Liebe und Leid, Kampf und Grimm: Gefühlswelten in der deutschen Literatur des Mittelalters 9783412504960, 9783412503611

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Liebe und Leid, Kampf und Grimm: Gefühlswelten in der deutschen Literatur des Mittelalters
 9783412504960, 9783412503611

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Irmgard Rüsenberg

Liebe und Leid, Kampf und Grimm Gefühlswelten in der deutschen Literatur des Mittelalters

2016 BÖHLAU VERLAG   KÖLN   WEIMAR   WIEN



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Vorderseite: Die zärtliche Minneszene nimmt ein Motiv des Sängers Konrad von ­Altstetten auf. Rückseite: Der Dichter Hartmann von Aue als ritterlicher Dienstmann. Beide Bildmotive sind entnommen: Manessische Liederhandschrift. Vierzig ­Miniaturen und Gedichte, Stuttgart 1985, S. 110 und S. 94.

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Franziska und Malte Heidemann, Berlin Satz: Reemers Publishing Services, Krefeld Druck und Bindung: Prime Rate, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50361-1



Für Leonie, Jens und Sophia

Inhalt Einleitung........................................................................................................... 11 1 Scham und Begehren: Hartmann von Aue ................................................... 17

1.1 Das Abenteuer der Scham und ein ‚verdachter‘ Held

Hartmanns von Aue ‚Erec‘. . ...................................................................... 19

1.2 Enite und die Pferde

Das Projekt der Triebzähmung in Hartmanns ‚Erec‘.................................. 32

1.3 Die Anerkennung des Begehrens

Erkenntnis und Heilung im ‚Armen Heinrich‘.......................................... 43

2 Glanz und Zorn: Das ‚Nibelungenlied‘. . ........................................................ 59

2.1 Der Zorn der Heroen

Heldenepische Formen der Wut im ‚Nibelungenlied‘................................. 61

2.2 Kriemhild als grausame Mutter

Die Darstellung mütterlicher Grausamkeit in Mittelalter und Neuzeit....... 70

2.3 Mythos und Antimythos

Die Figur Siegfrieds................................................................................. 82

2.4 Sehen und Gesehenwerden

Die Leidenschaft des mittelalterlichen Hofes am Beispiel des ‚Nibelungenliedes‘.............................................................................. 95

3 Kampf der Geschlechter: Wolfram von Eschenbach................................... 107

3.1 Ritter und Frauen

Geschlechterverhältnis und Identitätssuche in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘....................................................................... 109

3.2 Textur der Minne

Liebesdiskurs und Leselust in Wolframs ‚Titurel‘. . ................................... 127

4 Autonomiegewinn und Erotik: Walther von der Vogelweide..................... 159

4.1 Scham, Sinnlichkeit und Tugend

Zum Begriff der ‚schame‘ bei Walther von der Vogelweide....................... 161

4.2 Ich-Verlust und Autonomiegewinn in der Minnelyrik Walthers von der Vogelweide

‚Minnediskurs‘ (C 44) und ‚Kranzlied‘ (C 51)........................................... 172

5 Trieb und Witz: Der Stricker und Konrad von Würzburg............................. 185

5.1 Das Gehäuse des Selbstzwangs

Zu Strickers Kurzerzählung von der ‚Eingemauerten Frau‘.. ..................... 187

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Inhalt

5.2 Halbe Birnen und sonstige Lustbarkeiten

Zur mittelalterlichen Schwankerzählung von der ‚Halben Birne‘ des Konrad von Würzburg.. .......................................................................... 198

6 Transformation des Mythos: Richard Wagner, Fritz Lang und Francis Ford Coppola............................................................................ 207

6.1 Liebe und Leid

Richard Wagners ‚Tristan und Isolde‘ und Gottfrieds von Straßburg ‚Tristan‘................................................................................................. 209

6.2 Liebe und Verrat

Richard Wagners ‚Götterdämmerung‘..................................................... 220

6.3 Größenwahn

Zur Untergangsdynamik im ‚Nibelungenlied‘ und in Richard Wagners ‚Der Ring des Nibelungen‘.. .................................................................... 231

6.4 Faszination des Untergangs

Die Verfilmung des Nibelungenstoffs durch Fritz Lang und Thea von Harbou. . ................................................................................................ 245

6.5 Hagen von Tronje und Tom Hagen

Francis Ford Coppolas und Mario Puzos Mafia-Film ‚Der Pate‘ und das ‚Nibelungenlied‘......................................................... 267

7 Beziehung von Gott und Mensch: Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Genesis 1–3............................................. 277

7.1 Erfüllung und Entsagung

Die Leidenschaft der Gottesminne bei Mechthild von Magdeburg............ 279

7.2 Der Christ der Zukunft hat vergessen, dass er ein Christ ist

Meister Eckhart und die Radikalität des Lassens..................................... 288

7.3 Loslassen und in der Wirklichkeit ankommen

Berührungen westlichen und östlichen Denkens bei Meister Eckhart und Meister Dôgen................................................................................ 297

7.4 Nicht-Wollen und Nicht-Eingreifen

Meister Eckhart und das chinesische Dao............................................... 310

7.5 Bilder einer ‚anfangenden‘ Seele

Innere Entwicklung in der ‚Vita‘ Heinrich Seuses im Spiegel seiner Visionen................................................................................................ 321

7.6 Verbotene Lust

Grenzziehung und Selbstermächtigung im zweiten Schöpfungsbericht . . .. 339

7.7 „Und Gott sah, dass es gut war“

Bindung und Freiheit im ersten Schöpfungsbericht................................. 352

Inhalt

Anmerkungen.................................................................................................. 361 Drucknachweise............................................................................................... 402 Abbildungsnachweis........................................................................................ 404

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Codex Manesse · Konrad von Altstetten

Einleitung In einer Forschung, die bereit ist, den irrationalen Grundlagen einer rationalisierten Gesellschaft ihren Tribut zu zollen, hat das Thema der Emotionen in den vergangenen Jahrzehnten beachtlichen Aufschwung genommen und auch der Mediävistik bedeutende Impulse geliefert.1 Dieser Bewegung sind auch meine Texte zur deutschen Literatur des Mittelalters geschuldet.2 Neuere emotionstheoretische, soziologische und psychologische Theorien liefern hierin das Instrumentarium für einen integrativen Ansatz, der sich in vielfältigen Auseinandersetzungen mit der mittelhochdeutschen Literatur als fruchtbar erwiesen hat. Auf den großen Raum der Emotionsforschung blickend, mag man fürs Erste zwei Grundströmungen erkennen: auf der einen Seite einen historisch orientierten Denkansatz, der nach epochalen Codierungen und Modellierungen fragt und für das Mittelalter die verbindliche Bezugsgröße der Alterität vorgibt, auf der anderen Seite psychologisch orientierte Emotionstheorien, die zwischen Primär- und Sekundäremotionen, das heißt mehr oder minder triebgesteuerten Gefühlen unterscheiden. Eine emotionale Polarität von Trieb und Kultur wird hier als eine personale Grundspannung entworfen, die es in horizontalen Pendelbewegungen fortwährend neu auszubalancieren gilt. Prozesse von Fremd- und Selbstkontrolle oder Verinnerlichung aber stellen in beiden Theorierichtungen kardinale Bezugsgrößen dar. In diesem grob angerissenen Koordinatensystem zwischen einem vertikalhistorischen und einem horizontal-psychologischen Ansatz steht nun der Literaturwissenschaftler vor einer besonderen Aufgabe. Die Grenzen eines überwiegend historisch orientierten Bezugsrahmens vor Augen, in dem literarische und außerliterarische Quellen in enge Nachbarschaft zueinander rücken, sieht er sich gefordert, den spezifischen ästhetischen Überschuss fiktionaler Texte und sprachlicher Kunstwerke zu erfassen. Denn fiktionale Texte bringen Emotionen schließlich nicht nur aus der Distanz heraus zur Darstellung, sondern bauen zugleich ein Identifikationspotential auf, welches den Leser in eine eigene imaginäre Welt hineinzieht. Sie liefern Bilder, die eine andere Wirklichkeit entstehen lassen, Bilder, die nicht nur einer zeittypischen Codierung unterworfen sind, sondern sich überzeitlich und überepochal immer wieder neu zusammensetzen. Ein einseitig historisch-lineares Denken mag dabei leicht die Autonomie des Imaginären sowie implizite Alteritäten und Schichtungen, die dem je einzelnen Text zukommen, übersehen. Betrachtet man etwa die für das ‚Nibelungenlied‘ typischen heroisierenden Gewaltdarstellungen, die neuzeitliche Leser vielfach befremden, so erscheint ein historischer Wandel im Umgang mit aggressiven Emotionen zunächst unmittelbar evident. Es hier jedoch bei einer Deutung im Sinne einer bloßen Zuschreibung von Alteritäten zu belassen, würde den

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Einleitung

eigentlichen emotionsspezifischen Fundus des Textes, der eben nicht nur eine archaische Aggressionslust, sondern auch ein emotionales Instrumentarium der Selbstkontrolle ins Spiel bringt, grundsätzlich verkennen. Gerade hier sind es nun immer wieder die Differenzierungen neuerer emotionstheoretischer Modelle, vor deren Folie etwa eine Darstellung archaischer Affektwelten im ‚Nibelungenlied‘ ihr kontextuelles Kalkül preisgibt. Solchermaßen lässt sich die emotionale Grundspannung unserer Kultur zwischen Begehren und Bewusstsein in nachgerade besonderer Weise an den mittelalterlichen Texten ablesen, in denen immer wieder gegenläufige Affektwelten miteinander in Beziehung gesetzt werden und sich wechselseitig beleuchten. Nicht zuletzt die Elias’sche These fortschreitender Affektmodulation öffnet hier den Blick auf eine komplexe Dynamik zwischenmenschlicher Distanzierung, die jedoch, anders als von Elias postuliert, in den mittelalterlichen Texten nicht nur das andere, vormoderne Mittelalter, sondern auch einen bereits früh grundgelegten Diskurs um den zivilisatorischen Widerstreit von Trieb und Triebzähmung,3 Affekt und Affektkontrolle wiederfinden lässt. Insofern verbindet die hier versammelten Studien, die im Zeitraum zwischen 2002 und 2015 entstanden sind,4 der gemeinsame Anspruch, mit der Darstellung literarischer Gefühlswelten und ihrer historischen Bedingtheiten zugleich das reflexive Potential vormoderner Dichtung aufzuzeigen und damit indirekt auch die Bedeutung des mittelalterlichen Autors zu bezeugen. Ein entsprechend breit gefächerter soziopsychohistorischer Ansatz wird in den vorliegenden Studien an Werke der höfischen Epik, an exemplarische Lieder Walthers von der Vogelweide, an zwei Beispiele der Schwankdichtung, an unterschiedliche Werke der Mystik sowie an herausragende Rezeptionsbeispiele des 19. und 20. Jahrhunderts herangetragen. Die Deutungen möchten für die genannten Werke einen Kommunikationsraum erschließen, in dem der neuzeitliche Leser empfänglich wird für Stimmen aus der höfischen, städtischen und klösterlichen Vergangenheit der eigenen Kultur. Fragen nach den Gefühlen, dem Verhältnis der Geschlechter und der Gewinnung personaler Autonomie ziehen sich als Leitfaden durch die Auseinandersetzung mit Texten unterschiedlicher Gattungen vom 12. bis ins 14. Jahrhundert. Im Rahmen der höfischen Epik wird der Auftakt gemacht mit Hartmann von Aue, dem Begründer des deutschen Artusromans und dem Dichter, der mit seinem hohen Formanspruch die Bezugsgröße für die ihm nachfolgenden großen Dichterpersönlichkeiten abgab. Die hier versammelten Aufsätze befassen sich mit seinem ersten großen Artusroman, dem ‚Erec‘, der deutschen Nachdichtung von Chrétiens ‚Erec et Enide‘, und des Weiteren mit dem so anstößigrätselhaften kleinen Legendenepos ‚Der arme Heinrich‘, in dem ein leprakranker Edelmann über die Opferbereitschaft eines Bauernmädchens zu seiner Heilung

