Den Krieg erzählen: Positionen und Poetiken der Darstellung des Jugoslawienkrieges in der deutschen Literatur [1 ed.] 9783737007672, 9783847107675

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Den Krieg erzählen: Positionen und Poetiken der Darstellung des Jugoslawienkrieges in der deutschen Literatur [1 ed.]
 9783737007672, 9783847107675

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Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs

Band 33

Herausgegeben von Thomas F. Schneider im Auftrag des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums Osnabrück

Steffen Hendel

Den Krieg erzählen Positionen und Poetiken der Darstellung des Jugoslawienkrieges in der deutschen Literatur

V& R unipress Universitätsverlag Osnabrück

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-7416 ISBN 978-3-7370-0767-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Verçffentlichungen des UniversitÐtsverlags Osnabrþck erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Diese Arbeit wurde im Promotionsstudiengang »Sprache – Literatur – Gesellschaft« an der Martin-Luther-UniversitÐt Halle-Wittenberg verfasst. Sie wurde von Prof. Dr. Andrea JÐger und Prof. Dr. Bernhard Spies (em.) betreut.  2018, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: ATAK nach Hans Bohrst »Der letzte Mann« 2017.

Inhalt

0. Deutschlands Kriege – Deutschlands Literaturen? Einleitung . . . . . 0.1 Deutschlands Kriege – Deutschlands Literaturen? Oder : Inwiefern bedeutete 1989 einen Epochenwandel? . . . . . . . . . . . . . . . 0.2 Zu dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Revision des pazifistischen Nachkriegskonsenses. Deutsche Literaten anlässlich des Golfkriegs 1990–91 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Golfkrieg als Gegenstand der wiedervereinten deutschen Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Anspruch der deutschen Öffentlichkeit an die Intellektuellen und die Beiträge der Intellektuellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Der Golfkrieg als abwesendes Ideal der existierenden Politik. Christoph Hein: Adresse aller Berliner Bühnen (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Die verbürgte Notwendigkeit zum Kriegseinsatz durch Subjektivität. Wolf Biermann: Kriegshetze, Friedenshetze (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Der gebotene Kriegseinsatz durch überhistorische Objektivität. Hans Magnus Enzensberger : Hitlers Wiedergänger (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4 Instrumentelle Befürwortung des abgelehnten Kriegseinsatzes. Valentin Senger : Die Angst meines Herzens (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die überparteiliche Stellung für den Krieg. Deutsche Literaten anlässlich des Engagements Deutschlands in Jugoslawien 1991–92 . . 2.1 Der Zerfall Jugoslawiens 1991–92, deutsche Diplomatie und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Jugoslawiens Konflikte um die Sezession Sloweniens und Kroatiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.1.2 Die Konflikte innerhalb Jugoslawiens als eine Angelegenheit des Auslands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Der Zerfall Jugoslawiens als Aufgabe der deutschen Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf die Lage in Jugoslawien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Über die Notwendigkeit für den Jugoslawienkrieg und die Unmöglichkeit einer Parteinahme in ihm. Der Jugoslawienkrieg 1991–92 und die Debatten der deutschen Intellektuellen . . . . . . 2.2.1 Überparteilichkeit als Diktum der Debatte. Willi Winkler : Europa im Krieg (1992) . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Überparteilichkeit wider intellektuelle Redlichkeit. Dunja Melcic: Der Bankrott der kritischen Intellektuellen (1992) . . 2.2.3 Un- und Überparteilichkeit wider Wirklichkeit. Herta Müller : Die Tage werden weitergehen. (1992) . . . . . 2.2.4 Unparteilichkeit als intellektuelle Redlichkeit. Lothar Baier : Die Lieben und die Bösen. (1992) . . . . . . . . 2.2.5 Unparteilichkeit als objektive Wirklichkeit. Hans Magnus Enzensberger : Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Ansichtskarte (1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die parteiliche Stellung im Krieg. Deutsche Literaten angesichts der Stellung Deutschlands zum Bosnienkrieg 1992–95 . . . . . . . . . . . 3.1 Die Anerkennung und Durchsetzung Bosnien-Herzegowinas 1992–95, deutsche Diplomatie und Öffentlichkeit . . . . . . . . . 3.1.1 Die Schaffung Bosnien-Herzegowinas aus sich ausschließenden Staatsinteressen . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Bosnien-Herzegowina als Angelegenheit des Auslands . . . . 3.1.3 Der Bosnienkrieg und die deutsche Außenpolitik . . . . . . 3.1.4 Die Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit . . . . . . . . . 3.2 Über die Unmöglichkeit gegen eine Parteinahme im Konflikt. Der Bosnienkrieg 1992–95 und die Auseinandersetzung zwischen deutschen Intellektuellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Der erlebte Krieg wider alle Partei in ihm. Otmar Jenner : Mörderischer Druck (1994) . . . . . . . . . . 3.2.2 Aus Betroffenheit parteilich für Bosnien … Peter Schneider : Der Sündenfall Europas (1994) . . . . . . . 3.2.3 … parteilich für Bosnien als Pflicht. Walter Wüllenweber : Zusehen verpflichtet und Kursbuch 126: Wieder Krieg (1995).

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3.2.4 Die hinterfragte Parteilichkeit gegen Serbien. Peter Handke: Winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996) . . . . . . . . . . (a) Falsche Urteile wegen falscher Mittel. Handkes prinzipielle Medienkritik und die unmittelbare ›Augenzeugenschaft‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) ›Augenzeugenschaft‹ als interessierter Blick . . . . . . . Exkurs: Die Vergegenständlichung des interessierten Blicks am Gegenüber. Ein Vergleich mit frühen Texten Handkes über Jugoslawien . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Der Jugoslawienkrieg wegen Abwesenheit richtiger Schreiber und Poeten. Handkes Fazit der Reise . . . . . Exkurs: Handke-Debatte. Streit über die Bedingungen des falschen und richtigen Urteilens . . . . . . . . . . . 3.2.5 Professionelle Betroffenheit in Fiktionen schreibender Journalisten. Otmar Jenner : Sarajevo Safari. Roman (1998) . 3.2.6 Deutschland reift mit seinen neuen Kriegen: retrospektiv am Bosnien-, prospektiv am Kosovokrieg. Dirk Kurbjuweit: Schussangst. Roman (1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die deutsche Nachkriegszeit als Entfremdung von sich. Eiserbecks deutsche Existenz . . . . . . . . . . . . . . . (b) Wendezeit 1989. Eiserbecks Suche nach seiner deutschen Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Kritik an Gewalt ist schlecht. Blamage der Gewaltlosigkeit und Delegitimation des Pazifismus . . . (d) Gebrauch von Gewalt ist gut. Rehabilitierung militärischer Stärke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Das Psychologische Eiserbecks als politische Wirklichkeit Deutschlands in seinen neuen Kriegen . . . 4. Die parteiliche Stellung zu sich. Deutsche Literaten über das Engagement Deutschlands im Serbien-Kosovo-Konflikt 1998–99 . . 4.1 Das Kosovo 1998–99, deutsche Diplomatie und Öffentlichkeit . . 4.1.1 Die Kosovo-Frage als Konflikt des jugoslawischen Rest-Staats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Die Frage der Ablösung des Kosovo von Rest-Jugoslawien als Angelegenheit des Auslands . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Die Kosovo-Frage als Gegenstand der Außenpolitik Deutschlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf die Beteiligung Deutschlands am Kosovo-Krieg . . . . . . . .

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(a) Der praktische Wandel der historischen Legitimationstitel. Zweiter Weltkrieg und Holocaust als Bestimmung des aktuellen Kriegs . . . . . . . . . . . . . (b) Der theoretische Wandel in der praktischen Moral. Ende der Hypermoral der deutschen Nachkriegszeit . . . . . . 4.1.5 Die Ansprüche der kritischen Öffentlichkeit gegenüber den deutschen Intellektuellen in der Debatte zum Kosovo-Krieg . 4.2 Realität als Praxis, Sitte und Vernunft – praktiziert und verfehlt. Die deutsche Teilnahme am Kosovo-Krieg als Gegenstand der literarischen Debatte und der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Der eigene Blick als ›Realität‹ des Kosovo-Kriegs . . . . . . . (a) Das Gegenüber als subjektiv verbürgter Grund. Herta Müller : Die Entfesselung der Perversion (1999) . . (b) Das Gegenüber als objektiver Grund. Sibylle Berg: Sieben Tage Krieg (1999) . . . . . . . . . . . (c) Das fragliche Gegenüber als Grund. Frank Schirrmacher : Der westliche Kreuzzug (1999) . . . (d) Das Fragliche als Grund. Hans Magnus Enzensberger : Ein seltsamer Krieg. Zehn Auffälligkeiten (1999) . . . . . 4.2.2 Der Kosovo-Krieg als Anlass für sittliche Gemeinschaft und sittliche Bestimmung. Zur Moral der Pop-Literaten . . . . . (a) Krieg als innerer Widerspruch des reflektierten Kulturmenschen. Alexander von Schönburg: In Bruckners Reich (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Krieg als Prüfstein der Sittlichkeit … Tristesse Royale (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) … realisierte Sittlichkeit als Haltung. Christian Kracht: Tristesse Royale. Berlin – Phnom Penh, 1999 (1999) . . . 4.2.3 Das deutsche Engagement für den Kosovo-Krieg als Resultat verfehlter Vernunft und Sprache. Die Kritik des Kriegs als Kritik der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Krieg wegen fehlender Sprache. Thomas Hettche, Joachim Helfer und Thomas Meinecke in NULL (1999) . (b) Krieg wegen öffentlicher Sprache. Stefan Wirner : Installation Sieg. Kalligraphie des Krieges (1999) . . . . . (c) Krieg wegen Sprache. Uwe Dick: Marslanzen oder Vasallen recht sein muß (2007) . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

5. Rechtfertigung des vergangenen Kriegs durch seine Resultate. Deutsche Literatur über den Jugoslawienkrieg nach seinem Ende . . 5.1 Perspektiven der literarischen Historisierung des Jugoslawienkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Politische Kritik in der Selbstbeauftragung der neuen deutschen Literatur. Das affirmierende Moment des kritischen Realismus von Juli Zehs Jugoslawien-Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Das empfundene Land als dessen politische Rechtfertigung. Juli Zeh: Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien (2002) 5.3.1 Erleben als Verfahren, den Krieg und den neuen Staat zu erklären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Der Bosnienkrieg stellt nicht Bosnien, sondern den Menschen in Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Die Existenz Bosniens als gerechtfertigte Existenz . . . . . 5.3.4 Bosnien als Auftrag zur erlebenden Anerkennung . . . . .

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6. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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0.

Deutschlands Kriege – Deutschlands Literaturen? Einleitung

0.1

Deutschlands Kriege – Deutschlands Literaturen? Oder: Inwiefern bedeutete 1989 einen Epochenwandel?

Deutschland führt Krieg – nach dem Zweiten Weltkrieg sieht die deutsche Politik in ihrer Armee wieder ein Element außenpolitischen Agierens. Auf Grundlage der Zwei-plus-Vier-Verträge zwischen den beiden deutschen Nachkriegsstaaten und den vier alliierten Mächten wurden in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 dem sich vereinigenden Deutschland die vollen Souveränitätsrechte zuerkannt1 und die politischen Konsequenzen aus dem vorangegangenen verlorenen Krieg revidiert. Der Kanzler des vereinten Deutschlands, Helmut Kohl, sprach davon, dass damit endlich ein »Traum Wirklichkeit« werde2, seine Kollegen sahen unter der Nachkriegsgeschichte den Schlussstrich gezogen3. Dem »Selbstbestimmungsrecht der Völker« habe es entsprochen, dass Deutschland seinen »Sonderweg« verlasse, also die »Selbstbeschränkung« in den Mitteln seines politischen Handelns aufgab. Auf diese neue politische Verfasstheit Deutschlands 1 Artikel 7 des Vertrags über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, der am 12. September 1990 unterzeichnet wurde, führt im ersten Abschnitt aus, dass die vier Siegermächte über Deutschland im Zweiten Weltkrieg »ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes« abgeben. Im zweiten Abschnitt ist die Konsequenz für den neuen politischen Status Deutschlands benannt: »Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.« Vertragstext zitiert in: Gunnar Schuster : Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1990. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 1992 (Bd. 52); S. 828–1047, hier S. 1024. Die faktische Rechtsgültigkeit war indes abhängig von der Ratifizierung des Vertrags in den jeweiligen alliierten Staaten; die Sowjetunion ratifizierte den Vertrag z. B. erst im Folgejahr 1991. 2 Helmut Kohl: Fernsehansprache des Bundeskanzlers. In: Bulletin. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 118 (05. 10. 1990); S. 1225–1226, hier S. 1225. 3 Der Artikel zitiert die Vertreter aller Parteien, darunter Volker Rühe, Otto Graf Lambsdorff u. a.: o. V.: Positives Echo aus Bonner Parteien auf Zwei-plus-Vier-Vertrag. »Ende der Nachkriegszeit«. Dokument als Grundstein neuer Friedensordnung gewürdigt. In: Süddeutsche Zeitung, 13. 09. 1990.

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Deutschlands Krieg – Deutschlands Literaturen?

reagierte die Öffentlichkeit positiv. »Der Krieg ist zu Ende« titelte Der Spiegel4, zugleich sah er Deutschland »wiedererstehen«5 und fragt sich gar nach dem nun möglichen Status Deutschlands als »Weltmacht«6. Auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker bekundete in seiner Festrede zum 3. Oktober Freude über das vereinte und wieder wehrfähige Deutschland. So könne es nun eine verantwortungsvolle politische Agenda folgen. Deutschland könne »dem Frieden der Welt dienen« und eine »neue Friedensordnung unseres Kontinents« verwirklichen helfen.7 Dass Deutschland 1990 »im Vollbesitz aller formalen Souveränitätsrechte« jedoch »allenfalls eine mittlere Macht«8, weil militärisch nur begrenzt ausgestattet war, wurde sowohl von Helmut Kohl angesichts des gerade ausbrechenden Zweiten Golfkriegs in seiner ersten Regierungserklärung im vereinten Deutschland 1990 betont9 als auch von der deutschen Presse kritisch festgehalten. Diesen Mangel ist die deutsche Politik in den Folgejahren praktisch angegangen und hat ihn beseitigt. Die Bundeswehr wurde ›reformiert‹ und schließlich von einer ›Wehrarmee‹, die für die Ausnahme eines Verteidigungsfalls definiert war, zu einer ›Berufsarmee‹, die als alltägliches politisches Instrument neben anderen bestimmt ist, umstrukturiert. Des Weiteren erklärte das Bundesverfassungsgericht, dass die neuen Kriegseinsätze der grundgesetzlichen Friedensverpflichtung entsprechen.10 4 Der Krieg ist zu Ende ist der Titel der Spiegel-Ausgabe 30/1990. Thema sind die für die deutsche Politik erfolgreich abgeschlossenen Verhandlungen mit der Sowjetunion. 5 Anlässlich eines Treffens deutscher Politiker mit Politikern der Sowjetunion im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen schreibt zum Beispiel Der Spiegel: »Welchen Weg von 1945, aus der seit dem 30jährigen Krieg größten nationalen Katastrophe der Deutschen, bis zu diesem Höhenflug des Jahres 1990! 45 Jahre nach seinem Untergang wird der deutsche Nationalstaat wiedererstehen, […].« Siehe: o. V.: Die Hoffnung heißt Germanija. In: Der Spiegel, 30/1990; S. 16–27, hier S. 16, Herv. S.H. 6 Die Spiegel-Ausgabe 40/1990 widmet sich dem Thema Nach der Einheit. Weltmacht Deutschland? Darin der Hauptartikel: o. V.: Alle Fäden in der Hand. Was will das neue Deutschland sein, das 45 Jahre nach Kriegsende von Mittwoch an ansteht – eine Großmacht? Oder gar eine Weltmacht? In: Der Spiegel, 40/1990; S. 18–26, hier S. 18. 7 Richard von Weizsäcker : Ansprache von Bundespräsident Richard von Weizsäcker beim Staatsakt zum ›Tag der deutschen Einheit‹. Unter : www.bundespraesident.de/SharedDocs/ Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1990/10/19901003_Rede.html; abgerufen 05. 04. 2016. 8 O. V.: »Der Himmel schließt sich«. Mit Ausbruch des Golfkrieges kroch die Angst in deutsche Wohnstuben. In: Der Spiegel, 4/1991; S. 18–20, hier S. 18f. 9 Helmut Kohl: Regierungserklärung des Bundeskanzlers am 30. Januar 1991 vor dem Deutschen Bundestag in Bonn: »Unsere Verantwortung für die Freiheit. Deutschlands Einheit gestalten – die Einheit Europas vollenden – dem Frieden der Welt dienen.« In: Bulletin. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 011 (31. 01.1991); hier S. 2. 10 Laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts standen weder die Präambel des Grundgesetzes, wonach deutsche Politik sich verpflichtet, dem »Frieden der Welt zu dienen«, noch GG Art. 24 Abs. 2 – »Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger

Inwiefern bedeutete 1989 ein Epochenwandel?

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Auch auf dem symbolischen Feld hat das offizielle Deutschland inzwischen zu sich als einem Land mit Kriegsalltag gefunden. Bundespräsident Horst Köhler weihte 2009 das in der öffentlichen Debatte nunmehr als nötig empfundene zentrale Ehrenmal der Bundeswehr ein. Angesichts der mittlerweile in militärischen Auslandseinsätzen, die sich Deutschland wegen dieser »Welt nicht aussuchen« konnte, getöteten 81 deutschen Soldaten erinnerte Köhler daran, dass der »Staatsbürger in Uniform« nicht sinnbildlich, sondern konkret gemeint ist.11 Im gleichen Jahr vergab Bundeskanzlerin Angela Merkel zum ersten Mal nach 1945 Tapferkeitsmedaillen.12 Die Öffentlichkeit reagierte anerkennend auf diese Veränderungen und Würdigungen, sie sprach von den Auslandseinsätzen der deutschen Armee als gegebene und alternativlose »Einsatzwirklichkeit«13. 2012 schaut Bundespräsident Joachim Gauck auf die ›formalen‹ politischen Veränderungen des Jahres 1990 zurück. Angesichts der anfänglichen Schwierigkeiten und der erfolgreichen Auslandseinsätze der deutschen Bundeswehr fragt Gauck rhetorisch, wer »so etwas vor zwanzig Jahren für möglich gehalten« habe, dass nämlich die »Bundeswehr auf dem Balkan, am Hindukusch und vor dem Horn vor Afrika […] im Einsatz« ist.14 – Deutschland führt wieder Krieg und das scheint politischer Alltag geworden zu sein. Hatten sich die deutschen Schriftsteller die vorangegangenen Jahrzehnte hindurch in ihrem Selbstbewusstsein und in ihrem Schaffen grundsätzlich dem negativen Erbe des durch Deutschland verschuldeten Zweiten Weltkriegs verpflichtet gesehen und die gesellschaftliche und politische Gegenwart kritisch

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kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.« – und GG Art 26 Abs. 1 – »Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.« – deutschen Kriegsbeteiligungen ›out of area‹, mit oder ohne UN-Mandat, entgegen. Siehe: Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Fassung September 2010. Horst Köhler : Was wir den Toten schuldig sind. Ansprache von Bundespräsident Horst Köhler zur Einweihung des Ehrenmals der Bundeswehr am 8. September 2009 in Berlin. Unter: www. bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2009/09/20090908_ Rede.html; abgerufen 05. 04. 2016. In der parlamentarischen wie öffentlichen Debatte, die die Errichtung dieses Berliner Ehrenmals für die gefallenen BundeswehrsoldatInnen begleitete, wurde nicht über die Gründe der neuen deutschen Militärpolitik gestritten, sondern vornehmlich um die Frage des Standorts des Ehrenmals. Siehe dazu u. a. Bericht: o. V.: Merkel zeichnet Soldaten mit Tapferkeitsorden aus. In: Die Welt, 06. 07. 2009. Auszeichnungen gab es schon vorher ; z. B. wurde 1996 erstmals die ›Einsatzmedaille‹ der Bundeswehr verliehen. Thorsten Jungholt: Deutsche Soldaten müssen häufiger töten. In: Die Welt, 30. 07. 2009; Herv. S.H. Joachim Gauck: Antrittsrede bei der Bundeswehr. Hamburg, 12. Juni 2012. Unter : www. bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2012/06/120612Bundeswehr.html; abgerufen 05. 04. 2016.

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Deutschlands Krieg – Deutschlands Literaturen?

daran beurteilt – wie stellten sie sich zu den nach 1990 so grundsätzlich gewandelten, auf den ersten Blick ganz konträren politischen Verhältnissen? An den geschichtspolitischen und -moralischen Debatten der ›Nachkriegszeit‹ hatten die Schriftsteller einen entscheidenden Anteil oder waren gar deren Anstifter.15 Die kritische Auseinandersetzung mit der neueren deutschen Kriegsgeschichte fand insbesondere im Modus der Literatur statt. Dort engagierten sich jene Intellektuellen gegen ein Wiederaufleben der historischen Bedingungen für Krieg und Faschismus. Schließlich ist wegen dieser inhaltlichen Ausrichtung die Literatur in Ost- wie Westdeutschland über die unmittelbaren Nachkriegsjahre hinaus bis 1990 als ›Nachkriegsliteratur‹ bezeichnet worden.16 Nicht nur die Schriftsteller verstanden die Literatur nach 1945 in diesem Sinn. Diese Bestimmung galt und gilt auch für die Literaturgeschichtsschreibung als grundlegend – sogar angesichts disparater und teils widersprüchlicher Begründungen: Für die Literatur der BRD von 1945 bis 1990 unterstellt der Germanist Ralf Schnell die Bedeutung des Zweiten Weltkriegs als grundsätzlich, lediglich in seiner Spezifik habe er stetig ausgehandelt werden müssen.17 Aus Sicht der das eigene Schaffen reflektierenden Schriftsteller verstand dies Heinrich Böll so, dass gerade die Nicht-Thematisierung des nationalsozialistischen Erbes in Politik und Gesellschaft die Literatur nötigte, dies zu leisten. Daraus ergab sich, was Böll schließlich »deutsche Nachkriegsliteratur nennen« wollte.18 Für Peter Nusser war das Thema des Nationalsozialismus wenigstens in den ersten Jahr-

15 Die geschichtspolitischen bzw. -moralischen Debatten in der westdeutschen Nachkriegszeit sind in Gänze vorgestellt bei: Torben Fischer u. Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der ›Vergangenheitsbewältigung‹ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. 2. Aufl. Bielefeld: transcript 2009. Die zeitgenössischen Wortmeldungen in dem von Eberhard Rathgeb herausgegebenen Band Die engagierte Nation zeigen, welche zentrale Bedeutung das Thema Zweiter Weltkrieg in der öffentlichen Auseinandersetzung Westdeutschlands von 1945 an besaß und wie zentral sich darin Literaten zu Wort meldeten: Eberhard Rathgeb: Die engagierte Nation. Deutsche Debatten 1945–2005. München: Hanser 2005. Einen Fokus auf Literaten innerhalb der Nachkriegsdebatten, die vornehmlich die jüngste deutsche Vergangenheit 1931 bis 1945 zum Streit-/Gegenstand hatten, hat: Robert Weninger : Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser. München: Beck 2004. 16 Helmut Peitsch schreibt, ›Nachkriegsliteratur‹ sei als literaturhistorischer Epochenbegriff zunächst nur für die unmittelbaren ersten Nachkriegsjahre postuliert worden, fand aber schließlich für die gesamte Zeit der Zweistaatlichkeit Deutschlands bzw. für beide Nachkriegsstaaten in Ost (DDR) und West (BRD) Verwendung. Helmut Peitsch: Nachkriegsliteratur 1945–1989. Göttingen: V& R unipress 2009; S. 9–13. 17 Ralf Schnell: Die Literatur der Bundesrepublik. In: Wolfgang Beutlin u. a.: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 6. verb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Metzler 2001; S. 580–659, vgl. S. 593. 18 Heinrich Böll: Frankfurter Vorlesungen. München: dtv 1974; S. 8.

Inwiefern bedeutete 1989 ein Epochenwandel?

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zehnten »unübersehbar«19, und für Baumann und Oberle ist das Thema des Kriegs und des Nationalsozialismus »bis heute nicht aus der deutschen Literatur wegzudenken«20. Demgegenüber konstatiert der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, dass die deutsche Vergangenheit Thema der westdeutschen Nachkriegsliteratur lediglich ›ex negativo‹ gewesen war. Sie habe sich mit der Geschichte unangemessen befasst. Darin nun aber zeige sie ihre Identität.21 Ähnlich blickt auf die Literatur der BRD die Literaturgeschichtsschreibung der DDR. Der westdeutschen Literatur wird attestiert, dass sie erst, wenn sie sich kritisch mit der deutschen Vergangenheit auseinandersetze, Qualität beweise.22 Das Selbstverständnis, sich in der deutschen Literatur negativ auf die jüngste deutsche Geschichte zu beziehen, wurde in den Debatten der Bonner Republik zuweilen vehement in Frage gestellt. So ging es bei dem sogenannten Historikerstreit der 1980er Jahre mit Beteiligung einiger Intellektueller und Schriftsteller um ein zeitgemäßes ›moralisch gewendetes‹ politisches Selbstbewusstsein der Deutschen. Trotz der harten Kontroversen wurde der kritische Bezug auf den Nationalsozialismus bzw. Nationalismus nicht verabschiedet, er blieb bestehen. Auch erwartete das Ausland von der (west-)deutschen Literatur, die eigene gesellschaftliche Verfasstheit kritisch zu thematisieren. Es sei, so das schwedische Nobelpreis-Komitee, infolge des letzten deutschen Kriegs angebracht, »die Verwandlung der einst weltweit gerühmten Sprache der Dichter und Denker in die Sprache der Täter in ihren zivilisatorischen und kulturellen Auswirkungen« zu »reflektieren«.23 Die neue Literatur habe zur Aufgabe, dies »konstruktiv zu kontern«.24 Ebenso konstitutiv war das negative Erbe des Zweiten Weltkriegs für die Literatur der DDR. Inwiefern dies für sie galt, war jedoch nicht Gegenstand eines ›Aushandelns‹ in ihr, sondern ihre Grundlage. Der offiziellen Literaturgeschichtsschreibung der DDR galt der reale Sozialismus, wie im Überblickswerk des Autorenkollektivs um Hans Jürgen Geerdt zu lesen ist, seit ihrem Beginn und im freien Konsens als Antwort auf den Zweiten Weltkrieg und auf den Fa19 Peter Nusser : Deutsche Literatur. Eine Sozial- und Kulturgeschichte. Vom Barock bis zur Gegenwart. Darmstadt: WBG 2012; S. 681. 20 Barbara Baumann u. Birgitta Oberle: Deutsche Literatur in Epochen. München: Max Hueber 1985; S. 233. 21 Hans Mayer: Die umerzogene Literatur. Deutsche Schriftsteller und Bücher. Berlin: Siedler 1988 (Bd. 1: 1945–1967); S. 9–12. 22 Hans-Joachim Bernhard u. a.: Literatur der BRD. Berlin: Volk und Wissen 1985 (Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart; Bd 12); S. 160. 23 Stephan Braese: Im Schatten der ›gebrannten Kinder‹. Zur poetischen Reflexion der Vernichtungsverbrechen in der deutschsprachigen Literatur der neunziger Jahre. In: Corina Caduff u. Ulrike Vedder (Hg.): Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. München: Fink 2005; S. 81–106, hier S. 81f. 24 Ebd.

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schismus. Dazu lieferte die Literatur ihren entsprechenden Beitrag.25 Dieses Selbstverständnis wurde in der westdeutschen Wissenschaft einerseits geteilt, insofern auch sie die Gegenstände Zweiter Weltkrieg und Nationalsozialismus zentral für die Literatur der DDR hielt. Andererseits wurde problematisiert, worauf diese Ausrichtung verweise. Für Hans-Ulrich Wehler war dieser antifaschistische Konsens ein »Mythos«, der von der sowjetischen Besatzung aufgedrängt worden und daher nicht deutsch sei.26 Umgekehrt sieht Wehler in der DDR keinen Gegensatz, sondern die Entsprechung zum und gar die Überbietung des Nationalsozialismus.27 Eine eigene Literatur der DDR habe demnach nicht bestanden.28 Die westdeutsche Literaturwissenschaft im Weiteren begegnet dem Fakt, dass in der Literatur der DDR Krieg und Faschismus kritisch behandelt werden, verschieden und widersprüchlich. Nach Reiner Ruffig thematisierte die DDR-Literatur die Vergangenheit gemäß der offiziellen Kulturdoktrin29, nach Peter Nusser sei dieses Thema entgegen der offiziellen Doktrin Gegenstand der Werke von Fürnberg, A. Zweig, Seghers u. a. geworden.30 Weniger problematisierend als konstatierend bezieht sich Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur auf die Selbstdefinition der DDR-Literaturgesellschaft bzw. der DDRNationalliteratur : »Die Auseinandersetzung mit dem Faschismus hat, nach der Meinung der Literaturgeschichtsschreibung der DDR, die Literatur des Landes entscheidend, wenn nicht ausschließlich geprägt. Der Anspruch auf die antifaschistischen Traditionen der deutschen Literatur und auf ihre kontinuierliche Fortentwicklung begründet auch die Vorstellung, eine eigene ›sozialistische Nationalliteratur‹ zu besitzen.«31 Ebenso blickt der nach Westdeutschland übergesiedelte Germanist Hans Mayer in seiner Nachkriegs-Literaturgeschichte auf den Osten.32 Wolfgang Emmerich verneint nicht wie Wehler die Existenz der DDR-Literatur. Er interpretiert sie in seiner DDR-Literaturgeschichte indes funktional und zwar funktional für den eigentlich illegitimen Staat und für sich selbst: In der DDR habe man von einer grundsätzlichen und durchgängigen ›Verzahnung‹ der Gründungsmythen des Antifaschismus und des Sozialismus 25 Hans Jürgen Geerdts u. a.: Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Einzeldarstellungen. Berlin (DDR): Volk und Wissen 1976–87 (Bd. 1); S. 13f. 26 Hans-Ulrich Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte. München: Beck 2008 (Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949–1990); S. 347–349. 27 Ebd.; S. 414–419. 28 Wehler behandelt in seinem Geschichtswerk lediglich den westdeutschen Literaturbetrieb und die westdeutsche Literaturöffentlichkeit; vgl.: ebd.; S. 385–406. 29 Reiner Ruffig: Deutsche Literaturgeschichte. München: Fink 2013; S. 257f. 30 Peter Nusser : Deutsche Literatur ; S. 692f. 31 Heinrich Küntzel: Der Faschismus: seine Theorie, seine Darstellung in der Literatur. In: Hans Grimminger (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München: Hanser 1983 (Bd. 11: Die Literatur der DDR); S. 435–467, hier S. 435, Herv. S.H. 32 Hans Mayer: Die umerzogene Literatur ; S. 157f.

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auszugehen, woraus »Staat wie Literatur über Jahrzehnte ihre Legitimation« gezogen haben.33 In der BRD wie in der DDR, im Selbst- wie im Fremdverständnis, inhaltlich wie emphatisch – die negative Verpflichtung auf Zweiten Weltkrieg und Nationalsozialismus erscheint als das konstituierende Element der deutschen Literatur nach 1945. Wie nun aber gehen die Schriftsteller bzw. Literaturen mit den 1990 grundlegend gewandelten Verhältnissen um, in denen Deutschland militärische Gewalt als politische Option debattiert und unmittelbar an Kriegen partizipiert? Inwiefern wendet sich die vereinte deutsche Literatur gegen diese neuen politischen Verhältnisse – oder wendet sie sich selbst? Obwohl sich die Literaturgeschichten in ihren Epocheneinteilungen an den politischen Daten orientieren und für sie 1990 eine neue Epoche der Literatur fraglos einsetzt, fehlt der Nachweis an der Literatur. Der Übergang der beiden deutschen Nachkriegsliteraturen in eine Literatur des vereinten, die Nachkriegszeit offiziell beendeten Deutschlands ist der Literaturwissenschaft so evident, wie sie zugleich um dessen inhaltliche Bestimmung ringt. Helmut Peitsch begründet den Begriff der deutschen Nachkriegsliteratur schon je negativ in der ›deutschen Frage‹, also getrennt von den positiven Bestimmungen. Die Wiedervereinigung 1990 habe vielmehr zwei bis dahin unvollständige Existenzen beendet.34 Christa Karpenstein-Eßbach nimmt zur Klärung der Epochenfrage die Kriegsthematik in den Blick. So beobachtet sie einerseits eine neue Bezugnahme der Literatur seit den »Umbrüchen von 1989« auf die gegenwärtigen Kriege, versteht dies jedoch andererseits als »transnationale Literarisierungen« der Erscheinungen sogenannter ›Neuer Kriege‹ und somit ausdrücklich als nicht in der Nationalgeschichte begründet.35 Ähnlich argumentiert Paul Michael Lützeler. Er sieht die neue Epoche mit den »Internationalisierungs- und Globalisierungswellen« nach 1990 einsetzen und somit die deutsche Literatur als einen Fall unter vielen und als einen Fall größeren Umfangs.36 Die »Nationalstaaten selbst« seien starken transnationalen Verän33 Wolfgang Emmerich: Die Literatur der DDR. In: Wolfgang Beutlin u. a.: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 6., verb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Metzler 2001; S. 511–579, hier S. 520. Gleiches ist zu lesen in: Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. 2., erw. Aufl. Leipzig: Kiepenheuer 1997; S. 29. 34 Helmut Peitsch: Nachkriegsliteratur ; S. 9–13. 35 Christa Karpenstein-Eßbach schließt in zweierlei Hinsicht eine deutsche Spezifik aus (und kann so eben auch mitnichten die deutsche Nachwendebearbeitungen des Zweiten Weltkriegs erklären): So sei erstens der Neue Krieg für sie ein internationales Phänomen, die Literaturen der verschiedenen Sprachen reagierten lediglich darauf, aus ihnen spräche also keine nationale Eigenheit; zweitens verweigert sie – entsprechend konsequent – die nationalen Grenzen für ihren Untersuchungskorpus; siehe: Christa Karpenstein-Eßbach: Orte der Grausamkeit. Die Neuen Kriege und die Literatur. München: Fink 2011; S. 8f., ebenso S. 13f. 36 Paul Michael Lützeler: Bürgerkrieg global. Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman. München: Fink 2009; S. 15.

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derungen unterlegen.37 In der deutschen Literatur sei somit weniger ein nationaler Bruch als die Kontinuität des intellektuellen und literarischen Ethos zu verzeichnen.38 Mit nationalem Fokus argumentieren hingegen die Literaturwissenschaftlerinnen Corina Caduff und Ulrike Vedder. Sie machen die neue politische Situation in Deutschland für die neuen literarischen Erscheinungen, die ihnen als ›Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen‹ erscheinen, verantwortlich. Trotz der offensichtlichen »Zäsur 1989/90«, mit der »die Nachkriegsgeschichte als abgeschlossen« gilt, fragen sie sich noch 2005, inwiefern »vom Ende der Nachkriegsliteratur zu sprechen« wäre.39 Für sie scheint das Ende, wenn sie von »neue[n] Paradigmen der Gegenwartsliteratur« schreiben, definitiv.40 Sie erklären aber nicht, weshalb das literarische Selbstverständnis mit seiner im Osten wie Westen wesentlichen politischen Bezugnahme vor allem auf die jüngste deutsche Kriegsgeschichte aufgegeben wurde und wie sich der auf den ersten Blick zu einem ›Nie wieder Krieg‹ ganz gegensätzlichen Politik seit 1990 angenommen wurde. Auch Joachim Garbe problematisiert, dass mit der Vereinigung 1990 ein grundlegender Wandel der deutschen Literatur stattgefunden habe. 1990 sei »notwendig zu einer Zeit der Neuorientierung« geworden, mit dem ein »Paradigmenwechsel« in der deutschen Literatur einhergegangen sei.41 Garbe konstatiert das Faktum, die Einstellung zum Krieg in der Literatur habe sich mit 1990 gewandelt. Indem Garbe die Neuorientierung als allgemein »notwendig« bestimmt, übergeht er die besonderen Gründe, die die Protagonisten des literarischen Felds dazu geführt haben, die Nachkriegsliteratur als notwendig überlebt zu erachten. Auch Wissenschaftler anderer Disziplinen stellen mit Blick auf den Gegenstand der Literatur fest, dass das »Ende des Kalten Kriegs und das Ende der Nachkriegszeit« das Selbstverständnis der Deutschen maßgeblich verändert haben.42 Laut den Kulturwissenschaftlerinnen Aleida Assmann und Ute Frevert könne man am Gegenstand der Literatur deutlich beobachten, dass mit 1990 die zeittypische »zwanghafte Engführung« von »festgefügte[n] politische[n] Argumentationsmuster[n] und Rechtfertigungsstrategien […] überwunden« worden

37 Ebd.; S. 16. 38 Ebd.; S. 16f. 39 Corina Caduff u. Ulrike Vedder : Vorwort. In: dies. (Hg.): Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. München: Fink 2005; S. 7–12, hier S. 9, Herv. S.H. 40 Ebd.; siehe Titel. 41 Joachim Garbe: Deutsche Geschichte in deutschen Geschichten der neunziger Jahre. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002; S. 12–14, Herv. S.H., u. vgl. S. 259–264. 42 Aleida Assmann u. Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999; S. 142.

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sei.43 Die Frage nach dem Wandel in der Literatur nach 1990, der immerhin »politische Argumentationsmuster und Rechtfertigungsstrategien« betraf, wird hiermit neu perspektiviert: Demnach müsse nicht erklärt werden, mit welchen ›Argumenten und Rechtfertigungen‹ die Intellektuellen und Schriftsteller den Antikriegskonsens aufgaben, sondern wie vor 1989/90 die ›Enge‹ und das ›Unflexible‹ ihrer politischen Auffassungen überhaupt haben wirken können. 1990 erscheint – und das auch in weiteren, dem erinnerungstheoretischen Paradigma verpflichteten neuen Literaturgeschichten44 – im Lichte nicht nur eines politischen Wandels, sondern der ›Überwindung‹ der deutschen Literaturen aus ihren uneigentlichen Existenzen, 1990 ist das Initial einer nun endlich möglichen eigentlichen deutschen Literatur. Von der Politik als Phänomen des »kollektiven Psychohaushalt[s]«, also von den politischen Veränderungen in Deutschland 1990 als Ausdruck eines solchen geht auch Elke Brüns aus.45 Ihr ist 1989/90 der »Modellfall«46, bei dessen Aushandlung die Literatur einen prominenten Platz innehatte, der indes nicht politisch, sondern allein psychologisch zu bestimmen sei. Zusammenfassend ist zu konstatieren: Angesichts des kritischen Bezugs auf den letzten Weltkrieg als zentrales Moment der vorangegangenen Literaturen in Ost- wie in Westdeutschland ist die Frage nach dem Verbleib dieser Kritik im Übergang zur Nach-Nachkriegsliteratur im vereinten Deutschland nach 1990 so naheliegend, wie sie in der germanistischen Literaturwissenschaft bisher unbeantwortet blieb. Diese Arbeit widmet sich genau diesem ›Epochenwandel‹ nach 1990. Dabei geht sie über die bloße Feststellung des gewandelten Selbstverständnisses in bisherigen Epochendarstellungen und -deutungen hinaus. Sie versucht, den ›Paradigmenwechsel‹ bzw. ›Epochenwandel‹ aus Sicht der Akteure des literarischen Felds zu erklären. Ihr Gegenstand sind dabei die Texte, die sich direkt in Debatten oder als Literatur auf die neuen deutschen Kriege beziehen und aufzeigen, wie sich das literarische Feld nach 1990 neu bestimmt, plausibilisiert und legitimiert.

43 Ebd.; S. 142f., Herv. S.H. 44 Dazu zählen u. a.: Fabrizio Cambi (Hg.): Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008; Friederike Eigler : Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Berlin: Erich Schmidt 2005. 45 Elke Brüns: Nach dem Mauerfall. Eine Literaturgeschichte der Entgrenzung. München: Fink 2006; S. 9, vgl. auch S. 11–13. 46 Ebd.; S. 30.

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Der Gegenstand dieser Arbeit – die literarische bzw. literaturgeschichtliche Verarbeitung des Jugoslawienkriegs – ergibt sich aus dem Umstand, dass die jugoslawischen Sezessionskriege mit der politischen Agenda Deutschlands nach 1990, auch außenpolitisch wieder souverän, also auch gegebenenfalls militärisch zu agieren, zusammenfielen: In Slowenien und Kroatien war die deutsche Regierung, wie sie selbst beurteilte, seit 1945 erstmals wieder diplomatisch souverän tätig; in Bosnien agierte Deutschland seitdem 1945 erstmals wieder militärisch, später im Kosovo sogar ohne völkerrechtliche Legitimierung. Dementsprechend besteht das Korpus dieser Arbeit maßgeblich aus den Texten, mit denen deutschsprachige Literaten an der deutschen Debatte zu den Jugoslawienkriegen und zu der dezidierten Stellung deutscher Politik teilnahmen. Die Debatten fanden im größten Teil in Zeitungen und anderen Periodika statt. Die ersten Wortmeldungen sind, wenn auch mit ästhetischen Verfahren arbeitend, sachlich angelegt, sie entsprechen als Kommentar oder Streitschrift dem journalistischen Genre oder sind politische Essays. Im Laufe der 1990er Jahre finden sich Stellungnahmen auch in literarischen Genres. Als Reportage oder Reisebericht halten sie noch deutlich an ihrem außerliterarischen Bezug fest. Genuin literarische Texte, die sich selbst z. B. als ›Romane‹ einordnen oder die sich formal eindeutig als solche bestimmen ließen, sind randständig und werden erst Ende der 1990er Jahre veröffentlicht. Das Untersuchungskorpus gibt ein relativ umfassendes, auf jeden Fall repräsentatives Bild der Texte und Autoren zum Jugoslawienkrieg. Zuallererst liegt dies am Fakt der überschaubaren literarischen Produktion zu diesem Thema in den 1990er Jahren. Neben kleinen und von der Literaturwissenschaft bisher weitestgehend unbeachteten Debattenbeiträge in Zeitungen und Blogs u. a. von Hans Magnus Enzensberger, Herta Müller oder Thomas Meinecke finden auch solche über die Grenzen der Germanistik hinaus stark rezipierten und diskutierten Texte wie Peter Handkes Reisebericht Gerechtigkeit für Serbien oder Juli Zehs Bericht Die Stille ist ein Geräusch Eingang in die Analyse. Neben Texten von prominenten Autoren wie z. B. Christian Kracht werden Texte auch von wenig bekannten Autoren wie Stefan Wirner analysiert. Dem Fokus dieser Arbeit entsprechend, werden literarische Texte von nicht-deutschen Autoren, die für einen anderen nationalen Blick oder als jugoslawische Bürger für die Perspektive unmittelbarer Betroffenheit stehen, bis auf wenige, für den deutschen Diskurs wichtige Ausnahmen, nicht berücksichtigt. Die neueren, zahlreichen und umfänglich rezipierten literarischen Texte zum Zweiten Weltkrieg sind nicht Gegenstand dieser Arbeit. Der Zweite Weltkrieg findet indes vermittelt als historisches, legitimierendes Argument innerhalb der

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Debatten nach 1990 zu aktuellen deutschen Kriegsbeteiligungen Eingang in die Analyse. Die Auswahl und Gliederung des Korpus und die Gliederung der Arbeit folgen der historischen Chronologie: das erste Kapitel ist dem diskursiven ›Vorläufer‹, der deutschen Auseinandersetzung um den Zweiten Golfkrieg 1990/ 91 gewidmet; im zweiten Kapitel folgt die Erörterung der Debatte innerhalb der deutschen Öffentlichkeit und Literatur zur diplomatischen Unabhängigkeit der Staaten Slowenien und Kroatien 1991–92, die v. a. durch die deutsche Diplomatie vorangebracht wurde und für das Auseinanderfallen Jugoslawiens maßgeblich war ; das dritte Kapitel befasst sich mit den Debatten und literarischen Stellungnahmen zu dem Krieg um die von der westlichen Staatengemeinschaft protektierten Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas 1992–95; das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der breiten deutschen Debatte und umfangreicher werdenden Auseinandersetzung innerhalb der Literatur über den durch die NATO unterstützten Unabhängigkeitskrieg des Kosovo von Rest-Jugoslawien/ Serbien 1999; das fünfte, abschließende Kapitel widmet sich der in der Literatur umgehend nach dem Ende des Jugoslawienkriegs stattfindenden Historisierung. Der Aufbau der drei Hauptkapitel trägt der Beweisabsicht dieser Arbeit Rechnung. Der Analyse des literarischen Diskurses geht die Darstellung seines Gegenstands voran, aus zwei Gründen: Das separate Referat der historischen Sachlage hilft bei der Bestimmung der sich explizit darauf beziehenden Beiträge und Texte. Der literaturhistorischen bzw. -wissenschaftlichen Analyse ist dies zuträglich. Insbesondere erscheint die Sachdarstellung deswegen notwendig, weil der politische und öffentliche Diskurs zu den Jugoslawienkriegen keineswegs konsistent war und ist. Das zeigt sich auch in den politischen und historischen Wissenschaften. Sie begegnen den Sezessionskriegen nicht nur sehr verschieden, sondern zuweilen bekennend ratlos oder gar nur in rhetorischen Bildern.47 Daher schien es für eine präzise und aussagekräftige Analyse der 47 Die einschlägigen historischen und politologischen Übersichtswerke, die sich mit der Geschichte des Balkans seit dem oströmischen Reich, der Gesamtgeschichte Jugoslawiens seit 1945 oder lediglich mit den einzelnen Sezessionskriegen befassen, formulieren teils rhetorisch-offensiv, teils am Rande ihre Schwierigkeiten, die neueste Geschichte zu erklären oder überhaupt nur darzustellen: Holm Sundhaussen versteht den Jugoslawienkrieg als Ausdruck einer psychosozialen, anthropologischen Konstante; die Journalisten Olaf Ihlau und Walter Mayr erklären sich den Krieg mit dem Balkan als solchen, als »ein Phantom« und verstehen ihr Buch »bestenfalls« als »ein Werkzeug« für »wiederkehrende[] Muster«; ebenso Heinrich Schneider, er sieht den Krieg in Bosnien als ein historisches Ereignis, das »von Anfang an klar« drohte und beginnt bei den »Wurzeln« in Byzanz; Matthias Rüb erklärt den KosovoKonflikt gleichwohl als Folge eines geweckten »schlummernden Ungeheuer[s]«, als Folge eines »Reservoir[s]« von »Mythenbildern«; die Slavistin Marie-Janine Calic erklärt die Geschichte Jugoslawiens und der Sezessionskriege umgekehrt als Folge der ›Abwesenheit‹ eines freien Umgangs mit Pluralität; so auch Dunja Melcic in ihrem Handbuch: man müsse nach den Gründen für das politische Handeln der jugoslawischen Akteure »tiefer schürfen« und

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literarischen Beiträge notwendig, die Ereignisse zunächst für sich zu vergegenwärtigen und sachlich darzustellen. Den schriftlichen Übergang von politischer Sache des Kriegs in Jugoslawien zu der literarischen Auseinandersetzung in Deutschland folgen die Unterteilungen der Analysekapitel: Ausgehend von (1) den Ereignissen vor Ort in Jugoslawien wird (2) der Bezug der internationalen Politik und (3) schließlich der deutschen Außenpolitik auf die Konflikte referiert. Ein weiteres Unterkapitel (4) widmet sich der deutschen öffentlichen Debatte über den aktuellen Stand des Kriegs, bevor schließlich (5) der eigentliche Gegenstand der Analyse folgt: Auf Grundlage des referierten politischen wie öffentlichen Diskurses werden die Debattenbeiträge der Literaten und die literarischen Texte analysiert und diskutiert. Der literaturwissenschaftlichen Forschung fehlt es bisher an einer Überblicksdarstellung zum Jugoslawienkrieg als Gegenstand der literarischen Auseinandersetzung bzw. von Debatten unter Literaten. Dabei ginge es um ein Werk, das nicht nur im additiven Sinn die Texte zusammenträgt, sondern den systematischen Zusammenhang zwischen den verschiedenen literarischen Texten analysiert.48 Dieser Mangel mag angesichts der politischen Bedeutung, der öfdie »Vorgeschichte« heranziehen, die Gründe für das Handeln der westlichen Staaten in den Jugoslawienkriegen lägen in der Abwesenheit eines solchen Wissens und seien »Fehlurteile« über die hiesigen Menschen. Resümierend zu dieser Forschungs- und Darstellungslage sei Marie-Janine Calic zitiert, die zum einen den Mangel an Überblicksarbeiten und an profunden, einheitlichen Darstellungen festhält und die die erschienenen Werke wegen der unplausiblen Darstellung kritisiert: Diese Arbeiten »interpretieren die Geschichte Jugoslawiens meist aus der Perspektive seines blutigen Endes, analysieren Geburtsfehler und apostrophieren die südslawische Staatsschöpfung als künstlich, um die Unausweichlichkeit des Scheiterns zu untermauern. Jugoslawien erklärt sich jedoch nicht nur aus seinem Anfang und Ende.« Die oben zitierten Werke sind in alphabetischer Reihenfolge: Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München: Beck 2010; S. 13; Olaf Ihlau u. Walter Mayr : Minenfeld Balkan. ›Der unruhige Hinterhof Europas‹. München: Siedler 2009; S. 7; Dunja Melcic: Vorwort. In: dies. (Hg.): Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen. Wiesbaden: Springer 1999; S. 11–13, hier S. 11f.; Matthias Rüb: Kosovo. Ursachen und Folgen eines Krieges in Europa. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999; hier S. 8; Heinrich Schneider: Friede für Bosnien-Herzegowina? Ein Vertragswerk als Herausforderung für Europa. Bonn: Europa Union 1996; S. 11; Holm Sundhaussen: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen. Wien: Böhlau 2012; S. 22. 48 Elena Messner hat 2011 in einem Aufsatz einen – kurzen – Überblick über literarische Texte und Verfahren deutschsprachiger Autoren, die den Jugoslawienkrieg behandeln, zu geben versucht. Messner skizziert formal-ästhetische Gemeinsamkeiten in den literarischen Darstellungen des aktuellen Kriegs und fragt folgend in jeglicher Hinsicht, ob man dieses Korpus spezifizieren könnte. So fragt sie eben auch und im Ton der offenen Spekulation, »ob die Texte an politische und soziokulturelle Kontexte rückgebunden werden können und evtl. [… etwas über die] spezifisch bundesdeutschen gesellschaftspolitischen Bedingungen aussagen«. Messner mutmaßt, dass, desinteressiert am politischen Fall des Kriegs, dieser in der deutschen und österreichischen Literatur vermutlich nur ein »Stellvertreterkonflikt« bedeutete für die Aushandlung eigener Fragen. Ihre Skizze schließt also die Politik, die eben

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fentlichen Brisanz und der politisch-moralischen Neubestimmung des literarischen Felds nach 1990 in der Verabschiedung des ehemals grundlegenden Antikriegsparadigmas überraschen. Das mag insbesondere auch deswegen erstaunen, weil – wie gesagt – Arbeiten zu einzelnen Texten und Autoren wie auch Epochenüberblicke zur Literatur über den Zweiten Weltkrieg nach 1990 in Literatur- wie Kulturwissenschaft in großer Zahl erschienen sind. In Epochendarstellungen der deutschen Literatur nach 1990 finden sich einzig Passagen über die neue Literatur zum Zweiten Weltkrieg.49 Solche exemplarischen und additiven Einblicke in die neue literarische Epoche nach 1990 im Lichte der alten und neuen deutschen Kriege haben einzelne Sammelbände gegeben. Zuvorderst zu nennen ist die von Carsten Gansel und Heinrich Kaulen herausgegebene Schrift Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Die dort versammelten Beiträge reflektieren die medialen und literarischen Bedingungen, unter denen die gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit dem Gegenstand Krieg – und nur unter anderem mit den Kriegen in Jugoslawien – stattfinden. Im Vorwort der Herausgeber heißt es, dass sich die deutsche Literatur unterschiedslos mit allen anderen Instanzen der Öffentlichkeit nach 1989 um den »Umbau des ›Funktionsgedächtnisses‹« bemüht habe. Die Bedeutung der vergangenen wie aktuellen Kriege für den gesellschaftlichen Diskurs der Gegenwart jedoch sei so zum einen überhistorisch und zum anderen gewissermaßen rückwärts, denn von den kulturellen Reaktionen und Erfolgen her erklärt.50 Auch der Band Orte der Grausamkeit. Neue Kriege in der Literatur von Christa Karpenstein-Eßbach konstatiert in Bezug auf den Krieg als literarischen Gegenstand eine neue Literatur nach 1989. Dabei weist sie der Literatur eine Stellung zur politischen Wirklichkeit ganz eigener, »ohnehin« über »nationale[] Bestimmungen« erhabener Art zu. Eine eigene Spezifik des Bezugs literarischer Texte zu den politischen Verhältnissen wird darüber hinaus explizit nicht nur Bedingung, sondern umgekehrt auch Gegenstand der literarischen Texte ist bzw. sein könne, aus und attestiert den Texten über den Jugoslawienkrieg einen anderen Gegenstand, der nur ›mittelbar‹ mit dem Krieg zu tun hat. Elena Messner : ›Literarische Interventionen‹ deutschsprachiger Autoren und Autorinnen im Kontext der Jugoslawienkriege der 1990er. In: Carsten Gansel u. Heinrich Kaulen (Hg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Göttingen: V& R unipress 2011; S. 107–118, hier S. 116f., Herv. S.H. 49 Beispielhaft hierfür : Michael Opitz u. Carola Opitz-Wiemers: Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. In: Wolfgang Beutin u. a. (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 8., akt. u. erw. Aufl., Stuttgart: Metzler 2013; S. 669–755; vergleiche auch den Abschnitt 1989 und die Folgen in: Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. 2. überarb., erw. Aufl., Stuttgart: Metzler 2003; S. 515–605. 50 Carsten Gansel u. Heinrich Kaulen: Kriegsdiskurse in Literatur und Medien seit 1989 bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. In: dies. (Hg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Göttingen: V& R unipress 2011; S. 9–12, hier S. 9. Zur Stellung des (hier maßgeblichen) kulturwissenschaftlichen, insbesondere des gedächtnistheoretischen Paradigmas ausführlich weiter unten im Forschungsüberblick.

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nicht in Betracht gezogen.51 Dahingehend ist dieser Ansatz mit Lützelers Buch Bürgerkrieg global aus dem Jahr 2009 vergleichbar. Seine kursorische Untersuchung deutscher Romane ordnet er, wenngleich an der Zäsur 1989 orientiert, der übernationalen, postkolonialen Perspektive unter.52 Jugoslawienkriegstexte im Einzelnen hat die Literaturwissenschaft in einem etwas größeren Umfang untersucht. Die im Unterschied zur Forschung über die Texte zum Zweiten Weltkrieg immer noch recht überschaubare Anzahl der Arbeiten befassen sich mit einzelnen Autoren und Werken – zu ihnen zählen vornehmlich (die Österreicher) Peter Handke und Norbert Gstrein, des Weiteren Juli Zeh. Oder sie befassen sich mit dem literarischen Motiv ›Krieg‹ und den spezifischen Aspekten wie Medialität und Gewalt – so beispielsweise der bereits erwähnte Band von Gansel und Kaulen über den neuen deutschen Kriegsdiskurs. Des Weiteren ist u. a. der Band von Heinz-Peter Preußer Krieg in den Medien zu erwähnen, der ebenso wie der emotionswissenschaftliche Sammelband Repräsentationen des Krieges, der motivisch ausgerichtete Band Imaginäre Welten im Krieg und das umfangreiche medienbezogene Werk Ereignisgeschichten von Christoph Deupmann über den aktuellen Jugoslawienkrieg hinausreicht.53 Seit den 1960er Jahren und besonders seit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes 1990 hat es sich in der westlichen Geisteswissenschaft durchgesetzt, literarische Texte als kulturelle Artefakte zu betrachten und sie gleichermaßen als Ausgangspunkt und Resultate kollektiver Selbstvergewisserung zu verstehen. Dies ist grundverschieden zu der Herangehensweise, mit der man in den 1970er Jahren in der deutschen Germanistik begonnen hatte, sich mit der historischen und aktuellen Kriegsliteratur zu beschäftigen. Der von Klaus Vondung 1980 herausgegebene Band über den Ersten Weltkrieg und dessen ›literarische Gestaltung und symbolische Deutung der Nationen‹, Mombers 1981 erschienene Monografie Versuch zur Literatur über den Krieg 1913–1933 über die Reprä51 So muten u. a. Karpenstein-Eßbachs Bestimmungen der Literatur tautologisch an, wenn sie das »Alleinstellungsmerkmal der Literatur« gegenüber un-literarischen Texten darin fasst, dass sie »gattungsmäßig« verfasst ist und »mit den Mitteln literarischer Form« verfährt. Christa Karpenstein-Eßbach: Orte der Grausamkeit; S. 8f., Herv. S.H. 52 Paul Michael Lützeler : Bürgerkrieg global; S. 17f. 53 Heinz-Peter Preußer (Hg.): Krieg in den Medien. Amsterdam: Rodopi 2005; Søren R. Fauth u. a. (Hg.): Repräsentationen des Kriegs. Emotionalisierungsstrategien in der Literatur und in den audiovisuellen Medien von 18. bis zum 21. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein 2012; Jan Süselbeck: Im Angesicht der Grausamkeit. Emotionale Effekte literarischer und audiovisueller Kriegsdarstellungen vom 19. bis 21. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein 2013; einen allgemeinen, den Jugoslawienkrieg u. a. einschließenden Blick nimmt auch ein: Heinz-Peter Preußer : Letzte Welten. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur diesseits und jenseits der Apokalypse. Heidelberg: Winter 2003; Lars Koch u. Marianne Vogel (Hg.): Imaginäre Welten im Krieg. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007; Christoph Deupmann: Ereignisgeschichten. Zeitgeschichte in literarischen Texten von 1968 bis zum 11. September 2001. Göttingen: V& R unipress 2013.

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sentation der sozialen Frage in den literarischen Kriegsdarstellungen, Herbert Bornebuschs 1985 veröffentlichter Versuch, insbesondere die Antikriegsliteratur in ihrer Ästhetik formal aufzuschlüsseln, oder auch Thomas Beckers 1994 veröffentlichte Arbeit Literarischer Protest und heimliche Affirmation über das Vereiteln politischer Urteile mittels ihrer Ästhetisierung54 – all diese Arbeiten gehen davon aus, dass die literarischen Werke über die deutschen Kriege zuvorderst als ästhetische Produkte zu werten sind. Sie seien nicht bloßer Ausdruck eines ihnen gleichermaßen zugrunde liegenden Urteils, sondern würden erst mittels ihrer spezifischen literarischen Verfahren ihre, auch divergierenden Blickweisen und Urteile über den Krieg formulieren. Dieser der Literatur eigene intellektuelle und textliche Status wird in den neuen, dem ›Erinnerungs‹- oder ›Gedächtnis‹-Paradigma verpflichteten Arbeiten methodisch nivelliert. Wegen der Bedeutung dieses Ansatzes in der literaturwissenschaftlichen Forschung seit 1990 möchte ich auf ihn noch einmal dezidiert eingehen: Im Zuge der Verbreitung der die poststrukturalistische Geschichtsbetrachtung von u. a. Roland Barthes und Michel Foucault kritisierenden konstruktivistischen Ansätze55, wonach Geschichte – in ihrer erkannten und erkenntnisweisenden Form – ein konstruierter und so in einer Vielzahl möglicher Gegenstand sei, erfuhr das Erzählen und die für diese sprachlich-ästhetischen Verfahren zuständige literaturwissenschaftliche Narratologie besondere Aufmerksamkeit.56 Dieser neue Blick etablierte sich als ›lingustic turn‹. Hans Vilmar Geppert untersuchte bereits 1976 den ›anderen‹ historischen Roman, welcher sich in seiner klassischen Epoche im späten 19. Jahrhundert dem singulären 54 Klaus Vondung (Hg.): Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1980; Eckhardt Momber : ’s Krieg. Versuch zur deutschen Literatur über den Krieg 1914–1933. Berlin: Das Arsenal 1981; Herbert Bornebusch: Gegen-Erinnerung. Eine formsemantische Analyse des demokratischen Kriegsromans der Weimarer Republik. Frankfurt/M.: Peter Lang 1985; Thomas Becker : Literarischer Protest und heimliche Affirmation. Das ästhetische Dilemma des Weimarer Antikriegsromans. Butzbach-Griedel: Afra-Verlag 1994. 55 Roland Barthes: Historie und ihr Diskurs. In: Alternative. Zeitschrift für Literatur und Diskussion. Nr. 62/63 (1968); S. 171–180; Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973 (OA: 1969). Die Ansätze von Barthes und Foucault werden kritisch begutachtet von: Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974 (OA: 1965); Hayden V. White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart: Klett-Cotta 1991 (OA: 1978). 56 Dazu sind u. a. die Arbeiten zu zählen, die die Disziplin der Geschichtswissenschaft in Abgrenzung zur freien Literatur und zur Literaturwissenschaft aufarbeiteten: Daniel Fulda: Wissenschaft und Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtswissenschaft. Berlin: de Gruyter 1996; Daniel Fulda u. a. (Hg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Antike bis zur Gegenwart. Berlin: de Gruyter 2012; des Weiteren: Dorothee Kimmich: Wirklichkeit als Konstruktion. Geschichte und Geschichtlichkeit bei Heine, Büchner, Immermann, Stendhal, Keller und Flaubert. München: Fink 2002.

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teleologischen Sinn verweigert hatte und im Modus des literarischen Erzählens eigene historische Aussagen stiftete.57 Theoretisch hat Paul Ricœur die sprachliche, besser narrative Konstitution geschichtlicher Reflexion in seinem dreibändigen Werk Zeit und Erzählung aufgearbeitet.58 Hayden Whites einschlägiges Werk Metahistory befasste sich mit den spezifischen narrativen Tropen als eigentlich sinnstiftende Größen der Geschichtsschreibung.59 Der ›cultural turn‹ schließlich reagierte auf die theoretische Beliebigkeit der möglichen Vielzahl geschichtlicher Konstruktionen. Dies wurde angesichts der Empirie, die relative Einheitlichkeiten und Verbindlichkeiten nahe legte, als Mangel aufgefasst. Eric Hobsbawm und Benedict Anderson stellten mit ihren Arbeiten die konkrete politische und ideologische Bedeutung dieser Narrative als Kollektivgeschichten heraus, als ›invented traditions‹ und ›imagined communities‹.60 Making sense of history ist eine Reihe von zeitgenössischen Veröffentlichungen, die diese Zusammenhänge in Empirie und Theorie weiterhin systematisch aufarbeiten.61 Im Verständnis der ›kulturellen Wende‹, die mittlerweile als Kulturwissenschaft institutionalisiert ist62, bedeutet das gesellschaftliche Leben notwendige psychosoziale Arbeit. In diesem Sinn prägen die geistigen Manifestationen der Gruppe deren eigene Kultur aus. Nur insofern Menschen ihre freien Gedanken mit entsprechender, kollektiver Funktionalität und Notwendigkeit versehen, agierten sie als wirklich freie Subjekte. In dieser Identität immer bei sich und zugleich immerzu gespalten, vollzögen die Individuen in der »Dimension« von »Religion, Geschichte und Künste[n]«63 we57 Hans Vilmar Geppert: Der ›andere‹ historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung. Tübingen: Niemeyer 1976; über den mittels ästhetischer Verfahren konstruierten historistischen Sinn der Geschichtsphilosophen des 19. Jahrhunderts wie gleichsam den in der Literatur des Historismus destruierten historischen Sinn siehe: Andrea Jäger: Die historischen Erzählungen von Conrad Ferdinand Meyer. Zur poetischen Auflösung des historischen Sinns im 19. Jahrhundert. Tübingen: Francke 1998; insbesondere S. 9–26. 58 Paul Ricœur : Zeit und Erzählung. München: Fink 1988, 1989, 1991. (Bd. 1: Zeit und historische Erzählung; Bd. 2: Zeit und literarische Erzählung; Bd. 3: Die erzählte Zeit) (OA: 1983, 1984f., 1985). 59 Hayden V. White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/M.: Fischer 1991 (OA: 1973). 60 Eric J. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythen und Realität seit 1780. Frankfurt/ M.: Campus 1991 (OA: 1990); Benedict R. Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt/M.: Campus 1988 (OA: 1983). 61 Making sense of history. Studies in Historical Cultures ist eine Buchreihe, die seit 2002 in Oxford/USA u. a. unter der Ägide des deutschen Historikers Jörn Rüsen herausgegeben wird. 62 Zur grundlegenden Bestimmung der Kultur und ihrer Wissenschaft siehe: Klaus P. Hansen: Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung. 2. vollst. überarb. u. erw. Aufl.; Tübingen: Francke 2000; des Weiteren: Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft: Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Erich Schmidt 2008. 63 Aleida Assmann: Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses. In: Astrid Erll u.

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nigstens ideell ihre eigene Vergemeinschaftung und praktizierten eine »Art von sittlicher Pädagogik«64. Auf diese Funktion bezogen ist die Literatur besonders in den Blick gekommen. Die literaturwissenschaftlich orientierte Kulturwissenschaft bezweifelt keineswegs das Ob – denn »Literatur wirkt in der Erinnerungskultur«65 –, fragt aber nach dem Wie der erzählerisch bewältigten kulturellen Selbstvergewisserung. So interessiert sie sich einerseits für die Spezifik des kulturellen Ausdrucks literarischer Texte und die Spezifik ihrer kulturellen Wirkung, bemüht sich also um eine dezidierte »erinnerungshistorische[] Narratologie«66 ; andererseits subsumiert sie vorweg jede Wortmeldung unter den durch Kulturalität bedingten Willen des Subjekts. Darin gleichgültig, ist die Differenz zwischen Fiktion und Tatsachenbericht, zwischen Erzähler und Autor, zwischen der einen und der anderen Aussage bloße Formalie. Jede literarische Aussage erscheint so gleichermaßen als Ausdruck einer selben Intention und eines selben Inhalts und belegt immerzu ihre kulturelle Funktionalität. Die erinnerungs- und gedächtniskulturelle Erforschung literarischer Texte hat in den letzten zwei Jahrzehnten speziell in Deutschland zu einer großen Zahl an Veröffentlichungen geführt, zeitweise erschien der kulturwissenschaftliche Blick als neue Zentralperspektive der (germanistischen) Literaturwissenschaft. Der ambivalente Ertrag dieser Forschung resultierte dabei nicht aus der ungenügenden Anwendung der kulturwissenschaftlichen Methode, sondern aus deren Konzeptualisierung selbst: Politische Gemeinwesen moderner Gesellschaften mit einer quasi-natürlichen Anlage des Menschen einzuholen, wurde als sachlicher Widerspruch von ›Identität‹ gefasst, wenngleich dies in der eigenen Forschung mit dem inflationären Beweis verschiedenster ›Objektivationen‹ wie u. a. der Literatur nicht befriedigend beantwortet werden konnte.67 Die all-

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Ansgar Nünning (Hg.): Medien des kulturellen Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifik. Berlin: de Gruyter 2004; S. 45–60, hier S. 46f. Terry Eagleton: Was ist Kultur? Eine Einführung. München: Beck 2009; S. 14. Astrid Erll: Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier : WVT 2003; S. 3, Herv. i.O. Ebd. Neben der Literatur gelten gleichermaßen als Objektivation des praktisch gültigen Widerspruchs der Kulturwissenschaften (ausgehend vom Kleinen): das menschliche Gefühl, dessen Regung, die Gestik des Körpers, Orte, Räume und letztlich alle sprachlichen, akustischen und visuellen Medien, wiewohl auch das allgemeine Wissen und die Gene. In all diesen schließen sich jeweils augenfällig Elemente der vergemeinschaftenden Wirkung als hinreichende Bedingung mit dem Erfolg derselben zusammen. Vergleiche dazu u. a.: Klaus Herding u. Bernhard Stumpfhaus (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten. Berlin: de Gruyter 2004; Ute Frevert u. a. (Hg.): Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Frankfurt/M.: Campus 2011; Luc Ciompi: Gefühle machen Geschichte. Die Wirkung kollektiver Emotionen – von Hitler bis Obama. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011; Sigrid Weigel: Bilder des kulturellen Gedächtnisses. Beiträge zur Gegenwartsliteratur. Dülmen-Hiddingsel: tende 1994; Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generationen, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München:

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gemeine wie historisch spezifische politische Verfasstheit als innere oder zumindest objektive Anlage des Menschen zu unterstellen und nachzuweisen, bietet der kulturwissenschaftlichen Forschung nicht nur ein stetig produktives Motiv, sondern hat dafür andernorts grundlegende Kritik erfahren: Der Historiker Lutz Niethammer hat das Konzept der kollektiven Identität anlässlich seiner ›unheimlichen Konjunktur‹ ausführlich gewürdigt und hat vor allem die theoretische Unplausibilität herausgearbeitet68 ; Ulrike Jureit und Christian Schneider haben die Produktivität dieses theoretischen Widerspruchs in den deutschen Wissenschaften nach 1990 und ihrem bevorzugten Gegenstand, dem Zweiten Weltkrieg, mit dem immanenten politischen Ertrag erklärt und von ›Illusionen der Vergangenheitsbewältigung‹ gesprochen.69 Unleugbar, bei vielen literarischen Texten und Debattenbeiträgen ist die Verstetigung der politischen Verhältnisse im Modus eines geistigen, sittlichen, kurz: kulturellen Einen das zentrale Motiv. Die Literatur kann mithin gar als wichtigster Ort der Produktion solcher sozial bindender Sinnzusammenhänge gelten. Untersuchungen diesbezüglich sind fraglos berechtigt. Der kulturwissenschaftliche Blick in seiner erinnerungs- und gedächtnistheoretischen Ausprägung verkürzt diesen Diskurs des literarischen Felds jedoch. Er abstrahiert von dem vielgestaltigen Diskurs zu einem ihm übergeordneten Standpunkt und erklärt jede, sogar konträre Wortmeldungen in ihm zu positiven, konstruktiven Beiträgen für ihn.70 Der durch die Kulturwissenschaften schon immer behauptete und existierende kulturelle Konsens ist durch seine empirische Ausgangssituation, die sich durch nicht identische Positionen auszeichnet und in den Debatten doch eher ein Gegen- als Miteinander beweist, gerade bestritten. – Einen solchen immer schon durch die kulturwissenschaftliche Narratologie präfigurierten Konsens stellt diese Arbeit erst einmal in Frage und nimmt die einzelnen Positionen innerhalb der literarischen Debatte um die neuen deutFink 2006; Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin: Wagenbach 1990; Astrid Erll u. Ansgar Nünning (Hg.): Medien des kulturellen Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifik. Berlin: de Gruyter 2004. 68 Lutz Niethammer : Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek: Rowohlt 2000; siehe z. B. S. 35f. u. 470. 69 Ulrike Jureit u. Christian Schneider: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Cotta’sche Buchhandlung 2010; vgl. S. 63–71. 70 Ein einschlägiges Beispiel ist die literaturwissenschaftliche Untersuchung der Gegenwartsromane über den Zweiten Weltkrieg nach 1990 von Meike Herrmann. Ihr ausdrücklich dem erinnerungs- und kulturwissenschaftlichen Paradigma folgenden Buch beginnt mit dem Verweis auf Klaus Modicks Roman Bestseller, der ihr als aussagekräftiges Beispiel für die Bedeutung des Zweiten Weltkriegs in der Gegenwartsliteratur fungiert – und lässt, indem sie ihn gleichsam in ihren Belegkorpus eingliedert, unproblematisiert, dass es sich hierbei doch um eine Satire handelt, die die neue Erinnerungsliteratur als ›Hype‹ bespricht und sich ihr ideell verweigert; siehe: Meike Herrmann: Vergangenwart. Erzählen vom Nationalsozialismus in der deutschen Literatur seit den neunziger Jahren. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010; S. 11f.

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schen Kriege im Jugoslawien der 1990er Jahre in den Blick. Sie fragt, welche Positionen existierten und mit welchen Argumenten einige dieser Positionen im Unterschied zu anderen ›Konsens‹ herstellen konnten. Einzugehen ist kurz auf die wissenschaftlichen Arbeiten, die ebenso den Wandel der gesellschaftlichen Stellung zum Krieg bemerkten und sich deswegen dezidiert mit der Rezeption des Jugoslawienkriegs beschäftigten, dies aber in anderen Disziplinen leisteten, nämlich u. a. der Soziologie, Politologie und Medienwissenschaft. Nicht unähnlich den wenigen literaturwissenschaftlichen Studien zum Jugoslawienkrieg sind auch in diesen Arbeiten (neue) Medialität und Wahrnehmung die bevorzugten Untersuchungsgegenstände. Zuvorderst haben diese Publikationen die westliche und deutsche Berichterstattung zum Kosovo-Krieg 1999 sowie den sich daran anschließenden öffentlichen Diskurs problematisiert. Dabei stand zumeist der kritische Aspekt der Meinungsformung bzw. -manipulation im Zentrum – zum einen als willentliches Projekt staatlicher und militärischer Public Relation, zum anderen als unwillentliches Nebenprodukt technisch neuer medialer Verfasstheiten. Die Untersuchungen beschränken sich nicht nur auf die Zeit in Jugoslawien, oft präsentieren sie ihre Ergebnisse zur Berichterstattung und deren Bedingungen als Teil umfassenderer empirischer wie theoretischer Projekte. Kurz zu diesen Veröffentlichung: Jörg Beckers Medien im Krieg – Krieg in den Medien zeigt die Identifikation von Bericht und Geschehen für die Kriege der letzten Jahrzehnte auf.71 MagnusSebastian Kutz hat eine umfangreiche Monografie über die gesteuerte Öffentlichkeitsarbeit in Kriegen vorgelegt.72 In emanzipativer Hinsicht fragt Stefan Krempl in seiner Studie Krieg und Internet nach einem möglichen Ausweg aus der Propaganda.73 Die Zustimmung zum Krieg nicht als Resultat der politisch beauftragten Beeinflussung, sondern als Folge der Medialisierung selbst problematisiert u. a. die schon 1994 veröffentlichte Arbeit von Anja Liedtke, die die geografische Entfernung zu den Schauplätzen als Bedingung für die Parteilichkeit der Berichterstattung herausstellt.74 Gleich Liedtke setzt sich die Herausgeberschrift über Medialisierte Kriege und Öffentlichkeitsarbeit der Medientheoretiker Christiane Eilders und Lutz M. Hagen mit dem Jugoslawienkrieg auseinander.75 Die generelle Frage nach der Repräsentation von Kriegsgeschehen 71 Jörg Becker : Medien im Krieg – Krieg in den Medien. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2015. 72 Magnus-Sebastian Kutz: Öffentlichkeitsarbeit in Kriegen. Legitimation von Kosovo-, Afghanistan- und Irakkrieg in Deutschland und den USA. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2014. 73 Stefan Krempl: Krieg und Internet. Ausweg aus der Propaganda? Hannover : Heinz Heise 2004. 74 Die Arbeit benennt gleichwohl mögliche Manipulationen in der Berichterstattung; Anja Liedtke: Zur Sprache der Berichterstattung in den Kriegen am Golf und in Jugoslawien. Frankfurt/M.: Peter Lang 1994. 75 Christiane Eilders u. Lutz M. Hagen (Hg.): Medialisierte Kriege und Kriegsberichterstattung.

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in technisch neuen Medien stellt der Band Wahrheitsmaschinen von Claudia Glunz und Thomas F. Schneider.76 All diesen Arbeiten ist die Perspektive gemein, die Wortmeldungen zum Jugoslawienkrieg unter ihren mehr oder weniger zwingenden Bedingungen der medialen Produktion bzw. Rezeption zu betrachten. Diese Bedingungen der Möglichkeit, Krieg wahrzunehmen, zu vermitteln und sich dazu zu verhalten, sollen für das Korpus dieser Arbeit theoretisch in Frage gestellt sein auch angesichts vieler Wortmeldungen von Literaten, die die Medialisierung des Jugoslawienkriegs kritisch reflektieren und eigene, konträre Schlussfolgerungen ziehen. Im wesentlichen Unterschied zur Frage dieser Arbeit berücksichtigen jene medientheoretischen und mediensoziologischen Untersuchungen nur punktuell Wortmeldungen von deutschen Schriftstellern und Intellektuellen zu den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre, literarische Texte sind in ihren Untersuchungskorpora nicht enthalten. Lediglich zwei weitere Arbeiten haben den Jugoslawienkrieg in den Debatten der deutschen Öffentlichkeit und auch in Bezug auf die Intellektuellen und Schriftsteller zum Gegenstand: Michael Schwab-Trapp mit seiner umfangreichen Untersuchung Kriegsdiskurse. Die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991–199977 und Kurt Gritsch mit seiner Dissertation Inszenierung eines gerechten Kriegs? Intellektuelle, Medien und der ›Kosovo-Krieg‹ 199978. Die soziologische Arbeit von Schwab-Trapp sieht den öffentlichen deutschen Diskurs nach 1990 und somit das Verständnis der deutschen Gesellschaft als grundlegend gewandelt. Der Anspruch seiner Analyse ist, anhand einschlägiger Beiträge von Politikern, Kommentatoren und Intellektuellen den Diskurswandel nachzuzeichnen, der 1989/90 einsetzte und die Kriege, an denen Deutschland wieder teilnahm, ideell präparierte.79 Schwab-Trapp geht dabei auf Grundlage dynamischer Einstellungs- und Diskursbegriffe und mit Verweis auf Max Webers Konzept der Basislegitimation davon aus, dass sich der öffentliche politische Diskurs als wirkmächtiges »Bindeglied« zwischen individuellen Interessen, Gewohnheiten, Emotionen und politischer Wirklichkeit und zwar ›von unten

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Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2005. (Medien & Kommunikationswissenschaft; Sonderheft 53. Jg., 2005/2–3) Claudia Glunz u. Thomas F. Schneider (Hg.): Wahrheitsmaschinen. Der Einfluss technischer Innovationen auf die Darstellung und das Bild des Kriegs in den Medien und Künsten. Göttingen: V& R unipress 2010. Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse. Die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991–1999. Opladen: Leske + Budrich 2002. Kurt Gritsch: Inszenierung eines gerechten Kriegs? Intellektuelle, Medien und der ›KosovoKrieg‹ 1999. Hildesheim: Olms 2010. Diese Beweisabsicht wird als Hypothese im Vorwort der Untersuchung von Schwab-Trapp benannt, bleibt zunächst jedoch mehrdeutig; der gemeinte theoretische Zusammenhang wird im ersten Kapitel begründet und ausführlich dargelegt; Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 19–40.

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nach oben‹ formuliert.80 Dass die politische Wirklichkeit – mittelbarer – Ausdruck von Bedürfnissen der Individuen ist und also die neuen Kriege einer ideellen Beauftragung durch die Menschen geschuldet, erscheint mit Blick auf Schwab-Trapps an Positionen reiches Untersuchungskorpus eine nicht unproblematische Abstraktion. Denn die Wortmeldungen, die als widerstreitende bei jeder Debatte unterstellt sind, werden so gegen ihren Wortlaut neu und im Kern als Gleiches bestimmt. Der Verlauf der Debatte als Kriegs- und nicht Friedensdiskurs ist nicht aus ihrem uneinheitlichen Beginn abzuleiten, eher ergibt sich der vermeintlich gemeinsame Inhalt aller divergierenden Beiträge durch den Blick vom Ende des durchgesetzten Diskurses her. Auch eingedenk der mitnichten verstummten Kritiker der Kriege nach 2000 scheint der Kriegsdiskurs, so wie ihn Schwab-Trapp mit dem Ende der 1990er Jahre etabliert sieht, weniger ein selbstverständliches ›Bindeglied‹ zu sein, das alle Positionen in einen selbstbezüglichen Konsens überführt, als vielmehr ein Diskurs, der anders herum den individuellen Positionen das Maßnehmen an der Politik abverlangt. So sind die Ergebnisse der Analyse von Schwab-Trapp dahingehend unbefriedigend, als sie die Identität zwischen Politik und individueller Stellung mit einem ihr vorgelagerten, abstrakt bereits existierenden Entsprechungsverhältnis erklären. In dieser Erklärung bleibt die Frage nach den Gründen für eine einmal existente, bei manchen aufgegebene, aber andererseits bei manchen noch immer mögliche, wenn auch praktisch bedeutungslos gewordene Kriegskritik weitgehend unbeantwortet und gar unberücksichtigt.81 Kurt Gritsch hat die andere wichtige und auch außerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen rezipierte Arbeit verfasst, die sich mit der deutschen Öffentlichkeit und den neuen deutschen Kriegen der 1990er Jahre beschäftigt. Gritsch fragt darin offensiv, inwiefern der deutsche Kriegseinsatz im Kosovo 1999 lediglich seiner »Inszenierung« als »gerechte[r] Krieg[]« zu verdanken war, bei der die Intellektuellen eine Schlüsselrolle einnahmen. Sein Korpus umfasst eine große Zahl der Wortmeldungen, die für die Debatte der Intellektuellen und Schriftsteller zentral waren; essayistische und literarische Texte wie auch Re80 Schwab-Trapp wie auch der zitierte Max Weber geben zum einen zu erkennen, dass ihnen diese von unten-nach-oben-Beauftragung von Politik nicht vollends plausibel erscheint und charakterisieren diese Basislegitimationen, »Fundament« von legitimer Herrschaft und infolge ihre praktische Verstetigung, »unbestimmt und offen«; zum anderen meinen sie diese Unbestimmtheit und Offenheit aber immer nur ›in Bezug‹ zu ihrer Grundannahme, revidieren diese nicht, sie meinen »unbestimmt und offen« nicht im eigentlichen Sinn als undefiniert; ebd.; S. 20f., besonders S. 38f. 81 Zu diesem Resultat, welches (theoretisch formuliert) zirkelschlüssig erscheint, schreibt selbst Schwab-Trapp, es mute »paradox« an, und welches (politisch formuliert) repressiv klingt, kennt Schwab-Trapp doch die Ausnahme existierender Kriegskritiker, denen er aber zugleich »kaum noch Durchsetzungschancen« attestiert; siehe ›Abschließende Bemerkungen‹ der Untersuchung: ebd.; S. 388–390.

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portagen sind nicht Teil seines Korpus. Gritsch geht bei seiner Analyse von zweierlei nicht unwichtigen Festlegungen aus: erstens dass es sich bei der Kriegsbefürwortung fraglos um ein Resultat einer ›Inszenierung‹ von Legitimität handelte, und zweitens dass die Intellektuellen – willentlich und unwillentlich – an dieser Legitimierung beteiligt waren.82 In der größtenteils quantitativ angelegten Korpusanalyse ordnet Gritsch die Wortmeldungen nach ihren Argumenten, vornehmlich danach, ob Auschwitz als Legitimation für oder gegen die militärische Intervention diente. Gritsch inventarisiert somit einerseits ausführlich die üblichen Kriegslegitimationen der Debatte von 1999, hält an ihnen andererseits aber kaum mehr fest, als dass sie auf wörtlicher Ebene nicht mit der politischen Wirklichkeit übereinstimmen.83 Über die Texte, die z. B. den Kosovo-Einsatz legitimieren, konstatiert Gritsch somit lediglich, dass sie nicht faktische Realität wiedergeben. Gritsch stellt sich die Frage, weshalb die Intellektuellen so etwas tun, wenn deren Beruf es sei, Wahrheit zu bekunden und die ›Lügen der Politik aufzudecken‹.84 Gritsch erklärt sich den Wandel der deutschen Intellektuellen und Schriftsteller von Kriegsgegnern zu Kriegsbefürwortern nicht an ihren eigenen, für ihn offensichtlich fragwürdigen Begründungen. Getrennt von ihnen nimmt er stattdessen Bedingungen und Einflüsse in den Blick, denen die Intellektuellen in den 1990er Jahren ausgesetzt gewesen seien und die sie erst nolens volens zu Kriegsbefürwortern gemacht hätten. Gründe seien der Einfluss der Medien, die ohnehin eher moralische Disposition des Intellektuellenwesens, die fehlende Ruhe der Intellektuellen für sachliche Recherchen, die unreflektierte Übernahme von Sprachmustern, ihre biografischen Hintergründe in Ost und West usw.85 So identifiziert Gritsch die Gründe für die Wandlung der Intellektuellen zu Kriegsbefürwortern mit den Legitimationen, die diese z. T. selbst als Argumente ihrer revidierten Haltung anführten.86 Gritsch 82 Siehe den Abschnitt ›Überblick‹ und ›Der Intellektuelle – Definition und Anspruch‹ in der Einleitung: Kurt Gritsch: Inszenierung eines gerechten Kriegs?; S. 14, S. 23–26. 83 Dass darin, die Legitimationen der Unwahrheit zu überführen, die hauptsächliche Absicht der Arbeit liegt, zeigt sich an ihrer Gliederung. Den Auflistungen, in welchen Medien wann welche Legimitationen vorkommen, in den Kapiteln V, VI oder XV (ebd.; S. 44–135, S. 389– 455) hält die Arbeit ausgiebige Referate historischer Tatsachen entgegen, so im Kapitel VIII (ebd.; S. 160–269). Die Kapitel zur Interessenpolitik der staatlichen Akteure oder zum Argument der Geschichte des Holocausts und des Zweiten Weltkriegs wie der ›humanitären Intervention‹ bestehen weniger aus qualitativen Textlektüren, sie bestehen allein aus konzisen Referaten der rhetorischen Verfahren; siehe dazu Kapitel IV, X–XIV (ebd.; S. 31–43 u. S. 270–388). 84 Gritsch bezieht sich positiv auf Noam Chomskys Definition eines rechtsschaffenden Intellektuellen; ebd.; S. 25. 85 Ausführlich zu finden im resümierenden Kapitel XVII ›Zusammenfassung und Auswertung der Ergebnisse‹; ebd.; S. 478–490. 86 Gritsch befragt die Intellektuellen ob ihrer Gründe und gibt Antworten, die die Gründe in die Psyche vorverlagern: »Warum wurde vielfach der Rechtfertigungsdiskurs der NATO un-

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schließt sein Buch mit dem Satz, der ganz an der kriegsbejahenden Wortmeldung vorbei die Bedingungen für diese betont und so die Intellektuellen mitsamt ›ihrer‹ Gesellschaft, für deren Orientierung die Intellektuellen die maßgeblichen moralischen Instanzen seien, kontrafaktisch bestimmt: »Der Wunsch, dem Frieden zu dienen, wurde dadurch ins Gegenteil verkehrt.«87 Demnach sei es in den 1990er Jahren zu keinem eigentlichen Wandel im Diskurs der Deutschen über den Krieg gekommen, auch die Literaten seien im Kern immer noch Pazifisten und Kriegsgegner. Diese Arbeit stellt für die literarische Auseinandersetzung mit dem Übergang von dem Nachkriegsstandpunkt, ein deutscher Krieg sei nach 1945 unstatthaft, zum neuen Standpunkt, Krieg gehöre nach 1990 zur deutschen Politik, die These auf: Die deutsche Literatur bezieht sich auf die ihr vorausgehenden politischen Verhältnisse durchaus positiv ; es wird in ihr darum gerungen, für diese neuen Verhältnisse materielle, aber vor allem geistige Bedingungen zu suchen und diese mit den der Literatur eigenen ästhetischen Mitteln zu plausibilisieren bzw. in der ästhetischen Inszenierung nachzuvollziehen; damit findet nicht nur jedes Einverständnis mit den Verhältnissen eine entsprechendes ästhetisches Pendant, sondern äußert sich auch jede Kritik, insofern sie sich literarisch vorträgt, als letztlich konstruktives Moment dieser Verhältnisse. Bevor der Jugoslawienkrieg 1992 beginnt und dieser beinahe für ein ganzes Jahrzehnt als erster Fall deutscher militärischer Außenpolitik nach 1945 Gegenstand der literarischen Auseinandersetzung wird, findet in den Monaten der deutschen Vereinigung 1990 der Zweite Golfkrieg statt. Ohne an ihm militärisch unmittelbar zu partizipieren, kommt er der deutschen Politik und mit ihr der deutschen Öffentlichkeit unter der veränderten politischen Optik in den Blick: Am Golfkrieg zeigt sich in beiden Teilen Deutschlands die erste, schnelle Verunsicherung des Nachkriegskonsenses. Dabei werden all die Argumente zum ersten Mal in die Debatte eingeführt und diskutiert, die für die folgenden Kontroversen um den Jugoslawienkrieg elementar werden. Nebenbei ist hier quasi en passant der erste Ertrag dieser Arbeit geliefert: Demnach kann von einer ›Transformation‹ des öffentlichen Diskurses als einen langwierigen Prozess, den etwa Schwab-Trapp für die ganzen 1990er Jahre nachzeichnet, nur oberflächlich geredet werden; grundsätzlich wurde der Standpunkt, Krieg nicht als Unmögliches und Verbotenes, sondern als Mögliches und als Gebotenes der deutschen Politik zu denken, in der deutschen Öffentlichkeit unmittelbar mit der Wiedervereinigung und dem gerade stattfindenden Golfkrieg eingenommen; dies hat sich diskursiv in allen Feldern eindeutig niedergeschlagen. terstützt? […]: ideologische Motive (gegen Hitler=gegen Milosevic), Hoffnung, der Holocaust führe wenigstens zu einer positiven Lehre; humanitäre Motive (Albaner vor Serben schützen); […].«; ebd.; S. 488, Einschübe i.O., Herv. S.H. 87 Ebd.; S. 497f.

1.

Revision des pazifistischen Nachkriegskonsenses. Deutsche Literaten anlässlich des Golfkriegs 1990–91

Der Golfkrieg wird noch vor seinem militärischen Beginn Gegenstand eines Gedichts von Robert Gernhardt. Was mit 15. 1. 1991 – der Tag, an dem das Ultimatum ablief betitelt ist, schildert höchst detailreich einen Alltag, der mit Hörnchen und Kaffee beginnt und mit dem Sonnenuntergang endet: »Das Hörnchen war gut wie schon lange nicht mehr Der Kaffee war stark wie schon lange nicht mehr […] Ich ging so beschwingt wie schon lange nicht mehr Ich war zu verzückt wie schon lange nicht mehr […] Der Abend war schön wie schon lange nicht mehr Die Sonne versank wie lange nicht mehr.«88

Einerseits der Titel, welcher unmissverständlich auf das politische Datum verweist, von dem die USA den sogenannten Zweiten Golfkrieg gegen den Irak abhängig machten und den sie, wie von den Zeitgenossen erwartet89, daraufhin 88 Robert Gernhardt: 15. 1. 1991 – der Tag, an dem das Ultimatum ablief. In: ders.: Gesammelte Gedichte 1954–2006. Frankfurt/M.: Fischer 2008; S. 355f. Das Gedicht erschien zuerst 1994 in Gernhardts Band Weiche Ziele. 89 Das kann man Artikeln entnehmen, die noch vor dem Ende des Ultimatums veröffentlicht wurden. Sie schreiben davon, eine ›zweite Endlösung der Judenfrage‹ unmöglich zulassen zu können, oder von einem Countdown, wonach am »15. 1. 1991 […] Unvorstellbares geschehen [wird] mit unabsehbaren Folgen«: Henryk M. Broder : Beredtes ›friedliches‹ Schweigen. Saddam Hussein kündigt die zweite Endlösung der Judenfrage an – die deutsche Öffentlichkeit geht in aller Gelassenheit zur Tagesordnung über. In: die tageszeitung, 02. 01. 1991; und: Hartmut von Hentig: Friedensfreunde, hört auf mit den gebetsmühlenhaften Slogans.

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Golfkrieg 1990–91. Revision des pazifistischen Nachkriegskonsenses

begannen, und andererseits der Text, an dem ein außerordentlich guter, aber gewöhnlicher Tag geschildert wird – so deutlich das Nebeneinander auffordert, sich über dieses politische Ereignis in Bezug zum hiesigen privaten Lebensalltag Rechenschaft abzulegen, so unbestimmt tut dies das lyrische Ich: Ist der Bezug bloß deskriptiv und wertfrei, ist er mit einem stolzen Beharren auf ein, der großen Politik abgetrotzten Leben als Privatmensch bestimmt oder gar umgekehrt gemeint, nämlich moralisch und vor allem als Deutscher betroffen zu sein von dieser neuen Kriegsbedrohung? Der Schlussvers, der den Sonnenuntergang unter Kürzung der Partikel ›schon‹ mit einem »wie lange nicht mehr« bewertet, mag ein pessimistisches Bild andeuten. Unklar bleibt jedoch auch hier : wofür oder für wen? Das wesentliche Moment dieses Gedichts scheint das Unbestimmte und Nicht-Benannte angesichts des akuten, noch drohenden historischen Ereignisses Golfkrieg. Es erscheint letztlich gar als dessen Aussage. Mit dem Unbestimmten soll aber was bestimmt sein? Trifft es auf die politische und öffentliche Wirklichkeit in den ersten Monaten des vereinten Deutschlands zu, ist sie derart vakant oder ist sie umkämpft?

1.1

Der Golfkrieg als Gegenstand der wiedervereinten deutschen Öffentlichkeit

In der Nacht vor der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990, als Helmut Kohl von einem »Traum« sprach, der für ihn wahr werde90, sprach Günter Grass im Berliner Reichstagsgebäude vor den Oppositionsparteien von dem genauen Gegenteil. Das vereinte und ›selbstbestimmte‹ Deutschland müsse wohl »wieder zum Fürchten« sein.91 Schon einige Monate zuvor hatte Grass den politisch souveränen deutschen »Einheitsstaat«, der bereits einmal »Unglück« für die Welt bedeutete, als »Alptraum« bezeichnet.92 Die ersten Monate im vereinten Deutschland scheinen in Bezug zum Golfkrieg ein entsprechendes Bild solcher Gegensätzlichkeit zu geben: Die Umsetzung der »erste[n] große[n] weltpolitischen Herausforderung des geeinten Deutschland«93

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In: Frankfurter Rundschau, 12. 01. 1991. Die erste Spiegel-Ausgabe des Jahres 1991 (1/1999) hat den Titel Countdown am Golf. Ist der Krieg noch zu vermeiden? Helmut Kohl: Fernsehansprache; S. 1225. Diese Rede vom 02. 10. 1990 in Auszügen: Günter Grass: Mitverantwortlich. In: Luchterhand Literaturverlag (Hg.): »Ich will reden von der Angst meines Herzens.« Autorinnen und Autoren zum Golfkrieg. Frankfurt/M.: Luchterhand 1991; S. 40–42, hier S. 42. Günter Grass: Kurze Rede eines vaterlandslosen Gesellen. In: Die Zeit, 09. 02. 1990. So heißt es in der Anmoderation des Artikels durch die FAZ-Redaktion: Peter Schneider: Das falsche gute Gewissen der Friedensbewegung. Die deutsche Öffentlichkeit im Golfkrieg. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. 04. 1991.

Golfkrieg und wiedervereinte deutsche Öffentlichkeit

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findet in der Öffentlichkeit »ein überwältigendes Echo«, wie Schwab-Trapp resümiert94. Es entsteht eine »nahezu unübersehbare Flut an Diskursbeiträgen«, deren Autorenschaft sich nicht »auf politische Akteure im engeren Sinne« beschränkt.95 Die Öffentlichkeit scheint jedoch gegenüber der neuen Politik alles andere als positiv eingestellt: Während Helmut Kohl seine erste Regierungserklärung des wiedervereinten Lands damit eröffnet, dass und wie Deutschland diesen US-Krieg nach seinen Möglichkeiten unterstützt – ideell, finanziell durch 5,5 Milliarden US-Dollar und technisch durch Bereitstellung von militärischem Gerät, Infrastruktur und Knowhow –, organisieren sich große Teile der deutschen Öffentlichkeit gegen ihn, schalten Vereine und Bündnisse großflächige Anzeigen in Tageszeitungen, verweigert die höchste Zahl von Wehrpflichtigen in der Geschichte der Bundeswehr den Dienst und demonstrieren Hunderttausende unter der Devise »Kein Blut für Öl!« vornehmlich vor den politischen Institutionen der bundesdeutschen wie der US-amerikanischen Regierung. 1990, so scheint es auf den ersten Blick, machte die kriegskritische Position der deutschen Gesellschaft einen soliden Eindruck und stellte sich als solche gegen die eigene Regierung. 1990, eine Zeit offenkundiger Gegensätzlichkeit, in der die Politik selbstbewusst Außenpolitik mit militärischen Mitteln abwägt und demgegenüber die Öffentlichkeit mit der Speerspitze deutscher Intellektueller die nachkriegsdeutsche Kriegskritik verteidigt? Es lohnt der genaue Blick. Rückblickend macht Andreas Buro über die für die deutsche Friedensbewegung historische Situation die bemerkenswerte Aussage, wonach der Golfkrieg 1991 »die Hoffnung auf eine Perspektive dauerhaften europäischen und globalen Friedens schlagartig [zerstörte]. Die Friedensbewegung stand«, so fährt er fort, »vor der ganz neuen Anforderung, Stellung zu beziehen zu Gewaltkonflikten in anderen, zum Teil weit entfernten Ländern.«96 Diese von existentiellem Gewicht kündende Selbstproblematisierung verwundert in mehrfacher Hinsicht. Denn plötzlich schien die Friedensbewegung nicht mehr von einem prinzipiellen Einwand gegen Krieg auszugehen. Das praktische Scheitern von Frieden, für jede Friedensbewegung doch recht selbstverständlich kritischer Ausgangspunkt, leitete nun eine grundsätzliche Verunsicherung ein, und als deutscher Kriegskritiker wünschte man, sich zu »Gewaltkonflikten […] entfernter Länder« neu und anders zu verhalten. Das relativierte Verständnis des »Nie wieder Krieg!« ist an der Stellung der 94 Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 88. 95 Ebd.; S. 95. Später interpretiert Schwab-Trapp in Rückgriff auf Pmile Durkheim diesen öffentlichen Protest als »kollektive Erregung«, die dann nicht mehr nur Folge oder Begleitmusik einer Debatte, sondern selbst Grund wird für einen neuen inhaltlichen Konsens ist; ebd.; S. 108. 96 Andreas Buro: Friedensbewegung. In: Hans J. Gießmann u. Bernhard Rinke (Hg.): Handbuch Frieden. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011; S. 113–124, hier S. 118.

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Kriegskritiker zu zwei in der Öffentlichkeit kursierenden Kriegsgründen bzw. -hinsichten abzulesen. Zum einen wendete sich der Demonstrationsslogan »Kein Blut für Öl!«, mit dem die Kriegskundgebungen allerorten auftraten, deutlich gegen einen Krieg aus materialistischen Interessen. Diese wurden der US-amerikanischen Allianz zugeschrieben. Zum anderen aber verlor das Kriegs-Nein seine Grundsätzlichkeit, als die Öffentlichkeit den Krieg gegen den irakischen Machthaber Hussein als Notwendigkeit zum Schutze Israels diskutierte. Trotz aufsehenerregender vor allem deutscher Waffenexporte an die irakische Kriegspartei und trotz des Fakts, dass Israel bei der Verteidigung keine fremde militärische Hilfe brauchte, sah man in diesem selbstlosen Schutz des von ›Husseins Bomben und Gas‹ bedrohten israelischen Staats durch westliches Militär eine legitime wie notwendige Tat.97 Somit waren wesentliche Teile der deutschen Kriegskritik 1991 zum einen gegen Krieg, so wie ihn die USA durchführten und als materialistisch und kolonial interpretiert wurde, und zum anderen für denselben Krieg, allerdings so, wie ihn die europäischen Mächte als legitimen Schutz Israels vortrugen. Deutschland dürfe nach dem Zweiten Weltkrieg nicht für Krieg sein, indes für einen Krieg, der ein ›neues Auschwitz‹ und zwar auch in »entfernten Ländern« verhindern konnte – eine in der Tat widersprüchliche Anforderung, der sich die Friedensbewegung gegenübergestellt sah.98 Die Frage, ob man einen »Frieden um jeden Preis« wolle, stellten sich Kritiker innerhalb der Friedensbewegung vor allem selbst, keineswegs die Öffentlichkeit, sie stachelte die Problematik lediglich an, indem sie selbst begann, die Rechtfertigung eines fortbestehenden Kriegseinwands zu hinterfragen. Ihre Beiträge setzten sich u. a. zusammen aus kritischen Selbstthematisierungen der Friedensbewegung bzw. der Linken (z. B. Hartmut von Hentigs Friedensfreunde, hört auf mit den gebetsmühlenhaften Slogans99 oder Oskar Negts Das moralische Dilemma des Golf-Krieges100), aus kritischen Ansprachen an die Friedensbewegung (etwa 97 Der Umstand, dass selbst das offizielle Israel keine Notwendigkeit für militärische Hilfe des Auslands gegen den Irak bzw. Saddam Hussein 1991 sah – wenngleich Israel die Kriegsunterstützung durch das Ausland als einen nützlichen »Krieg de luxe« begrüßte –, steht einerseits so konträr zu den Kriegsrechtfertigungen der deutschen Seite, wie es andererseits öffentlich zugängliches Wissen war; siehe dazu beispielhaft: Jizchak Rabin: ›Eine abgesprochene Aktion‹. SPIEGEL-Interview mit dem früheren israelischen Verteidigungsminister Jizchak Rabin über den Kriegsverlauf. In: Der Spiegel, 6/1991; S. 155–156. 98 Schwab-Trapp schreibt zusammenfassend über die Stellung des Themas ›Friedensbewegung‹, dass »die Diskussion über den Golfkrieg in weiten Teilen in Form der Auseinandersetzung mit der Friedensbewegung geführt« wurde; Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 109. 99 Hartmut von Hentig: Friedensfreunde. 100 Negt wird als Kritiker derer rezipiert, die den Pazifismus angreifen. Seine Verteidigung des Pazifismus ist indes dessen Pragmatisierung für die Politik, nicht dessen Verteidigung gegen sie; Oskar Negt: Das moralische Dilemma des Golf-Krieges. Ein Plädoyer für den

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Fragen zum Friedens-Fundamentalismus von Wolfgang Schütte) und aus Artikeln, die bereits das Ende der nachkriegsdeutschen, kriegskritischen Epoche realisiert sahen (etwa Cora Stephans An der deutschen Heimatfront101). Eingedenk des Umfangs und der vielen Lager102 stellt sich Gunter Hofmann in der Zeit die Frage nach dem Warum der die Debatte so vordergründig bestimmenden, von vielen Seiten eingeforderten und von der deutschen Linken sich selbst auferlegten politischen ›Revision‹. Resümierend hält er das Gemeinsame der Beiträge fest: »Nicht der Pazifismus, sondern das Bekenntnis zum Krieg fällt auf«.103 Anlässlich des Golfkriegs scheint im vereinten Deutschland innerhalb weniger Wochen der nachkriegsdeutsche Konsens ›Nie wieder Krieg‹ in einen neuen Konsens verwandelt, der erst einmal in negativer Gestalt auftritt104 : Konsens besteht nun darin, vom ›fundamentalen‹ Pazifismus abgerückt zu sein. Als ungebrochen positives Bekenntnis zum Krieg existiert der neue Konsens allerdings nicht. Er besteht darin, dass Politik an sich und insbesondere die Politik des wiedervereinten Deutschlands ›verantwortlich‹ sei und sich so in einem Frieden-Krieg-Dilemma einfindet, um Gutes mit problematischen Mitteln zu bewerkstelligen.

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Anspruch der deutschen Öffentlichkeit an die Intellektuellen und die Beiträge der Intellektuellen

Insofern die Schriftsteller und Intellektuellen nach dem gesellschaftlichen und dem eigenen Verständnis als die Institution der pazifistischen Politmoral in beiden Teilen Nachkriegsdeutschlands galten, mag nicht überraschen, dass ihnen in der ersten Kriegsdebatte im wiedervereinten Deutschland besondere

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absoluten Vorrang der Friedenslogik vor der Militär- und Kriegslogik. In: Frankfurter Rundschau, 23. 02. 1991. Cora Stephan: An der deutschen Heimatfront. In: Der Spiegel, 10/1991; S. 238–245. Einen relativ geschlossenen Überblick und eine entsprechende Einordnung der Wort- und Bildbeiträge der Debatte gibt – und zwar mit Fotoreproduktionen der Originale – der in zweiter Auflage vervollständigte Band: Jörn Böhme (Hg.): Der Golfkrieg, Israel und die deutsche Friedensbewegung. Dokumentation einer Kontroverse. 2., akt. u. erw. Aufl., Frankfurt/M.: Haag und Herchen 1991 (israel & palästina – Zeitschrift für Dialog; Sonderband). Hofmann schreibt vom einem »Stimmengewirr«, in dem Linke und Rechte nicht mehr existierten. Letztlich löst er den allgemein zu beobachteten ›Kriegsruck‹ sehr unpolitisch auf, nämlich als »Normalisierungssehnsucht«. Gunter Hofmann: Wenn die Linke normal sein will. Nicht der Pazifismus, sondern das Bekenntnis zum Krieg fällt auf. In: Die Zeit, 15. 02. 1991. Das sei hier ausdrücklich gegen Schwab-Trapp angeführt. Schwab-Trapp konkludiert lediglich ein Ephemeres, das ›sich‹ erst im Zuge der gesamten 1990er Jahre zu einem neuen Kriegskonsens entwickelte.

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Bedeutung zukam. Als solche waren die Schriftsteller gleich doppelt Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung über den Golfkrieg: Über sie wurde im Lichte der neuen politischen Verhältnisse geurteilt und sie meldeten sich zu Wort. Die Erwartung gegenüber den Schriftstellern und Intellektuellen als Instanzen, ihre kriegskritischen Positionen angesichts neuer politischer Wirklichkeit zu revidieren, drückt sich in der Öffentlichkeit jedoch erst einmal als eine enttäuschte aus: Cora Stephan teilt im Spiegel die Nachfrage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung »Warum schweigen die Intellektuellen«105 ; Schütte fragt in der Frankfurter Rundschau rückblickend auf die Debatten Anfang 1991: »Wo waren denn da die Stimmen der Intellektuellen?«106. In der womöglich emphatischsten Weise fragte er nach dem ›Preis des Friedens‹. Dabei besteht Schüttes Artikel Fragen zum Friedens-Fundamentalismus, wie es der Titel schon ausdrückt, ausschließlich aus Fragen. Seine Fragen sind aber nicht der Auftakt zum Wissenwollen. Stattdessen werden die Kriegsgegner mit der ›Fragwürdigkeit‹ ihres Standpunkts konfrontiert. Im Modus des Fragens legt er der Friedensbewegung und ihren »friedensbesoffenen« Einwänden die Mitschuld an dem Irak-Konflikt nah. Dass die Kriegskritiker ihren eigenen Standpunkt verraten hätten, lediglich »geistesabwesende[] Intellektuelle[]« seien wie Günter Grass, Christa Wolf oder Christoph Hein, belegt Schütte an zweierlei. Zum ersten werde das durch das Fehlen ihrer (kriegsbefürwortenden) Wortmeldungen deutlich und zum Zweiten dadurch, dass Schütte die aktuellen Kriegskritiker mit einschlägigen Zitaten ihrer eigenen Gewährsmänner wie Brecht oder Adorno konterkariert und zu blamieren sucht.107 Der Friedensstandpunkt, so Schüttes rhetorischer Beweis, erscheine bereits im Bezug auf sich widersprüchlich und haltlos. So wie Stephan gleich im zweiten Satz ihres Artikels die Übersollerfüllung der linken Intellektuellen wie Enzensberger und Biermann in Kriegsbefürwortung erwähnt und alle übrig gebliebene deutsche Kriegskritik bezichtigt, der »Zivilheit« den nötigen Schutz zu versagen108, so konfrontiert Schütte den ausschließlichen Friedensstandpunkt mit seiner fehlenden – selbst literarischen – Legitimation. 105 Cora Stephan: An der deutschen Heimatfront; S. 238, Herv. S.H. 106 Wolfram Schütte: Fragen zum Friedens-Fundamentalismus. Die Deutschen, ihre geistesabwesenden Intellektuellen und der Krieg. In: Frankfurter Rundschau, 08. 02. 1991; Herv. S.H. 107 So fragt Schütte mit Verweis auf Brechts 1955er Kriegsfibel nach dem (abwesenden) Protest der Pazifisten gegen die deutschen Verantwortlichen der Giftgasexporte in den Irak. Für Schütte scheint dies einen grundlegenden Widerspruch einer kategorischen Kriegskritik zu offenbaren: »Warum sind dann jene, die für ›den Frieden‹ auf die Straße gingen, statt vor die irakischen Botschaften vor US-Luftstützpunkte und Konsulate gezogen, da doch ›das Verbrechen Anschrift und Name hat‹, wie Brecht einmal gesagt hatte, nämlich deutsche?« Ebd.; Herv. i.O. 108 Cora Stephan: An der deutschen Heimatfront; S. 239.

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1.2.1 Der Golfkrieg als abwesendes Ideal der existierenden Politik. Christoph Hein: Adresse aller Berliner Bühnen (1991) Was geben die deutschen Intellektuellen und Schriftsteller selbst zu Protokoll darüber, wie sie den Golfkrieg einschätzen? Bundesweit war eine beachtliche Aktivität zu beobachten, wenn auch fast nur bei den Theatern. In den Artikeln z. B. des Spiegels wird diese Aktivität deutlich hervorgehoben: »Der Krieg im Golf hatte kaum begonnen, da schlug er, raketengleich, auch schon in die deutschen Kulturtempel ein«.109 Dieses aktuelle Zuwortmelden unterscheide sich sogar grundsätzlich vom »verstockt[en]« Schweigen der Intellektuellen zu Zeiten anderer Kriege.110 Zu diesen unmittelbaren Aktivitäten der darstellenden Künstler zählten, dass sie ihre Aufführungen formal oder mit Requisiten modifizierten und kommentierten, dass sie mancherorten Aufführungen absagten, dass sie alternative Veranstaltungen wie Lesungen anboten; einige Bühnen arbeiteten gar mit Friedensinitiativen oder UN-Organisationen zusammen; oft wurden die Bühnen für öffentliche Diskussionsrunden geöffnet.111 Bemerkenswert ist, dass diese Aktionen und Interventionen eher als emphatische, gestische Einwände gegen den aktuellen Krieg erscheinen. Dass bei diesen Aktionen kaum politische Einwände auszumachen waren, offenbaren die Berichte der Aktionen sogar in wohlwollenden Blättern und bekennen darüber hinaus manche Theatermacher selbst, wenn sie, um ›Sprachlosigkeit zu lösen‹ und der eigenen ›Ratlosigkeit‹ zu begegnen, zu Diskussionsabenden einluden.112 Zu den aussagekräftigeren und weithin verbreiteten Protesttexten zählt die an vielen Abenden an Berliner Bühnen verlesene Adresse aller Berliner Bühnen des aus der DDR stammenden Autors Christoph Hein. Der Text wurde in Bezug zum aktuell stattfindenden Golfkrieg, aber anlässlich des sogenannten Antikriegstags am 13. Februar, Jahrestag der Bombardierung Dresdens 1945, verfasst. Die Adresse wendete sich explizit gegen die aktuelle Praxis der Weltpolitik, im Krieg ein Mittel zu suchen. Der Wortlaut ist wie folgt: »Krieg ist keine Fortsetzung der Politik, Krieg ist die Bankrotterklärung der Politik und der menschlichen Vernunft.

109 O.V.: Theater in Frack und Asche. In: Der Spiegel, 5/1991; S. 194–198, hier S. 194. 110 Ebd. 111 Folgende Artikel bieten neben ihren eigenen Begutachtungen dieser Aktionen einen guten Einblick in die Aktionen der Theater und Opern: o. V.: Geld und gute Worte. Die Veranstaltungen des Antikriegstages der Berliner Theater am 13. Februar im Überblick. In: die tageszeitung, 15. 02. 1991; o. V.: Absager, Absahner. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 01. 1991; und: o. V.: Theater in Frack und Asche. 112 So etwa: o. V.: Geld und gute Worte.

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Auch dieser Krieg wird nicht eins der Probleme lösen, sondern neue und unlösbare Probleme schaffen. Wir fürchten, daß die Nah-Ost-Länder und Israel und die gesamte Welt nach diesem Krieg bedrohter und gefährdeter sein werden als zuvor. Auf eine Aggression muß in diesem Jahrhundert mit anderen Mitteln geantwortet werden. Gerechtigkeit kann nicht durch einen Krieg erreicht werden. Ein Krieg kann Gerechtigkeit nur auf einer toten, menschenleeren Erdkugel schaffen, denn seit dem Abwurf der ersten Atombombe werden Kriege zunehmend zu einem verbrecherischen Kampf gegen die Erde selbst. Kein Krieg ist heilig, kein Krieg ist gerecht. Die Militärzensur der kriegsführenden Staaten beweist, daß der Krieg ein Verbrechen ist, das man verheimlichen muß: Er ist ein Verbrechen an den Völkern und an der Natur. Erinnern wir uns an die Kriegsbegeisterung von 1914 bis 1939, aber auch an die Schrecken der ihnen folgenden Jahre. Erinnern wir uns an den Schwur von Buchenwald ›Nie wieder Krieg‹. Wir dürfen diesen Schwur nicht brechen, daß nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint. Nach der Sintflut schloß Gott mit dem Menschen einen Bund, und er versprach, daß er das Leben auf dieser Erde nicht nochmals vertilgen wird, und daß nicht aufhören soll Saat und Ernte und Sommer und Winter. Wenn der Mensch mit einem nuklearen Winter den Sommer verbrennt und mit einer selbstverschuldeten Klimakatastrophe den Winter erstickt – und so Saat und Ernte vernichtet –, bricht der Menschen den göttlichen Bund. Dann wird nicht Gott, sondern der Mensch selbst die Erde endgültig auslöschen.«113

Diese Adresse tritt deutlich kritisch gegenüber dem politischen Beschluss zum Krieg am Golf – mit mittelbarer deutscher Anteilnahme – auf. Das macht der Text, indem er die Angst vor dem Tod und den ›unehrlichen‹ Charakter aller Kriege erwähnt, indem er auf die politische Nutzlosigkeit dieses Mittels und letztlich auf die unabwendbaren Konsequenzen für »die Erde« verweist. Diese allgemeine Kritik des Kriegs liest sich allerdings recht unkritisch gegenüber ihren politischen Voraussetzungen. Gleich der erste Satz spricht von der Abwesenheit und einem Bankrott der Politik. So verwirft der Text von vorn herein, dass dieser Krieg am Golf die offensichtliche Anwesenheit von Politik belegt und darin eine wenigstens von allen westlichen Regierungen angenommene politische Herausforderung darstellt (es sei an das Ultimatum erinnert).114 So lässt der Text die Gründe, die die aktuelle Politik angibt – die als »Aggression« interpretierte irakische Politik und die als »Unrechtmäßigkeit« beurteilten Po113 Christoph Hein: Adresse aller Berliner Theater vom 13. 2. 1991. In: Luchterhand Literaturverlag (Hg.): ›Ich will reden von der Angst meines Herzens‹. Autorinnen und Autoren zum Golfkrieg. Frankfurt/M.: Luchterhand 1991; S. 52f. 114 Dass der Krieg nicht plötzlich und ohne (politisches) Zutun des Westens stattfand, darauf verweist auch Schwab-Trapp, wenn er schreibt, dass »ein halbes Jahr militärischer Zuspitzung und diplomatischer Entspannungsversuche« vorausgingen, die letztlich zu einer »Allianz aus insgesamt 28 Staaten« führten; Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 87.

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sitionen des Irak – gänzlich unberührt, vielmehr nimmt er sich derer fraglos an. Neben dieser geteilten interpretatorischen Hoheit, wie politisches Geschehen in der Welt zu werten sei, wendet sich der Text nicht gegen die selbstverstandene prinzipielle praktische Zuständigkeit des Westens für die Konflikte im Nahen Osten, im Gegenteil erscheint das ›Muss‹ im Handeln ganz den existierenden politischen Subjekten der Staaten überantwortet. Und somit, trotz des glaubwürdigen kritischen Impetus dieser Adresse, bleibt der Text ideell ganz bei der aktuellen (auch deutschen) Politik und bewertet sie immanent an ihren eigenen Erfolgserwartungen. »Auf eine Aggression muß in diesem Jahrhundert mit anderen Mitteln geantwortet werden.« – Der Übergang zur Waffengewalt kommt in den kritischen Blick kaum seiner Gründe wegen, die als ›Aggression‹ einfach und in dieser sprachlichen Fassung beinahe grundlos unterstellt sind, und ebenso wenig der Zwecke wegen, die als ›Muss‹ des politischen ›Antwortens‹ unstrittig notwendig erscheinen. Die Gewalt wird lediglich in den Blick genommen als unliebsames Mittel, diese ansonsten unbeanstandeten Gründe und Zwecke einzuholen. So erscheint die Kritik am Krieg letztlich nur radikal, weil sie die Konsequenzen der möglichen zum Einsatz kommenden Mittel hyperbolisch ausgestaltet. So trifft diese Kritik weder eine Politik, die immer schon die Verhältnismäßigkeit ihrer Mittel bemisst und die für die gleichen Zwecke bestenfalls friedliche Diplomatie benutzt, noch nimmt sie die politischen Linien ernst, die »die Menschheit« und »die Erde« durch ihre Anwesenheit praktisch teilen und wie in diesem Fall des Golfkriegs offensichtlich gegeneinander in Position bringen. Emphatisch verteidigt diese Adresse aller Berliner Bühnen die Idee einer Menschheit und einer Erde, die gar nicht so sehr die Kritik gegen die aktuelle Politik darstellt, sondern als das Ideal dieser Politik gutgeheißen wird.115 Unkonkret und wohlwollend in ihrer kritischen Stellung zur aktuellen Politik und zum neuen weltpolitischen Engagement der deutschen Regierung – dieser letztlich kritische Gestus der kritischen Künstler war der Presseöffentlichkeit scheinbar noch zu viel. Wo die taz sich beinahe freundschaftlich über die Ratlosigkeit der Proteste wunderte und zugleich die Diskussionsveranstaltungen an 115 Darin ist Christoph Heins Text mit der im Luchterhand-Band wiedergegebenen kurzen dpa-Meldung Christa Wolfs identisch. Zu Wolfs enttäuschtem politischen Idealismus anlässlich des stattfindenden Kriegs einerseits und der Erfolglosigkeit einer von ihr verfassten und von vielen Kollegen unterzeichneten kriegskritischen Adresse an die UN andererseits, siehe: Christa Wolf: Testfall. In: Luchterhand Literaturverlag (Hg.): »Ich will reden von der Angst meines Herzens.« Autorinnen und Autoren zum Golfkrieg. Frankfurt/M.: Luchterhand 1991; S. 115. Wolf schreibt später in ihrem autobiografischen Roman Stadt der Engel in einer kurzen Passage über die Desillusionierung ihrer politischen Wirkmacht als Intellektuelle anlässlich des Golfkriegs, also in den bereits ersten Monaten der Wiedervereinigung: Christa Wolf: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010; S. 142f.

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den Bühnen, weil sie die Kritik in ihrer Vakanz scheinbar gut verdeutlichten, lobte, befand die FAZ, dass diese Aktionen als politisch unglaubwürdig, als feige und als Opportunismus gewertet werden müssten.116 Der Spiegel urteilte ähnlich, wonach es sich bei solcherlei Kritik lediglich um »Narreteien und Profilierungsneurosen« von »verstörte[n] Macher[n] und Murkser[n]« handele.117 Oder, wie Schütte mit allgemeinem Blick auf ihre Beiträge zum Golfkrieg schloss, seien die Intellektuellen schlicht »geistesabwesend[]«.118 Die Forderung, die Intellektuellen sollten zum Golfkrieg endlich nicht mehr ›schweigen‹, implizierte mehr als die Forderung, sich zu Wort zu melden – nämlich eine Positionierung jenseits der Wiederholung und Stärkung des Nachkriegskonsenses. Die Forderung, die kritische Distanz zu der aktuellen deutschen (Welt-) Politik aufzugeben, wurde nicht nur an die Intellektuellen herangetragen. Auch sie forderten von sich und ihren Kollegen die politischmoralische Neubestimmung ein. Das geschah schließlich in einem Umfang und mit einer Vehemenz, dass die FAZ nicht ganz unparteiisch von einer allgemeinen »Verwirrung« natürlich nicht der »politischen, sondern der intellektuellen Klasse« sprach119. Uwe Friesel fragte angesichts der einsetzenden Debatten in der Frankfurter Rundschau sogar, ob »sich die literarische Linke an der Friedensbewegung [scheidet]«120.

1.2.2 Die verbürgte Notwendigkeit zum Kriegseinsatz durch Subjektivität. Wolf Biermann: Kriegshetze, Friedenshetze (1991) Gemessen an der Härte und an der Fülle der unmittelbaren Reaktionen und in Hinblick auf die lange Rezeptionsgeschichte verdanken sich die bedeutendsten Beiträge von Schriftstellern in der Golfkriegsdebatte genau dieser ›Selbstkritik‹. Die zwei bekanntesten Beiträge sind Kriegshetze, Friedenshetze von Wolf Biermann und Hitlers Wiedergänger von Hans Magnus Enzensberger. Wie SchwabTrapp schreibt, sind dies damit zwei »herausragende Wortführer eines ›linken Diskurses‹«.121 Mit Blick auf die zentrale Frage dieser Arbeit möchte ich im Folgenden vor dem eigentlichen Untersuchungskorpus der Jugoslawienkriegs116 O.V.: Absager, Absahner. 117 O.V.: Theater in Frack und Asche; hier S. 194. 118 O.V.: Geld und gute Worte; dazu ebenso: Heide Platen: Krieg in den Köpfen vermeiden. In: die tageszeitung, 02. 02. 1991. 119 Dieser Wortlaut findet sich in der durch die Redaktion verfassten längeren Anmoderation des Beitrags: Peter Schneider: Das falsche gute Gewissen. 120 Uwe Friesel: Zur Debatte: Enzensberger, Biermann und andere. Scheidet sich die literarische Linke an der Friedensbewegung? In: Frankfurter Rundschau, 14. 02. 1991. 121 Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 110.

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texte an den beiden Texten zum Golfkrieg nachzeichnen, wie 1991 bereits in ihnen – wenngleich in Form nicht-literarischer Wortmeldungen – für die Abkehr von dem deutschen Nachkriegskonsens ›Nie wieder Krieg‹ argumentiert wurde, bzw. andersherum, welche Argumente für ein Kriegsengagement gefunden und auch mit ästhetischen Mitteln inszeniert wurden. Bei der größtmöglichen Differenz und theoretischen Disparatheit ihrer Argumente sind Biermann und Enzensberger im Zeitpunkt wie im Resultat jedoch deckungsgleich: militärische Politik ist 1991 für Deutschland geboten. Wie diese Stellung schließlich doch mit den auf den ersten Blick konträren Positionen von Christoph Heins Text und von dem im Anschluss noch erörterten Text Valentin Sengers zusammengehen mag und worin sie gemeinsam ein neues Selbstverständnis der deutschen Intellektuellen nach 1989/90 darbieten, wird am Ende dieses Kapitels erörtert. Wolf Biermann veröffentlichte im Februar 1991 wenige Wochen nach dem Kriegsbeginn in der Zeit den Artikel Kriegshetze, Friedenshetze. Dem den Antikriegskonsens bereits stark relativierenden Titel fügt Biermann einen den Kern seiner Rede verdeutlichenden Untertitel hinzu: Damit wir uns richtig mißverstehen: Ich bin für diesen Krieg am Golf.122 Im ersten kurzen Absatz erinnert Biermann an den pazifistischen Konsens, der seit 1945 für die deutschen Intellektuellen gegolten hatte und noch verfochten wird: »Also Frieden! Frieden ohne Wenn und Aber! Jeder Krieg ist ein Verbrechen, auch der gerechte.« Schon der zweite Absatz beginnt mit dem alten, indes erstaunlichen, weil komplett verwandelten Einwand: »Aber dann fällt mir die Nazizeit ein.« Was Biermann als ›Aber‹ zum Frieden formuliert, war noch bis 1989 ein eindeutiges ›Weil‹. Wegen des Zweiten Weltkriegs verboten sich andere Kriege, hier nun wird er zum Gebot für sie. Denn, so wendet sich Biermann gegen das bisher gültige Antikriegsargument, die »geschichtsdummen« Deutschen und deren Devise eines »totalen Frieden[s]« hätten nicht etwa einen neuen Krieg verhindert, sondern die aktuelle Lage zwischen Irak und Israel im Wesentlichen erst produziert. Ungeachtet dessen, dass Friedenspolitik, also die Abwesenheit einer Kriegspolitik Krieg zu verantworten habe – der unterlassene Krieg als hinreichende Bedingung desselben –, interpretiert Biermann darüber hinaus die aktuelle Bedrohung von Juden durch irakische Politik als historische Dopplung einer Bedrohung durch deutsche Politik, als Re-Produktion des Nationalsozialismus und das auf »höherer Stufe«. Biermanns abschließender Beweis, dass die Parteinahme für die militärische Lösung des Konflikts am Golf auch und insbesondere unter deutscher Teilnahme notwendig sei, ist seine Betroffenheit. Wegen der eigenen Kriegserlebnisse im bombardierten Hamburg 1943 sei er jemand, der zum aktuellen, fernen Krieg 122 Wolf Biermann: Kriegshetze, Friedenshetze. Damit wir uns richtig mißverstehen: Ich bin für diesen Krieg am Golf. In: Die Zeit, 6/1991; alle folgenden Zitate entstammen diesem Artikel.

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mehr zu sagen habe als jene, die Krieg »nur aus Filmen und Büchern« beurteilten. Und auf Grundlage dieses Arguments subjektiven Erlebens bedeutet ihm die Gefahr, Saddam Hussein und die irakische Armee könnten bei einem Angriff Israels Giftgas einsetzen, dass seine israelischen Freunde nicht nur zum »ersten Mal im Leben vergas[t]« werden, sondern auch, so schreibt Biermann im Futur Indikativ, dass dies seinem »toten Vater zum zweiten Mal« geschehen wird. Biermann wirbt mit Argumenten für einen Krieg, deren Stichhaltigkeit durch die Subjektivität eigener Erfahrung und durch die Polemik seiner Argumentation verbürgt ist. Auch wenn sich der Beschluss der deutschen Regierung, sich in diesem Krieg zu engagieren, mit Biermanns Wunsch objektiv deckt, sind die Gründe nicht identisch. Die neue Souveränität Deutschlands, die gerade als Ende einer ›aufgenötigten Bescheidenheit‹ und Verpflichtung gegenüber Dritten begrüßt worden ist, interpretiert Biermann als ideell verpflichtet gegenüber dem, was er allein vertritt und aus seiner privaten Betroffenheit ableitet. Dieses gute Bild von dem wieder kriegsfähigen Deutschland wird lediglich dadurch getrübt, dass auch das neue Deutschland Biermanns Anspruch nicht entspricht. Denn das öffentliche Deutschland ist zwar parteiisch für Israel, aber mit ganz eigenen politischen Erwägungen. Entsetzt über seine Kollegen und enttäuscht von seinen politischen Vertretern kündigt Biermann nach allen Seiten hin seine ideelle Staatsbürgerschaft auf. Er beendet seinen Artikel mit einem Beschluss, wie er sich zu seinen Zeitgenossen, den »überdeutschen Deutschen«, verhalte oder eben nicht mehr verhalte: »[…] egal ob Kriegsgewinnler oder Friedensengel, ich weiß, ihr könnt sehr gut ohne mich. Aber ich kann auch ohne euch. […] wir sind geschiedene Leute.«123

Der Stoff dieser Empörung ist indes gewichtig: Es ist eine deutsche Kriegsbeteiligung, die Biermann als persönlich und darin allgemein legitimiert antizipiert, nur praktisch nicht verwirklicht sieht.

1.2.3 Der gebotene Kriegseinsatz durch überhistorische Objektivität. Hans Magnus Enzensberger: Hitlers Wiedergänger (1991) Mit überindividuellen Argumenten um Objektivität und theoretische Plausibilität bemüht, versucht Hans Magnus Enzensberger, den Krieg gegen den Irak und die wenigstens ideelle deutsche Kriegsbeteiligung zu begründen. Auch in diesem Fall ist der Artikel, der zeitgleich mit Biermanns, indes im Spiegel, erschien, politisch wie theoretisch programmatisch betitelt: Hitlers Wiedergän123 Ebd.

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ger.124 Betroffenheit, die bei Biermann zentral war, ist hier weder Inhalt noch Mittel der Argumentation. Stattdessen verobjektiviert Enzensberger seinen interessierten, kaum weniger subjektiv begründeten Blick mittels des Vergleichs: Was der aktuelle Krieg in der Golfregion ist, könne man nicht an ihm, sondern nur an einem anderen Gegenstand verstehen, dem bereits eindeutig bewerteten Zweiten Weltkrieg. Enzensberger versteht dieses Verfahren des Vergleichs als Erkenntnismittel, der Vergleich sei »intellektuell begründet« und keine »journalistische Metapher«. Ungeachtet dessen, dass Enzensberger das Subjekt dieses Vergleichs, der Vergleichsgegenstände und der an ihnen angelegten Maßstäbe ist, treffe der Vergleich unmittelbar aber »das Wesen der Sache«: »Im Spiegel der deutschen Geschichte«, so seine Erkenntnisse, erscheinen ihm Hussein wie Hitler, die Iraker 1991 wie die Deutschen 1933 und der gegenwärtige Irak wie das nationalsozialistische Deutschland. Über solche Gemeinsamkeiten hinaus teilen das einstige Geschehen und das heutige Geschehen ein »Wesen«. So gebe es hier wie da ein Volk, das »reale und imaginäre […] Erniedrigung«125 erfahren und aus dieser »kollektiven Kränkung« heraus zur Führerfigur als Vollstrecker des »Todeswunsch[es]« gestrebt habe, welcher nun als »Feind der Menschheit« ziellos und deshalb »nicht gegen einen oder anderen innen- oder außenpolitischen Gegner« kämpfe. Das ist Wirklichkeit, die zu akzeptieren man endlich lernen müsse: »Es ist an der Zeit, sich von solchen Illusionen ein für allemal zu verabschieden. Der neue Feind der Menschheit verhält sich nicht anders als sein Vorgänger. Ungeachtet ihrer ganz verschiedenen Voraussetzungen sind die Regungen seiner Verehrer mit denen unserer Väter und Großväter identisch, und sie verfolgen das gleiche Ziel. Dieses Fortleben beweist, daß wir es nicht mit einer deutschen, nicht mit einer arabischen, sondern mit einer anthropologischen Tatsache zu tun haben.«

Trotz »ganz verschiedener Voraussetzungen« ist sich Enzensberger der »anthropologischen Tatsache« als ahistorischen und unpolitischen gemeinsamen Grund für Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg und Holocaust wie für alle Wiedergänger sicher. Dem setzt er eine weiche und gewissermaßen widersprüchliche Bedingung entgegen, die nun doch die Möglichkeit des politisch Gestaltbaren kennt: Das ist das kalkulierende Agieren der Staatenwelt. Es sei gut gemeint, jedoch eine falsche Annahme, Hitler damals wie Hussein heute wären mit den »normalen Mitteln der Politik« – worunter Enzensberger versteht: zu verhandeln, gegenseitig diplomatischen Respekt zu zollen, kompromissbereit zu sein, Verträge einzugehen und sich daran zu halten – praktisch zu beschwichtigen. Laut Enzensberger erscheinen Verhandlungsbereitschaft und Pazifismus 124 Hans Magnus Enzensberger : Hitlers Wiedergänger. In: Der Spiegel, 6/1991; S. 26–28. Alle folgenden Zitate entstammen diesem Artikel. 125 Ebd.; Herv. S.H.

