daß die Fellachen als ehemalige türkische Untertanen niemals freiwillig zu einer Behörde gegangen seien; außerdem hätten beide am Kauf interessierten Teile, der 5 s. z. B. Stoyanovsky. Die Geschichte des Landerwerbs könnte nur anhand der einzelnen Berichte, Regierungserklärungen und Land Ordinances dargestellt werden.

16. Kap.: Der jüdische Landerwerb

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arabische Verkäufer und der jüdische Fonds dafür gesorgt, daß das Land unbewohnt sei: die arabischen Fellachen wurden vorher irgendwie abgefunden 6 . Der Land Transfer Act von 1940 war der Endpunkt der britischen Reaktionen. Die zionistische Seite hat hierin einen eklatanten Verstoß gegen das P M gesehen. I n der Tat, nach Art. 6 des P M sollte es Aufgabe der Mandatsregierung sein, die geschlossene Ansiedlung zu erleichtern. Die zionistische Seite hat daher den Transfer Act als mandatswidrig angefochten; die Anfechtung scheiterte 7 . Die Provisorische Regierung Israels hat 1948 alle diese Beschränkungen aufgehoben. Der Landerwerb darf i n seiner Beurteilung nicht nur an sich gesehen werden; er muß in einen Gesamtrahmen gestellt werden, der i n zionistischer Sicht als „Aufbauwerk", i n arabischer Sicht als „Verdrängung der Araber" erscheint. Und da ist weiter zu sehen: — Der zionistische Erwerber war nicht ein Erwerber wie i m privatkapitalistischen System ein beliebiger Erwerber; Eigentümer war fast immer der Nationalfonds (Keren Hajessod); i n zionistischer Terminologie das jüdische Volk. Jedenfalls war der Boden nach zionistischem Erwerb auf ewig unveräußerlich; der Fonds hat den Boden immer nur an jüdische Siedler und Unternehmen auf Zeit verpachtet oder unentgeltlich überlassen. Ein juristisch perfektes System hat für alle Fälle Vorsorge getroffen: Der Boden durfte niemals an einen Nichtjuden überlassen werden; starb der jüdische Pächter und hinterließ einen nicht jüdischen Erben, so hatte der Fonds das Heimfallrecht, falls der nichtjüdische Erbe nicht binnen dreier Monate das Pachtrecht an einen Juden abtrat. Nach europäischer Terminologie kann man diesen Vorgang gleichermaßen als Erwerb der Toten Hand oder als Sozialisierung ansehen. Die Probleme u m den Bodenbesitz der Toten Hand (Klöster, allgemein die Kirchen) oder der Familienfideikomissen sind dem Juristen bekannt; „Sozialisierung" kann die Volksgruppe i n dem Vorgang nicht erkennen, die zur Societas nicht gehört. I m Klartext gesagt: die Zionisten haben ein Bodenrecht gefordert, das den Boden frei übertragbar machte — aber von dieser Übertragbarkeit sollte immer nur ein einziges M a l Gebrauch gemacht werden: zum Übergang vom arabischen in zionistisches Eigentum. Das ganze „Bodenrecht", das der Zionismus forderte, war daher kaum ein „Bodenrecht" oder eine „Bodenordnung" i m normalen Wortsinne, d. h. ein Rechtsregime, das für alle nach bestimmten Kriterien festgelegten Vorgänge (Mutationen) galt, denn er schaltete es sofort durch sein zioβ

s. Hyamson; Peel-Bericht; Sykes. Rozenblatt v. Registrar of Lands, 1947, Nachweise bei Stoyanovsky, S. 74. Dort auch das staatsrechtliche Sonderproblem der Rechtsgrundlage des Land Transfer Acts, wofür eine eigene Novellierung des PM, die Ziffer 16 D der P [ A ] 0 1939 diente. 7

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

nistisches Hecht aus. Es ist daher verständlich, daß Araber nicht geneigt sind, die „Bodenordnung an sich" von der weiteren Unveräußerlichkeit zu trennen; für sie bildet dies eine Einheit. „Bodenordnung" war daher für sie nichts anderes als die legale Depossedierung der Araber, war der Nationalfonds das Hauptinstrument dieser Depossedierung. Ein Rückerwerb durch Araber war fortan ausgeschlossen. Man kann schlechterdings nicht erwarten, daß eine Gruppe eine Rechtsnorm als „gerecht" oder „objektiv" betrachtet, die ausschließlich zu ihren Ungunsten spielen kann. Die Forderung der Entzionisierung beinhaltet daher die Auflösung dieses Fonds. Die zionistische Interpretation ist klar: Der Boden ist kein Spekulationsobjekt, und er w i r d damit dem Bodenwucher entzogen. Religiöse Zionisten sahen hierin die Rückkehr zur altbiblischen Bodenordnung; sozialistische Zionisten sahen darin die Vergemeinschaftung der Produktionskraft Boden. Dem V o r w u r f der „Depossedierung" standen sie schlicht verständnislos gegenüber, da sie bezüglich der Araber rein legalistisch dachten und den etwaigen Possessionstitel ausschließlich beim nominellen Eigentümer sahen, von dem sie kauften; die Fellachen hatten in ihren Augen keine Rechtstitel und konnten daher gar nicht depossediert werden. Seit 1920 haben die palästinensischen Araber dem Keren Hajessod etwas entgegenzustellen versucht. So war zeitweise an den Erwerb von Land durch den Obersten Moslemischen Rat und die Qualifizierung als religiöse Stiftung des arabischen Volkes in Palästina gedacht; 1931 wurde ein Arabischer Nationalfonds gegründet, der in die Landverkäufe an Zionisten eintreten sollte; 1935 dachte man sogar an eine Art von Exkommunizierung der Moslems, die ihr Land an Juden verkauften.

— Der Bodenerwerb muß weiter m i t dem zionistischen Prinzip der jüdischen Arbeit zusammengesehen werden, was dann zu Eviktion der arabischen Landbewohner führte. Bodenerwerb i m kapitalistischen System begründet die volle Verfügungsbefugnis des nominellen Eigentümers; dies führt oft zur Eviktion sonstiger Berechtigter (z. B. Mieter; nach deutschrechtlichen Grundsätzen: der nicht „dinglich" Berechtigten). I m „normalen" kapitalistischen Systemen beschränkt sich dies meist auf Einzelhäuser, die der Erwerber selbst oder anders nutzen w i l l ; Käufe m i t anderen Eviktionen sind zumindest i n Westeuropa selten. I n Palästina, wo große Landstriche aufgekauft wurden, führte dies zur Eviktion ganzer Populationen. Denn die Zionisten wollten das Land für ihre landwirtschaftlichen Siedlungen und Industriebetriebe; aufgrund ihrer Ideologie wollten sie das Land selbst urbar machen und bebauen, wollten sie selbst sämtliche Plätze i n dem Industriebetrieb besetzen. I n diesem System ist keinerlei Platz für arabische Bauern, Pächter, Fellachen oder wie immer man ihren Status bezeichnen w i l l . Der zionistische Land-

16. Kap.: Der jüdische Landerwerb

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erwerb war daher prinzipiell m i t der Eviktion der arabischen Ansässigen verbunden. Beide Techniken, die Unveräußerlichkeit des erworbenen Landes und das Prinzip der ausschließlich jüdischen Arbeit seien nur mit einigen normativen Texten belegt. So hieß es in der Verfassung der Jewish Agency von 1929: Art. 3d: Land is to be acquired as Jewish property and subject to the provisions of Art. 10 of this agreement, the title of the lands acquired is to be taken in the name of the Jewish National Fund, to the end that the same shall be held as the inalienable property of the Jewish people. Art. 3e: The Agency shall promote agricultural colonization based on Jewish Labour, and in all works or undertakings carried out or furthered by the Agency, it shall be deamed to be a matter of principle that Jewish Labour shall be employed. I n den Verträgen, die die beiden Fonds mit den jüdischen Siedlern abschlossen, hieß es etwa: (Aus einem Draft Lease des Keren Kayemet) Art. 23: The lessee undertakes to execute all works connected with the cultivation of the holding only with Jewish Labour. Failure to comply with this duty by the employment of non-Jewish labour shall render the lessee liable to the payment of a compensation of ten Palestine pounds for each default. The fact of the employment of non-Jewish Labour shall constitute adequate proof as to the damages and the amount thereof, and the right of the Fund to be paid the compensation referred to, and it shall not be necessary to serve on the lessee any notarial of other notice. Where the lessee has controversed the provisions of this article three times the Fund may apply the right of restitution of the holding, without paying any compensation wathever. Gleiches galt für Darlehen, die die Fonds an Siedler auszahlten.

Der moderne europäische Leser muß sich den Wechsel der Anschauungen ins Gedächtnis rufen. Daß es sich hierbei u m eine Depossedierung der palästinensischen Araber handelte, scheint dem heutigen Leser einsichtig. Zur Mandatszeit aber lief die Diskussion weitgehend i n anderen Bahnen. Man dachte zum einen legalistisch — eine andere Sicht war dem europäischen Juristen kaum möglich. Und nach legalistischer Sicht war Sursok der verfügungsberechtigte Eigentümer, war der Fonds der rechtmäßige Käufer. Und man dachte zum anderen moralistisch — aber m i t einer anderen Moral als heute. Damals wurde die tatsächliche Erschließung als ein moralischer Rechtstitel angesehen: die zionistischen Siedler bearbeiteten den Boden besser als die Fellachen; also hatten sie ein größeres Recht am Boden. Der Boden gehört dem, der ihn bearbeitet. Daher verfehlte keine pro-zionistische Darstellung, auf die Aufbauarbeit hinzuweisen. Die Araber hätten auch i n weiteren tausend Jahren noch nichts zur Bewässerung und Elektrifizierung unternommen, meinte Churchill 1922 i m Unterhaus, und andere Redner führten dort noch 1936 aus: " I have seen these Jewish agricultural settlements. They are one of the

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4. Teil: Die Mandatszeit 1920 - 1948

most wonderful moral demonstrations of the human race i n the whole of the civilized world. I t is one of the most wonderful manifestations in the world. I t is work typical of the finest of british colonizers in the history of our empire." Aber schon Martin Buber stellte traurig fest: „Die j ü d i sche Kibbutzjugend glaubt, daß ihre Siedlungen i n Utopia liegen. Aber sie liegen i n Arabien." Zur zionistischen Bodenpolitik seit der Staatsgründung siehe 27. Kapitel 1.

Fünfter

Teil

Jüdische E r f ü l l u n g u n d arabische Niederlage: Staatsgründung Israels, T e i l u n g Palästinas, arabischer Exodus Schrifttum : G. Weiss , Die Entstehung des Staates Israel, ZaöRV 13 (1950 - 51), S. 146 ff., 786 ff.; W. Eytan, The First Ten Years. A Diplomatie History of Israel (London 1958) ; Ν. Safran , The United States and Israel (Cambridge, Mass. 1963); J. C. Hurewitz , The Struggle for Palestine (New York 1950); D. Horowitz , State in the Making (New York 1953); J. G. McDonald , M y Mission in Israel (New York 1951); J. W. Halderman (Hrsg.), The Middle East Crisis: Test of International Law (New York 1969); P. de Azcärate, Mission in Palestine 1948- 1952 (Washington 1966); E. Glich , Latin America and the Palestine Problem (New York 1958); Fr. Chr. Sakran , Palestine Dilemma; Arab Rights Verus Zionist Aspirations (Washington 1948); Israel and the U N (New York 1956). F. J. Khoury, The Arab-Israeli Dilemma (Syracuse, Ν. Υ. 1968); Zafrullah Khan, Palestine in the U.N.O. (Karachi 1948); Sami Hadawi, Palestine before the UN: Annual Report (Beirut, The Institute for Palestine Studies, ο. J.); ders., Palestine Partitions 1947 - 1958 (New York, Arab Information Center, 1959) ; Mousa Alami , The Lesson of Palestine, Middle East Journal 1949 (Oktober); Akram Zua'iter, The Palestine Question (Damascus 1958); Edward Atiyah, The Palestine Question (London 1948) ; Le Partage de la Palestine 29 novembre, 1947. Une Analyse (Beirut, The Institute for Palestine Studies, Sèrie des Monographies Nr. 9,1967). Ferner vor I. Teil „Arabische Darstellungen". Die besten Darstellungen sind die arabischen Dokumente und Ausführungen im Rahmen der VN.

Siebenzehntes

Kapitel

D i e Palästinafrage vor den V e r e i n t e n N a t i o n e n Schrifttum: Das umfangreiche Schrifttum der V N über das Palästinaproblem kann hier nicht nachgewiesen werden. Es ist in der jeweils angegebenen Literatur ausgewertet und nachgewiesen. Der Bearbeiter benötigt insbesondere die Veröffentlichungen der Vollversammlung (und ihrer Ausschüsse) und des Sicherheitsrates; beide enthalten außer den Debatten die mitveröffentlichten Dokumente (schriftliche Stellungnahmen von Regierungen und Berichte).

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5. Teil: Jüdische Erfüllung und Arabische Niederlage

Umfangreich sind weiter die Berichte der für Palästina eingesetzten Unterorgane (Zusammenstellung: Khouri, S. 413); auch sie sind im zitierten Schrifttum ausgewertet und nachgewiesen. Dokumentensammlungen: allgemein: vor 1. Kapitel. Beschlüsse der V N : U N Resolutions on Palestine, 1947 - 1965, zusammengestellt von Sami Hadawi (Beirut, The Institute for Palestine Studies ο. J.; deutsch: Beschlüsse der V N über das Palästina-Problem 1947 - 1965, hrsg. von der Liga der Arabischen Staaten, Bonn 1967); Sammlung der Indian Society (vor 1. Kapitel); ferner in: United Nations Yearbook, jährlich.

I n der Zeit von der Befassung der V N i m A p r i l 1947 bis zu den Waffenstillständen von Rhodos i m J u l i 1949 liefen die Ereignisse auf zwei Ebenen ab. In Palästina wurde der Kampf u m die Einwanderung zu einem offenen Kampf der Juden gegen die Mandatsmacht. I n dem Maße wie die Mandatsregierung passiver wurde und sich aus Palästina zurückzog, kam es zum Kriege zwischen Juden und Arabern. Vom Teilungsbeschluß i m November 1947 bis zur Unabhängigkeitserklärung vom 14. M a i 1948 kämpften die Juden vornehmlich gegen die palästinensischen Araber und einige Freischärlerverbände aus den Nachbarstaaten; von der Unabhängigkeitserklärung ab bis zu den Waffenstillständen von Rhodos i m J u l i 1949 kämpften die Armeen Israels und der arabischen Staaten gegeneinander. Die Waffenstillstände beendeten den offenen Konflikt. Vor den VN war Palästina immer ein Hauptproblem; bis zum KoreaKrieg war es auch das bedeutendste Problem der VN. Großbritannien hatte i m Frühjahr 1947 die V N m i t dem Palästina-Problem befaßt; ihre verschiedenen Organe bemühten sich u m eine politische Lösung. Diese Versuche kulminierten i m Teilungsbeschluß der Vollversammlung vom 29. November 1947. Vor und nach dem Teilungsbeschluß bemühten sich die verschiedenen Organe der VN, insbesondere der Sicherheitsrat, u m eine Beendigung des Bürgerkrieges und des Krieges zwischen Israel und den arabischen Staaten und eine friedliche Lösung. Die Bemühungen führten zu den Waffenstillständen von Rhodos, deren letzter i m J u l i 1949 abgeschlossen wurde.

1. Die begrenzten Möglichkeiten der Vereinten Nationen Schrifttum: auch die umfangreiche allgemeine Literatur über die V N kann hier nicht nachgewiesen werden; alle Darstellungen des modernen Völkerrechts verweisen auf das Schrifttum, s. etwa Dahm, Bd. 2 und WBVR, „Vereinte Nationen".

Die Vereinten Nationen haben sechs Hauptorgane: Vollversammlung, Sicherheitsrat, Internationaler Gerichtshof, Wirtschafts- und Sozialrat, Treuhandschaftsrat, Generalsekretariat. Der Generalsekretär hatte bis

17. Kap. : Die Palästinafrage vor den Vereinten Nationen

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i n die Mitte der 50er Jahre nicht die Bedeutung, die er i n der Suez- und Libanon-Krise gewann und i n der Kongo-Krise wieder verlor. Der Internationale Gerichtshof wurde i n der Palästinafrage nicht angerufen; ein entsprechender arabischer Antrag wurde nicht angenommen. Wirtschaftsund Sozialrat und Treuhandschaftsrat können fast unberücksichtigt bleiben. So spielte sich fast alles zwischen Vollversammlung und Sicherheitsrat ab. Die Vollversammlung gilt als das Hauptorgan der V N ; i n i h r sind sämtliche Mitgliedstaaten vertreten. Zur Zeit des Teilungsbeschlusses 1947 zählten die V N 56 Mitglieder; heute sind sie auf ungefähr 130 M i t glieder angewachsen. Jedes Mitglied hat eine Stimme. I n „wichtigen Fragen" entscheidet die Vollversammlung m i t Zweidrittelmehrheit der anwesenden und abstimmenden Mitglieder, ansonsten m i t einfacher Mehrheit (Art. 18 SVN). Was eine „wichtige Frage" ist, mag oft strittig sein; jedenfalls bedurfte der Teilungsbeschluß vom 29. November 1947 der Zweidrittelmehrheit. Der Sicherheitsrat bestand damals aus 11 Mitgliedern; davon sind fünf ständige Mitglieder: USA, Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich, China; sechs weitere nichtständige Mitglieder wurden von der Vollversammlung für jeweils zwei Jahre gewählt 1 . Auch hier hat jedes Mitglied bei Abstimmungen eine Stimme. Beschlüsse bedurften der Zustimmung von sieben (heute elf) Mitgliedern, aber nur bei Beschlüssen über Verfahrensfragen gilt diese Regel uneingeschränkt. Bei allen sonstigen (also materiellen) Fragen kommt ein Beschluß nur zustande, wenn die fünf ständigen Mitglieder unter den Zustimmenden sind 2 . Dies ist die Möglichkeit des Vetos der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates. Die Entscheidung darüber, ob eine Frage ein Verfahrens- oder Sachproblem ist, unterliegt gleichfalls dem Veto (sog. Doppel veto). Diese ständige M i t gliedschaft der fünf Mächte und ihre Vetomöglichkeit ist Ausdruck der hegemonialen Struktur der V N und entsprach dem realen Kräfteverhältnis am Ende des 2. Weltkriegs und der Tatsache, daß die V N als Kriegskoalition gegen die Achsenmächte entstanden sind. Die jeweilige Zuständigkeit beider Organe läßt sich nicht i n wenigen Worten eindeutig festlegen. Nach A r t . 10 SVN ist die Vollversammlung für „alle Fragen" zuständig; ihre Allzuständigkeit ist jedoch insoweit eingeschränkt, als sie keine Empfehlung zu einer Sache erlassen soll, solange der Sicherheitsrat die Aufgabe der Streiterledigung oder Friedenssicherung ausübt. Der Sicherheitsrat ist seinerseits für die Wahrung des Weltfriedens hauptverantwortlich (Art. 24); seine Kompetenzen sind daher 1 Heute ist der Sicherheitsrat auf 15 Mitglieder erweitert, so daß 10 Mitglieder zugewählt werden müssen. 2 Detailfragen wie Stimmenthaltungen u. ä. müssen hier dahinstehen.

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5. T e i l : Jüdische Erfüllung u n d Arabische Niederlage

enger, haben aber die Priorität. Für die Vollversammlung bedeutet dies eine Beschränkung, da die Mitglieder des Sicherheitsrats die Befassung der Vollversammlung m i t einer solchen Frage verhindern können; auch diese Kompetenzabgrenzung ist Ausfluß der Hegemonialstruktur der SVN. Die große Diskussion um die nähere Ausgestaltung dieser Beschränkung kann hier dahinstehen. Bei Friedensbedrohungen sind daher die V N i m Prinzip nur arbeitsfähig, wenn sich die ständigen Mitglieder einig sind. I m zunehmenden kalten Krieg und als jede Gruppe und jeder Kleinstaat zu Klienten eines ständigen Mitglieds wurden, war dies immer weniger der Fall. Die zunehmende Handlungsunfähigkeit der V N fand i n der Ausübung des Vetos ihren Niederschlag. Hier hat die Uniting for Peace Resolution partiell Abhilfe geschaffen: wenn i m Sicherheitsrat nicht die erforderliche Stimmenmehrheit zustandekommt, kann die Vollversammlung tätig werden und Empfehlungen aussprechen. Die Resolution wurde erst nach der Staatsgründung Israels und nach dem israelisch-arabischen Krieg von 1947 - 1949 gefaßt (im Korea-Krieg). Auch die Befugnisse beider Organe sind verschieden. Die Vollversammlung ist auf Erörterungen und Empfehlungen beschränkt. Sie kann alle Probleme, die i n ihre Zuständigkeit fallen, diskutieren, sie kann Empfehlungen über das Verhalten der Betroffenen abgeben, und sie kann Werturteile aussprechen, wie etwa ein Verhalten mißbilligen oder einer Besorgnis Ausdruck geben. Sie ist also in der A r t ihrer Beschlüsse unbeschränkt. Auch Vertragsentwürfe und Teilungspläne können Inhalt der Empfehlung sein, wie etwa der Teilungsplan der Vollversammlung vom 29. November 1947. Aber sie kann keine die Staaten bindenden Beschlüsse fassen. Ihre Beschlüsse pflegt die Vollversammlung meist i n Form von Empfehlungen zu kleiden. A r t . 14 konkretisiert die i n A r t . 10 vorgesehenen Befugnisse, soweit die Vollversammlung Empfehlungen zur friedlichen Regelung von Streitigkeiten ausspricht. Anders als i n Art. 10 sind keine Adressaten bestimmt. Daraus w i r d geschlossen, daß die Vollversammlung auch an NichtMitglieder, an andere Organe, an andere Organisationen und an Gruppen wie kämpfende Gruppen Empfehlungen richten kann. So hat die Vollversammlung i n der Palästina-Frage mehrfach ihre Empfehlungen an alle Regierungen und Völker sowie an die Einwohner von Palästina gerichtet, sich der Anwendung von Gewalt zu enthalten und den Teilungsplan zu unterstützen. Derartige Aufforderungen sind zwar nicht durch Art. 10, wohl aber durch A r t . 14 gedeckt. Hat so die Vollversammlung den weiteren Kompetenzbereich, so verfügt der Sicherheitsrat über die stärkeren Mittel. I n diesem System haben sich bald und insbesondere anläßlich des Palästinaproblems schwerwiegende Schwächen gezeigt.

17. Kap.: Die Palästinafrage vor den Vereinten Nationen

285

Die SVN geht von der kollektiven Sicherheit aus; ein solches Sicherheitssystem setzt die grundsätzliche Einigkeit der Hauptmächte voraus. Das Vetosystem des A r t . 27 für die Beschlußfassung konkretisiert diesen Hegemonialcharakter und die erforderliche Einigkeit für Aktionen. Diese Einigkeit ist schon bald nach Kriegsende 1945 zerbrochen. Daher konnten die V N i n zahlreichen Konfliktsituationen nicht tätig werden, sei es, daß die ständigen Sicherheitsratsmitglieder selbst Partei i m Streite waren, sei es, daß andere Staaten zum Klienten eines ständigen Sicherheitsratsmitgliedes geworden sind. Vor allem können die V N keine politische Lösung erzwingen. Die Vollversammlung kann überhaupt nur Empfehlungen erlassen; ihre Empfehlungen sind unverbindlich. Die arabischen Staaten sind daher i m Recht, wenn sie unter Hinweis auf den bloß empfehlenden Charakter des Teilungsbeschlusses den Teilungsplan für sich nicht als verbindlich ansehen. Empfehlungen internationaler Organisationen sind, falls die Satzung nichts Abweichendes sagt, nach allgemeinem Wortverständnis unverbindlich, aber beachtlich 3 . Eine Empfehlung ist unverbindlich i n dem Sinne, daß der Adressatstaat de iure nicht verpflichtet ist, sie zu befolgen; beachtlich ist sie i n dem Sinne, daß hinter ihr das moralische und politische Gewicht der Organisation und der sie tragenden Mehrheit steht. Da die SVN die Empfehlungen auch nicht m i t irgendwelchen Nebenpflichten versieht, sind sie rechtlich unverbindlich; da sie den politischen Vorstellungen einer Mehrheit von Mitgliedern über internationale Gerechtigkeit entsprechen, kommt ihnen eine moralische und politische W i r k u n g zu. Der Sicherheitsrat kann zwar verbindliche Entscheidungen beschließen; er ist jedoch hierbei auf die Kapitel V I , V I I , V I I I und X I I beschränkt (Art. 24 Abs. 2 SVN). Kapitel V I spricht von der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten, falls Friede und Sicherheit bedroht sind 4 . Hierbei soll der Rat die Parteien grundsätzlich zu den Institutionen friedlicher Streitregelung führen (Art. 33 SVN). Gelingt dies nicht, so kann auch der Sicherheitsrat i m Rahmen des V I . Kapitels lediglich wiederum Empfehlungen aussprechen (Art. 36, 37 SVN). Zweifellos hätte man unter Bezug auf A r t . 25 S V N den i m Rahmen des V I . Kapitels ergehenden Empfehlungen Verbindlichkeit zuinterpretieren können; eine solche Auslegung hat sich jedoch nicht durchgesetzt; auf A r t . 37 S V N stützt sich die ganz herrschende Gegenthese. Ebensowenig kann der Sicherheitsrat politische Lösungen i m Rahmen des V I I . Kapitels erzwingen. Hier und nur 3 Wie in vielen Sonderorganisationen der V N ; zu diesen qualifizierten Empfehlungen s. H. Wagner, Grundbegriffe des Beschlußrechts der Europäischen Gemeinschaften (1965), S. 300 ff.

4

Zum Ganzen Dahm, Bd. 3 § 76.

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5. Teil: Jüdische Erfüllung und Arabische Niederlage

hier kann zwar der Sicherheitsrat bindende Entscheidungen (und nicht nur Empfehlungen) erlassen, wenn nämlich der Friede bedroht oder gebrochen ist oder wenn Angriffshandlungen vorliegen 5 . N u n ist die Regelung des V I I . Kapitels kompliziert und durch die Erfordernisse der Praxis noch komplizierter geworden 6 . Aber i m Grundsatz läuft sie darauf hinaus, daß der Sicherheitsrat die Friedensbedrohung und den Angriff unterbinden soll; dagegen sagt er weder etwas darüber, wer für die Krisenlage verantwortlich ist — auch die noch so gerechtfertigte kriegerische Reaktion auf eine ungerechte Lage ist eine verbotene Aggression i m Sinne der SVN —, noch n i m m t der Sicherheitsrat i m Rahmen des V I I . Kapitels zur Sache selbst Stellung. Man hat seine friedenssichernde Funktion m i t der eines Polizisten verglichen, der zwar Selbsthilfeaktionen unterbindet, aber nicht wie der Richter dem verletzten Recht zum Siege verhilft 7 . Auch hier hätte sich eine andere Interpretation durchsetzen können, und i n der Frühzeit der V N haben einige Delegationen die S V N auch anders verstanden 8 . Aber gerade anläßlich des Problems, den Teilungsbeschluß durchzusetzen, hat sich die herkömmliche Ansicht und enge Auslegung der Befugnisse der V N durchgesetzt. Auch die Versuche, mittels einer Kombination der Befugnisse der Vollversammlung und des Sicherheitsrats eine politische Lösung erzwingen zu können, blieben ohne Erfolg 9 . Selbst soweit der Sicherheitsrat verbindliche Entscheidungen treffen kann, bleibt es i m Einzelfall fraglich, ob er verbindlich tätig werden wollte. Für die vorläufigen Maßnahmen des A r t . 40 S V N ist der verbindliche Charakter überhaupt strittig 1 0 . Die w o h l vorherrschende Ansicht stellt es auf den Inhalt und Wortwahl der Entscheidungen ab 1 1 . Während des Krieges 1947 - 1949 forderte der Sicherheitsrat i n einer Reihe von Entschließungen die Parteien zur Feuereinstellung und Waffenruhe auf; seine Formulierungen wurden dabei von M a l zu M a l energischer 12 und galten damit auch zunehmend als verbindlich. Dagegen blieb durchaus strittig, ob der Beschluß des Sicherheitsrates von 1951 über die Durchfahrt des Suezkanals eine verbindliche Entscheidung oder nur eine unverbindliche Empfehlung gemäß Kapitel V I der S V N w a r 1 3 . 5

Zum Ganzen Dahm, Bd. 2 §§ 81,82. z.B. das von der SVN in Art. 39 aufgestellte vorherige Erfordernis der Feststellung der Friedensgefährdung; der Sicherheitsrat ist dieser Feststellungspflicht meist nicht nachgekommen. 7 "It had been generally understood that the Security Council would act only as a policeman and would not itself have the function of settling disputes on the basis of merit." β

8 9

10

11 12 13

Nachweise bei Halderman.

Hierzu 17. Kapitel 4 b. s. Dahm, Bd. 2 § 82 I.

Nachweise bei Dahm.

„Callingupon"; „requested"; „orders"; „urgently appeals". 22 Kapitel 2.

17. Kap. : Die Palästinafrage vor den Vereinten Nationen

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Vollversammlung und Sicherheitsrat haben sich eine Reihe von Unterorganen geschaffen 14 . Für die Vollversammlung bestehen eine Reihe planmäßiger Ausschüsse, die die Plenarbeschlüsse vorbereiten. I n diesen Ausschüssen sind wiederum alle Mitglieder vertreten. Der wichtigste ist der Ausschuß für politische Fragen und Sicherheit (auch: Politischer Sonderausschuß oder First Committee). Außerdem kann die Vollversammlung sonstige Ausschüsse einsetzen, auch zur Beobachtung und Untersuchung von Konflikten. Auch i n diesen Ausschüssen können alle Mitglieder vertreten sein, wie i m A d Hoc-Ausschuß für Palästina, oder nur bestimmte Mitglieder, wie i n der UNSCOP. Z u den Ausschüssen kommen sonstige Unterorgane wie Kommissionen und Organe verschiedenster Denominationen. Gerade für die Palästinaprobleme haben sich die beiden Hauptorgane der V N eine Pleiade von Unterorganen geschaffen, deren Verfahren und Beziehungen zu den Hauptorganen und untereinander von hoffnungsloser Komplexität waren. Bereits die Arbeit i n den Ausschüssen zeigt dies: zahllose Anträge i n Ausschüssen, i n denen alle Mitglieder vertreten waren, mußten von ihren jeweiligen Hauptorganen entschieden werden. U m derartige prozedurale Entscheidungen wurde erbittert gerungen, wie etwa über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, seine Zusammensetzung, die Umreißung seiner Aufgaben und seine Tagesordnung; derartige Entscheidungen haben oft die Sache vorweg entschieden — zumindest i n der Sicht der unterlegenen Partei. Das Verfahren kann hier nur i n seinen jeweiligen Ergebnissen dargestellt werden; die angegebene Literatur wertet meist die Debatten v o l l aus. Dies gilt auch für die Signaturen der VN-Dokumente. Auch die übrigen Unterorgane wie Kommissionen, Vermittler, Organisationen (z. B. UNWRA) haben ein kompliziertes Eigenleben entwickelt. Ihre Berichte sind einerseits die wesentlichen Dokumente, andererseits infolge Fülle kaum noch auswertbar.

2. Das Verfahren bis zum Teilungsbeschluß Schrifttum: L. L. Leonhard, The U N and Palestine, International Conciliation Nr. 454 (1949), S. 607 ff.; R. E. Riggs, Politics in the UN. A Study of US Influence in the General Assembly (Urbana, III. 1958), S. 45 ff.; Fr. Steppat, Die PalästinaFrage vor den VN, EA 3 (1948), 1191; J. Robinson, Palestine and the UN. Prelude to Solution (Washington, D. C. 1947); J. Gar eia-Granados, The Birth of Israel: The Drama as I Saw I t (New York 1949).

Der Kampf u m Palästina begann bereits bei der Abfassung der SVN. Die meisten arabischen Staaten hatten gerade noch rechtzeitig Deutschland den Krieg erklärt, u m als Gründungsmitglieder zugelassen zu werden. Die Jewish Agency forderte i n einem Memorandum die Anerken14

Zu den Unterorganen Dahm, Bd. 2 § 43; § 49.

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5. T e i l : Jüdische Erfüllung u n d Arabische Niederlage

nung eines jüdischen Commonwealth i n Palästina 1 5 ; es gelang ihr aber damals nicht, ihre Forderung auf die Tagesordnung der Konferenz zu setzen. Der weitere Kampf ging vornehmlich um die Fassung des A r t . 80 SVN, der das Schicksal der Mandatsgebiete regelt 16 . Die Araber kämpften vergeblich um eine Regelung, die alle Mandatsgebiete einheitlich i n ein allgemeines Treuhandschaftssystem überführt hätte — also ohne Berücksichtigung der speziellen Mandatsverträge. Da nur das P M die Nationalheimpolitik verankerte, wäre die gesamte zionistische Verankerung völkerrechtlich weggefallen. Die endgültige Fassung dagegen hält die Rechte aus bisherigen Mandatsverträgen ausdrücklich aufrecht. Gegen arabischen Widerstand spricht A r t . 80 von Rechten „von Staaten und Völkern", während die Araber versuchten, die Rechte i n Mandatsgebieten auf die einheimische Bevölkerung zu beschränken und somit die rechtlichen Beziehungen zum Weltjudentum zu kappen. Wie A r t . 80 zeigt, drangen sie nicht durch; A r t . 80 ist fast ganz auf die Aufrechterhaltung der Nationalheimpolitik zugeschnitten. Die Vertreter arabischer Staaten hatten bereits i m Frühjahr 1947 vergeblich versucht, die Palästinafrage auf die Tagesordnung der Vollversammlung zu setzen. Sie forderten die Beendigung des Mandats und die Unabhängigkeit für Palästina. Weitere Untersuchungskommissionen sollten nicht mehr eingesetzt werden, da das Recht der Palästinenser auf Unabhängigkeit und ihr politisches Wollen nicht mehr untersucht zu werden brauche. Falls dennoch eine Kommission eingesetzt werde, so müsse ihre Richtlinie allein die Unabhängigkeit Palästinas sein. Die arabischen Vertreter drangen m i t ihrem Antrag nicht durch; die Palästinafrage wurde nicht von der Vollversammlung erörtert. Aber der hierbei ausgearbeitete Rechtsstandpunkt der Araber blieb auch i n Zukunft der gleiche. Erst auf Antrag Großbritanniens vom 2. A p r i l 1947 wurde eine Sondersitzung der Vollversammlung über die Palästinafrage einberufen. Was Großbritannien bezweckte, scheint nicht ganz klar zu sein 17 ; nach den Äußerungen der britischen Regierung scheint Großbritannien zunächst noch nicht an die Aufgabe des Mandats, sondern eher an einen autoritativen Spruch der V N und eine Mitübernahme der Verantwortung gedacht zu haben. Als sich jedoch zeigte, daß die V N zwar zu Vorschlägen, nicht aber zu ihrer Durchsetzung i n der Lage war, erklärte Großbritannien, daß es allein keinen Spruch durchsetzen würde, der nicht von Juden und Arabern gleicherweise akzeptiert werden würde. Ausgedehnte Sach- und 15 Memorandum submitted to the U N conference on International Organization, by the Jewish Agency for Palestine, San Francisco 1945. 16 Zum folgenden ausführlich Robinson, Kapitel 1. 17 Auswertung der Debatten im britischen Parlament: Robinson, Kapitel I I I . Verfahren bez. der Einberufung der Sondersitzung: ebenda Kapitel IV.

17. Kap. : Die Palästinafrage v o r den Vereinten Nationen

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Verfahrensdebatten 18 entschieden schließlich über das weitere Vorgehen. Ein besonderes Problem w a r hierbei die Zulassung von Jewish Agency und des Arabischen Hohen Komitees als sog. „non-governmental organizations" zu den verschiedenen Ausschüssen 10 sowie die Frage, ob die Jewish Agency nur für die palästinensischen Juden oder für das Weltjudentum sprechen konnte; gleiches galt für die arabische Vertretung. Die Vollversammlung setzte schließlich als Unterorgan einen Sonderausschuß für Palästina ein, die UNSCOP 2 0 . Mitglieder der Kommission waren die Vertreter von elf namentlich benannten Staaten: Australien, Kanada, Tschechoslowakei, Guatemala, Indien, Iran, Holland, Peru, Schweden, Uruguay, Jugoslawien. K e i n ständiges Mitglied des Sicherheitsrates gehörte i h r an; die Vollversammlung hatte sich u m die Auswahl neutraler Staaten bemüht. Man war sich dabei bewußt, daß es i n dieser Frage keine eigentlichen neutralen Staaten gab — die europäischen Staaten waren eindeutig pro-jüdisch, Indien und I r a n als (partiell) moslemische Staaten pro-arabisch eingestellt — und wählte Staaten, die i m Vorderen Orient keine eigenen machtpolitischen Interessen oder w i r t schaftlichen Interessen verfolgten. Die Kommission sollte die Situation prüfen, der Vollversammlung Bericht erstatten und Vorschläge zu einer politischen Lösung machen. Ziel der Empfehlungen sollte, wenn dies auch nicht ausdrücklich ausgeführt war, nach allgemeiner Auffassung die U n abhängigkeit Palästinas sein. Heftig umkämpft war vor allem das Ausmaß der Untersuchungsbefugnis bezüglich der jüdischen Flüchtlinge i n Europa; die endgültigen Instruktionen schloß sie ein, da die Kommission Untersuchungen i n Palästina „ u n d wo immer es nutzbringend erschien", durchführen sollte. Die Vertreter der palästinensischen Araber, insbesondere das Arabische Hohe Komitee, verweigerten jede Zusammenarbeit m i t der UNSCOP, da deren Richtlinien „die imperialistischen Interessen und die Forderungen der Jewish Agency begünstigten"; Hadsch A m i n forderte auf, „sich gegen die Intrigen der internationalen Diplomatie zusammenzuschließen". Nach arabischer Ansicht war die Zusammensetzung der Kommission prozionistisch. I m übrigen sei das Recht der Palästinenser auf Unabhängig18

Inbes. über die Tagesordnung; s. Robinson, Kapitel V. s. Leonhard, S. 617 ; Robinson, Kapitel V I - V I I I . United Nations Special Committee on Palestine. Resolution 106 (S - 1) vom 15. M a i 1947. Schrifttum: Political Survey 1946 -1947, Memorandum submitted to the UNSCOP. The Jewish Agency for Palestine (Jerusalem 1947); The Jewish Plan for Palestine. Memoranda and Statements presented by the Jewish Agency for Palestine to the UNSCOP, The Jewish Agency for Palestine (Jerusalem 1947); UNSCOP, Report on Palestine. Report to the General Assembly (1947); Robinson, Kapitel I X - X . Die V N haben für UNSCOP eine „Working Documentation on Palestine" zusammengestellt über Literatur, Dokumente usw. von 5 Bänden. 19

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19 Wagner

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5. T e i l : Jüdische E r f ü l l u n g u n d Arabische Niederlage

keit selbstverständlich; es bedürfe keiner weiteren Untersuchung mehr, sondern müsse gemäß den Prinzipien der SVN anerkannt werden. Für rechtswidrig hielten sie insbesondere die Aufgabenumreißung der Kommission 21 , insoweit als die Lage der Flüchtlinge i n Europa in die Untersuchung einbezogen werden sollte. Deren Lage habe mit Palästina nichts zu tun; Zionismus sei Imperialismus und die weitere jüdische Einwanderung sei eine aggressive zionistische Invasion. M i t deren Einbeziehung i n die Untersuchung sei bereits das Schicksal der palästinensischen Araber vorentschieden. Sie organisierten bei der A n k u n f t der UNSCOP i n Palästina Streiks. Die Vertreter der arabischen Staaten wandten sich gegen diese politisch unkluge Haltung des arabischen Hohen Komitees und arbeiteten mit der UNSCOP. Die UNSCOP arbeitete vom 26. Mai bis 31. August 1947 i n New York, Jerusalem, Beirut, Genf, i m übrigen Palästina und den arabischen Staaten und i n europäischen Flüchtlingslagern. Erschwerend für die Arbeit der Kommission waren die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Palästina, insbesondere der jüdische Kampf gegen die Mandatsregierung. Der Kampf u m die illegale Einwanderung war auf seinem Höhepunkt; die „Exodus" lief zu dieser Zeit Palästina an. Extreme jüdische Gruppen bekämpften die Mandatsmacht; diese antwortete m i t entsprechenden Repressionen. Die zionistische Führung beutete naturgemäß die Tragik der illegalen Einwanderung aus und befaßte die Kommission m i t weit über deren Kompetenzen hinausgehenden A n trägen: Inspektion der britischen Gefängnisse, Einschreiten zugunsten dreier von der Mandatsmacht zum Tode verurteilter Terroristen. Die Kommission lehnte es grundsätzlich ab, durch Appelle und dergleichen i n die Befugnisse der Mandatsregierung einzugreifen; nur für die drei verurteilten Terroristen appellierte sie an die Mandatsregierung, um „mögliche ungünstige Rückwirkungen zu vermeiden". Großbritannien wies den Appell scharf zurück und exekutierte die Terroristen 2 2 . Der umfangreiche UNSCOP-Bericht wurde am 3. September vorgelegt; da die Kommission keine Einigkeit erzielen konnte, ist er nach den Abstimmungsverhältnissen i n mehrere Teile gegliedert. Er enthielt 12 grundsätzliche Empfehlungen und zwei alternative Lösungsvorschläge. Für 11 der grundsätzlichen Empfehlungen konnte i m Ausschuß Einigkeit erzielt werden; für die Teilung mit Wirtschaftsunion sprachen sich sieben 23 , für die föderative Lösung drei Mitglieder aus 24 ; ein Mitglied enthielt sich bei beiden Lösungen der Stimme 2 5 . 21 Zum Kampf um diese Terms of Reference s. Robinson, Kapitel X I . Auswertung der Diskussion bez. der arabischen Rechtsansicht: ebenda Kapitel X I V . 22 Worauf Irgun mit dem Erhängen zweier britischer Soldaten antwortete und ihre Leichen mit versteckten Sprengladungen versah. Der Vorsitzende der Kommission konferierte sogar mit dem Führer der Irgun, Menachem Begin.

17. Kap. : Die Palästinafrage vor den Vereinten Nationen

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I n den grundsätzlichen Empfehlungen w i r d vornehmlich die Beendigung des Mandats und die baldigstmögliche Unabhängigkeit Palästinas empfohlen. Während einer Übergangszeit soll die m i t der Verwaltung Palästinas betraute Macht den Vereinten Nationen verantwortlich sein. Als Hauptgrundsatz w i r d anerkannt, daß die Wirtschaftseinheit Palästinas für Leben und Fortschritt seiner Völker unerläßlich ist. Über die Einwanderung der europäischen Juden drückten sich die grundsätzlichen Empfehlungen vage aus, da hierüber die Alternativpläne ihre eigenen Vorstellungen entwickelten; beide führten aus, daß keine palästinensische Lösung die gesamte Judenfrage lösen könnte. Der Mehrheitsplan empfahl die Teilung Palästinas in zwei unabhängige Staaten und Jerusalem als besondere politische Einheit (corpus separatum). Beide Staaten und Jerusalem sollten durch eine Wirtschaftsunion verbunden bleiben. Beide Staaten sollten sich entsprechende Konstituanten geben, die Verfassungen ausarbeiten und Regierungen errichten sollten; beide Staaten sollten einen Vertrag über Wirtschaftsunion unterzeichnen. Hierfür sollte eine gemeinsame Behörde errichtet werden, deren Mitglieder von beiden Staaten und dem Wirtschafts- und Sozialrat der V N benannt werden würden. Erst nach der Unterzeichnung sollte die Unabhängigkeit beider Staaten anerkannt werden. Jerusalem dagegen sollte als Treuhandschaftsgebiet von den V N verwaltet werden. Auch zur Einwanderung nahm der Mehrheitsplan Stellung. Während der zweijährigen Übergangszeit sollten 150 000, später jährlich 60 000 Juden i n den jüdischen Staat einwandern können. Der Plan zeichnete auch die Grenzen beider Staaten und Jerusalems; diese Grenzen entsprechen weitgehend dem von der Vollversammlung am 29. November 1947 angenommenen Teilungsplan. Der von Indien, Iran und Jugoslawien vorgelegte Minderheitsplan empfahl bei ähnlicher territorialer Aufteilung einen föderativen Staat m i t einem arabischen und jüdischen Gliedstaat. Hauptstadt der Föderation sollte Jerusalem sein 26 . Der Plan legt eine ausgearbeitete föderative Verfassung vor. Der Errichtung des Staates sollte eine dreijährige Über23 Für den Mehrheitsplan (Teilung) sprachen sich aus: Kanada, Guatemala, Holland, Peru, Schweden, Tschechoslowakei, Uruguay. 24 Für den Minderheitsplan (Föderative Lösung) sprachen sich Indien, Iran und Jugoslawien aus. 25 Australien stimmte nur bei den grundsätzlichen Empfehlungen mit. Bezüglich des Lösungsvorschlags enthielt es sich der Stimme. Nach seiner A n sicht war es nicht Aufgabe der UNSCOP, einen bestimmten Vorschlag auszuarbeiten, sondern Alternativen mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen aufzuzeigen: die Wahl sollte der Vollversammlung überlassen bleiben. 26 Die englische Terminologie federal state, Arab state, Jewish state ließe nach deutsch-rechtlicher Terminologie sowohl eine mehr staatenbündische als auch eine mehr bundesstaatliche Lösung zu.

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gangszeit vorausgehen, während der eine von der Vollversammlung bestimmte „authority" Palästina regieren und es zur Unabhängigkeit vorbereiten sollte. A n der Spitze der Föderation sollte ein ZweikammerParlament stehen, die eine Kammer m i t proportionaler Vertretung der Bevölkerung, die andere m i t paritätischer Vertretung der arabischen und jüdischen Bewohner Palästinas. Während der Übergangszeit sollte die jüdische Einwanderung nur insoweit zulässig sein, als Palästina sie wirtschaftlich aufnehmen konnte, ohne daß die Bevölkerung darunter leiden würde. Eine internationale Kommission sollte die Aufnahmefähigkeit festlegen. Die zionistische Reaktion zum Mehrheitsplan war i m ganzen zustimmend. Den Minderheitsplan lehnten die Zionisten als völlig unannehmbar ab, den Mehrheitsplan bezeichneten sie i m Prinzip als akzeptabel. Der Zionistische Kongreß in Zürich erörterte den Teilungsplan, stellte aber seine endgültige Stellungnahme bis zur Abstimmung i n der Vollversammlung zurück. Die zionistischen Führer akzeptierten das Prinzip der Teilung und konzentrierten ihre Anstrengungen auf die Gewinnung der für den Teilungsbeschluß erforderlichen Stimmen und auf die Verteidigung des ihnen nach dem Mehrheitsplan zugewiesenen Gebietes gegenüber den Kräften, die für einen kleineren jüdischen Staat, insbesondere den Ausschluß des Negev eintraten. Die arabische Seite lehnte beide Pläne ab. Sie organisierte Streiks und Demonstrationen. Sie bezeichnete beide Pläne als illegal und drohte m i t bewaffnetem Widerstand, falls ein solcher Plan durchgesetzt werden sollte. Der Vollversammlung lagen auf ihrer zweiten ordentlichen Sitzung i m September 1947 m i t dem UNSCOP-Bericht der von Großbritannien bereits früher vorgelegte Tagesordnungspunkt „Palästinafrage" sowie ein gemeinsamer Antrag Saudisch-Arabiens und des Iraks bezüglich der Beendigung des Palästina-Mandats und seiner Anerkennung als unabhängiger und einheitlicher Staat vor. Es war klar, daß die Vollversammlung sich vornehmlich m i t den Teilungsplänen befassen würde. Wichtig war insbesondere die Haltung Großbritanniens und die Stellung der Großmächte. Die Annahme eines Beschlusses bedurfte der Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder. Statt wie üblich alle politischen Fragen der Tagesordnung dem Politischen Sonderausschuß zuzuweisen, setzte die Vollversammlung aus verfahrenstechnischen Gründen für die Palästinafrage einen eigenen A d Hoc-Ausschuß ein 2 7 . I n diesem Ausschuß waren alle Mitglieder vertreten. Der A d Hoc-Ausschuß verfuhr eigenartig: Er schuf drei Unterausschüsse. Normalerweise werden derartigen Unterausschüssen oder Arbeitsgrup27

Ad Hoc Committee on Palestine.

17. Kap. : Die Palästinafrage vor den Vereinten Nationen

293

pen bestimmte Sachprobleme übertragen, etwa Grenz-, Verfassung-, Minderheitenfragen 28 . Der A d Hoc-Ausschuß ging anders vor. Unterausschuß I sollte auf der Grundlage des Mehrheitsplanes der UNSCOP einen Teilungsplan ausarbeiten. I n dem Unterausschuß waren die neun Mitglieder des A d Hoc-Ausschusses vertreten, deren Staaten für die Teilung waren 2 9 . Unterausschuß II sollte einen Plan aufgrund des Irakisch-SaudischArabischen Antrages, dem sich Syrien angeschlossen hatte, ausarbeiten. Dieser Plan lief auf einen arabisch-palästinensischen Einheitsstaat m i t Minderheitenschutz für die Juden hinaus. I n i h m waren die sechs arabischen Staaten sowie die pro-arabischen moslemischen Staaten Pakistan und Afghanistan vertreten. Der einzige neutrale Staat, Kolumbien, zog sich wegen eben dieser Zusammensetzung zurück. Unterausschuß III schließlich sollte die Vorschläge beider Unterausschüsse zur Deckung bringen. Der Vorsitzende des A d Hoc-Ausschusses hatte gehofft, deren Vorschläge würden soviel Gemeinsames enthalten, daß ein Kompromiß möglich wäre; Aufgabe des Unterausschusses I I I sollte es sein, diesen Kompromiß zu finden. Dem Unterausschuß gehörten außer dem Vorsitzenden (Australien) noch die Vertreter von Siam und Island an. Zumindest i m Nachhinein kann man dieses Verfahren nur als verfehlt ansehen. Die Pläne für die Teilung und für den Einheitsstaat konnten nichts gemein haben; ihre getrennte Ausarbeitung mußte das Gegensätzliche potenzieren. Die Gruppierung der Vertreter nach ihrer Einstellung für die eine oder andere Lösung mußte jede Annäherung verhindern und die Fronten verhärten. Die Vorstellung, in einem dritten, i n jeder Beziehung schwach besetzten, Ausschuß die antagonistisch entwickelten Pläne vereinen zu können, erscheint als seltsame Illusion. I n der Sache wurde damit weitgehend vorwegentschieden. Falls die Vollversammlung sich überhaupt m i t der erforderlichen Zweidrittelmehrheit entscheiden konnte, was noch keineswegs sicher war, dann konnte es nur auf der Grundlage des vom Unterausschuß I ausgearbeiteten Teilungsplanes sein. Er hatte das Gewicht der Mehrheit i m UNSCOP und der Mehrheit des A d Hoc-Ausschusses, also der Mehrheit der Vollversammlung für sich. I h m gegenüber stand die Alternative des Einheitstaates, der nur von den moslemischen Staaten vertreten wurde. Gegenüber dem Minderheitsplan der UNS COP-Al ternati ve (Föderation) mußte er als noch weiter abgerücktes Extrem erscheinen. Er kam denn 28 Derartige Arbeitsgruppen wurden innerhalb der Unterausschüsse errichtet. 29 USA, Sowjetunion, Kanada, Tschechoslowakei, Guatemala, Polen, Südafrika, Uruguay, Venezuela.

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auch nicht vor die Vollversammlung, sondern wurde i m A d Hoc-Ausschuß mit 29 zu 12 Stimmen bei 14 Enthaltungen abgelehnt. Nur der Teilungsplan des Unterausschusses I I wurde vom A d Hoc-Ausschuß mit 25 zu 13 Stimmen bei 17 Enthaltungen angenommen und kam vor die Vollversammlung. Der Teilungsplan, über den schließlich votiert wurde, kam so ohne jede arabische M i t w i r k u n g zustande. I m Unterausschuß I arbeiteten die zionistischen Vertreter sehr aktiv mit, während das Arabische Hohe Komitee den Ausschuß boykottierte. So flössen keinerlei arabische Vorstellungen i n den Plan ein, und die arabischen Vertreter hatten zu i h m kein Verhältnis, d. h. sie hielten ihn für ein zionistisches und anti-arabisches Diktat. Ihre Arbeit erschöpfte sich i m Unterausschuß II, der eine innermoslemische Angelegenheit blieb. Auf der Strecke blieb der M i n derheitsplan (Föderative Lösung) der UNSCOP. Weder er noch ähnliche Kompromißlösungen wurden i n den beiden Unterausschüssen erörtert. Von Bedeutung aus dem ansonsten nicht weiter erörterten Bericht des Unterausschusses I I wurde i n der weiteren Diskussion die Empfehlung, dem Internationalen Gerichtshof i m Haag acht Punkte zur Entscheidung vorzulegen 30 . Sechs Punkte betrafen Verpflichtungen aus dem Palästinamandat und den inzwischen eingetretenen Änderungen und mögen hier dahinstehen. Frage V I I stellte die Zuständigkeit der V N infrage, ohne vorherige Zustimmung der Bevölkerung die Teilung oder Treuhandschaft Palästinas zu empfehlen. Frage V I I I forderte einen Gerichtsspruch darüber, ob die V N oder eines ihrer Mitglieder zuständig sei für die Durchsetzung oder Empfehlung der Durchsetzung eines Vorschlages, der die Fortführung und Zukunft der Regierung i n Palästina betraf. Insbesondere gelte dies für irgendwelche Teilungspläne, die i m Widerspruch zu den Wüschen der Bevölkerung stünden oder ohne deren Zustimmung angenommen seien. Dieser Punkt der Vorlage war i m A d Hoc-Ausschuß sehr knapp, m i t 21 zu 20 Stimmen bei 13 Enthaltungen abgelehnt worden 3 1 . Die Vollversammlung erörterte den Teilungsplan vom 26. bis 29. November 1947. Die für die Annahme erforderliche Zweidrittelmehrheit war zunächst keineswegs gesichert. Die Gruppe der arabischen und islamischen Staaten bekämpfte die Teilung erbittert. Erst gegen Ende der Diskussion bildete sich eine schmale Mehrheit für die Annahme des Teilungsplanes. Die arabische Seite versuchte, die Abstimmung zu verhindern oder zu verzögern. Nachdem ihr Antrag, den Internationalen Gerichtshof zu befassen, nicht durchgedrungen war, brachte der libanesische Vertreter am letzten Tag (29. November 1947) einen Plan für eine andere föde30

Gemäß Art. 96 SVN; Kap. 4 Statut des Internationalen Gerichtshofes. Auch die Sowjetunion hatte gegen die Vorlage an den Internationalen Gerichtshof gestimmt. 31

17. Kap. : Die Palästinafrage vor den Vereinten Nationen

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rative Lösung ein, für den er eine Einigungsmöglichkeit i n Aussicht stellte. Aber dieser Plan lag zu nahe an dem von den Arabern gleichfalls abgelehnten Minderheitsplan, und die Mehrheit der Mitglieder sah hierin nur eine Verschleppung und hielt eine erneute Erörterung für zwecklos 32 . M i t der berühmten Entschließung 181 (II) von 1947 wurde der Teilungsplan schließlich m i t 33 gegen 11 Stimmen bei 10 Enthaltungen angenommen 33 . Der Teilungsbeschluß folgte weitgehend dem UNSCOP-Mehrheitsplan. Das britische Mandat sollte beendet und die britischen Truppen sollten so bald wie möglich, spätestens bis zum 1. August 1948 abgezogen werden. Palästina sollte in zwei unabhängige Staaten, einen arabischen und einen jüdischen Staat geteilt werden. Jerusalem sollte eine besondere politische Einheit unter internationaler Verwaltung werden; der Treuhandschaftsrat sollte hierfür ein detailliertes Statut ausarbeiten. Die drei Teilgebiete sollten durch eine Wirtschaftsunion verbunden werden. 3. Das Verhalten der Betroffenen Die jüdische Seite mit ihren verschiedenen Gremien, insbesondere die Jewish Agency, akzeptierte den Teilungsbeschluß; nur wenige radikale Gruppen lehnten ihn ab. Die israelische Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948, die mangels einer israelischen Verfassung noch immer eine A r t staatsrechtlicher Grundlage Israels bildet, berief und stützte sich auf den Teilungsbeschluß 34 . Alle arabischen Sprecher, die arabischen Staaten, die Arabische Liga und das Arabische Hohe Komitee haben den Teilungsbeschluß abgelehnt. Sie hielten ihn für unverbindlich und sachlich und verfahrensmäßig rechtswidrig; jeder Versuch zur Durchsetzung des Beschlusses sei illegal, gegen den allen Arabern das Notwehrrecht zustehe. Dies ist unverändert die arabische Rechtsaaiffassung geblieben 35 , wenn auch i n der Folgezeit 32 33

s. Riggs, S. 61.

Für die Annahme stimmten: Australien, Belgien, Weißrussische SSR, Bolivien, Brasilien, Costa Rica, Dänemark, Dominikanische Republik, Ekuador, Frankreich, Guatemala, Haiti, Island, Liberien, Luxemburg, Neuseeland, Niederlande, Nikaragua, Norwegen, Panama, Paraguay, Peru, Philippinen, Polen, Schweden, Sowjetunion, Südafrikanische Union, Ukrainische SSR, Uruguay, U.S.A., Venezuela. Gegen die Annahme stimmten: Afghanistan, Ägypten, Griechenland, Indien, Irak, Iran, Jemen, Kuba, Libanon, Pakistan, Saudi-Arabien, Syrien, Türkei. Stimmenthaltungen : Argentinien, Äthiopien, Chile, China, El Salvador, Großbritannien, Honduras, Jugoslawien, Kolumbia, Mexiko. 34 35

Abgedruckt z. B. in Laqueur, Dok. 26.

s. etwa Egypt and the UN, S. 84 f.

296

5. T e i l : Jüdische E r f ü l l u n g und Arabische Niederlage

die Araber von Israel ein Zurückweichen auf die i m Teilungsbeschluß vorgesehenen Grenzen forderten. — Die Araber wiederholten alle Vorwürfe, die sie gegen BalfourErklärung, Palästinamandat und Nationalheimpolitik vorgebracht hatten 3 6 . — Aufgabe der V N sei es, das vom V B verübte Unrecht wieder ungeschehen zu machen und Palästina zu einem unabhängigen Staat zu erklären. Die juristische Argumentation stützt sich auf die Formulierungen der SVN, die vom Selbstbestimmungsrecht der Völker (Art. 1 Ziffer 2) und der Unabhängigkeit (Art. 76 Ziffer b) sprechen, und wiederholt somit den anläßlich des P M gezeigten Widerspruch von programmatischen Gestaltungsprinzipien und dem durch positive Normen gestützten status quo. I n arabischer Sicht waren die Formulierungen über das Selbstbestimmungsrecht und die nationale Unabhängigkeit der Völker die Grundprinzipien der neuen Weltordnung, vor denen alle entgegenstehenden Verhältnisse und Normen weichen müßten. Aufgrund dieser Formulierungen hat z. B. Ägypten sich berechtigt geglaubt, den sofortigen Abzug britischer Truppen aus Ägypten 3 7 und die sofortige Unabhängigkeit der nordafrikanischen Gebiete von Frankreich 3 8 zu fordern. Beide Gruppen, die die volle Unabhängigkeit erstrebenden Völker und die Kolonialmächte haben die SVN insoweit in zwei getrennte Teile zerlegt, von denen jede Gruppe einen Teil als ihre Charta angesehen hat: die die Unabhängigkeit erstrebenden Völker sahen die Formulierungen über Selbstbestimmungsrecht und Unabhängigkeit als ihre Charata an, die alle überkommenen Beherrschungsverhältnisse radikal negierte; diej Kolonialmächte dagegen, die den status quo erhaltenden Bestimmungen wie die A r t i k e l über ihre Hegemonialstellung i m Sicherheitsrat, die Beschränkung der V N auf die Bedrohung internationalen Friedens und die ausschließlich nationale Zuständigkeit des Art. 2 V I I . Während die Kolonialmächte dazu tendierten, Kapitel X I der SVN zum Programm ohne normative Geltung abzuwerten, sahen die noch nicht voll Unabhängigen hierin verbindliche Normen. Als diese Staaten sahen, daß sich diese Proklamationen gegenüber machtpolitischem status quo höchstens langsam durchsetzen könnten, haben sie zeitweise die V N als bloße Fassade für Machtpolitik und zunehmend m i t westlich-imperialistischer Politik gleichgesetzt 39 — genauso wie Deutschland nach dem 1. Weltkrieg den V B als eine von Frankreich und Großbritannien geführte Koalition ansah. — Der Teilungsbeschluß der V N — wie immer er zu qualifizieren sei — sei eine bloße Empfehlung und als solche unverbindlich. Unverbind36 37 38 39

s. 12. Kapitel. Egypt and the UN, Teil I I . Egypt and the UN, S. 83 ff. s. etwa Egypt and the UN, Teil I I .

17. Kap. : Die Palästinafrage vor den Vereinten Nationen

297

liehe Empfehlungen könnten nicht zwangsweise durchgesetzt werden. I m übrigen könne die Vollversammlung nur an Mitgliedstaaten Empfehlungen richten; Palästina sei aber zu dieser Zeit noch kein Mitgliedstaat gewesen. Der unverbindliche Charakter von Empfehlungen der Vollversammlung ist unbestreitbar 4 0 . — Die Araber bestritten die Zuständigkeit der VN zu dem Teilungsbeschluß. Die SVN sehe die Unabhängigkeit der Nationen vor und gebe ihren Organen kein Recht, Palästina gegen den Willen seiner Bevölkerung zu teilen. Das Mandat sei zu beenden; maßgebend sei der Wille der Bevölkerung; auch 1947 seien zwei D r i t t e l der Bevölkerung Araber gewesen. N u r der Wille der tatsächlichen Bevölkerung könne maßgebend sein. Die juristische Argumentation w i r d hier kompliziert. Man kann fragen, ob Großbritannien, das unter dem P M die volle Legislativ- und Regierungsgewalt besaß, sie an die V N übertragen hatte; ob diese Übertragung zulässig war; ob Großbritannien selbst zur Teilung berechtigt gewesen wäre. Letztlich taucht die alte Frage der Mandatszeit wieder auf, wem die Souveränität über die Mandatsgebiete zustand. Zur Klärung der Zuständigkeitsfrage forderten die Araber, ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofes einzuholen 41 . Während ihre eigenen Palästinapläne i m allgemeinen v o l l unterlagen, wurde dieser Antrag nur m i t einer Stimme Mehrheit abgelehnt 42 . — Vor allem sehen die Araber i m Teilungsbeschluß eine imperialistische Machenschaft. N u r unter außergewöhnlichem Druck der USA sei der Beschluß zustande gekommen. Die Mitglieder und ihre Vertreter i n der Vollversammlung seien von den USA z. T. gegen ihren Willen gezwungen worden, für die Teilung zu stimmen. Hierfür führen sie eine Reihe von Tatsachen u n d Aussagen von Diplomaten an 4 3 . Die politologische Forschung hat die Vorgänge u m das Zustandekommen des Teilungsbeschlusses untersucht und zu einem differenzierteren Ergebnis geführt 4 4 . Es ist richtig, daß die USA i n außergewöhnlichem Maße zugunsten des Teilungsbeschlusses interveniert, und daß sie erheblichen Druck auf einige Staaten ausgeübt haben. Trotzdem kann der US40

s. 17. Kapitel 1. Der Gerichtshof sollte klären, ob die V N die Befugnis haben, „to enforce or recommend the enforcement o f . . . any plan of partition which is contrary to the wishes or adopted without the consent of the inhabitants of Palestine". 41

42 43 44

Nachweise bei Riggs.

Nachweise bei Glick , Kapitel V I . Riggs, a.a.O.; P. B. Potter, The Palestine Problem Before the UN, AJ 42 (1948), S. 861; Kermit Roosevelt, The Partition of Palestine: A Lesson in Pressure Politics, 2 The Middle East Journal 1948, S. 1 ff.; Lilienthal (vor I. Teil), Kapitel I I I ff.; Glick; R. P. Stevens, American Zionism and U.S. Foreign Policy 1942 - 1947 (New York 1962).

298

5. T e i l : Jüdische Erfüllung u n d Arabische Niederlage

Imperialismus — was immer man darunter verstehen w i l l — kaum dafür verantwortlich gemacht werden. Der Teilungsbeschluß kam m i t den Stimmen des Ostblocks zustande, während einige traditionell imperialistische Staaten keineswegs für die Teilung waren. — Der Teilungsbeschluß wurde m i t den Stimmen der Sowjetunion beschlossen; die Sowjetunion brachte m i t ihrer eigentlichen Stimme noch die Stimmen der Weißrussischen und der Ukrainischen Republik 4 5 sowie die Stimmen Polens und der Tschechoslowakei ein. Gerade die Sowjetunion war zu dieser Zeit pro-israelisch eingestellt; sie wollte Großbritannien aus Palästina vertreiben und unterhielt bis 1955 keine diplomatischen Beziehungen zu den arabischen Staaten. Es ließe sich aus allen Verhandlungen nachweisen, daß die Sowjetunion sehr aktiv für die Staatsgründung Israels eingetreten war und i m allgemeinen stärker antiarabisch war als die Westmächte. I n den entsprechenden Gremien, insbesondere i n dem Unterausschuß I setzte sich die Sowjetunion voll für die israelischen Wünsche ein und trat für die Zuschlagung des Negev an Israel ein 4 6 . I n der Folgezeit hat die Sowjetunion sich für die bedingungslose und gewaltsame Durchsetzung des Teilungsbeschlusses eingesetzt. Sie hat den arabischen Widerstand gegen den Teilungsbeschluß i n scharfen Worten verurteilt und hat die USA, als sie sich vor der israelischen Unabhängigkeitserklärung zugunsten einer ungeteilten Treuhandschaft aussprach, wegen imperialistischer Machenschaften verurteilt. Nach derUnabhängigkeitserklärung hat sich die Sowjetunion m i t den USA auf einen Wettlauf um die Anerkennung Israels eingelassen; den Wettlauf hat sie zwar zeitlich um ein weniges verloren, aber während die USA zunächst Israel nur de facto anerkannten, erkannte sie Israel sofort de iure an 4 7 . — Die übrigen als imperialistisch qualifizierten Staaten waren kaum pro-zionistisch. Großbritannien lag zu dieser Zeit mit den Zionisten i n Palästina i n einer A r t von Krieg, der von zionistischer Seite m i t terroristischen M i t teln geführt wurde und die britische Stimmung antizionistisch werden ließ. Britische Soldaten verloren bei Überfällen von Terroristen ihr Leben; einige wurden von ihnen als Geiseln erhängt. Die zionistische Politik der illegalen Einwanderung brachte Großbritannien in eine unhaltbare Lage; die zionistische Propaganda qualifizierte die britische Politik als nazistisch. So konnten die Zionisten auf der Ebene der V N 45 U m die Stimmenunterlegenheit der von der Sowjetunion geführten Gruppe etwas auszugleichen, wurden beide Gliedstaaten der Sowjetunion als Mitglieder aufgenommen; s. Dahm, I I § 35 Anm. 7.

46 47

s. Elath, S. 17.

Zu diesem ziemlich theoretischen Unterschied WBVR, „Anerkennung" E 3.

17. Kap. : Die Palästinafrage vor den Vereinten Nationen

299

keine britische Hilfe erwarten. Soweit Großbritannien hier überhaupt mitarbeitete, vertrat es eher arabische Interessen. Zum Beispiel versuchte es den Einschluß des Negev i n den jüdischen Staat zu verhindern, indem es erstmals Unterlagen über die Zahl der Beduinen i m Negev vorlegte. Bei der Abstimmung enthielt sich Großbritannien der Stimme. Frankreich war nie sonderlich pro-zionistisch; die französisch-israelische Verbindung kam erst nach 1953 zustande. 1947 schwankte es lange. Es stimmte schließlich für den Teilungsplan, mußte aber mit erheblichen Anstrengungen dazu gebracht werden. Keinesfalls hat sich Frankreich sonderlich für den Teilungsbeschluß eingesetzt. — Selbst für die USA muß zumindest einiges gesagt werden. Wie schon bei der Balfour-Erklärung für Großbritannien zu beobachten war 4 8 , können (gerade die Exponenten des Imperialismus kaum für die pro-israelische Politik der Westmächte verantwortlich gemacht werden. Die Exponenten des US-Imperialismus, das US-Außenministerium und das US-Verteidigungsministerium haben sich gegen das pro-zionistische Engagement der USA ausgesprochen; ihre politischen, militärischen und wirtschaftlichen Interessen sprachen dagegen. Die USA mußten i m beginnenden Ost-Westkonflikt darauf sehen, daß der arabische Raum prowestlich eingestellt blieb; nichts hat die Araber stärker antiwestlich und insbesondere anti-amerikanisch werden lassen als das pro-israelische Engagement des Westens und insbesondere der USA. Dies ließe sich m i t der gesamten Geschichte des arabischen Raumes seit dem 2. Weltkrieg beweisen. Während Großbritannien und Frankreich noch überkommene Beherrschungsverhältnisse liquidieren mußten, hätten die) USA unbelastet ihre Position i m arabischen Räume ausbauen können, wenn nicht ihr pro-israelisches Engagement gewesen wäre. Viele verantwortliche Politiker haben diesen Interessenkonflikt klar vorausgesehen und sich daher gegen ein pro-zionistisches Engagement ausgesprochen. Nicht nur zionistische Politiker, sondern selbst Truman hat das State Departement daher schlicht als antisemitisch (weil gegen die nationaljüdische Bestrebung gerichtet) bezeichnet. Auch der nichtstaatliche Hauptexponent des US-Imperialismus, die amerikanischen Ölgesellschaften, deren Förderungsgebiete und Ölleitungen i m arabischen Räume lagen, sahen sich durch ein pro-zionistisches Engagement der USA bedroht. Die arabischen Regierungen haben von Anfang an m i t dem Entzug der Ölkonzessionen gedroht, falls die USA sich für die Teilung aussprechen würden 4 9 . Dementsprechend war die mächtige öllobby pro-arabisch i n dem Sinne, daß sie sich stets gegen das pro-zionistische Engagement der USA gewandt, ihren Einfluß entspre48

49

6.Kapitell.

Nachweise Riggs, S. 46 f.

300

5. T e i l : Jüdische E r f ü l l u n g u n d Arabische Niederlage

chend geltend gemacht und i m pro-arabischen Sinne agiert (oder, aus israelischer Sicht: intrigiert) hat 5 0 . Die Abstimmung über den Teilungsbeschluß war vielmehr ein innenpolitisches Thema der USA geworden, und die amerikanischen Zionisten orchestrierten die Unterstützung durch amerikanische Politiker i m Inund Ausland meisterlich. Das läßt sich m i t einer Reihe zionistischer und pro-zionistischer Autoren belegen 51 . Das Schrifttum hat ausführlich dargestellt, wie die zionistischen Organisationen des US-Judentums i n jeder amerikanischen Stadt absolut jeden bestürmten, der für ein öffentliches A m t infrage kam. Abgeordnete beider Häuser des Bundes und der Parlamente der Einzelstaaten, viele Gouverneure, Bürgermeister und sonstige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens engagierten sich i n öffentlichen Stellungnahmen und i n Telegrammen an den Präsidenten für den Teilungsbeschluß. Die Legislativen der meisten Einzelstaaten haben entsprechende Resolutionen gefaßt. I m Wahlkampf wurde der Teilungsbeschluß ein wichtiges Thema und Wahlversprechen beider Parteien; die „Jewish vote" ist seitdem ein topos der amerikanischen Politologie 52 . Der Druck wurde vor allem auf Truman ausgeübt, und Truman lenkte mehrfach die amerikanische Politik i m pro-zionistischen Sinne. Hierfür werden insbesondere zwei Beispiele genannt. Während der Verhandlungen in den Unterausschüssen 53 ging es vor allem um die Grenzen des vorgesehenen jüdischen Staates und insbesondere um den Negev. Das USAußenministerium hatte die US-Delegation ausdrücklich angewiesen, gegen den Einschluß des Negev einzutreten. I n einer dramatischen Zusammenkunft mit Truman glückte es Weizmann, den Präsidenten für den Einschluß des Negev zu gewinnen, und Truman wies im letzten Augenblick die US-Delegation unter Ubergehung seines Außenministeriums entsprechend an 5 4 . Und als gegen Ende der Mandatszeit die US-Delegation vom Teilungsplan abrückte und für eine Treuhandschaft eintrat, erkannte Truman unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung Israels den jüdischen Staat an, während seine Delegation noch den Treuhandschaftsplan verteidigte.

Da der Teilungsbeschluß einer Zweidrittelmehrheit bedurfte, kam es darauf an, inwieweit die Zionisten und die USA weitere Mitgliedstaaten für den Beschluß gewinnen konnten. Hier hielten sich die USA lange 50 Zu den Problemen und der Politik der ölgesellschaften s. etwa St. H. Longrigg, Oil in the Middle East, Its Discovery and Development, 2. Aufl. (London 1961); R. Engler, The Politics of Oil. A Study of Private Power and Democratic Directions (New York 1959); B. Shwadran, The Middle East, Oil and the Great Powers, 2. Aufl. (New York 1959); Ch. Issawi and M. Yeganeh, The Economy of Middle East Oil (London 1962) ; G. Lenczowski, Oil and State in the Middle East (Ithaca 1960). 51 ζ. B. Horowitz, Elath, bezüglich der Verbindung zu Truman.

52

53

54

Lilienthal, Kapitel V. 17. Kapitel 2.

s. Elath, S. 22.

17. Kap. : Die Palästinafrage v o r den Vereinten Nationen

301

zurück. Der US-Delegierte sprach sich erst i m letzten Moment vor Schluß der Debatte i m A d Hoc-Ausschuß (am 11. Oktober 1947) für den Teilungsplan der Mehrheit aus 55 . A u f andere Staaten w i r k t e n die USA zunächst nicht ein. Erst als gegen Ende der Verhandlungen i n der Vollversammlung die erforderliche Zweidrittelmehrheit gefährdet schien, haben die USA andere Staaten zu beeinflussen gesucht. Erst i n diesem Zeitpunkt kann man von massiven und kombinierten zionistisch-amerikanischem Druck sprechen. Dieser Druck zeigte sich auf mehreren Ebenen: die pro-zionistische Seite versuchte, die einzelnen Delegationen zu bewegen; oft mußten dort erst einheimische pressure-groups auf die Heimatregierungen angesetzt werden. Die zionistische Zentrale i n LakeSuccess war ein weltumspannendes Hauptquartier, das keine Möglichkeit und keinen Kanal ausließ. Pro-zionistische Persönlichkeiten innerhalb und außerhalb der USA wurden systematisch eingesetzt, um zögernde oder nicht für den Teilungsbeschluß engagierte Regierungen zu überzeugen. So wurden z. B. 26 pro-zionistische US-Senatoren veranlaßt, ein gemeinsames Telegramm an die Regierung der Philippinen zu senden. Die liberianische Regierung scheint weitgehend von der i n Liberia einflußreichen US-Firma Firestone für ihre Stimmabgabe bestimmt worden zu sein. Das M i t t e l der US-Auslandshilfe und die Drohung m i t ihrem Entzug scheint weidlich eingesetzt worden zu sein. Inwieweit die Beeinflussung das Maß des i n der Außenpolitik Üblichen überschritt, ist i n den meisten Fällen strittig. Es werden massive Bestechungen namentlich genannter Vertreter gemeldet; einige sollen gegen ihren Willen und „ m i t Tränen i n den Augen" abgestimmt haben; all das w i r d wieder bestritten. Eine pro-arabische Sicht kann einige krasse Fälle aufzeigen 56 , die sich dann für eine Verallgemeinerung anbieten. So leicht lassen sich diese Fälle aber nicht verallgemeinern. Liest man das Abstimmungsergebnis, so zeigt sich, daß Staaten dem US-Druck widerstehen konnten und widerstanden haben, die vor 1950 als bedingungslose Satelliten der USA galten wie Griechenland 57 , das Kuba Battistas, sonstige lateinamerikanische Staaten. Andere Staaten enthielten sich der Stimme, wie m i t tel- und südamerikanische Staaten, Äthiopien, Nationalchina. I m übrigen waren damals die USA die unbestrittene westliche Führungsmacht und die meisten VN-Mitglieder — soweit sie nicht islamisch waren — waren deshalb geneigt, den USA zu folgen. Soweit sie US-Hilfe erwarteten, bedurfte es keines großen Druckes. Schließlich haben auch vertretbare Gründe die Mehrheit für den Teilungsbeschluß bestimmt. Zwar hielt kaum ein Staat die Teilung für eine sonderlich gerechte Lösung. Aber sie bot sich als einziger Weg oder als das kleinere Übel an. 55

A m 13. Oktober 1947 folgte ihm der sowjetische Vertreter. Genannt werden etwa Haiti und die Philippinen; Nachweise bei Glich. Wegen seiner in Ägypten lebenden Minderheit stimmte Griechenland zugunsten der Araber. 56

57

302

5. Teil : Jüdische Erfüllung und Arabische Niederlage

Denn jede andere Lösung hätte gegen die jüdische Gemeinschaft ausfallen müssen und hätte gleichfalls Krieg und sicheres Chaos bedeutet. U n d i m beginnenden kalten Krieg und der Blockierung des Systems der V N war die Einigung der USA m i t der Sowjetunion nicht nur eine Überraschung, sondern auch eine Hoffnung für die Zukunft. Welchen politischen Sinn hätte — aus nicht-arabischer Sicht — 1947 eine Stimmabgabe gegen die USA und gegen die Sowjetunion haben können? Als letztes w i r d schließlich bemerkt, daß auch die arabische Seite versucht hat, massiven Druck gegen die Stimmabgabe für einen Teilungsbeschluß auszuüben. Bereits ihre Hauptstrategie, die Welt davon zu überzeugen, daß die Teilung nur um den Preis eines Krieges erzwungen werden könnten und die Truppenkonzentration rund u m Palästina, können nur als Pression bezeichnet werden. Ägypten, Syrien und der Libanon habe das schwankende Frankreich unter Druck gesetzt; Hadsch A m i n soll Frankreich zugesagt haben, bei pro-arabischer Stimmabgabe die nordafrikanische Unabhängigkeitsbewegung nicht zu unterstützen. Die arabischen ölländer haben m i t der Verstaatlichung der ölgesellschaften gedroht. Kurz, auch die arabischen Staaten haben den ihnen möglichen Druck ausgeübt; sie sind i m Endergebnis lediglich (knapp) unterlegen. Die Verkehrung der Fronten gehört zu den Paradoxien um Palästina. Als vor den arabischen Drohungen gegen die Durchführung des Teilungsplanes die USA zurückwichen und stattdessen eine Treuhandschaft für Gesamtpalästina vorschlugen — was das jüdische Gemeinwesen nur knapp m i t der Unabhängigkeitserklärung vereitelte — kritisierte gerade die Sowjetunion das amerikanische Abrücken mit den heftigsten Worten. Damals qualifizierte sie dieses pro-arabische und antizionistische Eingehen auf die arabischen Wünsche als imperialistisch und meinte, die amerikanische Haltung sei ausschließlich von strategischen Überlegungen und vor allem durch die US-Ölinteressen i n den arabischen Staaten bestimmt. < Marxistische Gruppen organisierten damals i n den USAj Demonstrationen zugunsten des Teilungsplanes, da ihnen das Abrücken vom Teilungsplan eine Manipulation des US-Ölimperialismus schien; und Lilienthal berichtet, daß er damals seine antizionistischen Aufsätze nur i n „reaktionären" Blättern veröffentlichen konnte, nicht i n „liberalen" 5 8 . Als Teil der imperialistischen Machenschaften empfanden die Araber insbesondere auch das Vorgehen der zionistischen und allgemein der amerikanischen Presse 59. Es ist iklar, daß die Araber i n dem Staate, i n dem damals der Kampf u m Palästina geführt wurde, i n den USA, den Zionisten und Pro-Zionisten hoffnungslos unterlegen waren. Das be58 59

Lilienthal, S. 73,144.