Einleitung

findet. Für die Hartmann’sche Figur des Erec stellt die Scham eine Schlüssel­ emotion dar, die am Anfang eines Wegs der Individuierung und Gewinnung von Selbstherrschaft steht (Kap. 1.1). Enite als der Partnerin Erecs kommt hier wesentlich die Funktion eines auf Erec hin geordneten Objekts zu, an dem sich der Held zu bewähren hat. Von Hartmann wird ihr aber auch die signifikante Rolle einer Lenkerin im Spiel der Triebe beziehungsweise die Erringung dieser Kompetenz als Aufgabe zugeschrieben (Kap. 1.2). Auch im ‚Armen Heinrich‘ ist es der Mann, der in einem Prozess der Subjektgewinnung den dynamischen Angelpunkt des Geschehens bildet, während dem Mädchen ein vergleichbarer Entwicklungsweg vorenthalten bleibt. Gleichwohl stellt dieses ein provokatives Begehren zur Schau und postuliert in der Eloquenz ihrer Rede einen eigenen Dominanzanspruch (Kap. 1.3). Es folgen im nächsten Abschnitt Näherungen an das ‚Nibelungenlied‘, die unter anderem um das zentrale Phänomen des Zorns in diesem Epos ­kreisen (Kap. 2.1). Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei zum einen der Figur Kriemhilds, die ihr Kind um ihrer Rache willen opfert (Kap. 2.2), und zum anderen der Figur Siegfrieds, welche als die Verkörperung eines kollektiven und individuellen Größenphantasmas betrachtet wird (Kap. 2.3). Darstellungen und Phantasien von Größe liegen auch dem Spiel der höfischen Gesellschaft um Sehen und Gesehenwerden zugrunde, das diese im ‚Nibelungenlied‘ so leidenschaftlich betreibt (Kap. 2.4). Im Anschluss an diese Textgruppe fällt ein Blick auf das Verhältnis der Geschlechter in Wolframs von Eschenbach Großepos ‚Parzival‘ (Kap. 3.1) und in seinem späten Fragment einer Liebesgeschichte, dem ‚Titurel‘, der zudem eine überraschend moderne Texttheorie in höchst suggestiven Bildern präsentiert (Kap. 3.2). Im Rahmen der anderen Großgattung des Mittelalters, der Lyrik, gilt die Aufmerksamkeit Walther von der Vogelweide und seiner Minnekonzeption (Kap. 4.1 und 4.2). Walther von der Vogelweide transformiert die rigiden Grenzziehungen des klassischen Minnesangs zwischen den Geschlechtern vor dem Hintergrund eines gesteigerten individuellen Selbstbewusstseins in eine neue Durchlässigkeit und eröffnet damit Perspektiven auf eine neue Erotik. Mit einem für den heutigen Geschmack recht derben Humor setzen sich schließlich im nächsten Abschnitt zwei Texte über Schwankerzählungen des 13. Jahrhunderts auseinander, über Strickers Kurzerzählung von der ‚Eingemauerten Frau‘ (Kap. 5.1) und Konrads von Würzburg ‚Halbe Birne‘ (Kap. 5.2). Unzweideutige sexuelle Konnotationen geben hier die Folie ab, vor der eine zeitgenössische Reflexivität zum konfliktträchtigen Aufbau von Über-Ich-Strukturen sichtbar wird. Die folgende Abteilung versammelt schließlich Schriften zur Rezeption der mittelalterlichen Texte im 19. und 20. Jahrhundert. Richard Wagner kommt hier die Position eines maßgeblichen Bewahrers und Neuschöpfers mittelalterlicher

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Einleitung

Mythen in der Neuzeit zu. Der erste Beitrag widmet sich einer vergleichenden Betrachtung der Liebe im ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg und in Wagners operndramatischer Neuinterpretation ‚Tristan und Isolde‘. Für Letztere wird dabei insofern ein spezifischer emotionaler Wandel aufgezeigt, als die Figuren des 19. Jahrhunderts einen fundamentalen selbstreflexiven Schub erleiden (Kap. 6.1). Weitere Texte sind Wagners Grenzen sprengendem Musikdrama ‚Der Ring des Nibelungen‘ gewidmet, in dem er, aus dem Fundus diverser Quellen schöpfend, erhebenden wie regressiven Gefühlswelten von tiefgründiger Spannung Gestalt gibt (Kap. 6.2 und 6.3). Die beiden letzten Kapitel folgen dem Weg des Mythos in das neue Medium des Films. Eine kritische Auseinandersetzung mit Fritz Langs zweiteiligem Werk ‚Die Nibelungen‘ von 1924, seinen manipulativen Strategien und ideologischen Neuausrichtungen schlägt eine Brücke vom Mittelalter ins 20. Jahrhundert (Kap. 6.4). Das Kapitel „Hagen von Tronje und Tom Hagen“ deckt schließlich Zitate des ‚Nibelungenlieds‘ in Francis Ford Coppolas berühmter Mafia-Trilogie ‚Der Pate‘ auf und diskutiert Faszination und Ordnung von Gewalt im Mafia-Film und im mittelhochdeutschen Epos (Kap. 6.5). Für das uns vertraute Bild eines christlichen, betenden Mittelalters stehen in der letzten Textgruppe das ‚Fließende Licht der Gottheit‘ Mechthilds von Magdeburg, von der uns das erste literarisch hochrangige, personal fassbare deutschsprachige Werk der Mystik überliefert ist (Kap. 7.1), des Weiteren das sich aller vordergründigen Etikettierung entziehende deutsche Werk des großen Meister Eckhart (Kap. 7.2) und schließlich die ‚Vita‘ Heinrich Seuses als des mittelalterlichen Vorläufers einer neuzeitlich-sentimentalen Selbstbespiegelung (Kap. 7.5). Mechthild lotet in einem erotischen Gottesverhältnis eine großartige emotionale Spannung zwischen beseligender Einheit und schmerzvoller Gottesferne aus, die hier als richtungweisender Entwurf personaler Individuierung gewürdigt wird. Eckhart wiederum verortet den Menschen in einem geistigen Raum der Gelassenheit und inneren Abgeschiedenheit, in dem dieser sich eines grundlegenden Einsseins von Schöpfer und Geschöpf innewird. Auf je eigene Weise tragen diese Texte des christlichen Mittelalters zugleich dessen Vertiefung und Überwindung in sich und verweisen auf neue Horizonte. Entsprechend werden hier zentrale Gedanken Eckharts auch mit östlicher Philosophie in Beziehung gesetzt, mit dem herausragenden Vertreter des japanischen Zen-Buddhismus, Meister Dôgen (Kap. 7.3), und mit dem daoistischen Gedankengut des chinesischen Altertums am Beispiel des ‚Laozi‘ und des ‚Dschuangzi‘ (Kap. 7.4). Am Ende dieses Abschnitts befassen sich noch zwei Texte nach Maßgabe eines grundlegenden Antagonismus von Bindung und Freiheit im Verhältnis von Gott und Mensch mit den beiden Schöpfungsberichten der Bibel. Für den früher entstandenen zweiten Schöpfungsbericht (Genesis 2,4b-3,24) wird eine

Einleitung

Rivalität zwischen Schöpfer und Geschöpf aufgezeigt, die in den sogenannten Sündenfall mündet (Kap. 7.6). Albrecht Dürers Adam-und-Eva-Stich von 1504 wird zum Ausgangspunkt einer Deutung genommen, die sexuelle Lust und eine Lust der Erkenntnis miteinander verbindet. In dem abschließenden Beitrag zum ersten Schöpfungsbericht (Genesis 1–2,4a) „Und Gott sah, dass es gut war“ sind der einheitsstiftende Blick Gottes, das Sehen und Gesehenwerden zwischen Gott und Mensch und die besondere Ruhe Gottes am siebten Schöpfungstag Gegenstand der Betrachtung. Das Innehalten und Zurücktreten Gottes wird in Beziehung gesetzt zu dem Konzept der inneren Abgeschiedenheit bei Meister Eckhart (Kap. 7.7). Eine eigentümliche Hürde, die der neuzeitliche Interpret bei der Wahrnehmung mittelalterlicher Texte zu nehmen hat, das sei hier am Ende noch erwähnt, liegt immer wieder in der symbol- und bildträchtigen Weise der mittelalterlichen Darstellung, die etwa inmitten einer zivilisierten Welt Drachen und Riesen, Zwerge und Zaubertiere auftreten lässt. Diese bunte Bilderwelt zeigt mehr, als sie erklärt, und womöglich anderes, als sie ausspricht. Das normorientierte Mittelalter hat in der Literatur seine ganz eigene bildmächtige Sprache entwickelt, Gegenläufiges und Anstößiges, Verdecktes und Verdrängtes mitzutransportieren. Nicht zuletzt psychoanalytische Zugänge haben sich auf diesem Feld als hilfreich erwiesen, wieder an ein solches mittelalterliches Denken in Bildern anzuknüpfen, wobei erst der Hintersinn der Bilder die Komplexität der Texte aufschließt. Somit appellieren die mittelalterlichen Texte auch in besonderer Weise an die Imaginationskraft ihrer Rezipienten, die in einer Kultur der Oralität und Semiliteralität stärker entwickelt gewesen sein dürfte als heute. Nicht zuletzt hierin aber mag ein eigenartiges Faszinosum mittelalterlicher Literatur begründet liegen, die uns aus einer Welt fortgeschrittener Abstraktion in eine Welt rätselhafter Bilder einlädt und einen Blick in verborgene Tiefen gewährt.

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Scham und Begehren Hartmann von Aue

Codex Manesse · Hartmann von Aue

1.1 Das Abenteuer der Scham und ein ‚verdachter‘ Held Hartmanns von Aue ‚Erec‘

Mit dem Namen Chrétien de Troyes ist die Überführung einer vormals mündlich tradierten Abenteuererzählung in die Verschriftlichung und damit die Geburt der Gattung des Artusromans verbunden. Aus einer conte d’avanture, wie es bei Chrétien heißt, einer losen Reihung von Zufallsbegebenheiten, gestaltet er eine bele conjointure (Erec et Enide, v. 13/14), einen formal und inhaltlich neu gefügten Sinnzusammenhang, in dessen Mittelpunkt Gefährdung und Bewährung eines Helden stehen. Das Zufällige ist dabei in einer Welt des Wunderbaren und Phantastischen das dem Helden sinnhaft Zufallende, in dem seine Individualität zu sich selbst kommt und schließlich in eine idealische Existenz einmündet. Nach Maßgabe dieser Utopie nimmt hier ein selbstbewusster Autor die Zügel der Abenteuergeschichten fest in die Hand und unterwirft sie seinem Gestaltungswillen. Chrétiens Romane geben wiederum die Vorlage für die Adaptation des Artusromans im deutschen Sprachraum ab. Hier ist es Hartmann von Aue, der mit der Übertragung des Erec-Romans Chrétiens (ca. 1165) den Anfang in der Reihe der großen Meisterwerke der höfischen Epik setzt (ca. 1180). Wenngleich diese noch ganz einem poetischen Verständnis verpflichtet sind, das den Wert in der Nachdichtung von Vorgegebenem sieht, ist gleichwohl ein in seinem Ursprung neuartiger Zugriff nicht zu übersehen. Zwei Veränderungen fallen dabei für den Erec-Roman Hartmanns als Erstes ins Auge: zum einen die Erweiterung des Umfangs von 6900 Versen auf 10.400, zum anderen eine Modifizierung des Titels. Aus ‚Erec et Enide‘ wird ‚Erec‘, aus einem Paarroman ein Epos, das seine Aufmerksamkeit verstärkt auf ein männliches Subjekt richtet. Mit einer Erweiterung der Erzählerkommentare und einer Reduktion der Figurenrede, mit einer Ausweitung reflexiver auf Kosten sinnlich-anschaulicher Passagen, mit einer Verlagerung des Blickwinkels von einem sozialen Gefüge auf das äußere und innere Drama des zentralen Helden gewinnt der Erecroman Hartmanns sein eigenes Gesicht. Kritische Geister mögen einen Verlust an Eleganz gegenüber der französischen Vorlage verzeichnen, Wohlmeinende von einer neuen Tiefe reden – in jedem Fall wird das Abenteuer des Helden bei Hartmann zunehmend mehr zu einem riskanten inneren Abenteuer. Der erste Teil des Erecromans erzählt, wie Erec, Ritter der Tafelrunde, nach mancherlei Abenteuern Enite, die schöne Tochter armer, aber vornehmer Eltern zur Frau gewinnt. An der Nahtstelle zwischen erster und zweiter Aventiurenkette

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Hartmann von Aue

steht dabei ein Triebkonflikt. Das frischvermählte Paar Erec und Enite ‚verliegt‘ sich, das heißt, es versinkt gleichsam in den Kissen seiner Lust und Bequemlichkeit, pendelt nur noch zwischen Bett, Tisch und Kirche und vernachlässigt seine höfischen Pflichten. Bei Turnieren wartet man auf Erec vergeblich. Enite ist diejenige, welche die Missstimmung am Hofe als Erste wahrnimmt und schließlich an Erec weitergibt. Erec verlässt daraufhin umgehend den Hof in aller Heimlichkeit und zwingt seine Frau unter Androhung der Todesstrafe, schweigend vor ihm herzureiten. Enite rettet gleichwohl ihren Mann mehrfach vor gewaltigen Gegnern, indem sie das Schweigegebot bricht, erntet aber von Erec dafür nur Schimpf und Strafe. Es bedarf mannigfacher Abenteuer, in denen sich Enite als sorgende Ehefrau und Erec als mitfühlender Retter bewähren, um das Paar unter gewandelten Vorzeichen erneut zusammenzuführen. Mitgefühl und erbermde sind dabei die idealen Eigenschaften, die dem Helden am Ende zur Zierde gereichen. Der Held taucht gleichsam aus der Versunkenheit in die eigene Triebwelt auf, um empfänglich zu werden für die Position der anderen. Ausgangspunkt für die Erwerbung von Mitgefühl ist dabei das Gefühl der Scham. Scham setzt ebenso wie Mitgefühl eine Distanz zu sich selbst voraus, wobei eben dieses Gefühl der Scham Erec von seinem französischen Vorbild unterscheidet. Die heldische Grandiosität des Hartmann’schen Erec hat damit von Anfang an einen entscheidenden Riss, und in dieser Selbstentzweiung scheint der mittelalterliche Held bereits das Stigma der Moderne zu tragen. Am Ende aber hat er eine neue Über-Ich-Instanz in sich aufgerichtet, die ihn nun wahrhaft zum König macht. Erecs Entwicklungsweg, ausgehend von dem bohrenden Stachel der Scham bis zur Krönung in einem großen Mitleidsgestus in der Schlussaventiure, sei hier anhand einiger ausgewählter Stationen nachgezeichnet. * Der Roman hebt an mit dem Aufbruch der Artusgesellschaft zu einer Jagd. Erec reitet ungerüstet zusammen mit Ginover, der Königin, und einer Zofe in einem gewissen Abstand hinterher, als man auf die Gruppe eines Ritters mit seiner Dame und einem Zwerg stößt. Ginover schickt ihre Zofe aus, damit sie sich nach dem fremden Ritter erkundige. Der Zwerg verweigert allerdings die Auskunft und züchtigt die Fragende stattdessen mit seiner Peitsche. Im Anschluss reitet Erec vor, wird aber ebenso von dem Zwerg geschlagen wie zuvor das Mädchen. Dieser Ehrverlust nötigt Erec, innerlich und äußerlich getroffen, Ginover um Erlaubnis zu bitten, von ihr Abschied zu nehmen und dem fremden Ritter um seiner Genugtuung willen hinterherzureiten. Bis zu Erecs Aufbruch hält sich Hartmann eng an die französische Vorlage, verleiht aber dem Text mit der nachgerade glühenden Scham Erecs vor den Frauen eine neue Spitze. Wo die Ehrverletzung des Chrétien’schen Erec

Das Abenteuer der Scham und ein ‚verdachter‘ Held

bereits mit der Intention von Aufbruch und Rache reguliert wird, reicht die Verletzung von Hartmanns Erec ungleich tiefer. Dieser trägt eine Wunde mit sich, die gleichsam durch den Blick Ginovers, der Königin,eingebrannt wird: er gelebete im nie leidern tac dan umbe den geiselslac und enschamte sich nie sô sêre wan daz dise unêre diu künegîn mit ir vrouwen sach. (104–108)

Ihm war nie schwereres Leid widerfahren als durch den Peitschenhieb, und nichts beschämte ihn mehr, als dass diese Schande die Königin und ihre Damen mit ­angesehen hatten.