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als die Instanzen, die nicht direkt, aber indirekt verantwortlich werden für das, was Hitler einst bewerkstelligte und was sein Wiedergänger demnächst bewerkstelligen wird. Gegen diesen Wiedergänger nicht zu handeln, den ›enttäuschten Völkern‹ nichts zu entgegnen und stattdessen auf friedliche Mittel zu beharren, eskaliere die Lage in unheilvoller Weise. Der Westen werde, indem er etwas tut, weil er es unterlässt, schuldlos schuldig. Trotz der anthropologischen Notwendigkeit, mit der sich den Deutschen eine neue und ganz beiläufig entlastende Interpretation, weshalb sie den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust haben stattfinden lassen, bietet (nämlich keineswegs aus politischen Gründen), sieht Enzensberger den Westen heutzutage in der politischen Verantwortung, sich dazu zu entschließen, dies nicht zu dulden und die »normalen Mittel[] der Politik« aufzugeben: »Keine denkbare Politik, wie klug, wie umsichtig sie auch wäre, kann es mit solch einem Feind aufnehmen. Er bekommt am Ende, was er will: den Krieg. Darin, daß es ihm gelingt, die ganze Welt, seine Anhänger nicht ausgenommen, als Geisel zu nehmen, liegt sein Triumph. Noch im eigenen Krepieren wird ihm der Genuß zuteil, das er Millionen dazu gebracht hat, vor ihm zu sterben.«

Weil für Enzensberger Hussein Hitlers Wiedergänger ist und deshalb der auf Argumente basierende, übliche politische Umgang zu einer in der Geschichte schon einmal bewiesenen kontraproduktiven ›Appeasement‹-Politik führe, sei nun das un-normale politische, also auf bloßer Gewalt beruhende Vorgehen der Staaten gegen Hussein gut begründet und legitim. Vom »Denkverbot« über die unvergleichbare »Singularität der deutschen Verbrechen«, das in der Nachkriegsgesellschaft galt, weil »[i]ntellektuell begründet«, sei Abstand genommen. So endlich der Wirklichkeit der Welt zugewandt, bedeutet Enzensberger dieses neue Denken über die nationalsozialistische Vergangenheit die Rechtfertigung eines neuen militärischen Handelns Deutschlands.

1.2.4 Instrumentelle Befürwortung des abgelehnten Kriegseinsatzes. Valentin Senger: Die Angst meines Herzens (1991) Mit Biermann und Enzensberger treten zwei Positionen auf, die offensichtlich die Verabschiedung bzw. Wandlung des Nachkriegspazifismus beabsichtigen. Derweil erschienen die pazifistischen Positionen an weniger prominenten Orten, blieben marginal oder waren publizistischen Initiativen wie der Flugschrift des Luchterhand-Verlags zu verdanken. Die Herausgeberschrift »Ich will reden von der Angst meines Herzens.« Autorinnen und Autoren zum Golfkrieg hat einige der weithin verteilten kritischen Beiträge – so etwa Heins Adresse aller Berliner Bühnen, Grass’ Rede vor den Fraktionen der Bundestagsopposition,

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Christa Wolfs knappe dpa-Meldung – in einem Band aufgenommen und zum Teil so erst der breiten bundesdeutschen Öffentlichkeit zugänglich gemacht.126 Darüber hinaus, auch das mag charakteristisch für die 1991er Debatte sein, veranlasste Luchterhand viele der in der Flugschrift versammelten Autoren gar erst, ihre Kritik zum Golfkrieg bzw. zur neuen politischen Stellung Deutschlands zu formulieren. Dieser Band wollte mit seinen rund 40 Beiträgen, die zeitnah, von »Ende Januar bis Mitte Februar 1991« entstanden sind, den »Stand der öffentlichen und privaten Auseinandersetzung« wiedergeben.127 Zu den Autoren zählen neben Hein, Grass und Wolf u. a. auch Volker Braun, Ernst Jandl, Peter Härtling, Helga Königsdorf und Kerstin Hensel. Das inhaltlich Gemeinsame dieser sich der Kriegskritik noch verpflichtet fühlenden, in Form und Umfang höchst verschiedenen Wortmeldungen ist schwierig zu bestimmen, es ist mit einer kategorischen Ablehnung militärischer Gewalt nicht gefasst. Der für die Sammlung titelgebende Text Die Angst meines Herzens des jüdischen Publizisten und Autoren Valentin Senger scheint in seiner Ambivalenz eine passende, prototypische Bestimmung zu geben. Valentin Senger beginnt seinen kurzen Artikel mit einem für die damalige Debatte nicht ganz üblichen Problemaufriss. Das betrifft weniger die Rhetorik der Erschütterung als die Frage nach der Parteilichkeit in dem Konflikt: »Was ich zum Golfkrieg zu sagen habe? Zu sagen? Nur klagen kann ich. Klagen über die Not und das Elend, die mit dem Krieg über die Menschen gekommen sind. Klagen darüber, daß ich keine Antwort auf die Frage habe, ob ein toter Iraki weniger wert ist als ein toter Israeli. Und klagen über meine Ratlosigkeit. Auf welcher Seite ich stehe? Auf beiden Seiten – und doch auf keiner.«128

Senger ›klagt‹, weil der Krieg am Golf und die Bedrohung Israels gegeben sind. Er kritisiert jene, die sich allzu leicht »pro oder contra« positionierten.129 Er sieht insbesondere in den Befürwortern des US-Kriegs gegen den Irak einen »phantastischen Verdrängungsprozeß« am Werk oder bei ihnen einer Vereinfachung vorstellig werden, die mit »Pseudogewißheit« ihre widersprüchlichen Standpunkte und zwar »mit lauter historischen und nicht historischen Versatzstücken 126 Luchterhand Literaturverlag (Hg.): »Ich will reden von der Angst meines Herzens.« Autorinnen und Autoren zum Golfkrieg. Frankfurt/M.: Luchterhand 1991. 127 Das wird im Editorial bekanntgegeben; ebd.; S. 3. 128 Valentin Senger : Die Angst meines Herzens. In: Luchterhand Literaturverlag (Hg.): »Ich will reden von der Angst meines Herzens.« Autorinnen und Autoren zum Golfkrieg. Frankfurt/ M.: Luchterhand 1991; S. 93–95, hier S. 93. 129 Ebd.; S. 94.

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Golfkrieg 1990–91. Revision des pazifistischen Nachkriegskonsenses

zusammen[schusterten]«.130 In dieser »heillosen Konfusion« ringt Senger um einen Standpunkt. Dabei gibt er sich als Betroffener der Lage: Er habe als Jude, wie er betont, Partei in den gegebenen Verhältnissen zu ergreifen – für Israel, gegen Irak. So findet sich Senger in einem Dilemma verfangen. Er will weiter am Pazifismus und der Überzeugung, es gebe im Krieg und darin auf keiner Seite gerechte oder verdiente Tode, festhalten; zugleich ist er vom Pazifismus und insbesondere von dessen Wirkmächtigkeit als Mittel gemessen am Zweck, den er höher schätzt bzw. der an sich höher zu schätzen sei, enttäuscht. Für diesen Zweck, nämlich Israel resp. Juden zu schützen, seien passende Mittel notwendig und vor allem legitim, und das seien letztlich »alle Mittel[]«131. Das ist jedoch nicht der einzige Kompromiss, zu dem sich Senger in pragmatischer Verwendung seines pazifistischen Grundgedankens angesichts des aktuellen Kriegs durchringt: »Was aber nützt mir in der gegenwärtigen Situation mein Pazifismus? Israel befindet sich in tödlicher Gefahr. Ihm ist der Untergang, ein schrecklicher Giftgastod angedroht. Welch eine grauenhafte Vorstellung: kaum fünfzig Jahre ist es her, daß Deutsche mit deutschem Giftgas Millionen Juden töteten – und schon droht den wenigen Überlebenden, die sich in Israel eine neue Heimat geschaffen haben, den Bewohnern Israels, ein neuer Holocaust. Und wieder sind Deutsche bei der Vorbereitung des Massenmords mit Giftgas beteiligt. Und ich muß auf seiten derer stehen, die ein gerütteltes Maß Mitschuld daran haben, daß es überhaupt so weit mit dem Morden am Golf gekommen ist, denen ich nicht glaubte, wenn sie erklären, es ginge ihnen ›nur um die Freiheit‹ und um nichts anderes. […] Kann ich so tun, als ob mein Pazifismus jetzt noch immer Gültigkeit besäße? Nein, ich darf nicht. Jeden Tag, jede Stunde, die der Krieg anhält, möchte ich schreien […]: die Vernichtung des Staates Israel, der Untergang des israelischen Volks muß verhindert werden. Mit allen Mitteln! Ich zögere einen Augenblick, das auszusprechen: mit allen Mitteln. Und habe doch ein elendes Gefühl dabei. Ich ersticke schier in meinen Widersprüchen (ja, ich weiß, daß ich mich wiederhole) und kann nur noch wie Hiob jammern: ich will reden von der Angst meines Herzens, und will heraus sagen von der Betrübnis meiner Seele.«132

Ist der Pazifismus mit der politischen Situation 1990/91 schon verabschiedet worden, nimmt Senger nun eine pragmatische, nach Nutzen fragende Stellung zur neu gewonnenen Macht des gegenwärtigen Deutschlands ein. Obwohl Deutschland in Vergangenheit und Gegenwart praktisch bewiesen habe, dass es Sengers eigenen Wünschen, Israel bzw. die Juden zu schützen oder wenigstens nicht umzubringen, nicht nur nicht unbedingt entsprochen, sondern mit dem Holo130 Ebd. 131 Ebd.; Herv. S.H. 132 Ebd.; S. 95, Herv. S.H.

Anspruch der deutschen Öffentlichkeit an die Intellektuellen

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caust während des Zweiten Weltkriegs und den Giftgaslieferungen in den Irak in unmittelbarer Gegenwart wider solchen Wünschen agiert, setzt Senger auf niemand anderen. Sengers »ich muß« verweist auf die in Redundanz vorgetragene schwierige Motivlage: Da ihm – als Bürger vor der politischen Weltlage wie Hiob vor Gott – alle gestaltende Macht abgeht, geht er auf einen ›realistischen‹ Kompromiss ein, der ihn zwar gegenüber seiner Staatsmacht verpflichtet und die Zustimmung für deutsche Militäreinsätze im Ausland voraussetzt, der aber die Erfüllung seiner subjektiven Wünsche mitnichten garantiert. Sengers Standpunkt ist höchst bemerkenswert. Hatte Senger die jahrzehntelange Bedrohung Israels noch bis vor wenigen Tagen mit dem pazifistischen Grundsatz begleitet und hatte dieser Grundsatz in all der Zeit nie eine Relativierung erfahren, ändert sich dies nicht aufgrund einer grundsätzlich neuen Bedrohung Israels, sondern weil Deutschland, dessen Bürger er ist, nun die Mittel bzw. das Recht eines souveränen Staats besitzt, militärisch aktiv zu werden. Ob dieser souveräne deutsche Staat mit seinen Instrumentarien, nur weil sie die Möglichkeit für ihn, Politik zu machen, darstellen, anderen Zwecken dienen würde, findet selbst Senger zweifelhaft. Und obwohl Senger kritisch notiert, dass Deutschland seine eigene Rechnung in weltpolitischen Belangen aufmacht, wird er trotzdem zu dessen Befürworter. Senger äußert sich nicht als Subjekt dieser politischen Lage, er weiß, dass er seine Betroffenheit der politischen Gewalt zu überantworten hat. Subjekt ist er allenthalben bei der ideellen Ausdeutung der Lage. Und selbst da, ganz entgegen etwa Biermanns Emphase eigener Subjektivität und gegen Enzensbergers historische Plausibilisierung, ist es ihm, weil er seine praktische Ohnmacht nicht leugnet, Anlass zur Klage. Indes findet Senger in der Bibelgeschichte und dem Hiobs- bzw. Demuts-Topos ein Bild für seine Lage, sich in eine einer Macht überantworteten Existenz zu fügen. Hein und Senger133 stehen als Vertreter der kriegskritischen Nachkriegsmoral den intellektuellen ›Realos‹ Biermann und Enzensberger gegenüber. Obwohl ihre Beiträge gemeinhin als Wortmeldungen gegensätzlicher Positionen rezipiert werden und sie sich selbst auch so verstehen, muss ein Gemeinsames aller Positionen festgehalten werden: Von einem kategorischen ›Nie wieder Krieg‹ geht scheinbar ganz selbstverständlich keiner der Beiträge (mehr) aus. Dahingehend ist ein neuer, negativer Konsens zu konstatieren. 133 Zu diesen beiden Beispielen kann man gewissermaßen auch Günter Grass’ Text Mitverantwortlich zählen. In ihm begründet Grass den ›Alptraum‹ eines wiedervereinten Deutschlands nicht mit der politischen Raison, sondern allein quantitativ mit der Landesgröße; Günter Grass: Mitverantwortlich. In: Luchterhand Literaturverlag (Hg.): »Ich will reden von der Angst meines Herzens.« Autorinnen und Autoren zum Golfkrieg. Frankfurt/M.: Luchterhand 1991; S. 40–42.

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Golfkrieg 1990–91. Revision des pazifistischen Nachkriegskonsenses

Jedoch zeigt sich trotz ihrer scheinbar konträren Lager ein positiv zu benennendes Gemeinsames, vor allem in eher methodischer Hinsicht: Jeder der Beiträge nimmt Partei für die politischen Begebenheiten nicht in einer offensichtlichen politischen Positionierung, sondern im ideellen Zugriff. Alle ›finden‹ eigene Notwendigkeiten für Krieg im Allgemeinen und den Golfkrieg im Besonderen, beginnend bei dem Krieg als Gegebenes bis zum über-historischen, anthropologischen, der Menschennatur abverlangten Schicksal. Damit finden sie rechtfertigende Hinsichten darauf – gleich, ob sie dem Bild, das sie selbst entwerfen, zustimmend oder ablehnend gegenüberstehen –, was praktisch stattfindet und worin es begründet und was damit politisch bezweckt ist. Darin verwickelt, Hinsichten zu formulieren, inwiefern das Gegebene zu begrüßen oder abzulehnen ist, wird bei allen der Krieg als Gegenstand der Politik nicht berührt. Und das erscheint umso erstaunlicher in den Fällen, in denen sich klare Rechenschaft darüber abverlangt wird, dass keine eigene Hinsicht das einholt, was getrennt und unberührt davon stattfindet. Senger z. B. macht seine Hoffnungen als solche deutlich; er missversteht sie keineswegs als eigentliche Pflicht der Politik, sondern sehr realistisch als etwas, was als subjektiver Standpunkt kaum mit Verwirklichung rechnen kann. Und obwohl Senger ausspricht, dass seine Rechtfertigung nur ideell bedeutsam und praktisch bedeutungslos ist, verhält er sich letztlich positiv gegenüber den kritisierten Begebenheiten. Worin sich Senger praktisch machtlos sieht – und bei den Politik-Machenden seine Interessen nicht vertreten weiß –, das holt er mit literarischen Topoi begründeter, wenngleich allgemeiner, unbestimmter Ohnmacht ein. Eine Kritik in Form einer Bestimmung der Verhältnisse, die die politischen Subjekte der Staaten ein- und im Krieg eben auch herrichten, findet nicht statt. Insofern ist bereits 1991, unmittelbar nach der Vereinigung Deutschlands, virulent, was (negativ formuliert) nicht erst einer ›Transformation‹ harren musste oder, so wie Schwab-Trapp schreibt, als tatsächlicher Kriegsdiskurs erst durch die praktische Teilnahme Deutschlands an einem Krieg bedingt war134 : Die deutschen Intellektuellen und Schriftsteller haben (neben den Akteuren der Friedensbewegung) im Großen und Ganzen bereits zu Beginn 1991 ihren eigenen politisch-moralischen Antikriegsstandpunkt, gerade noch erklärtes Fundament ihrer Profession, verunsichert oder gar aufgegeben und ihn in einen lediglich kritischen Standpunkt gegenüber der wieder zum Krieg befähigten deutschen Nation verwandelt. Insofern war, um auf Robert Gernhardts Gedicht zurückzukommen, der 15. 1. 1991 nicht nur ein Stichtag für die Politik. 134 Mit diesem Argument verneint Schwab-Trapp, dass sich 1991 bereits ein Wandel der Haltung der deutschen Öffentlichkeit eingestellt habe. Seines Erachtens müsse man die öffentliche Debatte 1991 »vor allem als Protest gegen den Krieg« verstehen. Und so habe die Diskussion »jedoch eher Weichen für die Veränderung der politischen Kultur gestellt als eine solche Veränderung zu vollziehen«; Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 108.

2.

Die überparteiliche Stellung für den Krieg. Deutsche Literaten anlässlich des Engagements Deutschlands in Jugoslawien 1991–92

2.1

Der Zerfall Jugoslawiens 1991–92, deutsche Diplomatie und Öffentlichkeit

2.1.1 Jugoslawiens Konflikte um die Sezession Sloweniens und Kroatiens Jugoslawien kam in den 1990er Jahren in den Blick der Weltöffentlichkeit, als die Bestrebungen einzelner Teilrepubliken, aus der Föderation auszuscheiden und sich als politisch unabhängige Staaten neu zu gründen, in einen kriegerischen Konflikt mündeten.135 Die Volks- bzw. Föderative Republik Jugoslawien hatte sich während des Zweiten Weltkriegs als Bund ›südslawischer Völker‹ gegründet. Politisch war Jugoslawien ›blockfrei‹, gehörte polit-ökonomisch dem sozialistischen Block an, hatte innerhalb dessen aber und gegenüber der kapitalistischen Staatenwelt eine Sonderposition. Angesichts zunehmender wirtschaftlicher Divergenzen im Laufe der 1980er Jahre, infolge der Auflösung des Ostblocks 1989/90 und des gleichzeitigen Wegfalls der vorteilhaften Position Jugoslawiens 135 Für die folgende Darstellung der Ereignisse der ersten Kriegsjahre beziehe ich mich auf verschiedene Monografien, Aufsätze und Chroniken: Dunja Melcic (Hg.): Der JugoslawienKrieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999. Daraus: Dunja Melcic: Der Jugoslawismus und sein Ende. In: ebd.; S. 208–226; Erich Rathfelder : Der Krieg an seinen Schauplätzen. In: ebd.; S. 345–363; Jacques Rupnik: Die Welt im Balkanspiegel: das Agieren der Großmächte. In: ebd.; S. 463– 477; Stefan Oeter: Völkerrechtliche Rahmenbedingungen und die Staatengemeinschaft. In: ebd.; S. 478–498; Matthias Vetter : Vom Kosovo zum Kosovo. Chronik 1986–1999. In: ebd.; S. 542–568. Tobias Pflüger : Die Modernisierung der neuen Bundeswehr im Kontext des Jugoslawienkrieges. In: Johannes M. Becker u. Gertrud Brücher (Hg.): Der Jugoslawienkrieg – Eine Zwischenbilanz. Münster : LIT-Verlag 2001 (Schriftenreihe zur Konfliktforschung; Bd. 23); S. 31–63. Darüber hinaus: Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens; S. 308– 312; Vojin Dimitrijevic: Die Jugoslawische Krise und die Internationale Gemeinschaft. In: Thomas Bremer u. a. (Hg.): Serbiens Weg in den Krieg. Kollektive Erinnerung, nationale Formierung und ideologische Aufrüstung. Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz 1998; S. 461– 478; Catharine Samary : Die Zerstörung Jugoslawiens. Ein europäischer Krieg. Köln: Neuer ISP Verlag 1995; Holm Sundhaussen: Jugoslawien; insb. S. 309–323.

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Jugoslawien 1991–92. Die überparteiliche Stellung für den Krieg

›zwischen‹ den Blöcken wurde der Nutzen innerhalb eines gemeinsamen Staats von den verschiedenen Teilrepubliken neu beurteilt. Eine bessere ökonomische Lage sahen sie nicht im Miteinander, auf das sie sich innerhalb der Föderation verpflichtet hatten. So standen anfänglich die Ausgleichszahlungen zwischen den jugoslawischen Republiken – Slowenien hatte diese schon 1990 praktisch verweigert – und später die politische Existenz als bloße Teilrepublik zur Disposition. Zugleich errechneten sich die Republiken aus der politischen und ökonomischen Anbindung an das westliche Europa einen größeren Nutzen. Vereinzelte Unabhängigkeitsbewegungen, die die Vertreter einiger Bevölkerungsgruppen seit der Gründung Jugoslawiens größtenteils illegal und unter Lebensgefahr organisierten (hervorzuheben sind die in vielen Punkten auch uneinigen kroatischen Aktivisten), erhielten neue Popularität. Drei der sechs Bundesrepubliken, die im sozialistischen Jugoslawien einerseits unter der Devise ›Brüderlichkeit und Einheit‹ vereint waren, die andererseits aber in ihren Nationalitäten als ›Völker‹ neben den ›Völkerschaften‹ fortbestanden hatten und nicht nur politisch anerkannt, sondern als solche für die Politik der Föderation konstitutiv waren, entschieden sich 1990 und 1991 in verschiedenen Referenden für die Loslösung aus dem jugoslawischen Verbund. Politisch verfolgten sie, nachdem die Alternative einer Konföderation vor allem durch die Bundesregierung in Belgrad abgelehnt worden war, die Selbstständigkeit als voneinander unabhängige Staaten. Die ideellen Identitäten der ›Völker‹ und ›Völkerschaften‹, die im gemeinsamen jugoslawischen Zusammenleben weder verworfen noch verboten, indessen gepflegt worden waren, erfuhren mit den aktuellen politischen Bestrebungen der Republiken neue Bedeutung. Zur Legitimation der politischen Unabhängigkeit bzw. der sogenannten ›Selbstbestimmung des eigenen Volks‹ wurde die ausschließliche und ausschließende Eigenheit der Kultur, der Sprache bzw. Sprachvarietät, der Geschichte, der Religionen oder auch eines ›geschichtsträchtigen‹ Bodens hervorgehoben oder erst konstruiert. Praktisch bereiteten insbesondere die Regierungen in Kroatien und Slowenien ihre Unabhängigkeiten u. a. damit vor, dass sie eigene Parlamente aufstellten, eigene Gesetze erließen, damit ihre Völker definierten und neue Pässe ausstellten (so wurden etwa in Kroatien den Bewohnern serbischer Abstammung staatsbürgerliche Rechte aberkannt), zugleich führten sie neue Währungen ein. Der Umund Aufbau eigener polizeilicher und auch informeller paramilitärischer Einheiten sollte des Weiteren jene Strukturen kompensieren, die diesem Staatswillen zur geordneten ›Exekution‹ seiner selbst nach innen und außen noch mangelten. Die Belgrader Bundesregierung versuchte, den Bestand der jugoslawischen Föderation zu sichern, also die Sezessionsbestrebungen ihrer verschiedenen Teile zu unterbinden. Sie hatte die Referenden für die Loslösung aus dem Ver-

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bund, die Wahlen in den Teilrepubliken für eigene unabhängige Parlamente und die ersten quasi souveränen politischen Handlungen nicht genehmigt, aber auch nicht gewaltsam verhindert. Jedoch hatte sie bereits die neben der Jugoslawischen Volksarmee dezentral organisierten Landwehren in Slowenien und Kroatien entwaffnen lassen und damit versucht, den abtrünnigen Republiken die Mittel zu nehmen, ihren politischen Willen gegen den Belgrads durchzusetzen. Da der Vorsitz der jugoslawischen Regierungsgeschäfte 1990 turnusmäßig an die Republik Serbien ging, handelte Belgrad im Interesse des föderativen Staats Jugoslawien wie es auch die Einzelinteressen der serbischen Teilrepublik vertrat. Der Sezession entgegenzuwirken fühlte sich Jugoslawien resp. Serbien berechtigt, wie diese Weigerung von den abtrünnigen und sich um Unabhängigkeit bemühenden Republiken als feindlich und als Aggression gewertet wurde. Die Jugoslawische Volksarmee wurde daraufhin aktiv gegen das sich unabhängig erklärende Slowenien, später in den nördlichen und nord-westlichen Regionen Kroatiens und dort vor allem in den von kroatischen Serben bewohnten Gebieten. Dieses Vorgehen wurde insbesondere nach dem Unabhängigkeits-Referendum Kroatiens am 19. Mai 1991 intensiviert. Die Grenzgefechte zwischen der Bundesrepublik Jugoslawien und dem abtrünnigen Teil Slowenien endeten bereits nach dem Zehn-Tage-Krieg am 7. Juli 1991 mit dem durch die Europäische Gemeinschaft initiierten Brioni-Abkommen. Die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Jugoslawien und Kroatien dauerten indes mehrere Jahre, pausierten zwischenzeitlich durch einen am 2. Januar 1992 von der UN vermittelten und durch UNPROFOR-Truppen beaufsichtigten Friedensplan, wurden letztlich aber erst 1995 durch das Dayton-Abkommen beendet. Diese ersten Sezessionsbestrebungen der frühen 1990er Jahre richteten sich nicht nur gegen die jugoslawische Zentralgewalt in Belgrad. Die einzelnen Teilrepubliken hatten sich in dem Maße, wie sie seit den 1980er Jahren die Schuld für ihren ökonomischen Misserfolg aneinander suchten, bereits politisch entzweit und traten im Zuge der Konsolidierung ihrer neu zu gründenden Staaten offen in Konkurrenz zueinander. Sie stritten untereinander um Grenzziehungen und Territorien, die in der Föderativen Republik Jugoslawien keine exkludierende Funktion besessen hatten, sondern lediglich Verwaltungsgrenzen waren. Des Weiteren bemühten sie sich um die praktische wie ideelle ›völkische Einheit‹, die diese Staatsneugründungen jeweils entsprechend legitimieren sollte. So kam es im Anschluss an den Zehn-Tage-Krieg insbesondere an den Grenzen Kroatiens, das sich ebenfalls am 25. Juni 1991 unabhängig erklärt hatte, zu lang anhaltenden Kämpfen. In den verschiedenen Siedlungsgebieten standen sich Milizen gegenüber und mit ihnen Zivilisten, die sich als Vertreter ihrer je eigenen Staaten gegenseitig die Existenzen bestritten. Kroatische Serben waren

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schon seit März 1991 Übergriffen der kroatischen Polizei ausgesetzt und hatten zum Teil ihre Wohnstätten verloren. Im Zuge der Eingliederung in einen Staat, der sich offiziell exklusiv dem kroatischen Volk verpflichtet sah, beriefen sich die auf kroatischem Gebiet lebenden Serben offen auf ihre eigene nationale Identität. Sie forderten die Autonomie der serbischen Provinz Krajina, gründeten ein eigenes Parlament, etablierten eine eigene Exekutive und Währung. In der Folge wurden Kroaten drangsaliert und aus der Krajina vertrieben, umgekehrt Serben aus dem kroatischen Gebiet aufgenommen, kroatische Häuser und Einrichtungen zerstört. Seit Herbst 1991 sind gegenseitige Massaker belegt. Dem Willen der Krajina-Serben, staatsbürgerlich wie territorial nicht zu Kroatien zu gehören und sich stattdessen Serbien anzuschließen, wurde von kroatischer Regierung wider- und auch von der jugoslawischen Bundesregierung in Belgrad nicht entsprochen. Am 19. Dezember 1991 erklärten sich die Gebiete Krajina und Ostslawonien zur autonomen Republik Serbische Krajina; am 22. Dezember 1991 wurde in Kroatien eine neue und mit Minderheitenrechten versehene, also ›völkische‹ Mehrheitsrechte manifestierende Verfassung verabschiedet; am 23. Dezember 1991 wurde auf dieser Grundlage Kroatien – nicht der Krajina – eine völkerrechtliche Anerkennung mitsamt der Gewährung der territorialen Integrität durch Deutschland in Aussicht gestellt. Der UN-Friedensplan vom 2. Januar 1992 widmete sich den anhaltenden und durch die Unabhängigkeitserklärungen nochmals angefachten politischen Rivalitäten zwischen den sich nun ethnisch definierenden Bevölkerungen. Der UN-Friedensplan fixierte den Status quo der ethnischen Trennung. Die stationierte internationale UNPROFOR hatte den Waffenstillstand, den die UN durch die weiterhin ungelösten politischen Probleme zwischen den Volksgruppen gefährdet sah, zu beaufsichtigen. Nachdem durch das Brioni-Abkommen zwischen Slowenien und Rest-Jugoslawien und durch die UN-Vermittlung zwischen Rest-Jugoslawien, den serbischen Milizen und Kroatien die militärischen Konflikte zu einem Ende gekommen und die Unabhängigkeit von Slowenien wie Kroatien erfolgreich durchgesetzt worden waren, erklärte auch Bosnien-Herzegowina nach einem Memorandum im Oktober 1991 und einem Referendum im Februar 1992 am 3. März 1992 seine Loslösung aus der jugoslawischen Föderation und also seine staatliche Unabhängigkeit. Obwohl die durch die internationale Gemeinschaft zur Pflicht ernannten Kriterien für eine eigene Staatlichkeit nicht gegeben waren, da z. B. ein einheitliches Votum der auf dem Gebiet Bosnien-Herzegowina befindlichen ›Völkerschaften‹ für die Unabhängigkeit eines solchen Staats durch den Boykott der serbischen Bevölkerungsschicht nicht vorzuweisen war, wurde am 17. April 1992 der Staat Bosnien-Herzegowina international anerkannt. – Was im Falle des Staats Jugoslawien als ›Einheit und Brüderlichkeit‹ von ›Völkern und Völkerschaften‹ gerade im Begriff war, sich gewaltsam aufzulösen, weil

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jedes dieser Völker seinen eigenen Staat beanspruchte, wurde im Kleinen nun politische Grundlage Bosnien-Herzegowinas. Die Konflikte zwischen den drei Bevölkerungsteilen, den bosnischen Muslimen, bosnischen Serben und bosnischen Kroaten, eskalierten daraufhin. Die kroatischen und serbischen Gruppierungen verlangten die ausschließliche und ausschließende Hoheit unter den ihnen gemäßen Staaten Kroatien und Serbien. Territorien, die sich an der Grenze zu Serbien und zur Republik Serbische Krajina befanden, dicht, aber nicht unbedingt mehrheitlich von bosnischen Serben bewohnt waren und beinahe die Hälfte des bosnischen Staatsgebiets ausmachten, hatten sich bereits im Januar 1992 zum Teil der Republika Srpska erklärt und hatten fortan u. a. mit dem überlassenen militärischen Gerät der Jugoslawischen Volksarmee gewaltsam die Herstellung ihres eigenen Staatsgebiets betrieben. Milizen der bosnischen Kroaten, inoffiziell unterstützt durch Kroatien, kämpften um die kroatisch besiedelten Gebiete in Bosnien und für einen möglichen Anschluss an Kroatien. Die ›Patriotische Liga‹ der Bosniaken kämpfte wiederum für die Geltung ihrer Staatsidee, i. e. für ein muslimisch bestimmtes Bosnien und gegen die Sezession der kroatischen und serbischen Landsleute. Die Kämpfe dieser Parteien, die sich aus den nun konsolidierenden nationalen Armeen, paramilitärischen Gruppen und Freischärlern mehr oder weniger unorganisiert rekrutierten, zeitigten neben den ›üblichen‹ Kriegshandlungen auch ›ethnische Säuberungen‹, d. h. die unbedingte Herstellung einer homogenen Bevölkerung auf den von ihnen reklamierten Territorien. Insofern sich die verschiedenen Nationalitäten durch Flucht nicht ›selbst‹ auseinanderdividierten, kam es zu Vertreibungen, Internierungen, jahrelangen Belagerungen und Massakern. Als eine unter vielen bosnischen Städten wurde seit dem 5. April 1992 Sarajevo durch serbische und kroatische Milizenverbände belagert; erste Massenmorde in Lagern bosnischer Serben sind seit dem 2. August 1992 belegt. Angesichts dieser Kriegshandlungen wurde das UNPROFOR-Mandat für Kroatien auf Bosnien ausgeweitet. – Im Unterschied zu den Konflikten in Slowenien und Kroatien wurden die Kriegshandlungen in Bosnien nicht in den ersten Monaten beendet. Sie eskalierten zu dem Jahre andauernden Bosnienkrieg, dem sich das 3. Kapitel dieser Arbeit widmet.

2.1.2 Die Konflikte innerhalb Jugoslawiens als eine Angelegenheit des Auslands Die innenpolitische Krise des jugoslawischen Staats war spätestens mit den politischen Veränderungen 1989/90 auch eine Angelegenheit des Auslands geworden. Zuvorderst hatte sich die EG für diese Situation politisch zuständig erklärt. Seit dem Ende des Kalten Kriegs galt es ihr im Modus der ›Verantwor-

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Jugoslawien 1991–92. Die überparteiliche Stellung für den Krieg

tungsübernahme‹ als Aufgabe, die Auflösung des Ostblocks konstruktiv zu begleiten, dem ›Machtvakuum‹ in diesen Ländern mit eigenen politischen Ideen zu begegnen und sich dabei vor allem neben der letzten Weltmacht USA weltpolitisch zu profilieren.136 Am Fall Jugoslawien sollte dieses neue politische Selbstbewusstsein des westlichen Europas, wie es sich nun vor allem rückblickend deutlich zeigt, bewiesen werden. Die »allgemein[e] Situation eines fundamentalen politischen Umbruchs, die vor allem Europa, aber auch die Welt insgesamt seit Beginn der neunziger Jahre« prägte, wie der Völkerrechtler Stefan Oeter schreibt, wurde von der europäischen Politik als »handfeste Krise des völkerrechtlichen Instrumentariums« lediglich dahingehend verstanden, als die »[t]raditionelle[n] Instrumente des Völkerrechts«137 den neuen Ansprüchen nicht mehr genügten. In einem »quasi experimentellen Prozess«, so Oeter, haben diese geschaffen werden müssen. Dass die Westmächte »zu diesem Zeitpunkt erst wenige Instrumente für das Konfliktmanagement« besaßen und sie deswegen dem Fall Jugoslawien quasi hilf- und mittellos gegenüberstanden, betont ebenso die Slawistin Marie-Janine Calic.138 Jedoch lieferte die reale Politik den gegenteiligen Eindruck: Völkerrecht – etwa die territoriale Integrität souveräner Staaten, zu denen Jugoslawien zu Beginn der 1990er Jahren noch gehörte – gestalteten die westlichen Staaten praktisch gemäß ihren aktuellen Anliegen. Als ein abstraktes oder, so Oeter, ›strukturelles‹ Problem der Rechtslage, die den europäischen Mächten als Schranke gegenübergetreten sei, erscheint diese historische Situation des sezessierenden Ostblocks nicht. Das zeigt sich bereits darin, dass u. a. die Länder der EG die Lage in Jugoslawien rundweg nach eigenem Ermessen als internationale, völkerrechtliche Angelegenheit aufgefasst, also nicht als einen innenpolitischen Konflikt eines souveränen Staats behandelt haben. Der entsprechende rechtliche Rahmen wurde erst im Nachhinein geschaffen.139 Damit war von vorn herein eine Zuständigkeit des westlichen Auslands für die inner-jugoslawischen Angelegenheiten beansprucht und auch ein dezidiertes politisches Interesse formuliert: Der ›Westblock‹ begrüßte und beförderte die Auflösung des ehemaligen weltpolitischen Konkurrenten. Er war zunächst aus 136 Vgl. dazu insbesondere: Catherine Samary : Die Zerstörung Jugoslawiens; S. 110–126. 137 Stefan Oeter: Völkerrechtliche Rahmenbedingungen; S. 478; ders.: Kriegsverbrechen in den Konflikten um das Erbe Jugoslawiens. Ein Beitrag zu den Fragen der kollektiven und individuellen Verantwortlichkeit für Verletzungen des Humanitären Völkerrechts. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 53/1992; S. 1–48. 138 Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens; S. 309. 139 Das politische Dilemma ›Intervention vs. Respekt staatlicher Souveränität‹, für das MarieJanine Calic argumentiert, beweist durch seine Existenz (und dadurch, dass sich in aller Regel mit dem Dilemma nicht gegen, aber für eine Intervention entschieden wurde), dass es nicht Folge fehlender, sondern Auftrag an zu schaffender Rechtlichkeit war ; siehe: ebd.; S. 309f.

Der Zerfall Jugoslawiens, deutsche Diplomatie und Öffentlichkeit

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negativen, meint ›destruktiven‹ Gründen an dem Zerfall Jugoslawiens, einem der größten europäischen Länder, und an der Bildung unabhängiger Einzelstaaten interessiert. Ideologisch begleitet wurde dieses politische Interesse seitens der EG mit der pauschalen Verurteilung Jugoslawiens – wie zeitgleich auch der UdSSR – als illegitimes ›Völkergefängnis‹. Unabhängig von den tatsächlichen politischen Motiven und Zielen der jugoslawischen Teilrepubliken wurde dies als objektive Lage definiert und sich der innerstaatlichen Angelegenheit als Angelegenheit des Völkerrechts angenommen. Das westliche Ausland war demnach parteilich für die Sezessionskonflikte, ohne jedoch, zu diesem Zeitpunkt, parteilich in ihnen zu werden. Für diese Politik entwickelte der Westen keine neuen ›völkerrechtlichen Instrumente‹, sondern wendete die gebräuchlichen diplomatischen und ökonomischen Mittel gemäß des internationalen Rechts an, unter das er die nationale Lage Jugoslawiens subsumiert hatte: Die Nato setzte unter Verweis auf UNResolutionen ein Waffenembargo um; die EG erließ Finanzhilfen für Jugoslawien, die je nach Stand der Entwicklungen eingefroren oder freigegeben wurden; Handelsbeziehungen mit Jugoslawien wurden von EG-Staaten oder den USA abgebrochen und mit den Republiken, die sich aus der jugoslawischen Föderation gelöst hatten, wieder aufgenommen; die sich unabhängig erklärten Republiken wurden von den westlichen Staaten als souveräne Staaten anerkannt und in die entsprechenden internationalen Verbünde der KSZE und der UN als aktive Mitglieder integriert, wohingegen der Staat Jugoslawien sowie seine Rechtsnachfolger, als die sich schließlich Serbien und Montenegro erklärten, sanktioniert wurden und ihr politischer Status vakant blieb. ›Quasi experimentell‹ agierte die Politik des westlichen Auslands erst, als etablierte Mittel nicht ausreichten, den von ihnen versprochenen politischen Erfolg zu erbringen. Die EG-Außenminister schufen sich mit den BadinterRichtlinien eine rechtliche Orientierung für das gemeinsame Handeln gegenüber Jugoslawien. Jugoslawien wurde darin von der EG als nicht mehr existierender Staat und die Teilrepubliken in Bezug auf das ›Selbstbestimmungsrecht der Völker‹ als legitime und unterstützungswerte Verfallsprodukte definiert. Sich auf das Recht der Völker zu berufen, aus einem Vielvölkerstaat auszutreten und den ausschließlich ihnen entsprechenden Staat zu gründen, wurde von der EG somit anerkannt. Zugleich geschah dies in Anbetracht der historischen Lage, dass die ›Völker und Völkerschaften‹ nicht nach den innerjugoslawischen Verwaltungsgrenzen verteilt waren, Grenzen, welche die EG jedoch als unabdingbare Staatsgrenzen der neuen, sich ›völkisch‹ legitimierenden Staaten setzte. Diese Setzung stellte sich allen Bevölkerungsgruppen und zuvorderst der über mehrere Teilrepubliken verteilten ›Serben‹ als Problem dar. Weil die abtrünnigen Republiken den Status unabhängiger westlicher Staaten anstrebten und die staatliche Anerkennung durch die EG verfolgten, standen ebenso wenig

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die Einführung der freien Marktwirtschaft und der Demokratie sowie die Integration in die westlichen Staatenbündnisse zur Diskussion. Zur praktischen Unterstützung ihrer politischen Ansprüche reaktivierte die EG ihr eigenes, innerhalb der Nato angesiedelte Militärbündnis der Westeuropäischen Union (WEU). In den ›Petersberger Aufgaben‹ unterzog man das alte WEU-Programm einer Revision und stärkte dessen operative Eigenständigkeit. Die EG nahm sich zur Aufgabe, mit ihrem eigenen militärischen Bündnis nun auch unabhängig vom Nato-Bündnispartner USA mit Gewaltmitteln ›friedenssichernde‹ und ›friedensschaffende‹ Politik zu betreiben. Welchen Frieden die EG außerhalb ihres Bündnisgebiets sichern und schaffen wollte oder welchen sie sich fortan auch militärisch umzusetzen berechtigt sah, zeigt sich beim ersten Friedensvertrag, dem Brioni-Abkommen, der zwischen Slowenien und (Rest-)Jugoslawien geschlossen wurde. Dort begegneten die EG und die vermittelnde UN als Friedensrichter den Konflikten strukturell parteiisch. Jugoslawien und das davon abtrünnige Slowenien galten ihnen als gleichberechtigte Verhandlungspartner. Damit galt, obwohl die Unabhängigkeitsbestrebungen mit dem Brioni-Abkommen drei Monate ausgesetzt wurden, der ›Vielvölkerstaat‹ Jugoslawien vor der westlichen Staatengemeinde nicht mehr als politisches Subjekt, das über alle seine Teile souverän verfügte und insofern zur Disposition gestellt war. Zugleich wurden die Unabhängigkeitsbestrebungen des slowenischen Teils mit reellen politischen Perspektiven, als von Jugoslawien getrennte Partei angesprochen zu sein und zu gelten, ausgestattet. Diese europäische Agenda widersprach dem Diktum der USA, die gefordert hatten, die innenpolitischen Konflikte Jugoslawiens zu fördern, aber den Teilrepubliken die Unabhängigkeit in Form souveräner Staaten zu verweigern. Nicht nur setzte die EG dies als ihr Interesse an Jugoslawien in Konkurrenz gegen ihren atlantischen Bündnispartner durch, sondern sie machte sich als ›staatenbildende‹ Gewalt für diese neuen staatlichen Existenzen unentbehrlich. Denn der neue Frieden und somit auch die Existenz des neuen Sloweniens waren nicht durch einen slowenischen Sieg gesichert und gegen die konkurrierende, aber unterlegene Gewalt der jugoslawischen Föderation gewaltsam durchgesetzt worden. Durchgesetzt wurden der Frieden und die Existenz bei Fortbestand des Konflikts erst durch die dritte Partei des westlichen bzw. westeuropäischen Staatenbündnisses. Die friedliche Existenz der neuen Staaten war deswegen lediglich so lange und so weit gesichert, wie die ›friedenssichernde‹ Gewalt Westeuropas von den Parteien des ehemaligen Jugoslawiens nicht praktisch angezweifelt wurde. Instrumente, die diese neue staatenbildende Friedenspolitik der EG für den Fall Jugoslawien ›experimentell‹ erst schuf, waren u. a. diesen Frieden durchsetzenden und sichernden WEU- und UN-Missionen und ein Waffen-Embargo gegen ausgewählte Kriegsparteien. 1991 forderte die EG zum ersten Mal einen internatio-

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nalen Gerichtshof für die spezielle Aufsicht über den Verlauf der jugoslawischen Zergliederung.

2.1.3 Der Zerfall Jugoslawiens als Aufgabe der deutschen Außenpolitik Deutschland, das an den Veränderungen der weltpolitischen Lage seit 1989 im Besonderen Anteil genommen hatte, beanspruchte infolge seiner Vereinigung und Vergrößerung, die es 1990 gegen die Bedenken auch seiner westlichen Bündnispartner durchsetzte, ganz unmittelbar eine entsprechende, ebenfalls gewachsene politische Geltung. Das vereinigte Deutschland beteiligte sich im Rahmen seiner eigenen Außenpolitik aktiv an der Neuausrichtung einer europäischen Außenpolitik. Es unterstützte deren – auch militärisches – Agieren im Falle Jugoslawiens und dabei im besonderen Maße auch in Abgrenzung zu den USA. Die Bundeswehr wurde strukturell, personell und technisch dieser neuen politischen Agenda angepasst. Bevor 1992 das sogenannte ›Stoltenberg-Papier‹ und die neuen ›Verteidigungspolitischen Richtlinien‹ vorgelegt wurden, die die politische wie praktische Neuausrichtung der Bundeswehr für die folgenden Jahre fixierten und regelten, nahm Deutschland bereits 1991 mit eigenen Marineeinheiten an dem durch die WEU durchzusetzenden Waffenembargo gegen Jugoslawien in der Adria teil. Seit 1992 stellte Deutschland Flughäfen bereit, von denen Nato-Flüge starteten, um weitere Sanktionen gegen Jugoslawien durchzusetzen und zu überwachen. Deutschland versuchte darüber hinaus, die europäische Politik als Mittel eigener nationaler Außenpolitik zu gestalten und dafür seine Führungsrolle gegenüber den Konkurrenten wie Frankreich oder Großbritannien zu etablieren. So agierte Deutschland mit dem legitimatorischen Verweis auf die KSZERichtlinie vom ›Selbstbestimmungsrecht der Völker‹ offensiv gegen die Absprachen seiner engsten Bündnispartner in der EG. Entgegen Deutschland hatte z. B. Frankreich eine ›gesamtjugoslawische‹ Lösung anvisiert, wonach ebenfalls die Auflösung Jugoslawiens favorisiert wurde, darin aber alle Republiken positiv eingebunden hätten sein sollen. Dem entgegen stellte nun Deutschland im Dezember 1991 den zwei abtrünnigen Republiken Slowenien und Kroatien die staatliche Unabhängigkeit von dem noch existierenden Staat Jugoslawien und also gegen das Votum Belgrads für 1992 in Aussicht. Deutschland hatte damit einen politischen Fakt geschaffen, dem sich die restliche EG, die USA und schließlich die UN, alle gleichermaßen um die Einheit des westlichen Bündnisses besorgt, anschlossen. Infolge der deutschen Initiative wurden im Frühjahr 1992 Kroatien und Slowenien als unabhängige Staaten international anerkannt.

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2.1.4 Die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf die Lage in Jugoslawien Auch die deutsche Öffentlichkeit wandte sich in den frühen 1990er Jahren den Geschehnissen auf dem Balkan zu und sie tat dies zunächst unter der Perspektive, die mit der Politik ihres Landes zusammenfiel. Die folgenden Ausführungen wollen beispielhaft und im Bewusstsein, keine repräsentative Analyse für den gesamten öffentlichen Diskurs zu bieten, Argumentationshaltungen und -perspektiven des deutschen öffentlichen Diskurses nachzeichnen.140 Dazu dienen verschiedene Wortmeldungen der Wochenzeitschrift Der Spiegel von Mitte 1991 bis Ende 1992, welcher nach Lothar Struck »die rhetorische Zerschlagung Jugoslawiens […] in vorderster Linie«141 betrieben habe. Der Spiegel stellte die Sezessionsbestrebungen der jugoslawischen Teilrepubliken in einem Artikel Mitte 1991, der weitestgehend mit den Meldungen folgender Monate übereinstimmt, als notwendiges Geschehen dar. Er fasst sie als »Untergang des Vielvölkerstaats«, der »nicht auf[zu]halten« sei.142 Die im Staat Jugoslawien gegeneinander stehenden politischen Interessen zwischen und folglich auch in den verschiedenen Teilrepubliken, die ebenfalls und nun gegeneinander Staat sein wollten, wurden als legitim bewertet und entsprechend neu bestimmt: Jugoslawien sei der »widersprüchlichste Staat Europas«, in ihm wirkten »zentrifugal[e] Kräfte«, die »nicht mehr zu bändigen« seien.143 In diesem superlativisch unmöglichen Staat Jugoslawien herrschten naturgesetzliche, quasiteleologische Abläufe, die niemand verursacht habe und die man ebenso wenig aufhalten könne: Jugoslawien müsse »zerbröckeln«, »das Pulverfaß Balkan explodiert«.144 Wie das politische Geschehen auf dem Balkan für sich, wird nun auch die politische Reaktion, die sich vor allem für Deutschland nach dem gescheiterten Versuch, Belgrad zu einer Auflösung Jugoslawiens zu bewegen, in der Anerkennung abtrünniger Republiken darstellte, im Spiegel gleichsam als Natur140 Bisher erschienene Untersuchungen darüber, wie in der deutschen Presse und Öffentlichkeit der Krieg in Jugoslawien und die Rolle, die Deutschland in ihm einnahm, bewertet wird, sparen oft die ›diplomatischen‹ Auseinandersetzungen Deutschlands in den ersten Konfliktjahren aus. Schwab-Trapp umfasst nominell diese Jahre deutscher Politik, wenn er sein Buch Kriegsdiskurse. Die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991–1999 betitelt, indes ist die politische Debatte innerhalb Deutschlands über den Jugoslawienkrieg erst ab 1994 dargestellt. 141 Lothar Struck: ›Der mit seinem Jugoslawien‹. Peter Handke im Spannungsfeld zwischen Literatur, Medien und Politik. Leipzig: Ille & Riemer 2012; S. 66. 142 O.V.: »Wir bleiben nicht bei Mördern.« Bürgerkrieg mitten in Europa, das Pulverfaß Balkan explodiert. In: Der Spiegel, 27/1991; S. 118–125, hier S. 118. 143 Ebd. 144 Ebd.; S. 125.

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notwendiges betrachtet: »Doch ebensowenig wie der Zerfall Jugoslawiens aufzuhalten ist, können sich die EG-Staaten vor der Anerkennung der Selbständigkeit strebender Republiken drücken.«145 Diesen ›nicht aufzuhaltenden‹, Jugoslawien zerstörenden Staatsneugründungen hätten sich also nicht nur Jugoslawien, sondern auch Deutschland und dessen Partner zu fügen. Die Einheit der EG müsse demnach keineswegs an einem originär deutschen Interesse Maß nehmen, sondern vielmehr Einsicht in diese sachliche Notwendigkeit beweisen.146 Der Spiegel hielt den Kritikern der Zersplitterung Jugoslawiens entgegen, es handle sich im Fall Jugoslawien um Notwendiges. Er richtete sich insbesondere gegen die Belgrader Regierung, die im Agieren des jüngst vereinten deutschen Staats das Zeichen eines ›Vierten Reichs‹ erkannt haben wollte.147 Solch ein vorgetragener Einwand resultiere demnach aus mangelnder Einsicht. Dafür bemüht das Magazin die Massen- bzw. Nationalpsychologie: Es wirkten in den Serben »alte Komplexe«, die »durchaus historische Wurzeln« hätten.148 So sei in der kritischen Reaktion der Serben auf die deutsche Politik eine lediglich anachronistische, jedoch »historisch erklärbare Angst« zu erkennen, die von jenen »tatsächlich nie wirklich überwunden« worden sei.149 Diese ›Sachlage‹, die erst dem politischen Blick insbesondere Deutschlands auf Jugoslawien entsprang, galt dem Spiegel als Maßstab, an dem sich gleichsam das Handeln der westlichen Politik beurteilen lassen musste. So sah er noch vor dem Dezember 1991/Januar 1992 die westliche Politik prinzipiell in der Verantwortung für die Lage in Jugoslawien.150 Indes bewertete der Spiegel das noch zögerliche politische Agieren Deutschlands gegenüber diesen Entwicklungen als »Wohlwollen«, gar als Unkenntnis oder als abwesende, falsche Politik. Gemessen am Anspruch, den der Spiegel an die deutsche Außenpolitik hatte und den seiner Meinung nach Außenminister Genscher durchsetzen müsse, erschienen ihm die Beschlüsse der noch geeinten EG als »Sanktiönchen« und »Hohn und Spott«.151 Diese Kritik des Spiegel gegenüber der Politik wandelte sich zum expliziten Lob, als Deutschland die Anerkennung von Slowenien und Kroatien erfolgreich bewerkstelligte und dies vor allem gegen seine Partner innerhalb der EG, Nato 145 O.V.: »Immerhin ein erster Schritt.« Bonn drängt die EG-Partner, im jugoslawischen Bürgerkrieg Partei zu ergreifen, droht bei Verweigerung mit einer »schweren Krise«. In: Der Spiegel, 46/1991; S. 18–20, hier S. 19. 146 Ebd.; S. 18f. 147 O.V.: Viertes Reich. Belgrad beschuldigt Deutschland, auf die Zerschlagung Jugoslawiens hinzuarbeiten. In: Der Spiegel, 30/1991; S. 119f. 148 Ebd. 149 Ebd. 150 O.V.: »Wir bleiben nicht bei Mördern.«; S. 125. 151 O.V.: »Immerhin ein erster Schritt.«; S. 18.

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und UN durchsetzte. Der zuvor vom Spiegel noch bedauerte Mangel, dass das »mit der Einheit gewachsen[e] Gewicht« Deutschlands »keineswegs gleichbedeutend […] mit der Fähigkeit [war], eigene Forderungen durchzusetzen«152, wurde mit der nun gegen die politischen Partner durchgesetzten Anerkennung von Slowenien und Kroatien zum Jahresende 1991 in einen »›große[n] Erfolg für uns‹«153 verwandelt. Dementsprechend positiv wurde dies beurteilt: »Am Ende des zehnstündigen Verhandlungsmarathons fühlten sich die Deutschen als Sieger : Hans-Dietrich Genscher mochte Triumph-Gefühle nicht unterdrücken: ›Das Ergebnis […] übertrifft die Erwartungen der Regierung.‹ Nicht anders Helmut Kohl. ›Dies ist ein großer Erfolg für uns und die deutsche Politik‹, schwärmte der Kanzler […]. Daß das eine Zäsur in der deutschen Außenpolitik ist, steht für andere schon jetzt fest. Eine Ära geht zu Ende, gibt die New York Times die Einschätzung der amerikanischen Regierung wieder. Denn zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg habe Deutschland die Autorität der Vereinten Nationen und Washingtons herausgefordert, seine europäischen Bündnispartner England und Frankreich an seine Seite gezwungen und eigene Interessen durchgesetzt. Was sich die Rumpf-Republik nicht zugetraut habe, nehme das ›neue und kühnere Deutschland‹ jetzt auf sich. Mit Verspätung ist eingetreten, womit Amerikaner, Briten und Franzosen seit der Wiedervereinigung rechnen. Der ökonomische Riese […] begnüge sich nicht länger mit seiner Rolle als politischer Zwerg.«154

Der Artikel urteilt zufrieden, dass das »neue […] Deutschland« sich erfolgreich gegen die moralischen Vorbehalte im eigenen Land und gegen die politischen Beschränkungen durch das Ausland infolge des Zweiten Weltkriegs behauptet habe. Das geschah nun mittels der neuen deutschen Anerkennungspolitik. Beurteilt wird die Politik erstens inhaltlich getrennt von dem, was sie zum Gegenstand hatte. Indem der ›Erfolg‹ in der ›Zäsur‹ deutscher Außenpolitik lobend festgehalten wird, geht es nur mittelbar um den Konfliktgegenstand in Jugoslawien. Zweitens wird der Anspruch prinzipiell dadurch legitimiert, dass jeder andere Anspruch als ›überholte‹ ›Zwergen‹-Politik bezeichnet wird. Und drittens ist es ein dementsprechendes Lob darüber, dass sich dieser neue Anspruch nicht bloß ideell behaupten, sondern vor allem praktisch beweisen konnte. So ist das erörterte Thema nicht ›Erwartungen‹, es ist der tatsächliche ›Triumph‹. Inhalt dieses Triumphs war demnach nicht, sich hervorzutun, die 152 Ebd.; S. 19. 153 O.V.: »Ein großer Erfolg für uns«. Zum ersten Mal seit 1949 betrieb Bonn Außenpolitik im Alleingang: Genscher und Kohl drängten die EG zur Anerkennung Sloweniens und Kroatiens – gegen den Rat Washingtons und der Uno. In: Der Spiegel, 52/1991; S. 18–20. 154 Ebd.; S. 18f.

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Gründe für den kriegerischen Konflikt in Jugoslawien zu beseitigen, sondern umgekehrt: an Jugoslawien, ganz als Material behandelt, sollte beispielhaft der Zweifel an der weltpolitischen Bedeutung des ›neuen Deutschlands‹ ausgeräumt werden. Der Artikel feiert nicht nur die Durchsetzung von spezifischen Interessen, die Deutschland mit der Anerkennung politisch verfolgte, sondern legt speziellen Wert darauf, dass dies gegen die Absichten der UN, der USA und seiner europäischen Partner geschah, die sodann vor der Weltöffentlichkeit zu Mitteln deutscher Politik ›degradiert‹ wurden.155 Das in politischen wie wirtschaftlichen Angelegenheiten ohnehin schon sehr erfolgreiche westliche Nachkriegsdeutschland musste sich selbst nicht mehr als Mangelwesen verstehen, als »Rumpf-Republik« oder »politische[n] Zwerg«. Für den Spiegel war die weltpolitische Geltung des neuen Deutschlands angesichts seiner neuen Anerkennungspolitik mit dem scheinbar einzig legitimen und zufriedenstellenden Ergebnis erfolgt. Was die ›neue und kühnere‹ deutsche Politik ›auf sich nehme‹, dem beugte sich die Weltpolitik.156 Der außenpolitische Triumph der neuen Bundesregierung habe auch einen grundlegenden innenpolitischen Wandel gezeitigt: Insofern die deutsche Politik gegenüber Jugoslawien »im eigenen Land fast unumstritten« gewesen sei und sich »auf Konsens berufen« konnte157, habe der Spiegel das Ende jener politischen Kritik beobachtet, die das deutsche Nachkriegsklima im Besonderen bestimmt hatte – und die sich zu Zeiten des Golfkriegs 1991 noch öffentlich in großen Demonstrationen kund tat. Die deutsche Friedensbewegung, die »einst die größte in Europa« war, sei trotz eines Kriegs inmitten von Europa ›verstummt‹.158 Der Spiegel zitiert Vertreter der Friedensbewegung, wonach »allgemeine Verwirrung für die lasche Haltung verantwortlich« war159 : »Vor allem die von Nationalchauvinismus durchsetzten Bestrebungen um Unabhängigkeit im Osten – nicht nur in Jugoslawien, sondern auch in der Sowjetunion – bringen die Welt der Pazis durcheinander. Wohl herrscht in der Szene Einigkeit darüber, daß der Krieg kein Mittel der Politik sein darf. Doch die moralische Erkenntnis allein setzt noch keine Protestmassen in Marsch. ›Uns fehlt der Adressat‹, weiß Friedensfunktionär Stenner.

155 Der Spiegel-Artikel »Ein großer Erfolg für uns« legt besonderen Wert darauf, minutiös darzustellen, wie es den deutschen Politikern und insbesondere Außenminister Genscher gelang, durch Beharrlichkeit und Taktik die Staatengemeinschaft mit der völkerrechtlichen Anerkennung von jugoslawischen Teilrepubliken zu dem zu bewegen, wogegen sie sich vorweg vehement ausgesprochen hatten; vgl. v. a.D.: ebd.; S. 18f. 156 Ebd. 157 Ebd.; S. 19. 158 O.V.: Von den Beinen. Der Bürgerkrieg in Jugoslawien verwirrt die Friedensbewegung: Es gibt kein klares Feindbild. In: Der Spiegel, 39/1991; S. 130f., hier S. 131. 159 Ebd.

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Der Bewegung sind die liebgewonnenen Feindbilder abhanden gekommen. Er sei, so Stenner, ›nicht leicht, Partei zu ergreifen‹, selbst das offenbar malträtierte Kroatien sei ›unter friedenspolitischen Gesichtspunkten nicht astrein.‹ Bei ihm in Bonn riefen ratlose Friedensgruppen an, um zu fragen: ›Was sollen wir denn machen?‹ ›Am liebsten verdrängen‹ würde Hildegard von Meier […] den Krieg im Südosten […].«160

Die Verwirrung der Friedensbewegung wurde angesichts der politischen Lage – die Unabhängigkeitsbestrebungen im Osten, also die politisch verfolgte Auflösung des Ostblocks und dessen nachdrücklicher Zerfall in einzelne, nunmehr miteinander konkurrierende Staaten – zum einen positiv, zum anderen wegen des illegitimen »Mittels« Krieg negativ beurteilt. Dieser nicht ›astreinen‹ Gemengelage war es zu verdanken, dass es den Friedensbewegten und Pazifisten unmöglich wurde, Partei zu ergreifen und »Feindbilder« oder »Adressat« zu identifizieren. Das Verstummen der ehemals kritischsten Instanz der nachkriegsdeutschen Politik erscheint angesichts der neuen Lage in Jugoslawien für den Spiegel verwandelt. Ihr Kritikgegenstand sei nicht mehr die Politik mit der selbstermächtigten Zuständigkeit für das Ausland gewesen, genauso wenig seien der Friedensbewegung im wiedervereinten und potentiell wieder kriegsführenden Deutschland die Mittel dieser Politik ins Visier gekommen. Das Einverständnis, das der Spiegel im Verstummen der ›Pazis‹ bereits zu erkennen meint, scheint von den Akteuren der Friedensbewegung nur selbst noch nicht begriffen oder ›am liebsten verdrängt‹. Insofern das Schweigen der Friedensbewegung vom Spiegel als Ausweis eines impliziten Einvernehmens mit der politischen Lage und Sicht erklärt wurde, wird dies auch bei der an dem großen politischen Triumph des vereinten Deutschland »nur mäßig interessierten Öffentlichkeit«161 vermutet. Dass sich insbesondere die Intellektuellen zum politischen Geschehen scheinbar nicht öffentlich äußern, ist dem Spiegel Beleg dafür, dass dies die Äußerung eines »Kulturschocks« sei, in dem sich ein überraschendes Einverständnis der Intellektuellen mit dem aktuellen politischen Agieren beweise. Aber auch ihr Zuwortkommen sei nie anders zu verstehen: »Daß ausgerechnet dieses hochgejubelte Jugoslawien in einem barbarischen Schießkrieg sein Ende finden mußte, in dem neben der ›Fratze des Mittelalters‹ (Die Zeit) auch Faschismen aller Couleur wiederauferstehen, traf viele Intellektuelle wie ein Kultur-

160 Ebd. 161 O.V.: »Der dümmste aller Kriege«. SPIEGEL-Serie über die jugoslawische Tragödie (I): Die Welt sah dem Morden mitten in Europa hilflos zu. In: Der Spiegel, 28/1992; S. 138–149, hier S. 145.

Die Notwendigkeit des Kriegs. Die Debatte der deutschen Intellektuellen

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schock. Nun fällt ihnen zu Jugoslawien nichts mehr ein – und wenn, dann eher Unsinniges.«162

Diese Wirklichkeit auf dem Balkan sei ganz fraglos ein »fanatische[r] Nationalismus bis hin zu Stammesriten längst vergangener Zeiten«, ein Nationalismus, der in Gestalt »alt[er] Dämonen« die »Seelen der Südslawen vergifte[t]« habe.163 Für die getätigten Stellungnahmen der Intellektuellen zu diesem »dümmste[n] aller Kriege«164 interessiert sich der Spiegel in Folge nur insofern, als diese ihm so oder so den »Kulturschock« bestätigen, von jenen eingestanden oder eben nicht. Die Bestimmung des aktuellen Kriegs als ›dumm‹ ist dem Spiegel so sehr urteilende Vernunft, dass ihnen jedes differente Urteil irreal anmutet. Ein Intellektueller wie etwa Peter Handke, so führt der Artikel fort, sehe zwar im Zerfall Jugoslawiens einen vom Westen geförderten politischen Prozess. Das sei jedoch »Unsinniges«. Handke beweise in seinem Urteil lediglich seine Weltfremdheit, wonach er »nicht wahrhaben [mag], was nicht wahr sein darf«.165 Der Spiegel drückt darin einen beachtlichen Anspruch an die Intellektuellen und deren Stellung zu Jugoslawien aus: Was dem intellektuellen Geist kraft seiner Freiheit ›einzufallen‹ habe, sei nicht die Befragung, sondern die Legitimation des aktuellen politischen Status. Das beinhaltet zuvorderst die Parteinahme für den Sezessionskonflikt im Allgemeinen, erst nachrangig und, insofern es die politischen Ereignisse vorgaben, eine Parteinahme innerhalb des Konflikts. – Inwiefern dieser Anspruch trifft, was die Intellektuellen und Schriftsteller aus eigenen Überlegungen in ihren Beiträgen formulieren, wäre zu prüfen und ist Gegenstand der folgenden Abschnitte.

2.2

Über die Notwendigkeit für den Jugoslawienkrieg und die Unmöglichkeit einer Parteinahme in ihm. Der Jugoslawienkrieg 1991–92 und die Debatten der deutschen Intellektuellen

In der Sekundärliteratur über die öffentlichen deutschen Debatten anlässlich der Kriege mit deutscher Beteiligung nach 1990 – so etwa die bereits mehrfach erwähnte umfangreiche Monografie Kriegsdiskurse. Die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991–1999 des Soziologen Michael Schwab-Trapp – erscheint die ›bloß‹ diplomatische und ›noch‹ nicht militärische Auseinandersetzung mit dem Krieg in Jugoslawien vor 1995 nicht oder eher randständig als Thema. 162 163 164 165

Ebd.; Herv. i.O. Ebd. Ebd.; siehe Titel. Ebd.; S. 145f.

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Jugoslawien 1991–92. Die überparteiliche Stellung für den Krieg

Debatten über die anfänglichen Konflikte auf dem Balkan haben womöglich nicht nur aus methodischen Gründen keinen Eingang in die Untersuchungen gefunden. Angesichts der Rechercheergebnisse – und auch im Lichte der obigen Diagnose des Spiegel, demzufolge das öffentliche Interesse zurückhaltend, verwirrt und bejahend gewesen sei – liegt es nahe, dass umfängliche Debatten unter deutschen Autoren und Intellektuellen insbesondere über die Rolle der deutschen Außenpolitik bei der Anerkennung der beiden abtrünnigen Republiken Slowenien und Kroatien 1991/92 tatsächlich kaum stattgefunden haben. Eine Ausnahme stellt die Artikelserie Europa im Krieg dar, die György Konr#d in der Berliner tageszeitung im Sommer 1992 anstieß und die Willi Winkler betreute.166 Ein Großteil der Beiträge wurde im selben Jahr, noch während des Fortschreibens der Reihe, in einem gleichnamigen Sammelband veröffentlicht. Europa im Krieg scheint für deutsche Intellektuelle und Literaten, lange bevor sie sich literarisch in eigenen Veröffentlichungen zu Wort meldeten, den raren, wohl auch ersten Rahmen dafür geboten zu haben, sich mit dem Krieg in Jugoslawien öffentlich auseinanderzusetzen. In einer redaktionellen Selbstbeschreibung der Reihe heißt es, der Anlass für diese Serie sei das »befremdliche Schweigen des deutschen Feuilletons« gewesen.167 Jene, die sich zu Wort meldeten, machten in ihren Beiträgen indes keine Unsicherheit, sondern einen profunden Standpunkt vorstellig, der sich insbesondere auch explizit gegen die nicht-deutschen Mitdiskutanten durch eine Sicht auf die politischen Ereignisse abgrenzt, die mit der deutschen Politik in eins geht.

2.2.1 Überparteilichkeit als Diktum der Debatte. Willi Winkler: Europa im Krieg (1992) Willi Winkler hat die Reihe Europa im Krieg redaktionell betreut und als Band herausgegeben. Im Vorwort legt Winkler dar, was politischer Ausgangspunkt dieser Serie gewesen war und inwiefern von den Beiträgen eine Erklärung des Geschehens in Jugoslawien erwartet wurde. Dabei aber steht das Zu-Erklärende des Kriegs zum Erklärenden der Beiträge in einem gar widersprüchlichen Verhältnis: Winkler beginnt sein Vorwort zunächst mit der Schilderung, was er als gemeinsamen Ausgangspunkt aller Beiträge versteht: »Was waren wir glücklich, als 1989ff. unsere Brüder und Schwestern in der Ostzone, dann auch unsere Cousins und Cousinen in den anderen Ostblockstaaten freikamen 166 Willi Winkler (Hg.): Europa im Krieg. Die Debatten über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992. 167 O.V.: Europa im Krieg. In: die tageszeitung, 01. 09. 1992.

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vom kommunistischen Joch. George Bush entdeckte gleich eine neue Weltordnung und versprach für die Zukunft sanftere Umgangsformen. Alles, alles wurde mit einem Mal neu, wurde besser und schöner. Mit dem Nationalismus als Lebensgefühl 2000 hatte allerdings keiner gerechnet. Oder doch?«168

Winkler verweist auf die politischen Ereignisse, allerdings bereits ausdeutend. Ironisch im Ton, scheint dabei keine Distanz im Inhalt auf: Den politischen Zusammenbruch der Staaten des Ostblocks seit 1989 versteht Winkler als eine Befreiung hin zum an sich natürlich Gebotenen, moralisch Guten und zugleich ästhetisch Schönen. Er wundert sich, dass neben dem so eindeutig Guten solch Schlechtes auftritt, und fragt nach den Gründen. Einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Ende des Ostblocks und Neukonstituierung innerhalb der westlichen Staatenwelt zieht er dabei nicht in Betracht oder schließt er gar aus. Nicht der Nationalismus für sich sei schuld, Schuld trügen interessanterweise dessen historische Gegner : »Jetzt steht jeden Tag irgendwo ein neuer Nationalismus auf, und die westliche Welt staunt nur so über dieses Osteuropa. Fremder und ferner kommt es einem vor als das finsterste Afrika. Und nun Jugoslawien. Hätte man es nicht auch da wissen können, wenigstens ahnen, daß der so lange bewunderte Dritte Weg vor allem eine politische Zwangsgemeinschaft bezeichnete, eine Partisanenideologie, die alle Gegensätze zudeckte, einen Mythos, der […] sogar Witze über andere Völkergruppen unter Strafe stellte.«169

Die nationalen Kräfte, die zum Zerfall Jugoslawiens führten, sind hier auf zwei Weisen und je in ihren Notwendigkeiten angesprochen: Zum einen erklärt Winkler den neuen Nationalismus aus dem alten Anti-Nationalismus kommunistischer Prägung. Indem dieser den Nationalismus verhindert und allein schon die bloß ideell ausgetragene nationale Konkurrenz in Form von Witzen bestraft habe, sieht Winkler ihn für den neuerlichen Nationalismus verantwortlich. Zum anderen unterstellt Winkler dabei dem Nationalismus eine vor-politische und, bei allem deutlich gemachten Widerwillen, in gewissem Sinn fraglos berechtigte Existenz. Jugoslawien, das als ›Vielvölkerstaat‹ ein Ende der Nationalismen bringen wollte, habe einem »Mythos« aufgesessen, denn es habe die sich ausschließenden Existenzen der Völkerschaften lediglich ›zugedeckt‹ und nicht bezwingen können. Winkler erscheint die politische Situation nach 1990 in Jugoslawien – im unvermittelten Nebeneinander vom begrüßten Ende des Ostblocks und kritisch beurteilten neuen Nationalismus – demgemäß politisch bestimmt-unbestimmt: 168 Willi Winkler : Vorwort. In: ders. (Hg.): Europa im Krieg. Die Debatten über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992; S. 7–10, hier S. 7. 169 Ebd.

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Dieser Krieg sei aufgrund nun zutage gebrachter vor-politischer Gegensätze »unübersichtlich[]« und verfolge »dubiose Ziele«. Nur »Nazis und andere Irre« kämpften dort.170 Zugleich reiht Winkler eine Vielzahl von Blickweisen, Interessenlagen, Parteilichkeiten und Berechnungen aneinander, die diesen beginnenden Krieg in Jugoslawien als eine überkomplexe und widersprüchliche Gemengelage vorstellig werden lassen. Nach dieser Darstellung des notwendigen wie goutierten Endes des kommunistischen Blocks nach 1989, der nur mittelbaren, aber eindeutig nationalen Gründen des sich anschließenden Kriegs, der Abwesenheit von westlicher Politik und dessen Politikern, denen es, wenngleich sie die politischen Subjekte sind, wie Winkler schließlich schreibt, »an Lösungswillen [gebricht]« und die »naturgemäß [versagen]« … nach diesen bereits getroffenen Urteilen über Grund und Zweck des Kriegs richtet Winkler trotzdem die Frage, worum es in Jugoslawien ›eigentlich‹ gehe, an die im Band Europa im Krieg versammelten Texte. Indes, um ein abschließendes sachliches Urteil darüber, was das ›Eigentliche‹ dieses Kriegs ist, soll in dieser gemeinsamen geistigen Anstrengung aller um Beiträge gebetenen Autoren gar nicht gestritten werden. Winkler macht explizit, dass er vorweg bzw. ungeachtet der einzelnen Stellungen ein eindeutiges Urteil auch vom »Schriftsteller, Philosophen und Wissenschaftler« zum Jugoslawienkrieg nicht erwarte: »Die Politiker, von uns genau dafür bestellt, versagen naturgemäß. […] Politiker, so kennen und wählen wir sie, gebricht es an Lösungswillen, unsereinem aber an Verständnis. Die Rede vom Völkermord erklärt noch nichts. Worum, bitte, geht es eigentlich in Jugoslawien? [sic][… Es] läßt sich diesmal keine billige Debatte zwischen Pazifisten und Bellizisten anzetteln, sind die Guten und die Bösen feiner verteilt, als sich das bewährte Schulweisheit träumen ließ. Die Strategen und Globaldenker aller Länder und Glaubensrichtungen schauen plötzlich ziemlich alt aus. […] Für berufsmäßige Kopfwieger und Bedenkenträger ist die Welt ein wenig zu kompliziert geworden. Mögen sie ruhig ihrer Sorge Ausdruck verleihen und es dann bei Resolutionen bewenden lassen. Es fehlt in Deutschland, in Westeuropa überhaupt, an Verständnis für das, was sich in Ost- und Südosteuropa ereignet. […] Geld haben wir genug, es bedürfte, wie immer, der Aufklärung. […] Ausnahmsweise sollten nicht die eilfertigen Protestanten und Betroffenen mitreden, sondern ich habe fast nur an Schriftsteller, Philosophen und Wissenschaftler aus der Region geschrieben und sie gebeten, dem Westen die Lage nach Auflösung der Blöcke zu erläutern. Niemand sollte Gelegenheit zur Rechthaberei bekommen, in ihrer erwünschten Einsichtigkeit sollten die Beiträge sich vielmehr ergänzen.«171 170 Ebd. 171 Ebd.; S. 8–10, bis auf die Fragestellung Herv. S.H.

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Winkler fragt nach dem ›Eigentlichen‹ dieses Kriegs und fordert dafür mehrmals »Verständnis« ein. ›Verstehen‹, also gerade die Eindeutigkeit eines ›rechten‹ Begriffs, meint er nicht. Dies schließt Winkler explizit aus und formuliert dies als moralisches Ge- bzw. Verbot. Was Winkler stattdessen mit »Verständnis« einfordert, ist von der Sache her das Bemühen um den gedanklichen Nachvollzug des gegebenen Konflikts.172 Diesen Standpunkt präsentiert Winkler als Quasi-Programm der Sammlung173 und bewegt sich damit im Widerspruch zu den einzelnen Beiträgen. Denn diese verstehen sich mitnichten als Relativierung ihres eigenen Blicks. Im Gegenteil bemühen sie sich, schon gar wenn sie sich als Fürsprecher einer der Konfliktparteien verstehen, um die Gültigkeit ihrer Erklärung und das oft auch in konfrontativer Auseinandersetzung mit den Ko-Beiträgen. Winkler jedoch emanzipiert sich von den einzelnen Beiträgen und setzt – als deren – seinen eigenen, neuen abstrakten Inhalt: Der kritische Geist setze sich mit dem, was die Wirklichkeit des Kriegs ist, auseinander, nicht mit der Infragestellung; der intellektuelle Geist genüge sich als Betroffener der Wirklichkeit, die, als Resultat von Politik unterstellt, er mit einem erkenntnisethischen Gebot quasi unangetastet belässt. Der überparteiliche Standpunkt des Bands Europa im Krieg, der sich auf die Einzelpositionen zwar bezieht, aus ihnen aber weder abzuleiten ist noch in ihnen aufgeht, also eine politische Haltung, aber keinen theoretischen Schluss präsentiert, koinzidiert mit der realen, supra-nationalen Stellung Deutschlands zu den Geschehnissen auf dem Balkan. Denn einerseits war Deutschland an der jugoslawischen Zersplitterung interessiert und fühlte sich für dessen Fortgang politisch zuständig, andererseits war es dies aus eigenen Gründen und nicht aus Interesse für eine Partei innerhalb des unmittelbaren Streitgeschehens. Spitzte man diese methodische Gemeinsamkeit zwischen der Haltung der deutschen Politik und der Haltung des Bands Europa im Krieg zu, böte Winkler im Feld des kritischen Diskurses ein Pendant nicht der Konfliktwirklichkeit, wie sie sich vor Ort oder auch den Parteien darstellt, sondern des offiziellen deutschen Blicks auf ihn. Der Band plausibilisierte demnach diesen Blick als einen, der nun weniger dem deutschen Standpunkt entspringt als vielmehr der Lage selbst und insbesondere der ›verständigen‹ Problematisierung durch betroffene Intellektuelle. Es sei zur zeitgenössischen Rezeption der Serie angemerkt: Sogar die poli172 Wenngleich Winkler dies als Vorwort verfasst hat, ist es der Anspruch, an dem er in Anbetracht bereits eingegangener Beiträge festhält; siehe: o. V.: »Wir haben nicht nur geredet«. In: die tageszeitung, 03. 11. 1992. 173 Darin stimmt er mit der Lektüre durch Lützeler überein. Auch er beurteilt die Artikel, »insgesamt gesehen«, als »ratlose[] Stellungnahmen und Analysen«; Paul Michael Lützeler : Bürgerkrieg global; S. 71.

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tisch wohlwollende, weil einhegende Perspektive Winklers über die Beiträge der Serie Europa im Krieg genügt seinem Kollegen Frank Schirrmacher von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nicht. Schirrmacher greift die Autoren der Serie an, weil sie sich als Literaten überhaupt eigene Stellungen zu den politischen Verhältnissen in Jugoslawien erlaubten. Indem sie keine eindeutigen Parteinahmen für die aktuelle europäische Position und somit lediglich »Neues vom Zauberberg« abgäben, hätten sie die Zeichen der Zeit verpasst. Ähnlich dem Spiegel, der den Intellektuellen zum Jugoslawienkrieg »eher Unsinniges«174 attestierte, sieht Schirrmacher in den Äußerungen nur »tausenderlei Rücksichten, Intrigen und Zugeständnisse[]«.175 Diese in Schirrmachers Augen fehlende – und bei Winkler so abstrakt gefasste – Identität der unter Europa im Krieg versammelten kritischen Intellektuellen bestätigt der Feuilletonist Ulrich Greiner von Die Zeit. Jedoch heißt er diese Entwicklung deutlich willkommen: Infolge des Systemendes 1989/90 haben sich die dogmatischen Standpunkte der Linken und ebenso der Rechten, die er durch Schirrmacher repräsentiert und verteidigt sieht, blamiert. Es sei stattdessen zu begrüßen, dass sich die Intellektuellen nach dem Wegfall der ›Ideologien‹ der Realität zuwendeten, auch wenn sie und auch weil sie nicht wüssten, wie darauf zu reagieren sei. Die Linke hätte nach Greiner den Abschied vom ›Zwang‹ eines konsistenten Urteils schon bewältigt und darin nicht nur politischen Pragmatismus, sondern angesichts des Un-Urteils, sich nicht festzulegen, endlich die gewünschte »kritische Geistesgegenwart« bewiesen.176 – Kritik und Lob an dem Band, wie sie im deutschen Feuilleton zu finden waren, orientieren sich und das in Gemeinsamkeit mit dem Herausgeber Winkler am Maßstab dessen, was politisch als Wirklichkeit gesetzt worden war. Lediglich, ob es den Reihen-Beiträgen glaubwürdig gelang, diese politische Haltung zu antizipieren bzw. andersherum ihren eigenen Standpunkt zu relativieren bzw. zu revidieren, wird unterschiedlich eingeschätzt. Europa im Krieg versammelt rund 20 Texte von ost- und südosteuropäischen Intellektuellen und wenigen deutschsprachigen Autoren; es gehören dazu u. a. György Konr#d, ]gnes Heller, Dunja Melcic, Herta Müller, Hans Magnus Enzensberger, Lothar Baier und Peter Handke.177 Viele der Artikel erschienen 174 O.V.: Von den Beinen; hier S. 131. 175 Frank Schirrmacher: Neues vom Zauberberg. Die Schreibenden und der Krieg. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05. 09. 1992; die Replik darauf: Willi Winkler : Europa im Krieg: Warten auf die Barbaren. In: die tageszeitung, 07. 07. 1992. 176 Ulrich Greiner: Flucht in die Trauer. Ein Nachruf auf die Linke, die es nicht mehr gibt, nebst Herausarbeitung der Vorzüge dieses Sachverhalts sowie einigen Anmerkungen zu den Problemen, die die Rechte damit hat. In: Die Zeit, 18. 09. 1992. 177 Der Serienbeitrag von Peter Handke, Noch einmal für Jugoslawien, wird im Kapitel 3.2.4 genauer besprochen.

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zeitnah in mehreren europäischen Tageszeitungen, so in der spanischen El Pa&s, im österreichischen Standard und dem schweizerischen Tagesanzeiger. Inwiefern es – entgegen Winklers Aussage – die eigene Leistung einzelner Beitragender nicht ist, von sich aus ihre Betroffenheit an einem überparteilichen Standpunkt zu relativieren und so den Standpunkt etwa der deutschen Politik einzunehmen, zeigt sich beispielhaft etwa an den Beiträgen der kroatischen Publizistin Dunja Melcic und der rumänisch-deutschen Schriftstellerin Herta Müller. Insofern diese Beiträge den supra-nationalen Standpunkt der deutschen Politik bereits voraussetzen, wenden sie sich ausdrücklich gegen ihn. So werben beide für eine dezidierte Parteinahme der westlichen Politik und der deutschen Intellektuellen im jugoslawischen Konflikt. Diese Beiträge stehen im Kontrast nicht nur zu Winklers Herausgeberwort, sondern zu den Beiträgen deutscher Autoren wie Lothar Baier und Hans Magnus Enzensberger. Baier wie Enzensberger versuchen den supranationalen Standpunkt der deutschen Politik durchaus explizit gegen Melcic und Müller – und mit durchaus ästhetischen Mitteln – zu verteidigen. Folgend soll an Einzelbeispielen gezeigt werden, wie die vier Intellektuellen, die die Sezession Sloweniens und Kroatiens als Befreiung aus dem ›Joch‹ einer kommunistischen Regentschaft als einzig vernünftigen Gang der Historie begrüßen, sich recht unterschiedlich und kontrovers in ihren Texten um den politischen Bezug der deutschen Politik auf diese Lage in Jugoslawien beziehen.

2.2.2 Überparteilichkeit wider intellektuelle Redlichkeit. Dunja Melcic: Der Bankrott der kritischen Intellektuellen (1992) Dunja Melcic, in Deutschland lebende und arbeitende, aber in Kroatien geborene Publizistin, liefert mit Der Bankrott der kritischen Intellektuellen einen der ersten Texte der Serie Europa im Krieg178 und zugleich den ersten deutlichen Beleg gegen den selbstrelativierenden Standpunkt, den Winkler stellvertretend für sie behauptete. Im Gegenteil wirbt Melcic in ihrem Beitrag überaus unzweifelhaft, dass sich der Westen auf ein Engagement gegen Serbien, das für sie Schuld am Kriegsgeschehen trage, verpflichten müsse. Der Auftakt für diese gewünschte politische Parteinahme bildet jedoch ein ganz anderer Gegenstand und dieser in absentia. Es sind die westlichen, insbesondere kritischen Werte und ihre Träger, die Intellektuellen. Das Eigentliche der Intellektuellen sieht Melcic in den Werten »Menschenrechte, Gleichbe178 Dunja Melcic: Der Bankrott der kritischen Intellektuellen. In: Willi Winkler (Hg.): Europa im Krieg. Die Debatten über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992; S. 35–45. Der Artikel erschien in der tageszeitung am 15. 08. 1992.

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rechtigung«, Anti-Rassismus und Anti-Militarismus bestimmt.179 Diese Werte seien für den Intellektuellen per se maßgebend, weil, so Melcic, sie es historisch einmal gewesen seien: In Zeiten des Nationalsozialismus waren Werte wie Pazifismus und Gleichberechtigung zwar politisch irrelevant, jedoch hätten sie als ›Leitidee‹ fungiert. Melcic beginnt ihren Beitrag folgendermaßen: »Nach dem Zweiten Weltkrieg bekamen Werte wie Menschenrechte, Gleichberechtigung, Toleranz, Ächtung des Rassismus und der Gewalt in der westlichen Intellektuellenszene eine bis dahin nicht gekannte Bedeutung. Nie früher hat es in der westlichen Welt so viele und so massenhafte Bewegungen gegeben, die sich für verschiedene Aspekte der sozialen, politischen und geschlechtlichen Gerechtigkeit und Verunmöglichung von Kriegen eingesetzt haben. Der Einsatz der Intellektuellen gegen Faschismus und Nazis vor dem Krieg hat deren Aufstieg zwar nicht stoppen können, aber die Intellektuellen […] wurden zu den Leitfiguren der Nachkriegsgeschichte. […] Auf diese oder jene Weise steckt den meisten von uns aus der Nachkriegsgeneration vieles, was damit für die Nachkriegszeit geistig mitbegründet wurde, tief in den Knochen.«180

Melcic schließt an, dass das sich auf die Lehren des Zweiten Weltkriegs verpflichtete Selbstverständnis des Intellektuellen nun angesichts des aktuellen Kriegsgeschehens grundlegend enttäuscht worden sei, die Intellektuellen seien politisch erfolglos. Die Diskrepanz hält Melcic nicht der politischen Wirklichkeit und der historisch bewiesenen Wirkungslosigkeit ihrer Werte selbst, sondern den gegenwärtigen Intellektuellen entgegen. Der aktuell verzeichnete Bankrott jener Werte, welche den deutschen Intellektuellen also offensichtlich keineswegs »tief in den Knochen« steckten, erscheint bei Melcic nicht durch den besonderen Fall Jugoslawien begründet. Er sei allgemeiner Natur. Insbesondere in Deutschland sei dieser Verfall schon in den 1980er Jahren zu beobachten gewesen: »Die Gegenwart des Krieges in einer Flugstunde Entfernung von Zentren Westeuropas zeigt, wie sehr man sich über die Möglichkeiten intellektuellen Einflusses auf die Politik täuschte. Die Debatten der achtziger Jahre zeigten bereits an, daß der polemische Einsatz der engagierten Intellektuellen zu einer Pose verkommen war. Die Redseligkeit im Historikerstreit und in der Heidegger-Kontroverse steht in direktem Verhältnis zur Sprachlosigkeit im gegenwärtigen europäischen Krieg. […] Die risikolose Leidenschaft bei der Beschäftigung mit vergangenem Unrecht entspricht der – zuweilen ostentativen – Interesselosigkeit gegenüber dem realen, vor unseren Augen sich vollziehenden, zum Himmel schreienden Unrecht eines national-kommunistischen Regimes und seines Eroberungs- und Vertreibungskrieges.«181

179 Ebd.; S. 35. 180 Ebd. 181 Ebd.; S. 35f.

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Melcics Beweisführung ist negativ : Die Täuschung über den gegenwärtigen »intellektuellen Einfluss[]« sei bereits in den 1980er Jahren begründet – zu finden in ebensolcher Abwesenheit dieses Einflusses, nämlich in der Verkommenheit einer bloßen »Pose«, in der (paradoxal angelegten) Redseligkeit als Sprachlosigkeit oder in der Risikolosigkeit in jenem und in der Interesselosigkeit in diesem. Melcic fügt dies zu einem logisch positiven Urteil: Diese Abwesenheit ist ihr die Anwesenheit eines schlechten, sich selbst verratenen Willens. Somit sei alle Kritik, die für historische Kriege galt, beim aktuellen Krieg eigentlich keine und in nuce schon bzw. bloß ›vertuschte‹ Zustimmung: »Es gibt eine Menge Intellektueller nicht nur in Deutschland, die ihre Sprach- und Interesselosigkeit mit verdrehten Argumentationsweisen zu vertuschen versuchen. Die Schienen, über die solche Wirklichkeitsverschleierung und Verdrängung des eigenen Versagens laufen, heißen: ›nationalistische Gefahr‹, ›Separatismus‹, ›Bedrohung der Multikulturalität‹, ›die Pflicht zur Neutralität‹ usf.«182

Indem alles Reden der Intellektuellen als ›Verdrehung‹, ›Vertuschung‹ »Wirklichkeitsverschleierung und Verdrängung« begriffen wird, gelten die explizierten Vorbehalte der westlichen Intellektuellen gegen Nationalismus und die Warnungen vor den Gefahren für Minderheiten Melcic nur als vorgeschobene Argumente gegen das implizit zugestandene ›Recht‹ der »Befreiung« aus den »totalitären sozialistischen Kasematten«.183 Dies ist eine beachtliche Neubewertung der intellektuellen Werte wie Anti-Militarismus. Dieser hohe Wert, eben noch Substanz des gelobten westlichen Intellektualismus, wird nun, indem die deutschen Intellektuellen sie gegen den Krieg in Jugoslawien ins Feld führen, als verratener Wert verstanden. Was der intellektuelle Geist per se bedeute, nämlich die gerechtfertigten Gründe und Streitwerte dieses aktuellen Kriegs und das Wissen um die Schuldfrage bzw. Parteinahme in ihm, spricht Melcic nun doch aus und füllt sie mit ihren konkreten Inhalten. Über mehrere Seiten liefert sie Informationen zur Sachlage des Jugoslawienkriegs und darin Belege für die illegitime serbische Position.184 In den letzten beiden Abschnitten ihres Beitrags resümiert sie den Begriff des Intellektuellen und spricht den Inhalt aus, der sein »Denkvermögen« mit sich bringen müsse: »Menschen, die ihrem Selbstverständnis nach eigenes Denkvermögen und Wissen einsetzen, damit es in der Welt der Politik gerechter zugeht; die dafür kämpfen, daß Gesellschaft und Staat die Würde des einzelnen achten, Diskriminierung und Unrecht bestraft werden; die Verantwortung für Tun und Lassen der Politiker und der Intel182 Ebd.; S. 37, Herv. S.H. 183 Ebd. 184 Ebd.; S. 38–43.

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lektuellen verlangen und jetzt zu diesem Krieg der Serben für ein Großserbien nichts von Bedeutung sagen können; nicht imstande sind, die Seite, die sich – und das nackte Leben – verteidigt, zu erkennen, können nicht mehr erwarten, daß man sie weiterhin als intellektuelle und moralische Autorität anerkennt. […] Hätte man sich in einem Krieg, den die Serben bereits vor mehr als einem Jahr vom Zaun gebrochen haben, um die klare Unterscheidung zwischen dem Aggressor und seinem Opfer bemüht, wäre den Bosniaken heute schon viel geholfen. Hätte es nur ein Quentchen [sic] mehr Solidarität der einflußreichen Wortgewaltigen dieser Welt mit der nach der Freiheit strebenden Bevölkerung, der jetzt sogar das Recht zur Selbstverteidigung entzogen wird, gegeben, könnten die krypto-rassistischen Zyniker der ›noblen‹ Nationen nicht so verantwortungslos ihre Politik nach dem Motto ›Frieden um jeden Preis‹ durchsetzen und den Gepeinigten aufzwingen.«185

In Emphase ihres kritischen »eigene[n] Denkvermögen[s]« werden die Intellektuellen auf den spezifischen politischen Inhalt verpflichtet: sich ideell für den Krieg in Jugoslawien verantwortlich zu fühlen, sich zu ihm als Befreiung aus dem kommunistischen ›Joch‹ positiv zu stellen und letztlich in ihm Partei zu ergreifen. Eigentliche und ernstzunehmende intellektuelle Kritik stelle sich also nicht kritisch zu diesem Krieg, sondern mache sich zum Betroffenen einer Partei in ihm – und hier die des illegitimen Opfers. Inwiefern nun die bosnische Seite die legitime Partei sei, legt Melcic moralisch dar und unterstellt die Parteilichkeit mehr, als dass sie diese erklärt. Denn sachlich gesehen wären ›die Serben‹ wie ›die Bosnier‹ Parteien, die gleichermaßen Staaten gründen oder bewahren wollen und darum gegeneinander, wenngleich unterschiedlich erfolgreich konkurrieren. Weshalb nun aber erwartet Melcic dies gerade von Intellektuellen in Deutschland (und bezieht sich positiv auf Intellektuelle in Frankreich)? Zum einen sind die Intellektuellen als Vertreter des Westens angesprochen. Das mag Auskunft geben darüber, wer in aller Selbstverständlichkeit als maßgebende Größe in diesem inner-jugoslawischen Konflikt verstanden wurde. Das formuliert Melcic nicht als Kritik, sondern als Parteinahme für diese Staaten. Das tut sie, wie dargelegt, auf Grundlage eines für sie notwendigen Kriegs, in den der Westen mit seiner überlegenen Gewalt eingreifen soll. Zum anderen scheint Melcic ernst zu nehmen, was diese maßgebenden politischen Instanzen im Westen als Legitimationen ihrer Außenpolitik kundtun. Wenn mit dem ›Selbstbestimmungsrecht der Völker‹ die diplomatische Anerkennung der Zerfallsprodukte Slowenien, Kroatien und Bosnien einherging, dann nimmt Melcic dies wortwörtlich und als Titel eines hohen Rechts, dem sich die deutsche Politik gefügt habe und weiterhin fügt, und dabei nicht als welt-

185 Ebd.; S. 44f.

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politische Tat, zu der sich Deutschland das Recht nahm. Dieser Lage begegnet Melcic so sicher wie fragend, so affirmativ wie kritisch.

2.2.3 Un- und Überparteilichkeit wider Wirklichkeit. Herta Müller: Die Tage werden weitergehen. (1992) Die Tage werden weitergehen – Herta Müllers Beitrag zur Serie Europa im Krieg ist von der Kritik an den westlichen Nationen, die keine Partei im Jugoslawienkonflikt ergreifen, bestimmt186 ; darin teilt sie die Haltung Melcics und beharrt ebenso wie Melcic und entgegen der Position Winklers auf einer dezidierten Parteinahme. Zunächst gilt es festzuhalten, auch Müllers Text stellt sich zur Existenz der Sezessionskonflikte und der Politik der EG und Deutschlands kritisch wie anerkennend: Müller erscheinen die gewaltvollen Staatsneugründungskonflikte nicht als ›zu viel‹, nur das Reagieren der westlichen Politik auf diese als »wenig, fast nichts«. Die politische Lage in Jugoslawien rundweg als gegeben genommen, fragt sie allein in Richtung Westen für die Gründe für dessen ›weniges‹ bzw. abwesendes Tun. Dies sei, so Müller, durch dessen offizielle Sprachregelung zu erklären. Der Artikel beginnt folgendermaßen: »Wer jetzt noch was zu sagen hat, weiß, daß es längst schon zu spät ist. Daß viel, fast alles gesagt worden ist. Daß wenig, fast nichts getan worden ist. Und doch ist die Sprache – vor allem in der Politik – so deutlich wie schon lange nicht mehr gezielte Verwirrung. Zu lange wurde in den Nachrichten des deutschen Fernsehens von den ›abtrünnigen Republiken‹ Jugoslawiens gesprochen, ohne einen Gedanken darüber zu verlieren, daß dies die Sprachregelung des großserbischen Denkens ist. […] Wie lange noch wird von den ›verfeindeten Lagern‹ gesprochen, nur um gleiche Schuld vorzutäuschen?«187

Laut Müller gleichen sich die Sprache des »deutschen Fernsehens« und des »großserbischen Denkens« nicht nur formal – die gleiche Rede beweise auch eine inhaltliche Verwirrung, Kollaboration und Vortäuschung. Die offensichtlich notwendige und eindeutig zu beantwortende Schuldfrage werde so umgangen. Als ob es an einem verunsicherten oder irrigen Urteil des Westens über die politische Situation läge, versucht Müller nun kritisch herauszustellen, weshalb der Westen im Jugoslawienkrieg von ›gleicher Schuld‹ nicht nur nicht rede, sondern weshalb von ›gleicher Schuld‹ nicht gesprochen werden könne 186 Herta Müller : Die Tage werden weitergehen. In: Willi Winkler (Hg.): Europa im Krieg. Die Debatten über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992; S. 95– 101. Dieser Artikel erschien zum ersten Mal in der tageszeitung am 08. 09. 1992. 187 Ebd.; S. 95.

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und von den Serben als Alleinschuldige gesprochen werden müsse. Und so adressiert der Text den Westen, insbesondere die westlichen Bürger und deren Interpretation des Geschehens auf dem Balkan. Zunächst nimmt Müller dafür die Urteile derer, die sich gegen die interventionsentscheidende Schuldfrage stellen, in den Blick: Als erstes widmet sich Müller dem Pazifismus. Müller versucht diesen für die nachkriegsdeutsche Friedensbewegung prominentesten Standpunkt mit dem zu disqualifizieren, dem er sich prinzipiell enthält und gegen den er sich explizit richtet. Nicht gegen Krieg, sondern gegen Kritik am Krieg wendet Müller ein: »Wem nützt der Pazifismus, der beteuert, daß er gegen jeden Krieg ist, wenn ein Krieg tobt?«188 Als zweites konfrontiert Müller die militärische Enthaltsamkeit der Deutschen mit dem härtesten historischen Vergleich: Demnach habe die serbische Diskriminierungspolitik, für die sich die Deutschen gegenwärtig nicht zuständig erklären und gegen die sie militärisch nicht aufwarten, ihr »Vorbild« in den »Judengesetze[n] des Faschismus«.189 Als seien militärische Gewalt so wie Faschismus und Judengesetze nicht deutlichste Einwände gegen Krieg, sieht Müller stattdessen genau diese Einwände gegen Krieg als Wegbereiter eines solchen. So scheint Müllers Text auf dem politischen Status Quo des Geschehens zu bestehen, wonach ein existierender Krieg nur mehr praktisch und zwar mit entsprechender Gegengewalt zu ›kritisieren‹ sei. Im Fortgang ihres Beitrags widmet sich Müller ausführlich der Widerlegung des Arguments, die Zersplitterung Jugoslawiens sei illegitim. Die Rechtmäßigkeit der Unabhängigkeitsbestrebungen begründet Müller jedoch nicht politisch. Der Text argumentiert gegen den Zentralstaat mit dem bösen Charakter von dessen politischer Führung: Der gerade überwundene »totalitär[e] Staat« der Volksrepublik Jugoslawien blühe nun in Milosevics Jugoslawien wieder auf.190 Der Beweis dieser Wiederkehr wird assoziativ geführt: In »Milosevics Gesicht« erkennt Müller Tito, den ehemaligen Staatsgründer Jugoslawiens, und Ceausescu, den 1989 getöteten Staatschef Rumäniens. Bereits diese historischen Staaten seien bestimmt gewesen durch »Lüge und Täuschung« und »Großmachtallüren«.191 So konstruiert Müller mit dem Ministerpräsidenten Slobodan Milosevic das Feindbild eines Serben als einen Diktator, einen fraglos illegitimen Herrscher, bei dem Politisches als Persönliches und Politik als Psychologie zu betrachten sei.192 188 189 190 191 192

Ebd.; S. 96, Herv. S.H. Ebd. Ebd.; S. 97f. Ebd.; S. 97. Ebd.

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Und dies sei, so hebt Müller hervor, der einzige Schluss. Dafür beruft sich Müller auf eine Bedingung der richtigen Erkenntnis. Demnach könne nur derjenige, der selbst Diktaturerfahrung habe, Diktaturen erkennen – oder umgekehrt, in Müllers Worten formuliert: »Wer in seiner eigenen Biographie die Erfahrung der Diktatur nicht hat, der denkt mit Absicht oder aus Unwissenheit daneben.«193

Hatte Müller zu Beginn noch versucht, die deutsche Position gegenüber den Balkankonflikten vorzuführen, führt sie nun ganz von dieser weg hin zu Bedingungen, überhaupt noch wahre Aussagen treffen zu können. Betroffenheit als Rechtfertigung des Urteils soll dieses Urteil indes nicht, weil es subjektiver Standpunkt ist, relativieren. Im Gegenteil beharrt Müller auf dem theoretisch Gültigen und Unwidersprechlichen ihres Gedankens gerade wegen der Exklusivität ihrer (In-)Disposition. Zugleich degradiert diese Betroffenheit andere Positionen, insbesondere die ihrer deutschen Kritiker. Im letzten Punkt des Beitrags werden die Gründe des Westens gegen eine militärische Intervention als irrige Gründe vorgeführt. Insbesondere einen dieser Gründe benennt Müller als »grobe Fälschung«194 : Der Westen spreche von dieser Intervention als »Krieg«. Dies beeinflusse die politische Meinung gegen eine militärische Aktion. Es sei ein »Abwiegelungsspiel«, wenn: »man ein Schlachtbild mit hunderttausend UNO-Soldaten malt, eine Materialschlacht mit Schützengräben und Suppe im Blechnapf, Soldaten mit Gewehr und Tornister, denen heimtückischer Karst unter den Schuhsohlen bröckelt. Ein Krieg als ›von Mann gegen Mann‹. Die Wehrmacht bringt man ins Spiel, als ginge es darum, ein Land zu erobern, und nicht einen Krieg zu beenden.«195

Nach Müller habe man sich ein falsches, mit willfährigen historischen Parallelen durchzogenes Schreckensbild von einem möglichen militärischen Eingriff gemalt und damit eigentliche Interessen konterkariert – eine Kritik des historischen Vergleichs, den Müller selbst allerdings anwendet. Müller vertauscht bei ihrer Kritik Sache und Begründung, es ist offensichtlich umgekehrt: Weil sich diese westlichen Instanzen aus ihren Gründen gegen eine Intervention entschieden haben, legitimieren sie und ihre öffentliche Kommentatoren, wie die vorangegangenen Kapitel zeigten, ihre Entscheidungen mittels solcher Kriegsszenarien. ›Man‹ oder besser die westliche Politik und Öffentlichkeit teilen weder Müllers Analyse noch die Überzeugung, in Jugoslawien gegen Serbien einen »Krieg […] beenden« zu müssen. Diesen anderen Zweck der Politik nimmt Müller, als ob der Entscheidungsfindung die Rechtfertigung und Bebil193 Ebd. 194 Ebd.; S. 99. 195 Ebd.

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derung im Wege standen. Böse Absicht unterstellend, wird es von ihr entsprechend als »grobe Fälschung« und ›Abwiegelung‹ bezeichnet.196 Am Ende ihres Beitrags wirbt Müller nochmals mehr oder weniger direkt für eine militärische Intervention. Das macht sie zum einen, indem sie jene, die sie in der ideellen wie praktischen Verantwortung sieht, als militärische Weltordnungsmacht aufzutreten, auf ihre mangelnde Ehre anspricht: Milosevic und die Seinen ›tanzten der Welt auf der Nase herum‹, während der Westen innehalte, »Schwarzmalerei« betreibe und sich so selbst erst Angst vor möglichen schlechten Folgen eines Militärschlags mache.197 Zum anderen bestärkt Müller die Notwendigkeit eines westlichen Eingriffs. Das geschieht zunächst im kritischen Gestus gegenüber dem kulturellen Vorurteil, der Balkan sei ein politisch nie zu befriedigendes »Pulverfaß«. Schließlich argumentiert Müller doch in Entsprechung dazu: »Spricht jemand vom Balkan, so hört man sehr bald die ungeheuerliche Metapher ›Pulverfaß‹. Das sei der Balkan immer schon gewesen. Dadurch wird das, was jetzt geschieht, zu einer härtesten Nuance des ohnehin gegebenen Zustands erklärt. Auf Dauer, sagt man, könne man das nicht ändern. Es könne immer wieder das gleiche passieren. Der Konjunktiv regiert das Denken. Und wenn es so wäre, müßte man dennoch diesen Krieg beenden. Von innen, von selber läuft er sich nicht aus. Oder erst dann, wenn die ›ethnische Säuberung‹ vollbracht ist und Kroaten und Muslime unter der Erde sind. Dann haben viele weltweit zugesehen und um Formulierungen wie ›Krise‹, ›Konflikt‹, ›Bürgerkrieg‹ gerungen. Worte wie ›Internationaler Gerichtshof‹ und ›Völkermord‹ werden Sprechblasen bleiben. Die Politiker werden am gleichen langen Tisch sitzen und die gleichen Stühle wärmen. Und die Tage werden weitergehen. Aber wohin?«198

Müller greift hier den alten, nun auch wieder in der öffentlichen Debatte bemühten Topos vom »Pulverfaß« Balkan auf. Sie zitiert ihn, ohne ihn zu verwerfen. Diese »ungeheuerliche Metapher« nimmt sie einerseits als Tatsache, indem sie damit das Geschehen in Jugoslawien recht zu fassen meint (trotz diverser immanenter Widersprüche, wovon ein Widerspruch Müllers mögliche konkrete Parteilichkeit in dem allgemeinen ›Pulverfass‹ und ein anderer Widerspruch die Identifizierung eines ausgesuchten ›Schuldigen‹ darstellt) und in diesem tatsächlich keinen eigenen Moment der Befriedung erblickt; andererseits besteht sie auf ein ›Dennoch‹, das nicht an die örtlichen Kriegsparteien, sondern an den Westen adressiert ist. Alles das betrachtet Müller wie schon Melcic im Hinblick auf die konkurrenzlose militärische Macht des Westens. Die Möglichkeiten des Westens er196 Ebd. 197 Ebd.; S. 99f. 198 Ebd.; S. 101.

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scheinen ihr als seine Verantwortung. Über die Wahrscheinlichkeit einer Intervention durch das westliche Staatenbündnis der EU, Nato und UNO urteilt Müller dabei recht realistisch. Sie reflektiert, dass es zwar keine Alternative gebe, als für die Geltung eigener Zwecke in diesem Sezessionskonflikt die politische bzw. militärische Gewalt des Westens zu gewinnen, sie mutmaßt zugleich, dass dies beim Westen aber nicht ansteht. So liest sich Die Tage werden weitergehen zwar als heftiger Angriff gegen den Westen, ist indes im Sinne seines eigenen politischen und militärischen Anspruchs ganz bei ihm.

2.2.4 Unparteilichkeit als intellektuelle Redlichkeit. Lothar Baier: Die Lieben und die Bösen. (1992) Dunja Melcic und Herta Müller greifen ihre deutschen Kollegen vehement an, gerade weil sie diese als entscheidende Instanzen einer politischen Willensfindung verstehen. Lothar Baier reagiert darauf unmittelbar. Er erwidert Melcics Der Bankrott der kritischen Intellektuellen mit der Replik Die Lieben und die Bösen199 und startet damit eine kleine Kontroverse innerhalb der Artikelserie Europa im Krieg.200 Baiers erste Gegenstände sind weder der Krieg in Jugoslawien noch die Zuständigkeit des Westens, er kritisiert insbesondere Melcics Ausführungen auf anderer Ebene und durchaus immanent: Baier wendet sich ›dem‹ Intellektuellen zu und argumentiert gegen Melcic, dass dessen besondere Bedeutung gerade darin bestehe, sich aus der politischen Debatte herauszuhalten. Diese Selbstbescheidung – bzw. -demontage – sei nicht schlimm, sie sei sogar zu begrüßen: »Dunja Melcic spricht vom ›Bankrott der kritischen Intellektuellen‹, und ich wäre der letzte, der ihr da widersprechen wollte. Ich frage mich nur, ob man bis zum Ausbruch der jüngsten Kriege hat warten müssen, um festzustellen, ›wie sehr man sich über die Möglichkeiten intellektuellen Einflusses auf die Politik täuschte‹, wie sie schreibt. In Frage steht nicht nur dieser Einfluß, sondern, denke ich, das Vorhandensein einer ›kritischen Intelligenz‹ überhaupt. […] Helmut Kohl schert sich einen Dreck um Intellektuelle und um sein Renommee in ihren Kreisen. Ich weiß nicht, ob man diesen Zustand unbedingt beklagen muß.«201 199 Lothar Baier : Die Lieben und die Bösen. In: Willi Winkler (Hg.): Europa im Krieg. Die Debatten über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992; S. 58– 65. Erstveröffentlicht in der tageszeitung am 22. 08. 1992. 200 Auf den Beitrag von Baier reagiert Dunja Melcic mit einem weiteren Artikel: Dunja Melcic: Europa läßt Kroaten und Bosnier in ihrer Verzweiflung allein. In: Willi Winkler (Hg.): Europa im Krieg. Die Debatten über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992; S. 91–94. 201 Lothar Baier : Die Lieben; S. 58f.

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Baier fährt fort und erklärt, weshalb diese unmittelbare politische Un-Bedeutsamkeit die intelligentere Option sei: Melcics positiver Vergleich mit den französischen Intellektuellen, die sich in die politische Debatte zum Jugoslawienkrieg mit Parteinahmen einbrachten, unterliege einer »optischen Täuschung«.202 Baier begegneten unter seinen befreundeten französischen Intellektuellen beim Thema Balkan ebenso »vor allem Ratlosigkeit, Desorientierung, unbeantwortete[] Fragen und entsetzte[s] Schweigen«.203 Jene aber unter ihnen, die trotzdem ›flammend‹ ihren politischen Standpunkt äußerten, würden tatsächlich nur scheinbar ein klares Urteil fällen. Der Zusammenhang zwischen öffentlicher politischer Parteinahme und richtigem bzw. falschem Urteil stellt sich für Baier wie folgt dar : »Helfen flammende Bekenntnisse zu Freiheit, nationaler Souveränität und Menschenrechten aber mehr? Es gibt nun Beobachter, die dem Zustand quälender Ungewißheit, hervorgerufen durch fehlende, sich widersprechende, erklärungsbedürftige, aber nicht erklärte Informationen, dadurch ein Ende setzen, daß sie sich entschlossen auf eine Seite schlagen. [… Das hilft] aber nicht, irgendeinen Faden des fürchterlichen Knäuels genau zu erkennen, weil sich der Parteiergreifende ständig nötig sieht, Nebel um sich zu verbreiten, damit die weniger lieben Seiten seiner Partei bedeckt bleiben.«204

Baier betrachtet die politischen Verlautbarungen seiner Kollegen mit einem methodischen Vorbehalt und entkräftet so ihren politischen Kern. Jede klare Äußerung, jedes Bekenntnis sei ein unklares, theoretisch fragwürdiges. Anders müsse und könne das so geäußerte Urteil nicht kritisiert werden, denn für Baier steht fest, dass das zu Erklärende des Jugoslawienkriegs ein »fürchterliche[s] Knäuel[]« ist und deswegen notwendig jede Wortmeldung, die sich ein Urteil anmaßt, nur fehl gehen kann. Auf Grundlage dieses Zusammenhangs sei daher jeder öffentlich politisch »Parteiergreifende« nur im un-eigentlichen Sinn politisch motiviert und somit nicht der Sache, sondern »in erster Linie« nur sich selbst nützlich.205 Ein allgemeiner Nutzen werde auch insofern vereitelt, als diese vereinfachenden, »nicht erklärte[n] Informationen« »die Kanäle verstopfen« und keinen Platz mehr ließen für »selbstkritisch[e] Nachdenklichkeit« oder »Analysen des Konflikts«.206 Nachdem Baier an Fallbeispielen von öffentlichen Parteinahmen die politische Willfährigkeit und intellektuelle Unredlichkeit prominenter französischer 202 203 204 205 206

Ebd.; S. 59. Ebd.; S. 60. Ebd. Ebd.; S. 61f. Ebd.; S. 63.

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Intellektueller belegt, zieht er ein eigenes methodisches und darin dann doch politisches Fazit: »Im Kampf der donnernden Schlagwörter bleibt zuallererst der Sinn für Unterscheidungen auf der Strecke, und zwar der Unterscheidungen jenseits der bequemen Aufteilung in Freund und Feind, Liebe und Böse. In diesem Sinn erscheint mir György Konr#ds für die taz-Serie geschriebener Beitrag viel hilfreicher als die zitierten französischen Interventionen. ›Es kommt vor‹, schreibt er, ›daß Nichthandeln und Nichtparteiergreifen von mehr Weisheit zeugt als Handeln und Parteiergreifen für eine Konfliktpartei.‹«207

Hier nun gibt Baier kund, dass er als legitime politische Äußerung von Intellektuellen jene zählt, die gerade nicht auf sich beharrt – und sogar umgekehrt, die sich aus der immanent politischen Debatte heraushält und einen übergeordneten Standpunkt einnimmt. Das erscheint als eine theoretische Kritik, die sich abseits einer inhaltlichen Beschäftigung prinzipiell ausnimmt und jede Festlegung, sei sie auch mit geistiger Anstrengung oder im politischen Streit gefunden, per se als ›Bequemlichkeit‹ begreift. Der endlose Regress des ›Unterscheidens‹ ist nicht Mangel oder Abwesenheit von Denken und Begriff, sondern beweise eine scheinbar ganz außerhalb des Denkens verortete »Weisheit«. Dieses Kritikgebot richtet Baier gegen die Wortmeldungen von Melcic u. a., unabhängig von den darin vertretenen Inhalten, die er, nur weil sie vertreten sein wollten, somit prinzipiell entkräftet und gewissermaßen delegitimiert. Baier schließt seinen Artikel mit einem literarischen Bild, das das »Nichthandeln« und die Notwendigkeit des überparteilichen westlichen Intellektuellen versinnbildlichen soll. Dafür zitiert Baier Kurt Tucholsky, der 1932 den »Wahnsinn […] nationale[r] Souveränität« kritisierte.208 Tucholsky hatte mit seiner Allegorie vom ›Haus Europa‹ gefragt, inwiefern in einem solchen Haus die Mietparteien gegenüber einem zündelnden Nachbarn ignorant sein dürften, der auf dem Recht beharrt, in seiner Wohnung das zu treiben, wonach ihm der Sinn steht. Baier liest Tucholskys Bild in einer interessierten Weise209 : 207 Ebd.; S. 63, Herv. i.O. Baier bezieht sich auf: György Konr#d: An Europas Horizont kichert der Wahnsinn. In: Willi Winkler (Hg.): Europa im Krieg. Die Debatten über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992; S. 11–25, hier S. 22. 208 Lothar Baier : Die Lieben; S. 64f. 209 Tucholsky problematisiert in den Texten, in denen er sich der Allegorie des ›Hauses Europa‹ bedient, neben der Bedeutung der Diplomatie nach außen immer auch das, was die politischen Akteure als Zwecke verfolgen. So basiert Tucholskys Blick auf das zwischenstaatliche Miteinander auf einem profunden Idealismus, einen, gegen den indes nicht nur die ›zündelnden‹ Staaten, sondern vor allem die eigenen politischen Vertreter verstoßen. So kennt er nicht nur Kriegsgründe bei ›Nachbarn‹, sondern eben auch solche Interessen bei den eigenen ›Mitbewohnern‹. Tucholsky richtet im Laufe der Jahre seine politische Kritik und Polemik zusehends gegen die Emphase eines nationalen Einen und fordert umgekehrt für den Frieden eine internationale Solidarität der Arbeiter. Das reflexive Moment auf die

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Jugoslawien 1991–92. Die überparteiliche Stellung für den Krieg

»›[…] Jede Mietswohnung ist Bestandteil eines Hauses – jedes europäische Land ist ein Bestandteil Europas.‹ Das europäische Haus hat inzwischen abgewirtschaftet. Dafür vermehren sich die Mieter, die gern bei sich Feuer machen, und wenn auf der Etage auch ein paar Aftermieter dran glauben müssen: jetzt sind fast alle national und souverän, mit Stempel des europäischen Hausverwalters versehen. Vielleicht hat es tatsächlich keinen Sinn, den Freunden des Feuers am Verhandlungstisch die Freude am Zündeln auszureden, solange man ihnen nicht mit der großen Löschkanone drohen will. Aber versuchen muß man es trotzdem, denke ich: wer dem Feuermachen als Ausdruck von Freiheit applaudiert, schafft jedoch noch ein paar Kanister mehr ins Haus. Als wäre alles nicht schon entsetzlich genug.«210

In diesem den Beitrag beschließenden Passus wird noch einmal auf der bildhaften Ebene und in Baiers besonderer Auslegung deutlich, dass ein überparteilicher Standpunkt des politisch interessierten Intellektuellen keinesfalls einer kategorischen Ignoranz das Wort redet, im Gegenteil: Das Bild vom ›Haus Europa‹ plausibilisiert die sachliche Notwendigkeit, Jugoslawien mit nichts anderem als Überparteilichkeit begegnen zu müssen. Die dabei unterstellten politischen Urteile benötigen ein paar Ausführungen: Baier nimmt die Gebilde der Staaten, deren Politik und ihr Zustandekommen als gegebene Identitäten, so wie er ihr Zusammengehen im ›Haus Europa‹ als ihr selbstverständlichstes Neben- und Miteinander versteht. Als gewordene Gebilde von politischen Interessen, Handlungen und ihren Erfolgen erscheinen diese Existenzen nicht. Und somit finden sich in diesem ›Haus‹ und unter dessen ›Hausordnung‹ die Staaten ohne jede politische Grundlage und Kalkulation ein – geradezu als Existenzen ohne Verhältnisse zu sich selbst und als Objekte von Verhältnissen, die sie nicht selbst gestalteten. Als Identitäten betrachtet und dermaßen frei von politischem Kalkül erscheinen die Staaten des Weiteren in ihrem so aufeinander verpflichteten Handeln durch ihre (immer unfreien und manchmal gefährlichen) Dispositionen geleitet. So wie das »Zündeln« nicht politisch oder überhaupt als Willensakt bestimmt ist, machte es »tatsächlich keinen Sinn«, über es wie alle anderen Dispositionen zu verhandeln. Das unfreie und zweckfreie »Zündeln« könne dem entsprechenden ›Problemmieter‹ also nicht ›ausgeredet‹, an sich nicht gelöst, es allerhöchstens mit Gewalt einer »großen Löschkanone« unterbunden werden. eigenen politischen Repräsentanten fehlt bei Baier jedoch vollkommen. Die zwei Texte Tucholskys, auf die sich Baier wahrscheinlich bezieht, stammen aus den Jahren 1926 und 1932, es sind: Kurt Tucholsky (d.i. Ignaz Wrobel): Außen- und Innenpolitik. In: ders.: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Reinbek: Rowohlt 2004; S. 325–328 (Bd. 8: Texte 1926; Gisela Enzmann-Kraiker u. Christa Wetzel (Hg.)); Kurt Tucholsky : Berliner in Österreich? Nein: Sozialisten bei Sozialisten. In: ders.: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Reinbek: Rowohlt 2011; S. 247–249 (Bd. 15: Texte 1932/1933; Antje Bonitz (Hg.)). 210 Lothar Baier : Die Lieben; S. 65.

Die Notwendigkeit des Kriegs. Die Debatte der deutschen Intellektuellen

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Mit dieser Interpretation ›nationaler und souveräner‹ politischer Staatsgebilde als Existenzen eigenen Rechts und eigener Natur konterkariert Baier die Forderung nach einer Parteinahme im Jugoslawienkonflikt. Zwar teilt er mit Melcic die Diagnose, dass die Zerstörung Jugoslawiens begrüßenswert, wenigstens unvermeidbar war, denkt sich die Anteilnahme an diesem Krieg aber grundverschieden: praktische, gar nur ideelle Parteinahme sieht er – einerlei für welche Seite – als Moment kriegerischer Eskalation. Die Allegorie zum Jugoslawienkrieg macht die Sorge um einen vom Jugoslawienkrieg getrennten Gegenstand deutlich: die europäische Ordnung. Dieser Ordnung wird im Bild der ›Hausordnung‹ und des personalisierten »Hausverwalters« eine fraglose, alle Parteien gleichermaßen verpflichtende Instanz gegeben. Unter der haben sich sowohl die jugoslawischen Folgestaaten wie die restlichen europäischen Staaten zu subsumieren und respektvollen Umgang zu pflegen. Wenn nicht, etwa im Falle eines Kriegs, erscheinen sie als Störung, als Verstoß. Indes gibt es jene, die Staaten gleichermaßen zueinander ordnende Instanz oberhalb der Staaten nicht. Parteigänger der europäischen ›Haus‹-Ordnung zu sein, ist die Parteinahme für genau die Gewalt, die infolge der innereuropäischen Konkurrenz ihr Interesse als gültiges gegen andere durchsetzen konnte. Der Respekt gegenüber dieser Ordnung ist damit der Respekt vor der mit mehr Befugnissen ausgestalteten ordnenden ›Mietpartei‹, die in den jugoslawischen Angelegenheiten 1991/92 eben die westlichen Europastaaten und vor allem Deutschland darstellten. Was Baier als »Nichthandeln« einfordert, also ein Heraushalten aus den neuen Staatsgründungskriegen allgemein und Deutschlands insbesondere, vernachlässigt ein entscheidendes politisches Motiv dieser Staatsgründungskonflikte. Dieses bestand in der z. B. durch deutsche Mitsprache konstituierten europäischen Ordnung, um die sich die jugoslawischen Folgestaaten bewarben und in der sie sich zu behaupten versuchten. Somit ist die »Weisheit«, die Baier mit einem anderen Verweis auf György Konr#d stärkt, gar nicht unbedingt durch ein Nicht-, also die Abwesenheit von politischem Handeln oder, so wie Melcic in ihrer Replik Europa läßt Kroaten und Bosnier in ihrer Verzweiflung allein211 Baier vorwirft, durch die Abwesenheit einer Sorge um die Menschen auf dem Balkan bestimmt. Baier stärkt mit seiner Kritik der Anteilnahme an den aktuellen Kriegskonflikten umgekehrt die Sorge um die europäische Ordnung, die, von den Kriegsparteien gegenseitig anerkannt, natürlich auch Frieden bedeuten könne. 211 So schreibt Melcic: »Lothar Baier erzählt uns von der Unmöglichkeit, die Seiten und Lager in dem Krieg zu erkennen. Er suggeriert Ratlosigkeit, weiß aber gleichzeitig, daß es sich um einen Bürger- und Stammeskrieg handelt, in dem alle gleichermaßen töten und foltern. […] Meine Sorge gilt der sich verfestigenden Gewißheit, daß Europa und sein Gewissen diese Menschen in ihrer Verzweiflung allein lassen«; Dunja Melcic: Europa; S. 93.

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Jugoslawien 1991–92. Die überparteiliche Stellung für den Krieg

Melcic, Müller und Baier stimmen hinsichtlich ihrer Erklärung der Sezessionskonflikte und hinsichtlich der Rolle der dabei maßgeblichen politischen Instanzen überein: Alle teilen die Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit dieses Prozesses, mitunter wird dafür nicht einmal mehr argumentiert. Diese Staatsneugründungen sind, anders gesagt, kein Einwand gegen den Krieg; wenn Krieg dafür notwendig ist, dann scheint an ihm, im Prinzip, nichts auszusetzen. In den Artikeln wird Deutschland als Vertreter des Westens adressiert und das in einer beachtlichen, anerkennenden Weise: Der Westen ist mit seinen Staaten und Bündnissen die diplomatische Instanz und letztlich die militärische Gewalt, diese Konflikte zu entscheiden, nur ihn adressieren sie. Wie die Konflikte zu entscheiden sind, darin allerdings herrscht Uneinigkeit. Ein realistisches Bild über die Erfolgslosigkeit ihres Anspruchs haben, im Modus des Wunsches vorgetragen, auch Melcic und Müller. Selbstverständlich ist es ihnen allen eine Instanz, die souverän, also überparteilich und um eigene Belange bemüht über das ›Haus Europa‹ entscheidet. Diese Überparteilichkeit als Gebot des politischen Umgangs mit den Sezessionskonflikten nicht an der politischen Rolle der westlichen Staaten oder Deutschlands – und ihrer intellektuellen Stellvertreter – zu thematisieren, sondern direkt als objektive Notwendigkeit der Parteien vor Ort zu übersetzen und sinnfällig zu machen, leistet Hans Magnus Enzensberger.

2.2.5 Unparteilichkeit als objektive Wirklichkeit. Hans Magnus Enzensberger: Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Ansichtskarte (1992) Enzensberger verfasste seinen Beitrag für die Reihe Europa im Krieg in Form eines Berichts einer Reise nach Uganda.212 Dabei hält er gleich zu Beginn fest: In Uganda sei er nicht als »Horror-Tourist« unterwegs gewesen; des Weiteren sei ihm das Thema Jugoslawienkrieg aufgedrängt worden, er hatte es ursprünglich nicht im Sinn.213 Zufällig nämlich wurde er in einer Hotel-Bar durch Einheimische mit dem ehemaligen Bürgerkrieg in Uganda und zugleich durch einen herbeieilenden Zeitungsjungen mit den Neuigkeiten aus dem kriegsbelagerten Sarajevo konfrontiert. Den bedeutungsvollen Zusammenhang zwischen diesen beiden verschiedenen politischen Ereignissen stelle mithin, so legt Enzensberger 212 Hans Magnus Enzensberger : Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Ansichtskarte. In: Willi Winkler (Hg.): Europa im Krieg. Die Debatten über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992; S. 85–90. Dieser Artikel ist u. a. auch veröffentlicht worden: in der tageszeitung am 05. 09. 1992 und in der Wochenpost am 17. 09. 1992. 213 Ebd.; S. 85.

Die Notwendigkeit des Kriegs. Die Debatte der deutschen Intellektuellen

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nah, nicht er, sondern stellen die Umstände und, wie im Folgenden zu vernehmen, die ehemals Betroffenen selbst her. Das Gespräch zwischen Enzensberger und den Einheimischen beginnt mit der jüngsten Geschichte Ugandas und den Gründen für den lang anhaltenden, opferreichen, aber nun seit einigen Jahren beendeten Bürgerkrieg. Ein ugandischer Tischpartner lässt anlässlich der Zeitungsnachrichten aus Jugoslawien verlautbaren, »Stammeskriege« seien nicht unbedingt »eine afrikanische Spezialität«.214 Deswegen seien ihre afrikanischen Erfahrungen auch in Europa zu bedenken: »›Aber es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn das, was vor ihrer Haustür passiert, den Europäern zu denken gäbe. Ihr seid uns ähnlicher, als ihr denkt.‹«215

Im Folgenden wird all das, was für die einheimischen Gesprächspartner Afrika (bzw. Uganda) mit Europa (bzw. Jugoslawien) vergleichbar macht, aufgezählt. Sie reden von »vierzig Stämmen«, »[m]indestens 30 voneinander völlig verschiedene[n] Sprachen« und »Religionen, soviel Sie wollen«.216 Diese Gemeinsamkeiten werden nicht als Zugehörigkeiten, denen man sich willentlich angliedern kann bzw. muss, sondern von Anbeginn an als Ausdrücke verschiedener Identitäten betrachtet und erscheinen darin als Grund eines politisch ebenso konstitutiven wie auch brisanten Miteinanders. Unter diesen ausdrucksstarken Kategorien erscheine die Differenz zwischen Uganda und »Jugoslawien mit seinen sechs oder sieben Völkern« lediglich quantitativer Art.217 Ein ugandischer Professor wirft ein – und erinnert damit implizit zum einen an die politische Kritik der deutschen ’68er an dem historischen und modernen europäischen ›Kolonialismus‹ und zum anderen an einen Vorbehalt auch deutscher Kritiker gegenüber der deutschen Politik auf dem Balkan der frühen 1990er –, ob die ethnische Kategorisierung nicht erst durch die westlichen Großmächte gestiftet wurden. Dem wird von seinen ugandischen Mitbürgern vehement widersprochen: Die Kolonialmächte hätten lediglich für ihre Zwecke instrumentalisiert, was sie bereits vorfanden, und was, als sich die Großmächte im 20. Jahrhundert zurückzogen, wieder gewaltsam hervorgebrochen sei. Zugunsten dieser kulturalistischen Setzung, nach der Krieg als normales Miteinander von Kulturen gilt, werden die zum Teil widersprüchlichen politischen Absichten der ›Reichsgründungen‹ irrelevant: »›Das ist immer so. Osmanen, Briten, Portugiesen, Sowjets – ganz egal.‹«218 : 214 215 216 217 218

Ebd.; S. 88. Ebd.; S. 86. Ebd.; S. 86f. Ebd.; S. 87. Ebd.; S. 88.

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Jugoslawien 1991–92. Die überparteiliche Stellung für den Krieg

»›Massakriert haben wir uns schon, bevor die Europäer auf die Idee kamen, Kolonialreiche zu gründen. Und den Sklavenhandel haben nicht die Engländer erfunden, sondern die Araber. […]‹«219

Enzensberger hält, wie er daraufhin schreibt, ›schüchtern‹ das allgemeine Bedürfnis nach Friedfertigkeit gegen diese behauptete kulturelle Kriegs-Konstante. Dies gibt den Gesprächspartnern noch einmal Anlass darzulegen, dass »Ruhe« oder »Frieden« nicht gegen Krieg stehen. Enzensbergers Gesprächspartner dreht die Beweisnot um: »›Aber die meisten wollen doch nur ihre Ruhe haben‹, sagte ich schüchtern. ›Sind Sie sicher? Auf die eine oder andere Art haben wir alle [die Afrikaner ; Anm. S.H.] mitgemacht, wenigstens zu Anfang. Erst als es nichts mehr zu essen gab, kein Geld, kein Wasser und keinen Strom […] wollte plötzlich niemand mehr, und der Frieden ist ausgebrochen. Ich war noch nie in Jugoslawien, aber ich denke, dort wird es genauso zugehen.‹«220

Somit existiere nicht Frieden, sondern Krieg grundlos und immer ; Frieden sei nur die temporäre Verunmöglichung von Krieg – hier wie da. Auch der Verweis auf den von den westlichen Staaten gestifteten Titel des ›Selbstbestimmungsrechts‹, auf den sich die ›Völker‹ des ehemaligen Jugoslawien im Zuge ihrer Anerkennungsverfahren gegenüber dem Westen dann auch berufen hatten, ist für die Stammeskriegserfahrenen kein Grund, dass Staaten sich gegenseitig respektieren und sich den Krieg verbieten. Im Gegenteil erscheint dies als Beförderung eines Zustands, in dem alle Nationalstaaten ihrer Natur gemäß zu einem großen Vernichtungswerk schritten: »›Hören Sie mir damit auf! Das Selbstbestimmungsrecht ist das Allerschlimmste, was uns passieren kann. Wenn es danach ginge, gäbe es in Afrika mindestens tausend Nationalstaaten. Oder in Indien. Oder in Ostasien. Und alle, alle würden aufeinander losballern, bis zur letzten Patrone, bis sich nichts mehr rührt, bis alle krepiert sind.‹«221

Zu dieser behaupteten kulturalistischen Notwendigkeit ›Krieg‹, die die Europäer von der Last, sich um den Jugoslawienkonflikt theoretisch wie praktisch zu sorgen, letztlich befreien soll, passt es allerdings nicht, wie Enzensberger anmerkt, dass er in Uganda von Überlebenden eines solchen notwendigen, auf totale gegenseitige Vernichtung abzielenden Kriegs umgeben ist. Weshalb sollte dieses Kriegsende, das sich von dieser Konsequenz lösen konnte, nicht darauf hinweisen, dass auch der Kriegsbeginn gar nicht notwendig war? Die Theorie untermauernd und in ihrer Relevanz auch für den Jugoslawienkrieg – und die

219 Ebd.; Herv. S.H. 220 Ebd.; S. 88, Herv. S.H. 221 Ebd.; Herv. S.H.

Die Notwendigkeit des Kriegs. Die Debatte der deutschen Intellektuellen

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Stellung zu ihm – bestärkend, wird die Widersprüchlichkeit der Theorie mit dem irrationalen Moment des exklusiven ugandischen Charakters beantwortet: »›Ich habe gehört, daß die Europäer sich Vorwürfe machen, weil sie auf dem Balkan nicht intervenieren wollen. […] Lassen Sie die Finger davon! Es gibt nur eines, was einen Bürgerkrieg beenden kann. Das ist die Erschöpfung.‹ Ich hatte keine Lust, ihm zu widersprechen. Eine Pause trat ein. […] Diesmal war es der Literaturprofessor, der mein Glas nachfüllte und mir feierlich zutrank. Sein Lächeln war undurchdringlich. ›[…] Von unseren Untugenden werden Sie gehört haben. Aber eines haben wir euch voraus. Das ist unser Mangel an Gründlichkeit. Die Serben und Kroaten kenne ich nicht, aber ich denke mir, daß sie tüchtig sind, wie die Deutschen, wie die meisten Europäer. Wir dagegen sind bekanntlich schlampig und vergeßlich. Und deshalb sind wir noch einmal davongekommen.‹ Er hatte recht. Im Vergleich zu Sarajevo war Kampala eine Oase des Friedens.«222

Was Enzensberger zu Beginn zum Widerspruch reizt, den er aus Unlust aber nicht ausspricht, dem gibt er am Ende stillschweigend recht: Dieser Vergleich zwischen Uganda und Jugoslawien macht eine Aporie eines notwendigen ethnischen Konflikts vorstellig, den man politisch nicht lösen kann, selbst wenn der Wille dazu bestünde. Die gegenwärtige Situation auf dem Balkan erscheint so letztlich gerechtfertigt und in seinem – von dem Erzähler Enzensberger keineswegs begrüßten – notwendig kriegerischen Fortgang erklärt. Sich gegen dieses Verhängnis aufzulehnen, sei theoretisch, moralisch oder politisch unvernünftig. Mit diesem Passus endet Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Ansichtskarte. Hans Magnus Enzensberger wirbt in seinem Beitrag Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Ansichtskarte ebenso wie Lothar Baier und im deutlichen Gegensatz zu Helga Müller und Dunja Melcic für einen gegenüber dem Konflikt in Jugoslawien verantwortlichen, dabei aber übernationalen Standpunkt deutscher Politik. Die Besonderheit dieses Texts besteht in seinem konstitutiven Verfahren. Auch Baier benutzt zur Plausibilisierung seines Urteils, die politisch gesetzte Überparteilichkeit deutscher und westlicher Politik sei notwendig und in der Sache dieses Kriegs selbst begründet, die bildhafte Darlegung. Das Bild vom ›Haus Europa‹ erscheint als rhetorisches Verfahren im Dienste der Verdeutlichung eines vom Bild getrennten Urteils. In Enzensbergers Text ist dieses Verhältnis nicht mehr offenkundig. Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Ansichtskarte ist in vollem Umfang als Vergleich angelegt und so erscheint mittels des Verfahrens das politische Urteil den Ereignissen immanent – und darin dem

222 Ebd.; S. 89f.

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Jugoslawien 1991–92. Die überparteiliche Stellung für den Krieg

Verfahren seines Beitrags Hitlers Wiedergänger 1991 zum Golfkrieg gleich223. Indes, trotz des durch die Gesprächsumstände aufgedrängten Vergleichs zwischen dem Fall Uganda und dem Fall Sarajevo, trotz des Verweises auf historische Fakten, trotz der zitierten Redebeiträge von real Betroffenen und trotz der Betonung, keineswegs interessegeleitet und absichtsvoll auf den Gegenstand der ›Stammeskriege‹ zu schauen, ist Enzensberger allein Subjekt dieses ›sich‹ ausdeutenden ›In-Bezug-Setzens‹. Enzensberger teilt bzw. konstruiert gar erst, was er deswegen als Auskunft der ›sich‹ vergleichenden Gegenstände darlegt: die notwendige Haltung der Überparteilichkeit und Nichteinmischung Deutschlands in Kriege ›wie‹ den in Bosnien. Der politisch-öffentliche Diskurs hat in dieser Reportage eine besondere Versinnbildlichung erfahren. Das politische Geschehen in Jugoslawien und die Frage der westlichen Partizipation erscheint nicht mittels prekärer Titel erklärt und legitimiert. Baier hatte sich aus der Beurteilung des Kriegs herausgehalten, weil Festlegen einem eigentlichen Intellektualismus nicht entspreche, oder hatte sich nur mittels Gleichnis auf ihn bezogen. Enzensberger lässt nun die Sache des Kriegs, das westliche Interesse an ihm und die Begründung in der Ansichtskarte zusammenfallen: Mit Ansichtskarte ist der politische, supranationale Standpunkt Deutschlands am Objekt seiner Politik vergegenständlicht, wird mittels seiner Repräsentanten selbst ausgesprochen.