Allgemein hierzu: James Batal, Zionist Influence in the American Press (Beirut, Nasser Press 1956).

17. Kap. : Die Palästinafrage vor den Vereinten Nationen

303

dürfte keiner Ausführungen. Aber die Araber empfinden die A r t der gegen sie geführten Pressekampagne als ungerecht und letztlich als Beweis dafür, daß der Westen ihnen gegenüber grundsätzlich amoralisch handelt. Denn die Politik der zionistischen und prozionistischen Presse bemühte sich mit Erfolg, die Araber i n der Weltmeinung i n die deutschen Vernichtungsaktionen zu implizieren und sie damit als moralisch verwerflich zu qualifizieren. Dazu muß man sich bewußt sein, daß die Weltorganisation der V N ihrer Entstehung nach eine Kriegskoalition gegen die Achsenmächte war, und Gründungsmitglied konnte nur sein, wer Deutschland den Krieg erklärt hatte. I n einer solchen koalitionsartigen Organisation konnte z. B. später noch einem beitrittswilligen Staat entgegengehalten werden, er erfülle nicht die Voraussetzungen der VN, sei nicht „friedliebend" i m Sinne des Art. 4 Ziffer 1 der VNS, weil er Deutschland nicht den Krieg erklärt hatte 6 0 . Bei dieser manichäistischen Weltsicht mußten die Araber und ihre politischen Ziele bereits durch den Nachweis mangelnder Unterstützung der alliierten Kriegsanstrengungen diskreditiert werden; gar eine Verbindung zu den Achsenmächten mußte sie mehr oder weniger aus dem Kreis der Handelnden ausschließen. Beides hat die zionistische und pro-zionistische Propaganda ausgiebig getan 61 , sie hat darüber hinaus einige arabische Führer m i t den deutschen Vernichtungsaktionen i n Verbindung gebracht. Die arabische Politik i m 2. Weltkrieg kann hier nicht dargelegt werden. Es ist selbstverständlich, daß die arabischen Sympathien nicht bei den Briten und Franzosen lagen, deren Herrschaft sie abschütteln wollten. Wie sehr sich auch Deutschland außerhalb der Völkergemeinschaft gestellt hatte, dies war nicht ihr Krieg und ihre Haltung war abwartend. Denn auch die Achsenmächte hatten für sie wenig zu bieten: Italien gehörte i n Libyen selbst zu den Kolonialmächten, und Deutschland war außerhalb seines unmittelbaren Einflußbereichs erstaunlich inaktiv. So mußte es z. B. in Syrien an Vichy-französischem status quo interessiert sein. Es gab keine offiziellen Versprechungen für arabische Unabhängigkeit und keine Versuche, arabische Aufstände zu organisieren; lediglich den irakischen Aufstand von 1941 unterstützte Deutschland mit völl i g ungenügenden Mitteln 6 2 . Es ist verständlich, daß diese schwachen Versuche, die Radiosendungen, die gegenseitigen Besuche, die Gewehrlieferungen und einige Agenten während des Krieges von der Gegen60 61

s. Dahm, I I § 36 I I 2.

z. B. The Arab War Effort. A documentary Account. Herausgegeben von The American Christian Palestine Committee (New York 1946); allgemein zu „Zionism and Christian America" : Halperin, Kapitel 7. 62 Die beste Darstellung ist z. Z. L. Hirszowicz, The Third Reich and the Arab East (London 1966).

5. Teil: Jüdische E r f ü l l u n g u n d Arabische Niederlage

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seite überbewertet wurden. Charakteristisch für die Nachkriegspropaganda aber war die moralische Disqualifizierung der arabischen Haltung und die selbstverständliche Übertragung europäischer Kategorien auf die arabische Welt, i n der sie sinnlos waren. So bezeichneten z. B. auch nichtzionistische Autoren Raschid Ahlis Vorgehen gegen Großbritannien i m Irak als „nazistisch" und sprechen von „arabischen Quislingen". I n arabischer Sicht sieht alles anders aus: Rashid A h l i hatte sich vor allem dem britischen Druck widersetzt, Deutschland den Krieg zu erklären. Die eigentliche Disqualifizierungskampagne begann bei der Frage der Zulassung des Arabischen Hohen Komittees vor den Ausschüssen der V N und konzentrierte sich auf die Führung, nämlich auf Hadsch A m i n und E m i l Ghouri 6 3 . Das amerikanische Pressesyndikat „The Nation Associates" veröffentlichte für die Delegierten der V N eine Zusammenstellung erbeuteter Dokumente, um die Zusammenarbeit der Führung des Arabischen Hohen Komitees m i t den Achsenmächten zu beweisen 64 . Eine ganze Serie von Veröffentlichungen stellte Hadsch A m i n i n den Mittelpunkt der deutschen antijüdischen Vernichtungsaktionen 65 . Die Geschichte Hadsch Amins ist noch nicht geschrieben 66 . Seine Politik hat sein Volk i n die Flüchtlingslager geführt. Er war skrupellos i m Gebrauch der Macht gegen die Juden und gegen arabische Konkurrenten. Daß er sich i m Kriege auf die deutsche Seite geschlagen hatte und die deutschen Kriegsanstrengungen unterstützte, kann i h m niemand vorwerfen; diese Situation ergab sich für ihn zwangsläufig. Der gesamte britisch-beherrschte arabische Raum war i h m verschlossen. Aber nach zionistischer Darstellung war Hadsch A m i n Initiator der Vernichtungsaktionen, war Mitarbeiter und Berater Eichmanns und Himmlers gewesen 67 . Der für detektivische Akribie bekannte Wiesenthal schreibt, A m i n habe die Konzentrationslager Lager für Lager besucht und sich alle Grausamkeiten vorführen lassen 68 . Das Lexikon des Judentums bezeich63

Nachweise: Robinson, S. 128 ff., 137 Anm. 7; J. B. Schechtman, The Mufti

and the Fuehrer. The Rise and Fall of Haj Amin el-Husseini (New York 1965), S. 210 ff.; B. C. Crum, Behind the Silken Curtain (New York 1947). 64 The Arab Higher Committee, its Origins, Personal and Purposes. The Documentary Record submitted to the UN, M a i 1947, by the Nation Associates, New York. 65 M. P. Waters, Mufti Over the Middle East (London 1942) ; The Grand Mufti in World War I I , in: The Palestine Problem and Proposals for its Solution, a Nation Supplement (New York 17 M a i 1947); M. Pearlman, The Mufti of Jerusalem, The Story of Haj Amin al-Husseini (London 1947); 5. Wiesenthal, Großmufti - Großagent der Achse (Salzburg 1947); Zeitungsartikel von E. A. Mowrer in der New York Post vom 3. - 17. Juni 1946. 66 Die partiell objektivste Darstellung stammt von dem Jabotinski-Biographen und Revisionisten Schechtmann. 67

68

z. B. Schechtman, S. 160 ff.; Wiesenthal, S. 39.

S. 37.

17. Kap. : Die Palästinafrage vor den Vereinten Nationen

305

net ihn kurz als „Berater Hitlers und Himmlers i n den Vernichtungsaktionen gegen die Juden" 6 9 . Die vorliegenden Dokumente rechtfertigen diese Qualifizierung nicht, wie sich selbst aus Schechtmann ergibt 7 0 . Es scheint durch Dokumente erwiesen zu sein, daß Hadsch A m i n i m Europa des 2. Weltkriegs versucht hat, die Fluchtwege europäischer Juden über die Schwarzmeerhäfen nach Palästina zu sperren; entsprechende Schreiben von i h m an deutsche und rumänische Dienststellen liegen vor 7 1 . Dabei scheint er auch einmal die Flucht von 4000 jüdischen Kindern verhindert zu haben, deren Schicksal damit entschieden war. Doch wie immer man Hadsch A m i n beurteilen mag, der Araber sieht nicht ein, weshalb deutsche Bestialitäten gerade i h n und n u r i h n zur unbegrenzten Aufnahmebereitschaft hätten verpflichten sollen. M i t Recht fragt er, was denn die übrigen „zivilisierten Mächte" zur Rettung j ü d i scher Kinder getan hätten, die gerade erst i n Evian ihre Tore fest geschlossen hatten. Damit ist ein weiterer V o r w u r f der Araber angesprochen. Sie verweisen darauf, daß Palästina bereits 1945 mehr jüdische Emigranten aufgenommen hatte als viele der so moralisch argumentierenden V N - M i t glieder zusammen. Zwischen 1925 und 1945 haben die USA nur 250 000 Juden, Palästina dagegen 400 000 Juden aufgenommen. Und nun schickten sich eben diese europäisch-amerikanischen Führungsgruppen an, den Juden m i t überwiegend moralischer Begründung den größten Teil Palästinas zuzuweisen — arabisches Land i n ihren Augen. Angesichts der europäisch-amerikanischen eigenen Haltung konnten die Araber hierin nur Heuchelei sehen. Die Sicht formulierte der pakistanische Vertreter Zafrulla sarkastisch: "Australia, an overpopulated small country with congested areas says no, no, no; Canada, equally congested and overpopulated, says no; the United States, a great humanitarian country, a small area, with small resources says no. This is their contribution to the humanitarian principle. But they state: let them go into Palestine, where there are vast areas, a large economy and no trouble; they can easily be taken in there."

Ein letzter V o r w u r f gilt den nur, meinen die Araber, hätten weigert; auch die Zionistischen Juden hätten alles getan, u m 69

Juden und ihren Organisationen. Nicht die Staaten den Juden die Einreise verOrganisationen und die amerikanischen die Einwanderung zu verhindern. A u f

LJ, „Amin-el-Husseini". Schechtman zeigt selbst die Widersprüche auf, die zwischen den Aussagen Wisliceny (auf den sich die Implikation als Freund Himmlers und Eichmanns und als Berater hauptsächlich stützte) und Eichmanns bestehen, S. 160 f. 70

71

s. Schechtman, S. 154 ff.

20 Wagner

306

5. T e i l : Jüdische E r f ü l l u n g u n d Arabische Niederlage

jüdischer Seite erhebt der American Council for Judaism diesen Vorwurf; veröffentlichte Unterlagen scheinen hierüber bis jetzt zu fehlen 72 .

4. Probleme des Teilungsbeschlusses a) Unmöglichkeit eines befriedigenden Teilungsplanes für Palästina Nach dem 2. Weltkrieg wurden mehrere Völker und Gebiete geteilt. Die palästinensische Teilung hat m i t diesen Teilungen nichts gemein. I n Deutschland, Korea und Indochina haben Großmächte ihre Besatzungs- oder Einflußzonen aufgeteilt. Ihren Weltanschauungen entsprechend haben sie i n ihrem jeweiligen Gebiet eine ihren Vorstellungen entsprechende Staats- und Gesellschaftsordnung aufgebaut oder begünstigt. So sind historische Nationen auseinandergerissen worden. I n Palästina war es anders. Hier siedelten auf demselben Gebiet zwei Volksgruppen, die sich i m Laufe der Zeit als einander völlig gegensätzlich empfanden; jede Gruppe erstrebte für das gesamte Gebiet die Alleinherrschaft oder jedenfalls die einer Majorität zukommende Stellung. Anders aber als etwa Flamen und Wallonen lebten Araber und Juden zwar gesellschaftlich völlig getrennt, territorial jedoch gemischt: Das rein jüdische Tel A v i v und das rein arabische Jaffa waren nur durch die Hauptverkehrsstraße getrennt; Jerusalem war i n jüdische und arabische Stadtviertel geteilt und lag vom übrigen jüdischen Siedlungsgebiet völlig abgeschnitten; viele Agglomerationen hatten jüdische und arabische Teile; in vielen Gebieten wechselten jüdische und arabische Siedlungen einander ab. Die Juden hatten zudem begonnen, neue Siedlungen nach rein strategischen Gesichtspunkten anzulegen und sie oft mitten i n arabisch bewohnten (oder unbewohnten) Gebieten angelegt; letzteres galt etwa für den Negev. Die während der Mandatszeit vorgeschlagenen 73 und die schließlich von den V N beschlossenen Teilungspläne wurden oft als „unrealistisch" verurteilt; die vorgesehene Wirtschaftsunion der beiden Staaten wurde als lebensunfähiges Gebilde bezeichnet. Der K r i t i k e r hat Recht, aber kann keine mögliche Alternative geben. Wenn Politik die Kunst des Möglichen ist und wenn die politische Lösung das kleinere Übel sein soll, dann ist ein Verdammungsurteil immer nur vor dem Hintergrund besserer Alternativen gerechtfertigt. Wenn aber auf einem Gebiet mehrere Volksgruppen wohnen, die fest entschlossen sind, sich nicht zu mögen, dann gibt es wohl nur folgende Alternativen: 72 s. etwa Halperin, S. 217 und seine Bemerkung zur Anmerkung 62; Lilienthal, What Price Israel, S. 32, 81. 73 Auch andere Lösungen wurden erörtert, z. B. Kantonisierungspläne. Teilungsvorschlag der Jewish Agency 1946 s. Vilnay 113.

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— Die Teilung nach dem Stand der jeweiligen Besiedlung. Hierzu müssen Korridore, abgetrennte Städte und Freihäfen, Transitmöglichkeiten durch fremdes Gebiet, komplizierter Minderheitenschutz u. ä. vorgesehen werden 7 4 . Wie ein solches Mosaik politisch administrativ und wirtschaftlich Verkehrs- und währungsmäßig arbeiten soll, ist für den modernen Industrie- und Verwaltungsstaat nicht einmal theoretisch vorstellbar. Es kann nur bei einem solchen Maß an Bereitschaft beider Gruppen funktionieren, daß, wenn diese Bereitschaft vorhanden ist, es überhaupt keiner Teilung bedarf. — Eine übergeordnete und stärkere Macht zwingt beide Gruppen zum Stillhalten und sorgt für eine langsame Annäherung. Das war das System des PM; Großbritannien war hieran gescheitert und hatte es abgelehnt, den Teilungsplan durchzusetzen. Keine andere Macht war ersichtlich; die USA wollten sich nicht militärisch engagieren, und eine Treuhandschaft der V N wäre aus vielen Gründen nur eine Eskamotierung des Problems gewesen. — Ein Bevölkerungsaustausch. Den kennt die Geschichte bisher fast nur i n Form von gewaltsamen Vertreibungen Besiegter, die in grausamen Formen vor sich gingen. — Entscheidung der Waffen. Eine solche Empfehlung ist offensichtlich nicht Aufgabe einer Kommission. Vor diesen Schwierigkeiten standen auch alle früheren Teilungspläne. Nach dem Peel-Teilungsplan hätte i m projektierten jüdischen Staat die arabische „Minderheit" 49 °/o der Bevölkerung erreicht, während ein Drittel der jüdisch-palästinensischen Bevölkerung i m arabischen Staat verblieben wäre. So ließ der VN-Teilungsplan 33 jüdische Siedlungen außerhalb des dem jüdischen Staate zugesprochenen Gebietes. Jerusalem m i t 100 000 Juden blieb völlig vom jüdischen Staat getrennt. Andere jüdische Siedlungen, insbesondere i m Negev, lagen zwar i m projektierten jüdischen Staat, aber völlig isoliert. Lod blieb arabisch, aber der Flugplatz sollte jüdisch sein. Undurchführbar erscheint schließlich die Wirtschaftsunion. Die Versuche regionaler Wirtschaftsunionen i n aller Welt haben gezeigt, daß allein der fortdauernde Gleichklang der Interessen ihnen über die zahllosen Schwierigkeiten hinweghilft. Eine Wirtschaftsunion, deren M i t glieder sich entschlossen nach verschiedenen Staaten orientieren, ist arbeitsunfähig. Die jüdische Gruppe mußte sich ziemlich zwangsläufig nach dem Westen orientieren; die arabische Gruppe hätte sich zweifellos zu den arabischen Staaten orientiert und ihre einzelnen Teile wären i n 74 So erklärte der frühere Hohe Kommissar Samuel anläßlich des von der Peel-Kommission vorgeschlagenen Teilungsplanes im Oberhaus, daß der Plan auf einer Fläche so groß wie Wales ein halbes Dutzend Danzigs und Memels, mehrere Saar und Polnische Korridore schaffe. *

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5. T e i l : Jüdische Erfüllung und Arabische Niederlage

I. Teilungsplan der Peel Kommission 1937 I I . Teilungsplan der Woodhead Kommission 1938 I I I . Teilungsplan der Jewish Agency (Entwurf 1946 I V . UnscopTeilungsplan 1947 V. Waffenstillstandslinie 1949 und Grenzen bis 1967

Karte 8 Vergleich einiger Teilungspläne mit den Grenzen 1949 (aus: Sykes, Crossroads, vor IV. Teil)

17. Kap. : Die Palästinafrage vor den Vereinten Nationen

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Hegemonialkämpfe der ideologisch und dynastisch zerstrittenen arabischen Staaten hineingenzogen worden. Militärisch wäre der jüdische Staat unhaltbar gewesen; gemäßigte Araber werfen den Radikalen noch heute vor, daß sie bei Annahme des Teilungsbeschlusses den jüdischen Staat erdrosselt hätten. Der Einfall der beiden „kissing-points" ist ingeniös, aber sein Funktionieren kaum vorstellbar. b) Unmöglichkeit der Durchführung des Teilungsbeschlusses Der Teilungsbeschluß hätte nur m i t militärischer Gewalt durchgesetzt werden können. Das Arabische Hohe Komitee erklärte sich zu jedem Widerstand entschlossen. Soweit die arabische Volksgruppe zu militärischen Aktionen fähig war, begann sie am Tage nach dem Teilungsbeschluß den Kampf. Aus Syrien rückte bald darauf eine syrische Armeeabteilung von 700 Mann i n Palästina ein, eine aus 950 Mann bestehende „Arabische Befreiungsarmee" unter K w a u k i fiel ein und aus Syrien kommende Freischärler hielten Safed besetzt. Der jüdische Teil von Jerusalem mit 100 000 Juden war von aller Versorgung abgeschnitten. Die jüdische Volksgruppe ihrerseits war längst militärisch organisiert und zum Widerstand entschlossen. Unter diesen Umständen hätte es erheblicher militärischer Kräfte bedurft, u m den Teilungsbeschluß durchzusetzen. Die Vollversammlung suchte auf drei Ebenen eine Lösung: aa) durch die Übertragung der Durchführung des Planes an Großbritannien; bb) durch die Einsetzung der Palästinakommission; cc) durch die antizipierte Befassung des Sicherheitsrates. aa) Die Übertragung der Durchführung

des Planes an Großbritannien

Der Teilungsbeschluß vom 29. November 1948 empfahl Großbritannien Annahme und Durchführung des Planes. Großbritannien aber hatte bereits früher erklärt, daß es nicht die alleinige Verantwortung für die Durchsetzung übernehme. Damit schien eine Durchführung durch die VN, i n deren Rahmen Großbritannien die wichtigste Funktion übernommen hätte, noch möglich. Später erklärte es jedoch, daß es keine Verantwortung übernehme und an keiner Lösung mitarbeiten werde, die nicht von beiden Seiten akzeptiert würde. Schließlich erklärte Großbritannien noch, daß es an keiner Lösung mitarbeiten werde, die seiner Ansicht nach ungerecht sei, und kündigte den Abzug seiner Truppen an. Hieran hielt sich Großbritannien.

310

5. T e i l : Jüdische Erfüllung u n d Arabische Niederlage

bb) Die Palästinakommission

der VN

Der Teilungsbeschluß setzte eine Durchführungskommission aus Vertretern von fünf Mitgliedstaaten ein 7 5 . Sie sollte i n dem Maße, w i e die Mandatsmacht ihre Streitkräfte abzog, die Verwaltung von Palästina übernehmen und während der Übergangszeit die oberste Regierungsgew a l t i n Palästina ausüben. Die Mandatsmacht wurde aufgefordert, ihre Abzugspläne m i t der Kommission abzustimmen und i h r die Verwaltung i n den von i h r geräumten Gebieten zu übergeben. Für die Durchführung ihrer Aufgaben wurden ihr alle erforderlichen legislativen und administrativen Befugnisse übertragen 7 6 , diese Befugnisse sollte sie dann sukzessive wieder an die beiden provisorischen Regierungen abgeben. Diese Befugnisse waren i m Rahmen des Verfassungsrechts der V N außergewöhnlich. Anders als etwa die UNSCOP war die Palästina-Kommission nicht nur ein Untersuchungsausschuß m i t Vorschlagsbefugnis, sondern vornehmlich ein Organ für die Regierung und Verwaltung Palästinas während der Übergangszeit. Manche Autoren vertreten die Ansicht, daß die V N selbst keine legislativen und administrativen Befugnisse bezüglich eines Territoriums habe und deshalb auch ihren Unterorganen keine derartigen Befugnisse übertragen könnten 7 7 . Dies i m p l i ziert die nie geklärten Fragen, ob dem V B die Souveränität über die Mandatsgebiete zustand, und ob die V N insoweit dessen Nachfolger geworden sind. Zur Zeit des Teilungsbeschlusses war diese Frage zumindest noch offen; eine entsprechende Souveränität der V N hätte sich durchsetzen können. Die Frage wurde auf rein machtpolitischer Ebene entschieden; die Palästina-Kommission hatte keine Macht zur Verfügung 7 8 , und Großbritannien verweigerte jede Zusammenarbeit, ja praktisch die Einreise 70 . Die Kommission hätte über erhebliche Streitkräfte verfügen müssen; bloße Polizeikräfte hätten nicht genügt. Die militärischen Kräfte hätte j a aber nur wieder die Mandatsmacht Großbritannien zur Verfügung stellen können. Großbritannien verweigerte der Kommission bereits die Einreise bzw. erlaubte sie erst zu einem Zeitpunkt, als die Kommission gar nicht mehr tätig werden konnte (2 Wochen vor Beendigung des 75

Teil I Β des Teilungsbeschlusses vom 29. November 1947. Die „Palestine Commission" ist weder zu verwechseln mit der später eingesetzten Waffenstillstandskommission (18. Kapitel) noch mit der Schlichtungskommission (20. Kapitel). Die Mitgliedstaaten waren Bolivien, Tschechoslowakei, Dänemark, Panama, Philippinen. 76 "Authority to issue necessary regulations and take other measures as required." 77 78 79

487.

So Dahm, Bd. 2; 41II 2 c (Nachweise).

Die gesamte Kommission bestand aus einem Sekretariat von 47 Köpfen. Darstellung des letzten britischen Hohen Kommissars: Cunningham , S.

17. Kap. : Die Palästinafrage vor den Vereinten Nationen

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Mandats). I m übrigen verweigerte sich Großbritannien Punkt für Punkt der i m Teilungsbeschluß vorgesehenen Zusammenarbeit. So zog es sich zwar abschnittsweise zurück, erklärte jedoch der Kommission, die Gew a l t am 15. M a i 1948 (Endpunkt des Abzugs) erst zu übergeben und nicht stückweise. Stattdessen übergab Großbritannien die Militäreinrichtungen entweder den Arabern, oder ließ Juden und Araber es ausfechten. Die Mandatsmacht vermied nicht nur jedes Engagement, sondern auch jede Maßnahme, die als Durchführung der Teilung hätte ausgelegt werden können. „Unternehmen Chaos" hat man diese britische A k t i o n genannt. Unter diesen Umständen konnte die Palästinakommission, die sich selbst „die fünf einsamen Pilger" nannte, nur berichten, daß sie nicht i n A k t i o n treten konnte 8 0 . cc) Die antizipierte

Befassung des Sicherheitsrates

Schrifttum: Außer dem allgemeinen Schrifttum und den Ausführungen zum 17. Kapitel 1 s. noch Leonard und Robinson (beide vor 17. Kapitel 2) sowie Halderman, Some International Constitutional Aspects of the Palestine Case, in: The Middle East Crisis (vor V. Teil), S. 78 ff.; Nabil Elaraby , Some Legal implications of the 1947 Partition Resolution and the 1949 Armistice Agreements, ebenda, S. 97 ff .

Die Vollversammlung wollte zunächst dem Sicherheitsrat die volle Verantwortung für die Durchführung des Teilungsbeschlusses übertragen. Das warf die Frage auf, ob die V N überhaupt zuständig sind, eine politische Lösung durchzusetzen. Der Vorschlag hätte weiter die K o m petenzaufteilung der SVN zwischen Vollversammlung und Sicherheitsrat und die Hegemonialstellung der fünf ständigen Vertreter i m Sicherheitsrat umgeworfen. Die Kompetenz der V N zu einer gewaltsamen Durchsetzung politischer Lösungen läßt sich aus der Satzung kaum begründen. Die S V N unterscheidet zwischen der friedlichen Streitbeilegung (Kapitel VI) und der Friedensbewahrung (Kapitel VII). Für die friedliche Streitbeilegung beschränken sich die Befugnisse der V N auf Untersuchungen, unverbindliche Vorschläge, Vermittlungen. A b gesehen von der Frage, ob der Palästina-Konflikt überhaupt unter A r t . 33 ff. fiel, w a r m i t diesem Instrumentarium kein Teilungsbeschluß durchzusetzen. Die Araber hatten militärischen Widerstand angekündigt. Weitere Vermittlungsversuche schienen zwecklos, denn es w a r klar geworden, daß zwischen arabischen und jüdischen Forderungen keine Vermittlung mehr irgendwelche Erfolgsaussicht gehabt hätte. 80 Sie wurde durch Resolution vom 14. M a i 1948 ihrer Funktionen enthoben; diese Funktionen wurden auf den Vermittler übertragen; ihr Bericht ist als „First Special Report to the Security Council: The Problem of Security" veröffentlicht.

312

5. T e i l : Jüdische Erfüllung u n d Arabische Niederlage

Zur Friedensbewahrung sieht Kapitel V I I erheblich weitergehende Befugnisse vor 8 1 . Aber auch i n den A r t . 39 ff. kann man nicht ohne weiteres die Befugnis für die zwangsweise Durchsetzung einer politischen Lösung finden. Dies rührt von der alten Schwäche des Völkerrechts und völkerrechtlicher Institutionen her, daß sich leichter Regeln und Verfahren für die Aufrechterhaltung des status quo finden lassen, als für die Umwandlung dieses status quo und für seine institutionalisierte Anpassung an neue politische Verhältnisse. Ob der Sicherheitsrat aber eine politische Regelung erzwingen kann, ist nach dem Wortlaut der A r t . 39 ff. zumindest offen. U m i m Rahmen der von der SVN aufgestellten Voraussetzungen zu bleiben, sollte der Sicherheitsrat aufgefordert werden, jede gewaltsame Änderung als Aggression zu stigmatisieren (Art. 39). Kurz, der Sicherheitsrat sollte i m voraus verpflichtet werden, den Teilungsbeschluß notfalls m i t Gewalt durchzusetzen. Der Vorschlag drang nicht durch. Statt dessen forderte der Teilungsbeschluß, daß — der Sicherheitsrat die notwendigen Maßnahmen, die i n dem Plan zu seiner Durchführung vorgesehen sind, ergreift; — der Sicherheitsrat feststellt, falls die Umstände während der Übergangszeit eine solche Feststellung erfordern, ob die Situation i n Palästina eine Bedrohung des Friedens darstellt. Wenn er entscheidet, daß eine solche Bedrohung besteht, soll der Sicherheitsrat zum Zweck der Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit die Vollmacht der Vollversammlung dahingehend ergänzen, daß er, gemäß den A r t i k e l n 39 und 41 der Charta, Maßnahmen ergreift, die V N - K o m mission zu ermächtigen, die Funktionen i n Palästina auszuüben, die ihr i n diesem Beschlüsse übertragen worden sind; — der Sicherheitsrat jeden Versuch, die i n diesem Beschluß geplante Regelung durch Gewalt so zu ändern, als eine Bedrohung oder Verletzung des Friedens oder einen A k t der Aggression, gemäß Art. 39 der Charta feststellt. Die Passage warf erhebliche Probleme des Verfassungsrechts der V N auf. Konnte die Vollversammlung den Sicherheitsrat zur A k t i o n verpflichten und konnte die zufällig zusammengesetzte Kommission den Sicherheitsrat und damit die Hegemonialmächte zur A k t i o n zwingen? A u f machtpolitischer Ebene stieße damit der Teilungsbeschluß die gesamte Hegemonialstruktur der V N um. Schließlich ist zu bedenken, daß weder ein einzelnes Organ noch die V N selbst die Befugnisse überhaupt haben, politische Regelungen verbindlich vorzuschreiben und zu erzwingen. Die Vollversammlung kann nur Empfehlungen erlassen, die vielleicht von höchstem moralischen Gewicht aber rechtlich per definitio81

s. WBVR, „Friedensbedrohung"; „Friedensbruch"; „Angriff"; Dahm §§ 81 - 84.

II

17. Kap. : Die Palästinafrage vor den Vereinten Nationen

313

nem nicht verbindlich sind. Und der Sicherheitsrat, der verbindliche Entscheidungen treffen kann, kann nur bei Bedrohung des internationalen Friedens und Aggressionen tätig werden. Hierzu kann er kriegsbeendende Maßnahmen fordern, jedoch nicht die zugrundeliegende politische Situation bereinigen. Das gehört zu den strukturellen Schwächen der VN. Diese Problematik wurde bald erkannt und i n einem Gutachten der Palästina-Kommission -dargelegt 82 und die Frage dem Sicherheitsrat vorgelegt. Der Sicherheitsrat schob die Beratung über Monate hinaus. Als es schließlich zur Diskussion kam, setzte sich die Ansicht der USA durch, die die Befugnisse der V N und der Vollversammlung restriktiv interpretierte: — Der Sicherheitsrat könne nur Maßnahmen zur Sicherung des internationalen Friedens ergreifen und könne keine politische Lösung i m Mandatsgebiet gewaltsam durchsetzen 83 , — die antizipierte Befassung des Sicherheitsrats durch die Vollversammlung nicht möglich sei. I m Teilungsbeschluß war erklärt worden, daß jeder Versuch, die dort vorgesehene Lösung m i t Gewalt zu verändern, eine Bedrohung des Friedens, ein Bruch des Friedens oder eine A n griffshandlung bedeute (Art. 39 SVN), die ein Einschreiten des Sicherheitsrates nach A r t . 39 notwendig mache. Es müsse aber dem Sicherheitsrat selbst überlassen bleiben, die Notwendigkeit seines Einschreitens festzustellen. Damit war der Versuch der Vollversammlung mißlungen, den Sicherheitsrat und insbesondere die fünf ständigen Mitglieder für die Durchführung politischer Lösungen verantwortlich zu machen. Die Ablehnung stellte die Hegemonialstruktur der V N wieder her. So klar dem heutigen Betrachter diese Entwicklung erscheint, 1948 war eine andere Entwicklung der V N noch denkbar. Die S V N läßt mehrere Interpretationen zu, und i h r Regime hat sich erst i m Laufe der Jahre herausgebildet. Aber unabhängig von dem Palästinaproblem w i r d man diese Entwicklung billigen müssen. Eine andere Interpretation hätte die V N i n einer Weise i n den Ost-Westkonflikt der 50er Jahre gestellt, daß sie zerbrochen wäre. Weltweite Organe können bis jetzt kaum politische Lösungen m i t Gew a l t durchsetzen, und es ist auch fraglich, ob es anders sein sollte. Gegen eine Hegemonialmacht eine politische Lösung zu erzwingen, läuft auf kollektiven Selbstmord hinaus; angesichts der Zahl von ungefähr 130 Mitgliedern i n der Vollversammlung, von der die Mehrheit ohne entspre82

Nachweise: Leonard, S. 654 ff. Das entsprechende Ersuchen der Vollversammlung an den Sicherheitsrat im Teilungsbeschluß sei angenommen worden „subject to the limitation that armed force cannot be used for implementation of the plan, because the Charter limits the use of the U N force expressly to threats to and breaches of the peace and aggression affecting international peace". 83

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5. T e i l : Jüdische Erfüllung und Arabische Niederlage

chende Ressourcen ist, erscheint ein solcher Beschluß fragwürdig. Mit den Hegemonialmächten führte die politische Lösung schließlich nur zur Versteinerung eines hegemonialen status quo. Bezüglich Palästinas endete die Diskussion schließlich M i t t e März m i t der Aufforderung des Sicherheitsrates an Araber und Juden, einen Waffenstillstand zu schließen. Stattdessen begannen einige Mitglieder des Sicherheitsrats zu fragen, ob der Teilungsplan durchführbar sei und schoben das Palästina-Problem m i t dieser Frage wieder der Vollversammlung zu. Die zweite außerordentliche Sitzung der Vollversammlung begann am 16. A p r i l 1948. Die Mitglieder mußten erkennen, daß keine Macht bereit war, den Teilungsplan gegen den arabischen Widerstand durchzusetzen. I n dieser Situation wurde auf amerikanisches Betreiben ein neuer Plan erörtert: statt Unabhängigkeit und Teilung Palästinas eine Treuhandschaft der V N (Kapitel X I I SVN). Frankreich neigte dem Plan zu, Großbritannien i n seiner damaligen anti-zionistischen Verärgerung hätte nicht den Teilungsplan verteidigt. Dieser Plan wurde wenig begeistert aufgenommen. Die Jewish Agency kritisierte ihn heftigst 8 4 . Viele M i t glieder der V N sahen voraus, daß auch eine Treuhandschaft nur m i t m i l i tärischen Kräften durchgeführt werden könnte. Diesen Gefahren für einen jüdischen Staat kamen die Gremien der palästinensischen Juden zuvor. Insbesondere Ben Gurion schuf vollendete Tatsachen. Gegen die Ratschläge der Diplomaten i n den Hauptstädten der Welt rief er am 14. Mai 1948 den Staat Israel aus 85 , Jewish Agency und Nationalrat nahmen sofort als Provisorische Regierung Israels die Staatsgeschäfte auf. Wenige Minuten nach der Unabhängigkeitserklärung erkannten die USA und die Sowjetunion den neuen Staat an. Zum zweiten Male handelte der US-Präsident ohne Absprache mit seinem Außenministerium. Während die US-Delegierten in der Vollversammlung noch die Treuhandschaft verteidigten, erkannte Truman Israel an; der USDelegierte konnte gleichzeitig die Nachricht von der Ausrufung des israelischen Staates und der Anerkennung durch die US-Regierung verlesen. Die sofortige Anerkennung Israels durch die USA erreicht zu haben, gilt als der letzte Dienst Weizmanns am israelischen Staate, s. im einzelnen Elath.

84 85

"A shocking reversal of the United States position." Unabhängigkeitserklärung abgedruckt bei Laqueur , Dok. 26.

18. Kap.: Der arabisch-israelische K r i e g 1947 - 1949

Achtzehntes

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Kapitel

D e r israelisch-arabische K r i e g 1947 — 1 9 4 9 Schrifttum: N. Lorch, The Edge of the Sword: Israel's War of Independence, 1947- 1949 (New York 1961); Sir J. Bagot Glubb, A Soldier with the Arabs (London 1959); E. O'Ballance, The Arab-Israeli War (New York 1957); J. and D. Kimche, A Clash of Destinies (New York 1960); H. Sacher, Israel: The Establishment of a State (New York 1952); D. Spicehandler, Let my Right Hand Wither (New York 1950); D. Joseph, Faithful City (New York 1960); J. de Reynier, A Jérusalem un drapeau flottait sur la ligne de feu (Neuenbürg 1950); Constantine N. Zurayk, Palestine: The Meaning of the Disaster (Beirut 1956).

1. Der äußere Ablauf des Krieges Hier ist keine Kriegsgeschichte zu schreiben, sondern nur der Rahmen aufzuzeigen, i n dem die heutige Auseinandersetzung statthat. Beide Parteien machen sich gegenseitig für den Krieg verantwortlich und summieren ihn i n ihren Listen der von der Gegenseite verübten Aggressionen. Der Krieg, den die Israeli „Unabhängigkeitskrieg" und „liberation war", die Araber „Palästinensische Katastrophe" nennen, umfaßt einen Zeitraum von 20 Monaten; er begann am Tage nach dem Teilungsbeschluß der V N vom 29. November 1947 und dauerte bis zum israelisch-syrischen Waffenstillstandsabkommen vom 29. J u l i 1949. Die arabischen Staaten, die Arabische Liga und das Hohe Arabische Komitee hatten erklärt, daß sie den Teilungsbeschluß nicht anerkennen und sich i h m m i t Waffengewalt widersetzen würden. I n einigen arabischen Staaten kam es zu antijüdischen Ausschreitungen, die i n Aden Pogromcharakter annahmen. I n Palästina organisierte das Arabische Hohe Komitee einen Streik, der i n Jerusalem i n schwere Ausschreitungen gegen die jüdischen Stadtteile und in Kämpfe ausartete. I m Lande wurden jüdische Verkehrsfahrzeuge überfallen, die Juden getötet. Diese erste, vom Tage nach dem Teilungsbeschluß vom 29. November 1947 bis zur Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948 liegende Phase des Krieges war durch die verstreute Siedlung beider Volksgruppen charakterisiert. Die Araber versuchten überall und unabhängig von der Lage i m projektierten jüdischen oder arabischen Staat die jüdischen Siedlungen zu isolieren, die Zufahrtswege zu sperren und die Versorgung unmöglich zu machen. Von jüdischer Seite aus war diese Phase ein Kampf um die Verbindungswege zu den jüdischen Siedlungen und Städten; i n Jerusalem mußten 100 000 Juden mit Lebensmitteln und Wasser versorgt werden. Die Juden hielten die Verbindungen mit notdürftig gepanzerten Lastwagen aufrecht und kämpften die Korridore frei; die Konvois für Jerusalem erreichten bis zu 350 Wagen je Konvoi.

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5. Teil : Jüdische Erfüllung und Arabische Niederlage

Die Kämpfe u m die Zufahrt nach Jerusalem waren wegen der leicht zu sperrenden Schluchten i m arabisch besiedelten Bergland für die Juden verlustreich. A u f arabischer Seite wurde der Kampf von den wenig organisierten palästinensischen Arabern, von aus Syrien einfallenden Freischärlern, einer gleichfalls aus Syrien kommenden Befreiungsarmee unter K w a u k i sowie der Arabischen Legion unter ihrem britischen K o m mandeur Sir Bagot Glubb geführt. N u r die Arabische Legion konnte Erfolge erzielen. Sie hielt den arabischen Teil Jerusalems, eroberte das jüdische Viertel i n der Altstadt Jerusalems und nahm die Siedlungen des Etzionblocks. Vor allem hielt sie gegen alle jüdischen Angriffe die Eckfestung L a t r u n und erschwerte so den Zugang nach Jerusalem bis zum Ende des Krieges außerordentlich. I m übrigen Palästina brach die organisierte K r a f t der Araber weitgehend zusammen. Die Juden konnten nicht nur fast alle Siedlungen halten, sondern auch Verbindungen durch das arabisch besiedelte Gebiet zwischen ihren Siedlungen freikämpfen und selbst rein arabische Städte wie Jaffa erobern. Die vier südlich von Jerusalem liegenden Kibbutzim des Etzionblocks blockierten die für die Arabische Legion wichtige Verbindung nach Hebron; deshalb griff die Arabische Legion die Siedlungen am 4. Mai 1948 an und nahm sie ein. Dabei wurde sie von arabischen Irregulären und arabischen Palästinensern unterstützt; nach jüdischer Darstellung auch von Panzern der britischen Mandatsverwaltung. Die Bewohner einer dieser Siedlungen wurden von Arabern sämtlich massakriert; die Verteidiger der übrigen drei Siedlungen als Gefangene behandelt, s. Lorch, S. 125 ff.

Die zweite Phase beginnt m i t dem 15. M a i 1948, an dem das Ende des Mandats, die Staatsgründung (Unabhängigkeitserklärung) und der Einmarsch der arabischen Armeen zusammenfielen. Diese zweite Phase ist durch mehrere Kriegsrunden und drei vom Sicherheitsrat verhängte und (formell) befolgte Feuereinstellungen gegliedert. Die erste Kriegsrunde gegen die arabischen Armeen dauerte vom 15. M a i 1948 bis zur ersten Feuereinstellung am 11. Juni 1948. Gegenüber dem (scheinbar) konzentrischen Angriff der arabischen Armeen konnten sich die israelischen Streitkräfte i m großen und ganzen behaupten. Die arabischen Armeen konnten die israelischen Kräfte an keiner Stelle entscheidend schlagen oder größere jüdische Siedlungen überrennen; das jüdisch besiedelte Gebiet konnte sich halten und sich an einigen Stellen über den i m Teilungsplan vorgesehenen Bereich ausdehnen. Die von der politischen Führung gegen die Ansicht des jüdischen Generalstabs verfolgte Strategie der Verteidigung sämtlicher Siedlungen einschließlich der militärisch hoffnungslos isolierten hatte sich überraschend bewährt. N u r die Syrer konnten am Oberlauf des Jordans den Brückenkopf Benot Yaacov m i t der Siedlung Mischmar Hayarden besetzen, woraus

18. Kap.: Der arabisch-israelische K r i e g 1947 - 1949

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sich später das dornige Problem der entmilitarisierten Zone entwickeln sollte; die ägyptische Armee konnte i m Negev i m und am späteren Gazastreifen einige Siedlungen überrennen (Kfar Darom, Yad Mordechai). Große Teile des heutigen Israels, insbesondere i m Norden Galiläa, i m Zentrum die arabischen Städte Lod und Ramie, i m Süden der gesamte Negev m i t Beerscheba blieben außerhalb des jüdischen Bereichs. Die Karte des jüdisch gehaltenen Gebietes am Ende der ersten Runde entspricht daher überraschend den früheren Teilungsplänen 1 . Der erst einige Wochen alte israelische Staat war am Ende dieser Runde völlig erschöpft. Seine Bewaffung war den arabischen Armeen unterlegen, insbesondere hinsichtlich der Feuerkraft. Seine Verluste waren hoch gewesen. Der Sicherheitsrat hatte nicht nur die Feuereinstellung verfügt, sondern auch ein Waffenembargo verhängt und verhindern wollen, daß durch jüdische Einwanderung sich die jüdischen Streitkräfte erhöhten. Wie es sich auch damit verhielt — es gelang Israel, die Einwanderung zu forcieren und seine Streitkräfte auf diese Weise fast zu verdoppeln. Trotz Embargo konnte es sich m i t Waffen und Ausrüstung versorgen. Innenpolitisch konnte es sich innerhalb der vierwöchigen Feuereinstellung neu und effizient organisieren, wenn auch unter teilweise dramatischen Umständen. Haganna und Irgun wurden zu einer einheitlichen Armee verschmolzen. So stand Israel am Ende der ersten vierwöchigen Feuereinstellung stärker da als vorher; alle Beobachter sind sich einig, daß es den arabischen Gegenspielern nunmehr eindeutig überlegen war. I n den Diskussionen vor dem Sicherheitsrat, die zu dem Beschluß vom 29. Mai 1948 über die erste Feuereinstellung geführt hatten, hatte ein mögliches Embargo von Menschen und Material eine große Rolle gespielt. Der britische Resolutionsentwurf sah ein Verbot der Einwanderung von militärisch ausgebildeten Personen und Personen i m wehrfähigen Alter und der Einfuhr von Kriegsmaterial nach Palästina vor. Der Beschluß ließ die Einwanderung zu und suchte nur, die Ausbildung und Mobilisierung zu verhindern; das Waffenembargo wurde auf alle kriegsführenden Gebiete, also auch auf die arabischen Staaten ausgedehnt. Über diese Formulierungen erhob sich ein erheblicher Auslegungsstreit, i n dem der m i t der Überwachung beauftragte Vermittler Bernadotte schließlich einen wiederum sehr strittigen Kompromißvorschlag machte. Das kann heute dahinstehen, denn tatsächlich konnte Israel die Einwanderung erfolgreich fortführen und seine Armee fast verdoppeln. Außerdem lief die Waffenhilfe des Ostblocks nunmehr voll an. Es gelang den zionistischen Organisationen, in der Tschechoslowakei große moderne Waffenbestände einzukaufen: Kanonen, gepanzerte Kraftfahrzeuge, Munition und selbst 1

Karte 9.

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5. T e i l : Jüdische E r f ü l l u n g u n d Arabische Niederlage

Karte 9 Von israelischen Truppen während der 1. Feuereinstellung 1948 verteidigtes Gebiet (aus: Alem, Juifs et Arabes, vor I. Teil)

18. Kap.: Der arabisch-israelische Krieg 1947 - 1949

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Flugzeuge. D i e Tschechoslowakei s t e l l t e n den F l u g p l a t z Zatec z u r V e r fügung, u n d die A u s r ü s t u n g w u r d e m i t t e l s L u f t b r ü c k e nach Israel geflogen. Angesichts der festen Überzeugung v i e l e r antiisraelisch eingestellt e r G r u p p e n , Israel sei ausschließlich eine Schöpfung westlichen I m p e r i a lismus, m u ß b e t o n t w e r d e n , daß sich alle Beobachter d a r i n e i n i g sind, daß ohne diese W a f f e n a u s r ü s t u n g des Ostblocks Israel sich nicht h ä t t e h a l t e n können. Ein Sonderproblem der ersten Feuereinstellung war die Versorgung Jerusalems. Auch hier hatte der Sicherheitsratsbeschluß Einschränkungen vorgesehen. Beide Seiten umgingen den Beschluß: die Wasserzufuhr führte über das von Arabern gehaltene Latrun, und Irreguläre sprengten die Leitung; die Israeli, die neue Zufahrtswege („Burma Road") nach Jerusalem angelegt hatten, verweigerten auf den in ihrem Gebiet liegenden Wegen die Inspektionen. Die Errichtung einer israelischen Armee (Zahal) löste formell die Haganna und die Irgun als getrennte Einheiten auf und verbot gesonderte bewaffnete Einheiten 2 . A m 2. Juni 1948 wurde ein Abkommen mit der Irgun geschlossen, die die Irgun eingliederte, ihre Befehlsstellen auflöste und auch eigene Waffenkäufe der Irgun untersagte 3. Irgun interpretierte jedoch das Abkommen anders als die Provisorische Regierung und beschränkte es auf das „Staatsgebiet", wovon sie Jerusalem ausschloß. Hier war Irgun nur zur Zusammenarbeit mit der Zahal bereit und suchte weiterhin, sich mit Waffen zu versorgen. Zu dieser Zeit lief ein von amerikanischen Zionisten finanziertes und von der Irgun gekauftes Waffenschiff Israel an, die „Altalena" 4 ; die Irgun weigerte sich, die Waffen an die israelische Armee auszuliefern. Ben Gurion ergriff diese Gelegenheit, um die einheitliche Staatsgewalt zu sichern und ließ das Schiff vor der Küste in Brand schießen5. Nach dem Mord an Graf Bernadotte wurden Irgun und Stern auch in Jerusalem aufgelöst. Gegen Ende der 1. F e u e r e i n s t e l l u n g w a r auch der arabischen General i t ä t k l a r , daß Israel m i l i t ä r i s c h erheblich s t ä r k e r g e w o r d e n w a r , w ä h r e n d i n i h r e m L a g e r die Meinungsverschiedenheiten zunahmen. A u f p o l i tischem Gebiet w a r die israelische Lage keineswegs günstig, da der V e r m i t t l e r B e r n a d o t t e u n d K r e i s e i n den V N an eine Revision des T e i l u n g s plans zugunsten der A r a b e r dachten. Gegen alle V e r n u n f t u n d anschein e n d aus innenpolitischen G r ü n d e n Ä g y p t e n s l e h n t e n die Arabischen Staaten eine V e r l ä n g e r u n g der F e u e r e i n s t e l l u n g ab 6 . D i e folgende K r i e g s r u n d e dauerte n u r zehn Tage (8. - 19. J u l i 1948); die israelische A r m e e k o n n t e i h r Gebiet erheblich e r w e i t e r n , insbesondere i m 2 s. The Zahal (Israel Defense Force) Establishment Order vom 28. Mai 1948 bei Lorch, S. 238 ff. Die Stern-Einheiten hatten sich, zumindest offiziell, außerhalb Jerusalems schon früher aufgelöst. 3 s. Lorch, S. 239. 4 „Altalena" war ein literarisches Pseudonym des Revisionistenführers Jabotinski. 5 Zum Altalena-Zwischenfall s. die Erklärung Ben Gurions vor dem Parlament in Ben Gurion, Rebirth and Destiny of Israel (New York 1954), S. 251 ff.; Lorch, S. 255 ff.; M. Begin, The Revolt. The Story of the Irgun (New York 1949). 6 Hierzu Glubb.

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5. Teil: Jüdische Erfüllung und Arabische Niederlage

Korridor nach Jerusalem die arabischen Städte Ramie und Lod erobern sowie große Teile Galiläas m i t Nazareth einnehmen. Der Beschluß des Sicherheitsrats vom 19. J u l i erzwang die 2. Feuereinstellung und dauerte bis zum 15. Oktober 1948. Während der 2. Feuereinstellung entwickelte sich die UNTSO; über 300 Beobachter sollten die Embargobestimmungen überwachen.

Die folgende Runde 7 ging nur gegen Ägypten und wurde i n einer A r t vom VN-Vermittler ausgelöst. Bernadotte hatte i m September seinen Vermittlungsplan vorgelegt. Dieser Plan suchte einen Kompromiß auf der Grundlage der militärischen Lage und schlug daher den Negev (und Jerusalem) wieder den Arabern zu. Dem kam Ben Gurion zuvor und veränderte die militärische Lage zugunsten Israels. Er bediente sich dabei einer A r t juristischer Kriegslist. Auch der Beschluß des Sicherheitsrates vom 19. J u l i 1948 war davon ausgegangen, daß die Feuereinstellung keiner Seite militärische Vorteile bringen sollte. So illusorisch dies insgesamt sein mag, für die noch isolierten jüdischen Siedlungen bedeutete dies, daß sie unter Aufsicht der VN-Beobachter jeweils genau für die Zahl der kriegsfreien Tage verpflegt werden sollten, so daß sie am Ende eines Waffenstillstandes versorgungsmäßig genau so ständen wie vorher und keine Vorräte anlegen konnten. Die Möglichkeit zu Streit und Zwischenfällen ist naturgemäß groß, und die jüdischen Konvois für die Siedlungen i m Negev waren wiederholt von den Ägyptern angegriffen worden. Darauf baute Israel seinen Kriegsplan auf. Bereits ab 25. August 1948 verlegte die Armee erhebliche Kräfte an die Negevfront, zum Teil auf dem Luftwege 8 , und schickte nach Abschluß der Vorbereitungen einen angemeldeten Versorgungskonvoi für jüdische Siedlungen los. Der Konvoi wurde erwartungsgemäß angegriffen, worauf die israelische Armee ihre vorbereitete Offensive gegen die ägyptischen Stellungen führte. Diese Runde brachte Israel das Küstengebiet bis Gaza und befreite somit auch das israelische Kerngebiet m i t Tel A v i v aus der Gefahr, den Norden des Negevgebietes einschließlich Beerschebas und schloß starke ägyptische Kräfte i n Faludscha ein. Der Beschluß des Sicherheitsrates vom 19. Oktober 1948 führte nicht nur zur Feuereinstellung, sondern forderte auch den Rückzug der israelischen Streitkräfte auf ihre Ausgangsstellungen vom 14. Oktober, also vor der Offensive 9 . Allerdings war der Beschluß nicht eindeutig und der Amtierende Vermittler Ralph Bunche (nach der Ermordung Bernadottes) interpretierte den Beschluß dahingehend, daß nur die Einsatztruppen, nicht jedoch die inzwischen installierten Garnisonen zurückgezogen werden müßten. 7

8 9

Zu dieser Operation Yoav (zehn Plagen) s. Lorch, S. 335 ff.

Lorch, S. 335 ff. s. Lorch, S. 353.

18. Kap.: Der arabisch-israelische Krieg 1947 - 1949

321

Niemand hielt sich sonderlich an die Feuereinstellung. I m Norden stand noch die Befreiungsarmee Kwaukis, der sich an die Feuereinstellung nicht hielt, da er als Nichtmitglied der V N nicht an den Beschluß gebunden sei. Als er jüdische Siedlungen angriff, schlug die israelische Armee zurück 1 0 , eroberte ganz Galiläa i n seiner heutigen israelischen Ausdehnung und drang i n den Südlibanon bis zum L i t a n i vor. I m Süden bombardierten die Israeli die ägyptischen Stellungen i n Faludscha, und die Ägypter suchten die eingeschlossenen Truppen durch A n g r i f f aus dem Gaza-Gebiet zu entlasten. Dies wiederum war für die israelische Armee der Vorwand, am 22. Dezember 1948 gegen die ägyptische Armee loszuschlagen 11 . Da Israel inzwischen erhebliche Truppen mobilisieren konnte, wurden die ägyptischen Truppen völlig geschlagen und El-Arisch erobert. I n diesem Augenblick rettete Großbritannien die ägyptische Armee: obwohl Ägypten sich nicht auf den anglo-ägyptischen Bündnisvertrag von 1936 berufen hatte, stellte Großbritannien Israel ein Ultimatum, dem Sicherheitsratsbeschluß zu folgen. Israel stritt zwar Großbritannien das Recht ab, für den Sicherheitsrat zu handeln, mußte sich jedoch dem britischen Druck fügen. I m übrigen war Ägypten inzwischen auch zu Waffenstillstandsverhandlungen bereit, die am 6. Januar 1949 i n Rhodos begannen. Während der Waffenstillstandsverhandlungen in Rhodos konnte Israel noch an drei Fronten Geländegewinne erzielen: durch Verhandlungen mit Syrien das Gebiet um Mischmar Hayarden, und mit Trans jordanien einen Geländestreifen rund um Samaria. Durch kriegerische Operationen nach dem Abschluß des Waffenstillstandes mit Ägypten besetzte es schließlich den Negev südlich von Beerscheba bis Elat. Nach arabischer Ansicht hat Israel den Negev unter Bruch des Waffenstillstandsabkommen mit Ägypten besetzt; die Araber sprechen daher Israel die völkerrechtlichen Rechte eines Anliegerstaates auf Elat und Golf von Akaba ab und stützten u. a. auch darauf die Sperrung der Durchfahrt durch den Golf. I n der Tat hatte Israel seit dem 6. Januar 1948 mit Ägypten in Rhodos verhandelt und am 24. Februar 1948 den Waffenstillstand geschlossen. Der israelische Vorstoß nach Elat begann erst nach diesem Abschluß. Aber Ägypten hatte — nach israelischer Darstellung — in den Waffenstillstandsverhandlungen seine Ansprüche auf den Negev zurückgezogen 12, und im übrigen war der Negev auch seit Juni 1948 nicht unter ägyptischer, sondern unter trans jordanischer Kontrolle; die Stellungen waren schwach von der Arabischen Legion besetzt; mit Trans jordanien hatte Israel noch keinen Waffenstillstand geschlossen. Angesichts der israelischen Überlegenheit zogen sich die jordanischen Truppen in der Nacht zum 10. März 1949 kampflos zurück; israelische Truppen besetzten das Gebiet um das heutige Elat am 10. März 1949 kampflos. Auch die Oase En Gedi am Toten Meer wurde besetzt. Elat wurde erst später angelegt; damals war nur Akaba eine Agglomeration; in Akaba waren britische Truppen zur Verteidigung stationiert. Das heutige Elat war damals nur ein kleiner Polizeiposten namens Umm Rasch Rasch. 10 11

12

Zur Operation Hiram s. Lorch, S. 368 ff. Operation Horev, s. Lorch, S. 404 ff.

Lorch, S. 440.

21 Wagner

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5. T e i l : Jüdische E r f ü l l u n g und Arabische Niederlage

Die arabische Diskussion um die Besetzung des Südnegev wirft erhebliche juristische Probleme auf, weil nach ägyptischer Ansicht das Gebiet rechtlich seit türkischer Zeit zu Ägypten gehört. Diskussion bei L. M. Bloomfield, Egypt, Israel and the Gulf of Aqaba in International Law (Toronto 1957), Kapitel X V . Die Waffenstillstände. W ä h r e n d d e r K ä m p f e h a t t e der S i c h e r h e i t s r a t w i e d e r h o l t z u F e u e r e i n s t e l l u n g u n d W a f f e n s t i l l s t a n d aufgerufen. M i t d e r R e s o l u t i o n v o m 16. N o v e m b e r 1948 f o r d e r t e er die P a r t e i e n b i n d e n d auf, die b e w a f f n e t e n F e i n d s e l i g k e i t e n e i n z u s t e l l e n u n d e i n e n W a f f e n s t i l l s t a n d abzuschließen. Die Begriffe „Feuereinstellung", „Waffenruhe" und „Waffenstillstand" sowie ihre Äquivalente wie „Einstellung der Feindseligkeiten" unterscheiden sich nicht eindeutig und werden bei Übersetzungen noch unklarer 1 3 . Meist bezeichnen „Feuereinstellung" und „Waffenruhe" eine nur vorübergehende Einstellung der bewaffneten Feindseligkeiten und den so bewirkten Zustand. Gegenüber dem Waffenstillstand sind sie von kurzer Dauer, erfassen nur einzelne Frontabschnitte und dienen nicht der endgültigen Beendigung der bewaffneten Feindseligkeiten, sondern etwa der Bergung von Toten und Verwundeten. I m Palästinakrieg bezeichneten jedenfalls „truce" die vom Sicherheitsrat angeordneten Feuereinstellungen und „armistice" die in den Waffenstillstandsabkommen von Rhodos ausgehandelten Waffenstillstände. A b e r erst nach e i n e r w e i t e r e n K a m p f r u n d e (israelischer A n g r i f f gegen Ä g y p t e n v o m 22. D e z e m b e r 1948, O p e r a t i o n H o r e v ) e r k l ä r t e sich Ä g y p t e n a m 6. J a n u a r 1948 z u W a f f e n s t i l l s t a n d s v e r h a n d l u n g e n b e r e i t . N a c h d e m d e r W a f f e n s t i l l s t a n d m i t Ä g y p t e n geschlossen w a r , f o l g t e n d i e ü b r i g e n arabischen k r i e g f ü h r e n d e n S t a a t e n 1 4 . Die vier Abkommen heißen Waffenstillstandsabkommen von Rhodos, obwohl die Verhandlung und Unterzeichnung zum Teil an anderen Orten stattfanden. Die arabischen Staaten weigerten sich, mit Israel direkt zu verhandeln, um keine völkerrechtliche Anerkennung zu implizieren; daher kam es zur sog. „Rhodosformel", die in der Folgezeit immer wieder vorgeschlagen wurde; formell wurde fingiert, daß jeweils beide Parteien nur mit dem Amtierenden Vermittler verhandelten. Über den tatsächlichen Verlauf der Verhandlungen s. Eytan, Kapitel 2. I n d e n V e r h a n d l u n g e n w a r I s r a e l i n e i n e r s t ä r k e r e n S t e l l u n g als die Araber. Durch die getrennten Verhandlungen m i t jeweils einem arabischen S t a a t k o n n t e I s r a e l seine Ü b e r l e g e n h e i t v o l l einsetzen. Seine T a k t i k w a r einfach: es e r s t r e b t e eine K o m b i n a t i o n des i h m i m T e i l u n g s p l a n zugesprochenen u n d des f r ü h e r e n Mandatsgebiets. D a h e r f o r d e r t e es G r e n z e n entsprechend der tatsächlichen m i l i t ä r i s c h e n Lage, s o w e i t seine S t r e i t k r ä f t e das G e b i e t bis a n die f r ü h e r e M a n d a t s g r e n z e besetzt h a t t e n ; s o w e i t es diese G e b i e t e n i c h t besetzt h a t t e , f o r d e r t e es sie i n d e n V e r 13

WBVR, „Waffenruhe"; „Waffenstillstand"; Berber, Bd. 2. Waffenstillstand mit Ägypten: 24. Februar 1949; mit dem Libanon: 23. März 1949; mit Jordanien: 3. April 1949; mit Syrien: 29. Juli 1949. Texte: s. 21. Kapitel 1. 14

18. Kap. : Der arabisch-israelische K r i e g 1947 - 1949

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handlungen (vor allem den von Syrien gehaltenen Brückenkopf um Mischmar Hayarden). Diese Taktik praktizierte Israel zunächst m i t Erfolg gegen Ägypten, indem es die frühere Mandatsgrenze gegenüber dem Sinaigebiet forderte. Ägypten berief sich dagegen auf den Sicherheitsratsbeschluß vom 4. November 1948, wonach sich die israelischen Truppen auf ihre Stellungen vor der Operation Yoav hätten zurückziehen müssen. Dies hätte für Israel den Verlust des gesamten Negev bis zur Linie Majdal-Faludscha bedeutet. Schließlich einigte man sich auf die Bunche'sche Kompromißformel von den entmilitarisierten Zonen um El-Audscha. Dagegen blieb der Gaza-Streifen außerhalb des israelischen Gebietes. Die übrigen Waffenstillstände folgten dem ägyptischen Vorbild. M i t dem Libanon waren die Verhandlungen einfach. Israel war bereit, den von i h m besetzten Südlibanon zu räumen, forderte jedoch, daß Syrien seinerseits den Brückenkopf um Mischmar Hayarden räumte. Israel begründete diese Verknüpfung m i t der syrisch-libanesischen militärischen Zusammenarbeit. Der Amtierende Vermittler akzeptierte die Verbindung nicht. So wurde der Waffenstillstand m i t Libanon getrennt abgeschlossen. Die Verhandlungen m i t Transjordanien waren kompliziert. Hier war eine lange und problematische Front, deren Verlauf beiden Teilen inakzeptabel schien. Israel forderte gesicherte Straßenverbindungen nach Jerusalem; die Hauptstraßen liefen aber entweder über arabisch besetztes Gebiet (Latrun) oder unmittelbar an arabischen festungsähnlichen Siedlungen vorbei. I n Samaria forderte Israel eine Verbreiterung seiner Verbindung mit Galiläa. Trans jordanien seinerseits forderte die Rückkehr der arabischen Flüchtlinge nach Ramie und Lod; Israel war i m Rahmen der Waffenstillstandsverhandlungen nicht bereit, über die Flüchtlinge zu sprechen, sondern diskutierte nur militärische Fragen. Schließlich waren weitere Probleme zu lösen: Jerusalem und der Status des Skopus-Berges 15 . Trans jordanien war nach dem Waffenstillstand mit Ägypten in militärisch schwieriger Lage. Syrien begnügte sich m i t der Verteidigung seines Brückenkopfes am Oberlauf des Jordans. I m Nordabschnitt von Samaria räumten die irakischen Truppen ihre Stellungen, die Israel zu besetzen drohte. Die Versuchung für Israel war groß, nunmehr mit seiner gesamten und überlegenen Armee den übrigen Teil von Palästina, Samaria und das Westjordangebiet zu besetzen; die Operation wurde militärisch vorbereitet. Schließlich einigten sich beide Parteien auf eine Grenzberichtigung, die Israel einen Streifen rund um Samaria von durchschnittlich drei Kilometern einbrachte 16 . Dadurch wurden die 15 16

2 *

Zu Jerusalem s. 26. Kapitel am Ende; zum Skopusberg s. 23. Kapitel. s. Karte 10.

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5. T e i l : Jüdische E r f ü l l u n g u n d Arabische Niederlage

israelischen Verkehrsverbindungen erleichtert und die militärisch so bedenklich schmale Stelle u m einiges erweitert. Die Grenzberichtigung trug jedoch i n der Folgezeit zu den vielen Grenzzwischenfällen bei, da sie einige auf den Höhen gelegene arabische Dörfer i m jordanischen Gebiet beließ, während die Felder der Dorfbewohner israelisch wurden. Eine Reihe von Problemen blieb ungelöst und späteren Verhandlungen vorbehalten. Hierzu sah A r t . V I I I des Waffenstillstandsabkommens einen Besonderen Ausschuß vor, der diese Probleme lösen sollte. Dieser Ausschuß konnte niemals zusammentreten, und es blieb bei der unbefriedigenden Grenzziehung.

I m Waffenstillstand von Transjordanien an Israel überlassene Gebiete (aus: Berger, Covenant and the Sword)

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5. T e i l : Jüdische E r f ü l l u n g und Arabische Niederlage

Die Verhandlungen mit Syrien waren sonderlich langwierig. Syrien hielt (abgesehen vom ägyptisch besetzten Gazastreifen) als einzige arabische Macht Gebietsteile innerhalb der ehemaligen Mandatsgrenzen militärisch besetzt, den Brückenkopf um Mischmar Hayarden. Da damit der Oberlauf des Jordans z. T. von syrischen Streitkräften besetzt war, Israel aber auf die Wasserversorgung des Jordans angewiesen war, machte es den Abschluß des Waffenstillstandes vom vollständigen syrischen Rückzug hinter die Mandatsgrenzen abhängig. Nach mehrmonatigen Verhandlungen einigte man sich auch hier auf die Bunche'sche Kompromißformel der entmilitarisierten Zone, was immer man darunter verstehen mochte. Aus Gründen, die hier dahinstehen mögen, wurden auch zwei Gebiete entmilitarisiert, die niemals von syrischen Streitkräften besetzt waren, der Kibbuz En Gev am Ostufer des Tiberiassees, der sich militärisch halten konnte, und Dardara (Aschmura), so daß die entmilitarisierte Zone auf drei nicht zusammenhängende Gebiete von zusammen 66,5 qkm ausgedehnt war. Da beide Seiten den Begriff der entmilitarisierten Zone verschieden verstanden, blieb das Gebiet bis zum Ende des Krieges 1967 ein Zankapfel zwischen beiden Parteien und führte zu schweren kriegsähnlichen Zwischenfällen 17 . I n den so i n Krieg und Verhandlungen erreichten Grenzen entwickelte sich der Staat Israel in der Folgezeit. Gegenüber dem Teilungsplan der V N war das israelische Staatsgebiet erheblich vergrößert. Der vorgesehene arabische Palästina-Staat und damit auch die arabisch-israelische Wirtschaftsunion sind weggefallen; Transjordanien hat sich das westjordanische Palästina 1949 einverleibt. Jerusalem, das internationalisiert werden sollte, ist zwischen Israel und Jordanien aufgeteilt worden. 2. Die hauptsächlichen Vorwürfe Beide Seiten haben von dem Krieg und seinen einzelnen Aktionen ein sehr unterschiedliches B i l d und legen die jeweilige Verantwortung ohne Zögern vor die Tür des anderen oder vor die Türen der Großmächte. Nun bleibt der Streit um Kriegsziele, Kriegsschuld und Verantwortung für Kriegsverbrechen und für Niederlagen erfahrungsgemäß meist unentschieden. Fehlen, wie hier, zudem noch verläßliche politische und militärische Angaben, so antwortet jeder um so eindeutiger nach seinem Standort, urteilt jeder Betrachter um so sicherer nach seiner Weltanschauung. Nach arabischem Geschichtsbild haben die Juden lange vor dem Einmarsch der Araber nach dem 15. Mai 1948 den Krieg begonnen. Sie verweisen hierzu auf die jüdischen Angriffe auf arabische Siedlungen i m 17

23. Kapitel.

18. Kap.: Der arabisch-israelische K r i e g 1947 - 1949

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geplanten jüdischen Staat (z. B. Tiberias, Haifa, Safed, Beisan u. a.); die Eroberung von Gebieten i m vorgesehenen arabischen Staat (z. B. Jaffa und Akko); auf die Vertreibung von 200 000 palästinensischen Arabern und Massaker wie Dair Yassin vor dem 15. Mai 1948; auf Erklärungen jüdischer Staatsmänner wie Ben Gurion, daß die jüdische Armee i m A p r i l 1948 zum Angriff übergegangen sei 18 . So falsch diese Sicht ist, sie macht das arabische B i l d aus und bestimmt daher heute das Verhältnis beider Seiten. Aber die Kämpfe brachen sofort nach dem Teilungsbeschluß der V N vom 29. November 1947 überall i m Lande aus. Die palästinensischen Araber versuchten insbesondere die jüdischen Siedlungen zu isolieren und überfielen jüdische Transporte. I n Jerusalem brachen schwere Kämpfe aus; alle Beobachter sind sich einig, daß die arabische Bevölkerung hier die Kämpfe begann, und daß jüdische Gruppen Gegenschläge ausführten. Aus den arabischen Nachbarländern fielen eine aus Syrien kommende Befreiungsarmee unter K w a u k i und syrische Freischärler ein; ihnen schlossen sich palästinensische Araber an, und diese Gruppen operierten tief i m heutigen Israel. Jerusalem mit ungefähr 100 000 Juden wurde völlig abgeschnitten. I n dieser Lage mußten die Juden die Verbindungswege freikämpfen. Da die Araber die jüdischen Siedlungen isolierten und die Zufahrtsstraßen blockierten, gleichgültig, ob diese Siedlungen i m geplanten jüdischen oder arabischen Staat liegen sollten, mußten die Juden auch i n den vorgesehenen arabischen Staat einfallen und arabische Stellungen und Siedlungen, die die Straße blockierten, erobern. Ein Blick auf den VN-Teilungsplan zeigt dies deutlich bei der Lage von Jerusalem; der nach Jerusalem führende Korridor war arabisch besiedelt; i n diesem Korridor lag auch Dair Yassin. So kann nicht zweifelhaft sein, daß palästinensisch-arabische Gruppen, die Befreiungsarmee Syriens und syrische Freischärler den Kampf begannen; auch die pro-arabische Darstellung Glubbs räumt dies ein. I n arabischer Sicht mag dies Notwehr gegen die fortgesetzte zionistische Aggression (hier: Aufbau des jüdischen Gemeinwesens und fortdauernde Einwanderung) und gegen einen i n ihren Augen völkerrechtswidrigen Teilungsbeschluß gewesen sein. Sie mögen die arabischen Angriffe als justum bellum terminieren — aber auch ein gerechter Krieg ist Krieg. Und niemand kann dem jüdischen Gemeinwesen vorwerfen, sich gewehrt zu haben. Mehr kann hierzu juristisch nicht gesagt werden: jede weitere Diskussion rollt die Balfour-Politik wieder auf. Unbestreitbar ist das Faktum des arabischen Einmarsches nach dem 15. Mai 1948; Ägypten hatte den Generalsekretär der V N i n aller Form von dem Einmarsch unterrichtet 1 9 . Daß Ägypten die Intervention als 18

z. B. Palestine. Veröffentlichung des Palestine Liberation Research Center (Beirut o. J.), S. 6: "Who started the War in 1948?" 19 „Egyptian forces have intervened in Palestine for the purpose of restor-

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5. T e i l : Jüdische Erfüllung und Arabische Niederlage

Polizeiaktion deklarierte, kann über den militärischen Charakter nicht hinweghelfen. Auch hier ist die rechtliche Diskussion entweder schnell zu Ende oder endet niemals: die arabischen Staaten waren als Mitglieder der V N an das Gewaltverbot gebunden; eine Notwehr (etwa zugunsten des gesamten arabischen Volkes) ist kaum zu konstruieren. Die Araber verweisen auf die jüdischen Angriffe auf arabische Siedlungen, auf die Vertreibung von 200 000 arabischen Palästinensern vor ihrer Intervention, auf das Massaker von Dair Yassin. Aber zu diesem Zeitpunkt war der Krieg innerhalb Palästinas eben i n einer Weise entbrannt, daß es nicht mehr möglich war, einer Seite die Schuld zuzuschieben. Beide Seiten sprechen von äußerer Einmischung. Aber für diese Diskussion fehlt jede gemeinsame Bezugsbasis. Die jüdische Seite sieht jede von außerhalb Palästinas kommende Hilfe für die palästinensischen Araber als Einmischung an; sie verweist auf die Arabische Legion Transjordaniens, auf die aus Syrien kommende Befreiungsarmee unter K w a u k i und auf die syrischen Freischärler. Auch andere Araber beteiligten sich vor dem 15. Mai 1948 am Kampfe; so soll etwa ein irakischer Offizier die Araber i n Jaffa kommandiert haben. Die Araber verweisen auf jüdische und nicht jüdische Freiwillige i n der jüdischen Armee, und für sie sind bereits die einströmenden jüdischen Einwanderer sich einmischende Ausländer. Die Stellung der Arabischen Legion läßt jede Interpretation zu 2 0 . Zunächst war sie offiziell Mandatsstreitmacht; gleichzeitig stand sie unter jordanischem Oberbefehl. Die Legion griff sofort nach dem Teilungsbeschluß i n die Kämpfe ein. Sie verteidigte Jerusalem und griff jüdische Versorgungskonvois für die Siedlungen an. Sie blockierte die Zufahrt nach Jerusalem, indem sie insbesondere die Eckfestung Latrun verteidigte, und überrannte die Siedlungen des Etzionblocks. Der Sicherheitsrat ließ durch den belgischen Konsul beim transjordanischen König gegen die Operationen der Legion in Palästina protestieren 2 1 ; Großbritannien forderte die Arabische Legion auf, bis zum 16. Mai 1948 Palästina zu verlassen. Die Legion blieb i n Palästina, da — so Glubb — das Gebiet sonst völlig schutzlos gewesen wäre. A m 14. Mai 1948 wurde die Legion reguläre trans jordanische Armee; Glubb soll gleichzeitig seine britische Staatsangehörigkeit aufgegeben haben 22 . Die übrigen 37 britischen Offiziere erhielten die Stellung von Freiwilligen des ing security and order and with the object of putting an end to acts of violence committed by the Zionist bands." 20 Außer Glubb s. noch: P. J. Vatikiotis, Politics and the Military in Jordan. A Study of the Arab Legion 1921 - 1957 (London 1967). 21 Glubb meint hierzu lediglich, der Sicherheitsrat habe wohl den Falschen als Aggressor verurteilt, da die Juden ja überhaupt erst ins Land gekommen seien. 22 Über diese Farce berichtet Glubb nur mit einer schnurrigen Erzählung.