Im Blick der zuschauenden Frauen wird die Ehrverletzung bei Hartmann gleichsam vervielfacht. Zunächst fällt der gemeinsame Blick Erecs und Ginovers auf die Züchtigung des Mädchens durch den Zwerg, und die Königin beklagt die für sie mit diesem Anblick verbundene Zumutung. Als dann Hartmanns Erec schließlich selbst der Betroffene ist, wird er unter den gefühlten Blicken Ginovers nachgerade von Scham überwältigt: ‚[...] daz mich ein sus wênic man sô lasterlîchen hât geslagen und ich im daz muoste vertragen, des schame ich mich sô sêre daz ich iuch nimmer mêre vürbaz getar schouwen und dise juncvrouwen, und enweiz zwiu mir daz leben sol, ez ensî daz ich mich des erhol daz mir vor iu geschehen ist [...].‘ (119–128)

„Dass mich ein so winziger Kerl so schändlich geschlagen hat und ich ihm das hingehen lassen musste, darüber schäme ich mich so tief, dass ich Euch in Zukunft nicht mehr unter die Augen treten kann, ebenso wenig wie diesen Hofdamen, und ich weiß nicht, wozu mir das Leben noch nütze ist, es sei denn, um wiedergutzumachen, was mir vor Euch geschehen ist.“

Der Hartmann’sche Erec reagiert von einer Position aus, in der neben dem strahlenden Ideal ritterlicher Überlegenheit kein Raum für Abweichungen in der Realität ist. Seine inneren Instanzen erscheinen damit zugleich grandioser und verletzbarer als die des Chrétien’schen Helden. Ginovers Blick ist dabei das Medium, durch das Erec erhöht und erniedrigt wird, durch das er sich bestätigt oder zerstört fühlt, ihr Blick ist sein „Wertungsauge“, um einen Begriff Max Schelers zu verwenden. Als Person, in der sich eine hohe affektive Besetzung mit einer hierarchischen Distanz verbindet, vermag sie in Erec mit der Betonung seines Ichgefühls ein höfisches Ideal-Ich aufzurichten.

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Hartmann von Aue

Dabei setzt Hartmann in der gesamten Beziehung zwischen Ginover und Erec signifikant neue Akzente. Der ursprünglich galante Tonfall gegenseitiger Schmeicheleien zwischen Königin und Ritter, wie er bei Chrétien vorherrscht, ist bei Hartmann zugunsten einer enger geknüpften Bindung ausgemerzt. Die Hartmann’sche Szenerie geht über eine lockere höfische Geselligkeit hinaus und zeichnet nunmehr das Verhältnis zwischen einer mütterlich-autoritären Königin und einem eilfertigen Jungritter, das durch einen emotiven Konflikt von Bindung und Loslösung geprägt ist. So ist bei Hartmann Erecs spontanes Angebot, als man zuerst des fremden Ritters ansichtig wird, seiner Gruppe vorauszureiten, neu und ebenso Ginovers Replik, die das nicht zulässt: diu vrouwe des niht wolde: / si bat in dâ bî ir tweln (21/22). Auch nach der Züchtigung des Mädchens durch den Zwerg bekommt Erecs Einsatz eine andere Note. Als Erec, nachdem auch er von dem Zwerg schändlich misshandelt wurde, sich von Ginover verabschieden will, legt die Ginover Hartmanns eine festhaltende Besorgnis an den Tag, die ihm diesen Ausritt verwehren will; erst auf längeres Bitten hin gibt sie nach. Damit hat Hartmann die egalitäre Kommunikation seiner Vorlage umgeformt zu einem Beziehungsdrama, in dem Erec mit juvenilen Charakterzügen zwischen Ergebenheit und Verletzbarkeit ausgestattet wird. Psychischer Exponent dieser fragilen Ichorganisation, auf der sich der agonale Wert der Ehre abbildet, ist die Scham, wobei die wertende Selbstdistanzierung auch eine gesteigerte Abhängigkeit vom anderen einschließt. Soziale Anerkennung oder Ausstoßung liegen primär im Blick der Königin begründet. Auf der Suche nach Genugtuung setzt Erec nun dem Ritter und seinem Gefolge nach. Er kommt nach Tulmein und findet Unterkunft in dem alten Gemäuer des Grafen Koralus, der dort mit seiner Frau und seiner Tochter Enite in dürftigsten Verhältnissen lebt. Von ihm erfährt Erec, dass der fremde Ritter Iders ist, der zum dritten Mal nach Tulmein gekommen ist, um den Sperberwettkampf für seine Dame zu bestehen. Wer den Sperber erwirbt, dessen Dame darf als die schönste gelten. Erec bittet nun Koralus um eine Rüstung und will am nächsten Morgen mit Koralus’ Tochter Enite gleichfalls zum Wettkampf antreten. Bleibe er siegreich, wolle er Enite zur Frau nehmen. Wo der Chrétien’sche Erec in Tulmein noch teilhat an dem fröhlichen Treiben der Stadt anlässlich des bevorstehenden Wettkampfs, ist Hartmanns Erec jetzt vereinsamt und irrt mittellos durch die Stadt. Entsprechend gestaltet sich auch die Begegnung mit Koralus in einer Atmosphäre von Bedrückung und Scham. Der Chrétien’sche Edelmann empfängt Erec noch in offener Gastfreundlichkeit vor seinem Haus, bei Hartmann stößt Erec nurmehr auf ein verlassenes Gemäuer, wo er unerkannt Unterschlupf zu finden hofft. Als er wider Erwarten auf den alten und gebrechlichen Hausherrn stößt, treibt ihm die Bitte um

Das Abenteuer der Scham und ein ‚verdachter‘ Held

Quartier gar die Schamröte ins Gesicht: diu bete machete in schamerôt (303). Aber auch der Hausherr ist von Scham gebeugt ob seiner Armut, wobei jene ihn mehr bedrückt als die materielle Not selbst. Man bewirtet Erec zwar so gut man kann, die bittere Armut schreibt jedoch äußerste materielle Kargheit vor. Aber nicht nur die äußeren Bedingungen im Hause Koralus’ tragen das Stigma des Mangels, auch die emotive Stimmung erscheint im Vergleich zu Chrétien ausgezehrt: Hartmanns Familie ist auch innerlich verarmt. Bei Chrétien ruft der Edelmann noch Frau und Tochter, um den Gast zu begrüßen, und die Bitte, das Pferd zu versorgen, ist eingebettet in ein familiales Begrüßungsritual. Der Befehl von Hartmanns Graf an seine Tochter, das Pferd des Gastes zu versorgen, fällt ungleich knapper und barscher aus. Der Verlust von familialen Gefühlen tritt auf signifikante Art und Weise auch nach Erecs Bitte um eine Rüstung und bei seinem Heiratsangebot zu Tage. In der Vorlage herrscht hier noch allgemeine Hochstimmung, die Mutter weint gar vor Freude und auch Enide ist innerlich bewegt; später wird dann die ganze Familie den Gast auf seinem Weg zu dem Sperber begleiten. Von dieser freudigen Bewegung ist bei Hartmann kaum noch etwas zu spüren. Für Koralus dominiert vielmehr anfänglich das Gefühl, von Erec verspottet zu werden, was Erec seinerseits zutiefst beschämt. Von einer Reaktion der Frauen hören wir gar nichts, und die Heiratsabsprache bleibt reine Männersache. Im Einklang mit dem Verlust familialer Nähe sind auch zarte Annäherungen zwischen Erec und Enite unterbunden. Bei Chrétien durfte Enide Erec noch gemäß höfischer Form bei der Hand nehmen und ins Haus geleiten, und ihr verlegenes Rotwerden beim Anblick Erecs signalisierte den ersten Blickkontakt des Paares. Schließlich hilft Enide Erec ohne Scheu, die Rüstung abzulegen. All diese von einer verhaltenen Erotik geprägten Szenen sind bei Hartmann getilgt, das Paar in Distanz zueinander gesetzt. Gleichzeitig führt die weitgehende Eliminierung einer beiderseitigen erotischen Anziehung zu einer Herabsetzung Enites, die zum bloßen Objekt der über sie verhandelnden Männer gemacht wird und der jegliche subjektive Lebensäußerung genommen ist. Bezogen auf Erec erscheint Enite damit vermehrt als Mittel zum Zweck beziehungsweise als notwendige Bedingung, um an Iders Rache zu nehmen. Die neue Distanz zwischen dem Paar füllt Hartmann allerdings zum Teil mit einer ebenso neuen Geste des Mitgefühls. Erec tut es leid um die Mühe, die Enite mit seinem Pferd auf sich zu nehmen hat, und an diesem Punkt erscheint auch Enite, ähnlich den Männern, als vom Schicksal Betroffene. Hartmann nimmt das Scham- und Kränkungsmotiv der Eingangsaventiure auch in Tulmein wieder auf. Positive Bindungsgefühle treten zurück hinter einer reflexiven Selbstbespiegelung, wobei die realen Bedingungen schmerzhaft hinter das eigene Ichideal zurückfallen. Das normative Bild vermittelt Werte

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von Status und Ehre, aber sowohl die bittere Armut des Grafen als auch die offenbar gewordene Wehrlosigkeit Erecs stehen in Kontrast zu dem Anspruch, eigene Exklusivität darstellen zu wollen. Erec erringt jedoch schließlich einen triumphalen Sieg über Iders und gewinnt den Sperber für Enite; seinen Gegner schickt er an den Artushof. In Entsprechung zur Scham Erecs wird Iders ob der Übergriffe seines Zwergs nun selbst mit einem bohrenden Schuldgefühl ausgestattet, Adressatin seiner Rede ist wiederum Ginover. Erec kehrt schließlich mit Enite an den Artushof zurück, wo man die Rückkehr des Helden aufwendig feiert. Enite aber legt Scham und Verlegenheit an den Tag. Die große Anzahl von Rittern, die ihre Aufmerksamkeit auf sie richten, macht sie offenbar unsicher, und sie wechselt mehrfach die Gesichtsfarbe. Verunsichert sind aber auch die Helden, die sich so weit vergessen, dass sie das schöne Mädchen in unhöfischer Manier anstarren. Eine jegliche Schüchternheit verschwindet allerdings bald hinter einem mächtigen gegenseitigen Begehren des Paares: diu Minne rîchsete under in und vuocte in grôzen ungemach. dô einz daz ander ane sach, dô enwas in beiden niht baz dan einem habeche, der im sîn maz von geschihte ze ougen bringet, sô in der hunger twinget: und als ez im gezeiget wirt, swaz ers dâ vür mêre enbirt, dâ von muoz im wirs geschehen dan ob ers niht enhete gesehen. alsô tete in daz bîten wê zuo der mâze und dannoch mê. (1859–1871)

Die Minne beherrschte sie beide und bedrängte sie heftig. Sah einer den andern, so ging es ihm nicht anders als einem Habicht, der seine Beute vor die Augen bekommt, wenn er hungrig ist; bekommt er sie nun gezeigt und kann sie noch nicht erlangen, so geht es ihm schlechter, als hätte er sie gar nicht erst gesehen. Ebenso quälte sie das Wartenmüssen in nicht geringem Maße.

Das triebhafte Verlangen Erecs und Enites fasst Hartmann in das eindringliche Bild von Raubvogel und Beute, während einzig und allein höfische Kontrolle, nicht etwa moralische Einsicht, die Liebenden davon abzuhalten vermag, ihrem Begehren nachzugeben. Die erotische Erfüllung in der Hochzeitsnacht hingegen, der Chrétien breiten Raum gibt, ist nicht mehr Gegenstand Hartmann’scher Intentionen. Weniger die gemeinsamen Sinnesfreuden als vielmehr die innere Spannung unerfüllten Begehrens und ihre gesellschaftlich gesteckten Grenzen sind ihm Gegenstand der Darstellung.