223 Hans Magnus Enzensberger : Hitlers Wiedergänger; S. 26–28; siehe die Analyse im Unterkapitel 1.2.3.

3.

Die parteiliche Stellung im Krieg. Deutsche Literaten angesichts der Stellung Deutschlands zum Bosnienkrieg 1992–95

Wie sich im Weiteren der Diskurs der deutschen Intellektuellen zum Jugoslawienkrieg gestaltete, war zum einen abhängig vom Kriegsverlauf und zum anderen von der sich ändernden Stellung der deutschen Politik zu ihm. Der Bosnienkrieg 1992–95 war für beides ein entscheidendes Datum. Der Krieg in Jugoslawien war bereits ab 1991, entgegen etwa der Kritik von Herta Müller, kein nachrangiger Gegenstand westlicher Diplomatie. Wie unter Kapitel 2.1 referiert, waren der Verlauf der diplomatischen und militärischen Konfrontation und der vorläufige Friedensschluss zwischen den sich neu gründenden konkurrierenden Staaten des ehemaligen Jugoslawiens durch das starke diplomatische Engagement des westlichen Auslands in erheblichem Umfang mitbestimmt. Die Staaten hatten den Zerfall dieses Ostblocklands seit seinem Beginn 1990 als internationalen also auch als ihren Kasus behandelt. U. a. hatten sie diesen mit den Badinter-Richtlinien diplomatisch konstruktiv begleitet, sie hatten nach eigenem politischen Programm entschieden, ob und nach welchen Kriterien den Zerfallsprodukten internationale Anerkennung als souveräne Staaten gewährt wurde, auch fanden die folgenden Konfrontationen in bzw. zwischen den sezessionistischen Teilen Jugoslawiens per definitionem als völkerrechtliche bzw. internationale Angelegenheiten und so unter politischer Anteilnahme des Westens statt. Der Bosnienkrieg war nun die Situation, bei dem der Westen seinen supranationalen Standpunkt der ersten Kriegsjahre aufgab. Inwiefern sich die Stellung des Westens und insbesondere Deutschlands gegenüber Jugoslawien und seiner Teile änderte, soll im Folgenden grob skizziert werden. Inwiefern bzw. unter welcher Fragestellung sich schließlich die deutsche Öffentlichkeit und die Intellektuellen und Literaten dieser Lage (und das zum Teil kontrovers) widmeten, wird im Anschluss an Einzelbeispielen erörtert. Die Wortmeldungen und die nun einsetzenden dezidiert literarischen Arbeiten werden daraufhin untersucht, inwiefern sie sich mit ihrer neuen Frage nach Opfer und Täter und der neuen Problematisierung der medialen Mittelbarkeit nicht nur der Parteilichkeit ihrer Politik zuwendeten, sondern ihren überparteilichen Standpunkt der ersten Kriegsjahre revidierten. Die politische Neupo-

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Bosnienkrieg 1992–95. Die parteiliche Stellung im Krieg

sitionierung wurde in der langanhaltenden und regen öffentlichen Debatte um Peter Handkes Reisebericht Winterlicher Reise bzw. Gerechtigkeit für Serbien 1996 besonders deutlich.

3.1

Die Anerkennung und Durchsetzung Bosnien-Herzegowinas 1992–95, deutsche Diplomatie und Öffentlichkeit

3.1.1 Die Schaffung Bosnien-Herzegowinas aus sich ausschließenden Staatsinteressen Die jugoslawische Teilrepublik Bosnien-Herzegowina war, nachdem sie wie Kroatien und Slowenien ein Referendum im März 1992 abgehalten hatte und darin ein deutliches Votum für die Ablösung von Jugoslawien vorweisen konnte, von den westlichen Staaten als unabhängige Republik politisch anerkannt worden.224 Seit dieser Anerkennung ihres logisch-negativen Konsenses, nicht mehr jugoslawische Teilrepublik sein zu wollen, konkurrierten die drei größten, sich national definierenden Bevölkerungsgruppen der Bosnier, Kroaten und Serben um die nationale Konstitution des bosnischen Staats und um die Einbindung der verschiedenen nationalen Gruppen. Die erfolgreichen Staatsgründungen von Slowenien und Kroatien hatten bewiesen, dass gegenüber den weltpolitisch maßgeblichen Instanzen der EG, UN und der USA die Berufung auf die Identität des eigenen Volks als ein Rechtstitel für den eigenen Staat und dabei gegen einen Zusammenschluss mit anderen Völkern unter einen zentralistischen Staat praktisch Geltung beanspruchen konnte. Daran Maß nehmend wurde die Konstitution eines bosnischen ›Vielvölker‹-Staats, unter dem sich drei Nationalitäten vereinen, wenigstens von den kroatischen und serbischen Bosniern politisch und praktisch bestritten: Die bosnischen Serben unter ihren Repräsentanten Radovan Karadzic versuchten, die Vielzahl serbischer Siedlungsgebiete, die rund ein Drittel des bosnischen Staatsgebiets ausmachten, aber kein zusammenhängendes Territorium bildeten, durch militärische Eroberung zu vereinen und so eine Angliederung an Serbien vorzubereiten. Ebenso für die Konsolidierung eigener Siedlungs- und Staatsgebiete kämpften die bosnischen Kroaten unter Franjo Tudjman und die Bosnier unter Alija Izetbegovic bis 1993 noch gemeinsam, dann aus gleichen Gründen gegeneinander. Entgegen den Bestrebungen der bosnischen Kroaten 224 Grundlage für die folgenden Ausführungen sind: Dunja Melcic (Hg.): Der JugoslawienKrieg; daraus insbesondere: Mark Almond: Dayton und die Neugestaltung Bosnien-Herzegowinas. In: ebd.; S. 446–454; George Kenney : Opfer der Kriege 1991–1999. In: ebd.; S. 534–540; sowie: Erich Rathfelder : Der Krieg; und: Matthias Vetter : Vom Kosovo.

Bosnien-Herzegowina, deutsche Diplomatie und Öffentlichkeit

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und Serben, geschlossene Siedlungsgebiete auf bosnischem Territorium an der Grenze zum kroatischen Staat und zu serbischer Teilrepublik durchzusetzen, strebten die Bosnier einen eigenen Staat an, der weder durch Serben noch durch Kroaten politisch oder territorial geschmälert werden sollte. Für diese Ziele kämpften alle drei Nationalitäten innerhalb Bosniens gleichermaßen gegeneinander und das mit allen (militärischen) Mitteln. In einem Land, wie Calic die Kriegssituation zusammenfasst, wo »[n]icht eine einzige Gemeinde […] homogen« war, wurde, um »Gebietsansprüche zu untermauern und eindeutige Machtverhältnisse herzustellen«, die »ethnische Exklusion« das »zentrale Organisationsprinzip«.225 Der Kriegsverlauf zeitigte das entsprechende Bild. Neben Belagerungen (u. a. von Sarajevo, Kragujevac und Bihac), Verwüstungen, Internierungen (z. B. das Lager Omarska), Anschlägen (u. a. der Mörserbeschuss des Markts in Sarajevo 1992) und Massakern (u. a. Srebrenica 1995) bestanden die Kriegshandlungen auch aus einer großen Zahl, wie Calic schreibt, »[s]ymbolbeladene[r] Akte der Grausamkeit«.226 Dazu zählten Vergewaltigungen, Demütigungen, öffentliche Folter und Zerstörung von Kulturdenkmälern. Unterschiede gab es weniger in den angewandten Mitteln als im Erfolg der Maßnahmen, der für die bosnischen Serben auch aufgrund ihrer materiellen Überlegenheit am größten war. Die Durchsetzung ihres politischen Ziels, nämlich die Angliederung der serbisch besetzten Gebiete Bosniens an Serbien, widersprach zum einen den Zielen der nunmehr verbündeten Bosniaken und Kroaten um ein einheitliches Staatsgebiet. Zum anderen hätte ein serbischer Sieg die durch das Ausland bereits anerkannte staatliche Konstitution aus den drei nationalen Parteien bestritten und das durch das Ausland gegebene Plazet unveränderlicher innerjugoslawischer Grenzen in Frage gestellt. Einem Friedensschluss oder schon dem Einhalten von Waffenstillstandsabkommen vor einem durch militärische Überlegenheit herbeigeführten eindeutigen Resultat der Kriegshandlungen stand entgegen, dass damit ein Status des Kriegsverlaufs fixiert worden wäre, der für jede der drei Seiten ein Kompromiss bedeutet hätte und mit dem sich deswegen keine der Parteien abfinden wollte. Die Anzahl der von allen Seiten regelmäßig gebrochenen Waffenstillstandsabkommen und Friedensverhandlungen zählten weit über einhundert.

3.1.2 Bosnien-Herzegowina als Angelegenheit des Auslands Das Ausland nahm an dem Krieg in Bosnien mit verschiedenen, zum Teil konkurrierenden Absichten und Mitteln teil – und war zugleich die maßgebende, 225 Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens; S. 311 u. 314f. 226 Ebd.; S. 315.

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Bosnienkrieg 1992–95. Die parteiliche Stellung im Krieg

den Frieden erzwingende Größe. Entgegen serbischer und kroatischer Ansprüche griffen neben muslimischen Staaten für die bosnische Seite insbesondere die westlichen Staaten und ihre Staatenbündnisse der EG, UN und der Nato zunehmend aktiver in den Krieg, d. h. für die Durchsetzung des durch sie bereits anerkannten und zwar multinationalen Staats Bosnien-Herzegowina, ein. Schon seit 1992 war auf Beschluss der UN in Bosnien-Herzegowina die 20.000 Mann starke UNPROFOR stationiert worden. Sie sollte beaufsichtigen, dass die Volksgruppen und deren Territorien nicht mehr Gegenstand der Staatsgründungskonflikte wurden, die sie vordem im Falle Slowenien und Kroatien im Wesentlichen noch waren. Durch WEU und Nato durchgesetzte Waffenembargos und Luftflugverbote sollten dies unterbinden und überwachen. Die Kriegsparteien vor Ort zweifelten die Interventionen des Auslands an, versuchten sie für sich zu instrumentalisieren und entsprechend der eigenen, sich voneinander ausschließenden Ansprüchen Fakten zu schaffen. Internationaler Bemühungen und Ultimaten ungeachtet, kam es bei den vielzähligen Friedensverhandlungen zu keinem Schluss zwischen den Kriegsparteien. Sanktionen für eine Nichteinigung in Friedensgesprächen oder für die Fortführung diverser Kampfhandlungen wie die Vertreibung von und die Massaker an ethnischen Gruppen wurden vom Ausland angedroht, jedoch vorerst nicht umgesetzt. Umgekehrt wurden Konvois der UN durch serbische und kroatische Truppen verhindert und geplündert. Die Pläne für ein einheitliches Bosnien-Herzegowina der verschiedenen Nationalitäten wurden bekräftigt, indem die UN im Zuge der zunehmenden Erfolge der serbischen und kroatischen Seite Sicherheitszonen einrichtete, die man durch eigenes Personal beaufsichtigen ließ und durch Nato-Flugzeuge mit Lebensmitteln versorgte. Um die Belagerungen bosnischer Städte insbesondere durch Truppen bosnischer Serben zu vereiteln, deren »Waffe des Hungers«227 zu entkräften und drohende Kapitulationen zu unterbinden, wurden diese Gebiete durch den UN-Sonderstatus den unmittelbaren Kampfhandlungen entzogen und somit, wenigstens dem Anspruch nach, der Krieg dort vorweg entschieden. Zu den sechs Sicherheitszonen, die im Oktober 1993 durch die UN-Resolution 819 ernannt wurden, gehörten u. a. die Städte Sarajevo, Bihac und Srebrenica. Diese UN-Schutzzonen und die daran geknüpfte Forderung, militärische Einheiten daraus abzuziehen, wurden von den Kriegsparteien, zuvorderst den serbischen und kroatischen Verbänden, jedoch wenig respektiert. Weil sich die serbischen Stellungen nicht diesem Diktat fügten, sollten sie mit partiellen 227 »Mit der ›Waffe des Hungers‹ sollte die eingeschlossene Bevölkerung zur Kapitulation gezwungen werden. Die indifferente Haltung der Vereinten Nationen führte in der bosnischen Bevölkerung zu Enttäuschung über das ›Verhalten der Welt‹.« Erich Rathfelder : Der Krieg; S. 360.

Bosnien-Herzegowina, deutsche Diplomatie und Öffentlichkeit

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Bombardements durch die Nato-Luftwaffe dazu gezwungen werden. Erich Rathfelder schreibt, dass diese anhaltende Weigerung der Serben, den Vorgaben der westlichen Bündnisse zu folgen, »das Blatt im Krieg [wendete]«.228 Mit der im April 1994 gegründeten ›Kontaktgruppe Bosnien‹ intensivierte das westliche Ausland unter der Ägide der Außenminister der USA, Russlands, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands das Engagement für BosnienHerzegowina. Die zur Kontaktgruppe vereinten Staaten bestärkten die bereits anerkannte Zergliederung Jugoslawiens resp. die Staatsneugründung BosnienHerzegowinas und konzipierten des Weiteren deren politische Durchsetzung. Durch die anhaltende Erfolglosigkeit dieser Pläne, die sich besonders in den – hauptsächlich wegen der gestellten Bedingungen der stärksten Kriegspartei der bosnischen Serben unter Karadzic – gescheiterten Friedensverhandlungen zeigten, aber auch durch die zusätzliche »Demütigung«229 der westliche Mächte u. a. in der sogenannten Geiselkrise, bei welcher UN-Angestellte in großer Zahl von der serbischen Kriegspartei in Bosnien gefangengenommen worden waren, sahen sich die USA unter Bill Clinton schließlich zu einem Ausbau der militärischen Mittel genötigt. Mark Almond schreibt diesbezüglich von dem entscheidenden »Kurswechsel«.230 Im Zuge dessen gründeten die Nato und EG eine ›Schnelle Eingreiftruppe‹, die aktiv im Krieg kämpfen sollte, sobald Mitarbeiter der UN in Gefahr gerieten. Die USA veranlassten die Aufhebung des Waffenembargos gegenüber Bosniern und Kroaten und halfen so, die serbischen Erfolge zu revidieren. Unter Absprache mit den USA stockten Großbritannien und Frankreich ihre Nato-Truppen auf. Die UN erließ am 16. Juni 1995 ein Mandat, um durch schnellen militärischen Einsatz der Nato die Arbeit der UNPROFOR wieder zu ermöglichen. Der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter handelte mit den Kriegsparteien einen Waffenstillstand aus, der wegen Einwänden der bosnischen Serben gegen Gebietsabtretungen nicht im Friedensschluss endete. Die Z-4-Gruppe unter Führung der USA, von Russland und Repräsentanten der EG und der UN arbeiteten einen neuen Friedensplan aus. Wie zuvor brachte auch dieser Friedensplan, der den Kriegsparteien von Dritten vorgelegt wurde und ihren eigenen politischen Kalkulationen und den bisherigen Erfolgen ihrer Kämpfe nicht entsprach, kein Ende der Kampfhandlungen. So bestanden die Belagerungen strategisch wichtiger Gebiete wie die UN-Schutzzone Sarajevo durch zum Beispiel serbische Truppen weiterhin fort; 228 Rathfelder sieht den Anlass für den allgemeinen Wendepunkt im Fall des belagerten Sarajevo; ebd.; S. 361. 229 Almond schreibt zum Ausgangspunkt des Bosnienkonflikts als einen Konflikt auch unter Teilnahme des »zu sehr gereizt[en]« westlichen Auslands: Die »Demütigung der UNPROFOR während der Geiselkrise […] bewirkte nämlich einen Kurswechsel in der anglofranzösischen Politik«; Mark Almond: Dayton; S. 446. 230 Ebd.

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Anfang Juli 1995 wurde die Stadt Srebrenica, die ebenso unter UN-Schutz stand, durch die serbisch-bosnische Armee unter dem Befehl von General Ratko Mladic eingenommen. Am 10. August 1995 legten die USA ein erneutes Ultimatum und einen eigenen US-amerikanischen Friedensplan vor. Die Parteien der Bosniaken und der kroatischen Bosnier stimmten diesem Plan zu, die Serben lehnten ab. Nachdem das Massaker durch serbische Truppen an rund 7.000 männlichen Bosniaken in Srebrenica bekannt wurde, erteilte am 28. August 1995 das USamerikanische Verteidigungsministerium seinen Streitkräften innerhalb der Nato den Auftrag, die Verhandlungsbereitschaft der Serben mit der militärischen Dezimierung ihrer Mittel zu erzwingen. Die von den USA initiierten und vom gesamten Militärbündnis der Nato durchgeführten intensiven Bombardements der serbischen Stellungen und der serbischen Infrastruktur durch die Marine und die Luftwaffe begannen am 30. August. Sie stellten bis dato den größten Kampfeinsatz der Nato-Geschichte dar. Almond resümiert über den Erfolg, dass somit die jahrelange Politik der ›Nadelstiche‹ seitens des Westens beendet gewesen sei.231 Die Nato habe es (erst) mit ihrer »militärische[n] Machtdemonstration« ermöglicht, dem US-amerikanischen Verhandlungsangebot unter Richard Holbrooke zum »Durchbruch« zu verhelfen.232 Angesichts dieser militärischen Intervention willigten die serbischen Truppen in einen Waffenstillstand ein. Die gegenseitige Anerkennung des Friedensplans erfolgte unter der Leitung des US-amerikanischen Präsidenten Bill Clinton am 21. November 1995 in Dayton. Die Gruppen der Bosniaken, bosnischen Kroaten und bosnischen Serben stimmten einem Staat Bosnien-Herzegowina zu, in welchem sie von ihren Nationalitäten nur insofern (aber immerhin) Abstand nehmen mussten, als sie sich gegenseitig rechtlich anerkannten und unter einer Zentralgewalt aufeinander verpflichteten. Was ehedem in Jugoslawien auch in den Augen des Westens politisch nicht möglich erschien und deswegen das notwendige Ende des ›Vielvölker‹-Staats rechtfertigte, stellte nun genau die politische Lösung für Bosnien-Herzegowina dar. Bezogen auf den bisher verfolgten Grundsatz des ›Selbstbestimmungsrechts der Völker‹ war dieser Frieden, der das ›Selbstbestimmungsrecht‹ der drei Nationalitäten verhinderte und sie umgekehrt auf ein Miteinander zwang, widersprüchlich. So blieb in diesem Friedensschluss der Grund des Konflikts bestehen und wurde sogar in staatskonstituierenden Rechtstiteln fixiert: Das Staatsgebiet von Bosnien-Herzegowina wurde in drei national selbstverwaltete Provinzen mit drei Hauptstädten aufgeteilt, des Weiteren wurden drei Staatsbürgerschaften ausgegeben. Für dieses politische Konstrukt wurde eine souveräne Instanz not231 Ebd.; S. 447. 232 Ebd.; S. 447f.

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wendig, die den Parteien übergeordnet war.233 Um also den Dayton-Frieden durchzusetzen, wurden im Anschluss an die bisher 20.000 Mann starke UNPROFOR die 30.000 Mann starke Implementation Force (IFOR) und folgend die Stabilisation Force (SFOR) auf unbestimmte Zeit installiert. Die politische Gewalt obliegt seit Dezember 1995 einem durch die UN offiziell bestellten und bisher von europäischen Regierungen gestellten ›Hohen Repräsentanten‹.

3.1.3 Der Bosnienkrieg und die deutsche Außenpolitik Deutschland war innerhalb der UN und seinem Sicherheitsrat, innerhalb der EG, innerhalb der Militärbündnisse Nato und WEU und eben auch in der speziell für den Bosnienkrieg gegründeten Kontaktgruppe und der Z-4-Gruppe diplomatisch aktiv. Neben einem finanziellen und personalen Engagement in verschiedenen EU-Institutionen beteiligte sich Deutschland auch an den militärischen Interventionen der Nato, der WEU und der UN in Bosnien. Das geschah u. a. durch die Bereitstellung von deutschen Flugzeugen bei der Versorgung eingeschlossener Kriegsgebiete seit März 1993 und mit AWACS-Aufklärungsflugzeugen bei der Durchsetzung von Handels-Embargos und Flugverboten über Bosnien. Mit dieser ersten aktiven Teilnahme der deutschen Bundeswehr an einem Kriegsgeschehen und seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs das wieder auf europäischem Boden hatte die bundesdeutsche Regierung eine neue politische Realität geschaffen. Es kam zu Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht. Man stellte in Frage, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar sei, dass Deutschland an einem Krieg außerhalb des Verteidigungsfalls teilnimmt. Am 21. Juli 1994 wurde die Grundgesetzkonformität solcher ›out-of-area‹-Einsätze bestätigt, aber an eine politische Bedingung geknüpft. Demnach sei ein Bundeswehreinsatz an einem nicht-deutschen Krieg legal, insofern er sich im »System gegenseitiger kollektiver Sicherung« bewege, wobei es »unerheblich« sei, ob dieser ›Bündnisfall‹ allein die ›gegenseitige Sicherung‹ der Staaten des Bündnisses bedeute.234 Jedoch stärkt das Bundesverfassungsgerichtsurteil den sogenannten Parla233 Über die auf Grundlage der problematischen Entstehung weitergehende Entwicklung des Staats Bosnien-Herzegowina siehe auch das abschließende fünfte Kapitel dieser Arbeit. 234 Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (AZ 2 BvE 3/92, 2 BvE 5/93, 2 BvE 7/93 und 2 BvE 8/93) zu den sogenannten out-of-area-Einsätzen und dem Parlamentsvorbehalt ist derzeit über kein digitales, institutionelles Archiv einsehbar, jedoch ist es öfters an anderen Stellen in Gänze zitiert; z. B.: Urteil Bundesverfassungsgericht vom 12. 07. 1994. Bundesverfassungsgericht ebnet den Weg für weltweite Militäreinsätze der Bundeswehr. Aktenzeichen: 2 BvE 3/92, 2 BvE 5/93, 2 BvE 7/93, 2 BvE 8/93. Unter : www.asfrab.de/urteil-bverfg-1271994-2bve-392.html; abgerufen 13. 07. 2016.

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mentsvorbehalt. Demnach muss der Deutsche Bundestag fortan solchen Einsätzen grundsätzlich vorher und mehrheitlich zustimmen. Diese Debatte zur Abstimmung über den Einsatz von Tornado-Kampfflugzeugen als deutsche Beteiligung an den Nato-Einsätzen auf dem Balkan fand am 30. Juni 1995 im Deutschen Bundestag statt. Michael Schwab-Trapp hat diese Debatte ausführlich in seinem Band Kriegsdiskurse besprochen.235 Im Folgenden soll ein grober Überblick über die dort vertretenen Positionen und deren Schlüsselargumente gegeben werden. Der Bundeswehreinsatz, mit dem sich Deutschland von der Politik der Überparteilichkeit bzw. des Supranationalen verabschiedete, wurde von den Befürwortern hauptsächlich mit zwei Argumenten gestützt. Erstens wurde ein militärisches Engagement Deutschlands in Bosnien und insbesondere gegen die Serben damit begründet, dass es sich dabei um Treue gegenüber seinen verbündeten Staaten in Nato und EU handelte. Zweitens kreiste der Gegenstand der Erörterung im Bundestag im Wesentlichen um die Berechtigung – im juristischen wie moralischen Sinn. Gegenstand der Debattenbeiträge war deswegen nur am Rande die Auseinandersetzung mit der faktischen Lage in Bosnien und mit der Frage, wie militärische Mittel dazu stehen. Am Beispiel des Redebeitrags von Außenminister Klaus Kinkel, der als Antragsteller die Debatte eröffnete, wird dies im besonderen Maße deutlich: Klaus Kinkel wirbt für den deutschen Einsatz im Bosnienkrieg, indem er seine Kollegen daran erinnert, dass die Bündnisverpflichtung nicht nur ein ›Wollen‹, sondern auch ein ›Müssen‹ sei – und umgekehrt.236 Er macht deutlich, dass das militärische Engagement für die bosnische Intervention im Rahmen der Nato auch ein »ureigenes deutsches Interesse« betrifft. Es gehe um die »Konsequenz und Glaubwürdigkeit« von und »Mitverantwortung« für etwas, wofür seit der Wiedererlangung der Souveränität 1990 die deutsche Außenpolitik mit diplomatischen, finanziellen und militärischen Mitteln eingetreten war und worüber Konsens unter den Parlamentariern herrsche. Gemessen an diesen »ureigene[n]« politischen Interessen erscheint die Politik, die mit dem Einsatz deutscher Bundeswehr zur Diskussion steht, als politische Notwendigkeit bzw., so wie Kinkel es formuliert, als ein ›Müssen‹. Neben diesen vergegenwärtigten und in der Rhetorik einer Notwendigkeit vorgetragenen nationalen Ambitionen stellt Kinkel eine Vielzahl anderer disparater Berufungstitel für das Engagement der deutschen Armee vor: So gelte es, Mut an sich zu beweisen, nicht zu ›kneifen‹237; Deutschland müsse aus historischer Dankbarkeit den Alliierten 235 Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 113–148; zur Kritik seiner Analyse siehe einleitendes Kapitel dieser Arbeit. 236 Die argumentative Figur ›Müssen-und-Wollen‹ findet sich ebenso in den Redebeiträgen des Bundesverteidigungsministers Volker Rühe und des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSUFraktion des Bundestags Wolfgang Schäuble. 237 So formuliert in: Klaus Klinkel : Deutscher Bundestag, 30. 06. 1995; S. 3955–3959; hier

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gegenüber deren Hilfegesuch nach einem »aktiven Beitrag« nachkommen (wobei Kinkel die russische Position ignorierte); die »internationale[] Ordnung«, Menschenrechte, Europa und Menschlichkeit als für sich stehende positive Werte bedürften des dringenden Schutzes vor der Gewalt mit Gewalt; militärische Gewalt als Hilfe für die Menschen vor Ort sei zu begrüßen, weil die heutigen Deutschen selbst Ergebnisse einer solchen militärischen Gewalt, die 1945 Deutsche besiegte, waren. Dass über diese Titel hinaus die Deutschen sich nun selbst zum ersten Waffengang nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs berechtigen können, zeigt Kinkel daran, dass sich die Deutschen in der »Kultur der Zurückhaltung« bewährt hätten und sie diese allein deswegen nun ablegen könnten. Kinkel wirbt für den Militäreinsatz der deutschen Armee im Ausland mit folgendem Wortlaut: »Jetzt wollen und müssen auch wir Solidarität zeigen. […] Bei der heute zu treffenden Entscheidung ist jedoch nicht nur unsere Solidarität gefragt. Es geht auch um ureigenes deutsches Interesse und um die Konsequenz und Glaubwürdigkeit unserer bisherigen Politik. Deutschland hat von Anfang an die Politik gegenüber dem ehemaligen Jugoslawien in NATO wie in WEU und EU, in der Kontaktgruppe und vor allem auch in der UNO, wo wir im Augenblick die Präsidentschaft im Sicherheitsrat haben, mitgetragen. Daraus erwächst uns Mitverantwortung. […] Meine Damen und Herren, wir waren im Hinblick auf unsere Vergangenheit in der Zeit der Ost-West-Auseinandersetzung und der Teilung Deutschlands in erster Linie auf Verteidigung eingestellt. Die Kultur der Zurückhaltung war gut und wurde weltweit akzeptiert. […] Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, nach der Wiedervereinigung und nach der Erlangung unserer vollen Souveränität wird von uns aber jetzt erwartet, dass wir unseren aktiven Beitrag zum Schutz der internationalen Ordnung und der Menschenrechte leisten, insbesondere in Europa. Der Konflikt im früheren Jugoslawien ist ein europäischer Konflikt. Dort ist im wahrsten Sinne des Wortes die Barbarei nach Europa zurückgekehrt. Wir haben eine politische und moralische Verpflichtung zur Hilfe, auch und gerade im Hinblick auf unsere Vergangenheit. Es waren schließlich die Alliierten, die uns – übrigens unter Verwendung militärischer Gewalt – von der Nazidiktatur befreit und uns den demokratischen Neuanfang ermöglicht haben. Das haben wir zu schnell vergessen. […] Deshalb hat das heutige Votum des Deutschen Bundestags auch Bedeutung über den aktuellen Anlaß hinaus. Es geht nämlich um die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik und um die Glaubwürdigkeit und das Ansehen Deutschlands in der Welt. Man darf über gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht nur dauernd reden, man muß sie auch praktizieren.«238 S. 3956 u. 3957. Unter : http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/13/13048.pdf; abgerufen 06. 04. 2016. 238 Ebd.; S. 3956f.

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Hatte Deutschland mit seiner Anerkennungspolitik gegenüber dem zerfallenden Jugoslawien seit 1991 noch gegen seine Bündnisse agiert und diese Bündnisse offensichtlich als Mittel seiner Politik instrumentalisiert, um damit einen deutlichen Beleg für den weltpolitischen Anspruch des wieder souveränen Deutschlands nach 1990 zu schaffen, so scheint die Selbstverpflichtung Deutschlands gegenüber seinen Bündnissen im Jahre 1995 für die gleichen Zwecke, nämlich international ›Verantwortung‹ zu übernehmen und seine ›Glaubwürdigkeit‹ und sein ›Ansehen‹ zu behaupten, zumindest eine dienliche Verpflichtung, eine gewollte ›Notwendigkeit‹ darzustellen. Dies würde, das macht Kinkel deutlich, keineswegs ideell, sondern praktisch bewiesen. Die parlamentarische Opposition kritisierte weniger die Kontinuität eines verantwortungsbewussten Umgangs Deutschlands mit militärischer Gewalt als den Bruch im bisherigen politischen Selbstverständnis. Der SPD-Vorsitzende Rudolf Scharping gibt zu bedenken, dass sich mit dem von Kinkel u. a. eingereichten Antrag »die deutsche Außenpolitik [ändert]«, wobei »auf einem besonders heiklen Thema eine Grenze [überschritten wird], über deren Einhaltung wir uns bis heute einig waren«.239 Auch der Vorsitzende der Grünen Joseph ›Joschka‹ Fischer attestiert dieser Politik einen Bruch mit der Politik der Nachkriegszeit. Die »historische Zäsur« verortet Fischer nicht in der allgemeinen politischen Agenda vor und nach 1990, nicht in der bereits seit Jahrzehnten existierenden Bündnispolitik an sich. Er sieht sie in den ergriffenen Mitteln ihrer Durchsetzung, nämlich für die deutschen Interessen »notfalls auch […] zu schießen«240. Fischer führt aus, dass das von Regierung und Opposition gemeinsame und geteilte Ziel, den Krieg in Bosnien zu beenden – »Es geht um das Abwägen, was man tun muß, um diesen grauenhaften Krieg beenden zu können. Was kann Deutschland dafür tun?«241 –, diplomatisch, nicht militärisch erreicht werden müsse: »Wir werden doch nach wie vor Verständnis dafür finden, daß unsere Hauptaufgabe als Bundesrepublik Deutschland – dafür bekommen Sie eine sehr, sehr große Mehrheit in diesem Hause – gerade jetzt, 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die ist, zu begreifen, daß gebranntes Kind Feuer zu scheuen hat. Wir werden immer bereit sein, Sie bei humanitären Einsätzen, bei humanitärer Hilfe nachdrücklich zu unterstützen. Aber wir sagen klar nein zu dieser Zäsur, die Sie heute anstreben. Wir wollen keine neue deutsche Außenpolitik, die die Selbstbeschränkung aufgibt, und sei es unter Bündniskriterien. […]

239 Rudolf Scharping: Deutscher Bundestag, 30. 06. 1995; S. 3959–3965, hier S. 3959. Unter : http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/13/13048.pdf; abgerufen 06. 04. 2016. 240 Joseph Fischer : Deutscher Bundestag, 30. 06. 1995; S. 3970–3975, hier S. 3971. Unter : http:// dip21.bundestag.de/dip21/btp/13/13048.pdf; abgerufen 06. 04. 2016. 241 Ebd.

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Für uns als pazifistische Partei ist das gewiß alles andere als ein einfacher Konflikt. Darüber mögen Sie sich amüsieren; das macht nichts. Deutschland, die deutsche Geschichte hat nie am Pazifismus zu leiden gehabt, meine Damen und Herren – im Gegenteil: niemals.«242

Fischer wendet sich in diesem Passus mit Nachdruck und im Verweis auf die besondere nationale Geschichte der Deutschen gegen die Mittel der Intervention, deren Zweck er davon unberührt sieht. Zugleich bemüht sich Fischer darum, den Pazifismus nicht als Verhinderung deutscher Politik erscheinen zu lassen, und behauptet, dass »im Gegenteil« der Pazifismus für die Politik nützlich gewesen sei. Einen solchen Nutzen für die deutsche Politik sehen Scharping und Fischer ausdrücklich gefährdet, wenn sich das militärische Engagement als Misserfolg herausstellen und die deutschen Soldaten bei der Ausübung ihrer Pflicht in »fatale[r] Art und Weise« von eigener nationalen Vergangenheit »unverantwortlich« moralisch gefährdet würden.243 Angesichts dessen, dass zwischen Regierung und Opposition kein Dissens über die Interessen der deutschen Politik zum Ausdruck kam, in die Kampfhandlungen direkt einzugreifen und damit die Interessen des Bündnisses zur Geltung zu bringen, und dass die Kritik und die Bedenken ausschließlich die Mittel und den Verlauf der Durchsetzung betrafen, resümiert Michael SchwabTrapp über die Debatte im Deutschen Bundestag 1995: Im Großen habe »Konsens zwischen Regierung und Opposition« über den Tornado-Einsatz bestanden.244 Mit einfacher Mehrheit wurde im Bundestag der Einsatz von deutschen Tornados im Rahmen der durch die UN genehmigten und der Nato durchgeführten Intervention über Bosnien beschlossen. – Diese Mehrheit wuchs an in dem Moment, als die UN-Schutzzonen wie Srebrenica im August 1995 an serbische Truppen fielen und u. a. Vertreibungen und Massaker bekannt wurden.

3.1.4 Die Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit Der Bosnienkrieg hat die deutsche Öffentlichkeit seit seinem Beginn im Frühjahr 1992 ununterbrochen beschäftigt. Fast wöchentlich gab es in den großen deutschen Zeitungen Berichte zur Lage im Krisengebiet. So befürchtete der Spiegel schon im Januar 1992 mit Blick auf die bevorstehende Anerkennung der Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas durch die westliche Staatenwelt, dass ein Krieg zwischen den verschiedenen Nationalitäten und unter Teilnahme 242 Ebd.; S. 3974. 243 Ebd.; S. 3972; vgl. Rudolf Scharping: 30. 06. 1995; S. 3960. 244 Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 115.

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Kroatiens und Serbiens bevorstehen könnte245 ; im Sommer nach der Anerkennung beschreibt der Spiegel die Lage in Bosnien bereits als »Hölle«.246 Es gab erste Berichte über großflächigen Vertreibungen, Internierungslager und Gräueltaten. Der Spiegel sieht die Gefahr einer militärischen Internationalisierung – und adressiert umgehend an den Westen und die UN den rhetorischen Schlusssatz: »Bleiben Expansion und Terror im nationalen Gewand heutzutage ungestraft?«247 Die Beschäftigung der Öffentlichkeit mit dem Bosnien-Konflikt brach die gesamte Dauer des nach eigenen Bekundungen langwierigen Kriegsverlaufs nie ab. Sie hielt an der kritischen Perspektive gegenüber der westlichen Diplomatie fest, eine Kritik, die je nach Ereignis (auch rhetorisch) anwuchs und fordernder wurde.248 So verständig wie kritisch wurde dabei die westliche Politik mit ihren eigenen Legitimationen des Sezessionskriegs konfrontiert und ihr Handeln daran gemessen. Weil, so die Öffentlichkeit, der Westen das als notwendig wie legitim beurteilte Geschehen des Staatszerfalls mit seiner Anerkennungspolitik, mit Embargos, Flugüberwachung, UN-Missionen, Bombardements oder Waffenlieferungen ungenügend betreute, dem Zerfall keinen friedlichen Verlauf gegeben habe bzw. ihn erst militärisch eskalieren ließ, attestierte sie dieser Diplomatie Unglaubwürdigkeit, Inkonsequenz und Abwesenheit. So nahm sie weniger die getätigte westliche Politik in den Fokus als deren noch mangelnde Tätigkeit. Die Aussage der Slawistin Calic, ›Bosnien‹ sei zur »Chiffre einer extremen Brutalisierung des Krieges – und des schlechten Gewissens der Staatengemeinschaft« geworden249, verweist auf diese zwei, nicht nur thematisch, sondern argumentativ eng verwobenen Diskursstränge der öffentliche Debatte um den Bosnienkrieg vom Frühjahr 1992 bis in den Spätsommer 1995. Denn auf das Leiden der Bosnier zu fokussieren, war weit mehr als ein bloß deskriptiver, weil ein interessierter Blick auf das Kriegsgeschehen. Die Öffentlichkeit stellte in fragloser Unterstellung der legitimen Sezession das illegitime Leiden der muslimisch-bosnischen Kriegspartei heraus, an dem sich der Auftrag des Westens zur Parteinahme für sie quasi vergegenständlichte – wie reziprok das illegitime Agieren der serbischen und kroatischen ›Aggressoren‹ zur Darstellung kam und sich als Feindbild manifestierte. Mit dieser politisierten ›Chiffre‹ wurde zugleich, und das ist der zweite Strang des Diskurses, die Beschwerde über ein Walter Mayr : In den Köpfen ist Krieg.In: Der Spiegel, 4/1992; S. 152–158. O.V.: »Ganz Bosnien ist die Hölle.« In: Der Spiegel, 33/1992; S. 128–133. Vgl. ebd.; S. 133. Gemeint sind Schlüsselereignisse wie die Angriffe auf Sarajevo, die Geiselnahme von Einheimischen oder UN-Soldaten innerhalb von Schutzzonen oder die Eroberung von Srebrenica. 249 Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens; S. 315.

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ungenügendes Handeln der westlichen, insbesondere der deutschen Politik auf dem Balkan formuliert. Der öffentliche Diskurs über den Bosnienkrieg hat sich durch zwei Momente fortentwickelt. Unter den anfänglichen Kriegsberichten finden sich noch viele, die einen überparteilichen Standpunkt einnahmen, die die serbischen, kroatischen und bosnischen Kriegshandlungen gleichermaßen darstellten und gleich beurteilten. Die Berichte wandelten sich zusehends in die Parteilichkeit für die bosnische und gegen die serbische Partei. Das korrelierte weniger mit der politischen Agenda als mit dem Urteil der deutschen Zivilgesellschaft angesichts der vielen Bosnienflüchtlinge, deren Hilfe sie zumeist privat organisierte. Zum anderen wurde der Ton gegenüber der eigenen westlichen Politik im Laufe der Jahre immer härter angesichts eskalierender Opferberichte, sich anhäufender, vereitelter diplomatischer Befriedungsversuche des Westens und dem Vorführen westlicher Interventionen z. B. der UN durch die eine oder andere Kriegspartei. Kriegsberichte und Kriegsreportagen finden sich seit 1992 in großer Zahl in den deutschen Zeitungen. Dazu zählt die Zeit, die mit Siegesparaden der Überlegenen bereits im Herbst 1992 einen umfangreichen Beitrag über Folter und sexuelle Vergehen an bosnischen Frauen durch serbische Verbände veröffentlichte.250 Dazu zählt der Spiegel u. a. mit den, schon durch ihre Titel aussagekräftigen Reportagen »Ganz Bosnien ist eine Hölle«251, Totentanz im Ghetto252, Epizentrum des Todes253 oder »Blut ist geflossen wie Regen«.254 Diese Reportagen stammen von Autoren, welche vornehmlich von den Kriegsschauplätzen auf bosnischer Seite berichteten. Zu ihnen gehören etwa die spätere Kisch-Preisträgerin Renate Flottau oder der Schriftsteller Peter Schneider.255 Und dazu zählen auch Magazine, die wie die Tempo weniger der Tagespolitik, denn dem Life-Style zugeordnet werden konnten, und für die u. a. Otmar Jenner aus dem bosnischen Kriegsgebiet berichtete.256 So wie die Zahl der Reportagen über das Kriegsgeschehen und die Darstellung von Brutalitäten zunahm, spitzte sich in den Kommentaren der Ton der Dringlichkeit und des Unverständnisses zu – und zwar gegenüber den eigenen Helga Hirsch: Siegesparade der Überlegenen. In: Die Zeit, 51/1992. O.V.: »Ganz Bosnien ist die Hölle«. Walter Mayr : Todestanz im Ghetto. In: Der Spiegel, 28/1993; S. 117–120. Clemens Höges: Epizentrum des Todes. In: Der Spiegel, 36/1995; S. 26–32. Renate Flottau: »Blut ist geflossen wie Regen«. In: Der Spiegel, 23/1995; S. 136. Renate Flottau bekam 1999 den Egon-Erwin-Kisch-Preis für ihre ebenso im Spiegel veröffentlichte Reportage »Hau ab, rette lieber deinen Kopf« (Der Spiegel, 15/1999). Diese handelt gleichsam von den jugoslawischen Sezessionskriegen, allerdings vom 1999er Kosovo-Krieg. Peter Schneider und insbesondere seine Reportage Der Sündenfall Europas wird ausführlich im Kapitel 3.2.2 dieser Arbeit besprochen. 256 Zu Otmar Jenner im Kapitel 3.2.1 und 3.2.5 dieser Arbeit.

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politischen Vertretern. Eine Auswahl von Titeln der großen deutschen Tageszeitungen gibt den entsprechenden Eindruck: 1993: Die NATO redet, die Serben schießen257, Wenn Diplomaten versagen258, Friedensplan als Einladung zum Dauerkrieg259, Das Palaver der Zyniker und Unschuldslämmer260 ; 1994: Um jeden Preis?261, Kein Konzept, keine Kontrolle, kein Frieden262, An die eigene Ohnmacht erinnert263, Falscher Auftrag264, Heuchlerisch265 ; 1995: Viel zu langsam266, Im Sumpf267, Markigen Worten zu Bosnien folgen keine Taten268, Die Ehre verteidigen269, Verrat mit Methode270. Diese Kommentare kritisieren die bloße »Verbalentschlossenheit«271 des Westens, die lediglich »symbolische[n] Bombardierungen«272 und die »bizarr[e]«273 Verhandlungsführung; man schreibt, dass die westliche Diplomatie ein »riesiges Weihnachtspaket für Belgrad« biete und dabei den Eindruck zwischen »Zynismus oder kindlicher Unschuld« mache.274 Was in dieser Weise noch nach Enttäuschung und Hilflosigkeit klingt, spricht sich zugleich als ein Anspruch aus. Demnach vergehe sich die Politik des Westens an sich selbst, am Maßstab ihrer Durchsetzung. Ganz frei vom Inhalt der Durchsetzung (und betont ignorant gegen die offen ausgetragene und als solche wahrgenommene Konkurrenz unter den westlichen Staaten innerhalb ihrer verschiedenen Allianzen und Bündnisse275) konzentrieren sich jene Kritiker auf

257 Josef Joffe: Die NATO redet, die Serben schießen. In: Süddeutsche Zeitung, 06. 08. 1993. 258 Josef Joffe: Wenn Diplomaten versagen. In: Süddeutsche Zeitung, 11. 08. 1993. 259 Josef Joffe: Friedensplan als Einladung zum Dauerkrieg. In: Süddeutsche Zeitung, 23. 08. 1993. 260 Josef Joffe: Das Palaver der Zyniker und Unschuldslämmer. Die deutsch-französische Bosnien-Initiative geht an den Realitäten des Krieges vorbei. In: Süddeutsche Zeitung, 29. 11. 1993. 261 O.V.: Um jeden Preis? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. 03. 1994. 262 Jens Schneider: Kein Konzept, keine Kontrolle, kein Frieden. Ohne Druck auf alle drei Seiten wird es im bosnischen Krieg keine Einigung geben. In: Süddeutsche Zeitung, 28. 05. 1994. 263 O.V.: An die eigene Ohnmacht erinnert. In: Süddeutsche Zeitung, 01. 12. 1994. 264 O.V.: Falscher Auftrag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. 10. 1994. 265 O.V.: Heuchlerisch. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 11. 1994. 266 O.V.: Viel zu langsam. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 03. 1995. 267 O.V.: Im Sumpf. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 07. 1995. 268 Jens Schneider: »Das sind keine leere Drohungen.« Markigen Worten zu Bosnien folgen keine Taten. In: Süddeutsche Zeitung, 15. 07. 1995. 269 O.V.: Die Ehre verteidigen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 07. 1995. 270 O.V.: Verrat mit Methode. In: Süddeutsche Zeitung, 22. 07. 1995. 271 O.V.: Im Sumpf. 272 O.V.: Mit Bomben geben den ›Würgegriff‹. In: Süddeutsche Zeitung, 04. 08. 1993. 273 Josef Joffe: Die NATO redet. 274 Josef Joffe: Das Palaver. 275 Als ein Beispiel sei Joffes Kommentar in der Süddeutschen Zeitung genannt. Dort referiert er die verschiedenen Einwände gegen ein Bombardement der Serben durch die Nato von

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den puren Erfolg und sehen ihre Diplomaten als »glücklose[] Vermittler[]«276 und ihre Staaten als »über jedes Maß hinaus gedemütigte Großmächte«277, die sich »immer wieder übertölpeln lassen«278. Der Bosnienkrieg sei für den Westen Blamage279 und Schande280. Als am 30. Juni 1995 der Deutsche Bundestag beschloss, an den UN-Missionen in Bosnien künftig auch mit eigenem militärischen Gerät und später mit eigenem Personal mitzuwirken, nahm daran, so Schwab-Trapp, die große Öffentlichkeit wenig Anteil.281 Die Presse kommentierte indes umgehend positiv. Zum Beispiel schrieb Josef Joffe am folgenden Tag in der Süddeutschen Zeitung und recht fern vom aktuellen Fall des Bosnienkriegs, dass mit diesem Bundestagsbeschluss eine Zeit, in der die Deutschen »letztlich Trittbrettfahrer der Weltpolitik« waren, beendet worden sei.282 Deutschland könne nun potenziell wieder – eben auch militärisch – ›Weltpolitik‹ betreiben. Die judikative Revision einer am weltpolitischen Maßstab gemessen »falschen«, wenngleich bisher »nützlichen Verfassungsinterpretation«, der »Ausbau« der Exekutive und der nun abschließende legislative Akt im Bundestag seien, so Joffe, das ›Mindeste‹, was die politische Normalität verlangt habe. Normalität sei aktive und uneingeschränkte Außenpolitik. So wird das Ende der ›Selbstbeschränkung‹ durch den Tornado-Beschluss von der Süddeutschen Zeitung ausdrücklich deswegen wertgeschätzt, weil es Deutschlands eigener Politik diene: »Zur Minimalverantwortung gehört es, daß sich dieses Land bereit hält für tätige, nicht bloß rhetorische Mithilfe. Das hat es auch schrittweise und bedachtsam getan: mit der Entmachtung einer falschen, wiewohl politisch nützlichen Verfassungsinterpretation, mit dem Ausbau seiner Streitkräfte in Richtung Interventionsfähigkeit, schließlich mit der ›Zäsur‹ in Sachen Tornado-Einsatz. […] Zum Minimalinteresse gehört, daß dieses Land seinen Verbündeten nicht die Hilfe verweigert, die es selbst 40 Jahre lang so reichlich genossen hat. Zumal, da dieses Bündnis noch lange nicht aufhören wird, auch deutschen Interessen zu dienen.«283

Dieser spezifische Inhalt des deutschen Presse-Lobs mag womöglich auf den Grund verweisen, weswegen die breite deutsche Öffentlichkeit relativ unbeteiligt blieb: Es mag sicher dem Ziel der deutschen Politik entsprochen haben, sich

276 277 278 279 280 281 282 283

Seiten des Mitglieds Kanada. Die Kritik beschäftigt sich indes nicht mit dem Einwand Kanadas, sondern bemisst diesen am Agierenmüssen der Nato; Josef Joffe: Die NATO redet. O.V.: Um jeden Preis? O.V.: Verrat. O.V.: In Sarajevo. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. 09. 1994. Vgl. u. a. ebd. Vgl. u. a.: Erich Wiedemann: »Die Schande von Srebrenica.« In: Der Spiegel, 44/1995; S. 160–161. Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 113. Josef Joffe: Deutschlands Abschied von Candide. In: Süddeutsche Zeitung, 01. 07. 1995. Ebd.

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Bosnienkrieg 1992–95. Die parteiliche Stellung im Krieg

um ein Weiteres von Beschränkungen zu befreien; mit der lang erwarteten Wende in der politischen Haltung Deutschland gegenüber der Lage in Bosnien scheint dies die Öffentlichkeit nicht gleichzusetzen. Das entscheidende Ereignis, sowohl für die Politik als auch für den öffentlichen Diskurs, war die serbische Offensive im Sommer 1995, bei der u. a. die UNSchutzzone Srebrenica erobert wurde. Serbische Einheiten hatten sich damit sowohl gegen die Setzung des Westens, einige Regionen den Kriegshandlungen zu entziehen, erfolgreich behauptet, als auch in diesen Gebieten mit besonderer Härte ihre Kriegsziele durchgesetzt. Nach der Übergabe von Srebrenica durch die niederländischen UN-Soldaten an den Führer der bosnischen Serben, Mladic, am 12. Juli 1995 wurden zehntausende bosnische Muslime vertrieben, auch gab es die ersten Nachrichten von Gräueltaten. Diese »Schande von Srebrenica«284 änderte plötzlich und – ohne hier auf die künftigen Ereignisse und ihre politischen Folgen vorzugreifen – in einem ersten Schritt den öffentlichen Diskurs. Das ist an dem unmittelbaren Wandel der Urteile u. a. von Joschka Fischer und Jürgen Habermas zu beobachten: Joschka Fischer schrieb am 2. August 1995, nachdem Informationen über Massenvertreibungen und Übergriffe auf Muslime durch serbische Milizen in Srebrenica und anderen eroberten Schutzzonen verifiziert waren, einen Offenen Brief, der in der tageszeitung veröffentlicht wurde. In diesem sogenannten ›Bosnien-Papier‹ nimmt Fischer den im Bundestag gerade noch dargelegten Vorbehalt gegen den deutschen Militäreinsatz zurück. Nun heißt es, dass mit militärischen Mitteln umgesetzt werden müsse, was mit politischen Mitteln erfolglos geblieben war. Diese »bittere Erkenntnis zwingt deshalb jetzt alle«, so Fischer, »zu einer grundsätzlichen Überprüfung und Neupositionierung ihrer Politik«.285 So stellt Fischer für sich und stellvertretend für alle Linken den pazifistischen Standpunkt in Frage. Den Einsatz, den er im Bundestag auch wegen der deutschen Vergangenheit als »politisch-moralisch« fraglich bezeichnet und abgelehnt hatte, bürge nun aber angesichts des Kampfs gegen einen »neuen Faschismus« für die »moralische Seele« der deutschen Linken: 284 Erich Wiedemann: Die Schande. 285 Joschka Fischer : Bosnische Konsequenz: In: die tageszeitung, 02. 08. 1995 [in Auszügen]. Der Offene Brief ist im Internet in voller Länge zugänglich: Joschka Fischer : Die Katastrophe in Bosnien und die Konsequenzen für unsere Partei Bündnis 90/Die Grünen. Ein Brief an die Bundestagsfraktion und an die Partei. Unter : www.oeko-net.de/kommune/ briefe/kom201.htm; abgerufen 05. 04. 2016. Die Replik auf Fischer von seinen Partei-Kollegen ist ebenso als Offener Brief verfasst und unter der titelgebenden Frage Wohin führt die Forderung nach einer militärischen Interventionspflicht gegen Völkermord? in vollem Umfang zugänglich unter : Kerstin Müler u. a.: Wohin führt die Forderung nach einer militärischen Interventionspflicht gegen Völkermord? Ein offener Brief an die Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen. Unter : www.oeko-net.de/kommune/briefe/kom202.htm; abgerufen 05. 04. 2016.

Bosnien-Herzegowina, deutsche Diplomatie und Öffentlichkeit

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»Wo hört die Nachgiebigkeit gegenüber einer Politik der Gewalt auf ? Läuft die deutsche Linke jetzt nicht massiv Gefahr, ihre moralische Seele zu verlieren, wenn sie sich, egal mit welchen argumentativen Ausflüchten, vor diesem neuen Faschismus und seiner Politik der Gewalt wegduckt?«286

Über den gewandelten Standpunkt infolge ›Srebrenica‹ äußerte sich in einem Interview mit dem Spiegel auch Jürgen Habermas. War er zuvor ein Kritiker insbesondere der deutschen (Anerkennungs-)Politik auf dem Balkan der frühen 1990er Jahre, so sei »erst nach Srebrenica« die »Alternative unausweichlich geworden«, militärisch zu intervenieren.287 Wie für Fischer scheint für Habermas die Wahl zwischen ›bellizistischem‹ und »nicht-bellizistische[m] Engagieren[]« eine Frage der gebotenen Mittel zu sein, die sich an der Frage, was durchgesetzt gehöre und als Ziel wiederum fraglos unterstellt ist, beweisen muss.288 Ende August 1995 gilt als verifiziert, dass es in Srebrenica infolge der Eroberung Mitte Juli unter Mladic auch zu Massakern an mindestens 7.000 männlichen, muslimischen Bosniaken gekommen war. Michael Schwab-Trapp schreibt über die Effekte auf die öffentliche deutsche Debatte, Srebrenica sei das »konsensbildende[] Ereignis« gegenüber Bosnien und Serbien geworden.289 Gleiches attestiert Marcus Hawel in seiner Studie Die normalisierte Nation, wonach Srebrenica einen »mehrheitsfähigen Bewußtseinswandel« bewirkte.290 In grundlegender Übereinstimmung darüber, dass der Zerfall Jugoslawiens nach 1990 notwendig gewesen sei, die Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Gebiete rechtens sowie das Engagement der westlichen Bündnisse in das Geschehen in Bosnien seit 1992 fraglos und ureigene ›Verantwortung‹, war mit Srebrenica der letzte entscheidende Streitpunkt unter deutschen Politikern, ob Deutschlands militärischer Beitrag für den Nato-Einsatz in Bosnien im letzten Schritt zu rechtfertigen war, hinfällig. In 286 Ebd. 287 Jürgen Habermas: »Ein Abgrund von Trauer«. Interview mit dem Philosophen Jürgen Habermas über die Intellektuellen und den Balkan-Krieg. In: Der Spiegel, 32/1995; S. 34–35, hier S. 34. 288 Ebd.; S. 35. 289 Schwab-Trapp betitelt das entsprechende Kapitel mit Fragezeichen: ›Srebrenica – Ein konsensbildendes Ereignis?‹ Er sieht nicht in der Absicht der Debatte, sondern scheinbar in der Plausibilität bzw. Glaubwürdigkeit das zu Diskutierende. Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 149–210. 290 Siehe das Unterkapitel ›Bosnien/Herzegowina: Das Massaker von Srebrenica – Bewußtseinswandel der Grünen und Sozialdemokraten‹ in: Marcus Hawel: Die normalisierte Nation. Zum Verhältnis von Vergangenheitsbewältigung und Außenpolitik. Dissertation, Universität Hannover 2006; S. 209–212, hier S. 210. Unter : http://edok01.tib.uni-hannover. de/edoks/e01dh06/509470505.pdf; abgerufen 05. 04. 2016. Das Buch erschien ebenso in einer Druckfassung mit leicht verändertem Titel und abweichender Seitenzählung; es wird im Folgenden jedoch die online-Ressource zitiert; ders.: Die normalisierte Nation. Vergangenheitsbewältigung und Außenpolitik in Deutschland. Hannover: Offizin 2007.

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Bosnienkrieg 1992–95. Die parteiliche Stellung im Krieg

den politischen Fraktionen wie in der Öffentlichkeit fand der kommende Kampfeinsatz große Zustimmung. Am 31. August 1995 bombardierte die Nato unter Führung der USA serbische Stellungen und erzwang den Friedensschluss. Josef Joffe resümiert nach jahrelanger kritischer Kommentierung der ›Abwesenheit‹ der westlichen Politik auf dem Balkan: Der Tiger hat (doch) Zähne: »Zum erstenmal hat die NATO ihre Übermacht im Bosnienkrieg professionell und militärisch sinnvoll eingesetzt: das ist eine Zäsur, womöglich auch der Rubikon. Die zehn Mal davor waren Eingriffe der symbolischen Art. Hier wurden ein paar Zelte, dort ein paar Alt-Flugzeuge attackiert. Diese Nadelstiche sollten Signale setzen, denen freilich die Kraft der Entschlossenheit fehlte. Das Bündnis hat ein bißchen bombardiert, die Serben haben ein bißchen zurückgezuckt. Bald aber haben sie gemerkt, daß die Zerstrittenheit des Westens, die Apathie Amerikas und die Quasi-Schutzmachtrolle der Russen mächtigere Faktoren abgaben als die Wut über den täglichen Mord und die ›ethnischen Säuberungen‹. Also haben sie Srebrenica und Zepa – beides UN-Schutzzonen – überrollt. Und die Weltgemeinschaft rang die Hände und schwieg. Gestern hat die NATO die Fehler der Vergangenheit nicht zum elftenmal wiederholt. Es war ein Angriff wie aus dem Bilderbuch.«291

In den ersten Jahren des Jugoslawienkriegs schienen die deutschen Schriftsteller und Intellektuellen die Stellung der deutschen Politik zu den Geschehnissen auf dem Balkan seit 1991 weitgehend nachvollzogen zu haben; im gewissen Sinn hatten sie sich diese supranationale Haltung Deutschlands, sich für die Sezession, aber nicht in ihr zu engagieren, sogar gegen etwaige Einwände und mit eigenen, zum Teil bildhaften Rhetoriken plausibel gemacht. Selbstbewusst hatte etwa Baier an der Intellektualität per se oder Enzensberger am Gegenstand der ›Stammeskriege‹ erörtert, dass eine ideelle wie praktische Einmischung weder zu wünschen noch objektiv machbar sei. – Im Hinblick auf den Wandel der deutschen Politik nach 1993 und den Wandel des öffentlichen Urteils, nun aktiv in den Krieg einzugreifen und dabei Partei für Bosnien und gegen die bosnischen Serben zu ergreifen, stellt sich die Frage, wie nun darauf die deutschen Intellektuellen reflektierten. Haben sie sich in den öffentlichen Diskurs, der zunehmend Richtung Krieg und zwar gegen Rest-Jugoslawien bzw. Serbien tendierte, nahtlos eingebracht?

291 Josef Joffe: Der Tiger hat (doch) Zähne. In: Süddeutsche Zeitung, 31. 08. 1995; Herv. S.H.

Unmöglichkeit gegen eine Parteinahme. Die Debatte der deutschen Intellektuellen

3.2

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Über die Unmöglichkeit gegen eine Parteinahme im Konflikt. Der Bosnienkrieg 1992–95 und die Auseinandersetzung zwischen deutschen Intellektuellen

Die bisherigen Stellungnahmen von deutschen Intellektuellen zum Jugoslawienkrieg in den Jahren nach 1991 waren äußerst begrenzt, im literarischen Feld blieb er quasi ohne Folgen. Wohl auch deshalb schenkte die Fach- und Sekundärliteratur dieser ›Übergangszeit‹ der Formierung eines deutschen ›Kriegsdiskurs‹, wie Schwab-Trapp es nennt, kaum Aufmerksamkeit. Anlässlich des westlichen bzw. deutschen Engagements im Bosnienkrieg steigt die Zahl der Äußerungen deutscher Intellektueller, es entstehen erste literarische Arbeiten und schließlich findet dies auch Beachtung in der Wissenschaft. Maßgebend für diese Wende war neben dem Kriegsverlauf, der im Massaker von Srebrenica einen aussagekräftigen Höhe- und Wendepunkt gefunden hatte, auch die veränderte Stellung der deutschen Politik zu dem Konflikt. Statt Über-Parteilichkeit zum Krieg verfolgte sie nun Parteilichkeit im Krieg. Diese erste militärische Teilnahme Deutschlands in einem Krieg nach 1945 schlägt sich in der deutschen Literatur, die sich eben zu Teilen noch weiterhin als moralisch-kritische Aufsicht über die Politik im Lichte der Vergangenheit begriff, zuerst im non-fiktionalen Bereich nieder. Sie beschränkte sich maßgeblich auf Reiseliteratur und Reportage. Dicht am öffentlichen Diskurs hinterfragten sie die kursierenden Legitimationen und prüften deren Gültigkeit durch Anschauung. In dem Genre der Reiseliteratur ist die wohl bekannteste Veröffentlichung zum Jugoslawienkrieg zu verorten, Peter Handkes Winterliche Reise resp. Gerechtigkeit für Serbien. Die Frage der (glaubhaften) Legitimität wurde daneben auch im essayistischen Genre debattiert, wofür hier exemplarisch das Kursbuch 126 erörtert wird. Und schließlich reflektiert auch die erste literarische Bearbeitung, der Roman Schußangst von Dirk Kurbjuweit, die Medienöffentlichkeit, findet aber eine Legitimität des deutschen politischen Handelns ganz emanzipierter Art, nämlich im Wesen des Menschen.

3.2.1 Der erlebte Krieg wider alle Partei in ihm. Otmar Jenner: Mörderischer Druck (1994) Einerseits noch ganz von der für die deutschen Stellungnahmen nach 1991 charakteristischen Haltung bestimmt, die die Sezession und das Kriegsgeschehen als solche und in allgemeiner Anerkennung wie in partikularer Distanz zu den Parteien rechtfertigen; andererseits damit schon deutlich und unmittelbar auf das faktische Kriegsgeschehen des Bosnienkriegs der mittleren 1990er Jahre

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bezogen und den Perspektivwechsel, der sich in Politik und Öffentlichkeit durchzusetzen begann, antizipierend – für diese Phase des Übergangs ist Otmar Jenners Reportage Mörderischer Druck (1994) ein exzeptioneller Text. Denn in ihm zeigt Jenner die notwendige wie legitime Existenz des gesamten Konflikts an einer der Kriegsparteien in dem Konflikt auf, ohne aber für diese speziell Partei zu ergreifen. Dabei ist ihm sein Blick zur literarischen und dabei in sich äußerst widersprüchlichen Methode geronnen. Jenner arbeitete neben Maxim Biller, Eckhart Nickel und Christian Kracht als Reporter für die Zeitschrift Tempo. Für diese war Jenner zwischen 1991 und 1998 als (Kriegs-)Reporter auch im ehemaligen Jugoslawien unterwegs. 1996 veröffentlichte er auch auf Grundlage dieser Reisen den Roman Sarajevo Safari292. Danach zog sich Jenner aus dem journalistischen und schriftstellerischen Bereich zurück. Zu den Reportagen aus den jugoslawischen Kriegsgebieten, die allesamt zwischen 1991 und 1994 entstanden, gehören neben Mörderischer Druck aus Sarajevo (1994) Die Macht der Gewohnheit aus Kroatien (1991) und Familienfehde aus dem Kosovo (1993).293 Für die Reportage Mörderischer Druck war Jenner im April 1994 in das junge und kriegszerrüttete Bosnien-Herzegowina gereist. Dort hatte er sich in die seit 1992 von serbischen Milizen belagerte Hauptstadt Sarajevo begeben. Diese war wegen einer gerade beschlossenen Waffenruhe zugänglich geworden. Jenners persönliche Konfrontation mit dem Kriegsgeschehen erscheint für den deutschen Diskurs (es sei an Baier und Enzensberger erinnert und bereits auf Peter Schneider und Handke im Folgenden verwiesen) ungewöhnlich. Denn für den gemeinhin vertretenen deutschen supranationalen Standpunkt scheint die besondere Hinwendung zu einer der Kriegsparteien unnötig, gar kontraproduktiv. Wofür also steht sein Betroffenmachen, welchen Ertrag hat dieser Perspektivwechsel? Nachdem die Reportage mit einer Passage eröffnet wird, in der das kommende Erlebte in konzentrierter, bildreicher Weise bereits vorweggenommen wird294, beginnt nach einem Abschnittswechsel die chronologische Schilderung der Ereignisse folgendermaßen: »[…] ›Willkommen im 21. Jahrhundert‹. Bei der Ankunft in Sarajevo, auf der Fahrt vom Flughafen in die Altstadt, wird man schon so begrüßt und keiner kommt daran vorbei. In mannshohen weißen Buchstaben 292 Auf Jenners Roman wird im Kapitel 3.2.5 ausführlicher eingegangen. 293 Die Zeitschrift Tempo hat ihren Vertrieb 1996 eingestellt; ein Archiv existiert meines Wissens nicht, das Datum der Erstveröffentlichung konnte ich nicht recherchieren; diese wie die beiden anderen Reportagen sind schließlich in einem Sammelband veröffentlicht worden. Diese Fassung konnte ich aus diesen Gründen nicht textkritisch abgleichen. Otmar Jenner : Mörderischer Druck. In: ders.: Berichte vom Ende der Welt. Von Bagdad zum Prenzlauer Berg. Berlin: BasisDruck 1995; S. 47–68. 294 Ebd.; S. 47–49.

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leuchtet der Spruch auf der Heckenschützenallee von einer Hauswand. […] Und auch die Inschrift war nicht immer die gleiche. Bevor das Haus getroffen wurde, lautete sie: ›Willkommen in der Hölle‹. Nun ist die Hölle ausgebrannt. Die Zeiten haben sich auch irgendwie geändert. Und ohne, daß man weiß, wie einem geschieht, wird man im 21. Jahrhundert willkommen geheißen. Anfangs fand ich das seltsam. Dann streckte das 21. Jahrhundert in Gestalt seines Zeitgenossen Damir die Arme aus und nahm mich in Empfang und das war wunderbar. ›Solange du nicht dazugehörst, erfährst du nichts, irrst wie ein Tölpel durch die Stadt […]. Weil ich nicht will, daß du Schwachsinn schreibst‹, sagt er und meinte, ich solle ihn Papa nennen.«295

Nicht er selbst beschließt es, sondern von einem Bewohner Sarajevos wird es Jenner angetragen, dass, wenn man »Schwachsinn« meiden und begreifen wolle, die einzige Haltung das ›Dazugehören‹ ist. Was denn unter dieser erkenntnistheoretischen Bedingung der Betroffenheit erkannt werde, scheint nichts Geringes zu sein, sondern neben Damirs gegenwärtigem Leben das ganze Sarajevo, die ›Hölle‹ des Kriegs sowie das kommende ›21. Jahrhundert‹ zu umfassen. Jenner fügt sich im Folgenden in die Umstände von Sarajevo und in die Lebenssituationen einer Vielzahl von Menschen. Er fügt sich dem in einem Maße, dass er von nun an nur noch als passive grammatische Person auftritt. Zwar als Person unterwegs, dabei aber als neutrales Medium, gibt Jenner ein umfangreiches und inhaltlich erstaunliches ›Abbild‹ der Lage; drei Beispiele: Edin, ein junger Mann, berichtet von seinem Dienst in der Armee in den Bergen oberhalb von Sarajevo. Im selben Moment berichtet er, dass er diesen Krieg nicht reflektierte und dieser ihm politisch wie moralisch »egal« war. Unterschiedslos tat er nicht nur dem Gegenüber, sondern auch seiner Selbst Gewalt an.296 Mirella ist eine junge Frau, die aus einer in Sarajevo gebürtigen Familie stammt. Jenner beschreibt, wie sie – neben anderen Bewohnern – am Krieg seelisch wie körperlich massiven Schaden nimmt. Ihre alten Lebenspläne werden zunehmend vereitelt. Mirella versucht, der existentiellen Angst und der Desillusionierung auf verschiedene Weisen zu entkommen, aber weder Drogen noch rauschhafter Tanz können dies leisten. Obwohl Mirella und ihren Freunden das Angebot gemacht wird, dieser Notlage ins Ausland zu entfliehen und ein friedliches, vielleicht sogar erfüllendes Leben anzufangen, schlagen sie es aus.297 Drittens, wie in den Biografien wird von Leben und Krieg, Lebensbehauptung und Selbstzerstörung, Drogenkonsum und Kriegsgeschehen aller Figuren nicht ›nur‹ berichtet: Die verschiedenen, sogar gegensätzlichen Momente erscheinen 295 Ebd.; S. 49f. 296 Ebd.; S. 55–57. 297 Die Geschichte von Mirella nimmt einen Großteil der Reportage ein; ebd.; S. 58–63, S. 67f.

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auf der Ebene der Stilistik, der Figurenrede wie der neutralen Beschreibung miteinander vermittelt.298 Diese drei Beispiele geben detailreich und zum Teil in direkter Rede der Personen Auskunft über das Leben in Sarajevo während der Kriegsbelagerung. Jedoch ist das Bild, das hier vermittelt wird, mehr als die Summe seiner Teile. Das Bild ergibt sich zuerst auf der Ebene des textlichen Arrangements und zwar personell, thematisch und stilistisch: Die geschilderten Momente einmal als Ganzes betrachtet, liefert es das Porträt einer Stadt voller Widersprüchlichkeiten. Dass die Begebenheiten als Gegensätze aufeinander verweisen – Überlebenswille und selbstzerstörerischer Drogenkonsum, Feind und Opfer, Krieg und Frieden, vor Ort zugrunde gehen und ihn nicht verlassen wollen usw. –, ergibt sich mitnichten aus ihnen selbst. Vielmehr ist dem ein von ihnen getrennter, sie erst aufeinander verpflichtender Standpunkt unterstellt. So erscheint das textliche Arrangement auf eine zwar von Jenner einerseits gar nicht unmittelbar zu beobachtende und andererseits so auch nicht ausgesprochene, jedoch eine als anschauliche Wirklichkeit inszenierte theoretische Bestimmung des Kriegs: Das zu Beobachtende als sich aufeinander beziehende Gegensätze dargestellt, lässt dieses kriegerische Sarajevo zu seinen Bewohnern in einem tödlichen Widerspruch erscheinen und zugleich darin als ihr Wesen aufgehen. Krieg ist somit ihrer aller Schaden, darin aber zugleich nichts, was ihnen fremd ist. Diese kriegerische Situation ist Ausdruck des paradoxalen Wesens dieser Menschen, sie hat ihren Grund in ihnen. Krieg aus diesem Paradox zu erklären, ist der Reportage so wichtig, dass sie diese Lesart nicht (nur) der analytischen Fähigkeit der Rezipienten überlässt. Umgekehrt erscheint das vom fühlenden Erzähler unmittelbar und authentisch Erlebte als Beleg einer These, die von den Bewohnern Sarajevos, darunter von der für den brutalen Verlauf des Bosnienkriegs maßgeblichen politischen Figur Radovan Karadzic, selbst ausgesprochen wird. Dem Bericht über Sarajevo ist ein entsprechender historischer ›Exkurs‹ vorangestellt: »Ich kam in den letzten Apriltagen 1994 nach Sarajevo und war zum ersten Mal im Herzen Europas, wie Damir und andere Vaterfiguren ihre Stadt gern mit stolzgeschwellter Brust nennen. Das Herz ist stark und unwahrscheinlich tapfer, sagen sie. Manchmal stand es schon still, aber das waren nur Sekunden angesichts der Ewigkeit. Das Leben ging weiter, heftig und aufgeregt, sein Puls ist der Rock’n’Roll des Balkan. […] Auf jeden Fall hat es in Sarajevo schon immer geknallt, gekracht, gerummst. Im ersten Weltkrieg, im zweiten und als die Stadt zur Drogenmetropole Jugoslawiens aufstieg, sich in den siebziger und achtziger Jahren zwei Generationen von Jugendlichen Heroins in die Adern schossen, schien es nur eine Frage der Zeit, wann hier mit 298 Vgl. ebd.; S. 55.

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heftigeren Geschützen rumgeballert wurde. So sahen es wenigstens Radovan Karadzic und Vojislav Seselj. Seselj hatte sich als Soziologe in Sarajevo habilitiert, war Professor an der Universität geworden und machte Erhebungen über das soziale Wesen der Bewohner der Stadt. Die Ergebnisse müssen ihn verwirrt haben, jedenfalls gab er sie nicht bekannt. […] Sarajevo ist eine Selbstschußanlage. So was ähnliches sagt Damir noch heute, wenn er angeballert ist. […] Wie soll man in so einer Lage auch nüchtern bleiben? Wer kann das schon? Freiwillig kaum jemand. Und weil sich daran trotz Waffenstillstand nie wirklich was geändert hat, ist es vollkommen egal, ob heute Dienstag ist oder Donnerstag, noch Mai oder schon Juni […]. Im Rausch geht die Sonne auf, sein Ende ist immer der Untergang. Danach werden die Tage bemessen, die Wochen, die Monate, vielleicht sogar Jahre, in lichte Zeiten und finstere. So gesehen ist gestern wie heute, wird morgen wie übermorgen.«299

Die vitale Negation Sarajevos, die Jenner als Abstrakt-Allgemeines unmittelbar am Konkreten beobachtet hat, wird nun mittels Damir, Karadzic und Seselj als Begriff eingeholt. Sie belegen, dass sich die Stadt 1994 in einer Lage befindet, die als politische Begebenheit keineswegs nur über sie hereingebrochen ist, sondern in einer Lage, die im Wesentlichen ihr selbst entspringt. Krieg habe es hier deswegen schon immer gegeben und werde es immer geben, Sarajevo sei als »soziale[s] Wesen« eben ›verwirrend‹ und andersherum durch keine Politik zu befrieden; kurz: »Sarajevo ist eine Selbstschußanlage«.300 Indem Jenner dem Kriegsgeschehen in Sarajevo scheinbar distanzlos nahe kommt, ›dazugehört‹, hat er mitnichten die überparteiliche Position, die den deutschen Diskurs bisher deutlich bestimmte, revidiert und ist darüber genauso wenig zu einem Vertreter einer der Kriegsparteien geworden. Im Gegenteil scheint der deutsche Blick auf den Krieg an der Sache des Kriegs nicht nur theoretisch behauptet (wie bei Enzensberger), sondern nun durch Erleben, das grammatisch wie stilistisch sogar noch sein ›Ich‹ meidet, objektiviert. Was da ›objektiv‹ vorgestellt wird, steht, wie gesehen, offenkundig polemisch gegen Beobachtbares. Das Urteil entspringt nicht dem Gesehenen, es erscheint als fertiges an das Geschehen herangetragen und gegebenenfalls sogar gegen das Beobachtete sinnfällig gemacht. In diesem Fall korreliert es zudem in eigentümlicher Weise mit dem sich ändernden Urteil des politischen Diskurses in Deutschland – dieses wendete sich nun vor allen anderen Kriegsparteien speziell der bosnischen Partei zu. Die Reportage nicht nur als Text, sondern als Verfahren verstanden, nämlich mittels Betroffenheit zu einem Urteil über eine Sache ›vorzudringen‹, hat in Jenners Fall eine besondere Bedeutung. Es ist die quasi poetologische Grundlage des politischen Selbstverständnisses des ›New Journalism‹, wie Bernhard 299 Ebd.; S. 50f., Herv. S.H. 300 Ebd.; S. 59, Herv. S.H.

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Pörksen zumindest für dessen deutsche Vertreter herausstellt. Das Programm der Tempo-Reportagen versteht sich dabei keineswegs affirmativ, sondern im Gegenteil zuvorderst als Kritik: Die junge ›Journalistengeneration‹ der frühen 1990er Jahre richtete sich in erster Linie gegen die politische, moralische und theoretische Sicherheit, in der die etablierten älteren Kollegen berichteten. Die besondere Abneigung der Jungen galt dem »›festgefahrene[n], stromlinienförmige[n] Denken der Altlinken‹«.301 Ihr Urteil wurde als falsche Selbstsicherheit verpönt und als Vorurteil disqualifiziert. Diese Praxis konfrontierten die Vertreter des ›New Journalism‹ jedoch nicht auf inhaltlicher Ebene, sondern auf der Ebene der Methode und setzten jenem inhaltlichen Vorurteil just ihr methodisches Vorurteil entgegen. Demnach werde man der Wirklichkeit in seiner Darstellung gerecht, indem man sich zuerst deren Oberfläche widme und sich ihr mittels Betroffenheit aussetze.302 Dieses ›radikal subjektive‹ Verfahren, durch »Ich-Erleben« tatsächliches Wissen zu generieren, habe sich als »praktizierte Medienkritik« verstanden, die allerdings, so kontert Pörksen wohlwollend gegen den politischen Anspruch der ›Neuen Journalisten‹, auf einer »erkenntnistheoretisch naive[n] Objektivitätskritik« basierte.303 Die (vielleicht gar nicht naive) Leistung dieser gewissermaßen zur Methode des ›New Journalism‹ geronnenen Antikritik lässt sich in den Kriegsreportagen Jenners und besonders in Mörderischer Druck zeigen: In der Reportage sind die Gründe des Bosnienkriegs mit den Resultaten und Effekten desselben kurzgeschlossen und verwechselt; der Krieg erscheint in erster Linie durch den Verweis auf seine Existenz gerechtfertigt. Was die ›Oberfläche‹ als Gründe liefert, die durch ›Betroffenheit‹ nicht etwa relativiert, sondern verbürgt erscheinen304, ersetzt die theoretische Plausibilität und polemisiert im gewissen Sinn gegen sie. So wird zwar der Krieg weder politisch und sicher nicht moralisch gerechtfertigt, die ›guten‹ Gründe für ihn sind jedoch methodisch gestiftet. 301 So wird der Tempo-Mitbegründer Markus Peichl zitiert in: Bernhard Pörksen: Die Tempojahre. Merkmale des deutschsprachigen New Journalism am Beispiel der Zeitschrift Tempo. In: Joan Kristin Bleicher u. Bernhard Pörksen (Hg.): Grenzgänger. Formen des New Journalism. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004; S. 307–336, hier S. 309. 302 Pörksen führt dies kurz an den methodischen Grundlagen des ›New Journalism‹ aus, wie sie der US-amerikanische Journalist Tom Wolfe formuliert hatte; ebd.; S. 320. 303 Die Stichwörter von den Seiten: ebd.; S. 323, 308 u. 327. 304 Dass sich in der radikalen Subjektivität Wirklichkeit und nicht das Ich beweise und auf das ›Ich‹ deswegen verzichtet wird, zeigen die Reportagen Jenners praktisch. In der Einführung seines Reportagenbands Berichte vom Ende der Welt schreibt Jenner selbst, dass er (bis auf sehr wenige Ausnahmen) auf das Personalpronomen ›Ich‹ verzichtet. Er wolle so zum einen mit seinem journalistischen Anspruch den Journalismus hinter sich lassen, zum anderen ist er der Überzeugung, dass nur der ›Ich‹ benutze, der sich selbst thematisieren wolle. Otmar Jenner : Einführung. In: ders.: Berichte vom Ende der Welt. Von Bagdad zum Prenzlauer Berg. Berlin: BasisDruck 1995; S. 7–15, S. 15.

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Dieser Fall des ›legitimatorischen Zirkels‹ in Jenners Mörderischer Druck beinhaltet indes noch eine, oben bereits ausgeführte und für die Frage dieser Arbeit relevante Spezifik: Der Bosnienkrieg erfährt die Bestimmung, die sich nicht aus dem Beobachteten unmittelbar ergeben kann, aber passend zu der Legitimation steht, mit dem der bisherige deutsche Diskurs die Sezessionskonflikte bedacht hatte305. Dass der Krieg so notwendig wie überparteilich zu betrachten sei, erhält hier in Form der nicht-fiktionalen Reportage den Status von Objektivität. Und so erscheint die Legitimation des Westens für seine Politik als Bestimmung der Sache vor Ort und zwar in unmittelbarer, vor-politischer Weise. Der Umgang Deutschlands und des Westens mit den Konflikten sei demnach passiv, re-aktiv und dahingehend der Kritik entzogen306 – und ist dabei noch nicht der verobjektivierte Auftrag zur Intervention, für die in den folgenden Reportagen Sarajevo bzw. das bosnische Opfer steht. Diese Verobjektivierung des Auftrags zur Intervention leistet jedoch genau dasselbe Verfahren, das Erleben und das Anschaulichwerden.

3.2.2 Aus Betroffenheit parteilich für Bosnien … Peter Schneider: Der Sündenfall Europas (1994) Jenners Reportage antizipiert den Standpunkt, den die deutsche Politik noch 1994 praktisch einnahm. Es galt, sich militärisch aus den Sezessionskonflikten herauszuhalten. Rhetorisch hatte die Politik schon einen Perspektivwechsel vollzogen. Die politischen Verantwortlichen bekundeten, sich um das schnellstmögliche Ende des Kriegs zu bemühen. Die Sanktionen gegen die serbische Kriegspartei durch die westlichen Staaten deckte sich zwar im Resultat, wenn auch nicht im Zweck mit den Stimmen der Öffentlichkeit. Diese hatte angesichts der Geschehnisse in Bosnien (es sei an Calics »Chiffre der extremen Brutalisierung« des Kriegs erinnert307) ein Eingreifen auf Seiten der Bosnier immer ausdrücklicher gefordert. Eingreifen in den Krieg oder nicht? – Mit einem gewissen Groll auf das dahingehend noch unentschiedene Urteil in der deutschen Öffentlichkeit zur Lage in Bosnien-Herzegowina und zur einsetzenden Fluchtbewegung der Kriegsbetroffenen in den Westen, die vom Wohlwollen derselben Öffentlichkeit abhängig werden würde, hatte Robert Gernhardt reagiert. In seinem Gedicht 305 Zu dieser Verwandlung bei den Vertretern des New Journalismus siehe Pörksens Unterkapitel ›Vom Beobachter zum Teilnehmer. Varianten der Identifikation‹; Bernhard Pörksen: Die Tempojahre; S. 323–329. 306 Pörksen betont zum einen die Leistung dieses Verfahrens, eigene Urteile als Fakten darzubieten; zum anderen löst er dies in der nicht eindeutigen Trennung von Fiktion und Fakt auf; ebd.; S. 331–333. 307 Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens; S. 315.

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Volkes Stimme, 1994 versuchte Gernhardt das Argument, Bosnier müssten sich an ihrem eigenen Ort um ihre Angelegenheiten kümmern so wie die Deutschen sich hier um ihre, zu kontern: »Da ist auf einmal der Westen gefragt: ›Helft uns, wir wollen nach Deutschland!‹ Das hören wir uns vollkommen ruhig an Und erwidern dann: ›Jetzt mal ehrlich Wer hat die Suppe denn eingebrockt – […]? Wir haben hier auch schon mal Suppen versiebt, aber die haben wir vor Ort ausgelöffelt. Wir haben hier auch schon mal Scheiße gebaut – wollten wir deshalb gleich nach Bihac?‹«308

Der Konter Gernhardts erscheint rhetorisch. Die Möglichkeit, ihn historisch mit der Rolle der Deutschen im Zweiten Weltkrieg auf dem Balkan auszulegen, ist gegeben – aber in keiner spezifischen Lesart nahegelegt. Was unstrittig zu sein scheint, ist die Emphase, mit der sich Gernhardt ›Volkes Stimme‹ verweigert und statt ihrer »vollkommen ruhig« erklärten Nichtzuständigkeit das Gegenteil einfordert. Emphase und Titel von Gernhardts Zeitgedicht geben kund, dass sich die Forderung, sich politisch mit dem Krieg zu beschäftigen, so sehr im Recht sieht, wie er zugleich kund tut, dass diese Position diskursiv randständig ist und praktisch ohne Folgen sein wird. Ganz ähnliche Auskunft über den Stand des Diskurses gibt der Schriftsteller Peter Schneider mit seiner Reportage Der Sündenfall Europas. Diese war im Februar 1994 als eine von mehreren Berichten aus dem belagerten Sarajevo im Spiegel erschienen. Schneider kritisiert dort nicht nur die zögerliche, gar abweisende Stellung der deutschen Regierung, sondern auch die deutsche Öffentlichkeit, welche sich für das Geschehen nur mäßig interessiert oder sich willfährig zeigt. Wie Jenner geht auch Schneider nach Sarajevo, wie Jenner benutzt Schneider das Genre und das Verfahren der Reportage – aber mit just konträrem Resultat: Der Krieg erscheint den Bosniern mitnichten gemäß, sondern als illegitime Bedrängnis. Wie vollzieht sich das? Es sei am Ende der Reportage angefangen: Schneider beabsichtigt in aller Deutlichkeit, die westlichen Staaten und darunter Deutschland von dem 308 Robert Gernhardt: Volkes Stimme, 1994. In: ders.: Gesammelte Gedichte 1954–2006. Frankfurt/M.: Fischer 2008; S. 554f. Dieses Gedicht erschien erstmals 1997 in Lichte Gedichte.

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Standpunkt abzubringen, in die Kriegshandlungen nicht oder, seiner Auffassung nach, nur halbherzig einzugreifen. Die von der Politik gegebenen Begründungen dafür, sich zu enthalten, offenbarten sich als bloße Legitimationen; militärische Aktionen, die nur angedroht werden, bewiesen politische Unehrlichkeit oder gar »Zynismus«; das aktuelle Waffenembargo schädige die Selbstverteidigung der Bosnier, stärke aber die Serben.309 – Schneider resümiert recht umfassend den Unwillen der politischen Vertreter des Westens, kriegsentscheidend zu intervenieren. Er geht den Gründen für dieses faktische Handeln seitens z. B. der Nato jedoch nicht nach. Das negative Interesse am Zerfall Jugoslawiens und die verschiedenen, sogar konkurrierenden politischen Berechnungen der westlichen Staaten verunsichern (den in diesem Metier scheinbar nicht naiven) Schneider nicht.310 Denn trotz all dem beruft er sich auf den einen einvernehmlichen Zweck der westlichen Nationen und adressiert sie als einen einheitlichen Westen. Um den Standpunkt des Westens zu ändern, betritt Schneider mit seinem Artikel einen widersprüchlichen Weg. Einem Europa, dessen »Untätigkeit […] seine Wahrnehmung« des Kriegs und die Medienberichte bestimme, wird nicht dessen interessierte Untätigkeit destruiert, sondern seine Wahrnehmung, auf dass es nun umgekehrt die entsprechende Tätigkeit bewirke: »Das Medienbild vom Krieg gehorcht der Dramaturgie der Nachrichtenredakteure, nicht der des Krieges. Vor Ort stellt sich heraus, daß die Darstellung dieses Krieges in Europa mehr über Europa sagt als über diesen Krieg. Europas Untätigkeit bestimmt seine Wahrnehmung. Inzwischen ist im Westen überall zu hören, bei dem ›Schlachten dort unten‹ könne man Aggressor und Opfer nicht mehr unterscheiden, in diesem ›Bürgerkrieg‹ dürfe man nicht Partei ergreifen, er müsse eben ›ausbluten‹. Diese Interpretation, die ihre Sprache aus der Bilderwelt des Schlachthofs bezieht, mag dazu gut sein, den Europäern einen ruhigen Schlaf zu sichern. Mit den Tatsachen des Völkermords in Bosnien hat sie nicht sehr viel zu tun.«311

Schneider macht zum einen deutlich, dass sich aus der Berichterstattung des Westens und insbesondere Westeuropas »mehr« über deren eigene Urteile ableiten lässt als über den Krieg selbst. Er begegnet dem jedoch auf der Ebene, dass er diesen ›interpretierenden‹ Westen nicht recht eine (politische) Absicht vor309 Peter Schneider: Der Sündenfall Europas. In: Der Spiegel, 7/1994; S. 140–146, hier S. 144 u. 146. 310 Markant ist diesbezüglich die Passage, in dem Schneider vier Warum-Fragen über das (mangelnde) Agieren des Westens stellt. Diese lässt er jedoch unbeantwortet und konterkariert sie stattdessen mit einer serbischen ›Antwort‹, die in der fortwährenden Intensivierung der Kämpfe bestehe, die seiner Meinung nach den Westen doch wenigsten zum Handeln nötigen müsste; ebd.; S. 144. 311 Ebd.; S. 140f.

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werfen will. Er interpretiert das Urteil des Westens über den bosnischen Krieg als »Bürgerkrieg«, zu dem dieser sich diplomatisch wie militärisch abwartend verhalte, als Folge einer Täuschung oder als Unwissen. Somit will Schneider die deutsche Öffentlichkeit nun mit »Tatsachen« konfrontieren. Und diese Sache heißt »Völkermord«. Was diese ›Tatsache‹ bedeute, führt Schneider detailreich als Reportage aus. Tatsächlich definiert Schneider das, was in Bosnien im Zuge der Staatsneugründung einen kriegerischen Verlauf genommen hat, neu; und was Schneider am Bosnienkrieg neu definiert, erscheint für sich und in Bezug zu den tatsächlichen Begebenheiten nicht widerspruchsfrei: Ein Bürgerkrieg sei dieser Konflikt deswegen nicht, weil er überhaupt kein Krieg ist, stattdessen ist er nur die Folge des Wahns ethnischer Ideologien und zwar durch den einer Seite: »Es ist wohl nötig, einige Tatsachen zurechtzurücken. Was sich in Sarajevo (und anderswo in Bosnien) abspielt, ist kein Krieg, sondern ein wahlloses Massaker an der Zivilbevölkerung. Diese Art der Kriegführung läßt sich nicht als ein versehentlicher Exzeß abtun. Sie folgt der Logik der ethnischen Säuberung und setzt deren Ziele um: Dabei geht es nicht nur um die Eroberung strittiger Gebiete, sondern um die systematische Vertreibung und Ausrottung von unerwünschten Minderheiten oder Mehrheiten. Ebenso irreführend ist es, von einem ›Bürgerkrieg‹ in Bosnien zu sprechen, in den alle drei ›Bürgerkriegsparteien‹ mit gleichem Schuldanteil verwickelt seien. Was dort vonstatten geht, ist ein faschistisch inspirierter Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug gegen ethnisch gemischte Gemeinschaften.«312

Der Zerfall Jugoslawiens, vorangetrieben durch die ›Völker‹ gegen ihre ehemalige Zentralgewalt und vorangetrieben durch die Herstellung eines durch den maßgebenden Westen völkerrechtlich anerkannten Staatsgebiets und -volks, wird von Schneider als Grund für die gewaltvollen Auseinandersetzungen der letzten Jahre und zwar zwischen allen Parteien zwar erwähnt313, aber nicht als Grund für das bosnische Leiden befragt. Vielmehr wird diese Identität der Kriegsparteien in Zwecken und in Mitteln, diese Zwecke durchzusetzen, in legitime und illegitime Fraktionen aufgespalten. Was jede Partei für ihre Staatsneugründung ideologisch, rechtlich wie praktisch betrieb, besäße aber bei den 312 Ebd.; S. 146, Herv. S.H. 313 Dass die Serben nach diesem »barbarischen Prinzip[]« Krieg führen konnten, lastet Schneider deutlich der westlichen Gemeinschaft an. Denn diese habe die ethnische Homogenität zum Kriterium staatlicher Anerkennung erhoben. Das sei ihr ›Sündenfall‹ gewesen. Zugleich entlastet Schneider die Politik, indem sie die Ethnie zwar zum völkerrechtlichen Kriterium machte, mithin das aber an Mentalitäten adressierte, die auf eine »rätselhafte[]« und »komplizierte[]« Weise einen vor-politischen ethnischen Fanatismus hegten; ebd.; S. 141 und 146.

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Serben eine eigene, abnorme Qualität. Die Serben hätten einen zusätzlichen und eigentlichen Zweck im Krieg, etwa die ethnische Sortierung. Somit hat Schneider den Krieg in der Tat neu bestimmt – durch die Degradierung der Bosnier zu passiven Elementen und durch die Verwandlung des in diesen Staatsgründungskriegen von jeder Seite verwendeten Kriegsmittels der völkischen Sortierung in ein irrationales, weil zweckfreies Kriegsmotiv der Serben. Dass die historischen ›Tatsachen‹ des Kriegs diesem Bild verschiedener Kriegszwecke und -mittel eher entgegenstehen, erkennt auch Schneider. Im Lichte der bereits etablierten Un-Kriegspartei Serbien blickt er auf die bosnischen Kriegstaten und gibt kund, dass sich beide Parteien in Bezug auf die Gräuel nicht unterscheiden. Aber das Gleiche, das bei den Bosniern als Ausnahme ihres legitimen Kriegs verstanden wird, gilt ihm bei den Serben als Beweis ihres apolitischen, bösen Zwecks: »Wohlgemerkt, hier ist vom Unterschied der Ziele die Rede. Es ist bewiesen, daß auch moslemische Truppen Kriegsverbrechen begangen haben.«314 Im Gleichen Grundverschiedenes zu identifizieren, Kriegsparteien in legitim und illegitim oder in ›Opfer‹ und ›Aggressor‹ zu scheiden – dafür bietet Schneiders Reportage schließlich in der Anschauung die stärksten Argumente. Dies geschieht in großer Zahl und auf vielerlei Weisen; dazu einige Beispiele: Die erste Druckseite der Reportage schildert die Belagerung der bosnischen Stadt Sarajevo durch die Serben und zwar auf Grundlage seines eigenen unmittelbaren Erlebens und das seiner Journalistenkollegen. Die Reportage beginnt wie folgt: »Die Nacht zum 14. Januar, die serbische Neujahrsnacht, feierten die Belagerer von Sarajevo auf ihre Weise. Etwa zwei Stunden vor Mitternacht begannen sie, aus allen Rohren zu schießen. Der nächtliche Himmel über der lichterlosen Stadt wurde von Salven gedankenschnell fliegender roter Lichtkörper durchpflügt. Es war schwer, nicht an ein Feuerwerk zu denken; nur daß die Geschosse sich nicht in einem farbigen Funkenregen auflösten. Sie waren dazu bestimmt, in den Straßen und Häusern der Stadt zu explodieren.«315

Die Lagebeschreibung stellt mehr dar als die Situation einer belagerten Stadt. Sie berichtet von Belagerern, die deutlich über das militärstrategisch Notwendige hinausgehen und dabei einen zusätzlichen, womöglich demütigenden Gefallen an ihrer Macht beweisen. Und dem gemäß geben die unmittelbar anschließenden Passagen ein Bild der Betroffenen und ihrer zusammengeschossenen Stadt, einem Leben in purer Angst und in Trümmern wieder. Dass es sich nicht um Bürgerkrieg, sondern um Völkermord handelt, dass die Serben bei ihrer Bela314 Ebd.; S. 146. 315 Ebd.; S. 140.

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gerung also unnötig grausam, willkürlich und wahnhaft morden, belegen die Berichte der Eingeschlossenen: »Jedes Kind«, so schreibt Schneider, »kann einem erklären, wie man sich mit dem Gürtel einen zerfetzten Arm oder ein Bein abbindet«; man »haßt die Sonne« und die Medizinstudentin Fadila Serdarevic zeigt Schneider »die Narbe eines Streifschusses auf dem Rücken«.316 So wie die individuellen und durch die entsprechende Stilisierung glaubhaft wirkenden Schicksale zeugen (»ungefähr 10000« gebe es davon in Sarajevo), dass die Belagerten im besonderen Maße unverdient leiden – »In einem Caf8 an der Straßenecke wurde mit dem schmalen Pomp, den der Krieg zuließ, die Hochzeit gefeiert. Etwa hundert Gäste kamen; die nahe Polizeistation, die mit einem Generator Strom erzeugte, spendierte Elektrizität bis um zehn. ›Es war ein rauschendes Fest‹, sagt Fadila, ›die besten Feste werden im Krieg gefeiert.‹ Drei Wochen später traf sich die ganze Hochzeitsgesellschaft zum Begräbnis der Braut wieder. Beim gemeinsamen Gang des Paares zur Wasserstelle war eine Granate auf der gegenüberliegenden Straßenseite explodiert. […] Der Schmerz über den Verlust verwirrte seinen Geist, er sprach nicht mehr, war nicht mehr imstande, seine Bewegungen zu koordinieren. […] Manchmal sieht sie ihn, der sie nun nicht mehr erkennt, in dem Caf8 an der Ecke sitzen und ein seltsames Ritual vollführen. Er nimmt zwei Zigaretten aus dem Päckchen – das auf dem Schwarzmarkt fünf Mark kostet – und zündet beide an. Eine steckt er in den Mund, die andere legt er brennend in den Aschenbecher und läßt sie verglimmen.«317

– so zeugen umgekehrt die raren Begegnungen mit den serbischen Belagerern, dass sie im besonderen Maße keine vernünftigen, nur korrumpierte und verblendete Gründe haben und unnötiges Leiden verursachen. So erzählt man »in der Stadt«, dass die serbischen Heckenschützen mit einer »Prämie in D-Mark« belohnt werden.318 Der US-amerikanische Kollege David Reed berichtet Schneider von der Begegnung mit einem serbischen Soldaten. Dieser war gerade noch Oberschullehrer, belesen mit John Updike, zeige jetzt aber eine Art Persönlichkeitsstörung, er identifiziere sich mit seinen historischen Ahnen. So nehme er 1994 die Stadt Sarajevo als »eine Stellung der türkischen Armee aus dem 14. oder 15. Jahrhundert« wahr. »Bevor der Sommer endet«, wird der ehemalige Lehrer zitiert, werde man die Bosnier verjagen, »[g]enau wie sie es mit uns auf den Schlachtfeldern von Kosovo 1389 gemacht« haben.319 Eigenes Erleben, zitierte und direkt erlebte Kriegsschicksale – aus diesen nicht zu bestreitenden Fakten ergibt sich jedoch selbst nicht die Erklärung, keine Parteilichkeit und kein illegitimer Kriegszweck. Anders gesagt: Nicht diese Er316 317 318 319

Ebd.; S. 141. Ebd.; S. 141 und 144. Ebd.; S. 141. Ebd.; S. 144, Herv. S.H.

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klärungen oder die Identifikationen von Opfer und Täter sind für sich plausibel, Überzeugungskraft entwickeln sie (und zunächst nur hier, da ihnen die politische ›Gültigkeit‹ noch versagt wird) durch die Quantität ihrer Anschauungen. Den Wechsel des Standpunkts vom Supra-Nationalen zur Parteilichkeit hat Schneider mit dem Bericht über das sichtbare Los der bosnischen Bevölkerung angemahnt – und beweist wie Jenner ebenso ungewollt, dass dieses politische Urteil nicht der Sache entspringt. Es ist der interessierte Blick, der für sich wirbt und mit Fülle gegen die Zweifler, gegen die Un- und Nochnichtentschiedenen anschreibt. – Was der öffentliche Diskurs 1994 noch als prekäres Urteil kennt, erscheint, als die Politik endlich selbst den Beschluss zur Intervention und Parteinahme in den Konflikt 1995 politisch gefasst und praktisch bewiesen hatte, manchen Protagonisten jedoch wie objektive Wirklichkeit; dazu nun mehr.

3.2.3 … parteilich für Bosnien als Pflicht. Walter Wüllenweber: Zusehen verpflichtet und Kursbuch 126: Wieder Krieg (1995) Noch Anfang 1994 hatte sich Schneider dazu gezwungen gesehen, mit Augenzeugenschaft für die objektive Notwendigkeit einer ideellen und aktiven Parteinahme des westlichen Auslands im Bosnienkrieg zu werben – und hatte sich auf den Erfolg wenig Hoffnung gemacht. Schließlich aber hatten der Bundestagsbeschluss zum deutschen militärischen Engagement im Juni 1994 und vor allem das Massaker von Srebrenica im Juli 1995 die öffentliche Haltung gegenüber dem Krieg beinahe unerschütterlich verändert. War einige Monate zuvor Schneider der rare Fall eines Schriftstellers, der sich im Krieg und zwar an der Seite Bosniens positionierte320, wird dies nun vom intellektuellen Feld geteilt und verteidigt. Diese politische Parteinahme wurde insbesondere seit der Teilnahme Deutschlands an der militärischen Intervention der Nato zur gültigen ›Lesart‹, von der die Intellektuellen in den Texten gar als gesicherte, offenbare und ferner nicht mehr zu begründende Wirklichkeit ausgehen. Für dieses seit 1995 anzutreffende Selbstverständnis einer alternativlos erachteten Parteinahme, die nun rückwärts aus der praktischen Identifikation der Kriegspartei mit ihrer Bedeutung für den Westen gleich deren theoretischen Begriff ableitete, ist Walter Wüllenwebers Essay Zuschauen verpflichtet bei320 Ich möchte an das zweite Kapitel und die Kontroverse zwischen Müller und Melcic auf der einen und Baier und Enzensberger auf der anderen Seite zurückerinnern. Hatten Melcic und Müller für eine Parteinahme des Westens auf Seiten Bosniens im eskalierenden Sezessionskonflikt bereits 1992 plädiert, galt für die deutsche Seite noch quasi-objektiv der Standpunkt des Über-Parteilichen.

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spielhaft. Dieser erschien 1996, ein Jahr nach Srebrenica, nach der siegreichen westlichen Intervention, dem Vertrag von Dayton und während eines Friedens, der mit deutschem Kontingent in der SFOR gesichert wurde. Wüllenwebers Text ist im Kursbuch 126: Wieder Krieg erschienen321 – zum Text nun in aller Kürze, zum gesamten Band unten. Wüllenweber schreibt seinen Essay im Bewusstsein eines Wandels. Den sieht er, die neue politische Faktenlage im Blick, für sich fraglos durchgesetzt, wie er ihn zugleich bei anderen Deutschen noch vermisst. Wo offenkundig Parteinahme für die Bosnier anstehe, fordere die deutsche Öffentlichkeit in Teilen weiterhin Neutralität. Warb Schneider mittels Anschauung für ein politisches Urteil, geht Wüllenweber mit dem Verfahren der Betroffenheit nun offensiv um: zum ersten praktisch, indem er eine Vielzahl von eigenem Erleben und von berichteten Lebensumständen und zwar im Modus des Beweises liefert. Dies nachzuvollziehen322, sei hier vernachlässigt. Zum zweiten warb Wüllenweber theoretisch, indem er das Verfahren selbst zum Gegenstand des Nachdenkens machte; dazu ein paar Ausführungen: Einerseits zitiert Wüllenweber die Einwände gegen den Augenschein als Mittel der Erkenntnis. Demnach könne »nicht mehr objektiv sehen«, wer »dicht dran« ist.323 Wüllenweber bekundet andererseits, dass ihn dieser Einwand, wenngleich er ihn anerkennt, nicht anginge: »Das stimmt. Aber […].«324 Wie ist solch ein Widerspruch erklär- und überhaupt im vollem Bewusstsein praktizierbar? Im offensichtlichen Sinn polemisch gegen die Erklärung und gegen die theoretische Beurteilung der Verhältnisse sieht Wüllenweber in dem praktisch zur Geltung Gebrachten ganz fraglos den Begriff und seine eigene moralische Verpflichtung. Dieser Standpunkt bestreitet demnach – und zwar offensiv – die Differenz zwischen der Sache selbst, dem Begriff von ihr, dem Urteil über sie und der eigenen praktischen Stellung zu ihr : Wer auf Bosnien nur schaue, der begreife unmittelbar dessen Bedeutung im Krieg, seinen Opferstatus und die Pflicht, ihm beizustehen. 321 Walter Wüllenweber : Zuschauen verpflichtet. In: Karl Markus Michel u. Tilman Spengler (Hg.): Wieder Krieg. Reinbek: Rowohlt 1996 (Kursbuch; Bd. 126); S. 1–8, hier. S. 2. 322 Ebd.; S. 1–5. 323 Ebd.; S. 5. 324 Ebd. Es sei darauf hingewiesen, dass der Zusammenhang von ›Nähe und Nicht-Objektivität‹ genauso fraglich ist wie ›Ferne und nicht-Objektivität‹, den Wüllenweber dem Einwand zuallererst rhetorisch entgegenhält. Der richtige theoretische Schluss zu einem Gegenstand unterstellt zwar die Kenntnis desselben, ist aber von dem Erleben eine rundweg geschiedene Sache. Das sei mit Blick auf Handkes im Kapitel 3.2.3 erörterten Reportage Winterliche Reise hier bereits angeführt. Der gleiche falsche erkenntnistheoretische Zusammenhang stellt dort den Ausgangspunkt der Diskurskritik.

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Dieser Standpunkt ist für Wüllenweber dermaßen manifest, dass er – im deutlichen Gegensatz zu Schneider – davon ausgehend die Welt und insbesondere die Interventionskritiker beurteilt. Dazu eine längere, für Wüllenwebers Text zentrale Passage: »Ein Teil der deutschen Intellektuellen hat es sich in dieser Distanz bequem gemacht. Von den dauernden Berichten über den Krieg und über das unvorstellbare Leid fühlen sie sich belästigt. Sie flüchteten und tauchten wieder auf, als Peter Handke ihnen Bestätigung lieferte. Im Frühjahr 1996 machte er sich auf zu einer Lesetour. Er lehrte seine Fans, man müsse nur konsequent und lange genug wegschauen, schon sieht die Welt wie früher aus. Dann klappt’s auch weiter mit der alten Ideologie. Er erklärte den Krieg, über den er fast nichts gelesen und von dem er sich bewußt auch vor Ort kein Bild gemacht hatte. Ignoranz als Programm. Sein Publikum war begeistert. Die sich dort die Handflächen rot klatschten, hatten 30 Jahre zuvor ihren Eltern zu Recht vorgeworfen: Ihr hättet es wissen können. Um den Völkermord in Bosnien nicht als solchen zu erkennen, mußte man sich weit größere Mühe geben. Man mußte im Fernsehen immer umschalten, wenn der Genozid beschrieben wurde. Die Zeitung immer schnell umblättern. Und natürlich alles für Lüge halten: Lüge des Kapitals, des militärisch-industriellen Komplexes, des Establishments. Früher log nur die Springerpresse. Heute lügen alle, von der taz bis zur FAZ, deutsche Journalisten, Amerikaner sowieso, und CNN, weiß man doch. Und damals, dieser komische Geruch in den Straßen von Dachau, das war sicher nur die Küche vom ›Arbeitslager‹. Das Fernsehen verbreitet heute den Gestank der Krematorien in jedes Wohnzimmer. Und anders als in Dachau hindern uns keine Gefängnismauern am Zusehen. Wir sitzen beim Völkermord auf der Tribüne, erste Reihe. Diese Tatsache kann für unsere Einstellung und für unser Handeln nicht ohne Konsequenzen bleiben. Natürlich werden wir dadurch gefordert, das in unserer Macht Stehende zu unternehmen, um das Morden zu verhindern. Zuschauen verpflichtet.«325

Die disparaten Einwände gegen die Intervention bestimmt Wüllenweber nicht an ihnen. Stattdessen gleich er sie ab am eigenen Standpunkt, der da heißt: militärische Intervention. Die Bestreitung dieses Urteils bei den Kritikern wird als deren Besonderheit und zwar die eines Mangels definiert: Jene Menschen mit den eigenen bzw. abweichenden Stellungen fühlten sich vom Urteil, der quasi alternativlosen Intervention, »belästigt«, sie würden der Wirklichkeit ›flüchten‹, ›abtauchen‹, »wegschauen«, sie hätten ›nichts gelesen‹, sich ›kein Bild gemacht‹, würden umgekehrt alles Wirkliche als »Lüge« betrachten und sich der »Ignoranz als Programm« verschrieben haben. Damit nimmt Wüllenweber sein Gegenüber als etwas wahr, das sich dem so Selbstverständlichen – also für Bosnien und zwar mit Waffen zu sein (und das so wie für die Juden und gegen den Holocaust) – aus einem gleichsam intellektuell ungenügenden wie moralisch verkommenen Willen verweigert. 325 Ebd.; S. 5f., Herv. i.O.

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»Zuschauen verpflichtet« ist im Modus eines Gesetzes formuliert und wird von Wüllenweber in der Tat so vorgetragen. Nur, dass er das kann und das gegen alle Kritiker, die gegen solch Gesetzmäßiges Einwände erhoben haben resp. beim Betrachten der Kriegslage auf ganz andere Schlüsse gekommen sind, liegt schließlich daran, dass die Begebenheiten nunmehr praktisch ganz passend zu diesen ideellen Legitimationen eingerichtet sind und sie bestätigen. Zuschauen verpflichtet ist der erste von dreizehn Texten in dem Kursbuch 126: Wieder Krieg aus dem Jahr 1996. Typischerweise wurde auch bei diesem Band wie bei allen Kursbüchern seit der Gründung 1965 durch Enzensberger auf ein Vor- oder Geleitwort verzichtet. Womöglich soll nicht mehr und nicht weniger als ein redaktionell unverfälschtes Porträt des intellektuellen ›Kurses‹ der Zeit aufgezeigt werden. Dahingehend wäre der Titel des Bands bemerkenswert. Denn worauf will Wieder Krieg verweisen – auf den zu begrüßenden Anschluss an das historische, Kriege führende Deutschland und damit auf die fällige Revision des moralischen Interims ›Nie wieder Krieg!‹; oder will der Titel zur Distanznahme gegenüber der deutschen Politik anstacheln, die nun wieder zu militärischen Mitteln gefunden hat? Die Texte des Bands wurden hauptsächlich von Deutschen verfasst und geben aufgrund der Aktualität und der Geschlossenheit zum einen den Eindruck, tatsächlich den aktuellen ›Kurs der Zeit‹ zu reflektieren; zum anderen aber hat sich keiner dieser Texte dem kritischen Moment, wenn es im Titel unterstellt gewesen sein sollte, angenommen. Wüllenwebers Text eröffnet den Band des Kursbuchs, stellt dabei nicht nur ein quasi-programmatisches Selbstverständnis aus, sondern ist überhaupt der einzige Text, der sich noch am aktuellen Fall Bosnien zu erklären versucht. Die anderen Texte scheinen dies, die Sache des Kriegs in Jugoslawien mitsamt der Rechtmäßigkeit der westlichen militärischen Intervention in ihm, als fraglosen Ausgangspunkt zu nehmen; kritisch sind sie allenthalben gegen die Haltungen, die noch einen grundlegenden Einwand gegen Krieg vertreten.326 Erst von diesem Punkt aus betrachten sie das aktuelle Geschehen und finden zu erstaunlichen Perspektiven; ein knapper Überblick: Ein Beitrag stellt die ›janusköpfige‹ Qualität von Krieg heraus und will ihn als 326 Insofern sich die Beiträge mit internationalen Fallstudien befassen – das sind die wenigsten – trifft dies nicht bzw. weniger zu. So setzt sich insbesondere Andrzej Rybak anlässlich der politischen Wirren in Tschetschenien mit den konkreten politischen und wirtschaftlichen Interessen von russischen und tschetschenischen Politikern, Unternehmern und Kriminellen auseinander, sie macht Rybak für den militärischen Konflikt und dessen Fortgang verantwortlich. Krieg ist in diesem – einzigen – Beispiel noch erklärt und als nicht notwendig kritisiert; Andrzej Rybak: Das Geschäft der toten Seelen. Wirren in Tschetschenien. In: Karl Markus Michel u. Tilman Spengler (Hg.): Wieder Krieg. Reinbek: Rowohlt 1996 (Kursbuch; Bd. 126); S. 125–134.

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Kultur schaffendes Gut und also Kulturgut nicht missen, deswegen aber die ›falsche‹ Friedensliebe schon; so existiere das Gute des Friedens nicht ohne seine somit notwendige Bedingung von Gewalt und Krieg (Cora Stephan: Homo militans); ein Beitrag versucht zu zeigen, dass eine kategorische Kriegsablehnung wie der deutsche Pazifismus nur aus dem traumatischen Erleben u. a. des Zweiten Weltkriegs entstanden und deswegen für gesunde Gesellschaften unnormal sei, wobei schließlich die deutsche Gesundung mit dem aktuellen Kriegseinsatz koinzidiere (Jan Philipp Reemtsma: Trauma und Moral); ein Beitrag klärt rechtsphilosophisch, dass, wenn es um die Durchsetzung von Menschenrechten geht, staatliche Souveränität und andere Leitideen für die sich dazu berufen fühlenden Staaten keine Schranken sein sollten (Wolfgang Kersting: Globale Sicherheit und internationale Gerechtigkeit); an anderer Stelle wird die Idee der Souveränität dahingehend diskutiert, dass dort keine Kriege mehr stattfänden und also Frieden sei, wo sich mit Kriegen bereits Souveräne erfolgreich – kriegerisch – durchgesetzt hätten und als Gewaltmonopol anerkannt seien (Volker Gerhardt: Frieden durch Souveränität); ein Beitrag appelliert für die Umsetzung des politischen Widerspruchs, wonach Weltfrieden einem Weltsouverän überlassen werden solle, der von allen konventionellen staatlichen Souveränen, um sich ihre eigenen Kriege zu verunmöglichen, ernannt und anerkannt ist (Jörg Fisch: Darf man Menschenrechte mit Gewalt durchsetzen?).327 Summarisch verdeutlichen diese Beiträge ein kulturelles bzw. politisches Selbstverständnis, das – gegen die politische Moral der deutschen Nachkriegszeit, ›nie wieder Krieg‹ zu führen – ganz allgemein nun Krieg als wesentliches, nützliches und notwendiges Element eines Miteinanders begreift. Die Legitimität der Intervention in Bosnien ist nur insofern Thema, als es einem größeren Titel subsumiert ist. Diese Verlagerung ist erstaunlich. Offensichtlich geht es um den Bosnienkrieg und um alle anderen künftigen Kriege nur mehr sekundär ; primär geht es um die uneingeschränkte Legitimität Deutschlands, aus höheren Notwendigkeiten heraus Krieg führen zu dürfen.

327 Die Artikel in der oben genannten Reihenfolge sind: Cora Stephan: Homo militans – eine anthropologische Konstante? In: Karl Markus Michel u. Tilman Spengler (Hg.): Wieder Krieg. Reinbek: Rowohlt 1996 (Kursbuch; Bd. 126); S. 63–78; Jan Philipp Reemtsma: Trauma und Moral. Einige Überlegungen zum Krieg als Zustand einer kriegsführenden Gesellschaft und zum pazifistischen Affekt. In: ebd.; S. 95–111; Wolfgang Kerstin: Globale Sicherheit und internationale Gerechtigkeit. In: ebd.; S. 153–168; Volker Gerhardt: Frieden durch Souveränität. In: ebd.; S. 135–152; Jörg Fisch: Darf man Menschenrechte mit Gewalt durchsetzen? In: ebd.; S. 21–30.

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3.2.4 Die hinterfragte Parteilichkeit gegen Serbien. Peter Handke: Winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996) Peter Handke war mit seinem Reisebericht Winterliche Reise deswegen und in voller Härte in die Kritik der Medien, Öffentlichkeit und auch der Wissenschaft gekommen, weil er sich innerhalb der etablierten Teildiskurse zum Jugoslawienkrieg konsequent gegen zwei Urteile wendete: Erstens stand Handke dem Zerfall Jugoslawiens seit den ersten innenpolitischen Bestrebungen in den späten 1980er Jahren und dessen Willkommenheißen in der westlichen Öffentlichkeit in den 1990er Jahren unbeirrt ablehnend gegenüber ; zweitens wies Handke die Antwort derselben westlichen Öffentlichkeit auf die Schuldfrage zurück, die zum einen die jugoslawische Zentralregierung und zum anderen die serbische Nationalregierung als Grund für die Konflikte, als Aggressor und Täter anführten. Im Folgenden soll der ›Causa Handke‹ wegen ihrer literaturgeschichtlichen Bedeutung nachgegangen werden; aber auch ist Handke hier Thema, um an seinem Bericht die gegen seinen eigenen, unzweifelhaft diskurskritischen Anspruch stehende positive, mithin legitimierende Bezugnahme auf das politische Geschehen zu verdeutlichen. Peter Handkes Bericht einer Reise durch Serbien, die im Winter 1995 stattfand, war zuerst im Januar 1996 in zwei Wochenendbeilagen der Süddeutschen Zeitung erschienen. Die von Handke festgelegte Reihenfolge von Titel und Untertitel, Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien328, war von der Redaktion in Gerechtigkeit für Serbien oder Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina verändert worden; die Buchpublikation blieb von der Umbenennung unberührt. In der Öffentlichkeit wird seitdem auf diesen Reisebericht unter dem Kurztitel Gerechtigkeit für Serbien Bezug genommen – was bereits auf die Stoßrichtung der folgenden öffentlichen Kontroverse verweist. Einem Genre hatte Handke diesen Text nicht zugeordnet. Handkes Reisebericht war 1996 nicht nur einer der ersten und einer der wenigen deutschsprachigen – im weiteren Sinn – literarischen Texte, die sich mit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien befassten. Darüber hinaus ist es der Text unter ihnen, welcher mit Abstand die größte Öffentlichkeit fand und in den Medien am heftigsten diskutiert wurde. Auch in der Literaturwissenschaft 328 Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. In: ders.: Abschied des Träumers. Winterliche Reise. Sommerlicher Nachtrag. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998 (EA: 1996), S. 37–161. Zitate aus diesem Bericht im Fließtext sind im Folgenden mit der Sigle H gekennzeichnet.

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wurde Handkes Bericht unter allen Texten zum Jugoslawienkrieg am umfangreichsten behandelt.329 Ebenso habe der Bericht wieder in die Literaturproduktion zurückgewirkt. Mirjana Stancic schreibt, Handkes Text bedeute »dank seiner breiten Wirkung und Öffentlichkeit […] gewissermaßen eine intellektuelle Markierung« und bilde seitdem »geradezu einen Standard, an dem alle folgenden Reiseberichterstatter aus der Region gemessen wurden und werden«.330 Wissend, dass Handke gebürtiger Österreicher ist, soll seine Winterliche Reise für diese Arbeit über den literarischen Diskurs zum Jugoslawienkrieg in Deutschland trotzdem und umfangreich untersucht werden. Das begründet sich erstens in der Bedeutung Deutschlands für Handkes Wirken. Nicht nur sein Stammverlag ist in Deutschland ansässig, ebenso ist es die Zeitung, in der Handke seine Winterliche Reise zuerst veröffentlichte. Zweitens hat sich Handke in diesem Bericht mit dem deutschen Diskurs als Teil der westlichen Öffentlichkeit beschäftigt. Schließlich und drittens reagierte die Öffentlichkeit in Deutschland auf Handkes Bericht in einem Maß, das über die ›immanent‹ deutschen Positionen Auskunft gibt. Christoph Deupmanns Einschätzung liegt dieser Entscheidung zugrunde: »Wenn es im Blick auf die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien bis zum Kosovokrieg indes eine öffentliche Debatte unter deutschsprachigen Literaten gegeben hat, war es eine Debatte um Peter Handke.«331 Die folgende Analyse zeigt, wie Handke seinen Serbien-Bericht als einen Beitrag zum öffentlichen Diskurs über den Bosnienkrieg verstanden haben will. Das geschieht in Kenntnis und Abgrenzung zum Gros germanistischer Forschung. Diese widmet sich größtenteils der Rezeptionsgeschichte von Eine winterliche Reise332 oder sie konzentriert sich auf die Poetik des Berichts in Bezug auf Handkes Gesamtwerk und Biografie. In diesen Fällen erscheint das 329 Die Debatte beschäftigt nicht nur das Feuilleton bis dato, insofern anlässlich von Neuveröffentlichungen und Preisvergaben seine problematische Stellung zu den postjugoslawischen Kriegen immer noch thematisiert werden. Auch die Literaturwissenschaft versucht seitdem und ununterbrochen, den Gegenstand der Debatte zu klären; zu den neuen Veröffentlichungen zählen: Lothar Struck: ›Der mit seinem Jugoslawien‹; Jürgen Brokoff: ›Srebrenica – was für eine klangvolles Wort‹. Zur Problematik der poetischen Sprache in Peter Handkes Texten zum Jugoslawien-Krieg. In: Carsten Gansel u. Heinrich Kaulen (Hg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Göttingen: V& R 2011; S. 61–88. Eine eher zusammenfassend-präskriptive als klärende Perspektive nimmt ein: Robert Weninger : Streitbare Literaten; insbesondere S. 165–185. 330 Mirjana Stancic: Der Balkankrieg in den deutschen Medien. Seine Wahrnehmung in der Süddeutschen Zeitung, bei Peter Handke und den Übersetzungen der exjugoslawischen Frauenliteratur. In: Heinz-Peter Preußer (Hg.): Krieg in den Medien. Amsterdam: Rodopi 2005; S. 203–225, hier S. 214, Fußnote 14. 331 Christoph Deupmann: Ereignisgeschichten; S. 339. 332 Die Rezeption des Handke-Texts wird im Anschluss an die Analyse thematisiert.

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aktuelle politische Geschehen des Zerfalls Jugoslawiens in den 1990er Jahren lediglich als besonderer Fall, an dem Handke seine allgemeine Poetologie und Biografie ›perspektivierte‹ oder gar dafür ›instrumentalisierte‹. Beispiele für solche Forschungsansätze sind die umfangreichen Arbeiten von Fabjan Hafner auf der einen und Roland Borgards auf der anderen Seite: Fabjan Hafner befasst sich in der Monografie Peter Handke. Unterwegs im Neunten Land aus dem Jahr 2008 mit der Bedeutung von Handkes familiärer Herkunft für sein Werk und versucht, die epischen und dramatischen Texte über Jugoslawien bzw. Slowenien dahingehend einzuordnen.333 Roland Borgards 2003 veröffentlichte Studie Sprache als Bild. Handkes Poetologie und das 18. Jahrhundert befasst sich hingegen unter dem Aspekt eines werk-poetischen ›Grundproblems‹ mit Handkes sogenannten ›Serbien-Texten‹.334 Eine Ausnahme in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Eine winterliche Reise als Beitrag zur deutschen Debatte über den aktuell stattfindenden Jugoslawienkrieg ist der Aufsatz von Matthias Schöning, Verbohrte Denkanstöße?335 Schöning distanziert sich zum einen von der rein politischen Lesart des Feuilletons und der politischen Kommentatoren. Zugleich weist er kritisch zurück, man müsse Handkes Reisebericht vor einer politischen Diskussion schützen, weil Handke schließlich ›nur‹ Literatur betreibe. So steht Schöning auch gegen das Urteil Susanne Düwells, wonach sich ein abschlie333 Fabjan Hafner : Peter Handke. Unterwegs ins Neunte Land. Wien: Paul Zsolnay 2008. Hafner bezieht sich in seinem Buch einerseits auf jene Texte, die wie z. B. das titelgebende Abschied des Träumers vom neunten Land unmittelbar mit der Winterlichen Reise in Zusammenhang stehen – weil sie nicht nur von der Kritik in einen solchen gebracht werden, sondern auch von Handke selbst explizit in einen solchen gestellt sind und er sie auch in einem Band zusammen mit der Winterlichen Reise veröffentlichen ließ –, andererseits widmet sich Hafner nicht mit der Winterlichen Reise. Eine Erklärung für seine Auswahl konnte ich nicht finden. 334 Roland Borgards: Sprache als Bild. Handkes Poetologie und das 18. Jahrhundert. München: Fink 2003; hier insbesondere das Kapitel ›Erzählte Bilder und wirkliche Kriege‹ mit den Unterpunkten ›Jugoslawien als [!] poetologisches Problem‹ und ›Serbische Poetik‹, S. 213– 267. Eine ähnliche Perspektive auf Handkes Texte über Jugoslawien als Texte kunstimmanenter Fragen nimmt ein: Jean Bertrand Miguou8: Peter Handke und das zerfallende Jugoslawien. Ästhetische und diskursive Dimensionen einer Literarisierung der Wirklichkeit. Innsbruck: University Press 2012. 335 Matthias Schöning: Verbohrte Denkanstöße? Peter Handkes Jugoslawienengagement und die Ethik der Intervention. Ein Ordnungsversuch. In: Davor Beganovic u. Peter Braun (Hg.): Krieg sichten. Zur medialen Darstellung der Kriege in Jugoslawien. München: Wilhelm Fink 2007; S. 307–330. Auch Lothar Struck wendet sich in ›Der mit seinem Jugoslawien‹. Peter Handke im Spannungsfeld zwischen Literatur, Medien und Politik einer ›Multiperspektive‹ zu. Was Struck als »Dreiklang« versteht, das Zusammengehen von »Biographie, Sprachkritik und Politik«, bleibt in seiner umfangreichen Analyse jedoch maßgeblich auf die Perspektive und Rechtfertigung, die Jugoslawientexte als Werk des Autoren Handke, biografisch gestiftet und gegenwärtig politisch herausgefordert, gegen seine Kritiker zu verteidigen, beschränkt; Lothar Struck: ›Der mit seinem Jugoslawien‹; S. 5.

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ßendes theoretisches Urteil zu Handkes Text deshalb verbiete, weil es in diesem Fall »nicht möglich« sei, »zwischen literarischen und politischen Texten zu trennen«.336 Was Düwell als hinderliche ›Zweigleisigkeit‹ kritisiert, nimmt Schöning positiv und richtet es als Frage an den Text: Zu klären sei der immanente Anspruch von Handkes Text, die (politische) Welt nach einem eigenen, poetischen Maßstab zu betrachten und auf diese kriegerische Wirklichkeit mit Poesie zu reagieren.337 Dieser von Handke selbst gestifteten, anspruchsvollen Perspektive will die folgende Analyse der Winterlichen Reise detailliert folgen. (a)

Falsche Urteile wegen falscher Mittel. Handkes prinzipielle Medienkritik und die unmittelbare ›Augenzeugenschaft‹

Im ersten der vier Teile von Eine winterliche Reise erklärt Handke ausführlich den Grund seiner Reise und seines Berichts. Prolog. Vor der Reise bildet gewissermaßen die Programmatik seines Ansatzes, dessen Darlegung und Rechtfertigung. So sei Handke die Reise nach Serbien zu diesem Zeitpunkt angetreten, um dem aktuellen medial vermittelten Bild der Serben ein Korrektiv entgegenzuhalten: »Es war vor allem der Kriege wegen, daß ich nach Serbien wollte, in das Land der allgemein so genannten ›Aggressoren‹. Doch es lockte mich auch, einfach das Land anzuschauen, das mir von allen Ländern Jugoslawiens das am wenigsten bekannte war, und dabei, vielleicht gerade bewirkt durch die Meldungen und Meinungen darüber, das inzwischen am stärksten anziehend, das, mitsamt dem befremdenden Hörensagen über es, sozusagen interessanteste. Beinahe alle Bilder und Berichte der letzten vier Jahre kamen ja von der einen Seite der Fronten oder Grenzen, und wenn sie zwischendurch auch einmal von der anderen Seite kamen, erschienen sie mir, mit der Zeit mehr und mehr, als bloße Spiegelungen der üblichen, eingespielten Blickweisen – als Verspiegelungen in unseren Sehzellen selber, und jedenfalls nicht als Augenzeugenschaft. Es drängte mich hinter den Spiegel; es drängte mich zur Reise in das mit jedem Artikel, jedem Kommentar, jeder Analyse unbekanntere und erforschungs- oder auch bloß anblickswürdigere Land Serbien.« (H: 38f., Herv. i.O.)

Handke geht in seinen Überlegungen von einer profunden Beobachtung aus: Zu Zeiten des Bosnienkriegs ist in den westlichen Medien in einem erstaunlich einhelligen Maß von den Serben als ausschließliche Schuldige des Kriegs die Rede. Handkes Kritik stimmt mit dem konsensuellen Urteil über die Medienbe336 Susanne Düwell: Der Skandal um Peter Handkes ästhetische Inszenierung von Serbien. In: Stefan Neuhaus u. Johann Holzer (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007; S. 577–587, hier S. 584. 337 Matthias Schöning: Verbohrte Denkanstöße?; S. 308, 320–323.