18. Kap.: Der arabisch-israelische Krieg 1947 - 1949

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Jordanischen Staates. Aufgrund des Sicherheitsratsbeschlusses über das Embargo zog Großbritannien schrittweise die Offiziere ab und verlangsamte oder stoppte den Nachschub. Heftig umstritten ist das Verhalten der Legion. Für die jüdische Armee w a r sie die einzige ebenbürtige Streitkraft; die Legion hat Jerusalem, Hebron und einen Teil Samarias gehalten. Vor Latrun erlebten die jüdischen Streitkräfte ihre verlustreichsten Niederlagen. Trotzdem tendieren die Araber dazu, die Legion und Großbritannien für die arabische Niederlage verantwortlich zu machen. Nach ihrer Ansicht hätte die Arabische Legion das Zustandekommen des jüdischen Staates überhaupt verhindern müssen und können, indem sie kriegsentscheidend zur Küste vorstieß. Stattdessen habe Glubb infolge Absprachen m i t London sich darauf beschränkt, die dem arabischen Staate zugesprochenen Gebietsteile zu schützen. Darüber hinaus habe er auf britische Weisung weiterer Gebiete des vorgesehenen arabischen Staates, insbesondere die arabischen Städte Ramie und Lod, kampflos und ohne Not geräumt 2 8 . Zu diesen Vorwürfen kann nicht Stellung genommen werden, solange die Archive verschlossen sind. Inwieweit Glubb Anweisungen aus London empfing, ist bis jetzt Spekulation. Aber es scheint so zu sein, daß der Kampfauftrag der Legion 2 4 sich darauf beschränkte, die für den arabischen Staat vorgesehenen Gebiete vor jüdischer Besetzung zu schützen. Die Vorwürfe reichen schließlich i n die gesamte Leitung der arabischen Streitkräfte hinein: ihre Kriegsziele, ihre Kriegsführung, ihre K o m mandostrukturen. Die Darstellungen variieren erheblich, aber aus der Gesamtheit des Materials w i r d klar, daß die arabischen Kräfte eher gegeneinander aufmarschierten und nicht nach einem gemeinsamen strategischen Plan 2 5 . Abdulla von Transjordanien und m i t ihm Glubb wollten große Teile Palästinas m i t Jerusalem annektieren; das w a r nur möglich, wenn Palästina etwa i m Sinne des Teilungsplanes der V N geteilt wurde und kein gesamtpalästinensischer Staat entstand. Die arabische Seite durfte daher nicht v o l l siegen, und daher war Abdulla verständigungsbereit 2 6 . I n diesem Sinne operierte die Arabische Legion, und Glubb bemühte sich, die Araber i m westjordanischen Gebiet für Abdulla zu gewinnen. Syrien wollte Galiläa annektieren. Aber Jordanien und Syrien konnten nicht gemeinsam vorgehen, da Abdulla gleichzeitig noch den alten Haschemitentraum von der Annexion Syriens und Damaskus 23 Hier leuchtet die militärische Erklärung Glubbs, sich vor überlegenen jüdischen Kräften und im Rahmen von Absprachen mit den übrigen arabischen Kommandeuren auf die judäischen Höhen zurückgezogen zu haben, ein.

24 25

s. Glubb, S. 157 ff.; Lorch, S. 279 ff.

Ob ein gemeinsamer Plan überhaupt bestand ist, strittig; s. Glubb, Lorch, S. 141 ff. 26 Uber Verhandlungen mit Israel liegen widersprechende Berichte vor, s. etwa Lorch, S. 143; s. auch Kirkbride, Crackle of Thorns.

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5. T e i l : Jüdische E r f ü l l u n g und Arabische Niederlage

hegte. Da damals auch i m Irak noch eine haschemitische Dynastie regierte, wäre dies ein Machtblock geworden, der für die übrigen Araber, insbesondere auch für Saudisch-Arabien unannehmbar war. Zu den heftigsten Gegnern Abdullas gehörten die u m Hadsch A m i n gruppierten palästinensischen Araber, die einen arabisch-palästinensischen Staat errichten wollten 2 7 . Einen solchen Schattenstaat nebst Regierung hatte die Arabische Liga i m September 1948 ausgerufen; i h r „National Palestine Council" trat am 1. Oktober 1948 i n Gaza zusammen und wurde von Ägypten, Syrien, Libanon und schließlich auch vom Irak anerkannt. Zum Präsidenten wurde Hadsch A m i n gewählt. Abdulla sah hierin vornehmlich eine gegen ihn gerichtete Maßnahme und erklärte die Ausrufung für unvereinbar m i t den früheren Beschlüssen der Arabischen Liga. Er organisierte seinerseits Konferenzen i n Amman und Jericho m i t Vertretern palästinensischer Araber und Flüchtlingen und veranlaßte Beschlüsse, die auf eine Vereinigung Palästinas und Transjordaniens hinausliefen 28 . Hadsch A m i n seinerseits wurde von Ägypten gestützt. Der ägyptische Vormarsch i n Palästina war eher gegen die Arabische Legion als gegen die Juden gerichtet. Statt auf Tel A v i v zu marschieren, was die Juden wahrscheinlich nicht hätten verhindern können, teilte Ägypten seine Streitkräfte und ließ die eine Einheit vor Aschdod festliegen und schickte die andere Einheit durch den Negev nach Hebron. Von weiteren innerarabischen Rivalitäten könnte hier berichtet werden. So sollen selbst zwischen der Haganna und K w a u k i gegen Hadsch A m i n gerichtete A b sprachen erfolgt sein 29 . Beide Seiten unterstellen sich gegenseitig weitreichende Kriegsziele. Aber die Ziele der Beteiligten sind weitgehend unbekannt. So stellt die arabische und pro-arabische Seite die Bereitschaft der Jewish Agency und der Haganna i n Frage, die Grenzen des Teilungsplanes w i r k l i c h zu akzeptieren. Sie meint, zumindest starke Kräfte i m jüdischen Gemeinwesen seien fest entschlossen gewesen, sich der Internationalisierung Jerusalems zu widersetzen und die Stadt zur jüdischen Hauptstadt zu machen. Jedenfalls hätten sich Jewish Agency und Haganna den extremistischen Kräften der Irgun nicht m i t Waffengewalt widersetzt oder dies auch nur gekonnt. Sie verweist etwa auf den A n g r i f f der Irgun auf Jaffa vor der Unabhängigkeitserklärung, dem Jewish Agency und Haganna aus politischen und militärischen Gründen widersprochen hatten, die sie aber schließlich unterstützen und zu Ende führen mußten. Die 27 Gutdokumentierte Darstellung der Geschichte Hadsch Amins und seiner Palästinensischen Regierung bei J. Schechtman, The Mufti and the Fuehrer (New York 1965), Kapitel 6. 28 Beschluß der Konferenz von Jericho vom 1. Dezember 1948: "Palestine and Transjordan constitute one indivisible unit. The unity of Palestine and Transjordan is a prior condition for any final settlement."

29

Schechtman, S. 226 ff.

18. Kap.: Der arabisch-israelische Krieg 1947 - 1949

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zionistische Seite dagegen verweist auf die i n Jaffa postierten arabischen Schützen, die Tel A v i v bedrängten. Das Kräfteverhältnis beider Seiten scheint i n Umrissen bekannt zu sein 30 . Die jüdische Seite hat zunächst das propagandistisch wirkungsvolle B i l d von David und Goliath hervorgerufen und eine numerisch hoffnungslose jüdische Unterlegenheit gezeichnet. Dazu stellte sie entweder die damalige Zahl der palästinensischen Juden von 650 000 den Bevölkerungszahlen der arabischen Länder gegenüber oder sie verglich die mehr oder weniger offiziellen Gesamtzahlen der arabischen Armeen. Aber die arabischen Palästinenser waren nahezu unorganisiert, und die arabischen Staaten konnten aus politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gründen nur Kontingente abstellen, so daß die jüdische Seite numerisch nicht so hoffnungslos unterlegen war. Das Kräfteverhältnis verschob sich insbesondere i n den verschiedenen Phasen zugunsten der Juden, die ihre Einwanderung forcieren konnten. So verfügte die jüdische Armee am 15. Mai 1948 anscheinend über 30 000 Mann, am Ende des 1. Waffenstillstandes (11. Juni 1948) über ungefähr 50 000 Mann; ihnen standen an arabischen Armeekontingenten zunächst nur 22 000 Mann gegenüber. I m Oktober hatte sich das Verhältnis erheblich zugunsten der Juden verschoben: Nach Glubb standen ungefähr 56 000 arabischen Soldaten j ü d i sche Streitkräfte von 120 000 Männern und Frauen, nach jüdischen Quellen 90 000, gegenüber. Die unter K w a u k i operierende Befreiungsarmee scheint i n ihrem K e r n aus ungefähr 2200 Mann, davon 600 reguläre syrische Soldaten und etwa 1500 Freiwillige aus arabischen Nachbarländern bestanden zu haben. Je nach Kriegsglück stießen arabische Palästinenser zu. Der militärische Wert der „Irregulären" beider Seiten w i r d gering beurteilt. Die Befreiungsarmee Kwaukis scheint vornehmlich die eigene Bevölkerung geplündert zu haben. Ihre militärischen Operationen (etwa gegen Mischmar Haemek) waren stümperhaft und endeten sämtlich in ziemlich unverständlichen Niederlagen. Sie akzeptierte die Waffenstillstände nicht, da sie als Nicht mitglied der V N nicht gebunden sei. Das Ergebnis war für die arabische Sache verheerend. Während des 2. Waffenstillstandes griff die Befreiungsarmee jüdische Siedlungen an. Die israelische Armee ergriff die Gelegenheit und eroberte ganz Galiläa. Auch der militärische Wert von Irgun und Stern scheint gering gewesen zu sein; hierin sind sich zumindest die meisten Beobachter einig. Wie immer man Irgun wegen ihrer Terroraktionen moralisch beurteilen mag; wie hoch man ihren politischen Wert für die Beendigung des Mandats einschätzen mag; wie immer man die Bedeutung ihrer Terroraktionen im Kriege für den Exodus der Araber verantwortlich macht und gerade die Gestaltung des israelischen Staates von ihnen geformt ansieht; sie erfüllten die militärischen Erwartungen nicht. Der Angriff auf Jaffa mußte praktisch von der Haganna zu Ende geführt werden; andere Beispiele könnten genannt werden. 30

Jüdische Angaben bei Lorch; arabische Angaben bei Glubb, S. 94.

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5. T e i l : Jüdische E r f ü l l u n g und Arabische Niederlage

Diese numerischen Vergleiche sind aus vielen Gründen von begrenztem Wert: — Die Berechnungen sind verschieden. Die für die arabischen Kontingente gegebenen Zahlen erfassen nur Soldaten; die für die Juden gegebenen Zahlen auch die Versorgungsdienste einschließlich des weiblichen Personals. — Der Ausbildungsstand kann nicht verglichen oder auch nur generell geschildert werden: die syrische Armeeeinheit und die Arabische Legion waren gut ausgebildet; die ägyptischen Einheiten waren von unterschiedlichem Wert; die jüdischen Einheiten waren zum Teil vorzüglich ausgebildet, zum Teil aber bestanden sie aus europäischen Flüchtlingen, die ohne Ausbildung i n den Kampf geworfen wurden. — Bewaffnung, Ausrüstung, Ausbildung und Organisation waren unvergleichbar. Bis zum Ende der Mandatszeit konnten sich beide Volksgruppen nicht offiziell militärisch bewaffnen und organisieren. Für die palästinensischen Araber blieb es weitgehend dabei; sie haben zwar A u f stände inszeniert, aber nie eine systematische militärische Organisation und Ausbildung unternommen. Infolge ihrer Passivität i m 2. Weltkriege hatten nur ungefähr 6000 palästinensische Araber eine militärische Ausbildung i n der britischen Armee erhalten. Auch eine eigentliche militärische Ausrüstung der palästinensischen Araber war nicht vorhanden. Über die Ausrüstung der arabischen Armeen w i r d Verschiedenes berichtet. Jedenfalls waren sie bis zum 1. Waffenstillstand den Juden überlegen, und erst nach der Ankunft der tschechischen Waffen änderte sich das Verhältnis. Der Beschluß des Sicherheitsrates vom 29. M a i 1948 über einen vierwöchigen Waffenstillstand hatte allen Mitgliedern der V N empfohlen, keine Waffen in das Kriegsgebiet zu liefern. Großbritannien war in einer schwierigen Lage, da es gegenüber Transjordanien, Ägypten und dem Irak zu Beistand und Lieferung von Waffen verpflichtet war; die höheren Offiziere der Arabischen Legion waren Engländer. Nach Glubbs Darstellung hat Großbritannien am 29. M a i 1948 seine Versorgungsleistungen an die Legion eingestellt und die abkommandierten britischen Offiziere zurückberufen 31 . Die Araber sahen hierin eine Art britischen Dolchstoßes und machen etwa geltend, daß der Sicherheitsratsbeschluß nicht den Abzug des militärischen Personals erfordert hätte. Großbritannien berief sich auf Klauseln in den Verträgen, wonach seine Verpflichtungen nicht in Widerspruch zu den Pflichten aus der S V N stehen durften.

— Unberücksichtigt bleibt schließlich, daß beide Seiten einen Volkstumskampf geführt haben. Haganna, Palmach und Irgun haben die m i l i tärischen Operationen ausgeführt, und sie haben oft die Verteidigung 31

Glubb, S. 89 ff. Glubb ausgenommen, der nicht abkommandiert war, sondern in jordanischen Diensten stand.

18. Kap.: Der arabisch-israelische K r i e g 1947 - 1949

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jüdischer Siedlungen verstärkt und die Verbindungen freigekämpft. Aber die gesamte jüdische Bevölkerung der isolierten Siedlungen hat m i t gekämpft; vor allem i m Negev waren diese Siedlungen gerade aus strategischen Gründen angelegt worden. Viele Siedlungen waren ohne Haganna-Verstärkung und konnten sich gegen die ägyptische Armee halten oder doch den ägyptischen Vormarsch auf Tel A v i v tagelang aufhalten 3 2 . Die südlich des Tiberiassees liegenden Siedlungen haben den syrischen Vormarsch blockiert. Auch die palästinensisch-arabische Bevölkerung hat sich am Kampf beteiligt, auch wenn weniger wirkungsvoll und i n geringem Umfang 3 3 . Die Befreiungsarmee Kwaukis war zeitweise durch viele palästinensische Araber verstärkt. Das Verhalten Großbritanniens sehen beide Seiten als Parteinahme für die Gegenseite. Aber Großbritanniens Haltung kann nicht so eindeutig beurteilt werden. Bereits vor dem Teilungsbeschluß hatte Großbritannien jede Verantwortung für die Durchführung des Beschlusses abgelehnt und erklärt, sich zum 15. M a i 1948 aus Palästina zurückzuziehen. Die V N hatten Großbritannien bis zum Ende des Mandats für die Aufrechterhaltung der Ordnung verantwortlich gemacht und i h m aufgetragen, die Verwaltung an die Kommission zu übertragen; Großbritannien hatte jedoch die Zusammenarbeit m i t der Kommission praktisch verweigert und sich ganz auf seinen Rückzug beschränkt. I n Palästina verlor die Mandatsmacht jede Herrschaft und ließ es zu, daß beide Volksgruppen i n heftige Kämpfe gerieten, vor allem i n Jerusalem 34 . I n diesem Kampf begünstigte die Mandatsmacht bald die eine, bald die andere Seite; dies hing weitgehend von dem örtlichen Kommandeur ab: — Unmittelbar nach dem Teilungsbeschluß griffen i n Jerusalem Araber die jüdischen Stadtteile an; als die Haganna sich ihnen entgegenstellte, wurde sie zum Teil von britischen Truppen an der Verteidigung gehindert. — Als die arabische Befreiungsarmee aus Syrien i m Norden Galiläas einfiel, zog Großbritannien weitgehend seine Garnisonen zurück; dagegen verteidigte seine Armee K f a r Szold gegen diese Befreiungsarmee. — I m allgemeinen tat Großbritannien alles, u m bei seinem Rückzug die militärischen Einrichtungen den Arabern zukommen zu lassen; m i t 32 z. B. Kfar Darom im Süden des späteren Gazastreifens; Kibbuz Yad Mordechai an der Nordostgrenze des Gaza-Streifens; s. etwa M. Larkin, The Six Days of Yad Mordechai (Israel, ohne Ortsangabe 1965). 33 Bekannt etwa die Eroberung des südlich Jerusalems liegenden jüdischen Siedlungen des Etzion-Blocks durch die Arabische Legion und arabische Palästinenser. 34 R. M. Graves , Experiment in Anarchy (London 1949); Cunningham , Palestine: The Last Days of the Mandate, 24 International Affairs (London 1948), Nr. 4.

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5. T e i l : Jüdische E r f ü l l u n g u n d Arabische Niederlage

unter übergab sie sie offiziell an die Araber (Safed). Es gelang jedoch den Juden meistens, sich selbst i n den Besitz der Einrichtungen zu setzen. A n einigen Stellen begünstigten die britischen Offiziere hierbei die Juden. — Mitunter retteten britische Einheiten vom Massaker bedrohte Juden; mitunter griffen sie i n empörender Weise nicht ein, obwohl dies möglich gewesen wäre, wie beim Hadassa-Konvoi; mitunter entwaffnete sie jüdische Soldaten und lieferte sie arabischer Volkswut aus (Verteidiger der Hayotzoh-Fabrik). I m ganzen begünstigte die Mandatsmacht militärisch eher die Araber und leistete den Juden höchstens humanitäre Hilfe. Verbunden m i t der unklaren Haltung der Arabischen Legion kann so jede Seite das Verhalten der Mandatsmacht nach ihrem Schema darstellen. Die bitterste Kontroverse geht um den Exodus der palästinensischen Araber; hier sind nicht nur die beiderseitigen Thesen radikal verschieden, sondern beide Seite tragen ihre Sicht m i t so viel Erbitterung vor, daß sie jedes Eingehen auf die gegnerische These einer Kollision m i t Genozid gleichsetzen 35 . Auch hier mag die Kategorie „Bezugsrahmen" ihre Dienste leisten: i m pro-israelischen Rahmen erscheinen die zur Flucht führenden Einzelheiten als Anhäufung von Zufällen und sind die jüdischen Terrorakte bedauerliche A k t e dissidenter Gruppen, ohne gewollten Zusammenhang m i t dem Gesamtgeschehen; i m antiisraelischen Bezugsrahmen erscheinen sie als kalkulierter und programmierter Terror, nicht zuviel, um nicht die prozionistische Weltmeinung zu bewegen, nicht zuwenig, u m sich nicht der W i r k u n g zu berauben. In zionistischer Sicht hat die arabische Führung ihre Volksgruppe zur Flucht aufgefordert, um den arabischen Armeen freie Bahn für die Kriegsführung zu schaffen. Die zionistische und israelische Propaganda haben erhebliche Anstrengungen gemacht, um diese Sicht zumindest i n der europäisch-amerikanischen Sicht zur allgemeinen Überzeugung werden zu lassen. In arabischer Sicht haben die Zionisten von Beginn an die Vertreibung geplant und nach diesem sog. Plan Dalat gehandelt: durch Überredung Einschüchterung, kalkulierten Terror und wohldosierte Massaker hätten die jüdischen Streitkräfte die arabische Bevölkerung vor sich hergetrieben. 35 Lit.: Khoury , Kap. V I ; R. E. Gabbay, A Political History of the ArabJewish conflict: The Arab Refugee Problem. A Case Study (Genf 1959); Hadawi, Bitter Harvest Kap. V I I ; ders., Les réfugiés arabes, T M S. 176 ff.; Walid Khalidi, Why did the Palestinians Leave? Middle East Forum, 1959 Juli, Dezember; E. Childers , The Other Exodus, The Spectator 12. M a i 1961; abgedruckt in Laqueur, Dok. 34; L. van der Hoeven, The Truth about Palestine (Den Haag 1960).

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Die zionistische Literatur weist jüdische Terrorakte meist weit von sich. Sie verweist auf den alten, m i t „Selbstbeherrschung" (Havlaga) umschriebenen Grundsatz der Haganna, keine Vergeltungsschläge gegen die arabische Bevölkerung auszuüben. Etwaige Terrorakte seien von den zionistischen „dissidenters" Irgun und Stern begangen worden, die sich gerade aus Protest gegen diese Politik der Zurückhaltung abgespalten hätten; über sie hätten aber Haganna und Jewish Agency keine Kontrolle gehabt. Nicht nur das Massaker von Dair Yassin sei von der Irgun verübt worden, sondern auch sonstige Terrorakte 3 6 . Tatsache ist, daß der größere Teil der arabischen Bevölkerung des späteren israelischen Staatsgebiets floh und seitdem in Flüchtlingslagern rund um Israel lebt. Die genaue Zahl der Flüchtlinge ist unbekannt: jüdische Angaben sprechen von 500 000 - 600 000 Flüchtlingen, die Araber von 800 000 - 1 Million. Seitdem ist die Zahl der in Flüchtlingslagern Lebenden weiter angeschwollen; die Angaben über diese Zahlen differieren noch stärker 3 7 . Die Forschung hat erhebliche Mühe auf die Ursachen der Flucht verwendet und alle erreichbaren Dokumente und Aussagen geprüft 3 8 . Wieder einmal muß sich der Leser m i t einem komplexen Vorgang abfinden, i n dem er selbst die Gewichte verteilen mag: — Für einen zionistischen Plan zur Vertreibung der arabischen Bevölkerung gibt es keine Belege. Ein hierfür angeführter Plan Dalat spricht nur von militärischen Inbesitznahmen der Gebiete des i m Teilungsplan vorgesehenen jüdischen Staates und der zum Schutze der jüdischen Siedlungen notwendigen Gebiete 39 . — Arabische Aufrufe, das Land zu verlassen, von denen die zionistische Geschichtsschreibung noch heute spricht, haben sich nie finden lassen. Die Forschung hat die Aufzeichnungen, Beschlüsse und Presseveröffentlichungen der Arabischen Liga durchgeprüft; sie hat die arabischen Zeitungen gelesen und die Radiosendungen der arabischen Hauptstädte und arabischer M i l i t ä r - und Geheimsender abgehört; diese Überprüfung war möglich, weil britische Stellen damals sämtliche Sendungen aufnahmen und die Bänder noch heute i m British Museum abhörbar 36 A m 5. Januar 1948 schmuggelte die Stern-Gruppe einen Lastwagen mit Sprengstoff ins arabische Jaffa, es gab über 100 Tote. 37 s. 27. Kapitel 2. 38 Zeitlich führend für die Aufklärung etwa Don Peretz in „Issues", Herbst

1959; Childers.

39 Der Plan Dalat lautet in seiner Hauptpassage: "To gain control of the area allotted to the Jewish State and defend its borders, and those of the blocs of Jewish Settlements and such Jewish population as were outside those borders, against a regular or pararegular enemy operating from bases outside or inside the area of the Jewish State." s. Lorch, S. 87; arabische Sicht: Walid Khalidi, Plan Dalat — The Zionist Master Plan for the Conquest of Palestine, Middle East Forum (Beirut), November 1961; Geries, S. 148.

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sind. N i r g e n d w o k o n n t e e i n H i n w e i s f ü r d i e zionistische These g e f u n d e n w e r d e n ; die arabischen Sender h a t t e n v i e l m e h r z u m A u s h a r r e n a u f g e f o r dert. D i e israelischen B e h ö r d e n k o n n t e n auch a u f D r ä n g e n der Forscher nie einen Nachweis erbringen. — D e r Exodus begann erst spät. W ä h r e n d d e r K ä m p f e , die u n m i t t e l b a r nach d e m Teilungsbeschluß d e r V N v o m 23. N o v e m b e r 1947 ausbrachen, flohen zunächst n u r u n g e f ä h r 30 000 A r a b e r , die v o r n e h m l i c h d e m B ü r g e r stande a n g e h ö r t e n ; i h r e F l u c h t h a t die arabische V o l k s g r u p p e w e i t g e h e n d f ü h r e r l o s gemacht. D i e Massenflucht b e g a n n erst nach d e m 1. A p r i l 1948, als die j ü d i s c h e n T r u p p e n i n a r a b i s c h - b e w o h n t e G e b i e t e vorstießen. I n diesen Z e i t a b s c h n i t t f a l l e n e i n i g e M a s s a k e r a n A r a b e r n ; das b e k a n n t e s t e w u r d e D a i r Yassin, das i n arabischer S i c h t e t w a die S y m b o l f u n k t i o n v o n L i d i c e u n d Oradour angenommen hat. Dair Yassin lag im Korridor nach Jerusalem, den die Juden im Verlaufe der Operation Naschon für die Versorgung Jerusalems freikämpften 40 . Es scheint heute festzustehen, daß die Bewohner selbst sich aus dem Kampfe herausgehalten hatten und den arabischen Freischärlern Hadsch Amins den Aufenthalt im Dorf verweigerten. Anscheinend setzten sich dann doch Freischärler von Abd el Kader fest, und es kam zum Kampf mit Irgun-Truppen. Irgun soll vier Tote und 40 Verletzte gehabt haben, die aber auch von arabischen Freischärlern in der Nähe des Dorfes verursacht sein können. Irgun nahm das Dorf ein und tötete die Einwohner; da die Männer zur Arbeit in Jerusalem waren, handelte es sich vornehmlich um Frauen, Kinder und Alte. 254 wurden dabei kaltblütig ermordet 41 . Diese Darstellung ist im wesentlichen unstrittig; alle zionistischen und israelischen Autoren stellen sie so dar; Ben Gurion sandte ein Beileidstelegramm an Abdulla von Transjordanien; der Führer der Irgun, Begin, rechtfertigt das Massaker offen mit der Notwendigkeit der Vertreibung der Araber 4 2 . Aber alle zionistischen und israelischen Autoren salvieren sich, indem sie das Massaker allein der Irgun anlasten, die zu dieser Zeit „dissidenters" waren und sich der politischen Führung der Jewish Agency und weitgehend der militärischen Führung der Haganna entzogen hatte. Es ist klar, daß die Araber das Verhalten zionistischer Extremisten voll der jüdischen Volksgruppe anlasten; jede nationale Gruppe muß für ihre Extremisten einstehen. Aber die Kritiker verweisen auf die zumindest partielle militärische Zusammenarbeit zwischen Haganna und Irgun; der Angriff auf Dair Yassin war gemeinsam geplant; die Jewish Agency wußte um den Extremismus der Irgun und überließ doch die Verantwortung für Dair Yassin allein der Irgun. Schließlich hat die Jewish Agency am Tage nach dem Bekanntwerden des Massakers ein Abkommen über die Zusammenarbeit zwischen Haganna und Irgun geschlossen. 40 s. Karte Jerusalem. Die Araber verweisen auf weitere Massaker: Sa la Huddin; Saffuriga; Ain-az-Zeitum. 41 Die unparteiischste Darstellung dürfte von de Reynier sein, S. 71 ff. 42 M. W. konstruiert sich von allen Autoren nur Jochanaan Bloch eine eigene Geschichte zusammen, wonach die Araber nicht ermordet, sondern bei der Verteidigung des Dorfes gefallen seien. Kurze Geschichte des Zionismus, S. 81 ff., S. 142.

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Die arabische Vergeltung ließ nicht auf sich warten; die Araber griffen am 12.4.1948 einen jüdischen Konvoi an, der zum Skopusberg fuhr 4 3 , und töteten 77 Doktoren und Krankenpflegerinnen. Die Einzelheiten sind strittig: der Konvoi fuhr mit der Flagge des Roten Kreuzes, aber die Araber meinen, er habe die jüdischen Truppen im Hadassa-Komplex versorgen sollen; außerdem war der Konvoi bewaffnet 44 . Britische Truppen hätten das Massaker verhindern können, griffen aber nicht ein.

— Dagegen berichtet die Forschung von vielen zionistischen Aufforderungen an die arabische Bevölkerung, ihre Siedlungen fluchtartig zu verlassen; das ist m i t prozionistischen Autoren und Teilnehmern der Haganna belegbar. — Einer der Hauptgründe für den Exodus ist i n der Panik der arabischen Bevölkerung zu sehen. Diese Panik war zweifellos durch einige jüdische Massaker, durch zionistische Terrormaßnahmen und durch zionistische Propaganda mitausgelöst. Das Versagen liegt aber auch bei der arabischen Führung, die ihre Bevölkerung nicht organisierte und disziplinierte. Ein übriges tat ihre eigene Propaganda: während die Zionisten arabische Massaker und individuelle Greueltaten nicht ausbreiteten und bewußt auf die Propagandawirkung verzichteten, um ihre eigene Bevölkerung i n den exponierten Siedlungen nicht i n Panik zu versetzen, breitete die arabische Propaganda die jüdischen Terrormaßnahmen gründlich aus und erfand neue hinzu; sie selbst setzte ihre Volksgruppe i n Panik. Das Gegenbeispiel bietet Nazareth: ein entschlossener arabischer Bürgermeister führte die Gemeinde, und Nazareth ist noch heute das größte arabische Zentrum i n Israel. Umgekehrt haben die Juden alles getan, um die arabische Bevölkerung von Haifa zum Bleiben zu bewegen: hier sind die Araber nach Abschluß der Kämpfe und ohne ersichtlichen Grund geschlossen abgewandert. 3. Tätigkeit der V N während des Krieges Die V N versuchten während der gesamten Zeit vom Teilungsbeschluß bis zu den Waffenstillständen die Entwicklung i n Palästina wieder i n die Hand zu bekommen. Wegen der bürgerkriegsähnlichen Lage vor der Unabhängigkeitserklärung rief der Sicherheitsrat eine Sondersitzung der Vollversammlung ein (16. A p r i l bis 14. M a i 1948). Da sich die Lage in Palästina zunehmend verschärfte und die V N den Teilungsbeschluß nicht durchsetzen konnten, gewann i n der Vollversammlung der Gedanke einer Treuhandschaft der V N an Boden. Die Ausrufung der Unabhängigkeit Israels am 14. Mai 1948 machte diese Überlegungen hinfällig. M i t der Unabhängigkeitserklärung und dem offiziellen Einmarsch der arabischen Armeen 43

23. Kapitel. Dies rügt insbes. De Reynier: ein Konvoi müsse sich entweder militärisch verteidigen oder sich voll und unbewaffnet dem Roten Kreuz unterstellen. 44

22 Wagner

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war der politische Lösungsversuch der Vollversammlung der V N gescheitert. Bereits vorher hatte der Sicherheitsrat die Führung i n den V N übernommen. Der Sicherheitsrat

nahm i n zweifacher Weise Einfluß auf die Kämpfe.

I n einer Serie von Entschließungen forderte er die Parteien auf, die Feindseligkeiten einzustellen. Seine Appelle wurden zunehmend dringender und verbindlicher. Bereits vor der Unabhängigkeitserklärung und vor dem Einmarsch der arabischen Armeen hatte der Sicherheitsrat alle Regierungen und „authorities" aufgefordert („calling upon"), feindselige militärische Maßnahmen i n Palästina zu unterlassen (Entschließung vom 23. A p r i l 1948). Nach der Unabhängigkeitserklärung und nach dem arabischen Einmarsch wurden seine Entschließungen befehlender. M i t Entschließung vom 29. Mai 1948 verlangte er („requested") eine vierwöchige Feuereinstellung. Gleichzeitig fügte er hinzu, daß er bei Nichtbefolgung die Lage i m Hinblick auf Kapitel V I I der SVN betrachten werde: d. h. er drohte Sanktionen an. Die (erste) Feuereinstellung kam am 11. Juni 1948 zustande. Als nach Ablauf dieser vierwöchigen Feuereinstellung die Kämpfe wieder einsetzten, stellte er m i t der Entschließung vom 7. J u l i 1948 fest, daß die Lage i n Palästina eine Bedrohung des Friedens i m Sinne des A r t . 39 der SVN darstelle; eine Feststellung, die der Sicherheitsrat i m allgemeinen vermeidet. Gleichzeitig befahl er den Betroffenen („orders the governmental authorities") gemäß Art. 40 von allen militärischen Aktionen abzusehen und forderte sie dringend auf („urgently appeals"), das Feuer einzustellen. Er erklärte, Nichtbefolgen sei ein Bruch des Friedens i m Sinne des A r t . 39, und stellte für diesen Fall die i n Kapitel V I I vorgesehenen Zwangsmaßnahmen i n Aussicht. A m 16. November 1948 befahl er den Parteien erneut, das Feuer einzustellen und überdies einen Waffenstillstand abzuschließen. Dieser Beschluß führte schließlich zu den Waffenstillständen. Gleichzeitig setzte der Sicherheitsrat eine Reihe von Unterorganen der VN ein, die sich i n der Folgezeit erheblich weiter entwickelten. Die Waffenstillstandskommission (Truce Commission for Palestine) wurde bereits vor der Unabhängigkeitserklärung und vor dem Einmarsch durch Entschließung vom 23. A p r i l 1948 eingesetzt. I h r sollten Vertreter der Mitgliedstaaten angehören, die i n Palästina beamtete Konsuln unterhielten. Dies waren Belgien, Frankreich und die USA: Syrien hatte es abgelehnt, einen Vertreter zu bestellen. Diese Auswahl der Vertreter wurde als larvierter Ausschluß der Sowjetunion bezeichnet. Die Kommission sollte zusammen mit dem Vermittler den Sicherheitsrat bei der Überwachung der von i h m am 17. A p r i l 1948 geforderten Feuereinstellung unterstützen. Als nach der Unabhängigkeitserklärung die Kämpfe in ganz Palästina an allen Fronten losbrachen, war die Kommission schon personell nicht i n der Lage einzugreifen. Ihre Tätigkeit beschränkte sich

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auf Jerusalem; vom übrigen Palästina blieb sie abgeschnitten. Sie konnte so nur i n geringem Ausmaß tätig werden 4 5 . Eine Absprache mit dem Vermittler sanktionierte diese gebietliche Begrenzung. Von größerer Bedeutung war die Folge. Nach dem Einsetzungsbeschluß sollten die Kommissionsstaaten militärische Beobachter, weiteres Personal und Material zur Verfügung stellen. Daraus entwickelte sich dann die United Nations Truce Supervision Organisation (UNTSO). Insbesondere während der 2. Feuereinstellung wurde die UNTSO tätig. Hier ging es um die Einhaltung der Bedingungen der Feuereinstellung, insbesondere um das Embargo von Waffen und Einwanderern i m militärfähigen Alter. Die UNTSO verfügte während dieser Zeit über mehr als 300 militärische Beobachter. Nach den Waffenstillständen von Rhodos wurde die UNTSO Teil dieses Waffenstillstandssystems 46 . Schließlich schufen die V N das A m t eines Vermittlers (mediator) für Palästina. Die Vollversammlung löste am 14. Mai 1948 die PalästinaKommission auf und versuchte es statt dessen m i t einem Vermittler. A m 20. Mai 1948 wählte ein hierfür bestellter Ausschuß, nämlich die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, den Präsidenten des schwedischen Roten Kreuzes, Graf Folke Bernadotte. Der Vermittler hatte nach den Kategorien des Verfassungsrechts der V N gesehen eine eigenartige Doppelstellung, da er beiden Organen, Vollversammlung und Sicherheitsrat, gegenüber verantwortlich war. Diese Doppelstellung rührte von den verschiedenen Aufgaben her, die i h m übertragen waren. — Er sollte die kurz vorher vom Sicherheitsrat angeordnete Feuereinstellung überwachen. Dazu sollte er m i t der vom Sicherheitsrat eingesetzten Waffenstillstandskommission für Palästina zusammenarbeiten. I m Laufe des Krieges wurde er dann beauftragt, weitere Feuereinstellungen und später den Waffenstillstand herbeizuführen. Für diese Aufgabe sollte er mit dem Sicherheitsrat zusammenarbeiten, von i h m Instruktionen annehmen und ihm gegenüber verantwortlich sein. — I n den wichtigsten politischen Problemen sollte er vermitteln und eine friedliche Regelung herbeiführen. Insoweit war er von Instruktionen der Vollversammlung abhängig und ihr verantwortlich 4 7 . Verbunden m i t einer Reihe weiterer Funktionen, die praktisch die partielle Verwaltung Palästinas betrafen, gingen die Aufgaben weit über das hinaus, was gewöhnlicherweise einem Vermittler obliegt. Die Weite dieser Aufgaben ist z. T. damit zu erklären, daß während der Treuhandschaftsdebatte an einen Kommissar gedacht wurde, dieser Begriff aber wegen der Nähe zum Hohen Kommissar, dessen A m t gerade beendet 45

Zionistische Darstellung ihrer Tätigkeit bei Eytan, Kapitel 1. s. 21. Kapitel. 47 Seine Berichte, die Progress Reports of The U N Mediator on Palestine, sind als Dokumente der Vollversammlung veröffentlicht. 46

22*

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werden sollte, fallen gelassen wurde; i m übrigen hatte er die Nachfolge der Palästinakommission angetreten. Die Befugnisse des Vermittlers waren aber vage formuliert, und weder Vollversammlung noch Sicherheitsrat haben ihm die wünschenswerten Instruktionen gegeben. Der Vermittler bemühte sich zu allererst um die Feuereinstellung. Zum Teil durch seine Bemühungen kam es zu mehreren Feuereinstellungen, die schließlich — unter aktiver Mithilfe des Nachfolgers von Bernadotte — zu den endgültigen Waffenstillständen führten. Nach der ersten Feuereinstellung und parallel zu seinen weiteren Bemühungen um Waffenstillstände bemühte er sich um eine politische Lösung für die endgültige Friedensregelung. Da seine Vorstellungen den Teilungsplan der V N in Frage stellten, ist hier davon zu berichten. Hierfür verstand Bernadotte seine Aufgabe i m Sinne des allgemeinen völkerrechtlichen Begriffs der Vermittlung, wie er i m 2. Haager Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle verwendet und näher umrissen w i r d 4 8 . Danach ist der Vermittler kein Schiedsrichter und hat keine autoritativen Entscheidungen zu fällen. Er gibt Ratschläge und empfiehlt; er entscheidet nicht. Seine Rolle endet, sobald er oder eine der Streitparteien feststellen, daß seine Vorschläge nicht angenommen werden können. I n der Sache selbst soll der Vermittler unter Zurückstellen der rechtlichen und tatsächlichen Gründe des Streites aus Billigkeitserwägungen einen politischen Kompromiß finden, u m den Parteien sachliche Vorschläge zum Ausgleich der entgegenstehenden Interessen unterbreiten zu können. Dementsprechend hatte Bernadotte stets betont, daß er keine verbindlichen Entscheidungen treffen könne. Andererseits hielt er sich nicht an den Teilungsplan gebunden, da ansonsten keine Möglichkeit zum Ausgleich bliebe. Diese aus dem allgemeinen Völkerrecht von den V N und dem Vermittler übernommenen Vorstellungen nehmen allerdings i m Rahmen der Weltorganisation eine andere Bedeutung an: — Nach allgemeinem Völkerrecht obliegt es beiden Streitparteien, ob sie sich der Vermittlung überhaupt unterwerfen wollen; über die Person des Vermittlers müssen sich beide einigen. I m Palästina-Konflikt hat keine Partei sich einer Vermittlung unterworfen oder ist u m ihre Zustimmung zur Person des Vermittlers angegangen worden. Das A m t des Vermittlers hatte die Vollversammlung, die Person hatten die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats eingesetzt. — Theoretisch kann jede Streitpartei die Vorschläge des Vermittlers ablehnen. Aber es ist ein kaum überzubetonender Unterschied zwischen der Person eines Vermittlers, hinter dem ansonsten höchstens moralisches Gewicht und die Bedeutung eines Landes stehen, oder einem Vermittler 48

2. Titel, Art. 4 - 7 .

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der VN, der von Vollversammlung und Sicherheitsrat getragen wird. Der Palästina-Vermittler war Organ der VN, hinter dessen Vorschlägen mehr oder weniger das Gewicht dieser Organe und damit der gesamten Völkergemeinschaft stand. Dieses Gewicht erhöhte sich, als Bernadotte nicht nur vor den beiden Organen der V N berichtete, sondern auch persönlich seine Vorschläge vertrat. I n dem Maße, wie seine Vorschläge zu Lasten Israels ausfielen, geriet Israel i n eine politisch schwierige Lage, die kaum etwas von der theoretischen Freiheit ließ, die Vorschläge eines Vermittlers abzulehnen. I n diesem Licht müssen die Vorschläge Bernadottes und die Reaktionen der Beteiligten gesehen werden. Bernadotte sah seine Aufgabe nicht darin, auf der Grundlage des Teilungsbeschlusses der Vollversammlung zu einer Lösung zu kommen 4 9 . I n seinem Progreßreport erklärte er denn auch den Teilungsplan als für seine Tätigkeit nicht maßgebend. Seine Aufgabe sah er vornehmlich als humanitäre an; die Bedingungen der Lösung erschienen i h m zweitrangig. Er hielt den ganzen Teilungsplan für verfehlt und sah i n i h m den Grund für den Krieg. Da die Araber den Teilungsplan niemals akzeptiert hätten, müsse man ihnen entgegenkommen. Das konnte nur auf Kosten des jüdischen Staates geschehen. Militärisch hielt er die Araber für stärker und die Juden für schwächer als sie waren und entwarf seinen Plan nach der damaligen militärischen Lage. Der Bernadotte-Plan

50

wich denn auch erheblich vom Teilungsplan ab:

— Statt zweier unabhängiger Staaten empfahl er zwei abhängige M i t glieder einer „Union"; die Union sollte sich über das gesamte britische Mandatsgebiet (Palästina und Transjordanien) erstrecken. Da das palästinensisch-arabische Gemeinwesen zusammengebrochen war, sollte Partner des jüdischen Staates nicht mehr ein palästinensisch-arabischer Staat sein, sondern das u m das palästinensisch-arabischen Gebiete vergrößerte Trans jordanien. — Die territorialen Abänderungsvorschläge gingen weitgehend von der militärischen Lage aus; sie entsprachen i m Ergebnis i n überraschendem Maße dem Peel-Plan. Da der Negev militärisch von Ägypten beherrscht war 5 1 , sollte er südlich der Linie Majdal—Faludscha an die Araber zurückgegeben werden. Dagegen sollte i m Norden Westgaliläa israelisch werden, also ganz Galiläa zum jüdischen Staat geschlagen werden. Jerusalem sollte jordanisch werden; den jüdischen Einwohnern sollte eine gesicherte Autonomie gewährt werden. Haifa (Pipeline-Ende) und der Flugplatz von Lod sollten Freizonen werden; für Jaffa sollte eine 49 Dagegen scheint insbesondere der sowjetische Vertreter die Aufgabe des Vermittlers so aufgefaßt zu haben. 50 Vom 27. Juni 1948, d. h. während des 2. Waffenstillstandes. 51 Da dies eine Rolle bezüglich der Besetzung Elats spielt, sei präzisiert, daß sich die Besetzung auf das Gebiet von El-Audscha bis Beerscheba beschränkte. Der Südteil war unbewohnt und unbesetzt.

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Lösung noch ausgehandelt werden. Ramie und Lod sollten, wie i m Teilungsplan vorgesehen, wieder arabisch werden. — Auch das leidige Problem der Einwanderung griff er auf und empfahl für die ersten zwei Jahre eine unbegrenzte Einwanderung (und damit Lösung der europäischen Flüchtlinge); danach sollte die Entscheidungsbefugnis dem Wirtschafts- und Sozialausschuß der V N obliegen. — Schließlich lenkte der Plan die Aufmerksamkeit auf die arabischen Flüchtlinge und empfahl ihre Rückkehr. Der Bernadotte-Plan ging als Diskussionsgrundlage an die Provisorische Israelische Regierung, an die Arabische Liga und an den Generalsekretär der V N 5 2 . Die Provisorische Israelische Regierung erklärte sich zwar bereit, den Plan zu verhandeln, machte jedoch so viele Einwendungen, daß es praktisch einer Ablehnung gleichkam. Die Arabische Liga lehnte, wie stets, jeden Plan ab, der die Anerkennung eines irgendwie gearteten jüdischen Staates implizierte; ebenso lehnte sie jede Verhandlung m i t der provisorischen Regierung Israels ab, seien es direkte Verhandlungen oder Verhandlungen über den Vermittler. Lediglich über einen vollen arabischpalästinensischen Staat war sie bereit zu verhandeln. Sie weigerte sich daher bereits, Delegierte nach Rhodos zu senden. So scheiterte auch dieser Plan und wurde bald durch die weiteren Ereignisse überholt. Graf Bernadotte wurde am 17. September 1948 in Jerusalem erschossen. Obwohl wenig über die Hintergründe bekannt ist, gilt es als sicher, daß die Täter jüdische Rechtsextremisten der Irgun waren. Der Staat Israel wurde für den Tod verantwortlich gemacht. Die Täter wurden offiziell nie ausfindig gemacht. I n einem Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof wurde Israel für verantwortlich erklärt und zur Zahlung von Schadensersatz verpflichtet. Das Urteil ist für die Entwicklung des modernen Völkerrechts und des Rechts der Internationalen Organisationen deshalb von Bedeutung, weil hier erstmals der Grundsatz aufgestellt wurde, daß (nicht nur die Heimatstaaten für ihre Staatsangehörigen, sondern auch) die V N die Rechte ihrer Beamten vor einem internationalen Forum gegenüber dem verantwortlichen Staat geltend machen können. Der Tod Bernadottes von jüdischer Hand ist sonderlich tragisch, da er sich im 2. Weltkriege für die Rettung von Juden bemüht hatte, s. R. Hewins, Count Bernadotte, His Life and Work (London); The Institute for Palestine Studies, Death of a Mediator (Beirut 1968). Zu seinem Nachfolger ernannten die ständigen Sicherheitsratsmitglieder Ralph J. Bunche aus dem Generalsekretariat der VN. Er arbeitete unter dem Titel eines Amtierenden Vermittlers (Acting Mediator). Er hat sich in besonderer Weise um den Abschluß der Waffenstillstandsverträge von Rhodos verdient gemacht. I m August 1949 wurde der Posten aufgehoben; seine mit der Überwachung der Waffenstillstände zusammenhängenden Funktionen gingen auf den Chief of Staff der UNTSO über. 52

Vor der Diskussion wurde Bernadotte ermordet.

Sechster Teil

D i e Jüdische Enttäuschung: Von K r i e g zu K r i e g Neunzehntes Kapitel D e r arabisch-israelische K o n f l i k t i n der W e l t p o l i t i k Schrifttum:

allgemein zum Vorderen

Orient : J. C. Campbell , Defense of the

Middle East. Problems of American Policy (New York 1958); Gr. S. McClellan (Hrsg.), The Middle East in the Cold War (New York 1956); W. Z. Laqueur, The Soviet Union and the Middle East (New York 1959) ; ders., The Struggle for the Middle East. The Soviet Union and the Middle East 1958 - 1968 (London 1969); J. C. Hurewitz , Middle East Politics: The Military Dimension (New York 1969).

Gesamtdarstellungen

des arabisch-israelischen

Konflikts nach der Staats-

gründung: Earl Berger , The Covenant and the Sword. Arab-Israeli Relations 1948 - 56 (London 1965); Fred J. Khouri, The Arab-Israeli Dilemma (Syracuse,

N. Y. 1968); ferner vor I. Teil. Forward,

Jay, Koslowe, Linside, Mezan, The

Arab-Israeli War and International Law, Harvard International Law Journal, Bd. 9 (1968), S. 232.

Israel hatte sich i m Kriege behauptet und i n den Waffenstillständen vorläufige Grenzen („Demarkationslinien") erreicht. 1950 war Israel in die V N aufgenommen worden — i m Widerspruch zur SVN, wie die Araber meinen. Die meisten Staaten, und allen voran die USA und die Sowjetunion, hatten den neuen Staat diplomatisch anerkannt. Eine ungeheure Einwanderungswelle verdreifachte die jüdische Bevölkerung. Die Einwanderungen entsprachen israelischen Hoffnungen und ermöglichten den Aufbau eines jüdischen Staates; aber die Probleme der Eingliederung und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten brachten Israel fast zum Zusammenbruch. M i t dem Gleichmut einer Pioniergesellschaft begab sich Israel an die Arbeit. Zu seiner Überraschung mußte es aber sehen, daß sich die Araber nicht mit der Existenz Israels und der durch den Krieg geschaffenen Lage abfanden. Die arabischen Staaten bauten einen politisch, wirtschaftlich und militärisch immer effizienteren antiisraelischen Einschließungswall auf. Israel wurde zur permanent belagerten Festung; es konnte sich halten und siegreiche Ausfälle durchführen, aber die Einschließung nicht beenden. Wenn es das Ziel Israels i n zwei Kriegen war,

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diese Einschließung aufzuheben, dann hat es dieses Ziel nicht erreicht: es konnte i n glänzenden Schlachten die feindlichen Streitkräfte zurückdrängen, aber die Zernierung nicht beenden. Höchstens einen prekären Versorgungsweg durch den Golf von Akaba freikämpfen. Die m i t dieser Entwicklung verbundenen innenpolitischen Folgen zeichnen sich deutlich ab: Israel muß den wohl i n der Welt höchsten Anteil seiner Ressourcen für die Verteidigung abzweigen, und diese Mittel fehlen i n anderen Bereichen; Israel entwickelt die Mentalität einer belagerten Festung (Garrison state), was einerseits die so heterogenen Einwanderungsgruppen zur israelischen Nation zusammenschweißt und alle Gegensätze als unerheblich erscheinen läßt, was aber andererseits zur Militarisierung des nationalen Lebens m i t all seinen Nachteilen führt und die Austragung eben dieser Gegensätze und Widersprüche hintanstellt 1 . Israel findet keine Zeit, seine veralteten (zu parteipolitisch strukturierten) politischen 2 und administrativen 3 Strukturen zu reformieren oder das Verhältnis von Religion und Staat neu zu gestalten; seine arabische Bevölkerung bleibt zwangsläufig eine potentiell staatsfeindliche und zu überwachende Gruppe. A l l diese Probleme müssen hier dahinstehen. Viele Autoren legen die Gründe für diese Entwicklung wieder vor alle möglichen Türen. I n dem Maße, wie die Araber sich fingen, heißt es, schwanden die Friedensaussichten; arabische Uneinsichtigkeit und Versagen der Großmächte oder der V N sind die Ursachen, so kann man es lesen. Aber nachträglich besehen ist kaum zu sehen, warum die Araber hätten anders handeln sollen. Kein Volk — und die Araber verstehen sich zumindest nach außen als Volk — findet sich ohne Not m i t dem Verlust eines von i h m besiedelten Territoriums ab; die Sozialpsychologie spricht von mythischen — und das heißt m i t ihren Methoden nicht erklärbaren und meßbaren — Bezügen zwischen Gruppen und Territorium. Die Bindung der Juden an Palästina ist hierfür ein Beispiel, aber da der Nationalismus der anderen einem selbst meistens unerfindlich bleibt, sieht der Israeli nur schwer die Parallele. So wie der Araber z. B. die Anteilnahme des US-Juden am jüdischen Aufbauwerk in Palästina nur als Imperialismus erklären kann, w i l l der Israeli i m — sagen w i r — algerischen Eintreten für die Rückkehr der Palästinaflüchtlinge nur antisemitische Verhetzung sehen. Für die Araber bestand keine Not, auf ihr Territorium zu verzichten: sie hatten eine Schlacht verloren, sonst nichts. Kein arabischer Staat war getroffen worden, einige hatten ihr Gebiet und ihre Bevölkerung noch erweitert. Alle hatten Flüchtlingsmassen aufgenommen, aber nicht integriert, und so wurde auch eine Aufgabe des Gebietes nahezu 1 A. Perlmutter, Military and Politics in Israel. Nation-Building and Role Expansion (London 1969). 2 Hier muß auf die zahlreichen politologischen Darstellungen verwiesen werden. 3 s. etwa Raoul Waeles, L'administration israelienne Genèse et problèmes. Thèse, Paris, Faculté des lettres et des Sciences humaines (1969).

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unmöglich. Es ist auch nicht so, daß der Ost-Westkonflikt hierzu verantwortlich zu machen wäre. Er hat den Antagonismus um weitere Dimensionen potenziert, aber nicht erst ermöglicht. Die Schuld dem Ost-Westkonflikt zuzuschieben, ähnelt der Effendi-These der Mandatszeit und ist reiner Eskapismus. Auch ohne diesen Konflikt wäre der Orient kein Vakuum geblieben; es hätten sich lediglich andere Konstellationen gebildet, i n denen die arabische Seite ebenfalls ihre Protektoren gefunden hätte oder i n eine weltpolitische Konstellation eingetreten wäre, die die Schutzherrn Israels bedrängt hätte, wie Großbritannien nach 1933. Die ganze nichtarabische Welt hat einfach die arabische Seite i n grotesker Weise falsch eingeschätzt. Eine dominierende pro-israelische Publizistik — als Umschlagphänomen gegen infamen Antisemitismus i m Journalismus — hat die pro-israelische Sicht zur Selbstverständlichkeit werden lassen; dann konnten die arabischen Vorwürfe nur ein „irrationaler Haßgesang" sein. Eine unglaublich schlechte arabische Publizistik tat ihr übriges. Damit w i r d die verbreitete These abgelehnt, die Araber hätten sich gefangen, und, vom Osten ermutigt, die Waffenstillstandsabkommen zunehmend lettre morte werden lassen. Das setzte voraus, daß es einen eindeutigen Sinn des Komplexes VN-Beschlüsse und Waffenstillstandsabkommen gäbe, nämlich den pro-israelischen Sinn. Nichts wäre falscher als diese Annahme. Die israelische Interpretation — Konsolidierung und Anerkennung des status quo von 1949 — ist eine mögliche Interpretation; auch dann noch muß man bei vielem die Augen schließen, muß ständig zwischen Normen, Konstruktionen und Fakten springen und das jeweils pro-israelische Element prävalieren lassen. Nichts ist natürlicher als dieses Verfahren; genauso argumentieren alle Staaten. Aber die arabische Seite kann aus diesem Komplex ein genauso konsistentes Ganzes zusammenfügen und ist damit um nichts verwerflicher als alle anderen Staaten. Die pro-israelische Seite ist wahrscheinlich i m Recht, wenn sie meint, 1949 hätten alle Beteiligten die Waffenstillstandsabkommen von Rhodos als ersten Schritt zu einer endgültigen Regelung angesehen. Auch die Araber mögen es so gesehen haben — wer mag sich i n einem Satz über das Wähnen „der Araber" aussprechen. Aber jedenfalls haben sie an gänzlich andere Regelungen gedacht, und die schienen ihnen i n den V N Beschlüssen und Waffenstillstandabkommen gleichfalls zu stehen. Für sie war zweierlei selbstverständlich: Rückkehr der Israeli auf die Grenzen des Teilungsplans vom 29. November 1947 und Rückkehr der Flüchtlinge. Für beides hatten sie ihre Gründe: V N und israelische Unabhängigkeitserklärung hatten sich auf den Teilungsplan berufen. Wenn auch alle arabischen Sprecher gerade erst den Teilungsplan verworfen und ihre Armeen ihn bekämpft hatten, und wenn auch die V N i n der Folgezeit niemals die Rückkehr Israels in die Grenzen des Teilungsplans verlangt

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hatte, so schien dies den Arabern doch selbstverständlich. Noch mehrere Jahre lang forderten die verschiedenen Organe der V N die Internationalisierung Jerusalems und des umliegenden Gebietes. Und vor allem hatte die so wichtige Resolution 194 (III) der Vollversammlung die Rückkehr der Flüchtlinge gefordert, und diese Resolution hat sie i n der Folgezeit Jahr für Jahr bestätigt und wiederholt. Auch die Waffenstillstandsabkommen sind zumindest so vage, daß sie gegensätzliche Auslegungen ermöglichen. Sie betonen die Vorläufigkeit und bloß militärischen Charakter der Demarkationslinien; statt dessen mußten die Araber sehen, wie Israel m i t Vorzug die Grenzgebiete endgültig besiedelte. Gewisse Gebiete waren als „entmilitarisiert" bezeichnet worden, und die Araber haben, zu Recht oder zu Unrecht, diese Gebiete als israelisch-arabische Kondominium gesehen; sie sahen, wie Israel diese Gebiete voll eingliederte. Wie immer die pro-israelischen juristischen Konstruktionen sein mögen, auch die Araber konstruieren, und die Abkommen bieten die entsprechenden Möglichkeiten. Jeder Staat aber legt Abkommen einseitig zu seinen Gunsten aus; diese vorweggenommene Position ist u m so w i r kungsvoller, je selbstverständlicher und unbewußter sie geschieht. Vielleicht waren die arabischen Vorstellungen naiv; jedenfalls wurden die Beschlüsse und Abkommen so verstanden, und auch Naivitäten von Völkern sind politische Realitäten. Sahen so die Araber i n VN-Beschlüssen und Waffenstillstandsabkommen den Ausgangspunkt zu einer Normalisierung, wie sie sie verstanden (Rückkehr auf Teilungsplangrenzen und Rückkehr der Flüchtlinge), so mußte ihnen die tatsächliche Entwicklung als ununterbrochene Kette weiterer zionistischer Aggressionen erscheinen: — statt auf die Grenzen des Teilungsplans zurückzugehen, erklärten die Israeli die militärischen Demarkationslinien des Waffenstillstandes entgegen der vereinbarten Vorläufigkeit zu endgültigen internationalen Grenzen; — statt das Jerusalemer Gebiet zu internationalisieren, erklärte Israel Jerusalem zu seiner Hauptstadt; — statt die entmilitarisierten Zonen als arabisch-israelisches Kondominium zu verwalten, gliederten sie die Gebiete verwaltungsmäßig, politisch und militärisch voll i n ihr Staatsgebiet ein; — statt die Flüchtlinge wieder aufzunehmen, wie es sukzessive V N Beschlüsse forderten, verweigerte Israel die Rückkehr und vertrieb weitere, noch in Israel verbliebene Araber; — statt dessen forcierte Israel die jüdische Einwanderung, was jede Hoffnung auf Rückkehr der arabischen Flüchtlinge schon physisch unmöglich machte und — i n arabischen Augen — zu weiterer Expansion führen mußte;

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— schuf Israel eine Rechtsordnung, die — i n arabischen Augen — die palästinensischen Araber, Flüchtlinge oder i n Israel Gebliebene, auch legal depossedierte und zu Bürgern zweiter Klasse machte; — betrieb Israel die Bewässerung des Negev m i t Wasser des Grenzflusses Jordan, was entsprechende Bewässerung der arabischen Nachbargebiete erschwerte oder ausschloß. Für all das hatten die Israeli ihre guten rechtlichen, moralischen und politischen Gründe; leider haben sie immer nur die nichtarabische Welt und nie die Araber überzeugen können. Sieht man diesen Antagonismus der totalen Konfrontation, so klingen die guten Ratschläge, Israel hätte sich um bessere Beziehungen zu den Arabern bemühen müssen, hohl. Man kann auf falsche Einzelaktionen Israels hinweisen, den Grundantagonismus berührt dies nicht. Ein Ausgleich wäre vielleicht möglich gewesen — wenn Israel nicht Israel geworden, wenn es gar nicht geworden wäre. Vielleicht, wenn es sich mit einem Miniterritorium à la Peel begnügt hätte, ohne Negev, ohne Galiläa, ohne Jaffa, Lod, Ramie, also noch kleiner als das Territorium des Teilungsplanes und das alles noch ohne die vorgesehene Wirtschaftsunion. Wie es dann hätte leben sollen, ist unklar, etwa als kleiner levantinischer Staat m i t fixierten, prekären Bevölkerungsverhältnissen und ohne Einwanderungsmöglichkeiten. Unsere wohlwollenden Berater schreiben eine hypothetische Geschichte Israels ohne Israel. Israel glaubte zeitweise an eine Entspannung. Vor allem von der ägyptischen Revolution versprach sich Israel einen Ausgleich. Die ägyptischen Revolutionäre traten unter sozialistischen Vorzeichen an, und Israel wähnte, ihre sozialistische Regierung müsse nun akzeptiert werden. Derartige dogmatische Illusionen gehören in den Bereich der illusorischen Dogmatik: eine so national-ethnozentrische Ideologie wie der Zionismus hätte wissen können, daß nationale Gegensätze nicht durch ideologisch ähnliche Regierungen ausgeräumt werden können. Zwar war Ägypten zunächst m i t der Konsolidierung der Revolution, mit der Ablösung der britischen Besetzung und dann m i t dem Nordafrikakonflikt beschäftigt. Vielleicht hätte Israel gegenüber Ägypten großzügiger sein können: die Durchfahrten durch Suezkanal und Akabagolf nicht forcieren; ElAudscha/Nitzana nicht besetzen; sich in Nordafrika wenigstens nicht auf französische Seite stellen usw. Aber auch hier stand Israel i n Sachzwängen, und eine hypothetische Geschichte bleibt besser ungeschrieben. Jeder Ausgleich m i t „den Arabern" hätte Israel schließlich i n die innerarabischen Hegemoniekämpfe verstricken müssen. Es ist kaum vorstellbar, wie sich Israel i n seiner permanent hoffnungslosen Lage i n diesen Kämpfen hätte verhalten können. Ein Blick auf die Karte zeigt, daß kein arabischer Nachbarstaat einen israelischen Ausgleich mit einem anderen

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arabischen Staat hätte zulassen können — von den eigentümlichen Fusionsillusionen der arabischen Staaten, die reihum und gleichzeitig in Kairo, Amman, Bagdad und Damaskus, mal auf dynastischer, mal auf (baath-)parteimäßiger Grundlage geträumt wurden, zu schweigen. Selbst ein so gewiefter Taktiker wie Hadsch A m i n fiel reihum bei allen arabischen Staaten i n Ungnade. Schließlich gerieten Israel und sein Streit mit den Arabern zwangsläufig i n den Ost-Westkonflikt und wurden so auf weltpolitische Ebenen gehoben und potenziert. Auch hier hört Israel heute nachträgliche Ratschläge, wie es sich hätte heraushalten können, und sie decken sich haargenau mit seinen eigenen Illusionen der Frühzeit. Israel glaubte zunächst, zwischen den USA und der Sowjetunion neutral bleiben zu können und investierte hier einiges an nationalen Sentiments. Beide Staaten hatten Deutschland zerschlagen und damit große Teile der Judenheit vor der Vernichtung bewahrt; beide Staaten hatten gegen alle Widerstände i n der arabischen, britischen und katholischen Welt i n den V N die Teilung Palästinas und damit das Prinzip des israelischen Staates durchgebracht; beide Staaten hatten Israel unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung diplomatisch anerkannt und Botschafter gesandt; das amerikanische Judentum und die Ostblockstaaten hatten gemeinsam die für den Krieg erforderlichen Waffen gesandt; i n beiden Staaten lebten die größten Diaspora-Gemeinden, auf deren Kommen Israel zählte. So hatte Ben Gurion i n einer frühen Erklärung die Verpflichtung Israels gegenüber beiden Mächten herausgestellt, und die Politik der Nichtidentifikation wurde zum Schlagwort. Die Illusion zerbrach schnell. I m Kalten Krieg wollte keine Seite Neutralität, beide forderten Identifikation. Dulles und Schdanov sahen die Welt manichäistisch, und es gab nur das „Lager des Sozialismus und Friedens" und das „Lager des Imperialismus und Krieges"; Neutralität war unmoralisch. A n der Korea-Entscheidung zerbrach die Illusion: Israel stellte sich hinter die damals von den USA geführten V N und trat damit in Krieg gegen den kommunistischen Block. Ob Ben Gurion damals hätte anders entscheiden können, mögen Politologen entscheiden; auch Weizmann soll dagegen gewesen sein. Aber derartige Situationen häuften sich: schon der enthusiastische Empfang des israelischen Botschafters, Frau G. Meir durch die russischen Juden war für Moskau unannehmbar, das 30 Jahre die Illussion genährt hatte, die Judenfrage i n seinem Machtbereich gelöst zu haben. Die Politik der Großmächte tat ein übriges. Gibt man nicht vorschnell Urteile i m Nachhinein ab, so w i r d man sie auch in Sachzwängen sehen. So wenig der arabische Raum vor dem Kriege ein Vakuum war, so wenig hätte er es i m Kalten Krieg bleiben können. Der Raum war westliches Einflußgebiet, und die einzelnen Westmächte klammerten sich an ihre überkommenen Positionen, die die Araber als imperialistische Beherr-

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schung empfanden; die Sowjetunion suchte die Westmächte aus diesem Gebiet zu verdrängen, was i n arabischen Augen einer Befreiung vom Imperialismus gleichkam. Angesichts dieser polarisierenden Konstellation wäre die Entwicklung auch ohne die kapitalen Fehler des Westens (von Assuan-Finanzierung über Suez bis zum Bagdadpakt) wahrscheinlich gewesen. Damit scheint auch die Sicht unpolitisch, die Westmächte hätten die Beilegung des arabisch-israelischen Konflikts erzwingen müssen. Angeboten w i r d dem Betrachter: — entweder hätte der Westen zur Zeit der Lausanner Schlichtungskonferenz Israel zu massiven Konzessionen zwingen müssen, wie Rückkehr in die Grenzen des Teilungsplans und Rücknahme der Flüchtlinge; — oder er hätte den status quo sichern und arabische Blockade und Infiltration, aber auch israelische Repressalien unterbinden müssen. Dies scheint leicht widerlegbar: — die Zeit des westlichen Weltgendarms ist vorüber; — die i n die Rolle des „Räubers" gedrängten Araber hätten ebenso und noch schneller ihren Protektor i n Rußland gefunden; — allgemein wäre die Intervention nur als „imperialistisch" gesehen worden. Nun ist es ja nicht so, daß die Westmächte nicht versucht hätten, den status quo i m arabisch-israelischen Konflikt zu wahren. Aber dieser status quo ließ sich natürlich nicht von dem gesamten status quo des arabischen Raumes trennen, und dieser Gesamtstatus war insgesamt überfällig: die imperialistische Beherrschung durch Besatzung, Garnisonen, Stützpunkte, Militärberater, politische Berater, überholte Stellungen des ausländischen Kapitals, wie der Suezkanalgesellschaft, und schließlich die zwangsläufige Verfilzung der Westmächte m i t überholten nationalen Strukturen, die als feudalistisch bezeichnet werden und den gesellschaftlichen Fortschritt hemmten. Da die Westmächte auch Israels status quo halten wollten, mußte der arabische Kampf gegen Israel zwangsläufig in den antiimperialistischen Kontext geraten und linke Kräfte i m arabischen Lager formulieren mit einigem Recht, daß die Befreiung Palästinas mit der Revolution in den arabischen Staaten verbunden ist, daß beides ein und derselbe Kampf sei. Alle westlichen Strukturierungsversuche des arabischen Raumes litten daher an zwei Fehleinschätzungen: — Die Westmächte wollten in irgendeiner Form ihre überkommenen Beherrschungsverhältnisse fortführen. Läßt man alle moralische Wertung beiseite, so erstaunt die Irrealität der Einschätzung der arabischen Welt. Fremdartiger als die vielberufene „arabische Mentalität" dünkt uns

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6. Teil : Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

heute das Denken der Journalisten, politischen Autoren, Diplomaten und Politiker i n Frankreich und England vor und nach Suez 1956. Frankreich hatte sich eingeredet, der algerische Aufstand müsse ohne Nasser i m N u beendet sein; einige Fallschirmjäger täten es, England kämpfte bis 1953 u m seine Garnisonen i n Ägypten und hielt später die Nationalisierung des Suezkanals für absolut lebensbedrohend. Die Ausführungen i m b r i t i schen Parlament nach Glubbs Entlassung und der Nationalisierung des Suezkanals gehören zu den Dokumenten nationaler Hysterie 4 . Die Reaktionen auf die Entlassung Glubbs bieten sich für eine Fallstudie zur ideologischen Internalisierung an. Wie i m 10. Kapitel ausgeführt wurde, wurde hier ein lebensunfähiger Staat vom britischen Staatshaushalt subsidiert und politisch vom britischen Kommandeur der Armee und dem britischen Botschafter gelenkt, und die Armee sollte auch i n Z u k u n f t von britischen Offizieren geführt werden 5 . Dies sei ohne Wertung referiert. Niemand w a r sich über die Machtverhältnisse i m unklaren; britische Zeitungen bezeichneten Glubb als den wahren Herrscher Jordaniens. Was überrascht, ist das Maß, i n dem die britischen AraberSpezialisten ihre eigene Rolle internalisiert hatten: die Glubb und K i r k bride waren die besten Kenner der Araber; sie hatten i h r ganzes Leben unter Arabern verbracht; K i r k b r i d e w a r i n Alexandrien i n eine arabische Schule gegangen. Und doch haben sie nicht gesehen, daß sie i n arabischen Augen nur die Exponenten eines überständigen Imperialismus waren und daß ihre Rolle — wie immer sie sie spielten — beendet war. — Ihre Versuche standen i m Rahmen des Ost-Westkonflikts und w o l l ten die Araber in den antikommunistischen Abwehrkampf einspannen. Aber die Araber fühlten sich vom Kommunismus nicht bedroht: von der Sowjetunion lagen sie durch andere Staaten getrennt, und i n ihren Ländern saßen die wenigen Kommunisten sicher i n Gefängnissen. Und den Westen zu verteidigen, schien ihnen nicht ihre Sache; westliche Ideale waren keine Realität i n Ländern, denen der Westen m i t seinen Garnisonen oder arabischen Legionen seinen politischen Willen aufzwang. Akzeptiert man diesen vereinfachenden Rahmen, so mußten notwendigerweise alle westlichen Konsolidierung s- und Strukturierung sv er suche des arabischen Raumes an den antagonistischen, also unlösbaren Widersprüchen scheitern. Weder einseitige Doktrinen wie 1947 die Trumanund 1956 die Eisenhower-Doktrin, gemeinsame Erklärungen wie 1950 die Dreimächte-Erklärung, noch die Bündnis- und Paktschemata wie die Arabische Liga oder Bagdadpakt konnten den arabisch-iseraelischen status quo konsolidieren. 4

Ausgewertet bei Epstein (vor 25. Kapitel). H. M. King Hussein of Jordan, Uneasy lies the Head. Autobiography (London 1962), S. 88,107 ff. 5

19. Kap. : Der arabisch-israelische Konflikt i n der Weltpolitik

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Die Truman-Doktrin von 1947 signalisierte den Rückzug Großbritanniens aus dem Orient und die Wachablösung durch die USA; sie galt vornehmlich der Verteidigung Griechenlands und der Türkei gegen äußere und innere Bedrohungen, sie erklärte, gewaltsame Veränderungen des status nicht zulassen zu wollen, und stellte wirtschaftliche und finanzielle Mittel zur Bewahrung des innenpolitischen status quo der Länder bereit. Sie sollte ein Vordringen kommunistischer Kräfte und Ideen in den Orient verhindern und diente so mittelbar der Konsolidierung des gesamten Raumes. Nachweise: Hurewitz,

Dok. 85.

Noch kurzlebiger war die Eisenhower -Doktrin von 1957. Nachdem Großbritannien sich durch das Suez-Abenteuer von 1956 endgültig aus dem Arabischen Raum ausgeschlossen hatte, konnte die Sowjetunion erstmalig voll Fuß fassen. U m dem entgegenzutreten, glaubten die USA, eine deutliche Warnung abgeben zu müssen. Als Form für die Erklärung wählten sie ein „public law". I n der Erklärung entdeckten die USA plötzlich ihre Sicherheitsgrenzen im Vorderen Orient. Die Erklärung selbst ist eine Art Subskriptionsliste gegen den internationalen Kommunismus: alle Nationen des Vorderen Orients wurden aufgefordert, der Erklärung zuzustimmen; dafür wurde ihnen Souveränität und Unabhängigkeit garantiert und erhebliche Wirtschaftshilfe in Aussicht gestellt. Bereits die Terminologie der Erklärung war ungeschickt: sie sprach vom Einflußvakuum (was die jungen nationalistischen Staaten als beleidigend empfanden), in das räuberischer Kommunismus hineinstoßen wollte; um dies zu verhindern wurde der US-Präsident auch zum Einsatz von Streitkräften ermächtigt. Beim Einsatz im libanesischen Bürgerkrieg 1958 beriefen sich die USA auf die Doktrin. Literatur: L. Focsaneanu, La doctrine Eisenhower pour le Proche-Orient, A F D I Bd. 4 (1958); Qu. Wright , The U. States in the Lebanon, A J Bd. 53 (1959), S.112. D e n f r ü h e s t e n V e r s u c h einer b ü n d n i s m ä ß i g e n S t r u k t u r i e r u n g machte die H e g e m o n i a l m a c h t G r o ß b r i t a n n i e n noch w ä h r e n d des 2. W e l t k r i e g e s . I n d e r I l l u s i o n , sie k ö n n t e Ä g y p t e n auch f ü r d e r h i n p a r t i e l l besetzt u n d g l e i c h z e i t i g p r o - b r i t i s c h e r h a l t e n , f ö r d e r t e es eine A r t arabischen B ü n d nisses m i t ägyptischer V o r r a n g s t e l l u n g , das 1945 i n F o r m d e r A r a b i s c h e n L i g a zustandekam. Großbritannien w u r d e enttäuscht: Ä g y p t e n blieb a n t i b r i t i s c h , f o r d e r t e d i e v o l l e R ä u m u n g seines Gebietes u n d v e r s t a a t l i c h t e d e n Suezkanal. W e l c h e R o l l e die L i g a auch i m m e r gespielt h a b e n m a g : sie t r u g n i c h t z u r K o n s o l i d i e r u n g des arabisch-israelischen status quo bei, s o n d e r n w u r d e i m G e g e n t e i l z u m H a u p t i n s t r u m e n t des arabischen K a m p fes gegen Israel. Über die Arabische Liga läßt sich wenig präzises sagen. Ihre Strukturen scheinen uns so vage wie ihre Beschlüsse; beide werden nicht unbedingt beachtet. Selbst in arabischen Ländern soll es schwer sein, die Beschlüsse zu erhalten. Juristische Darstellungen sind daher von theoretischem Wert; politologische Untersuchungen, wie sie etwa über die V N oder die Europäischen Gemeinschaften vorliegen, fehlen; derartige Versuche laufen meist auf eine Gesamtdarstellung des arabischen Raumes hinaus, woran die Liga doch nur geringen Anteil hat. I n völkerrechtlichen Kategorien ist die Liga ein Staatenbund und erstrebt die Koordinierung der arabischen Politik auf allen Gebieten.

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Mehrheitsbeschlüsse sind möglich, binden aber nur die zustimmenden Mitglieder. Auch eine Verstärkung durch ein Abkommen über gemeinsame Verteidigung und wirtschaftliche Zusammenarbeit von 1950 hat die Strukturen nicht festigen können (Text: Hurewitz, Dok. 93).

Ihren größten Erfolg hat die Liga i m Kampf gegen Israel erzielt. Nach einem Zusatzprotokoll war Palästina durch ein Mitglied des Arabischen Hohen Komitees vertreten, hatte aber kein Stimmrecht. A u f vielen Ebenen versagte die Liga: I m Kampf gegen Israel 1947 1949 konnte sie die arabischen Kräfte nicht koordinieren und sie konnte auch später die politischen Ambitionen der arabischen Palästina-Prätendenten nicht ausgleichen. Sie konnte weder die palästinensische Schattenregierung i n Gaza aufwerten, noch den Anschluß Westjordaniens durch Transjordanien 1949 verhindern, noch auch nur beide Positionen ausgleichen: sie beließ den Vertreter der Schattenregierung i m Liga-Rat und unterstellte gleichzeitig Westjordanien der jordanischen Verwaltung. Die Liga wurde jedoch ein wirksames Instrument der Isolierung Israels; ein eigener Sonderausschuß der Liga übernahm alle Aspekte dieser Isolierung 6 . Die Westmächte haben zunächst i n der Dreimächteerklärung von 1950 7 gemeinsam versucht, den status quo i m arabischen Raum festzuschreiben. Die USA, Großbritannien und Frankreich erkannten an, daß die arabischen Staaten und Israel eine gewisse Bewaffnung für ihre internationale Sicherheit und legitime Selbstverteidigung benötigten, um ihre Rolle bei der Verteidigung des gesamten Raumes zu spielen 8 ; Waffenlieferungen dürften daher nicht zu einem Rüstungswettlauf führen. Sie versprachen, keine bewaffnete Aggression über Grenzen und Waffenstillstandslinien zu dulden und andernfalls i m Rahmen der V N und außerhalb der V N zu handeln. Die Erklärung befriedigte niemand. Falls sie angewandt worden wäre, hätte sie für Israel das sein können, was es später so verzweifelt suchte: eine Garantie durch die Großmächte. Aber Israel sah damals noch manches anders; jedenfalls kann man die israelische Erklärung als Zustimmung, aber auch als Polemik lesen. Die Araber sahen i n der Erklärung eine Festschreibung des status quo, wogegen sie sich 6 WBVR, „Arabische Liga"; Dahm, Bd. 2 § 64; Boutros-Ghali, The Arab League 1945 -1955, International Conciliation Nr. 498 (1955) ; Khadduri, The Arab League as a Regional Arrangement, A J Bd. 40 (1946); P. Beyssade, La ligue arabe (Paris 1968); Muhammad Khalil (Hrsg.), The Arab States and the Arab League. A Documentary Record, 2 Bde. (Beirut 1962) ; Fakoussa, Die Liga der arabischen Staaten, A V R Bd. 5 (1955/56), S. 101 ff.

Text: Hurewitz, Dok. 76; Davis, Part I I 4; Berber, Dokumentensammlung

Bd. 1 I I 201. B. Shwadran, Jordan Annexes Palestine, Middle Eastern Affaires, Vol. I (1950), S. 90 ff. 7 Tripartite Declaration, Text: Hurewitz, Dok. 29 mit Erklärungen Israels und der Arabischen Liga. 8 "To permit them to play their part in the defense of the area as a whole."