Das Abenteuer der Scham und ein ‚verdachter‘ Held

Im Anschluss an die Hochzeit am Artushof führt Erec nun Enite in das Königreich seines Vaters Lac, wo das junge Paar die Herrschaft antritt. Hier in Karnant stellt schließlich das verligen des Paares, sein hemmungslos an­einander hingegebenes Wohlleben zwischen Genuss und Bequemlichkeit, in seiner ­provokativen Verletzung höfisch-ritterlicher Erwartungen den zentralen Normverstoß des Romans dar. Im eigenen Herrschaftsbereich verschafft sich die Begehrlichkeit des Paares, die bei Hartmann vor der Hochzeit nur durch die Institution Hof in Zaum gehalten wurde, endlich Raum. Die mangelnde Überführung von Fremd- in Selbstkontrolle ist evident. Als Herrscherpaar der Obhut und unmittelbar restriktiven Kontrolle des Hofes entwachsen, ist es unfähig zur Verkörperung höfischer Werte, und der Hof selbst wagt über seine Herrscher nur zu munkeln. Hartmann spitzt die Frage der Schuld nun in eigentümlicher Weise zu, indem er den Hof seinen ganzen Groll auf Enite abladen lässt. Dabei erscheint diese Schuldzuschreibung als die Projektion eines männlichen Triebkonflikts seitens der Höflinge: Gäbe es Enite als Frau nicht, gäbe es auch keine Versuchung und mithin keine Abweichung vom Wege idealer Ritterlichkeit. Die Frau wird als Verführerin zur ‚bösen Frau‘ erklärt und der Mann damit entlastet – der innere Dämon einer gesellschaftsfeindlichen Triebhaftigkeit im äußeren Objekt gebannt. Die Verschärfung des Konflikts setzt sich schließlich fort in dem heimlichen Aufbruch des Paares. Ein Abschied findet nicht mehr statt beziehungsweise ist ein solcher dem Helden unmöglich geworden. Bei Chrétien dokumentiert im herkömmlichen Abschiedsritual der Hof noch seine Trauer. Hartmanns Erec vollzieht jedoch einen radikalen Bruch. Wenngleich hier das Thema der Scham nicht explizit gemacht wird, liegt es doch nahe, diesen zweiten gravierenden Ehrverlust Erecs in der Folge des ersten, dem durch die Zwergenbeleidigung, zu sehen. Führen wir uns noch einmal die dortige Betroffenheit Erecs vor Augen, die Art und Weise, wie er unter den Blicken der Frauen nachgerade vor Scham vergeht, erscheint der hektische, getarnte Aufbruch in Karnant gleichfalls als Zeichen für eine innere Verletztheit, die keine Kommunikation mehr zulässt, ein gegenseitiges Sich-in-die-Augen-Schauen unmöglich macht. Wiederum stattet der Dichter den Helden mit einer Aura der Einsamkeit aus, hier im Verzicht auf die konventionellen Gesten des Abschieds. Scham sucht Verborgenheit, und auf das Diktat öffentlicher Rituale kann die negative Antwort vorerst nur Heimlichkeit heißen. * Mit dem Aufbruch von Karnant beginnt nun die zweite Aventiurensequenz, in der das Paar diverse Abenteuer im Kampf gegen Räuber, Riesen und begehrliche Grafen zu bestehen hat. Stand die erste Aventiurensequenz noch unter dem Zeichen der Scham, zielt das Geschehen nunmehr auf die Erringung von Mitleid, von erbermde. Beide Gefühle setzen Distanz zu sich selbst und zum anderen

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voraus, für beide Gefühle ist ein Moment der Reflexivität oder Vermitteltheit kennzeichnend. Erecs personale Entwicklung ist demnach bei Hartmann aufs Engste mit diesen rationalen Errungenschaften verbunden, und die Episode um den Ritter Cadoc sowie die Schlussaventiure Joie de la curt führen uns nun eine um die Qualität des Mitleidenkönnens bereicherte Sozialperson Erec vor. Es geschieht im Anschluss an eine Zwischeneinkehr am Artushof, dass Erec im Wald das laute Wehklagen einer Frau hört. Er lässt Enite zurück und reitet zu der Frau hin, die ihm, völlig außer sich, von dem grausamen Schicksal ihres Freundes erzählt, den zwei Riesen verschleppt hätten. Erec bietet sofort seine Hilfe an und lässt sich von der Frau den Weg weisen. Bald sieht er sich mit dem schlimmen Anblick konfrontiert, wie der Ritter Cadoc, nackt und gefesselt auf einem Pferd sitzend, von zwei Riesen vor sich hergetrieben und derart geschunden wird, dass ihm das Blut in Strömen von seinem Körper herabrinnt. Erec gelingt es, in einem mutigen Kampf die Riesen zu töten, bringt dann den Ritter zurück zu seiner Freundin und schickt das Paar zum Artushof, damit es dort Ginover seine Aufwartung mache. Das unhöfische Verhalten des Zwergs in der Eingangsaventiure findet in der Cadoc-Aventiure eine gesteigerte Entsprechung. Allerdings ist Erec diesmal nicht unmittelbar selbst betroffen, sondern agiert jetzt als Anteilnehmender – Movens seines Handelns ist nicht mehr gekränkte Ehre, sondern Mitgefühl mit den Leidenden, wie Hartmann betont. Während Cadocs Freundin sich etwa in der französischen Vorlage noch mit der konkreten Bitte an Erec wendet, ihrem Ritter zu helfen, und diese Bitte mit einem Unterwerfungsangebot verbindet, handelt Erec bei Hartmann allein aus dem eigenen mitfühlenden Impuls heraus. Nicht zuletzt rückt für Erec mit dem eigenen Leid auch das fremde Leid näher, ein identifikatorischer Transfer wird begünstigt. Beim Abschied tröstet Erec den Ritter Cadoc mit den Worten: ‚jâ enwirt es niemen erlân swer sô manheit üeben wil, in enbringe geschiht ûf daz zil daz er sich schamen lîhte muoz: dar nâch wirt im es buoz. wie dicke ich wirs gehandelt bin!‘ (5669–5674)

„Es bleibt niemandem erspart, der nach tapferen Taten strebt, dass es ihm nicht einmal passiert, dass er in Schande gerät. Später wird das wieder besser. Wie oft ist es mir schon schlechter gegangen.“

Erec fühlt also nicht nur mit Cadoc als körperlich Geschundenem mit, sondern auch als jemandem, der an seiner Schande seelisch leidet. Dabei spielt in seine Beziehung zu Cadoc ein Moment wechselseitiger Überbietung hinein: Übertrifft die körperliche Qual, die der fremde Ritter zu erleiden hatte, fraglos

Das Abenteuer der Scham und ein ‚verdachter‘ Held

den Peitschenhieb des Zwerges, gibt Erec gleichwohl vor, noch Schlimmeres erlitten zu haben. Cadocs körperliche Blöße spiegelt für Erec offenbar die empfundene Schmach der eigenen Bloßstellung. Im Akt des Mitleidens und der helfe vermag Erec jetzt aber auch, sich selbst zu helfen und die eigene Würde wiederherzustellen. Den fremden Ritter schickt er als Abbild seines restituierten Ichs zu seiner Königin. Nach Erecs maximaler körperlicher Verausgabung im Kampf gegen die Riesen verlassen ihn dann jedoch fatalerweise in der Nähe Enites vollends die Kräfte, alte Wunden sind wieder aufgebrochen und er fällt leblos vom Pferd. Die verzweifelte Enite glaubt Erec tot, schreit laut und setzt zu einer großen Klagerede an. Nur das Echo hilft ihr zu klagen, heißt es im Text. Enite ruft in ihrer Todessehnsucht die wilden Tiere herbei, auf dass jene sie und ihren Mann fressen. Aber der Erzähler gibt seinem festen Glauben Ausdruck, dass die Tiere beim erbarmungswürdigen Anblick Enites wohl eher geholfen hätten, ihren Kummer zu beweinen. Die beschworenen empathischen Qualitäten der Natur werfen dabei Licht auf die Erbarmungswürdigkeit der Betroffenen. Inmitten totaler Einsamkeit und Trostlosigkeit wird Mitgefühl als abwesendes und zugleich erwünschtes Gefühl in den Raum gestellt. Enite ist allein, aber sie hätte Teilnahme verdient. Betroffenheit zeigt dann zunächst der vorbeireitende Graf Oringles beim Anblick der verzweifelten Enite, und er vermag gerade noch, ihr das Schwert zu entwenden, das sie schon gegen sich selbst gerichtet hatte. Der Retter Oringles wird aber umgehend selbst zum Peiniger, indem er der leidenden Enite ein Heiratsangebot aufdrängt und sie und den scheintoten Erec auf sein Schloss bringen lässt. Leitlinie von Oringles’ Handeln ist lediglich das eigene Begehren. Besessen davon lässt er jegliche Bereitschaft zum Mittrauern und Mitfühlen für die vermeintliche Witwe vermissen. Ist Erec derjenige, der in einem aktiven Sinne Mitgefühl entwickelt, wird nun an der Figur Enites die passive Entbehrung von Mitgefühl vorgeführt. Die Situation entgleitet dann auf dem Schloss des Grafen, als Oringles vor den in aller Eile geladenen Hochzeitsgästen Enite zum Essen zwingen will. Hartmann polarisiert das Geschehen weiter mit einem im Vergleich zu Chrétien noch brutaleren Oringles und einer passiveren und schicksalsergebeneren Enite. Im Zorn über Enites Verweigerung schlägt Oringles zweimal heftig zu, und bei Hartmann fließt jetzt sogar Blut. Schließlich lässt Hartmann sie gar in ihre alte Todessehnsucht zurückfallen, und sie empfängt die Schläge Oringles’ freudig in Erwartung einer Erlösung im Tod. Diese nachgerade masochistische Selbstaufgabe steht in deutlichem Kontrast zu der provokant rebellischen Haltung der französischen Enide, die ihrem Peiniger trotzt und ihm seelischen

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Widerstand leistet. Die deutsche Enite ist passiver, hilfloser und vor allem: bemitleidenswerter und schutzbedürftiger. Enites lautes Wehklagen lässt aber nun den bereits aufgebahrten Erec wieder aus seiner Ohnmacht erwachen, er fährt zum Schrecken aller Anwesenden als ein lebendiger Toter dazwischen, tötet den Hausherrn und zwei weitere Männer und führt Enite unter seinem Schutz aus der Burg heraus. Es kommt zur neuerlichen Versöhnung des Paars, und auf dem Heimritt zum Artushof fällt Erec noch die Schlussaventiure Joie de la curt zu. Diese bildet gleichsam die triumphale Aufgipfelung von Erecs neugewonnenem Mitgefühl. * Erec erreicht schließlich zusammen mit Enite und dem Ritter Guivreiz eine Burg mit dem Namen Brandigan, auf der achtzig Witwen um ihre Männer trauern. Die Köpfe der besiegten Ritter sind auf Eichenpfählen aufgespießt, denn bisher hat es noch niemand geschafft, den mordlustigen Mabonagrin, der in einem paradiesischen Wundergarten weltabgeschlossen mit seiner Geliebten lebt, zu besiegen. Die selbstgenügsame Isolation dieses Paares spiegelt die vormalige Verfehlung Erecs und Enites auf Karnant wieder, und indem Erec nun Mabonagrin besiegt, vermag er die Burg wieder zu höfischer Freude zu erlösen. Mit der Einführung der achtzig trauernden Witwen auf der Burg, an denen sich Erecs Mitgefühl in besonderer Weise bewährt, gibt Hartmann der Episode aber eine neue Wendung. Die Witwen evozieren bei Erec vor allem eine Gemütsbewegung des Mitleidens: nû bewegete der vrouwen smerze Êrecke sô gar sîn herze, sît in der lîp was gestalt sô gar in vreuden gewalt, daz ir jugent und ir leben sô gar den sorgen was ergeben. (8334–8339)

Es bewegte der Schmerz der Damen Erecs Herz so sehr, da sie doch für die Freude geschaffen waren, dass ihre Jugend und ihr Leben so gänzlich dem Kummer anheimgegeben waren.

Ein solcherart tätiges Mitgefühl, wie Erec es hier gegenüber den Witwen zeigt, zeigen Erec und der Burgherr dann auch gegenüber Enite, als diese später im Garten aus Angst um Erec in Ohnmacht fällt: die labeten si dô / und wurden mit ir unvrô (8833–35). Was Enite bei den Räuber- und Grafenaventiuren so schmerzlich vermissen musste, kann Erec ihr nun endlich geben. Zwar erleidet Chrétiens Enide ebenfalls Angst, aber ihre Angst bildet nach heroischem Muster vor allem den Kontrast zu Erecs Unbekümmertheit. Eine solche ist dem Hartmann’schen Erec nunmehr genommen, insofern als er manlîche sorge (8619) und rehtiu vorhte (8626) kennt, die sich freilich von der Angst der zagen

Das Abenteuer der Scham und ein ‚verdachter‘ Held

unterscheidet. Der Held Erec integriert neben der Trauer eine weitere negative Emotion, nämlich die der Angst. Das heroische Muster des physisch und psychisch unverletzbaren Helden wird modifiziert, ein imaginärer Panzer des idealen Helden aufgebrochen. Nach seinem Sieg lässt der Gedanke an die achtzig trauernden Witwen Erec auf dem nun stattfindenden Fest der Freude aber selbst noch âne vreude (9782 ff.) sein. Ihn erbarmt die beklagenswerte Verfassung der Frauen und gemeinsam mit dem Burgherrn und Enite hilft er ihnen trauern. Und weil die Witwen auf Brandigan nicht mehr glücklich werden können, geleitet Erec sie schließlich an den Artushof, wo sie von Artus und Ginover ehrenvoll empfangen werden. Wie Erec legt nun auch Artus männliches Mitgefühl an den Tag: ,ir herren, wir suln gân schouwen unser niuwekomen vrouwen, und trœsten si nâch ir leide.‘ (9920–9922)

„Ihr Herren, wir wollen unsere neuangekommenen Damen begrüßen gehen und sie nach ihrem Leid trösten.“