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richterstattung überein, wonach diese – insbesondere während eines Kriegs – keineswegs naiv als Abbild von Wirklichkeit rezipierbar gewesen sei und gegebenenfalls als ›vierte Gewalt‹ gar eigenen Anteil an der Kriegsgenese gehabt habe.338 Zugleich stellt Handke fest, dass das, was die Medienberichte als Kriegswirklichkeit 1995 nicht wiedergeben, und in dem, was sie formulieren, aber erstaunlich einträchtig und unbeirrt sind. Handke merkt an, dass das womöglich weniger durch die Lage vor Ort als durch die Medien und den westlichen Blick auf den Krieg verantwortet sei – doch weshalb? So wie Handke das Feindbild bzw. die Schuldfrage nicht wegen des Ungenügens im Erklären in den Blick kommt, sondern erst formal wegen der Geschlossenheit und Persistenz verdächtig wird, so fragt er im Weiteren nicht nach dem politischen Moment dieses verdächtigen bzw. falschen und trotzdem gültigen Urteils über die Serben. Die Feindbild-Konstruktion überführt Handke in eine unpolitische, immanent methodische Bestimmung. Handke nimmt die allgemeinen nicht beachteten Bedingungen für das Urteilen, die nicht beachteten selbstbezüglichen »üblichen, eingespielten Blickweisen« und »Verspiegelungen«, als Grund. Diese Bedingung versteht er allgemein und für sich besonders: Die Serben in diesem Krieg als »so genannte[] ›Aggressoren‹« zu betiteln habe seine absichtslose und also un-politische Ursache in »unseren Sehzellen selber«. Handkes Kritik an der westlichen Medienberichterstattung ist, wenngleich sie »vor allem der Kriege wegen« stattfindet, daher eine umfassende Medienkritik: so konkret der Anlass die Jugoslawienkriegsberichterstattung in den Medien ist, so rehabilitiert sind sie als Medien im Allgemeinen.339 Des Weiteren bleibt Handke, insofern er an der Schuldfrage lediglich das Verfahren, eine Antwort auf sie zu liefern, kritisiert, der politischen Sphäre der Legitimation verhaftet: So trifft Handke einerseits Wesentliches an der Feindbild-Konstruktion der westlichen Öffentlichkeit und distanziert sich davon, bietet selbst aber für die Klärung des Kriegs andererseits zu ihr keine Alternative, sondern prüft mit seiner Reise die Alternativen in ihr. 338 Vgl.: Jürgen Wilke: Krieg als Medienereignis. Zur Geschichte seiner Vermittlung in der Neuzeit. In: Heinz-Peter Preußer (Hg.): Krieg in den Medien. Amsterdam: Rodopi 2005; S. 83–104, hier S. 101f. Eine neue Arbeit zu dem Gegenstand der Kriegs›propaganda‹ mittels der und in den Medien u. a. in Deutschland: Magnus-Sebastian Kurz: Öffentlichkeitsarbeit in Kriegen. Zur Bedeutung neuer Bildmedien für die Repräsentation bzw. Genese der Kriegs-Wirklichkeit seit 2001, aber alle Medien einschließenden Anspruch: Claudia Glunz u. Thomas F. Schneider (Hg.): Wahrheitsmaschinen. Darüber hinaus: Thomas Roithner (Hg.): Gute Medien – böser Krieg? Medien am schmalen Grat zwischen Cheerleadern des Militärs und Friedensjournalismus. Wien: LIT 2007. 339 Für die allgemeine Medienkritik am Journalismus lobt ihn Karl Wagner ausdrücklich und Jürgen Brokoff sieht ihn andererseits darauf beschränkt: Karl Wagner : Handkes Endspiel. Literatur gegen Journalismus. In: Markus Joch u. a. (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Tübingen: Niemeyer 2009; S. 65–76, hier S. 74–76; Jürgen Brokoff: Srebrenica; S. 63f.

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Das Verfahren »Augenzeugenschaft« passt dazu kongenial. Es prüft bei Augenschein die Menschen vor Ort, ob diese (oder jene) Grund für den Krieg sein mögen (oder nicht). Die Kriegsschuldfrage ist nur verlagert, sie wird als Verfahren der Legitimation, die militärische Intervention des Westens mit dem serbischen Aggressor und dem bosnischen Opfer moralisch zu berechtigen und sachlich zu begründen, nicht berührt. Handke verteidigt im weiteren Verlauf des Prologs seine Medienkritik und zwar gegen zweierlei Einwände. Der erste Einwand unterstellt Handke, er schiebe die Medienkritik vor, um seine eigene Parteilichkeit und Voreingenommenheit zu kaschieren: »›Aha, proserbisch!‹ oder ›Aha, jugophil!‹« (H: 39). Im Bewusstsein, das gängige Feindbild zu revidieren, ist aber, so Handke, das Dementi dieses Urteils keineswegs der Grund seiner Reise, Grund sei allein dessen Prüfung.340 Der andere Einwand, den er seiner westeuropäischen Presseschau (H: 47–55) folgen lässt, fragt, ob seine Medienkritik die Realität zu »entwirklichen« beabsichtige (H: 55). Handke antwortet: »Was, willst du etwa die serbischen Untaten, in Bosnien, in der Krajina, in Slawonien, entwirklichen helfen durch eine von der ersten Realität absehende Medienkritik? – Gemach. Geduld. Gerechtigkeit. Das Problem, nur meins?, ist verwickelter, verwickelt mit mehreren Realitätsgraden oder -stufen; und ich ziele, indem ich es klären will, auf durchaus ganz Wirkliches, worin alle die durcheinandergewirbelten Realitätsweisen etwas wie einen Zusammenhang ahnen ließen. Denn was weiß man, wo eine Beteiligung beinah immer nur eine (Fern-) Sehbeteiligung ist? Was weiß man, wo man vor lauter Vernetzung und Online nur Wissensbesitz hat, ohne jenes tatsächliche Wissen, welches allein durch Lernen, Schauen und Lernen, entstehen kann? Was weiß der, der statt der Sache einzig deren Bild zu Gesicht bekommt, oder, wie in den Fernsehnachrichten ein Kürzel von einem Bild, oder, wie in der Netzwelt, ein Kürzel von einem Kürzel?« (H: 55f.)

In dieser Passage stellt Handke wiederholt klar, dass seine Medienkritik über die parteiliche Kriegsberichterstattung gegen die Medien als Medien gerichtet ist. Er nimmt deren Inhalt nicht als Auskunft über ihren interessierten Standpunkt, sondern als Folge ihrer Bedingungen. Den Einwand der ›Entwirklichung‹ wendet Handke gegen den naiven Glauben, Medien überhaupt gäben unverfälscht Wirklichkeit wieder. Wirklichkeit sei, so Handke, nur durch das unmittelbare Schauen und das Konkrete verbürgt, nur so komme »tatsächliche[s]« Wissen zustande. Alles Abstrakte und Vermittelte hingegen sei prinzipiell ein Minus an Verständnis und ein endloses »Kürzel«. Medien produzierten immer nur »durcheinanderwirbelnde[] Realitätsweisen«. So sei nicht er ein Leugner oder 340 Handke antwortet weit weniger ausführlich. Er kontert, weil er das oben Ausgeführte als Wissen beim (fiktionalen) Gegenüber unterstellt, recht beleidigt, »[w]er das jetzt meint […], der braucht gar nicht erst weiterzulesen.« (H: 39)

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Entwirklicher der Realität, umgekehrt sei er in ihren Diensten und darin auch im Dienst der »Gerechtigkeit«. Die Ausführungen von Handke bergen einen erheblichen und zugleich konstitutiven Widerspruch. Denn Handkes Ausführungen unterstellen ein Wissen von den Bedingungen des Erkennens, das einen externen Standpunkt voraussetzt – den Handke überraschenderweise einnehmen kann und alle seiner Mitmenschen aber unterworfen seien. Handke ist sich des Widerspruchs im gewissen Sinn bewusst und gibt seiner Sonderstellung eine eigene Plausibilität. Seine Befangenheit unter den Bedingungen der Erkenntnis bei Kenntnis dieser Bedingungen habe er durch eine exklusive Spaltung seines Bewusstseins erfahren. So sei zunächst ein Teil von ihm wie seine Zeitgenossen von den Meldungen der westlichen Öffentlichkeit »um- und verform[t]« worden (H: 58): »Ähnlich passierte es mir mit den folgenden Kriegsberichten, oft und öfter. Wo war der die Realitäten verschiebende, oder sie wie bloße Kulissen schiebende, Parasit: in den Nachrichten selber oder im Bewußtsein des Adressaten?« (H: 58)

Ein anderer Teil aber, der ihm unvermittelt gegenwärtig wurde und »der freilich nie für mein Ganzes stand«, konnte »diesem Krieg und diesen Kriegsberichterstattungen nicht trauen« (H: 64). Diese besondere Gabe habe weder mit Handkes Willen noch mit seinen »Launen«, »einzig mit des Verfassers Sprachund Bildempfindlichkeit« zu tun.341 Und diese Gabe sei den anderen, den politischen wie öffentlichen Akteuren fremd. Jene blieben weiterhin Gefangene jener medialen Bedingungen und hätten von den Folgen ihrer zuspitzenden Reden keinen wirklichen Begriff: »Wollte nicht? Nein, konnte nicht. Allzu schnell nämlich waren für die sogenannte Weltöffentlichkeit auch in diesem Krieg die Rollen des Angreifers und des Angegriffenen, der reinen Opfer und der nackten Bösewichte, festgelegt und fixgeschrieben worden. Wie sollte, war gleich mein Gedanke gewesen, das nur wieder gut ausgehen, wieder so eine eigenmächtige Staatserhebung durch ein einzelnes Volk […] auf einem Gebiet, wo noch zwei andere Völker ihr Recht, und das gleiche Recht!, hatten, und die sämtlichen drei Völkerschaften dazu kunterbunt […] neben- und durcheinander lebten. Und wie hätte wiederum ich mich verhalten, als ein Serbe dort in Bosnien, bei der, gelind gesagt, Ellenbogenbegründung eines, gelind gesagt, mir gar nicht entsprechenden Staates auf meinem, unserm, Gebiet? Wer nun war der Angreifer?« (H: 64f.) 341 Das äußert Handke gegenüber einer französischen Kollegin (H: 69, Herv. S.H.). Auf seine besondere Empfindsamkeit reflektiert Handke weiter: »So konnte ein Teil von mir nicht Partei ergreifen, geschweige denn verurteilen. Und das führte dann, und nicht allein mich, zu solch grotesken und vielleicht nicht ganz verständlichen Mechanismen […].« (Ebd.; Herv. S.H.)

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So sehr Handke sich von den legitimierenden Reden der westlichen Öffentlichkeit freigemacht zu haben meint und sich distanziert zu ihrem folgenschweren ›Schnell-fix-rein-nackt‹ stellt, so nah ist er in der Kritik inhaltlich wieder bei ihnen. Positiv bezieht er sich nicht nur auf den Zerfall Jugoslawiens, sondern gerade auch auf die durch die westliche Staatengemeinschaft zur Anerkennung der Zerfallsprodukte vorgebrachten völkerrechtlichen Titel von Volk, Recht und Staat. Der westlichen Weltöffentlichkeit ist demnach nur eines anzulasten – und wegen ihrer medialen Befangenheit zugleich nicht: Der kriegerische Konflikt hat für Handke nicht in den konkurrierenden Interessen innerhalb Jugoslawiens seinen Grund, vielmehr erscheint allein das ›Allzuschnelle‹ der Medienrede den Grund für die folgenden kriegerischen Konflikte bereitet zu haben. Die »eigenmächtige Staatserhebung durch ein einzelnes Volk« sei nicht notwendig und habe lediglich durch die absichtslose mediale Kolportage nicht »gut ausgehen« können. Die Gründe für die Sezessionskonflikte nicht in den konkurrierender politischen Absichten suchend, sondern die eigentlichen Gründe für die Gewalteskalation in der legitimierenden Rede wissend, schließt Handke den Prolog mit Ausführungen zu der Wirkmacht, die er falschen wie richtigen Bildern und Geschichten zuerkennt: »Und schließlich ist es mit mir sogar so weit gekommen, daß ich, nicht nur mich, frage: Wie verhält sich das wirklich mit jenem Gewalttraum von ›Groß-Serbien‹? Hätten die Machthaber in Serbien, falls sie den in der Tat träumten, es nicht in der Hand gehabt, in der rechten wie in der linken, ihn kinderleicht ins Werk zu setzen? Oder ist es nicht auch möglich, daß da Legendensandkörner, ein paar unter den unzähligen, wie sie in zerfallenden Reichen, nicht nur balkanischen, durcheinanderstieben, in unseren ausländischen Dunkelkammern vergrößert wurden zu Anstoßsteinen? […] Hat sich dann am Ende nicht eher ein ›Groß-Kroatien‹ als etwas ungleich Wirklicheres, oder Wirksameres, oder Massiveres, Ent- und Beschlosseneres erwiesen als die legendengespeisten, sich nie und nirgends zu einer einheitlichen Machtidee und -politik ballenden serbischen Traumkörnchen? Und wird die Geschichte der Zerschlagungskriege jetzt nicht vielleicht einmal ziemlich anders geschrieben werden als in den heutigen VorausSchuldzuweisungen? Aber ist es durch diese nicht schon längst für alle Zukunft festgeschrieben? Festgeschrieben? Nicht eher starrgestellt?, wie nach 1914, wie nach 1941 – starrgestellt und starrgezurrt auch im Bewußtsein der jugoslawischen Nachbarvölker, Österreichs vor allem und Deutschlands, und so bereit zum nächsten Losbrechen, zum nächsten 1991? Wer wird diese Geschichte einmal anders schreiben, und sei es auch bloß in den Nuancen – die freilich viel dazutun könnten, die Völker aus ihrer gegenseitigen Bilderstarre zu erlösen?« (H: 74–76)

Handke trifft einerseits das Kontrafaktische der Legitimationen, wonach der Krieg allein durch den Wunsch nach einem ›Groß-Serbien‹ verursacht werde. Mit dem Dagegenhalten eines naheliegenderen faktischen ›Groß-Kroatiens‹ ist für ihn jedoch schon bewiesen, dass Legitimationen unwahre wie auch unnot-

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wendige und zugleich absichtslos ›aufgeblasene‹ Behauptungen sind, die man genauso gut lassen könne. Indem diese falschen Aussagen nicht Handeln rechtfertigten, sondern selbst und zumal interesseloser Grund des Handelns sind, müsse man wegen der schlimmen Folgen gar von ihnen ablassen. So sieht er in der Existenz jener falschen ›Geschichten‹ den Grund etwa für die ganze europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die »Bilderstarrheit« des zum historischen Topos geronnenen Feindbilds ›Groß-Serbien‹ ist ihm weniger ein Hinweis auf die Kontinuität des westeuropäischen politischen Interesses am Balkan als eine Tradition des Erzählens, die als Fatum der Außenpolitik Europas agieren und dessen eigentlichen politischen Willen zum Frieden beuge. Damit Geschichte anders verlaufe, müssen – und hier meint Handke ›Geschichte‹ nicht im übertragenen, sondern im wortwörtlichen Sinn – andere Geschichten geschrieben werden. Um diese Starrheit zu lösen, reise er nun nach Serbien ›hinter den Spiegel‹. (b)

›Augenzeugenschaft‹ als interessierter Blick

Handke will mit der Winterlichen Reise mittels seiner exklusiven Sensibilität die fatalen Bilder der westlichen Öffentlichkeit verunsichern, die ›verspiegelten Sehzellen‹ vereiteln und somit das eigentlich von allen Parteien und ›Völkern‹ gewollte friedliche, bedingungslose Miteinander ermöglichen. Dabei steht und fällt alles mit der Plausibilität von Handkes Augenschein als überzeugende eigentliche Wirklichkeit. Dieses Problembewusstsein besitzt auch Handke, er geht dies explizit an. Zum ersten in der Art, sich zur Reise zu stellen: Nach Serbien reise Handke als personalisiertes Medium bzw. als Anwalt der Wirklichkeit. Dementsprechend bereitet er sich vor. Er will sich durch Serbien als »Tourist« bewegen, was heißt weder als Interessierter und Befangener, noch als fremd Bleibender (H: 47); er zielt auf ein »re-paysement«, ein ›In-das-Land-kommen‹ (H: 82, Herv. i.O.); dafür will er allein unterwegs sein (H: 142f.); er bereitet sich gerade nicht aus Ignoranz, sondern um Voreingenommenheit und die »vorgestanzten Gucklöcher[] auf das Land« (H: 77) zu meiden, auf Serbien »im übrigen nicht besonders« vor (H: 47); er will neue Wege gehen und mit einem Blick für das aussagekräftigere »Dritte« und die kleinen Details der »Lebenswelt« Erkenntnisse sammeln (H: 77) usf. Zum zweiten in der Art, wie Serbien ihm begegnet: In zwei Teilen – Der Reise erster Teil: Zu den Flüssen Donau, Save und Morawa (H: 77–112) und Der Reise zweiter Teil (H: 123–142) – schildert Handke seine Spaziergänge durch verschiedene serbische Städte und Landschaften, er besucht dort Märkte, Dichterkreise, trifft auf Kollegen, Einheimische, eine ältere Witwe usw. Er beobachtet, interviewt und versucht, sich auf den Ort und die Menschen einzulassen. Nur

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nach Bosnien zu reisen, misslingt. Wie begegnet nun Serbien dem unvoreingenommenen Handke und wie führt es zugleich den Bruch des Feindbilds herbei? Dazu zwei exemplarische Passagen: Der Reise erster Teil: Zu den Flüssen Donau, Save und Morawa ist das zweite von vier Kapiteln des Berichts und erzählt größtenteils von den Begebenheiten in Belgrad, dem geografischen Ausgangspunkt der Reise. Der nun näher analysierte Textausschnitt umfasst Handkes Beschreibungen des ersten Abends und des folgenden Tags; Handke notiert: »Dieser erste Belgrader Abend war lau, und der Halbmond leuchtete nicht nur über der Türkenfestung. Es waren sehr viele Menschen unterwegs, wie eben in einem großen südeuropäischen Zentrum. Nur wirkten sie auf mich nicht bloß schweigsamer als, sagen wir, in Neapel oder Athen, sondern auch bewußter, ihrer selber wie auch der anderen Passanten, auch aufmerksamer, im Sinn einer sehr besonderen Höflichkeit, einer, die, statt sich zu zeigen, bloß andeutete, in einer Art des Gehens, wo auch in der Eile es keinmal zu einem Gerempel kam, oder in einem ähnlich gleichmäßigen, wie dem andern raumlassenden Sprechen, ohne das übliche Losgellen, Anpfeifen und SichAufspielen vergleichbarer Fußgängerbereiche; und auch die zahlreichen Straßenhändler niemanden anredend, vielmehr still für die Kundschaft bereit (es gab eine solche, entgegen meinem Vorausbild); und ich habe an diesem Abend, wie ich auch unwillkürlich Ausschau hielt, keinen serbischen Slivovitztrinker gesichtet, dafür, um einen Straßenbrunnen, Leute, die Wasser tranken, von der Hand in den Mund; und nirgends auch eine Parole oder eine Anspielung auf den Krieg, und kaum einen Polizisten, jedenfalls deutlich weniger als anderswo in einem Stadtweichbild. S. meinte nachher, die Belgrader seien ernst und bedrückt gewesen. Mir dagegen erschien die Bevölkerung, zumindest so auf den ersten Blick, eigentümlich belebt (ganz anders als damals im Theater, vor dreißig Jahren), und zugleich, ja, gesittet. Aus allgemeinem Schuldbewußtsein? Nein, aus etwas wie einer großen Nachdenklichkeit, einer übergroßen Bewußtheit, und – fühlte ich dort, denke ich jetzt hier – einer geradezu würdevollen kollektiven Vereinzelung; und vielleicht auch aus Stolz, eines freilich, welcher nicht auftrumpfte. ›Die Serben sind bescheiden geworden‹, las ich später dazu in der ›Zeit‹. Geworden? Wer weiß? Oder, in meiner liebsten Redensart (österreichisch), neben ›Dazu hättest du früher aufstehen müssen!‹: ›Was weiß ein Fremder?‹« (H: 83– 85)

Notiert Handke allein, was er sieht, oder ist dies schon gar eine interessierte Beschreibung der ersten Serben, die er zu Gesicht bekommt? Ausdrücklich kommt Handke auf die Frage zu sprechen, inwieweit dieses von ihm Beobachtete auch objektiv gelte: Er ruft sich selbst in seinem »Vorausbild« zurück, vermittelt somit, es gehe hier in der Tat nicht um die bloße Widerspiegelung eigener Urteile. Er lässt seinen Reisebegleiter S. zu Wort kommen und unterzieht seiner Lesart mittels eigener Beobachtung einer kritischen Berichtigung. Nicht theoretisch, hingegen rhetorisch ist Handke den Bedenken, ob er im Gesehenen nicht nur seine Urteile widerspiegle, begegnet und er getraut sich – vorsichtig – am

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Ende, der deutschen Die Zeit in deren Bestimmung des serbischen Charakters zu widersprechen. Sodann veranschaulicht Handke in einer inhaltlich differenzierten Beschreibung der Einheimischen – zudem in formaler Fülle von Stil, Lexik und in komplexer Grammatik und Syntax – die Sensibilität und darin Glaubwürdigkeit seiner eigenen Wahrnehmung. Mittels dieser wird den Belgradern bescheinigt, »bewußter« und »aufmerksamer« zu sein, sich durch eine »besondere« Höflichkeit auszuzeichnen. Darüber hinaus treten diese Belgrader in Gestus und Rede bescheiden auf, haben zuvorkommende Charaktere, sind »gesittet« und außerdem selbstbewusste Individuen. Ausdrücklich stellt sie Handke in den positiven Vergleich mit anderen Südeuropäern wie jene »in Neapel oder Athen«. Die Beschreibung vermittelt durch Grammatik, durch direkte Rede und durch den Inhalt des Beschriebenen selbst den Eindruck, dass hier ein Ver- und Abgleich zwischen verschiedenen Serbenbildern stattfindet. Es ist nicht schwer zu eruieren und quasi im Nebenbei ausgesprochen, dass sich das Beobachtete gegen das von der westlichen Öffentlichkeit vertretende Serbenbild der ›sogenannten Aggressoren‹ richtet: »und nirgends auch eine Parole oder eine Anspielung auf den Krieg, und kaum einen Polizisten, jedenfalls deutlich weniger als anderswo in einem Stadtweichbild.« (H: 83–85) Handkes Beschreibung, die die feindlichen Wesenszüge an den Belgrader Menschenmengen nicht festhält, verunsichert nicht bloß das Feindbild. Interessanterweise konstatiert er die Abwesenheit des Feindlichen und konstatiert darüber hinaus die Anwesenheit eines serbischen Charakters, der sich geradezu als charakterliches Gegenbild eines Aggressors darbietet. So verwirft Handke in der Kritik einer serbischen Wesensbestimmung durch die westliche Öffentlichkeit nicht das Verfahren, ein Wesen identifizieren zu können, sondern behauptet eine eben solche nationale Wesenheit, mit gerade umgekehrten Vorzeichen. Das Dementi des serbischen Feindbilds tritt als Ertrag der anschließenden Beschreibung deutlich hervor – und zugleich die Art, dieses Dementi als beobachtbaren Fakt zu inszenieren. Dazu nun das zweite Textbeispiel: Am zweiten Tag spaziert Handke ziellos durch die Kalemegdan-Ruinen. Dabei erblickt er eine größere Gruppe von alten Männern, die »so schweigsam müßiggingen«. Er beschreibt sie umfassend in Kleidung, Ausdruck, Mimik usw.: »Weder hatten sie, oft mit Krawatte und Hut, glattrasiert für balkanische Verhältnisse, etwas von pensionierten Arbeitern, noch konnten derartige Mengen doch ehemalige Beamte oder Freiberufler sein […]. Und zudem wirkten diese alten, dabei nie greisen Männer weder europäisch noch freilich auch orientalisch […].« (H: 85f., Herv. S.H.)

Was Handke an den Einheimischen festhält, ist nicht, was sie sind, sondern was sie nicht sind. Er zitiert gesellschaftliche Funktionen von Arbeiter bis Beamter

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und auch kulturelle Stereotype, um zu zeigen, dass Bestimmungen selbst so durchgesetzter Art an diesen Individuen nicht identifizierbar sind. So als glaubwürdiger Beobachtender eingeführt, prüft Handke die Serben daraufhin, ob man ihnen ihre Gesinnung und entsprechende Funktionen, gegenwärtig wie vergangen, (nicht) ansehen könne: »Nein, das konnten in meinen Augen keine serbischen Patrioten oder Chauvinisten sein, keine ultraorthodoxen Kirchengänger, keine Königstreuen oder Alt-Tschetniks, schon gar keine einstigen Nazi-Kollaborateure, aber es war auch schwer, sie sich als Partisanen zusammen mit Tito, dann jugoslawische Funktionäre, Politiker und Industrielle vorzustellen; […]« (H: 86f., Herv. S.H.)

Handke nimmt die Feindbild-Zuschreibung des Westens ernst und widerlegt sie mit dem Fakt des Anzuschauenden. Das vollzieht sich wiederum im Modus des ›Nicht‹. Die Perspektive scheint im Vergleich zum vorangegangenen Passus jedoch anders. Er verwirft nicht das Verfahren, überhaupt berufliche oder soziale Bestimmungen am Äußerlichen ablesen zu können.342 Nun wendet er dieses Verfahren selbst an, um lediglich Nichtzutreffendes zu bestimmen. Und so vermag Handke letzten Endes beim Anschauen der Serben doch etwas ihnen Eigenes zu identifizieren, eine gegenüber dem Westen alternative Bestimmung der ›Serben‹: »[…] klar nur, daß sie alle etwa den gleichen Verlust erlitten hatten, und daß der ihnen, wie sie da flanierten, noch ziemlich frisch vor den finsteren Augen stand. Was war der Verlust? Verlust? War es nicht eher, als seien sie brutal um etwas betrogen worden?« (H: 87)

Damit hat Handke sein oben aufgeworfenes rhetorisches »Wer weiß?« beantwortet. Für ihn ist durch Augenschein »klar«, dass die Serben »brutal um etwas betrogen« worden sind. Was das ist, führt Handke hier zunächst nicht aus. Es kann nur mit den Serben als »Serben« zusammenhängen. Was sie historisch gesehen einzig eint, ist ihre serbische Staatsangehörigkeit, die sie allein dann als Verlust bzw. negative Identität verstehen, wenn sie den ehemaligen jugoslawischen Zusammenschluss als das ihnen Gemäße und das von ihnen eigentlich Erwünschte vor Augen haben. Somit erscheinen unter Handkes sensiblem Blick 342 Das stößt z. B. Gustav Seibt auf, der in seiner Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt: »In Belgrad traf Handke im November 1995 gesittete und würdevolle Menschen. Hätte ein fremder Reisender im Berlin des Jahres 1941 solche nicht auch antreffen müssen? Die Mörder liefen ja nicht mit Abzeichen auf der Straße herum. Und hätte er in den deutschen Provinzen nicht auch ein noch archaisches Landleben von uriger Schönheit finden können?« In: Gustav Seibt: Wahn von Krieg und Blut und Boden. Serbien ist Deutschland. Zu Peter Handkes beunruhigendem Reisebericht. In: Tilman Zülch (Hg.): Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit. 16 Antworten auch Peter Handkes Winterreise nach Serbien. Göttingen: Steidl 1996; S. 67–71, hier S. 71 (EA in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 01. 1996).

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die Serben nicht in einer vollkommen eigenen Bestimmung, sondern in einer lediglich gegenläufigen zum westlichen Maßstab343 : Einerseits geben sie sich in jeder Hinsicht fern aller militärischen oder weltanschaulichen Aggression, andererseits geben sie sich als Opfer der historischen Ereignisse, die ihnen vom Westen fälschlicherweise zu Lasten gelegt werden. Exkurs: Die Vergegenständlichung des interessierten Blicks am Gegenüber. Ein Vergleich mit frühen Texten Handkes über Jugoslawien Im Folgenden soll in einem kleinen Exkurs gezeigt werden, wie in verschiedenen Jugoslawien-Texten Handkes das Verfahren der verobjektivierenden Anschauung subjektiver Urteile nicht nur schon vorkam, sondern inwiefern in ihnen diesbezüglich ein beachtlicher ›methodischer‹ Fortschritt zu verzeichnen ist: 1991 veröffentlichte Handke seinem Text Abschied des Träumers vom neunten Land erstmals in der Süddeutschen Zeitung. Darin reflektiert Handke über die aktuellen politischen Entwicklungen in Jugoslawien. Schon der Titel weist darauf hin, dass Handke das Sezessionsgeschehen als Betroffener betrachtet. Die Unabhängigkeit Sloweniens ginge ihn, wie sofort zu lesen ist, ganz im Besonderen an. So stellt Handke im ersten Absatz klar : »Das Land Slowenien und die zwei Millionen Köpfe des slowenischen Volks hingegen betrachte ich als eine der wenigen Sachen, welche bei mir zusammengehören mit dem Beiwort ›mein‹; Sache nicht meines Besitzes, sondern meines Lebens.«344

Diese biografische Bedeutung nimmt Handke schließlich als sachliche Bestimmung Sloweniens. Demnach stehe die Sache der 1991 unabhängig gewordenen Teilrepublik zu sich in einem negativen Verhältnis, obwohl sie politisch genommen als Land doch im besonderen Maße zu sich kam. So sei Slowenien seit 1991 zur »Unkenntlichkeit verändert«, sei »entrückt« in »Unwirklichkeit, Ungreifbarkeit, Ungegenwärtigkeit«.345 Positiv gesprochen: Slowenien sei dann gerade ganz bei sich gewesen, als es Teil des jugoslawischen Staatenbunds war : 343 Auch Johannes Birgfeld ist diese westliche Perspektive der Handke’schen Phänomenologie aufgefallen. Jedoch verlängert Birgfeld dieses Moment zu einem Fall des kolonialen Blicks, der sich (in Verweis auf Lützeler) lediglich als methodisches Spezifikum ausweist, weil Handke nämlich »›alles eindeutig zu bewerten und einzuordnen weiß‹«; in: Johannes Birgfeld: Möglichkeiten und Grenzen literarischer Kriegsberichterstattung. Am Beispiel Bodo Kirchhoffs und Peter Handkes. In: Bernd Blöbaum u. Stefan Neuhaus (Hg.): Literatur und Journalismus. Theorie, Kontexte, Fallstudien. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003; S. 293–316, hier S. 310. 344 Peter Handke: Abschied des Träumers vom Neunten Land. In: ders.: Abschied des Träumers. Winterliche Reise. Sommerlicher Nachtrag. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998; S. 5–32, hier S. 7, Herv. i.O. Dieser Text erschien erstmals in der Süddeutschen Zeitung in der Wochenendausgabe 27./28. 07. 1991. 345 Ebd.; S. 15, Herv. S.H.

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»Nein, Slowenien in Jugoslawien, und mit Jugoslawien, du warst deinem Gast nicht Osten, nicht Süden, geschweige denn balkanesisch; bedeutetest vielmehr etwas Drittes, oder ›Neuntes‹, Unbenennbares, dafür aber Märchenwirkliches, durch dein mit jedem Schritt – Slowenien, meine Geh-Heimat – greifbares Eigendasein, so wunderbar wirklich auch, wie ich es ja mit den Augen erlebte, gerade im Verband des dich umgebenden und zugleich durchdringenden – dir entsprechenden! – Geschichtsbildes, des großen Jugoslawien.«346

Als Argument für das historische, das vereinte Jugoslawien führt Handke hier einerseits seine Befindlichkeiten an; andererseits sind die sachlichen Argumente auch (nur) Ausdruck seines interessierten Blicks. So emphatisch und deutlich der Einwand gegen das unabhängige Slowenien, also die Parteinahme für das historische Jugoslawien ist, so begrenzt auf diesen singulären ›Träumer‹ ist dieses Urteil schließlich. Das Verfahren, Slowenien am subjektiven Ideal zu bemessen, verdeutlicht noch allzu deutlich, dass der historische und politische Geltungsanspruch seiner Aussage im Gegensatz zu seiner subjektiven, biografischen Relativität steht. Einen Fortschritt im Verfahren der Verobjektivierung des eigenen, subjektiven Urteils, das Ende Jugoslawiens müsse als Verlust gelten, zeigt der Text Für Jugoslawien. Diesen hatte Handke 1992 für die oben besprochene Reihe Europa im Krieg der tageszeitung von Willi Winkler verfasst (siehe Kapitel 2.2). Der kurze Text stellt im Jahr 1992 eine exemplarische Situation in Skopje im Jahr 1987 vor; im Folgenden sind nun der Anfang des Texts, einige Passagen aus dem Mittelteil und das Ende zitiert: »Ein mögliches, kleines Epos: das von den unterschiedlichen Kopfbedeckungen der vorübergehenden Menschheit in den großen Städten, wie zum Beispiel in Skopje in Mazedonien/Jugoslawien am 10. Dezember 1987. Es gab sogar, mitten in der Metropole, jene ›Passe-Montagne‹ oder Gebirgsüberquer-Mützen, […] vielfache Spitzgiebel in seiner Haube, ein islamisches Fenster-und Kapitellornament (die Tochter oder Enkelin weinte). […] Und dann passierte einer mit weißem gestrickten, von orientalischen Mustern durchschossenen Käppi […] gefolgt von einem Beret eines Großschrittsoldaten und den paarweise Polizisten-Schirmmützen […]. Danach einer mit scheckigem Fez, über die Ohren geschlungen, im Elsternschwarzweiß, Halbbruder Parzivals, der gescheckte Feirefiz. […] Ein Junge mit Schal um Hals und Ohren. Ein Bursche mit Schifahrer-Ohrenschützern, Aufschrift TRICOT. Undsoweiter.«347

Dieses ›mögliche‹ Epos spricht eine Leseanweisung nicht ausdrücklich aus. Lediglich im Titel, in seiner Exposition und in der Textanlage wird bedeutet, die 346 Ebd.; S. 17f., Herv. S.H. 347 Peter Handke: Noch einmal für Jugoslawien. In: Willi Winkler (Hg.): Europa im Krieg. Die Debatte über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992; S. 33f. Handkes Text erschien erstmals am 14. 08. 1992 in der tageszeitung unter dem kürzeren Titel Für Jugoslawien.

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beschriebene Szene versammelter, vorüberziehender Kopfbedeckungen anno 1987 für die aktuelle politische Situation anno 1992 auszulesen. Nur macht dies nicht der Erzähler, der sowieso nicht in Erscheinung tritt, sondern der Leser : So geht es mitnichten um das Wortwörtliche der Kopfbedeckungen. Diese sollen zum einen metonymisch verstanden werden. Sie sollen gelesen werden als Verweise auf Lebensstile, Religionen, Sitten, Traditionen, Moden usw. Zum anderen, indem die Erzählung nicht den individuellen Lebensstilen usf. nachgeht, soll das Einzelne als bloßer Ausdruck – »Undsoweiter.« – von etwas anderem ausgelegt werden, nämlich von Vielfalt. Diese Vielfalt erscheint als bestimmender, gar politischer Charakter der »vorübergehenden Menschheit«, trägt sich selbst vor, referiert auf nichts als auf sich, erscheint als Wert, der gilt.348 Die Betonung der ›Möglichkeit‹ des Epos verweist darauf, dass dieser einmal gewesene, historische Fall, der vom Wert Vielheit durchdrungen gewesen war, den aktuellen Fall 1992 nicht bestimmt, aber sich gerade in der Differenz als eine bedeutungsvolle Bezugnahme, also dessen eigentliches Telos aufdränge. Mit der Anlage des Texts verpflichtet der Erzähler die Leser zur Anteilnahme und zum aktiven Nachvollzug dieses Gedankens. Die aktuelle, politisch und sozial prekäre Situation im zerfallenden Jugoslawien ›könne‹ man sich nicht nur anders denken, nämlich so wie im vorangegangenen friedlichen Jahrzehnt; darüber hinaus könne man darin möglicherweise den Grund für die aktuellen Konflikte innerhalb Jugoslawiens bzw. zwischen seinen staatlichen Zerfallsprodukten ersehen: Die Abwesenheit des pluralistischen Jugoslawiens ist der Grund für die friedlose, auf Spaltung setzende Gegenwart.349 Auch in Für Jugoslawien ist das untergegangene Jugoslawien Gegenstand. Den Verlust und das Bedauern spricht nun nicht mehr der Schriftsteller Handke aus, der in Abschied des Träumers vom Neunten Land als alleinige und dabei subjektive Instanz dieser Urteile galt. In Für Jugoslawien mischt sich der Autor Handke nicht mehr explizit ein, es tritt erstens eine neutrale erzählende Stimme auf, die zweitens einen sachlichen Bericht gibt, und drittens bleibt das Urteil nur formal angelegt, aussprechen muss es der Lesende, der weniger einen Text als sich als Quelle eines eigenen und somit irgendwie authentischen Urteils wahrnimmt. 348 Der Wert ›Vielfalt‹ habe trotz zweierlei gegolten: Selbstgenügsamkeit und Offenheit habe geherrscht, obwohl Armee und Polizei auftreten, also die Exekutoren eines sich nach außen und innen abgrenzenden jugoslawischen Staats (anscheinend gibt hier Handke keine sachliche Auskunft, sondern ein idealisiertes Bild der vergangenen Verhältnisse). Des Weiteren wird aus dem von allen Jugoslawen geteilten Zweck ›Vielheit‹ der kommende Gegensatz zwischen den Jugoslawen abgeleitet (anscheinend also herrschte ein anderer Zweck). 349 Womit der Erzähler freilich die Abwesenheit des Werts und seiner Bedingungen feststellen mag und als schädlichen Verlust inszeniert, aber nicht ausspricht, aus welchen Gründen diese kürzlich überhaupt aufgegeben wurden.

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Wie ist die ästhetische Plausibilität des eigenen Urteils als objektives in der Winterlichen Reise zu beurteilen? Dass das Ende Jugoslawiens ein Verlust ist, wird hier nun an den alten Männern als deren (verletzte) Identität beobachtet. Der Verlust ist sichtbar, er formuliert sich nicht als Urteil des Reisenden Handke, der sich vorweg als neutrales und sensibles Medium für jenes Serbien ›hinter dem Spiegel‹ inszeniert hat.

(c)

Der Jugoslawienkrieg wegen Abwesenheit richtiger Schreiber und Poeten. Handkes Fazit der Reise

Im Epilog, dem vierten und abschließenden Teil des Berichts, reflektiert Handke auf die Erkenntniserträge seiner bisherigen medienkritischen Augenzeugenschaft und das insbesondere am Fall des für die politische Debatte in Deutschland ›konsensbildenden‹ Ereignisses, dem Massaker von Srebrenica 1995. Handke berichtet zunächst von seiner Wanderung an der serbisch-bosnischen Grenze entlang des Flusses Drina. Er ist wieder sensibles Medium, zu Fuß unterwegs, ohne Plan querfeldein und allein. Er ist dieses Medium so sehr, dass es ihm scheint, er wandere nicht willentlich, stattdessen setzte ein automatisches Wandern ein und ließe ihn wandern.350 Dies beobachtet Handke an sich und greift interessanterweise zeitgleich bewusst regulierend in sein Rand- und Unterbewusstes ein.351 In diesem sensiblen Zustand steht er nun am Ufer der Drina: »Und ich hockte mich da hin, wobei der Fluß sich noch um einiges breiter dehnte, von den Spitzen der serbischen Winterschuhe bis zum bosnischen Ufer nun nichts als das kaltrauchige Drinawasser, in welches die großen nassen Flocken einschlugen, […]. Flußabwärts, vielleicht kaum dreißig Kilometer weg, sollte das Gebiet der Enklave von Srebrenica beginnen. Eine Kindersandale dümpelte zu meinen Füßen. ›Du willst doch nicht auch noch das Massaker von Srebrenica in Frage stellen?‹, sagte dazu S. nach meiner Rückkehr. ›Nein‹, sagte ich. ›Aber ich möchte dazu fragen, wie ein solches Massaker denn zu erklären ist, begangen, so heißt es, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, und dazu nach über drei Jahren Krieg, wo, sagt man, inzwischen sämtliche Parteien, selbst die Hunde des Krieges, tötensmüde geworden waren, und noch dazu, wie es heißt, als ein organisiertes, systematisches, lang vorgeplantes Hinrichten.‹ Warum solch ein Tausendfachschlachten? Was war der Beweggrund? Wozu? Und warum statt der Ursachen-Ausforschung (›Psychopathen‹ genügt nicht) wieder nichts 350 Nachdem Handke (sich) seine Unlust zum Weitergehen bekundete, heißt es zweimal fast identisch: »Und dennoch ging es, gingen die Beine […]«, (H: 145, vgl. 146). 351 Dreimal wird eine ähnliche Formulierung wie »nein, doch nicht« verwendet, davon zweimal in Klammern. Die rhetorische Funktion dieser Einlassungen unterstellt einen Einwand der Leser gegen das Geschriebene. Den greift Handke hiermit auf, kann ihn aber eben nur rhetorisch entkräften: Was gar nicht mehr unmittelbar ist, weil es nicht mehr Erleben ist, sondern nur noch nachträglich Verschriftlichtes, soll mittels dieser Selbstermahnungen wieder als solche erscheinen (H: 145f.).

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als der nackte, geile, marktbestimmte Fakten- und Scheinfakten-Verkauf ?« (H: 146f., Herv. i.O.)

Einzig die Kindersandale am ›Schlüsselereignis‹ Srebrenica festzuhalten, hat viele Rezensenten befremdet.352 Indes zeigt der Fortgang des Abschnitts und die ernste Erwiderung auf die Nachfrage des Reisekollegen S., dass Handke es mitnichten bei dieser Requisite belässt, die Begebenheiten vom Juli 1995 darauf reduziert oder damit konterkariert. Für Handke ist diese in der folgenden Debatte berühmt gewordene Sandale erneuter und in diesem Bericht letzter Anlass, sein Klärungsbedürfnis für die Kriegsereignisse zu erneuern – angesichts der gegebenen und kursierenden Erklärungen, die ihn alle nicht befriedigen. »Warum []? Was war der Beweggrund? Wozu?« – die unmittelbaren Kriegsbeteiligten, der Kriegsverlauf wie die westliche Öffentlichkeit geben ihm hier mehr Fragen als Antworten. Ein Grund für fortdauerndes Fragen ist auch darin begründet, dass Handke politische Erklärungen nicht akzeptiert. Auch in der Prüfung der Interpretationen des Kriegs, die der öffentliche Diskurs liefert, bleibt er ganz bei ihnen. Weil Handke diese legitimierenden Begründungen als tatsächliche Gründe der Kriege nimmt, erscheint ihm der Krieg in seiner Existenz in jeder Hinsicht so irrsinnig wie weiterhin als ein Rätsel. Fragend steht er dementsprechend vor den Erklärungen, die ihn als »Ursachen-Ausforschung« und folgenschwerer »Fakten- und Scheinfakten-Verkauf« unbefriedigt lassen. Von diesem vertrackten Problem herkommend fährt Handke im Bericht fort, keine Kritik der instrumentalisierten bzw. ideologisierten Sprache zu verfassen, aber für die Sphäre der seiner Auffassung nach im Alltag so falschen wie wirkmächtigen Sprache eine Ethik einzufordern. Er nimmt die Sprache als Profession in den Blick und bebildert sein Ideal mit dem weltbekannten kanonisierten Jugoslawienepos von Ivo Andric: »Und weiter hockte ich so an der Drina und dachte, oder es dachte in mir, an das Visegrad des Ivo Andric, vielleicht fünfzig Kilometer flußauf – und insbesondere an jene in der ›Brücke über die Drina‹ […], so messerscharf dargestellte Stadtchronistenfigur, einen Mann, der während all seiner Aufschreiberjahre von den örtlichen Ereignissen kaum etwas festhält, nicht etwa aus Faulheit oder Nachlässigkeit, vielmehr 352 Zum Beispiel referiert der bosnische Autor Dzevad Karahasan in seiner umfangreichen Replik auf Handkes Reise, Bürger Handke, Serbenvolk, diesen Textpassus und ist erstaunt darüber, was alles nicht gesagt wurde. Er bezieht sich dabei auf die Kriegsparteien, deren klare Opfer-Täter-Einteilung, die Handke insbesondere im Hinblick auf die politischen Konsequenzen für die eine und andere Seite gerade verunsichern wollte; Karahasan schreibt zum oben zitierten Textpassus: »Soviel zum Massaker in Sebrenica. Soviel zu dem Ereignis und zu den Menschen, die in diesem Ereignis mitgewirkt haben, als Ermordete oder als Mörder :« – Dzevad Karahasan: Bürger Handke, Serbenvolk. In: Tilman Zülch (Hg.): Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit. 16 Antworten auch Peter Handkes Winterreise nach Serbien. Göttingen: Steidl 1996; S. 41–53, hier S. 43 (ungekürzte EA in: Die Zeit, 16. 02. 1996).

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aus Eitelkeit und vor allem Hochmut – die Geschehnisse, gleich welche, sind ihm schlechterdings nicht festhaltenswert. Und weiter dachte ich (oder dachte es) dort, und ich denke es hier ausdrücklich, förmlich, wörtlich, daß mir allzu viele der Berichterstatter zu dem Bosnien und dem Krieg dort als vergleichbare Leute erscheinen, und nicht bloß hochmütige Chronisten, sondern falsche. Nichts gegen so manchen – mehr als aufdeckerischen – entdeckerischen Journalismus, vor Ort (oder besser noch: in den Ort und die Menschen des Orts verwickelt), hoch diese anderen Feldforscher! Aber doch einiges gegen die Rotten der Fernfuchtler, welche ihren Schreiberberuf mit dem eines Richters oder gar mit der Rolle eines Demagogen verwechseln und, über die Jahre immer in dieselbe Wort- und Bildkerbe dreschend, von ihrem Auslandshochsitz aus auf ihre Weise genauso arge Kriegshunde sind wie jene im Kampfgebiet.« (H: 147–149, Herv. S.H.)

Handke benutzt die literarische mittelalterliche Stadtchronistenfigur bei Andric, um an der realen, gegenwärtigen Berichterstattung zu Bosnien einen profunden Mangel zu veranschaulichen: beide tätigen ein schlechtes und falsches Handwerk. Demnach nun sei im nicht vollständigen Aufschreiben von Geschehen, nicht weniger oder nichts geleistet, sondern etwas geschaffen, nämlich immerhin die Bedingung für Krieg. – Nicht nur ist damit eine Bedingung als Grund ausgegeben, die aus einem getrennten Bereich her und zwar zwingendermaßen Einfluss auf die Politik habe (auf diesen Zusammenhang mag Handke gekommen sein, weil er den politischen Grund mit der diskursiven Folge verwechselt); zudem ist es eine negative Bedingung, wonach ihm das Nicht als Grund erscheint; außerdem steht bei ihm die Quantität des (zu wenig bis nicht) Berichteten für die Qualität des Einflusses auf den Krieg. Auf Grundlage dieser Art des Wirkungszusammenhangs ist deshalb der »Fernfuchtler« das, was ein »Feldforscher« nie sein könne, nämlich identisch mit einem Kriegs-»Demagogen«, »Richter« und den »arge[n] Kriegshunde[n …] wie jene im Kampfgebiet«. Kurz, sie fabrizierten durch ein weniger an Bericht »Wörtergift« (H: 150, Herv. S.H.). Umgekehrt aber sei das distanz- und restlose, abstraktions- und ›kürzel‹-feindliche ›Verwickeln‹ in Menschen und Orte die Bedingung für Frieden. Wenn schon Politik, Serben und überhaupt Menschen keine Gründe für diesen Krieg darstellen – welche Gründe haben dann wenigstens jene »Fernfuchtler« unter den Journalisten, die ihren »Auslandshochsitz« nicht verlassen wollen und so erst den Krieg bedingen, wenn nicht verursachen? Diese Journalisten seien unverständliche, mitunter unmoralische, denn nur mit Rache oder Hass erfüllte (H: 151f.), mithin aber allesamt »blindwütige Reflexmenschen« (H: 154), also beachtenswerterweise summa dreifach willensvergessene Subjekte. Aber auch in seiner eigenen Generation findet Handke diese grundlosen bzw. unreflektierten Motive, das Feindbild und somit den Krieg fortzuschreiben.

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Seine Generation habe verpasst, »bildsam« zu werden (H: 156f.). Darunter fasst er unterschiedslos die Leser aus den verschiedenen Kriegsparteien Deutschland, Slowenien, Kroatien und Serbien (H: 159f.). So setzt Handke zu einem allgemeinen Appell an, den er nicht als ein »›Ich klage an‹« missverstanden wissen will, sondern lediglich als ein »Zu-bedenkenGeben« (H: 150). Er fordert das Vergessen alter Geschichten und ein gegenseitiges Zurkenntnisnehmen: »Aber ist es, zuletzt, nicht unverantwortlich, dachte ich dort an der Drina und denke es hier weiter, mit den kleinen Leiden in Serbien daherzukommen, dem bisschen Frieren dort, dem bisschen Einsamkeit, mit Nebensächlichkeiten wie Schneeflocken, Mützen, Butterrahmkäse, während jenseits der Grenze das große Leid herrscht, das von Sarajewo, von Tuzla, von Srebrenica, von Bihac, an dem gemessen die serbischen Wehwehchen nichts sind? Ja, so habe auch ich mich oft Satz für Satz gefragt, ob ein derartiges Aufschreiben nicht obszön ist, sogar verpönt, verboten gehört – wodurch die Schreibweise eine noch anders abenteuerliche, gefährliche, oft sehr bedrückende (glaubt mir) wurde, und ich erfuhr, was ›Zwischen Scylla und Charybdis‹ heißt. Half, der vom kleinen Mangel erzählte (Zahnlücken), nicht, den großen zu verwässern, zu vertuschen, zu vernebeln? Zuletzt freilich dachte ich jedes Mal: Aber darum geht es nicht. Meine Arbeit ist eine andere. Die bösen Fakten festhalten, schon recht. Für einen Frieden jedoch braucht es noch anderes, was nicht weniger ist als die Fakten. Kommst du jetzt mit dem Poetischen? Ja, wenn dieses als das gerade Gegenteil verstanden wird vom Nebulösen. Oder sag statt ›das Poetische‹ besser das Verbindende, das Umfassende – den Anstoß zum Erinnern, als der einzigen Versöhnungsmöglichkeit, für die zweite, die gemeinsame Kindheit. […] Oder einfach von der, unser aller, Gefangenschaft in dem Geschichte- und Aktualitäten-Gerede ablenken in eine ungleich fruchtbare Gegenwart.« (H: 158–160)

Handke geht in diesem letzten Abschnitt seines Berichts mit sich ins Gericht. Er selbst habe es vermissen lassen, alles aufzuschreiben. Er hadert damit, dass er das, was er seinen Schreibkollegen anempfiehlt, selbst nicht einlöse und mit diesem unvollständigen Bericht schon einen falschen, einen ›verwässernden‹, ›vertuschenden‹ Bericht abgebe, der deswegen nicht nur »obszön« sei, sondern auch »verboten gehört«. Die letztliche Leistung seiner Winterlichen Reise bestimmt Handke jedoch offensiv in etwas anderem als dem ordentlichen und integren Chronistenhandwerk. Diese kleine Form biete jetzt, wo Krieg ist, das »Poetische« für den Frieden353 : Es ist ein Bericht von dem Teil Serbiens, der nicht im Feindbild

353 In Handkes Bestimmung des Poetischen als Anderes zu den Fakten liegt meines Erachtens bei Brokoff zur Bestimmung desselben eine deutliche Differenz. Brokoff nimmt das Poetische tatsächlich als eine Art des Redens über Fakten. So kritisiert er Handke weniger für dessen Verständnis, sondern relativiert Handkes Gegensatz zwischen Poetischen und journalistischen Schreiben damit, dass es diesen Gegensatz (an sich) so gar nicht gebe und

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aufgeht und der es somit kritisiere und außer Kraft setze. Es sei in dieser Form »das Verbindende, das Umfassende«, es kompensiere, was der Gegenwart im Großen mangle. Womit diese »einzige Versöhnungsmöglichkeit«, dieses, wie Handke zuvor schrieb, ›Ausscheren‹ aus der »Unheilskette« (H: 157) ermöglicht werde, ist nicht die Ignoranz der »bösen Fakten«, vielmehr deren Subsumption unter das Erzählen. Retrospektiv wie prospektiv sei in diesem der Grund für jene zu suchen. Ein Versuch des Erzählens, eines von »unser aller […] Gefangenschaft« wenigstens ›ablenkendes Erinnern‹, sei nun sein Werk. Somit ist Handke, der als Kritiker des gegenwärtigen Kriegs im sich zersetzenden Jugoslawien und als Kritiker insbesondere der westlichen Kriegsberichterstattung über den ›serbischen Aggressor‹ die Reise antrat, am Ende seiner Reise zu einer erstaunlichen Einsicht gelangt: Grund dieses Kriegs sind, und das außerhalb jeder politischer Räson und jenseits einer bewussten Absicht, die ›erstarrten Bilder‹ auf allen Seiten. So ist Handke als Kritiker des Geschehenen und Gesagten schließlich doch, wenn auch unzufrieden, ihnen gegenüber verständnisvoll geworden. Die Kriegsrealität ist sowohl unterstellt, wie sie mit Handke zugleich nur uneigentlicher Ausdruck einer anderen, eigenen Wirklichkeit sei. Allein mit richtigem, weil vollständigem Erzählen oder zumindest mittels der poetischen Emphase seien blindlings alle politischen Konflikte, die sich praktisch und sogar im ›bösen Fakt‹ eines Kriegs austragen, mit einer abstrakten und allen Kriegen fernen Wirklichkeit zu versöhnen – bzw. bereits versöhnt. Nach Abschied eines Träumers vom neunten Land 1991, Noch einmal für Jugoslawien 1992 und Eine winterlichen Reise 1996 veröffentlichte Handke in den folgenden Jahren eine Reihe weiterer Reportagen über Jugoslawien und über die neu entstandenen Staaten. Noch 1996 schien Handke ein Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise »nötig«. Dieser Nachtrag war weniger als Replik, denn als Präzisierung der wegen der mittlerweile öffentlich stark kritisierten Ausführungen Handkes z. B. zu den Pressepraktiken westlicher Zeitungen gedacht.354 Handke revidiert hauptsächlich seine eigenen Ungenauigkeiten

das Poetische sehr wohl auch in den Medienberichten zu finden sei – und umgekehrt; in: Jürgen Brokoff: Srebrenica; S. 64f. 354 Peter Handke: Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise. In: ders.: Abschied des Träumers. Winterliche Reise. Sommerlicher Nachtrag. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998 (EA: 1996); S. 163–250, hier S. 167. Zu der Selbstkorrektur Handkes siehe auch: Thomas Deichmann: Einleitung. In: ders. (Hg.): Noch einmal für Jugoslawien. Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999; S. 9–16, hier S. 9f.; darüber hinaus: Lara Waldhof: Korrekturen? Peter Handkes ›Sommerlicher Nachtrag‹ als Reaktion auf die Kritik an seiner ›Winterlichen Reise‹. In: Stefanie Denz u. Dagmar Prikl (Hg.): Peter Handke und der Krieg. Innsbruck: University Press 2009; S. 159–168.

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und Übersetzungsirrtümer.355 Seine allgemeine Medienkritik der ›Kürzel‹ wie seine besondere Medienkritik zu den Feindbildern werden fortgeführt, sein Verfahren bleibt das der ›Augenzeugenschaft‹. Es gibt in diesem zweiten Bericht kaum neue Angriffe gegen die westlichen Medien, indes mehr Passagen mit Beschreibungen des Alltags und der Personen vor Ort in Serbien. Handke fuhr schließlich nach Bosnien und Srebrenica, die er im vorangegangenen Winter aus verschiedenen Gründen nicht aufgesucht hatte. Die dem Sommerlichen Nachtrag folgenden Texte über die ehemals jugoslawischen Teilrepubliken widmen sich insbesondere Serbien und den serbischen Ministerpräsidenten Slobodan Milosevic.356 Bei diesen – darunter vor allem Die Tablas von Daimiel als »Umwegzeugenbericht« zum Prozess gegen Slobodan Milosevics357 – bleibt der Eindruck bestehen, die parteiische Berichterstattung über Serbien in der internationalen Presse sei ungebrochen, habe sich aber für Handke unter dem ebenso ungebrochenen Mangel an Erklärung des ›Warum‹ und ›Wozu‹ als Ungerechtigkeit bzw. Böswilligkeit gegen Serbien manifestiert. Handke scheint darauf wiederum mit einer festeren Parteilichkeit für Serbien und vor allem für Milosevic zu reagieren.358 Wie in den ersten, oben näher vorgestellten Texten zu den politischen Entwicklungen im ehemaligen Jugoslawien versteht Handke auch in den folgenden Veröffentlichungen die Politik als Resultat öffentlicher Berichterstattung und öffentlicher Meinung. Auf diese absichtslose Politik zu verweisen und sie poetisch zu kompensieren, darin sieht Handke weiterhin die Aufgabe und die Leistung seiner literarisch-poetischen Arbeit. Exkurs: Handke-Debatte. Streit über die Bedingungen des falschen und richtigen Urteilens Die Reaktionen auf Peter Handkes Eine winterliche Reise setzten unmittelbar nach der Veröffentlichung ein und haben, mehrere Konjunkturen hindurch, bis heute zu keinem wirklichen Ende gefunden. Sowohl in Menge und Ton waren sie beachtlich. Die Entgegnungen im Feuilleton und in der Wissenschaft sollen in diesem 355 Peter Handke: Sommerlicher Nachtrag; S. 176–180. 356 Peter Handke: Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei JugoslawienDurchquerungen im Krieg, März und April 1999. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000; ders: Rund um das große Tribunal. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. Handke reist, weil es Teilgebiet des ehemaligen Jugoslawiens bzw. des serbischen Nachfolgestaats war, in das Kosovo, der dazu veröffentlichte Text: ders.: Die Kuckucke von Velika Hoca. Eine Nachschrift. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009. 357 Peter Handke: Die Tablas von Daimiel. Ein Umwegzeugenbericht zum Prozeß gegen Slobodan Milosevic. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005. 358 Eine solche Wandlung in Handkes Position vertritt ebenso: Susanne Düwell: Der Skandal; S. 581.

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Exkurs Thema sein, weil besonders sie sich anlässlich von Handkes SerbienBericht reflektierend und selbstproblematisierend auf die aktuelle diskursive Situation beziehen. Es ist auffallend, dass die Handke-Gegner und die weit geringere Zahl der Befürworter sich nicht nur in demselben Diskurs einfinden, sondern diesen gleichermaßen am gegebenen Fall konsolidieren. Jens Brokoff resümiert 2010 den wissenschaftlichen Forschungsstand zu Handkes Reisebericht und schreibt, in diesem gebe es eine »Trennlinie«: So wie die politische Betrachtungsweise das ästhetische Argument vernachlässigt habe, ignoriere umgekehrt die literaturwissenschaftliche Beschäftigung das Politische.359 Zum einen blickten verschiedene Literaturwissenschaftler auf Handkes Bericht als ein Beispiel politisch-kritischen Schreibens – allein weil es Literatur ist. So etwa widmet sich die Germanistin Anne Lindner 2007 dem ›jugoslawischen Werk‹ von Handke und resümiert: »Nur die Erzählung als das, was die Veränderung in die starren Systeme der sprachlich befohlenen Wahrnehmung trägt, könnte auch ›die Drachensaat der Geschichte‹ […] vielleicht aufbrechen. […] Handke […] versucht, von der ›Zwangsveranstaltung Geschichte‹ und von der Möglichkeit einer anderen ›entdeckerischen Menschheit‹ zu erzählen; bzw. läßt er seine Figuren erzählen. […] Das Erzählen bringt scheinbar heterogene Gefüge zusammen […], es löst die ›Bilderstarre‹ der Aktualität, bricht deren ›vorgestanzte Gucklöcher‹ auf, es suspendiert Subjektivierungen – z. B. der Serben als die ›Bösewichte‹ –, stellt die Frage nach den Bedingungen und ordnet das Erfahrungsfeld neu – und ist darin politisch.«360

Handke wird hier als Fall einer Literatur besprochen, die politisch durch ihre empathische Subjektivität und ästhetische Individualität und frei jeglicher spezifischer veranschaulichter Inhalte und Urteile ist – also allein dadurch, dass sie erzählt bzw. ›Erzählen‹ ist. Literatur wirke im Erzählen somit als abstraktes Korrektiv von Politik, die umgekehrt durch Nicht-Erzählen, durch »Bilderstarre« entfremdend wirke. Lindner erörtert Handkes Reisebericht und zugleich nicht; seine spezifische Stellung in der Auseinandersetzung um den politischen Sachverhalt, den Jugoslawienkrieg, wird unter den allgemeinsten Begriff des ›Erzählens‹ subsumiert und erscheint nur noch als Fall – neben allen anderen. Auf eine andere Weise abstrahiert der US-amerikanische Germanist Robert Weninger in seiner Studie Streitbare Literaten von Handkes Reisebericht. We359 Jürgen Brokoff: Peter Handke als serbischer Nationalist. Ich was, was ihr nicht fasst. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 07. 2010. Brokoff wiederholt den Mangel der HandkeRezepienten, sie hätten das politische Urteil nur getrennt von dem poetischen Verfahren betrachtet, in: Jürgen Brokoff: Srebrenica; S. 64. 360 Anne Lindner: Peter Handke, Jugoslawien und das Problem der strukturellen Gewalt. Literaturwissenschaft und politische Theorie. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2007; S. 199f., Herv. S.H.

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ninger nimmt Eine winterliche Reise als Fall deutscher literarischer Kontroversen in den Blick und betrachtet ihn als konstruktiven Beitrag für den »Fortgang der politischen Kultur«.361 Ungeachtet der konkreten Situation, in der der Streit den Standpunkt Handkes erst einmal negiert und in der der ›Fortgang‹ des Kriegs gegen Serbien wie die ungebrochene öffentliche Bejahung der Deutschen die Absichten Handkes konterkarieren, ist Weningers Urteil ein Blick vom diskursiven Resultat her – das offensichtlich gegen Handke und seinen Bericht durchgesetzt wurde.362 Lindners und Weningers Blicke auf Handkes Text etablieren, wenn auch von seiner spezifischen politischen Aussage ausgehend, ihre eigenen politischen bzw. kulturellen Inhalte. Daneben gibt es Arbeiten, die den Reisebericht Winterliche Reise vornehmlich politisch verstehen und daraus ihre Bewertung ableiten. So ordnet sich selbst Jürgen Brokoff in seinem Text zu einer der durch die ›Trennlinie‹ markierten Seiten zu. Brokoff führt für Handkes ›jugoslawisches Werk‹ das ästhetische mit dem politischen Moment so zusammen, dass er die Ästhetik als Mittel für den politischen Zweck nimmt. Damit betrachtet Brokoff die Winterliche Reise zwar nicht von vorn herein als einen Sach-, sondern zunächst als einen literarischen Text, jedoch diesen, so scheint es, wiederum als kaschierte politische Stellungnahme. Dementsprechend bewertet Brokoff Handkes Serbien-Text. Er sieht darin »Peter Handke als serbische[n] Nationalist«.363 Handke scheint bei Brokoff nicht (bloß) als Literat wertgeschätzt, wie bei Lindner, sondern (bloß) als Politiker kritisiert. Mirjana Stancic beschränkt ihre Betrachtung indes erklärtermaßen auf den politischen Aspekt in der Winterlichen Reise, entscheidet sich also dagegen, den Reisebericht als eine Schrift politischen Inhalts von immanent literarischem Selbstverständnis zu diskutieren. Auch Handkes »politisch[e] Ansichten« werden als solche nicht Thema. Diese kommen als Urteile lediglich im Vergleich zu Stancics vermutlich eigenen Erwartungen und zu einem politisch-konstruktiven Imperativ vor. Stancic bewertet Handkes Ansichten als »unüberlegt und nicht besonders interessant, gelegentlich auch verletzend«, der Text biete »keine relevante politische Vision«.364 361 Robert Weninger : Streitbare Literaten; S. 10. 362 Neben der funktionalen Bestimmung literarischer Streitfälle wie Handkes Winterliche Reise hat Weninger auch eine persönliche Haltung. Er macht deutlich, dass er Handkes Position nicht teilt; siehe: ebd.; S. 166. 363 Brokoffs Nachweis verläuft ähnlich zu den von ihm kritisierten Verfahren. Er konzentriert sich darauf, was Handke in seinen Texten »negiert«, »verschwiegen«, »geleugnet«, also in ihnen nicht gemacht hat. Neben der ›Leugnung‹ der serbischen Kriegstaten sei dies auch die »Abwendung von den Opfern«; in: Jürgen Brokoff: Peter Handke. Auch dieses Urteil wird in der bereits genannten wissenschaftlichen Publikation wiederholt bzw. dargelegt; in: Jürgen Brokoff: Srebrenica; insbesondere S. 72–75. 364 Mirjana Stancic: Der Balkankrieg; S. 213.

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Was Brokoff für die literaturwissenschaftliche Forschung attestiert, scheint ebenso auf die öffentliche Kontroverse um Handkes Reportage zuzutreffen. So kritisiert Thomas Baier, dabei Partei nehmend für die eine Seite, man habe die Winterliche Reise in der Öffentlichkeit nicht als einen Text »von einem Schriftsteller« zur Kenntnis genommen, sondern wie den Text eines »politischen Standpunktschreiber[s]«.365 Unmittelbar im Anschluss an die Veröffentlichung der Winterlichen Reise und angeheizt durch die anschließende Lesereise Handkes u. a. durch Deutschland war eine heftige Debatte entbrannt – ein »mittlere[r] Orkan« in der europäischen Medien- und Pressewelt.366 Die wichtigsten Wortmeldungen sind und zwar getrennt nach ihren gegensätzlichen Positionen zu Handke in mehreren Bänden zusammengetragen worden. Die Gruppe von Handkes Kritikern ist u. a. im Sammelband Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit von Tilman Zülch, die Gruppe seiner Befürworter in dem Band Noch einmal für Jugoslawien von Thomas Deichmann repräsentiert. Folgend sollen kurz die Hauptargumente bzw. -argumentationen der Kritiker und der (wenigen) Befürworter skizziert werden. Für eine ausführliche Analyse der politischen Kritiken an Handke im Rahmen der Debatte um Eine winterliche Reise verweise ich auf die Arbeit von Lothar Struck.367 Gegner und deren Maßstäbe: Handke ist vor allem Nicht-Bosnien-Reisender Tilman Zülch, zu jener Zeit Vorsitzender der Gesellschaft für bedrohte Völker, hat 1996 in Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit, wie es im Untertitel heißt, 16 Antworten auf Handkes Bericht zusammengestellt. Die Bedeutung des Haupttitels führt Zülch in der umfangreichen Einleitung aus: Handkes Bericht zeuge nicht von etwas Wirklichem, sondern umgekehrt von der Abwesenheit des Wirklichen; Handke habe auf seiner Reise »das falsche Land« besucht: »Er fuhr nach Serbien.«368 Schaut man in die in dem Band versammelten Widerreden auf Handkes Eine Winterliche Reise, ist diese negative Konfrontation von Handkes Text über Serbien mit den Tatsachen über Bosnien in der Tat das zentrale, einende Argument. Auf dieser Grundlage wird jedes widrige Urteil als Abwe365 Thomas Baier : Krieg im Kopf. Aufregung um Peter Handkes Reisebericht aus Serbien. In: Thomas Deichmann (Hg.): Noch einmal für Jugoslawien. Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999; S. 33–38, hier S. 36. 366 Thomas Deichmann u. Sabine Reul: Der ›sanfte Totalitarismus‹. Die Handke-Debatte: ›Wozu noch Literatur‹? In: Thomas Deichmann (Hg.): Noch einmal für Jugoslawien. Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999; S. 180–186, hier S. 180. 367 Lothar Struck: ›Der mit seinem Jugoslawien‹. 368 Beide Zitate entstammen dem ersten Abschnitt des Vorworts: Tilman Zülch: Vorwort. Sprechen Sie endlich mit den Opfern von ›Großserbien‹, Herr Handke! In: ders. (Hg.): Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit. 16 Antworten auf Peter Handkes Winterreise nach Serbien. Göttingen: Steidl 1996; S. 11–23, hier S. 11.

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senheit des eigenen Urteils und überhaupt Beurteilenkönnens gewürdigt. Das führt gleich zu Beginn des ›Disputs‹ zu einer widersinnigen Situation: Hatte Handke mit seiner Reise ins wirkliche Serbien das Unwirkliche des ›serbischen Aggressors‹ in der öffentlichen ›Erklärung‹ des aktuellen Kriegs aufzudecken versucht, wird der Täter-Dekonstruktion einfach die komplementäre Seite derselben Legitimation, das bosnische Opfer, entgegengehalten. Des Weiteren empfiehlt man Handke dessen eigenes Erkenntnisverfahren, Augenzeugenschaft. Zülch fordert Handke auf: Sprechen Sie endlich mit den Opfern von ›Großserbien‹, Herr Handke!369 Handke solle also nach Bosnien fahren und die Fakten, vornehmlich die bosnischen Todeszahlen, und somit den bosnischen Opfer- und serbischen Schuldstatus zur Kenntnis nehmen. Wenn Augenzeugenschaft Handke ein falsches Bild auf der einen Seite vermittelt haben soll, weshalb sollte es nun auf dieser Seite der Front ausgerechnet das richtige Bild liefern? Und in der Überzeugung, diese bosnische Wirklichkeit selbst spreche eine zwingende Parteinahme für sie aus – und andere oder konkurrierende Parteinahmen hätten sich dieser Wirklichkeit verweigert –, referiert Zülch auf zehn von dreizehn Seiten seines Vorworts Daten aus dem Krieg der bosnischen Seite, zusätzlich findet sich im Anhang des Sammelbands eine Liste mit Sachliteratur zum Bosnienkrieg.370 Nun ist es für diese Kritiken erstaunlich, dass sie, was sie bei Handke nicht nachgewiesen haben, produktiv wenden. Sie sind überzeugt davon, dass das Nicht bei Handke für ein Etwas von Handke – und von seinem Bericht – stehen muss. Sie beweisen das in ihrem Bemühen, dieses Nicht als etwas Objektives an dem Text und seinem Autoren nachzuweisen. Das zeitigt entsprechende argumentative Eskalationen: Die Aussage, wonach die bosnische Seite abwesend sei und also deren Leiden geleugnet werde, sei, wie es zum Beispiel einem dem Spiegel entnommenen Artikel heißt, bei Handkes Eine winterliche Reise »mehr zwischen als in den Zeilen« zu finden.371 Was im Wortlaut von Handke zu finden ist, zum Beispiel die spezifische Kritik an der Konstruktion des serbischen Feindbildes durch die westlichen Medien, kritisiert Reinhard Mohr mit der eigenen Übertreibung und damit mit einer Neudefinition der Medienkritik. Demnach würde Handke Wirklichkeit schlechthin leugnen, bei ihm sei »alles Lüge, alles Videogame«, reale Bezüge existierten

369 So heißt der (gewissermaßen programmatische) Titel von Zülchs Vorwort; ebd. 370 Ebd.; S. 12–21, S. 121–133. 371 O.V.: Dichters Winterreise. Peter Handkes Serbien-Reportage und die Intellektuellen. In: Der Spiegel, 6/1996; S. 190–193, hier S. 190.

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nicht mehr.372 Handke sei an Wirklichkeit oder an Wissen, auch wenn er das immer behaupte, niemals interessiert gewesen: »Nein, und hier liegt das große Mißverständnis, die Schräglage der feuilletonistischen Erregung, ihm [Handke; Anm. S.H.] ging es nicht um die wirklichen Orte des Krieges, also auch nicht um den wirklichen Krieg der Täter und der Opfer […]. Es ging ihm bei diesem gescheiterten Versuch einer Widerlegung einzig um seine Selbstsetzung, um die Poesie seiner Abwesenheit. Kein Krieg nirgends und Handke überall.«373

Ob die Winterliche Reise der »gescheiterte[]«, aber doch »Versuch einer Widerlegung« des existierenden Feindbilds war oder ob Handke nicht einmal das beabsichtigt habe – das ist an Mohrs Darlegung widersprüchlich. Die Argumentation Mohrs wird nur konsistent, wenn schon der Versuch der Kritik für sich als irrsinnig bewertet und dessen Scheitern als notwendig verstanden wird. Für Mohr scheint festzustehen, da Handke zwar von einem Krieg, von der öffentlichen Debatte und Serbien schreibe, das aber mit einem anderen Urteil tue, könne er überhaupt nicht die Wirklichkeit, stattdessen nur sich meinen. Das gerinnt Mohr zu einer eigenen Bestimmung. Handke verkörpere eine abstrakt leere Verweigerungshaltung, die nur ein positives Maß offenbart, nämlich Mohrs eigenes Verständnis der Wirklichkeit. So betreibe nicht etwa Mohr gegenüber Handke, sondern Handke gegenüber der Welt eine »Poesie der Abwesenheit«. Der Autor Dzevad Karahasan zieht in seinem, zuerst in der Zeit veröffentlichten Beitrag einen ähnlichen, wenngleich umfassenderen Schluss. Im Fall Handke handle es sich, weil Serbien vorkomme und Bosnien nicht, um eine eindeutig böswillige Leugnung, also um eine Abartigkeit der geistigen wie moralischen Verfasstheit. Für Karahasan erschien Handkes Eine winterliche Reise »als eine[r] der schändlichsten Beiträge ethischen Nihilismus unserer Zeit«.374 Hat Mohr das widerstreitende Urteil bereits mit der selbstbezüglichen und ignoranten Geisteshaltung seines Urhebers erklärt und Karahasan mit einer ethisch fragwürdigen Haltung, hält auch Gustav Seibt es für abwegig nachzuweisen, inwiefern sich Handkes Urteil gegenüber der Sache irrt. Für Seibt zeichneten sich Handkes Äußerungen durch »ihre offenkundige Absurdität« aus.375 Das sei eben kein Hinweis auf Handkes Gedanken bzw. auf sein Denk372 Reinhard Mohr : Eine böse Harmonie. In: Der Spiegel, 12/1996; S. 216–219, hier S. 217, Herv. S.H. Siehe dazu auch die Argumentation bei Wüllenweber unter Kapitel 2.2.3. 373 Ebd.; S. 219, Herv. S.H. 374 Dzevad Karahasan: Bürger Handke, Serbenvolk. In: Tilman Zülch (Hg.): Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit. 16 Antworten auch Peter Handkes Winterreise nach Serbien. Göttingen: Steidl 1996; S. 41–53, hier S. 44. 375 Gustav Seibt: Wahn; S. 67. Seibt schreibt kurz darauf, dass Handke seinen Text Winterliche Reise »freilich weniger auf politischen Absichten« gründet. Anscheinend solle man diesen Bericht nur noch als Psychogramm verstehen; ebd.; S. 68.

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vermögen, sondern ferner ein Zeichen für Handkes moralisches Unvermögen. Handkes Urteile seien »skandalös« und »empörend«. Schließlich formuliert Seibt damit den Übergang ins Polit-Moralische. Mit einem Wahn von Krieg und Blut und Boden identifiziert er Handke mit der Ideologie des Nationalsozialismus, Beweis eines schlichtweg illegitimen, eines als wahnsinnig und psychopathisch geltenden Standpunkts.376 Die kritische Auseinandersetzung im Feuilleton insbesondere in dieser Argumentationslinie endete nicht mit der unmittelbar an der Veröffentlichung des Reiseberichts anschließenden Debatte 1996. Für noch zwei Jahrzehnte wird der moralische Verstoß wegen des nicht geteilten politischen Urteils weiterhin bemüht. So ist es zum Beispiel anlässlich der Verleihung des Heine-Preises 2006 und des norwegischen Ibsen-Preises an Handke 2014 geschehen.377 Handke hat in einem Vorwort zu den Übersetzungen der Winterlichen Reise, das mitten in der Debatte im April 1996 verfasst wurde, diese Übergänge seiner Kritiker nachvollzogen. Er schreibt, dass ihn die Öffentlichkeit, allein weil bei ihm nun Serbien Thema ist und also Bosnien nicht vorkomme, als Leugner, Hetzer und Terrorist begreife.378 Aus Anlass des ›skandalösen‹ Verhaltens Handkes gegenüber dem aktuellen Krieg im ehemaligen Jugoslawien stellten verschiedene der Handke-Kritiker eine viel grundsätzlichere Frage: Sie fragten nach der prinzipiellen Fähigkeit von Dichtern und Intellektuellen, politisch zu urteilen. »Das wirklich Erstaunliche«, schreibt Thomas Baier aus Anlass der stattfindenden ›Abrechnung‹, »ist der unterschwellige Haß auf die Literatur, der sich auf den Literaturseiten ganz verschiedener Zeitungen angesammelt haben muß und nun aus Anlaß von Handkes Veröffentlichung offenbar hervorbricht. Das Wort ›Dichter‹ wird wie selbstverständlich als Schimpfwort gebraucht […].«379

376 Ebd.; für die willentliche Betitelung spricht die unkommentierte Freigabe zum Nachdruck in dem Sammelband von Zülch. 377 Vgl. dazu: Thomas Steinfeld: Aus der Politik gibt es kein Entkommen. In: Süddeutsche Zeitung, 23. 09. 2014. Steinfeld verweist anlässlich der Ibsen-Preis-Kontroverse auf die Ähnlichkeit der Debatten seit 1996 und inklusive 2006 zur Heinrich-Heine-Preis-Vergabe. Er fasst kurz die politische Kritik Handkes auf Grundlage seines Idealismus und die Logik der Politik treffend zusammen: »Peter Handke ist die Politik von Grund auf fremd. Er denkt nicht an Interessen, schon gar nicht in großen Interessen, deretwegen es Strategien, Allianzen und Einsatzpläne gibt. Deswegen landet er, jedes Mal, wenn er über Serbien reden will, konsequent beim Weinbau. Da die Politik aber gar nichts anderes kennt als das Denken in Interessen, hält sie Unpolitisches für Feindschaft«; ebd. 378 Peter Handke: Vorwort zu den Übersetzungen von ›Eine Winterliche Reise‹. In: Thomas Deichmann (Hg.): Noch einmal für Jugoslawien. Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 174. 379 Thomas Baier : Krieg im Kopf; S. 38.

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Was von der ›Rolle des Schriftstellers‹ anlässlich des Handke-Falls und des Bosnienkriegs – und in Erinnerung an den ehemals geschätzten kritischen Intellektuellen der Nachkriegszeit – neuerdings erwartet wird, sei an drei Beispielen kurz nachgezeichnet: Peter Schneider gehörte zu den ersten Autoren, die sich öffentlich mit Handkes Reisebericht auseinandergesetzt hatten. Schneider selbst war 1994 als Korrespondent im belagerten bosnischen Sarajevo tätig380 und war dafür von Handke in Eine winterliche Reise als ein schlechtes Beispiel, nämlich als Vertreter eines parteilichen Journalismus angegriffen worden. Laut Weninger war Schneider »Wortführer der Kritik« gegen Handke.381 In der mehrseitigen Replik Der Ritt über den Balkan hält Schneider dem deutlich fragenden Gestus der Winterlichen Reise seine ›Antworten‹ entgegen und begegnet Handkes Verunsicherung der Legitimität der aktuellen westlichen Parteilichkeit im Krieg mit der Verunsicherung von Handkes Urteilskraft und der wiederholten Versicherung der eigentlichen Legitimität. Dafür reflektiert Schneider über die Gründe, inwiefern Handke nach seiner Serbienreise immer noch auf dem Noch-nicht-Geklärten und überhaupt auf Nicht-Klärung dessen, was den Krieg eigentlich begründet, beharrt. Zum einen beantwortet das Schneider moralisch; zum anderen aber kommt Schneider auf die allgemeine Rolle der Intellektuellen in diesem Krieg zu sprechen. Schneider teilt seine Verwunderung mit, dass sich deutsche Intellektuelle aus dem aktuellen Krieg in Bosnien heraushalten. Dass es dann Handke war, der sich so zu Wort meldete, hat ihn enttäuscht: »Und was die Intellektuellen angeht, so gab es in all den vier Jahren kaum eine deutsche Stimme von Gewicht, die Partei ergriffen hätte. […] Ich bin von bosnischen Kollegen immer wieder gefragt worden, warum bisher keiner der berühmten, im ehemaligen Jugoslawien publizierten deutschen Autoren wie Grass, Heiner Müller oder Christa Wolf seine Stimme erhoben habe, und ich habe nicht viel Eindruck gemacht mit der paraten Antwort, niemand könne einem Schriftsteller vorschreiben, wann und wozu er sich äußern solle. Um so [sic] bedrückender scheint es mir, daß jetzt der erste weithin hörbare Autor deutscher Zunge den Bosniern ausgerechnet als Interpret ihrer Belagerer entgegentritt.«382

Schneiders gute Meinung von den Intellektuellen kennt demnach eine maßgebliche Bedingung. Dass sie sich mit ihrem unabhängigen und kritischen Geist den sozialen und politischen Gegebenheiten widmen, scheint weniger zu wiegen 380 Zu Peter Schneiders Reportage Der Sündenfall Europas siehe ausführliche Besprechung Kapitel 3.2.2. 381 Robert Weninger : Streitbare Literaten; S. 172. 382 Peter Schneider: Der Ritt über den Balkan. In: Der Spiegel, 3/1996; S. 163–165, hier S. 164f.

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als dass sie sich als »Interpret« im positiven Sinn, also als Rechtfertigende des politisch durchgesetzten Urteils zeigten, das gegenwärtig heiße: Bosnier sind Opfer und Serben »Belagerer«. Ein weiterer Spiegel-Artikel fragt anlässlich von Dichters Winterreise schon im Untertitel, Peter Handkes Serbien-Reportage und die Intellektuellen, nach der Rolle der Intellektuellen in dieser Debatte. Richtet sich darin die erste Frage – »Wie naiv kann ein Schriftsteller im reifen Mannesalter sein?«383 – noch gegen Handke persönlich und dessen anfängliche Hoffnung, sein Bericht werde wohl positiv aufgenommen werden, will der Artikel im Folgenden erhärten, dass Dichter und Intellektuelle in politischen Fragen generell ahnungslos seien. Einerseits verweist der Artikel auf Max Frisch. Dieser habe wegen seines vergeistigten Standpunkts das nationalsozialistische Deutschland nach einem Besuch 1935 nicht gänzlich verurteilen wollen. Andererseits lässt der Artikel Andr8 Gide für sich sprechen. Gide meinte selbstkritisch, dass er als Schriftsteller seine »Inkompetenz« fühle, je mehr er sich mit »politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Fragen befasse«.384 Auf diese zwei Fälle blickend stellt der Artikel die rhetorische Frage: »Sind Handke solche Zweifel fremd?«, und schließt mit dem ebenso rhetorischen Urteil: »Weiß der Dichter mehr als alle profanen Faktenhuber?«385 Der Artikel geht nicht auf das Urteil ein, mit dem Handke jenem Urteil, das laut Artikel einzig zu vertreten sei, entgegensteht. Es wird ein Grund für den Dissens getrennt von dem Inhalt des Dissenses gesucht: Der Intellektuelle besitze die Urteilskraft insbesondere für das Sujet Politik nicht. Es sei dem Intellektuellen in seinen öffentlichen Verlautbarungen also generell nicht politische Mitsprache, sondern Selbstrelativierung geboten. – Was richtiges Urteilen in diesen politischen Fragen auszeichnet, ist somit negativ geklärt, wenn auch nicht explizit ausgesprochen: Wenn, dann sei ein Urteil, das diskursiv bereits Gültigkeit genießt, weil es politischer ›Fakt‹ ist, zu vertreten. Deutlicher formuliert es Reinhard Mohr. Er mahnt bei den Intellektuellen ›Realismus‹ ein. Das macht Mohr, indem er den nicht vorhandenen Realismus bzw. dessen abseitige Kompensationsangebote unter den Intellektuellen geißelt. Ihre Sicht auf den Bosnienkrieg bedeute nicht nur uneigentliche, sondern schädliche, ›böse Harmonie‹386 : »Eine neue Kultur aggressiven Ver- und Weg-Schauens, die sich in einer vorpolitischen Weihestimmung verwirklicht, hat ihre Geburtsstunde erlebt. Was noch vor wenigen Jahren als Ideologie einer heilen Welt mit beißendem Hohn bedacht worden wäre, ist 383 384 385 386

O.V.: Dichters Winterreise, S. 190. Ebd.; S. 192f. Ebd.; S. 192, 193. Reinhard Mohr : Eine böse Harmonie.

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zum esoterischen Bedürfnis vieler geworden: eine hart am Rande des Kitsches balancierende Existenzmetaphysik, die von der bösen Welt draußen nichts mehr wissen will und zugleich routiniertes Dissidententum pflegt. […] Ihr von der Politik zutiefst enttäuschter, pseudokritischer Skeptizismus gegen die ›großen Schrecklichkeiten‹ (Handke) der Welt ist das Signum eines neuen Spießertums: Weil man nicht mehr glauben kann (und will), was man sieht, glaubt man lieber dem Dichter […]. In den Zeiten der moralischen Unübersichtlichkeit sorgt seine ästhetische Subjektivität, die sich ihre eigene Welt schafft, für Orientierung: Weltbild statt Wirklichkeit. Gemütlichkeit kennt keine Grenzen.«387

Mohr sieht hier, wenn nicht eine neue Zeit, so doch eine neue Kultur anbrechen, die mit Handke ihren ›Guru‹ gefunden habe. Diese neue Kultur zeichnet sich seiner Meinung nach durch ihr vor-politisches, ideologisches, esoterisches, metaphysisches und deswegen auch kunstloses Dissidententum aus, sei somit also alles andere als eine Kritik, die ihren Namen verdient. Die Gründe, weshalb jene, die Mohr im Auge hat, grundsätzlich nicht kritikfähig und auf ›aggressive‹ Weise auch nicht kritikwillig sind, bleiben ausgespart. Unter Mohrs Blick gerinnt die disparate Vielzahl von Kritikern und Skeptikern allein wegen ihres Nicht-Teilens des gültigen Urteils zu einer Identität des ›Negativen‹ und zu einer für ihn letzten Endes positiven Identität eigener Art. Evidenz für diese besondere Identität liefert Mohrs Rhetorik. Sprachlich dicht wird konstruiert, was eines sachlichen Beweises harrt, nämlich die zeitgeistige Bewegung, die aus eigenem Antrieb Mohrs Urteil vermissen lässt: eine »Kultur aggressiven Ver- und Weg-Schauens«. Dass den Kriegsskeptikern ihre Meinung bzw. ›Lebensart‹ für sich schon nicht kritisiert, aber erst recht nicht gelassen wird, verdeutlicht der Anspruch, den Mohr auf diese Meinungen erhebt. Ihre vielzähligen Gründe, »von der Politik zutiefst enttäusch[t]« zu sein, sind Mohr eben keine Gründe, »Weltbild statt Wirklichkeit« zu wählen. Weder der ästhetische noch irgendein Subjektivismus und scheinbar kein anderes unabhängiges Urteil soll sich dem entziehen, was die Objektivität der Wirklichkeit diktiere. Was Wirklichkeit ist, die Mohr in diesem Fall zum ›Dogma‹ nimmt, ist der politisch bzw. gesellschaftlich durchgesetzte Blick, in diesem Krieg Partei für Bosnien, gegen Serbien und auf jeden Fall für die militärische Intervention zu ergreifen. Mohr verlangt für diesen Blick die positive Zustimmung aller und keine »Kultur« der Segregation, der »böse[n] Harmonie«. Statt das gesellschaftlich um sich greifende ›Wegschauen‹ wegen der Realität, die die Politik stiftet, zu kritisieren, besteht Mohr auf dem ›Hinschauen‹ auf die Realität, weil sie die Politik stiftet.

387 Ebd.; S. 217.

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Verteidiger und deren Maßstäbe: Handke ist nur Medien-Kritiker Thomas Deichmann hat 1999, drei Jahre nach dem Beginn der Debatte, den Sammelband Noch einmal für Jugoslawien. Peter Handke herausgegeben. Der Titel referiert explizit auf Handkes Miniatur aus dem Jahr 1992 und mag damit bereits darauf hinweisen, dass es bei den hier versammelten, in der Debatte – gemessen an Zahl und Resonanz – eher randständigen Texten darum geht, Handkes Serbien-Bericht aus dem Jahr 1996 verständnisvoll zu diskutieren. Anders als etwa Zülch positioniert sich Deichmann mit dem Vorwort zu diesem Band nicht ausdrücklich in der Debatte, sondern nimmt, sicher dem zeitlichen Abstand geschuldet, einen distanzierten Blick auf sie ein. Zuerst gibt Deichmann die Situation jener Monate wieder, wonach mit der Veröffentlichung von Handkes Winterlicher Reise »Kritiker allerorts umgehend in Stellung« gegangen seien.388 Sie seien dem Bericht mit »Rechtfertigungsdrang, Entrüstung und zynischen Unterstellungen« begegnet, die »mitunter allein darauf zielten«, Handkes »persönliche und schriftstellerische Integrität in Frage zu stellen«.389 Die positive Resonanz, auf die Handke bei Zuhörern seiner Lesereisen stieß, habe »in der Kritik […] kaum Erwähnung« gefunden.390 Die ›Verteidigung‹ von Handkes Bericht geht Deichmann (und in einem späteren Artikel zusammen mit Sabine Reul) in einer besonderen Weise an. Nicht Handkes Aussagen z. B. zur Debatte über die Jugoslawienkriegsberichterstattung werden nochmals dargelegt, auch werden die Kritiken nicht geprüft und gegebenenfalls sachlich verworfen. Stattdessen fragt Deichmann und zwar getrennt von der Kritik nach den Bedingungen ihres Entstehenkönnens. Deichmann und Reul holen für ihre Suche nach den Bedingungen historisch und gesellschaftlich aus: Was 1996 die Winterliche Reise an Reaktionen auslöste, sei 1989 angelegt. Denn 1989 habe eine maßgebliche Zäsur im gesellschaftlichen Selbstverständnis bedeutet, die »alt[e] Ordnung« sei aufgegeben worden. Ebenfalls getrennt von dem, was die Sache des neuen vereinten deutschen Staats für die Menschen ideell bedeutete oder was sie ihnen praktisch bereitete, würden die Menschen, so Deichmann, nach einem zusätzlichen kollektiven bzw. kollektivierenden Einen verlangen. Entsprechende »Institutionen wie Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Verbände und Vereine« mit der in ihnen »verankerte[n] Bildungskraft« und ihrer Funktion als »primär[e] Orientierungs- und Ideenlieferanten«, die die etablierte neue Ordnung repräsentierten und durchsetzten, fehlten.391 Diese »Art Vakuum« habe eigene gesellschaftliche, insbesondere meinungsbildende Entwicklungen begünstigt und losgetreten – mit 388 389 390 391

Thomas Deichmann: Einleitung; S. 9. Ebd. Ebd. Ebd.; S. 11.

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entsprechenden Folgen auch für die aktuelle deutsche Kriegsberichterstattung der 1990er Jahre: »Die Medien stießen in eine Art Vakuum, das mit dem Fall der Mauer entstanden war. Diese Entwicklung prägte das Selbstverständnis vieler Journalisten dergestalt, daß sie, ihren gewachsenen Einfluß spürend, dazu übergingen, sich als Moralvermittler und politische Richtungsgeber, als Ankläger und Richter zu gebärden. Dieser neue Trend trat im Verlauf des Balkankrieges immer deutlicher in Erscheinung. Journalistische Grundsätze wie Distanz, Sachlichkeit und Sorgfalt fielen ihm zum Opfer. Die moralische Botschaft wurde wichtiger als die Tatsachen und bestimmte alsbald auch die Auswahl der nachrichtenrelevanten Fakten. Als Folge entstanden Tabus und Denkverbote, die nicht überschritten und hinterfragt werden durften.«392

Am Phänomen der Handke-Debatte 1996 hält Deichmann etwas sehr Abstraktes für erklärungsbedürftig. Der Dissens, der sich in der Debatte austrug, sei nicht wegen seines Stoffs von Bedeutung und mit den konfligierenden Standpunkten zu erklären; der Dissens sei vielmehr Ausdruck einer allgemeinen Schieflage der deutschen Gesellschaft und ihrer medialen Öffentlichkeit. Er trägt sich vor als Vakuum, als sich bloß nur ›gebärdende‹ Moral, als Selbst›vergessenheit‹ des journalistischen Ethos und in »Tabus und Denkverbote[n]«. Der Balkankrieg erscheint als der Moment, der für diese Lage eine besondere Gelegenheit bot und in dem diese Entwicklung als größere Tendenz deutlich wurde – eine Tendenz, die sich durch sich selbst, quasi tautologisch erklärt. Damit ist der Streit um Handkes Serbien-Buch neu bestimmt: Dieser Streit erklärt sich nun aus den Journalisten. Die Journalisten hätten eine gesellschaftliche Situation, der eine neue Ordnung noch fehlte, für sich genutzt – nicht für einen spezifischen Inhalt, sondern aus eigener Selbstbehauptung und mit einem Beharrungswillen, mit dem sie sogar das eigene Handwerk ›verrieten‹. Das, so schreibt Deichmann, habe Handke erkannt und zum Gegenstand genommen. Eine winterliche Reise habe dieses Verhalten der Journalisten »auf poetische Art thematisiert«.393 Der »Kampagnenjournalismus«, der sich selbst »humanitär und friedensstiftend« verstehe, wurde in seiner »unredliche[n] Anmaßung [gebrandmarkt]«.394 Handke habe mit seinem Bericht das »Sprachund Bildmonopol der Medien ins Wanken« gebracht.395 So erscheint der Streit um Handke historisch und durch den Journalismus bedingt. Jedoch, dass sowohl Deichmann sich als Teil der nach Orientierung bedürfenden Gemeinschaft den gesamtgesellschaftlich wirkenden Bedingungen entziehen, als auch Handke seinen Bericht in einer Zeitung veröffentlichen 392 393 394 395

Ebd. Ebd.; S. 11f. Ebd.; S. 11. Ebd.

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konnte, das beides deutet auf den theoretischen Mangel dieser Erklärung. Der Grund zum einen für den Streit um den diskursiven Konsens in der Öffentlichkeit wie zum anderen für die Existenz des serbischen Feindbilds scheint nicht in jenen, von den unmittelbaren Inhalten der Debatte getrennten Bedingungen zu liegen, sondern eher in ihr. Mit einem weiteren, zum ersten Erklärungsversuch ganz widersprüchlichen Phänomen widmet sich Deichmann zusammen mit Sabine Reul im Aufsatz Der ›sanfte Totalitarismus‹: Die von heftigen Angriffen gezeichnete Debatte über Handke sei gar nicht nur aus den Kreisen der Medien, sondern größtenteils dem eigenen Kreis der Intellektuellen und Schriftsteller erwachsen. Deichmann und Reul schreiben, wie dem Rest der Gesellschaft sei ebenso der Intelligenz 1989 der ›stabile Rahmen‹ abhandengekommen. Auch sie habe nach dem Ordnenden »ihre[r] eigenen Positionen« gesucht – das aber in einem von »Kopflosigkeit« gezeichneten »Neben- und Durcheinander«: »Seither befindet sich die Intelligenz auf steter Suche nach neuen Anliegen und Betätigungsfeldern. Sie hat es aber bislang nicht fertiggebracht, an die Stelle des früher die Orientierung erleichternden Rechts-Links-Gegensatzes neue geistige Zeichen zu setzen, die Selbstvertrauen, Kohärenz und Handlungsfähigkeit begründen könnten. Daher das Neben- und Durcheinander von pessimistischer Kleingeisterei, Kopflosigkeit und inbrünstigem Einsatz für vermeintlich hehre Zwecke […] – von denen der neueste jedoch immer nur eine Nummer selbstzerstörerischer zu sein scheint als der letzte. Wenn Wörter dabei zu bloßen Geschossen werden – wer kann es da übelnehmen, daß ein Autor in ›andersgelben‹ Marktwaren mehr friedensstiftende Kraft vermutet als in den Hirnen der kritischen Intelligenz?«396

Deichmann und Reul betrachten die Debatte um Handke als den neuesten Fall eines Problems, das die Intelligenz nicht mit dem einen oder anderen Inhalt und gegebenenfalls durchaus verschieden und gegensätzlich, sondern ausschließlich mit sich hat. Handke war somit vielleicht Gegenstand, sicher aber nicht Grund des internen Zwists. Der aktuelle Handke-Fall wirke nun »nur eine Nummer selbstzerstörerischer« als die Fälle zuvor. Der für die weitere Argumentation von Deichmann und Reul grundlegende Gedanke der ›Selbstverunsicherung‹ durch 1989 erscheint insofern schwer nachvollziehbar, als politische Themen z. B. um die Wiederaufrüstung Westdeutschlands oder während des Historikerstreits der 1980er Jahre bereits für größte, auch das eigene Selbstverständnis thematisierende Debatten unter deutschen Intellektuellen und Literaten verantwortlich waren, also mit 1989 diese ›Suche‹ keineswegs erst einsetzte. Dessen ungeachtet wird etwas anderes entschieden und dieses Andere im gewissen Sinn gegen den unmittelbaren Schluss auf das Beobachtete gesetzt: Trotz der Konflikte unter den Intellektuellen wird das Kollektivsubjekt ›die‹ Intelligenz beibehalten; von den 396 Thomas Deichmann u. Sabine Reul: Der ›sanfte Totalitarismus‹; S. 185.

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einzelnen Debatten – ob der Literaturstreit um Günter Grass’ Roman Ein weites Feld oder der Streit um Peter Handke – wird verfremdend abstrahiert, als ob im Gegeneinander sich ein eigentliches, leeres Miteinander austrage.397 Auf dieses unbedingt notwendige, aber »bislang nicht fertiggebrachte« Miteinander beziehen sich Deichmann und Reul in einem Maß, dass ihnen die Handlungen der Intellektuellen, insofern sie untereinander immerhin einen Streit losbrechen und über lange Zeit vehement führen, als »Handlungsunfähigkeit«, als fehlendes Selbstvertrauen und als »Kopflosigkeit« erscheinen. Allein die Einheit ›der‹ Intelligenz im Auge, rechnen Deichmann und Reul es Handke hoch an – oder sie ›können‹ es Handke nicht ›übelnehmen‹ –, dass er dieser stattfindenden »selbstzerstörerischen« Desintegration der Intelligenz seine »friedensstiftende« Beschreibung des serbischen Alltags entgegenhält. Dass nun die mit 1989 einsetzende »intellektuelle Verkommenheit«398 auf Handke ›niederprallt‹, habe eine eigene, eine allgemeine Qualität: »Die Kampagne gegen Peter Handke wäre, für sich betrachtet, vielleicht nicht viel Aufhebens wert – wäre da nicht der beunruhigende Umstand, daß sich in ihr ein gesamtgesellschaftlicher Trend manifestiert, der wohl als sanfter Totalitarismus bezeichnet werden muß. Sanft, weil er nicht von oben und mit Gewalt und Kerker, sondern aus der Mitte kommt, mit Moral und Fürsorge für Opfer auf den Lippen.«399

Mit dem »Umstand« des »sanfte[n] Totalitarismus« halten Deichmann und Reul treffend fest, dass es in der deutschen Öffentlichkeit ein durchaus beachtenswertes Bestreben gab, gegen Handkes Serbien-Verständnis zu argumentieren – in einer erstaunlichen Geschlossenheit, Vehemenz und Weise. Die Erklärung dieses Geschehens als ein allgemeines, in sich konkret gar nicht mehr bestimmtes Bedürfnis nach einem Konsens, der nur um seiner selbst Willen angestrebt wird, ist ungenügend, insofern sie die Ausnahmen wie Handke und seine Verteidiger nicht erklärt und die thematische bzw. politische Spezifik des Streits nicht fassen kann. Dessen ungeachtet verdeutlicht der »sanfte Totalitarismus« einen Blick auf die aggressive Handke-Gegnerschaft, der auch von anderen geteilt bzw. selbst erdacht wurde. So finden sich solche erklärenden ›Umstände‹ der Handke-Kritik in vielen der Verteidigungs- und Rechtfertigungstexte, die u. a. auch im Band Noch einmal für Jugoslawien. Peter Handke versammelt sind. Der gesamtgesellschaftliche Vereinheitlichungswille als Grund für die Feindschaft gegenüber Handke in gleichzeitiger Entfernung von dem Gegenstand des aktuellen Bos397 Diese einnehmende Perspektive auf die Kontroverse nimmt Weninger ein; er argumentiert ebenso wie Deichmann und Reul funktional. Im Streit zeige sich eine paradoxale, mithin aber konstruktive Praxis; siehe: Robert Weninger : Streitbare Literaten; S. 5f. 398 Thomas Deichmann u. Sabine Reul: Der ›sanfte Totalitarismus‹; S. 185. 399 Ebd.

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nienkriegs wie von Urteil und Text der Winterlichen Reise zeigt sich in ähnlich elaborierter Weise als das zentrale Argument seiner Verteidiger Andreas Kilb, Thomas Baier, Willi Winkler, Peter Turrini oder Alfred Hrdlicka: Andreas Kilb schreibt in der Zeit bereits im Januar 1996 gegen die ersten Handke-Kritiker.400 Er verteidigt Handkes Ansatz, dem unhinterfragten SerbenTäterbild besonders der deutschen Öffentlichkeit entgegenzudichten. Diese Öffentlichkeit »schurigelt« ihn, wolle »gar nicht diskutieren«, ihr erscheint Handke als »hochgefährlicher Meinungs-Anarch, der sofort zum Schweigen gebracht werden muß«. Inwiefern Kilb dieses »einsame[] Ich« des Augenzeuglers Handke lobt und wofür er es verteidigt, ist nicht inhaltlich, sondern methodisch: Es ist Handkes individueller Widerspruch gegen »unser besserwisserisches Wir«, gegen deren »trostlose Rechthaberei« er, selbst wenn er irre, noch recht behalte. Peter Turrini hält an der Berichterstattung über den Jugoslawienkrieg fest, dass diese vereinnahmend wirke. Die Öffentlichkeit lasse ihn ›als Betrunkenen‹ zurück, sei jedoch in ihrer Wirkmächtigkeit ferner nicht bestimmbar.401 Turrinis Landsmann Alfred Hrdlicka interpretiert diese Fülle der einheitlichen Standpunkte gegen Serbien und Handke als Ausdruck einer Übereinkunft und zwar jenseits der in den Beiträgen ausgesprochenen, von den Handke-Kritikern geteilten Argumente. Hrdlicka schreibt von der »Gleichschaltung der Berichterstattung«, die sich im offiziellen Sprachgebrauch »spiegelt«.402 Das Subjekt, die Instanz oder nur der Zweck dieses Gleichschaltens bleiben diffus. Lothar Baier z. B. hat die Frage nach dem Subjekt eines solchen Gleichschaltens in das Phänomen selbst hineinverlagert. Dass sich die überwiegende Zahl der Debattenbeiträge um Eine winterliche Reise so vehement und eindeutig parteilich gegen Handke positionierten, wird von Baier nicht an den in den Kritiken individuell formulierten Urteilen, in ihren politischen und diskursiven Eigenarten nachgegangen. Er proklamiert eine »Tendenz zu einem einzigen Gesinnungsmonopol«403, den die Öffentlichkeit nicht selbst zu gestalten, sondern dem sie stattdessen unterworfen zu sein scheint. Hinter den sich in ihren Ansprüchen etc. aussprechenden und zum Teil widersprechenden Wortmeldungen sieht Baier 400 Andreas Kilb: Das neunte Land. In: Die Zeit, 19. 01. 1996. 401 Turrini führt aus, dass er nicht »von guten Dichtern und bösen Journalisten« reden wolle. Aber auch er abstrahiert von den Inhalten der Kritiken hin zu den Bedingungen ihrer Entstehung. Er geht davon aus, dass sich in ihnen »beide[] Methoden, Welt wiederzugeben, gegenüberstehen«, dementsprechend sei der Streit also aus Arten und Weisen, weniger aus dem Dissens im Inhalt entstanden. Peter Turrini: Ein vernünftiges Angebot. In: Thomas Deichmann: (Hg.): Noch einmal für Jugoslawien. Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999; S. 157f. 402 Alfred Hrdlicka: Rest-erreich! In: Thomas Deichmann: (Hg.): Noch einmal für Jugoslawien. Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999; S. 39f. 403 Thomas Baier : Krieg im Kopf; S. 33f.

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einen, im Kern unvernünftigen, »ungeschriebenen atavistischen Codex« walten.404 Baier nennt diesen an anderer Stelle einen grund- wie motivlos, denn allseits herrschenden Wert namens »political correctness«.405 In der Antwort ›Totalitarismus‹ auf die Frage nach dem Grund des gegenwärtigen, vehement verteidigten Konsenses zum aktuellen Krieg zeigt sich zwischen Handke und seinen Verteidigern eine Übereinstimmung: Handke beschreibt eine Phalanx der Medien gegenüber Serbien, findet dafür jedoch keinen vernünftigen Grund – stattdessen immer nur konsensuelle Unvernunft. Einerseits sicher, dass es diese Übereinkunft unter den Medien geben muss, andererseits unsicher, worin sie begründet ist, versieht er seine Beobachtungen und Analysen der Kriegsberichterstattung des Öfteren mit der Frage, ob er sich in dieser vehementen Feindschaft der Öffentlichkeit gegenüber Serbien täusche oder, ebenso rhetorisch, ob das alles nur Zufall sein könne. Der bestimmend unsichere Duktus der analytischen Teile seines Reiseberichts zeigt sich besonders auffällig an den unzähligen Fragezeichen. Was Handke dieser medialen, öffentlichen Phalanx jedoch entgegenhält, trägt die begriffslose Bestimmung in sich. Der Gegenstand der Empörung, das so manifest-konsensuelle wie seiner Meinung nach falsche Urteil zum aktuellen Krieg, wird verlassen und durch ein Drittes bestimmt und legitimiert: Zum einen interpretiert Handke die serbenfeindlichen Urteile der Medienberichte wohlwollend um, indem er diesen unreflektiertes ›Fernfuchtlertum‹, also mangelnde Bedingungen fürs Urteilen unterstellt; zum anderen bemisst er die Berichte an seinem Ideal, wonach Krieg niemand ernstlich zum Zweck habe. Dergestalt nehmen Deichmann und Reul (und in verwandter Weise die anderen Verteidiger Handkes) die Medienberichterstattung und die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Bosnienkrieg wie die Debatte um Handke zur Kenntnis. Auch sie abstrahieren von den konkreten und gegensätzlichen Urteilen zum Krieg, abstrahieren dabei von ihnen weg hin zu einem neuen Gegenstand. Sie nehmen statt des wortreich und explizit in der Debatte ausgetragenen politischen Dissenses dessen Bedingungen in den Blick und legen soziologisch (nicht erkenntnistheoretisch oder moralisch wie Handke) dar, dass das Feindbild wie die anschließende Debatte nicht durch deren Inhalte, sondern durch eine allgemeine Situation einer nach 1989 verunsicherten Gesellschaft bestimmt sei, die in den Institutionen wie in ihrer Gesamtheit als Streit zutage 404 Ebd.; S. 34. 405 Ebd.; S. 35. Die wissenschaftliche Literatur erklärt die Kritiken an Handke gleichsam weniger mit Blick auf deren spezifischen Argumente. Die Analyse thematisiert am Rande den politischen Inhalt, auf den sich Handke explizit bezog und über die die Debatte entstand. So schreibt etwa Anne Lindner in ihrer Arbeit von einer eher konturlosen und nur im weitesten Sinne einem Subjekt zuordenbaren ›strukturellen‹ Gewalt; Anne Lindner : Peter Handke; S. 199f.

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trat. Das Dritte, in das sich die parteiisch berichtende und streitende Öffentlichkeit verwandelt hat, erscheint schließlich entweder als ein Kollektivsubjekt, das in dem Zwist seinen Einheitswunsch äußert, oder als ein diffuser, allein in sich begründeter ›Totalitarismus‹ des öffentlichen Meinungswesens. Diese Erklärung arbeitet mit einer interessanten, bei Handke zumindest auch explizierten Unterstellung: Vom aktuellen Gegenstand des Kriegs als Sache ›hinweg‹abstrahiert und in den Reden trotzdem immerzu damit umgehend, beziehe sich auf Krieg jeder nur uneigentlich; und umgekehrt sei der Krieg und die deutsche politische Bezugnahme auf ihn ebenso uneigentlich, absichtslos in der Welt. Handke und die exemplarisch diskutierten Verteidiger der Winterlichen Reise zeigen: Aus den anfänglichen Kritikern der parteiischen westlichen Berichterstattung über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien werden mittels ihrer gerade dem Politischen flüchtenden Erklärungen letztlich doch, wenn auch kritische, Rechtfertiger dieses Zustands. So sind sie vom Resultat her betrachtet ganz bei ihren diskursiven Gegnern.

3.2.5 Professionelle Betroffenheit in Fiktionen schreibender Journalisten. Otmar Jenner: Sarajevo Safari. Roman (1998) Peter Schneider hatte anlässlich der Veröffentlichung von Handkes Winterlicher Reise resümiert, dass er bisher gewichtige Reaktionen deutscher Intellektueller auf die Kriege im früheren Jugoslawien nicht vernommen habe. Er erklärte es sich damit, dass »niemand […] einem Schriftsteller vorschreiben [könne], wann und wozu er sich äußern soll«.406 Dieses Schweigen ist bemerkenswert gemessen daran, dass es sich bei dem Einsatz in Bosnien 1995 um die erste militärische Kriegsbeteiligung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg handelte und sich die deutschen Intellektuellen bis vor wenigen Jahren noch als die Instanz verstanden, die die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg, Krieg sei gerade in Deutschland abzulehnen, gegenüber ihren Regierungen und Gesellschaften in Ost wie West einklagten. Nun hatte der Literat Peter Handke 1996 mit der Winterlichen Reise den ersten weithin rezipierten Text über den Jugoslawienkrieg veröffentlicht. Dieser zeichnet sich in seiner Form aus Analysepassagen, Glossen, Beschreibungen und Selbstreflexionen als ein – wenn auch mit dezidiert ›poetischem‹ Anspruch – eher essayistisches Werk aus. Die ersten genuin literarischen Texte über den Krieg in Jugoslawien haben relativ spät, 1998, beachtenswerterweise Journalisten verfasst. Dass sich Journalisten dem Literarischen und vornehmlich dem Genre des Romans zuwendeten, hat Beatrix Langner beschäftigt. Sie hat darin eine allge406 Peter Schneider: Der Ritt; S. 164f.

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meine Tendenz gesehen. Denn mehr als die Literaten seien Journalisten dazu prädestiniert, über Ereignisse, die nur medial vermittelt werden und an deren Vermittlung sie selbst mitwirkten, kritisch bzw. überhaupt noch zu schreiben. Denn es werde in diesen Romanen, so Langner, der Verlust eines »autonome[n] Sprachsubjekt[s]« angesichts eines allgemeinen und dabei im Grunde unpolitisch bestimmten »Krisenbewusstsein[s] einer Informationsgesellschaft« deutlich.407 Diese problematische Situation sei durch die professionelle Erfahrung der Journalisten objektiv verbürgt. Dieser Problementwurf birgt als Antwort auf die Frage nach dem Schweigen der Literaten oder nach dem Zuwortmelden der Journalisten Schwierigkeiten: Auch mit Blick auf die vorangegangenen Kapitel dieser Arbeit ist zu konstatieren, dass Informationskrise oder mangelnde Sinnlichkeit insofern nicht Gründe für das Ausbleiben von Texten gestandener Literaten sind, als Literaten diese ›Probleme‹ und zwar mit Texten seit den ersten Kriegsmonaten wenn auch rar, so doch deutlich thematisierten. Sinnliches und unmittelbares Erleben gegen die mediale Rezeption zu stellen, war nicht nur selbst Thema, sondern erhielt in den Beiträgen einen zentralen Stellenwert: Sinnlichkeit, Betroffenheit oder Augenzeugenschaft sollten mithilfe des Verweises auf ›Wirklichkeit‹ die Plausibilität jener Bedeutungen einholen, die im bloßen Diskurs der theoretischen Argumente nicht überzeugten. Sinnlichkeit etc. war in den bisherigen Texten über den Jugoslawienkrieg also weder förderliche noch hindernde Bedingung des Schreibens, umgekehrt zeigte es sich als ein Argument im Geschriebenen. Es wäre nun zu prüfen, inwieweit zumindest in den Romanen zum Jugoslawienkrieg, die bis zu diesem Zeitpunkt nur von Journalisten (auch das in überschaubarer Zahl) vorgelegt wurden, dieses Moment der sinnlichen Betroffenheit entweder, wie in den bereits bekannten Texten, Mittel der Plausibilisierung bleibt oder, wie bei Langner konstatiert, als ein Problem ganz eigener Art vorzufinden ist. Zwei Romane sollen im Folgenden näher erörtert werden: Otmar Jenners Sarajevo Safari (1998) in deutlich kleinem Umfang und Dirk Kurbjuweits Schußangst (1998), dieser jedoch ausführlich in einem eigenen Kapitel. Im Jahr 1998 veröffentlichte Jenner, vermutlich durch seine Arbeit als Reporter vor Ort inspiriert, seinen Debutroman Sarajevo Safari.408 Die Literatur407 Langner bespricht in ihrem kurzen Überblickstext diverse Romane, die um 2000 von Journalisten veröffentlich wurden und verschiedene Ereignisse thematisieren. Der Jugoslawienkrieg kommt dabei mit dem Roman Schußangst von Dirk Kurbjuweit an prominenter Stelle vor; zu diesem Roman im Anschluss. Beatrix Langner : I am going to kill Karadzic. Wenn Journalisten Romane schreiben, siegt am Ende immer das Gute. In: literaturen, 03/2003; S. 60–63, hier S. 60. 408 Zu Jenners Kriegsreportagen und besonders Mörderischer Druck (1994) siehe Kapitel 2.2.1 dieser Arbeit; des Weiteren handelt es sich um den Roman: Otmar Jenner : Sarajevo Safari. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998.

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wissenschaft hat sich dem Roman bisher nicht gewidmet; die Germanistin Elena Messner schloss ihn aus dem Korpus aus, weil er ihr als »trivial« erschien.409 Die Literaturkritik hingegen reagierte meist positiv auf Jenners Roman. Positiv sei der Roman vor allem deswegen, weil er ungeachtet seines fiktionalen Genres dem faktischen Geschehen des Bosnienkriegs mit seinen schockierenden Darstellungen entsprochen habe.410 Kritik da wie Lob hier sind indes dicht beisammen. Sie entsprechen sich dahingehend, als sie beide als ästhetische Urteile ausdrücken, was weniger aus der Anlage des Texts herrührt als in der in ihm veranschaulichten Aussage liegt. Diese ist für die Literaturkritiker passend, für die Literaturwissenschaftlerin Messner ›allzu‹ passend. Was ist nun diese eine Aussage, auf die so konträr reagiert wurde? In Sarajevo Safari schildert der Ich-Erzähler Robert Mandel im Modus des unmittelbaren, präsentischen Erlebens seine Arbeit als Reporter in Sarajevo während der Belagerung durch kroatisch-serbische Truppen. Gemeinsam mit einer Kollegin ist er einem makabren Tourismuszweig auf der Spur, einer Safari für Scharfschützen. Bestimmend für den Fortgang der Geschichte und für die Poetik des Romans ist jedoch die Stellung des Ich-Erzählers zu dem Kriegsgeschehen: Der Krieg in Sarajevo wirkt auf den Journalisten Mandel unentrinnbar. Der Krieg übermannt ihn, sobald er sich ihm aussetzt. Mandel kämpft gegen seine Betroffenheit, die er, weil er dem Kriegsgeschehen keine Vernunft und keinen Sinn entnehmen kann, nur mit Drogen zu bändigen weiß. In zunehmendem Maß und mit zunehmender Dramatik gleichen sich die Arbeit der Kriegsberichterstattung und die Arbeit der Scharfschützen an und erscheinen dem Journalisten Mandel schließlich als ein und dasselbe. Der Roman konfrontiert ihn schließlich mit einem Dilemma: Entweder Mandel wird zum Mörder oder er stirbt selbst, bestenfalls an den Drogen, schlimmstenfalls, indem er selbst erschossen oder gelyncht wird. Da der Bosnienkrieg weder mit dem Verstand einzuholen noch praktisch auf Distanz zu bringen ist, würde, um in dem Krieg zu überleben, allein helfen, so schließt Jenners Roman, ihm zu fliehen als auch Drogen und Ratio zu meiden. Der Erklärungsmangel sei mit Metaphysik zu ersetzen. Das Nichtzuverstehende des Bosnienkriegs, positiv gewendet, müsse man als »spiritual gap« zu verstehen lernen. Lässt man den immanenten Widerspruch der Kernaussage des Romans beiseite – wonach eine distanzierte Stellung zu den Kriegsereignissen nicht möglich sei, der Ich-Erzähler dies, wenn auch als Problem, aber darzustellen 409 Elena Messner : Literarische Interventionen; S. 107 zzgl. Fußnote 2. 410 O.V.: Auf Kriegssafari. In: Der Spiegel, 81/1998; S. 211; Stefan Krulle: Das Grauen, das alle Vorstellungen übertrifft. In: Die Welt, 04. 06. 1998. In der Waage, ob die Drastik der Darstellung dem im Wege steht, was der ›Boden der Tatsachen‹ ist, bleibt die Rezension: Christiane Hellwege: Der perverse Reiz der Gewalt. In: Rhein-Zeitung, 02. 10. 1998.

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weiß und es ihm dabei umfassend und pointiert gelingt –, wird die totale Vereinnahmung durch die Wirklichkeit des Kriegs gezeigt. Der deutsche Protagonist ist genötigt, diese Wirklichkeit psychisch und physisch, intellektuell und praktisch um den Preis des eigenen Untergangs als Unabänderliches und Unbegreifbares anzunehmen. So zeigt sich Sarajevo Safari sehr kundig in der Wahl des Sujets, in der Darstellung der Kriegsereignisse und in den geläufigen Urteilen der westeuropäischen Öffentlichkeit über die Kriegsparteien während des Bosnienkriegs – und malt sie entsprechend aus. Zum anderen macht der Roman durch die Selbstauskunft eines unmittelbar Involvierten ästhetisch plausibel, dass ein Urteil zu diesen gegebenen Ereignissen schwerlich noch möglich ist. Zu Entstehung, Verlauf und Ende des Kriegs kann man sich nur passiv stellen, denn der scheint aus sich zu schöpfen.411 Auf diese »grausame Systematik« dieses Kriegs haben weder Individuen noch eine der politischen Parteien im In- und Ausland einen Einfluss.412 Der »Verzeitlichung körperlich-sinnliche[r] Selbstwahrnehmung«, die Langner den journalistischen Autoren als Besonderheit attestiert413, scheint der Autor Jenner selbst nicht unterworfen. Die Selbstwahrnehmung ist vielmehr ein rhetorisches bzw. narratives Mittel und für genau den Schluss passend, wonach sich für den Ich-Erzähler Mandel die kritische Stellung zu den Ereignissen, die sich ihm nicht als analytisches Urteil, sondern als erlebte Wirklichkeit darbietet, zumindest theoretisch verbietet. In diesem Resultat, sich der Wirklichkeit zu ergeben, findet sich das ›autonome Sprachsubjekt‹ bei Jenner nun selbstbewusst ein. Damit sei zum einen der Verweis auf die literarisch schreibenden Journalisten, zum anderen der Exkurs zu Jenners Sarajevo Safari beendet. Jenners Roman versinnbildlicht den klassischen Topos vom Krieg als totalitäre Wirklichkeit, der man sich nur affirmieren kann – gemessen an der politischen Wirklichkeit und den öffentlichen Diskursen steht dieser Blick noch hinter dem Stand des längst durch den Westen entschiedenen Bosnienkriegs zurück. Nicht passiv und nicht affirmierend hatte sich der Westen dieser unverän411 Selbst die sogenannten Safari-Touristen sind, wenn auch fast die einzigen Nutznießer dieser Kriegssituation, selbst aber nicht dessen Auftraggeber. 412 Dieses Urteil erfährt im Rahmen der Fiktion gewissermaßen eine weitere Verobjektivierung, indem das letzte Kapitel des Romans aus der Erzählerperspektive austritt und eine Zeitungsnachricht darstellt. Dieser beginnt mit mysteriös getöteten Kriegsreportern (vermutlich Mandels Kollegen) und stellt danach kurz das allgemeine Kriegsgeschehen in Sarajevo dar und beschreibt ferner die Handlungen auch der westlichen Mächte USA und UN. Weil auch durch diese gewaltige Diplomaten kein Ende des Kriegs ansteht, erscheint die »Ausrottung der Bewohner von Sarajevo« für sich als uneinsichtige »besonders grausame[] Systematik«. Handlungsmacht hat in diesem Krieg scheinbar keinen Platz; Otmar Jenner : Sarajevo Safari; S. 421f. 413 Beatrix Langner : Karadzic; S. 60.

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derlichen Realität des Kriegs gegenüber verhalten; im Gegenteil, diesen Kriegsverlauf hatte der Westen politisch definiert, aktiv (mit-)gestaltet und des Weiteren hatte er Partei in ihm ergriffen. So steht Jenner nicht nur abseits der öffentlichen Auseinandersetzung um diesen vergangenen Bosnienkrieg, sondern auch abseits im Hinblick auf die umfängliche Debatte um den KosovoKonflikt 1998, zu dem sich nicht passiv und des Weiteren parteilich gestellt werden wollte. Der Journalist Kurbjuweit zeigt sich in seinem Roman Schußangst diesen Umständen ›gemäßer‹.

3.2.6 Deutschland reift mit seinen neuen Kriegen: retrospektiv am Bosnien-, prospektiv am Kosovokrieg. Dirk Kurbjuweit: Schussangst. Roman (1998) Dirk Kurbjuweit, hauptberuflich als Journalist u. a. für Zeit und Spiegel tätig, veröffentlichte 1998 mit Schußangst einen der wenigen zeitgenössischen literarischen Texte, die den Bosnienkrieg thematisieren.414 Waren die ausschließlichen Themen der in dieser Arbeit bisher besprochenen Texte, ein Urteil zu den Sezessionskriegen in Jugoslawien zu finden und in ihnen Partei zu ergreifen, nachvollziehbar zu machen oder eine solche Urteilsfindung z. B. wegen der Mittelbarkeit der Ereignisse zu problematisieren, zielt dieser Roman auf prinzipiell Anderes: In Kurbjuweits Roman ist der aktuelle Krieg in Jugoslawien lediglich Anlass, an diesem das deutsche Selbstverständnis zu thematisieren und daran die eigene Handlungs- und ›Lebens‹fähigkeit zu prüfen. Das Eingreifen in den Bosnienkrieg nun nicht mehr mit dem Krieg, etwa mit einer hilfesuchenden oder einer aggressiven Partei, sondern mit dem Eingreifen selbst zu begründen, ist ein herausfordernder Legitimationstitel. Denn gegen den Einwand, hier ermächtige sich ein eigenes, dezidiert politisches Interesse selbst, muss diese eigene Stellung als per se berechtigte profiliert werden. Schußangst, so meine Hypothese, beweist dies vor-politisch in einem umfassenden sozial-psychologischen Gleichnis, in dem ›Souveränität‹ als allumfassender Wert und Telos versinnbildlicht wird. Schußangst berichtet von der Krise des jungen Lukas Eiserbeck. Eiserbeck ist durch seinen Körper gezeichnet. Dieser ist von weit überdurchschnittlicher Größe und Stärke, dazu hat Eiserbeck jedoch ein gestörtes Verhältnis. Das stellt ihn nun vor eine Herausforderung existentiellen Ausmaßes: Der Roman setzt 414 Dirk Kurbjuweit: Schußangst. Roman. Frankfurt/M.: Fischer 1998. Im Folgenden wird die Sigle K mit Seitenzahl dieser Ausgabe für Zitation und Verweise in den Text verwendet. 2003 wurde der Roman von Dito Tsintsadze verfilmt; das Skript, das Kurbjuweit selbst verfasst hat, weicht beträchtlich von der Romanfassung ab. Der Gegenstand des Buchs, an der die Hauptfigur erwachsen wird, der Jugoslawienkrieg, ist im Film kein Thema mehr ; Thema ist stattdessen Angstbekämpfung im Allgemeinen.

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1992 ein, als Eiserbeck einen neuen Lebensabschnitt beginnt, aus der bundesrepublikanischen Provinz in das durch die deutsche Wende-Zeit gezeichnete Hamburg zieht, Zivildienstleistender wird und sich in Isabella verliebt, die ihm nach der ersten Nacht vermutlich wegen des unsouveränen Umgangs mit dem eigenen großen Körper verloren zu gehen droht. Aus Berechnung, Isabella wieder an sich zu binden, beschließt Eiserbeck, Karadzic, den Führer der bosnischen Serben, umzubringen. Dafür muss Eiserbeck sich mit seiner Störung konfrontieren, sein psychologisches Handicap überwinden. Der Roman begleitet Eiserbeck, wie er sich mit den hinderlichen und auch zerstörerischen Aspekten seiner Biografie befasst. So wird für das Attentatsprojekt der Nachkriegsmoral, als deren Versubjektivierung Eiserbeck erscheint, einer theoretischen wie praktischen Revision unterzogen. Die Handlung spitzt sich in den sprichwörtlichen Sekunden zu, als der vermeintlich von allen Irrungen und Hemmnissen bereinigte Wille zur Tat, Größe zu zeigen und Karadzic zu erschießen, sich dem psychologischen Überrest der Vergangenheit beugt: Eiserbeck hat ›Schussangst‹. Infolge der Diagnose, er wie alle seine deutschen Mitmenschen ruinierten unter solcher Entfremdung durch die Vergangenheit ihr Leben, erschießt Eiserbeck nun die Person, die diese alte und lebensfeindliche Moral repräsentiert und die das Fortwirken dieser Moral auch in den neuen Zeiten propagiert. Damit endet der Roman. Romanrezensionen – soweit die Recherche ergab, blieb der Roman in der Literaturwissenschaft bisher unbeachtet – fokussieren beinahe geschlossen auf die Besonderheit der Figur Eiserbeck und deren psychische Verfasstheit. Für die Rezensenten gilt Eiserbecks Individualpsychologie fraglos, lediglich prüfen sie die Glaubwürdigkeit der Figurenanlage, als ästhetische Konstruktion reflektieren sie sie jedoch nicht. So kommt den Kritikern, wenngleich sie alle auf die Psychologie fokussieren, die bedeutsame, in diesem Roman durchaus politisch gemeinte Implikatur der Figur Eiserbeck nicht in den Blick: Der Autor Martin Walser lobt, dass man in diesem Roman erfahre, dass »jeder Mensch eine Welt für sich ist«.415 Der Rezensent Nicol Ljubic deutet den Roman und seiner Hauptfigur existentialistisch, empfindet die Geschichte aber lediglich als ein »schnelles Leseabenteuer«.416 Christoph Bartmann erwähnt in der 415 Martin Walser ist auf dem Schutzumschlag der Erstausgabe des Fischer-Verlags 1998 zitiert. Eine Quelle konnte ich nicht ermitteln. 416 Den Begriff ›Existentialismus‹ führt Walser ein; vgl. ebd. In Bezug darauf, wie sich die Hauptfigur im Leben wiederfindet, ist der Verweis auf die modernen existenzphilosophischen Grundannahmen m. E. treffend. Im Roman ist des Weiteren Albert Camus Thema, eine explizite existenzphilosophische Auseinandersetzung findet nicht statt; dazu mehr im Verlauf der Analyse. Nicol Ljubic: Dirk Kurbjuweit. ›Schußangst‹. Leicht verdauliches Schwarzbrot. In: Spiegel online, 08. 09. 1998. Unter : www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518, 27090,00.html; abgerufen 05. 04. 2016.

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Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum einen lobend die lebensnahe Reportersprache Kurbjuweits und zum anderen kritisch die Unschlüssigkeit der Psyche Eiserbecks. Für ihn passen psychische Gestalt und politische Entscheidungen nicht zusammen. Eiserbecks Attentat auf Karadzic sei deswegen nur als Ausdruck einer ›Irrationalität‹ zu erklären: »Was dem Helden, abgesehen von verlorener Liebesmühe […] so plötzlich in die existentialistische Freiheit katapultierte, läßt sich nicht leicht nachvollziehen. Wie könnte es auch anders sein, mag man entgegnen, schließlich handelt es sich bei Eiserbecks Einmannverschwörung um eine einsame und irrationale Entscheidung.«417

Elmar Krekeler von Die Welt sieht im Zusammensein der zwei Ebenen von psychologischem Innenleben und Politik kein Problem. Er versteht die Motivlage Eiserbecks als eindeutiges Generationenphänomen, in dem der Zusammenhang von Psyche und Politik unmittelbar evident erscheint. So geht bei Krekeler Eiserbecks Bezug zur (politischen) Welt ihm bereits voraus, sein Wille sei lediglich Abdruck seiner Zeit, er »ist eben – Post-68er, der er ist – ein eingefleischter Zweifler«.418 Krekelers Befund sehr ähnlich stellt die Wiener Zeitung fest, dass Eiserbecks »spannende Story zu einem politischen Roman verwoben« wurde.419 Er meint, dass das Zeichnen des »(deutschen) Gesellschaftsbild[s] der Gegenwart« eher »ganz beiläufig« geschehen sei.420 Was das ›Verwobensein‹, das dem Rezensenten trotz allem nebenbei verwirklicht schien, aber auszeichnet, bleibt offen. Dirk Kurbjuweit selbst äußerte sich einige Jahre nach der Erstveröffentlichung über die ästhetische Anlage seines Romans. Die zwei Momente der Psyche und Politik, die in allen Rezensionen als zentral für den Roman herausgestellt worden waren, deren spezifisches Verhältnis zueinander aber offen blieb, werden in ihrer beabsichtigten Verwiesenheit etwas näher beschrieben: »Lukas Eiserbeck ist eine bedrängte Figur. […] Er wird bedrängt von der großen Stadt, in die er neu zieht, von den Umständen, er wird bedrängt von einer unerfüllten Liebe, er wird bedrängt von den politischen Umständen dieser Zeit Anfang der neunziger Jahre, als der Krieg in Bosnien herrschte. Und ich glaube, er braucht einen Befreiungsschlag, oder in dem Fall einen Befreiungsschuß, um dieser Bedrängung zu entkommen. Und für ihn ist es so, daß er das nur mit Gewalt lösen kann, weil er sich anders nicht zu helfen weiß.«421

417 Christoph Bartmann: Wie man sein Boot versenkt. Durchtrainiert: Dirk Kurbjuweits Roman ›Schußangst‹. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. 11. 1998, Herv. S.H. 418 Elmar Krekeler : Existentialismus am Ende. Keine Gefahr für Karadzic: Dirk Kurbjuweit erzählt von einem Mann mit Schußangst. In: Die Welt, 28. 11. 1998, Herv. S.H. 419 Manfred Schiefer : Mit Bravour erzählt: ›Schußangst‹ von Dirk Kurbjuweit. In: Wiener Zeitung, 22. 01. 1999. 420 Ebd. 421 Dirk Kurbjuweit zitiert in: Detlef Gumbrach: Schussangst. Deutschlandfunk: 28. 09. 1998.