19. Kap. : Der arabisch-israelische Konflikt i n der Weltpolitik

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wandten; für sie mußte die Erklärung vor allem auch als Fortdauer der imperialistischen Beherrschung erscheinen. Und für die Sowjetunion bedeutete die „Verteidigung des gesamten Raumes" einen Aufmarsch gegen sie selbst, also eine Aggression. I m Ergebnis schlug die DreimächteErklärung i n allen Stücken fehl. Beide Seiten waren fest überzeugt, daß die Gegenseite sich ungehindert aufrüsten könnte; beide machten alle erdenklichen Anstrengungen hierzu. I m Suezkonflikt 1956 waren zwei der drei Mächte die Aggressoren, die mit dem dritten Aggressor, m i t Israel, gegen Ägypten losschlugen. 1951 wurden die Westmächte dringender und forcierten ein NATOähnliches Paktsystem i m Nahen Osten, i n das sie alle Staaten zu pressen suchten. I n Form einer Vier-Mächte-Erklärung forderten die USA, Großbritannien, Frankreich und die Türkei alle Staaten des Gebietes auf, sich i n einem Alliierten Mittelostkommando zusammenzuschließen9. Zumindest i m Nachhinein w i l l es scheinen, als mußte dieses Unternehmen scheitern. Die Araber sahen nicht die Gefahr einer sowjetischen Aggression, sondern nur die Fortdauer — wie sie es sahen — der westlichen Aggression i n Suez, Nordafrika, Palästina. Ein solches Paktsystem hätte notwendig die britische Herrschaft i n ihrem Gebiet verfestigt. Ihr Streben war auf den westlichen Abzug und die Auflösung der westlichen Basen gerichtet, nicht auf ihre Verfestigung. Die westlichen Strukturierungsversuche gipfelten i m Bagdadpakt von 1955, einem kollektiven Verteidigungsbündnis. Der Kampf u m den Pakt war gleichzeitig der Höhepunkt der innerarabischen Hegemonialkämpfe, die letztlich das dem Pakt feindliche Ägypten gewann. Der Versuch, Jordanien einzubeziehen, führte zu einem Aufstand, den zwar Glubb niederschlagen konnte, er selbst aber durch diese A k t i o n für den König untragbar wurde; ein Jahr später mußte Hussein ihn entlassen. Die Entlassung gilt als Meilenstein auf dem britischen Rückzug aus dem arabischen Raum. I m Irak kam es später zum Aufstand, der das pro-westliche Regime liquidierte. Das Bündnis wurde später als Zentralpakt auf die Türkei und den Iran (und Großbritannien) beschränkt und fortgeführt 1 0 . Alle diese Strukturierungsversuche können hier nicht weiter ausgeführt werden. Sie sind die außenpolitische Geschichte der Staaten des Vorderen Orient i n der Nachkriegszeit und werden daher i m Schrifttum unter vielen Aspekten dargestellt: als Teil des Ost-Westkonflikts; als westlicher Versuch, den überkommenen Einfluß aufrechtzuerhalten; als Ablösung Großbritanniens durch die USA; als arabischer Kampf gegen Neo-Kolonialismus und Imperialismus; als russisches Vordringen; als innerarabische Hegemonialkämpfe; als innerstaatliche Kämpfe um eine 9

Lit.: Hurewitz, Dok. 97, Briefwechsel mit Sowjetunion, Dok. 98; Campbell,

S. 40. 10

Lit.: Hurewitz,

23 Wagner

Dok. 107,114. WBVR, „Bagdadpakt von 1955".

354

6. Teil : Die jüdische Enttäuschung: Von Krieg zu Krieg

neue Gesellschaftsstruktur: es genügt, etwa eine Darstellung der syrischen Nachkriegsgeschichte zu lesen, u m die zentrale Rolle dieser Strukturierungsversuche zu sehen 11 . Ein Teilaspekt all dieser Strukturierungsversuche ist die Rolle Israels in diesen Gruppierungen, und die Israel zugedachte Rolle war meistens höchst problematisch, aber jede eigengewählte Alternative nicht minder. Denn akzeptierte Israel seine Rolle i n einer solchen Gruppierung, so kam es i n eine zusätzliche Frontstellung zu den dieser Gruppierung feindlichen arabischen Staaten; dies waren fast immer Ägypten und Syrien. Außerdem trat es endgültig ins antisowjetische Lager, nahm — i n russischer Sicht — an einem gegen die Sowjetunion gerichteten aggressiven Militärbündnis teil. Nahm es nicht teil, dann zog es sich die Ungnade der Westmächte zu, von denen es vollständig abhing, ohne die arabische A n erkennung zu gewinnen. Außerdem wären die Araber i m Rahmen des Bündnisses bewaffnet worden, zwar zum Kampf gegen den internationalen Kommunismus, aber Israel glaubte keinen Augenblick daran, daß die Araber die Waffen m i t anderer Entschlossenheit als zum Kampfe gegen Israel angenommen hätten. Aber auch bei israelischer Teilnahme wären die arabischen Staaten mitbewaffnet worden. Kurz, ein vielseitiges Dilemma. Dieses Dilemma potenzierte sich für Israel, als die Westmächte zunehmend erkennen mußten, daß eine Israel und die arabischen Staaten gemeinsam umfassende Gruppierung für die letzteren nicht i n Frage kam, und die USA daher den Palästina-Konflikt und überhaupt Israel aus den Bündniskonzepten auszuklammern versuchten. Nun mußten die westlichen Konsolidierungsversuche für Israel zum A l p t r a u m werden: eine einseitige Bewaffnung der arabischen Staaten mußte für Israel tödlich werden. Das Scheitern aller westlichen Versuche, der ägyptische Waffenkauf i m Ostblock von 195512 und die zunehmend eintretende Polarisierung nach dem Schema des Ost-Westkonflikts machten diesem Dilemma ein Ende. Von den Versuchen, den status quo zu konsolidieren, kam eine Initiative dem Ziel am nächsten, wenn sie auch scheiterte: der Johnston-Plan, der sich nicht um Paktbildungen bemühte, sondern die zugrundeliegenden Ursachen ausräumen wollte. Er w a r am wenigsten von westlichen Machtinteressen diktiert und kann nicht als imperialistisch gebrandmarkt werden — wenn man nicht bereits i n der Existenzerhaltung Israels nackten Imperialismus sieht. Die Johnston-Verhandlungen dauerten von 1953 - 1956; i h r Ziel war eine gemeinsame israelisch-jordanisch-syrische Verwaltungsunion zur optimalen Nutzung der Wasserreserven des Jordans und Jarmuks. A u f dem so bewässerten Land beiderseits von Jordan 11 z. B. P. Seale, The Struggle for Syria. A Study of Post-War Arab Politics 1945 - 1958 (London 1965). 12 s. Nassers Erklärung zu diesem Waffenkauf in Hurewitz, Dok. 111.

19. Kap. : Der arabisch-israelische Konflikt i n der Weltpolitik

355

und Jarmuk sollten der überwiegende Teil der Palästinaflüchtlinge angesiedelt und so das Flüchtlingsproblem gelöst werden. Der organisatorische Rahmen einer Jordanwasser-Behörde sollte die feindlichen Parteien zu einer Zusammenarbeit führen 1 3 . Die USA waren bereit, den größten Teil der erforderlichen ungeheuren Summen zur Verfügung zu stellen. Die Verhandlungen liefen i n der ungünstigsten Zeit an: die Grenzzwischenfälle waren i n schwere lokale Grenzkriege ausgeartet, und israelische Gegenschläge (Qibiya) hatten die Situation verschärft. Trotzdem gelang es Johnston, die Israeli und Araber zur Zusammenarbeit zu bewegen. Obwohl sich die politisch-militärische Lage zunehmend eskalierte, näherten sich die Parteien i n den Johnston-Verhandlungen weiter. Erst i n der Eskalation des Jahres 1956 scheiterte dieser hoffnungsvollste aller Ansätze. Man kann den arabisch-israelischen Dauerkonflikt auch als Versagen der VN beschreiben, und manche Autoren haben es so gesehen; manche lokalisieren noch genauer und verweisen auf das Veto i m Sicherheitsrat. Fraglich ist nur, was m i t „dem Versagen der V N " eigentlich gemeint ist, und ob dem Ausdruck nicht eine Anthropomorphierung zugrundeliegt, wie bei gewissen Staatsdenkern. Die V N können nur insoweit handeln, wie ihre Mitglieder es wollen, und diese führen genau alle ihre außenpolitischen Absichten und Kontroversen i n die V N ein. K e i n Mitglied gibt seine Politik auf, weil er sie i m Rahmen der V N verteidigen muß. U n d schließlich können die V N nicht die Tatsache überspielen, daß die Welt i n Interessensphären aufgeteilt ist 1 4 , i n die die jeweils ausgeschlossene Macht einzudringen versucht; jede echte VN-Initiative i m Palästinakonflikt hätte aber die Sowjetunion ins Spiel gebracht; dies schien den Westmächten vor dem Krieg von 1967 untragbar. Auch für den Juristen bieten die V N wenig Hilfe. Ihre Berge von Debatten, Dokumenten, Berichten und Beschlüssen sind für die menschliche Kapazität nicht mehr zu bewältigen. Selbst wenn man sich lediglich an die Beschlüsse hält, kommt man juristisch nicht weit, denn: — jeder Beschluß ist selbst wieder der Kompromiß gegensätzlichen Wollens. Wenn der Marxist Recht hat und jede Norm nur Ausdruck der realen Machtverhältnisse ist, so sind die meisten Beschlüsse Ausdruck des totalen Patts i n der Weltpolitik. Sie sind daher meist so vage und widersprüchlich, daß sie gegensätzliche Interpretationen erlauben. Bei wichtigen Beschlüssen, wie etwa beim Sicherheitsratsbeschluß von 1951 über die Durchfahrt durch den Suezkanal ist sogar strittig, ob sie verbindlich sind — also praktisch, ob sie gelten oder nicht. 13

Jordan Valley Authority, nach dem Vorbild der Tennessee Valley Authority. Zum Johnston-Plan Berger, Kapitel 9 und hier 24. Kapitel. 14 WBVR, „Interessensphäre". 23*

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung: Von K r i e g zu K r i e g

— die einzelnen Organe fassen zwar zahlreiche und umfangreiche Beschlüsse; aber weder stimmen sie ihre Arbeit sonderlich aufeinander ab, noch harmonisieren sie je ihre Beschlüsse. Besonders störend w i r k t sich aus, daß sie fast nie frühere Beschlüsse formell aufheben, etwas, worauf i m innerstaatlichen Bereich die Normsetzung große Mühe verwendet. So gibt es zu allen Fragen einen Wust von Beschlüssen, die sich endlos w i dersprechen und daher jeder Partei jede gewünschte Konstruktion ermöglichen. — jede Partei verwendet viel Mühe und Ingenium, um die Beschlüsse i n dem für sie gewünschten Sinne auszulegen. Keine Partei scheut vor den kühnsten Konstruktionen zurück, um nur für die ihr günstigen Teile des Beschlusses die Ausführung zu verlangen, den Rest als unverbindlich, außerhalb der VN-Kompetenz liegend, durch spätere Beschlüsse überholt oder die Ereignisse gegenstandslos geworden hinzustellen. Oder sie konstruiert i n den Beschluß eine Ausführung „ i n zwei Schritten" : zunächst müsse der Gegner den ihn treffenden Teil ausführen; dann werde man weitersehen 15 . Verworren dünkt dem Betrachter schließlich die arabische PalästinaPolitik. Weder gelingt es, sie von den Macht- und Hegemonialkämpfen der einzelnen Staaten zu trennen, noch auch nur die einzelnen Ebenen auseinanderzuhalten. A u f militärisch-politischer Ebene folgten zweiund mehrseitige Bündnisse und gemeinsame Oberkommandos. Die arabischen Politiker stellten sie stets als tödlich für Israel dar 1 6 . Reagierte Israel, so sah die arabische Sicht hierin eine weitere zionistische Aggression, niemals provozierte Reaktion. Noch deutlicher w i r d es angesichts politischer Institutionen, daß die Palästinafrage von den arabischen Staaten nur auf dem Schachbrett ihrer jeweiligen Politik bewegt wurde. Die sog. palästinensischen Organe und ihre Personen waren nichts als Marionetten i n der Hand der arabischen Regierungen, und jede Regierung bemühte sich, die Fäden i n ihre Hand zu bekommen. Nur so ist die Geschichte des Arabischen Hohen Komitees nach 1947 und die „Palästinensische Regierung" i n Gaza zu verstehen, die zwar arabische Unterstützung für die Ablehnung der Teilungspläne, aber auch einer VN-Treuhandschaft hatten, jedoch keine palästinensische Politik treiben konnten 1 7 . I n dem Maße, wie ihr Vorsitzender Hadsch A m i n es versuchte, 15 z.B. die ägyptische Stellung zum Beschluß des Sicherheitsrates vom 22. November 1967 über israelischen Rückzug und arabische Anerkennung. 16 Nasser zum Ägyptisch-Syrisch-Jordanischen Militärbündnis vom Oktober 1956: „Der arabische Ring aus Stahl schließt sich um Israel; dies ist für Israel ein grauenvoller Tag." 17 Geschichte des Arabischen Hohen Komitees nach 1945 bei J. Schechtman, The Mufti and the Fuehrer. The Rise and Fall of Haj Amin el-Husseini (New York 1965), S. 201 ff.; Geschichte der provisorischen Palästinensischen Regierung, ebenda, S. 230 ff.

20. Kap. : Das Scheitern der Schlichtungskommission der V N

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geriet er i n Gegensatz zu fast allen arabischen Regierungen; w i e vorher i m Verhältnis zu den Engländern, wurde er wiederum politischer Flüchtling, aber dieses M a l gegenüber den arabischen Regierungen. Auch Hadsch A m i n ist eine tragische Gestalt. Erst die Palästinensische Befreiungsorganisation und die Widerstandsorganisationen konnten eine A r t unabhängiger Palästinapolitik treiben 1 8 .

Zwanzigstes

Kapitel

Das Scheitern der Schlichtungskommission der V N Schrifttum: F. S. Hamzeh, International Conciliation (Amsterdam o. J.); Eytan (vor V. Teil), 3. Kapitel; Azcärate (vor 17. Kapitel), 11. Kapitel; E. Berger (vor V I . Teil), 4. Kapitel; Israel and UN, S. 307; Dok.: Die Berichte der Schlichtungskommission (Progress Reports) sind als Dokumente der Vollversammlung veröffentlicht; ihre Signaturen bis 1963 bei Hamzeh, S. 172. Weitere Nachweise: U N Y B der einzelnen Jahre.

Die Vollversammlung der V N hatte am 11. Dezember 1948, also zweieinhalb Monate vor dem Waffenstillstand m i t Ägypten eine Schlichtungskommission eingesetzt 1 . Sie folgte damit einem noch von Bernadotte ausgearbeiteten Vorschlag. Die Kommission bestand aus drei Mitgliedstaaten (USA, Frankreich, Türkei); sie sollte u. a. — den Parteien bei der Suche nach einer endgültigen Lösung des palästinensischen Problems helfen; das Wort „Frieden" wurde wegen der arabischen Empfindlichkeit vermieden; — Vorschläge über ein dauerndes internationales lem ausarbeiten;

Regime für Jerusa-

— die gleichzeitig beschlossene Gestattung der Rückkehr arabischer Flüchtlinge unterstützen. G i l t das Zustandekommen des Teilungsbeschlusses der Vollversammlung den Politologen als Musterfall für eine Politik der pressure groups i n den V N ; gilt die Arbeit des Amtierenden Vermittlers Bunches beim Abschluß der Waffenstillstände von Rhodos als Beispiel für eine effiziente und erfolgreiche Vermittlung, so gilt die Schlichtungskommission nach Rechtsgrundlage, Zusammensetzung und Arbeitsweise als drastische Anschauung für ein falsches Vorgehen. Die Rechtsgrundlage (Resolution 194 (III)) der Vollversammlung ist ein ambivalentes Dokument des Allzuvielen; i h r Wortlaut erlaubt gegen18 1

27. Kapitel 3. Resolution 194 (III); United Nations Conciliation Commission for Palestine.

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

sätzliche Interpretationen für das gegensätzliche Wollen Israels und der Araber. Schon die Terminologie zeigt diese Ambivalenz: die israelische Terminologie spricht noch heute von der Friedensvermittlungskommission; i n arabischer Sicht war die Kommission bezüglich der Rückkehr auf die Teilungsplangrenzen, der Flüchtlinge und der Internationalisierung Jerusalems eine Durchführungs-, ansonsten eine Schlichtungskommission. Da die Entschließung alle palästinensischen Probleme anspricht und die Schlichtungskommission für zuständig erklärt, konnte die Kommission als eine Fortführung der Palästina-Kommission der V N 2 und damit auch als Durchführungskommission verstanden werden. Dies galt für die Internationalisierung Jerusalems und insbesondere für die Flüchtlingsfrage. Jedenfalls hat die arabische Seite insoweit die Kommission als reine Durchführungskommission ohne Vermittlungsbefugnisse verstanden. Die Zusammensetzung der Kommission muß als mißglückt bezeichnet werden. Die von den V N eingesetzten Kommissionen können von ihnen ernannte Personen oder Mitgliedstaaten als Mitglieder haben. Sind Staaten Mitglieder, so bestimmen diese selbst die Vertreter. So verfuhr die Entschließung: Mitglieder waren die USA, Frankreich und die Türkei, die ihrerseits ihre Vertreter benannten. Da die Kommission aber Aufgaben und Weisungen von den Organen der V N erhielt und ihrerseits unmittelbar oder mittelbar über den Generalsekretär an die Vollversammlung und an den Sicherheitsrat zu berichten hatte, blieben die Stellung der Vertreter und damit ihre Autorität lange strittig. Die A n t wort der Kommission, als Kommission arbeite sie nach den Weisungen der Vollversammlung, die Vertreter erhielten ihre Weisungen von ihren jeweiligen Regierungen, zeigt die Problematik 3 . Die K r i t i k verweist auf die Stellung Bunches, der aus dem Generalsekretariat der V N kam und keine Weisung seines Heimatstaates empfing. Aber wahrscheinlich ist die K r i t i k hier wenig gerecht. Bunche und Bernadotte konnten die Parteien erfolgreich zu Feuereinstellungen und Waffenstillständen führen; politische Lösungen konnten sie nicht herbeiführen. Und gerade für politische Lösungen mag sich eine Schlichtungskommission m i t Staaten als Mitgliedern empfehlen, da hinter ihren Vorschlägen das politische Gewicht der Mitgliedstaaten steht. Aber hier war das nicht der Fall. Alle Beobachter und Autoren sind sich darin einig, daß die drei Staaten die Arbeit der Kommission nicht unterstützt haben. Stattdessen haben sie zumindest zeitweise ihre eigenen Interessen i n den Vordergrund gestellt. So bemühte sich z. B. die Türkei, die sich zu dieser Zeit von der Sowjetunion bedroht fühlte, u m Beistandsabkommen m i t den arabischen Staaten. Deshalb meinen die Kritiker, man hätte wie bei der 2

3

18. Kapitel 2.

s. Hamzeh, S. 111 ff.; Azcärate, S. 134 f.

20. Kap. : Das Scheitern der Schlichtungskommission der V N

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UNSCOP, Mitgliedstaaten ohne politische Interessen i m Nahen Osten auswählen sollen. Aber auch dieser Ratschlag überzeugt nicht, denn welchen politischen Einfluß hätten etwa Kanada und Neuseeland — falls sie trotz ihrer Commonwealthbindung als neutral anerkannt worden wären — auf die Parteien ausüben können? Fest steht jedoch, daß die Regierungen der drei Mitgliedstaaten in der Sache uninformiert und der Kommission gegenüber gleichgültig waren. Frankreich und die Türkei schließlich warteten auf Vorschläge der USA; die USA hat jedoch zu dieser Zeit eine recht widersprüchliche Orientpolitik getrieben. Der USBotschafter i n Tel A v i v war extrem pro-israelisch eingestellt und stärkte die israelische Regierung i n ihrem Widerstand gegen die Kommission 4 . Die Gesamtbeurteilung der Kommission und der hinter ihr stehenden Staaten ist daher negativ. Beide Parteien werfen der Kommission und den Mitgliedstaaten mangelnde Neutralität, mangelnde Ausübung politischen Drucks auf die andere Seite, unzulässige Pression auf sich selbst vor. Selbst die VN stellten sich nicht m i t ihrem Einfluß hinter die Kommission. Die für Palästina verfügbare Energie der Weltorganisation schien sich in Teilungsbeschluß, Herbeiführung der Waffenstillstände und Aufnahme Israels erschöpft zu haben. I n Zukunft befaßte sie sich nur noch m i t Einzelfragen. Dies führte schließlich zu einem Nebeneinander von Unterorganen der V N i n Palästina, die kaum zusammenarbeiteten. Insbesondere arbeiteten drei Organisationen der V N i n Palästina, die hätten gemeinsam vorgehen müssen: die Schlichtungskommission, die UNTSO und die UNRWA. Bei schweren Grenzzwischenfällen, wie sie die Folgezeit bestimmten, hätte die Schlichtungskommission wohl eine Plattform des Ausgleichs abgeben können; hier wurde jedoch ausschließlich die UNTSO tätig. Die Kommission sollte sich u m die Rückführung der arabischen Flüchtlinge kümmern; außerdem befaßte sie sich mit Familienzusammenführung, Entblockierung der Flüchtlingsguthaben, Aufnahme des Flüchtlingsvermögens usf. Die UNRWA dagegen sollte die Ansiedlung von Flüchtlingen i n den Aufnahmeländern unterstützen. Auch zwischen diesen beiden Organisationen kam es kaum zur Zusammenarbeit 5 . Schließlich faßte die Vollversammlung am 26. Januar 1952 eine Entschließung, die als Auflösung der Kommission interpretiert werden konnte oder als ihre Weiterführung. Israel, das der Kommission mißtrauisch gegenüberstand, legte die Entschließung als Auflösung aus. Auch personell war die Kommission schwach besetzt. Liest man die Berichte der Mitwirkenden, so drängt sich der desolate Eindruck der totalen Inkompetenz auf. Die Kommission scheint zu keiner Zeit Persönlichkeiten gehabt zu haben, die ihrer schwierigen Aufgabe entspro4

5

J. G. McDonald, M y Mission in Israel (New York 1951).

s. etwa Azcärate, S. 168 ff.

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

chen hätten. Es genüge, daß z. B. ein amerikanisches Mitglied, ein texanischer Rechtsanwalt, glaubte, die Palästinafrage während seiner Ferien lösen zu können. Pro-israelische Autoren greifen insbesondere die Arbeitsweise der Kommission an. Bei den Waffenstillständen von Rhodos hatte Bunche m i t den Parteien getrennt verhandelt und die vier Waffenstillstände getrennt und nacheinander ausgehandelt. Irgendwelche Verknüpfungen akzeptierte er nicht. So lehnte er z. B. den israelischen Versuch ab, die Waffenstillstandsverhandlungen mit dem Libanon und Syrien zu verknüpfen. A n dieser Verbindung hatte Israel großes Interesse, weil es selbst libanesisches Gebiet besetzt hielt, das es bereit war zu verlassen, während die Syrer Mischmar Hayarden besetzt hielten. Darauf ging Bunche nicht ein. Die Schlichtungskommission dagegen verhandelte von Anfang an mit „zwei Parteien", d. h. sie akzeptierte die arabischen Staaten als eine Partei 6 . Ein solches gemeinsames Vorgehen stärkt die Verhandlungsposition der vereint auftretenden Seite. Aber es führt zur Intransigenz, da sich meist i n jedem einzelnen Punkt die extremste Forderung durchsetzt; es verhindert Kompromisse und Nachgeben des Einzelnen und läuft weitgehend auf eine Kapitulationsforderung hinaus. Es verspricht daher nur Erfolg, wenn die andere Seite völlig besiegt ist, wie Deutschland gegen Ende des 2. Weltkrieges 7 . Davon war bei Israel keine Rede. Pro-israelische Autoren meinen, die Kommission hätte sich keinesfalls auf diese arabische Sicht der zwei Parteien einlassen dürfen, sondern hätte insbesondere zunächst zu einem Abschluß mit Jordanien kommen müssen. Abdulla sei damals zu einem israelisch-jordanischen Friedensschluß bereit gewesen, und auch die Vertreter der übrigen arabischen Staaten hätten sich damit abgefunden. Sie können hierfür Stellungnahmen arabischer Persönlichkeiten und insbesondere das Verhalten der trans jordanischen Regierung und die transjordanische Interessenlage anführen. Die Verteidiger der Kommission können darlegen, daß die arabische Haltung i n Beschlüssen der Arabischen Liga längst festgelegt war, bevor die Verhandlungen begannen; daß kein arabischer Politiker m i t Israel hätte Frieden schließen können und daß schließlich A b dulla wegen seiner Kompromißbereitschaft 1951 ermordet wurde 8 . Ähnliche Vorwürfe richten sich dagegen, daß die Kommission die arabische Verweigerung direkter Verhandlungen zuließ. Die Parteien saßen sich niemals gegenüber. Auch die Rhodos-Formel hatte zwar direkte Verhandlungen ausgeschlossen, jedoch nur formell: die Parteien diskutierten gemeinsam, und es wurde nur fingiert, daß alle ihre Ausführungen an den Vermittler gerichtet seien. Die Schlichtungskommission 6 7

8

s. hierzu Hamzeh, S. 105.

s. WBVR, „ Jalta-Konferenz" ; „Kapitulation".

s. etwa Azcärate, S. 142 ff.

20. Kap.: Das Scheitern der Schlichtungskommission der V N

361

dagegen übermittelte nur die beiderseitigen Memoranden an die andere Partei. Aber auch i n dieser Frage war die arabische Stellung wahrscheinlich endgültig festgelegt, bevor die Verhandlungen begonnen hatten, und da kein Staat und keine Weltorganisation sie zu direkten Verhandlungen zwang, ist kaum zu sehen, wie die Kommission es hätte tun können 9 . Stattdessen haben die Vertreter der Kommission einzeln i n amateurhafter Weise mit einzelnen arabischen Vertretern private Verhandlungen geführt. Diese privaten Verhandlungen scheinen i n einer Weise überhand genommen zu haben, daß die Kommission sie nicht mehr koordinieren konnte. I n der Sache verhärteten sich die beiderseitigen Positionen hoffnungslos. Die Araber weigerten sich, i n Friedensverhandlungen einzutreten, bevor Israel nicht einseitig die arabischen Flüchtlinge wieder aufgenommen hätte. Israel war bereit, die Flüchtlingsfrage zu diskutieren, jedoch nur i m Rahmen allgemeiner Friedensverhandlungen. Damit war die Sackgasse für die Folgezeit eröffnet: Israel erklärte sich bereit, über alles zu reden, aber i m Rahmen allgemeiner Verhandlungen; die arabische Seite verlangte vorher die Rücknahme aller Flüchtlinge und ein Zurückgehen auf die Grenzen des Teilungsplanes. Israel weigerte sich, arabischen Forderungen vorweg, einseitig und ohne die Gegenleistung der Anerkennung zu erfüllen; die Araber machten geltend, solche Verhandlungen führten notwendig zur Anerkennung des israelischen Staates, auch wenn sie i n der Sache zu nichts führten. Israel hätte es dann i n der Hand, die Verhandlungen durch Unnachgiebigkeit scheitern zu lassen und hätte doch die Anerkennung erreicht. Da nach allgemeiner völkerrechtlicher Anschauung in der Aufnahme von zweiseitigen Verhandlungen die Anerkennung oder zumindest ein starkes Indiz für die Anerkennung gesehen wird, ist die arabische Furcht nicht unbegründet. Hier liegt i n der Tat eine Schwäche des geltenden Völkerrechts. Da die Anerkennung zudem unteilbar ist, wäre der arabische Rechtsstandpunkt dann völkerrechtlich i n vielen Punkten umgestoßen 10 . I n rechtlicher Hinsicht stützten beide Seiten ihren Standpunkt auf verschiedene Passagen der Entschließung der Vollversammlung. Israel stützte sich auf Ziffer 5, wonach die Parteien direkt oder mit der Kommission Friedensverhandlungen (Verhandlungen mit dem Ziel der endgültigen Lösung aller zwischen ihnen liegenden Fragen) führen sollten 1 1 . Die Entschließung sah es als Ganzes und die Flüchtlingsfrage als 9 Die Vorwürfe bei Eytan, Berger; Verteidigung: Azcärate; arabische Ansicht: Hamzeh, S. 105. 10

s. etwa WBVR, „Anerkennung"; Dahm I § 23. Resolution 194 (III) Ziffer 5: Calls upon the Governments and authorities concerned to extend the scope of the negotiations provided for in the Security 11

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung: Von K r i e g zu K r i e g

Verhandlungsgegenstand an. Die arabische Seite war nie bereit, sich an Ziffer 5 zu halten und eine Friedensregelung zu suchen. Die Araber forderten dagegen die vollständige Erfüllung der Ziffer 11 dieses Beschlusses, wonach die rückkehrwilligen Flüchtlinge baldigst zurückkehren könnten 1 2 . Die arabische Seite hat i n einer eigenartigen juristischen Konstruktion beide Ziffern völlig voneinander getrennt. Da für beide Ziffern die Kommission zuständig sein sollte, hat sie auch zwei gänzlich verschiedene Funktionen der Kommission behauptet: Bezüglich Ziffer 5 habe die Kommission eine vermittelnde Funktion und könne daher auch Vermittlungsvorschläge machen; bezüglich Ziffer 11 dagegen sei sie eine reine Durchführungskommission. Ziffer 11 sei von den übrigen Bestimmungen der Entschließung völlig getrennt zu lesen und insoweit sie die Kommission zur strikten Durchführung verpflichtet und dürfe keinerlei Vermittlungsvorschläge machen. I h r Name sei insoweit irreführend. Da beide Ziffern nicht verbunden seien, habe Israel kein Hecht, die Erfüllung der Ziffer 11 von den übrigen Fragen, insbesondere von der Gesamtregelung (Friedensverhandlungen) abhängig zu machen und ein do ut des-Verhältnis herzustellen 18 . Ähnliches gelte i m übrigen bezüglich der Bestimmungen über Jerusalem und die Heiligen Stätten: die Kommission habe die Internationalisierung Jerusalems durchzuführen und habe keine Kompetenz, hierüber zu vermitteln. U m die arabische Verhärtung aufzuweichen, drängten die USA und die Schlichtungskommission Israel zu einseitigen Vorleistungen. Israel sollte durch eine Geste die arabische Seite zu Verhandlungen bringen. Die Kommission forderte daher von Israel Vorleistungen i n der Flüchtlingsfrage. Israel kam dem nach langem Weigern zum Teil nach und bot die Aufnahme von 100 000 Flüchtlingen an. Die Kommission (und die USA) hielt dieses Angebot für so unzureichend, daß sie es nicht einmal offiziell an die arabische Seite übermittelte. Die Araber blieben unCouncil's resolution of 15 November 1948 and to seek agreement by negotiations conducted either with the Conciliation Commission or directly, with a view to the final settlement of all questions outstanding between them. 12 Ziffer 11: Resolves that the refugees wishing to return of their homes and live at peace with their neighbours should be permitted to do so at the earliest practicable date, and that compensation should be paid for the property of those choosing not to return and for loss of or damage to property which, under principles of international law or in equity, should be made good by the Governments or authorities responsible. Instructs the Conciliation Commission to facilitate the repatriation, resettlement and economic and social rehabilitation of the refugees and the payment of compensation, and to maintain close relations with the Director of the United Nations Relief for Palestine Refugees and, through him, with the appropriate organs and agencies of the United Nations. 13 Darlegung dieses Rechtsstandpunktes bei Hamzeh, S. 121, S. 138 ff. Daß auch Israel die Befugnis der Kommission zu eigenen Vermittlungsvorschlägen

bestritt s. Azcärate, S. 159 ff., Hamzeh, S. 107.

20. Kap. : Das Scheitern der Schlichtungskommission der V N

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beeindruckt und Israel zog das Angebot schließlich formell zurück. Auch i n territorialer Hinsicht forderte die Kommission von Israel Konzessionen. Diese Versuche lagen im Rahmen des weiteren amerikanischen McGheePlans. Nach diesem Plan sollte Israel erhebliche Konzessionen machen: es sollte eine große Zahl von Flüchtlingen aufnehmen und Galiläa und den Negev an die arabische Seite zurückgeben; dafür sollte evtl. der Gazastreifen israelisch werden. Der Rest der Flüchtlinge sollte in den arabischen Aufnahmeländern angesiedelt werden; für die Ansiedlung stellte die USA eine großzügige Hilfe in Aussicht. Die Araber sahen in dem amerikanischen Angebot lediglich ein „Abkaufen" und in dem Vorgehen der Kommission einen Verstoß gegen Ziffer 11 der Entschließung. Zu dem McGhee-Plan s. etwa Azcärate, S. 154 ff.; ferner die Arbeit der eingesetzten Economic Survey Mission (Clapp-Mission).

U m die unvereinbaren Standpunkte anzunähern, schlug die Kommission eine A r t von dreiseitigen Verhandlungen i n gemischten Kommissionen vor. I n diesen Kommissionen sollte ein Mitglied der Schlichtungskommission Vorsitzender sein. Die Kommission sah darin den Versuch, die eventuelle arabische Bereitschaft zur Vermittlung m i t dem israelischen Wunsch nach Verhandlungen zu verbinden. Die arabische Seite scheint hierzu bereit gewesen zu sein, falls Israel wenigstens das Recht der Rückkehr der arabischen Flüchtlinge prinzipiell anerkannt hätte; die Regelung selbst wäre dann i n den gemischten Kommissionen auszuhandeln gewesen. Da Israel hierzu nicht bereit war, scheiterte auch dieser Ansatz 1 4 . Israel hat das „Prinzip der Rückkehr" nie akzeptiert, aber auch nicht offiziell abgelehnt 15 . Es hat aber stets verlangt, daß die Flüchtlinge friedlich zurückkehren; dies aber sei nur möglich i m Rahmen eines allgemeinen Friedens. I n der späteren Diskussion spielte das sog. Lausanner Protokoll eine gewisse Rolle. Die Kommission hatte einen E n t w u r f vorgelegt, den beide Delegationen als Grundlage für ihre Diskussionen m i t der Kommission akzeptierten. Da sich die arabische Seite weigerte, ein gemeinsames Dokument zu unterzeichnen, wurden zwei gleichlautende Dokumente erstellt, und jede Delegation unterzeichnete ein Dokument. I n dem Entwurf ist von territorialen Berichtigungen die Rede und der Teilungsplan der V N als Anhang beigeheftet. Der Wortlaut des Dokuments besagt nahezu nichts 1 6 ; außerdem hatte Israel noch einen Vorbehalt bezüglich der Grenzen eingefügt. Nach arabischer Auffassung soll die israelische Dele14

s. Azcärate, S. 159; Hamzeh, S. 108.

15 Wohl aber in zahllosen Äußerungen von Politikern. 16 "The interested delegations have accepted this proposal with the understanding that the exchange of views which will be carried on by the commission with the two parties w i l l bear upon the territorial adjustments necessary to the above-indicated objectives."

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung: Von K r i e g zu K r i e g

gation damit die Rückkehr zum Teilungsplan der V N akzeptiert und die i m Kriege dazugewonnenen Gebiete als arabisch anerkannt haben; daraus folge zumindest, daß wenigstens die aus diesen Gebieten stammenden Flüchtlinge sofort zurückkehren könnten. Diese Ansicht ist kaum haltbar. Das Protokoll konnte nur als eine Diskussionsgrundlage gelten 1 7 . I n arabischer Sicht hat sich jedoch Israel eines Bruchs der A b machung schuldig gemacht. Beide Parteien stellten sich unter „territorialen Berichtigungen" recht Verschiedenes vor. Nach arabischer Ansicht bedeutete dies die Rückkehr zum Teilungsplan. Nach israelischer Ansicht sollten die Demarkationslinien m i t Ägypten und Libanon endgültig sein, sollten der Gazastreifen israelisch werden und sollte die Demarkationslinie m i t Jordanien die Verhandlungsgrundlage sein. Hier dachte Israel keineswegs an eigene Gebietsaufgabe, sondern höchstens an kleinere Berichtigungen, etwa zur besseren Straßentrassierung. Die arabische Seite sah darin lediglich ein Beharren auf dem israelgünstigen status quo verbunden m i t weiteren Gebietsforderungen 18 . Die Kommission war nicht völlig erfolglos. Sie hat technische Aufgaben gelöst. Sie hat einen Vorschlag über die Internationalisierung Jerusalems ausgearbeitet 19 . Sie hat eine A r t von Familienzusammenführung zuwege gebracht. Sie hat die Freigabe der Flüchtlingsguthaben i n Höhe von 10 Millionen erreicht. Israel war damals, insbesondere durch die große Einwanderung am Rande des wirtschaftlichen Zusammenbruches und hielt diese Freigabe für eine Geste des Entgegenkommens; die arabische Seite hat hierauf nicht reagiert. Sie hat für die Flüchtlingsfrage eine neue Unterkommission geschaffen, die wichtige Unterlagen erstellt hat 2 0 . Ihre eigentliche Aufgabe, eine politische Lösung zu erreichen, ist dagegen völlig gescheitert; seit 1952 hat die Kommission derartige Bemühungen eingestellt 21 .

Einundzwanzigstes

Kapitel

D e r Zusammenbruch des Waffenstillstandssystems Schrifttum: Sh. Rosenne, Israel's Armistice Agreements with the Arab States (Tel Aviv 1951); Gervais, Les Armistices Palestinien, Coréen et indochinois, AFDJ 1956, S. 97 ff.; S. Jargy, Guerre et Paix en Palestine ou l'histoire du conflit israélo-arabe (1917 - 1967) (Neuchätel 1968); Hurewitz, The Israeli17 18 19 20

21

s. etwa Azcärate, S. 150 f. Hamzeh, S. 106. s. Hamzeh, S. 113; Azcärate, S. 156 ff.

Conciliation Commission's Refugee Office.

Hamzeh, S. 122 ff.

21. Kap. : Der Zusammenbruch des Waffenstillstandssystems

365

Syrian Crisis in the Light of the Arab-Israel Armistice System, International Organization, Bd. 5 (1951), S. 459 ff.; D. Brook, Preface to Peace. The V N and the Arab-Israel Armistice System (Washington, D. C. 1964); N. Bar-Yaacov, The Israel-Syrian Armistice (Jerusalem 1967); E. L. M. Burns, Between Arab and Israeli (London 1962); E. H. Hutchinson, Violent Truce (New York 1956); P. Young, Beduin Command (London 1956) ; P. Mohn, Problems of Truce Supervision, International Conciliation Nr. 478 (1952); Nabil Elaraby, Some Legal Implications of the 1947 Partition Resolution and the 1949 Armistice Agreements, in: The Middle East Crisis (vor V. Teil), S. 97 ff.; Khoury, Kapitel 7; Glubb, Violence on the Jordan-Israel Border: A Jordanian View, Foreign Affairs (1954), Nr. 4, Juli; Day an, Israel's Border and Security Problems, Foreign Affairs, Bd. 33 (1955), S. 250 ff.; Khouri, Friction and Conflict on the Israel Syrian Frontier, Middle East Journal, Bd. 17 (1963), S. 14 ff.; ders., The Policy of Retaliations in Arab-Israeli Relations, ebenda, Bd. 20 (1966), Nr. 4; Doherty, Rhetoric and Reality: A Study of Contempory Official Egyptian Attitudes toward the International Legal Order, A J Bd. 62 (1968), S. 335 ff. Texte der Waffenstillstandsabkommen: UNTS, Bd. 42, Nr. 654-657; ferner

mit Syrien: Bar-Yaacov; mit Libanon: Rosenne; Berger; mit Ägypten: Berber, Dok. Sammlung, Bd. 2 X I I 2; Hurewitz,

Dok. 90. Verfahrensordnung der

Israelisch-Syrischen MAC: Bar-Yaacov, S. 351 ff.

1. Das System der Waffenstillstandsabkommen Die vier Waffenstillstandsabkommen sind nach einem einheitlichen Schema entworfen; sie folgen dem zuerst geschlossenen ägyptisch-israelischen Abkommen. M i t Ausnahme des Abkommens mit dem Libanon enthalten die einzelnen Abkommen noch Regelungen für ihre Gebiete und spezifische Regelungen zwischen den beiden Parteien. Die Abkommen befolgten den Sicherheitsratsbeschluß vom 16. November 1948; das ägyptisch-israelische Abkommen erstrebte zusätzlich die Harmonisierung m i t dem Sicherheitsratsbeschluß vom 4. November 1948. Nach dem Beschluß vom 16. November sollten — die Parteien Verhandlungen zu einem Waffenstillstand aufnehmen; — die Waffenstillstandsabkommen dauernde Waffenstillstandsdemarkationslinien festlegen, die die beiderseitigen Streitkräfte nicht überschreiten durften; — ein Abzug und eine Verminderung der Streitkräfte insoweit geregelt werden, wie es zur Aufrechterhaltung des Waffenstillstands während des Übergangs zu dauerndem Frieden erforderlich wäre; — die Abkommen den Übergang von der gegenwärtigen Feuereinstellung über einen Waffenstillstand zu einem dauernden Frieden erleichtern. Der Sicherheitsratsbeschluß forderte also nicht nur den Abschluß eines Waffenstillstandes, sondern auch, daß dieser Waffenstillstand zu einem dauernden Frieden i n Palästina führen sollte. Die Präambeln der Waf-

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fenstillstandsabkommen übernahmen diese Formulierung des Sicherheitsratsbeschlusses. Die Waffenstillstandsabkommen gingen über die Aufforderung des Sicherheitsrates hinaus und enthielten auch politische Verpflichtungen. Die A r t . I formulierten ein ausführliches Gewaltverbot: — beide Parteien verpflichteten sich, der Aufforderung des Sicherheitsrats entsprechend die Lösung ihrer Probleme nicht m i t militärischer Gewalt zu suchen; — keinerlei Angriffshandlung durch militärische Verbände (Land, See, Luft) durchzuführen, zu planen oder anzudrohen. Die herkömmliche und i n militärischen Organisationen übliche Planung war davon ausgeschlossen — eine wegen des vom Nürnberger Kriegsverbrechertribunal geschaffenen „Verbrechens der Vorbereitung eines Angriffskrieges" gebotene Vorsicht; — sie vereinbarten das Hecht jeder Partei auf ihre Sicherheit und Freiheit vor Furcht gegen Angriff durch Militärstreitkräfte; — sie bestätigten, daß der militärische Waffenstillstand ein notwendiger Schritt für die Beendigung des bewaffneten Konflikts und zur Wiederherstellung des Friedens i n Palästina sei 1 . Die Abkommen betonten die Aufrechterhaltung bestehender Rechte, die durch den Waffenstillstandsabschluß nicht beeinträchtigt würden. A r t . I I stellte unter Bezug auf den Sicherheitsratsbeschluß vom 16. November 1948 diese Vorläufigkeit geradezu als Ziel und Zweck der Abkommen dar und stellte folgende Grundsätze auf: — aufgrund des vom Sicherheitsrat angeordneten Waffenstillstands dürften keine militärischen oder politischen Vorteile erreicht werden; — keine Bestimmung des Abkommens sollte i n irgendeiner Weise die Rechte, Ansprüche und Positionen einer Partei bezüglich der endgültigen Beilegung des Konfliktes präjudizieren; diese Bestimmungen seien ausschließlich durch militärische Erwägungen bestimmt 2 . Die territoriale Deliminiierung der Waffenstillstandsdemarkationslinien trafen die einzelnen Abkommen entsprechend ihrer Gebiete. Aber jedes Abkommen wiederholte für die Demarkationslinien ihre Vorläufigkeit und die bloß militärische Natur und — daß es sich u m eine Waffenstillstandsdemarkationslinie handele; 1 I m Syrisch-israelischen Abkommen ist Ziffer 4 nicht gesondert aufgeführt, sondern in Ziffer 1 enthalten. 2 Das syrisch-israelische Abkommen fügt noch hinzu: „und nicht durch politische Erwägungen"; noch ausführlicher: ägyptisch-israelisches Abkommen, Art. I I I , Art. I V , Art. X I .

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— daß diese i n keiner Weise als politische oder territoriale Grenze verstanden werden könne, sondern — daß es sich um Linien handele, die militärische Verbände nicht überschreiten dürften, und — daß sie nicht die Rechte, Ansprüche und Positionen der Parteien prä judizierten; — daß die Bestimmungen der Streitkräfte, die Zivilpersonen das Überschreiten der Kampflinien oder das Betreten des Gebietes zwischen den Linien untersagten, i n Kraft blieben und für die Demarkationslinien gelten. Dem Abzug und der Verminderung von Streitkräften dienten die beiderseits der Waffenstillstandsdemarkationslinien errichteten (halbentmilitarisierten) sog. Verteidigungszonen. I n diesen Zonen sollten nur Verteidigungsstreitkräfte zulässig sein. I n jeweiligem Anhang zu den Abkommen werden die erlaubte Anzahl, Stärke und A r t der zulässigen Militärstreitkräfte aufgeführt. Die Linien wurden weitgehend durch Längengrade bestimmt. I m Verhältnis zu Syrien, Jordanien und Ägypten gab es auf israelischem Gebiet außer den Verteidigungszonen noch zusätzlich entmilitarisierte Zonen. Der Streit über die Bedeutung dieser Entmilitarisierung und die Befugnisse der Parteien i n diesen Zonen haben bis zum Kriege von 1967 das Verhältnis beider Parteien bestimmt. A n dieser Stelle können nur die historischen Gründe für diese Zonen angeführt werden 3 . Sonderlich kompliziert ist die zur Einhaltung und Überwachung der Waffenstillstände und zur Verzahnung des Waffenstillstandssystems m i t den V N erdachte Maschinerie: Die Gemischten Waffenstillstandskommissionen, die UNTSO, der Beobachterstab und deren Verzahnungen m i t den VN. a) Zur Überwachung der Waffenstillstandsabkommen setzten allo Abkommen Gemischte Waffenstillstandskommissionen (MAC) ein 4 . Der Beschluß des Sicherheitsrats vom 16. November 1948 sagte hierzu nichts. Theoretisch hätten drei Möglichkeiten bestanden 5 : — Die V N übernehmen durch eines ihrer Unterorgane selbst diese Aufgabe, etwa durch die Waffenstillstandsüberwachungskommission, die bereits anläßlich der Feuereinstellung diese Funktion ausgeübt hatte 6 . 3

23. Kapitel. Mixed Armistice Commission. P. Mohn, Problems of Truce Supervision, International Conciliation Nr. 478 (1952). 6 Truce Supervision Commission, 18. Kapitel 3. 4

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— Die Parteien übernehmen diese Aufgabe selbst durch eine von ihnen geschaffene Kommission. — Verbindung beider Möglichkeiten. So das System der Waffenstillstände. Jede Kommission bestand aus der gleichen Anzahl von Offizieren beider Parteien; dazu ein von den V N gestellter Vorsitzender. Dies war entweder der Chief of Staff der Truce Supervision Organisation oder ein ranghoher Offizier des Beobachter-Personals dieser Organisation, den der Chief of Staff nach Beratung mit beiden Parteien bestimmte. Beschlüsse sollten von der Kommission einstimmig gefaßt werden. Ließ sich keine Einstimmigkeit erzielen oder boykottierte eine Partei die Kommission, dann sollte die Mehrheit der anwesenden und abstimmenden Mitglieder entscheiden. Praktisch lief das auf eine Entscheidungsbefugnis des Vorsitzenden hinaus. Er mußte sich zugunsten einer Lösung entscheiden (positiv vote), andernfalls kam kein Beschluß zustande. Die Stellung des Vorsitzenden wurde weiter dadurch gestärkt, daß i h m die Befugnis verliehen wurde, Bestimmungen der Waffenstillstandsabkommen zu interpretieren, soweit dies für die Überwachung des Waffenstillstandes erforderlich war. Außerdem konnte er nicht-bindende Empfehlungen für Änderungen der Abkommen (ausgenommen die A r t . I und III) aussprechen. Die Gemischten Waffenstillstandskommissionen waren keine Unterorgane der VN, sondern wurden ausschließlich von den Parteien eingesetzt — obwohl der Chief of Staff als VN-Offizier wichtige Funktionen ausübte. b) Die United Nations Truce Supervison Organisation (UNTSO) war schon 1948 zur Überwachung der Feuereinstellungen während des Krieges geschaffen worden. Sie war aus dem Beobachterkorps der Waffenstillstandskommission hervorgegangen und dem Vermittler verantwortlich. Nach den Waffenstillständen sollte sie diese überwachen. Da das A m t des Vermittlers aufgehoben worden war, stand nun an der Spitze der UNTSO der Chief of Staff. Der Ausdruck Chief of Staff ist irreführend. I m allgemeinen versteht man darunter den Stabschef der Streitkräfte, der seinerseits einem militärischen Oberbefehlshaber oder der Regierung verantwortlich ist. Der Chief of Staff der UNTSO war Leiter der Beobachtergruppe. Er war dem Sicherheitsrat gegenüber verantwortlich und erhielt von ihm seine Instruktionen, meist in Form von Beschlüssen. Der Rat forderte ihn auch auf, zu berichten. Er verkehrte mit dem Sicherheitsrat über den Generalsekretär der VN. Außerdem war er Vorsitzender der vier M A C (bzw. ein höherrangiger Offizier der UNTSO, den er nach Beratung mit den Parteien ernannte). I n einzelnen Fragen war er als Vermittler tätig; in den entmilitarisierten Zonen übte er bestimmte Funktionen aus. Außerdem besaß er die Befugnis, die Waffenstillstandsabkommen zu interpretieren.

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c) Die Frage einer eventuellen Appelationsinstanz gegenüber Entscheidungen der M A C oder einer Ausfallinstanz bei deren Versagen blieb immer unklar. Nur das ägyptisch-israelische Abkommen sah i n Art. X Absatz 4 für Grundsatzfragen einen Besonderen Ausschuß als Berufungsinstanz vor; i h m gehörten der Chief of Staff und ein ranghöherer Vertreter Israels und Ägyptens an. Eine A r t von Appellationsinstanz hätte die i n den Revisionsklauseln der Abkommen vorgesehene Konferenz der Parteien werden können: ein Jahr nach Inkrafttreten der Abkommen sollte jede Partei einseitig über den Generalsekretär der V N eine Konferenz einberufen können; die Teilnahme war obligatorisch. Diese Konferenz kam aber für kein A b kommen zustande. Israel hatte sich 1953 gegenüber Jordanien darauf berufen, u m wirksamere Maßnahmen gegen Grenzzwischenfälle zu fordern, und der Generalsekretär hatte Jordanien vergeblich zur Teilnahme aufgefordert. Israel befaßte daraufhin m i t dieser Frage den Sicherheitsrat, aber außer einer komplizierten Verfahrensdiskussion kam nichts dabei heraus; der Sicherheitsrat hat die Probleme auf die UNTSO und die Parteien abgeschoben. Fraglich blieb, inwieweit die Entscheidungen oder das Versagen der M A C endgültig waren oder ob der Sicherheitsrat als Appellations- und Überwachungsinstanz angerufen werden konnte. Eine solche Auslegung wäre wegen der organisatorischen Verzahnung über den Chief of Staff mit den V N denkbar gewesen. Als Überwachungsinstanz, insbesondere i n Verbindung m i t der Revisionsklausel hätte man dem Sicherheitsrat weitgehende Funktionen zubilligen können, so daß er nicht nur unter den engen Voraussetzungen des V I . und V I I . Kapitels der SVN hätte tätig werden, sondern auch verbindliche politische Regelungen treffen können. Der Sicherheitsrat mußte sich immer unter einer politisch schwierigen Situation um jeweilige Lösungen bemühen und hat daher die Grundsatzfragen ungelöst gelassen. So wurde nie klar, ob der Sicherheitsrat als Appellationsinstanz oder unmittelbar aufgrund seiner Befugnisse gemäß Kapitel V I I der Satzung i m Falle einer Friedensbedrohung tätig wurde. Denn beide Parteien versuchten einerseits i n den M A C zum Ziele zu gelangen oder die Grenzzwischenfälle dort propagandistisch auszuweiten; bei genügend schweren Zwischenfällen wandten sie sich an den Sicherheitsrat. Der Sicherheitsrat hat versucht, für seine Befassung Regeln aufzustellen und wollte sich an den Grundsatz halten, daß zunächst die M A C zuständig seien und der Sicherheitsrat solange nicht befaßbar sei, wie die M A C nicht endgültig entschieden hätten. Diesen Grundsatz von der vorherigen Erschöpfung der von den Abkommen vorgesehenen Instanzen konnte der Sicherheitsrat nicht durchhalten; 24 Wagner

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z. B. hat er 1951 i m Falle der Durchfahrt durch den Suezkanal unmittelbar entschieden. I m übrigen hat der Sicherheitsrat zunehmend die Waffenstillstandsabkommen interpretiert und z. B. die Befugnisse des Vorsitzenden M A C i n den entmilitarisierten Zonen festgelegt. Nach dem Sinai-Krieg von 1956 hatte Israel zunächst den Waffenstillstand mit Ägypten nebst der Demarkationslinie für nicht mehr in Kraft erklärt; Ben-Gurion hatte dies am 7. November 1956 vor dem Parlament erklärt. Dieser Standpunkt stand im Rahmen des israelischen Versuchs, den Sinai zu annektieren und später wenigstens Ägypten aus Sharm el Scheik und dem Gazastreifen zu halten. Israel konnte sich mit dieser Ansicht nicht durchsetzen. Die V N nahmen ihm gegenüber eine feste und harte Haltung ein: bedingungsloser Rückzug hinter die Waffenstillstandslinien von 1949 und Einhaltung des Waffenstillstandes. Auch die Großmächte schlossen sich dem Druck an. Israel mußte sich zurückziehen.

2. Der Zusammenbruch dieses Systems I n dem Maße, wie Israel sich i n den gewonnenen Grenzen konsolidierte und die arabischen Hoffnungen auf eine Zurückdrängung Israels und Rückkehr der Flüchtlinge sich nicht erfüllten, schwand die arabische Bereitschaft, den status quo der Waffenstillstandsabkommen zu respektieren. Zunehmend setzte sich i m arabischen Lager die Ansicht durch, Israel müsse durch Gewalt zur Aufgabe seiner Positionen gezwungen werden. Grenzzwischenfälle, Grenzkämpfe i n den entmilitarisierten Zonen und arabische Blockade waren die M i t t e l dieser Gewaltanwendung. Und i n dem Maße, wie Israel die Waffenstillstandsabkommen als endgültig und die Demarkationslinien als internationale Grenzen aufwerten wollte, versuchten die Araber, die Waffenstillstandsabkommen herunterzuspielen. Darum der Streit um den durch die Waffenstillstandsabkommen geschaffenen Rechtszustand zwischen Israel und seinen Nachbarn. Früher beschränkten sich Waffenstillstandsabkommen auf die Vereinbarung der Einstellung bewaffneter Feindseligkeiten. Die Abkommen von Rhodos gingen erheblich weiter; sie gingen auch über die Aufforderung des Sicherheitsrates vom 16. November 1948 hinaus. Außer der Einstellung bewaffneter Feindseligkeiten enthielt A r t . I Ziffer 3 und 4 auch politische Verpflichtungen: (3) The right of each Party to its security and freedom from fear of attack by the armed forces of the other shall be fully respected. (4) The establishment of an armistice between the armed forces of the two parties is accepted as an indispensable step toward the liquidation of armed conflict and the restoration of peace in Palestine.

Daraus hat Israel die Anerkennung durch die arabischen Staaten herausgelesen. Die Verpflichtung beider Parteien, miteinander i n Frie-

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den zu leben und das Hecht, frei von Furcht zu leben, konnte als Nichtangriffspakt zumindest verstanden werden. Daneben enthielten die Abkommen jedoch auch Formulierungen über den ausschließlich militärischen und provisorischen Charakter der A b kommen, wie i n Art. I I Ziffer 2 : I t is also recognized that no provision of this agreement shall in any way prejudice the rights, claims and positions of either Party hereto in the ultimate peaceful settlement of the Palestine question, the provisions of this agreement being dictated exclusively by military considerations.

Beide Parteien interpretierten die Abkommen verschieden. Israel glaubte, eine A r t von Vorfriedensverträgen erlangt zu haben, die i m Prinzip seine Existenz i n den Grenzen der Waffenstillstände nicht mehr infrage stellten. Es stützte sich hierzu insbesondere auf die politischen Teile der Abkommen, also vor allem auf A r t . I. Der arabische Standpunkt dagegen ging vom Kriegszustand zwischen den arabischen Staaten und Israel 7 aus. Insbesondere erkannten die Araber die Demarkationslinien nicht als Grenzen an, verneinten die israelische Gebietssouveränität und vindizierten für die arabischen Staaten weiterhin die Rechte kriegführender Parteien. Daraus leiteten die Arabischen Staaten das Recht ab — direkte Verhandlungen m i t Israel zu verweigern ; — für israelische Schiffe und für neutrale Schiffe, die Israel anlaufen, die Durchfahrt durch Suez 8 und die Straße von Tiran 9 zu sperren; — gegen Israel die Wirtschaftsblockade zu verhängen 1 0 ; — die Demarkationslinien als nicht endgültig anzusehen. Israel hat vergeblich drei Argumente gegen den ägyptischen Rechtsstandpunkt vorgebracht: a) Die SVN untersage die Anwendung von Gewalt. Daher könne es zumindest zwischen Mitgliedern der V N keinen legalen Kriegszustand mehr geben. Die S V N verbiete den Krieg 1 1 . Die These läßt sich nach der S V N vertreten. Die S V N legt allen Staaten eine Friedenspflicht auf und verbietet die Gewalt (Art. 2 Ziffer 4) 12 . Mehrere Völkerrechtsautoren haben sich gegen die Vorstellung des legalen Kriegszustandes ausgesprochen 13 . 7

U m nicht die Existenz Israels anzuerkennen, sprachen ägyptische offizielle Dokumente meist von „den Zionisten". 8 s. 22. Kapitel 2. 9 s. 22. Kapitel 3. 10 s. 22. Kapitel 1. 11 N. Feinberg , The Legality of a „State of War" after the Cessation of Hostilities (Jerusalem 1961). 12 s. etwa: Dahm, I I § 75; Berber , Bd. 2, § 11 ; WBVR, „Kriegsverbot". 13 Die Problematik wird durch die wichtige Frage verkompliziert, ob auch 24*

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Die These hat jedoch Schwächen. Das Gewaltverbot ist nicht absolut; verboten ist nur die rechtswidrige Gewaltanwendung. Insbesondere bleibt Gewaltanwendung als Selbstverteidigung nach A r t . 51 S V N weiterhin zulässig. Gegenüber dem Aggressor bleibt die Gewaltanwendung legal. Die arabischen Staaten haben stets erklärt, daß sie Opfer einer fortgesetzten zionistischen Aggression seien, wogegen sie Selbstverteidigung übten 1 4 . Es ist aber nie gelungen, i m Rahmen des V B oder der V N über die begriffliche Fassung der Aggression einig zu werden 1 5 . Weder der Sicherheitsrat noch die Vollversammlung haben sich klar i m Sinne einer Ächtung des Krieges ausgesprochen und nie entschieden, daß ein Kriegszustand zwischen Mitgliedern der V N nicht mehr zulässig sei. Die Gelegenheit bot sich insbesondere 1951 i m Sicherheitsrat, als die israelische Forderung auf freie Durchfahrt durch den Suezkanal erörtert wurde und Ägypten sich auf den fortdauernden Kriegszustand m i t Israel berief und daraus die Rechte einer kriegführenden Partei und also das Recht zur Sperrung des Kanals sowie das Prisenrecht i n Anspruch nahm. Die Entscheidung des Sicherheitsrates ging auf das ägyptische Argument des fortdauernden Kriegszustandes nicht ein, sondern stellte es auf den Waffenstillstand ab, der die ägyptische Inanspruchnahme von Kriegführungsrechten untersage. Da er diese Inanspruchnahme lediglich als „Rechtsmißbrauch" bezeichnete, könnte der Beschluß so verstanden, werden, als habe der Sicherheitsrat die grundsätzliche Möglichkeit eines legalen Kriegszustandes nicht angezweifelt. Schließlich vertreten die marxistischen Völkerrechtslehren und damit ein erheblicher Teil der Völkerrechtsautoren die Unterscheidung vom gerechten (zulässigen) und ungerechten (unzulässigen) Krieg 1 6 . Z u den gerechten Kriegen gehören die antikolonialen und antiimperialistischen Kriege. Die arabischen Staaten haben den Kampf gegen Israel stets als einen antikolonialistischen und antiimperialistischen Kampf gesehen; Teile der marxistischen Völkerrechtslehre und Autoren und Politiker der Dritten Welt haben diese Sicht übernommen. b) Die arabischen Staaten hätten, u m jede Anerkennung Israels zu vermeiden, den Krieg niemals ausdrücklich erklärt; deshalb könne kein Kriegszustand bestehen. Die arabischen Staaten und die Arabische Liga haben den Einmarsch ihrer Armeen als Polizeiaktion dargestellt. Aber die Frage eines Kriegszustandes ist unabhängig davon, ob die Kriegführenden sich als Völkerrechtssubjekte und als Staaten anerkennen. im Falle eines illegalen Krieges Kriegsrecht gilt und ob insbesondere der Aggressor die Rechte einer kriegsführenden Partei beanspruchen kann, vor allem, ob auch dem Aggressor gegenüber Kriegsrecht einzuhalten ist. Alles spricht dafür. 14 Nasser: "The very existence of Israel is an aggression." 15 WBVR, „Angriff"; Berber, Bd. 2. 16

Nachweise: Dahm I I § 75 Anm. 24.

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c) Jedenfalls hätten die Waffenstillstandsabkommen den Kriegszustand beendet. Diese Abkommen hätten nicht nur die Einstellung bewaffneter Feindseligkeiten vereinbart und seien daher nicht lediglich militärischer Natur. Sie seien Waffenstillstandsabkommen sui generis. Insbesondere A r t . I garantiere beiden Seiten Sicherheit und Freiheit von Furcht vor Angriff. „Sicherheit" stehe ohne Einschränkung, meine also nicht nur die militärische Sicherheit. Wenn die arabischen Staaten also weiterhin auf dem Kriegszustande und der Ausübung von Kriegsrechten beharrten, so verletzten sie die Abkommen, da so Israels Sicherheit und seine verbürgte Freiheit von Furcht vor A n g r i f f bedroht seien. Die arabische Seite berief sich demgegenüber auf die traditionelle Lehre, wonach ein Waffenstillstand nur die bewaffneten und m i l i t ä r i schen Feindseligkeiten, also die militärische Phase des Krieges beende, nicht aber den Kriegszustand selbst. Auch von den bewaffneten Feindseligkeiten seien lediglich die Maßnahmen durch die Waffenstillstandsabkommen untersagt, die dort ausdrücklich verboten seien. A l l e Maßnahmen, die das Abkommen nicht ausdrücklich verbiete, seien daher weiterhin erlaubt. Da die Waffenstillstandsabkommen nicht den Kriegszustand beenden, sondern nur die Einstellung der militärischen Kampfhandlungen zur Folge hatten, bestehe der Kriegszustand juristisch auch unter der Geltung eines Waffenstillstandes i n vollem Umfange fort, m i t denjenigen Schranken, die i m Waffenstillstand enthalten seien. Auch die arabisch-israelischen Waffenstillstandsabkommen besagten nichts Gegenteiliges. Die Lehre vom Waffenstillstand ist i n einem Wandel begriffen 1 7 . Die klassische Lehre verstand unter Waffenstillstand die Vereinbarung über die Einstellung bewaffneter Feindseligkeiten und den dadurch erreichten Zustand. Er beendete also n u r die bewaffneten Feindseligkeiten und nicht den Kriegszustand selbst; dessen Beendigung blieb dem Friedensvertrag vorbehalten. Die beiden Parteien waren daher weiter miteinander i m Kriegszustand, und es galten die Regeln des Kriegsvölker-, nicht des Friedensvölkerrechts. Lediglich die Kriegshandlungen waren untersagt, die i m Waffenstillstandsabkommen ausgeschlossen wurden 1 8 . Dies galt insbesondere für die Frage, ob das Prisenrecht ruhte und ob die Blockade untersagt w a r 1 9 . Die Blockade galt nach herrschender Lehre nicht als bewaffnete Kriegshandlung; deshalb wurde empfohlen, ihre Aufhebung stets ausdrücklich i m Waffenstillstandsabkommen zu vereinbaren 2 0 . 17 Nachweise: WBVR, „Waffenstillstand"; Berber, Bd. 2; H. S. Levie, The Nature and Scope of the Armistice Agreements, A J 50 (1956), S. 880 ff. 18 H. M., s. Berber , dort weitere Nachweise.

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Nachweise bei Berber.

z. B. Korea-Waffenstillstand: „and shall not engage in blockade of any kind". Etwas naiv wohl Levie, S. 906, der meint, durch Aufnahme entsprechender Klauseln sei das Problem schnell und einfach aus der Welt zu schaffen.

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Der Waffenstillstand hat aber seit dem 1. Weltkrieg durch Aufnahme nicht-militärischer Regelungen, insbesondere politischer und territorialer Klauseln immer mehr den Charakter eines Vorfriedens angenommen. Nach manchen Kriegen wurde überhaupt nur ein Waffenstillstand abgeschlossen und der Friedensvertrag damit durch den Waffenstillstandsvertrag ersetzt. Daher w i r d die Ansicht vertreten, der Waffenstillstand habe überhaupt die Funktion des früher üblichen Friedensvertrages übernommen. Dies würde bedeuten, daß der Waffenstillstand den Kriegszustand beendet und zwischen den Parteien wieder Friedensvölkerrecht gilt. Keine Partei könnte die Rechte eines Kriegführenden beanspruchen und fortdauernde Blockade und Prisenrechte wären ausgeschlossen. Diese Ansicht w i l l also den Kriegszustand möglichst einschränken und beruft sich auf die Satzung der VN, wonach Krieg ohnehin untersagt sei, soweit es sich nicht um die Abwehr einer bewaffneten Aggression handle; gerade dies sei aber durch das Waffenstillstandsabkommen beendet. Daher könnte es auch keine kriegerischen Rechte mehr geben. Da aber immerhin noch kein Friede geschlossen wurde, w i r d erörtert, ob es nach dem Waffenstillstand einen Zwischenzustand gebe zwischen Krieg und Frieden. Insbesondere Politiker berufen sich mitunter auf einen solchen Zustand 2 1 . Die vorherrschende Lehre lehnt den Zwischenzustand ab und wendet sich der Interpretation des jeweiligen Waffenstillstandsabkommens zu. Für diktierte Waffenstillstandsabkommen kapitulationsähnlichen Charakters w i r d die kriegsbeendende Wirkung erörtert 2 2 . Diese Möglichkeit braucht nicht weiter untersucht zu werden, da die Kriegslage 1948 keine Partei zur Kapitulation zwang. Anders soll es dagegen bei Waffenstillstandsabkommen infolge Patt-Situation sein. Das dürfte dem Kriegsergebnis von 1948 entsprechen. Hier kommt es auf die Interpretation an: wollten die Parteien die kriegerische Auseinandersetzung mit dem Waffenstillstand auf der Grundlage des Besitzstandes abschließen? Für diesen Fall w i r d die Beendigung des Kriegszustandes und der Fortfall des Blockade- und Prisenrechts angenommen 23 . Es ist allerdings hinzuzufügen, daß insbesondere das Schicksal der arabisch-israelischen Waffenstillstände zu dieser retardierenden Lehre geführt hat. Die arabische Seite beruft sich nicht nur auf die traditionelle Lehre vom Waffenstillstand, sondern verneint auch den abweichenden Charakter der Abkommen. Sie führt insbesondere die Passagen auf, die den rein militärischen und vorläufigen Charakter betonen 24 . 21

Nasser nach dem Juni-Krieg 1967: „Weder Krieg noch Frieden." s. WBVR, „Waffenstillstand". WBVR, I 591, insbesondere unter Hinweis auf die arabisch-israelischen Waffenstillstandsabkommen. 24 Die Abkommen seien „dictated exclusively by military considerations"; sie sollten nicht „weaken or nullify, in any way, any territorial, custodial or 22

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Israel hat auf mehreren Ebenen sich vergeblich auf die politischen Teile der Abkommen, insbesondere auf A r t . I Ziffer 3 berufen. Die arabische Seite hat sich stets geweigert, diese Bestimmung anzuwenden. Auch i n den M A C drang Israel nicht durch: die arabischen Vertreter haben die ausschließlich militärische Bedeutung der Abkommen betont und den M A C die Zuständigkeit zur Diskussion evtl. politischer Teile abgestritten. Die Kommissionen seien nur für die Einhaltung der Feuereinstellung zuständig. Sie verweigerten bereits die Diskussion über die Durchführung von A r t . I oder sonstiger politischer Fragen. Die Haltung des Vorsitzenden hat geschwankt. Auch der Generalsekretär der V N übernahm 1956 praktisch die arabische These vom nur militärischen Charakter der Waffenstillstände. Er unterschied zwischen den Bestimmungen über Feuereinstellung (Art. III) und allen anderen Bestimmungen, einschließlich A r t . I 2 5 . Die ersteren beruhten unmittelbar auf der SVN und dem Sicherheitsratsbeschluß vom 15. J u l i 1948 und hätten daher Vorrang vor allen anderen Bestimmungen. Jedenfalls aber sei keine Stelle vorhanden, die die übrigen Bestimmungen erzwingen könnte. Das System funktionierte unterschiedlich. M i t dem Libanon gab es kaum Probleme. M i t Syrien brach es 1951 i m Streit u m die entmilitarisierten Zonen zusammen; von da an traten die M A C nur noch sporadisch zusammen, seit 1960 überhaupt nicht mehr. M i t Jordanien arbeitete das System i m großen und ganzen bis 1953; die schweren Grenzzwischenfälle und israelischen Vergeltungsschläge ließen es weitgehend ineffektiv werden. M i t Ägypten endete die Quasi-Zusammenarbeit praktisch 1955 m i t der israelischen Besetzung von E l Audscha. Der Zusammenbruch des gesamten Systems zeigte sich am klarsten an den Grenzzwischenfällen, ihrer Behandlung i n den M A C und i n der Blockierung des Systems. Die Grenzzwischenfälle begannen unmittelbar nach den Waffenstillständen. Neutrale Beobachter sind sich einig, daß zunächst einzelne arabische Flüchtlinge nach Israel eindrangen. Die Beobachter verweisen darauf, daß die Flüchtlinge zum Teil ihre Angehörigen suchten, zurückgelassenen Hausrat holen wollten, irgend etwas stehlen wollten und schließlich sich an Israel für die Vertreibung rächten. Die Erbitterung erfaßte auch die arabischen Dorfbewohner auf den samarischen Grenzhöhen, deren Äcker unter ihren Augen nunmehr von Israeli bestellt und abgeerntet wurden. other rights, claims or interests which may be asserted by either Party in the area of Palestine"; die Demarkationslinien seien „not to be construed in any sense a s . . . political or territorial boundaries" ; sie sind „delineated without prejudice to the rights, claims and positions of either P a r t y . . . as regards the ultimate settlement of the Palestine question". 25

s. Berger, S. 72.

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6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

Die M A C erwiesen sich hier nur von begrenztem Wert. Jede Partei konnte ihre Arbeit blockieren, indem sie nicht teilnahm, sich nicht an den Beschluß hielt oder einfach auf der Rangfolge der Tagesordnung bestand: mitunter standen 2000 Beschwerden an! Die Tätigkeit der UNTSO wurde zunehmend steriler: endlose Notierung der Grenzzwischenfälle, frustierend sinnlose Berichte der Beobachter über die Spuren (Patronenhülsen usw.) 26 ; wer hat geschossen, wieviele Tote, wer überquerte die Grenze usf. Die Berichte erscheinen deshalb so frustrierend, weil sie zum Zeitpunkt des Berichts meist durch zahllose neue Zwischenfälle „überholt" waren. Soweit eine M A C verurteilte, war keine Seite beeindruckt, sondern sah hierin nur Parteilichkeit des Vorsitzenden; falls ein Zwischenfall von genügender Tragweite war, wurde der Sicherheitsrat der V N angerufen; auch dessen Verurteilungen blieben ohne Effekt. I n dem Maße wie die M A C unbefriedigend arbeiteten, suchte sich Israel anders zu helfen und suchte die arabischen Nachbarstaaten zu veranlassen, ihre Staats- und Aufenthaltsangehörigen i m Zaum zu halten. Dies führte zu israelischen Vergeltungsmaßnahmen gegen arabische Siedlungen. Die israelische Taktik bewährte sich zeitweise: die arabischen Staaten verlegten die Flüchtlingslager weiter ins Landesinnere; Glubb organisierte eine wirksamere jordanische Grenzmiliz, die gleichzeitig die eigenen Leute disziplinierte. Trotzdem stiegen die Zwischenfälle. Dabei sind die Araber stets „inoffizielle Infil tran ten", während auf israelischer Seite fast immer die Armee handelte. Die Armeeaktionen waren leichter zu erfassen und zu qualifizieren; Israel wurde zunehmend i n den V N verurteilt 2 7 . Israel schlug zunächst undiskriminiert zurück; als besonders hart gilt der Angriff auf Qibya i m Oktober 1953, als israelische Soldaten die Bewohner i n ihre Häuser zwangen und diese i n die L u f t sprengten. Es gab 53 Tote. A u f die harte Verurteilung i m Sicherheitsrat bemühte sich Israel i n Zukunft, nur militärische und polizeiliche A n lagen zu zerstören und die arabische Zivilbevölkerung zu schonen. Auch die Araber griffen israelische Siedlungen an (Nahal Oz, Patisch); Israel blieb „erfolgreicher", wenn die Zahl der Toten ein Erfolgskriterium ist. Der Sicherheitsrat verurteilte meistens einseitig Israel, nicht die arabischen Staaten für die Infiltranten; aber er konnte weder die Infiltrationen noch die israelischen Gegenschläge unterbinden. Ab 1953 scheint sich der Charakter der Infiltrationen geändert zu haben: zunehmend dringen i n Syrien ausgebildete und über Jordanien 26 Die Berichte sind veröffentlicht als Reports of The Chief of Staff, UNTSO; guten Einblick bei Burns, Hutchinson, Glubb. 27 Ibrahim El-Abid, Gewalt und Frieden (1969) gibt in Tabellen eine Zusammenstellung der israelischen Angriffe und der Verurteilungsresolutionen durch Sicherheitsrat und Vollversammlung; ebenso durch Waffenstillstandskommission; ebenfalls bei Hadawi, Bitter Harvest (vor I. Teil), Kapitel X I I .

21. Kap. : Der Zusammenbruch des Waffenstillstandssystems

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einfallende Infiltranten ein, legen Minen, sprengen Anlagen, töten. A b 1955 geschieht dasselbe vom Gaza-Streifen aus: von der ägyptischen Armee ausgebildete Fedaj i n dringen tief nach Israel bis Tel A v i v vor und töten Israeli. Israel reagiert zunehmend härter, sei es als Repressalie, sei es, um militärische Vorteile zu erlangen (El-Audscha), sei es, u m die A r a ber zu Verhandlungen zu zwingen. Es war insbesondere diese Eskalation m i t Ägypten, die ein K l i m a schuf, i n dem Pläne wie der Johnston-Plan scheitern mußte, und das schließlich zum Sinai-Krieg 1956 führte; es erklärt aber auch die Erbitterung, m i t der Israel nach dem Sinai-Krieg sich weigerte, den Gazastreifen wieder unter ägyptische Verwaltung kommen zu lassen. Die völkerrechtliche Argumentation um Infiltration und Gegenschläge ist konfus 2 8 . Untersucht man zunächst die israelische These von der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit der arabischen Nachbarstaaten für die Infiltranten, so bleibt die Frage zumindest partiell unentschieden. Nach ganz herrschender Auffassung haftet der Staat für seine Organe; dazu zählen selbstverständlich seine bewaffneten Streitkräfte. Dagegen haftet der Staat heute grundsätzlich nicht mehr für Privatpersonen, weder für deren Verhalten innerhalb seines Hoheitsbereiches, noch jenseits seiner Grenzen. Gegenteilige Auffassungen gelten als überwundenen Rechtskulturen zugehörig; die staatliche Gemeinschaft kann nicht mehr m i t straf- und haftungsrechtlicher Folge identifiziert werden. Dies gilt grundsätzlich auch für das Verhalten einer Mehrzahl von Menschen: auch Ausschreitungen einer Volksmenge oder Überfälle werden dem Staat nicht angelastet. Hierauf berufen sich die arabischen Staaten. Dieser Grundsatz ist aber sofort m i t vielen Einschränkungen zu versehen. Die Infiltranten können nicht unbesehen als Private angesehen werden. Für die isoliert handelnden Flüchtlingsinfiltranten der ersten Jahre mag das gelten; für die Träger des organisierten Widerstandes nicht mehr 2 9 . Seit 1953 hat Syrien die Infiltranten ausgebildet; seit 1955 hat Ägypten die Fedajin militärisch ausgebildet und organisiert; die verschiedenen Widerstandsgruppen werden von der Palästinensischen Befreiungsorganisation getragen, einer Organisation der Arabischen; Liga und damit der arabischen Staaten. Die Verflechtungen oder jedenfalls das Nebeneinander der jordanischen Armee und der E l Fatah sind bekannt. Selbst wer hier noch Bedenken hat, kann kaum zu einem anderen Ergebnis gelangen. Denn der Staat haftet auch für Private, wenn er deren Handeln unterstützt oder pflichtwidrig nicht verhindert, obwohl er dazu i n der Lage wäre. So muß er darauf halten, „daß sein Gebiet nicht 28 s. Berber, Bd. 3, 1. Kapitel; Dahm, Bd. 3, Teil I I ; WBVR, „Delikt, völkerrechtliches". 29 Über die Organisation s. 27. Kapitel 3.