Schließlich trennen die Frauen sich von ihren Trauerkleidern, um damit den König in neuer Lebenszugewandtheit und Freude zu ehren. Höfische Freude entspringt damit nicht mehr nur höfischer Geselligkeit als einer Selbstfeier des Kollektivs, sondern in Gestalt der Witwen werden auch höfische Schattenseiten integriert, auch Trauer wird zum Medium wechselseitiger Anerkennung. Personale Empathie setzt bei den aus der Gemeinschaft Herausgefallenen die Bereitschaft frei, sich wieder der Gesellschaft zuzuwenden und sie in ihren Ritualen der Freude mitzutragen. Bei Hartmann aber erscheint die kollektive Freude, wie sie Chrétien auf Brandigan beschreibt, gedämpft. Der Kreis derjenigen, die an der Joie de la curt teilhaben, konzentriert sich bei ihm nur noch auf die adligen Freunde, während bei Chrétien eine Art Volksfest stattfindet, auf dem sich Arme und Reiche, Hohe und Niedere mischen und Kontakt zu Erec suchen. Wo bei Hartmann die Empfindung Erecs als einzelner Person im Vordergrund steht, gestaltet Chrétien die Bewegung kollektiver Freude ungleich eindringlicher. Immer wieder inszeniert er festliche Stimmungen, die gleichsam geschichtslos die Gegenwart füllen und alle vergangene Unbill vergessen lassen. Die Chrétien’schen Protagonisten geben sich noch ungehemmt dem Rausch einer kollektiven Bewegung hin, wo die Helden Hartmanns über eine neue Distanz und Verhaltenheit unter dem Diktat ihres Über-Ichs verfügen. Blicken wir zurück, so stand am Beginn der Erzählung nach den Übergriffen des Zwergs Erecs abgrundtiefer Anfall von Scham, der ihn veranlasste, von der Königin Abschied zu nehmen und den Übeltätern hinterherzureiten. Mehr

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noch als der Peitschenhieb selbst ist es dabei das Innewerden seines Geschlagenseins im Blick Ginovers, das seine personale Unversehrtheit zutiefst verletzt. Damit setzt die Geschichte Erecs am Punkt einer psychischen Trennung ein, und zwar dort, wo sich die Innenwelt in eine beschämte und eine beschämende teilt, wo das äußere Objekt verlassen wird, um als die innere Stimme eines normativen Anspruchs, eines Über-Ichs oder Gewissens, wiederzukehren. In dieser Verfassung obliegt es Erec nun, den Aventiurenweg als Wiederannäherung an sein verletztes Ichideal anzutreten, dem der Text als Bezogensein auf die ferne Königin symbolische Gestalt gibt. Hartmanns Erec ist fortan mit einem negativen Selbstbild beschwert, und das nachfolgende Szenarium in Tulmein zieht noch weitere Figuren in diese düsteren Koordinaten von Scham und Selbstzweifeln hinein. Gegenüber Enite erscheint Erec in den ambivalenten Positionen des Aggressors, der seiner Frau beim Aufbruch von Karnant die Todesstrafe androht, und des Beschützers, der sie vor dem männlichen Bösen rettet. Als Frau gibt Enite dabei vor allem den Anlass zur moralischen Bewährung des männlichen Helden, womit gleichzeitig ein Gefälle zwischen männlicher Stärke und weiblicher Schwäche, zwischen männlicher Subjekthaftigkeit und weiblichem Objektcharakter festgeschrieben wird. Enite wird für Erec vorderhand zum Medium männlicher Selbstfindung. Einen eigenen personalen Entwicklungsweg macht sie nicht mit. Den Höhepunkt seiner moralischen Entwicklung beweist Erec schließlich im Mitgefühl für die achtzig Witwen. In den Trauernden findet er seine eigene soziale Verletztheit gespiegelt und kann, indem er ihnen Mitgefühl entgegenbringt, ein Stück weit die eigene innere Wunde schließen. Neben die innere fordernde tritt damit für ihn eine innere schutzgebende Instanz, neben das höfisch-agonale Ehre-Diktat ein befriedender Altruismus. Die Entwicklung hin zur erbermde mit ihrem christlichen Universalisierungsanspruch bringt dabei jedoch paradoxerweise einen Abbau familialer Bindungsgefühle mit sich. Wo bei Chrétien adlige Lebensvollzüge noch von Bindungsgefühlen erwärmt werden und immer wieder in eine Inszenierung von Lebensfreude münden, setzt Hartmann negative Erfahrungswelten von Scham, Sorge, Trauer und Mitleid dagegen. Hartmanns Erec macht damit einen Sprung heraus aus einer Welt, die im Rahmen einer unangefochtenen politischen Ordnung den Abenteuerweg des Helden in die Erkenntnis und Erfüllung ihrer Normen einmünden lässt. Bei Hartmann ist es nunmehr der Prozess der Internalisierung von Normen selbst, der zum Thema gemacht wird, und ein neuer selbstreflexiver Horizont entzweit den Helden mit sich selbst und der Gemeinschaft. Er beginnt, an sich selbst zu leiden, indem ihm die Diskrepanz zwischen der Realität und seinem Ichideal schmerzhaft zu Bewusstsein kommt. Erst ein neu erworbener Altruismus vermag ihn ein Stück weit mit sich selbst auszusöhnen – die Naivität eines sich

Das Abenteuer der Scham und ein ‚verdachter‘ Held

selbst genießenden Lebensvollzugs ist ihm jedoch genommen. Wenn man so will, schlägt bei Hartmann das Ausgangsproblem der emotionalen Unterdistanzierung in eine emotionale Überdistanzierung um. Der Held, der sich vormals „verlegen“ hatte, hat sich nun „verdacht“. Damit ist er sich in einem epochalen Prozess der Rationalisierung und Zivilisierung auf neue Art selbst zum Abenteuer geworden. Literatur Chrétien de Troyes: Erec et Enide. Erec und Enide. Altfranz./Dt, übers. u. hg. von Albert Gier, Stuttgart 1987. Gephart, Irmgard: Das Unbehagen des Helden. Schuld und Scham in Hartmanns von Aue ‚Erec‘, Frankfurt a. M. u. a. 2005 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 8). Hartmann von Aue: Erec, hg. von Albert Leitzmann, fortgef. von Ludwig Wolff, 6. Aufl. bes. von Christoph Cormeau u. Kurt Gärtner, Tübingen 1985 (Altdeutsche Text­ bibliothek 39). Hartmann von Aue: Erec. Mittelhochdt. Text und Übertragung von Thomas Cramer, Frankfurt a. M. 1972. Köhler, Erich: Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artus- und Graldichtung, 2., erg. Aufl., Tübingen 1970. Mertens, Volker: Der deutsche Artusroman, Stuttgart 1998. Neckel, Sighard: Achtungsverlust und Scham. Die soziale Gestalt eines existentiellen Gefühls, in: Zur Philosophie der Gefühle, hg. von Hinrich Fink-Eitel u. Georg Lohmann, Frankfurt a. M. 1993, S. 244–265. Scheler, Max: Schriften aus dem Nachlaß, Bern, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre, 2. Aufl. 1957 (Gesammelte Werke 10), darin: Über Scham und Schamgefühl, S. 65–154. Seidler, Günter H.: Phänomenologische und psychodynamische Aspekte von Schamund Neidaffekten, in: Psyche 55 (2001), S. 43–62. Simmel, Georg: Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, hg. u. eingel. von HeinzJürgen Dahme und Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1983, darin: Psychologie der Scham, S. 140–150.

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1.2 Enite und die Pferde Das Projekt der Triebzähmung in Hartmanns ‚Erec‘

Gemäß dem zeitgenössischen Schönheitsideal sind wir gehalten, die Körper der arthurischen Helden und Heldinnen als groß, schlank und ebenmäßig zu imaginieren, die Männer kraftvoll, die Frauen schön. Nichtideale Züge sind dabei im arthurischen Kosmos weitgehend auf die Negativfiguren der Zwerge, Riesen und Räuber verlagert, die physisch und moralisch minderwertig sind. Schönes und Hässliches, Starkes und Schwaches, Gutes und Böses unterliegen einer strengen Separierung. Zu dieser Märchenwelt idealer Helden und ihrer defizitären Gegenspieler gehören aber noch Tiere, die einer außermoralischen Sphäre angehören. Sowohl die Gottesnähe der Natur vor dem Sündenfall wie eine Gottferne, die sich noch nicht ihres Schöpfers bewusst ist, unterscheiden sie vom Menschen. In Hartmanns ‚Erec‘1 spielen nun die Pferde eine besondere Rolle. Überraschend ist dabei auf den ersten Blick, dass uns hier nicht das exklusive Verhältnis zwischen dem Ritter und seinem Streitross vor Augen geführt wird, wie es einer langen abendländischen Tradition entspricht,2 sondern dass eine besondere Nähe zwischen den Pferden und Enite, der weiblichen Hauptfigur, aufgebaut wird. Für die adlige Frau aber, für die das Pferd vornehmlich Transportmittel und adliges Statussymbol war, ist der Zusammenhang zwischen Mensch und Tier zunächst einmal sehr viel lockerer geknüpft als für den kämpfenden Mann. In diesem Sinn ist auch Enites Verhältnis zu den Pferden kein ‚partnerschaftliches‘,3 wie es vielen Helden der höfischen Epik zugeordnet wird4 – Enites Pferde tragen beispielsweise keinen Namen –, sondern es bleibt emotional distanziert. Es ist vornehmlich von außen auferlegt, bildet aber für Hartmann in dieser Dimension ein wichtiges Medium symbolischer Zuschreibung. Negative wie ideale Züge von Enites Weltverhältnis sind dabei in einer zwiefachen Beziehung aufgehoben: der untergeordneten und leidvollen eines Pferdeknechts und der erhöhten als Reiterin eines idealen Pferdes. Die Figur Enites wird zunächst eingeführt im Kontext einer schroffen väterlichen Aufforderung, den Pferdedienst für Erec zu übernehmen (317 ff.), und findet später ihren Höhepunkt in der Annahme eines außerordentlichen Pferdes als Geschenk von Guivreiz' Schwestern. Dazwischen liegen zahlreiche Stationen der Knechtschaft, Befreiung und Erhöhung, die jeweils an Pferde gebunden sind. Bevor ich zu einer Deutung dieser Episoden vor dem Hintergrund der Symbolik von Ross und Reiter und der damit verbundenen Nähe von menschlichem und tierischem Körper übergehe, möchte ich vorab die betreffenden

Enite und die Pferde

Episoden noch einmal im Vergleich mit dem französischen Vorläufertext, dem Chrétien’schen Paarroman ‚Erec und Enide‘, vor Augen führen,5 um das Spezifische des Hartmann’schen Ansatzes deutlich werden zu lassen. * Schauen wir zuerst auf die Szene in Tulmein, in der Enite von ihrem Vater der Pferdedienst für Erec auferlegt wird, als dieser um Unterkunft bei dem verarmten Koralus ersucht. Hinter ihm liegt die Demütigung, von dem Zwerg eines fremden Ritters geschlagen worden zu sein. Es fällt sofort die negative Umdeutung dieser Szene durch Hartmann auf. Bei Chrétien steht das Geschehen noch unter den Vorzeichen von Zuneigung, Fürsorglichkeit, Ehrung des Gastes und nicht zuletzt einer Kompetenz Enides (450 ff.). Der Vater redet seine Tochter zärtlich mit Bele douce fille (451) an und gibt seinem Wunsch nach einer maximalen Versorgung von Erecs Pferd Ausdruck, wobei es für Erec keinerlei Anlass gibt, an der Tätigkeit Enides Anstoß zu nehmen. Vielmehr steht das Pferd für Erec selbst, das man stellvertretend für den Gast achtsam versorgt. Bei Hartmann wird jedoch dem Vater der positive emotionale Bezug zu seiner Tochter genommen. Stattdessen tritt er fordernd, unter Androhung eines Tadels, an sie heran: er sprach: ,genc und bewar dises herren pherit, tohter mîn, der unser gast geruochet sîn, und begenc ez sâ ze vlîze daz ich dirz iht verwîze.‘ (317–321)

Er [...] sagte: „Geh und sorge für das Pferd dieses Herren, meine Tochter, der uns die Ehre gibt, unser Gast zu sein, und versorge es umsichtig, damit ich dich nicht tadeln muss.“

Auf die nachfolgende Beschreibung von Enites makelloser Gestalt und ihrer damit kontrastierenden ärmlichen Kleidung (323–341) folgt dann der mitleidige Einwand Erecs, man möge dem Mädchen doch diese unangemessene Arbeit erlassen: Êrecken muote ir ungemach zuo ir vater er sprach: ,wir sulns die juncvrouwen erlân. ich wæne siz selten habe getân: ez zimt mir selbem vil baz.‘ (342–346)

Erec tat ihre Mühe leid. Er sagte zu ihrem Vater: „Wir sollten es dem Mädchen erlassen, mir scheint, sie hat diese Arbeit noch nie verrichtet. Mir selbst kommt sie viel eher zu.“

Der Alte insistiert jedoch auf seinem Vorrecht und führt neuerlich seine Armut an, welche Enite nun mal die Knechtsfunktion aufbürde (347–351). Auf die Härte des Vaters folgt dann eine kurze Beschreibung von Enites Dienst. Anders als bei Chrétien geht es hier nicht um Details der Pferdepflege, sondern um eine