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Von Liebe über Großstadterfahrungen bis zur Außenpolitik – disparate Teile der Wirklichkeit erscheinen hier als Momente eines gleichen Drangsals ›Bedrängung‹ der Figur Eiserbeck. Dieser indifferent-umfassende Weltblick mag das Erleben und das Leiden der Person objektiv darstellen, und der Auftrag zur Bewältigung scheint darin gerechtfertigt. Die Wahl des einzigen Mittels für diesen »Befreiungsschlag«, nämlich im »Befreiungsschuß« und mit »nur […] Gewalt«, mag, in dieser Selbstverständlichkeit vorgetragen, überraschen, weil er weder gleichermaßen noch unbedingt notwendig erscheint. Was ist das für eine Figur, in der sich die gesamte Welt bündelt und die zugleich in ihrem Handeln die gesamte Welt einbezieht, in der also (auch) Bosnien ein persönliches Leiden darstellt? – Die folgende Analyse des Romans Schußangst soll darlegen, inwiefern und mit welchen ästhetischen Verfahren der psychologische ›Existentialismus‹ der Hauptfigur Eiserbeck auf das politische Verständnis referiert. Sie soll außerdem klären, inwiefern Eiserbeck – so meine These – als Modell eines sittlichen Deutschlands steht, das seine durch den Zweiten Weltkrieg gestörte, entfremdende Beziehung zu sich überdenken und stattdessen ein neues Selbstbewusstsein entwickeln müsse. (a)

Die deutsche Nachkriegszeit als Entfremdung von sich. Eiserbecks deutsche Existenz

Der Roman, der sich durch ein, wie Krekeler schreibt, »nirgends durchgängiges Erzählnetz« auszeichnet422, beginnt in einem späten Moment im Leben Eiserbecks. Von diesem Moment aus vergegenwärtigt Eiserbeck seine bisherige Biografie und versucht zugleich, in ihr voranzukommen. Der Roman entwickelt erst im Zuge dessen, wie sich Eiserbeck selbst der Zusammenhänge gewahr wird, seine Geschichte. So ist nicht Chronologie, sondern die Montage das narrative Konstruktionsprinzip. Der Roman beginnt mit dem Initialmoment für Eiserbecks neues Leben: »Er war ein Kind gewesen, elf Jahre alt, als er die Narbe zuletzt gesehen hatte. Nun sah er sie wieder, ein kurzes Stück nur, aber er wußte, daß es nicht lange dauern würde, bis sie ganz freilag. Zwei Jahre höchstens. Er war ruhig, nicht in Panik wie damals. Seit einiger Zeit wußte er, daß es so kommen würde. Allerdings hatte er gehofft, länger verschont zu bleiben, bis vierzig, vielleicht bis fünfzig. Dann wäre es nicht mehr so darauf angekommen. Aber jetzt. Er war einundzwanzig. Nackt stand der Mann, der Lukas Eiserbeck hieß, in einem engen Badezimmer, das bis Brusthöhe hellgelb gekachelt war. Licht aus zwei nackten Glühbirnen stach ihm in die Augen, als er die Narbe im Spiegel betrachtete. Er schloß die Lider, öffnete sie. Dann Unter : www.deutschlandfunk.de/schussangst.700.de.html?dram:article_id=79442; abgerufen 09. 03. 2016; Herv. S.H. 422 Elmar Krekeler : Existentialismus.

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drehte er den Hahn auf. Er beugte sich vornüber, sammelte kaltes Wasser in den Händen und warf die kleine Pfütze in sein Gesicht.« (K: 7)

Der Roman setzt unmittelbar mit der Nennung der Hauptfigur ein, jedoch nur als Personalpronomen. Was ›ihn‹ auszeichnet, ist nicht seine bürgerliche Existenz. Bevor ihn ein Name identifiziert, wird Eiserbeck zunächst und in einem geradezu existentiellen Setting als eine psychologische Identität eingeführt. Diese ist bestimmt durch die Narbe, die nun erst sichtbar wird und ihm offenbar eine tiefgreifende Irritation bedeutet. Die Narbe schien er bisher ignorieren gelernt zu haben und nun jedoch nicht mehr fliehen zu können. Der Spiegel deutet dabei ein psychologisches Paradox an. Eiserbeck reflektiert sich in etwas Anderem, dieses Andere erscheint ihm fraglos als das Maß und Eiserbeck als prekäres Subjekt. Der zweite Absatz versinnbildlicht, was Stoff dieser Entfremdung ist und was der Roman erst später erklärt und illustriert: Eiserbeck definiert sich gewissermaßen über seinen Körper und dieser passt schlecht in seine Verhältnisse, er ist für sie ›zu groß‹. Das wird stilistisch nicht als Mangel dieses Körpers ausgedrückt, sondern ist als Mangel den Verhältnissen anhängig, diese sind »zu eng« (K: 7f.). Durch den Blick Eiserbecks auf sich und durch den Blick mittels des Settings auf ihn ist ein Thema eingeführt und mit ihm ein Klärungsbedarf gestiftet. Zum einen geht es um Eiserbecks Körper, der als Wert inszeniert ist und auf Geltung zu drängen scheint; zum anderen stehen die Fragen im Raum, woher Eiserbecks Entfremdung von seinem Körper und woher das allgemeine Missverhältnis von Größe und dieser Umwelt rührt. Der Grund für Eiserbecks Entfremdung liegt weit vor 1992. Eiserbecks Leben ist seit seiner Kindheit in den ersten westdeutschen Nachkriegsjahren dadurch bestimmt, seine körperliche Größe als einerseits vor-politischen und andererseits gesellschaftlich geächteten Wert zu erfahren. Die Narbe als Motiv hat dabei einen vielsagenden Ursprung: Das Schlüsselerlebnis – wenngleich erst in den letzten Kapiteln des Romans dargestellt – ist ein Rodelausflug mit dem Großvater. Eiserbeck ist acht Jahre alt, sitzt auf einem Schlitten und wird von seinem Großvater angestachelt, »ein großer Junge« zu sein. Eiserbeck soll es anderen Kindern gleich tun und unter einem ausrangierten Kohlewaggon hindurch rodeln: »Alle machten das. Nur Lukas Eiserbeck wollte nicht. Links und rechts glitt er an dem Kohlewaggon vorbei. Dann zog er den Schlitten peinlich berührt den Berg hinauf, denn oben stand auf Füßen, die in Sibirien erfroren waren, sein Großvater, der mitgekommen war, um einen mutigen Enkel zu sehen. ›Fahr doch auch mal unter dem Wagen durch.‹ ›Nöh.‹ ›Warum nicht, die anderen machen es doch auch?‹

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›Die sind nicht so groß wie ich. […] Ich bin zu groß.‹ […] ›Du bist ganz schön feige. […] Mach es mal, du bist doch ein großer Junge.‹« (K: 294f.)

Dermaßen vom Großvater bedrängt fährt Eiserbeck los, aber die scharfe Unterkante des Waggons skalpiert ihn. Man kann ihn behandeln, vernäht die Kopfhaut und der Arzt versichert, es seien keine sichtbaren Folgeschäden zu befürchten, und auch der Erzähler weiß: »Tatsächlich blieb nichts zurück außer der Narbe.« (K: 296)

Folgenlos blieb dieses Ereignis jedoch keineswegs. Dass diese Narbe mehr als ein bloß biografisches Relikt oder ästhetischer Makel ist, dass sich nämlich in ihrem Zustandekommen tatsächlich ein ›Schlüssel‹ für den Charakter Eiserbecks in seinen Verhältnissen (und umgekehrt) darstellt, macht der Roman weniger durch explizite Argumentation als durch eine Akkumulation von Bedeutsamkeiten deutlich. Das betrifft sowohl die Bestimmung der Figur des Großvaters wie die – physische wie psychische – Verfasstheit der Figur Eiserbecks: Der Großvater wird knapp mit dem Verweis auf militärische Tugenden, seine Gefangenschaft im sowjetischen Sibirien und mit Mutmaßungen über sein Tun im deutschen Nationalsozialismus charakterisiert. Eiserbecks Cousin fasst es zusammen: »War’n Nazischwein, […] ein ganz schlimmes.« (K: 92). Der Großvater erscheint so als Vertreter einer typisch deutschen Biografie vor 1945. Der Großvater ist für Eiserbeck indes die Identifikationsfigur und Sozialisationsinstanz. Er ist Vaterersatz, zu ihm ist Eiserbeck distanzlos. So wie er die Ansage des Großvaters beim Rodeln wider besseres Wissen befolgt und er ihm deswegen nie Vorwürfe macht, verzeiht er ihm seine Vergangenheit bei aller Kenntnis davon: »Der Opa als Monster. Möglich. […] Aber er hörte nicht auf, seinen Großvater zu lieben.« (K: 92) So erscheint die psychologische Identität Eiserbecks der ersten Lebensjahre durch die deutsche Vergangenheit und jedenfalls nicht durch die bundesdeutsche Gegenwart bestimmt.423 Was dem Großvater noch als ungetrübter Wert erscheint, nämlich Größe zu haben und zu zeigen, wird auch als Wert in jener Rodelepisode keineswegs geleugnet, jedoch wird dieser Wert im von Eiserbeck ausgesprochenen Bedenken intellektuell, mit dem Unfall bildhaft und praktisch einer aktuellen Inkompatibilität bzw. im Bezug zum Großvater einer generationell-historischen ›Unzeitgemäßheit‹ überführt. Das Verhältnis Eiserbecks zu 423 Versinnbildlicht wird diese ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ durch Eiserbecks Haarfarbe, die bereits in den Jahren seiner frühen Kindheit ergraut sind. Eiserbeck soll älter erscheinen als er ist. Das will mit dem Verweis auf die Haarfarbe jedenfalls nicht nur intellektuell verstanden sein. Damit wird ein Übergang ins natürlich Notwendige, weil Biologische vollzogen.

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sich zeigt sich bereits in der Rodelepisode als prekärer Zustand und wird im Folgenden produktiv. Eiserbecks Kindheit und Jugend hindurch war sein Körper den Mitmenschen Anlass der Bewunderung, allerdings auch für Angst und Wut. Dies erscheint zunehmend als Typik der Nachkriegszeit, das Verhältnis Eiserbecks zu sich dabei als eine veritable Entfremdungsgeschichte: »So wurde sein Vorteil, seine Größe, zu einem Nachteil.« (K: 142) Der Umschlag von Wert in Unwert wird durch ein anderes Schlüsselerlebnis bewirkt. Als Eiserbeck elf Jahre alt ist, lauern ihm die Kinder der Krüger-Familie auf. Sie fühlen sich von Eiserbeck unvergleichlicher Körpergröße und -stärke gereizt. Die Situation eskaliert. Statt der üblichen Rangeleien vollziehen die Krügers an Eiserbeck eine Ächtung besonderer Art: »Und dann redete er lange und ernst und versuchte, die Krügers mit kindlichen Worten zu einem Frieden auf alle Zeit zu überreden. Er hatte Angst, weil er sah, daß der dem Krüger das Grinsen nicht aus dem Gesicht reden konnte, und so bettelte er mit hoher Stimme, zuletzt mit einem Winseln, das ihm in der Erinnerung wie ein Abschied von der Kindheit vorkam. Der Krüger mit der Schere trat zu ihm hin und packte seinen Schopf. […] Es wurde tatsächlich geschnitten. Es war nicht so wie sonst, daß man sich alles möglich androhte, um dann, nach Genuß der Angst, grinsend einzulenken. […] Nachdem ihn alle drei Krügers betrachtet hatten, wurde Lukas Eiserbeck eine Spiegelscheibe vor das Gesicht gehalten, so daß er sich selbst anschauen mußte. Er sah seinen Kopf, der vorne kahl war. […] Und er sah einen weißen Strich von einem Ohr zum anderen, eine leichte erhabene Narbe, die nicht gleichmäßig umlief, sondern nach links hin anstieg. Eiserbeck schloß die Augen und weinte.« (K: 11f.; vgl. 141)

Der elfjährige Eiserbeck reagiert auf seine Peinigung durch die Krügers in beachtlicher Weise. Es ist für ihn keine körperliche, es gibt sich vielmehr als eine moralische Niederlage. Größe und Stärke als Grund für die Krügers, ihn zu demütigen, wird nun von Eiserbeck selbst tränenreich akzeptiert und zum Anlass von Scham. Der »Abschied von der Kindheit« bedeutet für Eiserbeck den Beginn des negativen, zumindest gespaltenen Verhältnisses zu seinem ›gesellschaftlichen‹ Körper. Die Narbe dient als Mahnmal dieser prekären Identität. Den Wert der Größe und Stärke Anerkennung zu zollen und ihn zugleich als Grund der Ächtung zu erfahren, ist der Alltag der Bonner Republik, in dem sich Eiserbeck einzurichten lernen muss. Dieser Alltag gebietet Verzicht auf Größe und Stärke, zugleich aber bietet dieses Nachkriegsdeutschland dafür auch ein Refugium. Größe und Stärke können im internationalen Wettkampfsport wenigstens symbolisch zu ihrem Recht kommen. Eiserbeck geht in diesem ideell wie körperlich auf: In jungen Jahren nimmt Eiserbeck noch passiv als Zuschauer am internationalen Wettkampfsport teil. Die Wettkämpfe zu den Olympischen Sommerspielen 1980 in Los Angeles wie die Winterspiele 1984 in Sarajevo sind ihm ein

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Vergleich der kräftigsten Vertreter der menschlichen Gattung. Begriffslos und mit vor-politischem Bewusstsein schaut Eiserbeck auf diese Sportereignisse als Kräftemessen von Nationen.424 Dabei tritt er selbst nie anders auf als in Identifikation seiner Person mit seinem Staat. Der Erfolg wie Misserfolg der westdeutschen Mannschaft schlägt sich auf ihn physisch nieder wie eine Krankheit, an der er während der Spiele leidet: »Es war der letzte Tag der Olympischen Spiele in Sarajewo […]. Er hatte im Bett gelegen und jede Minute der Fernsehübertragung aus Sarajewo verfolgt. Es war eine furchtbare Zeit, nicht nur wegen der Ohren [-schmerzen; Anm. S.H.]. Deutschland gewann nicht viel.« (K: 49)

Neben diesem körperlichen Ineinsgehen ist es für Eiserbeck auch im Geistigen eine Selbstverständlichkeit, parteilich für die Mannschaft des eigenen Landes zu sein. Das bedeutet, dass Eiserbeck – in Übereinstimmung mit dem politischen Programm seines Landes und dessen Zugehörigkeit zum Westblock – schon »immer gegen die Sowjets« gewesen war (K: 49) und ihm ein Sieg der Tschechoslowakei, besonders aber Siege der DDR-Sportler ›schmerzlich‹ trafen. Die DDR erscheint ihm deswegen als unmögliche wirkliche Sportmacht, weil sie politisch dem nicht entspricht. Sie ist ein kleines und ›falsches‹ Land. »Das war klar«, so reflektiert der junge Eiserbeck, siegreiche Sportler aus der DDR mussten gedopt gewesen sein (K: 124). Eiserbeck wird schließlich im Sport aktiv. Er will als Ruderer das ideelle Verdienst, das Deutschland seit langem versagt geblieben sei, erkämpfen und »den Deutschlandachter […] wieder zum olympischen Gold« führen (K: 67). Wenn Eiserbeck auch im Alltag seine Körpergröße und -kraft weiterhin versucht zu ignorieren, garantieren diese im Sport seine Erfolge. Eiserbecks Engagement als aktiver Sportler korreliert eng mit den historischen Ereignissen. Er hat es zu Zeiten des Systemvergleichs begonnen, wie er den Wettkampfsport in dem Moment aufgibt, als er als Sportler das erste Mal scheitert und das interessanterweise in das Jahr 1989 fällt. Das geschieht bei der Juniorweltmeisterschaft im jugoslawischen Bled. Hier erhält Eiserbeck ferner Kenntnis von den auch sportlichen ›Vielvölkerregimen‹ Jugoslawien und der 424 Dass der Wert Größe und zwar identifiziert mit einem Selbstbewusstsein vor allem politischer Prägung im internationalen Wettkampfsport zu sich kommt, zeigt sich in den Momenten, als Sportgroßereignisse wie die Olympischen Spiele in Los Angeles 1980 durch den Boykott des Ostblocks oder in Barcelona 1992 nach dem Ende der Blöcke für Eiserbeck den Reiz verlieren: Den Spielen fehlen nicht die Sportler, sondern deren politische Bedeutung – ganz gemäß der klassischen Idee der Olympischen Spiele, deren Legitimation sich gerade aus der politischen Konkurrenz der Nationen ableitet. Sportliche Kämpfe und die Siege, gerade noch Teil des persönlichen Empfindens Eiserbecks, gelten nun »nicht viel«, an diese Spiele »erinnert sich kaum jemand« (K: 255).

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UdSSR425 und von dem plötzlichen Ende des Systemgegensatzes. Es fällt zugleich in eine Zeit, in der der Wert Größe auch in den neuen gesamtdeutschen Verhältnissen seine negative gesellschaftliche Bestimmung und so auch der Sport die Funktion der Kompensation dieses Werts verliert. (b)

Wendezeit 1989. Eiserbecks Suche nach seiner deutschen Existenz

Im Roman fallen mit einem Mal verschiedenste Entwicklungen zusammen: die politischen Ereignisse 1989 gehen einher mit Eiserbecks biologischen Veränderungen und lebenspraktischen Projekten. Kausal und erzählerisch unvermittelt enden zeitgleich Systemgegensatz und das allgemeine gesellschaftliche Interesse für die internationalen Sportgroßereignisse (vgl. K: 225), beendet Eiserbeck seine Adoleszenz und sein Engagement im Mannschaftssport, er macht sein Abitur, zieht nach Hamburg, wird Zivildienstleistender, seine bereits als Kind ergrauten Haare beginnen auszufallen und seine Narbe offen zu legen. Diese in ihrem Zusammenhang nicht explizierte Situation des Wandels von gleichermaßen gesellschaftlicher Konstitution und individuellem Leben verdichtet sich im Roman zur Frage: Wie kommen die nie verworfenen, während der Nachkriegsjahre lediglich geächteten Werte Größe und Stärke jetzt zu ihrem Recht; wie kommen sie zu ihrem Recht bei der Figur Eiserbeck, der diese Werte einerseits verkörpert, andererseits Kind dieser Nachkriegsjahre ist und von ihnen geprägt wurde? Sich den Umständen einfach neu anzupassen, sein Arrangement mit dem Sport weiterhin zu pflegen oder sich der ihm ursprünglich fremden, deswegen aufgenötigten Sicht auf sich als Mensch von Größe und Stärke einfach zu entledigen – keine dieser Optionen hat Eiserbeck. Die Zeit konfrontiert ihn stattdessen mit seiner angeeigneten, darin nicht frei gewählten und wählbaren Identität und zugleich mit seinem Willen, den er als abstrakt und konkret beschränkt zu begreifen beginnt. Eiserbeck muss die Wandlung, die er um und auch an sich erfährt und begrüßt, noch einmal gedanklich an sich nachvollziehen. Mit der einst gelernten Moral der Nachkriegszeit, sich in eigener Größe und Stärke zu verleugnen, ist Eiserbeck nun nur noch sich selbst ein Lebenshindernis. Eiserbeck ist 1989 nolens volens befreit von der Not, sich wegen seiner Größe nur im Sport ›verwirklichen‹ zu können. Nun erntet er am neuen Wohnort 425 Eiserbeck nimmt 1989 an der Ruder-Juniorweltmeisterschaft im jugoslawischen Bled teil. Er verliert mit seinem Achter gegen die Konkurrenten UdSSR, Jugoslawien und DDR. Mit den Jugoslawen kommt er in Kontakt und glaubt zu verstehen, dass deren Sieg im Wettkampf erkauft ist mit dem serbischen ›Regime‹ über die Ruderer verschiedener Völkergruppen. Plötzlich überzeugt, nie als ›Sklave‹ einen Sieg einfahren zu wollen, kündigt Eiserbeck den Rudersport (K: 77, 106f.).

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Hamburg für seine körperliche Konstitution anerkennende Blicke und weckt Begehrlichkeiten. Größe wird plötzlich nicht mehr als Makel behandelt, selbst die Verhältnisse scheinen ihre Beschränkung abzulegen und ›groß‹ zu werden: »Die große Stadt. […] Sie wuchs und das war gut so, je größer, desto besser. […] Eine boomende Stadt, weg war die Mauer, […].« (K: 33)

Eiserbeck muss erleben, dass er noch nicht restlos in diesen neuen Verhältnissen aufgeht und die Verhältnisse in ihm. Eiserbeck, dem vor 1989, also ›mit der Mauer‹ alles ›zu eng‹ war, fuhr zwar schon »über die breiten Straßen«, jedoch »in einem Auto, das zu klein war« (K: 33). – Damit ist Eiserbeck nicht allein, seine Altersgenossen machen gleiche Erfahrungen. Die gleichaltrigen Hamburger Bekannten vermitteln in ihrem Alltag das noch falsche Leben im mittlerweile richtigen: In der zu sich kommenden Gegenwart wollen sie ankommen, flüchten ihr zugleich in Nostalgie, in exzessiven Partys und Drogen (vgl. K: 37f.). Eiserbeck verliebt sich in Isabella und mit dieser Liebe hofft er, endlich in der Gegenwart anzukommen. Jedoch bietet in Eiserbecks Fall die Liebe, einmal praktiziert, kein Refugium, in dem er sich »gegen die Wirklichkeit [immunisierte]« (K: 38), im Gegenteil. Denn Eiserbecks sportliche Größe hat Isabella zwar angezogen und ihn für sie interessant gemacht; der gleiche große Körper ist indes auch der Grund, weshalb sich Eiserbeck und Isabella wieder voneinander distanzieren. In der ersten gemeinsamen Nacht hat Eiserbeck Isabella vermutlich ihre Unschuld genommen, aber auf jeden Fall Schmerzen zugefügt – »Er selbst sah in seinem Geschlecht nichts Übermäßiges. Es paßte zu seinen Proportionen.« (K: 66, Herv. S.H.) Am folgenden Morgen reflektiert Eiserbeck seine körperliche Unbedarftheit. In das schüchterne Gespräch mit Isabella darüber drängt sich mittels des Fernsehers aber ein anderes Thema: »Und jetzt war er schlecht damit umgegangen. Er schämte sich. ›Es tut mir leid‹, sagte er. ›Nicht so schlimm.‹ Ihr Lächeln kam ihm tapfer vor. Später lagen sie auf dem Bett und sahen in die Welt von Taste vier […]. Es war der 27. Mai 1992, als er zum ersten Mal mit Isabella im Bett lag. Das wußte er genau. Weil an diesem Tag eine Granate auf einem Marktplatz in Sarajewo explodiert war. Zwanzig Tote. Es war der bis dahin schwerste Angriff. Der Krieg eskalierte nun, sagte die Stimme von Taste fünf zu einer Kamerafahrt über weiße Hügel auf grauer, rot befleckter Straße. Die Hügel waren Leichen, über denen weiße Laken lagen. Eiserbeck drückte Taste vier, aber Isabella sagte, er solle zurückkehren zu Taste fünf. Ihn wunderte das. Bis dahin hatte sie wenig Interesse für die Welt von Taste fünf gezeigt. Jetzt sah sie sich das alles an und sagte dann: ›Es sind Moslems. Immer sind es die Moslems.‹ ›Bist du Moslem?‹, fragte er. […]

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Es war hell, als Isabella aufstand und sich anzog. Eiserbeck sah, daß sie ging wie ein Reiter, der einen halben Tag auf dem Pferd gesessen hat. ›Tut es noch weh?‹ ›Ich glaube, es ist etwas gerissen.‹ Als sie fort war und er in sein Zimmer zurückging, sah er einen kleinen roten Fleck auf dem Bettlaken.« (K: 66–69, Herv. S.H.)

Das durch Eiserbecks Größe vereitelte Miteinander wird mit dem Bosnienkrieg szenisch verbunden und motivisch verstärkt: Isabellas Themenwechsel von der eigenen schmerzvollen Erfahrung hin zu den Opfern des Marktplatz-Attentats trifft auf die bildhafte Deckung von Blut und Laken im Bett und in Sarajevo. Dieser Zusammenschluss entspringt nicht den Dingen, er wird von Isabella fortwährend aktualisiert und zugespitzt. Für die zunehmende Identifikation Isabellas mit den muslimischen Opfern im Bosnienkrieg scheint Eiserbeck kaum direkter Adressat, er ist, wenn Isabella immer heftiger die TV-Berichte kommentiert, lediglich anwesend. Isabella distanziert sich von Eiserbeck in dem Maß, wie ihre Haltung immer deutlicher wird – was Eiserbeck schließlich als Auftrag an sich interpretiert. Und den Inhalt des Auftrags spricht Isabella in Eiserbecks Anwesenheit, wenngleich als Frage aus: »Als Isabella den Arzt [gemeint ist Karadzic; S.H.] sah, Bedingungen für den Frieden nennend, schrie sie: ›Warum tut denn keiner was?‹ ›Was soll man denn tun‹, fragte Eiserbeck. Sie weinte. Er hatte Isabella noch nie weinen gesehen.« (K: 97)

Auf diese Frage liefert Isabella später selbst Antwort: »Isabella änderte sich, aber das bekam er zunächst kaum mit, weil er ihr gegenüber nichts kannte außer totaler Zustimmung. Und da sich das nie änderte, glaubte er, auch sie änderte sich nicht. Erst im Rückblick wurde Eiserbeck klar, daß die Frau, die meistens bunt geplappert hatte, zuletzt sehr ernst geworden war. Zum Beispiel forderte Isabella, wenn sie zusammen auf dem Bett lagen, immer häufiger, er möge Taste fünf drücken. […] Isabella konnte kaum abwarten, bis neue Meldungen vom Krieg kamen. Es kamen täglich neue Meldungen, dazu ein neues Wort: Massenvergewaltigungen. Sie saßen auf dem Bett und sahen Frauen, die in Häusern gewesen waren, wo sie täglich zu Sex gezwungen wurden. Isabella weinte. Es war Eiserbeck peinlich, aber irgendwie hatte er Sorge, sie würde ihre Wut auf die Männer insgesamt übertragen und dann würde sich auch für ihn etwas ändern. Dann hörten sie ein altes Wort, das für sie fest an eine alte Zeit gebunden war. […] Omarska. Concentration Camp. Isabella weinte. Dann kam der Arzt. ›Abknallen‹, schrie sie. ›Weg mit dem.‹« (K: 130f.)

Nach dieser Ansage trennt sich Isabella von Eiserbeck, kommentarlos. Eiserbeck bleibt mit den letzten Äußerungen zurück.

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Da für Eiserbeck mit Isabella »eine ganze Welt«, die er gerade gewonnen zu haben glaubte, wieder verloren zu gehen droht (K: 145), hofft er sie zurückzugewinnen, indem sie ihren Wunsch erfüllt und den ›Arzt‹ Karadzic ›abknallt‹ (vgl. K: 245). Die Dringlichkeit, Isabella und dabei vor allem sich nicht zu verlieren, bedingt es, dass er sich mit seinen virulenten, negativ wirksamen gesellschaftspolitischen Prägungen auseinandersetzt. Dabei macht der Roman einen Übergang, der im sportlichen Wettkampf der Nationen schon vorgezeichnet war und sich nicht aus Eiserbecks sozial-physiologischer Disposition ergibt: Vermittelt über das Motiv des internationalen Wettkampfsports und vermittelt über Isabellas Rede tritt dem Wert der Größe nicht nur das Moment der Stärke hinzu, sondern auch das Moment politischer bzw. militärischer Stärke und Gewalt. So umfasst die kritische Auseinandersetzung Eiserbecks mit seiner Körpergröße und -stärke zugleich, als ob es darin keine wesentliche Differenz gebe, die Auseinandersetzung mit instrumenteller, funktionaler Gewalt. Die bevorstehende Revision der nachkriegsdeutschen Sittlichkeit erscheint also legitimiert durch das subjektiv verbürgte Leiden Eiserbecks, durch den objektiven Umstand, dass es sich bei Körperlichkeit um eine Existenz eigenen Rechts handelt, und durch die negativen Konsequenzen für die Gegenwart, wenn diese im Kern befremdende Sittlichkeit weiterhin gelten würde. Diese Revision hat jedoch auch einen äußerst umfassenden Anspruch. Sie will mit der körperlichen Integrität einer einzelnen Person wie Eiserbeck die im Praktischen gar nicht mehr so abstrakten Werte wie Größe und Stärke mit politischer Selbstbehauptung versöhnen. – Diesen Anspruch hat der Roman in seiner Problemstellung schon theoretisch positiv eingelöst. Er führt keinen Einwand gegen Größe, Stärke etc. an, den er nicht zugleich als Lösung unterstellt. Ob ihn Eiserbeck praktisch einlösen kann, ist noch offen und Gegenstand der Romanhandlung. Zwei große Komplexe, die sich als Vorbehalte aus der weitreichenden Wertediskussion beinahe notwendig ergeben, lässt der Roman dabei die Figur Eiserbeck abarbeiten. Sie beinhalten erstens den Vorbehalt, ob es sich tatsächlich um restlos zustimmungsfähige Werte handelt, wenn sie vordergründig ein praktikables Mittel sind, etwa um Isabella zurückzugewinnen; zweitens beinhalten sie den gleichen Vorbehalt nur von der anderen Seite ausgesprochen, nämlich ob der Gebrauch von Stärke inklusive das Töten, auch wenn es sich mit Höherem legitimieren mag, akzeptiert werden kann. Die Figur Eiserbeck ist sich über diese Einwände von Anfang an im Klaren. Er weiß, dass »sein Motiv nicht ganz rein« ist (K: 245, vgl. K: 205f.). Das schlechte Gewissen, das Eiserbeck dabei entwickelt, ist ihm kein Argument gegen das Tun oder gegen die legitimierenden Titel sittlicher Werte. Eiserbeck gibt dem Wi-

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derstreit der Werte einfach eine produktive Verlaufsform: »Er zweifelte ständig, aber er machte weiter.« (K: 206). (c)

Kritik an Gewalt ist schlecht. Blamage der Gewaltlosigkeit und Delegitimation des Pazifismus

Egal, ob es um das Ende des Kriegs geht oder, aus ›unreiner‹ Motivlage, um Isabella oder gar nur um Eiserbeck: Mord steht zur Diskussion und damit nicht der Verzicht auf Gewalt, sondern deren Notwendigkeit. Der Frage nach dem tatsächlichen Zusammenhang, insbesondere ob durch den Mord an Karadzic dieser Krieg zu einem Ende kommt und was das für ein Frieden sein soll, wenn der offizielle Repräsentant einer Kriegspartei, aber nicht deren Gründe aus der Welt sind, stellt sich Eiserbeck nicht. Offenbar geht es Eiserbeck weniger um den Jugoslawienkrieg als um sich. Eiserbeck weiß indes, dass politischer Mord durch die deutsche Geschichte einen schlechten Ruf genießt und deswegen kategorisch abgelehnt wird. Im Roman erlebt Eiserbeck zum einen, wie haltlos die moralische Rigorosität eines Tötungsverbots ist; zum anderen erlebt er, wie die pazifistische Politik die politische Wirklichkeit in Bosnien verfehlt und sie insgeheim dem Gebrauch von Stärke per se Recht gibt. Zuerst geht es um das Argument, (politischer) Mord sei wegen der deutschen Vergangenheit oder auch nur für sich ein Tabu. Eiserbeck erinnert sich an seine Kindheit, er und sein Cousin sehen zu, wie ihr Opa ein Kaninchen schlachtet: »[…] und dann krachte ihm schon ein Knüppel in den Nacken. Siehste, sagte sein Großvater, der selten etwas sagte. Er nahm sein Messer und schlitzte das Kaninchen auf. Weißes Fell, rotes Blut. Und dann sprang die Tür auf von dem Haus, in dem sein Cousin lebte, und der Cousin rannte durch den Garten und schrie und heulte und schlug auf den Großvater ein. Mörder, Mörder, Nazischwein. Mörder. Warum klang das so häßlich? Sein Großvater hatte das Kaninchen umgebracht, damit sie einen guten Braten essen konnten. Eiserbeck lag auf dem Bett und wollte versuchen, das Wort Mörder einmal ganz neutral zu sehen. […] Was gibt’s Neues vom Mörder, fragte der Cousin von jenem Tag an, sobald er Eiserbeck sah. Das hatte der Großvater nicht verdient.« (K: 60f., Herv. S.H.)

So unvermittelt Eiserbeck diese Anekdote auch in den Sinn zu kommen und so unverdächtig ihre Gegenstände zu sein scheinen, ist bereits vor aller Auseinandersetzung mit dem Gegenstand ›Mord‹ dessen Relativierung vollzogen. Mit der naiven rhetorischen Frage nach dem ›Klang‹ stellt Eiserbeck die Aufgabe, Mord zu differenzieren und vom kategorischen Verbot – ›Todsünde‹, ›Nie wieder nach dem Zweiten Weltkrieg!‹ – Abstand zu nehmen: Mord sei eben nicht gleich Mord. Was von Eiserbeck, wenn auch nur unter Vorbehalt, mit Mord verglichen wird, unterstellt bereits eine beachtliche, mithin eine die Gegenstände ver-

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fremdende Abstraktion. Schlachten und Morden sind so fern voneinander wie Nutztier und Mensch426 oder Ernährung und politisches Agieren. Dieser Vergleich hat jedoch seine produktive Seite. Im Verweis auf die Nützlichkeit des Schlachtens eines Kaninchens ist das Töten aus politischen Zwecken als Tabu relativiert. Der Ausruf des Cousins, das Bemühen des Großvaters um einen Sonntagsbraten mit Mord im Nationalsozialismus zu identifizieren, inszeniert zudem eine Übersensibilität, die sich allzu verbissen auf das historische Erbe des Kriegs als generelles Tötungsverbot verpflichtet hat. Im Verweis auf die mangelnde Überzeugungskraft des selbst konstruierten Abstraktums, Mord sei generell abzulehnen, ist politischer Mord von dem beschränkenden Erbe des Zweiten Weltkriegs befreit und hat den Status des Tabus verloren. Zum zweiten Punkt, wonach den Deutschen lediglich friedliche Mittel zum Lösen von politischen Konflikten anstünden: Eiserbeck problematisiert ausgiebig die prominenten Positionen des Pazifismus bzw. die der Friedensbewegung, die gewaltvolles politisches Agieren prinzipiell und das vor allem wegen der deutschen Geschichte ablehnen und im Umkehrschluss Friedfertigkeit propagieren. Das geschieht bezogen auf eine Person: Die deutsche Nachkriegszeit und deren Pazifismus werden im Roman von einer Frau repräsentiert, die wie eine Politikerin auftritt und Pastorin genannt wird, aber weder das eine noch das andere ist. Auf die Pastorin bzw. auf ihre Positionen stößt Eiserbeck ab und an, in Gesprächen, in Radio- oder TV-Beiträgen, auch seine Mutter liest deren Bücher. Eiserbeck verkörpert mit seinen schon grauen Haaren äußerlich bzw. in seiner gespaltenen Psyche, was die Pastorin in Reinform verkörpert, die nachkriegsdeutsche Antikriegsmoral. Die Pastorin gilt als ›Gewissen der Nation‹, war Galionsfigur der Friedensbewegung der 1980er Jahre und wurde durch den Alternativen Nobelpreis geehrt, sie ist Gandhi-Verehrerin, kandidierte auch schon einmal für die Bundespräsidentschaft. Die Position dieser geehrten Pazifistin ist grundsätzlich und deswegen knapp: »Frieden [ist] nur über Friedlichkeit zu haben« (K: 88). Diese Position ist auch nach 1990, dem politischen Ende der Nachkriegszeit, unter der deutschen Öffentlichkeit weiterhin populär und die Pastorin gilt den Medien immer noch als die Expertin in Friedens- bzw. Kriegsfragen. Bevor die Pastorin ihren Standpunkt darstellt, erscheint schon die Wirklichkeit des Romans als dessen Widerlegung: So ist die Person Eiserbeck durch den gewaltvollen Übergriff der Krüger-Geschwister geprägt, bei denen der friedliche Verweis auf ein mögliches friedliches Arrangement nichts half; ebenso 426 Motivisch wird das Vergleichsobjekt ›Mensch‹ darüber eingebunden, dass mit der Farbsymbolik von rot-weiß die Schlüsselszene mit Isabella vorweggenommen wird, in der es einerseits um die durch ein Massaker in Sarajevo ermordeten Bosnier, andererseits um Isabellas körperlicher Versehrtheit durch Eiserbeck selbst geht (vgl. oben, vorigen Abschnitt).

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bedeuten im aktuellen Fall die Friedensgebote des Westens an den kroatischen Serbenführer Karadzic kein Ende des Kriegs in Bosnien, eher erscheint diese Politik des ›Appeasements‹ als Gelegenheit für Karadzic, den Krieg ungehindert weiterzuführen. Indes, die Pastorin ist keineswegs ignorant gegenüber dieser unbefriedigenden Situation in Bosnien anno 1992. Trotz des Wissens, dass die Politik mit friedlichen Mitteln den aktuellen Krieg nicht beendet, hält sie am Pazifismus fest. In einer Runde mit anderen Zivildienstleistenden setzt sich Eiserbeck mit ihr direkt auseinander : »[…] ihr Gesicht zeigte eine Miene, die Eiserbeck für eine typische Miene von Politikern hielt. Sie setzten sie auf, sobald sie mit sogenannten normalen Leuten zusammen sind, also Nichtpolitikern. Es liegt dann ein freudiger, versteckt stolzer Zug um den Mund, weil sie sich so gut mit den sogenannten normalen Leuten unterhalten können […]. ›Dies sind ja leider Zeiten‹, fuhr die Pastorin fort, ›in der sich immer mehr Menschen hierzulande vorstellen können, Soldaten im Ausland einzusetzen, sogar ›out of area‹, wie die Militärs dazu gerne sagen. Wie Sie ja alle wissen, halte ich das für falsch, für grundfalsch. Um so wichtiger ist es, daß junge Männer verweigern, sich verweigern. Die Welt hat in diesem Jahrhundert genug deutsche Soldaten im Ausland gesehen. […] Bosnien braucht nicht noch mehr junge Männer mit Gewehren. Es gibt schon genug davon. Sie hier, und deshalb fühle ich mich so wohl bei Ihnen, laufen nicht Gefahr, mißbraucht zu werden für Großmachtallüren. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber Größe hat oft etwas Gefährliches.‹« (K: 174f.)

In Aussehen und Habitus, aber vor allem in dem, was sie sagt, scheint die Pastorin eine Ansicht zu vertreten, die eher abgehoben als ›normal‹ daherkommt. Mit Formulierungen wie »verweigern, sich verweigern«, »genug deutsche Soldaten«, »nicht noch mehr junge Männer«, »schon genug«, »Gefahr«, »mißbraucht« oder »Gefährliches« wird die aktuelle Realität bestritten und sich über sie rhetorisch hinweggesetzt. Denn die Pastorin hat nicht nur den Fakt der Stärke Deutschlands in ihren Äußerungen bereits unterstellt; auch konkret beruft sich die Pastorin in ihrem Argument auf den politischen und gesellschaftlichen Fakt, wonach erstens der deutsche Staat ein militärisches ›out of area‹ schon abwägt und wonach zweitens solche Einsätze »hierzulande« bereits Zustimmung finden und sich »immer mehr« Mitbürger vorstellen können. Die Pastorin zeigt hier eine andere Absicht, als zu erklären, was die aktuelle Befürwortung des Staats und seiner Bevölkerung für die Kriegseinsätze oder was deren Abkehr vom Nachkriegskonsens, Deutschlands habe Antikriegsmacht zu sein, ist. Die Pastorin begnügt sich im negativen Abgleich mit dem eigenen pazifistischen Standpunkt. Dabei scheint sie an den spezifischen Gründen des politischen Handelns Deutschlands nichts auszusetzen zu haben. Denn sie widmet diesen keine Kritik, insofern sie sich mit ihrer Kritik lediglich auf die

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›grundfalschen‹ Mittel und Wege konzentriert, die ansonsten in der Rede unberührt bleibenden politischen Absichten durchzusetzen.427 So nimmt die Pastorin statt der eigentlichen politischen Gründe für die militärischen Interventionen lediglich die Abstrakta der deutschen Größe und Stärke in den Blick. An diesen allein sei die deutsche Politik zu kritisieren. Dabei macht sie einen bemerkenswerten, historisch plausibilisierenden Zusammenschluss, wonach Größe Grund für Allüren sei und daher Größe Gefahr bedeute. Die prinzipielle Enthaltsamkeit vom Kriegsdienst, die die Pastorin daraus ableitet, interpretiert Eiserbeck aber genau umgekehrt. Der Aussage der Pastorin, »Größe hat oft etwas Gefährliches«, stellt Eiserbeck entgegen: »Man muß nur damit umgehen können« (K: 175). Und so präsentiert sich der Pazifismus als ein moralisches Vorurteil gegenüber Größe und Stärke bzw. als moralischer Reflex auf den Zweiten Weltkrieg. Beim Pazifismus ist die gleichsam geteilte Sorge um die Politik Deutschlands einerseits durch den prinzipiellen Verzicht auf den genauso prinzipiell anerkannten Fakt der Größe und Stärke bestimmt und andererseits durch den Unwillen, zumindest die Realität der öffentlichen Meinung anzuerkennen. – Der Pazifismus erscheint als moralische, politische Vernunft, auf den Realismus der Gegenwart zu reagieren, unpassend; darin scheint er sich selbst, mit eigenen Worten bloßzustellen und zu widerlegen.428 Daneben prüft der Roman bzw. seine Hauptfigur Eiserbeck, was der Pazifismus konkret zum Umgang mit dem gegenwärtigen Bosnienkrieg beiträgt. Eiserbeck fragt die Pastorin direkt, wie sie sich ihr »sich [V]erweigern« denkt angesichts des Kriegsgeschehens: »›Zugucken, wie da unten die Moslems massakriert werden, kann ja auch nicht richtig sein.‹ 427 In einem vorigen Redebeitrag der Pastorin kündigt sich der kritisch-konstruktive Bezug ihres Pazifismus auf die hiesigen politischen Verhältnisse bereits an. Auch wenn die Pastorin mitunter »Anti-Imperialismus« im Mund führt, ist dies lediglich als Sorgeverhältnis für ihren Staat formuliert, mitnichten ist es als eine Aufkündigung zu verstehen. Und so würdigt sie hier den Zivildienst als nicht nur irgendeinen Dienst, den man sowieso kaum frei wählen kann. Sie würdigt ihn als gar wichtigeren Beitrag für die Gesellschaft als den Beitrag der Armee. So heißt es: »›Ich sagte gerade‹, sagte die Pastorin, ›wie wunderbar ich es finde, daß sich so viele junge Männer für den Zivildienst entscheiden. Die Arbeit, die sie da tun, ist immens wichtig für unsere Gesellschaft. Ihre Leistung ist phantastisch. Ich weiß, daß Sie es nicht leicht haben, und umso infamer ist es, daß Sie auch noch diskreditiert werden, als Drückeberger und was da sonst im Umlauf ist. Lassen Sie mich hier deutlich sagen, daß in Wahrheit Sie es sind, die sich für den härteren Part entschieden haben. Darauf können Sie stolz sein.‹« (K: 173f.) 428 Dass der Pazifismus als politische Vernunft aber ohnehin an den Verhältnissen vorbeigehe bzw. für diese nicht tauge, macht der Roman an der Mutter von Eiserbeck deutlich. Sie, seit der Friedensbewegung großer Fan der ›Pastorin‹ und Leserin ihrer Bücher, meidet es, die aktuellen Nachrichten zu schauen, weil dort »so viel Schlimmes« stattfindet (K: 240).

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Die Pastorin […] sah irritiert auf, genauso der Leiter der Hamburger Caritas, der neben ihr saß. Sie schauten Eiserbeck an. Ihm war nicht wohl. ›Sicher nicht, junger Mann, aber ist denn Gewalt, das einzige Mittel, das uns bleibt? Sehen Sie zum Beispiel Gandhi …‹ [sic] Als sich die Pastorin nach einer Stunde von jedem Anwesenden mit einem Handdruck verabschiedete, sagt sie, bei Eiserbeck angekommen: ›Sie irren, junger Mann, aber ich mag es, wenn sich jemand seine eigenen Gedanken macht.‹« (K: 175)

Dieser kurze Wortwechsel ist für Eiserbeck und die Pastorin lediglich ein Abgleich ihrer fertigen Standpunkte. Keiner der beiden ist am Gegenüber interessiert. So wie Eiserbeck seine suggestive Frage stellt, um die Differenz zum kategorischen Gewaltverzicht auszudrücken, macht es die Pastorin mit ihrer Antwort an Eiserbeck, der für sie kaum mehr ist als Stichpunktgeber für ihr althergebrachtes, darin typografisch mit den Auslassungspunkten ›verobjektiviertes‹ Referat.429 Beiden genügt als Kritik am Gegenüber, Differenz festzuhalten. Aus diesem theoretischen Patt zieht jedoch Eiserbeck den rhetorischen Gewinn. Er ist es, der der Pastorin die Alternative zwischen »Zugucken« und Gewaltanwenden vorsetzt (vgl. auch K: 243–245). Indem die Pastorin auf Eiserbecks Frage nur formal eingeht und weiterhin gegen Gewalt argumentiert, erscheint ihre pazifistische Position ignorant gegenüber dem ›Massakrieren‹ in Bosnien bzw. erscheint diese Position gar als indirektes Wegbereiten dessen. Mit diesem zweiten Abgleich wird der Pazifismus deutscher Prägung auch in Bezug zur aktuellen Lage in Bosnien vorgeführt. Allgemein wie konkret ist der Pazifismus, die politische Enthaltsamkeit von Gewalt, Inbegriff moralischer Verantwortung der Deutschen, nun delegitimiert.

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Gebrauch von Gewalt ist gut. Rehabilitierung militärischer Stärke

Eine neue Moral des ungebrochenen, ungetrübt positiven Bezugs zu Stärke und Größe wird im Roman nicht direkt beworben. Es entsteht nicht der Eindruck, dass Eiserbeck nur seinen Willen, nämlich wegen Isabella Karadzic umzubringen, durchsetzt und alle Einwände kategorisch vorführt. Es sind vielmehr allerhand Unannehmlichkeiten und Unwägbarkeiten, mit denen Eiserbeck nun konfrontiert wird, so dass sich zeigt, dass die Abkehr von der alten und die 429 Eiserbeck erinnert sich an einer anderen Stelle des Romans an den Ethikunterrichts seiner Abiturzeit. Auch dort kommt es zwischen denen in seiner Klasse, die den Pazifismus vertreten, und ihm, der ihn angreift, zu keiner wirklichen Auseinandersetzung. Eiserbeck kritisiert am Pazifismus allein die Unglaubwürdigkeit seiner Protagonisten (Gandhi hätte es nur auf Ruhm abgesehen, sei auch nur ein Mensch) – den Pazifismus als politisches Programm kritisiert hat er nicht (K: 243f.).

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Hinwendung zur neuen Moral als notwendige, aber keineswegs als opportune Selbstermächtigung zu werten sei. Es bleiben ihm moralische Skrupel, wenngleich äußerst produktiver Art. So fährt Eiserbeck weiterhin gängige (moralische) Konter gegen Gewalt auf, teilt sie oder verkörpert sie sogar selbst – um sich dann zu einem Trotzdem ›durchzuringen‹. Er kann eigentlich kein Blut sehen, Gewalt stehe gegen seinen Zweck, Frieden zu stiften, und gegen den anderen Zweck, Liebe zurückzugewinnen. Trotz allem ringt sich Eiserbeck zu der Überzeugung durch, dass Morden durch seine Hand so notwendig wie gerechtfertigt sei. Also im Verfolgen seines Attentatsprojekts befasst sich Eiserbeck mit der Moralfrage. So kommt er in das klassische moralische Dilemma, wonach mit Unrecht Recht vollbracht werden müsse. Dieses Dilemma zu thematisieren, wird Eiserbeck von einem Beamten des Staatsschutzes, Johannsen, genötigt. Johannsen ist wegen eines Bootsdiebstahls auf Eiserbeck aufmerksam geworden und er verfolgt an ihm einen nie ausgesprochenen Verdacht. Er bittet Eiserbeck, Albert Camus’ Die Gerechten zu lesen (K: 163), Eiserbeck folgt dem aus ebenso unausgesprochen Gründen. Die Unterhaltung über dieses Theaterstück zieht sich in knappen Passagen über einen großen Teil des Romans. Als Eiserbeck von Johannsen gebeten wird, seine Lieblingsstelle zu benennen, antwortet Eiserbeck auffallend unstrategisch und offen. Er liest die Szene, in der sich der Mörder – der Mörder eines Tyrannen – zu rechtfertigen versucht: »›Es gibt etwas Schändlicheres, als ein Verbrecher zu sein, nämlich einen Menschen zum Verbrecher zu zwingen, der nicht dafür geschaffen ist. Schauen Sie mich an! Ich schwöre Ihnen, daß ich nicht zum Töten geschaffen war.‹« (K: 277)

Eiserbeck gibt sich hiermit noch einmal verschlüsselt unverschlüsselt als einen moralischen Menschen zu erkennen, der nicht aus freien Stücken gegen die Moral, gegen das Tötungsverbot, verstoßen würde. Im Kontext des zitierten Camus-Stücks wird des Weiteren betont, was dessen Hauptfigur eigentlich gezwungen habe: sein moralischer Anspruch. Gerechtigkeit muss mit Ungerechtigkeit wieder hergestellt werden, denn als moralischer Mensch machte man sich so oder so schuldig: Man konnte sich moralisch integer nennen, duldete man Unrecht – auf dass dieses aber nie endet; beendete man dies und setzte Recht ins Werk, konnte man dies nicht, ohne selbst unmoralisch zu werden. Unter dieser Schuld litt der ›Gerechte‹ bei Camus vor allen anderen. Die von Eiserbeck gewählte Textpassage verdeutlicht, dass nicht nur die Weltliteratur, sondern auch ein bekannter moralischen Topos – das Dilemma – aufzeigt, dass man ein Mörder nicht aus Niedrigkeit werden muss, sondern gerade weil man ein be-

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sonders fester Moralist ist. Mittels Camus hat der Roman auch Eiserbeck als solchen offenbart.430 Den Vorwurf, Eiserbeck berufe sich auf den allgemeinen Zweck lediglich wegen seines unmittelbar privaten Nutzens, leugnet der Roman nicht, er hält diesen im Bewusstsein. So schlägt er sich nicht explizit auf Eiserbecks Seite, auch präsentiert er keine theoretischen Argumente für Stärke und Größe als Zwecke eigenen Rechts; stattdessen wirbt der Roman immerfort und ausschließlich mit der Aufrichtigkeit des Protagonisten Eiserbeck. In Bezug auf den Mord ist es die Art und Weise des Vorgehens, mit der sich Eiserbeck besonders planvoll und diszipliniert zeigt. So verweist die Wahl des Gewehrs als Mordwaffe, was der Mord als (unter anderem) politisch motivierter Mord und zumal an dem gemeinhin als schuldig erkannten Karadzic bereits nahelegt: Hier handelt es sich nicht um einen Genuss oder Affekt, sondern um etwas, über das man sich Rechenschaft abgelegt haben muss431: »›Ich brauche ein Gewehr.‹ […] ›Ein Gewehr ist eine Sache für sich. Pistolen sind die Normalität. Man trägt sie bei sich, zieht und schießt. […] Pistolen haben etwas Beiläufiges. Sie sind schnell, aber sie brauchen Nähe.‹ ›Ich will keine Pistole. Ich brauche ein Gewehr, hören Sie, ein Gewehr.‹ ›Gewehre sind etwas für Leute, die einen Kopf haben. Man muß überlegen. Man muß planen. […].‹« (K: 58)

Vernunft für sich und ignorant gegenüber dem, was Inhalt der Vernunft ist, soll nun für Eiserbeck sprechen. Um den Eindruck, hier morde jemand aus niederen Gründen, weiter zu zerstreuen, folgt der überlegten Wahl der Waffe die Mühe und Gewissenhaftigkeit, schießen zu lernen. Eiserbeck ist kein Naturtalent, er braucht Training. Der Rentner Beckmann, den Eiserbeck als Zivildienstleistender betreut, schult ihn. Beckmann diente als Soldat im Zweiten Weltkrieg, was für Eiserbeck aber kein Problem darstellt – er betreibt die Vergangenheitsbewältigung ganz pragmatisch. Beckmann bringt Eiserbeck bei, seinen Körper mit Atemtechniken unter Kontrolle zu bekommen. In dem Maß, wie Eiserbeck seinen Körper fürs Schießen zu beherrschen lernt, wird ihm klar, dass weniger die Kontrolle über 430 Dass Eiserbecks fester moralische Kern existiert, beweist sich insbesondere dann auch praktisch, als zwei Ereignisse eintreten, die seinen langgehegten Attentatsplan zu vereiteln drohen, aber seine unmittelbare Hilfe verlangen. Eiserbeck entscheidet sich für die Hilfe und riskiert damit sein Vorhaben. So bleibt er nach einer illegalen Schießübung bei einem Schwerverletzten auf die Gefahr hin, deswegen in Schwierigkeiten mit der Polizei zu geraten; so wird die Hilfe, zu dem ein alter Schäfer Eiserbeck zuerst erpressen muss, für Eiserbeck schließlich Selbstzweck (vgl. K: 230–235, 285–291). 431 Bereits Eiserbecks Mutter, Anhängerin der pazifistischen Pastorin, lebt nach der Lebensdevise, wonach der Affekte die Vernunft (der ›Kopf‹) die Welt trenne (K: 102).

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seinen Körper entscheidet als das, was in seinem Kopf gegen seine Absichten waltet: »Er visierte die Dose an. Kalt drückte der Schaft gegen seine heiße Wange. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Halb ausatmen. Luft anhalten. […] Lange mußte er so atmen, gleichmäßig und in gedehnten Zügen, bis die Markierungen zur Ruhe kamen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Halb ausatmen. Luft anhalten. Er atmete weiter. Nichts war passiert, und das verwirrte ihn. Denn er hatte schießen wollen […]. Aber es ging nicht.« (K: 121)

Und eine spätere Passage: »Plötzlich hatte er Angst. Er wollte doch gar nicht töten. […] Niemals könnte er es ertragen, einen Menschen auf dem Gewissen zu haben. Ihn überkam Panik. […] So was hatte er doch nie gewollt. Das war nicht sein Ding. Er konnte keinem etwas zuleide tun. Groß war er, sicher, auch stark, aber doch gutmütig, wie es die großen starken Menschen oft sind. Harmlos.« (K: 251f.)

Der Kriegsveteran Beckmann diagnostiziert die Krux von Eiserbecks Identität – und sie ist deswegen wohl Titel des Romans: Bei Eiserbeck als Zivildienstleistenden und sozusagen als institutionalisierten Repräsentanten der nachkriegsdeutschen Moral handele es sich nicht von ungefähr um einen »Drückeberger«; in der Tat sei er ein »Mucker«, er habe schlicht »Schußangst« (K: 127). Eiserbeck wird zum ersten Mal damit konfrontiert, dass er unter einer Disposition, einem zutiefst, dem Willen nicht zugänglichen, gewaltmeidenden Rest leidet. Der steht zu seinem Vorhaben – vom Attentat an Karadzic über Frieden auf dem Balkan bis Isabella – im theoretischen Sinn quasi als Antithese, praktisch als Verunmöglichung. Eiserbeck registriert dieses Manko, nimmt es für sich an, versucht aber zugleich, dieses Manko durch noch mehr Reflexion und durch exzessives Training zu kompensieren. Allein weil er an seinem Vorhaben festhält, beweist Eiserbeck seine Ernsthaftigkeit und Redlichkeit in einem noch deutlicheren Maß. Nach Aussprachen über einen ›Standpunktwechsel‹ mit einem befreundeten Sportler (K: 135–138), bei dem Eiserbeck den Gewehrschuss beim Morden wie einen beim Sport anzugehen lernt432, und nach diversen paramilitärischen 432 Eine prägnante Passage, die zu Beginn des Romans dieses Gleiche zwischen Politik, Sport und Unterhaltung verdeutlicht, ist: »Er begann mit Taste vier, sah eine Frau, die, verfolgt von Hubschraubern, singend durch die Wüste lief, drückte dann Taste acht, um den ersten Minuten eines Fußballspiels in Afrika zu verfolgen, bis ihm mangels Torchancen langweilig wurde und er zu Taste fünf wechselte, wo wieder Menschen rannten, geduckt rannten, bis sie die nächste Ecke erreicht hatten, um dann mit routinierter Erleichterung in die Kamera zu schauen.« (K: 13) Dass die Grenzen in der Tat fließend sind, macht der Schwimmer an seiner Olympia-Anekdote deutlich, denn er tötete mit einem Sportgerät einen Schiedsrichter (K: 136). Sogar die Formate ähneln sich. So wird im TV gerade ›best of Sarajevo‹

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Trainingseinheiten erscheint Eiserbeck, in Addition zu seinen anderen körperlichen Wesenheiten von Größe und Stärke, endlich als verwirklichtes »Ideal eines Kriegers« (K: 265)433. Eiserbeck fährt schließlich nach Genf, wo Karadzic auf einer weiteren Friedenskonferenz auftritt und wo er, so hofft es jedenfalls Eiserbeck, einen Frieden auf dem Balkan vereitelt. Er bekommt Karadzic, den sogenannten Arzt, vor das Visier (K: 259), doch: »Aber der Schuß geschah nicht. Plötzlich war der Kopf verschwunden. Der Arzt liegt jetzt am Boden, dachte Eiserbeck im ersten Moment, Kopf zerplatzt, tot, herzlichen Glückwunsch. Hatte er einen Schuß gehört, einen Rückstoß gespürt? Hatte er nicht. Aber warum nicht? Dann wurde ihm klar, daß er nicht geschossen hatte. […] Er war verwirrt, hilflos. […] Wieso hatte er nicht geschossen? Wieso hatte sich sein rechter Finger nicht bewegt.« (K: 266f.)

Obwohl Eiserbeck moralisch gute und sogar nach seinem Ermessen sachlich notwendige Gründe für diesen Mord besaß und die Gründe gegen einen solchen kontinuierlich destruiert hatte, und obwohl er sich eine körperliche und geistige Routine antrainert hatte, so dass er geistig wie körperlich diesem Vorhaben ›ideal‹ zu entsprechen schien, konnte er ›sich‹ nicht überwinden. Es waltet etwas in Eiserbeck, das sich seinem Willen immer noch entzog und diese Mordtat vereitelte. Nach dem gescheiterten Attentat fügt sich scheinbar alles für Eiserbeck und für die Weltpolitik zum Besten. Nicht nur ist ein Frieden in Bosnien möglich. Auch Isabella kommt zu Eiserbeck zurück. Doch der Schein trügt und das in einem viel umfassenderen Maße: Isabella wird nach dem gemeinsamen Wiedersehen ins Krankenhaus eingeliefert, weil sie sich mit Drogen vergiftet hat, und auch in Sarajevo wird wieder geschossen. Isabellas Eltern unterbinden jeden Kontakt zu Eiserbeck. Ein Leben allein oder gemeinsam erscheint illusorisch. Eiserbeck erblickt nicht nur sein und Isabellas Unglück, sondern im Krankenhaus unter den anderen eingelieferten Existenzen das Unglück seiner Generation und in seinem Stadtteil das Unglück seines Gemeinwesens. Die Szenerie betritt niemand, der mit seinem Leben zurechtkommt, neben Junkies, Angeschossenen, Verrückten etc. hier (K: 307–309), Betrunkene, Stricher, Huren, Randalierer und obszöne Ostdeutsche dort (K: 314f.). Am Ende dieses Parcours, der sich Eiserbeck als ungeschöntes Panorama der gesendet neben Nachrichtenzusammenfassungen, die Eiserbeck wie ›best of war‹ erscheinen. 433 Zu dieser Bestimmung findet Eiserbeck nicht selbst, sie wird durch eine obskure, als Autorität in Militärfragen geltende Romanfigur geliefert. Wie viele der anderen Romanfiguren ist diese selbst für die Handlung irrelevant.

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Gegenwart darbietet, zieht es Eiserbeck in eine Kneipe und er sieht dort im Fernsehen die Pastorin sprechen: »Ihre Stimme war fest und klar. Sie sprach mit der ganzen Gewißheit ihrer fünfzig Jahre. Man mußte sich dumm vorkommen, wenn man anderer Meinung war. Sie sagte, was sie immer sagte. Friedliche Mittel, imperialistisch, Großmannsgehabe, Gandhi.« (K: 318)

Diese ›feste und klare‹ Selbstsicherheit kontrastiert mit dem prekären Lebensalltag in Deutschland, in dem sich Eiserbeck und seine Mitmenschen befinden. Diese erscheinen ihm als ›dumme‹, selbst verschuldete Schicksale. Es gibt einen letzten Absatzwechsel im Roman. Ohne Überleitung und Erklärung wird erzählt, wie Eiserbeck zum Haus der Pastorin rudert: »Es war stockfinster. Die Stadt ringsum dröhnte und säuselte. Es war vollkommen klar, daß es passieren mußte. Anders ging es nicht. […] Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Halb ausatmen. Luft anhalten. Natürlich hatte er getroffen. Er wußte genau, daß er getroffen hatte. Der Schuß war trocken und laut durch die Nacht geknallt. Kein Schalldämpfer. Er hatte nichts zu verbergen.« (K: 318f., Herv. S.H.)

Ob Eiserbeck es denkt oder es eine objektive Notwendigkeit meint, ist stilistisch nicht mehr unterschieden. Die Eindrücke von den scheiternden Menschen auf Eiserbeck ergeben über sein unmittelbares Empfinden hinaus eine objektive Diagnose. Zudem kulminieren alle zuvor beobachteten, zunächst disparaten Lebenslagen in diesem einen Moment, lassen darin ihren einen einzigen objektiven Grund aufscheinen: Die selbstsichere Pastorin als Repräsentantin der deutschen Nachkriegsmoral erscheint nicht nur im Kontrast zu diesen Menschen wie Isabella und Eiserbeck, die nicht zu ›sich‹ finden können bzw. denen ihre Selbstbestimmung unmöglich ist; vielmehr erscheint in dieser Montage die Pastorin mit dem, was sie repräsentiert und wofür sie immer noch erfolgreich wirbt, an dem, was an Scheitern zu beobachten ist, als maßgeblich Schuldige. Die Pastorin muss also erschossen werden. Damit kann Eiserbeck seine ›Schussangst‹ überwinden, den pointierten Ausdruck der Selbstentfremdung. (e)

Das Psychologische Eiserbecks als politische Wirklichkeit Deutschlands in seinen neuen Kriegen

Der Roman Schußangst etabliert innerhalb der deutschen literarischen Auseinandersetzung mit dem Jugoslawienkrieg eine andere und grundsätzlich neue Perspektive. Nicht an dem Krieg, seinem Verlauf und seinen Parteien wird die eigene Positionierung problematisiert, problematisiert wird anlässlich des Kriegs die deutsche Position selbst. Schußangst thematisiert diese Entwicklung, die der Roman jedoch schon in

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der Ausgangssituation und Anlage unterstellt hat. Denn wohin sich Eiserbeck entwickelt, ist ihm im mehrfachen Sinn objektiv vorgegeben, wohin seine gesellschaftlichen Verhältnisse sich noch bewegen sollen, ebenso. Was ist der Inhalt und was der Antrieb dieser Entwicklung? Was Eiserbeck und die deutsche Gesellschaft noch anzunehmen lernen müssen, ist in den Werten Stärke und Größe ganz abstrakt als Eigentliches und Selbst-aus-eigenem-Recht vermittelt. Mit diesem vor-politischen, quasi naturgegebenen Motiv nimmt sich Eiserbeck nichts vor, das als Zweck oder Interesse für sich kritisiert werden könnte.434 Werte flottieren in seinem Fall nicht als abstrakte Größen, sondern fordern als Wert des ›Selbst‹ die Anerkennung ihrer Gültigkeit unmittelbar, in buchstäblicher Verkörperung. So ist er – vor allen Willensbekundungen – mit diesem bereits identisch. Das Selbst hat sich nur an sich zu bemessen. Das ist weniger ein geistiger, daher immer prekärer Anspruch auf Geltung, als eine Sachnotwendigkeit, für die sich der Geist besser einsichtig zeige. Somit erscheint die Vermittlung zwischen einem individuellen Wollen und dem gesellschaftlichen Sollen, dem Besonderen der Subjektivität und dem Allgemeinen des Gemeinwesens zwar als Herausforderung für Eiserbeck, darin aber erscheint sie subjektgemäß und nicht als sittliches Oktroi, theoretischer Widerspruch oder gar politischer Gegensatz. So sei die Suche nach eigener ›Identität‹435, schreibt Bernhard Spies zur sittlichen und psychischen Reflexion in der modernen Literatur, keineswegs als eine 434 Eine Kritik dieser Werte wäre insofern nötig, als sie als allgemeine Lebensimperative gleichermaßen für individuelles Dasein und Gemeinwesen behauptet werden. Ein starker Mensch und ein starkes und großes politisches Gemeinwesen – was als physische Verfasstheit ein Recht eigener Art hat und es lächerlich wäre, zu leugnen, ist keineswegs eine fraglose gesellschaftlich Objektivität. Die Größe und Potenz politischer Subjekte ist keine Frage des Naturgegebenen und somit keiner Kritik grundsätzlich enthoben. In der Sphäre der politischen Diplomatie erscheinen darüber hinaus Größe und Stärke insofern als wirkliche Werte, weil sie in der Tat praktisch relevant sind, die Konkurrenz untereinander zu gestalten. Das liegt auch daran, dass über den Staaten, nicht wie bei ihren ›kräftigen‹ Bürgern, kein Gewaltsouverän waltet. Anders: ›Stärke/Größe‹ ist als Wert betrachtet widersprüchlich, denn zwischen Individuum und Staat nicht kompatibel. Des Weiteren ist das sittliche Subjekt für sich ein Widerspruch. Insofern ein Allgemeines existieren muss, für das der sittliche Mensch selbst erst ein konstituierendes einzelnes Moment liefert, ist dieser sittliche Mensch (theoretisch gesehen) eine gelebte contradictio in adiecto. Der Roman muss an diesen Widerspruch durch die Montagetechnik, also dem eher unvermittelten Nebeneinander, und durch das So-Erleben durch Eiserbeck nichts entscheiden, allein dem Leser wird dieser Schluss als Begriff angetragen. 435 Diese psychologische Anamnese, das Selbst erst durch Identität mit Anderem komplett und ›bei sich‹ zu verstehen, steht gegen die Intuition und die lexikalische Bedeutung. Das Selbst wird nicht gebildet und gestärkt, indem fremde, ihm nicht gemäße Momente aussortiert werden, so dass es wieder ganz bei sich und seinen unmittelbaren Belangen ist, konträr : das Selbst ist nicht mehr zerrissen, gespalten und entfremdet in der Identität mit allem, was es nicht ist.

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Suche nach »naive[r] Selbstgewißheit«436 zu verstehen. Diese selbstreflexiven Figurenpsychen versinnbildlichten vielmehr den Anspruch, »zugleich individuelles und allgemeines Wesen«437 zu sein und so in diesem neuen ›Sich‹ das »Bewegungsgesetz der Wirklichkeit a priori« darzustellen.438 – Schußangst setzt diesen Wert der Selbstbehauptung als individuelles wie allgemeines Motiv ›a priori‹. Was sich in den Romanen der bürgerlichen Moderne oft noch als kapriolenreicher Findungsprozess der Psyche gebiert, das ist in Schußangst schon vorweg in der Figur Eiserbeck als Objektivität angelegt. Die Psyche Eiserbecks konstruiert sich diesen überindivuellen Maßstab des Werts Größe und Stärke nicht, sondern plausibilisiert an sich dessen Gültigkeit, erfährt sich selbst als anschaulicher Teil von dessen Telos und so erst sich. Des Weiteren inszeniert der Roman in der Kultur der Leugnung diese Objektivität, er inszeniert in der ›negativen‹ Sittlichkeit der deutschen Nachkriegszeit der Bonner Republik eine Wertigkeit, die quasi überhistorisch Geltung beweist. Alle Ereignisse im privaten wie im gesellschaftlichen und politischen Leben Deutschlands erscheinen nun als Ausdruck und als Auftrag eines (nur verleugneten) Gesetzes, das so abstrakt wie konkret nach ›Selbstverwirklichung‹ verlange. So hat sich die Perspektive auf die Welt entscheidend gewandelt: Isabella und Bosnien erscheinen – gleichermaßen – als bloßer Fall für Eiserbeck, über ›sich‹ Klarheit zu erlangen, d. h. die negativen Bedingungen, die Schranken seiner eigenen ›Wirklichkeit‹, zu überwinden. Somit erscheinen nun auch Isabella und Bosnien als Phänomene einer deutschen Wirklichkeit, die ihre eigene historische Beschränkung noch nicht überwunden hat, ideell nicht bei sich ist und sich daher praktisch Schaden antut. Das holt Eiserbeck am Ende des Romans wenigstens symbolisch ein, indem er die Pastorin als Vertreterin dieser allgemeinen bundesdeutschen ›lebensfremden‹ Selbstbeschränkung und -leugnung umbringt. Was der Rezensent der Wiener Zeitung, Manfred Schiefer, als »absurde[s] Ende« oder der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Christoph Bartmann, als »einsame und irrationale Entscheidung«439 versteht, trifft zum einen die theoretisch wie politisch unschlüssige Seite der ›sittlichen‹ Psychologie Eiserbecks und der deutschen Nachwende-Gesellschaft. Zum anderen aber verfehlen diese Rezensionen die Wirklichkeit, die Schußangst als ideell gültig und mit legitimem Anspruch auf praktische Gültigkeit inszeniert: Eiserbecks bzw. die deutschen Verhältnisse

436 Bernhard Spies: Politische Kritik, psychologische Hermeneutik, ästhetischer Blick. Die Entwicklung bürgerlicher Subjektivität im Roman des 18. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1992; S. 13. 437 Ebd.; S. 11, Herv. i.O. 438 Ebd.; Herv. i.O. 439 Manfred Schiefer : Mit Bravour.

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sind dann wieder bei sich, wenn sie sich in ihrem Handeln durch nichts Anderes mehr relativieren und sie ihrem Willen bruchlos entsprechen. Kurbjuweits Roman Schußangst stammt aus dem Jahr 1998 und behandelt mit dem Bosnienkrieg der Jahre um 1992 einen bereits historischen Gegenstand. Der Roman bezieht sich auf diesen mittlerweile vergangenen bosnischen Krieg detailreich, indes immer unter der Frage der Legitimität eines deutschen (Nicht-)Eingreifens in ihn. So sind in ihm die vornehmlich deutschen Debattenpositionen wiedergegeben. Die Kritik an der westlichen Politik, sie würde nicht durchgreifen, kommt ebenso vor wie die Empörung zusammen mit der Unentschiedenheit der deutschen Öffentlichkeit. Allerdings gibt der Roman diese Positionen nicht nur wieder. So nimmt er zwar nicht ausdrücklich Partei, eindeutig Partei nimmt er aber in seiner Anlage. Dabei emanzipiert er sich von den streitenden Standpunkten. Er stellt eine sozial-psychologische Wirklichkeit vor, mit der er sich positioniert und diese Position mit umfassender Anschauung darbietet, worin alle konkurrierenden Debattenbeiträge entsprechend desavouiert vorkommen: Am Maß der Verwirklichung des deutschen Selbst steht dem Eingreifen in den Bosnienkriegs vom Prinzip nichts mehr entgegen. Was Schußangst als deutsches Leiden 1992 erklärt, erscheint 1998 anscheinend noch virulent – nicht angesichts eines mittlerweile beendeten Bosnienkriegs, dessen Befriedung Deutschland als ›normalisierte‹ Weltmacht mit durchsetzte und die folgende Friedensordnung gleichermaßen maßgeblich mitgestaltete; angebracht scheint dieser interessierte Blick ins Jahr 1992 zurück zu sein, weil sich in der 1998 stattfindenden Debatte um eine neue mögliche westliche Intervention im Kosovo, das sich noch im rest-jugoslawischen Verbund befand, sehr ähnliche Vorbehalte in der deutschen Politik und Öffentlichkeit wiederfinden. So scheint die Geschichte der deutschen Selbstbehinderung, Schußangst, wie ein Appell und Warnung an die deutsche Leserschaft. Eben diese politische Lesart betonen verschiedene Rezensionen. Dass sich Deutschland in der Politik und im öffentlichen Bewusstsein an sich selbst orientieren und sich von der störenden Weltkriegsvergangenheit befreien solle, wurde in vereinzelten Rezensionen lobend hervorgehoben. Elmar Krekeler etwa schreibt, dass Kurbjuweit in Schußangst die »üblichen deutschen ›Auch-in-unserer-Familie-gab-es-Nazi-Monster‹-Klischees«, »den üblichen deutschen Sozialkitsch« oder »den üblichen deutschen Großstadtunmut« meide.440 Krekelers Lob benutzt ästhetisches Vokabular, leitet sein Urteil jedoch nicht aus kunstimmanenten Maßstäben ab. Das ästhetische Urteil scheint für Krekeler nur deswegen angebracht, weil er die politische Aussage schätzt: Im Roman seien die Nachkriegsmoralismen in entsprechend gefälliger Form »klischierte[r] Ele440 Elmar Krekeler : Existentialismus.

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mente« dargeboten, weil er die persönliche Moral der Nachkriegszeit von NSAufarbeitung, sozialpolitischen Konsens und kosmopolitische Zurückhaltung selbst nicht mehr teilt. In eben dieser Abkehr von der ›Hypermoral‹ der Nachkriegszeit und dem Unverständnis gegenüber dem deutschen Pazifismus sei für Krekeler die Lebenskrise der Figur Eiserbecks glaubhaft und in der Darstellung »recht plastisch«.441 Ebenso attestiert die Germanistin Beatrix Langner Kurbjuweits Roman in I am going to kill Karadzic eine eigene Qualität. Dieses Urteil resultiert aus einem Vergleich, der die ästhetische Funktion mit dem Zurgeltungbringen eben dieser politischen Aussage in Bezug setzt: Wo Kurbjuweit als Journalist nur »vorsichtig abwägend für den Einsatz von Nato-Bodentruppen« im Kosovo habe argumentieren müssen, habe er als »Romancier« mit diesem Roman »seine Helden Amok laufen« lassen442, demnach offener und überzeugender für den Militäreinsatz Deutschlands im Kosovo argumentieren können. Schußangst kann 1998 in Form der historischen Rückbesinnung als kritischer Kommentar zur aktuellen öffentlichen Auseinandersetzung über den Konflikt im Kosovo verstanden werden – und wurde bei den Rezensenten z. T. so verstanden. Diese Art der Kritik ist innerhalb des literarischen Felds in grundsätzlicher Weise neu: Schußangst kritisiert die deutsche Position (und deren Vertreter) darin, sich an Fremden zu bemessen, ›sich‹ dadurch zu beschränken und Souveränität abzugeben. Souveränität erscheint dem Roman, obwohl es nur innerhalb der Sphäre der Staatspolitik Relevanz, Wert und vor allem ein Subjekt besitzt, so selbstverständlich oder als das ›Bewegungsgesetz der Wirklichkeit a priori‹, dass er ihr sogar für die individuelle Biografie Schlüsselbedeutung zuspricht. Und so erscheint als per se illegitim, was bloß relativierter Wille ist, was diesem ersten Recht vor allem, Souveränität, nicht dient. Damit ist die Beweisnot, inwiefern Krieg politisch zu vertreten ist, auf den Kopf gestellt: Die Kritiker des Kriegs müssten belegen, inwiefern das Recht auf Selbstbehauptung deutscher Politik eine Kriegsteilnahme ausschließt.

441 Ebd. 442 Beatrix Langner : Karadzic; S. 60.

4.

Die parteiliche Stellung zu sich. Deutsche Literaten über das Engagement Deutschlands im Serbien-Kosovo-Konflikt 1998–99

4.1

Das Kosovo 1998–99, deutsche Diplomatie und Öffentlichkeit

4.1.1 Die Kosovo-Frage als Konflikt des jugoslawischen Rest-Staats Die Veröffentlichungen von Kurbjuweit und Jenner fielen 1998 in eine Zeit, in der die politischen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien wieder zunahmen und letztlich in einen neuen kriegerischen Konflikt mündeten. 1995 wurde im Friedensabkommen zum Bosnienkrieg, dem Dayton-Vertrag, RestJugoslawien bzw. Serbien in Aussicht gestellt, vollwertige internationale staatliche Anerkennung unter der Bedingung zu erhalten, dass es den innerstaatlichen Konflikt in seiner Provinz Kosovo befriedet. Damit war die sogenannte ›Kosovo-Frage‹ Serbiens bereits internationalisiert, bevor die Unabhängigkeitsbestrebungen des Kosovo im Laufe des Jahres 1998 insbesondere für die Staaten der Nato oder der EU im politischen Umgang mit Serbien im Konkreten relevant werden sollten. Das Kosovo hatte im Laufe der 1990er Jahre den politischen Druck auf Belgrad erhöht. Es hatte aber auch gegenüber der internationalen Staatenwelt sein Daseinsrecht als Volk, dem ein eigener Staat zustünde, nachdrücklich hervorgehoben. Dem Kosovo war 1989 der Autonomiestatus innerhalb des jugoslawischen Verbunds aberkannt worden; trotzdem hatte es als Provinz Serbiens 1990 einen Präsidenten gewählt und sich 1991 zur unabhängigen Republik erklärt. Präsident Rugova wurde von der internationalen Diplomatie zwar nicht als Präsident eines unabhängigen kosovarischen Staats anerkannt, Rugova galt dieser Diplomatie jedoch als legitimer Repräsentant des kosovarischen Volks. Der Konflikt zwischen beiden auf Souveränität beharrenden und sich darin ausschließenden Staatsinteressen Jugoslawiens und des Kosovo verschärfte sich 1998. Die paramilitärische »Befreiungsarmee des Kosovo« (UCK) intensivierte die Angriffe gegen Einrichtungen und Repräsentanten der jugoslawischen Ver-

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Serbien-Kosovo-Konflikt 1998–98. Die parteiliche Stellung zu sich

waltung und gegen serbische Bewohner ; die jugoslawische Armee, jugoslawische Polizisten und andere ›Sicherheitskräfte‹ wiederum verteidigten die territorialen Ansprüche des jugoslawischen Rest-Staats und bemühten sich, die Loslösung des Kosovo von Jugoslawien zu unterbinden, das Vorgehen der UCK einzudämmen und sie zu zerschlagen. Die miteinander nicht zu versöhnenden Ansprüche der Staatsräson RestJugoslawiens auf sein gesamtes Gebiet und der Staatsräson der albanisch-kosovarischen Regierung auf ein eigenes, von Jugoslawien getrenntes Gemeinwesen führten bei der angegangenen ›Lösung‹ dieses Gegensatzes zu entsprechenden Konsequenzen: Da das historische Jugoslawien als Staatenverbund resp. ›Völkergefängnis‹ bei Beibehaltung der sogenannten ›Volks- und Volksgruppen‹Identitäten keine innerstaatlichen Grenzen für notwendig gehalten hatte, an denen sich die verschiedenen Gruppen räumlich voneinander segregierten, wurde, weil nun im Kosovo wie einst im Fall Bosnien erneut auf solche Grenzen und somit auf exklusive und national definierte Staatsgebiete Anspruch erhoben wurde, die Scheidung der Bevölkerungen eingeholt. Auf serbischen wie kosovarischen Gebieten folgten rechtliche Definitionen und räumliche Sortierungen der Bevölkerung, hunderttausende Menschen wurden vertrieben und flüchteten.443 Nicht infolge erkämpfter eindeutiger Resultate dieses zunächst innenpolitischen Konflikts zwischen Zentralregierung und Provinz, sondern unter diplomatisch-militärischem Druck der USA und Europas bzw. der Nato und der WEU444 willigten die beiden Kriegsparteien ein, über eine Friedensordnung zu verhandeln. Die Friedensverhandlungen fanden ab Februar 1999 in Rambouillet nahe Paris statt. Das Friedensangebot, das wie in den Fällen der Sezessionskonflikte von Slowenien, Kroatien und Bosnien von der internationalen Gemeinschaft und nicht von einer der unmittelbaren Kriegsparteien vorgelegt wurde, forderte die Autonomie des Kosovo von Rest-Jugoslawien, allerdings bei gleichzeitigem Verweilen im jugoslawischen Staatenverbund. Des Weiteren verlangte dieses Friedensangebot im legendär gewordenen ›Annex B‹ die Aufgabe der Souveränitätsrechte Rest-Jugoslawiens gegenüber dem Nato-Verband. Die kosovarische Delegation unterzeichnete den Vertrag. Der Präsident Jugoslawiens und Serbiens Slobodan Milosevic unterzeichnete mit Verweis auf diesen Annex nicht. Am 23. März 1999 wurden die Friedensverhandlungen in Rambouillet er443 Laut OSZE-Beobachtern und diversen internationalen Gutachten habe es nie Pläne für ›ethnische Säuberungen‹ gegeben, etwa den sogenannten ›Hufeisen‹-Plan. 444 Dazu zählten neben der UN-Resolution 1199, die Ermahnungen des UN-Sicherheitsrates, die Einrichtung einer Balkan-Kontaktgruppe, die Verabschiedung einer Kosovo Verification Mission durch die OSZE und die Drohung der Nato, Luftangriffe zu fliegen; ausführlicher dazu in den beiden folgenden Unterkapiteln.

Kosovo, deutsche Diplomatie und Öffentlichkeit

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folglos ausgesetzt, am 24. März 1999 begann das Bombardement wichtiger serbischer Ziele durch die Nato. Die UN hatte dazu kein Mandat erteilt. Es war keine zeitliche Begrenzung dieser Intervention geplant, die tagtägliche Intensivierung der Beschüsse sollte erst durch die Kapitulation Rest-Jugoslawiens bzw. Serbiens enden. Nach Verlagerung der Bombardements auf Innenstädte, stadtnahe Industrien und zivile Infrastruktur und nach Unterstützung der UCKOffensiven durch die Nato stimmte am 3. Juni 1999 das Parlament in Belgrad dem Friedensplan zu. Am 9. Juni 1999 stellte die Nato ihr Bombardement ein und erklärte es am 21. Juni 1999 offiziell für beendet. Das Kosovo erhielt den autonomen Status innerhalb des rest-jugoslawischen Verbunds. 2008 erklärte es sich jedoch unabhängig, wurde als souveräner Staat vom Ausland nur bedingt und u. a. von Serbien nicht anerkannt.

4.1.2 Die Frage der Ablösung des Kosovo von Rest-Jugoslawien als Angelegenheit des Auslands Mit seiner Anerkennungs- und Friedenspolitik, mit den Entsendungen von UNBlauhelmen und Nato-Truppen und mit der Beaufsichtigung der verschiedenen neuen Staatsgebiete durch UNPROFOR und SFOR hatte das westliche Staatenbündnis seit den frühen 1990er Jahren den jugoslawischen Zerfall als Gegenstand seiner Verantwortung begriffen. Die innenpolitischen Angelegenheiten Jugoslawiens wurden als zwischenstaatliche Konflikte genommen und ihnen dementsprechend mit den Instrumentarien des Völkerrechts begegnet.445 Ohnehin hatte die ›Kosovo-Frage‹ spätestens seit dem Friedensvertrag in Dayton 1995 unter internationaler Kuratel gestanden, insofern er die Re-Integration des jugoslawischen Rest-Staats in die internationale Politik von ihrer politischen Lösung abhängig machte. Am 23. September 1998 verabschiedete die UN die Resolution 1199. Darin wurden die serbische und kosovarische Partei von der internationalen Staatengemeinschaft aufgefordert, den Konflikt friedlich zu lösen, die schweren Waffen aus dem Konfliktbereich zurückzuziehen und internationalen Organisationen, die diesen Frieden beaufsichtigen und betreuen sollten – z. B. die zweitausend Mann umfassende nicht-militärische Kommission der OSZE –, die Einreise zu gestatten. Die Resolution ordnete jedoch keine militärischen Mittel an, diesen Frieden durchzusetzen. Die Balkan-Kontaktgruppe, bestehend aus EU-Mitgliedern, USA und Russland, forcierte unabhängig von der UN-Resolution Verhandlungen zwischen der Belgrader Regierung und der kosovarischen Partei. Die Nato untermauerte den 445 Siehe dazu Kapitel 2.1.2 dieser Arbeit.

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Serbien-Kosovo-Konflikt 1998–98. Die parteiliche Stellung zu sich

unbedingten westlichen Verhandlungswillen mit der Drohung, notfalls die UNResolution, also die ›friedliche‹ Lösung der Kosovo-Frage, mit Luftangriffen durchzusetzen. Unter diesem Druck stimmte Belgrad Verhandlungen zu, woraufhin zur vorübergehenden Beobachtung des Waffenstillstands und des Rückzugs von Waffenverbänden die OSZE-Truppe Kosovo Verification Mission entsendet wurde. Am 6. Februar 1999 wurde in Rambouillet den Konfliktparteien ein durch die Balkan-Kontaktgruppe ausgearbeiteter Friedensplan vorgelegt. In diesem Friedensplan zeigte sich in mehrfacher Hinsicht, inwiefern die Staaten der EU und Nato im Jugoslawienkonflikt ihren eigenen Anspruch geltend machten: Zunächst adressierte das Ausland, größtenteils bestehend aus westlichen Ländern der Nato, das Friedensangebot an die kosovarische wie Belgrader Regierung, behandelte somit diese beiden Positionen als formal gleichberechtigt und setzte dadurch ein politisches Faktum, das nicht Resultat des Konflikts dieser zwei Parteien gewesen war ; des Weiteren trafen in Rambouillet die beiden Konfliktparteien nicht unmittelbar und im gegenseitigen Einvernehmen, sondern unter der Gewalt und dem Vertragsangebot einer dritten Partei aufeinander ; schließlich stand vor der Friedensverhandlung in Rambouillet inhaltlich fest, dass Jugoslawien seine Ansprüche auf die Provinz Kosovo aufgeben müsse. Zugleich wurde damit der eigene politische Gestaltungswille der jugoslawischen und kosovarischen Parteien beschränkt. Weder die Vorschläge Belgrads, die Provinz Kosovo administrativ auf neue Weise einzubinden, noch der Wunsch der Kosovaren, vollkommene staatliche Souveränität zu gewinnen, wurden von den Verhandlungsführern berücksichtigt. Die Repräsentanten des Kosovo stimmten diesem Vertrag zu, die Repräsentanten Jugoslawiens jedoch verweigerten ihre Unterschrift ausdrücklich wegen der Vertragserweiterung um den ›Annex B‹, welcher die Aufgabe der Souveränitätsrechte gegenüber der Nato bedeutet hätte. Die Verhandlungen wurden am 23. März 1999 ausgesetzt, am Folgetag begann die Bombardierung zunächst militärischer Stellungen und Infrastrukturen der jugoslawischen Seite durch die Nato. Die UN, mit der die Weltgemeinschaft sich eine Instanz für die völkerrechtliche Legitimation ihres zwischenstaatlichen und darin auch militärischen Vorgehens gegeben hatte, hatte dieser Intervention der Nato in Jugoslawien aufgrund des russischen Vetos keinen völkerrechtlichen Auftrag erteilt. Dessen ungeachtet wurde das Interventionsvorhaben von den in der Nato organisierten Staaten weiter vorangebracht und nun stattdessen mit dem Verweis auf die humanitäre Katastrophe, die in der Provinz Kosovo durch Vertreibungen und Flucht der kosovarischen Bewohner ins benachbarte Ausland oder innerhalb der Provinz drohe oder gar bereits stattgefunden habe, legitimiert. Die Nato-Intervention war auf unbegrenzte Zeit angelegt und sollte mit der Bereitschaft Jugoslawiens enden, den Vertrag von Rambouillet zu unterschreiben. Für die

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Nato bedeutete das den größten Kampfeinsatz ihrer Geschichte; 14 Nato-Staaten beteiligten sich mit insgesamt 1.200 Kampfflugzeugen und diversen Armeeschiffen; die USA agierte teilweise an der Nato vorbei mit eigenem Kampfgerät. Mehrere Vermittlungsversuche zwischen dem westlichen Ausland und Jugoslawien scheiterten. Die Nato intensivierte daraufhin stetig die Angriffe. Weil der militärische Erfolg über die jugoslawische Seite zunächst ausblieb, kam es unter den Staaten des Nato-Bündnisses zu Spannungen; die Auseinandersetzung über einen dem Erfolg dienlichen Einsatz von Nato-Bodentruppen wurde schließlich durch die Bereitschaft Jugoslawiens, in den vorgelegten Frieden einzuwilligen, beendet. Am 9. Juni 1999 stellte die Nato ihr Bombardement ein, am 12. Juni unterstellte sie ihre Truppen der UN-Aufsicht. Die Aufgabe dieser Kosovo Force (KFOR) bestand darin, die Umsetzung der im Friedensabkommen dargelegten politischen Ordnung zu kontrollieren und zu unterstützen. Das Engagement des Westens endete nicht mit der Implementierung dieser, maßgeblich seiner Friedensordnung. Der Westen machte sich nun – ähnlich wie im Fall BosnienHerzegowina – als Aufsichtsinstanz vor Ort vorstellig. Auch auf diplomatischem Feld verfolgte er weiterhin seinen Gestaltungsanspruch für den Balkan. Erst mit der Anerkennung der staatlichen Souveränität des Kosovo 2008 durch das westliche Ausland und u. a. gegen die Stimmen von Rest-Jugoslawien und Russland erlangte das Kosovo den Status eines vollwertigen Staats. Das UNKriegsverbrechertribunal in Den Haag wurde mit der rechtlichen Aufarbeitung des Kosovo-Konflikts beauftragt. Dieses erklärte sich zum einen für das nichtUN-Mitglied Rest-Jugoslawien, welches Klage wegen völkerrechtlicher Verstöße verschiedener Nato-Staaten während der Bombardierung beantragt hatte, als nicht zuständig, prozessierte indes gegen den jugoslawischen Ministerpräsidenten Milosevic und weitere jugoslawische Staatsbeamte wegen Völkerrechtsbrüchen. Die politische Anerkennung des Nachkriegs-Jugoslawiens, das Ende der Embargos und die ökonomische Re-Integration in den europäischen Wirtschaftsraum wurden u.a von der politischen Kooperation etwa in der Frage der Auslieferung von Kriegsverbrechern abhängig gemacht.

4.1.3 Die Kosovo-Frage als Gegenstand der Außenpolitik Deutschlands Die deutsche Bundesregierung brachte in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestags am 16. Oktober 1998 ihren Antrag, die Bundeswehr an der NatoAktion gegen Jugoslawien teilnehmen zu lassen, zur Abstimmung. Solche ›outof-area‹-Einsätze vom Parlament genehmigen zu lassen, war die Regierung

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durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil 1994 verpflichtet worden.446 Diese Sondersitzung war insofern brisant, als in der letzten Bundestagssitzung der Legislaturperiode die mittlerweile abgewählte konservative Regierung unter Helmut Kohl die Noch-Opposition, aber künftige Regierung von SPD und Grüne/Bündnis 90, die zum großen Teil aus Friedensbewegten und Kriegskritikern bestand, von der Kriegsteilnahme überzeugen musste. Diese Bundestagsdebatte sowie verschiedene andere Verlautbarungen der Bundesregierung wurden des Öfteren in der Forschung behandelt. Marcus Hawel etwa diskutiert die Wortbeiträge der Sondersitzung neben anderen Beiträgen deutscher Politiker über die deutsche Position zum Kosovo-Konflikt in seiner Monografie Die normalisierte Nation447; Kurt Gritsch problematisiert die Argumentationen der politischen Akteure in seiner Analyse Inszenierung eines gerechten Kriegs?448 ; Michael Schwab-Trapp widmet den Stellungnahmen und ihren diskursiven Mustern mehrere umfangreiche Kapitel seiner Studie Kriegsdiskurse.449 Darüber hinaus haben sich eine Vielzahl von kleineren Analysen unter verschiedenen Perspektiven mit dieser politischen Debatte beschäftigt.450 Für die umfassende Analyse und für speziellere Fragestellungen sei auf ihre Arbeiten verwiesen. Im Folgenden möchte ich an wenigen Beispielreden der Debatte im Deutschen Bundestag lediglich die Hauptargumente aufzeigen, die für die gesamte politische Debatte innerhalb Deutschlands über den Einsatz im Kosovo als repräsentativ gelten können. In der deutschen politischen Debatte bestand, ob bei den Regierungsparteien oder den Parteien der Opposition, ein grundsätzlicher, wenngleich nicht immer explizierter Konsens. Der bestand erstens darin, die Stellung, die Deutschland zu den Ereignissen in Jugoslawien seit 1990 eingenommen hatte, beizubehalten: Die Sezession Jugoslawiens als legitime, notwendige Entwicklung stand weiterhin außer Frage, ebenso die Verurteilung derer, die dagegen politisch wie militärisch vorgingen. So wurden den Autonomiebestrebungen des Kosovo positiv begegnet, wie zugleich die Souveränität der Belgrader Regierung über

446 Siehe Kapitel 3.1.3 und 3.1.4 dieser Arbeit. 447 Marcus Hawel: Die normalisierte Nation; S. 217–227. 448 Gritschs Korpus besteht aus reichlich 3.000 Artikeln deutscher Periodika wie Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Zeit oder tageszeitung; Kurt Gritsch: Inszenierung eines gerechten Krieges? 449 Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; insbesondere Kapitel VIII und IX, S. 255–354. 450 Dazu zählt die Analyse der in der Debatte verwendeten Vergleiche von Zweiter Weltkrieg, Holocaust und Vertreibung; siehe: Elena Lange: Praktischer Geschichtsrevisionismus. In: Martin Büsser u. a. (Hg.): Pop und Krieg. Mainz: Ventil 2000 (testcard. Beiträge zur Popgeschichte; Bd. 9); S. 176–183; Hermann L. Gremliza: Mein Kriegstagebuch. In: Johannes M. Becker u. Gertrud Brücher (Hg.): Der Jugoslawienkrieg – Eine Zwischenbilanz. Analysen über eine Republik im raschen Wandel. Münster : LIT 2001; S. 153–161.

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dieses noch eigene Staatsgebiet zumindest relativiert, wenn ihr nicht gleich aberkannt wurde. Zweitens – und das zeugt von einem neuen Selbstverständnis der deutschen Politik gegenüber dem Konflikt – formulieren die Redebeiträge der deutschen Politiker die Rechtmäßigkeit der europäischen bzw. der deutschen Position, indem sie ihre eigenen politischen Vorstellungen als gültigen Maßstab setzen, die politische Situation auf dem Balkan aktiv zu gestalten. Einzig strittiger Gegenstand dieser parlamentarischen Debatte war, in welchem Ausmaß und mit welchen Mitteln die deutsche Politik dies bewerkstelligen sollte. Exemplarisch für die neue Stellung der deutschen Politik stehen die Rede Volker Rühes, zum Zeitpunkt der Debatte noch amtierender Bundesminister für Verteidigung, und die Rede Joschka Fischers, zu dem Zeitpunkt noch Vertreter der parlamentarischen Opposition. Volker Rühe macht mehrmals deutlich, dass er seine Rede an seine Amtsnachfolger richtet, die in ihrer Rolle als parlamentarische Opposition dem Antrag der amtierenden Bundesregierung noch vorwiegend kritisch gegenüberstehen. Besonders richte er sich an sie, weil sich diese Opposition zu großen Teilen als Antikriegspartei verstand und ihre Wurzeln in der Friedensbewegung der bundesdeutschen Nachkriegszeit hatte. Rühe beginnt seine Rede damit, das anliegende Votum in seiner Bedeutung hervorzuheben. Das macht er an vier Argumenten: »die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik« stehe vor »ernsten und weitreichenden Entscheidungen«451; die Entscheidung und die diesbezüglichen Aufgaben seien relevant für die künftige Bundesregierung; die Nato-Bündnispartner verlangten ein klares, heißt positives Votum für die Militäraktion; und schließlich sei man den deutschen Soldaten gegenüber verantwortlich, was wie folgt gefasst ist: »Die deutschen Soldaten brauchen für ihre schwierige Mission den vorbehaltlosen und sichtbaren Rückhalt des deutschen Parlaments. Ich sage Ihnen als jemand, der viele Jahre als Verteidigungsminister tätig war : Unterschätzen Sie nicht, was das Votum des Deutschen Bundestages für unsere Soldaten bedeutet! Hier ist jeder in der Verantwortung; dies wird in den Familien der Männer sehr wohl zur Kenntnis genommen. Diese schwierige Situation ist sehr viel leichter zu tragen, wenn man spürt: Die Vertreter des deutschen Volkes stehen hinter unseren Soldaten. […] Wenn es zu einem Einsatz kommt, ist dies für die Bundeswehr der gefährlichste Einsatz, den sie bisher durchgeführt hat.«452

451 Volker Rühe: Deutscher Bundestag, 16. 10. 1998; S. 23133–23135, hier S. 23133. Unter : http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/13/13248.pdf; abgerufen 06. 04. 2016. 452 Ebd.; S. 23134.

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In diesem eröffnenden Teil der Rede wirbt der deutsche Verteidigungsminister Rühe auf eine erstaunliche Weise für den ersten deutschen Militäreinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg. Rühe leugnet nicht, dass es sich um eine »weitreichende« Entscheidung handelt, drückt zugleich aber aus, dass diese Entscheidung in erster Linie mit der Verpflichtung gegenüber Deutschland, seiner Armee, den Bündnispartnern und Europa zu tun hat; die politische Situation in Jugoslawien bzw. im Kosovo erscheint nachrangig und wenig erklärungsbedürftig. Des Weiteren spricht Rühe von »weitreichenden« Entscheidungen, die getroffen werden. Damit nimmt er wenigstens rhetorisch die offenen Entscheidungen als schon getroffene vorweg. Rühe widmet sich im Zwischenteil seiner Ansprache einzelnen Gründen für ein militärisches Eingreifen. So erwähnt er unter anderem die Notwendigkeiten, die Deutschland durch seine Mitgliedschaft im Nato-Bündnis erwachsen seien. Deutschland, so Rühe, zähle sich »zu einem Bündnis im Prinzip Gleichgesinnter, das sich […] gewollte gegenseitige Abhängigkeiten« geschaffen habe, ein Bündnis von Selbstverpflichtungen, die es »nie zuvor in der Militärgeschichte gegeben hat« und »wie es sie nirgendwo anders auf der Welt gibt«453 : »Daraus – das muß jeder wissen – ergeben sich auch Verpflichtungen. In einer schwierigen Situation darf Deutschland diese integrierten Strukturen niemals lahmlegen. Das muß man wissen.«454

Rühe gibt mit der Rede von der ›gewollten‹ Abhängigkeit zu erkennen, was Grundlage überhaupt der Abstimmung ist, dass es sich bei allen ›Verpflichtungen‹ um Notwendigkeiten handelt, denen Deutschland nachkommen muss, weil und insofern es diese will. Also gilt es Rühe, genau diesen Willen zu vergegenwärtigen und zu stärken. Dafür konfrontiert er seine Parlamentskollegen mit einem spekulativen Vergleich: »Deutschland hat in dieser Woche gezeigt: Es ist voll handlungsfähig. Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten dies nicht getan! Wenn die Woche dann so verlaufen wäre wie jetzt, mit den ersten politischen Erfolgen, wären diese ohne einen deutschen Beitrag zu einer glaubwürdigen militärischen Abschreckung erreicht worden. Wenn die Woche anders verlaufen und es schon zu einem militärischen Konflikt gekommen wäre, dann wären unsere Soldaten aus der Solidarität ausgestiegen.«455

Dieser Vergleich erscheint in seiner Nähe zum logischen Zirkel selbsterklärend: So wie die Jugoslawienpolitik in Europa mit deutschem Beitrag eine mit deutschem Beitrag war, wäre sie ohne deutschen Beitrag eine ohne deutschen Beitrag. Wenn man sich nämlich das Ziel außenpolitischer ›voller Handlungsfä453 Ebd.; S. 23134, Herv. S.H. 454 Ebd. 455 Ebd.; Herv. S.H.

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higkeit‹ gesetzt hat, erscheint die erste Variante so begrüßens- wie die andere ablehnenswert. Rühe gibt somit deutlich kund, dass es der deutschen Außenpolitik bei dem deutschen Kriegseinsatz vor allem und ungeachtet früherer Legitimationstitel wie der Menschenrechte nun darum geht, deutsche ›Handlungsfähigkeit‹ zu beweisen und ein Mitspracherecht bei der weltpolitischen ›Lösung‹ der Balkankrise zu erwirken. Im weiteren Verlauf ändert Rühe die Perspektive der Betrachtung und kommt doch auf die Lage vor Ort in Jugoslawien zu sprechen, jedenfalls formal, denn was die Lage definiert und was die Beendigung des Konflikts bedeuten würde, hat wiederum sehr viel mehr mit Europa zu tun: »Es geht aber um die Abwehr einer humanitären Katastrophe. Ich sage Ihnen: Es darf keinen Freibrief für den Einsatz von Panzern und Artillerie gegen die eigene Bevölkerung geben. Gewalt darf sich in Europa nicht auszahlen. Wir würden das Gesicht Europas auf Dauer verschandeln, wenn wir uns dies anschauten, ohne zu handeln. Darum geht es. […] Man kann auch sagen: Wenn wir diese schrecklichen Szenen als Fernsehzuschauer in Westeuropa einfach konsumieren würden, ohne zu handeln, dann würden wir letztlich mit einer rostigen Rasierklinge unser Gesicht zerschneiden und unser eigenes Gesicht entstellen. Es geht um die Situation dort vor Ort; es geht aber auch um die Glaubwürdigkeit unseres Handelns in dieser Situation. Ich möchte an die Debatte, die wir 1995 im Deutschen Bundestag geführt haben, und an die Auseinandersetzung mit den Grünen in der damaligen Situation erinnern. Ich habe damals gesagt: Es gibt genug Beispiele in der Geschichte, die zeigen: Es kann unmoralisch sein, Soldaten einzusetzen; es gibt aber auch andere Situationen, in denen man sagen muß, daß es zutiefst unmoralisch ist, Soldaten nicht einzusetzen, wenn dies die einzige Chance ist, Krieg und Massaker zu stoppen.«456

Zwar schaut Rühe auf die Situation in Rest-Jugoslawien, erwähnt Krieg, Übergriffe und Massaker, er ist aber von dieser Situation zugleich weit entfernt. Die Kriegssituation nämlich fasst er von vornherein nicht anders als einen Rechtsfall auf, in dem Westeuropa die Rolle des übergeordneten Richters über die (un-)erlaubte Anwendung von Gewalt Serbiens und zugleich die Rolle des Exekutors des Richterspruchs zukommt, der sich um die Wiederherstellung des Rechts – in Rühes Ausdrucksweise um die Rettung des eigenen »Gesichts« – mittels Gewalt zu kümmern hat. Rühes Argumente für den Militäreinsatz zeugen von einem Konfliktlösungsansatz eigener europäischen Art: Es geht nicht per se um ein Ende der militärischen Gewalt, denn immerhin wird mehr Gewalt beantragt. Wenngleich die Intervention ganz sicher auch serbische Massaker verunmöglichen will – letztlicher Frieden wird den Kriegsparteien nur gewährt, wenn die Vorstellungen 456 Ebd.; Herv. S.H.

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eines europäischen Friedens akzeptiert sind. Und dieser Frieden – dies ist der argumentative Ertrag der zu einem moralischen Dilemma verdichteten konfligierenden Legitimationstitel – ist nur mit Gewalt durchzusetzen. Mit Blick auf die gesamte parlamentarische Debatte ist festzuhalten, dass in Rühes Rede alle argumentativen Elemente der Debatte und ihrer Plausibilisierungsverfahren zumindest angerissen sind: Der gewaltsame Zerfall des jugoslawischen Staats seit 1990 und die krisenhafte Zuspitzung 1998 wird als nicht zu hinterfragende Wirklichkeit politischer Notwendigkeiten genommen, ohne den eigenen wie den europäischen politischen Anteil an der Eskalation der Lage zu diskutieren; Gewalt gilt als ›ultima ratio‹, zu der sich die Bundesregierung durchringt, weil sich der westliche Gestaltungswille letztlich nicht anders durchsetzen lässt; mit Verweis auf die Bündnispflicht wird der eigene unbedingte politische Wille zur alternativlosen Notwendigkeit; die humanitäre Katastrophe dient der Legitimation der Intervention ausgerechnet mit militärischer Gewalt; die Feindschaft der beiden Kriegsparteien verlangt eine externe Kraft, die Frieden bei Anerkennung des politischen Gegensatzes durchsetzt, diesen Gegensatz des Weiteren beibehält und ›sich‹ damit als dritte Partei für die fortwährende Betreuung dieses speziellen Friedens beauftragt. Das Ja zur aktiven deutschen Beteiligung an der Nato-Intervention gegen Serbien begründet sich nicht mehr aus der Sachlage vor Ort. Zwar bleiben die Verweise auf das ›Völkergefängnis‹ Jugoslawien und die Massaker ein wichtiger Bestandteil der Begründung der Kriegsbeteiligung, doch wird nun erstaunlich offensiv darauf Wert gelegt, die Entscheidung für die Intervention in Jugoslawien mit einem eigenen deutschen Interesse und Selbstverständnis zu rechtfertigen. Ein Gegenstand der politischen Debatte sei hier noch kurz gesondert herausgegriffen. Es handelt sich um die zentrale Frage der Legalität des Nato- und somit auch des deutschen Kriegseinsatzes. Die UN hatte die militärische Intervention nicht bewilligt, demnach hatte die Nato kein völkerrechtliches Mandat erhalten und somit agierte die Bundesregierung nicht grundgesetzkonform. Die politische Debatte in Deutschland kreiste maßgeblich um das Begriffspaar Legalität–Legitimität. In diesem Argumentationsrahmen verlagerte sich die Frage, was der Einsatz will und was er in diesem Konflikt bringt, auf die juristische Frage, ob er durch das (deutsche) Recht gedeckt ist. Zugleich wurde ein enormer argumentativer Aufwand betrieben, sich von den eingeforderten rechtlichen Verbindlichkeiten zu emanzipieren. Der strittigen Rechtsgrundlage für die deutsche Intervention, um die Rechtsbrüchigkeit Serbiens zu ahnden, wurde mit dem hierfür selbst gesetzten Grundsatz ›Legitimität vor Legalität‹ begegnet. Schließlich stellte man die Frage nach der Rechtskonformität hintan und erhob statt des Rechts das eigene politische Interesse zum Maß für die Legitimität des Kriegseinsatzes. Dazu seien folgend ausgesuchte Wortbeiträge angeführt, die sich im Feld des Völkerrechts bewegen und, um es noch einmal zu

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betonen, den Rechtsdiskurs bedienen, beides aber dem politischen Interesse unterordnen: Wolfgang Gerhardt betont und stimmt darin mit seinen Regierungskollegen Klaus Kinkel457 und Wolfgang Schäuble458 während der Parlamentsdebatte überein: »Völkerrecht – so stellen wir fest […] – trägt sich nicht von selbst«. Zur Einhegung von »regionalem Faustrecht« brauche es ein überregionales, also supranationales »Gewaltmonopol«.459 Die »friedliche[] Lösung« bzw. der zivilisierte zwischenstaatliche Umgang bedeutet für Gerhardt demnach nicht das Ende der Gründe dieser Konflikte (der Gründe, weswegen die Bevölkerungen als Völker anscheinend öfter aufeinanderstoßen und nun in Jugoslawien im besonderen Fall), sondern der alternativlose, deswegen befriedende Zwang durch Dritte, als dessen Vertreter Gerhardt den europäischen Westen sieht. Für Kinkel sei deswegen die »friedliche Lösung« weniger zu ›finden‹ als mit der deutschen Bundeswehr in Jugoslawien erst »durchzusetzen«.460 Diese dritte, über dem Konflikt stehende Gewalt ist nach Gerhardt notwendig, zugleich aber werde sie gegenwärtig von der UN nicht angemessen delegiert. Mit dem Verweigern eines »klassische[n]« Mandats habe die UN nicht etwa gehandelt (und zwar verweigernd), sondern sich in den Augen der deutschen Politiker der »Nichtausübung des Gewaltmonopols« schuldig gemacht.461 Somit stelle sich angesichts der humanitären Lage »nicht […] die Frage, ob es legal ist«, sich dieses Mandat der gewaltvollen Befriedung selbst zu erteilen.462 Auch Wolfgang Schäuble mahnt, sich bei dieser »schwierigen Frage« nach der Legitimität des Militäreinsatzes ohne erteiltes UN-Mandat »keinen Illusionen hin[zu]geben«.463 Diese Ermahnung richtet er nicht gegen den un-mandatierten Kriegseinsatz, sondern gegen die Mandatserteiler. Denn es existiere zurzeit kein funktionierendes völkerrechtliches Gewaltmonopol, weswegen, so Schäuble, dieser Militäreinsatz auch ohne dessen Erlaubnis »verfassungsrechtlich und völkerrechtlich auf sicherer Grundlage« stehe.464 Folgend einige Ausführungen zur Opposition, insbesondere zu den bereits für die künftige Regierungstätigkeit designierten Vertretern von SPD und Grünen. An sie hatten die Sprecher der noch amtierenden Bundesregierung und 457 Klaus Kinkel: Deutscher Bundestag, 16. 10. 1998; S.23127–23231. Unter : http://dip21.bun destag.de/dip21/btp/13/13248.pdf; abgerufen 06. 04. 2016. 458 Wolfgang Schäuble: Deutscher Bundestag, 16. 10. 1998; S. 23138–23140. Unter : http://dip 21.bundestag.de/dip21/btp/13/13248.pdf; abgerufen 06. 04. 2016. 459 Wolfgang Gerhardt: Deutscher Bundestag, 16. 10. 1998; S. 23143–23145, hier S. 23143. Unter : http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/13/13248.pdf; abgerufen 06. 04. 2016. 460 Klaus Kinkel: 16. 10. 1998; S. 23127. 461 Wolfgang Gerhardt: 16. 10. 1998; S. 23144. 462 Ebd. 463 Wolfgang Schäuble: 16. 10. 1998; S. 32139. 464 Ebd.

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der Regierungsparteien ihre Reden adressiert. Die kriegskritischen und sich auch in der Friedensbewegung der bundesdeutschen Nachkriegszeit positionierenden Parteien SPD und Grüne fanden jedoch, wie sich zeigt, ausreichend eigene Argumente, mit denen sie die Intervention Deutschlands befürworten konnten. Joschka Fischer, Gründungsmitglied der Grünen, meldete sich als Fraktionsvorsitzender im alten Bundestag und außerdem als designierter Außenminister unter Kanzler Gerhard Schröder zu Wort. Trotz der Rhetorik Fischers, seine Urteilsfindung als quälendes und ambivalentes Ringen herauszustellen, und trotz der folgenden politischen wie öffentlichen Debatte über das problematische Aufgeben linker und pazifistischer Positionen, liegt Fischers Zustimmung zur deutschen Teilnahme am Kosovo-Einsatz ein politisch manifester, wenig ambivalenter Gedanke zugrunde. Die Entscheidung über die Teilnahme der deutschen Bundeswehr am Militäraufgebot der Nato fällt für Fischer eindeutig aus und wird gleich zu Beginn seiner Rede als grundsätzliches Votum kundgetan: »Ich möchte nachdrücklich um Unterstützung für das Ja zum Abkommen werben […]. Dieses Abkommen eröffnet noch nicht die Möglichkeit eines Friedens; dazu bedarf es der politischen Lösung. Aber dieses Abkommen eröffnet den Weg, ohne den Einsatz von Gewalt zu einer friedlichen, dauerhaften Lösung zu kommen. Andererseits müssen wir feststellen, daß dieser Weg ohne die Androhung von Gewalt nicht eröffnet worden wäre. Das macht heute unseren Widerspruch aus. In diesem Widerspruch müssen und werden wir heute entscheiden.«465

Der Widerspruch von friedlicher und gewaltvoller Lösung, von dem Fischer hier noch redet, ist keineswegs mehr grundsätzlicher Art; argumentativ hat er sich von diesem emanzipiert: Für Fischer muss sich die Gewalt als ein zweckmäßiges Mittel der Politik beweisen, deren Ziel nicht zur Diskussion steht. So kann er dem Mittel der gegenwärtigen militärischen Gewalt(-androhung) bereits einen positiven Erfolg für den durch die westliche Staatengemeinschaft projektierten Friedensplan abgewinnen; und zugleich treffen bei Fischer die nützlichen Mittel, seien sie auch militärischer Art, für den begrüßten politischen Zweck, den er mit allen Vertretern der Bundesregierung zu teilen scheint, auf keine Ablehnung (mehr).466 465 Joseph Fischer : Deutscher Bundestag, 16. 10. 1998; S. 23141–23142, hier S. 23141. Unter : http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/13/13248.pdf; abgerufen 06. 04. 2016. 466 Fischers Rede expliziert diese Lesart. Er macht seine Entscheidung für die Teilnahme der deutschen Bundeswehr vom Bewährungsfall abhängig, der für ihn mit dem Einlenken Jugoslawiens gegenüber dem durch Nato und USA militärisch fundierten Vermittlungsvorschlag Richard Holbrookes gegeben war: »Es ist allerdings eine Entscheidung, die mir – das füge ich persönlich hinzu – im Lichte der heutigen Entwicklung nicht mehr so schwerfällt, die aber im Lichte eines nicht erfolgreichen Abschlusses der Verhandlungen von Holbrooke die schwerste gewesen wäre […].« Ebd.; S. 23141.

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Folgend führt Fischer aus, inwiefern sich die friedlichen Mittel und friedlichen Lösungen, die einstigen zentralen Positionen der Friedensbewegung also, nun an den Zielen relativieren müssen, die die deutsche Politik innerhalb des Nato-Bündnisses gegenüber Jugoslawien verfolgt. Dafür werden sowohl der serbische Gegner als unabänderlich gefährliche, illegitime Staatsmacht hoch-, als auch die Interessen der deutschen Politik als Durchsetzer europäischen Friedens gegenüber dem Bild einer nationalistischen »Interventionssucht« heruntergerechnet:467 »Das Problem ist doch nicht nur die humanitäre Katastrophe, so schlimm sie auch ist. Das Problem ist, daß von der Politik der Bundesrepublik Jugoslawien, von der Politik Milosevic’ – ich sage nicht: von der des serbischen Volkes, sondern von der Milosevic’ – eine dauerhafte Kriegsgefahr in Europa ausgeht. Diese Kriegsgefahr können wir nicht akzeptieren. Das ist der entscheidende Punkt. […] Es geht hier nicht um eine – wovon auch immer getragene – Interventionssucht. Es geht hier nicht darum […] Angriffskriege und ähnliches im Stil nationalstaatlicher Hybris und nationalstaatlicher Hegemonialpolitik vorzubereiten. Vielmehr geht es darum, ebensolches zu verhindern, darum, eine rational nicht mehr erklärbare, ethisch nicht mehr verantwortbare, eine auf agressivem [sic] Nationalismus beruhende Politik Belgrads in die Schranken zu weisen – oder wir bekommen dort letztendlich einen großen Balkankrieg, den Europa nicht zulassen kann und darf, wenn wir ein Interesse am Frieden haben. […] Eine politische Lösung wird sehr schwierig werden. Das weiß die jetzige Bundesregierung, das wissen wir alle. Die Situation ist anders als in Bosnien. Die Mehrheit der Kosovo-Albaner hat ein anderes politisches Ziel nämlich die Unabhängigkeit, als die übergroße Mehrheit des serbischen Volkes. Es wird notwendig sein, hier auf Frieden ausgerichtete Spielregeln und ein friedliches Zusammenleben durchzusetzen. Ich unterstütze nachdrücklich die Durchsetzung des Autonomieabkommens, den Versuch, hier einen gemeinsamen Weg zu eröffnen. Aber machen wir uns nichts vor: Diese ganzen Konflikte werden entweder von uns gemeinsam, von der Europäischen Union und der westlichen Staatengemeinschaft, ins 21. Jahrhundert hinein, also in die europäische Integration, geöffnet, oder sie werden auf blutige und hochgefährliche Art und Weise im nationalistischen Denken des 19. Jahrhunderts verhaftet bleiben und dann auch auf ähnliche Art und Weise ausgetragen – was Europa nicht zulassen kann. Deswegen werden wir für alle beteiligten Völker eine politische Lösung brauchen, die nach Europa führt.«468

Serbien sei eine nicht mehr »rational« und »ethisch« vertretbare staatliche Gewalt und damit in jedem Punkt genau das Gegenteil dessen, wofür Deutschland und Europa stehen. So erscheint alles, was Fischer an Serbien als Grund für die Intervention identifiziert, als das genau komplementäre Bild der Motive Europas. In der Rede gibt sich nun die militärische Aktion Europas schwerlich als 467 Alle Zitate aus: ebd.; S. 23141f. 468 Ebd.; S. 23142, Herv. S.H.

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notwendige Reaktion auf Serbiens Aggressionen zu erkennen: so sei nach Fischer schon die »humanitäre Katastrophe« ein untergeordnetes Problem; der serbischen Kriegsgefahr wird mit europäischem Kriegseinsatz begegnet. Vielmehr würden sich serbischer Nationalismus und umgekehrt die europäische Abkehr von einer »nationalstaatlichen Hegemonialpolitik« daran beweisen, dass gerade Europa die Sezession Jugoslawiens gegen Belgrad in einzelne, sich zumal national definierende Staaten als Recht definiert und auch mit Gewalt gegen manche Akteure (genau wie in diesem kommenden Fall) durchzusetzen weiß. Frieden sei nach Fischer nicht erst dann, wenn der Krieg etwa durch die innenpolitische Konsolidierung Rest-Jugoslawiens beendet werde, sondern wenn er, gegebenenfalls mit einem Krieg »durchgesetzt«, der Räson Europas entspricht. Die »politische Lösung« für Europa ist die alternativlose Integration aller in Europa – alles andere, das sagt Fischer zweimal, sei etwas, das »Europa nicht zulassen kann«. So erscheint bei Fischer letzten Endes der Umstand, dass von Serbien der europäisch definierte Frieden nicht akzeptiert wird, als Zeichen dafür, dass Serbiens Machthaber unabänderlich aggressiv seien, weswegen Serbien nun – der Form, nicht mehr der Sache nach ›leider ‹ – mit Krieg ›überzeugt‹ werden muss. Den deutsch-europäischen Friedenswillen auch glaubwürdig zu vertreten – ob politisch oder militärisch –, das sollte das bevorstehende Votum im Bundestag signalisieren. Dahingehend trat nun die gesamte parlamentarische Opposition geeint auf: Fischer, der künftige Koalitionspartner SPD, namentlich Gerhard Schröder469 und Rudolf Scharping470, und auch die PDS, für die Gregor Gysi das Wort ergriff471. Geeint durch die unzweifelhafte Geltung eigener deutscher und europäischer Interessen, stimmten sie alle für die Intervention. 469 Der künftige Bundeskanzler Gerhard Schröder sieht die Frage nach dem Grund für die deutsche Nato-Beteiligung als Angelegenheit von Legitimität und Legalität; auf die »großserbisch-nationalistisch[e] Politik« müsse angemessen reagiert werden: »Daß es dieses Mandat nicht gibt, lag aber nicht an den NATO-Mitgliedern. Die NATO bezieht sich in ihrer Entscheidung ausdrücklich auf die Resolution 1199 und auf die Notwendigkeit, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Die NATO – das ist, denke ich, für uns alle wichtig – hat sich nicht selber ein Mandat erteilt; sie handelt im Bezugsrahmen der Vereinten Nationen.« Gerhard Schröder: Deutscher Bundestag, 16. 10. 1998; S. 23135–23139; hier S. 23135, 23137. Unter : http ://dip21.bundestag.de/dip21/btp/13/13248.pdf ; abgerufen 06. 04. 2016. 470 Rudolf Scharping mahnt zu Beginn seiner Rede im Verweis auf das Los der kriegsgebeutelten Kosovaren an, ein ›instrumentelles‹ Kalkül in der Diskussion über den Militäreinsatz sei ›schief‹; er spricht sich so für einen Militäreinsatz aus, der sich nicht mehr weiter zu rechtfertigen brauche – erst recht nicht in Kritik der moralischen Berufung. Rudolf Scharping: Deutscher Bundestag, 16. 10. 1998; S. 23147–23150. Unter : http://dip21.bun destag.de/dip21/btp/13/13248.pdf; abgerufen 06. 04. 2016. 471 Gregor Gysi kritisiert nicht etwa das Verfahren der Legitimation, für Frieden Krieg zu

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Eine dezidierte Antikriegsposition bzw. Friedensprogrammatik, welche das politische Selbstverständnis Nachkriegsdeutschlands in Ost und West bis 1989 so grundlegend auszeichnete, wurde in der Bundestagsdebatte nicht (mehr) vertreten.472 Der SPD-Abgeordneten Karsten D. Voigt begrüßte dieses Verstummen der Friedenspositionen in seinem Debattenbeitrag. Mit der kommenden positiven Entscheidung über den deutschen Militäreinsatz im Kosovo beweise sich in Deutschland eine »[entwickelte] politische Kultur«. Demnach gebe es eine »Zusammenarbeit zwischen der alten und der neuen Mehrheit«, einen Konsens über den Kriegseinsatz zwischen allen politischen Lagern, ob im Besitz der Regierungsämter oder in der Opposition.473 Die Auszählung der Abstimmung im Bundestag machte dies deutlich, letztlich stimmten 500 von 580 Abgeordneten für den Militäreinsatz. Zwischen dem Beschluss des Deutschen Bundestags im Oktober 1998 unter der alten Regierung Kohl und dem politischen Agieren unter der neuen Bundesregierung Schröder im März 1999, als die Friedensverhandlungen in Rambouillet scheiterten und die Nato-Drohpolitik in praktische Kriegshandlungen überging, findet in der deutschen Politik keine Revision der Gründe für den Krieg und der Ziele der Nato-Intervention statt. In der öffentlichen Rechtfertigung des drohenden Kriegs im März 1999 zeigten die deutschen Politiker, dass es für sie keine Alternative zum Krieg gab, im Gegenteil, Außenminister Joschka Fischer wird im Spiegel mit seiner Sicht auf die »Friedenslösung« zitiert: »Die Alternative heißt Krieg«.474 Auch der sogenannte ›Fischer-Plan‹, mit dem sich betreiben und mit Krieg eine humanitäre Lage zu beseitigen, sondern – diese Legitimation als politischen Zweck ernst nehmend – die Inkonsequenz von dessen Durchsetzung; des Weiteren ist nicht der Einsatz, sondern die für ihn wahrscheinliche Erfolglosigkeit, die humanitäre Lage zu bessern, Grund seines Einwands; er richtet sich gegen die militärischen Mittel der Außenpolitik, nicht gegen die damit verfolgten Zwecke; er unterstützt militärische Aktionen, wenn die Intervention unter Hilfe von deutschen Truppen in fremde Staatsgebiete vertretbar und sie von der UN beauftragt sind, findet jedoch die Selbstmandatierung der Nato bzw. Deutschlands problematisch. Gregor Gysi: Deutscher Bundestag, 16. 10. 1998; S. 23145–23147. Unter : http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/13/132 48.pdf; abgerufen 06. 04. 2016. 472 So stimmte die Fraktion der PDS einerseits geschlossen gegen den Antrag der Bundesregierung; andererseits findet sich in der Rede des Fraktionsvorsitzenden Gysi, wie oben gezeigt wurde, kein prinzipieller Einwand gegen den Krieg; vgl. ebd. 473 Karsten Voigt: Deutscher Bundestag, 16. 10. 1998; S. 23132–23133, hier S. 23132. Unter : http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/13/13248.pdf; abgerufen 06. 04. 2016. 474 O.V.: »Die Alternative heißt Krieg«. Diplomatisches Endspiel im Ringen um eine Friedenslösung für Kosovo. In: Der Spiegel, 11/1999; S. 209–211, Herv. S.H. Die Alternativlosigkeit gemessen an den selbst nicht zur Diskussion gestellten Optionen sieht auch Bundespräsident Roman Herzog. Er versteht den Beschluss der deutschen Bundesregierung nicht als Umsetzung eines eigenen politischen Willens, sondern als einen »Fall von Notwehr«. Roman Herzog: ›Ein Fall von Notwehr‹. Bundespräsident Roman Herzog über den Krieg in Jugoslawien, die Bilanz seiner Amtszeit und die Zukunft der Berliner Republik. In: Der Spiegel, 14/1999; S. 30–32.

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der deutsche Außenminister für Frieden in Rest-Jugoslawien einsetzte, setzt, indem er ausschließlich die Streitpunkte wiederholt, die in Rambouillet von den jugoslawischen Politikern nicht akzeptiert worden waren, Krieg seitens der Nato als Alternative.475 Während des bereits laufenden Kriegs wird Bundeskanzler Schröder dahingehend zitiert, er wolle nicht als »Kriegskanzler« verstanden werden, wohl aber angesichts des kommenden Kriegs als Kanzler einer nach der Wiedervereinigung an außenpolitischen Aufgaben »erwachsener gewordenen Nation«.476 Auch Wolfgang Schäuble äußert dieses Selbstverständnis, wonach der deutsche Staat sich nun lediglich normalisiert habe, er »endgültig erwachsen geworden« sei und in seiner Politik »nicht mehr bevormundet« werde.477 Was die Bundesregierung im Oktober 1998 beschlossen und was sie ab März 1999 aktiv verfolgt hatte, bemühte sie im Nachgang gegenüber der Bevölkerung zu rechtfertigen. Anlass waren etwa die Sonderparteitage, zu denen die Parteibasis der Grünen und die der SPD gedrungen hatten. Der Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen fand zwei Wochen nach Kriegsbeginn, am 13. Mai 1999, statt. Fischer war dort Hauptredner. Er versuchte in seinem als ›Farbbeutelrede‹478 bekannt gewordenen Beitrag, seiner über die Kriegsfrage innerlich zerrissenen Partei das schwere, aber mögliche Gutheißen der Intervention darzulegen. Dabei griff er sämtliche fraglich gewordenen Legitimationen auf – und rehabilitierte sie. Er legte dar, dass er eine erneute deutsche Kriegsteilnahme mit der negativen historischen Rolle der Deutschen vereinbar sehe, dass man gerade wegen des letzten deutschen Kriegs also nicht gegen eine Kriegsteilnahme habe stimmen können und dass sich schließlich eine Friedenspartei selbst dann nicht ›verrate‹, wenn sie diesen Krieg befürworte.479 475 Vgl.: o. V.: »Aus freier Überzeugung«. Die deutsche Regierung tastet sich in ihre neue weltpolitische Rolle hinein: Kanzler Schröder steht im Krieg gegen Jugoslawien für Bündnistreue, Außenminister Fischer entwirft Friedenspläne. In: Der Spiegel, 16/1999; S. 22–32, hier S. 24. 476 Gerhard Schröder : »Ich bin kein Kriegskanzler.« Bundeskanzler Gerhard Schröder über Weiterungen im Krieg gegen Milosevic, die Rolle der Deutschen beim Nato-Einsatz und den Sonderparteitag der SPD. In: Der Spiegel, 15/1999; S. 32–37, hier S. 34. 477 Wolfgang Schäuble: »Nicht mit Tschingderassabum«. CDU-Parteichef Wolfgang Schäuble über den möglichen Einsatz von Nato-Bodentruppen, eine Koalition mit der SPD und die Regierungsfähigkeit der Union. In: Der Spiegel, 17/1999; S. 42–46, hier S. 42. 478 Siehe den Abschnitt VI. A8 zur ›Farbbeutelrede‹ bei: Torben Fischer u. Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der ›Vergangenheitsbewältigung‹; S. 304–306. 479 Fischer bemüht mehrere Argumente, u. a. weshalb er aus biografischen Gründen einer Intervention zustimme und weshalb es sich deswegen zugleich allgemein so gehöre. Ein Argument, das Fischer stark macht, ist die deutsche Vergangenheit. Dort ist es das Vergleichsobjekt Auschwitz, das ihm einfällt und mit dessen moralischer und politischer Bedeutung er kalkuliert, wonach nun ein deutscher Krieg wieder notwendig sei. Dabei ist Auschwitz nicht Beleg eigener Vergehen, sondern – sozusagen – des Eigenen im Fremden: »Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen: Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz; nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir

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Ebenso veranstaltete die SPD im April 1999 einen Sonderparteitag unter dem Motto ›Verantwortung‹, bei dem Bundeskanzler Schröder nachträglich um Verständnis für seine Entscheidung warb.480 Bundeskanzler Schröder, der bei seiner Antrittsrede im November 1998 die Berliner Republik als »unaggressive Version einer Republik« umwarb, in derselben Rede mit Blick auf die derzeitige außenpolitischen Interessen Deutschlands schon die ›unvermeidliche Durchsetzung‹ der Menschenrechte mit militärischen Mitteln im Kosovo skizzierte481, erklärte schließlich ein knappes halbes Jahr später, am 24. März 1999, dass der Militärschlag der Nato mit deutscher Beteiligung gegen Jugoslawien stattfinden muss. Schröder unterbreitet in seiner Ansprache an die deutsche Bevölkerung in konzentrierter Form all die Argumente, mit denen bereits im Bundestag für den Bundeswehreinsatz gestritten wurde. Allerdings betont er die der ehemaligen Opposition eigene Perspektive eines nicht nur politisch notwendigen, sondern auch moralisch guten Kriegs: »Der jugoslawische Präsident Milosevic führt dort einen erbarmungslosen Krieg. […] Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen. […] Noch Ende letzter Woche hat die jugoslawische Delegation auf der Pariser Konferenz selbst minimale Zugeständnisse abgelehnt. Dies ist um so [sic] weniger verständlich, als das ausgehandelte Friedensabkommen den Bestand Jugoslawiens nicht infrage stellt. Vielmehr hat die Europäische Union Belgrad eine Rückkehr in die internationalen Organisationen und eine schrittweise Aufhebung der Sanktionen für den Fall einer Friedenslösung in Aussicht gestellt. Die Antwort Belgrads war der Bruch von Verträgen und die Entsendung weiterer Truppen in den Kosovo. Deshalb blieb als letztes Mittel nur die Anwendung von Gewalt. Dagegen haben die Vertreter der albanischen Bevölkerungsmehrheit das Pariser Friedensabkommen unterzeichnet und damit ihre Bereitschaft zu einer friedlichen Lösung vor aller Welt dokumentiert. Mit der gemeinsam von allen Bündnispartnern getragenen Aktion verteidigen wir auch unsere gemeinsamen grundlegenden Werte von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten. Wir dürfen nicht zulassen, daß diese Werte, nur eine Flugstunde von uns entfernt, mit Füßen getreten werden. zusammen, liebe Freundinnen und Freunde, und deswegen bin ich in die Grüne Partei gegangen. Was ich mich frage ist, warum ihr diese Diskussion verweigert?« Siehe: Joschka Fischer : Rede des Außenministers zum Natoeinsatz im Kosovo. In: Eberhard Rathgeb: Die engagierte Nation. Deutsche Debatten 1945–2005. München: Hanser 2005; S. 415f. 480 Dazu gehörte vor allem die Rechtfertigung, die Intervention nicht als ›Krieg‹ zu bezeichnen; vgl. dazu: Stefanie Christmann: Die SPD richtet sich im Krieg ein. Semantische Säuberung der Sprache zu Kriegszwecken. Schröder vertrieb die Worte aus ihrer Sinnverwurzelung. In: der Freitag, 16. 04. 1999. 481 Gerhard Schröder : »Weil wir Deutschlands Kraft vertrauen …«. Regierungserklärung des Bundeskanzlers am 10. 11. 1998 vor dem Deutschen Bundestag in Bonn. Unter : https://www. lmz-bw.de/fileadmin/user_upload/Medienbildung_MCO/fileadmin/bibliothek/schroeder _RE_1998/schroeder_RE_1998.pdf; abgerufen 13. 07. 2016; S. 30, S. 34.