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6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: Von Krieg zu Krieg

zu gewaltsamen Angriffen auf fremde Staaten, z. B. nicht zu Terroraktionen oder als Operationsbasis von . . . Banden . . . gegen fremde Staaten mißbraucht w i r d " 3 0 . Auch hiernach w i r d man diskutieren können, inwieweit zu Beginn der Eskalation die jordanische Regierung die I n filtrationen hätte verhindern können und wieweit Jordanien alles in seiner Macht befindliche getan hat 3 1 . Für die spätere Zeit kann dies nicht mehr gelten; die Widerstandsgruppen wurden aktiv von den Regierungen unterstützt und organisiert. Die Infiltrationen und Sabotageakte der Widerstandsgruppen sind i m Völkerrecht kaum behandelt. Man könnte die für Aufständische entwikkelten Regeln anwenden. Aber auch hier käme man zu keinem anderen Ergebnis. Ebenso fragwürdig bleibt die israelische Reaktion. Würde man die i n den Nürnberger Urteilen und späteren Prozessen entwickelten Rechtssätze hier anwenden, käme man i n den Ruf eines Antisemiten: Retorsionsmaßnahmen wie gegen Qibya sind absolut unzulässig. Aber es ist bereits fraglich, welches Recht überhaupt zur Anwendung kommt: Friedensvölkerrecht m i t seinen Durchsetzungsmitteln (Retorsion und Repressalien) 32 oder Kriegsvölkerrecht. Ein Problem stellt sich auf israelischer Seite nicht: hier handelte fast immer die Armee; die Verantwortlichkeit des israelischen Staates w i r d insoweit von keiner Seite bestritten. Aber fraglich ist, inwieweit das gegenwärtige Völkerrecht überhaupt noch bewaffnete Repressalien zuläßt; i h r Verbot ist das Pendant zum allgemeinen Verbot eines Krieges und bewaffneter Gewalt der SVN und die Literatur spricht sich i n diesem Sinne aus 33 . Aber es ist klar: solange die Völkergemeinschaft nicht das Kriegsverbot erzwingen kann, solange muß sie auch derartige Repliquen dulden. Umgekehrt: auch soweit man noch bewaffnete Repressalien für zulässig hält, ist die Frage möglich, ob i m Einzelfall nicht das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit verletzt wurde. Die arabische These ist hier für Israel inakzeptabel: die Waffenstillstandsabkommen verbieten militärische Maßnahmen; die Infiltrationen und Aktionen der Widerstandsgruppen seien aber keine militärischen Maßnahmen, wohl aber dagegen die israelischen Vergeltungsmaßnahmen. Dies läuft darauf hinaus, daß die eine Seite alle Rechte einer kriegführenden Macht für sich i n Anspruch nimmt, die sie benötigt und sie der anderen abspricht. 30 Dahm, Bd. 3 § 29 I I I 1, mit Hinweis auf den Entwurf der International Law Commission der V N für die Bestrafung von Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit von 1951, wonach die Duldung oder Ermutigung der organisatorischen Tätigkeit zum Zwecke der Regelung von Terrorakten im Ausland ein völkerrechtliches Delikt ist.

31 32 33

s. Glubb, S. 299 ff.

s. Berber, Bd. 3, Kapitel 3. Berber, Bd. 3,14 I I .

22. Kap. : Die Blockade der arabischen Staaten gegenüber Israel

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Der Sicherheitsrat hat sich zunehmend die arabische These zu eigen gemacht. Er hat Israels Vergeltungsmaßnahmen i n härtester Form verurteilt und sich meist über die Infiltrationen nicht ausgesprochen. Politisch ist dies erklärbar: die Sowjetunion ging ins arabische Lager über; Großbritannien mußte die jordanische Regierung stützen; die USA bemühten sich um arabische Partnerschaft. So wurde Israel zunehmend isoliert. Es ist klar: die Araber können nicht auf die Dauer dem Staat Israel die Terroraktionen von Irgun und Stern und das Dair Yassin-Massaker zurechnen, sich aber von der El-Fatah-Tätigkeit isoliert sehen. Und es zählt zu den Binsenweisheiten des Völkerrechts, daß es ineffektiv bleibt, wenn seine Organe das Recht nur einseitig durchsetzen können oder wollen.

Zweiundzwanzigstes

Kapitel

D i e Blockade der arabischen Staaten gegenüber Israel 1. Isolierung und Wirtschaftsblockade Schrifttum:

E. Berger, Kapitel 10 und 11; Khoury, S. 204 ff. (beide vor 19. Ka-

pitel); Boutros-Ghali, The arab league 1945 -1955, International Conciliation Nr. 498 (1955), S. 406 ff.; Marvan Iskander, The Arab Boykott of Israel (Beirut: Research Center, Palestine Liberation Organization 1966). WBVR, „Blockade, kriegerische".

Die arabischen Staaten bemühten sich, Israel auf allen Ebenen zu isolieren; ihr Instrument war die Arabische Liga. Bereits 1946, also vor der Staatsgründung, boykottierten sie „zionistische Erzeugnisse" und verstärkten den Boykott nach der Staatsgründung zusehends. Dazu schufen sie eine Zentrale i n Damaskus und Boykott-Ämter i n jedem arabischen Staate. Die Details mögen dahinstehen: sie sperrten den Handel von und nach Israel und räumten durch ein immer perfekteres Überwachungssystem auch die Boykottumgehungen über Dritte Länder aus. Zusätzlich boykottierten sie fremde Unternehmen, die i n Israel Niederlassungen unterhielten und Schiffe, die Israel anliefen; schwarze Listen für Unternehmen und Schiffe machten diese A r t des Boykotts wirksam. Inwieweit dieser Boykott i m einzelnen gelang, hing ausschließlich von der Standfestigkeit und der Position des Unternehmens ab: manche Unternehmen beugten sich dem Boykott, manche entschieden sich für den israelischen Markt, andere versuchten durch Zwischenfirmen aus-

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6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: Von Krieg zu Krieg

zuweichen, was zu regelrechter Detektivarbeit und zum Katz- und Mausspiel führte 1 . Die Techniken der Wirtschaftsblockade mögen dahinstehen; es sind dieselben, die auch die europäischen Staaten i m zweiten Weltkrieg gegenseitig i n Perfektion angewandt haben 2 . Die rechtliche Erörterung läßt jede denkbare Haltung zu. Entscheidend kommt es auf die arabische These von der Fortgeltung des Kriegszustandes an. Akzeptiert man diese These, dann w i r d man den arabischen Ländern nichts vorwerfen können, was nicht auch die europäischen Staaten gegeneinander praktiziert haben 3 . Die Auswirkungen des Boykotts sind naturgemäß schwer zu berechnen. Die arabische These ist, daß der Boykott Israel zum wirtschaftlichen Zusammenbruch führen soll; eine Illusion, der schon viele Boykottierende erlegen sind. Oder es soll wenigstens gezeigt werden, daß Israel inmitten der feindlichen arabischen Welt nicht lebensfähig ist. 2. Sperrung der Durchfahrt durch den Suez-Kanal Schrifttum: Allgemein zum Suez-Kanal und Nachweis der Urkundensammlungen: WBVR, „Suez-Kanal"; insbes. A. Obieta, The International Status of the Suez-Canal (Haag 1960); Berber , Dokumentensammlung, Bd. 1 V I 102; Indian Society (vor I. Teil), S. 107 ff.; L. Gross , Passage through the Suez Canal of Israel-bound Cargo and Israel Ships, AJ 51 (1957), S. 530 ff.; Lawyer's Committee on Blockade: The United Nations and the Egyptian Blockade of the Suez-Canal (New York 1953) ; M. Khadduri, Closure of the Suez Canal to Israel Shipping, in: The Middle East Crisis (vor V.), S. 147 ff. für den arabischen Rechtsstandpunkt insbesondere die Diskussionen im Sicherheitsrat der V N (Nachweise bei Gross) und die Urteile des ägyptischen Prisengerichtshofes in Alexandrien, veröffentlicht als Serie: Prize Court of Alexandria; ferner in den meisten internationalen Zeitschriften, insbes. in: International Law Reports (hrsg. von Lauterpacht) ; Revue égyptienne de droit international. Wichtigste Urteile: „The Fjeld", 1950 International Law Report Nr. 108; „The Flying Trader", ebenda, Nr. 149; WBVR, „The Flying Trader"; „Inge Toft", 66 International Law Reports Bd. 31, 509; Yahuda, The Inge Toft Controversy, AJ 54 (1960), S. 398 ff.

Bereits i m Dezember 1947 sperrten die ägyptischen Behörden den Suez-Kanal für Schiffe, die der jüdisch-palästinensischen Volksgruppe zuzurechnen waren. Nach der Unabhängigkeitserklärung ergingen die entsprechenden Rechtsetzungsakte, die allen unter israelischer Flagge fahrenden Schiffen die Durchfahrt verschlossen. Gegenüber Schiffen anderer Staaten nahm Ägypten ein Prisenrecht i n Anspruch. I m Juni 1

Darstellung bei Berger. WBVR, „Wirtschaftskrieg", „Handelssperre", „Navicerts". Zur Diskussion um die amerikanische Blockade gegen Kuba s. Berber, Bd. 3, S. 14. 2

3

22. Kap. : Die Blockade der arabischen Staaten gegenüber Israel

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1948 wurde ein Prisengericht i n Alexandrien errichtet. Ägypten beanspruchte das Recht, diese Schiffe anzuhalten, zu durchsuchen und zu beschlagnahmen, falls sie Konterbande führten. Die Liste der Konterbande umfaßte nahezu alles, auch Lebensmittel und „alle anderen Güter, die Israels militärisches Potential stärken können". Konterbande ist auch die meiste aus Israel kommende Ausfuhr. Die Blockade wurde zunächst nur sporadisch durchgeführt; sie wurde jedoch i m Laufe der Zeit immer vollständiger gehandhabt. Israel sieht i n der Blockade einen Bruch völkerrechtlicher Verpflichtungen Ägyptens; Ägypten glaubt sich i m Einklang mit dem Völkerrecht. Die Rechtslage des Suez-Kanals. Der Kanal führt ausschließlich durch ägyptisches Hoheitsgebiet und unterliegt ägyptischer Hoheitsgewalt; die ägyptische Hoheitsgewalt ist jedoch durch ein besonderes Regime eingeschränkt. Dieses Regime w i r d weitgehend durch das Abkommen von Konstantinopel von 1888 bestimmt. Das Abkommen ist von neun Staaten unterzeichnet worden und weitere Staaten sind beigetreten. Nach vorherrschender Ansicht gilt es als Ausdruck einer objektiven Ordnung des Völkerrechts; andere Autoren sehen i n dem Abkommen einen sog. Statusvertrag, der objektives Recht setzt oder die Kodifizierung eines gewohnheitsrechtlichen Regimes; i m Ergebnis ist dies dasselbe. Dies ist grundsätzlich unstrittig und w i r d auch von Ägypten anerkannt 4 . Da der Kanal keiner internationalen Verwaltung, sondern der ägyptischen Hoheitsgewalt unterliegt, empfiehlt sich der Begriff der „Internationalisierung" nicht. Die Konvention garantiert lediglich die Freiheit der Durchfahrt für die internationale Schiffahrt 5 und demilitarisiert und neutralisiert den Kanal. Der Kanal ist neutralisiert, nicht internationalisiert. Auch der AngloÄgyptische Bündnisvertrag von 1936 (Art. 8) und der Anglo-Ägyptische Vertrag vom 19. Oktober 1954 gingen davon aus, daß der Kanal ein integraler Teil Ägyptens ist.

Nach dem Abkommen von Konstantinopel von 1888 ist der Kanal i m Frieden den Handels- und Kriegsschiffen aller Staaten geöffnet 6 . Selbst 4

Vielleicht mit Ausnahme der Rechtsbehelfe, die Ägypten anscheinend auf die Signatar- und deren Nachfolgestaaten beschränken will. 5 Art. I : Der maritime Suezcanal wird stets, in Kriegszeiten wie in Friedenszeiten, jedem Handels- oder Kriegsschiffe ohne Unterschied der Flagge frei und offenstehen. Dementsprechend kommen die Hohen Vertragsschließenden Theile überein, die freie Benützung des Canals in Kriegs- wie in Friedenszeiten nicht zu beeinträchtigen. Der Canal wird niemals der Ausübung des Blockaderechts unterworfen werden. 6 Art. I V : Da der maritime Canal lt. Art. I des gegenwärtigen Vertrages in Kriegszeiten selbst den Kriegsschiffen oder Kriegsführenden als freie Durchfahrt offensteht, so vereinbaren die Hohen Vertragsschließenden Theile, daß kein Kriegsrecht, kein Act der Feindseligkeit noch auch irgendein Act zum Zwecke, die freie Schiffahrt auf dem Canal zu hindern, im Canale und in seinen Einfahrtshäfen sowie im Umkreise von 3 sm von diesen Häfen ausgeübt werden darf, selbst falls das ottomanische Reich eine der kriegsführenden Mächte wäre.

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

wenn Ägypten Kriegspartei ist, muß es — i m Prinzip — die gegnerischen Schiffe passieren lassen. U m dieses Regime zu garantieren, ist der Kanal demilitarisiert und neutralisiert, d. h. militärische Anlagen sind unzulässig. Truppen dürfen nicht i n der Kanalzone stationiert werden; i n der Kanalzone gilt i m Kriegsfalle kein Kriegsrecht. A r t X entbindet jedoch Ägypten von den Bestimmungen über die Neutralisation soweit es für die Verteidigung Ägypten und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung notwendig ist 7 ; aber auch dann darf die freie Benutzung des Kanals nicht gehindert werden (Art. X I ) 8 . A u f A r t . X beruft sich Ägypten. Es sei m i t Israel i m Kriegszustand und könne daher Maßnahmen der Selbstverteidigung gegenüber Israel ergreifen. Da das Waffenstillstandsabkommen von Rhodos nur militärische Maßnahmen verbiete, seien Anhalten, Durchsuchen und Beschlagnahme, die von der Zivilverwaltung vorgenommen würden, weiterhin zulässig. Aus dem Komplex der Argumente sind vor allem folgende Punkte wichtig: — Ägypten beruft sich auf den fortdauernden Kriegszustand m i t Israel und hat hierzu eine Lehre vom „technischen Kriegszustand" entwickelt 9 . Demzufolge nimmt es weiter die Rechte einer kriegführenden Macht i n Anspruch, soweit diese Rechte nicht ausdrücklich durch das Waffenstillstandsabkommen ausgeschlossen seien. Das Waffenstillstandsabkommen untersage nur feindselige Aktionen, soweit sie durch militärische Kräfte ausgeübt würden; die Maßnahmen der Zivilverwaltung seien also nicht ausgeschlossen. Die Argumentation um die Fortdauer des Kriegszustandes wurde oben dargelegt. Nach 1956 hatte sich Ägypten zusätzlich auf Erklärungen Ben Gurions berufen, das Israelisch-Ägyptische Waffenstillstandsabkommen sei nicht mehr gültig. 7 Art. X : Ebenso werden die Bestimmungen der Artikel I V , V, V I I und V I I I kein Hindernis für die Maßnahmen bilden, welche Seine Majestät der Sultan und Seine Hoheit der Khedive, im Namen seiner Kaiserlichen Majestät und innerhalb der Schranken der ihm verliehenen Fermane zu ergreifen genöthigt wären, um durch ihre eigenen Kräfte die Verteidigung Egyptens, sowie die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu sichern.

Desgleichen ist wohlverstanden, daß die Bestimmungen der in Rede stehenden vier Artikel in keinem Falle ein Hindernis für die Maßnahmen bilden werden, welche die Kaiserlich Ottomanische Regierung zu ergreifen für nöthig erachten wird, um durch ihre eigenen Kräfte die Verteidigung ihrer sonstigen, an der Ostküste des Roten Meeres gelegenen Besitzungen zu sichern. 8 Art. X I : Die Maßnahmen welche in den durch Artikel I X und X des gegenwärtigen Vertrages vorgesehenen Fällen getroffen werden, dürfen die freie Benutzung des Canals nicht hindern. I n eben diesen Fällen bleibt es untersagt, entgegen den Bestimmungen des Art. V I I I , permanente Befestigungen zu errichten. 9 Entwickelt insbesondere im Falle „The Fjeld"; ausgearbeitet in der Diskussion im Sicherheitsrat 1951.

22. Kap. : Die Blockade der arabischen Staaten gegenüber Israel

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Das Prisengericht ging auch auf das Argument ein, ein Kriegszustand könne nicht bestehen, da Ägypten 1948 nicht den Krieg erklärt habe, sondern nur gegen die „zionistischen Banden" vorgegangen sei und auch nach dem Waffenstillstand Israel nicht anerkannt habe. Krieg i m völkerrechtlichen Sinne könne aber nur zwischen Staaten bestehen. Dies, so meinte das Gericht, wiederspreche nicht der Anwendung von Kriegsrecht. Z u m Waffenstillstand nahm das Gericht nicht weiter Stellung. Ob der Kriegszustand zu Recht bestand, konnte das Gericht nicht nachprüfen. Das Prisengericht hat das geltende Landesrecht angewendet; eine Legalitätskontrolle bezüglich der Völkerrechtsmäßigkeit von Gesetzen bestand nach ägyptischem Recht nicht. — Die Konvention von 1888 garantiert die freie Durchfahrt auch i n Kriegszeiten selbst für gegnerische Schiffe. Ägypten macht jedoch geltend, daß es die Durchfahrt nicht prinzipiell störe, sondern nur sein Selbstverteidigungsrecht ausübe, wie es von A r t . 51 S V N und A r t . X der Konvention garantiert werde. Die Existenz Israels sei eine Bedrohung für Ägypten 1 0 . Nach Ansicht der meisten Völkerrechtler geht diese A n sicht zu weit. A r t . X habe die Verteidigungsmaßnahmen i m Auge, die gegen Angriffe durchfahrender Schiffe erforderlich seien, nicht Maßnahmen gegen die Stärkung des militärischen Potentials Israels. Ägypten legt jedoch das Recht der Selbstverteidigung weit aus 11 ; ob ein Gefahrenzustand seine Existenz bedrohte und welche Verteidigungsmaßnahmen erforderlich seien, bestimme es selbst 12 . Gegenüber israelischen Schiffen macht Ägypten noch geltend, es müsse die öffentliche Ordnung aufrechterhalten; durchfahrende israelische Schiffe könnten i m Kanal Minen legen. Gegenüber Schiffen anderer Staaten, die Israel anlaufen, beruft es sich auf das Prisenrecht 13 . Eine ausgedehnte Diskussion erörtert die Schranken des Verteidigungsrechts, die i n den Worten begründet sind: „must not interfere w i t h the free use of the canal", insbesondere ob „reasonable and necessary" Maßnahmen den „free use" völlig ausschalten können. Von der Intention und der Konvention her gesehen w i r d man den israelischen Standpunkt billigen müssen. Jedoch haben sich Konvention und Neutralisierung i n der Vergangenheit immer dann als unwirksam erwiesen, wenn die die Militärgewalt am Kanal ausübende Macht selbst Kriegspartei war. So hat Großbritannien stets Vorbehalte bezüglich seiner Verteidigungsrechte gemacht 14 . So besetzte und befestigte Großbri10

11

Vgl. Nasser: „The very existence of Israel ist an aggression."

s. etwa Doherty,S. 351.

12 "Egypt is the sole judge of the existence of a state of danger menacing her existence and rendering necessary certain acts", "The Fjeld". 13 Fälle: „The Flying Trader", „Inge Toft". 14 Vorbehaltserklärung Berber , Dok.-Sammlung.

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6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

tannien in seiner Eigenschaft als Protektoratsmacht 15 die Kanalanlagen bei Ausbruch des 1. Weltkrieges, sogar vor Kriegseintritt der Türkei. A u f britischen Druck hin sperrte Ägypten den Kanal für die Schiffe der Mittelmächte. Zwar respektierte Großbritannien insofern den Wortlaut der Konvention von 1888, als es die i n den Kanalhäfen liegenden Schiffe der Mittelmächte zum Auslaufen zwang bzw. außerhalb der Dreimeilenzone schleppte und sie dort von den wartenden Kriegsschiffen beschlagnahmen ließ 1 6 . Diese völkerrechtlich zumindest bedenkliche Interpretation der Konvention wurde auch nach dem Kriege von der britischen Prisengerichtsbarkeit bestätigt, und die englische Seerechtsliteratur hält diese Auslegung noch heute für voll gerechtfertigt 17 . Auch i m 2. Weltkrieg sperrte Großbritannien auf der Grundlage des anglo-ägyptischen Bündnisvertrages von 1936 den Kanal für die Achsenmächte. Es verletzte die Neutralisierungspflicht, indem es Küstenartillerie aufstellte und an den Kanaleinfahrten Durchsuchungsstationen einrichtete. Während der Bedrohung durch deutsche Truppen 1942 wurde die Zerstörung des Kanals erwogen. Die Achsenmächte haben ihrerseits die Konvention verletzt, indem ihre Luftwaffen die Kanalzone angriffen. Und es ist kaum vorstellbar, daß die Mittelmächte i m 1. Weltkrieg und die Achsenmächte i m 2. Weltkrieg den Kanal für alliierte Schiffe offengelassen hätten, wenn der Vorstoß Dschemal Paschas 1915 oder Rommels 1942 sie zum Kanal geführt hätte. Nur erwähnt sei, daß die Rechtslage beim Panamakanal und beim Nordostseekanal zwar etwas anders lag, daß aber in beiden Weltkriegen beide Kanäle für die feindliche Schiffahrt gesperrt blieben 18 . Heute verweigern die USA die Durchfahrt durch den Panama-Kanal den Schiffen Kubas und der Volksrepublik China.

Der Verlauf der Diskussion. Israel befaßte alle erreichbaren Instanzen. Es wandte sich zunächst an die gemischte Ägyptisch-Israelische Waffenstillstandskommission (MAC). Da hier ägyptische und israelische Vertreter gleiche Stimmenzahl haben, hing offensichtlich die Entscheidung vom Vorsitzenden ab. Der schwankte i n seiner Ansicht: i m Juni 1949 entschied er, daß die Suez-Blockade nicht vor dem M A C erörtert werden könnte; i m August 1949 erklärte er den M A C für zuständig zur Erörterung und sprach i h m auch die Befugnis zu, von Ägypten die Aufhebung der Blockade zu verlangen. Ägypten appellierte an den (nur i m ägyptisch15 Großbritannien setzte 1914 den pro-türkischen Khedive ab und erklärte Ägypten zum britischen Protektorat. Dadurch übernahm es formal die Verantwortung des Kanals, die nach der Konvention von 1888 der Türkei vorbehalten war. 16 WBVR, „Gutenfels". 17 s. etwa C. J. Colombos, The International Law of the Sea, 4. Aufl. (London 1959). 18 s. WBVR, „Panama-Kanal" ; „Kieler Kanal".

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israelischen Waffenstillstandsabkommen vorgesehenen) Besonderen Ausschuß. Da hier wiederum Ägypter und Israelis gleiche Stimmenzahl haben, hing die Entscheidung vom Vorsitzenden dieses Ausschusses, dem Chief of Staff, ab. Die schwierige Stellung des Vorsitzenden einer M A C oder des Besonderen Ausschusses wurden oben hervorgehoben. I m Falle der SuezBlockade half sich der Chief of Staff (Riley) i n prozedural eigenartiger Weise: er entschied i n der Sache und erklärte die M A C für unzuständig. Die ägyptische Blockade sei eine Aggression und ein feindseliger A k t . Das ägyptische Vorgehen sei auch unvereinbar m i t dem Geist des Waffenstillstandes, aber es sei nicht notwendig eine Verletzung dieses Abkommens, solange die Blockade nicht durch ägyptische militärische oder paramilitärische Kräfte durchgeführt werde. Da die M A C ausschließlich aufgrund des Waffenstillstandes tätig werden könne, habe sie insoweit keine Befugnisse. Kurzum: er erklärte das ägyptische Vorgehen für unvereinbar m i t dem Waffenstillstand und sprach der M A C die Befugnis ab, hierüber zu entscheiden. Natürlich könne die Sache hierbei nicht bleiben: jetzt müsse der Sicherheitsrat oder der Internationale Gerichtshof entscheiden. Er appellierte an Ägypten, inzwischen die Suez-Durchfahrt für israelische Schiffe zuzulassen. Die Entscheidung des Chief of Staff und sein entsprechender Report wurden von den Parteien gegensätzlich ausgelegt 19 . Israel hielt sich an die materielle Aussage, daß die Blockade unzulässig sei; Ägypten interpretierte sie dahingehend, daß sie die Sperre rechtfertige. Israel befaßte nunmehr den Sicherheitsrat der VN. Vor dem Sicherheitsrat hat Ägypten dessen Zuständigkeit zur Erörterung und Entscheidung bestritten. Sowohl vom Waffenstillstandsabkommen her wie von der Konvention von 1888 aus gesehen sei der Sicherheitsrat unzuständig. Nach dem Waffenstillstandsabkommen seien die Entscheidungen der M A C endgültig und der Sicherheitsrat daher nicht befaßbar. Der Sicherheitsrat sei keine Appellationsinstanz gegenüber den Entscheidungen der MAC. Die Konvention von 1888 sehe für Rechtsstreitigkeiten die Entscheidung eines Ausschusses der Signatarmächte v o r 2 0 ; was die Befassung eines Gremiums wie des Sicherheitsrates ausschließe. Die sehr ausführlichen Debatten der Vertreter i m Sicherheitsrat haben sowohl die Zuständigkeit des Sicherheitsrates wie das Recht Ägyptens zur 19

Diskussion bei Gross, S. 547 ff. Art. V I I I der Konvention. Signatarmächte: Frankreich, Deutschland, Österreich, Ungarn, Spanien, Großbritannien, Italien, Niederlande, Rußland, Ottomanisches Reich. Auch die Sowjetunion tendierte zu dieser Ansicht. Ob Israel sich auf die Konvention berufen konnte, war strittig; Ägypten hat Israel das Recht abgestritten. 20

25 Wagner

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Blockade erörtert 2 1 . Die meisten Mitglieder haben die Zuständigkeit des Sicherheitsrates bejaht. Er sei zuständig bei Bedrohung des Friedens einschließlich der Friedensbedrohungen, die aus der Nichtbeachtung der Konvention von 1888 herrührten; über diese Formulierung hatte sich damit die Mehrheit der Mitglieder des Sicherheitsrates auch für die Konvention für zuständig erklärt, obwohl diese ein eigenes Verfahren vorsieht. Außerdem sei der Sicherheitsrat zuständig für die Überwachung und Einhaltung der Waffenstillstände von Rhodos. I n der Sache selbst haben fast alle Mitglieder des Sicherheitsrates Ägypten das Recht zur Blockade abgestritten. Hier wurden alle oben dargelegten Gründe vorgebracht: Die SVN untersage den Krieg, folglich könne Ägypten nicht die Rechte einer kriegsführenden Partei beanspruchen. Ägypten könne auch kein Selbstverteidigungsrecht geltend machen: aktive Feindseligkeiten lägen keine mehr vor; zwei Jahre nach dem Waffenstillstand könne es keine derartigen Rechte mehr geben; auch das Recht zur Selbstverteidigung schließe die Verpflichtungen aus A r t . 2 Ziffer I I des Waffenstillstandsabkommens nicht aus. Dieses Abkommen habe eine dauerhafte und vollständige Kriegsbeendigung beabsichtigt; davon seien damals alle Beteiligten ausgegangen 22 . Schließlich sei das ägyptische Vorgehen unvereinbar m i t der Konvention von 1888. Das ägyptische Argument, es übe keine Blockade i m technischen und juristischen Sinne aus, da nur Zollbeamte tätig würden, wurde zurückgewiesen. Tatsächlich wurde israelischen Schiffen die Durchfahrt verweigert. Ägypten habe aber nach der Konvention nur „power to regulate, not to prohibit passage through the canal". Der Sicherheitsrat faßte schließlich am 1. September 1951 eine Entschließung, i n der er Ägypten aufforderte („calls upon"), die Blockade einzustellen 23 . I n der juristischen Begründung ist der Beschluß mager. Dies ist u m so bedauerlicher, w e i l 1951 vielleicht noch eher klare Aussagen möglich gewesen wären; später m i t zunehmender Verhärtung i m kalten Krieg waren ohnehin keine klaren Ausführungen mehr zu erwarten. So erklärte der Sicherheitsrat nicht, daß nach der SVN kein Kriegszustand zwischen Mitgliedern der V N mehr möglich sei. Er erwähnte auch die Konvention von 1888 nicht ausdrücklich. Aber er verwarf alle Rechte (einer kriegsführenden Macht), die Ägypten unter Berufung der 21

Auswertung mit vielen Zitaten bei Gross. z. B. der am Abschluß führend beteiligte Mediator Bunche: „no vestiges of the wartime blockade should be allowed to remain as they are inconsistent with both the letter and the spirit of the Armistice Agreements". 23 Beschluß 95 von 1951 (S/2322). M i t acht Stimmen (Brasilien, Ekuador, Frankreich, Holland, Türkei, Großbritannien, USA, Jugoslawien) ohne Gegenstimmen bei drei Enthaltungen (Nationalchina, Indien, Sowjetunion). Der Beschluß wurde möglich, weil die Sowjetunion als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat sich der Stimme enthielt und kein Veto einlegte. 22

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Fortdauer des Kriegszustandes beanspruchte. Die Entscheidung stellte es auf den Waffenstillstand ab, den sie als Waffenstillstand sui generis ansah. Ägypten sei seit dem Abschluß des Waffenstillstands m i t Israel nicht mehr zu Eingriffen i n die Kanalschiffahrt befugt; seine Eingriffe seien ein Mißbrauch des Kriegsführungsrechts. Daher solle Ägypten alle Eingriffe unterlassen, die nicht zur Sicherung der Kanalschiffahrt und der Erfüllung internationaler Verträge erforderlich seien. Die Konvention wurde höchstens implicite erwähnt, als die Inanspruchnahme des Prisenrechts rechtsmißbräuchlich sei. Der Beschluß wurde verschieden ausgelegt. Israel berief sich insbesondere auf die Aufforderung, die Blockade zu beenden. Hinsichtlich seiner Bedeutung variieren die Völkerrechtler: die einen legen ihn dahingehend aus, daß der anglo-ägyptische Waffenstillstand den Krieg de facto beendet habe; die anderen meinen, dazu habe sich der Sicherheitsrat nicht geäußert; er habe lediglich eine gefährliche Situation (Suezpassage) auf politischer Ebene bereinigen wollen. Die ägyptischen Reaktionen auf die Entschließung waren vielfältig; i m Ergebnis hat Ägypten die Entschließung nicht befolgt. Es erklärte zunächst den Beschluß des Sicherheitsrates als flagrante Verletzung der Ziele der VN, wie sie i n A r t . 1 der SVN niedergelegt seien. Die Befugnisse des Sicherheitsrates gemäß Art. 24 I I SVN müßten strikt aus diesen Zielen und Grundsätzen ausgelegt werden. I m übrigen sei die Entschließung „not based on exhaustive studies and clear opinions". Außerdem sei Ägypten an die Entschließung nicht gebunden, da es sich höchstens um eine unverbindliche Empfehlung gemäß Kapitel V I der SVN handeln könne. I n der Praxis hat Ägypten zunächst den Beschluß des Sicherheitsrates partiell befolgt, indem es nichtisraelische Schiffe von und nach Israel passieren ließ. Von 1951 bis 1954 wurden keine Schiffe und keine Ladung beschlagnahmt und nur wenige Schiffe durchsucht. Aber selbst das tatsächliche Ausmaß dieser Lockerung ist strittig, da nach israelischer A n sicht viele Reeder das Risiko nicht eingingen und die Durchfahrt nicht versucht hätten. I n dem Maße, wie es Israel gelang, m i t asiatischen Ländern Handelsabkommen zu schließen (mit Pakistan, Indien), wurde die Blockade effektiver gehandhabt. Nach einer erneuten Sicherheitsratsdebatte gab Ägypten die Erklärung ab, die Blockade künftig wieder toleranter zu handhaben. Daraufhin schickte Israel ein Testschiff vor, die unter israelischer Flagge fahrende Bat Galim. Sie wurde prompt beschlagnahmt. Ägypten versuchte eine Sachdiskussion zu vermeiden und publizierte zunächst die Version, die Bat Galim sei bewaffnet gewesen; die Mannschaft habe zwei ägyptische Fischerboote angegriffen und Fischer getötet. 25*

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung : V o n K r i e g zu K r i e g

Die M A C erklärte die Sachdarstellung Ägyptens für falsch 24 . Ägypten erklärte sich bereit, Ladung, Schiff und Besatzung freizugeben. Aber nur die Besatzung wurde freigegeben; die Bat Galim wurde i n die ägyptische Marine eingestellt. Von dem Sicherheitsrat wurde erneut verhandelt. Nach ägyptischer Ansicht war der Beschluß von 1951 nicht anwendbar, da er sich — nach ägyptischer Ansicht — auf neutrale, nicht auf israelische Schiffe bezog. I m übrigen widerspräche das ägyptische Vorgehen auch nicht vollständig diesem Beschluß, denn Ägypten habe 1951 gegenüber dem Beschluß Vorbehalte gemacht („received i t i n a certain spirit"). Dem haben einige M i t glieder i m Sicherheitsrat widersprochen: seinen Beschlüssen gegenüber gebe es keine Vorbehaltsmöglichkeit. I m übrigen wandte Ägypten ein, es habe den Beschluß von 1951 nicht akzeptiert. Der Sicherheitsrat versuchte, einen erneuten Beschluß nach A r t seiner Entschließung von 1951 zu fassen. Er scheiterte am russischen Veto 2 5 . Dies war das zweite russische Veto zugunsten der Araber 2 6 . Zu den Auslegungsschwierigkeiten des Beschlusses von 1951 t r i t t die Frage der Harmonisierung mit der Tatsache des gescheiterten Beschlußentwurfes von 1954. Nach ägyptischer Auffassung ist damit der Beschluß von 1951 — soweit er überhaupt gültig ist — invalidiert („overruled"). Aber ein nicht zustandegekommener Beschluß ist kein actus contrarius und kann keinen gefaßten Beschluß aufheben. Der Sicherheitsrat hat 1954 keinen Beschluß fassen können, sonst nichts. Das ägyptische Vorbringen ist auch widersprüchlich: der Beschluß von 1951, der neutrale Schiffe i m Auge habe, sei nicht auf die Bat Galim anwendbar, die israelisch sei. Aber umgekehrt soll die Tatsache des nicht zustandegekommenen Beschlusses von 1954, der sich auf die Bat Galim bezogen hätte, die neutralen Schiffe erfassen. Seither sind neue Argumente hinzugekommen. Nach 1956 berief sich Ägypten auf eine Erklärung Ben Gurions, daß der ägyptisch-israelische Waffenstillstand nicht mehr gelte. Außerdem berief sich Ägypten auf eine schriftliche Bitte des britischen Außenministers, der um ägyptische Bestätigung bat, daß kein Kriegszustand zwischen Großbritannien und Ägypten (der VAR) bestünde und demnach britische Schiffe den SuezKanal durchfahren könnten. Damit habe Großbritannien zum Ausdruck gebracht, daß Ägypten den Kanal für Schiffe der Staaten, mit denen es i m Kriege liege, sperren könne. 24 Zu den Komplikationen im besonderen Ausschuß und den Beschränkungen, die der Chief of Staff aussprach: Burns . 25 Stimmenverhältnis 8:2:1. 26 Das erste Veto war zugunsten Syriens bezüglich der Jordanwasserableitung ergangen.

22. Kap. : Die Blockade der arabischen Staaten gegenüber Israel

389

Ein geschicktes Manöver gelang schließlich Ägypten 1965: es erklärte sich i m Kriegszustande m i t „der weißen Minderheitsregierung von Rhodesien" und sperrte den Kanal entsprechend. Nach der oben zugunsten Israels sprechenden Darstellung der völkerrechtlichen Lage sind beide Fälle gleich, und die Sperre auch insoweit rechtswidrig. 3. Sperrung des Golfes von Akaba Schrifttum: Dahm, I §§ 121 -125, 130; WBVR, „Baien und Buchten"; L. M. Bloomfield , Egypt, Israel and the Gulf of Aqaba in International Law (Toronto 1957); Speyer , The Gulf of Aqaba, International Spectator 11 (1957), S. 315 ff.; Selak, A Consideration of the Legal Status of the Gulf of Aqaba, A J 52 (1958), S. 6660 ff.; Gross, The Geneva Conference on the Law of the Sea and the Rights of Innocent Passage through the Gulf of Aqaba, AJ 53 (1959), S. 564 ff.; ders., Passage through the strait of Tiran and in the Gulf of Aqaba, in: The Middle East Crisis (vor V.), S. 125 ff.; L. T. Tee, Legal Aspects of Internationalization of Interoceanic Canals, ebenda, S. 158 ff.; B. Hartwig , Der israelisch-ägyptische Streit um den Golf von Akaba, AVR 9 (1961 - 62), S. 27 ff.; R. R. Baxter , Passage of Ships through International Waterways in Time of War, 31 BY (1954), S. 187 ff.

Der Golf von Akaba ist ungefähr 100 sm lang und zwischen 7 und 14 sm breit. I m Südausgang liegen die beiden Inseln Tiran und Sanafir. Wegen mehrerer Unterwasserriffe kann die Schiffahrt n u r die Passage zwischen Tiran und der Sinaiküste benutzen. Die Entfernung von dieser Insel zur Küste beträgt ungefähr 3 sm; der schiffbare Wasserweg ist ungefähr 500 m breit. Nach der israelischen Unabhängigkeit warf der Golf zunächst keine Probleme auf. Der israelische Küstenstreifen war unbewohnt; Hafenanlage i n Elat und Verkehrswege durch den Negev mußten erst gebaut werden. I m trans jordanischen Küstengebiet w a r Akaba bereits eine A r t Hafen, den vor allem die englische Armee zeitweise benutzt hatte. Israel baute m i t großer Energie Stadt und Hafen Elat aus. I n dem Maße, wie es Israel gelang, Handelsverbindungen m i t asiatischen und ostafrikanischen Ländern zu errichten, wurde Elat als Hafen von Bedeutung und entwickelte sich eine Schiffahrt. Insbesondere der israelische ö l i m p o r t lief weitgehend über Akaba. I n dem Maße, wie sich der Schiffsverkehr von und nach Elat entwickelte, sperrte Ägypten die Straße von Tiran für israelische Schiffe und für nichtisraelische Schiffe, die Elat anliefen. Dazu besetzte es die am Südausgang des Golfes liegenden Inseln Tiran und Sanafir 27 und befestigte sie sowie die gegenüberliegende ägyptische Sinaiküste bei Scharm el Scheik. Durchfahrende Schiffe wurden angehalten und durchsucht bzw. die ägyptische Regierung forderte die vorherige Einholung einer Erlaubnis 2 8 . 27 28

Die Inseln scheinen zu Saudisch-Arabien zu gehören. Technische Einzelheiten: Selak, 670; Hartwig, S. 29.

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

Israel hat der Entwicklung des Negev immer größte Bedeutung zugemessen. Zur Bewässerung des Negevs war es zu der außerordentlich kostspieligen und politisch-militärisch implikationsreichen Wasserleitung aus dem Tiberiassee bereit. Zum Aufbau Elats hat es keine Anstrengung gescheut. Israel hofft, seinen Handel m i t Ostafrika und Asien ausbauen zu können; hierzu ist Elat sein natürlicher Hafen. Solange der Suez-Kanal für den Israel-Handel gesperrt ist, ist Elat auch die Verbindung zum Indischen Ozean. Die Öffnung der Straße von Tiran war daher ein erklärtes Kriegsziel des Krieges von 1956. Bereits Jahre vorher hatte die israelische Regierung nicht nur die freie Durchfahrt für die Schiffe von und nach Elat gefordert, sondern auch bestimmt erklärt, daß sie die Sperrung als casus belli betrachte. Insbesondere 1955 hatte Israel gewarnt, daß es noch ein Jahr auf die Öffnung wartet, dann aber den Durchgang öffnen werde. Israel hat sich erst aus Scharm el Scheik zurückgezogen, nachdem die Meerenge von VN-Streitkräften besetzt worden war und nachdem der US-Präsident und sein Außenminister Erklärungen abgegeben haben, die Israel als Garantie gegen etwaige erneute Sperrungen durch Ägypten betrachten konnte. Auch Frankreich hat derartige Erklärungen abgegeben. I n der Folgezeit hatte Israel mehrfach ausdrücklich erklärt, daß es eine erneute Sperrung der Straße von Tiran als casus belli betrachte. Als Ägypten 1967 den Abzug der VN-Truppen verlangte und die Straße sperrte, schritt Israel zum Krieg. Der dritte arabisch-israelische Krieg entstand somit wegen des Streites u m die Rechte am Golf von Akaba. I m folgenden w i r d zunächst versucht, die völkerrechtliche Lage des Golfes ohne Berücksichtigung eines etwaigen Kriegszustandes darzustellen. Die juristische Argumentation ist kompliziert. Ähnliche Situationen wie der Golf von Akaba empfangen ihren völkerrechtlichen Status meist durch völkerrechtliche Verträge oder durch eine historische Entwicklung, die mehr oder weniger allgemein anerkannt wird. Beides ist hier nicht gegeben. Vertragliche Abmachungen bestehen nicht. Die geschichtliche Entwicklung hat auch nicht zu einem eigenen rechtlichen Status geführt, da der Golf i n der Neuzeit 2 9 für die Schiffahrt bis zur Entwicklung von Akaba und Elat keine Rolle gespielt hat 3 0 . Ob sich aus dem allgemeinen Völkerrecht überhaupt Regeln für Akaba finden lassen, ist fraglich; manche Autoren glauben derartige Situationen stets nur als einmalige Erscheinungen behandeln zu müssen. Sucht man jedoch nach allgemeinen Regeln, so ist fraglich, ob man sie dem Institut der Meerengen oder dem der Buchten entnehmen soll. Beide Male ist zu29 Die Rolle des israelischen Hafens Etzion Geber in salomonischer Zeit, sowie die Schiffahrt durch den Golf in byzantinischer und persischer Zeit bleibe dahingestellt. 30 Entgegen arabischer Darstellungen scheint der Golf auch von MekkaPilgern wenig benutzt worden zu sein, s. Melamid, A J 53 (1959), S. 412.

22. Kap. : Die Blockade der arabischen Staaten gegenüber Israel

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mindest die Argumentation verschieden. Da diese mehrfache Anknüpfungsmöglichkeit nicht gesehen wird, ist die Diskussion ziemlich verworren. Versteht man den Golf als eine Bucht, so bleibt die Suche nach völkerrechtlichen Regeln mager, weil dieses Rechtsinstitut anläßlich von Buchten entwickelt wurde, deren umgebendes Landgebiet einem einzigen Staat gehört. Liegt dann eine Bucht i m völkerrechtlichen Sinne vor, dann ist sie Teil des Territoriums des umliegenden Staates. Der übt die volle Territorialgewalt über dieses Gewässer aus und kann Schiffen anderer Nationen (z. B. Fischerbooten) den Zugang versagen. Das völkerrechtliche Problem ist allein die Breite des Eingangs: wenn die Breite eine gewisse Höchstgrenze überschreitet, dann liegt keine Bucht mehr vor, sondern ein Teil der Hohen See, die nicht mehr der Souveränität des umliegenden Staates untersteht: z. B. kann er die Fischfangflotte anderer Staaten nicht mehr vom Zugang ausschließen. Strittig ist i m Völkerrecht die Breite; das frühere Maß von 6 sm scheint auf die Zehnmeilengrenze zuzulaufen. Das zweite große Problem bilden die sog. historischen Buchten. Darunter versteht man Gewässer, deren Zugang die völkerrechtlich anerkannte Höchstbreite überschreitet, aber dennoch als Inlandsgewässer des sie umschließenden Staates anerkannt sind. Damit ein solches gewohnheitsrechtliches Sonderstatut entstehen kann, muß eine langdauernde und allgemeine Übung i n diesem Sinne von den übrigen Völkerrechtssubjekten hingenommen sein. So versucht z. B. Kanada die Hudson-Bai m i t seiner 600-sm-Öffnung praktisch als Inlandsgewässer zu behandeln, wogegen die USA protestieren. Beim Golf von Akaba liegt es anders: es geht nicht um die Breite der Zufahrt, und der Golf ist nicht vom Territorium eines Staates umgeben. Für derartige sog. multinationale Buchten läßt uns das Völkerrecht nahezu völlig i m Stich. Die ganz verschiedenen Situationen haben dazu geführt, daß es anerkanntermaßen keine einheitlichen Regeln gibt. Ein Urteil des zentralamerikanischen Gerichtshofs hat eine solche Bucht (Bucht von Fonseca) zum gemeinsamen Gewässer der drei Anliegerstaaten erklärt; u m dieses Problem geht es offensichtlich auch nicht. Als historische Bucht kann der Golf auch nicht i n abgewandeltem Sinne angesehen werden. Andere Autoren gehen das Problem m i t den Regeln der Meerengen an und halten die Straße von Tiran für eine Meerenge. Eine Meerenge verbindet Teile der Hohen See, während sie selbst so eng ist, daß die Territorialgewalt der Anliegerstaaten über das Küstenmeer sie voll erfaßt. Infolge ihrer verkehrsmäßigen Bedeutung stehen sie der friedlichen Durchfahrt (innocent passage) für Schiffe aller Nationen offen 31 . 31 Wenn sie für die Schiffahrt nutzbar sind, ist es gleichgültig, in welchem Umfange sie tatsächlich benutzt werden.

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

Das gilt sowohl für Handels- wie für Kriegsschiffe 32 . Die Territorialgewässer der Enge sind also der vollen Territorialgewalt entzogen. Sieht man also die Straße von Tiran als internationale Meerenge an, so ist die Lage ziemlich anders als bei den Buchten. Jetzt kommt es nicht mehr auf die Anliegerstaaten an, sondern die Durchfahrt steht allen Nationen offen. Der Unterschied ist insofern von Bedeutung, als nunmehr alle seefahrenden Nationen Rechte geltend machen können. U m eine internationale Meerenge kann es sich aber nur handeln, wenn sie Teile der Hohen See verbindet. Hohe See ist das Meeresgebiet außerhalb der Küstengewässer. Die Berechnung des Golfes von Akaba als Hohe See fällt zumindest knapp aus. Die arabischen Staaten beanspruchen als Küstenmeer eine Sechsmeilenzone 33 ; die Höchstbreite des Golfes überschreitet nicht 14 sm. Sobald Ägypten oder Saudisch-Arabien ihre Ansprüche erhöhen — derartige Erklärungen sollen vorliegen —, kann der Golf kaum noch als Hohe See angesprochen werden, denn i n der Frage der Ausdehnung der Küstengewässer auf 10 oder 12 sm ist das Völkerrecht nicht mehr eindeutig. Jedoch gibt es allgemeine Bemühungen, das Problem zu regeln. Die einen wenden auf multinationale Buchten die Regeln der Meerengen an, d. h. sie betrachten die Einfahrt als Meerenge und das Gewässer außerhalb der Küstengewässer als Hohe See 34 . Die anderen sprechen zwar von Buchten, lassen aber die Schiffe aller Nationen nach den allgemeinen Regeln durch die Einfahrt fahren 3 5 . Dies hat insbesondere die von der V N einberufene Seerechtskonferenz von 1958 versucht 36 . A u f der Konferenz (und bei den Vorarbeiten der Völkerrechtskommission der V N 3 7 ) hat der Golf von Akaba eine große Rolle gespielt; insbesondere wurde erörtert, ob die i m Korfu-Kanal-Fall 3 8 ausgesprochenen Rechtsansichten des Internationalen Gerichtshofes auf die Straße von Tiran anwendbar seien. Der Konventionsentwurf über das Küstenmeer und die angrenzende Zone hat zwar die Rechtslage an Buchten geregelt, die historischen und die sog. multinationalen Buchten jedoch ausgeklammert (Art. 7). Trotzdem wurde der Zugang zum Golf von Akaba praktisch geregelt, indem er den Meerengen gleichgestellt wurde 3 9 . Dies bedeutet, daß Territorialgewässer 32 Hiervon bestehen insbesondere Ausnahmen für die Dardanellen, da hier seit langem ein Sonderstatut besteht. 33 Nachweise bei Hartwig und Bloomfield.

34 35 36 37

VN".

So wohl Dohm, § 124 IV.

Auch hierfür ausdrücklich für Akaba Dahm, § 130IV. WBVR, „Seerechtskonferenz von 1958". Zu dieser Kommission allgemein: WBVR, „Völkerrechtskommission der

38

WBVR, „Korfu-Kanal-Fall". Art. 16 I V : "There shall be no suspension of the innocent passage of foreign ships through straits which are used for international navigation between one part of the high seas and another part of the high seas or the territorial waters 39

of a foreign state"

22. Kap. : Die Blockade der arabischen Staaten gegenüber Israel

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nicht nur dann eine internationale Wasserstraße bilden, wenn sie Teile der Hohen See verbinden und für die internationale Schiffahrt nutzbar sind, sondern auch dann, wenn sie die Hohe See mit einem Küstengewässer verbinden. Sonstige Probleme ausgeklammert (insbesondere: Kriegszustand), wäre damit die Zufahrt durch die Straße von Tiran für Schiffe aller Nationen offen, gleichgültig, ob der Golf noch als Teil der Hohen See berechnet werden kann. Leider bietet ein derartiger Entwurf wiederum Anlaß zu endlosen Diskussionen. Denn zum einen muß er ratifiziert werden; die arabischen Staaten werden den Entwurf kaum ratifizieren oder bezüglich A r t . 16 I V einen Vorbehalt aussprechen 40 . Zum anderen eröffnet jede völkerrechtliche Kodifikation den Streit darüber, inwieweit die Kodifikation oder einzelne Bestimmungen nur bestehendes Völkerrecht normieren oder bereits neues Völkerrecht setzen 41 . Soweit sich der bloß normierende Charakter einer Konvention behaupten läßt, ist sie zweifellos Erkenntnisquelle des geltenden allgemeinen Völkerrechts und w i r k t insoweit auch gegenüber dem Staat, der der Konvention nicht beigetreten ist. Soweit dagegen die Konvention neues Völkerrecht schafft, ist es zumindest schwierig, ihre Geltung auch gegenüber dem nicht beigetretenen Staat zu begründen. Man muß sich dann m i t den theoretischen Grundlagen des Völkerrechts, dem Geltungsgrund seiner Normen auseinandersetzen und zu der Frage Stellung nehmen, ob der Norm alle oder die überwiegende Anzahl der Völkerrechtssubjekte beitreten müssen. Der Grundsatz der freien Durchfahrt durch Meerengen und ihnen gemäß Art. 16 I V des Entwurfs der Konvention über das Küstenmeer und die angrenzende Zone gleichgestellten Passagen gilt jedoch nur i n Friedenszeiten. I n Kriegszeiten kann die kriegführende Territorialmacht das Prisenrecht ausüben. Da sich Ägypten mit Israel i m Kriegszustand betrachtet, läuft die Frage auf die bereits angestellte Diskussion hinaus, ob Ägypten zu Recht die Befugnisse einer kriegführenden Macht i n A n spruch nimmt. Die arabischen Staaten berufen sich schließlich auf die insbesondere von Saudisch-Arabien entwickelte Theorie vom arabischen mare clausum. Danach sei der Golf ein internes Gewässer der arabischen Anliegerstaaten. Läßt man die rein religiösen Elemente dieser Theorie, die dem modernen Völkerrecht fremd sind 4 2 , beiseite, so ruht die Theorie auf zwei Annahmen: 40

s. WBVR, „Vorbehalt". s. WBVR, „Kodifikation". Der Golf sei Pilgerweg nach Mekka, über den sich das Wächteramt Saudisch-Arabiens erstrecke; nichtarabische Fahrten könnten hier nicht geduldet werden. Die Theorie ist nicht nur in sich bedenklich, sondern es ist auch nicht ersichtlich, wieso ein nach Akaba fahrender Tanker die Pilgerwege nicht beeinträchtige, wohl aber der nach Elat fahrende Tanker. 41

42

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

— Das allgemeine Völkerrecht erkennt überhaupt geschlossene Meere an 4 3 . Die gegenwärtige Völkerrechtslehre kennt diesen Begriff aber höchstens für Meeresteile, die ausschließlich vom Territorium eines einzigen Staates umschlossen sind 4 4 . Darüber hinausgehend vertritt die sowjetische und m i t ihr die marxistische Völkerrechtslehre die Lehre vom mare clausum für eine Reihe von weiteren Meeren, insbesondere für die Ostsee 45 und für das Schwarze Meer. I n solchen geschlossenen Meeren soll die Handelsschiffahrt grundsätzlich nur den Anliegerstaaten vorbehalten sein, während Handelsschiffe der Nichtanliegerstaaten nach der von den Anliegerstaaten gemeinsam erlassenen Rechtsordnung Bewegungsfreiheit haben. Das gegenwärtig geltende Völkerrecht kennt jedoch den Begriff des mare clausum nicht. — Da auch ein etwaiges Rechtsinstitut des mare clausum zumindest allen Anliegerstaaten die Freiheit der Schiffahrt verbürgen würde, muß die arabische These weiter behaupten, daß es sich bei dem Golf von Akaba um ein rein arabisches Meer handelt. Diese Vorstellung ist mehreren Einwänden ausgesetzt: — „Die Araber" mögen vielleicht einen politischen Begriff abgeben; völkerrechtlich gibt es nur die einzelnen arabischen Staaten. Auch die Nordsee ist kein „europäisches Meer". Solange das gesamte Gebiet t ü r kisch oder arabisch war, mochte der Begriff des mare clausum noch angängig sein, heute nicht mehr. — Die arabische These muß denn auch Israel den Status eines Anliegerstaates absprechen. Nach dieser These halte Israel Elat nur militärisch besetzt; die militärische Besetzung verleihe aber keine Souveränitätsrechte. Die Waffenstillstandsabkommen schlössen derartige Rechte ausdrücklich aus. Israel sei daher weder Nachfolgestaat des türkischen Reiches, noch Anliegerstaat geworden. Vor allem machen die Araber geltend, daß Israel den Südnegev m i t Elat erst nach der Feuereinstellung an allen Fronten, nach dem Abschluß des Waffenstillstandsabkommens m i t Ägypten und während der Waffenstillstandsverhandlungen m i t Trans jordanien militärisch besetzt habe. Israel halte daher Elat auch i m Widerspruch zu den Beschlüssen des Sicherheitsrates und der Waffenstillstandsabkommen besetzt. Darauf wurde oben hingewiesen 46 . Die Argumentation ist Teil der weiteren Sicht der Araber, wonach Israel überhaupt keine Existenzberechtigung habe. Denn da jegliche territoriale Abgrenzung Israels nur auf den endgültig abgeschlossenen 43

WBVR, „Hohe See". z. B. das Asowsche Meer. WBVR, „Ostsee". Zur sowjetischen Lehre siehe Völkerrecht (Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Rechtsinstitut [Berlin 1960], § 8). 46 18. K a p i t e l l . 44

45

23. Kap. : Die entmilitarisierten Zonen

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Waffenstillstandsabkommen beruht, ist nicht ersichtlich, wieso Israel i n Tel A v i v mehr Rechte haben könnte als i n Elat. Eine Afrikanisch-Arabische Solidaritätskonferenz hat Ende 1957 den Golf von Akaba in einer Resolution zum arabischen Territorialgewässer erklärt.

Schließlich ist noch fraglich, ob der Beschluß des Sicherheitsrates von 1951 bezüglich der Durchfahrt von Suez auf Akaba anwendbar ist. Dies wurde niemals geklärt. Während die einen den Beschluß nach A r t eines Gerichtsurteils eng interpretieren und seine ganze Tragweite auf die ägyptischen Maßnahmen i m Gebiet des Suezkanals beschränken, sehen andere das Prinzip dieses Beschlusses, daß nämlich Ägypten keine Kriegsrechte und insbesondere kein Prisenrecht mehr i n Anspruch nehmen kann, auch auf Akaba anwendbar. Der Streit ist ziemlich akademisch, da Ägypten den Beschluß ja auch nicht bezüglich Suez anerkannte. Die VN haben sich mehrfach m i t der Durchfahrt durch die Straße von Tiran befaßt. 1954 wurde die Frage i m Sicherheitsrat und i n der Vollversammlung erörtert. I n diesen Diskussionen wurden alle oben dargelegten Argumente vorgebracht. Die Diskussionen lassen sich dahingehend zusammenfassen, daß alle seefahrenden Nationen m i t dem einen oder anderen Argument für die freie Durchfahrt nach Elat eingetreten sind. Außer den arabischen Staaten hat nur Indien den arabischen Standpunkt unterstützt 4 7 , während die Sowjetunion die Rechtsfrage dem Internationalen Gerichtshof vorgelegt wissen wollte 4 8 . Dem Sicherheitsrat wurde ein Entwurf über die freie Durchfahrt zugeleitet, der sich weitgehend an den Beschluß von 1951 bezüglich Suez anlehnte. Da ein sowjetisches Veto zu erwarten war, wurde die Sache nicht weiter verfolgt.

Dreiundzwanzigstes

Kapitel

D i e entmilitarisierten Zonen Schrifttum: vor 21. Kapitel, insbesondere Bar-Yaacov, Rosenne, Brook, Hadawi, Bitter Harvest (vor I. Teil), Kapitel V I I I ; Burns, Hutchinson, C. von Horn, Soldiering for Peace (London 1966).

Die Waffenstillstände m i t Ägypten, Jordanien und Syrien hatten entmilitarisierte Zonen hinterlassen, die i n der Folgezeit zu ständigen schwe47 M i t ziemlich abwegigen Argumenten: "Innocence must be proved", was über die Beweisfrage gerade zur Sperrung und damit zum Gegenteil der völkerrechtlichen Regelungen hinausläuft. 48 Auch dagegen hat sich Saudisch-Arabien ausgesprochen; da es sein religiöses Wächteramt nicht in die Hände des Internationalen Gerichtshofes abgeben könnte.

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

ren Konflikten und zum Zusammenbruch der Waffenstillstandsüberwachung der M A C führten und zu den Kriegen 1956 und 1967 erheblich beitrugen. Die Geschichte dieser Zonen zeigt i n konziser Form die nicht zu vereinbarenden Erwartungen, die beide Seiten an die Waffenstillstandsabkommen knüpften; das kann besonders klar am Beispiel der entmilitarisierten Zone an der syrischen Grenze gezeigt werden. Die Zonen waren nicht eigentlich aus militärischen Gründen entmilitarisiert worden; die sonst m i t der Entmilitarisierung eines Gebietes verfolgten Ziele wurden bereits m i t den halbentmilitarisierten Verteidigungszonen erreicht, wenn man die Einhaltung der Halbentmilitarisierung nicht weiter nachprüft. I m folgenden w i r d nur über die entmilitarisierte Zone an der syrischen Grenze ausführlicher berichtet. Bei den Waffenstillstandsverhandlungen mit Ägypten hatte Israel die ehemalige Mandatsgrenze zum Sinai als Demarkationslinie gefordert; abgesehen von dem noch ägyptisch besetzten Gazastreifen, der i n Faludscha eingeschlossenen Einheit und abgesehen von dem israelischen Vorstoß nach El-Arisch entsprach die Mandatsgrenze der militärischen Lage. Nach dem Sicherheitsratsbeschluß vom 16. November 1948 (S/1080) sollte die Feuereinstellungslinie Demarkationslinie werden. Ägypten berief sich dagegen noch zusätzlich auf den Sicherheitsratsbeschluß vom 4. November 1948 (S/1070), wonach sich beide Parteien auf die militärischen Linien vor der Operation Yoav, d. h. vor der israelischen Negev-Offensive zurückziehen sollten. Danach hätte sich Israel auf die Linie Majdal—Faludscha nach Norden zurückziehen müssen und hätte den gesamten Negev m i t Beerscheba und Kerngebiete der heutigen israelischen Besiedlung aufgeben müssen; seine Siedlungen i m Nordnegev wären isoliert geblieben. Israel hielt den Beschluß vom 4. November 1948 durch die Ereignisse für überholt, Ägypten hielt ihn weiter für verbindlich. Hierüber gab es lange und schwierige Verhandlungen 1 . Ägypten gab schrittweise nach und akzeptierte i m Prinzip die militärische Lage. Nach israelischer Darstellung bestand Ägypten nur aus innenpolitischen Prestigegründen zunächst auf einem ägyptischen Militärgouverneur i n Beerscheba, dann i n B i r Asludsch (einer Siedlung von wenigen Lehmhütten), zuletzt i n dem damals unbewohnten E l Audscha 2 an der Grenze zum Sinai. Israel verweigerte sich allen diesen Forderungen. Schließlich einigte man sich auf den vom amtierenden Vermittler Bunche vorgeschlagenen Kompromiß der Entmilitarisierung von E l Audscha und Umgebung; dort sollte auch die ägyptisch-israelische M A C sein 3 . Eine gewisse militärische Bedeutung mag die Entmilitarisierung wegen der aus dem Negev kommenden Straße nach dem Sinai gehabt haben. Jedenfalls war die Entmilitarisie1 2 3

s. etwa Eytan (vor V. Teil) ; Rosenne, S. 39 f.

Oft El Audja geschrieben; hebräisch: Nitzana. Art. V I I I Waffenstillstandsabkommen.

23. Kap. : Die entmilitarisierten Zonen

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rung der letzte Rest der ägyptischen Forderung nach einem israelischen Rückzug hinter die Frontlinie vor der israelischen Negev-Offensive. A r t . V I I I bezeichnete die militärische Besetzung des Gebietes antizipatorisch als flagrante Verletzung des Abkommens. Seit 1950 haben beide Parteien praktisch u m das Gebiet gekämpft. Vorher siedelten i n dem Gebiet keine Juden; nach einem Bericht des Chief of Staff Riley vor dem Sicherheitsrat am 18. September 1950 lebten dort ungefähr 4000 beduinische Flüchtlinge aus dem Gebiet u m Beerscheba (vornehmlich vom Azazme-Stamm) und wurden 1950 von israelischen Streitkräften i n den Sinai getrieben, i m ganzen sollen etwa 7000 beduinische Araber über die Sinaigrenze vertrieben worden sein. Der Sicherheitsratsbeschluß zeigt das Problem der die Grenzen überschreitenden Nomaden auf 4 . I n El-Audscha selbst legte Israel den Kibbutz Nitzana an, weitere Siedlungen i n der Umgegend. Die M A C verurteilte ergebnislos die Anwesenheit israelischer Polizei; die Ägypter betrachteten die Siedlungen ohnehin als das, was sie waren: als Wehrdörfer. Gegenüber Vorstellungen des Chief of Staff nahm Israel die Haltung ein, die etwa Ägypten bezüglich der Suezkanalblockade einnahm: das Abkommen untersage nur die Besetzung durch militärische Streitkräfte, nicht durch Polizeieinheiten. I n der Folgezeit kam es zu Kämpfen zwischen den Streitkräften; die Ägypter hielten einmal E l Audscha besetzt und wurden von der israelischen Armee vertrieben. Seit 1955 hielt die israelische Armee E l Audscha/ Nitzana besetzt. Aufgrund der militärischen Besetzung verweigerte Israel den Zusammentritt der M A C ; für den Sinaifeldzug, 1956, war die Zone israelisches Aufmarschgebiet 5 . I m Verhältnis zu Jordanien hatte Jerusalem eine Sonderstellung, war aber nicht entmilitarisiert i m hier gebrauchten Sinne. Dagegen gab es eine entmilitarisierte Zone i m jordanischen Gebiet, den Skopusberg. Dieser östlich Jerusalem gelegene Berg ist strategisch wichtig, da er die Zufahrtswege des jüdischen Hügellandes und Westjordanien bis zum Toten Meer beherrscht. A u f dem Berg liegt die 1921 gegründete Hebräische Universität m i t dem großen Hadassa-Krankenhaus. Nach dem Waffenstillstand verlief die Demarkationslinie westlich des Skopusberges; der Zugang verlief durch mehrere arabische Siedlungen. Nach Art. V I I I des Waffenstillstandsabkommens sollte das dort vorgesehene Sonderkomitee das Problem des Skopusberges regeln; das Komitee 4 Resolution S/1907 vom 17. November 1950. Damals war der Sicherheitsrat noch nachsichtiger mit Israel als fünf Jahre später. So forderte der Beschluß nur die M A C auf, „der ägyptischen Beschwerde über die Vertreibung Tausender palästinensischer Araber dringende Aufmerksamkeit zuzuwenden" und sich mit dem Problem der Nomaden zu befassen. Auch die israelische Besetzung von Bir Quattar beurteilte der Rat noch mit Rücksicht.

5

Die verschiedenen Darstellungen bei Burns , Hadawi und Elarabi, S. 105 f.

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

konnte nie zusammentreten, und es blieb bei einem Abkommen, das die Militärbefehlshaber noch während des Krieges (4. J u l i 1948) unter M i t hilfe der V N ausgehandelt hatten. Danach wurde der Komplex Skopusberg m i t Hebräischer Universität, Hadassa-Krankenhaus und dem südlich davon gelegenen Augusta-Viktoria-Krankenhaus entmilitarisiert und i n zwei Zonen aufgeteilt, i n denen jeweils eine bestimmte Anzahl von israelischen und jordanischen Polizisten die Ordnung aufrecht halten sollte; israelische Konvois sollten unter V N - A u f sieht 14tägig die israelische Polizeitruppe versorgen und ablösen. Als Universität (damals lagen dort ungefähr 1 M i l l i o n Bücher) und Krankenhaus konnte der Komplex nicht mehr benutzt werden. Die Versorgung führte zu schweren Zwischenfällen; Israel wurde beschuldigt, den Skopusberg festungsartig auszubauen und die Versorgungskonvois zu militärischen Transporten zu benutzen 8 . A n der Grenze zu Syrien beruhte die Entmilitarisierung dreier Zonen darauf, daß syrische Streitkräfte bei Beginn der Waffenstillstandsverhandlungen innerhalb der Mandatsgrenzen und innerhalb des vom Teilungsplan den Israeli zugesprochenen Gebietes den Brückenkopf u m Mischmar Hayarden am Oberen Jordan besetzt hielten. Israel hatte den Rückzug hinter die Mandatsgrenze gefordert, u m den Oberlauf des Jordan i n seine Gewalt zu bekommen. Syrien hatte sich lange Zeit dem widersetzt und war erst zum Rückzug bereit, nachdem Bunche auch hier die Kompromißformel von der Entmilitarisierung durchgesetzt hatte; dabei waren auch zwei kleine Gebietsteile am Tiberiassee einbezogen worden, die nicht von syrischen Streitkräften besetzt gehalten waren. A n der syrischen Grenze waren damit drei nicht zusammenhängende Zonen entmilitarisiert 7 . Diese entmilitarisierten Zonen bildeten einen ständigen Konfliktherd zwischen Israel und Syrien: sie haben zu schweren Zwischenfällen und kriegsähnlichen Situationen geführt. Mehrere israelische Siedlungen wurden vollständig zerstört (und wiederaufgebaut), die Siedler lebten ganze Zeiten bis zum Kriege von 1967 (und der israelischen Besetzung der syrischen Golanhöhen) i m Alarmzustand und i n Unterständen. Beide Parteien legten den Begriff der entmilitarisierten Zone, wie er i m israelisch-syrischen Abkommen verwendet wurde, verschieden aus. Die Entwicklungsgeschichte des A r t . V macht das Problem deutlich 8 . 6 Zu den Vorwürfen s. Bums (vor 21. Kapitel); Hadawi, Bitter Harvest (vor I. Teil), Kapitel V I I I . Lit.: L. Kippes, Der Skopus-Berg in Jerusalem. Ein Beitrag zur Lehre von den Exklaven (Dissertation Würzburg 1960), mit Abkommen. Zum „Government House" s. Azcärate, Kapitel X . 7 Art. V Ziffer 5 Waffenstillstandsabkommen. Eingeschlossen sind die Gebiete um En Gev und Dardara (heute: Aschmura); siehe Karten 12 und 13. 8 Hierzu Bar-Yaacov, Kapitel 3.

23. Kap.: Die entmilitarisierten Zonen

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Syrien war zwar zum Rückzug seiner Streitkräfte bereit, wollte jedoch das Gebiet nicht israelisch werden lassen. Nach seiner Ansicht war die Zone eine A r t von staatsrechtlichem no man's-land, wie die Literatur es ausdrückt; richtiger wäre wohl israelisch-syrisches Kondominium verbunden m i t erheblichen Verwaltungsbefugnissen der V N (des Chief of Staff oder Vorsitzenden der MAC), etwa nach A r t der Befugnisse des V B i m Saargebiet nach 19189. Insbesondere sollte Israel i n der Zone keine Hoheitsgewalt ausüben können, sollte sich seine Souveränität nicht auf dieses Gebiet erstrecken. Keine der beiden Parteien sollte hier allein tätig werden können; sie hätte jeweils der Zustimmung der anderen bedurft. Kurz, auch Völker- und staatsrechtlich sollte alles unentschieden bleiben, und insbesondere sollte Israel nicht durch intensive Besiedlung ein fait accompli für einen eventuellen Friedensvertrag schaffen können.

9

WBVR, „Condominium"; „Saargebiet".

6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

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Karte 12 Entmilitarisierte Zone (aus: Berger, Covenant and the Sword)

23. Kap. : Die entmilitarisierten Zonen

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Der von Bunche ausgearbeitete E n t w u r f 1 0 entsprach den syrischen Vorstellungen stärker als der endgültige Art. V I des Abkommens. Darin hieß es, Zweck der Entmilitarisierung sei es, die gebietlichen Ansprüche, Standpunkte und Interessen beider Parteien bis zur endgültigen gebietlichen Regelung zu sichern und die Streitkräfte zu trennen 1 1 . M i t dieser Fassung war klar, daß die sog. Entmilitarisierung nicht nur militärischen Zwecken diente, sondern i n erster Linie der Rechtswahrung bis zum Friedensvertrag. Es gelang der israelischen Delegation, die endgültige Fassung abzuschwächen: die Ziffer 5 b des Entwurfs entfiel weitgehend, und Ziffer 2 bezeichnet als Zweck der Entmilitarisierung nur noch die Trennung der Streitkräfte. Israel stützte darauf den rein militärischen Charakter der Entmilitarisierung; Syrien beharrte auf seinem Rechtsstandpunkt, den es auf andere Teile des Art. V stützte. Über die verschiedenen Standpunkte wurde lange verhandelt. Israel forderte stets die volle Souveränität, da es alle Probleme der Zukunft voraussah. Kernpunkt der Diskussion war die Formulierung: „schrittweise Rückkehr zum Zivilleben"; beide Delegationen legten sie verschieden aus. Die israelischen Unterhändler sahen darin nicht mehr als die positive Formulierung einer Entmilitarisierung und wollten alle Fragen der Verwaltungszuständigkeit i n ihrem Sinne geklärt sehen: die syrische Delegation wollte darin den status quo von vor dem Kriege garantiert und insbesondere eine siedlungs-, verwaltungs- und bevölkerungsmäßige Konsolidierung und Intensivierung durch Israel verhindert sehen. I n der Sache kamen sich die Delegationen nicht näher. Bunche drängte beide Parteien und insbesondere Israel 1 2 , nicht auf dem Souveränitätsprinzip zu bestehen; für die Frage der Verwaltungszuständigkeit gab Bunche eine „Explanatory Note", die später vom Vorsitzenden der M A C und auch vom Sicherheitsrat als Quasi-Bestandteil des Abkommens betrachtet und i n den Beschluß des Sicherheitsrates übernommen wurde. So kam der Waffenstillstand zustande, aber das Grundproblem wurde nicht geregelt. Beide Parteien verharrten auf ihrem Rechtsstandpunkt, und der „objektive Betrachter" kann wenig 10 11

Text: Bar-Yaacov, S. 49 f.

Ziffer 5 b: The purpose of the Demilitarized Zone shall be to safeguard the territorial claims, positions and interests of both parties pending final territorial settlement and to separate widely the armed forces, while providing for the gradual restoration of normal civilian life in the area of the Demilitarized Zone without prejudice to the ultimate settlement. 12 Schreiben bei Bar-Yaakov, S. 57 f.: "From the beginning of these negotiations our greatest difficulty has been to meet Israel's unqualified demand that the Syrian forces be withdrawn from Palestine. We have now, with very great effort, persuaded the Syrians to agree to this. I trust this w i l l not be undone by legalistic demands about broad principles of sovereignty and administration which in any case would be worked out in the practical operation of the scheme." 26 Wagner

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6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

mehr, als diesen Gegensatz referieren. Die deutsche Staatsrechtslehre würde von einem dilatorischen Formelkompromiß sprechen. Artikel V I lautet: 1. I t is emphasized that the following arrangements for the Armistice Demarcation Line between the Israeli and Syrian armed forces and for the Demilitarized Zone are not to be interpreted as having any relation whatsoever to ultimate territorial arrangements affecting the two Parties to this Agreement. 2. I n pursuance of the spirit of the Security Council resolution of 16 November 1948, the Armistice Demarcation Line and the Demilitarized Zone have been defined with a view toward separating the armed forces of the two Parties in such a manner as to minimize the possibility of friction and incident, while providing for the gradual restoration of normal civilian life in the area of the Demilitarized Zone, without prejudice to the ultimate settlement. 3. The Armistice Demarcation Line shall be as delineated on the map attached to this Agreement as Annex I. The Armistice Demarcation Line shall follow a line midway between the existing truce lines, as certified by the United Nations Truce Supervision Organization for the Israeli and Syrian forces. Where the existing truce lines run along the international boundary between Syria and Palestine, the Armistice Demarcation Line shall follow the boundary line. 4. The armed forces of the two Parties shall nowhere advance beyond the Armistice Demarcation Line. 5. (a) Where the Armistice Demarcation Line does not correspond to the international boundary between Syria and Palestine, the area between the Armistice Demarcation Line and the boundary, pending final territorial settlement between the Parties, shall be established as a Demilitarized Zone from which the armed forces of both Parties shall be totally excluded, and in which no activities by military of paramilitary forces shall be permitted. This provision applies to the Ein Gev and Dardara sectors which shall form part of the Demilitarized Zone. (b) Any advance by the armed forces, military or paramilitary, of either Party into any part of the Demilitarized Zone, when confirmed by the United Nations representatives referred to in the following subparagraph, shall constitute a flagrant violation of this Agreement. (c) The Chairman of the Mixed Armistice Commission established in Article V I I of this Agreement and United Nations observes attached to the Commission shall be responsible for ensuring the full implementation of this article. (d) The withdrawal of such armed forces as are now found in the Demilitarized Zone shall be in accordance with the schedule of withdrawal annexed to this Agreement (Annex II). (e) The Chairman of the Mixed Armistice Commission shall be empowered to authorize the return of civilians to villages and settlements in the Demilitarized Zone and the employment of limited numbers of locally recruited civilian police in the zone for internal security purposes, and shall be guided in this regard by the schedule of withdrawal referred to in sub-paragraph (d) of this article.