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Enite, deren Sanftmut alles überstrahlt und sich vor dem Hintergrund des barschen Vaters umso deutlicher kundtut (352 ff.). Enite tritt zwar als Geknechtete in Erscheinung, aber auf Grund ihrer Sanftheit ist zugleich das Wohlgefühl des Pferdes, das in den Genuss ihrer tätigen Sorge kommt, umso größer. Damit hat Hartmann ein signifikantes neues Beziehungsgefüge aufgebaut, in dem Enite im Schnittpunkt eines bipolaren männlichen Spannungsfeldes steht. Der Vater erscheint hart und unwirsch, wohingegen Erec Mitgefühl zeigt und Enite die Situation erleichtern will. Ein ‚böser‘ und ein ‚guter‘ Mann verhandeln über Enite als passives Objekt. So gibt Enite mit ihrem ersten Erscheinen Erec Anlass, seine moralische Qualität und seine Empfindsamkeit unter Beweis zu stellen. Als Leidende macht sie Erec zum Mitleidenden. Gleichzeitig erscheint ihre Person auf merkwürdige Weise entrückt. Sogar Gott wird in der Gestalt eines Ritters mit einem Pferd bemüht (356), um die Aura Enites zu umschreiben, aber auch die Perspektive des Pferdes selbst kommt zur Sprache, das aus der Hand Enites sein Futter umso lieber erhält (364/65). Damit wird die Person Enites in eine eigentümliche Ambivalenz hineingestellt. Kraft männlicher Gewalt wird sie erniedrigt und gleichzeitig mit einer neuen, nachgerade sakralen Aura ausgestattet: Schließlich sind die Nähe zu Gott und zur Kreatur die Qualitäten einer Heiligen. Die zweite bedeutsame Pferdeszene berichtet von dem Geschenk eines Pferdes an Enite aus der Hand ihrer Cousine, die bei dem Herzog von Tulmein lebt (1412 ff.). Vorangegangen war dieser Geste noch ein Händel unter Männern. Imains Angebot, Enite besser kleiden zu wollen, wurde von Erec strikt abgelehnt, das Pferdegeschenk lässt er allerdings zu. Das Pferd, das Enite nun erhält, zeichnet sich durch seine ‚weiblichen‘ Charaktereigenschaften aus: ez was senfte und vrô (1433) und trägt seine Reiterin rehte sanfte (1437). Es ist ausgesprochen harmonisch proportioniert, gut zu reiten und von weißer Farbe. Diese Eigenschaften fügen sich nahtlos in eine geschlechtsspezifische Zuschreibung gegenüber Pferden, wie sie sich auch in der mittelhochdeutschen Begrifflichkeit wiederfindet: Das ros bezeichnet das Streitross des Ritters, von dem sich funktional das pherit der Damen unterscheidet.6 Sofern Ross und Reiter eine Einheit bilden, sind von daher auch die Pferde Träger unterschiedlicher Eigenschaften der Geschlechter, von männlicher Aggressivität einerseits und weiblicher Sanftheit andererseits.7 Hier stehen Pferd und Reiterin in ihrer Sanftheit in einem spiegelnden Bezug zueinander. Dabei wird von Hartmann insbesondere die Idealität des Pferdes herausgearbeitet (1433, 1437, 1440), während der gescheckte Zelter bei Chrétien stärker als an die Bedürfnisse einer Frau angepasst beschrieben wird (1370 ff.). Im zweiten Teil des Romans wird das Pferdegeschenk der Cousine noch durch das Pferd aus der Hand von Guivreiz’ Schwestern überboten. Zuvor aber

Enite und die Pferde

wird Enite noch einmal niedrigen Pferdediensten ausgesetzt. Die siegreichen Kämpfe gegen die Räuber lassen Erec nach dem Aufbruch von Karnant, wo das Paar aus der höfischen Ordnung herausgefallen und sich, wie es heißt, ‚verlegen‘ hatte, Enite zunächst die Knechtsrolle für drei und später für fünf weitere Rösser aufbürden. Erec hatte Enite mit einem Schweigegebot vor sich her reiten lassen und nimmt die Übertretung desselben, als Enite ihn vor den heranna­ henden Räubern warnt, zum Anlass, ihr diese ‚Strafe‘ aufzuerlegen. Wie schon in Enites Elternhaus erscheinen dabei die Bedingungen für sie im deutschen Text erheblich verschärft. Bei Chrétien erfolgt die Übergabe der Pferde Erecs an Enide noch in lakonischer Kürze (2910 ff.). Erec verbindet dort zwar die Überantwortung der Pferde mit dem barschen Hinweis auf die Übertretung des Redeverbots, eine dezidierte Thematisierung von Enites Knechtsrolle als Strafaktion führt jedoch erst Hartmann ein (3266 ff.): ,ich riche mich an einem teile. ich enlâze iuch niht under wegen, ir enmüezet der rôsse phlegen vol und rehte. ich enwil iuwer ze knehte ze dirre reise niht entwesen.‘ (3271–3276)

„Etwas wenigstens strafe ich Euch: Ich bestehe darauf, dass Ihr gut und ordentlich die Pferde versorgt. Ich will Euch als Knecht auf dieser Fahrt nicht entbehren.“

Auch die fünf Räuber stoßen sich später bei Hartmann an dem Anblick einer edlen Dame in der Rolle eines Pferdeknechts (3324–3331); diese Szene flicht Hartmann statt der Beschreibung Chrétiens von Enide auf ihrem Zelter ein (2806, 2944). Und männlichem Herrschaftsgebaren, das die Frau in die Dienstrolle zwingt, entspricht wiederum eine Haltung weiblicher Ergebenheit und Leidensbereitschaft seitens Enites: vil wîplîchen si dô leit dise ungelernet arbeit und dar zuo swaz ir geschach an ir herzen ungemach. (3280–3283)

Wie es einer Frau geziemt, litt sie diese ungewohnte Arbeit und außerdem alles Unglück, das ihrem Herzen widerfuhr.

Ähnlich spielt sich auch die Szene nach dem zweiten Räuberkampf ab. In seiner Schelte über Enites Bruch des Schweigegebots versteigt Erec sich gar zu der Aussage, sie umbringen zu wollen, könnte er damit als Mann im Kampf gegen eine Frau doch nur mehr Ehre gewinnen (3409–3412). Enite rechtfertigt sich zwar, zeigt sich aber erneut unterwürfig und nimmt weitere fünf Rösser an (3440 ff.). Die deutsche Enite leidet in Demut, wo es von der französischen Enide nur heißt, dass sie Erec mit keinem Wort antwortete (3077) – ein

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Verhalten, zu dem sich neben Unterwerfung auch stummer Trotz assoziieren lässt. Hartmann wiederum bemüht, wie schon bei der Knechtsszene in Tulmein, göttliche Mächte und Nähe zur Kreatur und eröffnet damit für Enite neuerlich einen quasihagiographischen Horizont:8 wan daz vrou Sælde ir was bereit und daz diu gotes hövescheit ob mîner vrouwen swebete und dâ wider strebete daz ir dehein grôz ungemach von den rossen niene geschach, sô wære kumberlîch ir vart: des wart diu vrouwe wol bewart. ouch muosten durch einen selhen kneht diu ros gerne und durch reht ir ungestüemez streben lân und senfteclîchen mite gân. (3460–3471)

Hätte ihr nicht Fortuna geholfen und hätte nicht die Courtoisie Gottes über ihr geschwebt und sie davor bewahrt, dass ihr irgend großes Unglück durch die Pferde geschah, so wäre ihre Reise mit Kummer belastet gewesen, davor aber wurde die Herrin beschützt. Überdies aber unterließen um eines solchen Knechtes willen die Pferde willig und mit Recht ihr ungestümes Vorwärtsdrängen und gingen sanft an ihrer Seite.

Reale Unbill wendet Hartmann in einen paradiesähnlichen Zustand, in dem eine charakterliche Transformation der Pferde vom Ungestümen zum Sanften stattfindet, eine Art Anpassungsleistung der Rösser an die Sanftmut Enites (3448). Dem animalischen Ungestüm der ungebärdigen Pferdekörper wird demnach die regulierende Sanftmut Enites gegenübergestellt, wobei es sich bei diesen Rossen um die Pferde von Männern, die ihr durch die Hand Erecs zugeführt werden, handelt. Die idealen Pferde aber, in deren Gefügigkeit sich die eigene Sanftmut spiegelt, erhält sie aus den Händen von Frauen. Ein kurzer Blick auf die Ikonographie von Ross und Reiter mag zum Verständnis dieser besonderen Konstellation beitragen. * Grundsätzlich ist in dem archetyischen abendländischen Bild von Ross und Reiter die kulturelle Spannung von Körper und Geist eingefangen.9 Im Pferd sind kreatürliche Kräfte gebunden, die der Physis des Menschen weit überlegen sind. Der Mensch, als vernunft- und willensbegabtes Wesen, schwingt sich zum Reiter desselben auf und macht sich das Pferd in einem Akt der Zähmung gefügig und seine Kräfte untertan. Als Beherrscher animalischer Mächte sitzt er auf dem Tier, wobei das Idealbild jedoch nicht auf bloßer Unterwerfung beruht, sondern eine harmonische Beziehung wechselseitiger Einfühlung reiterliche Zielvorstellung ist. Auf der Basis einer klaren Rollenverteilung von ‚oben‘ und ‚unten‘ symbolisiert die Einheit von Ross und Reiter eine gelungene Integration triebhafter und

Enite und die Pferde

intelligibler Mächte.10 Menschlicher und animalischer Körper bilden idealiter eine funktionale Einheit von Körper und Geist, Trieb und Vernunft. Ein geistesgeschichtlich zentrales Bild hierzu liefert das platonische Rossegleichnis mit seinem Doppelgespann eines widerborstigen, hässlichen und eines edlen, lenkbaren Pferdes.11 Im Verhältnis zum Rosselenker als dem vernunftbegabten Seelenanteil stehen beide Pferde für triebhaft-emotive Sphären, die einmal positiv und einmal negativ besetzt sind. Das schlechte, ungebärdige Ross von schwarzer Farbe kennt dabei weder Zurückhaltung noch Scham und reißt in seinem grenzenlosen Begehren, die Lust des ‚Lieblings‘ zu genießen, den Reiter gewaltsam mit sich fort. Erst wiederholte harte Maßnahmen vermögen es zu zügeln, aber letztlich wird es doch von Demut und Furcht übermannt. Anders das weiße, fügsame Pferd, welches Besonnenheit und Scham kennt und nicht mit Schlägen, sondern mit Worten gelenkt wird. Die Metapher stellt eine Integrationsleistung von Vernunft und Trieb vor, in der auch den instinktnahen Kräften, sofern sie sich der Vernunft unterordnen, ein wesentlicher Anteil am Erreichen des ‚Schönen und Guten‘ zukommt.12 Insofern ist eine doppelte Konnotation, die mit dem kulturellen Bild von Ross und Reiter verbunden ist, auch mit der Beziehung Enites zu den Pferden verbunden: einerseits die erhabene Position des Reiters beziehungsweise der Reiterin, welche die Herrschaft über das Tier ausübt, und andererseits, gleichsam im Blick von unten nach oben, das Animalisch-Ungebärdige, das als Tierkörper nach einer zügelnden Hand verlangt und sich unterzuordnen hat. * Blicken wir nunmehr zurück auf die Gestaltung des Pferdethemas im ‚Erec‘, so springt die Nähe zwischen der Metaphorik von Ross und Reiter und dem zentralen Triebkonflikt des Romans ins Auge. Die Schlüsselstelle des Romans bildet ja das sogenannte verligen des frisch vermählten Königspaares in Karnant, das sich, statt um eine angemessene Hofhaltung zu sorgen, endlich dem hingibt, wonach es vor der Hochzeit so ungeduldig verlangt hatte. Hartmann stellte uns das wartende Paar in aller Deutlichkeit als zwei hungrige Habichte vor (1861–1869), die nur durch die Kontrollinstanz des Artushofes davon abgehalten werden, den anderen vorzeitig als Beute zu verschlingen. In Karnant angekommen werden also Erec und Enite erst einmal von den übermächtigen Kräften ihrer triebhaften ‚Seelenanteile‘ fortgerissen – oder anders formuliert: Sie lassen die Pferde mit sich durchgehen. Beachtenswert ist nun, dass Vorausdeutung und spätere Korrektur dieser Fehlleistung im Rahmen der Metapher folgerichtig über die Pferde stattfindet, bei Hartmann noch differenzierter und einseitig pointierter als bei Chrétien. Vor allem der erniedrigende Pferdedienst Enites auf der Aventiurenfahrt erscheint damit nicht nur als beliebige Strafaktion für eine adlige Frau, sondern trägt mit den Pferden eine tiefere Symbolik in sich. Hinter dem Bezug auf die Übertretung des Schweigegebots seitens