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An dem Einsatz der NATO sind auch Soldaten der Bundeswehr beteiligt. So haben es Bundesregierung und der Deutsche Bundestag beschlossen – in Übereinstimmung mit dem Willen der großen Mehrheit des Deutschen Volkes. Die Bundesregierung hat sich ihre Entscheidung nicht leicht gemacht, schließlich stehen zum erstenmal nach Ende des Zweiten Weltkrieges deutsche Soldaten im Kampfeinsatz.«482

›Milosevic führt Krieg. Wir führen keinen Krieg, aber …‹ – damit nimmt Schröder einen allgemeinen Vorbehalt zum Ausgangspunkt, der sich der deutschen Öffentlichkeit mit Blick auf die gleichen Mittel hier wie da aufgedrängt haben mag. Dass in den »militärischen Mitteln« tatsächlich keine Differenz zwischen Milosevic und ›uns‹ besteht, leugnet Schröder nicht – verweist mit dem ›Aber‹ auf eine andere Perspektive. Ausgehend von der Überzeugung, dass diese westeuropäische Ordnung per se die rechtmäßige ist, erscheinen alle, die sich dem entziehen oder gar verweigern, als Angriff auf das, was man nun mit sanktionierender Allianzen, mit einer Politik der negativen Angebote oder mit Militär »verteidigen« oder erst »durchsetzen« muss – und das immerhin in dem »eine Flugstunde von uns entfernt[en]« Jugoslawien. Militär sei nötig gegen eine Friedensordnung, die Rest-Jugoslawien mit Krieg durchsetzt, und für einen Frieden, durchgesetzt mit gleichen Mitteln, der aber europäisch ist. Im Verlauf der Ereignisse setzte die Bundesregierung ihr Bemühen fort, ihre Politik gegen die inner- und außerparlamentarischen Vorbehalte zu verteidigen und der kritischen bundesdeutschen Öffentlichkeit zu erklären. Die schon beschlossene Teilnahme an der Nato-Intervention im Kosovo wurde z. B. mit dem neuesten Stand der humanitären Situation, mit der außerordentlichen Brutalität des ›großserbischen‹ Vorgehens und dem sogenannten ›Hufeisenplan‹ der jugoslawischen Armee, wonach ethnische Säuberungen systematisch durchgeführt würden483, begründet. Verteidigungsminister Rudolf Scharping berichtete von Ereignissen besonderer Grausamkeit. Demnach wären kosovarische Lehrer durch jugoslawische Soldaten vor den Augen der Schüler aufgeknüpft, seien schwangeren Frauen die Föten zum Grillen entnommen worden, außerdem habe man Kenntnisse von Konzentrationslagern. Die Glaubwürdigkeit dieser Aussagen wurden von Scharping damit belegt, dass er solcherlei u. a. durch gemalte 482 Quelle genau: Erklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Lage im Kosovo. 24. 03. 1999 (Pressemitteilung Nr. 111/99 vom 24. 03. 1999); Herv. S.H. 483 So tragen u. a. von Struck und Scharping die serbischen Kriegshandlungen an der Zivilbevölkerung als »langfristige[] Planung« eines »›ethnisch reinen‹ Großserbiens« vor; vgl.: Peter Struck: Deutscher Bundestag, 15. 04. 1999; S. 2627–2629, hier S. 2627; Rudolf Scharping: Deutscher Bundestag, 15. 04. 1999; S. 2645–2648, hier S. 2645. Beide sind zu finden unter : http://dip21. bundestag.de/dip21/btp/14/14032.pdf; abgerufen 06. 04. 2016. Weitere Argumentationen der deutschen Bundesregierung mit diversen Quellennachweisen siehe: Hermann L. Gremliza: Mein Kriegstagebuch.

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Kinderbilder bestätigt sehe484 und dass sich solche Gräuel niemand ausdenken könne. So antwortete Schröder in einem Interview, man müsse, wenn man »das Elend von Flucht und Vertreibung sieht und sehen will«, »nicht auf Belege der Luftaufklärung warten«, um Kriegslage und Kriegsgrund zu verifizieren.485 Der ›Hufeisenplan‹ und die serbischen Gräuel wurden, wie die Interviewfragen und die Gegenreden zeigen, bereits zeitnah kritisiert und als Fiktion tituliert; nach dem Krieg hatte man schließlich ihre Haltlosigkeit eindeutig belegt.486 Schwab-Trapp setzt in seinem Buch Kriegsdiskurse die Funktion der Pressekonferenzen, die Scharping gab, um über den Stand der Intervention zu informieren, in Anführungszeichen und sah in ihnen eher Merkmale eines artifiziellen »hochmoralische[n] Drama[s]«.487 Deutschland nahm an dem Nato-Einsatz für das Kosovo bzw. gegen Jugoslawien, der am 24. März 1999 begann, mit 3.000 Soldaten, einer Vielzahl von Aufklärungs- und Kampfflugzeugen und mit Teilen der Marine teil. Deutschland stellte des Weiteren Flughäfen für die Kampfflugzeugeinsätze der Nato zur Verfügung. Nach dem Friedensschluss, der Anerkennung des Vertrags von Rambouillet durch die Belgrader Regierung, wurde am 12. Juni 1999 die Kosovo Force (KFOR) durch ein UN-Mandat auf dem kosovarischen Territorium installiert, an dem Deutschland mit bis zu 8.500 Soldaten teilnahm. Deutschland gehörte zudem zu den 97 der 193 Länder, die die Loslösung des Kosovo aus seinem Status einer autonomen jugoslawischen Region und die Ausrufung als eigene Republik am 17. Februar 2008 unmittelbar diplomatisch anerkannten.

4.1.4 Die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf die Beteiligung Deutschlands am Kosovo-Krieg Im Unterschied zum politischen Agieren der deutschen Regierung gegenüber und in dem Konflikt in Jugoslawien in den Jahren zuvor wird die Teilnahme der deutschen Armee im Kosovo-Konflikt 1998–99 von einer großen öffentlichen Auseinandersetzung begleitet. Antikriegsdemonstrationen werden abgehalten, in den verschiedenen Medien debattiert die Öffentlichkeit umfangreich. Anlässlich des Kriegs, so schreibt Schwab-Trapp, lief die »Medienberichterstattung 484 Rudolf Scharping: ›Wir kommen unserer Sache näher‹. Verteidigungsminister Rudolf Scharping über die moralische Rechtfertigung für den Krieg, über die Kriegsziele der Nato und ein Jugoslawien ohne Slobodan Milosevic. In: Der Spiegel, 17/1999; S. 26–28, hier S. 26. 485 Gerhard Schröder : »Ich bin kein Kriegskanzler«; S. 35, Herv. S.H. 486 Siehe u. a. das Unterkapitel ›Rudolf Scharpings Verantwortung‹ in: Marcus Hawel: Die normalisierte Nation; S. 222–229. 487 Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 290.

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auf Hochtouren«488, der deutsche Kosovo-Krieg war laut Kurt Gritsch das »politisch[e] Streitthema des Jahres 1999«.489 Die öffentliche Debatte setzte 1999 allerdings erst ein, nachdem die Teilnahme der deutschen Bundeswehr an der Nato-Intervention von der Politik seit einigen Monaten beschlossen war und sich deutsche Truppen als Teil des Nato-Verbunds in Jugoslawien schon im Einsatz befanden. Die öffentliche Meinung, von der ganz unabhängig die politische Wirklichkeit des internationalen Konflikts und der aktuellen Intervention in die Welt gekommen waren, widmete sich den aktuellen Ereignisse dergestalt, dass zu ihnen keine ideelle Differenz zu erkennen war490 und dass ihr Urteil als Ursache für diesen Militäreinsatz erscheinen konnte – sogar bei den vehementesten Interventions-Kritikern. Das ähnelt den eher raren öffentlichen Beiträgen zur deutschen Jugoslawienpolitik in den Jahren zuvor. Die zusätzlich neue Qualität der 1999er Debatte ist der reflexive und problematisierende Bezug auf den eigenen Diskurs und auf die eigenen Diskurselemente. Dazu zählen die legitimatorischen Verfahren, sich in Sachnotwendigkeiten zu begründen oder sich historisch auf Zweiten Weltkrieg und Holocaust zu berufen. Die Spezifik der Argumente der deutschen Kosovo-Debatte wird im Folgenden an exemplarischen, exponierten Beiträgen nachgezeichnet.491 Der Fragestellung dieser Arbeit entsprechend gilt dabei ein besonderes Augenmerk den Debattenbeiträgen von Literaten bzw. den Beiträgen, die sich insbesondere der Bedeutung von Literatur und Literaten in dieser Kriegszeit widmen. Die Sichtweise der (mehr oder weniger genuin) literarischen Werke über den KosovoKrieg wird im anschließenden Kapitel 4.2 erörtert. Das Interesse der Öffentlichkeit, sich selbst in ihrer Stellung zur aktuellen politischen Debatte zu thematisieren und eigene Bestände zu problematisieren, setzte zeitnah und recht umfangreich ein. Fortan hat sie sich kontinuierlich im eigenen Agieren begleitet, reflektiert und kommentiert. – Sollten die bereits geschriebenen Darstellungen der öffentlichen deutschen Debatte zum KosovoKrieg nicht genügen, weshalb nun trotzdem ein separates Kapitel zu ihr?: Den Diskurs sowohl aus einer allgemeinen historischen Situation heraus zu erklären (z. B. Schwab-Trapp), als auch ihn als eigentlichen oder un-eigentlichen Reflex 488 Ebd. 489 Kurt Gritsch: Inszenierung eines gerechten Krieges?; S. 14. 490 Magnus-Sebastian Kutz argumentiert in seinem Buch Öffentlichkeitsarbeit in Kriegen für die überraschende Entwicklung der Ereignisse 1999, die eine öffentliche Debatte vor dem Beschluss der deutschen Politik, in den Krieg einzutreten, nicht ermöglicht habe; MagnusSebastian Kutz: Öffentlichkeitsarbeit in Kriegen; S. 203. 491 Für eine umfangreiche Analyse der öffentlichen Debatte sei, wie schon mehrmals angemerkt, auf die Kurt Gritschs Monografie Inszenierungen eines gerechten Krieges? und in die entsprechenden Kapitel der Arbeit von Michael Schwab-Trapps Kriegsdiskurse verwiesen.

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zu verstehen (z. B. Gritsch), scheint theoretisch unbefriedigend. Allein die Existenz der stark auto-referentiellen Debatte über den Kosovo-Konflikt lässt aufmerken. Worin läge ein bloß deskriptiv-analytischer Ertrag einer Selbstbespiegelung? Obwohl sich diese überwiegend im Modus der Beschreibung zu Wort meldete, liegt ihr eine konträre Absicht zugrunde, nämlich erst eine bestimmte Meinung als allgemeine und gemäße und ihr gegen alle anderen ebenso existierenden Meinungen Geltung zu verschaffen. Die Selbstbeschreibungen, die die deutsche Debatte zum Kosovo-Krieg auszeichnen, sind genau in der Weise aufschlussreich, insofern von einem einheitlichen Diskurs weder ausgegangen werden kann, noch dass er sich von allein einstellte – ein kursorischer Blick über ihren eigenen, weniger selbst erklärenden als erklärungswürdigen Widerspruch: Einerseits die Selbstbeschreibungen: Jan Ross konstatiert eine Woche nach Beginn der Kosovo-Intervention in seinem Zeit-Artikel Die Deutschen und der Krieg die »Selbstverständlichkeit«, mit der die Bundesrepublik nun 1999 zum einen »nicht nur ein halbes Jahrhundert gewaltfreier Außenpolitik hinter sich gelassen« habe, sondern zum anderen auch »einen gesellschaftlichen Pazifismus« aufgegeben habe, den man »tief verwurzelt glaubte«.492 Es herrsche, so Ross, eine »große Ruhe im Land«.493 Gleichermaßen stellte Der Spiegel fest, dass es im Unterschied zu anderen europäischen Ländern eine »auffallende Ruhe auf den deutschen Straßen zu Beginn des Krieges« gegeben habe.494 Ferner zeigt er seine Verwunderung darüber, dass, da doch Deutschland in den Kosovo-Krieg gezogen ist, sich die Bevölkerung Deutschlands aber ungebrochen den Unterhaltungssendungen im Fernsehen und der Fußballbundesliga widmete.495 Schwab-Trapp erscheinen die öffentlichen Reaktionen auf die Kriegsereignisse »merkwürdig unspektakulär«.496 Laut Umfragen befürworteten über 60 Prozent der Deutschen den militärischen Einsatz im Kosovo; die dafür maßgeblich verantwortlichen Politiker belegen »Spitzenpositionen«.497 Ob auffallende Ruhe, ob große Ruhe, ob Fortführung ihres Alltags, ob unspektakuläre Stimmung – für Jan Ross verweist gerade die abwesende Reaktion der Bevölkerung auf einen konkreten Gehalt: Es zeige sich in diesem Nichtzeigen 492 Jan Ross: Die Deutschen und der Krieg. Warum eigentlich herrscht so große Ruhe im Land? In: Die Zeit, 31. 03. 1999. 493 Ebd. 494 Gerhard Schröder u. Joschka Fischer: »Ich darf nicht wackeln«. Gerhard Schröder und Joschka Fischer sind entschlossen, den Krieg fortzuführen – und fürchten, die Stimmung kippt, wenn Bomben Milosevic nicht bald zur Kapitulation zwingen. In: Der Spiegel, 14/ 1999; S. 22–28; hier S. 25. 495 Susanne Beyer u. Nikolaus von Festenberg: »Alle sind käseweiß«. Unvermindert hält das Interesse an Sondersendungen über das Kosovo an. In: Der Spiegel, 16/1999; S. 112–115, vgl. hier S. 112. 496 Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 292. 497 Ebd.

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ein »Wandel in der Seelenverfassung der Deutschen«.498 Auch der Spiegel schreibt, dass, was »[a]uf den ersten Blick« so scheint, »als liefe die Amüsiermaschine Fernsehen unbeeindruckt von den Ereignissen auf dem Balkan weiter«, als »Eindruck trügt«, denn das »Gegenteil sei der Fall«: ein »[unvermindertes] Interesse« am Krieg sei zu verzeichnen.499 Schwab-Trapp fasst diese Situation 2002 als ›stumme Akzeptanz‹. Das Ausbleiben öffentlicher Bekundungen versteht er als ein veritables positives Bekenntnis, wonach der Kosovo-Kriegseinsatz nämlich »kollektiv und fraglos akzeptiert« worden war.500 Diese Sichtweise, wie sie von der Zeit, über den Spiegel bis hin zu der wissenschaftlichen Diskursanalyse von Schwab-Trapp zu finden ist, unterstellt bei allem Ausbleiben von Meinungsbekundungen relativ selbstsicher ein grundsätzliches Einverständnis zwischen Öffentlichkeit und der politischen Lage. Das führt u. a. zu Einschätzungen wie dieser im Spiegel: »Kaum je in der deutschen Geschichte dürften in einer Kriegs- und Krisensituation die Gefühle und Zweifel von Regierung und Regierten so nah beieinandergelegen haben.«501

Umgekehrt legt Jens Bisky in seinem Artikel Dieser Krieg ist weder gerecht noch ungerecht die Unmöglichkeit eines wie auch immer gearteten ernsten Einwandes gegen diese Politik dar. Anlass für Bisky sind Umfragen mit gegensätzlicher Aussage, wonach die Ostdeutschen als ehemalige DDR-Bevölkerung einen größeren Vorbehalt gegenüber dem deutschen Militäreinsatz im Kosovo hegten als ihre westlichen Landsleute. Bisky argumentiert, weil allen Deutschen eigentlich klar sei, dass »die Zeit der pazifistischen Nation […] abgelaufen« ist und dass »Deutschland […] wieder gezwungen [ist], über Krieg als Mittel der Politik nachzudenken«, handele es sich bei der Ablehnung des Kriegs durch die Ostdeutschen nur um »einen psychischen Vorbehalt, eine emotionale Reserve«.502 Die Ablehnung der Außenpolitik mit militärischen Mitteln des wiedervereinten Deutschlands 1999 sei somit als eine verspätete Opposition zur DDR zu ver498 Jan Ross: Die Deutschen. 499 Die Autoren des Spiegel-Artikels bedienen sich in der Diskussion dieser Befunde einer unkonkreten Differenzierung: Nehmen sie zu Beginn die schweigenden Fernsehzuschauer als Gegenstand, widmen sie sich in der Erklärung den Fernsehsendern, erklären somit die Kontinuität der Rezeption mit den veränderten Programmteilen der Produktion. Susanne Beyer u. Nikolaus von Festenberg: »Alle sind käseweiß«; S. 112f. 500 Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 292f. 501 Gerhard Schröder u. Joschka Fischer : »Ich darf nicht wackeln«; S. 23. 502 Jens Bisky : Dieser Krieg ist weder gerecht noch ungerecht. In: Berliner Zeitung, 27. 03. 1999; Herv. S.H. Gegen Biskys Argumentation, die Vorbehalte ostdeutscher Bürger gegen den Kosovo-Krieg hätten einen un-eigentlichen Grund, argumentiert: Christoph Dieckmann: Bomben auf Ankara. Ostdeutschlands Nein zu den Angriffen der Nato – Moral oder Rationalität? In: Die Zeit, 29. 04. 1999.

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stehen. Die gegenwärtige Kritik im Osten an der Kosovo-Intervention sei demnach auch keine wirkliche Ablehnung, eher implizite Zustimmung.503 Aber andererseits steht der Befund, die deutsche Bevölkerung sei durch einen ›stummen‹ Konsens und durch eine prinzipielle Akzeptanz der deutschen Außenpolitik geeint, quer zu den Äußerungen – mitunter der gleichen Autoren –, wonach der Kriegseinsatz im Kosovo immerhin das »politisch[e] Streitthema des Jahres 1999«504 war. Zudem steht einem solchen ›stummen‹ Einverständnis oder einem »Geschehenlassen« entgegen, nicht nur dass diskutiert wurde, sondern dass etwa laut Spiegel dieser Krieg eine »neue Nachdenklichkeit« und eine neue Medienrezeption herbeigeführt habe.505 Auch laut Schwab-Trapp sei es erst in dieser Debatte 1999 zu einem »Bruch« in dem gekommen, was er als politische »Basiserzählung« der Deutschen fasst.506 Was also die öffentliche Meinung reflektierend über sich in dieser Debatte gleich zu Beginn kundtut, ein Sich-Auszeichnen durch »neue Nachdenklichkeit«, »Wandel« und ›neues Erzählen‹, scheint mitnichten der Stand der Dinge – sondern der Wunsch oder, bestimmter ausgedrückt, gar der Anspruch auf dessen Durchsetzung. Die Vorstellung, was womit in Kongruenz gedacht wird, galt in diesen Beiträgen schon einhellig. Insofern es ›Erzählung von‹, der ›Begriff von‹ und das ›Nachdenken über‹ hieß, wurde zu der vorausgesetzten praktischen Politik der entsprechende, ein diese Politik nachvollziehende Diskurs verlangt – also mitnichten umgekehrt, nämlich die Politik als Vollstrecker eines diskursiven Urteils. Wofür Jan Ross eine »Sprache« sucht, die allein die Einheit zwischen den Sphären der Gesellschaft bewerkstelligen müsse507, kann der Spiegel die immerhin schon zu beobachtende ›bemerkenswerte Identität‹ nämlich zwischen

503 In der Tat lesen sich kritische Äußerungen gegen die deutsche Kriegsteilnahme wie die des Spiegel-Herausgebers Rudolf Augstein weniger als Kritik der Gründe, denn als Kritik der kontraproduktiven Wirkungen. Augstein sieht den Erfolg deutscher Politik, die er insbesondere gegenüber Serbien berechtigt sieht und nicht zurückweist, bedroht, wenn sie sich auf die Durchsetzung mit Kriegsmittel stützt und überhaupt den aktuellen unberechenbaren Kriegsverlauf nicht zur Kenntnis nimmt. Siehe u. a.: Rudolf Augstein: Was suchen wir auf dem Balkan? In: Der Spiegel; 14/1999, S. 24; Rudolf Augstein: Rückfall in die Steinzeit. In: Der Spiegel, 15/1999; S. 26. 504 Kurt Gritsch: Inszenierung eines gerechten Krieges?; S. 14, Herv. S.H. 505 Susanne Beyer u. Nikolaus von Festenberg: »Alle sind käseweiß«; Herv. S.H. 506 Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 298, Herv. S.H. 507 Jan Ross verlangt in der Zeit eine »Sprache, in der die Politik sich mit der Gesellschaft über Krieg und Frieden, über Recht, Moral und Macht auseinandersetzen könnte«. Erstaunlich ist, dass sich Ross zum Einen auf das Abstraktum der Sprache kapriziert, statt ein konkretes Urteil einzumahnen; zum Anderen vermisst er diese Sprache, nicht damit die Gesellschaft der Politik ihren Standpunkt erklärte und die Politik sich danach richten würde, sondern anders herum. Jan Ross: Die Deutschen.

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»Regierung und Regierten« konstatieren.508 Wenn dieser »Wandel in der Seelenverfassung der Deutschen« und die »politische Kultur des Kriegs im Wandel« nicht, wovon etwa Schwab-Trapp ausgeht, mit sich selbst zu erklären ist509, bleibt die Frage, wie er denn bewerkstelligt wurde – bzw. mit welchen Blickweisen auf die Realität der öffentliche Diskurs an sich den Wandel vollbracht hat, den er selbst erst noch herbeiwünschte? Wie sich die öffentliche Auseinandersetzung zum deutschen Kosovo-Einsatz gestaltete, um diesem Anspruch gerecht zu werden, wird im Folgenden an zwei zentralen Streitfragen exemplarisch nachgegangen, nämlich der Rolle der historischen Lektion aus dem Zweiten Weltkrieg und dem moralischen Imperativ des Gewaltverzichts. (a)

Der praktische Wandel der historischen Legitimationstitel. Zweiter Weltkrieg und Holocaust als Bestimmung des aktuellen Kriegs

Jens Bisky veröffentlicht am 27. März 1999, drei Tage nach Beginn der NatoLuftangriffe auf Serbien, den Artikel Dieser Krieg ist weder gerecht noch ungerecht. Damit steigt er hoch ein. Der gerade begonnene Kriegseinsatz sei, außer dass er stattfindet, nicht zu bestimmen, aber gerade deswegen nicht mehr mit alten (deutschen) Kriegen vergleichbar und somit (von Deutschen) zu begrüßen. Jens Bisky beginnt folgendermaßen: »Gewiß, die Zeit der pazifistischen Nation ist abgelaufen; und die vereinigten Deutschen sind wieder gezwungen, über den Krieg als Mittel der Politik nachzudenken. Die Frage ist, wie sie dies tun. Erst Umfragen bestätigen das Erwartete: die Mehrheit stimmt zu. Wenige sind zum öffentlichen Protest entschlossen. Wer mit Bartha von Suttners ›Die Waffen nieder!‹ durch die Straßen läuft, riskiert heftige Diskussionen. Die Losung aus dem Zeitalter der imperialistischen Kriege paßt nicht recht zum Luftkrieg auf dem Balkan. Im Golfkrieg gab es zum letzten Mal eine wirksame Floskel für die Gutwilligen: ›Kein Blut für Öl‹. Sie hatte mit der Realität nichts zu tun. Mit ihren pazifistischen Formeln, in Trotz und Treue zum Vergangenen, macht die Friedensbewegung im Augenblick eine unglückliche Figur. Aber noch nie in diesem Jahrhundert haben soviele Deutsche wie diesmal einen Krieg abgelehnt, an dem eigene Soldaten beteiligt sind.«510

Was Bisky zur Antwort auf die Frage, »Wie« die Deutschen mit dem neuen Krieg umgehen, da sie »wieder gezwungen« sind, ansetzt, ist mehr als nur die beschreibende Inventur faktischer Verhaltensweisen. Denn dieses »Wie« ist von vorn herein als Anspruch genommen, positiv mit dem ›neuen Zwang‹ umzuge-

508 Susanne Beyer u. Nikolaus von Festenberg: »Alle sind käseweiß«. 509 So die These und der Titel von: Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse. 510 Jens Bisky : Dieser Krieg; Herv. S.H.

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hen. Dementsprechend interessiert wird interpretiert, was Umfragen und historische Statistiken kundtun: Abstrahiert von den Kriegen und den Gründen ihrer Ablehnung interessiert Bisky der reine Grad der Zustimmung. Da in Deutschland zwar die Mehrheit für diesen Krieg im Kosovo votiert, dies aber im Vergleich zu den anderen deutschen Kriegen im 20. Jahrhundert schon einmal besser war, erschrickt er scheinbar weder darüber, womit er sich historisch messen zu müssen glaubt, noch ist ihm das vergleichsweise schlechte Ergebnis der Zustimmung, immerhin noch mehrheitlich, ein Lob für den gestiegenen Kriegszweifel seiner Mitmenschen. Es ist ihn allein der Stachel, diesen historisch quasi-virulenten Mangel und das Zuviel an Vorbehalt aus der Welt zu schaffen. Das zentrale Argument hierfür liefert Bisky in der ›Beschreibung‹ des Ausgangspunkts gleich mit, grammatisch, begrifflich und stilistisch: »Gewiß, die Zeit der pazifistischen Nation ist abgelaufen […].« Auch im weiteren Verlauf referiert Bisky auf einen politischen Zustand, über den er immerhin noch kundtut, dass er einen anderen abgelöst hat, von dem er ansonsten aber als ahistorischen Status-Quo ausgeht. Der vereinte deutsche Staat stelle schlichtweg die »Zeit« oder die »Realität« dar, an denen andere Erklärungen und auch alle Kritik abprallen. Kritik beweise sich so als Relikt eines unzeitgemäßen »Zeitalter[s]« oder als irreale Position. So sind für Bisky die gegenwärtige politische Verfasstheit der deutschen Gesellschaft, alle ihrer Geschäfte sowie deren Kritiker erklärt. Die Kritik zeichne sich durch die nämliche inhaltliche Abwesenheit dessen aus, was offenkundig nur sein kann, weil historisch ist. Und so gestalten sich seine Belege, nämlich ex negativo: Die Kritik am Krieg treffe derzeit zwar auf »heftige Diskussionen«, aber nicht auf Zustimmung, die Kritik würde auf diesen Krieg »nicht recht [passen]«, habe mit der »Realität nichts zu tun«, gehöre nicht der Gegenwart, sondern der »Vergangenheit« an und mache angesichts der praktischen Erfolglosigkeit insgesamt eine »unglückliche Figur«. Demnach können Kriegsgegner schlicht keinen positiven Grund für sich reklamieren, weshalb Bisky bei ihnen allenthalben »Trotz« und »Treue zur Vergangenheit« sieht. Ausgehend von der Deklassierung der ideellen Distanz zu den neuen politischen Verhältnissen widmet sich Bisky dem, was diese neue »Zeit« und deren »Realität« ist. Dabei widmet er sich dem Krieg im Kosovo. An ihm ist als Realität alles dermaßen undefinierbar, was für Bisky kein mangelndes, sondern das überzeugendste Argument bedeutet: »Der Angriff auf Jugoslawien ist mit den erlernten Kategorien nicht zu verstehen. […] Die Luftangriffe der Nato gehören zu einer merkwürdig neuen Art von Kriegen. Anders als gewohnt und historisch üblich geht es nicht um Raub, nicht um die Besetzung

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fremder Territorien, nicht um den Sturz einer Regierung, auch nicht um Verteidigung. Gegen das Motiv zum Eingreifen, gegen die Absicht, Mord, Terror und Vertreibung zu verhindern, gibt es keine guten Gründe. […] Auf die Besonderheit dieses Krieges, den man nicht begrüßen und nicht rundum ablehnen kann, hat sich die Friedensbewegung noch nicht eingestellt. Sie pflegt einen abstrakten Pazifismus und versucht mit Protestfolklore, die Eindeutigkeit zurückzugewinnen, die früher gegeben schien.«511

Schwab-Trapp widmet in seinem Buch Kriegsdiskurse der Auffälligkeit, dass in der 1999er Debatte über den Einsatz deutscher Truppen im Kosovo-Krieg dieser immerzu als eine ›neue Art des Kriegs‹ gefasst wurde, eine eigene Analyse.512 Zum »Grundtenor« dieser in den öffentlichen Debatten gefassten »Überlegungen« gehöre nach Schwab-Trapp die Frage: »Was unterscheidet diesen Krieg von vergangenen Kriegen […]?«513 Bereits der Textauszug von Bisky, auf den sich auch Schwab-Trapp bezieht, zeigt deutlich, dass dabei an theoretischer Erklärung kein Interesse besteht. Biskys Argument ist praktisch gemeint. Diese Erklärung eines ›neuen Kriegs‹ meint dessen Legitimation, Verstehen meint Verständnis: Die »merkwürdig neu[e] Art« von Krieg, der mit den ›gewohnten‹, ›üblichen‹, »erlernten Kategorien« nicht mehr zu begreifen sei, ist für Bisky zwar ein Einwand gegen die Kriegsgegner und deren Urteile, allerdings gilt dies für ihn selbst und für die ihm genehme Stellung zum aktuellen Krieg genau umgekehrt. Denn auf der Grundlage, dieser Krieg sei in nichts zu erklären, aber sei noch Krieg (womit Bisky Identität im Nicht-Identischen denkt), entzieht er zum einen den Kriegsgegnern ihren Gegenstand, da sie mit ihrer Kritik an den alten Kriegen den ›neuen‹ Krieg nicht treffen würden (Bisky also des Weiteren mit einem Prädikat den Gegenstand aussticht). Zum anderen weiß Bisky trotz der allumfassenden Abwesenheit aller Bestimmungen, dass man sich zum ›neuen‹ Krieg auf jedem Fall nur positiv stellen kann. Diese von Bisky den ›alten‹ Kriegsgegner anempfohlene Neuausrichtung birgt einen hohen und gar widersinnigen Anspruch: Erst wenn die aktuelle Friedensbewegung diesem neuen Kosovo-Krieg etwas abgewinnen kann, ist sie sich selbst gerecht geworden, denn dann hat sie sich »[a]uf die Besonderheit dieses Krieges […] eingestellt«, hat sie so von ihrem »abstrakten Pazifismus« abgelassen und nimmt die fehlende »Eindeutigkeit« des Kriegs maximal als einen Einwand gegen ihr eigenes Urteil, nicht aber gegen das, was Bisky trotz fehlender Eindeutigkeit eindeutig einfordert.514 511 512 513 514

Ebd.; Herv. S.H. Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 330–337. Ebd.; S. 330. Die Friedensbewegung Ost wie West hat Bisky, so wie im vorangegangenen Unterkapitel schon ausgeführt, dadurch blamiert, dass er dieser von ihrem Gegenstand Krieg getrennte, abwegige Beweggründe nachweist.

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Mit den Formulierungen von »Protestfolklore«, »Losung aus dem Zeitalter der imperialistischen Kriege«, »Floskel[n]« und »Formeln« aus »Trotz und Treue zum Vergangenen« hat Bisky rhetorisch sehr offensiv klargestellt, welche spezielle Kritik er im Auge hat: die für das politische Selbstbewusstsein der beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften konstituierende Erzählung der eigenen Verantwortung für Zweiten Weltkrieg und Holocaust, die den festen moralischen Einwand gegen eine zukünftige Kriegsteilnahme Deutschlands lieferte. Dem ›alten‹ Kriegseinwand ›Zweiter Weltkrieg‹ bescheinigt Bisky für diese Debatte bereits, nicht mehr zu gelten. – Ähnliches über die bereits diskursiv durchgesetzte Bedeutungslosigkeit des Arguments ›Nie wieder Krieg wegen des Zweiten Weltkriegs‹ schreibt Jan Ross in Der Zeit. Die Debatte um den deutschen KosovoEinsatz zeige sich ihm nicht mehr als ein »›Krieg der Erinnerungen‹«, die Deutschen würden diese »historische Zäsur des ersten Waffengangs seit 1945 seltsam geschichtslos« aufnehmen.515 Der »no german [sic] Sonderweg«516, so wie Fischer die Emanzipation von der historischen Lehre formulierte, schien 1999 zu gelten. Auch schreibt Schwab-Trapp resümierend, »eines der auffälligsten Merkmale« der Debatte 1999 und dahingehend »bemerkenswert« sei gewesen, dass »die plakative Verwendung des Faschismusbegriff« ausgeblieben war.517 Jedoch ist der zeitgenössischen Beschreibung des öffentlichen Diskurses, wie es bei Bisky offenbar wird, ein diskursiv relevanter Einwand unterstellt – scheinbar gilt Geschichte weiterhin als Argument. Begriffe wie Zweiter Weltkrieg, Holocaust, Hitler, totalitäres Staatsgebilde und ›fanatisiertes‹ Volk waren in den Debattenbeiträgen in der Tat noch zu finden – und zwar in immenser Zahl. So schreibt Gritsch, dass im Gegenteil das »Ziehen von Holocaust-Parallelen 1999 zum Dogma« wurde518, und Der Spiegel schreibt z. B. über die öffentlichen Verlautbarungen des deutscher Verteidigungsministers Rudolf Scharping, dieser sei jemand, »der die Barbarei der Milosevic-Killer [Killer im Auftrag von Milosevic, Anm. S.H.] mit dem eindeutigsten Vokabular geißelt: Völkermord, Schlachthaus, ethnische Säuberung, Selektierung, KZ.«

Joschka Fischer wird an gleicher Stelle zitiert: »Für den Verteidigungsminister, der so gar nichts Militaristisches verkörpert, sind die Greuel im Kosovo auch ein ›Blick in die Fratze der deutschen Vergangenheit‹.«519 515 516 517 518 519

Jan Ross: Die Deutschen. Joseph Fischer zitiert in: o. V.: »Aus freier Überzeugung«; S. 27. Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 257f. Kurt Gritsch: Inszenierung eines gerechten Krieges?; S. 127. Gerhard Schröder u. Joschka Fischer : ›Ich darf nicht wackeln‹; S. 27, Herv. S.H.

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Die deutsche Geschichte wird als Argument also einerseits nicht mehr bemüht, ist andererseits aber weiterhin und allerorten in Verwendung – inwieweit fand nun doch, wie Schwab-Trapp feststellt, ein »Bruch der Basiserzählung« 1999 anlässlich des deutschen Kosovo-Einsatzes statt? Dieser Widerspruch löst sich, wenn von der Ebene der Begriffe auf die des damit Ausgedeuteten geschaut wird. Dort hat sich in der Tat eine eindeutige Entwicklung abgezeichnet: Offenbar versagt sich die Debatte der historisch-kritischen Beurteilung der deutschen Außenpolitik, sie gilt als Realität; nunmehr bezieht dieselbe Debatte ihren kritischen Vergleich mit der eigenen Geschichte auf die Objekte der ›normalisierten‹, reellen Außenpolitik Deutschlands: Hitler wird benutzt, um den Ministerpräsidenten Jugoslawiens Slobodan Milosevic zu benennen, Holocaust-Vergleiche dienen der Beschreibung der Kosovo-Vertreibungen, die serbische Bevölkerung wird mit dem ›hörigen‹ deutschen Volk unter Hitler identifiziert. Gewissermaßen stellt dies die alte Kritik auf den Kopf. Denn nun wird mit diesem historischen Bezug die neue deutsche Außenpolitik legitimiert – und zwar in dem Maße, wie deren Objekte darüber delegitimiert werden. Solch ein Beispiel bietet Rudolf Augstein mit seinem Kommentar im Spiegel. Hitler dient ihm nicht mehr als Einwand gegen deutsche Kriegspolitik, wie es diskursiver Konsens der Nachkriegszeit war. Entgegengesetzt hilft der Verweis auf die deutsche Geschichte, die Lage auf dem Balkan und darüber die verschiedenen politischen Programme von den Serben bis zu den eigenen NatoVerbündeten zu bebildern; sekundär ist dabei, dass sich Augstein für friedliche Mittel ausspricht: »Vor 60 Jahren lag Englands Stärke in seiner eisernen Entschlossenheit, Hitler unter gar keinen Umständen nachzugeben. Solch ein Vorgehen hätten die USA [aktuell; Anm. S.H.] aber vor Beginn der Operation mit den Europäern besprechen müssen. Nur eben: Sie mögen ganz Belgrad in Schutt und Asche legen, es wird nichts helfen. Mit jedem Bomber wird man einen Rosinenbomber mitschicken müssen, weil Hunger und Elend drohen. Für die Deutschen sollte es das letzte Mal sein, daß sie bei einem ›Fehler‹ dieser Art mitmachen. Wir haben auf dem Balkan nur humanitär, nicht aber militärisch etwas zu suchen.«520

Diese Art der neuen Berufung auf den Zweiten Weltkrieg, Holocaust etc. für die Nato-Intervention ist nicht kritiklos geblieben. Insbesondere ist der Offene Brief Gegen eine neue Art der Auschwitz-Lüge an Scharping und Fischer zu erwähnen.521 Dieser wurde einen Monat nach Kriegsbeginn in der Frankfurter 520 Rudolf Augstein: Was suchen wir. 521 Esther Bejarano u. a.: Gegen eine neue Art der Auschwitz-Lüge. Offener Brief an die Minister Fischer und Scharping. Erstveröffentlichung als Anzeige in: Frankfurter Rundschau, 23. 04. 1999. Unter : www.nrw.vvn-bda.de/texte/auschwitz-lu_ge.htm; abgerufen 05. 04. 2016.

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Rundschau abgedruckt. Die Unterzeichner, allesamt Überlebende des Holocaust, kritisieren den Kosovo-Einsatz der Bundeswehr zum einen als mehrfachen Verstoß gegen geltendes Recht; zum anderen und in erster Linie kritisieren sie den Kosovo-Einsatz darin, womit ihm die Öffentlichkeit Rechtfertigung verschafft. Die Gleichsetzung zwischen Jugoslawien und ›Drittem Reich‹ wird von den Unterzeichnern des Briefs deutlich zurückgewiesen, indem sie die Gegenwart mit der Geschichte 1933–45 und der faktischen Nicht-Identität von Jugoslawien und Drittem Reich konterkarierten. Solch eine Begründung für aktuelles Handeln, so schließen sie ihren Brief, sei »infam«. Die Kritik an der historisch-moralischen Legitimation des aktuellen Kriegsgeschehens bekommt Beistand durch prominente Vertreter – aber aus genau anderer Motivlage. Unter ihnen befindet sich der Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher. Er war Initiator einer umfangreichen Serie zum Kosovo-Krieg, die größtenteils schon 1999 in Buchform unter Der westliche Kreuzzug veröffentlicht wurde. Im maßgeblichen Unterschied zu den Unterzeichnern des Briefs Gegen eine neue Art der Auschwitz-Lüge kritisiert Schirrmacher in seinem Beitrag Luftkampf. Deutschlands Anteil am Krieg schließlich nur das legitimierende Reden über den aktuellen Krieg, keineswegs aber den Krieg. Mehr noch, Schirrmacher will diese ›Realität‹ gegen etwaige historische Ausdeutungen verteidigen: »Dieser moderne Luftkrieg wird zu einem gefährlichen Mythos, wenn seine Legitimation mit einem Zwangscharakter der Geschichte metaphysisch überhöht wird. […] Deutschland, das nach soviel Bösem am Ende des Jahrhunderts ›vollendet im Guten‹ sein will, bombardiert nicht Auschwitz. Auschwitz kann niemand mehr zurücknehmen. Deutschland bombardiert einen modernen Staat, der Verbrechen begeht und nicht bereit ist, sich an die Regeln zu halten. Dies zu vermitteln ist schwerer, unheimlicher, aber auch verantwortungsvoller, als von Hitler zu reden.«522

Die deutsche Nato-Teilnahme als auch die Situation in Jugoslawien historisch auszudeuten, ist, so Schirrmacher, nicht die politische Wirklichkeit und gehe an ihr vorbei. Was er demgegenüber als Gegenwart und Wirklichkeit vorstellig macht, ist aber genauso wenig fraglos. Denn die von der Vergangenheit befreite Gegenwart erscheint ihm als eine Sache, der der Standpunkt westlicher bzw. deutscher Politik als deren nämliches Sorgeobjekt eingeschrieben ist.523 522 Frank Schirrmacher : Luftkampf. Deutschlands Anteil am Krieg. In: Frank Schirrmacher (Hg.): Der westliche Kreuzzug. 41 Positionen zum Kosovo-Krieg. Stuttgart: DVA 1999; S. 117–120, hier S. 119f. 523 Vergleiche dazu auch Daniel J. Goldhagens kontrovers diskutierten Artikel Eine ›deutsche Lösung‹ für den Balkan. Diesen beginnt Goldhagen zuerst mit einem, wie er schreibt, weit verbreiteten Vergleich zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland, dem imperialistischen Japan zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs und Serbien, um diesen Vergleich zugleich zu relativieren. Was er bei seinem Vergleichswesen in die Schranken weist, ist die

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Ebenso haben sich Teile der Wissenschaft kritisch mit diesem »Bruch der Basiserzählung« und zwar als Wandel in der Erzählung befasst: Kurt Gritsch in Inszenierung eines gerechten Kriegs? und Magnus-Sebastian Kutz in Öffentlichkeitsarbeit in Kriegen. Im kritischen Blick auf die neue diskursive Praxis verlieren sie jedoch die unterstellte neue politische Praxis aus den Augen. So ist Ausgangspunkt von Gritsch und Kutz der Widerspruch in der öffentlichen Debatte. Das ›Auschwitz-Argument‹ oder die Legitimation mittels des Zweiten Weltkriegs sei so allgegenwärtig und akzeptiert, wie deren Anwendung im gleichen Moment kontraproduktiv erscheint, denn als »sehr plakativ« offenbar werde.524 In der Erklärung dieses un-eigentlichen, doch aber beharrenden Redens über ein ›neues Auschwitz‹ etc. formulieren Gritsch und Kutz gleichermaßen einen Übergang. Diesen Widerspruch anerkennend versöhnen sie ihn durch ein Drittes, sei es eine »Matrix universeller Werte«, seien es Muster, Kultur, Prägung oder Tradition.525 Damit etablieren Gritsch und Kutz eine quasi ahistorische Diskursmacht, die hinter den Subjekten und getrennt von dem im Reden verhandelten aktuellen Gegenstand wirke. Allen Diskursteilnehmern einen eigentlichen Einwand gegen Krieg wohlwollend unterstellend, stecke allein in der den Sprechenden mehr oder weniger aufgenötigten uneigentlichen Rede der politische Effekt, dem Krieg zuzustimmen. So identifizieren Gritsch und Kutz einen ›propagandistischen‹ und ›manipulierenden‹ Diskurs, der nur passive Adressaten, aber kein Subjekt und keine Absicht kennt.526 Die Spezifik der ›plakativen‹, trotzdem gültigen Diskurselemente 1999 ist somit nicht erklärt, bestenfalls erscheinen sie nun gerechtfertigt – weswegen, mit analytischem ohnehin selbstverständliche Nicht-Identität der in Vergleich gesetzten Dinge; was er jedoch als Spezifisches an Serbien festhält, betrachtet er nun ausschließlich im Lichte dieses dann doch passenden Vergleichs; siehe: Daniel J. Goldhagen: Eine ›deutsche Lösung‹ für den Balkan. Um das Völkermorden zu beenden, muß die Nato Serbien besiegen, besetzen und umerziehen. In: Süddeutsche Zeitung, 30. 04. 1999. 524 Magnus-Sebastian Kutz: Öffentlichkeitsarbeit in Kriegen; S. 213. 525 Dazu zum einen Kutz: Er beginnt das Kapitel ›Der Kosovo-Konflikt‹ mit folgendem Satz: »Der Kosovo-Konflikt hat vielfältige Gründe, die bis zur Schlacht auf dem Amselfeld im Jahr 1389 zurückreichen.« Damit begründet Kutz die Sache des aktuellen Kriegs mit den allgemein bekannten Legitimationen desselben, wie sie die serbische, kosovarische wie auch westliche Kriegsparteien verwendeten. Die Gründe für die Legitimation der deutschen Politik ist mit ihren eigenen Begründungen, die Kutz problematisieren will, identisch: Die Besonderheit der »deutschen Akteur[e]« in der öffentliche Debatte sei auf deren »deutsch[e] politisch[e] Kultur zurückzuführen«, worunter er zum Beispiel die »Prägung Deutschlands als Zivilmacht und die antimilitäristische Tradition der Außenpolitik« zählt: ebd.; S. 176, vgl. S. 211f., 284. Und zum zweiten Gritsch: »Tatsächlich argumentierten zahlreiche Intellektuelle mehr oder weniger deutlich für den Krieg, weil sie die Realität vor der Matrix universeller Werte (Menschenrechte, Antifaschismus) interpretierten«; Kurt Gritsch: Inszenierung eines gerechten Kriegs?; S. 495, vgl. S. 492. 526 So seine Hypothese im Vorwort, sein Resümee findet das bestätigt; vgl.: ebd.; S. 13, 379f., 496.

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Abstand betrachtet, diese zwei Arbeiten eher selbst als Teile des Diskurses denn als Arbeiten über ihn erscheinen mögen. Ein Angebot zur Klärung dieses ›diskursiven‹ Widerspruchs und zugleich einen Ausblick auf den kommenden Verlauf des deutschen Kriegsdiskurses macht Elena Lange in ihrem Aufsatz Praktischer Geschichtsrevisionismus. Dieser war 2000 in der Zeitschrift testcard, die eine Ausgabe speziell dem Kosovo-Krieg widmete, erschienen. Wie der Titel andeutet, bezieht sich Lange im Unterschied zu Gritsch, Schwab-Trapp und Kutz auf die Debattenteilnahmen als willentliche und absichtsvolle Äußerungen. Lange beginnt ihren Artikel mit Kostproben verschiedener Verwendungen des historischen Vergleichswesens zu Zeiten des Kosovo-Einsatzes. Diese stammen etwa ›von oben‹ aus öffentlichen Stellungnahmen von Politikern, aus der Medienberichterstattung, aber auch ›von unten‹ z. B. aus Leserbriefen an Tageszeitungen.527 Lange stellt an ihnen heraus, dass die gängigen Vergleiche zwischen Kosovo-Konflikt und Zweiten Weltkrieg, Nationalsozialismus und Holocaust die aktuelle politischen Stellung Deutschlands gegenüber dem Kosovo oder Jugoslawien nicht erklären, und dass umgekehrt in ihnen nicht der Grund für die erneute Teilnahme Deutschlands in der militärischen Auseinandersetzung liegt. Stattdessen zieht Lange den Schluss, diese z. B. vergleichenden Reden als Legitimationen aufzufassen. Die Debattierenden drücken mittels Plausibilisierungen ihre Parteinahme und zwar für das gegenwärtige politische Vorgehen aus.528 Mit Blick auf den in Breite beobachteten Wandel der Legitimationen für ein in außenpolitischen Angelegenheiten wieder souverän agierendes Deutschland schlussfolgert Lange, dass die neuen politischen Verhältnisse nunmehr in einem Maße durchgesetzt und akzeptiert seien, dass zum einen solche offensichtlichen (›plakativen‹) Legitimationen eines z. B. ›neuen Auschwitz‹ sie nicht verunsichern, nur festigen. Zum anderen, so leitet Lange ferner ab, müsse »auf dieses Erfolgsrezept zur ideologischen Verteidigung des Krieges in Zukunft wahrscheinlich gar nicht mehr zurückgegriffen werden«, weil sich die praktische Parteinahme der öffentlichen und privaten Stimmen für die deutsche Politik »von selbst verstehen« werde.529 527 Für eine Sammlung solcher Wortlaute siehe: Hermann L. Gremliza: Mein Kriegstagebuch. 528 Schwab-Trapp beschäftigt sich auch mit dem praktischen Zusammenhang. Er schreibt über den Zusammenhang zwischen politischer Realität und einer nachgereichten Legitimation in der Debatte 1999 über den Kosovo-Krieg, dessen »besondere Bedeutung […] sowie die offensichtliche Tatsache« darin gelegen habe, »dass sich die Argumente für militärische Interventionen nahtlos mit einer politischen Praxis verbinden, die diese Argumente in politisches Handeln überführt«. Bei Schwab-Trapp wird der Zusammenhang zwischen politischer Praxis und Legitimation zunächst beschrieben, nicht erklärt, letztlich aber wird bei ihm das Verhältnis auf den Kopf gestellt; Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 291. 529 Elena Lange: Praktischer Geschichtsrevisionismus; S. 182.

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Mit diesem Ausblick von Lange ist Biskys Standpunkt einer begriffslosen, aber unerschütterlichen Parteinahme gewissermaßen wieder erklärend eingeholt: In dem Umfang, wie die gegenwärtigen politischen Verhältnisse von den Sprechenden als ›Realität‹ akzeptiert sind, produzieren sie als deren ›Parteigänger‹ keinen divergierenden Diskurs mehr. Insofern war der Verweis auf den Zweiten Weltkrieg 1999 noch ein solches Moment des fehlenden kompletten Einverständnisses – und zugleich nicht. Denn zum einen unterstellte er bereits die Parteinahme für den neuen, aktuellen deutschen Krieg, zum anderen entwickelte er auf dieser Grundlage eine eigene Selbstkritik, die sich zunehmend von der historischen Verbindlichkeit emanzipierte und schließlich sich selbst beauftragte, sie vollends zu verwerfen. (b)

Der theoretische Wandel in der praktischen Moral. Ende der Hypermoral der deutschen Nachkriegszeit

Kongenial zum pragmatischen ›Bruch‹ in den historischen Rechtfertigungsverfahren anlässlich des ersten deutschen aktiven Kriegseinsatzes nach 1945 unterzog man der Moral einer Revision. In dieser Debatte, die praktisch und argumentativ mit der Debatte um die historischen Legitimationsverfahren verflochten ist, ging es offenkundig um die moralische Stellung in der deutschen Nachkriegszeit. Jene Friedensmoral als konstituierendes politisches Ideal der beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften nach 1945 stand quer zur nach 1990 geltenden Politik des vereinten, wieder kriegspolitisch aktiven Deutschlands: die Nachkriegsmoral vermittelte einen Vorbehalt gegenüber den Verhältnissen nach der Nachkriegszeit, die es nicht mehr zu verhindern oder abzuschaffen, sondern denen es sich konstruktiv zu widmen galt. Die folgende Erörterung zielt wie die vorangegangene weniger darauf, nur festzustellen, dass es eine Revision der Moral im Zuge der deutschen Kriegsdebatten gab. Fokus dieses Unterkapitels soll vielmehr sein – in gebotener Kürze und exemplarisch – nachzuzeichnen, welche Argumente die Diskursteilnehmer überzeugten, dass der Wandel der, gegebenenfalls sogar selbst vertretenen, moralischen Standpunkte vernünftigerweise anstünde. Kutz gibt im Rahmen seiner Arbeit Öffentlichkeitsarbeit in Kriegen einen kurzen Abriss über das Verhältnis von Moral und Krieg. Ist darin schon Grundsätzliches über dieses ›Erfolgs-Paar‹ zu konstatieren, was den Verlauf der Kriegs-Debatte 1999 in Bezug zum Teildiskurs der Moral zu erklären hilft?: »Als Augustinus das Konzept des gerechten Krieges in der heute bekannten Form vordachte, war es ein Versuch, den Krieg einzuhegen. Und auch seine Wiederentdeckung nach dem Vietnamkrieg durch Michael Walzer und andere Autoren war noch von dem Gedanken beeinflusst, den Krieg einzuhegen und die Frage zu klären, ob Kriege unter moralischen Gesichtspunkten eigentlich noch führbar sind. Der Erfolg der

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Norm ist auch ihr Scheitern: Der gerechte Krieg hat sich von einem normativen Anspruch an Kriegführung zu einem berechenbaren Normenrahmen gewandelt, der nur noch eine Leitlinie zur medialen Rechtfertigung von Kriegsentscheidungen ist.«530

Der knappe referierende Nachvollzug der moralischen Auseinandersetzung mit Krieg seit Augustinus relativiert zunächst ein Verständnis, das der Moral durch ihr kritisches Verhältnis zu ihrem Gegenstand Krieg fälschlicherweise zugestanden worden sein mag: Moral und Krieg sind keine Gegensätze, waren es weder bei Augustinus, noch sind sie es heutzutage. Und das muss für das Ideelle wie Praktische festgehalten werden. Die Moral will nicht Krieg erklären. Sie will ihn, den sie bereits unterstellt, als »gerechten« und »einzuhegen[den]« bemessen. Ferner fragt sie wirklichkeitsnah wie -fern ungewollt rhetorisch, »ob Kriege unter moralischen Gesichtspunkten eigentlich noch führbar sind«. Die Erfolglosigkeit ihres Maßstabs ist der Moral kein Hindernis, sondern Lebenselixier, Kutz schreibt, der »Erfolg der Norm ist auch ihr Scheitern«. So gilt der Moral der unmoralische (und, müsste man sagen, auch der moralische) Krieg nicht als Beweis ihres Versagens, im Gegenteil hat sie im immerwährenden Verstoß ihre eigene Grundlage. Es ist die Sichtweise auf den Krieg, die diesen praktisch nie anficht, ihn aber unter der kritischen Spekulation einer Zustimmbarkeit annehmen könnte. Was Kutz als ›Norm‹ des moralischen Anspruchs an Krieg benennt, ist dabei ganz und ausschließlich ideell und daher von den Kriegsführenden gern als Möglichkeit des einvernehmlichen Blicks akzeptiert. Sie unterbreiten für ihre modernen Kriege selbst dergleichen Angebote, unter denen man diese als ›gerecht‹ betrachten könne.531 Insofern erscheint die Moral immer schon als praktische Moral, die sich der gegebenen Wirklichkeit in einer kritischen, darin aber deutlich immanenten, gewissermaßen anerkennenden Weise widmet. So kommt sie in diesem besonderen Fall mit dem Krieg in die Welt, blamiert weder diesen noch sich durch die erfolglose Kritik, sieht darin noch das Moment besonderer Geltung. So scheint die Frage nach der Reaktion der (Antikriegs-)Moral der Nachkriegsdeutschen auf den neuen deutschen Krieg einen Schluss nahezulegen: die Moral wird, ohne aufgegeben zu werden, an den aktuellen Verhältnissen konstruktiv-kritisch neu bemessen. Eberhard Rathgeb stellt in seinem Kompendium Die engagierte Nation das Bedürfnis nach moralischer Rechtfertigung noch einmal in den zeithistorischen deutschen Kontext. Rathgeb schreibt zur Nachkriegszeit, dass die öffentlichen 530 Magnus-Sebastian Kutz: Öffentlichkeitsarbeit in Kriegen; S. 282, Herv. S.H. 531 Das jedoch stößt Kutz auf, wenn er davon schreibt, dass diese Norm »nur noch eine Leitlinie zur medialen Rechtfertigung von Kriegsentscheidungen« sei. Hier ist er aus seinem Referat ausgeschert und vertritt nun, jedenfalls stilistisch, die Auffassung, dass die Moral dem Krieg gegenüberstehe; ebd.

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»Debatten über Krieg und Frieden« dazu dienten, »das moralische Denken aus dem gewohnten machtpolitischen Vakuum herauszuführen und zu politisieren«.532 Demnach forderten sie nicht die Abschaffung des »moralischen Denken[s]«, sondern dessen praktisch-relevante Politisierung. Ob und inwieweit das moralische Denken mit ihrer politischen Kritik sich der politischen Realität anempfehlen sollte, darüber geriet die bundesdeutsche Nachkriegsöffentlichkeit mit sich in Konflikt. Sie etablierte eine ›Streitkultur‹, die immer wieder die Frage, der sie sich auch bereitwillig annahm, aufwarf, ob Verpflichtendes aus der deutschen Geschichte abzuleiten sei oder ob man ›zeitgemäß‹ und ›erwachsen‹ werden sollte. So hat, abstrahiert von den einzelnen Positionen, die ›streitende Nation‹ diskursiv schon den Standpunkt eingenommen, moralisch Maß an den politischen Gegebenheiten zu nehmen. Was Rathgeb als Perspektive der »Krieg und Frieden«-Debatten der Nachkriegszeit bestimmt, wird – Entsprechendes lässt sich natürlich schon in Varianten in den Debatten vorangegangener Jahre beobachten – ausdrücklicher Problemgegenstand der 1999er Debatte zum Kosovo-Krieg: Die öffentliche Debatte 1999 reflektierte die deutsche Teilnahme am Krieg als Frage der praktischen Moral und das in vielerlei Weisen, Problematisierungen und Verlaufsformen, jedoch kaum als prinzipiellen Einwand gegen ihn. Die Verpflichtung der Moral auf die neue Politik, auf die sich die Vertreter der Moral bis vor kurzem negativ verpflichtet hatten – ›Nie wieder Krieg!‹ –, sahen sie mitnichten als Scheitern von Moral. Sie verstanden das Ja zum Krieg als moralische Herausforderung oder zumindest als moralisches Dilemma. Die Belastbarkeit der Moral zeigte sich in den Verlautbarungen wie folgt: von der emphatischen Begründung, Deutschland führe einen ›Krieg gegen das Morden‹533, über jene, die die Legitimität dieser Titel, etwa dass Deutschland bzw. die Nato im Kosovo einen ›Krieg für die Menschenrechte‹ führe, von nachgereichten Belegen für die tatsächliche ›humanitäre Katastrophe‹534 oder von dem Verlauf des Kriegs535 abhängig machten, bis hin zu jenen, die letzten Endes in Anbetracht des Kriegsverlaufs mit einsetzenden Massenfluchten, ›Kollateralschäden‹, der

532 Eberhard Rathgeb: Die engagierte Nation; S. 414f. 533 So lautet der Titel der Spiegel-Ausgabe 13/1999 anlässlich des beginnenden Kosovo-Kriegs. Spiegel-Herausgeber Augstein ist von der humanitären Absicht Deutschlands in diesem Krieg überzeugt. Er nimmt diesen guten Zweck also ernst und sieht ihn dermaßen im Kontrast zu dem Mittel, wie Frieden nämlich ganz widersinnig militärisch durchgesetzt werden sollte, dass er – vollkommen unironisch – vorschlägt, diesen humanitären Krieg solle Deutschland ohne Waffen führen; siehe: Rudolf Augstein: Was suchen wir. 534 O.V.: »Aus freier Überzeugung«; S. 25. 535 Vgl.: Gerhard Schröder u. Joschka Fischer : »Ich darf nicht wackeln«; S. 25; sowie: o. V.: »Aus freier Überzeugung«; S. 23.

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Zerstörung großer ziviler Bereiche im Kosovo wie in Serbien etc. am eigentlich guten Zweck des Kriegs festhielten.536 Ebenso wie die Debatte über die historischen Berufungen Zweiter Weltkrieg und Holocaust endet der ›Bruch‹ dieser moralischen ›Basiserzählung‹ nicht in der bloßen pragmatischen Neuausrichtung auf die aktuellen politischen Verhältnisse. Auch dieser Diskurs polemisiert aus sich heraus gegen die eigene Existenz und fordert, statt des Einverständnisses mit den Verhältnissen mittels Berufungstiteln das unmittelbare Einverständnis mit der ›Realität‹; dazu ein paar Beispiele: Hatte die Ausgabe 13/1999 des Spiegel den Kriegsbeginn noch zustimmend mit Krieg gegen das Morden kommentiert, so titelte das selbe Magazin einige Wochen später distanzierend Krieg für das gute Gewissen. Bombt die Nato in Jugoslawien als verlängerter Arm von Amnesty? Die moralische Rechtfertigung des Kriegs kritisiert es nun umfangreich; insbesondere widmet der Spiegel sich den deutschen Stellungnahmen: »Und die Debatte um den Krieg wird in Deutschland – womöglich wegen Erinnerung an eigene Schuld oder an die eigene Vertreibung – hitziger, engagierter und kontroverser geführt als in den meisten anderen Nato-Ländern. Leider auch unehrlicher und unhistorischer.«537

Der Spiegel kritisiert im Fortgang umfänglich, dass die moralische Rechtfertigung des Kosovo-Einsatzes durch die deutsche Politik eine »Instrumentalisierung« darstelle, die Plausibilisierungen »absurd« und »weit hergeholt« seien und es sich bei dem Fall einer »humanitären Intervention« um »eine Erfindung« handele.538 Die Behauptung, im Kosovo finde ein Krieg für die Menschenrechte statt, sei als Kriegsgrund unhaltbar. Was sich zu Beginn angeht wie eine prinzipielle Kritik legitimatorischer Verfahren, entwickelt sich im Fortgang des Artikels zu einer Stärkung genau dieser moralischen Perspektive. Die Differenz sieht der Artikel nicht im Verfahren der Legitimation, sondern im Grad seiner Verpflichtung auf die Maßstäbe gegebener Politik:

536 Exemplarisch sei hier Gritsch erwähnt, der einerseits eine wissenschaftliche Arbeit dieser Debatte und dem Problem der Inszenierung eines gerechten Kriegs? gewidmet hat, sich aber andererseits ganz undistanziert zum Gegenstand zeigt und sich in die Debatte ex post einmischt: Gritsch hält die ›moralische Legitimität‹ einer ›humanitären Intervention‹ aufrecht und begutachtet die Politik Deutschlands bzw. der Nato an diesem Ideal – das er, so führt er aus, in der Geschichte ohnehin nirgends vorfinden konnte; siehe: Kurt Gritsch: Inszenierung eines gerechten Kriegs?; S. 372–388. 537 O.V.: Krieg für das gute Gewissen. Bombt die Nato in Jugoslawien als verlängerter Arm von Amnesty? In: Der Spiegel, 17/1999; S. 32–38, hier S. 33, Herv. S.H. 538 Ebd.; S. 34f.

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»Von den Leiden der Kosovo-Flüchtlinge, die an den Grenzen Albaniens und Mazedoniens stranden, gibt es jetzt seit Wochen Tag für Tag erschütternde Bilder : […]. Bilder, die keiner vergessen kann – und die nach Aktion verlangen; nach einem ›gerechten Krieg‹, nach einem Sieg über das Unrecht, nach der Bestrafung der Schuldigen. […] Die Nato hat einen von christlichen Wertvorstellungen geprägten Kreuzzug begonnen, sie ist angetreten, Recht zu erzwingen (die Rückkehr der vertriebenen Albaner in das Kosovo), Unrecht zu sühnen (Milosevics Greueltaten). Aber ist ein gerechter Krieg auch gute Politik? ›Moralische Empörung allein kann kein Kompaß für internationale Beziehungen sein‹ […] Der Sieg sei die einzig wahre Rechtfertigung für den Krieg […] – gerade für diesen moralisch begründeten Waffengang trifft dieser Zynismus zu. Scheitert die Nato in ihrem ersten großen Krieg nach 50 Jahren, ist auch ihr Daseinszweck bedroht. […] Und was könnten die schlimmsten Folgen für die Bonner Kriegsführenden sein? Generalbundesanwalt Nehm hat eine – vorläufige – Hilfskonstruktion gefunden, mit der er die umstrittene Frage umgehen kann, ob der Nato-Einsatz zulässig ist.«539

Indem der Artikel die rhetorische Frage stellt, ob »[a]ber ein gerechter Krieg auch gute Politik« sei, und das Gegenteil (jenes kriegsmoralischen Paradigmas seit Augustinus) entsprechend bebildert, setzt er einen entscheidenden neuen Akzent. Die politische Lage wird zuerst mit den moralischen Kategorien von ›Schuldigen‹, ›Recht‹ und ›Unrecht‹ beschrieben und liefert alsdann die Begründung für das gerechtfertigte, notwendige Eingreifen des Westens. Als »Kompaß« für den Krieg selbst sei diese Moralität jedoch falsch und keine »gute Politik«. Hier gilt eingedenk der moralischen Grundlage der Erfolg als »einzig wahre Rechtfertigung«. Die gegebene Politik sei an ihren eigenen, geltenden Ansprüchen zu bemessen, ganz bei ihr sei jenes höhere Sollen angesiedelt, mit dem sie zu rechtfertigen und an dem sie allein zu kritisieren ist. Das moralische Denken müsse, wenn es konsequent ist, also die ideelle Distanz aufgeben und den Maßstab der Rechtmäßigkeit mit der bemessenen Politik identifizieren. Dementsprechend ist eine instrumentelle Verwendung von hiesiger Legalität und moralischer Legitimität als »Hilfskonstruktion« akzeptabel. Einige Monate nach der militärischen Nato-Intervention erschien mit dem Band Schluß mit der Moral das Kursbuch 136.540 Die darin versammelten Beiträge stellen einerseits den Versuch eines frühen und umfangreichen reflektierenden Blicks über die aktuelle deutsche Kosovo-Kriegs-Debatte dar, andererseits mischen sie sich damit noch explizit in die Debatte ein. Der Titel Schluß mit der Moral trifft, ebenso wie die Argumentation des oben bespro539 Ebd.; S. 37, Herv. S.H. 540 Karl Markus Michel u. a. (Hg.): Schluß mit der Moral. Berlin: Rowohlt 1999 (Kursbuch; Bd. 136); die im Folgenden erwähnten Titel entstammen allesamt diesem Band.

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chenen Spiegel-Artikels, nur zu einer Hälfte den Gegenstand. Moral ist in den sechzehn versammelten Aufsätzen Thema, ein Schlussstrich wird aber weder für die öffentliche Meinung konstatiert (im Gegenteil), noch wird er gezogen. Allein einer besonderen Moral der deutschen Nachkriegszeit wird die Absage erteilt. Die Beiträge etwa von Heinz D. Kittsteiner (Das Ende der Unschuld), Antonia Grunenberg (Das Scheitern der Moralisierung), Cora Stephan (Der Krieg um Gut und Böse) oder Otto Kallscheuer (Auf der Suche nach der letzten Instanz) widmen sich ausdrücklich der Nachkriegsmoral der Deutschen.541 Allesamt kritisieren sie dieses moralische Denken für das, was es nach den an ihm zur Geltung gebrachten gegenwärtigen Maßstäben nicht leistet. Die AutorInnen weisen dem ›Nachkriegsgewissen‹ nach, dass es sich bei dem, was bis in die Gegenwart als Lehre aus der deutschen Geschichte gelte, um eine ›unnormale‹ Art, eine ›Gewissens-Hochmut‹, eben eine ›Unart‹ der Moral handele, die nicht nur einer ›richtigen‹ Moral nicht gerecht werde, sondern ihren eigenen Absichten – wie im Beitrag von Bernd Ulrich, Der moralisierende Egoismus oder Die Schwachen, das sind die Stummen542 – zuwiderlaufe. An dieser Nachkriegs-Hypermoral mit ihrer ›militär-politischen Abstinenz‹ trotzdem festzuhalten, schade vor allem der Politik. So schreibt es etwa Kittsteiner in seinem Beitrag Das Ende der Unschuld, der den Band eröffnet.543 Der Philosoph Konrad Paul Liessmann macht in seinem Text Angewandte Ethik. Von realer Ohnmacht und imaginierter Freiheit auf den in der Kritik der ›Hypermoralität‹ unterstellten, eigentlichen Maßstab der Moral deutlich. Er macht es, indem er offensiv dafür appelliert, dass sich die Moral um ihrer Selbst willen zu den politischen Fragestellungen der Gegenwart nicht abweisend distanziert, sondern konstruktiv verhalte müsse.544 Cora Stephan schließlich kündigt in ihrem Beitrag Der Krieg um Gut und Böse den moralischen Diskurs ganz auf und kritisiert die moralische Rechtfertigung des Kriegs per se. Insofern die Moral nicht die Sache ist, die die Moral immerhin noch legitimieren muss, verschleiere sie etwa die Ratio der Politik. Für Stephan sei der Krieg allein dadurch, dass er stattfindet, zu rechtfertigen bzw. gerechtfertigt. Auch wenn die deutschen politischen Verhältnisse 1999 weder als Initial für diesen Band benannt werden noch als expliziter Gegenstand des Bands vor541 Heinz D. Kittsteiner : Das Ende der Unschuld. In: ebd.; S. 1–13; Antonia Grunenberg: Das Scheitern der Moralisierung. In: ebd.; S. 14–26; Cora Stephan: Der Krieg um Gut und Böse. In: ebd.; 27–35; Otto Kallscheuer : Auf der Suche nach der letzten Instanz. In: ebd.; S. 91– 102. 542 Bernd Ulrich: Der moralisierende Egoismus oder Die Schwachen, das sind die Stummen. In: ebd.; S. 143–153. 543 Siehe dazu insbesondere: Heinz D. Kittsteiner: Das Ende der Unschuld; S. 12. 544 Konrad Paul Liessmann: Angewandte Ethik. Von realer Ohnmacht und imaginierter Freiheit. In: ebd.; S. 121–129, siehe insbesondere S. 122–124.

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kommen – wie üblich verzichtet auch dieses Kurzbuch auf ein erklärendes Editorial – bietet er doch einen erheblichen ideellen Beitrag. Er vereinnahmt den Diskurs der Moral konstruktiv dafür, in der politischen Realität sein Maß zu suchen und das letzte ideell widerständige Moment in umfassende Parteinahme zu verwandeln. Der moral-politische Diskurs des Kriegsverbots ist in einen Diskurs des Realitätsgebots überführt.

4.1.5 Die Ansprüche der kritischen Öffentlichkeit gegenüber den deutschen Intellektuellen in der Debatte zum Kosovo-Krieg Mit dem ›Bruch dieser moralischen Erzählung‹ lösen die Autoren des Kursbuch ein, was gleichzeitig in der historischen Legitimation durchgesetzt wurde – die Öffentlichkeit vollzieht eine pragmatische Revision ihrer Rechtfertigungstitel, die keineswegs für das Verfahren selbst, aber für die speziellen Inhalte einen grundsätzlichen Standpunktwechsel bedeutete. Darüber hinaus aber formuliert die öffentliche Meinung eine Selbstkritik, die die letztliche Auflösung ihrer der Form nach noch kritischen und prüfenden Diskurse zugunsten eines unmittelbar der Realität verpflichteten Rechtfertigungsdiskurses fordert. Schließlich kommen die Intellektuellen und Schriftsteller selbst in den Blick der öffentlichen Debatte. Als ›Speerspitze und Repräsentanten des Geistes‹ wird von ihnen individuell und als Ganzes dieselbe Prüfung ihres freigeistigen, kritischen Selbstverständnisses abverlangt. Wie sich dieser Anspruch der Öffentlichkeit an ihre geistige Elite formulierte und wie diese wiederum darauf reagierte, sei im Folgenden beispielhaft erörtert. Reinhard Mohr veröffentlicht in den ersten Kriegswochen im Spiegel den Artikel Krieg der Köpfe. Darin konstatiert Mohr, dass es nun diesen Krieg Deutschlands gegen Serbien gibt – die »Intellektuellen aber schweigen«.545 Neben disparaten Äußerungen sei von ihnen nichts zu vernehmen: »Viel Ratlosigkeit und Erschrecken, Bekenntnisse innerer Zerrissenheit und ›brennender Seelen‹, zunächst fast wortlos«.546 Die Unsicherheit der Intellektuellen in der Sache des Kosovo-Einsatzes deutet Mohr als Beweis, es habe – der Über-Subjekte ›Zeit‹ und ›Verhältnisse‹ geschuldet – eine Wende stattgefunden: »Vorbei ist die Zeit, da sich Schriftsteller, Filmemacher und Künstler als die berufenen Experten fürs Allgemeine präsentieren konnten, als allzuständige Soziologen, Geostrategen, Zukunftsforscher und Hohepriester der Menschheit. [Es …] ist die Idee des 545 Reinhard Mohr : Krieg der Köpfe. Die Nato-Angriffe auf Jugoslawien verwirren die Geister. Die sonst so meinungsfreudigen Intellektuellen sind vornehmlich ratlos. Nur langsam entwickelt sich eine Debatte. In: Der Spiegel, 15/1999; S. 258–260, hier S. 258. 546 Ebd.; S. 258.

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allgemeinen, politisch engagierten Intellektuellen, der unbeirrbar und unentwegt den Fortschritt der Menschheit einklagt, an der Wirklichkeit zerschellt. Die Geschwindigkeit, in der sich die Verhältnisse ändern, überfordert nicht nur die Mehrheit der Bürger, sondern auch die intellektuelle Elite. Der Glaube an die Macht des Wortes ist gebrochen, und schmerzhaft wirkt die Irrtumsgeschichte der politischen Kämpfe dieses Jahrhunderts nach. Was bleibt, ist eine Mischung aus frisch vernarbtem Realismus, trotziger Resignation und polemischem Abwehrkampf. Unterdessen ist das Feld der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, nach den Zäsuren von 1989 und 1991, noch einmal umgepflügt worden.«547

Um deutlich zu machen, dass die ›Unbeirrbarkeit‹ der Intellektuellen nicht mehr zeitgemäß sei, konstruiert Mohr zunächst das Bild eines Intellektuellen, bei dem fragwürdig scheint, ob dieser so je tatsächlich zu finden war und der sich durch seinen hyperbolischen Charakter ohnehin selbst blamiert. Kein nachgewiesener Irrtum widerlegt den Intellektuellen oder sein Allwissen, widerlegt wird er allein mit der Wirklichkeit, an dem er »zerschellt«. Das ist, anders als es den ersten Anschein nimmt, keine inhaltliche oder theoretische, sondern eine praktische Kritik an den Intellektuellen. Denn Mohrs Ideal der Intellektuellen beweise sich an deren Erfolg. So schreibt er kurz darauf: »In großen Schüben sorgt die Lehrmeisterin namens Realität für Veränderungen des Bewußtseins, die noch vor wenigen Jahren als nackter Verrat an den eigenen Idealen gebrandmarkt worden wären.«548

Erfolg habe nur mehr der Intellektuelle, der sich mit seinen Idealen und seinem Selbstbewusstsein ganz der Realität, wie sie eben ist, anbequemt. So nimmt Mohr die restlichen Vertreter der »intellektuelle[n] Elite« in den Blick, deren »Glaube an die Macht des Wortes« immer noch ungebrochen sei und die sich mitnichten »überfordert« fühlten, weder von der »Wirklichkeit« noch von der »Geschwindigkeit« der Geschichte oder den »Verhältnissen«. All die praktischen Einwände gegen die ›lehrmeisterliche‹ Realität kritisiert Mohr als Verstoß gegen diese und identifiziert das Nichtentsprechen ganz als ihre verdächtige Identität: So bestehe nach Mohr der »linke[] Diskurs« mit seiner Kritik am Krieg »nur noch aus abgewetzten Stereotypen und speckigen Ressentiments«, man treffe auf »Berufszyniker« mit »altlinke[n] Klischees«, die die politische Wirklichkeit, indem sie doch darüber reden, eigentlich nicht wahrnähmen. Kriegsgegnerschaft sei »Realitätsblindheit, Verschwörungsdenken und bequeme Schuldzuweisung«.549 Hatte Mohr dem intellektuellen, linken Diskurs, der sich kritisch zu der 547 Ebd.; Herv. S.H. 548 Ebd.; S. 259. 549 Alle aus: ebd.; Herv. S.H.

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deutschen Teilnahme am Krieg verhielt und pazifistische Positionen vertrat, zunächst praktische Irrelevanz attestiert, so seien die kriegs-kritischen Intellektuellen nach Mohr plötzlich die eigentlich praktisch Verantwortlichen für Krieg und gar für Völkermord. Mohr zitiert den CDU-Politiker Heiner Geißler zustimmend, der Pazifismus »der dreißiger Jahre […,] der sich in der gesinnungsethischen Begründung nur wenig von dem unterschied, was wir in der Begründung des heutigen Pazifismus zur Kenntnis zu nehmen haben«, habe »Auschwitz erst möglich gemacht«.550 Mohr beendet seinen Artikel mit dem Vorschlag von der »Aufgabe für Intellektuelle«, die es »in dieser Zeit« bräuchte. Was dem Geist angeraten sei, ist dies: die Verhältnisse nicht erklären, sondern sich ihnen im Rahmen der politischen Realität konstruktiv widmen; Wahrheiten nur insofern anbieten, wie sie keine kritische Distanz oder Gegnerschaft zu der politischen Wirklichkeit formulieren; und nur solche Urteile fällen, die sich auf die gegebenen Entscheidungen der Politik verpflichten – allein darin nun ist die »Stimme« des Intellektuellen wichtig: »Wenn es in dieser Zeit also eine Aufgabe für Intellektuelle geben sollte, dann wäre es diese: den vertrackten wirklichen Verhältnissen eine Stimme verleihen, Wahrheiten suchen, auch wenn sie kein rundes Weltbild ergeben – und es sich beim Urteilen nicht leichter machen als jene Regierenden, die man kritisiert.«551

So endet Krieg der Köpfe mit dem Idealbild eines Intellektuellen, bei dem schwer noch die Differenz zu finden ist zu dem Apologeten der politischen Gegenwart eines nämlichen Kriegs. Und so findet Mohr in diesem Anspruch an die Intellektuellen und im Titel seines Texts – beabsichtigt oder nicht – sein fragwürdiges Pendant in der den Ersten Weltkrieg bejubelnden Schrift Krieg der Geister.552 Es sei erwähnt, dass Mohr seine Kritik an den Intellektuellen in anderen Artikeln fortführt und sie weiter an den politischen Diskurs zu binden versucht. Der Intellektuelle, so schreibt Mohr z. B. in seinem Artikel Verlust der Normalität, mache es sich in seiner kritischen Distanz zu einer deutschen Kriegsteilnahme – damit immerhin nicht einverstanden – zu einfach und sei damit ein 550 Heiner Geißler zitiert in: ebd.; S. 260. 551 Ebd.; S. 260. 552 Hermann Kellermann hatte kurz nach Kriegsbeginn 1915 im Weimarer Verlag Heimat und Welt den Band Der Krieg der Geister. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkriege 1914 herausgebracht. Die Anthologie versammelt Stimmen von Dichtern und Denkern, die den Krieg zwar nicht verursachten, aber den bevorstehenden und dann stattfindenden Krieg aus verschiedenen Gründen begrüßten. Nicht die Unvereinbarkeit von Literatur und Krieg, sondern der legitimatorische Dienst und die Dienstbarkeit der ›Geister‹ für den Krieg wurden mit diesem Buch hochgehoben. Reinhard Mohrs Bezug zu diesem historischen Vorläufer bzw. zu dem zur Redewendung geronnenen Buchtitel bleibt fraglich, weil unausgesprochen.

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Affront für den intellektuellen Verstand. Eine Distanznahme der Intellektuellen erscheine ihm darüber hinaus und ganz im Sinne der geistig-moralischen Zersetzung der »Heimatfront« als indirekte Kollaboration mit der serbischen Partei.553 Jörg Lau wendet sich mit seinem Artikel Die Verräter sind unter uns in der liberalen Zeit nur scheinbar gegen das, was Mohr so deutlich an den Intellektuellen einforderte. In seinem Beitrag, der den Untertitel Cohn-Bendit, Enzensberger, Fischer & Co: Sie kämpften für die Weltrevolution, nun verteidigen sie Grundgesetz, Unternehmertum oder Nato-Bomben trägt, diskutiert Lau die gegenwärtige Abkehr von den nachkriegsdeutschen linkspolitischen Standpunkten und zwar durch deren (ehemalige) Prominenz. Hatte auch schon Mohr ›die‹ Intellektuellen in dieser Abkehr bestimmt, geschah dies noch deutlich in Bezug auf den Dienst, den diese als Selbstverpflichtung der aktuellen Politik bzw. der ›Realität‹ leisten sollten; Lau hingegen identifiziert diesen Dienst nun als eigentliches Wesen der Intellektuellen. Lediglich ironisch im Ton gibt Lau zu Beginn seines Artikels eine aktuelle Lagebeschreibung; die Gegenwart zeitigt das Phänomen der linken »Verräter«: »Über Nacht hat sich die herrschende Lesart geändert, was aus der Geschichte zu lernen sei. Die Verbrechen der Deutschen, die noch vor wenigen Jahren die Nichtteilnahme der Bundeswehr am Krieg auf dem Balkan begründeten, dienen jetzt zur höheren moralischen Legitimation des Gegenteils: Deutsche Soldaten dürfen nicht fehlen, wo Vertreibung und Völkermord bekämpft werden. Die neue Lage ist schwer zu begreifen. Die bekanntesten Intellektuellen linksradikaler Vergangenheit zählen heute zu den entschiedensten Befürwortern des Nato-Angriffs […].«554

Der faktischen Abkehr von linken Positionen, wie z. B. der Kriegskritik, begegnet Lau mit Erstaunen. Er lässt die einzelnen »bekanntesten Intellektuellen linksradikaler Vergangenheit« ihre Entscheidungen aber nicht erklären, sondern sieht in der Formalie des Verlaufs, dass sie sich abgekehrt haben, den ausreichenden Grund. Von dieser abgelegenen Perspektive aus abstrahiert Lau zur wirksamen wie leeren Kategorie ›des‹ Abwendens. Im Abwenden, zunächst also gänzlich gleich, wovon und weswegen, sieht Lau nun die schlechthin intellektuelle Haltung. 553 Reinhard Mohr : Verlust der Normalität. Nach zwei Monaten Krieg gegen Milosevic wächst die Beklommenheit. Die Bomben auf Belgrad verändern auch die Moraldebatte der postmodernen Spaßgesellschaft. Wird das ethische Dilemma des Westens zur besten Waffe des serbischen Diktators? In: Der Spiegel, 21/1999; S. 120–125, hier S. 122. Mohr gesteht dem westlichen Bürger ein moralisches ›Dilemma‹ zu. Für Mohr gestaltet sich das Dilemma aber schon immer als Legitimationsfrage für eine gegebene politische Entscheidung. 554 Jörg Lau: Die Verräter sind unter uns. Cohn-Bendit, Enzensberger, Fischer & Co: Sie kämpften für die Weltrevolution, nun verteidigen sie Grundgesetz, Unternehmertum oder Nato-Bomben. In: Die Zeit, 22. 04. 1999.

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Enzensberger wird neben anderen als ein Beispiel eines prominenten wendereichen Werdegangs vorgestellt. Er wird als »total inkonsequent« gelobt und sein Werk darin bestimmt. So gilt Enzensberger wegen seiner Wendigkeit – und nicht wegen der dabei verlassenen und neu vertretenen Inhalte – als vorbildlicher Intellektueller wie umgekehrt angeblich deswegen den »vorsichtige[n] Naturen« seiner ehemaligen Mitstreiter von Links als »unerträglich«.555 Letztlich erklärt Lau doch noch, dass er sein Lob auf die redliche intellektuelle Wendigkeit keineswegs rein methodisch, etwa als Beliebigkeit und schon gar nicht als profanen Opportunismus verstanden haben will. Nämlich politisch besteht Lau auf einer Festlegung, bei der für ihn der methodische Schlagabtausch zwischen einerseits unbeweglichem Denken, aus »Gemeinplätzen« bestehender »Gemütlichkeit« und anderseits aus »Weiterdenken«, der »Fähigkeit zur Inkonsequenz« der sogenannten ›Renegaten‹ endet. Wahre Intellektualität gründet sich nämlich nicht auf die ›totale Inkonsequenz‹ gegenüber jedwedem Standpunkt, sondern einzig auf die Inkonsequenz gegenüber linken, kriegskritischen Positionen. Dass das Aufgeben von Standpunkten den Linken am besten stünde und ihnen die eine »Minimalbedingung der Klugheit« ermögliche, ist die Lehre, die Lau aus dem Beispiel ›Enzensberger‹ ableitet: »Und in einem Kommentar für die FAZ erledigte er [Enzensberger ; Anm. S.H.] in wenigen Sätzen den Versuch der friedensbewegten Linken, auch den Krieg gegen Serbien wieder nach bewährten Muster auf finstre Interessen des Weltkapitals und der USA zurückzuführen […]556. Er kennt sich aus mit linken Gemeinplätzen, und daß er sich von ihnen verabschiedet hat, macht ihn so unbeliebt bei den Anhängern der linken Gemütlichkeit, die ihm das Weiterdenken nun schon seit einer halben Ewigkeit empört als Verrat vorhalten. Dabei ließe sich an Enzensbergers Zickzack studieren, daß die Fähigkeit zur Inkonsequenz eine Minimalbedingung der Klugheit ist.«557

Gegen solche, anlässlich des Kosovo-Einsatzes 1999 formulierten Ansprüche an deutsche Intellektuelle und Schriftsteller wurden von ihnen selbst verschiedene, jedoch rare Einwände formuliert. Die Zurückweisung geschah, und das im mehrfachen Sinn, den Vorwürfen immanent. Verschiedene Intellektuelle bestritten jenen Kollegen, die sich bereits faktisch in die Legitimation des Kriegs eingefunden hatten oder dies künftig täten, die eigentliche geistig-intellektuelle Deutungshoheit, die sie sich als Kritiker aber bewahrt hätten. Und so sind die um ihre geistige Freiheit streitenden Intellektuellen bei den gleichen Verhältnissen, die sie lediglich konkurrierend, frei und konträr zum politischen Opportunis555 Ebd. 556 Gemeint ist der Artikel: Hans Magnus Enzensberger : Ein seltsamer Krieg. Zehn Auffälligkeiten aus der von Frank Schirrmacher anlässlich des Kosovo-Kriegs ins Leben gerufenen Reihe der Frankfurter Allgemeine Zeitung; ausführlich zu Enzensbergers Beitrag weiter unten, Kapitel 4.2.1 dieser Arbeit. 557 Jörg Lau: Die Verräter. Herv. i.O.

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mus ausdeuten. – An Willi Winklers Artikel Streben und sterben lassen und György Konr#ds Rede Warum reden nette, kluge Leute plötzlich Blödsinn? sei dies nachgezeichnet. Willi Winklers Artikel Streben und sterben lassen. Von deutscher Art und Kunst im Kriege erschien im Mai 1999 in der Süddeutschen Zeitung. Er reagiert darin auf mehrere jener Artikel, die wie der von Reinhard Mohr die Intellektuellen im ideellen Nachvollzug der politischen Wirklichkeit z. B. des aktuellen Kriegs bestimmte. Winkler wendet sich zum einen gegen diese so betriebene »Musterung«558 deutscher Schriftsteller. Zum anderen wendet er sich gegen das, was da eingemahnt wird und was die Schriftsteller mitunter gar auch ohne politische Direktive selbstbewusst bewerkstelligen; Auszüge aus Winklers Kritik: »Die Schriftsteller, sonst amtlich anerkannte Weicheier, tun am eifrigsten mit, wenn von Luftschlägen die Rede ist, von Vertreibung, Massaker, Genozid. Gern helfen sie, wenn der ›ruchlose Diktator‹ Milosevic noch ruchloser gemalt und der Krieg zum ›gerechten‹ verschönert werden muß. […] Das Wort hat sich bewaffnet seither und ist Gebrüll geworden. […] Krieg ist ein knäbisches Spiel für Politiker, die zuviel fernsehen. Aber müssen Schriftsteller deshalb unbedingt die Pressekonferenz nachbeten? Noch nie wurde so ergeben der Nato-Propaganda gelauscht.«559

Er resümiert: »Der deutsche Schriftsteller, um einen eigenen Gedanken verlegen und ferner der Macht denn je, macht sich wenigstens ihr erzenes Gedröhn zu eigen.«560

Winklers Ausgangspunkt sind Gemeinsamkeiten im Inhalt, die er erkannt hat zwischen dem, was die Politiker ins Werk gesetzt, und dem, was Schriftsteller dazu geäußert haben. Was genau er an dem Inhalt jedoch Kritikables findet, so dass er ein ›Nachbeten‹ untragbar und als Schande der Schriftstellerzunft bewertet, bleibt unbenannt. Die Kritik erwächst bei Winkler anders herum aus dem Standpunkt, dass Schriftsteller abstrakt, losgelöst von den Inhalten, agieren sollen. Nicht nur einen falschen Inhalt vertreten, sondern ihren autonomen Stand als Literaten aus den Augen verloren zu haben, macht sie zum problematischen Fall. Aus welchen Gründen das geschehen sein möge, ist bei Winkler sekundär, erscheint, ähnlich zweckfrei wie bei Politikern, die Krieg nur als Fortsetzung des TV-Programms mit anderen Mitteln betreiben, als eine Angelegenheit von rückgratlosen, unwilligen ›Weicheier‹-Charakteren. Was aus diesen sich in Politik mischenden Schriftstellern resultiert, sei demnach auch 558 Willi Winkler : Streben und sterben lassen. Von deutscher Art und Kunst im Kriege. In: Süddeutsche Zeitung, 07. 05. 1999. 559 Ebd. 560 Ebd.

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gänzlich un-literarisch und so gesehen der Debatte nicht wert: Bei ›eifrigem Mittun‹, beim ›Zuhilfegehen‹, ›Nachbeten‹ und ›ergebenen Ablauschen‹ mangelte es diesen Schriftstellern an allen Ecken und Enden an etwas Eigenem, sie ›verschönerten‹ allein ein vorgegebenes politisches Feindbild und sie produzierten statt »eine[s] eigenen Gedanken[s]« lediglich »Gebrüll«. Winkler sieht die Kritik am Anspruch der deutschen Öffentlichkeit gegenüber den Schriftstellern angesichts dieses Kriegs und die Kritik an der tatsächlichen Parteinahme mancher Schriftsteller für diese Politik bereits im Verweis auf die schriftstellerische Haltung geleistet. Dafür steht Karl Kraus Pate, auf den als prominentesten Vertreter einer Sprach- als Kriegskritik Winkler in seinem Artikel explizit und mehrfach Bezug nimmt. In Kraus’ Sinn ist das »Gebrüll« der Sprache mehr als Formkritik. Dieses sei vielmehr schon mit dem Inhalt der Un-Vernunft und der Abwesenheit des eigentlich zu vertretenen moral-politischen Urteils identifiziert – eine ideale Identifikation von Form und Inhalt, die sich bei Kraus wie Winkler nur negativ beweist. Von diesem also gerade durch Abwesenheit gestärkten Ideal der Sprache aus betrachtet Winkler dessen professionelle Statthalter und attestiert ihnen, da sie zu Parteigängern des Kriegs werden, nicht falsche Urteile als Intellektuelle, sondern den Verrat des Intellektuellen an der Sprache und am autonomen Geist. Auch György Konr#d, damaliger Präsident der Akademie der Künste, unterstellt dieses Ideal in seiner Kritik der Indienstnahme des intellektuellen Geistes für den Krieg. Der Titel seiner Rede Warum reden nette, kluge Leute plötzlich Blödsinn?561 verdeutlicht, dass er diesem Umstand jedoch noch ein ›Warum‹ abverlangt. Die Frage an das Ideal selbst gerichtet, bedeutet den entscheidenden Schritt hin zu einer eigenen Legitimation, die nämlich Krieg einschließt; wie das? Konr#d stellt zu Beginn ausdrücklich klar, dass er einem Nato-Bombardement nicht zugestimmt habe, für den Zweck ›humanitärer‹ Hilfe würden ihm effektivere, weniger widersprüchliche Methoden als das Bombardement einfallen. Dann kommt er auf seine Mitmenschen zu sprechen, die diesen Krieg aber rechtfertigen: »Wohin rudern wir auf dem Hochwasser der Rhetorik? Wohin hat sich die zuverlässige und luzide Argumentation verkrochen? Wie kommt es dazu, daß nette, kluge Leute plötzlich den größten Blödsinn von sich geben?«562

Er wundert sich, dass gerade Intellektuelle das befolgen, was die Politik als Urteil vorgibt: 561 György Konrad: Warum reden nette, kluge Leute plötzlich Blödsinn? In: Die Welt, 10. 05. 1999; Rede in gekürzter Fassung. 562 Ebd.

Kosovo, deutsche Diplomatie und Öffentlichkeit

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»Daß Menschen, deren Sache es ist, die Anweisungen ihrer Vorgesetzten auszuführen, so denken, ist klar. Daß Menschen, die nicht viel denken, so denken, ist ebenfalls klar. Doch daß Menschen, die von Berufs wegen denken, dennoch Bombenanhänger geworden sind, darüber wundern wir uns für gewöhnlich.«563

Konr#d schließt seine Rede: »Unsere Bomben sind Bumerange: Daheim haben sie das helle Gebäude der Begriffe und Werte zerstört. Wer gibt den Wörtern ihren Sinn zurück, sollte vielleicht wieder ein vorübergehender europäischer Frieden beginnen?«564

Konr#d begegnet der Kritik derer, die die militärischen Aktionen auf dem »Hochwasser der Rhetorik« legitimieren, selbst auf die Ebene des Geistes. Sie befürworteten den Krieg nicht etwa aus Gründen, die noch mit der Sache des Kriegs zu tun haben mögen, sondern allein aus Abwesenheit von Geist und von all dem, was Konr#d als dessen angemessene Verlaufsformen und Voraussetzungen versteht. So sei bei den Kriegsbefürwortern »größte[r] Blödsinn« vorstellig, er diagnostiziert bei ihnen »[verkrochene] zuverlässige und luzide Argumentation«, er sieht Menschen, die lediglich »Anweisungen […] aus[]führen« und »nicht viel denken«.565 Als Konr#d schließlich jene betrachtet, die »von Berufs wegen denken« und die »dennoch Bombenanhänger geworden sind«, kann er sich nur ›wundern‹.566 Am Ende gibt Konr#d eine Antwort auf seine Frage, wie Denkenkönnen und Kriegslegitimation für ihn doch zusammengehen: »Unsere Bomben« haben »daheim […] das helle Gebäude der Begriffe und Werte zerstört«.567 Demnach verhindere der existierende Krieg für sich ein vernünftiges Nachdenken über ihn und bewirke erst die Legitimation als geistige Bedingung für ihn. Zunächst widerlegt Konr#d den Zusammenhang zwischen bedingtem Denkvermögen und also Kriegsapologie selbst am besten, denn er kann diese verhängnisvolle Bedingung trotz existierender Bomben erkennen und ihr einen Begriff geben. Außerdem hat er zu Beginn des Artikels Zeugnis davon abgelegt, einen Einwand gegen die Nato-Intervention zu denken, sprachlich auszudrücken und außerdem auf verstehende Leser zu spekulieren. Jener Zusammenhang mutet außerdem tautologisch an (und Konr#d versinnbildlicht ihn wohl nicht

563 Ebd. 564 Ebd. 565 Konr#d spricht diese Formel auch positiv aus, wenn er von sich und seinen Kollegen redet. Ganz methodisch schlage sich der richtige Inhalt nieder: »Das ist ein Minimum, was von einem Schriftsteller erwartet werden kann, gespalten und paradox zu sein. Das ist unsere Aufgabe.« Ebd.; Herv. S.H. 566 Ebd.; Herv. S.H. 567 Ebd.

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grundlos mit »Bumerang«), insofern die Folgen in ihren Voraussetzungen aufgehen. Konr#ds theoretisch widersprüchliche Erklärung beweist in einem anderen Sinn aber ihre Produktivität und das nach zwei Seiten hin: zum einen immunisiert Konr#d sein kriegskritisches Urteil getrennt von der Sache des oder dieses Kriegs, indem das unkorrumpierte, kritische Urteil ›eigentlich‹ und also entgegen dem empirischen Eindruck durch Intellektuelle resp. Berufsdenker verbürgt sei und sie damit überhaupt die sittliche Instanz der Gesellschaft stellten; Kriegskritik erscheint somit quasi unanfechtbar ; zum anderen, und das sicher von ihm unbeabsichtigt, geht diese Selbstverteidigung mit einem Verständnis des Kriegs einher, zu dem kritisch zu stellen gar nicht mehr möglich ist, also dieser selbst in seiner Existenz unanfechtbar wird und darin zugleich gar seine Reproduktion zeitigt. Damit macht Konr#d in Reaktion auf die Anfeindungen der Öffentlichkeit und den offensichtlichen internen links-intellektuellen Zersetzungstendenzen einen grundsätzlich gerechtfertigten und weiterhin bestehenden Intellektuellendiskurs vorstellig. Dieser Diskurs existiert mit dem Selbstbewusstsein, autonom und frei zu sein, wenigstens potenziell. Zugleich aber und das beinahe programmatisch hat sich der Diskurs in die Sphäre des Ideellen verflüchtigt, von wo aus er auf die ›Realität‹, sei diese auch ein von ihm nicht vertretener Krieg, keinen Anspruch auf praktische Gültigkeit mehr erhebt – und den ehemaligen Streit für Frieden einem »vielleicht wieder« überantwortet. Zusammenfassend ist festzustellen: Winkler und Konr#d begegnen der Neubestimmung der Intellektuellen, sie hätten sich allein der politischen Realität zu verpflichten, in einer erstaunlichen Weise. Sie reagieren mit Selbstbehauptungen. Darin aber antizipieren sie die Maßstäbe ihrer Kritiker und liefern keine Gegenerklärungen, sondern negative Rechtfertigungen der ›Realität‹. Was sie dieser ›dummen‹ Realität und ihren ›dummen‹ Kritikern noch entgegenhalten, ist ein Selbstverständnis, das sich im Ideellen, das nichts mehr Reelles beansprucht, eingefunden hat und es als Selbstbewusstsein kritischer Haltung vorträgt. Insofern sind auch diese kritischen Intellektuellen Teil dessen geworden, wogegen sie sich im Geiste noch wenden mochten, nämlich als Kriegskritiker Teil der ›Kultur des Kriegs‹ zu sein.

Realität als Praxis, Sitte und Vernunft. Literarische Debatte und Literatur

4.2

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Realität als Praxis, Sitte und Vernunft – praktiziert und verfehlt. Die deutsche Teilnahme am Kosovo-Krieg als Gegenstand der literarischen Debatte und der Literatur

Entgegen der Diagnose Reinhard Mohrs, die Intellektuellen würden zur deutschen Teilnahme am Nato-Krieg in Restjugoslawien »aber schweigen«568, und entgegen der gegensätzlichen Auffassung, die Intellektuellen hätten alle Vorbehalte verloren und propagierten als ›Soldaten des Geistes‹ den Kosovo-Einsatz, kam es zu einer großen Zahl von Publikationen, in denen die Intellektuellen frei und mit eigenen Argumenten um die Frage nach Krieg und Frieden stritten. Diese Auseinandersetzung fand zum einen Teil, wie schon die Jahre davor, in mehreren Serien großer Tageszeitungen statt. Daneben gab es zum anderen Teil nun eine wachsende Zahl eigenständiger literarischer Veröffentlichungen. Robert Gernhardt verfasste 1997, als die Frage einer militärischen Disziplinierung Serbiens durch das westliche Ausland wegen des Kosovo noch im Raum stand, das Gedicht Einer schreibt der Berliner Republik etwas ins Stammbuch. In ihm dichtet er zu den bereits öffentlich zu vernehmenden Standpunkten: »Erstmal sind die Älteren nicht per se schon Täter. Erstmal heißt es: Macht erst mal, bilanziert wird später. Erstmal sind die Jüngeren nicht per se schon Richter. Erstmal schreckt das Kainsmal nicht älterer Gesichter. Erstmal müssen alle ran, Turnschuhe wie Krücken. Glückt’s nicht, sind wir alle dran, ergo muß es glücken.«569

Die Entlassung des Kriegsvorbehalts, der aus der Geschichte der »Älteren« resultierte, die Relativierung des nicht mehr ›schreckenden‹ moralischen Tötungsverbots und umgekehrt der wiederkehrende Verweis auf die verbindliche Realität der vereinten ›Berliner Republik‹, an dessen »Erstmal« sich jedermann und alles zu bemessen habe – zweierlei macht Gernhardts lyrisches Ich damit deutlich. Zunächst gibt er Auskunft über das neue politische Selbstverständnis Deutschlands nach 1990, dem die politisch prekäre Lage auf dem Balkan le568 Reinhard Mohr : Krieg der Köpfe; S. 258. 569 Robert Gernhardt: Einer schreibt der Berliner Republik etwas ins Stammbuch. In: ders.: Gesammelte Gedichte 1954–2006. Frankfurt/M.: Fischer 2008; S. 554. Zuerst erschien das Gedicht 2007 in Gernhardts Band Lichte Gedichte.

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diglich ›erstmal‹ den scheinbar willkommenen Anlass bietet, sich zu profilieren, Tatsachen zu schaffen und dabei jede weitere Beurteilung hintanzustellen. Frappant ist des Weiteren, dass Gernhardt in diesem Gedicht all die Diskurselemente aufgreift, die in der vorigen Analyse als die zentralen Streitpunkte in der deutschen öffentlichen Debatte zum Kosovo-Einsatz 1999 herausgestellt werden konnten. Gernhardts Gedicht erscheint als ein Einwand gegen die Politik der wiedervereinten, ›Berliner‹ Republik und zwar in Anbetracht der nicht mehr als relevant erachteten Legitimationstitel von Geschichte und Moral. Die Gliederung des folgenden Teils dieser Arbeit zeigt mit den Unterkapiteln des vorangegangenen Analysekapitels über den öffentlichen Diskurs eine deutliche Kongruenz. Das ist den Problemgegenständen der literarischen Texte selbst geschuldet. Denn scheinbar, Gernhardts Gedicht sollte dies knapp veranschaulichen, haben sich die Intellektuellen und Schriftsteller in ihren freien Bezugnahmen zum aktuellen Krieg mit den gegebenen (Teil-)Diskursen und ihren Gegenständen auseinandergesetzt. Es handelt sich dabei um die Debatte über die verbindliche, neue ›Realität‹ (4.2.1), über die ›neue‹ Moral (4.2.2) und über die (öffentliche vs. künstlerische) Sprache (4.2.3). Haben die Intellektuellen und Schriftsteller diese Punkte aber nur widergespiegelt, haben sie diese erweitert oder geprüft und gar verworfen? Die Unterkapitel, soviel methodischer Kommentar vorweg, sind der argumentativen Zuspitzung nach strukturiert – was der den Texten quasi logisch eingeschriebenen Zuspitzung folgt, jedoch nicht als notwendige Eskalation oder als Telos zu verstehen ist.

4.2.1 Der eigene Blick als ›Realität‹ des Kosovo-Kriegs Der politische und öffentliche Diskurs rang um diese seine (neue) ›Realität‹. Allein dass dieser Krieg stattfand, sollte ihn rechtfertigen und die unbedingte Verpflichtung auch des kritischen Geistes auf ihn belegen – ein, wie die Debatten zeigten, äußerst friktionsreicher Anspruch. Indem die Autoren sich nun selbst diesem Krieg als behaupteter Realität widmen, belegen sie – so die Hypothese – zweierlei: Erstens belegen sie einen deutlichen Zweifel an der für die Legitimation der Intervention behaupteten ›Realität‹; zweitens begegnen sie dieser Legitimation, gleich ob in offener Parteinahme für die Durchsetzung, ob im sinnenden Gedankenspiel oder ob in Prüfung seiner realen Grundlage, verständig und letztlich bestärkend. Sich der ›Realität‹ stets nur als Problem der Legitimation anzunehmen, darin sind diese Autoren engagiert, kritisch und investigativ.

Realität als Praxis, Sitte und Vernunft. Literarische Debatte und Literatur

(a)

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Das Gegenüber als subjektiv verbürgter Grund. Herta Müller: Die Entfesselung der Perversion (1999)

Herta Müller schreibt ihren Artikel Die Entfesselung der Perversion. Kein Verbrechen ist groß genug, um Diktatoren einsam zu machen570 anlässlich der Kritik an der Nato-Intervention, die sie im Westen wie in Serbien vernimmt. Er wurde in der Serie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht. Müller widmet sich der Kritik am Nato-Einsatz in den ersten Abschnitten auf bemerkenswerte Weise: Sie begegnet ihr mit der fehlenden Kritik am Kriegstreiben der serbischen Seite. Müller versichert den Kritikern zwar, dass sie genauso wenig daran glaube, dass das Nato-Bombardement von Serbien den Zweck verfolge, die serbischen Verantwortlichen des Kriegs zu beseitigen571, sie lässt dies jedoch nicht als Argument gegen ihren Umkehrschluss gelten: Eine Kritik am Bombardement sei illegitim, weil kein Krieg den Kosovaren erst recht nicht helfe. Entgegen ihren Kritikern verteidigt Müller das Bombardement dahingehend, dass dieses die Schuldigen und Aggressoren treffe – schuldig und aggressiv seien die Serben fraglos. Sie schreibt über das westliche Kriegsziel Serbien: »Wer in neun Jahren vier Kriege führt, wer so pragmatisch Friedhöfe macht, wie andere Straßen bauen, wer das Morden so gewohnt ist, wie ein Glas Wasser zu trinken, der ist durch Worte nicht zu erreichen und die Besuche angesehener Leute nicht wert. Auf jedes seiner Worte entfällt ein Mord. […] Die Belgrader Konstellation ist mir ein bis zum Überdruß bekanntes Muster : ein Psychopath als Diktator, sein Clan mit Ämtern und Beute versorgt, sein Apparat von Militär, Polizei und Geheimdienst mehrmals zur bedingungslosen Hörigkeit gesäubert, die Bevölkerung gefügig, die Opposition abseits, vom Versagen überfordert und in sich zerstritten.«572

Müller beendet ihren Artikel mit einem ausführlichen Blick auf die serbische Bevölkerung. Sie überlegt, was nötig wäre, damit Krieg verunmöglicht werde und endlich Frieden gelinge: »[… D]ie Oppositionellen [werden] noch härter an der Mentalität ihrer Bevölkerung, an diesem Gemisch aus autistischem Selbstmitleid und der damit einhergehenden Verrohung gegenüber anderen [arbeiten müssen]. Und an der Aufklärung werden sie arbeiten müssen, daß die Zerstückelung Jugoslawiens von diesem Gemisch verursacht wurde, nicht von fremden Mächten.«573 570 Herta Müller : Die Entfesselung der Perversion. Kein Verbrechen ist groß genug, um Diktatoren einsam zu machen. In: Frank Schirrmacher (Hg.): Der westliche Kreuzzug. 41 Positionen zum Kosovo-Krieg. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999; S. 137–144. 571 Ebd.; S. 138. 572 Ebd.; S. 139f., Herv. S.H. 573 Ebd.; S. 143, Herv. S.H.

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Milosevic und die serbischen Funktionäre werden von Müller nicht als Politiker dargestellt, sondern von solchen ausdrücklich abgegrenzt. Was als Krieg von Serben ins Werk gesetzt wurde, ist nicht das Ergebnis von Zwecken und Mitteln, sondern ist Werk eines Handelns, zu dem die Akteure in einem unfreien und pathologischen Verhältnis stehen: ein »Psychopath« der eine, die anderen »Schurken und Wirrköpfe«.574 Nicht mit »Worte[n]« und in »›Gespräche[n]‹«575 sei also Milosevic von dem abzubringen, was er unfrei als »Psychopath« und in profaner Gewohnheit, welches kein Maß außer sich hat, bewerkstelligt. Das Böse befrieden zu wollen, erscheint widersprüchlich und widernatürlich. Ein Bombardement erscheint alternativlos. Genauso sei die serbische Bevölkerung ein ›mentales‹ Abbild ihrer Repräsentanten, durch »autistisches Selbstmitleid« und »Verrohung« bestimmt. Die Bevölkerung ist nun alle politische Widerständigkeit fremd, die ihr im ersten Textausschnitt noch, um die Böswilligkeit Milosevics herauszustellen, zugutegehalten wurde. So verliert die Bevölkerung Serbiens unter dieser psychopathologischen Betrachtung alles, was Bevölkerung im Westen (etwa die angesprochene bundesdeutsche Öffentlichkeit) als politische Gemeinschaft charakterisiert, die im Falle des Kriegs als Mittel ihres Lands erst agitiert und grundsätzlich recht unabhängig von der individuellen Zustimmung in die praktische Pflicht genommen wird. Die Serben, so Müller, sind bereits ein Volk von ›Autisten‹ und ein wirres »Gemisch«. Auch sie scheinen der Vernunft unzugänglich insofern, als Müller sie zwar nicht gleich durch die physische Vernichtung mittels Bombardement, aber immerhin erst durch ihre geistige Umerziehung befriedet sieht. Am Ende hat Müller ein Bild dieses Kriegs als Resultat der »totale[n] Entfesselung der Perversion«576 und zwar der Serben insgesamt gezeichnet. Dafür bringt sie als letzten Beleg der Glaubwürdigkeit ihre ganz eigene Objektivität als Subjekt ein. Nicht als Relativierung, entgegengesetzt als Fundierung gibt sie kund, diese politische Pathologie »ist mir ein bis zum Überdruß bekanntes Muster«.577 574 Ebd.; S. 139f. 575 Diese ›Gespräche‹ sieht Müller als einzig andere, indes unrealistische Option zu den ›Bombardements‹: »Sowohl die serbischen Oppositionellen als auch die westlichen Gegner der Bombardements fordern statt Angriff ›Gespräche‹.« Ebd.; S. 139, Herv. S.H. 576 Ebd.; S. 142. Dieses Urteil, ›die‹ Serben verfolgten mit und in diesem Krieg keine Politik, sondern dieser sei allein Ausdruck ihrer »radikale[n] Bosheit« teilt die US-amerikanische Essayistin Susan Sontag. Ihr Artikel erschien in der gleichen FAZ-Reihe; Susan Sontag: Das einundzwanzigste Jahrhundert begann in Sarajevo. Von Italien aus gesehen: Keine Hoffnung auf ein schnelles Ende des Kosovo-Krieges. In: Frank Schirrmacher (Hg.): Der westliche Kreuzzug. 41 Positionen zum Kosovo-Krieg. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999; S. 64–73. 577 Herta Müller: Die Entfesselung; S. 140.

Realität als Praxis, Sitte und Vernunft. Literarische Debatte und Literatur

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Das Bild der ›entfesselten serbischen Perversion‹ dementiert dabei explizit jene Auffassung der Serben von sich – und wohl auch der Interventions-Kritiker –, die den Zerfall Jugoslawiens wie die folgenden Kriege mit einem auswärtigen politischen Interesse erklärt: Das aktuelle Geschehen, so Müller, ist »nicht von fremden Mächten [verursacht]«.578 Entgegen der schlechten Meinung der hiesigen Interventionskritiker reagiere demnach die Nato erst und lediglich auf eine Wirklichkeit, die dazu selbst den Auftrag gab: die Serben als negative ›Inkarnation‹ aller westlicher Ansprüche an sie. Insofern die serbische ›Realität‹ sich so darstelle, müsse sich auch die Moral an ihr relativieren. Wie auf die Entfesselung der Perversion zu reagieren ist, drückt der Untertitel insofern negativ aus: Kein Verbrechen ist groß genug, um Diktatoren einsam zu machen.

(b)

Das Gegenüber als objektiver Grund. Sibylle Berg: Sieben Tage Krieg (1999)

Sibylle Berg ist für ihre Reportage Sieben Tage Krieg im Auftrag der Zeitschrift Stern 1999 in das mazedonisch-kosovarische Grenzgebiet gereist. Bergs Text buchstabiert im Gegensatz zu Müller nicht die Absicht aus, kritische Leser mit Argumenten für die Intervention überzeugen zu wollen. Jedoch, allein dass Berg, um sich mit diesem Krieg auseinanderzusetzen, ins Kriegsgebiet fährt, mag eines unterstellen: Dieser Krieg ist scheinbar überhaupt nur durch das, als was er sich vor Ort darstellt, zu erklären, aus der Ferne, so zitiert Berg eine Zeitgenossin, »blickt ja keiner durch«.579 Und das ist bereits eine Antwort auf die Frage, die nur vermittelt gestellt wird und als einzige über der Reportage schwebt: Was ist der Krieg, dem man sich nun sieben repräsentative Tage und zwar vor Ort widmet? Die Reportage beginnt folgendermaßen: »Am ersten Tag sagt die Dame am Flughafen: Ach, Sie fahren da runter, ich mag die Berichte nicht mehr sehen. Da blickt ja keiner durch. Na ja, Krieg ist schon schlimm. Gott sei dank ist er weit weg.«580

Den Auftakt der Reportage macht eine Dame, die ihren Begriff des aktuellen Kriegs kundtut: Der sei schlimm und ›weit weg‹. Dem steht geradezu provokativ entgegen, dass die Dame gleichzeitig kundtut, dass sie ihn eigentlich nicht versteht und auch nichts wissen mag. Das Urteil ›schlimm‹ und die Entfernung vom Hiesigen erscheinen nun als Thesen über den Krieg, die Berg im Folgenden 578 Ebd., S. 143. 579 Sibylle Bergs Stern–Reportage ist später im Band Gold erschienen; Sibylle Berg: Sieben Tag Krieg. In: Gold. Hamburg: Hoffmann und Campe 2000; S. 187–195, hier S. 187. 580 Ebd.

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und zwar nicht aus der Ferne, sondern in unmittelbarer Konfrontation mit der Lage zu prüfen angeht. Dass Berg im Folgenden von der Sachlage und nicht von ihrem eigenen subjektiven, voreingenommenen Blick berichtet, verdeutlicht bereits die Wahl ihres Textgenres. Diesen Eindruck verstärkt sie auf mehreren Ebenen, implizit und explizit: Berg betont direkte Unmittelbarkeit durch das grammatische Präsens, vermeidet Inquit-Formulierungen zu ihrer Person, sie benutzt stichpunktartige Syntagmen und Authentizität vermittelnde Ellipsen, sie ordnet den Text dem Geschehen nach chronologisch, Geschlossenheit des Geschehens wird neben der Dichte der Informationen u. a. auch durch das Auslassen von Zitationszeichen evoziert, Informationen werden ihr ohne (ausdrückliche) Nachfrage mitgeteilt, ihr Blick bietet ein gesellschaftliches Panorama, beschäftigt sich mit allen Parteien vor Ort. – Im Stil ist Berg also sachlich, unmittelbar, unparteiisch, allumfassend und ausgewogen; sie erscheint passiv, lediglich als Medium. Berg reflektiert dieses Medium-Sein. Ihre unmittelbare Wahrnehmung des Kriegs genüge dem Anspruch auf Authentizität besser als die klassischen Bildund Ton-Medien. Zu Beginn der Reportage stellt sie ihr Erleben mit ›allen Sinnen‹ den um diese Sinne reduzierten technischen Medien gegenüber : »Es ist anders als im Fernsehen, das Lager. Man riecht es, man hört es und schaut ihnen in die Augen, den 40 000 Menschen hinter Barrieren, die drängen zur Freiheit, zu den Bussen, wo die Journalisten beobachten, filmen, fotografieren, in Mikrofone reden, in Telefone.«581

In einzelnen Punkten, wenn sich Berg sichtlich als Subjekt dieser Beobachtungen deutlich zu erkennen gibt, unterminiert dies keineswegs ihre Glaubwürdigkeit. Wenn Berg etwa eine Journalistenkollegin mit einer »gutfrisierten Wurst«582 gleichsetzt, beweist sie damit umgekehrt ihre besonders präzise Beobachtung und Bildfindung, die sich ganz in den Dienst stellt, den Gegenstand zu vermitteln. Im Stil und Selbstbewusstsein des Sichtbaren und Erlebten verpflichtet, sind Bergs sieben Tage damit gefüllt, an den verschiedensten Orten mit einer großen Zahl Einheimischer und Stationierter in Kontakt zu kommen und davon Bericht zu geben, einige Beispiele dazu. Zunächst eine Beschreibung des kosovarischen Flüchtlingselends im Auffanglager Blace: »Doch schon wieder Gewehre, schon wieder Soldaten. Sie prügeln ein auf Menschen, die aus dem Lager wollen, in einen Bus, wo vielleicht der Mann sitzt, die Schwester, das Kind. Die mazedonischen Soldaten schauen zu, wie Menschen fast zerdrückt werden. 581 Ebd.; S. 187f. 582 Ebd.; S. 188.

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Frauen in Ohnmacht fallen, hören, wie Kinder schreien. Viele haben hohes Fieber, es ist verdammt kalt. [… Ein junger Soldat] sieht angewidert auf das Schlammloch und rückt seine Maske zurecht. Als eine alte Frau über die Absperrung klettert, stößt er sie zurück. Schlägt noch mal nach. Egal, daß es seine Mutter sein könnte, bei der er vermutlich noch wohnt.«583

Nato-Soldaten werden u. a. so geschildert: »Neben dem Auffanglager Blace hat die Nato ein Camp eingerichtet. […] Freude regt sich, über die Deutschen, die Europäer, die sich so oft selber ihrer Eigenschaften schämen, die hier so nützlich sind, die den Albanern das Gefühl von Sicherheit geben. […] Am vierten Tag treffen wir in dem albanischen Dorf Studencani nahe Skopje den Berater des Vorsitzenden der Albanischen Partei und des Bürgermeisters. […] Er zeigt uns ein kleines Haus, in dem 30 Vertriebene wohnen, die uns danken für die Hilfe der Nato.«584

Bei einem Tagestrip trifft Berg auf Serben: »Das serbische Dorf Kuceviste nahe dem Lage Blace scheint aus Staub und Müll gebaut. Vor dem Kiosk auf einer Bank sitzen ein paar Männer, die aussehen, als seien sie betrunken. Mißtrauisch beobachten sie uns, spucken auf den Boden. Der Fehler ist, sich als Journalist zu erkennen zu geben. Der größere Fehler ist zu sagen, daß wir deutsche Journalisten sind. Die Männer schreien. Daß die Deutschen Nazi-Schweine sind, daß die Serben die Opfer sind, daß die Nato an allem schuld ist, daß das Kosovo den Serben gehört. Nach einer halben Stunde kommt ein kleiner Junge mit dem Bild von Milosevic. Die Männer lachen. […] Zigaretten werden getauscht. Ein Moment Ruhe, in den ein Auto rast. Ein junger Mann mit kahlrasiertem Schädel springt heraus: Wo sind die Deutschen, schreit er, und in Sekunden sind wir umringt von brüllenden Serben. Die Kinder fangen an, schubsen und stoßen, die Frauen stehen daneben und lachen, als ein dicker Mann mir auf die Stirn schlägt und schreit: Schaut euch die Nato-Hure nochmal an, gleich wird sie im Wasser treiben, den Bauch gebläht. Unser Fahrer versucht zu beruhigen, […] Für eine Minute sind die Männer des Schreiens müde, wir beeilen uns. Dragan [der Fahrer ; Anm. S.H.] ist beschämt. Die Serben sind nicht so, sagt er. Daß die serbische Mentalität uns so fremd ist, dieses unverständliche Gefühl von Rache, Blut, Boden und Religion, macht, daß wir glauben, der Balkan sei in einer anderen Welt.«585

Das Gesehene wird sachlich wiedergegeben, hat dabei jedoch eine erstaunliche Bestimmung erfahren. Die Menschen, die ihr in den Blick kommen, treten ausschließlich als Vertreter der Gruppe in Erscheinung, der sie politisch angehören oder auf die sie verpflichtet sind: Die Kosovaren werden als Flüchtlinge in prekärer Situation beschrieben, die Mazedonier als missmutige, zu Hilfsdiens583 Ebd. 584 Ebd.; S. 191f., Herv. S.H. 585 Ebd.; S. 190f., Herv. S.H.

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ten Klassifizierte, die Nato-Soldaten als hilfsbereite und nützliche Zeitgenossen, und schließlich die Serben als aggressive Nachbarn. Dabei gehen die Beschreibungen über die bloße Benennung der politischen Zugehörigkeiten hinaus. Die Menschen erscheinen nicht als Angehörige eines Gemeinwesens oder einer Institution, die sie gegebenenfalls als Charaktermasken vor sich hertragen. Als wahrhaftige politische Synekdoche und Kollektivsingular ist der Kosovare Flüchtling, so wie der Mazedonier von unleidlicher Natur ist, der Nato-Soldat Helfer ist und der Serbe Täter ist586 – und alle zeitigen so, mit ihren beobachteten Nationalcharakteren mehr zu sein als die Resultate einer erfolgreichen Politisierung der Verhältnisse: Sie selbst sind der Grund für diese Verhältnisse. Die Einwände von Bergs Reisebegleiter Dragan bieten für diesen Gedanken eine eigene Evidenz. Denn als stolzer Serbe, als der er in anderen Tagen Berg gegenübertritt, dementiert er nur den spezifischen Inhalt der »serbischen Mentalität«, nicht aber diese selbst. In den Berg vor Augen tretenden Charakteren gibt es noch ein entscheidendes Moment, das zum einen gegen die Auffassung, hier trügen die Betroffenen ihr erfahrenes Schicksal als eigenes Selbstbild zur Schau, und zum anderen für den doch interessierten Blick Bergs und zwar als Beobachterin aus dem Westen steht. Denn was die Kosovaren, die Nato-Soldaten, Mazedonier und die Serben auszeichnet, ist widersprüchlich, aber genau mit dem kongruent, wie die westliche Politik auf diese Parteien blickt. Denn kaum beliebt dem Kosovare sein Opfer-, noch dem Serbe sein Bösesein. Es sind die an ihnen angestellten Bewertungen, die sie nun verkörpern. Somit präsentiert sich Berg ein Krieg, in dem dieser sich Plausibilität gibt – und zwar die westliche Plausibilität. Der Krieg wie die Parteien in ihm erscheinen im Verweis auf das Sichtbare wohl begründet und jedem Zweifel entzogen, er ist nicht nur, sondern fordert die Parteinahme für die Kosovaren und gegen die Serben. Berg bietet indes eine weitere, umfassendere ›Realität‹ dieses Kriegs an. Diese steht mitnichten gegen diese Legitimation des westlichen Blicks auf ihn, sondern subsumiert ihn. Das Bild dieser Politik wird in ein Menschenbild überführt. Dieses konnte Berg ebenso wenig von den Geschehnissen und ihren Akteuren

586 Ohnehin schon politisch als (unverträgliche) Nationalseele bestimmt, füllt die Reportage das politische Bild ›der Serben‹ mit aktuellen, politischen Spezifika. Demnach sind die Serben sich in der Feindschaft zur Nato absolut einig und handeln entsprechend (vgl. ebd.; S. 190, 193). Sie selbst füllen ihr politisches Wesen positiv, indem sie »Wir geben das Kosovo nicht auf« proklamieren bzw. dass das »Kosovo den Serben gehört« und schließlich dieses Nichtaufgeben mit dem noch zu leistenden Projekt »Saubermachen« umschreiben (ebd.; S. 193).

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ableiten und allenthalben als ihr fertiges Wissen an ihnen vergegenwärtigen.587 So wie Berg die politischen Bestimmungen an den ›Menschen‹ bereits als ihre natürliche Bestimmung annimmt – »Zwei Millionen Menschen leben in Mazedonien. Albaner, Serben, Türken, Bulgaren, Zigeuner […].«588 –, versteht sie deren »fragile[s] Gleichgewicht«589 als Schicksal. Krieg ist kein politischer Sachverhalt, sondern ein widersprüchlich abstraktes Verhältnis des Menschen zu sich: »Feind ist, was man selber nicht ist«590, und »kein Mensch mag, was anders ist als er«.591 Dies im Blick revidiert Berg das Urteil jener Dame, auf die sie beim Hinflug getroffen war. Der Krieg im Kosovo mag ›weit weg‹ sein, Krieg an sich ist jedoch die eigentliche, echte Realität, eine conditio humana: »Viele [westliche Journalisten; S.H.] berichten seit Jahren nur über Kriege. Sie können nicht mehr anders, denn nach einem Krieg kommt einem das normale Leben langweilig und unecht vor, denn das, was in einem Krieg geschieht, ist, was Menschen in sich tragen, verdeckt, was ausbricht und zu einer Lautstärke führt, die alles andere als zu leise erscheinen läßt.«592

So endet Bergs Reportage mit der umfassendsten Rechtfertigung des Kriegs – im Speziellen wie Allgemeinen. In Jugoslawien werde ein Krieg und dieser mit all seinen besonderen Schuld- und Opferfragen vorstellig, ein Krieg, der allein einer Realität geschuldet ist, die da ›Mensch‹ heißt.593 587 Es sei hier an Otmar Jenners Reportage Mörderischer Druck erinnert. In dieser musste das erklärende Menschlich-Allgemeine von Jenner ästhetisch und von anderen Figuren im Zitat an das Geschehen auf dem Balkan herangetragen werden; Kap. 2.2.1 dieser Arbeit. 588 Ebd.; S. 189, Herv. S.H. 589 Ebd. 590 Ebd. 591 Ebd.; Herv. S.H. 592 Ebd.; S. 194, Herv. S.H. Am Ende der Reportage wird dies als prekäre Szenerie vorstellig gemacht und damit das ›weit weg‹ deutlich zurückgewiesen: »Am siebten Tag wird ein mazedonischer Grenzer von Serben erschossen, Rußland ist nervös, die Amerikaner sind nervös. Die Chinesen sind sowieso nervös. Die Jungs bei der Nato haben Angst. Das Kosovo ist zwei Stunden entfernt. Die Dame am Flughafen, es ist eine andere, sagt: Ach, Sie waren da unten. Ich kann die ganzen Berichte nicht mehr sehen. Gott sei dank ist das alles weit weg«; ebd.; S. 195. 593 Niels Werber schreibt in seinem Aufsatz Vom Glück im Kampfe, dass Bergs Thematisierung des Authentischen keineswegs – wie etwa bei Karl Kraus – ironisch gemeint sei. Im Analogieverfahren bestimmt er Bergs Haltung und zwar mittels Kraus’ Figur der ihm verhassten Frontreporterin Schalek aus Die letzten Tage der Menschheit: »Im Gegensatz zu Sibylle Berg […] führt Karl Kraus jedoch vor, daß auch dieses ›Erleben‹ keinesfalls authentisch ist, sondern von der Schalek nur das beobachtet und beschrieben werden kann, was sich in die Skripte des, wie sie selbst sagt, ›eingelernten Theaterstücks‹ der Schlacht fügt […].« – Das »nur das […] beschrieben werden kann«, was schon geschrieben steht, stünde indes zur Diskussion. Werber redet im Lichte von Kraus’ Sprachkritik. Berg aber schreibt, und das sowohl stilistisch konsistent wie expressis verbis nicht relativiert, als Medium

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Hat Müller den Grund für die Nato-Intervention noch mit dem Nachweis plausibilisiert, dass den Serben eine ›perverse‹ Wesenheit eigen sei, und hatte sie dieses Urteil noch mit ihrer Person und Biografie verbürgt, so hat sich Bergs Text von diesem Gegenüber, das den Grund der Intervention quasi verkörpere, ein Stück weit emanzipiert und geradezu in eine Gattungsfrage überhöht – ohne dass damit die Rechtfertigung des Kampfeinsatzes bezweifelt wäre. Denn auch hiermit tritt die beobachtete Welt als Spiegel des Westens und als Auftrag an ihn vor Augen; der Begründungszusammenhang für dasselbe Resultat ist indes freier, im gewissen Sinn willkürlicher und prekärer angelegt.

(c)

Das fragliche Gegenüber als Grund. Frank Schirrmacher: Der westliche Kreuzzug (1999)

Laut Gritschs Analyse der 1999er Debatte war die Artikelserie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit ihren 62 Beiträgen am umfangreichsten und von den Beitragenden am internationalsten; nach den Worten des Initiators Frank Schirrmacher wirkte sie darüber hinaus in der ausländischen Rezeption am nachhaltigsten.594 In dieser Serie, deren meisten Beiträge zeitnah als Buch unter dem Titel Der westliche Kreuzzug. 41 Positionen zum Kosovo-Krieg veröffentlicht wurden, bildeten Schriftsteller die mit Abstand größte Gruppe. Schirrmacher hat dem Sammelband ein Vorwort vorangestellt. Dieses mag ex post die (quasi) diskursive Erwartung an die Reihenbeiträge und das diskursive Selbstverständnis herausstellen. Wegen der besonderen Bezugnahme des Vorworts zum Gegenstand des Kosovo-Kriegs als ›Realität‹ sei er hier zwischen den Beiträgen der Literaten eingeschoben. Nachdem Schirrmacher zu Beginn des Vorworts konstatiert, dass sich die AutorInnen in ihren Beiträgen zum Kosovo-Einsatz eigentlich weniger mit diesem selbst als – »weit über den Anlaß hinaus« – mit dessen »Folgen« als »fundamentale Frage nach der Zukunft Europas« beschäftigten595 und somit also eine offene und konstruktive Perspektive auf den aktuellen Krieg pflegen, bezieht sich Schirrmacher noch einmal gesondert und explizit auf den Klärungsauthentischen Erlebens. Dass die Identität des Kriegs 1999 in Jugoslawien und des Kriegs allgemein nicht erlebbar ist, wie Berg indirekt wie direkt schreibt, müsste anders, nicht mit Kraus, beurteilt werden. In: Niels Werber : Vom Glück im Kampfe. Krieg und Terror in der Popkultur. Unter : http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/niels.werber/Antrittsvorlesung. htm; abgerufen 05. 04. 2016; Herv. S.H. 594 Gritsch führt die Liste aller in der FAZ veröffentlichten Beiträge und ihr akkurates Veröffentlichungsdatum auf, Angaben, die dem originalen Band von Frank Schirrmacher fehlen; Kurt Gritsch: Inszenierung eines gerechten Krieges?; S. 50f. u. S. 56–61. 595 Frank Schirrmacher: Vorwort. In: ders. (Hg.): Der westliche Kreuzzug. 41 Positionen zum Kosovo-Krieg. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999; S. 9, Herv. S.H.

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anspruch, den die versammelten Texte gegenüber dem bereist historischen Krieg verfolgt hätten: »Die Texte, die hier gedruckt werden, sind vieles: Analyse und Beschwörung, Pamphlet und Gebet, Selbstgespräch und Volksansprache. […] Der Leser wird merken, wie dank der Internationalität des Gedankenaustauschs in den Aufsätzen Nebenlininien [sic], die am Anfang noch unbedeutend waren, in den Mittelpunkt rücken, und Hauptmotiv des Anfangs zu Nebenaspekten des chronologischen fortschreitenden Diskurses werden. Hier, in diesem Auftauchen und Verschwinden von Motiven, läßt sich der Lernprozeß ablesen, den die Autoren mit jedem weiteren Tag des Krieges durchgemacht haben und für den ihnen das letzte Wort fehlt. Das teilt auch dieser Band nicht mit.«596

Diese Zusammenfassung lässt aufmerken: Das Nebeneinander von Analyse, Gebet usw. zeigt, dass von den einzelnen Beiträgen, entgegen der programmatischen Auskunft Schirrmachers, weder die Degradierung oder die Karriere einzelner Argumente, noch der Verzicht auf das »letzte Wort« unbedingt als deren Anliegen ausgegangen sein mag. Denn offensichtlich formulierten sie ja eigene Positionen, argumentierten für sie und das auch gegen andere. Die Selbstbegrenzung also erscheint erst Resultat des abstrahierenden Blicks auf die Summe der Beiträge. Genauso ist es erst einem den Texten externen Standpunkt zu verdanken, sie alle gleichermaßen als Teile eines immerwährenden »Lernproze[sses]« zu subsumieren. Die Relativierung aller Arten von eindeutigen Urteilen durch ihr editorisches Nebeneinander erinnert an Willi Winklers Serie Europa im Krieg aus dem Jahr 1992. Wollte Schirrmacher mit dem Band »das letzte Wort« nicht mitteilen, hatte Winkler die durch ihn betreuten Artikel gegen einen Anspruch, sie wären auf »Rechthaberei« aus, verteidigt.597 Dies verstanden weder Winkler noch Schirrmacher als Mangel. In der Tat verstehen sie den Mangel an Erklärung als Erklärung. In dieser Selbstreflexion besteht der »Lernprozeß«: Der Jugoslawienkrieg ist für Winkler eine ›dubiose‹ Wirklichkeit gewesen, für Schirrmacher ist er wegen der Vielzahl sich widersprechender Erklärungen eine »merkwürdige« Wirklichkeit. Solche prekären Erklärungen sind jedoch produktiv : Den Krieg und den Kriegseinsatz als Wirklichkeit einerseits praktisch zu unterstellen, an ihnen aber andererseits jeden theoretisch-erklärenden Zugang blamiert zu sehen, ist eine Rechtfertigung dieser Wirklichkeit und zwar nicht mehr in Verweis auf einen Inhalt – eines speziellen Gegenübers zum Beispiel –, sondern in methodischer Weise, die den Inhalt nicht weniger vereinnahmt: Diese Art der Legitimation gibt der Wirklichkeit eine Gültigkeit, der schon im Denken nicht beizukommen 596 Ebd.; S. 9–10. 597 Willi Winkler : Vorwort; S. 9. Siehe auch Kapitel 1.2.1 dieser Arbeit.

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sei, und gibt dabei jenen die untheoretische Erklärungshoheit, die die praktischen Mittel besitzen, avant la lettre Wirklichkeit zu gestalten. In Absehung dieses interpretierenden Blicks auf die Einzelbeiträge der Serie Der westliche Kreuzzug durch ihren Herausgeber Schirrmacher – und ebenso in Absehung der gleichsam fraglichen Abstraktion bei Gritsch, der die Autoren und insbesondere Schriftsteller an einem idealistischen Wesen bemisst598 – bieten die Beiträge eigene Sichtweisen auf ihren Gegenstand, den Krieg im Kosovo und das ausländische bzw. deutsche militärische Engagement in ihm. Oben wurde bereits Herta Müllers Beitrag Die Entfesselung der Perversion besprochen; folgend geht es nun um Hans Magnus Enzensbergers Ein seltsamer Krieg. Zehn Auffälligkeiten.