Die Auslegungsdifferenzen konzentrierten sich i n der Folgezeit um das Regime dieser Zonen: wer ist für die Verwaltung zuständig? Was darf

23. Kap. : Die entmilitarisierten Zonen

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i n diesen Zonen getan werden? Man kann alles wieder auf die Souveränitätsfrage und auf den Zweck der Entmilitarisierung zurückführen: Die israelische Rechtsansicht war einfach. Die entmilitarisierten Zonen lagen innerhalb des israelischen Staates und also voll i m Bereich der israelischen Souveränität. Lediglich militärische Beschränkungen galten; die Zonen waren entmilitarisiert und nicht extraterritorial 1 3 ; dies ergebe die Entstehungsgeschichte von A r t . VI, die zeige, daß Syrien m i t seiner weitergehenden Ansicht nicht durchgedrungen sei. Das Abkommen spreche nur von Entmilitarisierung, und das Völkerrecht verstehe darunter lediglich die Verpflichtung eines Staates, i n bestimmten Gebietsteilen seines Staates keine militärischen Anlagen zu unterhalten und keine Truppen zu stationieren. Weitergehend beschränke dieses völkerrechtliche Institut die staatliche Souveränität nicht, und so sei der Begriff stets verstanden worden, vom Rheinland (aufgrund des Versailler Vertrages) bis nach Spitzbergen. Daher gelte i n diesem Gebiet israelisches Recht; die zurückkehrenden Araber seien israelische Bürger. Die Besiedlung sei nicht an den status quo von vor dem Kriege gebunden; insbesondere könne Israel neue Siedlungen anlegen. Nichts anderes bezwecke die Formel von der „schrittweisen Rückkehr zum zivilen Leben": sie solle militärische Operationen aus diesem Gebiete fernhalten. Der syrische Standpunkt war und blieb i n allen Stücken entgegengesetzt. Entmilitarisierung als bloß militärische Beschränkung über eine ansonsten unbeschränkte Souveränität setze voraus, daß überhaupt eine Souveränität vorliege, die i m Militärischen beschränkt werden könne. Daran fehle es, denn die mittlere Zone sei syrisch besetzt gewesen, und Syrien habe nur seine Militärstreitkräfte zurückgezogen, ohne seinen Gebietsanspruch aufzugeben. I m Friedensvertrage werde Syrien dieses Gebiet für sich fordern, und daher sei Syrien nur m i t einem Gebietsstatus einverstanden gewesen, der seine Ansprüche nicht beeinträchtige. Bis zum Friedensvertrag gehöre die Zone daher weder Syrien noch Israel, sondern sei ein no man's-land. Ohne syrische Zustimmung dürfe Israel i n der Zone nichts unternehmen; die Verwaltung obliege nicht Israel, sondern erfolge durch die MAC, eventuell durch deren Vorsitzenden. Die Formel von der „schrittweisen Rückkehr zum zivilen Leben" erlaube nur die Rückkehr von Zivilpersonen i n die Siedlungen, die vor dem 15. Mai bestanden hätten. Jüdische Bewohner sollten sich wirtschaftlich nach Israel, arabische Bewohner nach Syrien orientieren; jeder entsprechende Grenzübertritt müsse von VN-Beobachtern kontrolliert werden. Wie immer man zu den beiderseitigen Rechtsansichten steht — der Leser mag sich interpretatorisch an A r t . V I versuchen —, sie waren unvereinbar. Israel hat die entmilitarisierten Zonen stets als sein Staats13

26*

Zu diesem Begriff WBVR, „Extraterritorialität"; „Demilitarisierung".

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6. Teil : Die jüdische Enttäuschung : Von Krieg zu Krieg

gebiet betrachtet und sie zielstrebig eingegliedert, wirtschaftlich, administrativ und schließlich auch militärisch. Es legte neue Siedlungen nach seinen strategischen und wirtschaftlichen Vorstellungen an 1 4 und gliederte das Gebiet i n seine allgemeine Polizei- und Gerichtsorganisation ein. Dies entsprach weder den Vorstellungen des Vermittlers Bunche noch der sukzessiven Vorsitzenden der M A C oder des Chief of Staff noch des Sicherheitsrates. Ein erläuterndes Schreiben von Bunche hatte hierzu ausgeführt 1 5 : "The question of civil administration in villages and settlements in the demilitarized zone is provided for within the framework of an armistice agreement, in subparagraphs 5 (b) and 5 (f) of the draft article. Such civil administration, including policing, will be on a local basis, without raising general questions of administration, jurisdiction, citizenship and sovereignty. Where Israeli civilians return to or remain in an Israeli village or settlement, the civil administration and policing of that village or settlement will be by Israelis. Similarly, where Arab civilians return to or remain in an Arab village, a local Arab administration and police unit will be authorized. As civilian life is gradually restored, administration will take shape on a local basis under the general supervision of the Chairman of the Mixed Armistice Commission. The Chairman of the Mixed Armistice Commission, in consultation and cooperation with the local communities, will be in a position to authorize all necessary arrangements for the restoration and protection of civilian life. He will not assume responsibility for direct administration of the zone."

Der Sicherheitsratsbeschluß vom 18. Mai 1951 (S/2157) hat diese Formulierung weitgehend übernommen. Zivilverwaltung und Polizei sollten auf lokaler Basis arbeiten; die grundsätzlichen Fragen der Verwaltung, der Gerichtsbarkeit, des Zivilrechts und der Gebietshoheit sollten nicht aufgerollt werden. I n israelischen Siedlungen seien Zivilbevölkerung und Polizei israelisch, i n arabischen Dörfern arabisch. Der Sicherheitsrat versuchte auch, die Befugnisse des Vorsitzenden der M A C zu stärken und sprach i h m aufgrund von Ziffer 5 c und e des Abkommens erhebliche Überwachungsbefugnisse zu; praktisch hätte er die Polizeigewalt ausgeübt. Diese Interpretation w a r bereits als Kompromiß zwischen den israelischen und syrischen Vorstellungen gedacht. Denn Syrien forderte zunächst für sich die Mitverwaltungskompetenz i n Form eines Kondominiums; vor allem weiterreichende Maßnahmen, wie die Entwicklungsarbeiten zur Hula-Entwässerung bedürften seiner Zustimmung; der sowjetische Vertreter i m Sicherheitsrat unterstützte diese Ansicht. Dies erschien Israel gänzlich unannehmbar; angesichts der syrischen Haltung, 14 15

Bar-Yaacov, S. 66. Bar-Yaacov, S. 56; auch Brook, S. 73 ff.

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die Konsolidierung des israelischen Staates überhaupt zu verhindern oder zu erschweren, wäre eine Zustimmung niemals gegeben worden. Israel hat daher jeglichen locus standi Syriens für die entmilitarisierte Zone verneint: "Syria had nothing to do w i t h the demilitarized zone and the demilitarized zone had nothing to do w i t h Syria." Nachdem Syrien die Kondominatslösung nicht durchsetzen konnte, versuchte es, die M A C zur obersten Verwaltungsbehörde für die Zone zu erklären; auch i n der M A C hätte es der Zustimmung des syrischen Vertreters bedurft: der Vorsitzende hätte nicht permanent gegen den syrischen Vertreter entscheiden können. Die Befugnis der M A C wäre vom Wortlaut des A b kommens zu begründen, da A r t . V I I Ziffer 1 und 7 der M A C die Überwachung der Ausführung des gesamten Abkommens zuweisen. Daher sei die M A C zuständig für die Wiederherstellnng des zivilen Lebens i n der entmilitarisierten Zone: ihre Kompetenz sei lediglich durch die vorläufige Tätigkeit des Vorsitzenden der M A C eingeschränkt, der zunächst entscheide. A l l e Streitigkeiten bezüglich der Rückkehr der Zivilisten und der Organisation der Polizei seien daher vom Vorsitzenden i n erster I n stanz zu entscheiden; die M A C entscheide dann als Berufungsinstanz endgültig. Diese syrische Konstruktion schien Israel gleichfalls unannehmbar: sie hätte Syrien die Blockierung aller israelischen Arbeiten i n der Zone ermöglicht. Israel hat daher stets der M A C die Zuständigkeit abgestritten, syrische Beschwerden über die Vorgänge i n der entmilitarisierten Zone zu erörtern und sich gegen die Aufnahme derartiger Beschwerden in die Tagesordnung der M A C gewandt. Dagegen war Israel bereit, gewisse Fragen m i t dem Vorsitzenden der M A C zu erörtern: dessen Kompetenz für die „volle Ausführung" des Abkommens (Art. Vc) war nicht zu leugnen, und Syriens Mitsprachebefugnis in der Zone war so prinzipiell abgewehrt. Aber auch den Vorsitzenden hielt Israel nur für die Einhaltung der (militärischen) Entmilitarisierung zuständig, nicht für Verwaltung und Polizei. Dazu berief sich Israel auf Bundle's Erklärung, wonach dem Vorsitzenden keine unmittelbaren Verwaltungsbefugnisse i n der Zone zustünden. Er habe also keine Entscheidungsgewalt und Israel war nur bereit, gewisse Fragen m i t i h m zu erörtern. Israel hat denn auch die Polizei i n der entmilitarisierten Zone Rosch Pinna und die Gerichtsbarkeit Tiberias und Safed unterstellt, die sämtlich außerhalb der Zone liegen; in der Folgezeit kontrollierte israelische Polizei das gesamte Gebiet 1 6 . Diese israelische Eingliederung und die syrischen Gegenzüge führten zu dauernden Grenzzwischenfällen, die i m einzelnen bei Bar-Yaacov nachzulesen sind. Syrien protestierte gegen israelische Maßnahmen i n 16

M i t Ausnahme der syrisch kontrollierten Siedlungen El-Hamma und Khirbet et-Tawafiq; Darstellung bei Bar-Yaacov, S. 66 ff.

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung : V o n K r i e g zu K r i e g

der MAC, bei deren Vorsitzenden und beim Chief of Staff. Syrien sah alle diese Maßnahmen als israelische Aggression, zumindest als Provokation; die Vorsitzenden und Chiefs of Staff haben sich zumeist der letzteren Sicht angeschlossen. I n syrischer Sicht mußte jede faktische Veränderung des status quo eines no man's land eine Aggression sein; die massive israelische Besiedlung mußten den syrischen Rechtsstandpunkt auf Rückgabe des Gebietes illusorisch werden lassen. I n israelischer Sicht war die Zone normales israelisches Staatsgebiet, und syrisches Insistieren auf der Wahrung des besiedlungsmäßigen und kultivatorischen status quo von 1948 die völkerrechtliche Behinderung seines friedlichen Aufbauwerkes. Die Folge des Meinungsgegensatzes waren Zwischenfälle. So weigerte sich z. B. Syrien, die Grenze markieren zu lassen, weil es die Mandatsgrenze als nicht mehr gültig ansah. Israel tendierte dazu, seine Siedlungen bis an die Grenze vorzuverlegen, was i n syrischen Augen militärische Befestigungen, nämlich Wehrdörfer, waren. Israel legte einen asphaltierten Weg nahezu genau an der Grenze an, auf dem es regelmäßig gepanzerte Jeeps kontrollieren ließ. Es bearbeitete Ländereien, deren gebietliche und eigentumsmäßige Lage strittig war, d. h. die nach syrischer Ansicht auf seinem Territorium lagen oder arabischen Eigentümern gehörten; notfalls bearbeitete Israel die Grundstücke m i t gepanzerten Traktoren und unter Opfern an Menschenleben. Die Syrer sahen in all dem nur israelische Aggressionen, die VN-Offiziere hierin zumindest vermeidbare Provokationen. Trotzdem arbeitete auch hier das Waffenstillstandssystem bis 1951 i m großen und ganzen zufriedenstellend, wenn man sich schon zufrieden gibt, weil kein Krieg ausbricht. Die schweren Zwischenfälle, die i n Grenzkriege ausarteten, setzten ab 1951 ein, als Israel die großen Entwicklungsarbeiten der Hula-Entwässerung und der Jordanableitung begann. Beide Male versuchte Syrien die Arbeiten zu verhindern, und die üblichen Schießereien arteten zum beiderseitigen Einsatz der Streitkräfte aus. Das System der M A C brach völlig zusammen. Der israelische Delegierte nahm an keinen Sitzungen teil, deren Tagesordnung syrische Beschwerden über israelische Maßnahmen i n der entmilitarisierten Zone enthielten; die syrische Delegation nahm nicht teil, wenn ihre Beschwerden nicht erörtert werden. Daher traten seit 1951 keine regelmäßigen Sitzungen mehr zusammen, sondern nur noch informelle Sitzungen zur Erörterung schwerer Zwischenfälle; seit 1960 kamen auch diese Sitzungen nicht mehr zustande. A n Ort und Stelle hatten die Streitkräfte und Freischärler die Sache i n die Hand genommen; die Vorsitzenden der M A C schrieben Berichte, die niemanden mehr interessierten; an die Stelle der blockierten M A C trat der Sicherheitsrat, wenn auch nicht m i t Erfolg. Von den zahlreichen Problemen u m die entmilitarisierte Zone seien die Hula-Entwässerung und die Jordanwasserableitung herausgegriffen,

23. Kap.: Die entmilitarisierten Zonen

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da sie die strittige Rechtslage der Zone, aber auch das Inadäquate der juristischen Argumentation deutlich machen. Bei der Hula-Entwässerung wurde ein Gebiet nördlich des Tiberiassees urbar gemacht, i n dem kleinere Seen, Sumpf- und Schilfgelände sich abwechselten; das Gebiet war malariaverseucht. A n dem Gebiet hatten zunächst syrische Araber eine noch von den Türken erteilte Konzession zur Entsumpfung; 1934 hatte die zionistische Palestine Land Development Company die Konzession erworben. Die Mandatsregierung hatte die Konzession bestätigt, und der israelische Staat betrachtete sie als fortbestehend. Das Gebiet sollte entsumpft werden; dabei sollten etwa 7000 Hektar Ackerland gewonnen, die Malaria ausgerottet und das drainierte Wasser für die Bewässerung verwertet werden. Seen und Sumpfgebiet lagen außerhalb der entmilitarisierten Zone. Die Entwässerungsarbeiten erstreckten sich jedoch auf einige kleine Grundstücke innerhalb der entmilitarisierten Zone, die i m arabischen Eigentum standen. Davon sollten ungefähr drei Hektar, die 70 Arabern gehörten, dauernd, 50 Hektar, die 117 Arabern gehörten, vorübergehend für die Entwässerungsvorrichtungen genutzt werden. Israel begann mit den Arbeiten i m Februar 1951; Syrien befaßte die MAC; Israel hielt die Kommission nicht für zuständig. Der Vorsitzende untersuchte die Problematik und reduzierte schließlich alles auf die Frage, ob das israelische Unternehmen arabisches Land enteignen könne. Da dies nicht geklärt sei, müßten die Arbeiten vorläufig eingestellt werden. Eine Verständigung kam nicht zustande; dagegen gerieten Israel und Syrien i n Kämpfe und der Sicherheitsrat wurde befaßt 17 . Alle Beteiligten legten auf den verschiedenen Ebenen ausführlich ihre Rechtsstandpunkte dar; zwei der wichtigsten Probleme, die die Situation i n der entmilitarisierten Zone aufwarf, werden noch behandelt. Der Sicherheitsr a t 1 8 übernahm weitgehend das erläuternde Schreiben von Bunche, wonach alle grundsätzlichen Fragen bis zum Friedensvertrag ungelöst bleiben sollten, und versuchte, einige Richtlinien für das Regime der entmilitarisierten Zone zu geben. I m Ergebnis gab er dem Vorsitzenden der M A C recht und forderte Israel auf, die Arbeiten einzustellen, bis über die Enteignung eine Einigung erreicht sei. I n der Folgezeit versuchte der Vorsitzende vergeblich, mit den arabischen Eigentümern zu einer Einigung zu gelangen; Israel bot jede mögliche Entschädigung und Ersatzland an; die Araber lehnten auf Veranlassung Syriens ab. Schließlich gelang es dem israelischen Unternehmen, die Entwässerung ohne Inanspruchnahme von arabischem Land innerhalb der entmilitarisierten Zone auszuführen, und der Vorsitzende genehmigte daraufhin den Fortgang der Arbeiten. Syrien sah hierin eine Verletzung des Beschlusses des 17 18

Ausführliche Darstellung bei Bar-Yaacov, Resolution vom 18. M a i 1951 (S/2157).

S. 71 ff.

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6. Teil : Die jüdische Enttäuschung : V o n K r i e g zu K r i e g

Sicherheitsrates und protestierte vergeblich beim Chief of Staff. I m Oktober 1958 war die Entwässerung beendet. Israel hatte m i t der Entwässerung ein großes Gebiet, das versumpft, verschilft und wegen Malariaverseuchung gesundheitlich berüchtigt war, urbar gemacht, besiedelt und buchstäblich i n einen blühenden Garten verwandelt; m i t Hecht sieht Israel hierin eine außerordentliche zivilisatorische Leistung. Leider sieht von arabischer Seite aus alles anders aus: für sie ist i n diesem Garten kein Platz. Die Bewohner einiger arabischer Dörfer flohen nach Syrien oder wurden ins Innere Israels evakuiert (Kirad el-Baqqara und K i r a d el-Ghannama). Der Chief of Staff bemühte sich um sie; der Sicherheitsratsbeschluß verlangte von Israel, ihnen die Rückkehr zu gestatten. Wie alles sich verhalten haben mochte — die Darstellungen widersprechen sich —, jedenfalls konnten sie i n ihren ehemaligen Dörfern nicht mehr bleiben; i h r Land war zum Teil vom Jüdischen Nationalfonds übernommen. 1954 und 1956 zogen die letzten Araber nach Syrien; i m ganzen haben ungefähr 1600 Araber auf diese A r t nach dem Kriege ihre Heimat verloren 1 9 . Der Streit u m die Ableitung des Jordanwassers geht i n seiner Bedeutung erheblich über die entmilitarisierte Zone hinaus und w i r d i m folgenden Kapitel gesondert dargestellt. Aber er begann i n der entmilitarisierten Zone. Der ursprüngliche Plan sah nämlich die Ableitung des Jordanwassers (bei Esched K i n r o t und) bei Benot Yaacov vor; diese Brücke liegt aber i n der entmilitarisierten Zone bei Mischmar Hayarden 2 0 . Der größte Teil der Arbeiten hätte außerhalb der entmilitarisierten Zone gelegen; die Arbeiten wären aufgrund einer 1923 von der Mandatsmacht an die Palestine Electric Company erteilten Konzession ausgeführt worden. Innerhalb der entmilitarisierten Zone wäre kein Land i n arabischem Eigentum beansprucht worden. Israel beantragte die Genehmigung für die Arbeiten beim Vorsitzenden der M A C und begann i m September 1953 m i t der Ausführung; der Vorsitzende wandte sich an den Chief of Staff. Der Chief of Staff hielt die Arbeiten für unvereinbar m i t den israelischen Verpflichtungen i n der entmilitarisierten Zone; Israel könne daher nicht ohne syrische Zustimmung handeln und solle bis dahin die Arbeiten einstellen. Da keine Einigung zwischen dem Chief of Staff und Israel zustandekam, wurde i m Oktober 1953 der Sicherheitsrat befaßt 21 . Anders als bei der Hula-Entwässerung drang Syrien beim Benot Yaacov-Projekt durch: der Sicherheitsrat forderte am 27. Oktober 1953 19

VIII. 20

21

Darstellungen bei Bar-Yaacov, S. 94 f.; Burns , S. 113 ff.; Hadawi, Kapitel s. Karte 13.

Die beiderseitigen Rechtsansichten bei Bar-Yaacov, S. 119 ff.

23. Kap. : Die entmilitarisierten Zonen

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(S/3128) Israel auf, die Arbeiten während der „urgent examination of the question by the Security Council" einzustellen; in den folgenden Diskussionen konnte der Sicherheitsrat keine Einigung finden, und i m Januar 1954 scheiterte ein vorgelegter Beschlußentwurf am sowjetischen Veto; es war das erste proarabische Veto der Sowjetunion. Israel mußte daraufhin seine Ableitungspläne ändern und setzte die Ableitung nur noch bei Esched K i n r o t an der Nordwestecke des Tiberiassees an. K i n r o t liegt zwar außerhalb der entmilitarisierten Zone; Syrien brachte jedoch alle Beschwerden vor, die es bereits gegen das Benot Yaacov-Projekt erhoben hatte. Da das Projekt außerhalb der entmilitarisierten Zone lag, drang Syrien i n keiner Instanz durch. Aus der Diskussion u m beide Projekte seien drei Argumente referiert, die gegensätzliche Standpunkte aufzeigen: — Nach syrischer Ansicht bewirkten die Hula-Entwässerung außerhalb und die Veränderung des Jordanflußspiegels innerhalb der entmilitarisierten Zone erhebliche topographische Veränderungen. Israel beseitigte (See, Sumpf) oder veränderte (Jordanfluß) natürliche militärische Hindernisse und verschaffte sich so militärische Vorteile. Darin liege ein Verstoß gegen A r t . I I Ziffer 1 des Waffenstillstandsabkommens; jedenfalls seien die Arbeiten nur mit syrischer Zustimmung zulässig. Bei der Hula-Entwässerung drang Syrien mit diesem Argument nicht durch; das zu entwässernde Gebiet lag außerhalb der entmilitarisierten Zone. Der Chief of Staff erklärte sich für nicht zuständig; i m übrigen verschaffe die Entsumpfung nicht Israel einen einseitigen militärischen Vorteil. Der Sicherheitsrat ging auf dieses Argument nicht ein, forderte aber die Einstellung der Arbeiten wegen der Enteignungsproblematik. Beim Benot Yaacov-Projekt dagegen mußten die Arbeiten innerhalb der entmilitarisierten Zone ausgeführt werden, und der Chief of Staff hatte zunächst die Ansicht vertreten, eine Partei, die den Flußwasserspiegel verändere, verschaffe sich einen militärischen Vorteil. Vor dem Sicherheitsrat wurde hierüber noch ausführlich diskutiert; das Argument entfiel aber schließlich, weil es von der syrischen Forderung nach einem Mitspracherecht innerhalb der entmilitarisierten Zone und von der wasserrechtlichen Problematik verdrängt wurde. — Die Kompetenzfrage für die entmilitarisierte Zone taucht i m Auslegungsstreit u m die „schrittweise Wiederherstellung des zivilen Lebens" erneut auf; Syrien brachte vor, daß die Entwicklungsarbeiten diese Wiederherstellung des zivilen Lebens für die arabischen Bewohner unmöglich machte. Die Problematik schlüpfte schließlich in die eigenartige Frage, ob die entmilitarisierte Zone ein rechtliches Vakuum sei oder ob früher gesetztes Recht (aus der Mandatszeit) und israelisches Recht gelte. Vor allem bestritt Syrien, daß die Konzession, aufgrund der Israel die Arbeiten ausführte, i n der Zone noch in K r a f t sei und daß i n der Zone

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung : V o n K r i e g zu K r i e g

eine Rechtsgrundlage für die Landenteignung bestehe. I m Hula-Entwässerungsstreit war die Zulässigkeit der Enteignung strittig geworden. Für die Entwicklungsarbeiten schien zunächst die Enteignung einiger acres arabischen Landes unumgänglich; Syrien erblickte darin einen Verstoß gegen das Waffenstillstandsabkommen, da die Enteignung gerade die „Rückkehr zum normalen Zivilleben" für die betroffenen Araber unmöglich mache. Der schwierigen Stellung des Vorsitzenden der M A C oder des Chief of Staff entsprach es, beiden Parteien partiell Recht zu geben: er hatte das Argument des militärischen Vorteils verworfen; so mußte er nun der syrischen Partei etwas zugestehen. Die Frage wurde dahingehend formuliert, ob Israel i n der entmilitarisierten Zone die zivilen Arbeiten aufgrund israelischen Rechts durchführen dürfe, d. h. ob Israel die Entwicklungsarbeiten ausführen und arabische Landeigentümer enteignen dürfe. Diese Enteignungsfrage warf das gesamte Regime der entmilitarisierten Zone auf, und der Streit ging folgerichtig auch um die Souveränität i n der Zone. Der Chief of Staff vertrat zunächst die Ansicht, daß keine Partei i n der entmilitarisierten Zone die Souveränität besitze und daß daher das gesamte Recht der Vorwaffenstillstandszeit unanwendbar geworden sei. Hier gab er schrittweise nach: zunächst meinte er, das gesamte Recht sei hinfällig geworden ( „ N u l l and void"), dann hielt er es für suspendiert („in abbeyance") 22 . Es gebe daher kein Enteignungsstatus i n der entmilitarisierten Zone, und daher sei jede Enteignung oder auch nur vorübergehende Nutzung von Land gegen den Willen des Eigentümers ein Verstoß gegen die Wiederherstellung des zivilen Lebens. Später räumte er ein, daß die israelische Entwicklungsgesellschaft die Konzession auch i n der entmilitarisierten Zone weiter ausüben könne, daß jedoch kein arabisches Land gegen den Willen der arabischen Eigentümer benutzt werden dürfe. Für diesen Unterschied w i r d man schwerlich einen Anhaltspunkt i m Waffenstillstandsabkommen finden. Die israelische Seite konnte sich hier auf das Schreiben von Bunche berufen, wonach die entmilitarisierte Zone „ w i l l not be a vacuum or a waste land" 2 3 . Aber der Chief of Staff blieb bei seiner Ansicht und forderte die Einstellung der Arbeiten in der Zone, bis der Vorsitzende der MAC, Israel und Syrien sich über die Enteignungsentschädigung geeinigt hätten; der Sicherheitsrat übernahm diese Sicht 24 . Der Vorsitzende der M A C sollte mit den arabischen Landeigentümern Verhandlungen wegen der Entschädigung führen und eventuell bei Nichteinigung die Entschädigung festsetzen. Israel bot in diesem Falle jede denkbare Entschädigung einschließlich Ersatzland. Die Araber lehnten auf syrische Veranlassung ab. 22 23 24

s. Bar-Yaacov, S. 72. Bar-Yaacov, S. 58. Bar-Yaacov, S. 91.

24. Kap. : Der Streit u m das Jordan-Wasser

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Als das israelische Unternehmen dann ohne das arabische Land auskam, entfiel der Streit. Der Chief of Staff genehmigte den Fortgang der A r beiten, syrischer Protest blieb wirkungslos. Beim Benot Yaacov-Projekt sah der Chief of Staff die Rückkehr zum zivilen Leben gefährdet, da die arabischen Bauern, Mühlenbesitzer und die syrischen Anwohner ihren Wasserbedarf nicht mehr wie bisher decken könnten; i m Sicherheitsrat konnte keine Einigung erzielt werden. Da Israel die Zone als sein Staatsgebiet betrachtete, Syrien aber weiter auf dem Standpunkt blieb, daß die Zone ein no man's land sei, waren die Zwischenfälle an der Tagesordnung. Die syrische Reaktion degenerierte hierbei i n sinnlose Beschießungen israelischer Siedlungen, der Israel wegen der militärischen Höhenlage der syrischen Artilleriestellungen wenig entgegensetzen konnte. Die militärisch sinnlosen Kanonaden haben die israelische Entschlossenheit zur Besiedlung i n nichts beeinträchtigt, jedoch zu dem Willen geführt, die militärisch beherrschenden Golanhöhen, die i m Kriege 1967 erobert wurden, keinesfalls mehr an Syrien zurückgzugeben. Inzwischen sind die Golanhöhen mit israelischen Wehrdörfern besiedelt.

Vierundzwanzigstes

Kapitel

D e r Streit u m das Jordan-Wasser Schrifttum: Bar-Yaacov (vor 21. Kapitel); K. B. Doherty, Jordan waters conflict, International conciliation Nr. 553 (1965); H. A. Smith, The Waters of the Jordan: A Problem of International Water Control, 25 International Äff airs (1949), S. 415; M. G. Ionides, The Disputed Waters of the Jordan, 7 Middle East Journal (1953), S. 153; J. F. Hostie, Problems of International Law concerning Irrigation of arid Lands, 31 International Affairs (1955), S. 61; Edward Rizk, The River Jordan, Information Paper Nr. 23 (New York: Arab Information Center 1963); G. G. Stevens, The Jordan River Valley, International conciliation Nr. 506 (1956); A. M. Goichon, L'eau, problème vital de la région du Jourdain (Brüssel 1964) ; Α. Μ. Hirsch, Utilization of International Rivers in the Middle East, AJ, Bd. 50 (1956), S. 81 ff.; W. E. Kenworthy, Joint Development of International Waters, AJ, Bd. 54 (1960), S. 592 ff. Vilnay 12; Atlas X I I 2 (beide vor 9. Kapitel 2). Allgemein zum internationalen Wasserrecht: WBVR, „Wasserrecht, internationales"; „Binnengewässer"; „Internationalisierte Flüsse"; „Lac Lanoux-Fall"; „Donauversinkungsfall";

Dahm, Bd. 1 § 119.

Palästina ist wasserarm; vielen Kennern schien Palästina deswegen nicht zur Aufnahme der Juden geeignet, weil die vorhandenen Wasservorräte nur die eingesessene Bevölkerung von ungefähr 700 000 Men-

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sehen versorgen konnten, und auch diese i n vielen Gebieten nur kümmerlich. Die Zionisten haben von Anfang an stets die große Aufnahmefähigkeit Palästinas betont, das nur erschlossen zu werden brauchte. Während der Mandatszeit hat eine umfangreiche Literatur die Aufnahmefähigkeit erörtert. Liest man diese Literatur heute, so erscheint sie für die gegenwärtigen Probleme unmaßgeblich: — der größte Teil der Untersuchungen befaßt sich mit der prinzipiellen Kultivierbarkeit des Bodens; stets heißt es, daß es künstlicher Bewässerung, meist durch nichtlokale Wasserquellen bedürfte; — die zionistischen Hinweise auf dichtere Besiedlung in vorchristlicher Zeit sind insbesondere bezüglich des Negev angreifbar: stets waren nur einzelne Punkte, nie der gesamte Negev besiedelt; — wie großzügig man die vorchristliche Besiedlung Palästinas auch errechnen mag, sie scheint nie über drei bis vier Millionen hinausgegangen zu sein; diese Zahl ist i m heutigen Palästina überschritten; selbst die zur Mandatszeit i m Streit u m die Aufnahmefähigkeit Palästinas projektierten Zahlen von vier bis fünf Millionen sind heute i n Israel, West- und Ostjordanien erreicht; — die Besiedlung durch einen modernen Industriestaat und die intensive landwirtschaftliche Nutzung sowie die landwirtschaftliche Erzeugung für die Ausfuhr fordern größere Wassermengen als die alten Besiedlungsformen. Die intensive Suche nach neuen Wasservorräten blieb ohne großen Erfolg: die lokalen Wasservorräte Palästinas sind weitgehend erschöpft. Die Bohrung neuer Brunnen oder die stärkere Nutzung bestehender Brunnen senkt den jeweiligen Grundwasserspiegel über das erträgliche Maß. Die Ansiedlung neuer Gemeinden, die Nutzbarmachung von Land, die Anlage weiterer Industrien und damit die Aufnahmefähigkeit Palästinas für weitere Einwanderer hängt daher von der Erschließung neuer Wasserquellen ab. Dies gilt insbesondere für die südliche Hälfte Israels, für das gesamte Negevgebiet. Erschließung und Besiedlung des Negev gehören aber zum israelischen Programm; sie sind eine A r t von Glaubenssatz geworden. Nur i m Süden könnten schließlich größere Massen von Neueinwanderern angesiedelt werden. Aber auch eine Wiederansiedlung der palästinensischen Flüchtlinge ist nur möglich, wenn neue Gebiete bewässert werden können. Bis jetzt war es auch technisch nicht möglich, das Meerwasser zu wirtschaftlich vertretbaren Kosten zu entsalzen, obwohl an diesem Forschungsobjekt seit längerem gearbeitet wird. Auch weitere technische Möglichkeiten, wie rationellere und ökonomischere Speicherung des Regenwassers sind gleichfalls noch nicht entwickelt. Als einzige noch nutzenswerte Wasserquelle gilt daher der Jordan.

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Der Jordan w i r d von drei Quellflüssen Dan, Hasbani und Banias gespeist, die sich 25 k m oberhalb des Tiberiassees zum Oberen Jordan vereinigen. Nur der Dan entspringt i m israelischen Gebiet; die Quellen des Banias und Hasbani liegen i n Syrien und Libanon 1 . Nach seinem Aust r i t t aus dem Tiberiassee und südlich der jordanisch-syrischen Grenze fließt aus Jordanien der Jarmuk zu. Von da an fließt der Jordan zunächst als israelisch-jordanischer Grenzfluß, dann als Grenze zwischen Transjordanien und Westjordanien durch die Zor-Schlucht; beiderseits erhebt sich terrassenförmig der Ghor. Schließlich mündet der Jordan i n die Salzlauge des Toten Meeres; von da an ist das Jordanwasser nicht mehr nutzbar. Man hat eine jährliche Wassermenge von einer M i l l i o n K u b i k meter errechnet, die so ungenutzt einfließen. Von der Vereinigung der drei Quellflüsse bis zum Eintritt i n den Tiberiassee fällt der Jordan 282 Meter, auf seinem gesamten 188 k m langen Lauf bis ins Tote Meer fällt er 2395 Meter; das Tote Meer ist mit 400 Metern unter dem Meeresspiegel der tiefste Punkt der Erdoberfläche. Der große Niveauunterschied erlaubt auch die Ausnutzung zur Elektrizitätsgewinnung. Die Zionisten hatten schon zur Mandatszeit umfangreiche Pläne zur Wassernutzung ausgearbeitet oder ausarbeiten lassen; auch die Mandatsmacht und Jordanien hatten Gutachten ausgearbeitet. Diese Gutachten und Pläne waren Auftragsarbeiten m i t politischem Ziel: die zionistische Seite wollte die große Aufnahmefähigkeit Palästinas darlegen, die Mandatsmacht betont die durch die Wasserknappheit gesetzten Grenzen dieser Aufnahmefähigkeit. Später tendierten zionistische Pläne zu einer optimistischen Einschätzung der Gesamtwassermenge, um arabische Bedenken zu zerstreuen, die israelischen Pläne würden die Entwicklungsmöglichkeiten der arabischen Nachbarländer beschneiden. Insgesamt hat die Folge der Pläne und Untersuchungen jedoch ein allgemein akzeptiertes B i l d über Wasservorräte und technische Möglichkeiten gegeben. Bereits die Berichte von Hope-Simpson 1930 und Peel 1937 hatten ausgeführt, daß in Palästina noch viel bebaubares Land, insbesondere i m Nordnegev sei, daß aber die Entwicklungsmöglichkeiten Palästinas von der Erschließung seiner Wasservorräte abhingen; Wasser sei die Schranke für die wirtschaftliche Aufnahmefähigkeit Palästinas. Verläßliche hydrologische Unterlagen fehlten jedoch. Diese Untersuchungen wurden gegen Ende der Mandatszeit durchgeführt: von Jonides 1937 - 1939 für das Jordantal, von Lowdermilk 1944 für Palästina und Transjordanien gemeinsam. Die Folgezeit sah ein ganzes Dutzend von Plänen, die alle durch 1 1919 war es der Zionistischen Organisation trotz größter Anstrengungen nicht gelungen, das gesamte Einzugs- oder das Quellgebiet dieser drei Flüsse und damit des Jordanwasser-Systems (einschließlich des im Libanon gelegenen Litani-Flusses) in das palästinensische Mandatsgebiet einzubeziehen, s. 9. Kapitel 2.

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gründliche hydrologische Untersuchungen gestützt waren; diese Pläne sind vornehmlich als technische und politische Alternativen zu sehen2. Eine Alternative drängte sich früh i n kruder Form auf: die zionistische Seite wollte das Jordanwasser i n den Negev leiten; die jordanische Seite wollte es i m Jordantal nutzen; für beide Vorhaben konnte das Wasser nur aus dem Jordan genommen werden; für beide Vorhaben reicht aber das Jordanwasser nicht. Erst der Lowdermilk-Plan 1944 glaubte eine Synthese beider Vorhaben gefunden zu haben, und i n der Folgezeit bemühten sich die Pläne u m einen Ausgleich. Ein solcher Ausgleich wäre i m Rahmen der zionistischen Maximalvorstellungen leicht möglich: wenn es gelänge, die Wasser des L i t a n i i m Libanon einzubeziehen. I n der Tat führt der L i t a n i Wasservorräte ungenutzt ins Meer; ob sie sich sinnvoll i m Libanon oder auch nur i m Nachbarland Syrien und eventuell i n Jordanien nutzen lassen, ist strittig. Der Hays-Plan 1948 und der CottonPlan 1954 wollten daher einen Teil des Litani-Wassers i n das Jordansystem einführen; der Libanon sollte durch Elektrizität entschädigt werden. Der Libanon war zu dieser Lösung zu keiner Zeit bereit. Die zahlreichen Pläne sind hier nicht darzustellen, da sie vornehmlich i m Technischen differieren. A m instruktivsten sind die Versuche zu einer arabisch-israelischen Gesamtplanung, wie sie i m Rahmen des JohnstonPlans weitgehend erreicht wurde. Der Johnston-Plan bezeichnet die i m Rahmen der Mission Johnston von 1953 - 1956 geführten Verhandlungen und Versuche, die dem arabischisraelischen Konflikt zugrundeliegenden Ursachen auszuräumen, also das Flüchtlingsproblem. Durch Bewässerung und Elektrifizierung sollten am Jarmuk und i m Jordantal 200 000 palästinensische Flüchtlinge angesiedelt werden. Die erforderlichen Untersuchungen wurden sowohl von den USA wie von der UNRWA vorangetrieben; die USA waren zu einer großzügigen Finanzierung bereit, falls gleichzeitig die Flüchtlinge angesiedelt würden. Bei den Versuchen, einen arabisch-israelischen Gesamtplan auszubauen, konzentrierten sich die beiderseitigen Vorstellungen vor allem u m folgende Punkte: — die Zuteilungsquoten arabischen Staaten;

des gesamten Wassers zwischen Israel und den

— der israelische Plan der Ableitung und Nutzung des Jordanwassers außerhalb des Einzugsgebietes, also i m Negev; die arabische Seite stellte zunächst den Grundsatz auf, daß das Wasser eines Flußsystems nur innerhalb seines Einzugsgebietes (watershed oder catchment area) verwendet 2 Technische Kurzdarstellung aller Pläne bei Doherty; stellen.

dort auch Fund-

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werden dürfe. I m Unified-Plan einigten sich beide Seiten informell über das abgeschwächte Prinzip des Vorrangs für das Einzugsgebiet 3 ; — die Lage des Staubeckens. Alle rationelle Nutzung des Jordan- und Jarmukwassers fordert Staumöglichkeiten, da die Hauptwassermassen während der Hegenzeit flutartig anfallen. Das natürliche Wasserreservoir ist der Tiberiassee. Aber weder akzeptierten die Araber, daß das Hauptwasserreservoir auf israelischem Gebiet lag, noch wünschte Israel eine zu weitreichende Überwachung des Tiberiassees. Die weiteren Untersuchungen fanden dann Staumöglichkeiten des Jarmuk i m arabischen Gebiet bei Maqarin und bei Adasiya. Für Israel hätten sich damit dieselben Probleme gestellt, wie vorher für die Araber. Die Kompromißpläne sahen daher die Stauung i m Tiberiassee und bei Maqarin vor. Auch Staudämme für den Hasbani i m Südlibanon wurden erwogen; — die Überwachung. Schon Lowdermilk hatte eine gemeinsame israelisch-transjordanische Organisation nach A r t der Tennessee Valley A u thority vorgeschlagen. Eine solche gemeinsame Organisation, wie sie zur Nutzung der Wasserkräfte auch zwischen anderen Staaten bestehen, setzt jedoch eine hohe Bereitschaft zur Zusammenarbeit voraus, an der es fehlte. Auch i m Technischen differierten beide Seiten: Israel wollte eine gemeinsame Kommission nach A r t internationaler Flußkommissionen, um die Araber zur Zusammenarbeit und damit zur Quasi-Anerkennung zu zwingen; die Araber wollten hiermit eine internationale Organisation betrauen, u m den direkten Kontakt m i t Israel zu vermeiden. Planungstechnischer Ausgangspunkt war der Main-Plan. Der MainPlan vereinigte frühere Pläne, verwertete deren Unterlagen und vereinigte sie zu einem gemeinsamen Plan m i t bestmöglicher Verteilung der Wasservorräte. Er hielt sich nicht an die Staatsgrenzen, da er innerhalb der Länder isolierte Wassernutzung nicht für optimal ansah. Von früheren Plänen übernahm er das Prinzip, daß Bewässerung durch Schwerkraft nur innerhalb der Wasserscheide möglich sei; er erkannte jedoch an, daß ein Anliegerstaat seinen Anteil anderswo einsetzen kann. Sollte jedoch alles bebaubare Land i m Stromgebiet des Jordan bebaut und bewässert werden (Hula-Gebiet, Galiläa, beiderseits des Ghor), dann müßte die gesamte verfügbare Wassermenge innerhalb dieses Gebietes genutzt werden. Der Main-Plan provozierte einen israelischen (CottonPlan) und einen arabischen, vom Technischen Ausschuß der Arabischen Liga 1954 ausgearbeiteten Gegenvorschlag; dazu trat noch ein jordanischer Vorschlag (Baher-Harza-Plan). Alle diese Pläne wurden zum Unified Plan 1955 kombiniert und beiden Seiten vorgelegt. 3 Prinzip im McDonald-Plan von 1951 formuliert: „the waters in a catchment area should not be divided outside that area unless the requirements of all those . . . within the area have been satisfied" (principle of watershed priority).

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Der Unified Plan 1955 ging von der Grundkonzeption aus, daß die Wasserbedürfnisse des Einzugsgebietes des Jordansystems den Vorrang hätten, ehe eine Ableitung außerhalb des Einzugsgebietes zulässig sein sollte. Diese Bedürfnisse sollten durch die Zuteilung von Quoten abgegolten werden; danach könnte Israel seine Wasserquote i n den Negev ableiten. Ein Gremium beiderseitig akzeptierter Wasser-Ingenieure sollte die Anteilszuweisung überwachen. Wasser sollte sowohl i m Tiberiassee als auch am oberen Jarmuk bei Maqarin gestaut werden. M i t dem Unified Plan wurde die bisher weiteste Annäherung erzielt. Dieses Maß an Übereinstimmung mag man ermessen, wenn man das arabische Einverständnis bedenkt, daß Israel seinen Wasseranteil i m Negev einsetzen konnte. Es blieben zwei Gegensätze: — Die Zuteilungsquote: Die arabischen Quoten waren garantiert, die israelische Quote subsidiär, denn die Quoten der Araber waren zahlenmäßig fixiert, während Israel bekommen sollte, was nach Zuweisung an die arabischen Staaten übrig blieb. Die israelische Quote war also vom Hegenfall und vom Ablauf abhängig; sie wurde auf 400 mcm ( = 40°/o) geschätzt. Israel verlangte 550 mcm, wovon es 400 mcm für den Negev verwenden wollte. Jordanien sollte 480 mcm, Syrien 132 mcm und der Libanon 35 mcm erhalten. — Die Überwachung blieb ungeklärt. Israel wünschte keine internationale Überwachung, sondern Zusammenarbeit der beteiligten Staaten und akzeptierte höchstens den „Agreed impartial body of water engineers". Die israelischen Vorbehalte waren Teil der Politik, durch Zusammenarbeit und „direkte Verhandlungen" die Anerkennung zu erzwingen. Umgekehrt wünschten die Araber eine starke internationale Überwachung, um so eine Zusammenarbeit, die als völkerrechtliche A n erkennung interpretiert werden könnte, zu vermeiden. Auch hier wurde eine A r t von Einigung erzielt: man einigte sich auf eine gemischte Kommission auf technischer Ebene mit Vertretern Israels, Syriens und Jordaniens nebst einem neutralen Vorsitzenden. Ein zusätzliches Problem warf die Veränderung des Grundwasserspiegels im Jordantal durch die Ableitung des Jordanwassers außerhalb des Flußsystems auf. Denn wenn das Jordanwasser auch im Toten Meer nicht mehr nutzbar ist, so hat es doch als hydraulisches Gewicht seinen Einfluß auf das Grundwasser. Experten haben berechnet, daß die Ableitung des Jordanwassers den Spiegel des Toten Meeres erheblich senken würde; dies würde die hydrographische Situation des gesamten Gebietes ändern. U m dem entgegenzuwirken, sah bereits der Lowdermilkplan von 1944 einen Kanal vom Mittelmeer ins Tote Meer vor, wodurch der Ausfall des Jordanwassers durch Salzwasser ausgeglichen würde. Infolge des Höhenunterschiedes von 400 m würde das Seewasser durch die Schwerkraft befördert und erlaubte noch eine Elektrizitätserzeugung. Schon Herzl hatte eine solche Vision gehabt. Die späteren Pläne nahmen den Gedanken auf; außerdem sahen sie pipelines vom Toten Meer nach Aschdot und Elat für den Transport von Mineralien vor.

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Alle Beobachter sind sich über den außergewöhnlichen Erfolg der Johnston-Mission einig. Die beiden verbliebenen Differenzen waren schließlich nur technischer A r t und hätten i n weiteren Verhandlungen durch Kompromisse überwunden werden können. Die arabische Seite hatte große Zugeständnisse gemacht: die Existenz Israels war hingenommen und das Prinzip der Ansiedlung von Flüchtlingen in den Aufnahmeländern akzeptiert worden. Selbst der Ableitung eines Teils des Jordanwassers in den Negev und damit der jüdischen Negevbesiedlung hatte die arabische Seite nicht widersprochen. Dies alles war zwar nur auf den Ebenen des Technischen und partiell auch des Politischen Ausschusses der Arabischen Liga geschehen, aber eben derselben Liga, die das Hauptinstrument des arabischen Boykotts gegen Israel war. Die arabischen Regierungen waren in den Verhandlungen i m Technischen Ausschuß durch ihre Experten vertreten; Ägypten hatte die Führung. Jedenfalls war weder vorher noch seither auf irgendeiner sonstigen Ebene eine weitergehende Annäherung erreicht worden. Die politisch-militärische Lage ließ jedoch diesen hoffnungsvollsten aller Ansätze scheitern. Die Grenzzwischenfälle m i t Syrien, Jordanien und Ägypten nahmen immer mehr den Charakter von Grenzkriegen an: syrische Truppen besetzten Teile der entmilitarisierten Zone und wurden zurückgeschlagen; vom Gazastreifen aus operierten die ägyptisch ausgebildeten Fedajin; an allen Fronten schritt Israel zu harten Vergeltungsschlägen; an der Negev-Sinaigrenze besetzte Israel El-Audscha/Nitzana. Auch das politische Verhältnis der Araber zu den Westmächten verschlechterte sich wegen des Streites u m den Bagdad-Pakt. I m Oktober 1955 verwies der Politische Ausschuß der Arabischen Liga den Unified Plan an den Technischen Ausschuß zurück, was allgemein als Ende der Verhandlungen angesehen wurde. Nach dem Ende der gemeinsamen Bemühungen verfolgten beide Seiten ihre Pläne einseitig weiter. Israel, das während der ganzen Verhandlungen die Ableitung Tiberiassee—Negev tatkräftig weiter betrieben hatte, arbeitete auf der Basis der Lowdermilk-Hay'schen Pläne, die zum A l l Israel Plan und zum Sieben- und Zehn-Jahresplan und zuletzt zum National Water Plan weiterentwickelt wurden. Da die in der entmilitarisierten Zone vorgesehene Ableitung bei Benot Yaacov aus politischen Gründen unmöglich war, setzte Israel die Ableitung am Nordwestende des Tiberiassees bei Esched K i n r o t an. Das Gebiet lag außerhalb der entmilitarisierten Zone: die technischen Daten sind allerdings ungünstiger, da das Wasser von —212 m auf + 40 m hochgepumpt werden muß 4 . Von da w i r d das Wasser i n ein Staubecken bei Bet Netoja i m Unteren Galiläa geleitet und weiter nach Süden in den Negev. Vorläufige End4 Die übrigen technischen Details (Umleitung salzhaltiger Quellen; Zusatzkanal Tiberiassee-Bet Schean-Gebiet; Wasser der Hula-Entwässerung; Wasserquoten; Speicherprobleme s. Doherty.

27 Wagner

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punkte sind Mitzpe Ramon und Arad i m Negev 5 . Zunächst sollten ungefähr 180 mcm Wasser in den Negev gepumpt werden, später 320 mcm pro Jahr. Jordanien hatte m i t Syrien bereits 1953 ein Abkommen zur gemeinsamen Nutzung des Jarmukwassers geschlossen®. Danach sollte das Wasser des Jarmuk gestaut, sollte Elektrizität erzeugt und das Wasser zur Bewässerung des Jordantals verwendet werden. Die Realisierung hätte praktisch alles Wasser des Jarmuks auf jordanisches Gebiet abgeleitet. Die Finanzierung des Staudamms zerschlug sich. Stattdessen wurde ein Ableitungskanal für die Bewässerung des Ghorgebietes gebaut (East Ghor Canal), der das Wasser bei Adasiya kurz vor Übertritt auf israelisches Gebiet und vor Einfluß i n den Jordan abfing. Wesentlich brisanter wurde das Projekt der Arab Headwater Diversion. U m israelische Pläne zu durchkreuzen, sollten die Quellflüsse i m Libanon und i n Syrien vor Übertritt nach Israel abgeleitet werden. So könnte etwa das Hasbani-Wasser i n den Libanon oder Hasbani und Banias durch Syrien bis zum Jarmuk geleitet werden. Die Ableitung wäre technisch schwierig, da das Wasser auf syrische Höhen geleitet werden muß, und das Gestein porös ist. Israel hat die Arbeiten durch militärische Aktionen unterbunden. Auch i n diesem Streit gibt das Völkerrecht keine klare Richtlinie. Das beginnt m i t der überkommenen Rechtslage. Die Rechtsverhältnisse am Jordan und am Tiberiassee wurden während der Mandatszeit von den beiden Mandatsmächten Großbritannien und Frankreich für die beiden Mandatsgebiete Palästina, Libanon, Syrien und Trans jordanien i n einer Serie von Abkommen niedergelegt. I n diesen Abkommen wurden gewisse Nutzungs- und Zugangsrechte der Anlieger vage und liberal geregelt. Die Rechte betrafen Bewässerung nach damaligen Vorstellungen, Elektrizitätserzeugung, Bau von Staudämmen, Fischerei und Befahren. Die eigenartige Regelung dieses Komplexes von Abkommen und Erklärungen läßt sich so zusammenfassen: Einerseits verlief die internationale Grenze zwischen palästinensischem Mandatsgebiet und Syrien nicht wie sonst bei Grenzgewässern üblich, i n der Mitte von Fluß und See, sondern der gesamte Oberlauf und der Tiberiassee waren vollständiges Hoheitsgebiet Palästinas. Die Grenze verlief also am jeweiligen Ostufer 7 . Die Wassernutzungsrechte der syrischen Bewohner galten jedoch ohne Rücksicht auf die politischen Grenzen weiter. Danach konnten die syrischen Anwohner auf dem Tiberiassee und dem Hulasee fischen und 5

Stand 1969: Atlas, X I I 2 B. UNTS, Bd. 184, S. 24 ff. Während die Grenze zu Trans jordanien wie sonst üblich über die Mittellinie von Jordan, Jarmuk, Totem Meer und Wadi Araba lief. 6

7

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das Wasser nutzen. Die palästinensische Wassernutzung schloß die Elektrizitätserzeugung ein, durfte aber die syrischen Nutzungsrechte nicht beeinträchtigen 8 . Da an derartige Veränderungen und Nutzungen, wie sie nun beabsichtigt waren, damals nicht gedacht war, wäre es außerordentlich kompliziert, aus diesen überkommenen Abmachungen Richtlinien für die beabsichtigte Wassernutzung gewinnen zu wollen. Syrien und auch der Vorsitzende der Mac beriefen sich auf das A b kommen von 19269, wie überhaupt die arabischen Staaten die von den Mandatsmächten für die Mandatsgebiete abgeschlosssenen Abkommen als Nachfolgestaaten übernommen haben. Israel dagegen hat stets erklärt, daß es die von Großbritannien als Mandatsmacht für Palästina geschlossenen Abkommen nicht übernehme 10 . Außerdem macht Israel geltend, die Abkommen der Mandatszeit, insbesondere das Abkommen von 1926, seien von der Sache her nicht anwendbar, da sie ausdrücklich, wie aus dem Titel ersichtlich, von „gutnachbarlichen Beziehungen" ausgingen. Auch für die Nutzung des Wassers gibt das allgemeine Völkerrecht keine klare Entscheidung; das bisherige Völkerrecht hat zwar die Schifffahrt geregelt, die Ausnutzung der Wasserkraft ist erst neuerdings ins Blickfeld geraten. Zur Terminologie:

Für die Schiffahrt sind Flüsse internationale

Flüsse, so-

weit sie bis zum Meere hin von Natur aus schiffbar sind und in ihrem schiffbaren Teil die Grenze zwischen zwei Staaten bilden oder das Gebiet mehrerer Staaten durchfließen. Soweit ein besonderes Regime vereinbart ist, spricht man von internationalisierten Flüssen. I n diesem Sinne wären Jordan und Jarmuk zwar Grenzflüsse, aber keine internationalen Flüsse. I m Sinne des Internationalen Wasserrechts spricht man jedoch allgemein von einem internationalen Gewässer, soweit wegen dessen Bedeutung überhaupt völkerrechtliche Normen über seine Nutzung zur Anwendung gelangen; in diesem Sinne sind Jordan und Jarmuk internationale Gewässer.

Die früheren Nutzungsmöglichkeiten gaben wenig Veranlassung zu einer Regelung, da sie den Wasserlauf meist nicht i n seiner Substanz beeinträchtigten. Soweit ein Wasserlauf auf dem Territorium eines Staates lag, unterfiel er dessen Gebietshoheit, und der Staat konnte ihn seinen Wünschen entsprechend nutzen. Daraus und aus den allgemeinen 8 s. etwa das Agreement to Facilitate Good Neighbourly Relations between Palestine and Syria and Lebanon, vom 2. Februar 1926, L N T S Bd. 56, S. 81. 9 Nachweise: A J Bd. 50 (1956), S. 91 f. 10 Für die Kontroverse Frage der Nachfolge s. WBVR, „Staatensukzession" ; Dahm, Bd. 1 § 19. Für Israel s. Nachweise, auch über die entsprechende Diskussion bei Hirsch, S. 81; Sh. Rosenne, Israel et les traités internationaux de la Palestine, Journal du droit international Bd. 77 (1950), S. 1140; A. Leriche, Aspects formels de la dévolution d'obligations résultants de traités dans le cas d'un nouvel Etat (cas de quelques Etats du Moyen Orient) Revue de Droit International pour le Moyen Orient, Bd. 2 (1953), S. 105.

27*

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6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: Von Krieg zu Krieg

völkerrechtlichen Vorstellungen über die absolute Gebietshoheit konnte die wasserrechtliche Territorialtheorie entstehen, wonach jeder Staat frei über die auf seinem Gebiet befindlichen Gewässer und Gewässerteile verfügen konnte. Solange die technischen Nutzungsmöglichkeiten begrenzt waren, w a r diese Territorialtheorie vertretbar. Heute sind die Nutzungsmöglichkeiten außerordentlich gestiegen und reichen bis zum vollständigen Verbrauch, etwa durch Ableitung und Bewässerung, durch Verbrauch als Industriewasser, oder bis zur völligen Unbrauchbarmachung durch Abwässer, Ionisierung, Erhitzung. Der Territorialtheorie wurde daher die Theorie der Gebietsintegrität gegenübergestellt; diese inspiriert sich am innerstaatlichen nachbarrechtlichen Wasserrecht und untersagt dem Staate wesentliche Änderungen i n den Abflußverhältnissen oder i n der Beschaffenheit des Gewässers zum Schaden eines anderen Staates ohne dessen Zustimmung. Jede Theorie entspräche für sich genommen einer bestimmten Interessenlage: die Territorialtheorie begünstigt den Oberliegerstaat ohne Rücksicht auf die Interessen der Unterliegerstaaten; die Theorie der Gebietsintegrität gäbe i n ihrer ungemilderten Form dem Unterliegerstaat ein Vetorecht gegenüber allen Maßnahmen, die der Oberliegerstaat ergreifen möchte. Hier muß eine vermittelnde Lösung gefunden werden; die International Law Association hat Vorschläge entwickelt (s. u.). Sucht man aber i m geltenden Völkerrecht nach einer Norm, die zwischen den gezeigten Lösungsmöglichkeiten entscheidet, so zeigt sich das verwirrende Bild, daß nahezu jeder Fluß und jedes Flußsystem ein Sonderfall ist und sich kaum eine allgemeine Norm abstrahieren läßt; hierzu muß auf das angegebene Schrifttum verwiesen werden. Dagegen bietet das Völkerrecht Institutionen an, um zu erträglichen Lösungen zu gelangen. Sie laufen darauf hinaus, daß die Wassernutzung heute, wie in vielen Bereichen, nicht mehr i m staatlichen Rahmen befriedigend gelöst werden kann. Ein Flußsystem muß als Einheit gesehen und genutzt werden. Eine solche gemeinsame Nutzung setzt die Institutionalisierung der Zusammenarbeit i n gemeinsamen Gremien voraus, wie sie sich etwa als mehrstaatliche Flußkommissionen und zweistaatlich betriebene Hafenund Flugplatzanlagen entwickelt haben 1 1 . Hierbei muß auch ein Ausgleich i n Form von Wasserquoten gefunden werden. Eine solche gemeinsame Nutzung nach A r t der Tennessee Valley A u t h o r i t y hatte Lowderm i l k 1944 vorgeschlagen und die späteren auf eine gemeinsame Nutzung angelegten Pläne, vor allem der Unified Plan, hatten diese Prinzipien übernommen, wenn auch i n abgeschwächter Form. Da diese Pläne scheiterten, stellt sich wieder die Frage nach der Rechtslage. Der modernen Entwicklung i m Völkerrecht dürfte dabei die Resolution der International 11

WBVR, „Verwaltungsgemeinschaften, internationale"; ff. T. Adams, Les établissements publics internationaux (Paris 1957).

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Law Association 12 über das i m Rahmen des staatlichen Bereichs Zulässige entsprechen 13 . Die Resolution spricht sich zunächst gegen die Territorialtheorie aus. Beteiligte sind auch nicht mehr nur die Flußanliegerstaaten (riparian states), sondern alle Staaten des gesamten Einzugsgebietes; Art. 2 spricht daher von einem „International drainage basin" und Art. 3 i n Anschluß an das amerikanische Recht von den „basin states". Diese Ausdehnung des Kreises der Berechtigten ist richtig, da ihr Gebiet auch zur Sammlung des Wassers i n das Flußsystem beiträgt. Alle „basin states" haben Anspruch auf eine „angemessene Zuweisung" und sollen sich i n diesem Rahmen halten 1 4 . Die Resolution unterscheidet nicht zwischen der Nutzung innerhalb und außerhalb des Einzugsgebietes, sondern spricht nur von dem „equitable apportionment". Das muß wohl so verstanden werden, daß die Zuteilung eine reine Berechnungsgröße für die Quote ist und der Staat seine Quote auch außerhalb des Einzugsgebietes nutzen kann. So auch Revue égyptienne de droit international, Bd. 22 (1966), S. 237: "reasonable to assume that 'equitable apportionment' is based on land within the watershed only"; jedoch: 'Once the water is apportioned each state is free to utilize its share of the water wherever it seas fit within its boundaries", wobei zu sagen ist, daß eine außerhalb des Einzugsgebietes verwendete Quote u. U. anders berechnet wird, da die Ableitung den gemeinsamen Grundwasserspiegel und den Luftfeuchtigkeitsgehalt beeinflussen kann.

Auch soweit keine Einigung zustandekommt, hat das moderne Völkerrecht einige Vorstellungen entwickelt. Der Staat, der derartige den Fluß erheblich beeinträchtigende Vorhaben ausführen w i l l , muß m i t den übrigen betroffenen Staaten Fühlung aufnehmen. Kommt es zu keiner einvernehmlichen oder schiedsrichterlichen Regelung, so soll der Staat, der vergeblich seine Bereitschaft zu einer schiedsrichterlichen Regelung angeboten hat, auch ohne Zustimmung der übrigen Staaten das Projekt i n Angriff nehmen dürfen. Er bleibt weiter zur Rücksichtnahme auf die übrigen Staaten verpflichtet, aber zunächst obliegt ihm die Beurteilung dessen, was diese Rücksicht gebietet. Israel glaubt, sich i m Rahmen des Völkerrechts zu halten. Da keine Einigung zustandekam, könne es einseitig handeln. Die entsprechende Rücksicht übe es insoweit aus, als es die Wasserableitung nicht über 320 mcm zu erhöhen beabsichtige und damit unter der i m Unified Plan vorgesehenen Quote von 400 mcm bleibe. 12 Zur Bedeutung dieser Institution s. WBVR, „International Law Association". 13 Helsinki Rules on the uses of the Waters of International Rivers, adopted by the 52nd Conference of the International Law Association, Helsinki, 20. August 1966; dem Text ist eine Kommentierung nach Artikeln beigefügt. 14 Art. 4: „entitled to a reasonable and equitable share in the beneficial uses"; Art. 5 gibt Kriterien für die Berechnung.

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6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: Von Krieg zu Krieg Fünfundzwanzigstes

Kapitel

D e r S i n a i - K r i e g 1956 Schrifttum: vor 21. Kapitel; allgemein zur Rechtslage des Suezkanals: vor 22. Kapitel 2. Atiyah, Parshan, Watt, Vernant, Die Mittelostkrise in arabischer, israelischer, aspects juridiques fondamentaux de la question de Suèze, Révue générale de Droit International Public, Bd. 62 (1958); Huang , Some International and Legai Aspects of the Suez Canal Question, 51 (1957); Wright , Intervention 1956, 51 AJ (1957), S. 257 ff. A. Nutting , No end of a lesson. The Story of Suez (London 1967) ; T. Robertson, Crisis: The Inside Story of the Suez Conspiracy (London 1965); ff. Finer, Dulles over Suez: The Theory and Practice of his Diplomacy (Chicago 1964); A. Eden, Full Circle (London 1960); E. B. Childers, The Road to Suez, A Study of Western-Arab Relations (London 1962); E. O'Ballance, The Sinai Campaign of 1956 (New York 1959); A. Lev, With Plowshare and Sword (New York 1961); A. Barker, Suez: The Seven Day War (London 1964); P. Johnson, The Suez War (London 1957) ; M. Day an, Diary of the Sinai Campaign (New York 1965) ; R. Henriques, One Hundred Hours to Suez (London 1957); A. H. Hourani, The Middle East and the Crisis of 1956, in: St. Antony's Papers No. 4, Middle Eastern Affairs No. 1 (London 1958) ; L. D. Epstein, British Politics in the Suez Crisis (London 1964); S. L. A. Marshall, Sinai Victory (New York 1958); Fayez Abdullah Sayegh, Turmoil in the Middle East. Anglo-French-Israeli Aggression in Egypt; ders., Notes on the Suez Canal Controversy (beide New York, Arab Information Center 1956). Zur XJNEF: E. Lauterpacht, The UNEF: Basic Documents. A Collection (London 1960); W. R. Frye , A United Nations Peace Force (New York 1957); A. L. Burns and N. Heathcote, Peacekeeping by U N Forces: From Suez to the Congo (New York 1963); Ch. Chaumont, La situation juridique des Etats membres à l'égard de la force d'urgence des Nations Unies, AFDJ, 1958, S. 399; L. L. Goodrich and G. E. Rosner, The UNEF, International Organization Bd. 11 (1957); wieder abgedruckt in: J. Larus (Hrsg.), From Collective Security to Preventive Diplomacy. Readings in International Organization and the Maintenance of Peace (London 1965); P. Poirier, La force internationale d'urgence (Paris 1962); G. Rosner, The UNEF (London 1963); D. W. Bowett , United Nations Forces (London 1964). Allgemein zur Tätigkeit der V N : U N Y B 1956. D i e Schritte, die z u r britisch-französisch-israelischen I n v a s i o n 1956 g e f ü h r t haben, scheinen uns heute k l a r zu sein; die zugrundeliegende M e n t a l i t ä t der britischen u n d französischen P o l i t i k e r u n d i h r e F e h l e i n schätzung der L a g e i m arabischen R a u m u n d i n der W e l t p o l i t i k b l e i b t schwer verständlich. I m Ergebnis m u ß die I n v a s i o n als ungeheure F e h l l e i s t u n g der d r e i Invasoren angesehen w e r d e n . G r o ß b r i t a n n i e n v e r l o r m i t einem Schlage seinen i m m e r noch bedeutenden Einfluß i m V o r d e r e n O r i e n t . F r a n k r e i c h büßte seinen Einfluß zeitweise e i n u n d g e w a n n i h n n u r langsam, m i t h o h e n K o s t e n u n d bedenklichen M e t h o d e n zurück. L e d i g l i c h Israel g e w a n n m i l i t ä r i s c h e V o r t e i l e : die D u r c h f a h r t durch die

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Enge von Tiran und infolge der UNEF zehn Jahre Ruhe an seiner Westgrenze. Aber die Assoziierung m i t dem letzten großen imperialistischen Abenteuer europäischer Staaten hat i n arabischer Sicht zur Gewißheit geführt, daß Israel die Speerspitze eines westlichen, gegen die Araber gerichteten Imperialismus sei. Schließlich gelang der Sowjetunion i n der Suezaffaire der Durchbruch in den arabischen Raum, und sie erscheint seither als der Beschützer des arabischen Nationalismus. Es scheint heute auch festzustehen, daß die Nationalisierung des Suezkanals nur auslösendes Moment war. Allen Beteiligten einschließlich der USA ging es u m Nasser und damit um die arabische Emanzipation von westlicher Vorherrschaft. Jeder hatte andere Gründe: Großbritannien hatte sich nach 1945 mehrfach um ein gutes Verhältnis zu den arabischen Staaten bemüht. Aber zum einen war Großbritannien i n arabischer Sicht m i t dem Zionismus verbunden und für das Zustandekommen des israelischen Staates und für die arabische Niederlage von 1948 verantwortlich. Zum anderen schätzte Großbritannien das arabische Streben nach völliger Unabhängigkeit falsch ein: es glaubte noch an die Möglichkeit irgendeiner Form von britischer Oberherrschaft i m arabischen Raum, etwa nach jordanischem Muster. Die Aufgabe des Suezkanals schien ihm lange Zeit undenkbar. Deshalb dachte Großbritannien weiter i n vergangenen politisch-militärischen Kategorien und suchte Basen, Stützpunkte, Garnisonen, britische Offiziere und Berater zu halten. Die Geschichte verlief i n den einzelnen Gebieten verschieden, aber die gemeinsame heutige Erkenntnis ist: hierfür war die Zeit vorbei 1 . Die Araber akzeptierten keine Verbrämung der britischen Oberherrschaft mehr und verlangten die volle Unabhängigkeit. Ebenso scheiterten alle Versuche, die arabischen Staaten i n Bündnissysteme einzubeziehen. Für Großbritannien und die Araber gab es keine gemeinsame Bedrohung: Großbritannien fürchtete die Sowjetunion, die Araber Großbritannien. Auch als Großbritannien nach langen Verhandlungen 1954 seine Streitkräfte aus der Kanalzone abzog und Ägypten die alleinige Verantwortung für die Verteidigung des Kanals übertrug, besserte sich das Verhältnis zu Großbritannien nicht. Die britischen Versuche um den Bagdadpakt mußten Großbritannien in schärfsten Konflikt m i t Nasser bringen. Der letzte Schlag war die Entlassung Glubbs als Oberkommandierender der jordanischen Armee. Auch hierin sahen Glubb und die britische Regierung vor allem den Einfluß Nassers. Ein besonderer Grund muß i n der Persönlichkeit Edens gesehen werden. Eden hatte bis 1956 auf internationaler Ebene außerordentlich erfolgreich gearbeitet (z. B. Zustandebringen der Indochinakonferenz). Er hatte den anglo-ägyptischen Vertrag geschlossen und geglaubt, damit Ägypten große Zugeständnisse gemacht 1

Gute Darstellung der Mentalität der Suez-Gruppe in der britischen Politik

bei Epstein.

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

zu haben. Er erwartete nun seinerseits ägyptisches Verständnis. Er verstand nicht mehr die ägyptische Führung, die einerseits nichts außer der vollen Unabhängigkeit — und diese nicht als „Geschenk", sondern als selbstverständliches Hecht — verlangte. Dazu kam die für Eden bedeutsame Prägung durch Vorkriegserfahrung. 1938 war Eden aus Protest gegen die Beschwichtigungspolitik Chamberlains zurückgetreten. Er sah i n der Hinnahme ägyptischen Verhaltens eine neue Beschwichtigungspolitik; nach der Nationalisierung verglich er Nasser m i t Hitler 2 . A l l e Beobachter sind der Ansicht, daß Edens Kräfte und Einsichtsfähigkeiten nachgelassen hatten. Frankreich war i n den Algerienfeldzug verstrickt, und Nasser unterstützte die Aufständischen. Frankreich hatte sich die Vorstellung suggeriert, daß lediglich die ägyptische Propaganda und Unterstützung den Aufstand unterhalte. Werde erst Nasser gestürzt, sei der Aufstand bald zu Ende. Falscher konnte ein nationaler Befreiungskampf kaum eingeschätzt werden; aber genau dieser Fehler ist auch den USA i n Indochina unterlaufen. Die USA, und das bedeutete i n diesem Falle vornehmlich Dulles, waren über Ägypten verärgert. Die ägyptische Anerkennung Rotchinas und der Waffenkauf i m Ostblock 19553 hatten Dulles veranlaßt, die mehr oder weniger zugesagte Assuanhilf e zurückzuziehen. Diese Brüskierung war für Nasser untragbar. Aus heutiger Sicht erscheint einsichtig, daß er m i t einem Gegenschlag reagieren mußte. So verstaatlichte er die Suez-Kanalgesellschaft. Israel hatte mehrere Ziele. Seine militärischen Ziele waren die Freikämpfung der Durchfahrt durch die Enge von Tiran und die Sicherung seiner Grenzen i m Gaza-Streifen. Die Frage der Durchfahrt hatte es lange und systematisch angekündigt. 1955 hatte Ben Gurion erklärt, daß Israel noch ein Jahr zugestehe, bis eine diplomatische Lösung gefunden werde; danach werde es seine Ansprüche anders durchsetzen. A n der Westgrenze hatte sich das Verhältnis erheblich verschlechtert: Infiltrationen und Gegenschläge hatten seit 1955 ständig zugenommen. Das Waffenstillstandssystem war hier praktisch zusammengebrochen. Die von Ägypten ausgebildeten und vom Gaza-Streifen aus eingesetzten Fedaj i n verunsicherten das dicht besiedelte israelische Gebiet bis Tel A v i v . Israel hatte m i t schweren Gegenschlägen gegen den Gaza-Streifen reagiert. Auch an anderen Stellen war das Waffenstillstandssystem ineffizient geworden. A n der Grenze des Negev zum Sinai hatte Israel nach mehreren Zwischenfällen die entmilitarisierte Zone von El-Audscha besetzt 4 . 2 I m britischen Parlament fielen Worte über Nasser wie: "We ought to chase him like a pest officier would chase a rat", s. Epstein , S. 50. 3 Zu diesem geradezu weltgeschichtlichen Umschwung s. die Erklärung Nassers und die israelische Erklärung bei Hurewitz, Dok. 111 und 112. 4 Darstellung der Situation bei Bums (vor 21. Kapitel).

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Es w i r d heute kaum noch bezweifelt, daß der Angriff auf Ägypten durch die drei Invasoren militärisch und politisch abgestimmt war 5 . Frankreich und Israel hatten seit langem militärisch zusammengearbeitet; Frankreich hatte die israelische Armee aufgerüstet. Strittig ist hierzu lediglich noch, ob Frankreich damit seine Verpflichtungen aus der Dreimächte-Erklärung, die Waffenbalance zu halten, erfüllt oder gebrochen habe, d. h. ob die Aufrüstung vor oder nach oder gleichzeitig mit der ägyptischen Aufrüstung durch Ostblockwaffen erfolgt war. Großbritannien dagegen scheint erst i m letzten Augenblick eingeweiht worden zu sein. Waren die israelischen Gründe für den Angriff verständlich, so hatten Großbritannien und Frankreich keinen völkerrechtlich haltbaren Vorwand. Die Suezkanalgesellschaft war eine Gesellschaft nach ägyptischem Recht und unterstand ägyptischer Hoheitsgewalt. Es ist unstrittig, daß nach allgemeinem Völkerrecht Ägypten die Gesellschaft verstaatlichen konnte, zumal Entschädigung der Aktionäre angeboten worden war 6 . I m übrigen wäre die 100jährige Konzession der Gesellschaft ohnehin 1968 abgelaufen gewesen, Nasser beendete sie 12 Jahre früher. I n ägyptischer Sicht war die Suezkanalgesellschaft ein Teil des ausländischen Herrschaftssystems und damit eine Demonstration des fortdauernden Imperialismus. Aber auch die Europäer haben sie so betrachtet: Großbritannien war Gegner des Baues des Suezkanals, bis es 1882 Ägypten besetzte und sich vom Khedive die ägyptischen Anteile abtreten ließ; Frankreich betrachtete den Aktienerwerb als eine gegen sich gerichtete Politik. Großbritannien und Frankreich weigerten sich, die Nationalisierung der Suezkanalgesellschaft anzuerkennen. Sie machten geltend, Ägypten sei nicht in der Lage, den Kanal offenzuhalten. U m das zu beweisen, bewogen sie die Lotsen ihrer Staatsangehörigkeit, zu kündigen. Sie forderten eine internationale Behörde, die die freie Schiffahrt durch den Kanal gewährleiste; diese Freiheit dürfe nicht vom Willen eines Mannes abhängen. Außerdem sollte diese Behörde die Verwendung der Benutzungsgebühren bestimmen. Gegen diese Argumente kann leicht eingewandt werden: Die Schifffahrt war zu keiner Zeit nach der Nationalisierung gestört. Ägypten konnte genügend neue Lotsen anstellen und die Verwaltung effektiv gestalten. I m übrigen ist auch der Panamakanal von nur einer Macht abhängig. Das Argument der freien Schiffahrt betrifft auch nicht die Suezkanalgesellschaft, da Ägypten ohnehin den Suezkanal militärisch besetzt hielt. Hiergegen machten Großbritannien und Frankreich geltend, die Schiffahrt könne dann durch administrative Schikane gehindert werden. 5 6

Hierzu Nutting, S. 90 ff.; Childers.

WBVR, „Nationalisation"; „Konfiskation"; „Enteignung".

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Aber Ägypten hielt den Suezkanal seit 1949 für israelische Schiffe gesperrt, und weder die Kanalgesellschaft noch die britische Garnison, die bis 1954 die Kanalzone besetzt hielt, konnten dies verhindern. Eine internationale Behörde aber w a r für Nasser unannehmbar; die bloße Nationalisierung m i t dem Eigentumsübergang ohne Kontrolle (insbesondere auch der Verwendung der Benutzungsgebühren) hätte die Nationalisierung wirkungslos gemacht. Großbritannien und Frankreich verfolgten nun eine zweigleisige Polit i k : Sie versuchten i n internationalen Verhandlungen eine A r t internationale Verwaltung für den Kanal zu erreichen. Eine große Zahl von Staaten sollte gemeinsam eine gegen Ägypten gerichtete Front aufbauen, u m dieses Ziel zu erreichen. Gleichzeitig betrieben Großbritannien und Frankreich einen militärischen Aufmarsch i m Mittelmeer, der Ägypten zur Annahme ihrer Vorschläge zwingen sollte. I m August 1956 kam es i n London zu einer Konferenz der „Kanalbenutzer", d. h. der Vertragsstaaten der Konferenz von 1888 und der wichtigsten Staaten, die den Kanal benutzten. 18 Staaten nahmen teil. Sie erarbeiteten die Grundlage einer Internationalen Kanalverwaltung 7 , ein für Ägypten unannehmbarer Vorschlag. Praktisch wäre die Kanalverwaltung von den Westmächten übernommen worden. Eine politische Klausel hätte auch Israel freie Durchfahrt gewährt. A u f einer zweiten Konferenz von 22 Staaten i m September wurde eine sog. Vereinigung der Kanalbenutzer 8 , deren Befugnisse gegenüber dem ersten Vorschlag abgeschwächt waren, vorgeschlagen. Aus der Literatur ergibt sich der Eindruck, daß auf dieser Basis ein Ausgleich m i t Ägypten erreichbar gewesen wäre. Aber Großbritannien und Frankreich waren inzwischen zu einer militärischen Kraftprobe entschlossen; die Abstimmung m i t Israel w a r längst erfolgt. A m 29. Oktober griff Israel an, eroberte den Gazastreifen und drang i m Sinai vor. Die Kollusion m i t Großbritannien und Frankreich war durchsichtig: beide Mächte stellten ein gemeinsames auf 12 Std. befristetes U l t i m a t u m an Ägypten und Israel, die Feindseligkeiten einzustellen, ihre Truppen auf eine beiderseitige Linie des Suezkanals von 16 k m zurückzuziehen; außerdem sollte Ägypten die Landung britischer und französischer Truppen i n der Kanalzone gestatten 9 . Das U l t i m a t u m war sonderlich perfide, da es an beide Kampfseiten gerichtet w a r und von beiden den Rückzug auf eine Linie von 16 k m Entfernung forderte. Z u dieser Zeit standen die israelischen Streitkräfte noch an keiner Stelle am Kanal, sondern waren noch durchschnittlich 35 k m entfernt. Der beiderseitige 7 Sog. 18 nation oder 18 power proposals für ein International Suez Canal Board, s. etwa EA 11 (1956), S. 9191 ff. 8 Suez Canal Users Association, s. etwa EA 11 (1956), S. 9441 ff. 9 Text des Ultimatums: Nutting , S. 193.