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Erecs steht schließlich die Verfehlung Enites, welche die vornehmliche Aufgabe der höfischen frouwe, die Selbsterziehung und mehr noch die Erziehung des Mannes verfehlt hat. Denn die höfische Gesellschaft, schauen wir etwa auf den Minnedienst, gruppiert sich in wesentlichen Teilen um die Frau als Medium der Triebregulation.13 Wenn Enite demnach wiederholt mit der schwierigen Aufgabe des Knechtsdienstes an Pferden aus den Händen von Männern betraut wird, verweist dies zunächst einmal auf ihr eigenes noch ungeklärtes Verhältnis zu den männlichen Triebansprüchen. Von daher trägt Enite nicht nur Verantwortung für eine aus den Fugen geratene Situation, weil auch sie ‚wollte‘, sondern mehr noch: weil sie keine Steuerung der Situation übernommen hat. Im Rückblick auf die Szene in Tulmein bei der Ankunft Erecs erscheint somit das Pferd Erecs als kreatürlicher Anteil seiner Person, dem Chrétien und Hartmann unterschiedliche Wertigkeit beimessen. Die Behandlung ist bei Chrétien noch unkompliziert fürsorglich, wohingegen die Versorgung des Pferdes durch Enite bei Hartmann als grundsätzlich inadäquat problematisiert wird. Die Person Enite und Erecs Pferd werden hier in ein Konfliktfeld gestellt, in dem Tier und höfische frouwe als antagonistische Kräfte einander gegenüberstehen und gleichzeitig eine spezifisch weibliche Macht gegenüber dem Tier in einer Situation scheinbarer Ohnmacht angedeutet wird. Dabei glaubt man hinter der Demonstration väterlicher Härte auch die Errichtung eines Tabus zu spüren, das eine Berührung von Enites makellosem Körper, wie er gerade an dieser Stelle beschrieben wird (323 ff.), mit dem des Tieres betrifft.14 Hartmann kreiert damit für Enite ein Spannungsfeld, in dem er eine Polarität von erniedrigendem Dienst und sakraler Unverletzbarkeit für sie bereithält. Einer Wirklichkeit, in der sie durch Männer erniedrigt wird, in Tulmein durch den Vater und später durch Erec, steht eine Idealität ihrer Person gegenüber, die in demütiger Annahme des Dienstes die Situation gleichsam transzendiert. Das Mitgefühl, das die agierenden Männer vermissen lassen, zeigen nunmehr die Pferde. Von ihnen geht eine gewisse Würdigung ihrer Person aus, und in den Räuberaventiuren verwandeln sich die ungestümen Rösser Enite gar so weit an, dass sie senfteclîch mit ihr gehen. Zunächst stellen sie wilde, schwierig zu handhabende, animalische Wesen vor, die mit der schwachen Weiblichkeit Enites kontrastieren, um später den Charakter mitfühlender Kreaturen anzunehmen, welche Enite nahestehen.15 Movens des Wandels ist für die Tiere der Kontakt mit Enite. Dabei erscheint Enite nicht etwa als zu schwach für die Arbeit mit einem Pferd, sondern als jemand, der einen außergewöhnlichen Einfluss auf die Tiere auszuüben vermag. Hier walten offenbar statt der groben Kräfte eines Knechts seelische Mächte, welche die Absenz Ersterer zu kompensieren und zu übertreffen vermögen. Unter dieser Perspektive stehen die Szenen in Tulmein und auf der Aventiurenfahrt

Enite und die Pferde

in einem Verhältnis der Steigerung zueinander. In Tulmein ist noch von Erecs phert (318) die Rede, was die Position des unbewaffneten Erec unterstreichen mag.16 Die Versorgung von Erecs Pferd stellt jedenfalls noch nicht die Anforderung dar, die später mit der Führung der acht Pferde an Enite herantritt, die als Rosse bezeichnet werden (3273, 3433). Umso auffälliger ist dann der Wandel der ungestümen Rosse an der Seite Enites zu gefügigen. Nach der Krise in Karnant findet Enite in den Räuberaventiuren Gelegenheit, das unter Beweis zu stellen, was sie in Karnant versäumt hatte, nämlich mäßigenden Einfluss auf die kreatürlichen Kräfte, die ihr hier in Gestalt der Pferde begegnen, zu nehmen. Und markanterweise findet dies eben nicht als ein Akt der Herrschaftsausübung statt, wie sie es immer wieder an sich selbst durch die Männer erfährt, sondern als eine Art Begegnung, bei der die Pferde ihr entgegenkommen und auf die ihr wesensmäßige Sanftheit reagieren. Enite wirkt damit edukativ, ohne zu erziehen. Ihre Wirkung entspringt nicht einem bewussten Einflussnehmen, sondern einer Hingabe an die von außen auferlegte Situation, die sie mittels einer ihr eigentümlichen Sanftheit beantwortet und bewältigt. Wandelbar und ansprechbar erscheinen dabei die Pferde. Sie setzen sich zu Enite in Beziehung, wo Enite gleichsam nur in ihrer eigenen Demut ruht. Um das Eigentümliche dieser Konstruktion deutlich werden zu lassen, sei noch einmal an die Kernaussage des Chrétien’schen ‚Erec‘ erinnert. Hier ist der Konflikt des Paares wesentlich um die Tatsache herum aufgebaut, dass Erec die Aufklärung über die unhaltbare Situation durch Enide als Kränkung erlebt. Von derjenigen, die ihm doch Anlass für seine gesellschaftliche Entfremdung war, über seine Verfehlung aufgeklärt zu werden, evoziert Unverständnis und Aggression.17 Die französische Enide wiederum hadert immer wieder – nicht mit der Tatsache des ‚Verliegens‘, sondern damit, dass sie gesprochen hat. Entsprechend wartet auf sie eine Bewährungsprobe, in der sie neuerlich als Warnerin zu fungieren hat. Der gesellschaftliche Anspruch an die höfische Dame, als Minneherrin oder Ehefrau regulierend auf die Männer einzuwirken, wie es das ganze Szenarium nahelegt, wird also auch hier von beiden verkannt. Bei Hartmann jedoch ist das verligen nicht mehr nur eine korrekturbedürftige situative Verfehlung, sondern Exemplum für ein grundsätzliches Versagen beziehungsweise tugendhafte Bewährung. Wenn er die symbolische Verweisstruktur um Enite und die Pferde dergestalt ausbaut – und zwar nicht nur in Bezug auf die Pferdegeschenke, sondern auch mit Enites Rolle als Pferdeknecht –, so gewichtet dies die Position Enites im Rahmen einer Situation, die für misslungene Triebregulation steht, neu. Gleichzeitig werden der Enitefigur personale Autonomie und Subjektivität zugunsten der Einschreibung idealer Demut und Sanftheit genommen, die insbesondere in ihren Kontakten mit den Pferden paradigmatisch vorgeführt wird. Und jene ideellen Wesenszüge sind es dann,

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die sowohl auf Pferde als auch Männer besänftigend, das heißt: regulierend wirken. Der von der höfischen Gesellschaft an die Frau herangetragene Anspruch der Affektregulation im Dienste des Mannes wird somit an die Frau nicht als bewusstes, sondern als unbewusstes Wesen gebunden. Ihre ‚besänftigende‘ Wirkung übt sie nicht als Einsichtige aus, sondern als ein Wesen, das damit einem inneren Gesetz gehorcht. Im Umgang mit den Pferden absolviert Enite demnach nicht nur eine Strafaktion, die ihren höfischen Fall markiert, sondern sie bewährt sich im Umgang mit den Tieren als höfische Dame, deren bloße Präsenz eine positive Wirkung zeitigt. So wie die Frau dem Mann als Verführerin eine Projektionsfläche zum Zwecke der Selbstexkulpation bietet, wird sie hier als Besänftigende zum Hoffnungsträger für die Bewältigung des eigenen noch ungelösten Konflikts gemacht. Nachdem Enite ihre triuwe durch die Warnung vor dem Grafen Galoein erneut unter Beweis gestellt hat, wird sie schließlich durch Erec von der Last des Pferdedienstes befreit, indem er die restlichen sieben Tiere an den Wirt verschenkt – eins hatte er bereits dem Knappen des Grafen überlassen (3559 ff.; 4005 ff.). Enites Bewährung besteht nunmehr darin, dass sie gegen den Willen Erecs die Führung f ü r Erec übernommen hat. Insofern spiegelt, wenn man so will, das eigentümliche Szenarium nach dem Aufbruch, bei dem Erec seine Frau mit der Auflage, unter allen Umständen zu schweigen, vor sich herreiten lässt, noch einmal die vormaligen Bedingungen am Hof. Zwar geht es jetzt um ein Arrangement der Trennung, entscheidend ist aber, dass Enite diesmal nicht gefügig ist, sondern gegen den erklärten Willen Erecs in dessen Interesse agiert und redet. Die vorgebliche ‚Strafe‘ des Pferdedienstes lässt sich dabei auch so lesen, dass Enite, nachdem sie eine bewusste Kommunikationsleistung des Redens und Warnens erbracht hat, nunmehr auch mit der Führung wilder Pferde betraut werden kann. Sinnbild für einen neuen geläuterten Zustand Enites ist nun das Pferd, das sie aus den Händen von Guivreiz’ Schwestern empfängt. Es hat eine gänzlich weiße und eine gänzlich schwarze Seite, die durch einen grünen Strich getrennt sind und löst das auf der Flucht von Limors, dem Schloss des Grafen Oringles, abhanden gekommene Pferd aus Tulmein ab (7264–7797). Hartmann betont freilich, wo Chrétien noch auf eine Kontinuität in der Ersatzfunktion des Pferdes abhebt (7272/73), das unvergleichlich Höherwertige des neuen (7286–7289). Anders als bei dem Pferd in Tulmein tritt Enite nun auch erstmals bildlich als Reiterin in Erscheinung (7791 ff.). Die Fokussierung auf die Knechtsfunktionen zeigte Enite ja bei aller Idealität als Gefährdete gegenüber den kraftvollen Tieren und Unterlegene gegenüber den Männern. Nunmehr sitzt sie auf dem Pferd in der Haltung derjenigen, die sich die Kräfte des Tieres untertan gemacht hat. Die markante Zweifarbigkeit des Tieres bezeichnet sowohl Differenz wie

Enite und die Pferde

Integration, die Differenz von Weiß und Schwarz, sanft und wild, weiblich und männlich, aber auch die Vermittlung dieser Polaritäten durch eine grüne Linie und die integrative Beherrschung beider Teile durch die Reiterin, die auf dem Pferd sitzt. Folgerichtig nimmt Enite das Pferdegeschenk auch in eigener Verantwortlichkeit an (7283/84) – ohne Erec als restriktiv-vermittelnde Instanz wie noch in Tulmein. Und anders als ihre Erniedrigung, die sie durch Männer erleidet, findet ihre Selbstherrschaft nun Ausdruck darin, dass sie das Pferd von Frauen erhält. Ja, die beiden Schwestern werden von Hartmann namentlich als Personen von großer Tugend eingeführt (7771–7787). Das Pferd stellt jetzt nicht mehr Prüfung und Aufgabe in einem männlich dominierten Kontext dar, sondern steht für eine erworbene Qualität im Rahmen eines weiblichen Lebenszusammenhangs.18 Freilich haftet diesem Pferd auch etwas defizitär Unmännliches an, hatte Guivreiz es doch einem Zwerg entwendet und an seine Schwestern weitergegeben, weil der Sattel für einen erwachsenen Mann zu klein war (7395–7436). * Schauen wir also zurück auf die Paardynamik des Romans, so erscheinen die Pferde als eine wichtige Instanz der symbolischen Vermittlung mit einer grundsätzlich ambivalenten Wertigkeit. Sie sind sowohl Spiegelfläche triebhafter, gesellschaftsfeindlicher Anteile als auch selbstbeherrschter Sanftheit. Im Bild des platonischen Rossegleichnisses treten sie sozusagen abwechselnd als schwarze, widerständige und weiße, fügsame Rosse auf. Der fügsame willige Pferdekörper ist dabei unmissverständlich einer fügsamen, sanften Enite zugeordnet. Als zweimalige Besitzerin solcher Pferde liegt diese Beziehung offen zu Tage und bestätigt fürs Erste eine höfische Konvention idealisierender geschlechtsspezifischer Zuschreibung. Für Enites Verhältnis zu den ‚schwarzen, widerborstigen‘ Rössern gilt hingegen, dass Enite mit ihnen eine bis dahin versäumte Leistung der Triebregulation abverlangt wird. Im Rahmen dieser ist es ihr sozusagen auferlegt, die ‚schwarzen‘ in ‚weiße‘ Pferde zu verwandeln, teils als bewusste Lenkerin derselben, teils aus einer Position heraus, in der sie selbst die unbewussten Züge eines weißen, anpassungswilligen Rosses zeigt. Bemerkenswert ist hier nunmehr, dass eine tiefere Beziehung Erecs zu den Pferden auf den ersten Blick verdeckt bleibt. Seine Person bleibt gleichsam hinter den Körpern der Pferde verborgen. Wenn er Enite die Pferde der Räuber aufbürdet, tritt er nicht aus seiner Herrscherrolle heraus, und sein triebhaftes, unbeherrschtes Ich, das in Konflikt mit den gesellschaftlichen Ansprüchen geraten war, bleibt in Gestalt der Tiere veräußerlichtes Objekt. Auf der Aventiurenfahrt erhält Erec nun die Gelegenheit, Räuber und zwielichtige Grafen, die als begehrliche Männer in Erscheinung treten, zu besiegen und mit ihnen auch die eigenen Triebimpulse. Der siegreiche Kampf mit dem männlichen Bösen meint dabei auch die Überwindung eigener Schattenwelten. Schwierige Selbstanteile

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gibt er überdies mit den Pferden seiner Ehefrau weiter. Enite drängt der Kontakt mit den fremden Rössern zunächst in eine Knechtsrolle, von der Erec allerdings grundsätzlich verschont bleibt. Zwar wird er im zweiten Guivreiz-Kampf unterliegen und hat über verschiedene Stationen hinweg an seinen Wunden zu leiden, eine ‚Verknechtung‘ seiner königlichen Erscheinung aber ist tabu. Wo Enite einem Wandel zwischen Knechtschaft und Erhöhung unterworfen wird, den sie an und mit den Pferden durchlebt und in dem sie zunächst in eine untergeordnete Abhängigkeit von wilden männlichen Triebwelten hineingestellt wird, tritt Erec nie aus seiner königlichen Rolle heraus. Seine Triebwelt wird abgespalten und nur symbolisch vermittelt über die Pferde beziehungsweise die Räuber und andere Negativgestalten ins Spiel gebracht. So bleibt seine herrscherliche Aura, die keine Ambivalenzen zulässt, auch in der Thematisierung von niederen Triebregionen unangetastet. Der animalische Schatten des königlichen Körpers wird nur für den sichtbar, der genauer hinsieht. Als solcher aber ist der enge Konnex zwischen Mann und Pferd, als sowohl glanzvolles wie problematisches Spiegelverhältnis männlicher Kraft und Wildheit, im Roman sehr präsent, und Enites Verhältnis zu den Pferden gewinnt seinen tieferen Sinn erst vor dem Hintergrund der imaginären Verbindung zwischen Erec und den Pferden. Die Figur Enites wiederum wird zwar keinem so weitreichenden Tabu unterworfen wie Erec und ist Trägerin ambivalenter Zuschreibungen. Dafür erscheint sie jedoch generell depersonalisiert, um nicht zu sagen: devitalisiert. Abwechselnd zum dämonisierten und idealisierten Objekt gemacht, ist sie bei Hartmann am Ende kaum mehr als eine Projektionsfläche Erecs.19 Immer wieder von ‚bösen‘ Männern in eine Opferrolle gestoßen, dient sie in dieser den ‚guten‘ Männern vornehmlich dazu, moralisch wertvolle Qualitäten des Schutzhandelns und des Mitleidens unter Beweis zu stellen, sofern sie nicht als Erzieherin in Anspruch genommen wird. Die, wenn man so will, ‚zivilisierte‘, in der Pose der Demut geübte Enite, wirkt entseelt und blutleer, mit einem schemenhaften Körper, der keinen Schatten mehr wirft. Abschließend bleibt anzumerken, dass die Zügelung von Erecs Triebleben als zentrales Motiv des Romans von Hartmann wesentlich an die ‚besänftigende‘ Qualität Enites gebunden wird, die es lernt, Pferde und Männer zu führen und zu regulieren. Wo triebgebundene männliche Aggressivität konstitutioneller Bestandteil einer kriegerischen Gesellschaft ist, wird offenbar die soziale Rolle der Frau kompensatorisch in den Dienst eines gesamtgesellschaftlichen Gleichgewichts genommen. Die Leerstelle, die allerdings im poetischen Raum dort entsteht, wo die idealen Körper der adligen Protagonisten nur bedingt als Zeichenträger einer problematischen Triebhaftigkeit verfügbar sind, wird im ErecRoman durch die Körper der Pferde ausgefüllt, auf denen sich die mehr oder minder kreatürlichen oder zivilisierten Eigenschaften ihrer Besitzer abbilden.