(d)

Das Fragliche als Grund. Hans Magnus Enzensberger: Ein seltsamer Krieg. Zehn Auffälligkeiten (1999)

Hans Magnus Enzensberger macht mit seinem Beitrag Ein seltsamer Krieg. Zehn Auffälligkeiten599 einen entscheidenden Schritt hin zur Fundamentalisierung des Legitimationtitels ›Realität‹. Zehn Punkte widmet Enzensberger dem Krieg im Kosovo und dabei insbesondere dem westlichen Beitrag zu ihm. In jedem einzelnen soll die ›Seltsamkeit‹ dieser Realität anschaulich gemacht werden. Inwiefern das Resultat ›seltsam‹ keine Polemik gegen eine Erklärung ist, sondern Enzensberger als Erklärung genügt, sei im Folgenden erörtert. Dazu zunächst eine Auswahl seiner zehn Punkte: »1. Die klassischen Kriegsgründe sind: Eroberung, geostrategische Interessen, Kampf um Handelsrouten, Absatzmärkte und Rohstoffverkommen. Keiner dieser Gründe spielt bei dem gegenwärtigen Konflikt eine Rolle. Daher das ungläubige Rätselraten über die Motive des Westens. […] Ein Krieg aus humanitären Gründen erscheint den Skeptikern unvorstellbar, doch ihre Suche nach bösen amerikanischen Hintergedanken hat bisher keine Früchte getragen. […] 2. Zugleich ist die bizarre Idee aufgetaucht, man könne Krieg führen, ohne daß Tote zu beklagen wären. Auch das hat es noch nie gegeben. Ein solcher Gedanke kann nur in friedensverwöhnten Wohlstandsgesellschaften Fuß fassen, die sich vor allen Zumutungen der Geschichte gefeit wähnen. Neu ist auch die Regel, daß die Zivilbevölkerung geschont werden muß. […] 4. Ein Machthaber, der seit mehr als zehn Jahren mit großer Energie und beachtlichem Erfolg den Ruin seiner Nation betreibt, wird übereinstimmend als Nationalist beschrieben. […] 598 Kurt Gritsch: Inszenierung eines gerechten Krieges?; S. 52. 599 Hans Magnus Enzensberger : Ein seltsamer Krieg. Zehn Auffälligkeiten. In: Frank Schirrmacher (Hg.): Der westliche Kreuzzug. 41 Positionen zum Kosovo-Krieg. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999; S. 28–30.

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5. Während auf der serbischen Seite totale Einstimmigkeit herrscht, kommt es im Westen zu einem Streit mit überraschenden Fronten. Die Reste der Friedensbewegung demonstrieren in Deutschland Seite an Seite mit den Anhängern eines Kriegsverbrechers. Zwischen Kommunisten, Gaullisten und Rechtsradikalen kommt es zu seltsamen Bündnissen. 6. Auch in der islamischen Welt zeigen sich Verwerfungen. […] 10. Zwischen dem Krieg der Serben im Kosovo und dem Krieg der Nato im Luftraum über dem Balkan besteht eine Zeitdifferenz von vierhundert Jahren. Wer sich von den Plünderungen, Brandschatzungen, Massakern und Greueltaten der serbischen Soldateska ein Bild machen will, sollte sich nicht auf CNN verlassen, sondern Grimmelshausen lesen.«600

Jeder Punkt für sich benennt eine ›Merkwürdigkeit‹ des Kriegs, die erst im Bezug zu einem anderen Krieg oder zu einem eigenen Begriff von Krieg aufscheint. Wie schon in Enzensbergers Artikeln zum Golfkrieg 1991, Hitlers Wiedergänger, oder zum beginnenden Jugoslawienkrieg 1992, Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Ansichtskarte,601 konzentriert sich seine Argumentation in Ein seltsamer Krieg. Zehn Auffälligkeiten auf das Verfahren des Vergleichs. Dabei hat der Vergleich nicht in der betrachteten Sache des Kosovo-Kriegs seine Quelle. Es ist der Wunsch Enzensbergers, Subjekt des Vergleichs, allein. So sind es auch seine eigenen Maßstäbe, unter denen er den aktuellen Krieg vergleichend mit anderen betrachtet und die wiederum an diesem Krieg nichts Wesentliches treffen müssen. Was Enzensberger nun mittels seiner Vergleiche ›erkennt‹, ist bemerkenswert: (1.) Der gute Kriegsgrund für die Nato existiere, weil die ›klassischen‹ Einwände gegen Krieg nicht vorkommen bzw. erfolglos blieben; (2.) die Verwunderung über die »friedensverwöhnten Wohlstandsgesellschaften«, weil sie Kriegstote tatsächlich als Kritik an politischem Handeln verstehen, statt sie als Kollateralschäden einer subjektlosen Geschichte anzuerkennen; (4.) die Bestimmung Milosevics als anormalen Nationalisten, weil er, indem er seine Staatsidee gegenüber dem Westen nicht nur noch vertritt, sondern diesem Westen gegenüber mit substantiellen Verschleiß behauptet, also deswegen kein erfolgreicher Staatsmann ist; (5., 6.) dass sich sowohl das In- und Ausland als auch Feinde und ehemalige Freunde zu einer »überraschenden« und »seltsamen« Einheitsfront gegen den Krieg zusammenfinden; und (10.) das Bild vom gegenwärtigen Geschehen als einem nach den Verkehrsformen der Kriegsführung anachronistischen Dreißigjährigen Krieg. Nun wären diese theoretisch unbefriedigenden Vergleiche gegebenenfalls der Auftakt, sich jeden einzelnen der zehn Fälle zu widmen in Bezug darauf, was sie 600 Ebd. 601 Hans Magnus Enzensberger: Hitlers Wiedergänger ; ders.: Bosnien, Uganda; siehe dazu Kapitel 1.3 und 2.2.5 dieser Arbeit.

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an diesem Kosovo-Krieg treffen, was erklären und was nicht, welche der Bezüge falsche Vorstellungen und Maßstäbe implizieren, welche nicht. So wäre der Umkehrschluss einer Prüfung wert, (1.) ob denn die Abwesenheit von altbekannten Gründen für Krieg zugleich seine Rechtfertigung bedeutet; (2.) ob der Standpunkt, Geschichte fordere notwendige (Gewalt-)Tote, begrüßenswert ist; (4.) ob der Misserfolg Milosevics vielleicht auch mit denen zu tun hat, die ihm z. B. den Erfolg bestreiten; (5., 6.) weshalb sich politische Widersacher nun wegen des Kosovo-Kriegs verbünden; (10.) was man an einer Kriegspartei festhält, wenn man deren technischen Stand und Umfang der Kriegsmittel taxiert. Einerseits führt Enzensberger all diese Vergleiche ins Feld, andererseits wird deutlich, dass er nicht am Stoff des Kosovo-Kriegs im Speziellen interessiert ist, sondern allein an der Profilierung seines Tertium Comperationis: ›seltsam‹. Dieses Verhältniswort, das zuerst lediglich Negativität ausdrückt, gerinnt Enzensberger nun zu der einen bestimmenden positiven Identität der Sache Kosovo-Krieg. Dieses Umschlagen zu einer Wesenheit bereitet Enzensberger zum einen sprachlich vor, wenn er die betrachteten Dinge konsequent mit »seltsam«, »merkwürdig« oder »überraschend« attribuiert. Zum anderen überlässt er den letzten Schluss, dass es sich um diese Identität handelt, aber den Lesern, denen Enzensberger dies mit dem zehnfachen Verweis auf die ›Sache‹ nahelegt. Und doch, in diesem theoretisch recht ergebnislosen Resultat ›seltsam‹ scheint der gesamte positive Ertrag zu liegen: ›Seltsamkeit‹ ist die Anweisung, sich Hinsichten auf diesen Krieg anzueignen, die nichts über den betrachteten Gegenstand kundtun, aber umso mehr die Kreativität des Vergleichenden beweisen mögen. Für Enzensberger ist die Seltsamkeit dieses Kriegs indes sehr parteilich determiniert und insofern gar nicht das Un-Verhältniswort, das es lexikalisch ist. Es geht nicht um eine theoretische, sondern eine praktische Verwunderung. Die zehn kurzen Referate über den aktuellen Krieg weisen darauf hin: Die Seltsamkeiten sind Enzensbergers Staunen darüber, dass der Anspruch des Westens an den Kosovo-Konflikt sich nicht schon als die politische Wirklichkeit bewiesen hat, der er für Enzensberger bereits ideell fraglos ist.

4.2.2 Der Kosovo-Krieg als Anlass für sittliche Gemeinschaft und sittliche Bestimmung. Zur Moral der Pop-Literaten Die Beiträge von Müller, Berg, Enzensberger und die editorische Aussage Schirrmachers hatten sich in der Kosovo-Debatte 1999 noch darum bemüht, den Gegenstand des Kriegs zu bestimmen. Diese ›Realität‹ stellten sie und zwar, wie

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gezeigt wurde, mit fortschreitender Emanzipation von dem Gegenstand des Kosovo-Kriegs als objektiven Grund der westlichen Intervention dar. Die Pop-Literaten602 entfernten sich in ihren Beiträgen anlässlich des KosovoKriegs von diesem Gegenstand einen entscheidenden Schritt. Indem sie sich dem Kosovo-Krieg nur noch in der Stellung widmeten, die man zu ihm einnahm, erschlossen sie sich mit dieser Perspektive der Betrachtung zugleich ein neues Sujet und eine neue Fragestellung: Der Kosovokrieg ist zuallererst ein Fall der Prüfung für die eigene geistig-moralische Verfasstheit. Hier ist eine Entwicklung der Stellung gegenüber dem Diskurs zu beobachten, indem die Prüfung nun schließlich bei den Prüfenden selbst endet – so dass der Eindruck, den Niels Werber ausführlich in seinem Vortrag Vom Glück im Kampfe. Krieg und Terror in der Popkultur benennt, nachvollzogen werden kann, wonach diese Literaten vom Krieg durchaus unpolitisch redeten.603 Die drei im Folgenden untersuchten Texte wurden 1999, zeitnah zu der deutschen Kosovo-Debatte, veröffentlicht: Alexander von Schönburgs Text In Bruckners Reich, das als Protokollband erschienene Tristesse Royale des »popkulturelle[n] Quintetts« und Christian Krachts Artikel Tristesse Royale. Berlin – Phnom Penh, 1999.

(a)

Krieg als innerer Widerspruch des reflektierten Kulturmenschen. Alexander von Schönburg: In Bruckners Reich (1999)

Alexander von Schönburgs Text In Bruckners Reich604 ist in dem von Christian Kracht herausgegebenen Band Mesopotamia. Ein Avant-Pop-Reader erschienen. Mit einer zeitgeschichtlich eindeutigen Verortung beginnt der Text. Mehr noch gibt der Erzähler darüber Auskunft, dass sein Bezug zu den aktuellen Ereignissen abgeleitet und zugleich voll von besonderer Sorge ist: »Das wird eine Scheißwoche. Wenn die Nato nicht endlich anfängt, Jugoslawien zu bombardieren, gehen mir die Schlagzeilen aus. Seit Tagen schreibe ich für eine Boulevardzeitung in Berlin diesen Krieg herbei, weil Krieg Auflage macht, und wenn der 602 Der Terminus ›Pop-Literatur‹ wird im Folgenden mit Zurückhaltung gebraucht; zur Problematisierung des Terminus: Anett Krause: Die Geburt der Popliteratur aus dem Geiste ihrer Debatte. Elemente einer Epochenkonstruktion im Normalisierungsdiskurs nach 1989. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2015; hier S. 9–14. 603 Dass, so wie Niels Werber schreibt, die Pop-Literaten nicht hätten anders reden können, weil sie in »Skripten« der Massenmedien gefangen gewesen seien, wird hier, da andere Stellungen möglich waren und ausgesprochen wurden, jedoch widersprochen, sowohl praktisch als auch theoretisch; Niels Werber : Vom Glück im Kampfe. 604 Von Schönburgs Text trägt keine Genrebezeichnung. Alexander von Schönburg: In Bruckners Reich. In: Christian Kracht (Hg.): Mesopotamia. Ein Avant-Pop-Reader. 2. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2004 (EA: 1999); S. 31–41.

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Krieg nicht endlich anfängt, merken die Leser, daß die Nato uns und wir die Leser an der Nase herumführen.«605

Nicht was in Jugoslawien passiert, scheint die Leser zu interessieren, der Grund für das Bombardement steht gar nicht zur Debatte. Von Interesse ist allein, dass es und zwar »endlich anfängt«. Am Stattfinden nun beweise sich die Legitimität für die Intervention der Nato, die ansonsten nicht zur Disposition steht; umgekehrt erscheint erst das Ausbleiben verdächtigt, fühlten sich die Leser erst dann »an der Nase herum[geführt]«. Nach den bisherigen Texten und Positionen ist das ein neuer Maßstab. Die militärische Aktion hat allein die Not, sich auf sich zu berufen. Die Glaubwürdigkeit bemisst sich immanent und zwar an der Sache des Bombardements, mit einer anderen Sorge erscheint die Öffentlichkeit nicht mehr beschäftigt. So wird nun innerhalb der ersten Zeilen des Texts das polit-moralische Selbstverständnis der deutschen Nachkriegszeit als abwesend beschrieben und mit seiner neuen Variante sozusagen auf den Kopf gestellt: ›Nie wieder Krieg!‹ wird zur Forderung ›Wann endlich Krieg!‹. Um die noch ausstehende, ersehnte Meldung über den Nato-Beschuss für sein deutsches Publikum entsprechend zu kompensieren, platziert der Erzähler stattdessen fünf »abstruse Meldungen«. Diese Geschichten handeln von Ereignissen des aktuellen gesellschaftlichen ›Zusammen‹lebens: Sie berichten von allerlei handfesten und zuweilen brutalen Resultaten eines unausweichlichen wie anscheinend normalen Gegeneinanders.606 Der Erzähler reflektiert dieses Phänomen. Er sieht in dem Verlangen seiner Leserschaft nach Misserfolgsgeschichten, ferner in den in Mode kommenden Fäkalwörtern und im Auftreten von Zivilisationskrankheiten gleichermaßen eindeutig-ambivalente Zeichen einer werdenden Hochkultur : »Es boomt nicht nur die globale Marktwirtschaft, sondern auch eine Vielzahl von Zivilisationsbeschwerden wie Karies, das überfettete Herz, Krebs und Hämorrhiden [sic], die sichtbarsten Symptome einer Zivilisation im Fin de siHcle.«607

Karies, Krebs etc. sind, was immer auch deren faktische Gründe sein mögen und was auch immer sie unterscheidet, für den Erzähler vor allem eines: Auskunft über den Entwicklungsstand der Zivilisation. Dieser Stand ist mit diesen Schäden nicht etwa infrage gestellt, umgekehrt ist er darin konstituiert. Solche faktischen Gegensätze von Schaden und Entwicklung als ideell versöhnt zu verstehen, ist erklärungsbedürftig. Was theoretisch ein Widerspruch ist, wird dem Erzähler durch Erleben plausibel:

605 Ebd.; S. 33. 606 Ebd.; S. 33f. 607 Ebd.; S. 35.

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»All dies erwähne ich, und jetzt kommt es, weil ich letztens erleben durfte, wie sich Hämorrhidialbeschwerden [sic] anfühlen. Und diese Einsicht in das Leiden durfte ich gerade an dem Tag gewinnen, an dem ich einem festlichen Konzert in der Staatsoper unter den Linden beiwohnte.«608

Das Nebeneinander von Bruckners Siebter Symphonie und einem körperlichen Leiden wurde dem Erzähler zum Moment der ersten »Einsicht«. Indem ihm während des Konzerts die Grenzen zwischen den Wirkungen der Musik und dem körperlichen Leiden permanent verschwimmen, wird ihm immer evidenter, dass Schmerzen notwendiges Pendant des Hochgenusses sind: »Oder waren es Schmerzen der Erkenntnis? Der Erkenntnis, daß ich mich schämen müßte, Bruckner dermaßen zu genießen? Der Erkenntnis, daß Bruckners Blut-undBoden-Töne, daß die Notenblätter zu diesen Tönen eigentlich weggesperrt gehören wie andere Nazi-Kunst auch […]? Der Schmerz stach im After und schärfte meine Sinne. Auf einmal vermochte ich auf den Grund der Musik zu schauen und tief in die Herzen derer, die ihr huldigen.«609

Das Zusammengehen von Schmerz und Musik ist für den Erzähler nicht nur regelhaft, sondern wird deutungsweisend. Für ihn erklären sich Nazi-Verbrechen und Nazi-Musik als die ambivalente, die widersprüchliche menschliche Kultur schlechthin. Das bringt den Erzähler zu Hobbes. Von den Kenntnissen des Menschen in gesellschaftlichen Verhältnissen leitet er den Zustand derselben Menschen minus dieser Verhältnisse ab, einen nämlichen Naturzustand: »Während des Scherzos kam mir eine weitere Erkenntnis: Hatte Thomas Hobbes doch recht? In seinem Werk ›Leviathan‹ […] legte Hobbes dar, daß der Urzustand des Menschen ein Zustand absoluter Feindschaft zueinander ist. […] Der Urzustand des Menschen sei die Grausamkeit. Regeln, Gesetze und Autorität seien nur enstanden [sic], weil der Mensch müde wurde, sich mit allerlei Arglist voreinander zu schützen und sich gegenseitig aus Futterneid ständig umzubringen. […] Und Hobbes erklärt auch – ante portas –, warum alle Kultur das Volk der Dichter und Denker nicht davon abgehalten hat, dem Faschismus zu verfallen: Wenn der Gesetzgeber es nicht nur erlaubt, sondern auch vorschreibt, gemein und grausam zu sein, wird sich der Mensch in aller Regel auch daran halten. Der Faschismus fußt auf simplen Prinzipien: auf dem natürlichen Mißtrauen, auf den eingefleischten Ressentiments und auf der Denunziationsbereitschaft der breiten Bevölkerung. Um ein guter Faschist zu werden, muß man nicht über sich hinauswachsen. Habgier und Ablehnung muß man nicht lernen.«610

608 Ebd. 609 Ebd.; S. 37f. 610 Ebd.; S. 39.

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Was Schönburgs Erzähler im Verweis auf die klassische Naturrechtsphilosophie Hobbes’ referiert und auf den Faschismus anwendet, reproduziert zugleich die klassischen immanenten Widersprüche derselben: mit Identität Nicht-Identisches erklären. So bleibt es unschlüssig, weshalb der Mensch, der seinesgleichen gegenüber von Natur aus grausam ist und sein muss, sich dafür einmal Begrenzungen durch Regeln und Gesetze setzt und weshalb derselbe Mensch ein andern Mal z. B. im Faschismus die Ermächtigung durch das Recht braucht; weshalb der einzelne Mensch sich nicht an sich vergreift, sondern an anderen. – Dieser Naturzustand wird lediglich ex post plausibel und dienlich als Sichtweise, unter der alles gerade gesellschaftlich Gegebene mit all dem erwähnten Gegeneinander seinen höchsten Grund erhält. Der Schluss ist dabei höchst umfassend, er schließt Kunst, Recht und Faschismus als Allzumenschliches zusammen. Diesen Übergang zum Größten bewerkstelligt der Erzähler mittels Hobbes. Im Ganzen erscheint der Mensch so als eigentlicher Auftraggeber und Nutznießer all dieser Dinge und im gleichen Moment als deren Opfer. Damit hat von Schönbergs Erzähler eine Sicht etabliert, die nun positiv ausführt, dass die gebildete und selbstbewusste Stellung sich darin auszeichnet, selbst widrigste Begebenheiten politischen Ursprungs als Gemäßes anzuerkennen. Die bisher abstrakt widersprüchliche Erkenntnis, die genauso gut einem Schmerzdelirium wegen der Hämorrhoiden oder einer Falschlektüre von Hobbes entsprungen hätte sein können, beweist der Erzähler schließlich an sich selbst, mit seinen eigenen Erlebnissen bei der Bundeswehr : Als zivilisierter Mensch hatte er an Initiierungsritualen, die für die betroffenen Neuankömmlinge ›unschön‹ bzw. brutal waren, teilgenommen.611 Er, Kollegen und auch die ›Opfer‹ haben sich diesem Treiben nicht entzogen. Das nun ist für den Erzähler – mittels des zweiten zitierten Gewährsmanns Ortega y Gasset – Beweis des antithetischen Menschen. Er resümiert, im empirischen Verweis auf die Existenz dieses Umstands zusammenabstrahierter Gegensätze als deren Begriff und insofern programmatisch: »So ist das nun mal.«612 Was bisher in In Bruckners Reich in verschiedenen Weisen veranschaulicht und plausibilisiert wurde, findet sich konzentriert am Ende des Texts, als es wieder explizit um den Krieg im Kosovo geht. In den letzten Abschnitten zeigt sich dessen ideell produktives Moment. Der Schaden am Menschen wird als Dienst an ihm betrachtet und also weniger kritisiert als willkommen geheißen: »Das Konzert endete, bevor es mich vollends zum Wahnsinn treiben konnte. Schnell nach Hause, in die rettende Obhut meiner Hämorrhidialsalbe [sic]. An der Garderobe vorbei, zum Ausgang. Dort wurde bereits unsere Zeitung von morgen verkauft. Jetzt 611 Ebd.; S. 40. 612 Ebd.; S. 41.

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kommt der grosse Krieg! Schrie die Titelzeile. Der Verkäufer wurde die Zeitung schnell los. Die Schmerzen waren unerträglich. Wie in einem BuÇuel-Film müßte dieses Zeitalter eigentlich mit einem großen Knall explodieren. Alle tun nur ihre Pflicht. Die Sehnsucht nach der Apokalypse bei den Menschen, das spürt jeder, muß bedient werden. Die Auslöschung der Welt wäre immerhin eine probate Rache für die Schöpfung. Wir befinden uns im Wettlauf mit Gott, ihm mit seiner Apokalypse zuvorzukommen. Ah, die Salbe. Wir zerstören, was wir lieben. Each man kills the thing he loves. The coward does it with a kiss, the brave man with a sword.«613

Am Ende seines Erkenntniswegs kommt es zum Höhepunkt in jeder Hinsicht: Konzert, Schmerzen, der (quasi) beginnende Krieg und die euphorisierte Leserschaft kulminieren beinahe zu dem einen reinen Begriff ihrer selbst – und zu dem Widerspruch in seiner ganzen Klarheit. Der Erzähler muss den Krieg nicht leugnen, er spricht ihn in seiner Härte für die Menschen mit »explodieren«, »Auslöschung«, »Apokalypse«, »zerstören« und »kills« deutlich an. Das kritische Gegenüber des Kriegs ist indes in den Begriff desselben eingegangen und relativiert darüber alle inhaltliche Spezifik. Krieg und Frieden, Töten und Leben sind im gemeinsamen Dritten des Menschen vermittelt und versöhnt. Insofern erscheint der aktuelle Krieg, indem er einige von ihnen vernichtet, als das, wonach die Menschen verlangt haben, Krieg erscheint als der größte Liebesbeweis an ihnen. Damit hat Schönburg seinen Erzähler eine neue Erkenntnis erfahren, als eigenes Konzept ausformulieren lernen und schließlich auf den aktuellen Krieg anwenden lassen. Diese Erkenntnis war einerseits für den Erzähler so neu nicht. Denn zum Ersten hat dieser Erzähler schon mit den ersten Sätzen festgehalten, dass dieser Krieg gerechtfertigt sei, sofern er stattfindet; zum Zweiten hat er die widersprüchliche Freude der Menschen an ihren eigenen Misserfolgen schon gleich als Hypothese eines großen legitimierenden Aufeinanderbezogenseins formuliert. Andererseits hat diese ›Bildungserzählung‹ einen Ertrag. Diese bereits existierende allumfassende Legitimität hat sich durch den ästhetischen, geistesgeschichtlichen wie begrifflichen Nachvollzug noch einmal selbst Plausibilität verschafft. Mit diesem Ansatz schreitet die Rechtfertigung, die sich quasi distanzlos zu den zu rechtfertigenden Gegenständen bewegen kann – sie kann dem Krieg und den darin tätigen Soldaten sogar ihre Brutalität zugestehen –, einen weiteren Schritt voran. Die Rechtfertigung ist nun mittels der Erzählerfigur selbst vollbracht und anschaulich. Seine praktische Vernunft, eh nur rechtfertigend auf seine politischen Verhältnisse zu blicken, ist zu einem eigenen Begriff und ferner zu einer eigenen Haltung des Geistes geworden. Diese Art der Rechtfertigung 613 Ebd.; S. 41, Herv. i.O.

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erscheint insofern als ein sittliches Gebot, als es – erst logisch-negativ – von der Kritik an Krieg etc. abbringen will und es – positiv – den Begriff des Kriegs als Menschengemäßes einfordert. Von Schönburgs In Bruckners Reich hat in der politischen und gesellschaftlichen Realität seinen Ausgangspunkt, wie insbesondere dessen theoretischer Kern zugleich und offenkundig der Plausibilität entbehrt. Ferner stehen das historische Material und vor allem der faktische Diskurs der deutschen Politik und Öffentlichkeit zur aktuellen Nato-Intervention polemisch gegen von Schönburgs Erklärung. Denn von Schönburg unterstellt mit seiner Kultur-Abstraktion der paradoxalen Vereinheitlichung abweisende, dementierende Fakten. Sein Erklärungsansatz bietet einen legitimatorischen Ertrag, alles unter den Begebenheiten, stehe dies auch gegensätzlich dazu, nicht nur zu relativieren, sondern als deren Wesen aufeinander verpflichtet zu wissen. Die eigene (positive) Haltung zum Kosovo-Krieg nicht aus der Sache des Kriegs zu erklären – diesen Mangel haben die anderen Pop-Literaten in ihren Texten zum KosovoKrieg ein Stück weit überwunden. Sie identifizieren ihre Zustimmung und Ablehnung des Kriegs restlos mit ihm und zwar unter dem Maßstab seiner eigenen Durchsetzung.

(b)

Krieg als Prüfstein der Sittlichkeit … Tristesse Royale (1999)

1999 traf sich im Berliner Hotel Adlon in unmittelbarer Nähe zum Brandenburger Tor das selbsternannte »popkulturelle Quintett« mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre.614 In ihrer drei Tage andauernden Unterhaltung, deren Protokoll von Joachim Bessing bearbeitet und schließlich in Buchform unter Tristesse Royale 1999 veröffentlicht wurde, wollten sie ›das Sittenbild ihrer Generation‹ zeichnen.615 Zu diesem übergeordneten Zweck tritt der aktuelle Krieg gleichgültig, zufällig und allein den Umständen geschuldet den vielen anderen Gesprächsgegenständen hinzu: Die fünf Literaten werden unbeabsichtigt Zeugen, wie vor dem Hotel eine Demonstration gegen die deutsche Teilnahme am Kosovo-Einsatz der Nato stattfindet. Zwei aufeinanderfolgende Teile des umfangreichen Protokolls haben dieses Ereignis zum Gegenstand oder wenigstens zum 614 Selbstbestimmung laut Titel: Joachim Bessing (Hg.): Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. Stuckrad-Barre. München: List Taschenbuch 2001 (EA: 1999). 615 Zur Entstehungsgeschichte und zur Differenzierung, es handle sich bei Tristesse Royale um ein authentisches, quasi unbearbeitetes Protokoll siehe: Anett Krause: Die Geburt der Popliteratur ; S. 228–230; obiges Zitat im Umschlagtext der Taschenbuchausgabe des hier zitierten Bands des List-Verlags: Joachim Bessing (Hg.): Tristesse Royale.

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Anlass. Im Teil Unter den Linden wird die Demonstration zunächst durch eine neutrale Stimme wie folgt beschrieben: »Eine langsam sich dahinwälzende Gruppe von Demonstranten folgt einem mit Plakaten beklebten VW-Bus, auf dessen Dach ein Megaphon befestigt ist. Aus dem Megaphon heraus ist eine gelangweilt leiernde Stimme zu hören, die ein schlechtgeschriebenes Pamphlet gegen Joschka Fischers Kriegspolitik im Kosovo vorliest. Mehrmals unterbricht sich der Vorleser selbst, um sich zu räuspern. Die rund vierzig Demonstranten werden von hundert bewaffneten Polizisten bewacht, die eine Menschenkette entlang des Mittelstreifens der Allee bilden. Die Sonne scheint. Einige Demonstrantinnen tragen Plakate, auf denen der Bundeskanzler Gerhard Schröder mit einem aufretuschierten Hitlerbart zu sehen ist. Auf anderen Plakaten ist eine Photoshop-Collage aus Joschka Fischers Kopf und Adolf Hitlers uniformiertem Körper abgedruckt. Die Plakatträgerinnen kauen Kaugummi. An der nächsten Straßenkreuzung stoppt der Zug von Demonstranten, einige zünden sich Zigaretten an. Eine Abschlußkundgebung scheppert aus dem Megaphon, die Termine für weitere Veranstaltungen der Organisatoren, ein Vortrag über die Empfängnisverhütung mittels Hodenbaden sowie ein antifaschistisches Grillfest, werden verlesen. […] Die Demonstranten schultern ihre Plakate und schlendern davon. Einige setzen sich auf die Stühle vor dem Caf8 Einstein und bestellen Getränke.«616

Diese kurze Passage ist keinem der fünf Teilnehmer als Rede zugeordnet. Die neutrale Fokalisierung gibt zumindest Sachlichkeit vor. Sie gibt eine Demonstration wieder, die zu sich im Widerspruch steht: Die Demonstranten weisen keine Elemente eines ernsthaften politischen Protests auf, aber so ziemlich alle Elemente einer Parodie eines solchen. Die Demonstration, ihre Organisatoren, Redner und Teilnehmer erscheinen unmittelbar lächerlich. Die Utensilien entsprechen entweder gängigen Klischees oder konterkarieren ihren eigenen Anspruch, einen deutlichen und starken politischen Protest zu bewerkstelligen. Grotesk wirkt die Demonstration außerdem durch ihre Unverhältnismäßigkeiten etwa in der Betreuung durch die Polizei und durch die Nivellierung ihres Protestgegenstands und zwar nach unten, wenn dieser sich mit »Empfängnisverhütung« etc. gleichsetzt. Schließlich scheinen sogar die Protestierenden selbst jede ernsthafte Teilnahme zu dementieren, insofern sie ihre Unprofessionalität kundtun und gelangweilt zu Kaugummi, zu Zigaretten und schließlich im In- und Touristen-Caf8 in der Nähe des Brandenburger Tors sonntagsspaziergängerisch zu Getränken greifen. Diese Blickweise nimmt an der Demonstration nicht die Inhalte und Forderungen wahr, sondern fokussiert ausschließlich auf das Wie der Durchführung. Formulierungen wie »gelangweilt leiernd[]« und »schlechtgeschriebenes Pamphlet« weisen in ihrer überdeterminierenden Stilistik deutlich darauf hin, dass 616 Ebd.; S. 92f., Herv. S.H.

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die ausschließliche Perspektive auf das Geschehen bewusst gewählt und gestaltet ist. Dass dieses Wie das eigentliche Was dieser Demonstration sei, wird ästhetisch nahegelegt. Dies zu stärken und vor allem mit Bedeutung auszulegen, nimmt sich Der Flug der Steine, der folgende umfangreiche Teil des Protokolls, an. Den bereits ästhetisch antizipierten Perspektivwechsel auf die Demonstration bzw. die Demonstranten spricht Benjamin von Stuckrad-Barre selbst aus – im Modus einer Frage, die von seinem Gesprächspartner Nickel auch nicht beantwortet, aber auch nicht verworfen wird und ferner als profunder Problemgegenstand im Raum steht: »Benjamin v. Stuckrad-Barre: Was haben wir da eigentlich auf dieser Demonstration erlebt: War es ein politisches Ereignis oder ein gesellschaftliches? […] War das überhaupt eine Demonstration, oder was war es genau? Eckhart Nickel: Ich weiß es nicht.«617

Alle fünf Diskutanten werden sich darin einig, dass die gerade beobachtete Demonstration dem, was sie sich unter einer solchen vorstellen, nicht entspricht. Sie selbst geben nun geballt ihre negativen Urteile zu Protokoll: Es sei die »unmotivierteste Demonstration« gewesen, die Demonstranten waren »schlicht leidenschaftslos«, es gab »keine Sprechchöre« und sie »schrien nicht wirklich«; man attestiert: »Keine Freude, keine Überzeugungskraft. Eine pessimistische Prozession.«; und schließlich: »Mit einem kollektiven Erlebnis […] konnte diese Demonstration es nicht aufnehmen.«618 Die fünf Popper werden sich einig, dass die Abwesenheiten eine Identität und einen Grund haben: Heutzutage seien nur Un-Demonstrationen möglich, weil es in Deutschland nur eine Un-Politik gebe. Denn die Politik von heute sei ein »Vakuum«, sei simuliert, virtuell und dem Leben entfremdet, keine ›wirkliche Politik‹.619 Die Politiker der Berliner Republik, Rudolf Scharping, Oskar Lafontaine, Johannes Rau, Gerhard Schröder und Joschka Fischer, werden bei den fünf Schriftstellern nach und nach alle Gegenstand der kritischen Einschätzung und alle gleichermaßen Belege ihrer These, wonach sie grundverschieden zur Bonner Republik unter Helmut Kohl seien. Dort habe noch echte Politik geherrscht. Im Gespräch klären sie die verschiedenen Gehalte der zwei deutschen Regierungen: »Eckhart Nickel: […] Könnte es sein, daß der Grund dafür, daß diese Partei [der Grünen unter Fischer ; Anm. S.H.] jetzt Dinge tut, die sie niemals tun wollte, also zum 617 Ebd.; S. 93f. 618 Ebd.; S. 94f., Herv. S.H. 619 Vgl. ebd.; S. 100f., 105, 109.

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Beispiel einen Krieg mitführen, könnte es also sein, daß jenes Vakuum, in das die Partei gerutscht ist, kaum daß sie an der Macht war, in Joschka Fischers Manschettenknöpfen, dem Fake-Siegelring und den vielen Anzügen begründet liegt? Alexander v. Schönburg: Aber nein. Das Vakuum wird vielmehr gefüllt von einer unpolitischen Masse und von einer Masse, die – leider, muß ich hier sagen – von rechts politisiert wird. Rechts, also stumpf und möglichst ohne nachzudenken. Die Leute aus der linken Szene, die wir heute nachmittag bei der Demonstration geschaut haben, sind sowieso politisiert, weil sie für die eigene Ehre in einer WG leben, wo sie einen Plan an der Wand hängen haben, wer wann den Küchenboden aufputzt. Und dann gibt es die anderen, die wohnen in Sachsen-Anhalt und anderswo, die denken nicht politisch, haben aber Ressentiments und sind zum Teil gewalttätig. […] Das Traurigste daran ist vielleicht die Ernst-August- und Carolinisierung von Joschka Fischer. Also das Perversum […]. Das ist albern. […] Helmut Kohls Abgang war für mich das Zeichen des Abschieds. Gerhard Schröder oder Joschka Fischer würden doch nie in die Zuschauermenge stürmen, wenn man sie mit Eiern bewirft. Erinnert ihr noch, als Helmut Kohl in Halle den Eierwerfer verprügelte? Dieses Gesicht – das war alles, was wir an dieser Generation geschätzt haben; der jähzornige Onkel, den man so gerne hat. […] Benjamin v. Stuckrad-Barre: Ich habe ihn eigentlich zunächst nur als Comicfigur, als so genannte Birne kennengelernt und deshalb völlig unterschätzt. […] Er war für mich einfach unästhetisch und verkörperte das Gegenteil von Bewegung. Sein Merkmal wurde, daß er immer gewann, egal wie er bespottet wurde. […] Bei Helmut Kohls Abwahl habe ich mich über die Simulation einer Bewegung gefreut. Daß vielleicht etwas geschehen könnte. Ich hatte selbstredend keinerlei Hoffnung, daß sich dadurch mein Leben ändert oder daß es sozial gerecht werden könnte in diesem Land oder solchen Quatsch, dachte aber, daß sich vielleicht irgend etwas ändern könnte.«620

Nickel, von Schönburg und von Stuckrad-Barre nehmen die Bonner und Berliner Republik anhand ihrer politischen Funktionsträger vergleichend in den Blick. Was sie unter Schröder und Fischer vermissen und unter dem Verweis auf deren zum Teil selbst geleisteten und zum Teil aufgedrängten ›Inszenierungen‹ in Kleidung und Accessoires als Prominentendasein und gegebenenfalls sogar für den Kosovo-Krieg erklären, ist das Fehlen einer Politik. Umgekehrt habe sich aber in der Kanzlerschaft Kohls Anwesenheit von Politik durch die Abwesenheit alles nur ›Vermeintlichen‹ gezeigt, allein durch Kohls praktischen Willen zu und vor allem mit seinem Erfolg im Regieren über die Bevölkerung.621 620 Ebd.; S. 102–105. 621 Mark Siemons beschreibt in seinem Artikel Die Pop-Intellektuellen, die Ironie und der Krieg von ähnlichen Zusammenhängen: Kohl habe die musikalische Subkultur des Pop in Deutschland seit den 1980er bedingt, wie Schröder sie 1999 zu einem Ende gebracht habe, stattdessen sei nun Ironie selbst in der Politik zu finden. Daraus sei den ›Poppern‹ nun ein »Identitätsproblem« erwachsen. In der musikalischen Subkultur, über die Siemons hauptsächlich schreibt, habe es keine Ablehnung der politischen Akteure gegeben, sondern eine »nachgerade unheimliche Verwandtschaft«. Aktuell habe nicht die Unsicherheit bzw.

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Mit diesen Ausführungen geben die Autoren ihren idealen Zusammenhang kund, der bei der Bewertung der Demonstration nur ex negativo zur Anschauung kam. Dieses gesellschaftliche Ideal umfasst eine politisierte Gesellschaft, in der alle aufgehen. Der Inhalt dieses Ideals umfasst, dass die Autoren ihren Status der Betroffenheit von der Politik keineswegs aufgekündigt sehen wollen, sondern als weiterhin Betroffene reden. Sie bemessen die Politik vielmehr daran, inwiefern sie genau zur und dann für diese Betroffenheit taugt – und darin sind sie so anspruchslos und zugleich gar nicht: Sie verlangen von der Politik keinen spezifischen Inhalt, sie verlangen lediglich, als pure Politik-ansich, also als regierende Gewalt sich gegen ihre Bürger praktisch erfolgreich durchzusetzen. Diesem zur Geltung zu verhelfen, habe die Politik nicht nur die Pflicht, sondern jedes Recht. Maß der Glaubwürdigkeit der Politik ist somit die Betroffenheit selbst, nämlich wenn der kritische Gedanke der Bürger gar nicht mehr aufkommt, weil die Macht restlos ausgeschöpft sei und nicht einmal ideell Alternativen offeriere. Nur das sei ein Leben mit Sinn, wo dieser nicht mehr in Frage steht. Alles andere sei ›Vakuum‹ und, wie sie später im Buch erörtern, »Scheinwelt«.622 Diesen Anspruch tragen die fünf Diskutanten als eigentliches und darin fragloses Sollen der Politik wie der Mitmenschen mit größter Selbstverständlichkeit vor sich her. Jeden Wertmaßstab sehen sie darin aufgehen und miteinander identifiziert, so dass sie das politische Urteil problemlos als Urteil der Sache oder als eines des individuellen und allgemeinen Geschmacks ausdrücken können.623 Zum Ausdruck kommt dieser absolute Anspruch ebenso in voller die Substanzlosigkeit im politischen Agieren Schröders Kritik, sondern dessen stilistische Sicherheit insgeheim Lob geerntet. Diese aufkommende Irritation des Pop durch die (ähnliche) Politik sei u. a. durch den Kosovo-Krieg zugespitzt worden. Mark Siemons: Die Pop-Intellektuellen, die Ironie und der Krieg. Eine Episode aus dem Distinktionsgetümmel. In: Karl Markus Michel u. a. (Hg.): Stilfragen. Reinbek: Rowohlt 2000 (Kursbuch; Bd. 142); S. 37–42, hier S. 37f., 40. 622 Die Ernst Jünger’schen Auslassungen, bei der sie sich die für ihre restlos verbindliche Vergemeinschaftung das Ideal eines Kriegszustandes vorlegen, finden sich im Kapitel Erase and Rewind; Joachim Bessing (Hg.): Tristesse Royale; S. 155–159, hier S. 155f. 623 Siemons, von einem anderen Verständnis der Selbstproblematisierungen des subkulturellen Pop herkommend (vgl. Fußnote oben), konstatiert diesen Habitus als allgemeines Phänomen der Pop-Szene: »Die Pop-Intellektuellen hatten ebenso wie die ›Neue Mitte‹ das Erbe von Achtundsechzig vor allem im Stil zu retten gesucht, im Pop als ironischem Prinzip der permanenten Unterwanderung des Selbst, der Macht und der ›Authentizität‹. Die damit einhergehende Ambivalenz von Kritik und Affirmation war durchaus gewollt [!]; sie sollte Überlegenheit signalisieren. Voraussetzung dieser Schreib- und Lebenspraxis war die Annahmen, nicht das Sein, sondern das Bewusstsein entscheide über die Relevanz der Dinge. Die End- und Bodenlosigkeit der Selbstreflexion wollte sich durch keine Materialisierung aufhalten lassen. Alle Realisierung galt als Schein, während nur der ordnenden Deutung Realität im emphatischen Sinn zugesprochen wurde. Die damit verbundenen Existenznöte und Zusammenstöße mit Alltagsbewusstsein nahmen die Pop-Intellektuellen gerne als zusätzliches Zeichen ihrer Erwähltheit hin. […] Die Distinktionsgewinne, die das

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Selbstverständlichkeit, insofern er sich gar nicht mehr in Erklärungsnot versteht, die Welt nach Momenten fehlender Durchsetzung sortiert und gegebenenfalls diese den Stempel des Fehlens von Eigentlichem aufdrücken – und, wie geschrieben, darin treffend bestimmt sehen. Tristesse Royale etabliert wie von Schönburgs Text, jedoch im Unterschied zu den vorangegangenen literarischen Texten seit 1991 eine neue Blickweise auf die Kriege in Jugoslawien. Recht borniert gegenüber dem Gegenstand des Kriegs interessiert sich dieser neue Blick lediglich für dessen Effekt: Ob sich an ihm die Legitimationsfrage der eigenen politischen Herrschaft erübrigt. In Differenz zu von Schönburgs In Bruckners Reich, bei dem die Nato im Vollzug des Bombardements legitimiert war, aber daneben und exponierter die Legitimation der Intervention über das abstrakte Dritte der Menschennatur verfolgt wurde, bindet Tristesse Royale seine Legitimation der Politik direkt an diese – als ihr immanenter Maßstab, als ein sogar von seinen aufgeklärtesten Bürgern proklamiertes Ideal. So erscheinen der Kosovo-Krieg oder die deutsche Beteiligung in ihm für sich uninteressant, sie gelten lediglich – aber dafür ist dieser Krieg unentbehrlich – als Prüfstein für das eigene politische Personal. Nicht dass die deutsche Regierung unter Schröder, Fischer und Scharping eine veritable Kriegsbeteiligung bewerkstelligt hat, gilt den fünf Autoren der Kritik. Kritik richtet sich an die Regierung, weil diese Kriegsbeteiligung noch Kritik und Zweifel, schlicht einen ganzen kritischen Antikriegsdiskurs zulässt, sie somit also Politik im eigentlichen Sinn verfehlt hätte. Und nur so kommt die beobachtete Berliner Antikriegsdemonstration in den Blick der fünf Autoren und ist für sie darin gleichermaßen erklärt. Nicht die Wahl der politischen Adressaten oder die Illusion einer politischen Einflussnahme gelte es an dieser spezifischen Demonstration zu prüfen; umgekehrt ist sie die Auskunft darüber, dass nicht der Krieg als Anwesenheit von Politik, sondern die Abwesenheit von Politik diese Leute – deswegen auch unglaubwürdig und stillos – bewegt. Den bereits existierenden Kosovo-Krieg als Moment fehlender Durchsetzung zu nehmen, ist somit eine bloß immanente Kritik an diesem, mit Blick auf den Krieg bemisst sie die Politik an ihrem eigenen Maßstab, ihre Anliegen erfolgreich gegen jeden ideellen wie praktischen Zweifel durchzusetzen. Insofern stellt Pop-Bewusstsein dem Pop-Intellektuellen gewährte, waren immens.« Allerdings bleibt dieser Habitus in Siemons Bestimmung leer bzw. wird psychologisch bestimmt. Die spezifische Politik, die im Ausgangspunkt der Subkultur wie nun in ihrer Krise als eigener Maßstab erscheint, bietet der Problematisierung Anlässe, wird aber nie Gegenstand der pop-internen Debatten. So sieht Siemons den Pop anlässlich des Kosovo-Kriegs (und in Bezug zum Band Tristesse Royale) sich in Selbstzweifel auflösen, statt er ihn in Bezug zum Kosovo-Krieg bestimmt; Mark Siemons: Die Pop-Intellektuellen; S. 40–42.

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die Sittlichkeit, von der bzw. von deren Ermanglung die fünf Autoren ein ›Bild‹ geben, die ideale Rechtfertigung politischer Herrschaft dar – vertreten und eingefordert von den Betroffenen. (c)

… realisierte Sittlichkeit als Haltung. Christian Kracht: Tristesse Royale. Berlin – Phnom Penh, 1999 (1999)

Kritik an dem polit-moralischen Konsens des »popkulturelle[n] Quintetts« anlässlich der Antikriegsdemonstration in Berlin kommt aus den eigenen Reihen und zwar von Christian Kracht. Seine Kritik hat er in dem separat erschienenen Text Tristesse Royale. Berlin – Phnom Penh, 1999 formuliert.624 Anlass dafür war eine Fahrt nach Kambodscha, die er mit seinem Kollegen Bessing im unmittelbaren Anschluss an die Gesprächsrunde unternahm. Diese Fahrt nach Kambodscha war schon Thema des den Band Tristesse Royale abschließenden und von dem aufgearbeiteten Gesprächsprotokollen getrennten Teils Die Spirale.625 Jedoch, der Text Tristesse Royale. Berlin – Phnom Penh, 1999 nimmt das Erlebte noch einmal anders in den Blick – und zum Anlass einer erneuten Klärung: Was in Berlin als Sittlichkeit, wenngleich wirklicher Politik verpflichtet, quasi nur idealiter und in Bonmots diskutiert wurde und daher mit dem Mangel leben musste, dass diesen die selbst praktizierte Wirklichkeit widersprach, beweist sich in Kambodscha als tatsächlich gelebte und mahnende ›sittliche‹ Wirklichkeit: Die Reportage Tristesse Royale. Berlin – Phnom Penh, 1999 ist zweigeteilt. Ihr erster Teil vergegenwärtigt noch einmal die Berliner Situation mit Gesprächsrunde und Demonstration; der zweite Teil erzählt, was Kracht in Phnom Penh beobachtet und was es ihm im Kontrast zu Berlin erschließt. Kracht spricht also zunächst über Berlin. Die Darstellung der Antikriegsdemonstration unterscheidet sich im Grundsatz nicht von der im Band Tristesse Royale, jedoch nimmt Kracht die Situation der fünf Popper im Hotel nicht aus, ›off the record‹ stärkt er einen zentralen Aspekt: »Alle tranken riesige Mengen Espresso, und ab und zu stand einer auf, lief zum Fenster und sah hinaus auf das Brandenburger Tor. Eine Demonstration hatte sich inzwischen dort unten gebildet […]. Sie war, so erfuhren wir, gegen den Krieg in Serbien und im Kosovo anberaumt worden, gegen die Nato-Intervention, für den Kommunismus, gegen den über Nacht zum Nazi gewordenen RAF-Menschen Horst Mahler, gegen den Zionismus und gegen die USA, für den Frieden und gegen die Diskriminierung von lesbischen Berlinerinnen. 624 Die Reportage ist 1999 in der Welt zuerst, 2000 in Buchform in Krachts Reportagenband veröffentlicht wurden; Christian Kracht: Tristesse Royale. Berlin – Phnom Penh, 1999. In: Der gelbe Bleistift. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2000; S. 139–142. 625 Ebd.; S. 170–189.

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Es war eine eher diffuse Demonstration. […] Danach wurde die Konferenz immer verwirrter. […] und es kam zu einem Kleinsttumult […]. Es entstand ein heilloses Durcheinander : Ein gerahmtes Bulgari-Foulard wurde von der Wand gerissen. Der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre versuchte, uns das erste Stück der neuen Echo & the Bunnymen-CD vorzuspielen, auf Lautstärkepegel zwölf. Der Journalist der ›Welt‹ ging ohne einen geraden Satz in der Tasche wieder zurück in die Redaktion, die Konferenz löste sich auf, und der Publizist Joachim Bessing und ich beschlossen, sofort nach Phnom Penh zu fliegen.«626

Eine Beobachtung, die sowohl auf die Demonstration am Brandenburger Tor als auch auf die eigene Kollegen-Runde zutrifft, ist durch Kracht überdeutlich herausgestellt: Hier wie da herrscht Durcheinander, alle sind unstet und unkonzentriert. Das eigene Durcheinander erscheint – gerahmt durch das Luxushotel – zudem als eins auf hohem Niveau. Die Selbstsicherheit des Urteils der Berliner Runde über das Tohuwabohu der Aktion vor dem Brandenburger Tor verweist auf gar keinen Gegensatz mehr, sie scheinen von dem Durcheinander jedenfalls selbst nicht ausgenommen. Vielmehr spiegelt ihr Urteil, die Demonstration sei nicht ernst zu nehmen und belege nur die Abwesenheit alles Wesentlichen, auf sie selbst als Kritiker zurück. Dieses »heillose Durcheinander« ist aber bereits die interessierte Interpretation eines Nebeneinanders dieser einzelnen Dinge. Denn es lebt von der Unterstellung, die disparaten, sich ausschließenden oder widersprüchlichen Gedanken und Ereignisse – für oder gegen etwas zu sein, Kommunismus und Zionismus, CD hören und ein fallendes Einrichtungsmöbel, Stuckrad-Barre und der Zeitungs-Journalist – seien grundsätzlich aufeinander zu verpflichten und müssten Eines teilen. Dieses vermisste Einende mangelt, so nun das Novum der Beschreibung, gleichermaßen den Demonstranten wie der Gruppe. Dass der Mangel kein Fantasma ist, dass es dieses alles Einende und auf sich Verpflichtende gibt, zeigt sich Kracht nun in Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh: »Die Menschen, die dort unten demonstrierten, forderten für sich nur eines: Die Erhöhung des kambodschanischen Mindestlohns von monatlich vierzig US-Dollar auf sechzig. Joachim Bessing und ich waren zu feige, mitzumarschieren. Was vor wenigen Stunden in Berlin noch als herrlich subversive Tat vorgekommen war, nämlich das wahllose Mitmarschieren bei unsinnigen Demonstrationen, hielt uns hier mit einem lastwagengroßen Spiegel unser wahres Gesicht vor : Wir waren feige Popper. Und wir erkannten: Hier in Kambodscha hört die Popkultur auf. Es gab hier keinen ironischen Bruch zwischen dem, was ist und dem, was sein sollte. Hier ging es um zwanzig Dollar mehr im Monat. 626 Ebd.; S. 139–141, Herv. S.H.

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[…] Wir beobachteten die vorbeiziehende Menschenmenge, und Lukas erzählte uns, wie viele Millionen Minen immer noch in den Reisfeldern begraben waren. Er erzählte uns von den Sprungminen, die den Bauern die Brust zerreißen und nicht die Beine, wenn sie drauftraten. Er erzählte uns von dem tagelangen Wimmern der Kinder, die beim Spielen in ein Minenfeld geraten waren, nun dort festsaßen und die man einfach nicht retten konnte, ohne selbst zerfetzt zu werden. Die Nacht brach herein, ohne Vorwarnung. Ein Dunkel löste das andere ab. Es war gut und richtig, wieder in Asien zu sein.«627

Im Gegensatz zum größtmöglichen Berliner Durcheinander zeigen die Menschen in Kambodscha ein Bild der Einheit. Zweierlei hält Kracht fest: Einerseits ist nicht zu leugnen, dass er über die Zustände vor Ort erschüttert ist. Die Lohnfrage und die akute Gefährdung durch Minen versteht er als schändlich, glaubhaft ist die Empörung auch über seine eigene ›Feigheit‹, nicht mit den Einheimischen zusammen dagegen demonstriert zu haben. Andererseits hält er an dieser Lage fest, dass sich in der Lohn- wie der Minenfrage die kollektive Vereinheitlichung zeigt, die er in Deutschland vermisste. Insofern ihm das sachlich Ungleiche von Lohn und Landminen als Gleiches in den Blick kommen, beweist er, dass er an der Sache nicht, aber an der vergemeinschaftlichenden Wirkung vor allem interessiert ist. Und was er als existentiell bedrohlich auf der einen Seite geißelt, kann er ob der Wirkung Gutes abgewinnen. Für Kracht scheinen die beiden Beobachtungen eng miteinander verbunden. Dass diese Dinge zwei Seiten einer Sache sind, die notwendig aufeinander verweisen, scheint ihm dabei nicht klar zu sein und sich mit seinen Wünschen insofern in einen (nicht reflektierten) Widerspruch zu verstricken: Von Seiten der Arbeiter ist die Einheit einerseits ein Beleg dafür, dass sie gleichermaßen, aber darin individuell von einem Schaden und das offensichtlich gegen ihren Willen betroffen gemacht worden sind, und andererseits bedeutet ihre Einheit eine Not, dass sie ihre individuellen Einwände nur als organisierte Einheit zur Geltung bringen können; von der anderen Seite, die diesen Arbeitern ihre gleichmachende Betroffenheit beschert, ist diese Einheit notwendig und absichtsvoll, was man nicht nur an der fortwährenden Existenz der Schädigungen sieht, sondern auch darin, dass die Demonstrierenden das Gegenüber nicht etwa als Naturgesetz aber als Wille ansprechen. Abstrakte Einheit, wie sie Kracht imaginiert, existiert nicht an sich. Sie ist überhaupt als eine an den Arbeitern mit Interessen hergestellte und darin offensichtlich ihre größte Not. Krachts Blick auf die Forderung der Demonstrierenden nach »nur eine[m]« ist dafür eigentlich das passende, im eigentlichen Sinn ärmliche Bild. Es ist die Hoffnung nach Mehr von dem Einen, zu dem 627 Ebd.; S. 142, Herv. S.H.

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offenbar die Arbeitenden und Arbeitenlassenden gegensätzlich stehen, dem ganz konkreten Geld. Was in Berlin die Mitglieder der Gesprächsrunde einhellig als das notwendige Mittel gegen die un-einheitliche Un-Demonstration ergänzten, eine nämlich sich durchsetzende Politik – im Fall der Arbeiterschaft in Phnom Phen, an denen Kracht endlich die Einigkeit entdeckt, nach der es ihm verlangt, spricht er den notwendigen Grund für diese vereinheitlichende Wirkung mit keinem Wort an. Dass Kracht einen schlechten Grund nicht wegen der ›guten‹ Wirkung gutheißen will, zeigt seine wenigstens ideelle Parteinahme für die Betroffenen Arbeiter. Von dem Erlebnis will er unterdessen nicht ablassen, hält an ihm quasi isoliert die positive Seite der Einheit fest628 : Vereinheitlichung scheint ihm getrennt von ihrem Grund als Wert auf, jedoch in Phnom Penh ergänzt durch profunde Ernsthaftigkeit. Die Ernsthaftigkeit im Bemühen der kambodschanischen Arbeiter um ihre Einheit offenbart für Kracht an der Berliner Runde das »wahre Gesicht«. Er und die Seinen seien »feige« und, wie die Berliner Szene zu Beginn der Reportage gezeigt hat, vollkommen unernst bei der Sache. Popkultur und Ironie sind für Kracht ein Spiel, das für ihn nicht mehr zu dem Anliegen passt. Für diese Selbstkritik am Pop und keineswegs, weil er die Zustände in Kambodscha begrüßt, sagt Kracht am Ende: »Es war gut und richtig, wieder in Asien zu sein.« Für den Tristesse-Royale-Kreis ist darüber nicht der Anspruch, dass dem gesellschaftlichen Treiben ein restlos Verpflichtendes und dabei bestenfalls eine durchgreifende Politik zustehe, kritisiert. Ganz im Gegenteil ist eine Besinnung auf das Ziel eingemahnt, wonach Betroffenseinwollen wenigstens, wenn schon die Politik an ihrem Krieg scheitert, als glaubwürdige Haltung vertreten werden sollte. – Die Legitimität der Politik ist nun in den Willen zur Legitimation überführt derer, die diesen Willen – glaubhaft vor sich – vertreten.

628 Kracht spricht sich, darauf sei ausdrücklich verwiesen, nicht für die Stärkung der die Einheit durchsetzenden Seite aus. Er bleibt in der Tat in dem Widerspruch von Einheit und Zwang gefangen. Das sei deswegen erwähnt, weil, auch wenn es Element des Widerspruchs ist, mit dem sich Kracht (ich möchte sagen: begriffslos) beschäftigt, er sich weder für die Ausbeutung noch für den Krieg oder gar den totalen Terror ausspricht, allein weil dies alles die Menschen besonders vereine – und zwar als gleichsam und darin restlos Betroffene. Da im Protokollbuch Tristesse Royale Ernst Jünger eine Rolle spielt und darin auch das Motiv des Kriegs als Alles-Einender Thema ist, und da des Weiteren besonders Kracht in der Rezeption, von ihm forciert oder nicht, wahlweise moralischer Zynismus, Nihilismus oder gar (freilich nur ›Nähe zum‹) Faschismus vorgeworfen wurde, seien solche Übertreibungen an dieser Stelle für diesen Text ausdrücklich zurückgewiesen.

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4.2.3 Das deutsche Engagement für den Kosovo-Krieg als Resultat verfehlter Vernunft und Sprache. Die Kritik des Kriegs als Kritik der Sprache Die Medienberichterstattung über den Kosovo-Krieg lief in Deutschland »auf Hochtouren«629 und wurde umgehend Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung. Die Öffentlichkeit wurde kritisch gegenüber den Formulierungen ›neues Auschwitz‹, ›neuer Hitler‹ und ›humanitäre Intervention‹. Sie nahm Anstoß an der glorifizierenden Sprache der Berichte über die ersten Bombardements. Der Nato-Terminus ›Kollateralschaden‹ für das eingerechnete Töten von Zivilisten erhielt eine sprachhistorische Würdigung, indem es von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Unwort des Jahres 1999 gekürt wurde. Die Pressekonferenzen u. a. des Verteidigungsministers Rudolf Scharping wurden Streitgegenstand. Wo Herta Müller Rudolf Scharpings Berichte lobt, weil er »durch seine persönliche Sprache« den Opfern eine Stimme gegeben und sich somit »zum Literaten« gemacht habe630, ist das öffentliche Echo eher kritisch. Die Berichte von serbisch betriebenen Konzentrationslagern, von schlimmsten Gräueltaten und vom sogenannten, die Nato zur umgehenden Intervention nötigenden ›Hufeisenplan‹ der Serben nährten den Verdacht, lediglich als Behauptung und in Sprache zu existieren. Die Glaubwürdigkeit von Berichten und Dokumenten in Wort und vor allem in Foto und Video wurden anlässlich des Massakers im kosovarischen Racak umfänglich problematisiert. Sogar die publizierende Öffentlichkeit wurde gegenüber sich selbst kritisch, so der Spiegel angesichts eigener moralisierender Kriegsartikel. Unter dem Aspekt der sprachlich-medialen Vermittlung oder gar Inszenierung und Hervorbringung des Kriegs ist die 1999er Debatte auch dezidierter Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung geworden. Diese konnte auf eine prominente Tradition moderner, zumeist in der Philologie angesiedelter Kritik von der Sprache des Kriegs zurückschauen – und hat diese Verbindungen durchaus selbst ausgesprochen: Neben Karl Kraus’ Polemiken gegen den Sprachgebrauch zum Ersten Weltkrieg ist vor allem Victor Klemperer mit seiner Studie über die Sprache des ›Dritten Reichs‹, LTI, zu nennen. Klemperers These nach sei der Nazismus zum Willensinhalt der Deutschen erst durch die Benutzung sprachlicher Zeichen geworden.631 Eine solche Kritik der Sprache als Kritik 629 Michael Schwab-Trapp: Kriegsdiskurse; S. 290. 630 Herta Müller: Die Entfesselung der Perversion; S. 137. 631 Der Holocaust-Überlebende Victor Klemperer stellt in seinem einführenden LTI-Kapitel Heroismus heraus, dass zum einen »die Aussagen eines Menschen […] verlogen sein« mögen, indes »im Stil der Sprache […] sein Wesen hüllenlos« zur Ansicht komme, und dass zum anderen auch dieses Wesen, dass sich im Sprachstil offenbare, vermittels Sprache einem anderen Herren gehorche: »Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch meine Gefühle […].« Weil die Sprache eine solche Bedeutung habe, müsse man

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des Faschismus vertraten zeitgleich die Autoren um Dolf Sternberger in dem in Westdeutschland in den ersten Nachkriegsjahren zusammengestellten Wörterbuch des Unmenschen.632 In den aktuellen Arbeiten über den Sprachgebrauch während des Nato-Kriegs im Kosovo wurden diese Überlegungen, ob und inwiefern sich Ereignis und Bericht gegenseitig bedingen, fortgeführt. Die Ansicht, dass die Geschichte gegenwärtiger Kriege prinzipiell nur als »Mediengeschichte« verstanden werden könne, vertritt etwa Karl Prümm.633 Auf die Kriege seit 1990 haben dies insbesondere Tom Holert und Mark Terkessidis angewendet. Für den Krieg im Kosovo hätten die (massen-)mediale Repräsentation, Stilisierung bzw. Inszenierung des Kriegs eine Schlüsselfunktion besessen.634 Kurt Gritsch verfolgt in seiner bereits aussagekräftigen betitelten Studie Inszenierung eines gerechten Krieges? die These einer »manipulative[n]«, »herrschaftslegitimierende[n] Funktion« von Sprache.635 Weil Sprache ein herausstehendes und dabei alle Teildiskurse einschließendes Thema der Öffentlichkeit war, mag es zunächst nicht überraschen, dass auch die

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sich ihr besonders zuwenden. Klemperer stellt damit dem Großteil der Deutschen im Nationalsozialismus zugute, eigentlich keinen Grund für ihre Kollaboration gehabt zu haben, eigentlich bloß Objekt einer sprachlichen Macht gewesen zu sein, die sich auf jeden Fall unabhängig von ihrem eigenen Urteil ins Recht setzte. Damit kreist Klemperer wie ein Großteil der Kritiker ›manipulativer‹ Sprache um die Leerstelle des politischen bzw. sprachlichen Subjekts der Zeit und letztlich um den Widerspruch, weshalb dieselbe Sprache, die die Menschen manipuliert, vernebelt und belogen habe, zugleich diese Inhalte und das, was mit ihnen ins Werk gesetzt sei, explizit ausspricht. Will man sich die Zustimmung zum Nazismus erklären, müsste dies vielmehr am Inhalt des Gesagten nachgewiesen werden. Victor Klemperer : LTI. Notizbuch eines Philologen. 19. Auflage. Leipzig: Reclam 2001 (nach 3. Auflage 1975; EA: 1957); S. 21, 26. Dolf Sternberger u. a.: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Hamburg: Claassen 1957. Die einzelnen Artikel sind zuerst von 1945 bis 1948 als Reihe in der Zeitschrift Die Wandlung erschienen. Prümm versteht das Medium nicht nur als aufzeichnendes Medium, sondern selbst als Akteur im Krieg, weswegen die Geschichte der ›neuen Kriege‹ »ihr Objekt [verfehlte]«, würde diese das nicht ›fundamental‹ berücksichtigen. Karl Prümm: Die Historiographie der ›neuen Kriege‹ muss Mediengeschichte sein. In: Zeithistorische Forschungen. Studies in Contemporary History, 2/2005. Unter : http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2005/ id%3D4643; abgerufen 05. 04. 2016. Holert und Terkessidis setzen sich vor allem in dem Kapitel ›Was macht Slobodan Milosevic auf MTV? Westliche Bildmaschinen und ihre Objekte: Kriegsreporter, Bösewichte und das Leben als universeller Gangster‹ mit der Bedeutung eines serbischen Feindbilds und westlichen, heroischen Soldaten-Inszenierungen auseinander. Tom Holert und Mark Terkessides: Entsichert. Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2002; S. 129–144, 177–214. Kurt Gritsch: Inszenierung eines gerechten Kriegs?; S. 491, 496f. Darüber hinaus sei noch auf Studien kleineren Umfangs verwiesen: Gert Sommer : Menschenrechtsverletzungen als Legitimationsgrundlage des Jugoslawien-Kosovo-Kriegs? In: Johannes M. Becker u. Gertrud Brücher (Hg.): Der Jugoslawienkrieg – Eine Zwischenbilanz. Analysen über eine Republik im raschen Wandel. Münster : LIT 2001; S. 81–91; und Hermann L. Gremliza: Mein Kriegstagebuch.

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Literaten anlässlich des Kosovo-Kriegs die Sprache in ihm zum Thema hatten. Dass Sprache aber die einzige Sphäre blieb, in dem sich die kritische Literatur zum Nato-Einsatz produzierte, mag erstaunen. Mit dem Verweis auf ihre ureigenen Sujets, Sprache und Denken, hatten die Intellektuellen bereits an der öffentlichen Debatte teilgenommen. Mit dem Verweis auf diese höheren, wenngleich ganz immateriellen Rechtstitel hatten sie nicht nur schon und zum wiederholten Mal ihre eigene Kriegskritik gerechtfertigt, des Weiteren hatten sie damit ebenso die Erwartungen an sich abgewiesen, insbesondere als Intellektuelle müssten sie an der ›Realität‹ der gegebenen politischen Situation Maß nehmen. Die Beiträge von Willy Winkler und György Konr#d, wie im Kapitel 4.1.5 vorgestellt, waren dafür prägnante Beispiele. Was als Antikritik in allen Lagern der Debatte zu finden war, nämlich dem dissenten Urteil und seinen Vertretern Sprache und Vernunft abzusprechen, trugen Intellektuelle in ihrer Kriegskritik jedoch als begründeten Einwand vor. Sie meinten es gewissermaßen ernst, dass den ausgesprochenen Legitimationen zum Nato-Bombardement und der bejahenden Rezeption richtige Sprache und Vernunft fehlten – und sie gerade darin ihre zwar logisch-negative, aber umso erfolgreichere Bedingung für die diskursive Durchsetzung besaßen. Das kritische Ringen um die sprachliche Legitimierung des Kriegs vollzog sich immanent636 : Nicht in den, in Sprache wohl ausgedrückten und beworbenen, aber von der Sprache getrennten Zwecken und Mitteln sei der Grund für Krieg zu suchen und zu kritisieren (worauf etwa Teile der wissenschaftlichen Literatur über Kosovo-Krieg-Legitimationen zielten); der Grund bzw. das bejahende Urteil ist bei den intellektuellen Kritikern mit der Sprache identifiziert. Als ihr Grundgedanke womöglich weniger theoretisiert als praktiziert vorgetragen, ist ihnen Sprache die Bedingung für jedes Urteil. Dass Sprache und Vernunft selbst dieses dissente Urteil über Krieg bewirkt haben sollen, davon gingen die Intellektuellen widersprüchlich zur eigenen Theorie aus (indem ihnen überhaupt ein Begriff ihrer Bedingungen des Denkens im selben Denken möglich ist) und gaben zugleich Auskunft darüber, dass sie damit ihr eigenes Urteil nicht ›immanent‹ fanden, sondern praktisch setzten (indem sie der sowohl unbestimmten Form der Sprache wie dem unbestimmten Verfahren des Denkens einen spezifischen Inhalt gaben). Damit haben sich diese 636 Über diesen Zusammenhang und was daraus für das Verfahren der Sprachkritik folgt, schreibt Christine Waldschmidt: »Wenn sich ideologische Vorgaben […] bis in den Stil hinein erstrecken oder im Stil geltend machen, kann dort auch der Einwand gegen sie erfolgen oder […] sind diese Ansprüche und Anschauungen auf der stilistischen Ebene zu entlarven«. In: Christine Waldschmidt: Zwischen Ideologie und Kritik. Stil als Objekt von Zuschreibungen. In: Ulrich Breuer u. Bernhard Spies: Textprofile stilistisch. Beiträge zur literarischen Evolution. Bielefeld: transcript 2011; S. 189–214, hier S. 201f.

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intellektuellen Kriegskritiker theoretisch auf einen Umkehrschluss verpflichtet, der nie ausgesprochen wird, in ihrer Argumentation jedoch immerzu als Stachel einer vakanten Erklärung durchscheint: Indem sie in dieser Nato-Intervention keinen vernünftigen Grund, mit dem sie sich inhaltlich auseinandersetzen müssten, erkennen, dieser Grund vielmehr nur durch sprachliche Unvernunft Vollzug und Erfolg zukam, ist in der Abwesenheit der Gründe eine logisch-positive Auskunft über den Krieg gegeben. Krieg findet statt, grundlos. – Die Klärung des trotzdem stattfindenden (unnotwendigen) Kriegs und seiner (unnotwendigen) Rechtfertigungen setzte der WarumFrage von allen Seiten zu. Die Kriegs- als Sprachkritiker antworteten auf diese Warum-Frage zum einen logisch: Sie unterbreiteten den Kriegsbefürwortern, die auf die Realität, wie sie praktisch ist, verweisen (konnten), dass Krieg in der eigentlichen Realität, die nur idealiter in Sprache und Vernunft vorstellig sei, keinen Grund und kein Recht habe. Und das machten sie zum anderen rhetorisch: Bildreich, in hoher Dichte und in allen sprachlichen Formen des gegenwärtigen Kriegsdiskurses vergegenwärtigten sie ihr Urteil von der Abwesenheit der Vernunft und ernstzunehmender, richtiger, autonomer Sprache in der un-eigentlichen Wirklichkeit des Kriegs. Dass den Sprachkritikern mit ihren Darlegungen ihr eigener theoretischer Mangel gegenübertrat, hat, wenn auch nicht als Einwand genommen, Konr#d eingestanden. Dass Kriegsbefürwortung überhaupt existiert, wenn sie offensichtlich unnotwendig ist und als Sprachwidriges in Sprache Anlass stiftet, konstatiert Konr#d mit emphatischer Verwunderung und verbleibt ganz im Modus der Frage.637 Die Intervention 1999 prinzipiell ablehnenden Texte sind in der deutschen Literatur nicht nur in deutlicher Unterzahl, sondern nehmen ausschließlich die öffentliche wie politische Sprache dieser Zeit zum Ausgangspunkt. Damit sind sie der Kriegskritik, die die Intellektuellen bisher in der Öffentlichkeit vertraten, (sozusagen) treu geblieben – und ebenso deren Grundverständnis: Die deutsche Teilnahme an der Nato-Intervention habe sich ausschließlich mittels falscher Legitimationen politisch wie öffentlich ins Werk setzen können, der Sprachgebrauch allein habe den folgenschweren wie nicht notwendigen Grund geliefert. Was die Literarisierung dieses sprachkritischen Teildiskurses leistet, geht jedoch über die Illustration weit hinaus. Sie nimmt sich der noch offenen Frage an, die Notwendigkeit dieser unnotwendigen, widersprüchlichen ›sprachli637 Siehe die entsprechende Erörterung von Konr#ds Artikel Warum reden nette, kluge Leute plötzlich Blödsinn? in dem Kapitel 4.1.5 dieser Arbeit. Eine ähnliche Haltung für das gleiche umrissene Problem findet sich bei Handkes Kritik des westlichen Feindbilds; vgl. Kapitel 3.2.4 (c).

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chen‹ Kriegsbejahung zu klären und ihre Deutungshoheit gegen die für sich stehenden, weil gültige(re)n politischen Verhältnisse zu profilieren. Dabei kennt die Literatur selbst einige Eskalationen der Selbstbehauptung – vom intellektuellen Vorbehalt bis hin zur (wenigstens ideellen) wirklichkeitsmächtigen Institution. Dem soll nun an Auszügen aus einer kleinen literarischen Debatte und an zwei größeren Einzeltexten nachgegangen werden: der Streit zwischen Thomas Hettche, Thomas Meinecke und Joachim Helfer in der Literatur-Blog-Anthologie NULL, sowie Stefan Wirners episch-dramatische Dokumentenkompilation Installation Sieg. Kalligraphie des Krieges und Uwe Dicks Marslanzen oder Vasallen recht sein muß. (a)

Krieg wegen fehlender Sprache. Thomas Hettche, Joachim Helfer und Thomas Meinecke in NULL (1999)

1999 hatte Thomas Hettche viele deutsche Autoren verpflichten können, an NULL, einer nach eigenen Worten »Internet-« bzw. »Milleniums-Anthologie«, teilzunehmen.638 Hettche hatte beabsichtigt, im neuen Medium des Internets ein neues Format literarischer Öffentlichkeit zu etablieren und dabei ein Porträt eines Jahres und einer neuen Generation zu fassen zu bekommen. Für NULL verfassten 34 Schriftsteller kleine, oft gegenwartsbezogene Beiträge, machten sie umgehend online zugänglich und reagierten zeitnah aufeinander. Marcel Beyer, Ulrike Draesner, John von Düffel, Arno Geiger, Katharina Hacker, Julia Franck, Ter8zia Mora oder Burkhard Spinnen befanden sich darunter. Im Jahr 2000 veröffentlichte Hettche gemeinsam mit Jana Hensel fast alle Texte in einem, dann doch dem klassischen Buch ähnlichen Format. Der im Frühjahr 1999 begonnene Kosovo-Krieg wurde für die Herausgeber überraschenderweise und in einem überraschend großen Umfang Gegenstand der Anthologie-internen Auseinandersetzung. Am Ende des Jahres zählt ›Krieg‹ zu den umfangreichsten der terminlich, personell und thematisch als »Sternbilder« bezeichneten Text-Cluster. Ohne die Kriegsthematik, so wird Hettche zitiert, wäre die Anthologie NULL »nämlich Null« gewesen.639 Insgesamt hatten sich zwischen 19. April und 19. Juli in insgesamt 34 Texten 15 Autoren zum Kosovo-Krieg geäußert. Unter ihnen befanden sich Helmut Krausser, Thomas Meinecke, Julia Franck oder Dagmar Leupold. Die zum Teil immanent literari638 Thomas Hettche u. Jana Hensel (Hg.): NULL. www.dumontverlag.de/null. Köln: DuMont Buchverlag 2000. Im Folgenden wird nicht nach den noch online zugänglichen Texten, sondern allein nach dieser Buchfassung zitiert. Wenngleich die Textmenge leicht variiert, sind bei Stichproben in den Wortlauten der beiden Versionen keine Abweichungen aufgefallen. 639 Matthias Altenburg: 14.6. Einsam ist Scheiße sagt Hettche. In: ebd.; S. 208.

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schen, zum Teil als Essay oder als direkt adressierte Briefe verfassten Beiträge teilen keinen gemeinsamen Standpunkt. Wenn sich explizit auf die politische Situation des Kosovo-Kriegs bezogen wurde, überwiegt, quasi repräsentativ für die Öffentlichkeit im Allgemeinen, die Befürwortung. Diese und ihre Argumente sollen hier nicht Thema sein, sondern die durch den Autor Thomas Meinecke in der Anthologie vehement und oft vorgetragenen Kritik am Krieg und der durchgesetzten Kriegsbefürwortung unter seinen Kollegen. Das führte mit Helmut Krausser und Joachim Helfer zu einem verbalen Schlagabtausch, welcher von Hettches monatlichem Editorial flankiert und extern in der Presse kommentiert wurde. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Kriegsteilnahme im Kosovo beginnt unter der Blog-Adresse www.dumontverlag.de/null verzögert und ruhig. Obwohl die Blog-Texte relativ unmittelbar zugänglich gemacht wurden und es keine nennenswerte editorisch verschuldete Verzögerung gab, bezog sich erst knapp einen Monat nach Gerhard Schröders Erklärung, Deutschland nehme im Rahmen der Nato-Intervention aktiv am Krieg gegen Jugoslawien teil, am 19. April 1999 zum ersten Mal Brigitte Oleschinski auf dieses Ereignis. Herausgeber Hettche streute eher beiläufig und womöglich in Koketterie über das exklusive Medium ins Editorial des Monats April den Satz, er habe zum ersten Mal vom aktuellen Krieg aus dem Internet erfahren.640 Die erste deutliche Positionierung lieferte Thomas Meinecke am 26. April. In seinem ›Quartalsresümee‹ über bisherige Anthologie-Beiträge nimmt er gleich zu Beginn politisch Stellung: »Zunächst: Nie wieder Grüne. Nie wieder SPD. Nie wieder Krieg.«641 Dieser eindeutigen und grundsätzlichen Ablehnung gibt Meinecke im Verlauf seines Artikels, wenn es ihm die Assoziation zu den besprochenen Anthologie-Texten erlaubte, immer wieder Ausdruck. So geschieht es im freien Bezug etwa auf einen Beitrag von Thomas Hettche: »Hettche […]: Problemzone Kindheitserinnerungen. (Was mich halbwegs legitimiert, gleich mal loszuwerden, daß ich mit achtzehn Jahren fast durch meine Kriegsdienst verweigerungsverhandlung [sic] fiel, weil ich mich getraute, den für alle Zeiten ausschließlich defensiven Charakter der Bundeswehr anzuzweifeln. Hier könntest Du, Jana [Hensel; Anm. S.H.], wenn Du Lust hast, einen Link zur Homepage der aktuellen deutschen, eben leider doch ewigen Angriffsarmee einrichten.)«642

Ebenso unvermittelt fällt Meinecke sein rhetorisch und politisch hervorstechendes Zwischenfazit: »Bringt mir den Kopf von Joschka Fischer.«643 640 Brigitte Oleschinski: 19.4. UHU-Bomber (to be continued). In: ebd.; S. 119–122; Thomas Hettche: Editorial April. Nova Huta. In: ebd.; S. 110–111. 641 Thomas Meinecke: 26.4. Durchsicht. In: ebd.; S. 132–135, hier S. 132. 642 Ebd. 643 Ebd.; S. 134.

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Im Lichte der politischen Ereignisse lobt Meinecke folgend, dass sich mit Hettche und Oleschinski endlich überhaupt jemand mit der deutschen Kriegsbeteiligung und das sogar »leidenschaftlich« beschäftigt hatte. Jedoch seien, so hält Meinecke kritisch fest, diese Texte im Weiteren frei eines politischen Urteils und nur »abermals: Literatur total«.644 Auf das neue Blog-Thema des Kriegs und den knappen Vorwurf Meineckes, eine literarische Befassung sei unpassend, reagiert Hettche im Editorial des Monats Mai. Hettche eröffnet das »Sternbild des Krieges«. Entgegengesetzt zu Meinecke lobt er die Literarizität der einen Beiträge und kritisiert das Unliterarische des Beitrags von Meinecke. Hettche hält fest: »Doch der Ton hat sich auch in NULL geändert.«645 Um die eigene Kritik an der politisierenden Entwicklung in seiner literarischen Anthologie zu fundieren, erklärt er : »Denn eine Armierung der Sätze, wie man sie jetzt betreibt, scheint mir dem Verständnis der Welt nicht zuträglich zu sein und den Krieg vor allem zu einer Gelegenheit für tote Worte zu machen. Die aber werden der Komplexität globaler Konflikte, die auch durch die Bedingungen ihrer medialen Vermittlung zugenommen hat, nicht gerecht. Die moralische Aufladung des Kriegs ist für mich seine eigentliche Verharmlosung, und Autoren, die glauben, der Ernst der Lage erfordere jetzt eine Sprache der schnellen Parolen, entlasten sich von der Anstrengung des Begriffs und arbeiten dieser Verharmlosung zu. Damit aber vernachlässigen sie ihre Aufgabe, die eben nicht darin besteht, eine Meinung zu haben, sondern eine Darstellung zu finden. Und also in der Erfindung der Welt, wie sie ist.«646

Hettche zeigt deutlich, dass er mit der öffentlichen Debatte unzufrieden ist. Er problematisiert die »mediale[] Vermittlung«, kritisiert die moralischen Rechtfertigungstitel und die »schnellen« Urteile. Er mahnt zur Ruhe, zur Besinnung auf den Begriff und zum Verstehenwollen. Jedoch füllt dieses für Hettche bemerkenswerterweise die Literatur aus. Sie sei prinzipiell Statthalter der ideellen Vernunft und gedankliches Regulativ dessen, was ansonsten ›vereinfachende‹, ›tote‹, ›schnelle‹, ›armierte‹ oder schlicht falsche Sprache ist. Bemerkenswert ist es deshalb, weil der Einwand gegen Meinecke nicht anhand seiner Inhalte geführt wird, inwieweit z. B. dessen Argumentation zu dem zu klärenden Gegenstand des Kriegs passt. In solch inhaltlicher Beurteilung wäre die Form sekundär, ohnehin dem Urteil entsprechend und keines Aufhebens wert. Die Kritik an Meinecke findet rein methodisch statt. Dies wird durch die (Nicht-)Zuordnung zu dem vollzogen, was Hettche als Literatur höher ansiedelt. Sich auf die »Welt, wie sie ist«, zu beziehen und in ihrer »Darstellung« die angemessene Komple644 Ebd.; S. 135. 645 Thomas Hettche: Editorial Mai. Im Sternbild des Krieges. In: Thomas Hettche u. Jana Hensel (Hg.): NULL. www.dumontverlag.de/null. Köln: DuMont Buchverlag 2000; S. 142– 143, hier S. 142. 646 Ebd.; S. 143.

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xität, die dem »schnellen« wie dem prinzipiellen Fällen eines Urteils entgegensteht, zuzugestehen – diese Methode der des rechtfertigenden Nachvollzugs scheint Hettche in »Aufgabe« und »Ton« bei Meinecke verfehlt. Den Gegenstand der Anthologie für Hettches Literaturbegriff zu retten, misslang jedenfalls den folgenden Beiträgen von Thomas Meinecke, die hauptsächlich im Schlagabtausch mit Joachim Helfer entstanden.647 Meinecke und Helfer stritten recht unliterarisch über die Legitimität der aktuellen deutschen Kriegsteilnahme. Indes stritten sie im Wesentlichen mit keinen anderen Argumenten als Hettche: Das nicht geteilte Urteil sei durch Abwesenheit von Sprache und Vernunft verschuldet. Damit das eigene Urteil zu be- und das Urteil des Gegenübers zu widerlegen, haben Meinecke und Helfer aneinander mit erstaunlicher Vehemenz praktiziert: Thomas Meinecke hatte in seinem kurzen Text Gute Nachricht am 3. Mai seine Ablehnung der deutschen Kriegsteilnahme mit tagespolitischen Ereignissen deutscher Kriegsberichterstattung aktualisiert. Am 10. Mai folgte nun die erste Wortmeldung Joachim Helfers, Wo Recht zu Unrecht wird …648 Helfers Replik auf Meinecke fokussiert im allerersten Satz zwar auf den Krieg, aber in der sprachlichen Bezugnahme auf ihn: »Doch ein paar Sätze zum Krieg – oder vielmehr zum Reden über den Krieg.«649

Mit dem Verweis auf den literarischen Topos des kultur- und sprachlosen ›Barbaren‹ nimmt Helfer Meineckes Kritik in den Blick: »Wer die Beteiligung deutscher Streitkräfte an den gegenwärtigen Luftangriffen auf das gegenwärtige Serbien einen ›durch nichts legitimierten und zu legitimierenden Angriffskrieg‹ nennt, spricht als Barbar. Mangel an genauen Informationen entschuldigt ihn nicht […]. Wir alle wissen bei weitem nicht alles, aber allemal genug: Serbien begeht sein [sic] bald zehn Jahren systematischen Völkermord. […] Jeder, der lesen kann, kann dies wissen: Er weiß es genau. Und es bewegt ihn nicht – jedenfalls nicht

647 Das Urteil von Frauke Meyer-Gosau wäre in Frage zu stellen: »Da sprechen drei Privatleute, die zwar denselben Beruf und dabei politisch unterschiedliche Meinungen haben, doch wollen sie keineswegs aufgrund ihres Berufes mit ihren Meinungen den Verlauf der Zeitgeschichte korrigieren.« – Das mag auf Hettche zutreffen; das Gleiche von Meinecke wie Helfer zu behaupten, würde die Debatte der beiden in einen bloß theoretischen Schlagabtausch verwandeln; deren Anspruch ist indes, wie zu sehen, durchaus praktisch gemeint. Frauke Meyer-Gosau: Modernisierung, Generationswechsel, Erleichterung. Zehn Jahre Literatur und literarische Debatten seit der Wende. In: Lothar Probst (Hg.): Differenz in der Einheit. Über die kulturellen Unterschiede der Deutschen in Ost und West. Berlin: Christoph Links 1999; S. 197–207, hier S. 204. 648 Thomas Meinecke: 3.5. Gute Nachricht. In: ebd.; S. 148; Joachim Helfer : 10.5. Wo Recht zu Unrecht wird … In: ebd.; S. 151–153. 649 Ebd.; S. 151, Herv. S.H.

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dazu, alles Menschenmögliche, also notfalls eben auch militärisch, dagegen zu tun. Diese Vereisung des Gewissens nenne ich barbarisch.«650

Helfer ist das Geschriebene, das zu Lesende und das Wissen so identisch mit den darin verhandelten Fakten, dass ihm nun umgekehrt das Bestreiten der in den Medien kursierenden Urteile als Bestreiten der Fakten oder als Ignoranz der Medien erscheint. In Achtung vor der ›Vernunft‹ erklärt sich Helfer Meineckes dissente Position somit als abwesende Vernunft und spricht ihm wenigstens stilistisch alles Menschengemäße ab. Er, der eigentlich lesen könne und wissen müsse, sei gefühls-, gedanken- und kulturlos, ein Barbar. Auf diese Replik reagiert Meinecke am 17. Mai mit dem Text Helfershelfer.651 Er gibt den Vorwurf, für seine Kriegskritik als Barbar zu gelten, an Helfer zurück und zwar auf Grundlage, dass man über unterschiedliche Urteile zum Krieg streitet: »Ich bin gegen den Krieg. Und du bist eben nicht gegen den Krieg.«652 Spiegelbildlich versucht nun Meinecke zu erklären, weshalb wiederum sein Urteil bei Helfer nicht fruchtet. Er begegnet ihm mit genau dem Gleichen. Meinecke sieht Helfers Vernunft ebenso außer Kraft gesetzt, denn instrumentalisiert: »Deine am 10. Mai in NULL erschienenen Ausführungen über die angebliche Notwendigkeit dieses Angriffskrieges lassen Dich in meinen Augen als von denen instrumentalisiert erscheinen, die diese, wie ich nur wiederholen kann, um alles andere als (selbst sogenannte) humanitäre Interesse geführte militärische Aggression nun schon seit vielen Wochen tagtäglich (und allabendlich auf unseren Fernsehbildschirmen) inszenieren.«653

Kurz darauf: »Keines Deiner vorgebrachten Argumente ist in irgendeiner Weise nicht deckungsgleich mit den stereotypen (und, wie ich dann auch mal finde: zynischen) Verlautbarungen der NATO-Sprecher.«654

Meinecke nimmt die formale Gleichheit der Argumente bei Nato und Helfer als Erklärung, weil er Helfer einen eigenen Grund, für die Intervention zu sein, bestreitet und sich deswegen auf Helfers falschen Grund inhaltlich nicht kritisch einlassen zu müssen glaubt. Die Erklärung der Instrumentalisierung und Manipulation trägt die Grundannahme, (richtige) Sprache stehe per se für Kriegskritik, einen Schritt weiter. Sie bot erste Überlegungen, sich Helfers

650 651 652 653 654

Ebd. Thomas Meinecke: 17.5. Helfershelfer. In: ebd.; S. 164–169. Ebd.; S. 164. Ebd.; S. 165, Herv. S.H. Ebd.; Herv. S.H.

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spezifisches Urteil zum Krieg als Unvernunft zu plausibilisieren bzw. seine Vernunft zu delegitimieren.655 Helfer reagiert am 25. Mai auf diesen Beitrag und betont, dass er »die größte Mühe habe, diesen Kommunikationsversuch nicht abzubrechen«.656 Helfer greift Meineckes Erklärung, wonach Meinecke überhaupt nur ein eigenes Urteil habe und Helfer nur das von der Nato eingeflüsterte zitiere, an. Auch Helfer lässt sich nicht auf den Inhalt von Meineckes Brief ein, sondern fragt getrennt davon, weshalb dieser nur auf seiner Kritik insistiere. Helfer entdeckt geistige, zweckfrei flottierende Bedingungen für Meineckes »grotesk[e]« Argumentation, für »unverrückbare[] Vorurteile, Verschwörungstheorien und Ressentiments«: Es sei »systematisches Merkmal und sicheres Erkennungszeichen aller geschlossenen, totalitären Gedankengebäude«.657 Helfer weist Meineckes »Sprache der Demagogie« schließlich zurück, indem er dessen Verfahren der Identifikation zurückspiegelt: »Du kritisierst die Deckungsgleichheit meiner Argumente mit denen der Nato; nun, deine Forderungen in dieser Sache sind deckungsgleich mit denen von NPD und DVU.«658

Dass Helfer seine Argumente grundsätzlicher versteht, beweist der am selben Tag veröffentliche Text Solothurn, Kosovo. Ein Protokoll. In ihm berichtet Helfer von einer Diskussionsrunde zum aktuellen Krieg anlässlich einer Lesung. An den Diskutanten zeigte sich für Helfer, dass sein kriegslegitimierendes Urteil in der An-, ein kriegskritisches Urteil hingegen in der Abwesenheit von Vernunft resp. Sprache begründet ist. Jene unter den Diskutanten, die sich für den Krieg aussprachen, argumentierten »klar und sachlich«, bei den Kritikern hingegen vermisste Helfer die »Sprache der Aufklärung und Vernunft«.659 Schließlich kommt dieser Schlagabtausch am 31. Mai zu einem abrupten Ende. Meineckes Brief besteht zum allergrößten Teil aus einem Wechsel von Direktzitat und Kommentar.660 In den Kommentaren nimmt Meinecke Helfers Urteil, bei Meinecke spreche die Abwesenheit von Vernunft und rede politisierter Wahn, auf. Einerseits ironisiert Meinecke das delegitimierende Moment dieses Arguments, andererseits bestreitet er es aber nur für sich, auf Helfer wendet er es wieder postwendend und unironisch an; ein paar Auszüge: 655 Damit sich Helfer ein eigenes, nämlich Meineckes Urteil bilden kann, fügt Meinecke seinem Antwortbrief Materialien zum aktuellen Krieg bei, die Helfer unmöglich zur Kenntnis genommen hätte und agiert dahingehend wieder spiegelbildlich zu Helfer, der seinem Gegenüber die Zurkenntnisnahme der Welt anempfahl. 656 Joachim Helfer : 25.5. Lieber Thomas Meinecke. In: ebd.; S. 173–175, hier S. 174. 657 Ebd.; S. 174f. 658 Ebd.; S. 175. 659 Joachim Helfer : 25.5. Solothurn, Kosovo. Ein Protokoll. In: ebd.; S. 177–181, hier S. 178. 660 Thomas Meinecke: 31.5. Joachim Helfer, SPD, Scharpingschauend. In: ebd.; S. 190–193.

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»Joachim Helfer, SPD: ›… hinlänglich bekannte und glaubwürdig verbürgte Zahlen …‹ In meinem Wahnsystem nicht denkbar. Joachim Helfer, SPD: ›In einem guten Drama haben alle Figuren recht. Der Balkankrieg aber ist kein gutes Drama, sondern ein Schurkenstück von der miesesten Sorte, in dem wenigstens einer ganz eindeutig unrecht hat und Unrecht tut.‹ Laut schreie ich seinen Namen aus meiner Gummizelle hinaus: Hans-Dietrich Genscher, FDP. […] Joachim Helfer, SPD: ›Lieber Thomas Meinecke, ich hätte allerdings gehofft, daß ein sich selbst dem linken Spektrum Zurechnender den Satz ›Wo Recht zu Unrecht wird …‹ mit ›wird Widerstand zur Pflicht!‹ ergänzt.‹ Befund: Nicht zurechnungsfähig. […] Joachim Helfer, SPD: ›Jedenfalls stellt er sich gegen die sittlichen Normen der zivilisierten Welt (von der Solidarität unter Publizierenden … einmal ganz abgesehen …) und befindet sich … bereits mitten in der totalitären Praxis.‹ Nämlich in Helfers Vollzugsanstalt.«661

Meinecke als Kriegsgegner und Helfer als Befürworter beweisen in den Erklärungen ihrer Positionen zunächst recht anschaulich, dass der legitimierende Verweis auf Sprache und Vernunft so selbstverständlich ist, dass ihnen lediglich am Gegenüber die argumentative Leistung (negativ) auffällt. Sie selbst lassen von der Grundannahme nicht ab. Bei der Widerlegung des Gegenübers werden sie nur kritisch in konstruktiver Hinsicht: Sie finden getrennt von jedem politischen Inhalt Notwendigkeiten, weshalb ›sich‹ das eigene Urteil dem Gegenüber versagt – von der bloßen Feststellung eines denkfaulen, denkunfähigen, wahnsinnigen Zuhörers, eines moralisch oder kulturell Verkommenen bis hin zum Instrumentalisierten und Manipulierten. Das Gegenüber in seiner Stellung zum deutschen Kosovo-Krieg so erklärt, erübrigt sich in der Tat jede, einmal von beiden Parteien als notwendig erachtete Auseinandersetzung. So bricht Meinecke die Kommunikation, die er nun nur als Versuche nimmt und in Gänsefüßchen setzt, wortreich ab und verwahrt sich dagegen, als willfährige Vorlage für Helfers Kriegsbefürwortung nicht nur ge-, sondern missbraucht zu werden: »Wie Du siehst, Joachim Helfer, habe ich Deinen [sic] ›Kommunikationsversuchen‹ [sic] bereits meinerseits abgebrochen, bin Deinen geschlossenen Anstalten gleichsam entsprungen, habe mich gar nicht weiter zu argumentieren bemüht, […]. Nun könntest Du, im Gegenzug, Deinerseits davon absehen, ernstgemeinte kriegsgegnerische Zuschriften wie die meinen als quasi abwaschbare Unterlage für deine monologischen Propaganda-, beziehungsweise moralischen Rechtfertigungs-Manöver zu mißbrauchen.«662 661 Ebd.; S. 191f., Auslassungen ohne Klammern i.O. 662 Ebd.; S. 193.

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Der Ausgang des Disputs stellt sich für Helfer und Meinecke jedoch sehr verschieden dar. Meinecke, auch wenn er den Briefwechsel abbricht, scheitert auf weit höherer Stufe. Denn Helfer hat für die Gültigkeit seines falschen Begriffs die politische Realität bei der Hand. Meinecke kann für seine Kriegskritik lediglich auf eine Legitimation bauen, die nur in absentia ihre Gültigkeit beweist. Die Legitimation für den stattfindenden Krieg immanent zu kritisieren, dem Ausgesprochenen die Sprache zu bestreiten und dem Durchdachten die Vernunft, stellt diese Kriegskritiker vor Widersprüche – und in Beweisnöte für ihre Kritik. Anders als mit einem ›renitent unbelehrbaren‹ Gegenüber verobjektiviert Stefan Wirner das Scheitern des sprachlichen Ideals als Grund für die Kriegsbefürwortung. Wirner verlagert den Grund für die Zustimmung zum Krieg in die Wirkmacht des öffentlichen Redens, in einen über-subjektiven Diskurs. (b)

Krieg wegen öffentlicher Sprache. Stefan Wirner: Installation Sieg. Kalligraphie des Krieges (1999)

Zeitnah zur Nato-Intervention im Kosovo, noch in der ersten Jahreshälfte 1999, veröffentlichte Stefan Wirner seinen Text Installation Sieg. Kalligraphie des Krieges.663 Das Genre fasst Wirner als »modernes Epos«.664 Die editorischen Notizen geben zwei weitere Hinweise. So ist zum Ersten vor dem Hauptteil zu lesen: »Die Erzählung basiert auf Zitaten aus deutschen Zeitungen aus der Zeit vom 24. März 1999 bis zum 24. Juni 1999. Der Erzähler greift nicht in das Geschehen ein.«665

Zum Zweiten befindet sich im Anhang des Buchs eine Liste der genau 17 Quellen – eine Nachrichtensendung des Fernsehens, der Rest gedruckte Periodika –, mit denen Wirner sein Textmaterial und sein Verfahren authentifiziert. Der in Prosa gehaltene Text ist in drei Teile gegliedert, Phase I: Operation Eingreifen, Phase II: Durch Krieg zum Sieg und Phase III: Der Friede. Er umfasst reichlich einhundert Seiten. Dies sind die gesamten Informationen, die die Lektüre des Texts leiten sollen, der dem Leser ansonsten unmoderiert und unkommentiert, ohne Zitationszeichen und näheren Quellenangaben als nahtlos aneinandergereihte ZitateKompilation bzw. Quellen-Amalgam gegenübertritt. Der Text in seiner Konstruktion und mit den beigefügten Informationen stellt

663 Stefan Wirner : Installation Sieg. Kalligraphie des Krieges. Berlin: Verbrecher Verlag 1999. 664 Ebd.; unpaginierter Innenteil. 665 Ebd.

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die Lektüre aber vor Schwierigkeiten bzw. formuliert einen recht abstrakten Leseauftrag: Indem im Editorial klargestellt wird, der folgende Text basiere ausschließlich auf Zitate der öffentlichen Berichterstattung, mag man sich über deren doppelnde Wiedergabe wundern. Abgesehen von dem einen gemeinsamen Gegenstand – das gerade stattfindende Bombardement Serbiens durch die Nato mit deutscher Beteiligung – bleibt offen, weshalb die Vielzahl und vordergründige Disparatheit der Zeitungsartikel zu einem Text verknüpft wurden. Soll mit dem Ineinssetzen aller Texte eine Identität bewiesen (ein nationaler Konsens) oder soll eine solche vorgeführt sein (Widersprüche im Konsens)? Soll an diesen Zeitungsartikeln dadurch etwas deutlich werden, indem sie aus ihrem publizistischen und politischen Umfeld genommen sind und nun einen Blick ermöglichen, der im originalen Kontext nicht möglich war? Soll, auch eingedenk des Untertitels Kalligraphie des Krieges, in der Verdichtung ein bestimmendes Drittes aufscheinen? Diesen Fragen nach dem Wie und nach dem Ertrag der erneuten, konzentrierten Vergegenwärtigung des öffentlichen deutschen Kosovo-Diskurses wird nun an drei Beispielen nachgegangen: an dem ersten Abschnitt von Installation Sieg, an einer Passage aus dem Hauptteil und an den ein- und ausleitenden Sätzen der drei Kapitel. Beispiel eins; das ›Epos‹ Installation Sieg beginnt mit diesem Absatz: »Das letzte Abenteuer des Jahrhunderts. Westliche Staaten evakuieren ihre Botschaften in Jugoslawien. OSZE zieht alle Beobachter sofort ab. Auswärtiges Amt fordert Deutsche zur Ausreise auf. Friedensverhandlungen auf unbestimmte Zeit vertagt. Nach dem Scheitern der Kosovo-Konferenz in Paris verschärft sich die Lage in der serbischen Provinz dramatisch. Letzte Warnung von Bill Clinton. Der französische Präsident Jaques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder, der sich zu Besuch in Paris befand, erklärten, Milosevic allein trage die volle Verantwortung für die Konsequenzen. Die Nato muß mit ihrer Drohung gegen Belgrad Ernst machen. In Kosovo sollte sich der Fehler von Bosnien nicht wiederholen. Werden die Politiker zu ihrem Wort stehen, Bombenangriffe auf Stellungen der jugoslawischen Armee fliegen zu lassen, wenn nicht unterschrieben wird? Nun ist auch die deutsche Gesellschaft gefordert: Sie muß Verantwortung übernehmen und jene Politiker stärken, die konsequent durchsetzen, was vernünftig ist. Wir sind auf alles vorbereitet.«666

Der Text für sich gibt nun Auskunft worüber? Es steht nach gescheiterten Friedensverhandlungen über die Kosovo-Frage ein militärisches Eingreifen gegen Serbien an. Dafür wird Milosevic verantwortlich gemacht. Das verpflichte nun die westlichen Politiker auf konsequente Übernahme ihrer Verantwortung. Und dafür wird wiederum das durch sie betreute Volk in die Pflicht genommen. 666 Ebd.; S. 1.

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Der Abschnitt wird eingeleitet durch ein elliptisch und im knappen Indikativ betontes »Abenteuer« und beendet mit einem Politikervertrauen, mit dem man »auf alles vorbereitet« sei. Dieser Abschnitt, so weiß der Leser aus dem Kontext, besteht aus einem oder aus mehreren Zitaten der deutschen Presse. Dieser beinhaltet neben den chronologischen Fakten aber ebenso allerhand von den Legitimationen und politisch interessierten Perspektiven des Westens auf den Balkan-Konflikt und ihres eigenen Eingreifens in ihn. Diese werden hier, wenn auch konzentriert, in ihrem öffentlichen Sprachgebrauch wiedergegeben. Nur, das Arrangement scheint zu nichts neuem verdichtet oder abstrahiert. Auch auf stilistischer Ebene erscheinen auf dem ersten Blick keine der bekannten Formulierungen verunsichert oder bestärkt. So wird der Leser, weil in diesen re-kontextualisierten Wortlauten bereits bekannter Texte keine neue Perspektive expliziert ist, dem Horizont überlassen, den er womöglich schon bei der ersten Lektüre des Originals hatte. Eine kritische Absicht von Installation Krieg scheint offenkundig, doch ist ihr Inhalt unausgesprochen, unvermittelt bzw. abstrakt und leer. So macht sich hier zunächst allein der Gestus einer Kritik, eine Kritik als Haltung, vorstellig. Beispiel zwei; ob und inwiefern das reproduzierte, weitestgehend unredigierte Diskursmaterial aus sich spricht und dabei über sich die Kritik, gegebenenfalls sogar den Begriff der Kritik offenbart, sei an einem weiteren Textausschnitt erörtert. Dieser bezieht sich auf prominente Gegenstände der politischen wie öffentlichen Kriegsdebatte. Es sind die nämlichen Täter, Opfer und der zur Rettung genötigte Westen: »Slobodan Milosevic: Der Pfaffensohn aus Pozarevac ist Serbiens starker Mann. Er mauserte sich in Belgrad vom kleinen Fabrikdirektor zum Parteichef. Er führte die Serben in den Krieg gegen Slowenien, Kroatien und Bosnien. Selbstherrlich wechselte er seine Funktionen vom KP-Chef zum Landesvater Serbiens und wieder zurück. Derzeit ist er Präsident Jugoslawiens und damit Oberbefehlshaber über die Armee. Viel wichtiger ist die Frage, was geschieht jetzt im Kosovo. Wenn wir hören, daß im Norden von Pristina ein Konzentrationslager eingerichtet wird, wenn wir hören, daß man die Eltern und die Lehrer von [sic; gemeint ist ›vor‹; Anm. S.H. ] Kindern zusammentreibt und die Lehrer vor den Augen der Kinder erschießt […]. Es ist wahrhaft tragisch, daß die Diplomatie versagt hat, aber es gibt Zeiten, wo die Anwendung von Gewalt zur Erreichung des Friedens gerechtfertigt sein kann.«667

Dieser Passus zitiert die öffentliche Berichterstattung, wie sie sich 1999 im Westen konstituierte. Sie verweist auf den biografisch zwielichtigen ›Aggressor‹ Milosevic; sie verweist unvermittelt auf die kosovarische Partei, die in ihrem unrechten, deswegen besonders drastisch veranschaulichten Opferstatus ins 667 Ebd.; S. 3f.

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Bild kommt; schließlich verweist sie auf das Interesse des Westens, der die Abwesenheit seiner Friedensdiplomatie als tragische Not zur Gewalt auffasst. Diese Momente waren, wie in den Kapiteln 4.1.4 und 4.1.5 herausgestellt, für die Kriegslegitimationen des Westens zentral. Installation Sieg macht deutlich, fraglos gute und detaillierte Kenntnis von dem Diskurs zu haben und in keinem Fall unwissend oder naiv zu sein. Jedoch werden auch in diesem Textpassus die Legitimationen so treffend ausgesucht, wie sie zugleich ganz bei sich belassen werden. Der Geltungsanspruch dieser zitierten O-Töne, die den Krieg immerhin zu erklären meinen, die Kriegsteilnahme der Nato aber lediglich im Modus der Erklärung rechtfertigen, wird lediglich formal durch die nämliche Häufung verunsichert. Der Begriff der Verunsicherung bleibt unausgesprochen. So wäre auch eine bloß wiederholende Rezeption nahegelegt, worin die Legitimationen weniger verunsichert werden, woraus sie aber eher gestärkt hervorgehen. Die Dichte der Originalzitate gibt auch hier kund, dass zwar Wirners Distanz zu ihnen unterstellt ist, dass sie dabei aber keinen Moment der Kritik benennt und stiftet. Beispiel drei; Wirner hatte in der editorischen Anmerkung geschrieben, dass die folgende Kompilation auf Zitaten »basiert« und er »in das Geschehen« nicht eingreife. Eine gewisse, mehr oder weniger implizite ›Gestaltung‹ des Texts ist trotzdem gegeben. So hat Wirner den gesamten Text in einzelne Akte eingeteilt. Des Weiteren bezieht er sich nur auf ausgesuchte Artikel und zitiert lediglich Passagen aus ihnen. Zudem erscheinen die wiedergegebenen Beiträge, sofern nachvollziehbar, nicht in jedem Fall der faktischen Chronologie ihrer Veröffentlichung zu folgen.668 Einen eigenen Gestaltungswillen lassen im besonderen Maße die ersten und letzten Sätze der drei Kapitel erkennen – und darin eine argumentative Zuspitzung vermuten. Um dem nachzugehen, seien von jedem der drei Kapitel die ersten und die letzten Sätze gegenübergestellt; Phase I: Operation Eingreifen: »Das letzte Abenteuer des Jahrhunderts. Westliche Staaten evakuieren ihre Botschaften in Jugoslawien.« – »Wie kommt das Wahre ins Ausgedachte? Frag mich was Leichteres. Volle Kraft voraus.«669

668 So wird z. B. der Essay von Susan Sontag, der erst im September 1999 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen war, in diese Kompilation, die nur während des Bombardements veröffentliche Texte nur bis einschließlich Juni 1999 berücksichtigt haben wollte, aufgenommen. Vgl.: Susan Sontag: Das einundzwanzigste Jahrhundert mit: Stefan Wirner : Installation Sieg; S. 46–48. 669 Ebd.; S. 1, 52.

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Phase II: Durch Krieg zum Sieg: »Die Nato greift weiter an. Geheime Kommandotrupps von Amerikanern, Briten und Franzosen kundschaften im Kosovo-Krieg das Terrain aus.« – »Aber ein pessimistisches Menschenbild und ein eigentümlich opaker Begriff des Politischen bildet den Hintergrund für eine Doktrin, die am völkerrechtlichen Prinzip der Nichtintervention mehr oder weniger uneingeschränkt festhalten möchte. Sag ja, Slobo!«670

Phase III: Der Friede: »Geld, sonst töten wir euch. Der Krieg: Überfallen, vertreiben, die männlichen Angehörigen ermordet. Die Soldaten zwangen uns, uns hinzusetzen, und kündigten an: Jetzt werden wir euch mit unseren Panzern überfahren« – »Die Nachkriegszeit zeigt den Weg zu einer neuen Weltordnung. Und in dieser ganzen Zeit, der Zeit des KosovoKriegs, stehen die Deutschen auf Seiten der Demokratie, des Rechts, der Befreier. Ein beglückendes Gefühl – und eine enorme Verpflichtung. Deutsche Soldaten sind gute Soldaten.«671

Diese Sätze vermitteln bereits stilistisch die absichtsvolle Textgestaltung: Sie sind für Pressetexte unüblich stark verdichtet und syntaktisch verknappt. Zum Teil erscheinen sie inhaltlich überdeterminiert und treten kommentierend zueinander : In Phase I wird das »Abenteuer« als politische Not der Wirklichkeit damit gekontert, den Begriff der Wirklichkeit nicht zu hinterfragen, sondern praktisch zu bestätigen; in Phase II wird das eskalierende Eingreifen der Nato dem erodierenden völkerrechtlichen Vorbehalt und einer bloß rhetorischen Mitsprache Slobodan (›Slobo‹) Milosevics gegenübergestellt; in Phase III stehen der Bestialität und Niedrigkeit der serbischen Armee den an hohen Werten orientierten, selbstlosen westlichen, insbesondere ›guten deutschen Soldaten‹ gegenüber. Was in diesen drei Formen formal verdichtet ist, bleibt indes ohne explizite Auslegung, jede Bedeutung fußt auf Verdacht und jede Aussage obliegt der Willkür des Lesers. So erscheint diese Verdichtung und inhaltliche Konterkarierung letztlich als Formalismus, der wiederum auch eine affirmative, positive, also gar nicht ablehnende Lesart des Kriegs zuließe. Der Text Installation Sieg zeugt in der generellen Anlage wie im Detail, wie häufig betont, von deutlicher Kenntnis und Distanz zur deutschen öffentlichen Rede während des Kosovo-Kriegs. Das zeigte sich in der verdichteten Bezugnahme auf die Verfahren der Rechtfertigungen und in der Konzentration auf das zeitspezifische debattenrelevante Material. Was aber neben einem offensichtlich eklatanten Vorbehalt der dezidierte Inhalt dieser Kritik ist, hat sich darüber nicht vermittelt. Dass die Kritik der Sprache also an dieser ansichtig werde, 670 Ebd.; S. 53, 81. 671 Ebd.; S. 82, 106.

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braucht zumindest eine kommentierende Vermittlung. Dieses Dritte ist entweder beim Leser unterstellt (unbestimmt, welchen Inhalts) oder harrt noch einer Bekundung. Der Autor Stefan Wirner selbst hat andernorts für seine ›Installation‹ entsprechende Lesehinweise gegeben. So äußerte er sich in einem Interview mit der tageszeitung zu Installation Sieg: »Es geht mir nicht darum, die Zeitungen für ihre Texte an den Pranger zu stellen, ich will den Ton aufzuzeigen [sic], der in der bürgerlichen Presse während des KosovoKonflikts vorherrschte und der für mich eine bedenkliche Form von Konformität darstellte.«672

Darüber hinaus gibt Wirner im Nachwort des Buchs Schröderstoiber, das mit Installation Sieg und Berlin Hardcore. Eine deutsche Farce in Zitaten die Installation-Trilogie 2002 komplettierte, nochmals Auskunft über sein mittlerweile so betiteltes ›Cut-up‹-Verfahren. Er schreibt, die Wortlaute einzelner öffentlicher, politischer Bekundungen entgingen »gerne der Aufmerksamkeit«, sie »tauchen unter im Jargon der Politik und suchen sich auf hinterhältige Weise ihre Empfänger. Damit sie einen nicht überlisten, ist es von Vorteil, sie noch einmal unter die Lupe zu nehmen, sie zu komprimieren und zu verdichten.«673

Die Zitat-Collagen seiner Installationen sollen, so führt Wirner fort, »die Ideologie […] offen zutage treten« lassen.674 Wirners Auskünfte über den Grund, das Material und den Zweck seiner Textcollagen sind bemerkenswert. Denn egal, ob es sich um das Material der kritisierten Texte, die kritische Aussage seines eigenen Texts oder das Mittel, mit dem der Leser erkennen soll, handelt, kulminiert alles im Gleichen, der Sprache: So sind nicht Urteile der Menschen zum Krieg Kritikgegenstand, diese Kritik scheint nicht nötig. Allein die Sprache als Form habe sie zur ihrer Kriegsbefürwortung ›aus dem Hinterhalt‹ »überliste[t]« – deswegen müsse und dabei lediglich auf deren »Ton«, »Konformität« und »Jargon« aufmerksam gemacht werden. Diese Formalien sind der neu hinzutretende kritische und wirkmächtige Inhalt. Deswegen genüge es, allein sie »unter die Lupe zu nehmen«, und das heißt, die sprachlichen Besonderheiten noch einmal »zu komprimieren und zu verdichten«. Das dem Leser in dieser Form darzubieten, ›offenbare‹ ihm deswegen schon sein Manipuliert(-gewesen-)sein. 672 Wirner wird zitiert in: Andreas Busche: Der Medienguerillero. Stefan Wirner setzt seine Textcollagen aus geklauten Zitaten zusammen. ›Installation Sieg‹ liest den Kosovo-Krieg gegen den Strich – und ›Berlin Hardcore‹ ist ein früher Nachruf auf die Schröder-Jahre. In: die tageszeitung, 07. 02. 2001. 673 Stefan Wirner : Von Stämmen und bedauerlichen Übeln. Ein Nachwort. In: ders.: Schröderstoiber. Installation C. Berlin: Verbrecher Verlag 2002; S. 59–63, hier S. 60. 674 Ebd.; S. 62.

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Sprache als Ursache der Kriegsbefürwortung wie als Grund für die Kriegsablehnung – dieser Widerspruch kommt erst zustande und löst sich auf, wenn man wie Wirner davon ausgeht, dass Sprache für das eigene Urteil bürgt und beide, Sprache und Urteil, identisch sind. Umgekehrt müsse sich an Sprache vergangen worden sein, wenn sie ein nicht geteiltes Urteil formuliert. Im Vergleich zu dem Meinecke-Helfer-Schlagabtausch, in welchem dem Gegenüber stets Vernunft bestritten wurde, ist die Besonderheit (und gewissermaßen der Fortschritt) bei Wirners Überlegungen, dass den Menschen ihre Urteilskraft mit dem ohnehin schon richtigen Urteil zuerkannt ist. Und zwar in einem Maß, dass Wirner weiß, dass sie nur unwillentlich den Kriegslegitimationen zugestimmt haben können. Allein in der ihnen unterbreiteten Sprache des falschen Urteils liege das Moment ihrer ›Überlistung‹. Dieses manipulative Moment ist demnach getrennt vom nicht geteilten bzw. falschen Urteil zu suchen und zugleich ganz bei ihm: seine nämliche sprachliche Form. Und so genügt es, auf die ›parole‹ dieses Urteils hinzudeuten, um jedem ›denkenden‹ Menschen in Erinnerung zu rufen, dass da die Sprache resp. Vernunft zu sich als Eigentliches in einem Widerspruch steht. Was bei dem Patron der modernen Sprachkritik Karl Kraus die stilistische Überdeterminierung, das brüchige Wortbild oder ein falsches Personalpronomen leistet, das sei bei Wirner durch »Ton«, »Konformität« oder »Jargon« als formale Konkretionen dieser ›bedenklichen‹ Sprache bewirkt, nämlich die ›hinterhältige‹ Rezeption und der Erfolg ›falscher‹ Urteile. Insofern ist die Kritik der Kriegslegitimationen mit der wiederholenden und konzentrierten Darbietung der sprachlichen Form, dem ›Kraus’schen Direktzitat‹675, die die prägnante ästhetische Gestalt von Installation Sieg ist, eingeholt, ohne für diese Kritik inhaltlich noch einmal argumentieren zu müssen. Das dabei zugrunde liegende Verständnis der öffentlichen Debatte soll kurz gewürdigt werden. Es umfasst den Stand der Dinge, der insofern den Tatsachen entspricht, als Legitimationen den öffentlichen Diskurs zum deutschen KosovoKriegseinsatz 1999 bestimmten und diese auf Kritik, aber auch auf breite Zustimmung trafen. Jedoch, für diese Zustimmung sieht Wirner, wie gerade erörtert, nicht die Deutschen mit ihren willentlich selbst getroffenen Urteilen zu den Angelegenheiten ihrer Politik verantwortlich; umgekehrt nimmt er diese in 675 Das Elementarverfahren, das Karl Kraus seiner Gesellschaftskritik zugrunde legte, war das Direktzitat – seiner Meinung nach stelle es in seiner nämlichen konkret sprachlich-stilistischen Verfasstheit schon die eigene Blamage dar. Die Blamage fand natürlich immer in der Kraus’schen Richtung statt, sein Ideal sittlicher Vernunft. Dieses an den Zitierten als abwesend bzw. Unvernunft als anwesend nachzuweisen, war das ganze Verfahren und das Resultat. – Was, wie oft von Kraus betont, sich unmittelbar als Unvernunft und geistiges Verbrechen offenbare, brauchte dann doch seine eigene ausgesprochene Kritik. Siehe dazu: Christine Waldschmidt: Zwischen Ideologie und Kritik.

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positiven Vorbehalt und sieht die Verantwortung in den sprachlichen und geistigen Bedingungen ihrer Urteilsfindung. Indes wird weder im Text der ›Installation‹ noch in anderen von Wirners Ausführungen deutlich, wer das eigentliche Subjekt dieser Manipulation ist und was es bezweckt? Anders, von dem politischen Effekt auf der einen Seite schließt Wirner nicht auf einen willentlich politischen Manipulator auf der anderen Seite. Er betont sogar, dass ihm der »Ton« der Legitimationen wichtiger erscheint als z. B. die Zeitungen, die diesen schaffen und verbreiten.676 So selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass die Kriegszustimmung der Zeitgenossen nicht ihrer eigentlichen politischen Vernunft entspreche, so unbestimmt bleibt, wieso und wozu das die Zeitgenossen Zwingende aber waltet. Damit ist eine Wirkmacht evoziert, die abstrakt, unwillkürlich und obskur ist und gesellschaftlich und politisch jeden Willen beugt. Somit bleibt es scheinbar einer Eigenmacht des Diskurses überlassen, die politischen Urteile der im Diskurs Streitenden zu bewirken, sich selbst eine diskursive Wirklichkeit zu stiften und Politik zu gestalten. Der Schluss liegt nahe – und die anderen ›Installationen‹ von Wirner stützen dies, insofern sie sich unter derselben Perspektive so unterschiedlichen Themen wie der deutsche Zustimmung zum Kosovo-Krieg oder dem Stoiber-SchröderWahlkampf677 widmen –, dass diese Erklärung des öffentlichen Diskurses sich mit der Leerstelle begnügt. Denn das, was erklärt werden sollte, scheint etwas anderes zu sein: Wirners eigenes kritisches Urteil muss sich als eigentlich gültiges und durchgesetztes gegen die praktische Ungültigkeit in Deutschland des Jahres 1999 plausibel machen. Wirners Verständnis vom Wesen der öffentlichen Meinung teilten die Rezensionen von Installation Sieg. Sie teilten, dass das kriegskritische Urteil der eigentlichen Vernunft entsprochen, nur der öffentliche Diskurs diese Vernunft vereitelt habe. Sie sind sich einig, dass von Wirner bloß wiedergegebenes und lediglich konzentriertes Textmaterial die Gründe offenbare. Jedoch, die diskursiven Bedingungen, die sie finden, sind dabei so dicht an den bedingten Urteilen, dass Grund und Effekt verschwimmen und eine Trennung zwischen Beschreibung und Erklärung kaum möglich ist. In diesen theoretisch schwerlich entschlüsselten Zusammenhängen drückt sich allerdings etwas Gemeinsames aus: Die Deutschen haben dem Krieg zugestimmt aufgrund in der einen oder anderen Weise abwesender Verstandesleistungen, mit einem Motiv, das ihre eigentlich friedfertigen Absichten konterkarierte. So schreibt etwa Rüdiger Rossig, Wirner habe »nicht viel mehr getan«, als Zeitungsartikel chronologisch zu collagieren, ließe den Leser allerdings erken676 Siehe dazu das obige Interview mit Andreas Busche von der tageszeitung. 677 Gemeint ist die Diskurscollage aus den Wahlkampf um die deutsche Kanzlerschaft 2001–02: Stefan Wirner : Schröderstoiber. Installation C. Berlin: Verbrecher Verlag 2002.

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nen, »wie wenig die Deutschen von dem wissen, was da unten auf dem Balkan vorgeht«.678 Andreas Busche schreibt, Wirners Verfahren der »Entwendung« sei so »einfach wie genial«, denn allein durch die »Verdichtung […] kristallisierte sich der nationalistische, rassistische und mitunter auch faschistische Subtext« heraus.679 Rückblickend auf die Veröffentlichung schreibt Gunnar Luetzow, Wirner reihe »kommentarlos die Greueltaten schmissiger Zeilenschinder und wackerer Phrasendrescher aneinander« und allein damit werde das »vor Absurdität triefend[e] Abbild der Berliner Verhältnisse« deutlich.680 Martin Büsser konstatiert, Wirner habe für Installation Sieg lediglich Originalbeiträge »gesammelt und montiert«, mache damit aber schon »sehr viel über Sprache deutlich, über den Klang der Propaganda und die grammatikalische Struktur des Hasses gepaart mit Sentimentalität«.681 Wirners Kriegskritik ist gegenüber der Kritik Meineckes ein entscheidendes Stück emanzipierter – und zwar in Bezug auf den Beleg ihrer Geltung: Die Abwesenheit des eigenen Urteils der Kriegskritik plausibilisiert sich nicht mehr als Abwesenheit – im Sinne des bei Kriegsbefürwortern unterstellten Un-Wissens, der Un-Vernunft etc. Dieselbe Abwesenheit erhält bei Wirner nun eine eigene, über-subjektive, wenngleich obskure Identität, die des Diskurses. Wenngleich als nur negative Bedingung ist der Diskurs der anwesende Grund für das praktische, allumfassende Nichtvorkommen der Kriegskritik. Dieses Ergebnis ist in zweifacher Hinsicht äußerst ambivalent: Um das eigene Urteil gegen den Misserfolg zu verteidigen, hat Wirner eine Begründung gefunden, die zugleich diesen Misserfolg als Notwendigkeit etabliert. Was auf der einen Seite kritisiert ist, wird auf der anderen Seite nicht nur als abwesend beschieden, sondern als zwingend erklärt. Nolens volens ist somit von den Kritikern des Kriegs die Zustimmung zu ihm mittels des Diskurses mit einem guten Grund versehen. Des Weiteren begnügt sich das kriegskritische Urteil mit seiner eigenen Legitimität, die sich durch den Misserfolg nicht einmal mehr theoretisch in Frage gestellt sieht, die Erklärung wird an anderer Stelle verortet. Mit dem Bewusstsein, die politischen Verhältnisse als einzige in ihren wirklichen Zusammen-

678 Rüdiger Rossig: Was war wahr auf dem Balkan? Stefan Wirners ›Installation Sieg. Kalligraphie des Krieges‹ ist eine virtuose Collage – und ein Lehrstück zum Thema Medien und Krieg. In: die tageszeitung, 04. 07. 2000; Herv. i.O. 679 Andreas Busche: Der Medienguerillero; Herv. S.H. 680 Gunnar Luetzow : ›Berlin gaga‹. Collage gegen den Hauptstadt-Rummel. In: Spiegel Online, 11. 04. 2001. Unter: www.spiegel.de/kultur/literatur/berlin-gaga-collage-gegen-den-haupt stadt-rummel-a-128074.html; abgerufen 03. 04.2016; Herv. S.H. 681 Martin Büsser : Stefan Wirner. Installation Sieg. Martin Büsser : Stefan Wirner. Installation Sieg. In: Martin Büsser u. a. (Hg.): Pop und Krieg. Mainz: Ventil 2000 (testcard. Beiträge zur Popgeschichte; Bd. 9); S. 276, Herv. S.H.

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hängen zu verstehen, geht der Verzicht auf praktischen bzw. ›diskursiven‹ Erfolg zusammen. Man kapriziert sich auf die Sphäre des Geistes. Mit dem theoretischen Widerspruch dieser Kriegskritik (wonach sie mit derselben Sprache ihre notwendige Bedingtheit zur Kriegslegitimation feststellt und mit der sie außerdem weiterhin ihre Einwände zu formulieren in der Lage ist) und mit dem praktischen Ertrag dieser Kriegskritik (die dem Krieg außer ihrer eigenen Legitimation nichts mehr entgegensetzt und mit sich selbst zu begnügen scheint) hat sich Uwe Dick in seinen sprachkritischen Marslanzen nicht einverstanden gezeigt. Mitnichten hat er diese Art der Kritik verworfen, er hat sich ihr nur in aller Konsequenz verpflichtet. Diese Bereinigung der Widersprüche hat nicht nur die Konsolidierung der Kriegslegitimation zur Folge, sie bedeutet die fundamentale Absage an die Sprache als solche. (c)

Krieg wegen Sprache. Uwe Dick: Marslanzen oder Vasallen recht sein muß (2007)

Uwe Dick widmet seinen 2007 veröffentlichten Text Marslanzen oder Vasallen recht sein muß vollkommen der öffentlichen deutschen Debatte über den Kriegseinsatz 1999 im Kosovo.682 Wissend, dass Dick damit nicht mehr unmittelbar an der Debatte teilnimmt und die bereits fortschreitende Konsolidierung des Kosovo als Staat erlebt, sei sein Text in die Betrachtung aufgenommen, gerade weil er ihn ausdrücklich als Reaktion auf die Debatte 1999, insbesondere auf die Rolle seiner intellektuellen Kollegen versteht. Marslanzen formal einzuordnen, ist schwierig. Ein Genre wird für diese 160 Druckseiten nicht gegeben. Die Fokalisierung ist uneindeutig, es spricht ein Ich. Ob es der Autor oder ein Erzähler ist, bleibt offen.683 Der Monolog besteht aus verschiedenen, formal wie inhaltlich uneinheitlichen Textteilen, teils Rede, Erörterung, strophenähnlichen Abschnitten, teils Gedichten und Zitaten. Die typografische Gestalt stärkt den Eindruck eines langen, reimlosen Gedichts.684 Auch wenn bzw. gerade weil dies alles nicht eindeutig zu benennen ist, wird deutlich, dass Marslanzen ein inhaltlich und formal dichter, mit Bedacht und Absicht angelegter Text ist. Nur eines steht gleich von Beginn an eindeutig fest: der Gegenstand ist die kritische Betrachtung des deutschen Kriegs anlässlich seiner Wiederkehr. Marslanzen beginnt mit folgenden zwei Absätzen: 682 Uwe Dick: Marslanzen oder Vasallen recht sein muß. Bad Nauheim: ASKU-Presse 2007. 683 Im Folgenden werde ich von diesem ›Ich‹ als Autor Dick reden. Das geschieht aus technischen Erwägungen, es ist nicht relevant für die Analyse des Texts. 684 Marslanzen wird im Folgenden in Form eines verslosen Texts, der im Flattersatz gesetzt ist, zitiert; etwaige Versumbrüche erwiesen sich ohne Bedeutung für die Analyse des Gesamttexts.

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»So wie ein Narr von seinem Buckel spricht? Zwetajewa. Es müßte nicht erstaunen; Plantagen schon wieder. Gerader Wuchs. In einer Linie. Hochzucht. Lange Kerls. Preußenbäume gegen Reußenträume. Dicht bei dicht die aufgepflanzten Bajonette. Deutscher Wald, ein Wald voll Helden. Kühn in den Raum sich reckende Säulen. Kampfesharte Wetterfichten. Vorposten. Felsennest. Adlerhorst. Wolfsschanze. Der Stangenwald und die nationale Idee. Die höchste Zierde. Ein Bollwerk. Die Reihen fest geschlossen. Traditionslinien. Führer oder später. Sie bringens schon auf die Reihe. In gebührendem Abstand. Ideale … Kosten-Nutzen-Rechnung. Wirtschaft, Wirtschaft über alles.«685

Der Text steigt anspruchsvoll ein, inhaltlich und stilistisch. Zum Ersten referiert er auf die russische Lyrikerin Marina Zwetajewa und deren Gedicht Rolands Horn.686 Mit einer (rhetorischen) Frage wird beim Leser die Kenntnis der Vorlage vorausgesetzt. Zum Zweiten wird der Leser unmittelbar mit einer komplexen Trope konfrontiert, die dieser im Laufe des ersten Abschnitts nachträglich entschlüsseln kann bzw. muss. Es ist die allegorische, gegenseitige und zudem sprachspielerische Auslegung zweier kanonisierter, mithin voraussetzungsreicher Metaphern: ein Bild der Deutschen als Wald-Nation, das auf Mde. de Sta[ls Essay Über Deutschland (De l’Allemagne, 1813) zurückgehen mag; und das Bild des prototypischen deutschen Soldaten als ›langer Kerl‹, geschuldet dem preußischen ›Soldatenkönig‹ Friedrich II. Was da also für Dick »schon wieder« in die Welt tritt, ist ausdrücklich ›nicht erstaunlich‹ und als Wiederkehr von Altbekanntem bereits in virulenten Bilder vorstellig: Deutsche sind wieder Soldaten. Der zweite Absatz führt diese zwangsläufige ›Wiederkehr‹ aus. Was da der Stolz der »nationale[n] Idee« ist – »Ideale« oder eine Praxis des ›auf die Reihe bekommen‹ – ist in »fest geschlossenen Traditionslinien« und einem ›Früher oder später‹ aufgelöst. Letztlich wird mit »Kosten-Nutzen-Rechnung« ein Motiv und mit der Wirtschaft der Nutznießer genannt. Zwischen Beschreibung und Erklärung ist bei diesen Auslassungen schwer zu unterscheiden. Neben dem konstatierten Fakt, dass Deutschland militärisch Politik und das wiederholt und in historischer Kontinuität macht, ist die Frage angesprochen, aber noch nicht eindeutig beantwortet, von welcher Kontinuität hier gesprochen wird. Ist es die eines Zwecks, der sich über all die Jahrhunderte im Militär sein Mittel geschaffen hat; oder ist es eine selbstgefälligen Tradition, die ihren Zweck also ganz bei sich hat? Dick fährt wie folgt fort: »Und weiter beim Abschreiten der Fichtenparade: Hart und Dumm, sollte Soldat werden. Zwetajewa. Holzauge, sei wachsam! Habachtstellung. Uniformierte Affen. Prügelwege. Mono, und keine Kultur. Sogar der Boden ist sauer. Normzwang. Des Staates liebste Kinder. Seine Teuersten. Einheizdeutsche. Denen da drunten mal richtig 685 Ebd.; S. 5f., Auslassung i.O., Herv. S.H. 686 Marina Zwetajewa: Rolands Horn. In: dies.: Gedichte. Prosa. Leipzig: Reclam 1987; S. 25.

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… Oder bis sie selbst … schließlich und verendlich … Zum x-ten Male. Schule der Nation: Wieder nichts gelernt? … zum abschreckenden Beispiel, daß der Staat von jeheer des Menschen erster Todfeind ist. Auch heute adelt er den Mob, ihn bei der Stange zu halten.«687

Die Antwort bleibt unentschieden, darin aber erscheint sie prononciert. Die Uniformierung und Vereinheitlichung, die Dick schlecht beleumundet, habe einerseits den Grund im Staat, dessen »liebste Kinder« seine »[u]niformierte[n] Affen« sind und sie für diesen Dienst, »ihn bei der Stange zu halten«, »adelt«. Andererseits drückt sich in diesem Verhalten des Staats kein Zwang gegenüber seiner Bevölkerung aus, die Vereinheitlichung muss er nicht gegen deren eigenen, womöglich opponierenden Willen ertrotzen. Von diesen »Einheizdeutsche[n]« hat Dick, unschwer zu erkennen, eine schlechte Meinung. Sie sind »Hart aber Dumm« und »Affen«, sie haben »[z]um x-ten Male« »[w]ieder nichts gelernt« und würden demnach aus freien Stücken zur ihrer Vereinheitlichung finden. So bringen die Deutschen die beste Voraussetzung zum Soldatensein also selbst mit. Deswegen erscheint das, was Dick »Normzwang« nennt, als ein – wenngleich widersprüchliches – geistiges Verhältnis dieser Menschen zu sich, als kein gegen deren Willen angeführter praktischer oder politischer Anspruch. Es ist ihre allgemeine »Kultur«, die mit »Mono« zum einen unterstellt ist, zum anderen sich selbst am Inhalt konterkariere. Somit erscheint Dicks Kritik seiner Deutschen immer formeller : Ihre gleiche Verfasstheit sei das, was wirkliche »Kultur«, einen ›Fortschritt‹ und das letztlich auch friedliche Miteinander vereitle. ›Gleichmacherei‹ sei eben keine bloße Organisationsform für Zwecke, die man einmal wertschätzen mag und ein andern Mal nicht, sondern installiere für sich Un-Menschliches. Gleichmacherei ist bei Dick das Gegenteil der Vernunft, der Kultur, der Politik und ›des Menschen‹ – und insofern erstaunlich. Dermaßen abstrahiert, fasst Dick Politik und Gesellschaft jeweils als contradictio in adiecto: erstens sind Politik, Kultur oder Vernunft durch mehrheitlich Geteiltes definiert und stehen bei Dick gegen Gleichmacherei; zweitens verliert bei der Abstraktion ›Gleichmacherei‹ das, was das Geteilte ist, seine notwendige Spezifik (denn ist es politischer Zwang, falsche Annahme oder eben richtige Einsicht in objektive Bestimmungen der Welt?) und ist für Dick gleichermaßen nur Schlechtes. Im Resultat sind Dick der Krieg im Kosovo und die Befürwortung unter den Deutschen und gar unter deutschen Schriftstellerkollegen ein Beweis dieser unerklärlichen Selbstaufgabe in der »Einheitsfront«. Diese Einheit ergibt sich nicht aus den geteilten Gründen für die Intervention, sondern umgekehrt ergebe sich die Zustimmung zur Intervention »mal wieder« aus selbstlosem, zweckfreiem Festhalten an der Einheit: 687 Uwe Dick: Marslanzen; S. 6, Auslassungen i.O., Herv. S.H.