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Rückzug bedeutete also für Ägypten den Rückzug über den Kanal, für Israel ein weiteres Vorrücken. Israel nahm das Ultimatum an; Ägypten lehnte erwartungsgemäß ab. A m folgenden Tag (am 1. November 1956) bombardierten britische Flugzeuge die ägyptischen Flughäfen; britische und französische Einheiten landeten. Die Verluste der Engländer und Franzosen waren gering; die Ägypter verloren ungefähr 1000 Mann an Soldaten und Zivilbevölkerung. Überlegt man, daß theoretisch noch die Dreimächteerklärung von 1950 galt, so hatten Großbritannien und Frankreich sich hierzu i n allen Stücken entgegengesetzt verhalten: sie hatten ohne die USA gehandelt, und sie hatten sich nicht gegen den Aggressor Israel, sondern gegen das angegriffene Ägypten gewandt. Der Sicherheitsrat versuchte, sofort zu handeln. Bereits am 30. Oktober 1956 wollten die Mitglieder i m Sicherheitsrat einen Beschluß über Feuereinstellung und Verzicht auf Gewaltanwendung fassen; Frankreich und Großbritannien legten Veto ein. Darauf überwies der Sicherheitsrat am 31. Oktober die Angelegenheit aufgrund der Uniting for Peace-Resolution an die Vollversammlung. Die Vollversammlung forderte am 1. November Feuereinstellung, die dann am 6. November befolgt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die britisch-französischen Truppen nur einen Teil der Kanalzone besetzen können. A m 2. November 1956 forderte die Vollversammlung gemäß der Uniting for Peace-Resolution die sofortige Feuereinstellung und den Rückzug auf die Demarkationslinien der Waffenstillstände von Rhodos. Dieser bei bloßer Lektüre des Wortlauts wenig bedeutsam erscheinende Beschluß war die Grundlage für die Politik der Vollversammlung während der folgenden vier Monate: Rückzug der drei Aggressoren, später Rückzug Israels hinter die Demarkationslinien unter Aufgabe des Gazastreifens und der Posten i n Scharm el Scheik. Die übrigen Großmächte, insbesondere die USA, schlossen sich dieser Politik an und zwangen Israel zum Rückzug. Die Uniting for Peace-Resolution war während des Koreafeldzugs 1950 gefaßt worden. Der Koreaeinsatz der V N war nur infolge eines Zufalls möglich gewesen: der sowjetische Vertreter im Sicherheitsrat hatte die Sitzungen aus Protest gegen die Nichtzulassung Rot chinas und der Anwesenheit Nationalchinas boykottiert. Er hatte einigen Grund zu der Annahme, daß damit der Sicherheitsrat beschlußunfähig sei. Die Mitglieder im Sicherheitsrat hatten sich jedoch zu der Ansicht bekannt, die Abwesenheit eines ständigen M i t glieds sei kein Blanko-Veto und hatten den Koreaeinsatz der V N beschlossen. U m den Koreaeinsatz fortführen zu können, faßte die Vollversammlung nach Rückkehr des sowjetischen Vertreters die Uniting for Peace-Resolution, wonach bei Friedensbedrohung und mangelnder Einstimmigkeit im Sicherheitsrat die Vollversammlung ihrerseits die entsprechenden Beschlüsse, und zwar als Empfehlungen, fassen könne. Die Überweisung der Angelegenheit nimmt der Sicherheitsrat als Verfahrensregelung (Art. 27 Abs. 2 SVN) vor und umgeht so die Vetomöglichkeiten. Die Rechtmäßigkeit der Resolution ist strittig; insbesondere die Sowjetunion hält sie für satzungswidrig.

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A m 4. November 1956 forderte die Vollversammlung gleichfalls auf der Grundlage der Uniting for Peace-Resolution den Generalsekretär auf, eine Nothilfetruppe aufzustellen. Dieser ebenfalls kurze Beschluß wurde die Grundlage der United Nations Emergency Force (UNEF). Die UNEF war keine Kampf macht; ihr Ziel war nicht die Bekämpfung der Truppen eines Angreifers. Sie sollte vielmehr die Feuereinstellung herbeiführen und überwachen; dazu sollte sie einvernehmlich m i t den beteiligten Mächten handeln 1 0 . Die UNEF ist eine der interessantesten, aber auch umstrittensten Erfolge der VN. M i t ihr haben die V N ihre größten Erfolge erzielt, und sie hat die V N später in ihre größten politischen, verfassungsmäßigen und finanziellen Krisen geführt. Die Vollversammlung kann keine bindenden Beschlüsse fassen und hat keine Sanktionsbefugnisse, um ihre Beschlüsse durchzusetzen; sie kann nur Empfehlungen erlassen. I h r Versuch, 1947 den Sicherheitsrat antizipatorisch zu befassen und zur Durchführung zu verpflichten, war gescheitert; i h r Versuch, eine Durchführungskommission zu schaffen, war nie sehr ernst genommen worden 1 1 . Dieses Mal wurde die Vollversammlung noch ingeniöser. Ihrem Mangel an Exekutivgewalt half sie auf zweierlei Weise ab: sie beauftragte den Generalsekretär und schuf sich Unterorgane (UNEF; Beratender Ausschuß; Kommandeur der UNEF), und sie beauftragte den Generalsekretär, i n Verhandlungen m i t den Beteiligten die Befolgung der Empfehlungen zu erreichen. Dies führte zu einer Reihe von Problemen: — Die Kompetenzverteilung innerhalb der UNEF ist kompliziert. Die Vollversammlung selbst hat i n einer Resolution vom 7. November 1956 gewisse Richtlinien über Aufstellung und Einsatz der UNEF gegeben. Die UNEF selbst unterstand der Aufsicht eines Beratenden Ausschusses, dessen Mitglieder die Vertreter Brasiliens, Kanadas, Ceylons, Kolumbiens, Indiens, Norwegens und Pakistans waren; Vorsitzender dieses Ausschusses war der Generalsekretär. Der Generalsekretär hat seinerseits die Hauptlast der Anweisungen und der Ausarbeitung des UNEF-Regimes getragen; er hat insbesondere die Abkommen m i t Ägypten ausgehandelt. Weitere Kompetenzen oblagen zwangsläufig dem Kommandeur 1 2 . Die UNEF selbst war dem Generalsekretär verantwortlich, der seinerseits die Beschlüsse der Vollversammlung ausführte. Die Einheiten wurden von zehn Ländern gestellt. 10 "With the consent of an Emergency Force to secure and supervise the cessation of hostilities." 11 s. 17. Kapitel 4 b. 12 Zum 1. Kommandeur wurde der damalige Leiter der UNTSO, Burns ernannt.

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— Strittig war die verfassungsrechtliche Lage 1 3 ; vor allem die Sowjetunion bestritt die Zulässigkeit. Dabei war nie die Gesamtkompetenz der V N überhaupt bestritten, aber die Sowjetunion hielt ausschließlich den Sicherheitsrat für zuständig; nur er könne i m Rahmen des V I I . Kapitels eine internationale Streitmacht schaffen. Dagegen interpretierten die Verteidiger der UNEF die SVN anders: keine Bestimmung der Satzung verbiete, daß die Vollversammlung eine Streitmacht aufstellte; Art. 22 SVN sehe ausdrücklich Unterorgane vor; ein solches Unterorgan könnte auch eine Streitmacht sein. Auch die Bestimmungen des V I I . Kapitels schlössen dies nicht aus. Zwar sei der Sicherheitsrat für die Aufstellung und Führung der bewaffneten Macht zuständig. Aus Art. 10, 11 und 14 der SVN ergebe sich jedoch eine Auffangkompetenz („residual responsability") für den Fall, daß der Sicherheitsrat infolge Vetos nicht handlungsfähig sei. Die Entwicklung liegt also auf der Linie, die bereits die Uniting for Peace-Resolution eingeschlagen hatte. Daß damit zumindest die von der Satzung vorgesehene Hegemonialstruktur geändert wird, wurde schon anläßlich der Uniting for Peace-Resolution bemerkt. Die Ausgaben für die UNEF belasteten die V N i n der Folgezeit erheblich. Die Sowjetunion zahlte nicht, da sie die UNEF für verfassungswidrig hielt; die arabischen Staaten zahlten nicht, da sie die Aggressoren für verantwortlich hielten. Es wurde ein Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes eingeholt, das die UNEF für zulässig hielt und i n Art. 17 Abs. 2 die Grundlage der Beitragspflicht sah. — Da die Vollversammlung keine bindenden Beschlüsse fassen kann, mithin keine Sanktionsgewalt hat, konnten die UNEF nur mit Zustimmung der „Gastländer" stationiert werden. Hierzu hat der Generalsekretär mit Ägypten ein Abkommen über das Statut der UNEF in Ägypten geschlossen. Das Statut orientierte sich an diplomatischen Vorbildern: die UNEF genoß eine A r t von Immunität und unterlag nicht der ägyptischen Gerichtsbarkeit. Aber ihre Anwesenheit überhaupt hing von der Zustimmung des Stationierungsstaates ab. Ägypten gab die Zustimmung, Israel verweigerte sie. Daher standen UNEF-Truppen nur auf ägyptischem Territorium. Der Generalsekretär hatte sich vergeblich bemüht, sie auch auf israelischer Seite zu plazieren. Und der Krieg von 1967 wurde schließlich durch die ägyptische Rücknahme der Genehmigung ausgelöst, der der Generalsekretär sofort nachkam. Die UNEF organisierte den Rückzug der Engländer und Franzosen aus der Kanalzone und der Israeli aus dem Sinaigebiet. Der große Streit entstand u m den Gazastreifen und um Scharm el Scheik. Israel hatte sich zunächst überhaupt geweigert, beide Gebiete zu verlassen; die Vollversammlung forderte immer drängender den Rückzug. Schließlich erklärte sich Israel zum Rückzug unter Bedingungen bereit und forderte 13

Hierzu etwa Rosner und Bowett.

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— für Gaza: eine nichtägyptische Zivilverwaltung unter der UNEF. — für Scharm el Scheik: eine sichere Garantie für die Durchfahrt (firm guarantees). Israel kämpfte mehrere Monate lang auf der diplomatischen Ebene. Es stand völlig isoliert: die USA nahmen eine äußerst harte Haltung ein; allen Appellen Ben Gurions gegenüber blieben Eisenhower und Dulles auf ihrer Linie und wiesen Bedingungen zurück. Israel war als Aggressor gebrandmarkt, und die allgemeine Ansicht war, daß Streitigkeiten nicht gewaltsam entschieden werden und nationale Vorteile nicht gewaltsam erlangt werden dürften. Israel habe eine Aggression begangen und sei von der V N getadelt worden; es halte fremdes Gebiet besetzt und dürfe keinerlei Bedingungen für den Rückzug setzen. I n der total unhaltbaren Stellung versuchte Israel, verbal nachzugeben und einen Rückzug wenn nicht unter Bedingungen, dann unter gewissen Annahmen („assumptions") zu erreichen. Diese Annahmen waren die freie Schiffahrt nach Elat. Hier erreichte Israel Erklärungen von Eisenhower und Dulles, die es mangels Besserem als eine Garantie ansah. Beide Staatsmänner erklärten, daß die Straße von Tiran ein internationaler Schiffahrtsweg sei und daß sie für die amerikanische Schiffahrt die freie Durchfahrt verteidigen würden. Für den Gaza-Streifen ging Israel von der Annahme aus, daß eine nicht-ägyptische Zivilverwaltung unter der UNEF errichtet würde. Ob die VN-Beschlüsse und Erklärungen der Organe der UNEF zu dieser Annahme berechtigten, kann dahinstehen; Ägypten schuf vollendete Tatsachen und ernannte einen ägyptischen Gouverneur. Die Bevölkerung des Gaza-Streifens war überwiegend pro-ägyptisch eingestellt; die UNEF-Kräfte wären nicht i n der Lage gewesen, eine eigene Zivilverwaltung gegen den Willen der Gaza-Araber zu errichten. Der Druck, den damals die Vereinigten Staaten ausübten, überstieg das i n der Politik übliche Maß 1 4 . Die USA wollten i n dieser Periode sich deutlich von der britisch-französisch-israelischen Aggression absetzen und i n arabischen Augen jede Verbindung zum Imperialismus kappen. Sie sahen ihre so hoffnungsvoll begonnenen Versuche zur Strukturierung des arabischen Raumes i n ihrem Sinne (Johnston-Mission, Bagdadpakt) gefährdet. Sie fürchteten ein russisches Eingreifen, und manche Kreise scheinen einen dritten Weltkrieg damals für möglich gehalten zu haben. So stellten sie Israel nicht nur Sanktionen i m Rahmen der V N i n Aussicht, sondern drohten auch m i t der sofortigen Sperre aller staatlichen Unterstützung für Israel, wie Anleihen, direkte und indirekte Hilfen. Die dabei genannten Zahlen zeigen das hohe Maß der israelischen A b hängigkeit gegenüber den USA; Israel hätte seinen Staatshaushalt erheblich reduzieren und seinen allgemeinen Lebensstandard außerordentlich 14

Pro-israelische Darstellung etwa bei Finer.

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senken müssen. Es erscheint fraglich, ob Israel unter diesen Umständen noch als Staat westlicher Prägung lebensfähig gewesen wäre. Der amerikanische Druck auf Israel überstieg bei weitem die Pressionen, die die USA anläßlich des Teilungsbeschlusses der V N 1947 zugunsten Israels ausgeübt hatten. Geholfen hat es den USA nur vorübergehend. Die Araber sahen weiter Israel als Speerspitze des US-Imperialismus und glaubten weiter die israelische Aggression von 1956 allein durch die Sowjetunion zurückgedrängt. Israel war über die Lösung äußerst verbittert. Wie schon öfter in der Vergangenheit hatten die V N zwar israelische Reaktionen verurteilt und diesmal Israel zum Rückzug gezwungen. Dagegen hatten die V N die Suezsperre auf sich beruhen lassen und waren bei der Sperrung des Golfes von Akaba praktisch untätig geblieben. Gegenüber den mörderischen Einfällen der Fedajin waren die V N nahezu gleichgültig. Wie Israel es sah, praktizierten die V N ein doppeltes Recht: eines für die Araber, eines für Israel. Die Araber konnten sich i n aller Form als i m Kriegszustand m i t Israel erklären und die Rechte von Kriegführenden i n Anspruch nehmen; niemand schien sonderlich darauf aus, den satzungswidrigen Kriegszustand zu untersuchen. Israel dagegen wurden die Rechte einer kriegführenden Macht verweigert. Israel mußte sich während dieser Zeit viele moralische Reden von Eisenhower, Dulles und Hammarskjöld anhören, die zwar nicht moralischer waren als sonst auch, aber dem, gegen den sie gerichtet sind, unerträglich erschienen. Schließlich muß das Verhalten der V N gegenüber Israel ihrem Verhalten i n der Ungarn-Affäre gegenübergestellt werden. Der ungarische Aufstand wurde zur Zeit der anglo-französischen Invasion niedergeschlagen, und die Vollversammlung nahm gegenüber der Sowjetunion eine ähnliche Haltung ein wie gegenüber Frankreich, England und Israel. Die Sowjetunion hat die Beschlüsse schlicht unbeachtet gelassen und dem Generalsekretär bereits die Einreise nach Ungarn verweigert. Über die sowjetische Rechtsansicht mag man reden. Nach russischer Ansicht haben Ungarn- und Nahostkrise 1956 nichts gemeinsam. Die Nahostkrise sei durch eine imperialistische Aggression ausgelöst, wodurch der Weltfrieden bedroht gewesen sei; dies falle in den Bereich der VN. I n Ungarn dagegen habe eine Konterrevolution stattgefunden, die niedergeschlagen worden sei; eine internationale Bedrohung läge nicht vor. Die Sowjetunion selbst sei aufgrund des Hilfeersuchens der ungarischen Regierung eingeschritten. Die V N seien also nicht zuständig. Die Argumentation mag dahinstehen; sie überzeugt nur den Überzeugten. Aber die Vollversammlung hatte sich für zuständig erklärt und es anders gesehen; sie hatte entsprechende Beschlüsse gefaßt. Aber sie konnte sie nicht durchsetzen und mußte auf die Verfolgung dieser Beschlüsse verzichten. Auch hierin sah Israel ein doppeltes Recht. Aber ein Unrecht macht das andere nicht ungeschehen,

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6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: Von Krieg zu Krieg

wurde i h m geantwortet. Die Literatur über die V N zog aus dem Geschehen von 1956 und 1957 die Folgerung, daß Uniting for Peace-Resolution und UNEF-Maschinerie nicht gegen die vitalen Interessen einer Großmacht einsetzbar sind.

Sechsundzwanzigstes

Kapitel

D e r Juni-Krieg 1967 Schrifttum: H. Kosut (Hrsg.), Israel and the Arabs: The June 1967 War (New York 1968) ; D. Kimche and D. Bawly , The Sandstorm. The Arab-Israeli war of June 1967: prelude and aftermath (London 1968); R. S. and W. S. Churchill , The Six Day War (London 1967); R. J. Donovan , Israeli's Fight for Survival (New York 1967); S. L. A. Marshall , Swift Sword; The Historical Record of Israel's Victory, June 1967 (New York 1967); Th. Draper , Israel and World Politics. Roots of the Third Arab-Israeli War (New York 1967); Laqueur , Road to War (London 1968); A. Lall, The U N and the Middle East Crisis (New York-London 1968); B. Lewis, The Consequences of Defeat, Foreign Affairs 1968, Januar; George Dib, Die israelische Aggression vor den U N (Palästinensische Befreiungsorganisation, Forschungszentrum Beirut 1968); To Make War or Peace, Symposium Tel Aviv 1970. Dokumente: Fuad A. Jabber (Hrsg.), International Documents on Palestine 1967 (The Institute for Palestine Studies, Beirut 1970); Draper, U N Y B 1967.

Der Juni-Krieg 1967 gehört, soweit man ihn schon beurteilen kann, zu den Kriegen, die keiner wollte. Z u seinen erkennbaren unmittelbaren Ursachen gehören die zunehmenden Zwischenfälle an der israelischsyrischen Grenze i m Gebiet der entmilitarisierten Zone. Die israelische Landbestellung auf strittigen Gebieten führte zu Schießereien; der Generalsekretär erreichte es, daß Ende Januar 1967 die israelisch-syrische M A C erstmalig seit 1960 wieder einberufen wurde, wenn auch ohne Erfolg. A m 7. A p r i l 1967 kam es zu Kämpfen zwischen bewaffneten Einheiten. Israelische Politiker gaben gegen Syrien gerichtete Erklärungen ab, die i n arabischen Ohren als Ankündigung einer Invasion klangen oder zumindest so ausgelegt wurden. Die sowjetische Seite sprach von israelischen Truppenkonzentrationen an der syrischen Grenze; u m dem entgegenzuwirken und u m seine Rolle i m ägyptisch-syrischen Beistandspakt glaubhaft zu spielen, ließ Nasser ägyptische Truppen i n Sinai aufmarschieren. Die angeblichen israelischen Truppenkonzentrationen und ihre Absicht, i n Syrien einzufallen, Damaskus zu besetzen und das syrische Regime zu stürzen, gehören zum Umstrittensten aus dieser dritten arabisch-israelischen Runde. Wer nicht prinzipiell von israelischer E x pansionslust ausgeht, w i r d der israelischen Version zuneigen: kein UNTSO-Bericht erwähnte Truppenkonzentrationen; der sowjetische Botschafter i n Israel lehnte die israelische Aufforderung, sich von der Un-

2 . Kap.: Der

n i - K r i e g 196

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haltbarkeit an Ort und Stelle zu überzeugen ab; Israel mußte noch vom Sinai-Krieg her wissen, daß in der weltpolitischen Konstellation auch eine militärisch gelungene Agression Israels zu einer politischen Niederlage führen würde. Aber für den Bericht der Ursachen des Krieges ist dies zweitrangig: die russischen Geheimdienstberichte scheinen zu dieser Zeit unrichtig gewesen zu sein (ebenso über den militärischen Wert der israelischen Armee), und wie weit die russische Führung an israelische Aggressionsabsichten geglaubt hatte, ist Spekulation; i m Sicherheitsrat fand der russische Vertreter jedenfalls keinen Grund zur Aktion. A l l das mag dahinstehen, denn Nasser scheint an israelische Aggressionsabsichten geglaubt zu haben, und alle Araber sind noch heute von israelischen Angriffsabsichten auf Syrien überzeugt. A u f der Ebene der kausalen Motivationen sind aber zutreffende und irrtümliche Überzeugungen gleich. Nasser handelte schnell und ohne Absprache mit Moskau: ägyptische Truppen rückten i m Sinai vor; Nasser forderte den sofortigen Abzug der UNEF; er besetzte Scharm el Scheik; er erklärte am 22. Mai die Straße von Tiran für israelische Schiffe gesperrt und die Straße selbst für vermint. Eine Reihe weiterer Fakten (vor allem die Aufstellung eines gemeinsamen ägyptisch-jordanischen Oberkommandos) führten zum SechsTage-Krieg, den Israel i n einer für europäische Vorstellungen kaum nachzuvollziehenden Weise gewann. Alles deutet darauf hin, daß Nasser keinen Krieg wollte. Er hatte alles erreicht, was er wollte: gegen israelische Angriffsabsichten auf Syrien i m Süden ein Gegengewicht geschaffen — zumindest mußte er i n der arabischen Welt als Retter Syriens und der arabischen Sache erscheinen. Er hatte barsch die Truppen der U N aus dem Lande geschickt, und der Generalsekretär hatte beim ersten Wort gehorcht. Schließlich waren die Blauhelme immer noch eine A r t von Besatzung und internationaler Aufsicht und für einen so nationalbewußten Staat wie Ägypten auf die Dauer schwer erträglich; zu lange hatten i h m arabische Extremisten vorgeworfen, er verschanze sich hinter der UNEF. Selbst Hussein von Jordanien hatte arabischen Forderungen nach Zulassung anderer arabischer Kontingente damit begegnet, daß auch die ägyptische Armee endlich die Konfrontation suchen sollte. Und i n Scharm el Scheik war der status quo ante 1956 wiederhergestellt; alle „Folgen der Aggression 1956" wieder beseitigt. Dies alles ohne Krieg. Nassers Prestige, das i m innerarabischen Gerangel i m Jemenkrieg gesunken war, war m i t einem Mal wieder auf dem Höhepunkt; Nasser war wieder der unbestrittene Führer der Araber. Alles zusammengenommen, hat Nasser, der so lange Dulles' Gegenspieler war, Dullessche „hard brinkmanship" gespielt und überreizt. Er ist nur u m Weniges zu weit gegangen. I n Scharm el Scheik hatte er nahezu gewonnen: die Weltmächte waren dabei, sich mit der Sperre abzufinden; 28 Wagner

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selbst Ben Gurion (der nicht i n der Regierung war) scheint eingeschwenkt zu sein; die „Tauben" i m Kabinett scheinen zunächst die Führung gehabt zu haben. Aber die „brinkmanship" geriet außer Kontrolle. Wie schon öfter hatten die ägyptischen Führer zu wenig i n Rechnung gestellt, daß ihre Massen begeistert (oder: aufgeputscht) waren, und daß auch die israelische Reaktion daraufhin in Rechnung gestellt werden mußte. Was aber an diesen Tagen an Kriegsbegeisterung, Haßgesängen und Erklärungen über das Schicksal der Israeli nach Israel drang, mußte auch dort die Kunst der „brinkmanship" überrollen. Die Araber werden nicht gern an Schukeiri erinnert, der i n einem Zeitungsinterview geäußert hatte, es werde kaum israelische Überlebende geben. Aber er war der Präsident der Palästinensischen Befreiungsorganisation, und er wäre es gewesen, der die von 20 Jahren menschenunwürdigen Lagerlebens fanatisierten Flüchtlinge zurückgeführt hätte. Weinerlich klingt auch die Apologetik für die Sperrung von Scharm el Scheik: i n Wahrheit sei die Wasserstraße nicht vermint gewesen (was zutraf), und nur wenige israelische Schiffe und nur fünf Prozent des israelischen Außenhandels sei über Elat gelaufen; die Bedeutung Elats für Israel geht über die aktuelle Tonnage hinaus. Aber die arabische Argumentation schließt daraus, daß die Sperrung von Tiran nur ein Vorwand für die israelische Aggression war. I n der Diskussion bleiben einige strittige Fragen und bittere Vorwürfe. — I m israelischen Volke und i n der westlichen Welt herrschte der Eindruck vom israelischen David, der gegen einen zehnfach überlegenen arabischen Goliath auf Leben und Tod kämpfen mußte. Die unsinnigen Parolen arabischer Politiker und die blutrünstigen Reden Schukeiris hatten es der israelischen Propaganda leichtgemacht: die Weltmeinung stand von Beginn an auf israelischer Seite und übernahm die Sicht von der mehrfachen Überlegenheit der arabischen Armeen, von dem arabischen Angriffs- und Vernichtungswillen, vom israelischen Kampf auf Leben und Tod. Es scheint heute klar zu sein, daß jedenfalls die israelische politische und militärische Führung es besser wußte. Sie erkannten, daß die ägyptischen Truppenmassierungen zu gering für eine Offensive und daß ihre Entfaltung defensiver und nicht aggressiver Natur waren; entsprechende Äußerungen israelischer Politiker und Strategen von nach dem Kriege liegen vor. Ebenso war sich die Führung über die eigene Überlegenheit i m klaren; es ist nachgerade bekannt, daß die Armeeführung die Totalvernichtung der ägyptischen Luftwaffe binnen sechs Stunden geplant hatte, und die westlichen Geheimdienste scheinen dies gewußt zu haben. Eine andere Seite ist dagegen die israelische Bevölkerung, die heute noch an die arabischen Angriffsabsichten und die außerordentliche Gefahr glaubt, i n der das ganze Volk geschwebt habe. — Der juristische Streit geht darum, ob Generalsekretär U Thant die UNEF sofort und ohne Hinhalten zurückrufen durfte oder mußte; viele

26. Kap.: Der J u n i - K r i e g 1967

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Beobachter belasten ihn mit der sich anschließenden Eskalation; U Thant hat in einer Reihe von Berichten an die Vollversammlung und den Sicherheitsrat geantwortet; dort ist auch der Ablauf der Ereignisse peinlich genau rekonstruiert 1 . A m 16. Mai 1967 forderte der ägyptische Generalstabschef vom Kommandeur der UNEF den Abzug aller UN-Truppen entlang der ägyptischen Grenze. Der Kommandeur lehnte die Aufforderung ab, da er seine Befehle nur vom Generalsekretär der U N empfange; er unterrichtete den Generalsekretär unverzüglich von dem ägyptischen Schritt. Der Generalsekretär wies ihn an, weitere Befehle abzuwarten und zunächst die Stellungen besetzt zu halten. U Thant begann sofort eine Serie von Unterredungen m i t den ständigen Vertretern Ägyptens und der zehn Mitgliedstaaten, die Truppenkontingente gestellt hatten; auch das ägyptische Außenministerium berief die Botschafter dieser zehn Staaten zu sich und informierte sie über die Notwendigkeit des Abzugs der UNEFKontingente; i m Sinaigebiet ging der ägyptische Truppenaufmarsch weiter und wurden einzelne nationale Kontingente der UNEF zum A b zug aufgefordert. A m 18. Mai forderte schließlich der ägyptische Außenminister den Generalsekretär auf, die UNEF abzuziehen. Der Generalsekretär berief sofort den Beratenden Ausschuß ein, der von der Vollversammlung durch Beschluß vom 7. November 1956 (Ziffern 6, 8 und 9; Resolution 1001 E S-I) geschaffen worden war; die Vertreter der Kontingentstaaten, die nicht i n diesem Ausschuß vertreten waren, wurden zugezogen. Der Ausschuß kam mehrheitlich zu der Auffassung, daß dem ägyptischen Verlangen entsprochen werden müsse. U Thant rief die UNEF ab. I n der Diskussion um U Thants Verfahren geht es vornehmlich um folgende Punkte: A n erster Stelle steht die Frage, ob Ägypten einseitig den Abzug fordern konnte. Die UNEF sei von der Vollversammlung aufgestellt und eingesetzt, und nur die Vollversammlung könnte sie abberufen. Selbst wenn die zugrundeliegende Resolution von der Zustimmung der Stationierungsländer spreche, so könnte das Land die Zustimmung nicht einseitig widerrufen. Die Diskussion ist lang und bitter. Für Israel geht es dabei nicht um legalistische Argumente, sondern um die Erkenntnis, daß i h m die V N i n der Gefahr nicht helfen können; sein Außenminister verglich die UNEF m i t einer Feuerwehr, die bei Ausbruch eines Brandes abzöge. I n Israel vertiefte sich die Überzeugung, daß die Existenz des Staa1 Report of Secretary General U Thant on the Withdrawal of the UNEF, 18. Mai 1967; Report 19. M a i 1967; Report 26. M a i 1967; Report 26. Juni 1967, sämtlich abgedruckt bei Draper , Anhang 4 - 8 ; ζ. Τ. in U N Y B 1967; Arabische Ansicht: Dib; kritisch gegenüber U Thant: Lall, Kapitel I I ; objektiver: Draper, Kapitel V I I I ; ein aide-mémoire von Hammarskjöld ebenda, Anhang 3.

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

tes und das Überleben der Bevölkerung ausschließlich von der Überlegenheit der israelischen Armee abhänge, und daß politische Sicherungen i m Rahmen der V N wertlos seien. Geht man aber legalistisch an die Fragen heran, so w i r d man U Thant zustimmen müssen. Allerdings wäre lediglich von den kurzen Beschlüssen der Vollversammlung von 1956 über die UNEF her eine andere Auffassung begründbar. Dort ist zwar von der Zustimmung der Stationierungsländer die Rede, auch ein gewöhnlicher Vertrag kommt nur zustande, wenn beide Seiten annehmen (zustimmen), und trotzdem kann die Zustimmung nicht ohne weiteres zurückgenommen, kann der Vertrag nicht ohne weiteres einseitig beendet werden. Damit würden aber die begrenzten Möglichkeiten der V N und die Konzeption der UNEF-Beschlüsse und der UNEF verkannt. Die Vollversammlung kann keine bindenden Beschlüsse fassen; sie kann nur Empfehlungen aussprechen, die kein Adressatstaat annehmen muß. Die Konzeption der UNEF-Beschlüsse beruht darauf, diese spezifische Schwäche der Vollversammlung zu überwinden, indem die fehlende Verbindlichkeit durch die Annahme und Zustimmung des Gastlandes ersetzt wurde. Von da aus zu der Rechtsansicht fortzuschreiten, daß die einmal gegebene Zustimmung nicht mehr einseitig zurückgenommen werden könnte, erscheint i m Völkerrecht und i m Recht der V N als ein zu weiter Schritt. Damit hätte die Resolution der Vollversammlung zumindest partiell bindenden Charakter angenommen, wäre die UNEF zu einer A r t von Besatzungsmacht geworden, etwas wozu nicht der geringste Anhaltspunkt vorlag. I n den zehn Jahren ihres Bestehens wurde das Charakteristische der UNEF immer i n der Zustimmung des Gastlandes gesehen; diese Zustimmung war die Grundlage ihres Wirkens, und i n dem großen Dokumentenmaterial der UNEF scheint sich nichts Gegenteiliges zu finden. Die Zustimmung als conditio sine qua non ließe sich vielmehr mit einer Reihe von Gründen verstärken: die Stationierung beruhte auf einem Vertrag, den der Generalsekretär mit der ägyptischen Regierung geschlossen hatte; vor Abschluß des Vertrages lagen die UNEF-Kontingente abwartend i n Neapel; der Beschluß der Vollversammlung sah die Stationierung der UNEF-Beobachterposten beiderseits der Grenze vor: da Israel für sein Gebiet die Zustimmung verweigerte, konnten die Kontingente nur auf der ägyptischen Seite postiert werden. U Thant w i r d weiter vorgeworfen, daß der Abzug zumindest übereilt war; selbst Nasser sei überrascht gewesen. Er hätte stattdessen verhandeln, sich hinter Verfahrensfragen verschanzen und so Zeit gewinnen sollen. U Thant kann dagegen mit Recht zwei Reihen von Gegenargumenten vorbringen: Zum einen hatte er die Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft, indem er m i t dem Vertreter Ägyptens und den Vertretern der zehn Kontingentstaaten konferierte und den Beratenden Ausschuß einberief. Die Kontingentstaaten waren keineswegs darauf aus, ihre Prä-

2 . Kap.: Der

n i - K r i e g 196

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senz gegen die ägyptische Armee durchzusetzen, eine militärisch sinnlose Demonstration, die die Kontingente gefährden und ihre Staaten i n eine Konfrontation bringen mußte, zu der sie nicht bereit waren. Der Beratende Ausschuß kam überwiegend zu dem Schluß, daß dem ägyptischen Verlangen entsprochen werden müsse. Die einzige Möglichkeit, die noch formal hätte ausgeschöpft werden können, wäre die Befassung der Vollversammlung gewesen. Nach Ziffer 9 des Beschlusses der Vollversammlung (1001 — ES — II) hätte der Beratende Ausschuß die Vollversammlung befassen können; warum dies nicht geschehen ist, scheint nicht völlig klar zu sein. Anscheinend haben sich die Mitglieder des Ausschusses davon wenig versprochen: die Vollversammlung tagte zur Zeit nicht; an den Grenzen waren die UNEF-Posten praktisch schon ausgeschaltet; die Vollversammlung wäre schnellstens wieder auf die Beschränkung des Nichtverbindlichen aufgelaufen. Schließlich w i r d der Charakter der UNEF leicht falsch eingeschätzt: sie waren weder eine Kampf- noch eine Besatzungstruppe, die gegen den Willen der ägyptischen Streitkräfte von irgendeinem Nutzen gewesen wären. A n einigen Stellen waren die Kontingente schon vor dem 18. Mai von den ägyptischen Truppen verdrängt worden, und i m allgemeinen genügte es völlig, daß die ägyptischen Truppen ihre Stellungen bezogen: wenn eine Panzerbrigade an die Grenzen vorrückt, ist ein UNEF-Beobachter von geringem Wert; jedenfalls kann er nichts verhindern. I n Scharm el Scheik waren 32 UNEF-Soldaten postiert; als die ägyptischen Truppen die Stellungen rund um die UNEF-Station besetzt hatten, konnten sie die Durchfahrt sperren und die Funktion der UNEF war beendet. Der weitere Verlauf vor den V N ist durch erbitterte Redeschlachten (Sowjetunion: Israelische Besatzungsoffiziere benehmen sich wie die Gauleiter; Israel: Die Sowjetunion, die 1939 den Hitler-Stalin-Pakt geschlossen hat, hat zu solchen Reden kein Recht), durch vier Aufforderungen zur Feuereinstellung und durch viele Resolutionsentwürfe gekennzeichnet 2 . Vom Sicherheitsrat gelangte die Sache aufgrund der Uniting for Peace-Resolution an die Vollversammlung, die (außer zwei Resolutionen zu Jerusalem) ebenfalls zu keinem Ergebnis gelangte und die Frage wieder an den Sicherheitsrat zurückverweisen mußte. Der Sicherheitsrat konnte am 10. J u l i 1967 die Stationierung von UN-Beobachtern am Suezkanal beschließen und die Aufgabe der UNTSO übertragen; die Beobachter sollten die Feuereinstellung i n der Kanalzone überwachen. Das Endergebnis der Kämpfe i n den V N konkretisierte sich i n der Resolution 242 vom 22. November 1967, die i n der Folgezeit Grundlage der Friedensbemühungen und der Polemiken blieb und i n einigen Beschlüssen, i n denen die israelische Verurteilung der Annexion Ostjerusalems verurteilt wurde. 2

Abgedruckt bei Lall, Anhang. Für alle Einzelheiten s. Lall, S. 62.

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6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: Von Krieg zu Krieg

Die Resolution des Sicherheitsrats vom 22. November 1967 gilt als eine Maßnahme i m Rahmen von Kapitel V I der SVN, nicht von Kapitel V I I ; damit ist gesagt, daß es sich nicht u m einen bindenden Beschluß handelt. Vielmehr hat der Sicherheitsrat die Möglichkeit der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten i m Auge; derartige Maßnahmen ergehen rechtstechnisch als bloße Empfehlung 3 . Der Beschluß forderte den Generalsekretär auf, einen Sonderbevollmächtigten zu ernennen, der i n Verhandlungen m i t allen Beteiligten Lösungsmöglichkeiten findet. Israel akzeptierte den Sonderbevollmächtigten erst, als klargestellt war, daß er nicht die Funktion eines Vermittlers habe — wie Bernadotte sich verstand 4 —, sondern den begrenzten A u f trag habe, zwischen Israel und den arabischen Staaten direkte Verhandlungen anzubahnen. Für die Lösung selbst nannte der Beschluß einige Grundsätze, von denen die Parteien ausgehen sollten: Das Prinzip, daß kein Gebiet durch Krieg erworben werden dürfe, und daß jeder Staat des Raumes i n Sicherheit existieren könne; Rückzug der israelischen Streitkräfte aus eroberten Gebieten; Beendigung des Beharrens auf dem Kriegszustand; Anerkennung der Souveränität, territorialen Integretät und politischen Unabhängigkeit jedes Staates und seines Rechts, innerhalb gesicherter und anerkannter Grenzen zu leben; freie Schiffahrt durch internationale Wasserwege des Raumes (also Suez und Akabagolf); gerechte Lösung des Flüchtlingsproblems; Garantiemaßnahmen für diese Grundsätze einschließlich der Errichtung entmilitarisierter Zonen. Der Beschluß wurde von Israel, Jordanien und Ägypten angenommen und von Syrien und Algerien abgelehnt; alle palästinensischen Widerstandsorganisationen haben sich gegen ihn ausgesprochen 5 . Z u m Sonderbevollmächtigten wurde Gunnar Jarring bestellt. Inhaltlich ist der Beschluß extrem strittig, und jede Partei verharrt unter Berufung auf diesen Beschluß auf ihrem Rechtsstandspunkt. Die Araber betonen die Formulierungen über den Truppenrückzug und interpretieren diese als eindeutige Verpflichtung zur Preisgabe aller besetzten Gebiete einschließlich der Altstadt Jerusalem. Sie verlangen daher zunächst den vorherigen Rückzug aus sämtlichen eroberten Gebieten, über den nicht erst zu verhandeln sei, denn zunächst müßten die „Folgen der Aggression" beseitigt werden. Dann sei die Flüchtlingsfrage zu lösen und anschließend werde man weitersehen. Nasser sprach von der Ausführung i n zwei Schritten. Die Ausführungen erforderten keinen Friedensvertrag und auch keine Verhandlungen; i m Beschluß sei hiervon auch keine Rede. Nach israelischer Auffassung geht der Beschluß 3

Zum Ganzen: Dahm, Bd. 2 §§ 76, 77. 18. Kapitel 3. 5 Erklärung des Palästinensischen Nationalrates vom 7. September 1969, EA Bd. 24 (1969), D 581. 4

2 . Kap.: Der

n i - K r i e g 196

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auf die Herstellung eines dauerhaften Friedens. Die Voraussetzungen für diesen Frieden seien sichere und anerkannte Grenzen; eine gerechte Lösung des Flüchtlingsproblems; freier Zugang zu den internationalen Gewässern; die Entmilitarisierung gewisser Gebiete. A l l diese Ziele seien nur durch Verhandlungen realisierbar. Strittig ist, ob der Beschluß überhaupt den israelischen Rückzug aus allen eroberten Gebieten postuliert: die englische Fassung lautet: I (i): Withdrawal of Israeli armed forces from territories occupied in the recent conflict®. Die Vorgeschichte des Beschlusses zeigt, daß gerade um die Alternative „territories" and „all the territories" erbittert gerungen wurde 7 , daß aber die verschiedenen Delegationen ausdrücklich erklärt haben, den endgültigen Beschluß im Sinne ihres jeweiligen Rechtsstandpunktes auszulegen. Israel kann sich daher auf die Auslegungsregel stützen, daß nur das Beschlossene gilt; die arabische Seite kann sich auf das gleichfalls in dem Beschluß ausgesprochene Prinzip der Unzulässigkeit von kriegerischen Gebietserwerbungen berufen. Israel begründet schließlich seinen Rechtsstandpunkt mit der Formulierung von „sicheren und anerkannten Grenzen", die es als militärisch sichere und im Friedensvertrag festgelegte Grenzen interpretiert. Der Beschluß fordere nun von beiden Parteien, gemeinsam mit dem Sonderbevollmächtigten in direkten israelisch-arabischen Verhandlungen diese neuen Grenzen zu bestimmen.

Israel hat sofort nach dem Kriege seinen Willen bekundet, den jordanischen Teil Jerusalems zu annektieren und i h n mit dem hebräischen Teil zu vereinen. Bereits am 28. Juni 1967 hat es die Annexion ausgesprochen, hat es beide Stadtteile vereinigt und nach und nach die entsprechenden administrativen und tatsächlichen Maßnahmen getroffen. Nach langer Zeit haben sich daraufhin die V N wieder m i t Jerusalem befaßt. Dessen Rechtslage war und ist allerdings extrem strittig. Nach dem Teilungsplan der V N vom 29. November 1947 sollte Jerusalem einschließlich Bethlehems als Besondere Politische Einheit internationalisiert werden 8 . Der Treuhandschaftsrat sollte ein Statut für das internationale Regime ausarbeiten, für das der Teilungsbeschluß Richtlinien enthielt. Der Krieg hat alle Voraussetzungen hierfür entfallen lassen; i m Waffenstillstand lief die Demarkationslinie durch die Stadt. Israel und Jordanien haben die jeweiligen Stadtteile ihrem Gebiet einverleibt; Israel hat Jerusalem am 23. Januar 1950 zu seiner Hauptstadt erklärt und sukzessive die Staatsorgane i n Jerusalem installiert. Die Vollversammlung beharrte i n ihrer Entschließung vom Dezember 1948 auf der Internationalisierung und beauftragte auch die Schlichtungskommission mit der Ausarbeitung eines Status; der Treuhandschaftsrat hat sich i m Dezember 1949 gegen die Überführung israelischer 6 Die deutsche Übersetzung: „Rückzug aus den eroberten Gebieten", in EA Bd. 24 (1969) D ist unrichtig.

7

8

Lall, Kapitel XIV.

Corpus separatum; s. Karte 14.

440

6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung: Von K r i e g zu K r i e g

STADTBEZIRK VON JERUSALEM

VORGESCHLAGENE GRENZEN Vorgeschlagen vom Ad Hoc- Komitee für die palästinensische Frage

K^

O'Isawija

^wVierusalem Land

Motsa Oeir Jassin

^JERUSALEM //A* i At Tur /Q > 0 / a ! 'Aisarija ' Silwan Ο Abu Dis

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V

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BAITI OSCH AL A BETHLEHEM

BAIT SAHÜR

Kilometer

K a r t e 14 Jerusalem nach dem Teilungsplan der V N

26. Kap.: Der Juni-Krieg 1967

441

Ministerien nach Jerusalem ausgesprochen. Seither führt Israel einen stillen Kleinkrieg m i t den Botschaften der i n Israel vertretenen Staaten, die es zur Niederlassung i n Jerusalem bewegen w i l l . Treuhandschaftsrat und Schlichtungskommission haben beide Entwürfe vorgelegt. Sowohl Israel als auch Jordanien lehnten die Internationalisierung ihrer Stadtteile ab. Die Rechtskonstruktionen Israels sind i n einem ausführlichen Memorandum 1950 an den Treuhandschaftsrat niedergelegt. Nach israelischer Ansicht sind diese Passagen des Teilungsplanes durch den Krieg überholt und der Treuhandschaftsrat ist unzuständig. Die internationale Verantwortung w i r d nur für den religiösen Bereich zugestanden; die Heiligen Stätten lägen fast sämtlich i m jordanischen Teil, und die religiösen Belange rechtfertigen nicht die Internationalisierung; der Stadtteil sei m i t dem übrigen Israel i n einem „unwiderruflichen Fusionsprozeß" verschmolzen. Statt der „territorialen Internationalisierung" bot Israel eine auf den Schutz der und Zugang zu den Heiligen Stätten beschränkte „funktionelle Internationalisierung" an und legte den entsprechenden E n t w u r f eines Abkommens zwischen Israel und den V N vor. Die weiteren Beschlüsse der Vollversammlung, insbesondere von 1952 sind so vage, daß die arabische Seite ein Insistieren der V N auf der Internationalisierung und Israel ein Desistieren herauslesen 9 . M i t den Annexionsmaßnahmen nach dem Sechs-Tage-Krieg haben sich Sicherheitsrat 10 und Vollversammlung 1 1 mehrfach befaßt und sie verurteilt; die Vollversammlung hatte bereits i n ihrem ersten Beschluß die israelischen Maßnahmen als unwirksam erklärt. Die spätere Diskussion wurde m i t großer Erbitterung geführt, und die eingebrachten antiisraelischen Entwürfe sahen zum Teil einschneidende Maßnahmen vor. Die Resolution des Sicherheitsrates vom 4. J u l i 1969 war schließlich ein Kompromiß : konkrete gegen Israel gerichtete Maßnahmen sieht er nicht mehr vor, gebraucht aber harte Formulierungen. Zwar wurden die israelischen Annexionsmaßnahmen nicht „verurteilt", sondern nur „geö Schrifttum: G. Weiss, Die internationale Stellung Jerusalems, Beiträge zum Ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, Heft 29 (Bilflnger-Festschrift) 1954, S. 513 ff.; R. Faleize, Le Statut de Jerusalem, Revue générale de Droit International Public, Bd. 62 (1958), S. 618 ff.; de Azcarate (vor V. Teil), S. 156 ff.; S. Sh. Jones, The Status of Jerusalem: Some National and International Aspects, The Middle East Crisis (vor V. Teil), S. 169 ff.; Khoury, K a pitel V. P. Mohn, Jerusalem and the UN, International Conciliation Nr. 464 (1950); C. Katzarov, L'internationalisation de la ville de Jerusalem, Revue de Droit, Bd. 28 (1950); W. Khalidi, Jerusalem. The Arab Case (Amman 1967); WBVR, „Heilige Stätten"; „Jerusalem". Beschlüsse der VN: Zusammenstellung von Hadawi (vor 17. Kapitel) C Teil I 2; Teil I I I ; Anhang E; The Arab Israeli Conflict, Indian Society (vor 1. K a pitel), Appendix 16 I I . 10 Resolution 252 vom 21. M a i 1968; Resolution vom 4. J u l i 1969. 11 4. J u l i 1967, Resolution 2253 (ES-V); 14. J u l i 1967, Resolution 2254 (ES-V).

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6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: Von Krieg zu Krieg

tadelt", dies aber i n scharfer Form. Die Maßnahmen wurden als nichtig und unwirksam betrachtet und Israel wurde aufgefordert, diese Maßnahmen wieder aufzuheben und den Sicherheitsrat entsprechend zu unterrichten 1 2 . Juristisch ist der Beschluß angreifbar: hat der Sicherheitsrat damit eine staatliche Maßnahme für nichtig erklärt und falls ja, kann er dies? Nichts i n der S V N scheint eine solche Kompetenz zu gewähren — wenn man die Nichtigkeit nicht als rechtslogische Folge des Prinzips der Nichtanerkennung militärischer Eroberungen ansieht. Der Beschluß dürfte nur auf politischer Ebene erklärbar sein: nachdem der Sicherheitsrat keine konkreten Maßnahmen beschließen konnte, hat er sich i n harte Formulierungen geflüchtet. Israelische Politiker haben m i t außergewöhnlicher Schärfe auf die Debatte und den Beschluß reagiert und erklärt, sich nicht an den Beschluß zu halten. Die Folgezeit läßt sich noch nicht klar darstellen. A l l e Beteiligten haben intransigente und mehr verständigungsbereite Erklärungen abgegeben, die i n der Literatur nach Bedarf zitiert werden. Insbesondere wird die 4. Arabische Gipfelkonferenz

von Khartum

13

(August/

September 1967) für die arabische Verständigungsbereitschaft zitiert, w e i l sich hier die Teilnehmer für eine politische Lösung aussprachen, wenn auch ohne Anerkennung des Staates Israel und ohne Friedensverhandlungen. Die K o n ferenz betonte das Recht der Palästinenser auf Rückkehr und forderte vor allen weiteren Erörterungen, daß „die Folgen der Aggression" beseitigt werden, d. h., daß Israel sich bedingungslos und einseitig aus sämtlichen eroberten Gebieten zurückziehen müßte.

I m Laufe der zunehmenden Verhärtung und der Wiederaufnahme der Kriegsaktionen gerieten Ausgleich und Annexionen i n einen Zirkel: da Israel keinen Frieden bekam, schien es natürlich, das eroberte Gebiet nicht herauszugeben und schließlich vollendete Tatsachen zu schaffen; jede Annexion machte aber auch die entfernteste Friedensaussicht unmöglich. So gewöhnte sich schließlich auch i n Israel ein größerer Teil an die Propagierung der Annexion. Eine nicht einflußlose „Vereinigung für Groß-Israel" 1 4 fordert die Annexion aller i m Kriege eroberten Gebiete, denn: „Israel hat keine Gebiete annektiert, sondern das historische Vaterland i n einem legitimen Verteidigungskrieg wieder vereinigt." 12 Die 15 Mitglieder i m Sicherheitsrat haben einstimmig entschieden; die USA hat sich jedoch der Stimme bezüglich der Ziffer über die Aufhebung der Maßnahmen enthalten, m i t der Erklärung bei Nichtigkeitserklärung bedürfe es keines Aufhebungsverlangens mehr. 13 Zählweise: 1. Konferenz Kairo, Januar 1964 anläßlich der israelischen Jordanwasserpläne; 2. Konferenz Alexandrien September 1964; 3. Konferenz Casablanca September 1965; 4. Konferenz K h a r t u m 1967; 5. Konferenz Rabat, Dezember 1969. Zur Konferenz von K h a r t u m : EA Bd. 24 (1969), D 577 ff. 14 Israel Ha'Schlema. Eine Karte, die noch erheblich über die Waffenstillstandslinien hinausgeht s. 9. Kapitel 2, Karte 6.

27. Kap. : Die palästinensischen Araber

443

Der außergewöhnliche Sieg und die weitere unnachgiebige Haltung der Araber haben auch die israelische Position verhärtet. Die vermeintliche oder reelle Gefahr vor dem Kriege hatte erstmalig fast alle Parteien zur „Regierung der nationalen Einheit" vereint, und die Regierung damit auch unbeweglicher gemacht; erst über der Annahme des Rogersplans zerbrach die Koalition. Fast alle Parteien sprachen sich für bestimmte Annexionen aus; Ostjerusalem und die Golanhöhen waren die frühesten Forderungen; dann siedelten religiöse Gruppen bei Hebron und i m GazaStreifen (Kfar Darom) und die Regierung sanktionierte später diese Siedlungen u m Hebron. Die Pläne von A l l o n und Dayan laufen, zumindest i n arabischen Augen, auf die Annexion Westjordaniens hinaus. Die offizielle Politik verlangt eine israelische Präsenz i n Scharm el Scheik und zumindest die Entmilitarisierung des Gaza-Streifens. Uber die Probleme der Besatzungspolitik berichtet am besten die A r t i k e l serie von Eric Rouleau, Le ghetto des vainqueurs i n Le Monde vom 2. J u l i 1969 ff. Israelische Darstellung: L'Administration civile du gouvernement militaire, Ministère de la Défense (Hakirya, Tel A v i v 1968).

Siebenundzwanzigstes

Kapitel

D i e palästinensischen Araber Schrifttum: J. M. Landau, The Arabs i n Israel. A Political Study (London 1969); m i t ausführlichen Literaturnachweisen; W. Schwarz, The Arabs i n Israel (London 1959); Sabri Geries, Les arabes en Israel, m i t Teil: Les juifs et la Palestine von E. Lobel (Paris 1969); Arabs i n Israel 1962, Sondernummer von New Outlook, Bd. V (1962); Joundi (vor I. Teil), S. 117 ff.; Al-Ard Co, Les Arabes en Israel, T M S. 792 ff.; Weinstock (vor I. Teil), I I 5; Hadawi, Bittere Ernte (vor I. Teil), X I . Kapitel; A. Cohen, Arab Border Villages i n Israel (Manchester 1965) ; Y. Ben Porath, The Arab Labor Force i n Israel (Jerusalem 1966); Gabbay (vor 2); A. J. Fischer, Der Staat der Flüchtlinge, Außenpolitik, Bd. 6 (1955), Heft 12; P. E. Lapide , Die arabischen Flüchtlinge aus Palästina, ebenda Bd. 16 (1965), Heft 8.

1. Die Araber in Israel Die Lage der arabischen Minderheit i n Israel bildet einen Teil der arabisch-israelischen Konfliktstoffe und gehört daher i n den Rahmen der Arbeit. Als überwiegend innenpolitisches Problem kann es jedoch nur i n seinen Grundzügen angedeutet werden; der Leser sei auf das ausgebreitete Material bei Geries, Weinstock und Landau verwiesen. Für die folgenden arabischen Vorwürfe gilt, was bereits mehrfach ausgeführt wurde: der Aufbau eines israelischen Staates i m vormals arabi-

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

sehen Räume war Schritt für Schritt eine Verdrängung des arabischen Elements und seine Ersetzung durch Juden. Wer den zionistischen Gedanken bejaht, der muß auch diese Verdrängungsmaßnahmen akzeptieren, anders wäre ein jüdisches politisches Gemeinwesen nicht aufzubauen gewesen. Da die eingesessene Bevölkerung damit selten einverstanden ist, gibt es nur die Alternative: vom Vorhaben ablassen oder die eingesessene Bevölkerung verdrängen. Die Maßnahmen mögen i m Rahmen des Möglich-Humanen liegen; an der Tatsache der Verdrängung ändert sich nichts. Das sonst gegebene tertium der Assimilierung oder Verschmelzung m i t Dominanz der einen oder anderen Volksgruppe ist vom zionistischen Gedanken her unmöglich. So brutal stellt sich die Alternative; alles andere ist Eskapismus. Sind die Weichen derartig richtig gestellt, dann ist das Folgende nur Illustration zum jeweiligen Vor-Urteil und erfährt seine Funktion aus dem Bezugsrahmen des Lesers: eines prozionistischen oder antizionistischen Rahmens. Nach dem Exodus 1948 - 19491 verblieben noch 300 000 palästinensische Araber i m israelischen Staate; sie sind damit eine ungefähr zehnprozentige Minderheit. Gegen die israelische Minderheitenpolitik formulieren die Araber folgende Vorwürfe: — Die Araber i n Israel leben unter einem drückenden, kriegsrechtlichen Ausnahmer echt. N u r ihnen gegenüber w i r d eine umfangreiche Ausnahmegesetzgebung angewandt, die zum Teil noch aus der Zeit des britischen Mandats stammt 2 . Aufgrund dieser Bestimmungen wurden sie einzeln oder kollektiv aus ihren Dörfern ausgewiesen und ausgesiedelt, wurden ihnen Zwangsaufenthalte zugewiesen und wurden sie unter eine permanente M i l i t ä r aufsicht gestellt. Der größte Teil Israels ist in „Verbotene Zonen", „Geschlossene Zonen" und „Sicherheitszonen" aufgeteilt, die Araber entweder nicht ohne individuell erteilte Erlaubnis betreten oder verlassen dürfen oder die für Araber überhaupt verboten sind. Die praktische Handhabung dieses Systems durch die Militärbehörden ist für die Araber äußerst drückend und hebt praktisch jegliche Freizügigkeit auf: sie sind weitgehend auf ihren engsten Lebenskreis kantoniert. Dazu kommen noch zeitliche Ausgehbeschränkungen und weitere Maßnahmen der A u f sicht, wie häufiges Erscheinen vor der Militärbehörde. Das ganze System erscheint den Arabern höchst willkürlich: die Zoneneinteilung scheint offiziell nicht veröffentlicht worden zu sein, aber ihre Übertretung ist strafbar. Der Rechtsschutz ist in den wichtigsten Punkten ungenügend, da die Gerichte die Gründe für die militärischen Maßnahmen („Sicherheitsgründe") nicht nachprüfen, die Araber also dem unbeschränkten Ermes1

18. K a p i t e l 2. V o r allem die Emergency Regulations v o n 1945. Fundstellen der Texte m i t Wiedergabe u n d Handhabung der wichtigsten Bestimmungen bei Geries. 2

27. Kap. : Die palästinensischen Araber

445

sen der Militärbehörden unterworfen sind. Seit 1966 ist zwar das M i l i t ä r regime zugunsten eines Zivilregimes abgelöst worden, aber die Ausnahmebestimmungen sind bestehen geblieben und auf die Polizeibehörden übergegangen. I n den 1967 besetzten Gebieten ist das Militärregime i n Kraft. I n israelischer Sicht fordern militärische Sicherheitsgründe die permanente Überwachung; die Araber bestreiten die militärische Notwendigkeit und sehen i n der israelischen Minderheitenpolitik ganz andere Gründe. I n der Tat, unter den Arabern Israels gab es nie nennenswerten Widerstand gegen den Staat selbst, höchstens gegen einzelne Maßnahmen; auch die aus den Nachbarländern eindringenden Freischärler haben kaum Unterstützung gefunden. I n arabischen Augen dient die israelische Politik vielmehr der permanenten Einschüchterung, der Vereitelung ihrer nationalen und kulturellen Entwicklung und vor allem ihrer endgültigen Depossedierung. I m antizionistischen Bezugsrahmen erscheint das Ausnahmeregime, das seinem Wortlaut nach allgemein gilt, aber das nur ihnen gegenüber angewandt wird, als permanente Einschüchterung. I n diesem Rahmen erscheinen auch die schweren Unrechtsfälle, die sich seit der Staatsgründung ereigneten, nicht als Ausnahmen, sondern erhalten ihre präzise Funktion: so wie die jüdischen Terrorakte des Krieges 1947 - 1949 dann nicht als Entgleisungen dissidenter Gruppen, sondern als kalkulierter Terror erschienen, der die Araber zur Flucht verleiten sollte, so erhalten nunmehr das Militärregime und die Zwischenfälle ihre entsprechende Funktion. War Dair Yassin das Symbol der israelischen Vertreibungsmaßnahmen i m Kriege 1947 - 1949, so gilt Kfar Kassem als Symbol des fortgesetzten Terrors nach dem Kriege 3 . Der V o r f a l l ereignete sich 1959 i n einer von Grenzzwischenfällen angespannten Situation. Die Armee hatte über ein Gebiet eine A u s gangssperre verhängt, ohne daß die auf ihren Feldern arbeitenden Dorfbewohner dies wissen konnten; als sie heimkehrten, w u r d e n 49 von ihnen grundlos von Soldaten zusammengeschossen. I m Gerichtsverfahren w u r d e n zwar einige verantwortliche Offiziere verurteilt, einem anderen ein „technischer Fehler" angelastet u n d i h m ein Tadel ausgesprochen. Die ausgesprochenen Strafen wurden sukzessive reduziert; ein verantwortlicher Offizier soll i n Ramleh der Sachbearbeiter f ü r arabische Angelegenheiten geworden sein.

Die Behinderung der nationalen Entwicklung i n kultureller und politischer Hinsicht erfolgt i n arabischer Sicht gleichfalls durch das Ausnahmeregime. Nicht militärische Sicherheitsgründe machten das System der Zonen mit dem Ausschluß der Araber und ihrer Aufhebung jeglicher Freizügigkeit erforderlich, sondern die israelische Politik der völligen Zersplitterung der arabischen Bevölkerung. Vor allem würden die noch 3

Z u Dair Yassin 18. K a p i t e l 2; zum folgenden ausführlich Geries, S. 147 ff.

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6. T e i l : Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

relativ geschlossenen Siedlungsgebiete zerschlagen und i n isolierte, unzusammenhängende Siedlungen zerlegt, die durch systematisch angelegte jüdische Siedlungen getrennt würden; arabische Siedlungen würden unter sich völlig isoliert gehalten, da die persönliche Bewegungsfreiheit aufgehoben sei und überörtliche Organisationen und Verbindungen selbst auf dem Niveau von Sportveranstaltungen verboten würden 4 . Ein ausgedehntes Material zeigt des weiteren, daß die Araber auch i n den übrigen Fragen wie Bildungsmöglichkeiten und Zugang zu den Berufen gegenüber dem jüdischen Bevölkerungsteil benachteiligt bleiben. Vor allem aber diente die Araberpolitik der systematischen Übernahme arabischen Bodens. Die frühere zionistische Bodenpolitik faßte die Araber i n der Zange eines freien Bodenverkehrsrechts verbunden m i t der Unveräußerlichkeit jüdischen Bodeneigentums 5 . Nach 1948 w i r d diese Bodenpolitik m i t den Machtmitteln des Staates fortgesetzt, dem Jüdischen Nationalfonds wurde meist das Land zugewiesen. Der so von und für Juden erworbene Boden w i r d m i t ungefähr 1 M i l l i o n Dunam berechnet. — Die gewaltsame Vertreibung der Bevölkerung aus arabischen Dörfern oder die schlichte Übernahme von Boden durch benachbarte K i b b u t zim scheint auch nach dem Krieg 1948 zunächst häufig gewesen zu sein. M i t Gewalt konnten sich die Araber nicht wehren; wie oft die Gerichte den Arabern hier Recht gaben, ist nicht belegt. Belegt ist jedoch, daß die Araber mitunter trotz gerichtlichen Obsiegens verdrängt wurden, w e i l die Armee das U r t e i l ignorierte, die Dörfer i n die L u f t sprengte und so vollendete Tatsachen schuf 6 . — Insgesamt wirksamer sind die legalen Machtmittel des israelischen Staates; ein ganzes Arsenal von Gesetzen und Verordnungen dient der zionistischen Bodenpolitik. Wie bei der zionistischen Bodenpolitik der Mandatszeit kann dieses Arsenal nicht i m einzelnen nachgewiesen werden 7 , auch hier genüge das System: Einen großen Bodenbesitz hat der Staat m i t Hilfe des Absentee's Property Law von 1950 übernommen und dem Keren Hajessod zugewiesen. Die bloße Lektüre dieses Gesetzes erweckt den Anschein, als sollte für die Ländereien der i m Kriege geflüchteten Araber Sorge getragen und ein Verwalter bestellt werden; dies wäre nichts Außergewöhnliches. Das Gesetz ist jedoch i n seiner Anwendung ein Instrument der Übernahme arabischen Bodens weit über diese ratio legis hinaus, insbesondere i n Verbindung m i t anderen Gesetzen und Praktiken. Denn zum einen w i r d der Begriff „abwesend" extrem weit ausgelegt: abwesend sind nicht nur Flüchtlinge außerhalb Israels, sondern auch die an anderen Orten Israels 4 5

6 7

Wie etwa die El Ard-Bewegung. s. Geries, S. 166 ff., S. 174 ff. 16. Kapitel.

Nachweise bei Geries, S. 118 ff. Ausführlich Geries, S. 117 ff.

27. Kap. : Die palästinensischen Araber

447

lebenden Araber. Und nur die Araber gelten nicht als „abwesend", die zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt legal präsent waren; dieser Nachweis aber w i r d erschwert. Einen anderen Anwendungsbereich für dieses Gesetz bieten die oben erwähnten gegen die Person gerichteten Bestimmungen über das militärische Ausnahmeregime: da mittels dieser Befugnisse Araber aus ihrem Gebiet ausgewiesen und Gebiete zu Sicherheitszonen und zu Verbotenen Zonen erklärt werden können, lassen sich „Abwesende" schaffen; anschließend unterfallen diese Böden dem Absentee's Property Law. Mittels dieser Techniken erfaßt dieses Gesetz nicht nur den Boden der Flüchtlinge, sondern auch die Grundstücke von ungefähr weiteren 20 000 i n Israel lebenden Arabern. Strittig ist die Situation der Wakf-Ländereien 8. Der israelische Staat tendierte zur Übernahme; die arabische Seite macht geltend, daß deren Rechtsträger, die religiöse moslemische Gemeinschaft nach wie vor i n Israel existiere. Israel w i l l nur die Grundstücke und Vermögenswerte zurückgeben, die für die Bedürfnisse der gegenwärtig in Israel lebenden Araber erforderlich sind. Araber sehen i n der Übernahme von WakfGütern einen besonders schweren Rechtsverstoß der Israeli. Wahrscheinlich ist aber nach Völkerrecht hier Israels Standpunkt noch am ehesten zu verteidigen. Denn da Wakf-Güter nicht nur religiösen Zwecken (in europäischer Beschränkung), sondern allgemein kulturellen Zwecken dienen (Schulen, Krankenhäusern), könnten diese Güter i n völkerrechtlichen Kategorien als Eigentum der öffentlichen Hand angesehen werden, an dem der Nachfolgestaat noch am ehesten Eigentum erwirbt. — Ähnlich gefährlich sind für die Araber die Bestimmungen über Cultivation of Waste Lands: unbebautes Land kann vom Staat übernommen werden. Jeder nur weidewirtschaftlich genutzte Boden kann so als „unbebaut" angesehen werden. Vor allem aber die genannten Befugnisse, Araber auszuweisen und beliebig Gebiete zu Sicherheitszonen und zu Verbotenen Zonen zu erklären, die die arabischen Eigentümer und Pächter nicht mehr betreten dürfen, geben die Möglichkeit, die Bodenbestellung zu verhindern und das Land als unbebaut zu übernehmen. — Schließlich sind noch die i n allen Staaten üblichen Enteignungsgesetze zu erwähnen: wie überall kann der Staat „zum Wohle der Allgemeinheit" (oder ähnlich formuliert) Grundstücke enteignen. Es bedarf keiner Ausführung, daß i n einem zionistischen Staate zionistische Ziele das Wohl der „Allgemeinheit" ausmachen: arabische Bauern können so für Zwecke der jüdischen Besiedlung enteignet werden. Ein besonderes Problem bietet die Entschädigung. Mitunter, besonders i m Enteignungsverfahren, w i r d Entschädigung angeboten, und pro-< 8

Z u diesem Begriff 15. K a p i t e l a.

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6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: V o n K r i e g zu K r i e g

israelische Autoren verweisen oft darauf, daß die betroffenen Araber die angebotene Entschädigung i n Geld oder selbst i n Ersatzland abgewiesen hätten. Läßt man den überall in der Welt bei Enteignung entstehenden Streit über das, was angemessen sei, beiseite, so treten hier zusätzliche Probleme auf: Die Araber betrachten die Frage als nationalen Kampf; Annahme einer Entschädigung gilt allgemein als Aufgabe des Eigentums am Boden und folglich als Verrat an der nationalen Sache; welche gesellschaftlichen und physischen Sanktionen die arabische Volksgruppe hier einsetzen kann, entzieht sich der Beurteilung. Vor allem sehen die Araber i m Angebot von Ersatzland den israelischen Versuch, Araber gegen Araber zu stellen: das Ersatzland ist wiederum Land, das in ihren Augen anderen Arabern, etwa Flüchtlingen, gehört. I n der Zuweisung von solchen Ländereien sehen sie einen Keil, der zwischen sie und die Flüchtlinge getrieben werden soll und ein weiteres Hindernis für deren Rückkehr.

2. Die Flüchtlinge Schrifttum: Das unermeßliche Schrifttum; insbesondere auch das amtliche der V N , kann hier nicht nachgewiesen werden; siehe insoweit die U N Y B u n d

Nachweise bei Gabbay und bei Khoury (Kapitel VI). R. E. Gabbay, A Political History of the Arab-Jewish Conflict: The A r a b Refugee Problem (A case Study [Genf 1959]); R. Salomon, Les réfugiés (Paris 1963); W.-D. Bopst, Die arabischen Palästinaflüchtlinge. E i n sozialgeographischer Beitrag zur Erforschung des Flüchtlingsproblems (Regensburg - Münchner Studien zur Sozial- u n d Wirtschaftsgeographie, Bd. 3, 1968); J. B. Schechtman, The Arab Refugee Problems (New Y o r k 1952) ; J. H. Davies, The Evasive Peace (London 1968); D. Kaplan, The A r a b Refugees, an abnormal problem (Jerusalem 1959); Coate, The condition of A r a b Refugies i n Jordan, I n t e r national Ä f f airs, Bd. 29 (1953), Nr. 4; Don Peretz, Israel and the Palestine Arabs (Washington, D. C. 1958); ders., The A r a b Refugee Dilemma, Foreign Ä f f airs Bd. 33 (1954), Nr. 1; ders., The A r a b Refugees: A Changing Problem, ebenda, Bd. 41 (1963), Nr. 3. Fayez Abdullah Sayegh, The Palestine Refugees (Washington: Amara 1952). Die meisten Probleme werden schon an anderen Stellen behandelt; insoweit w i r d verwiesen.

Bereits die Zahl der Flüchtlinge ist bitter umstritten. Israelische Zahlen 1 liegen weit unter den arabischen 2 . Fest steht nur die jeweilige von der UNRWA betreute Anzahl: sie belief sich vor dem Kriege auf ungefähr 1 400 000. Was diese Zahl besagt, ist seinerseits wieder strittig: 1 The Arab Refugees: A r a b Statements and the Facts (Jerusalem 1961): 400 000; The Arab Refugees (New York, Israel Office of Information, 1953). 2 Samt Hadawi, L a n d Ownership i n Palestine (New Y o r k , Palestine A r a b Refugee Office, 1957).

27. Kap. : Die palästinensischen Araber

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Israel hält die Zahl für zu hoch, da sowohl Tote weitergeführt würden 3 als auch Nichtflüchtlinge zugeströmt seien. Nach arabischer Ansicht entspricht diese Zahl zwar den Registrierungen, gibt aber keinerlei Auskunft über die Zahl der Flüchtlinge. Ein Teil der Flüchtlinge sei nicht registriert worden, da er i n den arabischen Nachbarländern Unterkunft und Auskommen gefunden habe; der Kreis der unterstützungsberechtigten Flüchtlinge sei zu eng umschrieben, da er nur die erfasse, die mindestens zwei Jahre vor dem Ausbruch des Konflikts 1948 ihren Wohnsitz i n Palästina gehabt und infolge dieses Konflikts Wohnsitz und Möglichkeit eines eigenen Lebensunterhalts verloren haben 4 ; sie erfasse nicht die Grenzbewohner, die zwar in Westjordanien wohnten, deren Felder und damit ihre Erwerbs- und Ernährungsbasis durch den Waffenstillstand Israel zugeschlagen worden sei 5 . Bis jetzt scheiterten alle Versuche, das Flüchtlingsproblem zu lösen. Bereits der Vermittler Bernadotte hatte während des Krieges versucht, die Flüchtlinge zurückzubringen. Grundlage der juristischen Diskussion blieb in der Folgezeit Ziffer 11 des Beschlusses der Vollversammlung der U N 194 (III) vom 11. 12. 1948, der eine Option für die Rückkehr vorsah 6 . Die arabischen Staaten haben diesen Teil immer als quasi-bindend betrachtet, nicht jedoch die übrigen Teile dieses Beschlusses, die von ihnen etwas verlangten 7 . A n der Diskrepanz über das Flüchtlingsproblem scheiterte die Schlichtungskommission 8 . Israel hat jede allgemeine Rückkehr abgelehnt und hat nur Einzelpersonen i m Rahmen einer Familienzusammenführung einreisen lassen9. Aus der Arbeit der Schlichtungskommission ging die Untersuchungskommission von Gordon Clapp hervor. I m Dezember 1949 wurde aufgrund der Clapp-Commission die Hilfsorganisation der UN, die UNRWA gebildet 10 , die in der Folgezeit die in Lagern lebenden Flüchtlinge notdürftig ernährte. Auch die weiteren Pläne zur Lösung scheiterten 11 . 3

Da die Rationen extrem niedrig sind, versuchen manche Flüchtlinge so ihre Ration zu erhöhen. 4 Später erweitert auf die K i n d e r dieser Flüchtlinge. 5 18. K a p i t e l 1 am Ende. 6 19. Kapitel, A n m . 12. 7 Z u r arabischen Rechtsansicht bezüglich dieses Beschlusses und K o n s t r u k tion s. 20. Kapitel. 8 20. Kapitel. Z u r Tätigkeit der Schlichtungskommission bezüglich der Flüchtlinge u n d dem israelischen Angebot, 100 000 Flüchtlinge zurückzuneh-

men, s. Hamzeh (vor 20. Kapitel), S. 116 ff.

9 Auch hier sind die Zahlen strittig. Nach israelischen Angaben konnten 40 000 Flüchtlinge einreisen, nach arabischer Darstellung handelt es sich dagegen bei 35 000 u m Flüchtlinge, die noch innerhalb des israelischen Staates lebten. 10 U N Relief and Works Agency for Palestine Refugees; s. 19. K a p i t e l am Ende. 11 ζ. Β . Blandford-Plan. Insbesondere Johnston-Initiative.

29 W a g n e r

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6. Teil : Die jüdische Enttäuschung: Von K r i e g zu K r i e g

Die weitere Diskussion geht um die Lösungsmöglichkeiten. Israel bringt eine Reihe von Gründen vor, weshalb es die Flüchtlinge nicht zurücknehmen könne. I n seiner Sicht haben allein die Araber das Flüchtlingsproblem verursacht, als sie die den UN-Teilungsbeschluß nicht akzeptierten. I n der Folgezeit hätten die Araber nichts getan, um die Flüchtlinge einzugliedern und ihnen zu helfen; statt dessen hätten sie die Flüchtlingsmassen als schwärende Wunde konserviert und als politische Waffe gegen Israel erhalten. Die arabischen Länder seien groß, und es bestünden genügend Ansiedlungs- und Eingliederungsmöglichkeiten; auch würden es die Flüchtlinge vorziehen, ließe man sie frei entscheiden, in arabischen Ländern zu bleiben. Innerhalb Israels gäbe es keine Ansiedlungsmöglichkeiten mehr für die Flüchtlinge; das Gebiet sei zu klein; der Kriegszustand mit den Arabern mache es unmöglich, die feindlich indoktrinierten Flüchtlingsmassen aufzunehmen; dies komme der Aufgabe des israelischen Staates gleich. Selbst die Resolutionen der U N sprächen von der „friedlichen" Rückkehr; gerade dies aber sei angesichts der Lage nicht entfernt möglich. Dagegen ist Israel zu gewissen Kompensationen bereit, wenn auch unter Bedingungen: vorher müsse ein Friedensvertrag geschlossen sein; bei der Berechnung der Kompensation müßten die Werte aufgerechnet werden, die die jüdischen Einwanderer i n den arabischen Ländern zurückgelassen hätten; auch die Kriegskosten müßten in Ansatz gebracht werden. Die so berechnete Globalsumme müsse der definitive Schlußstrich unter die Vergangenheit sein. Die Araber bestreiten von dieser Argumentation Punkt für Punkt. Sie verwahren sich insbesondere dagegen, daß sie die Ansiedlung und Eingliederung bewußt verhindert hätten; hierzu seien sie nicht in der Lage. Vor allem machen sie geltend, daß die meisten Flüchtlinge Bauern seien, die keinerlei sonstige Berufsausbildung erfahren hätten; in allen arabischen Aufnahmeländern stelle sich aber genau das Problem, daß ihre eigene Landwirtschaft bereits überbesetzt sei und sie diese überschüssige und erwerbslose Bevölkerung nicht anderweits ansiedeln könnten. Die Diskussion endet stets hoffnungslos. Die Araber können die Unmöglichkeit der Ansiedlung überzeugend belegen; Untersuchungen der UNRWA stützen i m allgemeinen den arabischen Standpunkt. Dennoch bleibt die arabische Argumentation zweigleisig: einerseits belegen sie die Unmöglichkeit der Ansiedlung, andererseits wenden sie sich gegen jede andere Lösung. Mehrfach wurden Pläne erstellt, die eine weitgehende Absorption der Flüchtlinge vorsahen; die dazu erforderlichen Gelder wären von westlichen Staaten bereitgestellt worden, wie insbesondere i m Rahmen des Johnstonplanes. Dies aber wurde von den Arabern als besonders perfide bezeichnet, und sie sprachen mit Entrüstung davon,

27. Kap.: Die palästinensischen Araber

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daß sie sich die Heimat nicht abkaufen ließen, und daß die Flüchtlinge selbst jede andere Lösung als die Rückkehr verweigerten. So bleibt: die palästinensischen Flüchtlinge sind und bleiben weiterhin Opfer einer katastrophalen und inhumanen Politik. Von diesem V o r w u r f sind insbesondere die arabischen Regierungen nicht auszunehmen, die politische Ziele vor humane Erwägungen gestellt haben. 3. Der Palästinensische Widerstand Schrifttum: G. Denoyan, E l Fath parle. Les palestiniens contre Israel (Paris 1970); A. Hottinger, Der K a m p f der Araber gegen Israel. EA, Bd. 12 (1967), S. 415 ff.; ders., Die Rolle der Fedayin i n der arabischen Politik, E A 14 (1969), S. 863 ff.; G. Chaliand, L a Resistance Palestinienne (Paris 1970); ders., Der palästinensische Widerstand zwischen Israel und den arabischen Staaten, diskussion Bd. 11 (1970), Heft 28/29, S. 49 ff.