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»Eine Feldstörung mal wieder. Aber es muß nicht verwundern, daß der Krieg in die Prosa durchschlägt. Verfluchte Eisengesichter! Denk ich an Deutschland, … pfuideibel. Da ist nichts zu verheimlichen. Warum das Bedrängende draußen halten? Um des lieben Friedens willen? Mit wem? Mit der Pöbelmehrheit nationaler Krätze? Oder mit der Intellektuellen-AG. Nur keine Erbötigkeit von Schöngeistern, deren Ästhetik nichts anderes ist als die Feigheit, Widersprüche zuzulassen. Im Leben wie im Buche. Einheit? Geschlossenheit? Allenfalls in einem Gesamtverhältnis, das die Sprache bildet. Also nichts für die Einheitsgesichter des Faustrechtsstaates. Ein paar Wochen Propaganda, und prompt steht sie wieder stramm zum Führer, die Einheitsfront: Das deutsche Volk erwartet … In Tateinheit von Militarismus und Moral.«688

Dick verteidigt seine Kritik am Krieg und zwar gegen das scheinbar selbstgefällige Diktat, »des lieben Friedens willen« wie der »Pöbelmehrheit« zuzustimmen. Er wettert gegen die nicht notwendige, ideologische und politische SelbstVereinnahmung insbesondere auch unter der »Intellektuellen-AG«. Er blickt deswegen unversöhnlich – und gewissermaßen uneins mit dem zitierten, eher melancholisch aus dem Pariser Exil zurückschauenden Heinrich Heine – auf seine Mitmenschen, weil sie sich darin mit etwas, das ihnen nicht entspringt, sondern das ihnen von ihrem »Faustrechtsstaat[]« resp. »Führer« vorgesetzt wurde, einverstanden erklären. Nicht dem Inhalt dieses Einverständnisses gilt die Kritik, die Dick seinen Deutschen vorhält, sondern der Form des Einvernehmens, worunter er den Inhalt subsumiert. In dieser Formalie mache sich statt des kritischen, weil geteilten politischen Urteils eine leere »pfuideibel«-Entsprechung geistiger Art vorstellig. Darin sieht er, politisch mit Historie gefüllt wie in der politischen Spezifik leer, das zu klärende Moment. Für diese Auseinandersetzung mit dem verhängnisvollen Einheitszwang nimmt bei Dick die Sprache eine zentrale Stellung ein; das ist in den obigen Zitaten mit den Wortspielen, der starken Verwendung von Tropen, mit besonderen Syntagmen, intertextuellen Verweisen usw. bereits in praktischer Weise überaus anschaulich geworden. Sprache ist, wie es auch von den anderen literarischen Vertretern der klassischen Sprachkritik bekannt ist, das Material, an dem sich das Urteil anschaulich macht – bei Dick macht es das in einer besonderen Weise. Bei ihm ist (zunächst) nicht die Sprache der Kritisierten Thema. Meinecke oder Wirner hatten sich auf deren sprachliches bzw. geistiges UnGenügen als Indiz oder gar Grund für deren falsches Urteil berufen und mit diesem indirekten Zug immer auch erst ihr eigenes Urteil plausibilisiert. Den positiven Nachweis an der Sprache selbst für das ihr immanente und richtige Urteil, liefert nun erst Dick. So sind im obigen Zitat die Formulierungen »Einheizdeutsche« und »jeheer« zu finden. Das Spiel mit der Zweideutigkeit auf Grundlage der Homophonie ist 688 Ebd.; S. 22f., Auslassungen u. Herv. i.O.

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offenkundig. Die alltägliche Aussprache lässt eine andere Bedeutung des Worts zu, die Dick nun in der ›neuen‹ Schreibung aufzeigt. Für Dick ist das nicht nur die Methode, die eigentliche Bedeutung des Begriffs auszusprechen: ›Einheitsdeutsche‹ erscheinen mit ihrer politischen Bestimmung, sich ›einheizen‹ zu lassen für einen schlechten politischen Zweck, identisch. Seit ›jeher‹ ist der Staat im Einheits- als Militärdenken bestimmt, das lese man aus dem »jeheer«, wonach nun die bloße Zeitdeixis mit dem entsprechenden Inhalt in eins fällt. »Führer oder später« ist dieser Beweis an der Sprache nicht mittels Homophonie, sondern eines kleinsten grammatischen Eingriffs. Der allgemeine Verweis auf die Geschichte bekommt hier eine Spezifik, wonach der Nationalsozialismus Ausdruck eines überhistorischen Zusammenhangs wird. Für Dick ist der minimalinvasive Verweis auf die Sprache zugleich die Art der Plausibilisierung seines Urteils, Einheit ging mit Soldatentum besonders in Deutschland gut zusammen. Dieses Urteil offenbart sich und zwar als Begriff der Sprache, ist dessen Wesen. Das Verfahren, an der Sprache ihr Urteil zu veranschaulichen, beweise sich auch an den politischen Ereignissen im Kosovo. Die Legitimation der NatoInvention blamiere sich an »Barbaropas« oder dem »Diktat von Rammbummjäh«689 : Europa sei der eigentliche ›Barbar‹, die Friedensverhandlungen in Rambouillet seien für nichts anderes gedacht gewesen, als das Nato-Bombardement zu forcieren. Das sprachimmanente Urteil beweist sich aber auch auf stilistischer Ebene: Es ist die Wortgewalt der hier zitierten Passagen wie des restlichen Werks, mit dem Dick nicht seine individuelle kreative Kraft zu beweisen beabsichtigt, sondern umgekehrt die Offensichtlichkeit des Urteils in der Sprache (und ihrer Geschichte, ihrer Vertreter, tradierter Sprachbilder, Sprichwörter etc.), die sich in ihrer Mannigfaltigkeit aufzwinge. Die Menge, die Dichte und auch das Überraschende der ›sich selbst aussprechenden‹ Urteile unterbreiten den Beweis, dass die Behauptung, Sprache sei Begriff und Urteil, zu recht besteht, und agieren zugleich als (etwas widersprüchliches) Dementi, wonach Dick nicht von seinen subjektiven Urteilen schreibe. Dass zu der Sprache nicht nur ein Anderes an Bedeutung, sondern das Eigentliche des Begriffs getrennt von ihr existiert – für diese aussagekräftige Exegese der profanen Alltagssprache braucht es immerhin noch den verdeutlichenden Eingriff. Seine Beobachtungen des Gegebenen fasst Dick noch einmal zusammen und unterbreitet dabei in emphatischster Weise wiederholt seine Erklärung des Zusammenhangs von Vereinheitlichung, Politik und Sprache; darüber hinaus bietet er explizit einen Ausweg mittels der Sprache an, der sich von den anderen

689 Ebd.; S. 10, 22.

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Sprachkritikern – auch von seinem Gewährsmann Karl Kraus – stark unterscheidet. Die Passage beginnt zunächst so: »[…] Und 100 Jahre nach der ersten Fackel, die Karl Kraus auch gegen unsere Zeit geschrieben hat, ist es noch immer wahr, daß Greuelpropaganda die Greuel weckt, die das Krisenmanagement [Herv. i.O.] braucht … Als Vorwand für’s Bombengeschäft. Herrenmenschlich – ethisch, kulturell und waffentechnisch – von oben herab: Anonyme Grausamkeit, die sich darin auslebt, eine europäische Region zu verheeren. Bis daß die Geigenzähler ticken. Nicht nur im Restmüll Jugoslawien. Nein, die Siliziumkultur wird mir keine Beschleunigung des Vergessens aufzwingen! Nichts ist vorbei, wie’s die Produzenten des falschen Bewußtseins eintrichtern. Mittels Doppeldenk und Neusprech. Wie das? Legos statt Logos: Kein Volk lebt entfernter von seiner Sprache als die Deutschen, attestiert Karl Kraus.«690

Die hier angesprochene politische Konstellation verweist auf den aktuellen Kontext, wird nun aber belegt mit Kraus’ Kritik am Ersten Weltkrieg: Von »oben herab« werde mit »[P]ropaganda« ein Krieg ins Werk gesetzt, der wegen des ökonomischen Nutzens eines »Bombengeschäfts« stattfindet – wobei fraglich bleibt, inwiefern einerseits die Vernichtung von Landstrichen profitables Geschäft bedeutet, und inwiefern andererseits Bomben und dergleichen als Mittel im Krieg und nicht in einem ungefährlichen Freilandmanöver vernutzt werden, um durch immerwährenden Neukauf einer Waffenindustrie Münze zu bringen.691 Dieses ›Oben‹ wolle ein »falsches Bewußtsein eintrichtern« und zwar durch neue Sprach- und Denkweisen, die Dick an Orwells 1984er »Doppeldenk und Neusprech« erinnern. Dieses neue Deutsch repräsentiere jedoch nur Versatzstücke und nicht Denken, sei also »Legos statt Logos«. Nur trifft diese politische Ambition ›von oben‹ auf keinen Widerstand ›unten‹, sondern auf Erfolg. Und dieses ›falsche Bewusstsein‹ ist statt Resultat einer praktischen Vernunft Resultat der bloßen Bedingung für diese und das ganz unterschiedslos bei allen: »Kein Volk lebt entfernter von seiner Sprache als die Deutschen«, zitiert Dick Kraus. An diesem Urteil schließt nun folgender Text unmittelbar an: »Nun, ich kann’s nicht überprüfen. Doch so weit mag ich ihm zustimmen: Die meisten verschulten Bürger, die ich kennen lerne, hören und lesen bei abgestelltem Hirn, rülpsen sprachähnlich bildlose und mißbildete Wörter, und neun von zehnen, die ihnen als Literaten gelten, schreiben schlecht auf neu [Herv. i.O.]. Das Versagen ihrer Vorstellungskraft – bildloses Denken, gibt’s das? – gilt ihnen als normal, weil ja die anderen auch – rot’s, was song woin – hof- und koof- zu doofdeutsch verquasten. 690 Ebd.; S. 23f., Herv. S.H. 691 Dicks Verweis auf das ›Bombengeschäft‹ entspricht in der Tat der Auffassung von Kraus. Das ökonomische Moment kommt bei ihm als Grund bzw. Katalysator für den Ersten Weltkrieg vor und darin als Moment, in dem die Politik wie die Öffentlichkeit aufgrund eines ökonomischen Nutzdenkens nicht bei sich gewesen sei.

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Serbien-Kosovo-Konflikt 1998–98. Die parteiliche Stellung zu sich

Intelligente Dummheit? Ja, und nicht selten sprachfeindlich: Das genaue Wort! Ach was, Formelkram! Allesfresser ohne Vokabelargwohn, wurden sie zwangsläufig (zwangskäufig, Defektkonsum) zu stinknormalen Koprophagen, zur Kotfressern der Abfüllindustrie – dieser (für den Magen), jener (für den Kopf). […] O du witzloses, geistfreies, blähsuchtpfurziges Deutschland, wie bist du neureich geizig, protzend häßlich! Ob Straßenzüge oder Literatur, mißlungene Zeilen sind deine Norm: Klotz und Knauper Eck über Eck. Serielles Grau und geschleckter Dreck. […] Weder außen noch innen, mit einem Bogen […] um die Zentralperspektive zwanghaft wirklichkeitsscheuer Realisten, dieser Menschen ohne Welt. Denn sie töten aus Angst vor dem Leben. Dessen Vielfalt – das Verwirrende, Unberechenbare, Bedrohliche – ihrer Einfalt bald als das Böse gilt, das sie, die – selbstverständlich [Herv. i.O.] – Guten, Harmlosen, Eindeutigen, Aufrichtigen, Friedlichen – zu unterwerfen, deutschlicher [sic]: zu uniformieren, verbürgern, verbiedern trachten, und, wo es sich der militanten Gleichmacherei verweigert, verächtlicher, dämonisieren, hinrichten. […]«692

Was die Selbst-›Entfernung‹ besonders der deutschen Sprache zu verantworten hat, erscheint zu den anderen Sprachkritikern recht verschieden: Es ist nicht die Abwesenheit der Sprache zu sich, nicht ihre schlechte, ungelenke oder falsche Verwendung, sondern die Anwesenheit der Sprache mit genau allen ihren Regeln und Lexika – Sprache in ihrer regelhaften, sich entsprechenden Form befördere den per se schlechten Inhalt. Damit jedoch lehnt sich Dicks Text an den Urtext der modernen Sprachkritik an, Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. Dort wurde dem sprachlichen Medium vorgehalten, das Wesentliche der Erkenntnis zu verfehlen und so dem Menschen »Übel« zu bescheren.693 Eine endlose Reihung von Bildern und Umschreibungen soll bei Dick genau diesen Regelgebrauch der Sprache als den Missbrauch des Verstands deutlich machen – diese sind im obigen Zitat kursiv gesetzt. Es kulminiert schließlich in der rhetorischen Frage, »Intelligente Dummheit?«, und in der Antwort, dass er diese »nicht selten sprachfeindlich« empfinde. So ist das umfassende Wissen über Sprache gerade die Feindschaft zu ihr.694 Weshalb also Krieg von den Deutschen 1999 gewollt wurde und wie Dick die Kriegskritiker dazu bestimmt, hat sich vom unmittelbaren Gegenstand des Kriegs verabschiedet und ein neues Motiv gefunden, das indes seit dem ersten

692 Ebd.; S. 24–26, Herv. S.H. 693 Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. In: ders.: Werke in sechs Bänden. München: Carl Hanser 1980; S. 309–322, hier S. 321f. (Bd. 5; Karl Schlechta (Hg.). 694 Das Lob der Abweichung und der Kreativität unterstellt immerzu die Regel. Ohne diese wären Dicks Sprachspiele und Sprachbilder allesamt unverständlich bzw. in ihrem kritischen Ton überhaupt nicht wahrgenommen. Auch wenn die Varianz herausgestellt werden soll, ist es eben eine Varianz eines gleichsam und allgemein Geteilten.

Realität als Praxis, Sitte und Vernunft. Literarische Debatte und Literatur

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Satz von Marslanzen feststand: der durch Regelsprache vermittelte, traditionsreiche deutsche Zwang zur Einheit. So kennt Dick nur einen Ausweg aus dem, was er als den Grund für Krieg und der deutschen Zustimmung zu ihm versteht. Das obige Zitat hat in seinem bildreichen Feindbild ›Regelsprache‹ an jedem Punkt bereits den Umkehrschluss nahegelegt, der in den letzten Absätzen von Marslanzen nun szenisch und begrifflich vergegenwärtigt wird. Anlässlich einer Trompeten-Improvisation offenbaren sich Dick der Freiraum von Kunst und die Möglichkeit einer Emanzipation. In der Kunst allein werde ein Urerleben ansichtig und immunisiere jenseits aller Begriffe gegen ›den Betrug durch Worte‹: »Bravo, dort ist für unsereins kein Bleiben länger als hiernieden. Das Herz braucht Spiel und Klangraum im labyrinthischen Sammelsur, in drangvoller Enge, Mißgunst, Kleinkrämerei. Das Herz wünscht Allusionen statt Illusionen, Licht a priori auch im Verlust. Auf daß der Himmel in der Brust des Menschen wachse, gewiß in allem Zweifel, daß die Ekstase nicht bestechlich ist, vielmehr ein Drüberhinaus überm unverläßlichen Denken, und reich genug, jedem alles zu geben im täglichen Abschied. Für die Wanderung vom Horizont des einen zum Horizonte aller. Für ein Lächeln, das der Freude gilt, wissend: Das Nützliche stirbt mit dem Tag. Es bleibt, was bewegt. Unterwegs im Lied. Im Tanz. Im Flug. Heraldische Trompete ins Himmelhell, Schamanentrommel ins tiefblaue Gezelt. Und wenn du Glück hast, wieder zurück. Auf daß die Worte dich nimmer betrügen. Zwischen Todesurnen und Fürstentrümmern. Zurück ins Feuer, das uns hervorgebracht … Heee!, schon wieder verkopft? […] Hajde!, weiter!: Bis unterm Lachen und Weinen der Tränen genug sind. Für einen Regenbogen. Bist du – selbstvergessen, ichverloren – leicht genug bist, abzuheben. Ins Irgendwo am Ende aller Wege.«695

Der Regelsprache, die den falschen Geist der Einheitlichkeit manifestiere, stellt Dick, auch darin Nietzsche gleich, das subjektive, unmittelbare, mit Worten nicht einzuholende Erleben gegenüber. Was die »drangvolle[] Enge« und das »unverläßliche[] Denken« beendet, ist dessen formales Konterkarieren im »labyrinthischen Sammelsur« und in »Allusionen«. Der Anlass, die Zustimmung seiner Mitmenschen zum ›wieder‹ deutschen Krieg, ist hier nicht am Inhalt des ›falschen Bewusstseins‹ auseinandergesetzt und zwar mittels Denken; stattdessen ist deren Zustimmung entkräftet mit sprachlich verweigerndem und dem Denken gerade abgewandtem Argument eines Sicherlebens im Kunsterleben.696 695 Ebd.; S. 170f., Herv. S.H. 696 Damit schließt Dick gewissermaßen den Bogen zum unmittelbaren Anfang seines Werks: »So wie ein Narr von seinem Buckel spricht? Zwetajewa« (ebd.; S. 5). Horns Ende hat die russische Lyrikerin Marina Zwetajewa während der Zeit der sowjetischen, innenpolitischen Konsolidierung verfasst. Sie bedient sich darin des historischen und vor allem literarischen Stoffs der Rolandssage. Zwetajewa äußert sich angesichts der kommunistischen Kulturoffensiven, nicht Objekt einer Vielheit, lieber die Bucklige inmitten Tausender gerader Rü-

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Serbien-Kosovo-Konflikt 1998–98. Die parteiliche Stellung zu sich

Somit ist der Grund für die Kriegslegitimation der Deutschen 1999 der Sprache überantwortet, und darin vollkommen befreit von jedwedem (politischen) Inhalt. Das erscheint als im Gestus kritischste, im Resultat aber grundlegendste Legitimation des politischen Konsenses überhaupt: Dick sieht die Notwendigkeit zur Legitimation des Kriegs, allein indem die Legitimation sich ausspricht, weil miteinander gesprochen wird. Die positive Seite der Kritik, die Bedeutung für Dicks eigene Sprachpraxis, erscheint nur konsequent. Es ist die (wenn auch wortreiche und immerhin um Verständigung bemühte) Absage an ein Eigentliches der Sprache: »Auf daß die Worte dich nimmer betrügen.« In der Tat wäre im begriffslosen und selbstgenügsamen Erleben die Sphäre gefunden, in der sich das Wort, dem Dick immer noch ein Anrecht auf Wirklichkeit zuschreibt, endlich beweisen kann: Denn insofern von der Welt praktisch nichts mehr erwartet wird, ist man dort, wo nur ›Allusion‹ und ›Sammelsur‹ gelten, vor jeder Enttäuschung der Ideale befreit. So befassen sich die kriegs- und sprachkritischen Verlautbarungen von Meinecke und die für sich stehenden Werke von Wirner und Dick einerseits konkret und ausführlich mit dem Gegenstand des öffentlichen Diskurses zum Kosovo-Krieg 1999. Andererseits blicken sie abstrahierend auf ihn und sind als Kritiker für eine Grundannahme sehr verständig: Das den Krieg bejahende wie ablehnende Urteil ist zuvorderst dem Medium geschuldet, in dem es sich vorträgt. Wohl wegen ihres eigenen, aber unterlegenden Standpunkts haben sie sich diesem Gedanken, dass die falsche Sprache falsches Urteil bedinge, und seiner Widersprüche konstruktiv zugewendet. Für den praktischen Erfolg des falschen und den bloß ideellen Erfolg des eigenen Urteils haben sie ästhetische wie theoretische Plausibilisierungen gefunden, die letzten Endes die Ausgangssituation konterkarieren: Die Kriegslegitimationen werden gerade durch ihre vehementen Kritiker legitimiert, ihre eigene kritische Position zog sich auf Geist und Haltung zurück, die keine praktische Gültigkeit mehr beanspruchte.

cken sein zu wollen bzw. eh schon zu sein. Auch sie bedient sich in dem Gedicht des Zusammenschlusses, wonach Individualität ausreichender Grund von Un-Gehorsam sei, anders herum Gehorsam nur aus Willenlosigkeit resultiere. Diese emphatische KünstlerSelbstdarstellung wurde von Dimitri Schostakowitsch in einem Liederzyklus verarbeitet, eine Emphase, die sich abseits verortet und gerade in der Trennung vom Alltag ihre Grundlage hat.

5.

Rechtfertigung des vergangenen Kriegs durch seine Resultate. Deutsche Literatur über den Jugoslawienkrieg nach seinem Ende

5.1

Perspektiven der literarischen Historisierung des Jugoslawienkriegs

Die vorangegangenen Kapitel haben sich mit den Beiträgen von Intellektuellen und Schriftstellern zu den jugoslawischen Sezessionskriegen anlässlich der Interventionen des wiedervereinten Deutschlands zwischen 1991 und 1999 auseinandergesetzt – während diese Kriege noch Gegenstand der Tagespolitik waren. Die Stellung innerhalb des literarischen Felds war zum einen durch die Revision des kategorischen und für die Nachkriegsliteratur grundlegenden ›Nie wieder Krieg!‹-Postulats bestimmt. Das hatte sich bereits im Zweiten Golfkrieg unmittelbar nach der Vereinigung 1990/91 gezeigt. Zum anderen war sie bestimmt durch die Beschäftigung mit den aktuellen Ereignissen auf dem Balkan im Modus der Rechtfertigung. So beschäftigte sich die Literatur des vereinten Deutschlands mit den außenpolitischen und wieder militärischen Engagements nicht nur in dem Sinne verständig, dass sie Legitimationen, die der politische Diskurs stiftete, übernahm. Die Literatur bot eigene Betrachtungsweisen und gab mit den ihr eigenen Mitteln Anschauung, worin sowohl das jugoslawische Kriegsgeschehen als auch westliche Diplomatie mit deren militärischem Eingreifen notwendig seien. Die zentralen Kapitel dieser Arbeit, die den wichtigen Phasen der Jugoslawienkriege folgten, haben gezeigt, wie sensibel die literarischen Akteure auf die je aktuelle politische Agenda Deutschlands reagierten. Die Analyseergebnisse zeigen in frappierender Weise, wie die Intellektuellen auf die aktuellen Begebenheiten mit ihrer geistigen Freiheit reflektierten und was sie folgend in ihren literarischen Arbeiten zum Ausdruck brachten: Den von Deutschland diplomatisch vorangebrachten und mit dem Titel des völkischen Selbstbestimmungsrechts legitimierten Auseinanderfall Jugoslawiens verstanden die deutschen Intellektuellen als Notwendigkeit, wonach sich der Vielvölkerstaat resp. das ›Völkergefängnis‹ Jugoslawien hatte auflösen müssen, und verteidigten ferner gegen die Parteinahme für eines der ›Völker‹ ihre Partei-

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Jugoslawienkrieg nach seinem Ende. Rechtfertigung der Resultate

nahme für den jugoslawischen Staatszerfall (2. Kapitel); mit dem politischen Beschluss des Westens, am Zerfall des Staats Jugoslawien durch die Parteinahme für den Teilstaat Bosnien-Herzegowina mitzuwirken, vollziehen die öffentliche Debatte und die literarische Auseinandersetzung nach, weswegen Bosnien nicht nur eine Konfliktpartei, sondern das illegitime Opfer innerhalb des Kriegs ist, dem ›offensichtlich‹ gegen Serbien ideeller wie militärischer Beistand zustehe (3. Kapitel); schließlich geht mit dem gewachsenen politischen Bewusstsein Deutschlands, das sich für seine Politik auf sich als Existenz eigenen und unrelativierten Rechts beruft und sich im Kosovo in seinem Handeln sogar von den bisherigen Kriegslegitimationen des UN-Völkerrechts emanzipiert, der intellektuelle Diskurs einher, worin diese politische ›Realität‹ gegen einen ›uneigentlichen‹, auf den Zweiten Weltkrieg verpflichteten (Hyper-)Moralismus und Historismus gestärkt wird (4. Kapitel). Politische Agenda und intellektuelles Urteil bzw. literarische Anschauung koinzidierten, das hat der Blick in die Beiträge der debattierenden Öffentlichkeit gezeigt, jedoch nicht zufällig. So hatte die Öffentlichkeit diesbezüglich den Anspruch formuliert, wonach sich zum einen der kritische Geist der Nachkriegszeit relativieren und maximal gegen sich selbst kritisch werden solle und wonach zum anderen eine der ›Wirklichkeit‹ geschuldete intellektuelle Beschäftigung mit den Deutschen und ihren Kriegen anstehe. Dieser Anspruch wurde nicht ausschließlich von außen an die Intellektuellen und Schriftsteller herangetragen, sondern von ihnen selbst formuliert oder buchstäblich erstritten. Die rechtfertigende Reflexion der Jugoslawienpolitik übernahmen sogar die letzten Kriegskritiker unter den Schriftstellern: Gegen die politische Realität der deutschen Kriegsbeteiligungen und der allgemeinen Kriegsbefürwortung stellten sie die ideelle Sphäre der Literatur, die die Literaten, um sie zu retten, selbstbewusst in eine genügsame, selbstbezügliche Stellung überführten. 1999 endete mit der Anerkennung des Kosovo der Zerfalls Jugoslawiens, der Balkan gilt als befriedet. Seitdem hat er als Gegenstand der Literatur in die neue deutsche Literaturgeschichtsschreibung keinen Eingang gefunden bzw. keine spezifische Aufmerksamkeit erfahren. Er bleibt weiterhin unbesprochen.697 Als der Jugoslawienkrieg aus der Tagespolitik verschwand, ist er jedoch Gegenstand der Literatur geblieben. Er wurde dies in Differenz zur literarischen 697 Die aktualisierte und erweiterte Neuauflage von Metzler’s Deutsche Literaturgeschichte erörtert in dem von Michael Opitz und Carola Opitz-Wiemers verfassten Teil zur Literatur nach 1989/90 (S. 669–755) zwar umfangreich die schriftstellerische Beschäftigung mit dem Stoff des Zweiten Weltkriegs (S. 708–720), auch gibt es das neue Unterkapitel mit Ausführungen zur Literatur über bzw. anlässlich des 11. September (S. 731–733). Der Gegenstand Jugoslawienkrieg kommt (weiterhin) nicht vor. Siehe die entsprechenden Passagen in: Wolfgang Beutin u. a.: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 8., akt. u. erw. Aufl. Stuttgart: Metzler 2013.

Perspektiven der literarische Historisierung

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Produktion zu Zeiten des Kriegs mit deutlicher Hinwendung zu genuin literarischen Genres wie dem Roman in einer offensichtlich neuen, elaborierten und weit erfolgreicher rezipierten Weise. Romane wie Terezia Moras Alle Tage (2004)698, Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens (2003)699, Sasa Stanisics Wie der Soldat das Grammofon repariert (2010)700 oder Juli Zehs Adler und Engel (2001) haben allesamt eine große Leserschaft gefunden, erstaunliche Resonanz im Feuilleton erhalten und erfolgreich Preise eingefahren. Auf diese Texte lohnt aus inhaltlichen und poetologischen Gründen ein gesonderter Blick. Denn er zeigt die Perspektive auf, unter der der Jugoslawienkrieg seine literarische Historisierung erfährt. Und diese unterscheidet sich zu der in den vorangegangenen Kapiteln dieser Arbeit analysierten öffentlichen wie literarischen Auseinandersetzungen der 1990er Jahre eklatant: Die neue Jugoslawienkriegsliteratur nach dem Ende des Jugoslawienkriegs bilanziert diesen grundsätzlich negativ. Die Hauptfiguren bei Mora, Gstrein, Stanisic oder Zeh stammen nicht nur aus den durch den Krieg zerstörten, sondern nach dem Ende des Kriegs weiterhin unwirtlich oder gar lebensfeindlich gebliebenen Landschaften und Gemeinwesen. Des Weiteren sind diese Hauptfiguren versehrt und durch ihre Kriegstraumatisierung für das befriedete, zivile Leben unfähig geworden. Das betrifft darüber hinaus all jene Romanfiguren, die dem Krieg auf dem Balkan etwa als Deutsche nur mittelbar ausgesetzt waren. Sie alle erleiden (sekundäre) Schädigungen oder finden den Tod. Resümierend ist festzuhalten: In diesen Romanen bedeutet der Jugoslawienkrieg über seine territorialen und zeitlichen Grenzen hinaus ausschließlich Zerstörung, Verwüstung und Trauma. Diese negative Inventur der Kriegsresultate gibt deutlich darüber Auskunft, wie, unabhängig von einem Abgleich mit dem kaum besseren Fakten über die Lage vor Ort, der Jugoslawienkrieg von den Autoren bewertet scheint. Ihr Urteil steht mit seiner niederschmetternden Härte und in seiner Geschlossenheit in aller Deutlichkeit gegen die Legitimationen, die die Politik in den 1990ern für die 698 Terezia Mora: Alle Tage. Roman. München: Luchterhand 2004. 699 Norbert Gstrein: Das Handwerk des Tötens. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. Des Weiteren: ders.: Der Winter im Süden. Roman. München: Hanser 2008. 700 Sasa Stanisic: Wie der Soldat das Grammofon repariert. München: Luchterhand 2010. Zu nennen ist ferner die auf den Klagenfurter Literaturtagen 2005 vorgetragene Erzählung: ders: Was wir im Keller spielen, wie die Erbsen schmecken, warum die Stille ihre Zähne fletscht, wer richtig heißt, was eine Brücke aushält, warum Emina weint, wie Emina strahlt. In: Iris Radisch (Hg.): Die Besten 2005. Klagenfurter Texte. Die 29. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. München: Piper 2005; S. 163–174; zu erwähnen ist auch der kurze Prosatext in der u. a. von Juli Zeh herausgegebenen Anthologie: ders.: Wie Selim Hadzihalilovic zurückgekehrt ist, woran er erinnert wurde, was er mitgebracht hat, wie er das mit Maulwürfen gemeint hat und wie Effendi Ismailbeg seine Gelenke zu schonen weiß. In: Juli Zeh u. a. (Hg.): Ein Hund läuft durch die Republik. Geschichten aus Bosnien. Frankfurt/M.: Schöffling & Co 2004; S. 124–132.

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Jugoslawienkrieg nach seinem Ende. Rechtfertigung der Resultate

unbedingte Zersplitterung Jugoslawiens vertrat und die der literarische Diskurs selbst angenommen und vertreten hatte. Diese Bilanz ausschließlich schlechter Kriegsergebnisse dementiert die hohen politischen Zielsetzungen, für die sich die westliche Diplomatie und das westliche Militär durchzusetzen berechtigt sahen. Dies geschieht auf ganzer Linie: das Ende des jugoslawischen ›Völkergefängnisses‹ sollte die Völker zu wohlfahrenden Einzelexistenzen führen; die Kriegsinterventionen des Westens sollten Leiden und humanitäre Katastrophen verhindern oder beenden; der maßgeblich durch Überlegenheit des westlichen Bündnisses erzwungene Frieden zwischen den Kriegsparteien sollte schließlich Prosperität und geordnete, zivile Verhältnisse bringen. All diesen einstigen guten Kriegsgründen begegnen die Romane kritisch, keine Figur der Romane ist Verkünder oder Repräsentant solcher Resultate im positiven Sinn – im Gegenteil. Mit diesem betont schlechten Urteil über die mit westlicher Tat und Fürsprache geführten Kriege geht in den Romanen eine eigene, gewissermaßen ahistorische Perspektivierung einher. Denn die Kriege in Jugoslawien, so sehr sie als Ereignisse der Zeitgeschichte Thema oder Hintergrund der Romane sind701, werden erstens als unbestimmter Lebensumstand, den es für die Romanfiguren bei aller Ohnmacht und Passivität praktisch zu bewältigen gilt, dargestellt. Zweitens gibt sich die Bestimmung dieser lebensfeindlichen Umstände gegenüber ihren historischen, zum Teil durch die Autoren und Kollegen vertretenen Gründen erstaunlich unwissend. Mit Blick auf die konkreten Resultate des Jugoslawienkriegs für die Menschen wird er mit einer ahistorischen und apolitischen menschlichen Natur erklärt; oder er erscheint vollends als ein subjektund zielloses Geschehen. In den Romanen von Gstrein, Zeh oder Mora lösen sich nicht nur die Fronten im Krieg, sondern die Grenzen des Kriegs auf, so dass sogar das sich dem Kriegsgeschehen fern wähnende westliche Europa Kriegsversehrte und einen brüchigen zivilen Alltag erfahren muss. Die Hinwendung zum Krieg als Ausdruck menschlicher Natur geht mitunter so weit, dass, etwa bei Juli Zehs Adler und Engel, die Identitäten von Individualpsyche und Staatsgebilden andeutungsvoll diffundieren. Im Ganzen erscheint der Krieg den Romanfiguren als verrätselte Identität, für deren Erklärung sie das politische wie diskursive Geschehen der 1990er Jahre ausschließen. So deutlich also negative Betroffenheit der Hauptfiguren Thema dieser Romane ist, so deutlich ist ihnen der Krieg unerklärbar oder ist ihnen gar das Unerklärliche Erklärung. Damit hat der Jugoslawienkrieg eine literarische Historisierung erfahren, die zur Nachkriegsliteratur der beiden Deutschlande zwischen 1945 und 1990 eine entscheidende Differenz aufweist: Die gegenwärtige deutsche Literatur über den 701 Lützeler bestimmt diese Landschaften jenseits ihrer politischen Bedingungen als »peripher« und »Kulisse«; siehe Paul Michael Lützeler : Bürgerkrieg global; S. 72.

Selbstbeauftragung der neuen deutschen Literatur. Juli Zeh

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Jugoslawienkrieg nach seinem Ende leitet aus ihm zwar ein negatives Urteil, jedoch keinen kritischen polit-moralischen Auftrag ab. Die bisherigen deutschen Post-Jugoslawienkriegsromane haben die erste deutsche Kriegsbeteiligung nach 1945 in eine Geschichte integriert, die nicht unbedingt schön, aber unabwendbar waltet.

5.2

Politische Kritik in der Selbstbeauftragung der neuen deutschen Literatur. Das affirmierende Moment des kritischen Realismus von Juli Zehs Jugoslawien-Texten

Die politische Wirklichkeit des Jugoslawienkriegs nach seinem Ende zum Gegenstand ihres Schreibens gemacht zu haben, zeichnet in mehrfacher Weise die Texte der deutschen Autorin Juli Zeh aus. Innerhalb der literarischen Öffentlichkeit nimmt Zeh diesbezüglich eine Sonderrolle ein. Ihre Essays sind in den großen deutschsprachigen Periodika erschienen, ihr Debutroman Adler und Engel (2001) und der folgende Reisebericht Die Stille ist ein Geräusch (2002) wurden im In- und Ausland in vielen Auflagen gedruckt und mit Preisen versehen.702 Darüber hinaus haben der Jugoslawienkrieg und seine Folgen für Zehs literarisches und essayistisches Werk eine exzeptionelle Bedeutung. Mit diesem Gegenstand befasste sie sich in ihren ersten Schriftstellerjahren fast ausschließlich. Dabei ist für sie der Jugoslawienkrieg nicht bloß literarischer Stoff: Zeh versteht den Schriftstellerberuf, wie sie es in ihrer Dankesrede Auf den Barrikaden hinterm Berg? darlegt, als genuin politischen Beruf.703 Sie stärkt ihn zum einen gegen das Missverständnis, dass Politik in den Parteiinstitutionen stattzufinden habe. Zum anderen stärkt sie ihn gegen ihre deutschen Schriftstellerkollegen, die, so wie es Anett Krause nennt, die ›Beräumung des literarischen Feldes‹ nach 1989/90704 als kategorischen Einwand gegen jede Form des politischen Engagements genommen hatten und nun die Literatur, sofern sie sich noch politisch äußert, als instrumentalisiert betrachteten. Zeh meint, das Gegenteil sei der Fall. Die »schreibende Zunft und vor allem die Jüngeren unter

702 Zehs Debutroman Adler und Engel hat bis dato über 17 Auflagen in Deutschland erfahren, ihr Bosnien-Reisebericht Die Stille ist ein Geräusch über sechs. 703 Die Rede wurde anlässlich der Verleihung des Ernst-Toller-Preises gehalten. Sie erschien erstmals gedruckt in 2004 Die Zeit. Laut bibliografischer Notiz handelt es sich in der hier zitierten Version um eine Überarbeitung; Juli Zeh: Auf den Barrikaden oder hinterm Berg? In: Alles auf dem Rasen. Kein Roman. Frankfurt/M.: btb 2008 (EA: 2006); S. 214–219. 704 Zeh umschreibt es so, dass »die öffentliche Meinung […] den Schriftsteller aus dem Dienstverhältnis entlassen« habe; ebd.; S. 217. Zum Wortlaut der Beräumung: Anett Krause: Die Geburt der Popliteratur ; z. B. S. 254.

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Jugoslawienkrieg nach seinem Ende. Rechtfertigung der Resultate

uns«705 seien keineswegs unpolitisch, nur engagierten sie sich nur abseits der Parteipolitik und aller ›Herden‹ und zwar mit ihrem privaten Schreiben: »Die moderne Menschheit unterliegt einem fatalen Irrtum, wenn sie vergisst, dass Politik etwas ist, das, im Guten wie im Bösen, von Menschen für Menschen gemacht wird […]. Um politisch zu sein, braucht man keine Partei, und vor allem braucht man kein staatlich anerkanntes Expertentum. Vielmehr braucht man zweierlei: gesunden Menschenverstand und ein Herz im Leib. […] Wenn tatsächlich ein großer Teil der Bevölkerung dem Gefühl erläge, die Politik sei zu kompliziert, zu abgehoben, vielleicht auch zu langweilig und vor allem zu undurchlässig, um den Einzelnen noch etwas anzugehen, befände sich das demokratische System in einer Krise. Es ist durchaus nicht so, dass uns Schriftsteller Herz und Verstand abhanden gekommen wären. Wir trauen uns nur nicht mehr, sie öffentlich zu gebrauchen. […] Mehr als rechts und links, rot oder schwarz stützt mich der feste Glaube, dass der Literatur per se eine soziale und im weitesten Sinne politische Rolle zukommt. Es ist ein natürliches Bedürfnis des Menschen zu erfahren, was andere Menschen – repräsentiert durch den Schriftsteller und seine Figuren – denken und fühlen. Allein deshalb darf die Literatur auf dem Gebiet der Politik nicht durch den Journalismus ersetzt oder verdrängt werden, und sie soll sich nicht hinter ihrem fehlenden Experten- und Spezialistentum verstecken. Sie steht vielmehr in der Verantwortung, die Lücken zu schließen, die der Journalismus aufreißt, während er bemüht ist, ein angeblich ›objektives‹ – und deshalb immer verfälschendes – Bild von der Welt zu zeichnen. Damit hat die Literatur eine Aufgabe, an der sie wachsen kann, und hier legt der Weg, den ich einzuschlagen versuche. Ich möchte den Lesern keine Meinungen, sondern Ideen vermitteln und den Zugang zu einem nichtjournalistischen und trotzdem politischen Blick auf die Welt eröffnen.«706

Zeh zeigt sich in dieser längeren, ihre Rede abschließenden Passage kritisch gegenüber der Auffassung, die politischen Verhältnisse seien durch ›Objektivität‹ zu vermitteln – wenn diese Verhältnisse doch menschen-, also von Subjekten gemacht sind. Diese seien auf individuelles ›Denken und Fühlen‹ hin zu befragen. Der Schriftsteller mit »Herz und Verstand« und die Literatur »per se« haben dazu Zugang und ihre Aufgabe. Literarisches als politisches Engagement versteht Zeh somit als eine eher vermittelnde, weniger als erklärende bzw. selbst urteilende Aufgabe. Zeh geht ferner davon aus, dass der Vorbehalt der Menschen, die von Politik betroffen sind, gegenüber jenen, die diese Politik machen, aus Unwissen über die individuellen, subjektiven Ansichten und Stellungen herrührt, ein Unwissen, das durch die journalistische Arbeit eher noch verstärkt werde. Literarisches als politisches Engagement zeichnet sich somit gewissermaßen durch den Zugang bzw. durch eine Haltung zu den Verhältnissen wie Gegen705 Juli Zeh: Auf den Barrikaden; S. 214. 706 Ebd.; S. 217–219, Herv. i.O.

Selbstbeauftragung der neuen deutschen Literatur. Juli Zeh

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ständen aus, für die gestritten wird. Dabei erscheinen Anlass und Adressat fragwürdig identisch: die Politik der Menschen soll den Menschen noch einmal, abseits einer zwar objektiven, aber »deshalb immer verfälschende[n]« Weise mitgeteilt werden. Die Kritik des ›Verfälschens‹ rekurriert zum einen auf die interessierten und deswegen unsachlichen, also un-objektiven Bezugnahmen auf die Politik, von denen die öffentlichen Verlautbarungen bestimmt sind; zum anderen aber ist diese Kritik von Zeh als Prinzip ausgesprochen und erhält so eine erkenntnistheoretische Implikation mit deutlicher Konsequenz. Demnach biete der unmedialisierte »Blick auf die Welt«, wie sie ist, ihre Erklärung und das sei ferner konkret im Subjektiven, im Erleben und Fühlen der Menschen zu erfahren. Diesen engagierten, politischen Auftrag der Literatur hat Zeh an anderen Orten bekräftigt und gegen, auch der Nachkriegsliteratur entstammende Missverständnisse und gegen neue Strömungen der Gegenwartsliteratur abgegrenzt. In einer in der Zeit geführten kleinen Debatte um den u. a. von Matthias Politycki und Thomas Hettche ausgerufenen ›Relevanten Realismus‹ der Gegenwartsliteratur bestärkt Zeh diese Idee und kritisiert sie zugleich707: Sehr wohl seien die Nachkriegsgrößen »Grass und Walser vom Weltgewissen-Sockel« zu kippen und sei gegen die Beliebigkeit ihrer moralischen Vorschriften zu polemisieren, jedoch sei auch gleichermaßen die »nachrückende Larifari-Pop-undBefindlichkeits-Literatur« abzulehnen.708 Anlässlich der Grass-Debatte 2006 wiederholt Zeh die Forderungen nach dem Ende der ›moralischen Instanzen‹.709 Gegenwartsliteratur, so Zeh, habe sich unmittelbar mit dem zu befassen, was Gegenwart und Realität ist. Was Zeh bei den Kollegen und deren neuen ›relevanten Realismus‹ mangele, sei dahingehend die »Grundentscheidung«: Politycki, Hettche und die anderen verstünden den neuen Realismus lediglich als ästhetisches, aber nicht als politisches Programm.710 Die Welt, was sie ist, mittels des Subjektiven zu erzählen und zu vermitteln – das hat Zeh zu einer eigenen Poetik ausformuliert, die für ihre Veröffentli707 Es handelt sich um: Martin R. Dean u. a.: Was soll der Roman? In: Die Zeit, 23. 06. 2005. Dieses ›Manifest‹ löste eine kleine Debatte aus, in der neben Juli Zeh u. a. auch Hans-Ulrich Treichel und Uwe Tellkamp das Wort ergriffen. Oben beziehe ich mich auf folgenden Beitrag: Juli Zeh: Gesellschaftliche Relevanz braucht eine politische Richtung. In: Die Zeit, 23. 06. 2005. 708 Ebd. 709 Juli Zeh u. Vladimir Balzer : Das Ende der moralischen Instanzen. Schriftstellerin Juli Zeh nennt Grass-Diskussion einen ›sekundären Medienstreit‹. Unter : www.deutschlandradiokultur.de/das-ende-moralischer-instanzen.945.de.html?dram:article_id=132331; abgerufen 03. 04. 2016; Herv. S.H. 710 Juli Zeh: Gesellschaftliche Relevanz. Siehe zur Debatte auch: Thomas Wagner : Einleitung. Worum es geht. In: ders. (Hg.): Die Einmischer. Wie sich Schriftsteller heute engagieren. Hamburg: Argument 2010; S. 5–23, hier S. 6f.

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Jugoslawienkrieg nach seinem Ende. Rechtfertigung der Resultate

chungen zumindest über die Jugoslawienkriege charakteristisch ist. Zehs Literatur macht ästhetisch anschaulich, dass und wie Subjektivität einziger Zugang zur Welt ist, und wie das Subjekt, auf sich zurückgeworfen und einer objektiven Welt ausgeliefert, lernt, sich seiner Möglichkeiten zu besinnen und in angemessener Weise aktiv zu werden. In dieser Art setzt sich Zehs Debutroman aus dem Jahr 2001, Adler und Engel, zum ersten Mal mit dem mittlerweile historischen Bosnienkrieg auseinander. Bei Kritikern und Publikum war der Roman über die Maßen erfolgreich, er gewann den Leipziger Buchpreis und wurde in mehr als 27 Sprachen übersetzt. Die Beurteilungen des Feuilletons waren jedoch ambivalent. So wurde der Bosnienkrieg als »Fundament« der Handlung oder als motivischer »Hintergrund« verstanden.711 Die Handlung zeigte sich den Rezensenten als ein »Kriminalroman« oder Politthriller vor jugoslawischer Kulisse. Oder sie wunderten sich über die Bedeutung der Sprache. Einerseits erschien sie ihnen zum Gegenstand disparat und unangebracht. Der Bezug zwischen politischem Gegenstand und seiner sprachlichen Darstellung sei »beliebig[]« und »[v]ollends kindisch«.712 In der »von Metaphern geradezu überwuchernde[n] Sprache« konnten sie keinen ästhetischen Zweck erkennen und bewerten sie als »ungelenk bis peinlich«.713 Andererseits fanden sich lobende Rezensionen, die in der Sprache das Mittel sahen, aber nicht um einen eigenen Blick auf das politische Geschehen auszudrücken, sondern um die politischen Verhältnisse, wie sie sind, dem Leser näher zu bringen. Demnach habe Adler und Engel den Bosnienkrieg sprachlich in einer Weise dargeboten, den der Leser ansonsten »im klaren Licht kaum aus[ge]halten« hätte.714 Dahingehend sahen andere Rezensionen die Differenz zwischen Dargestelltem und Darstellendem aufgehoben und lobten die Sprache als »unverziert[]« und »unverspielt«.715 Dass und wie Adler und Engel ein politisches Thema zum Ausgangspunkt 711 Verena Auffermann: Und der Mond sank auf den Grund der Sahneschüssel. Der deutsche Kriminalroman hat eine Zukunft, aber er muss in Leipzig in die Schule gehen: Juli Zehs furioses Debüt über Drogen, Krieg und Recht. In: Süddeutsche Zeitung, 28. 07. 2001. 712 Matthias Rüb: Verkokste Roadshow. Juli Zeh zieht mit ihrer Studentenbude um. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09. 10. 2001. 713 Matthias Rüb macht einen Übergang von einem selbst gestifteten Mangel des Buchs zu einem Mangel der Autorin Zeh: Im Kurzschluss mit ihrer Figurenzeichnung erklärt Rüb Zeh zu einer »jungverspießten Frühautorin«; in: Matthias Rüb: Verkokste Roadshow. Dass die Rezensenten wie Rüb die ästhetische Konstruktion nicht wahrnehmen und biografisch bzw. sachkundlich an die Lektüre gehen, ist auch Daniela Finzi aufgefallen; Daniela Finzi: Unterwegs im Anderen? Literarische Er-Fahrungen der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens aus deutschsprachiger Perspektive. Tübingen: Francke 2013; S. 190. 714 Verena Auffermann: Und der Mond. 715 Jamal Tuschick: Raffinesse verleiht Flügel. Nach allen Regeln der Kunst. Juli Zeh vertraut in ihrem Debütroman ›Adler und Engel‹ auf eine unverzierte Sprache. In: die tageszeitung, 30. 10. 2001.

Selbstbeauftragung der neuen deutschen Literatur. Juli Zeh

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nimmt, gilt den Rezensionen als selbstverständlich. Dies kann als Auskunft über den Stand des Jugoslawienkriegsdiskurses 2001 in seiner beginnenden Historisierung gelesen werden: Der Krieg ist bereits aus der aktiven, kontroversen Debatte ausgeschieden und hat als ›Kulisse‹ und Stoff Eingang in die literarische Topik gefunden. Das Feuilleton drückt dahingehend den Stand des abgeschlossenen Kriegsdiskurses aus. Für Adler und Engel ist jedoch zu fragen, inwiefern in ihm das politische Thema des Jugoslawien- bzw. Bosnienkriegs, die epische Handlung und die besondere, bereits in ihrer starken Metaphorik angesprochene Sprache, zueinanderkommen, so dass sie bei einigen Rezensenten als selbstverständliche Darstellung des Kriegs erscheinen und bei anderen ganz und gar nicht. Das sei in Kürze diskutiert: Die Hauptfigur von Adler und Engel, der in Osteuropa-Fragen erfolgreiche Völkerrechtler Max, erlebt mit, wie sich seine Freundin Jessie, Tochter eines Drogendealers, selbst tötet. Genötigt durch Clara, einer Radiomoderatorin und angehenden Sozialpsychologin, beginnt Max, Jessies Leben auf die Motive für ihren Tod hin zu befragen. Max glaubt, die Ursache für Jessies Seelenleiden in ihren traumatischen Erfahrungen gefunden zu haben, die sie als Augenzeugin im von Kriegsmilizen terrorisierten bosnischen Hinterland gemacht hatte. Die Ebene der Handlung erhält durch die ästhetische Anlage des Romans jedoch eine zusätzliche Bestimmung und ein profundes Telos. Max’ Erinnerungen an das Miteinander mit Jessie und ihrem Bruder Shershah und der dramatische Verlauf von Max’ Umgang mit Clara etablieren thematisch, stilistisch und narrativ schrittweise die Frage, was Möglichkeiten und Bedingungen selbstmächtigen Daseins sind. Die neutrale Erzählinstanz verpflichtet den Leser dabei auf eine über die einzelnen Figuren hinausgehende Perspektive. So wird der individuelle Blick jeder einzelnen Figur an der Vielzahl anderer Blickweisen relativiert und auf sich als Quelle zurückverwiesen. Zugleich legt der Roman größten Wert darauf, mittels der Inhalte der Gespräche und ihrer häufigen Form des Monologs, mittels Idiosynkratien der Figuren, mittels unzähliger auf ausschließender Subjektivität verweisende kleiner und großer Sprachbilder immer die notwendige Existenz dieses subjektiven und darin begrenzten Blicks zu veranschaulichen. Heinz-Peter Preußer hat diese Konstruktion von Adler und Engel an das für die Barockliteratur typische ›synekdochische‹ Prinzip der bedeutsamen Verflochtenheit erinnert. Dessen Ertrag habe darin bestanden, die »Ordnung« der Welt zu dementieren, sie »lediglich Fassade« sein zu lassen und darüber die Welt als eine des Zerfalls aller interindividuellen, objektiven Relationen zu bestimmen.716 Dieses Weltbild im Roman ist ästhetisch angelegt und wird durch den Romanverlauf praktisch, als quasi-teleologische Wirklichkeit veranschaulicht: Die Ich-Perspektive der Figuren erweist sich als unüberwind716 Heinz-Peter Preußer : Letzte Welten; S. 305f.

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bar, über-individuelle Gewissheiten werden immerzu vereitelt. Nur Max, der sich von allen vermittelten allgemeinen Sichtweisen auf die Welt und dabei von seinem Jessie-Komplex befreien kann, erlangt im bescheidenen Rahmen seine Macht als Subjekt zurück, kann die Begebenheiten für sich nutzen und nur so überleben. Diese auf die Subjektivität verweisende intellektuelle wie praktische Weltaneignung erhält bezogen auf die ›Kulisse‹ des Bosnienkriegs in zweierlei Richtungen Relevanz.717 Erstens ist der Bosnienkrieg in seiner objektiven Existenz nicht negiert, er wird aber in die nicht zu vermittelnde Vielzahl der individuellen Perspektiven auf ihn aufgelöst. Aus der Perspektive eines unmittelbar betroffenen Subjekts mag dieser Zugang zum Krieg naheliegen, aus der Perspektive eines überindividuellen Begriffs ist diese Distanzlosigkeit einer praktischen Vernunft, die grundsätzliche intellektuelle ›Ohnmacht‹, falsch. Zweitens macht Adler und Engel Angebote, auch mittels dieser subjektiven Perspektive den Bosnienkrieg politisch auszudeuten. Die einzige über die einzelnen Figuren hinausweisende allgemeine Erklärung der politischen Zusammenhänge des Bosnienkriegs rekurriert zugleich wieder auf die Figurenebene zurück: Staaten werden von einzelnen Figuren als Individualpsychologien diskutiert, die gleich den privaten Subjekten in ihrer gegebenenfalls traumatisierten Perspektive gefangen sind. Der Krieg erscheint somit ebenso als ein Ringen um Souveränität, dem, wie beim einzelnen Individuum, per se Notwendigkeit wie Recht zukomme. So wird der vergangene Jugoslawienkrieg durch die prinzipiell kritische Stellung zu objektiven Erklärungen und durch die kritische Subjektivität nicht nur in seinem Verlauf und in den Effekten auf die Individuen ungeschönt, deutlich emanzipiert von den gängigen politischen Legitimationen dargestellt. Des Weiteren aber führt diese Methode, allein durch Subjektivität den Begriff der Welt und des gewesenen Kriegs zu erfahren, im Falle von Adler und Engel zu einer Sichtweise profunder Rechtfertigung.718 Ferner wird der Bosnienkrieg in einen Erklärungszusammenhang gestellt, in dem er in einem Weltbild aufgeht und eine umgekehrte Aussage erhält: Er wird zum Beleg allgemeiner, überhistorischer Gesetze.

717 Lützeler bemisst die Bedeutung des historischen Kriegs für den Roman sehr gering. Ihm geht es in Adler und Engel in erster Linie um »neue[] Geschlechterbeziehungen und der Medialisierung der Gefühlswelt«; Paul Michael Lützeler : Bürgerkrieg global; S. 72f. 718 Die Betonung liegt auf dem obigen ›Ungeschönt‹. Das Verständnis für den Krieg findet in Adler und Engel auf Grundlage der Stilisierungen z. B. von grundloser Brutalität kroatischserbischer Freischärler statt.

Das empfundene Land als dessen politische Rechtfertigung

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Das empfundene Land als dessen politische Rechtfertigung. Juli Zeh: Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien (2002)

Ein Jahr nach der Veröffentlichung von Zehs Debut Adler und Engel erschien 2002 ihr zweites Buch, der Bericht Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien.719 Dieser soll im Besonderen erörtert werden – erstens um an der wohl konkretesten literarischen Beschäftigung mit dem Jugoslawienkrieg nach dessen Ende ein Verfahren der Historisierung nachzuverfolgen; und zweitens sieht Daniela Finzi Die Stille ist ein Geräusch wegen der außerordentlichen Stellung von Zehs Bericht in der aktuellen Literaturgeschichtsschreibung als »die erste breitenwirksame literarische Auseinandersetzung eines/einer deutschen Autors/Autorin mit Bosnien-Herzegowina nach dem Krieg sowie dem kriegerischen Zerfall Jugoslawiens«.720 Der Reisebericht wurde von einer Vielzahl von Veröffentlichungen gleichen Themas flankiert. So unterhält Zeh im Internet die Seite stille-ist-geraeusch.de, die zeitgleich zur Buchveröffentlichung gestartet wurde und neben zusätzlichen eigenen Texten aus anderen Quellen politisches, historisches und touristisches Informationsmaterial zu Bosnien bereitstellt.721 Bosnien ist Thema von einigen, mit dem Reisebericht nicht unmittelbar zusammenhängenden Texten wie der kurze, 2001 in Die Welt gedruckte Seien Sie doch froh, dass Sie nicht dort sind.722 Eine große Zahl der Veröffentlichungen rekurriert jedoch auf ihren Reisebericht, so z. B. die Reportage Jasmina and friends. Diese erschien 2002 in der Zeitschrift Brigitte723 und portraitiert eine, im Reisebericht kurz erwähnte, bosnische ›DJane‹. Teile des Buchs wurden bereits andernorts präsentiert: Ende 2001 las Zeh auf einer Tagung über Medien im Krieg einen Auszug unter dem Titel Ich bin auf Standby724 ; unter dem Titel Sarajevo, blinde Kühe wurde 2002 eine Passage

719 Juli Zeh: Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien. Frankfurt/M.: Schöffling & Co 2002. In der folgenden Analyse wird auf dieses Buch mit der Sigle Z verwiesen. 720 Daniela Finzi: Unterwegs; S. 188. 721 Die Internet-Seite www.stille-ist-geraeusch.de, 2002 entstanden, ist 2017 noch in Betrieb, erscheint aber nicht aktualisiert. 722 Juli Zeh: Seien Sie doch froh, dass Sie nicht dort sind. Noch sechs Jahre nach dem Krieg ist es schwer, nach Mostar zu reisen – aber für Deutsche höchst lehrreich. In: Die Welt; 26. 06. 2001. 723 Der Text wurde als Reportage zuerst in der Ausgabe 10/2002 der Zeitschrift Brigitte veröffentlicht; nochmals veröffentlicht: Juli Zeh: Jasmina and friends. In: dies.: Alles auf dem Rasen. Kein Roman. Frankfurt/M.: btb 2008 (EA 2006); S. 268–279. 724 Juli Zeh: Ich bin auf Standby – Ich sehe alles und nichts. Aus dem Tagebuch einer Reise durch Bosnien-Herzegowina. In: Heinz-Peter Preußer (Hg.): Krieg in den Medien. Amsterdam: Rodopi 2005; S. 35–52. Laut Anmerkungen entspricht dieser vorab veröffentlichte Text den Seiten 20 bis 58 der Buchausgabe. Von Zeh wurden jedoch einige stilistische und inhaltliche Änderungen vorgenommen.

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des Buchs in der Zeitschrift Literaturen veröffentlicht.725 Auch Jahre später beziehen sich verschiedene Texte noch auf diese Werkphase. Die nach Zehs eigenen Worten nostalgische Haltung gegenüber Bosnien zu Zeiten der Recherche für Die Stille ist ein Geräusch wird im Artikel Aus den falschen Gründen, 2005 in der Kulturzeitung du veröffentlicht, problematisiert.726 Neben diesen einzelnen Artikeln ist das u. a. von Zeh initiierte Projekt mit auf Deutsch schreibenden jungen Autoren bosnischer Abstammung hervorzuheben. Es ist 2004 als Buch unter dem Titel Ein Hund läuft durch die Republik. Geschichten aus Bosnien erschienen.727 Die darin enthaltenen Texte teilen den Gegenstand, in der Regel den ehemaligen Kriegsschauplatz Bosnien, und die Auseinandersetzung in essayistischer oder literarischer Art und Weise mit ihm. Zentrales Moment der Texte ist der individuelle, subjektive Blick der Autoren, der sich nicht nur stilistisch niederschlägt, sondern zugleich den damit betrachteten Gegenstand des Nachkriegsjugoslawiens neu bestimmt. Die folgende Analyse des Reiseberichts Die Stille ist ein Geräusch soll zeigen, wie Zeh mit Unmittelbarkeit und eigener Subjektivität den vergangenen und weiterhin kursierenden Kriegslegitimationen kritisch begegnet, zugleich mit dem naiven Blick eine Deutung des vergangenen Kriegs stiftet und damit die Erwartungshaltung der gegenwärtigen westlichen Politik auf eigene Art aufgreift.

5.3.1 Erleben als Verfahren, den Krieg und den neuen Staat zu erklären Zeh erzählt in Die Stille ist ein Geräusch von den Vorbereitungen zu ihrer Reise nach Bosnien728, berichtet in weiteren 23 Kapiteln von der Reise durch Bosnien 725 Dieser Text ist in der Ausgabe Juli/August 2002 der Literaturen erschienen; abgedruckt nochmals als: Juli Zeh: Sarajevo, blinde Kühe. In: dies.: Alles auf dem Rasen. Kein Roman. Frankfurt/M.: btb 2008 (EA 2006); S. 265–267. 726 Aus den falschen Gründe erschien zuerst in der Zeitschrift du, Ausgabe Juli/August 2005; erneut veröffentlicht: Juli Zeh: Aus den falschen Gründen. In: dies.: Alles auf dem Rasen. Kein Roman. Frankfurt/M.: btb 2008 (EA 2006); S. 280–283. 727 Juli Zeh u. a. (Hg.): Ein Hund läuft durch die Republik. Geschichten aus Bosnien. Frankfurt/ M.: Schöffling & Co. 2004; darin: Juli Zeh: B wie Bosnien: Stadt Land Fluss. In: ebd.; S. 133– 140. 728 Die Frage, ob und inwiefern die Erzählerin ›Zeh‹ eine diegetische Instanz fiktionaler oder semifiktionaler Art darstellt, wird im Folgenden pragmatisch beantwortet. Die Erzählerin wird hier mit der Autorin gleichgesetzt, weil Die Stille ist ein Geräusch sich nicht als fiktionales Genre ausweist und weil die Autorin in ihren vielzähligen Äußerungen zu ihrem Buch immer auf sich als erzählende Instanz referiert. Dass im Feuilleton wie in Wissenschaft mancherorts die Frage nach dem Status der Erzählerin virulent wurde, mag an ihrem ungewöhnlichen Blick auf sich und auf den Gegenstand liegen – auch den gilt es im Folgenden zu klären. Siehe dazu (u. a.) die Ausführungen bei: Heinz-Peter Preußer :

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und beendet ihren Bericht mit der Rückfahrt. Den Ausgangspunkt von Zehs Reise bildet ein diskursives Wissen über Bosnien, das in allen Hinsichten Ungenügen zeigt: »Die Frau im Reisebüro teilt seine Auffassung [des Hunds der Erzählerin; Anm. S.H]. ›Was wollen Sie dort? Da ist doch Krieg!‹ Gewesen. Ich verzichte auf die Richtigstellung und starre auf die Landkarte vor mir […]. Einige nicht sehr große Länder liegen unordentlich nebeneinander, ein paar Namen von Städten und Flüssen kenne ich aus den Zwanzig-Uhr-Nachrichten. Im Herzen der Finsternis liegt ein weißer Fleck, in dem geschrieben steht: ›Dieses Land eignet sich nicht für touristische Reisen‹. Das ist Bosnien-Herzegowina. […] Im Buchladen finde ich einen Touristenführer aus den achtziger Jahren mit lustigen Bildern von Dingen, die höchstwahrscheinlich nicht mehr existieren, fünf Tonnen Kriegsberichterstattung und drei Bücher über das historische Bosnien im Mittelalter. […] Der vorwurfsvolle Blick des Hundes wird intensiver, als ich anfange, den Rucksack zu packen. Er verlangt eine Erklärung. […] ›Vor etwa acht Jahren, als du noch klein warst, fragte mein Bruder einmal, wo die Städte Moslemenklavebihac und Belagertessarajevo liegen.‹ Der Hund versteht nicht. ›Ich will sehen, ob Bosnien-Herzegowina ein Ort ist, an den man fahren kann, oder ob es zusammen mit der Kriegsberichterstattung vom Erdboden verschwunden ist.‹« (Z: 9–11)

Der Bericht beginnt mit einer ziemlich umfassenden Inventur des hiesigen Wissens über das gegenwärtige Bosnien.729 Jedoch, dieses Wissen ist durchgängig verfehlt, es ist alt, kontra-faktisch oder einfach nicht vorhanden. Mit diesem Wissen, so spitzt es Zeh gegenüber ihrem Hund zu, stünde gar die Existenz Bosniens in Frage. Umgekehrt sei es nun an der Zeit, das offensichtlich und grundsätzlich falsche Wissen über Bosnien nicht in seinen Fehlern zu kritisieren, sondern es praktisch zu widerlegen – durch unmittelbares Erleben und Anschauung. Reisend begegnet Zeh dem Gegenstand Bosnien zum allerersten Mal genau nur so: Alles Wissen scheint revidiert. Erst was Zeh unmittelbar in Augenschein Perzeption und Urteilsvermögen. Eine Einleitung zu ›Krieg in den Medien‹. In: ders. (Hg.): Krieg in den Medien. Amsterdam: Rodopi 2005; S. 9–34, hier S. 25; Daniela Finzi: Unterwegs; S. 194f. 729 Dem Zusammenhang zwischen Wirklichkeit und falschem Bild der Medien wird zu einem eigenen Gegenstand in einem späteren Abschnitt. Demnach seien die Medien grundloser Grund für die ›Verderbtheit‹ des westlichen Blicks auf Bosnien; Z: 227–229. Diese Argumentation, wenn auch ohne theoretische Vertiefung, hat Ähnlichkeit mit Peter Handkes Medienkritik. Demnach liege in der medialen Vermittlung selbst die Verfremdung dessen, was die Vermittelnden ansonsten wahrheitsgemäß vermitteln würden. Handke wie Zeh vernachlässigen in ihrer Medienkritik allgemein und im Besonderen den Zweck der so medialisierten Kriegswirklichkeit.

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nehmen kann, existiert jetzt nicht nur für sie, sondern erst an sich. So wie ihr Heimatort Leipzig, weil er nur als Erinnerung vor die Augen tritt, in seiner Existenz »fragwürdig« wird (Z: 32), wird der Ort, an dem sie nun ankommt, in seiner Existenz verifiziert: »Sarajevo, da bin ich sicher, gibt es nicht. […] Meine Füße, tastend beim ersten Kontakt mit bosnischen Boden: Alles klar. Trägt.« (Z: 26) Zehs kritischer Impetus scheint, indem sie alles Wissen über Bosnien verwirft, allumfassend und gibt sich als generelle Skepsis gegenüber Vermittelten und somit gewissermaßen gleichgültig gegenüber falschen wie richtigen Erklärungen zur bosnischen Gegenwart. Diese Skepsis erlebt Zeh nicht als Folge eines Urteils, sondern nun als eigene Macht, sie wirkt gegen ihren Willen, körperlich und unmittelbar : »Meine Augen sitzen wie Fremdkörper im Gesicht: Wenn ich sie schließen will, spüre ich Sand unter den Lidern, also lasse ich sie offen und starre durch das Küchenfenster, unfähig zu entscheiden, ob der zellstoffdichte Nebel draußen ist oder in meinem Kopf. […] Gestern liegt, wie üblich, weniger als vierundzwanzig Stunden zurück. Dringend müsste eine zweite Zeitrechnung eingeführt werden, die sich nach jedem Einzelnen richtet, wie beim Wetter nach tatsächlicher und gefühlter Kälte unterschieden wird.« (Z: 35f., Herv. S.H.)

In diesem nicht beabsichtigten, denn sich einstellenden Zustand der Verunsicherung des abstrakten Wissens und der Versicherung des ›Gefühlten‹ sieht Zeh nun »alles und nichts«. Sie tritt unwissend, auf sich allein gestellt, aber neu lernend ›wie ein Kind‹ der Welt gegenüber. Wie sich das darstellt und inwiefern eine kindliche, unmittelbare Naivität des Lernens deutlich wird, soll an der Schilderung der ersten großen Erkundungsfahrt erörtert werden. Dazu eine längere Passage aus dem Kapitel Jednokrevetna über ihre Taxifahrt durch Mostar (Z: 43–53)730 : »Ich sehe alles zugleich, die ganze Stadt auf einen Blick, als hätte ich rund um den Kopf einen Kranz von Augen, jedes zweite mit Röntgenfunktion. […] Wenn Menschen Wasser wären, das hier müsste der Amazonas sein. […] Die Menge ist in Patchwork aus den Farben von Kleidern zusammengesetzt […]. Links und rechts wechseln Caf8s mit Friseurläden mit Lebensmittelgeschäften, darüber leere, ausgefranste Fensteröffnungen und verbrannte Dachstühle. Orientalischer Pop und Discomusik lagern in Schichten übereinander, gesprenkelt mit Hundegebell und den Klopfen von Hämmern. Ich bin auf Stand-by, ich sehe alles und nichts. […] Nichts hat mit den eigenen Namen zu tun, ich auch nicht, und den des Taxifahrers habe ich von Anfang an nicht verstanden und nicht nachzufragen gewagt. Ebenso wenig weiß ich, ob er Moslem ist, Serbe oder Kroate, nur dass er in Livno geboren 730 Dieser Passage geht ein gleichnamiges Kapitel Im Taxi durch Mostar voraus; Z: 35–42.

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wurde, lange in Mostar gelebt hat und rechtzeitig nach Metkovic gezogen ist, bevor es brenzlig wurde. […] Man müsste eine ethnographische Karte zücken, wenn man jemanden kennenlernt, und es würde vermutlich nicht helfen. Ich bin nicht sicher, ob es für mich eine Rolle spielt, das ›Who is who‹ des Balkans. Verloren fühle ich mich, losgelöst von allen Erinnerungen. Ich bin wieder Kind und wachse heran innerhalb weniger Stunden, staunend darüber, wie die Welt ist. Es war doch sonst immer alles ganz und unversehrt. In meinem Kopf gibt es nur noch Imperfekt und für mich selbst kein ›Ich‹, sondern die dritte Person. Meine Gedanken klingen, als erzählte in ferner Zukunft jemand über mich und diesen ersten Tag in Mostar.« (Z: 43–46, Herv. S.H.)

Für Zeh stellt sich während der Taxifahrt ein ungefilteter, unvoreingenommener, erinnerungsloser und von Wissen befreiter Blick auf die Verhältnisse ein. Beinahe redundant kommt dies in einer Vielzahl von Bildern zum Ausdruck. Dabei erscheinen ihr die Verhältnisse als ein unmittelbares und begrifflich gleichgültiges Nebeneinander von vielem. Dass »[n]ichts mit dem eigenen Namen« mehr im Zusammenhang stehe, wird hier durch das Nebeneinander sprachlich evoziert. An den einzelnen Dingen wurde das Ungenügen ihrer Benennungen oder Begriffe hingegen nicht geprüft oder erklärt. Dieser Blick verweist daher auf Zeh selbst als Quelle. In diesem erkenntnis-skeptischen Zug verwirft Zeh nun interessanterweise einen ›Begriff‹ als irrelevant, den sie immerhin noch als ehemals relevanten Begriff sprachlich markiert. Ob der Taxifahrer »Moslem ist, Serbe oder Kroate«, sei ihr egal – und wird dabei als sachlicher wie ideologischer Grund für die bosnischen Gegenwart und Vergangenheit in prinzipieller Weise ausgeklammert. Das mag von Zehs eigener Skepsis gegenüber der ideologischen Aufladung der Nationalitäten zeugen, verwirft vor aller Auseinandersetzung aber, dass Zugehörigkeiten zu dieser oder zu einer anderen Nation nicht nur politisch, sondern auch ideologisch für den bosnischen Staatsgründungskonflikt relevant gewesen sein könnten. Vergessend stellt Zeh die Frage nach der bosnischen Existenz gänzlich neu und befragt statt der Spezifik das Allgemeine. Die bosnische Nachkriegsgegenwart wird als Frage nach der »Welt«, in der »doch sonst immer alles ganz und unversehrt« gewesen sei, gefasst. Und so sieht sich Zeh am Ende einer bosnischen Umwelt ausgeliefert, von der alles Erklärende und Benennende abgefallen und die nur noch durch ihre pure Existenz greifbar ist und durch Zeh als erlebendes Subjekt zusammengehalten wird; die begriffene Wirklichkeit ist gerade die begriffslose: »Trotzdem kann ich nicht glauben, dass jedes Stück Boden, das meine Füße berühren, jede Mauer, jedes Fenster, jedes Blatt an jedem Baum ein kleines Stück dieses Namens tragen, ›Sarajevo‹, der sie miteinander verbindet zu einer wirklichen Stadt. Jahre lag sie für mich in der Blackbox hinter dem Eisernen Vorhang, war ein Ort, über den man auf der Weltkarte mit dem Finger hinwegfuhr. Bis die Stadt auf internationalem Parkett mit

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einem Kriegsauftritt debütierte, sich vorstellte mit qualitativ schlechten TV-Aufzeichnungen von dunklen Staubwolken und hochspritzenden Häusersplittern. ›Sarajevo‹ ist ein verwirrender Kampf, bei dem man nicht weiß, wem die Daumen gedrückt werden sollen. Aus Steinen, Holz, Metall oder gar aus Menschen ist es nicht. Ich hab’s geschafft, ich bin da. Im Takt meiner Schritte flüstere ich den Namen, Sa-ra-je-vo, als könnte ich ihn auf diese Art ins Pflaster stampfen, wo er hingehört. Es klappt nicht. Er verliert noch den Rest seiner Bedeutung, wird zu etwas wie Do-re-mi-fa-sol.« (Z: 60f., Herv. S.H.)

Zugleich erweisen sich im Laufe der Reise alle Urteile als haltlos, die an Zeh herangetragen werden und zu erkennen geben, dass die nicht durch Subjektivität verbürgt sind. Indem die Validität der Urteile blindlings mit der erlebbaren bosnischen Gegenwart korrelieren müssen, scheint eine analytische, kritische Distanz überhaupt und per se falsch. Darauf, alle gängigen Urteile über bosnische Verhältnisse als Folge falscher Beschäftigung mit Bosnien vorzuführen, verwendet der Bericht einigen Aufwand, dazu ein paar Beispiele: Zehs Wege kreuzen immer wieder die einer US-amerikanischen Journalistin und Bildreporterin. Für Zeh ist die US-Amerikanerin ein Beispiel für den gesamten westlichen Journalistenstand im ehemaligen Jugoslawien. Sie seien zu wenig am wirklichen Wissenwollen interessiert, mit »Selbstsicherheit« produzierten sie ein »Ich-war-in-Sarajevo-Expertentum« und feierten sich als »Balkanhelden« (Z: 143). Bei einem ihrer ersten Treffen erzählt die Amerikanerin von ihrer eigenen Recherchearbeit in Mazedonien, deren Schlussfolgerungen Zeh wie folgt kritisiert: »Dieses Land ist ein Pulverfass! Das klingt wie etwas, auf das sie persönlich stolz ist. Ich sage ihr, dass ich nicht das Gefühl habe, ein Pulverfass zu bereisen. ›For God’s sake, my dear!‹ Ich komme mir naiv vor, aber trotzdem: Große Anspannung, Hass zwischen den Menschen müsste zu spüren sein.« (Z: 92, Herv. S.H.)

Jugoslawien sei ein »Pulverfass«. – Zeh nimmt das Urteil zunächst zur Kenntnis, erkennt es aber nicht an. Statt der Darlegung und Begründung dieses kritischen Schlusses an der Sache, insistiert sie auf die Authentizität ihres Gefühls und Gespürs. Bei einem anderen Treffen kontert Zeh das Urteil der Journalistin gleich mit der Bedingung, die ihres Erachtens bei der Recherche nicht bedacht gewesen sei: »Aha. Tuzla sei schwer zu ertragen, voller Hass und Hässlichkeit und nicht ungefährlich. Besonders in Brcko sein man seines Lebens nicht sicher. Sofort beschließe ich hinzufahren, um das zu überprüfen. In Tuzla, erzählt sie, gebe es Kinder, die noch nie eine Portion Pommes frites gesehen haben. Hach, denke ich, so viel Elend auf der Welt. ›Und Sie‹, frage ich, ›schon mal eine Portion Pilav gesehen?‹ Sie stutzt. ›What’s Pilav?‹

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›Fastfood‹, sage ich. ›Landestypisch.‹ Das habe ich von der Menütafel an der Wand in ihrem Rücken gesehen. Sie wechselt das Thema.« (Z: 142)

Die Aussagen der Journalistin über Tuzla sind recht verschieden und befassen sich mit so unterschiedlichen Gegenständen wie Gefühlsleben, Ästhetik, Sicherheit und Essen. Allein das umfassende negative Urteil regt Zehs Verdacht. Anstelle der Prüfung, was im Einzelnen (nicht) stimmen könnte, zerstört Zeh die prinzipielle Glaubwürdigkeit der Journalistin mit dem methodischen Verweis. Die Journalistin hätte sich auf die Verhältnisse nicht eingelassen und lediglich einen bornierten Vergleich angestellt: Wenn die US-Amerikanerin die Hiesigen auf Pommes frites verpflichtet, dann seien ihre Urteile prinzipiell untauglich. Zeh sieht unlauteres Denken, wo es nicht dem ›Landestypischen‹ folgt. Zeh prüft des Weiteren Urteile, die in den westlichen Medien als Wahrheit über Bosnien kursieren und es als »Hort des Bösen« ausdeuteten (Z: 219). So widmet sich Zeh der umfassenden Mediengeschichte des ›Arizona Market‹ in Tuzla. Das Medien-Tuzla mit dem von ihr erlebten Tuzla konfrontierend schreibt Zeh ironisch: »Tuzla, I was not there«, und etabliert, quasi kongenial zu den Orten »Moslemenklavebihac« und »Belagertessarajevo« des ersten Kapitels (Z: 10), nun die Kategorie »nichtexistierender Orte« (Z: 225). Sie resümiert das Erlebte und emanzipiert damit den realen Gegenstand Bosnien von den kursierenden fraglichen Bildern der Medien: »Wüsste ich nichts über die Stadt, würde ich an ihr nichts Ungewöhnliches finden. Oder?« (Z: 234). Auch Sarajevo befreit Zeh von seinem Medienbild und ersetzt es mit richtiger, persönlicher Erfahrung.731 So erscheinen die üblichen ›Bosnien-Experten‹ und -berichterstatter in jeder ihrer Äußerungen zu Bosnien, insofern sie nicht durch eigenes Erleben unmittelbar und fern aller Begriffe erfahren sind, prinzipiell als mangelhaft oder gar falsch.732

5.3.2 Der Bosnienkrieg stellt nicht Bosnien, sondern den Menschen in Frage Der unvoreingenommene und ›kindliche‹ Blick Zehs wird im Laufe der Reise als doch interessierter Blick deutlich. Das neue Land durchquerend weiß sie um den 731 Zeh widmet sich der Bereinigung des Bilds von Sarajevo in einer längeren Passage des Kapitels Panik; Z: 221–223. Dieser Passus ist separat in die Literaturen veröffentlicht worden und in Buchform zu finden: Juli Zeh: Sarajevo, blinde Kühe. 732 Zeh radikalisiert dieses Verfahren , wenn sie die Skepsis gegen sich und ihre eigenen, wenn auch vergangenen Erfahrungen richtet: Zusehends verbietet sich Zeh den Vergleich von dem, was sie nun in Bosnien sieht und erlebt, mit dem, was sie aus Deutschland kennt. Mangelhaft erscheinen nun und vor allem im Vergleich zu Bosnien ihre alten Wohnorte Berlin, Leipzig und Nürnberg; Z: 240, 254.

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vergangenen Krieg, leugnet ihn so wenig, wie sie allem, was die bosnische Gegenwart kritisch hinterfragt, ausblendet. Dafür, Bosnien als Kriegsresultat zu verstehen, dessen Existenz aber fraglos anzunehmen, betreibt Zeh aktive Verunsicherung der politischen Streitwerte, die vor wenigen Jahren für die verschiedenen Konkurrenten um Bosnien noch in erschreckender Weise galten. Zeh zeigt, wie sie das Wissen ausdrücklich meidet, mit dem sie sich zum ›jüngsten Staat Europas‹ in auch nur theoretische Distanz stellen müsste. So lässt Zeh Erklärungen, die ihr auf die selbst gestellte Kriegsgrundfrage gegeben werden, nebeneinander stehen, so dass sie sich in ihrem Erklärungsgehalt aneinander relativieren: Zeh räumt dem Glauben des Bosniers ›Jar Jar Binks‹, der Krieg sei ein Krieg zwischen Stadt und Land gewesen, den gleichen Raum ein wie anderen Bosniern, die an einen Kampf zwischen Materialismus und Idealismus glauben, und wie deutschen Freunden und der USJournalistin, die ethnische Feindschaft als Grund sehen (Z: 152f., 144, 82). Ohne sachlich etwas einzuwenden, bezeugt Zeh des Weiteren einen destruktiven Gestus an Erklärungen überhaupt; dazu ein Beispiel: Zeh trifft auf ihre Bekannte Amelie, die beim Office of the High Representative (OHR) arbeitet – die höchste, vom westlichen Ausland gestellte politische Institution für Bosnien-Herzegowina, die ihren Existenzgrund in den nicht freiwillig zur Einheit zu bringenden Geltungsansprüchen der drei nationalen Teile Bosniens hat. Die sachliche Seite kennt auch Zeh; trotzdem stellt sie während eines »Schnellkurs[es] ›Bosnische Politik für Anfänger‹« (Z: 79) Amelie die Frage nach dem Kriegsgrund. Zeh kontert Amelies Antwort folgendermaßen: »›Und warum gab es Krieg?‹ frage ich. ›Mir hat jemand gesagt, dass immer die Deutschen glauben, es habe sich um einen ethnischen Krieg gehandelt.‹ ›Unsinn‹, sagt Amelie, ›sicher war es ein ethnischer Krieg.‹ ›Und‹, frage ich, ›bist du etwa keine Deutsche?‹« (Z: 82)

Zeh zitiert den für den deutschen Diskurs einschlägigen Kriegsgrund, ethnische Konflikte, und weist ihn zurück. Die Zurückweisung, selbstironisch oder nicht, bekundet die Vorsicht oder Skepsis vor dieser Kriegsbegründung. Aber sachlich wird gegen ethnische Konflikte als Grund nichts angeführt. Zeh genügt die Identifikation der Sprecherin mit ihrer Herkunft – ungeachtet dessen, dass Zeh selbst zu dieser erkenntnistheoretischen Bedingung ›deutsch‹ gehört, sich als Deutsche von dieser Identität immerhin ausnehmen und ein eigenes Urteil vertreten kann. Amelies Erklärung des Kriegs ist eben disqualifiziert und zwar durch die Willkür Zehs, den Krieg als Unerklärbares herbeizuargumentieren.733 Die Kriegsfrage wird von Zeh während ihrer Reise selbst positiv und konstruktiv angegangen – auf ihre eigene Weise. Einerseits auf der Grundlage, alles 733 Die US-Journalistin erntet ähnlichen Zweifel für ihre Erklärung; Z: 142f.

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bisherige Wissen für unzulässig zu erachten, und andererseits aufgrund der Behauptung, dass allein subjektives Erleben Erkennen ermögliche, entwickelt Zeh ihre Theorie des Kriegsgrunds. Dass das Sehen Ausgangspunkt für den neuen Begriff zu sein habe, wendet Zeh gegen die letzten Reste ihres eigenen Wissens vom Krieg. Dieses Sehen bleibt Erkenntnismittel, auch wenn es offenbar zu dem zu erklärenden Gegenstand gar keinen rechten Zugang bietet. Zeh gibt zwar eine Differenz zwischen Wissen und Sichtbaren kund: »Mein Kopf wehrt sich, ich zwinge den Anblick in ihn hinein: Nichtssagende, graue Häuser, nicht einmal zerbombt […].« (Z: 58) Trotzdem verwirft sie das subjektive unmittelbare Erleben als Erkenntnismittel nicht, sondern beharrt auf ihm umso deutlicher und nimmt das Nichtsichtbare nicht als abwesenden, sondern als anwesenden Begriff des Kriegs. So heißt es über den Bosnienkrieg, dass er nicht nur war, sondern gerade durch sein Nichtsein noch anwesend ist: »Vom Krieg ist nichts zu sehen, man muss davon wissen, um die muslimischen Friedhöfe zu verstehen, die sich wie kalbende Gletscher von den Bergen ins Tal senken, von allen Seiten, wegschmelzend, einzelne Schneewehen hinterlassend in einem gewöhnlichen Park, auf den Grasstreifen am Fluss, in Straßenbiegungen im Zentrum, in den Vorgärten gewöhnlicher Häuser. Man muss davon wissen, um die eingravierten Sterbedaten zu bemerken, die alle nicht weiter als vier Jahre auseinanderliegen. Um zu spüren, dass das Reparieren von Dächern und Fassaden nichts repariert, dass die Seele einer Stadt nicht unabhängig von den Menschen existiert, weil nicht die Straßen, sondern die Verläufe der in ihr gelebten Leben ihre Gehirnwindungen sind.« (Z: 63, Herv. S.H.)

Aber auch an den Menschen in Sarajevo kann Zeh ihre Geschichte nicht entdecken, weder an den Opfern – »In der Fußgängerzone ist es ruhig, […] wo sechzig Menschen von einer Granate getötet wurden, gar nicht lang her. Kaum jemand ist zu jung für die Erinnerung. In den Augen der Händler suche ich nach Spuren davon und finde nichts.« (Z: 75)

– noch an den Tätern – »Mich packt das Grauen. Nicht darüber, dass Menschen zu töten imstande sind, sondern darüber, dass man es ihnen nicht ansieht.« (Z: 84)

Zeh erkennt im Scheitern ihrer Methode, am Äußerlichen oder Charakter eine Stellung zum Krieg anzusehen, die besondere, komplizierte Eigenheit des Kriegswesens. Als Zeh mit Pescaran, einem französischen SFOR-Mitarbeiter, einen Abend in Sarajevo verbringt, wird zunächst klar, dass Zeh mit ihrer problematischen Beobachtung des an-abwesenden Kriegs nicht allein ist. Pescaran überführt dieselben Beobachtungen aber zu einer Erkenntnis:

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»[…] ich nicke in Gesichter von Menschen, die ihre Erinnerungen und Träume und alles, was sie in den Köpfen tragen, mit duftigen Frisuren umgeben, ihre Körper in Abendkleidung betten wie in eine Schatulle und sich in den Gassen zusammenballen, um miteinander eins zu werden in einer großen, mit Kaffee und Wein und Speisen gefüllten, Zigarettenrauch ausstoßenden Masse. Monsieur Pescarans Blick ist intensiv, seine Augen suchen mein Gesicht ab, verstehst du, verstehst du, fragen sie, […].« (Z: 116)

Dass etwas nicht ist, weil sie beide dies nicht sehen, sondern dass da etwas ist, obwohl und gerade weil sie dies nicht sehen, und dass dieses den Grund für Krieg darstellt, daraus folgert Pescaran über die Menschen: Die Abwesenheit wird zur geheimen Anwesenheit des Eigentlichen, alle Menschen sind gleichermaßen durch ihr kriegerisches Wesen bestimmt, »If you have two people, you have war!« (Z: 122). Die sichtbare Welt ist für Pescaran ein uneigentlicher, tropischer Text, der mit Symbolen und zwar des eigentlich Bösen gefüllt und nur dementsprechend auszudeuten sei (Z: 173f.). Zeh meidet diesen letzten misanthropischen Übergang und gesteht sich zugleich ein, dass sie dann aber »etwas Wesentliches« der Zusammenhänge in Bosnien nicht begriffen habe (Z: 174f.). Damit ist mitnichten die Fragestellung und das bedeutungsvolle (Nicht-)Beobachtete verworfen, sondern nur die Antwort noch offen gehalten. Zehs letztlicher Schluss auf den Krieg ist dem Pescarans recht ähnlich, er sei menschengemäß. Krieg ist dabei keine Spezialität der Bosnier, deswegen falle es an ihnen nicht als Besonderes auf. Krieg ist überhaupt keine politische Aktion, weil er ein anthropologischer »Schalter[] mit Wackelkontakt«, ein allgemeiner, unberechenbarer Teil der Menschennatur ist (Z: 94). Zeh versichert sich ihrer früheren Hypothese zum Krieg: »Jetzt ist es amtlich, ich kann nicht schlafen: Manchmal hilft Ehrlichkeit: Es liegt nicht an der Klimaumstellung. Bei Tag, in der Stadt, gibt es ihn nicht, diesen Krieg, auch wenn er an jeder Ecke, in jedem zweiten Satz der Menschen seine Markierungen hinterlassen hat. Das mag sein Revier sein, aber er selbst ist nicht da. Er kommt bei Nacht, wenn […] ich in einem Buch lese über vergewaltigte Kinder, abgeschnittene Geschlechtsteile, Massenerschießungen und die Minuten davor, über brennende Häuser und den Geruch in den Lagern. Seit Tagen gelingt es mir nicht, das Böse als Ausnahme von der Regel des Guten zu begreifen. Stattdessen schalten die beiden Seiten sich beliebig an und aus, abwechselnd, wie zwei Funktionen eines Schalters mit Wackelkontakt. Unterschwellig wächst die Angst, irgendwann zu verstehen und nie wieder vergessen zu können, nicht mehr in der Lage zu sein, ins eigene Leben zurückzukehren. […] Ich habe Angst, weil ich nicht weiß, wovor. Wenn die Scheißmenschheit sich selbst den Krieg erklärt, gibt es nichts, was zu sagen oder zu denken übrig bliebe. Hör auf zu suchen. Fahr nach Hause. Sie haben im Kleinen vorgeführt, was auch woanders und im Großen jederzeit möglich ist. Das will niemand wissen, und auch ich darf es nicht wissen wollen. Wie sollte ich mich sonst zwischen Menschen bewegen, die hier wie

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überall ihre Grausamkeit nicht ahnen lassen, so dass ein Ausbruch von Gewalt nicht nur bis zur Sekunde, in der er geschieht, sondern auch einen Sekunde nach seinem Ende wieder völlig ausgeschlossen scheint?« (Z: 94f., Herv. S.H.)

Die grundlegende, paradoxale Erklärung »Scheißmenschheit« ist der Schluss, mit dem Zeh eingestandenermaßen nichts und alles erklärt. Denn sie abstrahiert von den konkreten Menschen und ihren Zwecken im Bosnienkrieg dahin, dass diese Zwecke von ›dem‹ Menschen nicht zu scheiden sind und die Anlässe »hier wie überall« lauern.734 Somit hat Zeh den vergangenen Bosnienkrieg in den Ausdruck einer großen conditio humana, das politische Geschehen in immerwährenden Alltag übersetzt. Die Gründe des Kriegs von dem Ort Bosnien und seinen Bewohnern zu trennen, bedeutet für Zeh eine Art der Befreiung, zugleich bedeutet die Hinwendung zum Menschen an sich eine neue Art der Bedrängnis, nämlich eine umfassende Angst vor ›den‹ Menschen. Das will bewältigt sein. Zeh verfolgt eine ›abstrakte Todesangst‹, unter der sie zunehmend psychisch und körperlich leidet (Z: 213). Sie ist von dem Wunsch nach Isolation bestimmt, so wie vor ihr Pescaran (vgl. Z: 198). Dem obigen Zitat folgt der Schluss: »Der Hund macht es vor. Jede seiner Bewegungen ist ein Appell: Lebe. Der Hund denkt weniger über den Krieg nach als ich, aber das nimmt seiner Aussage nichts von ihrer Wahrheit. Zu dem, was er tut, gilt es zurückzukommen, immer wieder, solange man kann.« (Z: 95)

Zeh, einerseits an dieser »Wahrheit« festhaltend, zieht andererseits einen pragmatischen, moralischen Schluss daraus, dem sie ihren Hund zuspricht. Am Ende der Reise kommt sie selbst darauf zurück. Der abstrakten Todesangst begegnet sie, indem sie ihm ein Trotzdem entgegensetzt. Sie ermahnt sich, man müsse den »Menschen vertrauen, wie sie sind«, und erfährt umgehend, wie eine »neue Lebensfreude plätscher[t]« (Z: 220). Den anfänglichen Gegensatz von Krieg und Frieden nun als Nebeneinander von zerstörten Städten und bosnischem Leben akzeptieren zu lernen, ist eine Herausforderung. Das zeigt sich bei ihr als keine theoretische oder politische Frage, sondern allein eine lebenspraktische Mühe. So wie der Liebe zum Land nichts mehr im Wege steht, darin aber als Vernunftheirat erscheint – »Ich fange an, das Land zu lieben. […] Ohne rosa Wolke, ohne Schmetterlinge im Bauch.« (Z: 221) –, so zeigt sich die Akzeptanz auch weniger als Folge eines geistigen Einvernehmens. Umgekehrt, der Geist findet sich infolge des praktischen Auskommenmüssens in etwas ein, das »Gewöhnung heißt«: 734 Zeh konstruiert sogar einen bundesdeutschen Bürgerkrieg, um am Ende festzuhalten, dass ein solcher möglich und die Frontverläufe unvorhersehbar seien: »So undurchsichtig die Lage […] so wenig verwurzelt der Hass«; Z: 212.

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»Alles wird nicht gut, aber normal. Kaputte Häuser, Kaffee in Kupferkännchen. Schreck, Faszination und Begeisterung sind Anfangspunkte einer Geraden, die Gewöhnung heißt.« (Z: 229, Herv. i.O.)

Diese Gewöhnung beobachtet Zeh an den Bosniern. Sie begegnet in Travnik am Ende ihrer Reise einer Vielzahl von jungen Leuten. Als Betroffene des gerade erst beendeten Kriegs haben sie sich in einer lebensfreudigen Tanz- und Partyszene eingefunden und lernen, trotz verschiedener innerbosnischer Nationalitäten, miteinander umzugehen und sich umeinander zu kümmern. Die Stille ist ein Geräusch endet mit Zehs Zugfahrt zurück nach Deutschland. Sie fällt zusammen mit einem mehrfachen Resümee der vor und auf der Reise aufgeworfenen Fragen und Probleme und der Art ihrer ›Bewältigung‹: »Ich fühle mich, als wäre das Land durch mich gereist und kehrte nach Hause zurück, während ich übrigbleibe, mit hängenden Armen. Bereist. Keine meiner Fragen habe ich beantwortet. Wo wachsen die Melonen? Weiß ich nicht. Warum gibt es keinen McDonald’s? Warum war Krieg und gegen wen, und wie heißt die Farbe der Neretva? Wasser, denke ich, hat doch gar keine Farbe. Draußen zieht im Dunkeln ein österreichischer Recyclinghof vorbei, […] und ich denke, dass der Frieden manchmal, rein optisch, dem Krieg zum Verwechseln ähnlich sieht. Zumindest bei Nacht. Andererseits: Alles erinnert an etwas. Die Stille im eigenen Kopf ist doch die lauteste von allen. Wer die Hölle überleben will, muss ihre Temperatur annehmen. Mir ist kalt. Ich werfe meine Jacke auf den Boden, setze mich darauf und decke mich mit Hunden zu.« (Z: 263f.)

Zeh bekennt sich noch einmal zu ihrem unmittelbaren Verhältnis zu Bosnien: Sie ist Medium das Landes gewesen. Das sei die Bedingung dafür, sich nichts von dem erklärt zu haben, was sie sich als Fragen vorgelegt hatte, sondern sich dessen angenommen zu haben. »Warum war Krieg und gegen wen«, beantwortet Zeh stattdessen mit der umfassendsten Legitimation, indem sie Gründe und Grenzen von Krieg wie Frieden in die menschliche Natur überführt. Der Unterschied zwischen Krieg und ziviler Geordnetheit wird sprachlich zwar noch behauptet, optisch von Zeh aber schon als höchst relativ wahrgenommen und bezweifelt. Alles auf- und angenommen zu haben, nichts, auch keine Widersprüche zu verwerfen – das reflektiert Zeh als theoretisch versöhnte Einheit und als Endpunkt: Die Stille ist ein Geräusch macht im Titel diese Integrationsform in der unspezifischen und größten Weise sinnfällig. Die einzig vernünftige Stellung zu Bosnien, zum vergangenen Krieg wie zu allem anderen sei nicht Distanz und Erklärung, sondern Akzeptanz, sei nicht Abschaffung oder Veränderung, son-

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dern deren »Temperatur an[zu]nehmen«. Das Weltgeschehen als fraglos gegeben akzeptiert, verwandelt sich jede Kritik an diesem in den moralischen Auftrag, Gewöhnung zu lernen.

5.3.3 Die Existenz Bosniens als gerechtfertigte Existenz Zeh hat das gegenwärtige Bosnien ganz durch seine wirkende Gegenwart zu bestimmen gelernt. Dass diese Gegenwart mit Blick auf die zum Teil prekären Lebensumstände weder fraglos begrüßenswert ist noch mit Blick auf die politische Lage fraglos gilt, leugnet Zeh keineswegs. Der Bericht lässt allerhand Einwände und Bedenken zu Wort kommen. Dem setzt Zeh jedoch ein Porträt der Bosnier entgegen, das nicht nur deren Wunsch nach dem Funktionieren des bosnischen Gemeinwesens als bereits angenommene neue Lebensverhältnisse zeigt, sondern auch von den ersten veritablen Zeichen eines bereits existierenden bosnischen Gemeinwesens berichtet. Inwiefern ist das zu Beobachtende aber in dem bestimmt, was es (noch nicht) ist? Zeh begegnet in verschiedenen Situationen immerzu Urteilen, die Zweifel an Bosnien äußern, Urteile, die Zeh zunächst nicht vollkommen fremd sind und die sie teilweise mit eigener Erfahrung belegt. Allesamt reden sie dabei nicht über die Existenz eines Landstrichs, sondern über die Verfasstheit und Beständigkeit eines bosnischen Staats und einer bosnischen Bevölkerung – das allerdings in Abwesenheit der Sache bei Anwesenheit aller Maßstäbe: Zehs Bekannte im OHR meint, dass es in Bosnien nichts zu ›repräsentieren‹ gebe, sie sagt, »[d]ieses Land ist ein Nichts«, und präzisiert, »jetzt ist es nichts«. Bosnien ist für sie ein »Kompromiss«, ein »Kunstgebilde«, ein »abgefucktes System« und kein »normaler« Staat (Z: 78–81). Auch Zeh teilt später dieses Urteil. Wenn Bosnien durch die EU-Institution OHR geleitet wird, dann ist es »kein richtiges Land« (Z: 102). Zeh fährt auf der Reise durch Bosnien durch die bosnisch-kroatischen Konföderation mit ihren Städten Mostar, Sarajevo oder Travnik. Genauso aber reist sie durch die Republik Srpska, die nicht als ein abgetrenntes und eigenes Land, sondern als ein anderes, gefährlicheres und ungewisses Reisen im gleichen Bosnien beschrieben wird. Beim Blick auf die Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas nimmt Zeh zur Kenntnis, dass verschiedene Bevölkerungsgruppen existieren, die untereinander starke Vorbehalte pflegen und eher dementieren, dass sie nun etwas Gemeinsames darstellen. Kroaten, Bosniaken und Serben verstünden sich schwerlich als eine geeinte Bevölkerung oder gar als ein Volk. Genauso distanziert ist deren Stellung zu den neuen Land-, Wohn- und Eigentumsverhältnissen dieser Friedensordnung, diese erkennen sie nicht als ihre eigenen an oder akzeptieren sie nur widerwillig (vgl. Z: 153). Die öffentliche

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Meinung Bosniens urteilt entsprechend: No man’s land, der Eröffnungsfilm des Sarajevo Film Festivals, ist in aller Munde (Z: 117). All diese Mängelbeschreibungen unterstellen einen Begriff von Gemeinwesen, der für Zeh gar nicht mehr erklärt werden muss und ihr wie die unmittelbare Wirklichkeit vorkommt. Ob dieser Begriff auf Bosnien auch anzuwenden sei, wird von Zeh reflektiert und problematisiert. Und das zunächst auf eine widersprüchliche Weise: der gleiche Maßstab gelte, nur ganz anders. Dessen wird Zeh unmittelbar gewahr, als sie in einem Kratersee schwimmt: »Bosnien, fällt mir ohne Zusammenhang ein, ist ein Land wie jedes andere, weil nichts auf der Welt sich mit etwas anderem vergleichen lässt. So etwas wie Bosnien gibt es nirgendwo sonst, aber auch Frankreich gibt es nicht. Nicht einmal in Frankreich.« (Z: 125)

Zeh leugnet eine Vergleichbarkeit Bosniens und argumentiert selbst mit dem ›vergleichbaren‹ Fall Frankreich; zudem streitet Zeh die Existenz von Identitäten wie Frankreich ab, unterstellt sie aber. Das ist theoretisch widersinnig, in der Rhetorik jedoch aussagekräftig. Sich den Vergleich zu verbieten bedeutet, dass sich Bosnien durch keinen Vergleich mit einem konkreten, bereits existierenden Staatsgebilde beweisen müsse; und die Notwendigkeit der Existenz in Abrede zu stellen bedeutet, dass die Existenz Bosniens zugleich immun sei gegen ein allgemeines Verständnis von Nation oder Staatswesen, die diese Identität als politisches, dabei nicht notwendiges Konstrukt fasst. Mit der Eingebung im Kratersee begegnet Zeh Bosnien als gegebenen und rundweg legitimen Staat. Denn er habe den Grund in sich; darin sei ihm ein eigener Weg der Durchsetzung zu gewähren. Das Bedürfnis nach einem eigenen verbindlichen Gemeinwesen wird nicht nur in den politischen Kritiken sozusagen ›von oben‹ deutlich. Zeh sticht dieser Mangel allerorten während ihrer Reise durch Bosnien in die Augen und maßregelt sich zugleich, diesem Bosnien seinen eigenen Weg zu lassen. So erscheinen Zeh die Bosnier, als ob sie sich in den neuen Verhältnissen nicht einrichteten. Nicht der Grund von deren Lage beschäftigt Zeh, sondern deren Zurechtkommen in ihr. Dafür, so kritisiert Zeh, nutzten die Neusiedler das neu Gegebene nicht, etwa die Reichtumsquellen von Mensch, Landwirtschaft, Handel und Tourismus. Die Infrastruktur sei außerdem vernachlässigt. Zeh kalkuliert einen abstrakten Verlust, nämlich deutsche Marktpreise ungeernteter Feigenbäume (Z: 163); sie wundert sich über Häfen, die brach liegen; sie ist in Städten und Gegenden unterwegs, die einmal vom Tourismus lebten und nun nicht mehr für sich zu werben wüssten (Z: 196, vgl. Z: 201). Die kleinen Badeorte Struge und Stolac und vor allem ihre neuen Bewohner nimmt Zeh genau so in den Blick:

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»Auf der Hauptallee treiben die Wurzeln der Platanen den Asphalt auseinander, die alte Begrenzungsmauer bröselt die Böschung hinunter, unten erstickt der Bach in Müll. Bis auf eine Autorampe fehlen sämtliche Brücken. An Hotels und Einkaufszentren sind die Scheiben eingeschlagen. Und vor den Lebensmittelläden sitzen Männer, starke, gesunde Männer, schauen zu, wie Dachziegel auf den Bürgersteigen zerschellen, verbringen den Tag mit Kaffee und Zigaretten und freuen sich, ihr Kartenspiel zu unterbrechen, um einer idiotischen Touristin in Kleid und Pilotenstiefel [sie meint sich selbst; Anm. S.H.] hinterherzustarren. […] In sieben Jahren kann man ein bisschen aufräumen. Wenn man keine Lust zum Aufräumen hat, kann man Motorradtreffen veranstalten, Schachclubs gründen, Melonenstücke in klarem Alkohol tränken, Badestrände anlegen, wie ich es an anderen Orten gesehen habe. Was hängen sie hier rum und warten, dass die Stadt von oben abbröckelt, während von unten der Müllspiegel steigt? Sie müssen die Stadt hassen, weil es nicht ihre ist, weil die einstigen Bewohner wer-weiß-wo sind, während sie selbst von wer-weiß-wo kommen. Nach dem Bäumchen-wechsel-dich ethnischer Säuberungen sitzen die Menschen am falschen Ort und scheißen wie gestörte Mäuse ins eigene Nest.« (Z: 180)

Zeh sieht die jungen Männer in Verhältnissen sitzen, die diese nicht als ihre Chance bzw. ihre Verpflichtung nehmen. Das ist Zeh ein Mangel nicht der Verhältnisse, sondern der Personen. Ganz selbstverständlich nimmt sie ein Gemeinwesen zum Maß, dass als ›normales‹ durchgesetzt, aber keinen der Menschen vor Ort selbst entsprungen ist, in dem sie sich nun, als ob es ihres wäre, einrichten müssten. Wenn ein solches allgemein abstraktes Engagement ausbleibt, könne es sich daher nur um eine ›Störung‹ dieser Männer handeln. Die Störung des eigentlich Normalen scheint ihr mit dem »Bäumchen-wechsel-dich ethnischer Säuberungen«erklärt. Im Porträt eines älteren Ehepaars im serbischen Teil Bosnien-Herzegowinas wird der politisch-gesellschaftliche Maßstab, der den Bosnier entspricht, den sie bisher nur verfehlten, deutlich. Das lethargische Vor-sich-hin-Wesen der beiden Bosnier ist hier keine Beobachtung, sondern deren Selbstbeschreibung. Diese Lage, so geben sie kund, liege nicht an ihnen, sondern am ausbleibenden Tourismus und den fehlenden Geldeinnahmen. Auf deren mehrfaches Fragen »›Was machen?‹« (Z: 210, 211) weiß auch Zeh keinen Rat. Und so konstatiert Zeh über Bosnien, dass ihr selten »die menschliche Gattung so überflüssig« vorgekommen sei (Z: 211; vgl. auch Z: 65). Dieser Gattung, zu denen auch die Bosnier gehören, ihr nützliches Dasein zu ermöglichen, benötige es funktionierende Marktwirtschaft und westliche Staatlichkeit.735 – Das derzeitige Bosnien ist kein Einwand dagegen, sondern der Auftrag dazu. 735 »Westlich« – was weiter oben schon angesprochen wurde, soll hier nur kurz erläutert werden. Bei den spezifischen Mängeln, die Zeh konstatiert, ist ein polit-ökonomisches Gemeinwesen unterstellt, in dem der Bürger sich (erstens) mit seiner abstrakten Arbeit in eine (zweitens) ihm vorausgesetzte Arbeitswelt einbringen (drittens) muss, um von seinem dortigen eventuellen Nutzen seine Existenz bestreiten zu können. Verhältnisse, in denen die

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Gemessen an der Perspektive, Bosnien im Namen der Bosnier zu verwirklichen, kommen die westlichen Institutionen, die in Bosnien aktiv sind, in den Blick. Sie sind alle in der Hilfe bestimmt, Bosnien zu sich zu bringen. Und an diesem Zweck werden sie von Zeh äußerst kritisch begutachtet. Zeh stößt etwa auf die internationalen Verbände und Institutionen wie Deutsche Bundeswehr, Nato, OSZE, UNHCR, OHR, MAC, IPTF, EU usw. Neben dem Lob für die hilfsbereiten und gutaussehenden männlichen Helfer der CIMIC (Z: 110, 180ff.) wird Zeh auch misstrauisch gegenüber dem überschwänglichen Eigenlob eines SFOR-Verantwortlichen (Z: 98) oder zeigt ironische Verwunderung über EU-Agrarprojekte, weil diese ihr Eigentum gegen die Einheimischen übertrieben schützten (Z: 178f.). Schließlich kritisiert Zeh das OHR dafür, dass es den Dayton-Vertrag in einer Weise durchsetzt, dass es einen Nachkriegsalltag in Bosnien konterkariere: »Der Dayton-Vertrag schlägt einen Zipfel der Stadt [gemeint ist Dobrinja, ein Stadtteil Sarajevos; Anm. S.H.] der serbischen Republik zu, ›mit dem Filzstift auf dem Reißbrett‹. Jahrelang konnte man im einen Bundesland auf dem Klo sitzen, im anderen fernsehen, innerhalb derselben Wohnung. […] Der Schiedsspruch des OHR zur Grenzverlegung hielt sich nicht ans Gewohnheitsrecht und zog eine Zick-Zack-Linie durch die Häuserblocks, wir gehen ein Stück darauf entlang. Am Straßenrand stehen Menschen, junge Männer, die aussehen, als warteten sie auf etwas. Ein Bäumchenwechsel-dich-Spiel hat begonnen, seit Monaten wird ein-, aus- und umgezogen, und das geht weiter, bis jeder wieder auf der richtigen Seite lebt. […] ›Alles kommt daher‹, sagt der Kompaniechef, ›dass das OHR die Bevölkerungsgruppen gleichzeitig trennen und vermischen will. Genauso bei der Rückführung von Flüchtlingen: Sie sollen an ihre früheren Wohnorte zurück, obwohl die innerstaatliche Grenze ethnische Trennung befestigt, die der Krieg erzeugt hat.‹« (Z: 104f.)

Das OHR bzw. die SFOR nehmen die bosnischen Gegebenheiten nicht zur Kenntnis und etablieren dessen ungeachtet eine Ordnung, die zu ihrem Zweck, eine zivile Normalität zu ermöglichen, im Widerspruch stehe. Was hier Kritik ist, bedeutet deshalb an anderer Stelle Lob, wenn diese Verwaltung bzw. diese Hilfe den Besonderheiten Bosniens entsprechen. Diese Hilfeleistung des westlichen Auslands wird von den Bosniern erkannt und hoch gelobt. Der euphorische Dank des Bosniers ›Jar Jar Binks‹ wird von Zeh zwar zurückgewiesen, aber nicht im Kern, sondern im allzu hohen Anspruch: Menschen konkret Herren ihrer Verhältnisse sind, ökonomisch wie politisch, würden sie weder in diese Lethargie setzen, noch Zehs Urteil treffen. Dass sich Zeh diese gesellschaftliche Verfasstheit als menschliche ›Gattungsbestimmung‹ denkt und alles andere als ein Minus, ist nicht Teil einer politischen Erklärung, sondern ein Zeichen dafür, wie alternativlos ihr dieses ›westliche Modell‹ auch für das neue Bosnien-Herzegowina erscheinen mag.

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»›[…] but life is complicated anyway, and that is why everybody here is grateful that international community brought peace and stability, and we all love the SFOR […].‹ […] Jar Jar Binks glaubt an die Allmacht der OHR. Innerhalb von ein paar Jahren wird es das Land sicher und transparent für ausländische Investitionen machen. Das stelle ich mir schwieriger vor, als weiße Kaninchen aus einem leeren Hut zu ziehen. ›They saved my life, now they will save my country. This sounds good.‹« (Z: 151)

Der bosnische Bedarf nach Staatlichkeit und das westliche Zurhilfekommen passen aufeinander, wenngleich es noch falsche Vorstellungen über den Weg der Realisierung gibt. Insofern der Staat noch nicht realisiert ist, ist Bosnien, wie es sich aktuell zeigt, immerhin schon die Anlage dazu. Der Staat Bosnien mag im Politischen eine prekäre Erscheinung sein, im Bereich des Vor-Politischen entdeckt Zeh eine Vielzahl von Anzeichen, wonach das Gemeinsame bereits existiert: Im Licht, Bosnien kennenzulernen, konfrontiert sich Zeh mit so unterschiedlichen Dingen wie Städten, Sehenswürdigkeiten, Menschen und ihren Charakteren, schönen und verminten Landschaften, Flora und Fauna, Kultur und Küche. Zeh präsentiert die Inventur von allerlei Zuständen innerhalb des prekären politischen Gebildes Bosniens nolens volens als bosnische Zustände. Bosnien vor aller Politik als eine eigene, fertige Identität zu verstehen, das erblickt Zeh des Weiteren in den Bewohnern. Schon zuvor hatte sie zwischen den Opfern und Tätern des Kriegs nicht scheiden können (siehe oben) und so eine Gleichheit festgestellt zwischen denen, die im vergangenen Krieg gemeinhin als sich ausschließende, befeindete nationale Lager galten und im aktuellen Frieden immerhin noch gelten. Zehs Blick ist überparteilich und dabei ein dem Konflikt selbst äußerlicher. Sie unterscheidet nicht grundlegend zwischen den politisch konkurrierenden Gruppen der Republik Srspka und der bosnisch-kroatischen Konföderation, in denen sie, gegen das Offenbare des politischen Alltags, eine Gruppe von Gleichen erblickt. Zeh stellt am Ende der Reise, als sie in der Republik Srpska, die im bosnisch-kroatischen Teil Bosniens den Ruf eines verteufelten Landstrichs genießt und deren Bewohnern sittliche Verwahrlosung nachgesagt wird, fest, dass sich zumindest die serbischen Einwohnerinnen von denen in Sarajevo nicht unterscheiden, dass die »serbischen Frauen […] den kroatischen und bosnischen in nichts nach[stehen]«, sie »prominieren elegant am Arm ihrer Auserwählten und tauschen Blicke mit anderen Männern« (Z: 205). Was politisch unversöhnt ist und Gemeinsames verweigert, beweise sich unter Zehs Blick auf die Mode der Frauen eigentlich schon als überwunden. In Travnik trifft Zeh schließlich auf eine Vielzahl junger Menschen, die sich gleichermaßen um sie bemühen. Untereinander seien sie zwar noch nicht vollkommen frei von ›ethnischen‹ Ressentiments, aber sie feiern bereits gemeinsam (Z: 238–251). Den Krieg wollen sie zusammen verwinden, sich ›zu-

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sammenreißen‹. Auch daran gemessen sehen sie beiderseits skeptisch auf die Aufarbeitung des Kriegs seitens Den Haag und Belgrad. Untereinander haben sie schon angefangen, ihre Sprache, die zuvor ideologisch in Serbisch und Kroatisch geteilt war, ›Bosnisch‹ zu nennen. Entgegen dem Urteil, Bosnien sei ein unwirtlicher Staat, gespalten und ein ›Kunstprodukt‹, und entgegen dem feindseligen Alltag unter den Bevölkerungsgruppen bietet Zeh allerhand Material dar, um den Eindruck zu untermauern, dass Bosnien in seiner vor- bzw. außer-politischen Identität von Land, Leute und Leben bereits existiere.

5.3.4 Bosnien als Auftrag zur erlebenden Anerkennung Zeh hat sich auf ihrer Reise mit Bosnien, dem Resultat des vorangegangenen Kriegs, beschäftigt. Einerseits trifft das den historischen Fakt. Als das Buch Die Stille ist ein Geräusch 2002 erscheint, ist der Friedensschluss von Dayton mehr als sechs Jahre alt, Bosnien-Herzegowina politisch konstituiert und diplomatisch anerkannt. Andererseits ging Zeh in ihrer Auseinandersetzung mit der problematischen Existenz dieses Staats hinter diesen Gründungsakt gedanklich nicht mehr zurück. Aber durch die gewählte Perspektive subjektiver Authentifizierung scheint diese Begrenzung auf das Existierende naheliegend – wie an anderer Stelle ertragreich. So kritisch Zeh damit gegen uneigentliche Zuschreibungen und falsche Urteile über Bosnien in jüngster Geschichte und aktueller Gegenwart vorgeht, so legitimierend konfrontiert sie sich mit ihrem Gegenstand. Die Seite der Unmittelbarkeit736 wird in den Rezensionen und den wissenschaftlichen Arbeiten positiv erwähnt. Zehs Distanz zum uneigentlichen, vorverurteilenden oder durch eigenes Interesse selektiven oder verfremdenden Blick und umgekehrt Zehs Neugierde heben alle Kritiken hervor. Zehs subjektives, erlebendes Verfahren bewerten sie als plausibel, gar als »Pionierleistung«737: für den Literaturwissenschaftler Carsten Würmann ist Zehs Zugang ein Schlüssel zur »Wahrhaftigkeit«738 ; llma Rakusa schreibt, Zeh »reklamiert […] 736 In der die tageszeitung stellt Zeh den ›Selbsterfahrungs‹-Aspekt ihres Buchs Die Stille ist ein Geräusch als ihr besonderes Anliegen heraus; siehe: Juli Zeh u. Ulrich Noller : »Wie eine Gehirnwäsche«. In: die tageszeitung, 27. 07. 2002. 737 Norbert Mappes-Niediek: Das Grün der Neretva. Fragen im Gepäck. Die Leipziger Autorin Juli Zeh wollte wissen, Juli Zeh wollte wissen, ob es den Balkan noch gibt. In: freitag, 12. 07. 2002. 738 Carsten Würmann: Ausgerechnet Bosnien-Herzegowina. Gründe fürs Reisen in Juli Zehs Bericht über eine Fahrt nach Bosnien. In: Christiane Caemmerer u. a. (Hg.): Fräuleinwunder literarisch. Literatur von Frauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt/M: Peter Lang 2005; S. 151–173, hier S. 173.

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das Recht auf subjektive Gewichtung der Wahrnehmung, ohne Rücksicht auf Moral und Konvention, auf Sentiment und Erwartungshaltungen«739 ; MappesNiediek lobt die Abwesenheit von »ideologische[n] Spiegelfechtereien«740 und Rolf Schneider konstatiert, Zeh »versagt« sich durch ihre Unmittelbarkeit »einseitiger Parteinahmen«.741 Der Germanist Leopold Feldmair sieht die Destruktion des Wissens über Bosnien gar als Programm, fragt sich angesichts des »komische[n] Effekt[s]« von Zehs naiven Rundblicken, ob es mehr als ein »Scherz« sei (Daniela Finzi vermutet gleichermaßen eine Parodie742), vielleicht gar ein Programm über die »Unmöglichkeit, auf Fragen Antworten zu finden«.743 Was an Die Stille ist ein Geräusch lobend wahrgenommen wird, ist, was diese Reportage ausdrücklich nicht macht: Sie nehme keine Rücksicht, versage sich Parteinahmen, kreise um die Un-Möglichkeit von Antworten etc. Dass von all dem, was diese Reportage sonst auch nicht macht, gerade dies festgehalten wird, mag auf die positive Umkehrung verweisen: In ihrem Buch nehme Zeh Abstand von den politischen Befindlichkeiten und Debatten über die Legitimität, die die Nachkriegszeit und noch Teile der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Jugoslawienkrieg der 1990er Jahre bestimmt hatten. Auch gehe Zeh zu ihrem Gegenstand politisch oder moralisch nicht auf kritische Distanz. Zeh gebe eben das Bosnien wieder, wie es ist. Das Lob für den Verzicht auf »ideologische Spiegelfechtereien« und auf »einseitige[] Parteinahmen« versteht sich als Lob nicht nur intellektueller Skepsis, sondern zugleich als Lob einer distanzlosen ›all-seitigen‹ Parteinahme für das, was als ›Realität‹ nicht mehr zur Debatte gestellt sein soll, hier die Existenz Bosniens. Was da als fraglose Existenz und als Realität gilt, von der alle Fragen abzufallen hätten, ist mehr als eine naive Wiedergabe von dem, wie Schneider weiß, was Zeh »sieht und hört«.744 Es ist mehr als eine einfache Medienkritik, für die Heinz-Peter Preußer Zehs Bericht als ›paradigmatisches‹ Beispiel schätzt.745 Denn die ›Realität‹ Bosnien ist erstens als Land eine politische Einheit, von dessen konfliktreicher Entstehung Zeh auch Kenntnis gibt; es ist zweitens nach eigener Auskunft eine prekäre ›Realität‹, insofern es politisch mitnichten durchgesetzt ist und ununterbrochen Konflikte zeitigt; und drittens ist Bosnien für Zeh eine ›Realität‹, die die bosnischen, kroatischen wie serbischen Ein739 Ilma Rakusa: Ein Augenschein im versehrten Land. Juli Zeh reist nach Bosnien und schildert ihre Eindrücke. In: Neue Zürcher Zeitung, 17. 09. 2002; Herv. S.H. 740 Norbert Mappes-Niediek: Das Grün der Neretva. 741 Rolf Schneider: Mit den Touristen der Katastrophe unterwegs. In: Die Welt, 06. 06. 2002. 742 Daniela Finzi: Unterwegs; S. 197f. 743 Leopold Feldmair : Nicht nichts. Ex-jugoslawische Reisen deutschsprachiger Autoren. In: Weimarer Beiträge, 1/2010; S. 69–83, hier S. 71. 744 Rolf Schneider: Mit den Touristen. 745 Heinz-Peter Preußer : Perzeption und Urteilsvermögen; S. 25.

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Jugoslawienkrieg nach seinem Ende. Rechtfertigung der Resultate

wohner bereits repräsentierten, tatsächlich aber von sich aus nicht nur nicht vertreten, eher anfechten. So erhält Bosnien bei Zeh als politisches Resultat einen literarischen Status, bei dem die politisch fragliche Existenz als fraglose Existenz eigenen Rechts und per se legitim erscheint. Reziprok verhält sich dazu Zehs Subjektivität. Diese erlebt diese Welt als prinzipiell gegeben und dabei als ausschließliche Sphäre für Erfahrung, Betroffenheit und Bewährung.746 In dieser praktischen, verständigen Stellung sieht Mappes-Niediek nicht nur den »originellen Gang der Erkenntnis«, die endlich dem »Menschen Platz« mache, er sieht in Bezug zur Sinnfälligkeit auch den Fortschritt zu Zehs Debut Adler und Engel, das ihm als »Holzweg« erschien.747 Den Bosnienkrieg ›menschlich‹ in den Blick zu nehmen, blieb weiterhin Anlass für den von Zeh und ihren Kollegen David Finck und Oskar Ters 2004 herausgegebenen Band Ein Hund läuft durch die Republik. Geschichten aus Bosnien.748 Dieser versammelt Texte bosnischer, aber auf Deutsch schreibender junger AutorInnen. Im Namen der Mitherausgeber wirbt Zeh im Vorwort für eine Perspektive, die sich nicht theoretisch mit dem vergangenen Krieg beschäftigt, sondern alle ideelle Aufmerksamkeit auf die praktische Bewältigung dessen lenkt, was nun Gegenwart ist: »Was denn zu tun sei? Was solle man machen? – Die Antwort ergab sich wie von selbst: In einem kriegszerstörten, am Boden liegenden Land müsse man vor allem etwas machen. Ohne Geld. Vielleicht auch ohne Mut, ohne Perspektive oder Hoffnung. Hauptsache etwas. […] Wir hatten begonnen, gemeinsam an einer Anthologie zu arbeiten, in der junge bosnische Autoren und Autorinnen etwas über ihre Heimat erzählen sollten. Nicht bloß über den Bürgerkrieg, von dem man in Deutschland viel gesehen und wenig verstanden hat. Sondern von einer Liebe zu und dem Leben in einem Land, von dem man seit Kriegsende überhaupt nichts mehr hört. […] Vor allem aber erzählt es davon, was Heimat bedeutet. Wie man trotz eines grausamen Krieges, der vor fast zehn Jahren zu Ende ging, in einem Land leben kann, weil man sich dort zu Hause fühlt. Es erzählt von einer Schönheit, die der Liebe des Betrachters entspringt. Und von der Hoffnung, die sich nur aus dem eigenen Tun und Fühlen, nicht aber aus äußeren Umständen nährt. Wer dem Hund bei seinem Lauf durch die jüngste Republik Europas folgt, wird Menschen kennen lernen, von denen er zaghaft glaubte, sie nicht verstehen zu können, weil er – anders als sie – den Frieden für den Normalzustand hält.«749 746 Birgit Lang schlussfolgert über Zehs Die Stille ist ein Geräusch: »The innovative aspect of her travelogue lies, not so much in a specific political critique, but more importantly in the merging of the political and the private.« Dem ist Recht zu geben; dass dies nicht ohne Inhalt vonstattengeht, sollte die obige Diskussion zeigen. Birgit Lang: Das Private ist politisch. Juli Zeh’s Travelogue to Bosnia. In: AUMLA – Journal of the Australasian Universities Language and Literature Association. Special Issue 2007/12; S. 33–45, hier S. 41. 747 Norbert Mappes-Niediek: Das Grün der Neretva; Herv. S.H. 748 Juli Zeh u. a. (Hg.): Ein Hund läuft durch die Republik. 749 Ebd.; S. 7–9, Herv. S.H.

Das empfundene Land als dessen politische Rechtfertigung

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Zeh bilanziert eine kriegsversehrte bosnische Gegenwart, die aus verschiedenen Gründen weder für die Bosnier noch für die deutsche Öffentlichkeit zum Leben und zum Lob taugt. Auf die Frage, was denn zu tun sei, antwortet Zeh, »Hauptsache etwas«, also mit grundlosem Aktionismus, der durch sich Wirklichkeit schaffen soll. Mit diesem Buch scheint Zeh Bosnien wenigstens textlich eine Existenz und Existenzberechtigung geben zu wollen. Die Anthologie solle ausdrücken und dahingehend wirken, dass Bosnien auch Heimat und Zuhause »bedeute[n]«, dass man in ihm sogar leben »kann«, dass Bosnien in den Augen derer, die sich auf es einlassen, »Schönheit« zeige, und dass Bosnien schließlich entgegen der »äußeren Umstände« dann existierte, wenn man – praktisch und emotional – an der »Hoffnung« festhält. Die Resultate dieses Kriegs wie im Prinzipiellen die anderer Kriege Deutschlands als Ausgangspunkt konstruktiver Beschäftigung nehmend, teilt auch Rolf Schneider die Perspektive von Zehs Nachkriegsliteratur. Über Die Stille ist ein Geräusch schreibt er, dass Literatur genau mit dieser Art der konstruktiven Begutachtung von Kriegsresultaten ihre »Stunde« habe: »Der von Slobodan Milosevic entfesselte Bürgerkrieg um Bosnien und Herzegowina ist beigelegt. Truppen in UN-Auftrag rückten die Bürgerkriegskräfte auseinander und überwachen die fragile Ruhe immerhin so entschieden, dass der Fall fast völlig aus den Schlagzeilen heraus fiel. Für die grauen Nachkriegsprobleme interessiert sich kein Reporter mehr. Dies ist die Stunde der Literaten.«750

Mit der Historisierung des Jugoslawienkriegs in der Literatur scheint schließlich die Forderung aus der Debatte der 1990er Jahre an die Schriftsteller erfüllt. Insbesondere die intellektuellen Stimmen in der deutschen Öffentlichkeit, die zuvor grundlegenden Zweifel an der Friedens- bzw. Kriegspolitik des Westens und seinen verschiedenen Legitimationen hegten, waren in der politischen Gegenwart Deutschlands angekommen: Wer Frieden wolle, trage das nicht als Einwand gegen Krieg vor, sondern in Verantwortung für ihn und für das, was er schafft.

750 Rolf Schneider: Mit den Touristen.

6.

Literaturverzeichnis

Literarische Texte und Debattenbeiträge Matthias Altenburg: 14.6. Einsam ist Scheiße sagt Hettche. In: Thomas Hettche u. Jana Hensel (Hg.): NULL. www.dumontverlag.de/null. Köln: DuMont Buchverlag 2000; S. 208. Lothar Baier : Die Lieben und die Bösen. In: Willi Winkler (Hg.): Europa im Krieg. Die Debatten über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992; S. 58–65. Thomas Baier : Krieg im Kopf. Aufregung um Peter Handkes Reisebericht aus Serbien. In: Thomas Deichmann (Hg.): Noch einmal für Jugoslawien. Peter Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999; S. 33–38. Sibylle Berg: Sieben Tag Krieg. In: Gold. Hamburg: Hoffmann und Campe 2000; S. 187– 195. Joachim Bessing (Hg.): Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. StuckradBarre. München: List Taschenbuch 2001 (EA: 1999). Wolf Biermann: Kriegshetze, Friedenshetze. Damit wir uns richtig mißverstehen: Ich bin für diesen Krieg am Golf. In: Die Zeit, 6/1991. Heinrich Böll: Frankfurter Vorlesungen. München: dtv 1974. Martin R. Dean u. a.: Was soll der Roman? In: Die Zeit, 23. 06. 2005. Uwe Dick: Marslanzen oder Vasallen recht sein muß. Bad Nauheim: ASKU-Presse 2007. Hans Magnus Enzensberger : Bosnien, Uganda. Eine afrikanische Ansichtskarte. In: Willi Winkler (Hg.): Europa im Krieg. Die Debatten über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992; S. 85–90. Hans Magnus Enzensberger : Ein seltsamer Krieg. Zehn Auffälligkeiten. In: Frank Schirrmacher (Hg.): Der westliche Kreuzzug. 41 Positionen zum Kosovo-Krieg. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999; S. 28–30. Hans Magnus Enzensberger. Hitlers Wiedergänger. In: Der Spiegel, 6/1991; S. 26–28. Robert Gernhardt: 15. 1. 1991 – der Tag, an dem das Ultimatum ablief. In: ders.: Gesammelte Gedichte 1954–2006. Frankfurt/M.: Fischer 2008; S. 355f. Robert Gernhardt: Einer schreibt der Berliner Republik etwas ins Stammbuch. In: ders.: Gesammelte Gedichte 1954–2006. Frankfurt/M.: Fischer 2008; S. 554.

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Literarische Texte und Debattenbeiträge

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Zeitungsbeiträge

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Zeitungsbeiträge O. V.: Absager, Absahner. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 01. 1991. O. V.: Alle Fäden in der Hand. Was will das neue Deutschland sein, das 45 Jahre nach Kriegsende von Mittwoch an ansteht – eine Großmacht? Oder gar eine Weltmacht? In: Der Spiegel, 40/1990; S. 18–26. O. V.: An die eigene Ohnmacht erinnert. In: Süddeutsche Zeitung, 01. 12. 1994. O. V.: Auf Kriegssafari. In: Der Spiegel, 81/1998; S. 211. O. V.: »Aus freier Überzeugung«. Die deutsche Regierung tastet sich in ihre neue weltpolitische Rolle hinein: Kanzler Schröder steht im Krieg gegen Jugoslawien für Bündnistreue, Außenminister Fischer entwirft Friedenspläne. In: Der Spiegel, 16/1999; S. 22–32. O. V.: »Der dümmste aller Kriege«. SPIEGEL-Serie über die jugoslawische Tragödie (I): Die Welt sah dem Morden mitten in Europa hilflos zu. In: Der Spiegel, 28/1992; S. 138–149. O. V.: »Der Himmel schließt sich«. Mit Ausbruch des Golfkrieges kroch die Angst in deutsche Wohnstuben. In: Der Spiegel, 4/1991; S. 18–20. O. V.: Dichters Winterreise. Peter Handkes Serbien-Reportage und die Intellektuellen. In: Der Spiegel, 6/1996; S. 190–193. O. V.: »Die Alternative heißt Krieg«. Diplomatisches Endspiel im Ringen um eine Friedenslösung für Kosovo. In: Der Spiegel, 11/1999; S. 209–211. O. V.: Die Ehre verteidigen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 07. 1995. O. V.: Die Hoffnung heißt Germanija. In: Der Spiegel, 30/1990; S. 16–27. O. V.: »Ein großer Erfolg für uns.« Zum ersten Mal seit 1949 betrieb Bonn Außenpolitik im Alleingang: Genscher und Kohl drängten die EG zur Anerkennung Sloweniens und Kroatiens – gegen den Rat Washingtons und der Uno. In: Der Spiegel, 52/1991; S. 18–20. O. V.: Europa im Krieg. In: die tageszeitung, 01. 09. 1992. O. V.: Falscher Auftrag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. 10. 1994. O. V.: »Ganz Bosnien ist die Hölle.« In: Der Spiegel, 33/1992; S. 128–133. O. V.: Geld und gute Worte. Die Veranstaltungen des Antikriegstages der Berliner Theater am 13. Februar im Überblick. In: die tageszeitung, 15. 02. 1991.

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Zeitungsbeiträge

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Zeitungsbeiträge

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