Die Palästina-Politik der Araber müßte auf drei Ebenen dargestellt werden: die Palästinapolitik der arabischen Staaten und der Arabischen Liga; der Palästinensischen Exilregierung Hadsch Amins; der palästinensischen Flüchtlingsorganisationen. Z u den arabischen Staaten und ihrer Liga wurde bereits einiges gesagt 1 2 1 3 , die Geschichte der Palästinensischen Exilregierung liegt noch i m Dunkeln 1 4 ; die Geschichte des Palästinensischen Widerstandes ist bis jetzt nur i n vagen und kaum nachprüfbaren Umrissen bekannt. Die Struktur der Widerstandsbewegung ist für den Nichtarabisten kaum durchschaubar, und eine bloße Zusammenstellung der fluktuierenden Gruppierungen ist wertlos. Diese Fülle r ü h r t daher, daß jedes arabische Land seine eigene palästinensische Widerstandsgruppe als Instrument seiner Politik geschaffen hat und entsprechend einsetzt; daneben gibt es genuin palästinensische Gruppen. Schließlich sind die Widerstandsgruppen ideologisch verschieden ausgerichtet und nehmen insbesondere zur Frage des revolutionären Kampfes gegen die arabischen Strukturen und Regime eine verschiedene Stellung ein. Und zum letzten stammen alle seriösen Unterlagen aus der Zeit vor dem Zusammenstoß der Widerstandsgruppen m i t der jordanischen Armee i m Sommer 1970; hierbei scheinen die Strukturen der Widerstandsgruppen weitgehend zerschlagen worden zu sein. Die politische Dachorganisation ist die Palästinensische Befreiungsorganisation 15. Sie wurde auf der arabischen Gipfelkonferenz 1964, die anläßlich der israelischen Jordanwasserableitung zusammengetreten war, von den arabischen Staaten gegründet. Formell ist sie von der Arabischen Liga, faktisch war sie zunächst von Ägypten abhängig. Ihre Struk12/13 14 15

29*

19. Kapitel, Text zu A n m e r k u n g 6. 19. Kapitel, Text zu A n m e r k u n g 17. Meist PLO abgekürzt, Palestinian Liberation Organisation.

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6. Teil : Die jüdische Enttäuschung: Von K r i e g zu K r i e g

tur weist Organe auf, die als Legislative und als Exekutive bezeichnet werden könnten; in ihr sind nahezu alle Widerstandsgruppen vertreten. Die ihr angegliederte Palästinensische Befreiungsarmee 16 verstand sich als Armee i m überkommenen Sinne und war i n verschiedenen arabischen Staaten stationiert. Der Vorwurf der späteren aktiveren Widerstandsgruppen ging dahin, daß die arabischen Staaten mit dieser Organisation und Armee das palästinensische Problem unter Kontrolle halten konnten. I n der Palästinensischen Befreiungsorganisation sind heute die übrigen Widerstandsgruppen weitgehend vertreten. Die Führung i n der Palästinensischen Befreiungsorganisation übernahm schließlich die Al Fatah-Gruppe 17. Sie wurde 1965 gegründet und verfügt heute über Untergruppen in Ländern m i t größeren palästinensischen Gruppen wie Kuweit, in Syrien oder auch i n der Bundesrepublik. Während die Befreiungsarmee sich am Vorbilde klassischer staatlicher Armeen ausrichtet, ist für die A l Fatah die algerische F L N und sind deren Kampfmethoden Vorbild. Sie ist die bedeutendste Widerstandsgruppe. Sie rekrutiert sich vornehmlich aus den Flüchtlingslagern und versucht, ein palästinensisches Volk zu formen, gleichfalls wie die FLN. Bislang haben die arabischen Staaten die Palästinafrage und die Flüchtlinge vorwiegend i m Rahmen ihrer Politik gesehen; A l Fatah versucht eine eigene, unabhängige palästinensische Politik zu führen. Anders als die Befreiungsarmee versteht sie sich als Volksarmee und w i l l einen Volksbefreiungskrieg führen. Durch Terrormaßnahmen w i l l sie i n Israel allgemeine Unsicherheit herbeiführen; Wirtschaft und Tourismus schwächen und der Wirtschaft größere Verteidigungslasten auflegen; die weitere jüdische Einwanderung verhindern. A l Fatah versuchte bisher, ideologische Bindungen zu vermeiden. Damit wollte sie für alle offen stehen, die für die Befreiung Palästinas eintreten und interne Richtungskämpfe vermeiden. Ideologische Diskussionen, vor allem über die Ausrichtung des erstrebten palästinensischen Staates hält sie für verfrüht: das palästinensische Volk müsse i m Kampf zu sich finden. Auch hier ist der erfolgreiche Befreiungskampf Vorbild, der erst die algerische Nation hat werden lassen. So beschränkt sie ihre Formulierung auf ein „demokratisches Palästina". Gleichzeitig hoffte sie derart, für die arabischen Gastländer akzeptierbar zu sein, in deren innere Politik sie nicht eingreifen wollte. So konnte sie einen rechten Flügel haben, der lediglich nationale Ziele verfolgte (Befreiung Palästinas) und einen linken Flügel, der gleichzeitig für die Umstrukturierung der arabischen Gesellschaften eintrat. Eben als Folge dieser Enthaltsamkeit gilt A l Fatah als konservativ. Die Politik der arabischen Staaten war nicht einheitlich. Nur Algerien, dessen F L N Vorbild war, und das selbst nicht israelischen Schlägen aus16 17

Meist P L A abgekürzt. M i t militärischer Organisation A l Assifa. Führer: Arafat.

27. Kap.: Die palästinensischen Araber

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gesetzt ist, erklärte sich stets für die A l Fatah; das Verhältnis zu den anderen Staaten, insbesondere zu Jordanien, war Wechsel voll; vorläufig letzte Etappe war der Bürgerkrieg i m Sommer 1970. Von Bedeutung scheinen noch zwei Gruppen. Fast gleichzeitig mit A l Fatah bildete sich die Volksfront zur Befreiung Palästinas, die vor allem durch spektakuläre Anschläge auf die Zivilluftfahrt bekannt wurde 1 8 . Ihre Stellung ist deshalb erwähnenswert, weil sie sich der Disziplin der A l Fatah nicht unterwarf und sich an deren Beschlüsse meist nicht gebunden hielt. Von ihr spaltete sich eine Widerstandsgruppe fast gleicher Denomination ab, die Demokratische Volksfront zur Befreiung Palästinas19. Sie ist die einzige authentisch Sozialrevolutionäre, marxistische Gruppierung, die sich in ihren erklärten Zielen deutlich von den anderen Gruppen abhebt. Nur sie versucht, den als nationalen Konflikt zwischen Arabern und Juden tradierten Konflikt in marxistische Kategorien überzuleiten und demgemäß ihren Kampf als soziale Emanzipationsbewegung der unterdrückten Klassen jenseits nationaler und rassischer Trennungslinien zu artikulieren. Ihr Ziel greift weit über Palästina hinaus und umfaßt den gesamten arabischen Raum, den sie revolutionieren w i l l . Dazu versucht sie eine intensive politische Schulung ihrer Mitglieder. Ihre problematische Stellung unter allen arabischen Regimen und selbst innerhalb der Widerstandsbewegung liegt auf der Hand. Nur sie räumt den Juden i n Palästina nationale Rechte ein und w i l l sie nicht auf kulturelle und religiöse Rechte beschränken. Die erforderliche staatsrechtliche Organisation sieht sie in einer sozialistischen Föderation nach jugoslawischem oder tschechoslowakischem Vorbild und innerhalb dieser Republiken auf der Basis eines Rätesystems: Bauern-, Arbeiter- und Soldatenräte sollen die Macht ausüben. Läßt man die völkerrechtliche Stellung der Widerstandsbewegung und die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der arabischen Ausgangsländer für Aktionen unberücksichtigt 20 , so bleibt als wichtigste Frage das politische Ziel dieser Gruppen i m Hinblick auf die jüdische Bevölkerung in einem von ihnen eroberten Palästina: welche Stellung billigen sie der jüdischen Volksgruppe zu? Hier lassen sich nur widersprüchliche Vorstellungen aufzeigen; die innerarabische Diskussion ist hierzu noch i m Fluß. Die härteste Lösung ist zweifellos der in der Einleitung mitgeteilte 18 Meist abgekürzt: F P L P (Front populaire de libération de la Palestine) oder P F L P (Popular F r o n t . . . ) . Führer: Habasch. I m einzelnen: Chaliand und

Denoyan.

19 I m Deutschen auch: Volksdemokratische Befreiungsfront. Abgekürzt: F P D L P (Front populaire démocratique ...) oder P D F L P (Popular democratic f r o n t . . . ) ; manchmal auch PDF. Führer: Hawetmeh. Nachweise: Chaliand; Denoyan; ausführliche Selbstdarstellung u n d Programm (Sponaneität der Massen u n d die Theorie des Volkskrieges) i n diskussion, Bd. 11 (1970), Heft 27/ 28, S. 61 ff. 20 21. K a p i t e l 2, Text zu A n m e r k u n g 28.

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6. Teil : Die jüdische Enttäuschung: Von K r i e g zu K r i e g

A r t i k e l 6 der Palästinensischen Verfassung: kaum ein Israeli könnte durch dieses Netz schlüpfen, denn die „zionistische Invasion" läßt sich beliebig früh ansetzen, etwa vor der Bilu-Bewegung; i m übrigen: wer stammt schon nachweislich von den authentischen palästinensischen Juden ab? Dieses Verfassungsdokument gilt noch immer und wurde nie widerrufen; nahezu alle Widerstandsgruppen haben diesem Dokument zugestimmt. I n der Folgezeit ist allerdings A l Fatah von dieser harten Lösung abgerückt und erklärte, den Kampf gegen den zionistischen, rassistischen und kolonialen Staat, nicht gegen das israelische Volk führen zu wollen. Sie kämpften für ein „demokratisches Palästina", i n dem alle Religionsgemeinschaften gleichberechtigt seien und was darunter zu verstehen sei, wurde heiß umkämpft, vor allem auf der 6. Palästinensischen Nationalversammlung in Kairo i m September 1969. „Demokratisches Palästina" war jahrelang die verbale Kompromißformel, auf die sich alle einigen konnten und die inhaltlich nicht bestimmt wurde. Nunmehr scheint die Diskussion i n Gang gekommen zu sein: alle Juden, die i n Palästina lebten, könnten Staatsbürger bleiben, sofern sie den rassistischen und zionistischen Chauvinismus ablehnten. Aber diese Gleichberechtigung bedeute keineswegs einen bi-nationalen Staat; die Juden bildeten keine Nation und könnten daher auch keine nationalen Rechte, sondern lediglich religiöse und kulturelle Rechte beanspruchen. Alle Erklärungen deuten darauf hin, daß Palästina als ein arabischer Staat mit einer arabischen Gesellschaft konzipiert ist. Was von den Formeln der religiösen Rechte zu erwarten ist, muß dahingestellt bleiben; selbst proarabische Autoren sehen darin mehr eine Taktik für den außerarabischen Gebrauch. Von allen Widerstandsgruppen gesteht lediglich die Demokratische Volksfront (FPDLP) den Juden nationale Rechte zu. Progressive Kräfte, insbesondere auch i n Europa, sehen hierin den hoffnungsvollsten Ansatz für eine Lösung des Konflikts. Sie mögen nur überlegen, wie hoffnungslos die Demokratische Volksfront i n der Minderheit ist; wie inakzeptabel für die Mehrheit jüdische nationale Rechte i n Palästina sind; wie groß die Schwierigkeit einer revolutionären Bewegung ist, die den gesamten arabischen Raum revolutionieren w i l l ; welche Lernprozesse i m Bewußtsein von Juden und Arabern zu bewirken wären; wie undurchführbar fast überall i n der Dritten Welt das föderalistische Prinzip war und wie tragisch bis jetzt alle Rätedemokratien gescheitert sind.

28. Kap.: Vorwürfe: Kolonialismus und Imperialismus

Achtundzwanzigstes

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Kapitel

D i e Vorwürfe des Kolonialismus u n d Imperialismus u n d die Forderung der Entzionisierung Schrifttum: Die gegenwärtige F l u t der allgemeinen Imperialismusliteratur kann hier nicht nachgewiesen werden; s. kurz v o r 3. K a p i t e l u n d laufend i n „ l i n k e n " Zeitschriften: New Left Review; Sozialistische P o l i t i k (Berlin) u . a . Bezüglich Israel: Trabulsi (vor I. Teil); Rodinson (der Beitrag fehlt i n der deutschen Ausgabe); Kadritzke, Die deutsche L i n k e u n d der Nahostkonflikt — Solidarität m i t wem? diskussion, Bd. 11, Heft 27 (1969), S. 9; Sweezy, Israel u n d der Imperialismus, ebenda, Heft 29/29 (1970), S. 7; Geisel, Zionismus, Imperialismus u n d die Linke, ebenda, S. 30. Ferner laufend i n „ l i n k e n Zeitschriften" wie New Left Review, Sozialistische P o l i t i k ; Israca, u. a.

I n arabischen Augen sind Zionismus und Israel kolonialistische Unternehmungen. Die gesamte arabische Literatur und die politischen Äußerungen könnten hierfür zitiert werden; anders als i m imperialistischen Kontext kann kein Araber den Staat Israel sehen. Die marxistische Ideologie hat den Zionismus seit je als imperialistisch verurteilt. Große Teile der afro-asiatischen Welt haben die arabische Sicht übernommen. Neuerdings sehen auch i n westlichen Staaten die sich als antiimperialistisch, links oder progressiv verstehenden Kräfte zunehmend Israel als imperialistisch an. Israel erfährt so i n großen Teilen der Weltmeinung eine negative Bewertung und w i r d über die Imperialismusqualifikation m i t verwerflichen Aktionen assoziiert, wie Vietnamkrieg, koloniale Unterdrückung, Ausbeutung der Dritten Welt; Israel verliert so sein ehedem progressives Image. Was ist von diesem V o r w u r f zu halten? Offensichtlich hängt alles vom Begriffsverständnis ab 1 . I n der Auseinandersetzung definiert jede Seite die Begriffe so, daß sie das Ergebnis vorwegnimmt, d. h. die Definition enthält Begriffselemente, die sich am israelischen Staat finden oder nicht. Gänzlich sinnlos wäre es auch, einen wissenschaftlichen Imperialismusbegriff zu eruieren und Israel daran zu messen. Vielmehr muß sich der Leser kurz m i t der weltweit geführten und recht amorphen Diskussion vertraut machen. I n der wissenschaftlichen Diskussion ist insbesondere strittig, ob es nur einen kapitalistisch bedingten Imperialismus gibt. Der Begriff ist i n der Polemik u m die koloniale Expansionspolitik des 19. Jahrhunderts entstanden und w i r d auch auf die heutige wirtschaftliche und finanzielle Expansion der westlichen Industriestaaten i n die Räume der Dritten Welt erstreckt (auch Neo-Kolonialismus). Strittig ist nun, ob der Imperialismusbegriff von diesem europäisch-amerikanischen Kontext gelöst werden und ihm ein zeitlich-räumlich universeller Cha1 I m Arabischen w i r d meist für Kolonialismus u n d Imperialismus nur ein W o r t : ista'amar (ungefähr: Ausbeutung u n d Kolonie) verwendet.

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6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: Von K r i e g zu K r i e g

rakter gegeben werden darf. Denn die Imperialismustheorien sind gleichzeitig i n Gegnerschaft zum Kapitalismus entstanden und haben einen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen dem privatkapitalistischen Wirtschaftssystem und der kolonialen und neokolonialen Expansion behauptet. Wer diesen Zusammenhang vertritt, kann nur kapitalistisch strukturierte Gesellschaften als imperialistisch bezeichnen. Andere A u toren glauben, den Imperialismus nicht ausschließlich ökonomisch erklären zu können; sie sehen i n der imperialistischen Expansion die Verlängerung der manchen Ideologien und Nationalismen zugrundeliegenden geistigen Einstellung. Dementsprechend können sie von einem römischen, islamischen, ottomanischen oder sowjetischen Imperialismus sprechen. Selbst im kapitalistischenKontext verstanden, sind die einzelnen Merkmale noch strittig. Die Diskussion ist weitgehend durch das lenin'sche Imperialismusverständnis bestimmt 2 . Lenin behauptete nicht nur eine unlösbare Verbindung von kapitalistischem Wirtschaftssystem und i m perialistischer Expansion, sondern bestimmte den Imperialismus als ein Stadium des Kapitalismus selbst. Daher erscheint „Imperialismus" auch einfach zur Bezeichnung eines nichtsozialistischen und daher kapitalistisch strukturierten Wirtschaftssystems 3 ; schon aus diesem Grunde wäre nach diesen Kategorien der israelische Staat (weil nicht durchgehend sozialistisch strukturiert) als imperialistisch zu bezeichnen; daher die i m Imperialismuskontext so frustrierende Diskussion, ob Israel ein überwiegend sozialistischer Staat 4 und schon deshalb nicht imperialistisch sei und, so die Gegenthese, daß Israel jedenfalls weit sozialistischer sei als die meisten arabischen Staaten, die noch tief in feudalistischen Strukturen verharrten. Die heutige wissenschaftliche Imperialismusdiskussion setzt vornehmlich am Kapitalexport ein. Lenin hatte nämlich das imperialistische Stadium des Kapitalismus durch mehrere Merkmale bestimmt, von denen eines der Kapitalexport sei: i m Unterschied zum vormonopolistischen Kapitalismus finde das Kapital in den Metropolen keine ausreichenden Verwertungsmöglichkeiten mehr, und daher gewinne der Kapitalexport auf Kosten des Warenexports an Bedeutung. Der Kapitalstrom fließe als direkte Investitionen und als Leihkapital vorwiegend i n rückständige Länder; die dortigen niedrigen Löhne, Boden- und Rohstoffpreise sicherten den Monopolen koloniale Extraprofite. M i t diesen erhöhten Gewinnen könnten die Monopolherren wiederum die Arbeitnehmer in den Metropolen durch höhere Löhne bestechen und so vom Sturz der kapitalistischen Ordnung abhalten. 2

Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1916). Das i n der DDR erschienene Buch „Imperialismus heute" (1968) erörtert fast ausschließlich die inneren Strukturen der westdeutschen Wirtschaft. 4 Hierzu s. 1. K a p i t e l 2 d u n d 4 (Sozialistische Parteien). Israelische Darstellung: Meir Yaari, Israel 1968. On the Road to Socialism (Tel A v i v 1969). 3

28. Kap.: Vorwürfe: Kolonialismus und Imperialismus

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Da die lenin'sche Imperialismustheorie weitgehend die gegenwärtige Imperialismusdiskussion bestimmt, erscheint der Kapitalexport derart als Problem. Denn zum einen investieren die Industrieländer heute überwiegend in den industrialisierten Gebieten, also etwa i m Gemeinsamen Markt; zum anderen ist der Kapitalstrom heute eher umgekehrt, d. h. er entspringt stärker i n den armen Ländern und mündet i n die reichen Industrienationen. Diese Richtung ist durch alle Statistiken belegt, so sehr die errechneten Beträge infolge verschiedener Berechnung differieren. Die Gründe sind vielfältig und können hier nicht nachgewiesen werden. Die Ausbeutung der Dritten Welt durch die westlichen Industrienationen vollzieht sich i n extrem vielen Formen; sie liegt i n einem Weltwirtschaftssystem begründet, das es den westlichen Industrienationen erlaubt, einen erheblichen Teil ihres Bruttosozialproduktes i n der Dritten Welt zu erarbeiten, ohne daß dem ein entsprechender Zuwachs der D r i t t weltländer oder gar der Bevölkerung dieser Länder entspräche. Daher lassen sich nahezu alle Beziehungen der westlichen Industrienationen zu den Staaten der Dritten Welt als imperialistisch ansehen: die Handelsbeziehungen, die eine aus der Kolonialzeit übernommene und auf die Bedürfnisse der Industrieländer ausgerichtete Wirtschaftsstruktur perpetuieren; die A u f rech terhaltung der Monokulturen, die einst die heimischen Ernährungsstrukturen zerstört haben und heute diese Länder extrem abhängig von Weltmarktschwankungen und unternehmerischen Entscheidungen machen; die ständig zuungunsten der Rohstoff- und Stapelgüterproduzenten verlaufenden Austauschbedingungen (terms of trade); die Unmöglichkeit für diese Staaten, eigenverantwortliche Wirtschaftspolitik zu treiben, da alle wichtigen Entscheidungen von den Monopolen außerhalb ihres Landes getroffen werden. Viel ließe sich noch anführen: eine Entwicklungshilfe, die bestehende Strukturen aufrechterhält, die eine reaktionäre Bourgeoisie stützt und so die evolutive oder revolutionäre Umstrukturierung verzögert; schließlich fiele insgesamt ein System darunter, das der Westen als freiheitlich ansieht, das aber z. B. i n den Aspekten der personellen und finanziellen Freizügigkeit sich als brain drain und Fluchtgelder konkretisiert und daher aus der Sicht des antiimperialistischen Kontextes sich als Ausplünderung der menschlichen und kapitalmäßigen Ressourcen der Dritten Welt ansieht. Aber selbst rein politische Beziehungen erscheinen so als imperialistisch, da sie den Staat, das Regime und, i n marxistischer Sicht, die herrschende Klasse stützen. Können i m antiimperialistischen Kontext somit fast alle Beziehungen der westlichen Industriestaaten zu den Staaten der Dritten Welt als imperialistisch angesehen werden, so gilt dies i n gleicher Weise für die Strukturen in den Drittweltstaaten selbst, die diese Beziehungen aufrechterhalten und ermöglichen: eine einheimische Kompradorenbourgeoisie,

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6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: Von K r i e g zu K r i e g

die an den übernommenen Wirtschaftsstrukturen und den Wirtschaftsbeziehungen zu den westlichen Industrienationen festhält, statt die W i r t schaft nach den einheimischen Bedürfnissen umzustrukturieren; am Gefüge und Lebensweise dieser Bourgeoisie, deren Lebensstandard und Wertsystem der sozialen Entwicklung des Landes widerspricht; damit kurz auch alle Mißstände und Hemmnisse i m eigenen Lande für die erforderliche Entwicklung. Je nach dem eigenen ideologischen Standort erscheint dem Betrachter jedes Regime, das rechts von ihm steht, als „Agent des Imperialismus"; nahezu kein Regime der Dritten Welt ist diesem Vorwurf entgangen. Daher gelten bei arabischen Linken selbst die Regime Syriens und Algeriens als imperialistisch. Darüber hinaus kann „Imperialismus" zu einer negativen Staatsideologie werden, die die Nichtbewältigung aller Schwierigkeiten erklärt. Meist sind diese Schwierigkeiten übergroß und kaum zu bewältigen; oft lenkten sie von der eigenen Unfähigkeit ab. I m Westen schließlich nimmt der Anti-Imperialismus mitunter pseudo-religiöse Züge an, und der religiösen Überzeugung kommt man nicht mit Gründen. Angesichts dieses Diskussionsstandes ist ersichtlich, daß nahezu jedes politische Phänomen und also auch Israel leicht als imperialistisch begriffen werden können. I n der gestaltlosen Diskussion mag man Argumente und Gegenargumente etwa so gliedern: — Der vulgärmarxistische Vorwurf übernimmt eine Imperialismusvorstellung, wie sie für die europäisch-amerikanischen Industriestaaten und deren Expansionen entwickelt worden ist und w i l l das zionistischisraelische Phänomen darunter bringen. Sie begreift die zionistische Bewegung als Teilnahme der jüdisch-europäischen Bourgeoisie an der imperialistischen Expansion i m weniger fortgeschrittenen Räume; sie betont den Kapitalexport der europäisch-amerikanischen Juden nach Palästina; hierbei w i r d insbesondere auf die Rolle Rothschilds bei der vorzionistischen und zionistischen Besiedlung hingewiesen: die vorzionstischen Besiedlungsformen entsprächen dem Modellbild des Kolonialismus; sie betont die Rolle der israelischen Bourgeoisie, die sie als Kompradorenbourgeoisie begreifen w i l l ; sie sieht i n gewissen industriellen Absprachen m i t dem US-Judentum eine Ausrichtung der israelischen Wirtschaft nach den Bedürfnissen der US-Wirtschaft. Gegen den vulgärmarxistischen Vorwurf ist die pro-israelische Abwehrargumentation einfach und überzeugend. I n dieser Konstellation w i r d etwa so argumentiert: Die pro-israelische Seite betont die Unterschiede zu den kolonialistisch-imperialistischen Phänomenen. Die Kolonisation sei nicht zur Bereicherung einer Metropole angelegt, sondern diese Kolonisation sei umgekehrt auf fortlaufende Zuschüsse der Diaspora-Juden angewiesen. Die Gelder für die Besiedlung seien zunächst

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keineswegs überwiegend von der jüdischen Bourgeoisie aufgebracht worden, sondern von den jüdischen Massen i n Osteuropa; die zionistische Bewegung habe mit den kolonialen Besiedlungsmethoden der von Rothschild gestützten vorzionistischen Siedlungen aufgeräumt. Die israelischjüdische Bevölkerung sei nicht mit Kolonisten wie den Algerienfranzosen oder Weißen Südafrikas vergleichbar; ihre Nation sei vielleicht i n marxistischer Sicht eine Klassengesellschaft, aber eben weil sie eine volle strukturierte Gesellschaft sei, bilde sie keine Volksklasse. Die israelische Bevölkerung beute nicht, wie sonst i n Kolonien, eine eingeborene Bevölkerung aus, da sie alle Arbeiten selbst tue: i n marxistischen Kategorien gesprochen produziere sie ihren Mehrwert selbst; koloniale Extraprofite gebe es keine; der ihre eigene Produktionskraft überschießende Lebensstandard werde durch Zuwendungen des Diaspora-Judentums aufrechterhalten; eine Kompradorenbourgeoisie lasse sich nicht nachweisen. Auch die Kategorie des Kapitalexports liege nicht vor: das USJudentum habe i m eigenen Lande keine Kapitalverwertungsschwierigkeiten, und die nicht gewinnbringenden Zuwendungen überstiegen die gewinnbringenden Privatinvestitionen bei weitem. Schließlich zeigten sich i n Israel die für Kolonien typische Monokultur und die bewußte Ausrichtung der Gesamtwirtschaft auf die Bedürfnisse einer Metropole (Industrialisierungsstop, Export von Grundstoffen, Import von Fertigwaren) nicht. Manche Vertreter der Imperialismustheorie suchen die Argumentation zu retten, indem sie die orientalischen Juden als die Ausgebeuteten ansehen. Diese aus arabischen Ländern kommenden Einwanderer machen heute ungefähr die Hälfte der jüdischen Israeli aus. E i n großes soziologisches Schrifttum erörtert die Probleme der Eingliederung u n d Verschmelzung der so heterogenen Volksgruppen 5 . I m K o n t e x t des Imperialismusvorwurfs werden die israelischen Juden europäischer Abstammung als Bourgeoisie u n d die orientalischen Juden als Proletariat i n der Rolle ausgebeuteter Eingeborener gesehen. N u n sind aus manchen Gründen die Integration u n d die Verschmelzung nicht i n erhofftem Umfang gelungen. Das r ü h r t vornehmlich daher, daß die Volksgruppen partiell separiert leben, u n d daß die orientalischen Juden nicht die f ü r den modernen, westlich inspirierten Industrie- u n d Verwaltungsstaat erforderliche Vorbildung mitbringen. Der V o r w u r f geht noch weiter: Da die europäischen Juden das Gesellschafts- u n d Staatsleben bestimmen, ist das ganze Werte- u n d Ausbildungssystem an europäischer Denkweise u n d an europäischen Vorbildern ausgerichtet: die jüdische Geschichte der Diaspora er5 Aus dem großen Schrifttum: A. Weingrod, Israel, Group Relations i n a New Society (London 1965); S. Jonas, Les classes sociales en Israel, Cahiers Internationaux de Sociologie, Bd. 38 (1965); R. Patai, Israel between East and West (Philadelphia 1953) ; J. J. Berreby, De l'intégration des juifs yéménites en Israel, L'Année Sociologique 1953 - 1954 (dazu noch Sh. Barev , The Magic Carpet [London 19521); D. Willner, N a t i o n - B u i l d i n g and Community i n Israel (1969); S. N. Eisenstadt, Israeli Society (London 1967); Nissim Reywan, L a querelle des deux communautés. U n point de vue orientai, Esprit (September 1966).

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6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: Von K r i e g zu K r i e g

scheint nur als Geschichte der europäischen Juden, die orientalischen Juden verbleiben i n der Geschichtslosigkeit. Die damit verbundenen Sozialisationsschwierigkeiten führten dazu, daß sich der Abstand zwischen den beiden Volksgruppen eher vergrößerte u n d daß die K u l t u r der orientalischen Juden zerstört wurde. E i n weiterer Versuch, die Ausbeutungsthese zu retten, stützt sich auf den

heutigen Einsatz arabischer Arbeitskräfte

in der israelischen Wirtschaft, ins-

besondere auch nach dem Junikrieg 1967 i n den besetzten Gebieten.

— Im gesamtimperialistischen Kontext argumentiert ein Vorwurf, der Israels Verbindung zu imperialistischen Mächten, seine Gegnerschaft zum sozialistischen Lager und seine Funktion für den Weltimperialismus zu begründen sucht. Die geschichtliche Verbindung des Zionismus mit imperialistischen Zielen europäischer Staaten ist unabweisbar: wie hätte der Zionismus vor dem 1. Weltkrieg überhaupt anders agieren sollen? So hat Herzl reihum bei den imperialistischen Mächten (zu denen i n diesem Kontext auch die Türkei gehörte) sein Glück versucht, und er hat sein Vorhaben dementsprechend als Gewinn für die imperialistischen Absichten seiner jeweiligen Gesprächspartner hingestellt. Daher kann die arabische Seite heute genügend Stellen aus zionistischen Klassikern zitieren, die Israel als Speerspitze des Westens erscheinen lassen: Herzl hat gleicherweise den Wert der Heimstätte für die europäische Zivilisation 6 und für die strategischen Interessen Großbritanniens 7 angepriesen. Es wäre eine unhistorische Absurdität, wollte man verlangen, daß die Zionisten ihr Vorhaben bereits damals als antikolonialistischen Befreiungskampf hätten artikulieren sollen. Diese Argumentation findet sich erst viel später, und hierzu berufen sie sich auf ihren Kampf gegen die britische Mandatsmacht und machen geltend, daß die Unabhängigkeit Israels das gesamte Beherrschungsverhältnis Großbritanniens i m Vorderen Orient erschüttert habe. Nach Ausbruch des 1. Weltkrieges hat sich der Zionismus resolut auf die britisch-imperialistische Seite gestellt: wiederum blieb i h m keine andere Wahl. Die Türken hatten Herzl abgewiesen, Rußland und Deutschland gleichfalls; Frankreich wollte selbst Palästina. Erst die Konstellation des 1. Weltkrieges, die Chance eines alliierten Sieges und der türkischen Niederlage gaben dem Zionismus reale Möglichkeiten. Weizmann setzte entschlossen auf die Karte der Alliierten und machte so den Zionismus zu einem zwangsläufigen Verbündeten des britischen Imperialismus. Niemand kann bestreiten, daß der Zionismus i m Kielwasser des britischen Imperialismus nach Palästina gekommen ist. β Eine vielzitierte Stelle Herzls lautet: „ F ü r Europa würden w i r dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, w i r würden den Vorpostendienst der K u l t u r gegen die Barbarei besorgen. W i r würden als neutraler Staat i m Zusammenhang bleiben m i t ganz Europa, das unsere Existenz garantieren müßte." 7 Darüber s. 6. K a p i t e l 1.

28. Kap.: Vorwürfe: Kolonialismus und Imperialismus

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Man sollte sich nur darüber klar sein, daß diese Feststellung i m heutigen Kontext einer weltweiten Diskussion einen anderen Stellenwert hat als damals. Jede Befreiung von türkischer Herrschaft war damals nur m i t Hilfe imperialistischer Mächte möglich; allein gelassen, das heißt ohne Hilfe für die Araber und materielle Bedrohung der Türkei durch europäische Mächte hätte sich das Ottomanische Reich noch lange halten können. Schließlich haben auch und gerade die nationalistischen Araber auf den britischen Imperialismus gesetzt: auch die Abmachung Hussein— McMahon war Muster dessen, was heute „imperalistisches Komplott" hieße; der „Aufstand i n der Wüste" war so „national" oder so „imperialistisch", wie etwa die Losreißung Panamas von Kolumbien (mit ähnlichen territorialen Gaben an die imperialistischen Helfer); Lawrence und Kirkbride waren imperialistische Agenten, kurz, nichts fehlt. Nicht einmal die „Befreiung vom türkischen Joch" würde heute akzeptiert: die gesamte Dritte Welt wendet sich heute gegen Befreiungsbewegungen und Autonomiebestrebungen i n ihrem Bereich und verweigert deren A n hängern die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht, weil die „Balkanisierung" der Dritten Welt ausschließlich wieder dem Imperialismus hülfe. M i t dieser Sicht beurteilen sie die Befreiungskämpfe der Kurden und Südsudanesen und sahen sie überwiegend den biafranischen Sezessionskrieg. Das Zwangsbündnis blieb auch in der Folgezeit bestehen. Nur Großbritannien konnte den Zionisten Palästina verschaffen: auf den europäischen Friedenskonferenzen verteidigte Großbritannien die BalfourErklärung gegen die Begehrlichkeit seiner Verbündeten und gegen arabische Ansprüche; nur Großbritannien konnte die Balfour-Erklärung i n die Friedensverträge und in das Palästinamandat umsetzen. Und in Palästina bedurften die Einwanderung und das Aufbauwerk noch lange der britischen Bajonette: ohne britischen militärischen Schutz wäre die Realisierung der Balfour-Erklärung gar nicht denkbar gewesen. Der Zionismus blieb auch nach der Staatsgründung voll i m Westen verwurzelt; in den Ostblockstaaten blieb er verboten. Der Staat Israel wurde voll vom Westen abhängig, was sich wirtschaftlich-finanziell leicht belegen läßt. Die jüdisch-israelische Bevölkerung verfügt für sich allein nicht über das Wirtschaftspotential, um die erforderlichen Ressourcen für die Entwicklung und Verteidigung des Staates zu erarbeiten. Die Erschließung des Landes kann für viele Jahre nicht auf der Basis kostendeckender Projekte geschehen; die Eingliederung der Einwanderer und der prozentual außerordentlich hohe Verteidigungshaushalt können nicht von einer Volkswirtschaft dieser Größe getragen werden. Das Defizit deckt der Westen, füllen die in westlichen Staaten, insbesondere i n den USA lebenden Juden und die westlichen Staaten. Israels Wirtschaft war einige Male nahezu am Ende und nur die massive westliche Hilfe hat sie

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oder z u m i n d e s t d e n p e r m a n e n t e n A u f b a u gerettet. W i c h t i g s t e P o s t e n w a r e n d i e deutschen W i e d e r g u t m a c h u n g s l e i s t u n g e n , d i e U S - W i r t s c h a f t s h i l f e u n d die Z u w e n d u n g e n der a m e r i k a n i s c h e n D i a s p o r a - J u d e n . Die deutschen Wiedergutmachungszahlungen bestanden aus Globalzuweisungen an den Staat Israel aufgrund des Israelvertrages v o n 1952 u n d i n d i v i duellen Leistungen aus dem Bundesentschädigungsgesetz u n d dem Bundesrückerstattungsgesetz. Insgesamt sind aufgrund des Iraelvertrages ungefähr 3,450 M i l l i a r d e n u n d bis Ende 1970 als individuelle Zahlungen etwa 11 M i l l i a r den nach Israel geflossen. Schrifttum: Fr. Schürholz, Ergebnisse der deutschen Wiedergutmachungsleistungen i n Israel (1968); F. E. Shinnar, Bericht eines Beauftragten (1967), T e x t : E A 1953, S. 5628. Die amerikanischen Zuwendungen lassen sich verschieden weit fassen. Aber alle Berechnungen zeigen, daß Israel (nach der Türkei, evtl. auch nach Pakistan) den größten T e i l der nichtmilitärischen Hilfe v o n allen Ländern des Nahen Ostens erhalten hat; anders berechnet erhielt es die höchste p r o - K o p f Rate i n der Region an Zuwendungen. Die Zuschüsse aus den USA kommen vornehmlich aus folgenden Quellen: — Zuwendungen der US-Regierung, die partiell ähnlich wie die MarshallHilfe-Gelder verausgabt werden; — Anleihen der israelischen Regierung, die sie i n den U S A auflegen kann, d. h., f ü r deren Auflegung auf dem amerikanischen K r e d i t m a r k t sie die amerikanische Genehmigung erhält (Israel Government Bonds) ; — private Spenden des US-Judentums, die vornehmlich über den United Israel Appeal fließen; — private Investitionen i n Israel. K r i t i k e r rügen, daß auch die angeblich privaten Zuwendungen der amerikanischen Juden partiell v o m öffentlichen Haushalt getragen werden, da Spenden an Israel steuerlich absetzbar sind. Sie rügen weiter, daß diese Spenden als „gemeinnützig" u n d als „mildtätige Spenden" (charitable) i m Sinne des amerikanischen Steuerrechts gelten, obwohl sie praktisch unmittelbar (über andere Träger) i n den israelischen Staatshaushalt flössen. Selbst w e n n diese Gelder f ü r kulturelle Verwertung zweckgebunden seien, entlasteten sie den Gesamthaushalt entsprechend. Diese finanziell-wirtschaftliche A b h ä n g i g k e i t v o m W e s t e n d i e n t als wichtigster Beleg f ü r die wirtschaftliche u n d politische A b h ä n g i g k e i t Israels v o n d e n w e s t l i c h e n I n d u s t r i e n a t i o n e n u n d als B e w e i s d a f ü r , daß I s r a e l o h n e w e s t l i c h e H i l f e n i c h t l e b e n s f ä h i g w ä r e . V o n da h e r w e r d e n d i e v o m W e s t e n b e w u n d e r t e n A u f b a u l e i s t u n g e n Israels r e l a t i v i e r t ; w i r d I s r a e l als k ü n s t l i c h a m L e b e n gehaltenes u n d r a u m f r e m d e s G e b i l d e b e zeichnet; w i r d I s r a e l als A n h ä n g s e l des w e s t l i c h e n I m p e r i a l i s m u s gesehen. M a n b r a u c h t n u r die moralisch-psychologischen B i n d u n g e n des Westens z u I s r a e l z u l e u g n e n , u n d d e r A r a b e r u n d d e r M a r x i s t l e u g n e t sie oder b e w e r t e t sie n e g a t i v , d a n n k ö n n e n d i e I n s t i t u t i o n e n des u n t e r s t ü t z e n d e n Westens n u r i m p e r a l i s t i s c h e r N a t u r sein, w i e K a p i t a l i n v e s t i t i o n i n K o l o n i a l g e b i e t e ; S p a l t u n g der arabischen N a t i o n u n d i h r e A b -

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lenkung vom antiimperialistischen Befreiungskampf, um die Ölprofite zu sichern u. ä. Anders können Araber und meist auch Marxisten diese Unterstützung nicht sehen; Araber leugnen ja bereits die volksmäßigen Bindungen des US-Judentums mit Israel — während es für sie selbstverständlich ist, daß z. B. Algerien sich den Palästinensern volklichnational verbunden fühlt. Die pro-israelische Gegenargumentation betont, daß fast alle Staaten der Dritten Welt hohe Zuwendungen von westlichen Industrienationen erhielten, ohne daß damit bereits ihr kapitalistischer Charakter festliege: Indien, Jugoslawien, Indonesien, zeitweise auch Ägypten. Alle arabischen Staaten erhielten hohe Zuwendungen aus der kapitalistischen oder aus der sozialistischen Welt; man verweist auf die russische M i l i t ä r hilfe an Ägypten und auf die nichtmilitärische Unterstützung, wie die Finanzierung des Assuandammes. Selbst die Erlöse aus dem ölaufkommen entsprängen ja eher geologischen Zufälligkeiten als der sonst möglichen Wirtschaft der Erdölproduzentenstaaten. Die Gegnerschaft Israels zum sozialistischen Lager ist eher eine umgekehrte Gegnerschaft: Israel hat sie sich nicht ausgesucht. Über die traditionelle Abneigung des Marxismus gegen ein nationales Judentum von Marx bis Lenin wurde berichtet 8 . Die Zionistische Bewegung blieb i n der Sowjetunion verboten; unter Stalin wurde die Verurteilung des Zionismus noch härter und er galt als reaktionäre, kleinbürgerliche Bewegung und Exponent der „exploiting, big-power, imperialist oppressive strivings of the Hebrew bourgeoisie" 9 . Da der Zionismus zunächst voll auf die Diaspora-Juden angewiesen war, die personellen und materiellen Quellen des russischen Judentums abgeschnitten waren, wurde der Zionismus zwangsläufig hinsichtlich seines eigenen Substrats eine westliche und also „imperialistische" Angelegenheit. Die sowjetische Unterstützung 1947 - 1949 in der U N und im Kriege blieb, so unerläßlich sie für die Staatswerdung Israels war, Episode. Die sowjetischen Hoffnungen bezüglich Israel realisierten sich nicht; die späte Stalinzeit ließ den Zionismus zu einem Hauptfeind werden (sowjetischer Ärzteprozeß, Slansky-Prozeß). I m kalten Kriege, i n dem Israel — nach Ansicht des Verfassers zwangsläufig — auf westlicher Seite stand, verhärteten sich die Fronten weiter. Als Höhepunkte des sowjetischen (und der übrigen kommunistisch geführten Staaten) Antizionismus mögen der Kampf der Sowjetunion gegen Israel in den V N 1 0 , der Exodus der Juden 8

1. K a p i t e l 4 d. s. etwa: Ben-Shlomo, Soviets and Zionism, Wiener L i b r a r y Bulletin, Bd. 20 (1965 - 1966), S. 7 ff.; M. Ebon, Communist tactics i n Palestine, The Middle East Journal 1948, S. 256 ff. 10 Die kommunistisch geführten Länder stehen nicht n u r v o l l auf der arabischen Seite. A m 14. Oktober 1965 schlugen die Sowjetunion u n d Polen i n den U N zum E n t w u r f einer E r k l ä r u n g gegen Antisemitismus einen Zusatz vor, nach 9

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aus Polen und schließlich der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Israel gelten. — I n dieser Konstellation ist es nicht schwierig, die Funktion Israels im imperialistischen Kontext zu begründen. Israel erscheint dann als imperialistischer Agent mit der Funktion, je nach ideologischer Ausdrucksweise, den nationalen, den anti-imperialistischen, den revolutionären oder proletarischen Befreiungskampf der arabischen Gebiete zu verhindern. Statt aller etwa Dagani, T M S. 139: "Israel est lié moralement et matériellement à l'imperialisme où q u ' i l se trouve. I l s'en nourrit, en prolonge l'existence . . . Si u n Etat occidental cherche à imposer par la force sa volontà au monde arabe, Israel est son instrument et son allié naturel dans cette entreprise. Et, inversement, Israel et le sionisme mondial, dans leur effort continu pour atteindre leurs objectifs, recherchent toujours l'aide d'un Etat occidental et essayent de l'entrainer à leur suite . .

Ferner: Trabulsi, Geisel. Auch diese Debatte bleibt unentschieden. Die arabische Seite kann objektive Gegebenheiten für sich anführen: der partielle Interessengleichklang zwischen Israel und dem haschemitischen Jordanien, der zeitweise zu einer Quasi-Kollusion beider Staaten und zu einer A r t von israelischer Garantie für das Haschemitenregime geführt hat, weil Israel erklärt hatte, keine Änderung in Jordanien (Übernahme der Macht durch die palästinensische Widerstandsbewegung oder Anschluß an Syrien) zu dulden; Absorption der arabischen Energien und damit Ablenkung von ihrem antiimperialistischen Befreiungskampf, von ihrer nationalen Einigung, von ihren notwendigen revolutionären Strukturveränderungen oder auch nur von der Investition der erforderlichen Ressourcen in die Modernisierung. Sie verweist auf die israelische Unterstützung Frankreichs i m Algerienkrieg (etwa in den VN), auf Ben Gurions Ratschläge an Frankreich, das algerische Problem durch Umsiedlungen nach israelischem Vorbilde zu lösen, und auf Israels Teilnahme am letzten großen imperialistischen Abenteuer europäischer Staaten i n der Suezaffäre 1956. Oder sie verweisen etwa auf die Tatsache, daß sich das offizielle Israel nie gegen den Vietnamkrieg der USA ausgesprochen habe, und daß Dajan in Vietnam die moderne Kriegsführung ausführlich studiert habe 11 . Die pro-israelische Seite kann darauf verweisen, daß die israelische Unterstützung Frankreichs und der USA eben der Preis für die zwangsweise Abhängigkeit von diesen Staaten sei: Israel könne nicht gleichzeitig von den USA eine Rückendeckung fordern, die die USA i m Vorderen dem „Zionismus, Nazismus u n d Neonazismus" als rassistische Verbrechen stigmatisiert werden sollten, Ben-Shlomo, a.a.O. 11 Dazu etwa: Magen, Pas de lien avec le Vietnam, Cahiers Bernard Lazare 1960 (Juni - Juli), S. 10 ff.

2 . Kap.: Vorwürfe: Kolonialismus und Imperialismus

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Orient nahe an den Konflikt m i t der Sowjetunion bringe und auf anderer Ebene gegen die US-Intervention i n Vietnam polemisieren. Westliche Autoren können leicht darlegen, daß Israel keineswegs das Instrument sei, um eine westlich-imperialistische Vorrangstellung i m arabischen Raum zu erhalten, sondern daß es gerade ihre pro-israelische Politik sei, die westlichen Einfluß dort fast ausgeschaltet hat. Die als imperialistisch bezeichnete Bundesrepublik — und die i m Verhältnis zur Dritten Welt auch imperialistisch ist — hält nicht mittels des Instruments Israel ihren Einfluß i m arabischen Räume aufrecht, sondern hat durch ihre proisraelische Politik, wie genau vorauszusehen war, die diplomatischen Beziehungen und ihre bis dahin ausgezeichnete Stellung verloren. Die Forderung der Entzionisierung verlangt vom Staate Israel, sich ausschließlich als Staat der israelischen Staatsangehörigen zu gebärden und alle organisatorischen Bindungen zum Weltjudentum zu kappen. I n nenpolitisch läuft die Forderung auf eine Entjudaisierung hinaus. Aus dem Komplex können nur die wichtigsten Elemente dargelegt werden: Auf außenpolitischer Ebene beinhaltet die Forderung der Entzionisierung die Beendigung der organisatorischen Beziehungen Israels zum Weltjudentum, insbesondere zu den großen jüdischen Organisationen i n den USA, und damit die Auflösung der Zionistischen Organisation und der Jewish Agency 1 2 . Israel hat sich nie als „Staat wie jeder andere" verstanden, d. h. nur als Staat seiner Staatsangehörigen, sondern immer als Staat der gesamten Judenheit i n aller Welt. Israel w i l l nicht nur die Diaspora-Juden durch kulturelle und pädagogische Betreuung dem Judentum erhalten; dies ginge nicht über das hinaus, was alle Staaten m i t ihrer Auslandsgruppe mehr oder weniger erfolgreich versuchen. Israel versteht sich darüber hinaus als potentieller Zufluchtsort aller Juden und umgekehrt als spirituelles Zentrum der Judenheit; es erhofft und betreibt aktiv die Einwanderung großer Teile der Diaspora-Juden; es hat Aufbau und auch Verteidigung Israels immer als Aufgabe aller Juden angesehen. I m Organisatorischen konnte Israel auf die traditionellen zionistischen Organisationen zurückgreifen 13 , u m das Weltjudentum m i t dem Staate Israel zu verzahnen, wenn auch hier die Abstimmung m i t den zionistischen Organisationen der USA zeitweise schwierig war.

12 U. Avnery, Israel w i t h o u t Zionists. A Plea for Peace i n the Middle East (New Y o r k - London 1968) ; M. Salzer, The Aryanisation of the Jewish State (New Y o r k 1967); G. Friedmann, F i n du peuple juif? (Paris 1965); W. S. Schlamm , Wer ist Jude? (1964); D. Polish , The Higher Freedom. A new T u r n ing point i n Jewish history (Chicago 1965); O. Heller, L a fln du Judaisme (Paris 1938). 13 Z u r S t r u k t u r bis zur Staatsgründung s. 14. K a p i t e l 1.

30 W a g n e r

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Neben der Zionistischen Organisation ist heute wahrscheinlich der Jüdische Weltkongreß, eine Dachorganisation von über 60 nationalen jüdischen (also nicht n u r zionistischen) Verbänden die wichtigere Oganisation.

Die Jewish Agency besteht seit der Staatsgründung 1948 als Jewish Agency for Israel fort; gleiches gilt für die Zionistische Organisation. Die zionistischen Kongresse fanden seitdem i n Jerusalem statt. Die Funktion der Zionistischen Organisation war allerdings nach der Staatsgründung zunächst fraglich geworden. Insbesondere Ben Gurion sah ihre Aufgabe als erfüllt an und hielt es für die Pflicht aller Juden, jedenfalls aber aller Zionisten, selbst nach Israel einzuwandern 1 4 . Zwei Punkte waren vor allem strittig: die Stellung der amerikanischen Juden und die Funktion der Zionistischen Organisation 15 . Nach israelischer Sicht hatten die Diaspora-Juden baldigst nach Israel einzuwandern und ihr unnatürliches E x i l zu beenden. Insbesondere die amerikanischen Juden akzeptierten diese Sicht ihrer eigenen Stellung nicht. Sie waren bereit, Israel weiter zu unterstützen, aber sie gedachten weder selbst einzuwandern noch akzeptierten sie die israelische Vorstellung, daß sie i n den USA keine vollintegrierten Bürger seien, daß ihnen irgendwann eine Verfolgung drohen könnte und daß sie überhaupt i m E x i l lebten. Diese verschiedene Sicht zeigte sich i n den Versuchen, die Funktionen der zionistischen Organisation neu zu bestimmen und i n dem Streit um die Terminologie. A u f dem Zionistischen Kongreß 1951 sollte das Basler Programm (s. 1. Kapitel 1 a am Ende) zunächst ersetzt werden durch die Worte: "The redemption of the Jewish nation through the return of the exiles of Israel to the land of Israel and the strengthening of the State of Israel is the basic aim of Zionism.". Die abgeschwächte Fassung des sog. Jerusalemer Programms lautet nur noch: "to strengthen the State of Israel, to gather the exiles to the land and to foster unity among the Jewish People". Auch eine sog. Ideologische Konferenz jüdischer Intellektueller 1957 i n Jerusalem erreichte keine volle Einigung. Jedenfalls gelang es dem US-Judentum, das Ziel der „negation or liquidation of the exile" aus der Funktionsbestimmung fernzuhalten. Organisatorische Grundlage der Zionistischen Organisation und der Jewish Agency ist ein gemeinsam von der israelischen Regierung und der Zionistischen Organisation ausgearbeitetes und vom israelischen Parla14 Ben Gurion hat sich auch eher an amerikanische Nichtzionisten u m Hilfe gewandt (z. B. an H. Morgenthau) als an erprobte Zionisten wie H i l l e l Silver. Hier sprachen auch parteipolitische Gründe m i t : die zionistischen Organisationen i n den USA waren liberalistisch orientiert, die israelischen Regierungsparteien eher sozialistisch. Die Forderung H i l l e l Silvers, über die Verwendung der aus den U S A stammenden Gelder mitzusprechen, w a r für Ben Gurion unannehmbar.

15

Halpern (vor I. Teil), Kapitel 7; Mallison, S. 1039 ff.

28. Kap.: Vorwürfe: Kolonialismus und Imperialismus

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ment i m November 3 952 angenommenes „Status L a w " 1 6 ; mit „Status" w i r d dabei die Rechtsstellung der Zionistischen Organisation und der Jewish Agency in ihrem Verhältnis zum Staate Israel ausgedrückt. So rangieren z. B. bei offiziellen Anlässen der Vorsitzende der Agency-Exekutive und der Vorsitzende des Rates protokollarisch unmittelbar nach den Regierungsmitgliedern und die Mitglieder der Exekutive gleichrangig neben den Abgeordneten des israelischen Parlaments. Das Status Law bekräftigt zunächst, daß der Staat Israel sich als Schöpfung des gesamten jüdischen Volkes begreift und allen Juden offensteht (Art. 1 - 3 ) ; anschließend w i r d die Stellung der Zionistischen Organisation als „authorized Agency" für ihre Aufgaben innerhalb und außerhalb des Staates Israel anerkannt und werden ihre Funktionen umrissen. Diese Funktionen und die A r t der Zusammenarbeit wurden dann i n einem Abkommen der Regierung Israels und der Jewish Agency 1954 ausführlicher festgelegt 17 . Diese Aufgaben umfassen: 1. Organisation und Einwanderung i m Ausland und Überführung der Einwanderer und ihres Eigentums nach Israel; 2. Kooperation bei der Eingliederung der Einwanderer in Israel; 3. Förderung der Jugend-Einwanderung; 4. landwirtschaftliche Siedlungspolitik in Israel; 5. Erwerb und Erschließung von Land in Israel; 6. Beteiligung an der Gründung und am Aufbau von Entwicklungsunternehmen in Israel; 7. Förderung der privaten Kapitalinvestitionen in Israel; 8. Unterstützung kultureller Einrichtungen einschließlich der Hochschulen in Israel; 9. Aufbringung von Mitteln zur Finanzierung dieser Aufgaben; 10. Koordinierung und Organisation der Arbeit jüdischer Institutionen und Organisationen in Israel. Aus dem Status Law ergibt sich, daß auch die Zionistische Organisation die Eingliederungs- und Ansiedlungsprojekte in Israel zu leiten hat und daß ihr die Unterhaltung des jüdischen Schul- und Bildungswesens in der Diaspora obliegen soll. 16

Zionist Organisation — Jewish Agency Status B i l l 1952 (insgesamt n u r 12 Artikel). 17 Covenant between The Government of Israel and The Zionist Executive of the Jewish Agency, Text i m Anhang zu Mallison, S. 626 ff.; dort auch Gemeinsames Israelisch-Zionistisches Kommuniqué vom 16. 3.1964 (S. 1046 ff.). 30*

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6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: Von K r i e g zu K r i e g

Die juristische Abgrenzung der Zuständigkeiten von israelischer Regierung und ihrer Behörden, von Zionistischer Organisation und Jewish Agency sowie der mit allen verzahnten nationalen Instituten wie Nationalfonds und Gründungsfonds 18 könnte hoffnungslos erscheinen, ist aber ziemlich gleichgültig, da sich die israelische Regierung durch Personalunionen und durch sonstige juristische Techniken überall den bestimmenden Einfluß gesichert hat. Auch Ben Gurion hatte den Wert dieser nichtstaatlichen, aber staatlich gelenkten weltweiten Organisationen bald begriffen: er liegt vor allem darin, daß sich diese Organisationen nicht an die dem Staate nach völkerrechtlichen Grundsätzen inhärenten Schranken gebunden fühlen. Denn die Zuständigkeit des Staates endet prinzipiell an seinen Grenzen und erstreckt sich darüber hinaus nur noch partiell auf seine Staatsangehörigen i m Ausland. Für seine Volksangehörigen i m Ausland, die nicht auch seine Staatsangehörigen sind, ist er prinzipiell nicht mehr zuständig; jede Intervention w i r d als völkerrechtswidrige Einmischung empfunden. Man stelle sich vor, die Bundesrepublik interveniere zugunsten deutschsprachiger Minderheiten in Elsaß-Lothringen, in Südtirol, in Osteuropa oder gar für die Wolgadeutschen in personenmäßiger oder kultureller Hinsicht; sie wende sich nicht an das jeweilige Außenministerium, sondern trete unmittelbar mit den beteiligten Stellen i n Verbindung, organisiere den Schulbetrieb und besteuere die Volkszugehörigen. Anders wie staatliche Organisationen sind die zionistischen Organisationen an deren Schranken nicht gebunden, da sie, laut Ben Gurion, ein freier Bund zu freiwilliger Tätigkeit sind. Diese Beweglichkeit vergrößert sich noch, wenn die zionistischen Organisationen i m Lande selbst nationale jüdische Organisationen auftreten lassen können, wie den „United Jewish Appeal" oder den „United Israel Appeal" (Filialen des Keren Hajessod) in den USA. So befriedigend somit das organisatorische Problem der Erfassung des Diaspora-Judentums und seine Verzahnung mit dem israelitischen Staat gelöst wurde, so unvermeidlich sind die daraus resultierenden negativen Rückwirkungen auf die Lage der Juden in den verschiedenen Ländern der Diaspora i m allgemeinen und auf den arabisch-israelischen Konflikt i m besonderen. Diese organisatorische Verbindung des Staates Israel mit dem Weltjudentum ist i n jüdischen, zionistischen und israelischen Augen ein Faktum, das aus dem besonderen Charakter des jüdischen Volkes fließe, und das die Welt und die Araber hinzunehmen hätten. Dem steht nur eben das andere „Faktum" entgegen, daß viele Staaten und Weltanschauungen für sich selbst volle Loyalität fordern. Die Formulierungen zionistischer Politiker über die Aufgaben des Zionismus 19 kommen 18

s. 14. K a p i t e l 3. Ben Gurion 1951 über die Aufgabe der Zionistischen Organisationen: „collective obligation of all national Zionist organisations to aid the Jewish State 19

28. Kap.: Vorwürfe: Kolonialismus und Imperialismus

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manchen so vor, wie etwa dem Westen die Funktion der Komintern erschienen ist 2 0 , ohne daß diese Parallele hier weiter getrieben werden soll, und die Forderung Ben Gurions entspricht ziemlich genau der stalin'schen Definition des kommunistischen Revolutionärs, der die Sowjetunion unterstützen müsse, auch gegen sein eigenes Land. Der Zionist findet auch diese Formulierung selbstverständlich. Die Geschichte hat i h m genügend Beispiele dafür geboten, daß Staaten gegenüber ihren jüdischen Staatsbürgern auch ihrerseits unloyal gewesen sind. Für die Diaspora-Juden ist damit die alte Frage um die Doppelte Loyalität wieder aufgeworfen. I m 19. Jahrhundert war dies ein Schlagwort der Antisemiten und gleichbedeutend m i t „Vaterlandslosigkeit" und „Bindungslosigkeit". Der inner jüdische Widerstand gegen den Zionismus kam zum Teil aus der Befürchtung, er gefährde die Gleichstellung der Juden. Vor allem britische Juden äußerten diese Befürchtung; die zweite Schutzklausel der Balfour-Erklärung ist deswegen aufgenommen worden. M i t der Staatsgründung Israels gewann der Begriff der Doppelten Loyalität erstmals konkreten Sinn. Wenn ein Staat seine Volkszugehörigen i n den übrigen Staaten für sich einsetzt, geraten diese Gruppen i n Gefahr. Das hat Deutschland i n zwei Weltkriegen erfahren müssen, und das erfahren heute die Juden, sobald i h r Staat auf K o l l i sionskurs zu Israel geht oder auch nur i n die weltpolitische Konstellation des Ost-Westverhältnisses gerät. Juden vermögen dann meist nur A n t i semitismus zu sehen, insbesondere gegenwärtig i m Ostblock. Aber man überlege sich versuchsweise, wie es um die Freiheit der Juden i m Westen bestellt gewesen wäre, wenn Israel während des Kalten Krieges und während der McCarthy-Ära i m Ostblock-Bereich gelegen hätte 2 1 . Auf innenpolitischer Ebene beinhaltet die Forderung der Entzionisierung die Entjudaisierung: der Staat Israel sollte ein Staat wie jeder andere Staat, beschränkt auf seine Staatsbürger, aber eben auch ein Staat für alle Staatsbürger werden. Hier w i r d an erster Stelle die Aufhebung des Einwanderungsgesetzes gefordert. Israel hat zum einen die übliche Einwanderungs- oder Einbürgerungsgesetzgebung, wonach jede akzeptable Person jüdischer oder nichtjüdischer A b k u n f t zum Aufenthalt zugelassen und naturalisiert under all circumstances and conditions even if such an attitude clashes w i t h their respective national authorities", u n d der Präsident der Zionistischen Organisation der U S A sprach von der Verpflichtung, „to mobilize w o r l d Jewry i n behalf of the Jewish State and to keep i t mobilized as a striking force at a l l t i m e " ; beide bei Lilienthal , S. 210. 20 Vgl. etwa Ziffer 14 der 21 Bedingungen der Komintern, Th. Pirker (Hrsg.), Utopie u n d Mythos der Weltrevolution. Z u r Geschichte der K o m i n t e r n (1964), S. 24 ff. 21 Nachweise zu einem Untersuchungsbericht des US-Senats über dieses

Problem bei Mallison, S. 1036.

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6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: Von K r i e g zu Krieg

werden kann. Stein des Anstoßes ist jedoch das nur für Juden geltende Einwanderungsgesetz, das sog. Gesetz über die Rückkehr. Nach diesem Gesetz kann jeder Jude nach Israel einwandern und erlangt automatisch die israelische Staatsbürgerschaft 22 . Auch das Gesetz über die Rückkehr ist Ausdruck des zionistisch-israelischen Selbstverständnisses, wonach Israel nicht nur ein Staat für seine aktuellen Staatsangehörigen, sondern für das ganze Jüdische Volk ist, und dieses Gesetz w i r d nicht zu Unrecht als der eigentliche Gründungszweck des Staates Israel bezeichnet. Und m i t der in der Rechtsargumentation eigentümlichen Technik, mittels der Kategorie der „Vorstaatlichkeit" eine Rechtsposition unangreifbar zu machen 23 , heißt es auch hier, daß es gar nicht der Staat Israel und das Gesetz über die Rückkehr seien, die den Diaspora-Juden das Einwanderungsrecht verleihe, sondern daß dieses Recht i m Judentum selbst begründet liege. Für die Araber war die Einwanderungsgesetzgebung stets ein Hauptangriffspunkt, weil die forcierte Einwanderung in ihren Augen Israel zu weiterer Expansion zwingt; weil sie das wirtschaftliche, militärische und demographische Potential Israels erhöht 2 4 , und weil sie die Rückkehr der Flüchtlinge, an der sie weiterhin festhalten, damit stärker gefährdet sehen. Eine besondere Ungerechtigkeit sehen sie darin, daß jeder Jude aus irgendeinem Teil der Welt ein garantiertes Recht zur Einwanderung habe, daß jedoch der arabische Flüchtling nicht zurückdürfe: Samy Davies, dem zum Judentum konvertierten einäugigen amerikanischen Neger-Schlagersänger, der also kaum aus Abrahams Samen entstamme, sei die Einbürgerung garantiert, aber dem arabischen Flüchtling aus Jaffa sei seine Heimat verschlossen. Weiter beinhaltet die Entzionisierung eine Laizisierung oder Enttheokratisierung. Die gesamte Problematik kann hier nicht dargestellt werden; sie ist in deutscher Sprache auch mehrfach zugänglich. Die Problematik reicht dahin, daß die Regierungsparteien bis jetzt stets mit orthodox-religiösen Parteien koaliert hatten 2 5 und auf vielen Ebenen 22

Einwanderungsgesetz s. Badi, Fundamental Laws of the State of Israel (New Y o r k 1961), Dok. 17; Staatsangehörigkeitsgesetz von 1952, ebenda Dok. 16. L i t . : Weinstock, S. 313. L a w of Return: 1. Jeder Jude hat das Recht als E i n w a n derer i n dieses L a n d zu kommen. (3a) : Der Jude, der nach Israel gekommen ist, u n d nach seiner A n k u n f t den Wunsch geäußert hat, sich i n Israel niederzulassen, kann noch während seines Israelaufenthaltes ein Einwanderungszertifikat erlangen. 23 Ausführlich: H. Wagner, Die Vorstellung der Eigenständigkeit i n der Rechtswissenschaft (1967). 24 Skeptiker bezweifeln die entscheidende Erhöhung des israelischen Potentials, das immer hoffnungslos unter den arabischen Möglichkeiten liege. Aber es gibt bestimmte Stufen f ü r industriell-militärische Möglichkeiten, u n d z. B. eine Bevölkerung von 5 Millionen (die ungefähr der Syriens entspräche) würde eine solche Stufe sein. 23 s. 1. K a p i t e l 4 d.

28. Kap. : Vorwürfe : Kolonialismus und Imperialismus

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den entsprechenden Preis zahlen mußten; auch die Beziehungen zum Diaspora-Judentum wären gefährdet, wenn die Regierungsparteien sich zum — unausweichlichen — Kulturkampf entschlössen. Das Problem läßt sich so umschreiben, daß die Thora nicht nur die religiöse Seite des Lebens, sondern das gesamte Gemeinschaftsleben regeln w i l l : daher war es bis jetzt unmöglich, Israel eine geschriebene Verfassung zu geben, und das gesamte gesellschaftliche und staatliche Leben so zu regeln, wie es einem modernen westlich-orientierten Industrie- und Verwaltungsstaat und wie es der überwiegenden Einstellung der jüdischen Bevölkerung entspräche. Dem Ausländer ist besonders das Problem der Mischehe bekannt: Israel kennt keine Zivilehe und verhindert damit Mischehen. So ist auch ein langsames Zusammenwachsen der Juden und israelischen Araber unmöglich; etwaige Durchbrechungen dieser Barrieren beenden Rabbinate und Behörden meist mit beispielloser Härte. Die Schwierigkeit erfaßt selbst Juden: zur Eheschließung ist die M i t w i r k u n g eines orthodoxen Rabbiners erforderlich, und das Recht, die trauungsberechtigten Rabbiner zu bestimmen, liegt beim Oberrabbiner, der nur orthodoxe Rabbiner (also keine Reformrabbiner) bestimmt. Auch die für den Zivilstand zuständigen Gerichte sind orthodoxer Konvenienz und entscheiden strikt nach der Thora: die seltsamen Regelungen dieses 2000 Jahre alten Gesetzeswerkes, wie z. B. das Verbot für Träger der Namen Kohn und Levi, Witwen zu heiraten, gehen periodisch durch die europäische Presse. Die Unmöglichkeit der zivilen Eheschließung ist das bekannteste Beispiel des israelischen theokratischen Systems; wäre es nicht ein müßiges Spiel, ließe sich fragen, ob darin ein Verstoß gegen Art. 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte liegt 2 6 . Aber die arabischen Vorwürfe sind fragwürdig, da sie selbst quasi-theokratische Ordnungen sind und auch kaum ein großes Interesse daran haben, daß die beiden Volksgruppen i n Israel eigentlich zusammenwachsen. Wichtiger und weniger spektakulär ist die Tatsache, daß Israel an der jüdischen Nationalität festhält, und daß damit der Nichtjude kein vollständiger Staatsbürger werden kann 2 7 . I n einem modernen Verwaltungs- und Versorgungsstaat, dessen Institutionen — von der Schule bis zu den Gewerkschaften — auf nationaljüdischer Grundlage organisiert sind, bedeutet dies unüberwindbare Aussonderung aus dem nationalen Leben, günstigenfalls eine Ab26 Ob A r t . 16 dieser Erklärung der Vollversammlung der V N von 1948 so weit geht, daß die Möglichkeit der Eheschließung ohne Ü b e r t r i t t fordert, mag fraglich sein. Aber die Erklärung statuiert kein unmittelbar verbindliches

Recht, s. Dahm, Bd. 1 § 75 I I 2.

27 Was neuerdings wieder i m Falle der K i n d e r des israelischen Marineoffiziers Schallt zu einem innenpolitischen Problem wurde. Schalits Frau w a r N i c h t j ü d i n u n d glaubenslos; nach israelischem Personenrecht ist aber n u r Jude, wessen M u t t e r Jüdin ist.

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6. Teil: Die jüdische Enttäuschung: Von K r i e g zu K r i e g

sonderung: der Nichtjude bleibt minderberechtigter Bürger, und die Gleichheit vor dem Gesetz und den Institutionen gilt für ihn nicht. Das gilt i m besonderen Maße für die Nationalen Institute 2 8 , i n deren Händen große Teile des gesellschaftlich-ökonomischen Lebens liegen, und die ganz auf national jüdischer Basis arbeiten. Für Nichtjuden ist i n diesen Instituten und damit in diesen Bereichen kein Platz. Daher beinhaltet die Forderung nach Entzionisierung die Auflösung dieser Nationalen Institute und die Übernahme ihrer Tätigkeit durch normale Staatsbehörden. Der zionistische Gedanke, die Bindungen zum Diaspora-Judentum, Rückkehrrechte und Rückkehrerwartung, all dies ist die israelische Staatsideologie, ist die Voraussetzung und die Rechtfertigung des Staates überhaupt. Jede Diskussion hierüber gerät schnell i n ihre eigenen Sackgassen: die Araber sehen i m Rückkehrrecht die programmierte Expansion, i n der Verbindung zum US-Judentum die gegen sie gerichtete imperialistische Achse und der Judaisierung Israels die Unmöglichkeit einer staatsbürgerlichen Gleichstellung der palästinensischen Araber, von der Rückkehr der Flüchtlinge nicht zu reden. Israel seinerseits ist ohne die zionistischen Bindungen in seiner konzipierten Form kaum lebensfähig, ja seine jüdische Bevölkerung von der Vernichtung bedroht. Juden sehen daher i n der Forderung der Entzionisierung nur ein neues Wort für virulenten Antisemitismus, das nichts weniger als die Liquidierung der gesamten jüdischen Gemeinschaft i n Israel beinhaltet. Naturgemäß hat die Forderung keine jüdischen Anhänger in Israel. Darüber darf auch die v o n einigen israelischen M i n i - G r u p p e n propagierte Entzionisierung nicht hinwegtäuschen. U r i A v n e r i u n d die Israelische Sozialistische Organisation 2 9 sind n u r f ü r partielle Entzionisierungen u n d n u r bei entsprechender Bereitschaft auf der arabischen Seite; theoretische Gesprächspartner wären hier n u r die Demokratische Volksfront f ü r die Befreiung Palästinas 8 0 . So konturiert sich auch zwischen israelischen u n d arabischen Sozialisten noch keine Brücke, wie die vielen Aufsätze beider Seiten über das Dilemma der jeweils anderen Seite zeigen 31 .

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14. K a p i t e l 3. Bekannter unter ihrer Zeitschrift Matzpen. 30 27. K a p i t e l 3. 81 z. B. s. Flapan, Antisionisme et antisémitisme: le dilemme des progressistes arabes, Cahiers Bernard Lazare 1966 (Juni - Juli). 29

Sachwortverzeichnis Abstammungsgemeinschaft der Juden 36 Achad Haam 68 Agudath Israel 80,245 Akaba, Golf von 389 A l Fatah 452 Arab Agency 260 Araber i n Israel 443 Arabische Flüchtlinge 448 Arabische Exekutive 266 Arabische Gipfelkonferenz 442 Arabisches Hohes Kommitée 268 Arabische Kongresse 260 Arabische Legion 328 Arabische Liga 351 Arabischer Widerstand 451 Alliiertes Mittelostkommando 353 Antisemitismus — Erscheinungsformen i n Europa 26 — Erscheinungsformen i m arabischen Raum 42 — i n zionistischer Sicht 31 — Erklärungsversuche 40 Anti-Zionisten 72 Antonius, George 86 Arbeit, Religion der 62 Assimilation 25 Auserwähltes V o l k 38 Auslegung völkerrechtlicher Normen 123 Autonomielösung 30 Bagdad-Pakt 353 Balf our-Erklärung 110 — i n arabischer Sicht 223 Basler Programm 33 Basset-Message 123 Bernadotte 341 Biltmore-Konferenz 189 Bi-Nationalismus 70 Bloch, J.29 Blumenfeld 28 Blockade, arabische 373 Borochow 77 Brandeis 67 Bundismus 30, 76 Chartergesellschaft 207 Chief of Staff 368 Choveve Zion 47 Dair Yassin 335 Damaskus-Protokoll 106

Demokratische Volksfront 453 Doppelte Loyalität 463 Doppelte Verpflichtung 220 Drei-Mächte-Erklärung 352 Einwanderung — britische Einwanderungsbeschränkung 181 — israelisches Einwanderungsgesetz 409 Eisenbahnpolitik 96 Eisenhower-Doktrin 351 entmilitarisierte Zonen 395 Entzionisierung 465 Erklärung der Sieben 123 Evian-Konferenz 191 E x i l 50 Exodus 193 arabischer — 334 Etzionblock 316 Feisal 137 Feisal-Weizmann-Abkommen 131 Feudalismus 261 Flüchtlinge, arabische 448 — und Schlichtungskommission 365 Flüchtlingsschiffe 192 Frankenstein 60 Frankfurter-Brief 131 Friedenskonferenz 1919 Friedensvertrag Lausanne 142 Friedensvertrag Sèvres 141 Geistiges Z e n t r u m 68 Glubb 350 Gordon 78 Grenzzwischenfälle 375 Hadsch A m i n 263, 304 Haganna 319 Heimstätte 216 Herzl 30 Histadruth 250 Hogarth Message 122 Hula-Entwässerung 407 Hussein von Mekka 105,141 Imperialismus — Balfour-Erklärung als imperialistisches Instrument 113 britischer Imperialismus 98 europäischer Imperialismus i m Ottomanischen Reich 93

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Sachwortverzeichnis

US-Imperialismus, V o r w u r f des — 299 V o r w u r f des Imperialismus gegen Israel 455 I r g u n 193 Jabotinski 82 Jerusalem Rechtslage 439 i m Kriege 1948 319,327 Jewish Agency 211, 238 Jewish Agency for Israel 465 Johnston-Plan 354, 414 Jordanwasser 404, 411 Junikrieg 1967 432 K a l i f 106 Kapitulationen 96 Keren Hayessod 248, 257 Keren Kayemet 247 K f a r Kassem 445 K i b b u t z i m 250 K i n g - K r a n e - K o m m i s s i o n 144 Klagemauer, Zwischenfälle 1929 174 Knesset Israel 245 Kolonialismus, V o r w u r f des — gegen Israel 455 Kommission, britische Kommissionen in Palästina — allgemein 175 Haycraft-Kommission 177 Hope-Simson-Kommission 177 Peel-Kommission 181 Shaw-Kommission 177 Konferenz von K a i r o 1922 141 Konferenz von London 1939 185 Konferenzen, arabische 442 Kriegszustand 371 Landerwerb, jüdischer 269 Lausanner Protokoll 363 Lawrence 99,108 Legislativvorschläge 233 Léon 73 L o w d e r m i l k - P l a n 414 M a i n - P l a n 415 Mandat 141 - und USA 144 Mandatsgebiet, völkerrechtliche Stellung 188 Mandatskommission, Ständige 199, 228 Mandatsmacht, -regierung 213 Mandatszeit 156 McDonald-Schreiben 180 McMahon-Hussein-Briefwechsel 105 Meinertzhagen 99 M i l i t ä r v e r w a l t u n g , britische 168 Millet-System 88 Minderheiten i m arabischen Raum 93

Nationalheim 216 Nationalrat 246 Negev 320 Nicht-Zionisten 71 Oberster Moslemischer Rat 265 orientalische Juden 459 Ost-West-Konflikt 348 Palästina — göttliches Versprechen 48 — historische Grenzen 146 historische Verbindung zu — 45, 59 historisches Recht auf — 45, 59 jüdischer Anspruch auf — 45 prophetische Verheißungen 49 — -Kommission der V N 310 — -Mandat 198 Palästinensische Widerstandsbewegung 451 Pan-Islamismus 92 Pan-Turanismus 92 parlamentarisch verantwortliche Regierung 230 Parteien Agudath Israel 80, 245 H e r u t h 82 Neturei K a r t ä 81 Poale Zion 76 Rechtsparteien 82 Religiöse Parteien 79 Zentrumspartei 81 Passfield-Erklärung 179 Pinsker 30 Protokolle der Weisen von Zion 256 Qibya 376 Rasse 35 repräsentative Regierung 230 Repressalien 376 Rhodos, Waffenstillstände von 321 Rothschild 47 San Remo 143 Sartre 39 Schlichtungskommission der V N 357 Schutzmacht 97 Selbstbestimmungsrecht 205, 224 Sinaikrieg 1956 422 Sozialismus Israel als sozialistischer Staat 65 sozialistische Partei 73 Stern-Gruppe 193 Suezkanal 380 Nationalisierung 424 Rechtslage 381 Sperrung 380 Sykes-Picot-Abkommen 102 Syrischer Kongreß 1920 138 Teilungsbeschluß der V N 287 - , Durchführung 309

Sachwortverzeichnis - und US-Verhalten 299 - und US-Presse 302 Teilungsproblematik 306 Templer 95 Territorialismus 32 Transjordanien Entstehung von — 141 - und P M 148 T r u m a n - D o k t r i n 351 Umschichtungsthese 62 Unabhängigkeitskrieg 315 U N E F 428 Unified Plan 416 U n i t i n g for Peace Resolution 427 US-Judentum 195 Vertreibungsthese 50 Verwaltungseinteilung Palästinas, ottomanische 127 V N 281 Empfehlung der - 285 Unterorgane der — 287 Volk, Nation

Araber als - , - 85,165 Juden als —, — 34 Volksfront für die Befreiung Palästinas 453 Waffenstillstand, Waffenstillstände 322, 334 Waffenstillstandskommission der V N 338 —, gemischte 367 Weißbuch - britisches von 1922 217 - britisches von 1939 462 Wiedergutmachungszahlungen 462 Wirtschaftsblockade, arabische 379 Zionismus - Entstehung 23, 29 - als jüdischer Nationalismus 23 Judenfrage 25 Konferenz, zionistische 68 K u l t u r , zionistische 68 philantropischer Zionismus 67 Zionistische Kommission 169