Die Anerkennung des Begehrens

1.3 Die Anerkennung des Begehrens Erkenntnis und Heilung im ‚Armen Heinrich‘

Einleitung Der Handlungsverlauf von Hartmanns schmalem Legendenepos ist rasch erzählt:1 Der Edelmann Heinrich, bislang vom Glück begünstigt und ein Vorbild seines Standes, erkrankt an Lepra. Auf der Suche nach Heilung gelangt er nach Salerno, wo ihm ein Arzt die Mitteilung macht, dass ihn allein das Herzblut einer manbaeren, also heiratsfähigen Jungfrau, die bereit sei, für ihn zu sterben, retten könne. Aller Hoffnung beraubt, zieht er sich daraufhin zurück auf den Hof eines Pächters, wo sich ihm eine von dessen Töchtern in hingebungsvoller Weise anschließt. Diese scheint seine Krankheit gar nicht wahrzunehmen, sie lässt sich bevorzugt zu seinen Füßen nieder, und er nennt sie sein gemahel (341). Wenige Jahre später wird das herangewachsene Mädchen Zeugin, wie Heinrich die Hoffnungslosigkeit seiner Heilungsaussichten beklagt, die an ein weibliches Blutopfer gebunden seien. Die Logik der Erzählung bringt es mit sich, dass sich das Mädchen, das im Übrigen namenlos bleibt, berufen fühlt, sein junges, noch unschuldiges Leben zu opfern, um auf diesem Wege desto schneller und sicherer ins Himmelreich zu gelangen. Seine widerstrebenden Eltern sowie einen zögerlichen Heinrich vermag es mit unnachgiebiger Entschlossenheit und erstaunlicher Eloquenz auf seine Seite zu ziehen. In Salerno weiß es schließlich auch den zweifelnden Arzt zu überzeugen. Dort besteht es darauf, sich eiligst auszuziehen, während Heinrich von außen, durch ein Loch in der Wand, gewahr wird, wie es schließlich nackt und gebunden auf einem Tisch liegt und der Arzt ein langes, breites Messer an einem Wetzstein schärft. Dieser Anblick bringt Heinrich zu der plötzlichen Einsicht, dass ihm das Leben dieses Mädchens mehr wert ist als sein Tod, und er bricht die ganze Prozedur – gegen dessen heftigen Widerstand – ab. Auf der Heimreise findet sich Heinrich dann unverhofft geheilt wieder, und er nimmt, auf den Meierhof zurückgekehrt, das Mädchen nun zur wirklichen Gemahlin. Die Geschichte, die in eigenartiger Weise zwischen Volksglauben und christlichem Glauben changiert,2 befremdet den neuzeitlichen Leser in doppelter Weise. Sowohl das abergläubische Blutopfer wie eine exaltierte Religiosität nötigen ihn dazu, sich der historischen Distanz zu vergewissern, die zwischen ihm und diesem mittelalterlichen Text liegt. Ein plausibler Sinnhorizont scheint sich dabei vorrangig unter einem theologischen Blickwinkel, ausgehend von den Fragen nach Schuld, Sühne und Erlösung, zu eröffnen.3 Dabei gerät das

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nackte, gebundene Mädchen im Kontext christlich-heilsgeschichtlicher Deutungen vornehmlich als Allegorie der Unschuld in den Blick.4 Alternativ zu einem theologischen Ansatz richtet sich ein aktuelles kulturwissenschaftliches Forschungsinteresse in den vergangenen Jahren verstärkt auf die sexuelle Thematik des Textes, zumal in der provokativen Operationsszene. Deutungen, die unsere Aufmerksamkeit auf eine sadomasochistische Komponente,5 auf inzestuöse Konstellationen6 und einen männlichen Voyeurismus7 lenken, haben dem Text gleichsam seinen Nimbus der Unschuld genommen, ohne freilich einen schlüssigen neuen Sinnhorizont zu eröffnen. Sie vermitteln eher den Eindruck, einen bislang übersehenen Makel des Textes offenlegen zu wollen. Ich möchte hier an die Einschätzung einer Relevanz sexueller Bezüge im Text anknüpfen, allerdings mit dem Anspruch verbunden, diese in einen christlichen Horizont von Schuld und Sühne zu integrieren beziehungsweise zurückzuführen.8 Die Sünde im christlichen Sinn scheint mir in Hartmanns Legendenepos dabei in sehr viel konkreterer Gestalt aufzutreten als bisher wahrgenommen. Als ein Instrumentarium, mittels dessen sich hintergründige Zusammenhänge von Schuld, Sexualität und Erlösung begreifen lassen, werden im Folgenden psychoanalytische Theorien, vor allem die Theorie des Ödipuskomplexes und die Theorie des Narzissmus, herangezogen. Es bleibt zu zeigen, dass die Sünde mangelnder Gottbezogenheit auch als eine defizitäre Position des Narzissmus beschrieben werden kann, während die Theorie des Ödipuskomplexes uns für inzestuöse Untertöne sensibilisieren mag.9 Im Rahmen seiner Gedanken zum Ödipuskomplex, einem zumal in der Außenwahrnehmung zentralen Theorem der Psychoanalyse, hat Freud in erster Linie den kindlichen Inzestwunsch abgehandelt, demgemäß eine geforderte Unterwerfung unter das väterliche Verbot die Grundlage einer notwendigen Verinnerlichung desselben darstelle.10 Der kindliche Inzestwunsch ist dabei auch als Begehren des in seinen Mitteln noch eingeschränkten Kindes zu verstehen, an der elterlichen Macht teilzuhaben. Wenn der kleine Junge die Mutter begehrt, setzt er sich an die Stelle des Vaters; wenn das kleine Mädchen den Vater will, sieht es sich die Stelle der Mutter einnehmen. Die Eltern wiederum sind aufgefordert, der inzestuösen Versuchung zu widerstehen, der sie aus der Position der Mächtigen heraus unterliegen. Dabei führt Freud den Inzestwunsch als ein ubiquitäres Phänomen, eine Art Ursünde ein, die mehr oder minder heftig zwischen allen Mitgliedern einer Kernfamilie zirkuliert. Der Trieb – so Freuds Botschaft – kennt keine Unterschiede; Unterscheidung und Verzicht sind vielmehr kulturelle Errungenschaften. Personale Reifung, gesellschaftliche Integration und kulturelle Tradierung vollziehen sich vor diesem Hintergrund wesentlich entlang der Inzestschranke und sollten im Regelfall in einer exogamen Partnerwahl sowie der Errichtung von selbstkontrollierenden Über-Ich-Instanzen

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münden.11 Das Inzestphänomen wird dergestalt in der freudianischen Psychoanalyse auf provozierende Weise normalisiert und gleichzeitig in seinem Tabucharakter entschieden bekräftigt. Die inzestuöse Begierde ist in der Psychoanalyse der primäre Ort, an dem Trieb und Gesetz miteinander in Konflikt treten. Die psychoanalytische Narzissmustheorie, die im gegenwärtigen psychoanalytischen Diskurs verstärkt diskutiert wird, thematisiert das kardinale personale Problem von Grenzziehung und Reifung auf einer früheren Entwicklungsstufe.12 Ihr Urbild ist die vorgeburtliche Einheit von Mutter und Kind, in der Subjekt und Objekt, Ich und Du, Bewusstes und Unbewusstes gleichsam noch ungeschieden sind. Dieses Urbild wird auch allen frühkindlichen Beziehungen noch zugrunde gelegt, in denen eine narzisstische Glocke Geborgenheit und Sicherheit schenkt. Darüber hinaus begleite es den Menschen bis an sein Lebensende und stelle in Zeiten der Bedrohung seiner Identität einen Raum der Regression und Wiederbelebung bereit. Als narzisstisch gestört wird eine psychische Struktur im psychoanalytischen Verständnis erst dann begriffen, wenn fällige Trennungsschritte nicht vollzogen werden, wenn die Erfahrung eigener Grenzen und Möglichkeiten in der Realität zugunsten eines regressiven Verharrens in phantasmatischer Vollkommenheit ausbleibt, weil die Angst vor der narzisstischen Katastrophe eines totalen Verlassenseins zu groß ist, als dass sie die notwendigen Schritte nach außen gestattete.13 Für den solchermaßen narzisstisch Befangenen bleibt dann der andere hinter den eigenen Bedürfnissen, die seinen ganzen psychischen Raum besetzen, verborgen beziehungsweise nicht erfahrbar. Er kann nicht lieben, weil er den anderen nicht eigentlich sehen kann, weil er nur nach Maßgabe einer narzisstischen Objektwahl,14 die seine Umgebung ausschließlich als Selbstobjekte15 besetzt, auf ihn bezogen bleibt. Er lebt gleichsam noch ungeschieden ‚im‘ anderen und hat seine eigene Beziehungsfähigkeit noch nicht entdeckt. Inwieweit sich in Hartmanns Legendenerzählung vom ‚Armen Heinrich‘, der einen Weg der Erfahrung von Krankheit und Heilung zurücklegt, an Berührungsflächen von psychoanalytischer und religiöser Weltdeutung ein vertiefter Blick auf den Text eröffnet, soll im Folgenden dargestellt werden. Ich blicke noch einmal zurück auf den Beginn der Erzählung. Krankheit als Kränkung Hartmann stellt uns den Helden seiner Geschichte, den Ritter Heinrich, zunächst im strahlenden Glanz seiner Jugend vor, in der ihm nichts zu seinem Glück fehlte. Er war von hoher Geburt und verfügte über die erstrebenswerten Güter von Besitz, Tugend und Ehre im Überfluss. Seine idealische Existenz, so teilt uns der Text mit, spiegelte alle Freuden dieser Welt wider: er was ein bluome der jugent, / der werltvreude ein spiegelglas (60/61).16 Auf eben dieser Höhe aber

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bringt Gott den Ritter mit einer schlimmen Krankheit zu Fall: in ergreif diu miselsuht (119). Diese seinen Körper entstellende Krankheit bringt es mit sich, dass man sich von ihm zurückzieht (127). Die Lepra erschüttert Heinrichs Hochgefühl (82) nachhaltig und nimmt der Welt gleichzeitig den Spiegel, der ihr nur Schönes zeigte. Wo diese in Heinrich bislang alle Freuden aufgehoben glaubte, hat sich nun das Antlitz des Todes seiner bemächtigt. In diese Abgründe will keiner mehr schauen. Enthält sich der Text bis dahin einer Schuldzuweisung an Heinrich, die ein strafendes Eingreifen Gottes erklären würde, kommentiert er im Folgenden Heinrichs Umgang mit der Krankheit jedoch kritisch. Heinrich ist nämlich nicht bereit, sich, nach dem Verständnis des Textes, wie ein biblischer Hiob in die von Gott gesandte Krankheit zu schicken,17 sondern glaubt unerschüttert an sein Vermögen, der Krankheit zu trotzen und mit eigener Anstrengung eine Heilung herbeizuführen (133 f.). Diese Erwartung schlägt allerdings gründlich fehl, keiner vermag ihm zu helfen, und als ihm ein Arzt in Salerno zu guter Letzt mitteilt, seine Krankheit könne nur durch das Herzblut einer Jungfrau geheilt werden, die bereit wäre, für ihn zu sterben (224–232), kommt das für Heinrich einem Todesurteil gleich – denn ein solches Opfer liegt schließlich außerhalb seiner Macht. Heinrich trifft seine Krankheit demnach in psychoanalytischer Terminologie als eine gravierende narzisstische Kränkung. Sie beraubt ihn in einem ersten Schritt seiner äußeren Wohlgestalt und damit seines bisherigen gesellschaftlichen Standorts, und in einem zweiten Schritt seines Glaubens an sich selbst und die Machbarkeit der Dinge. Heinrichs narzisstisches Hochgefühl, in dem er sich mit der Welt und sich selbst in grandioser Einheit erlebte, erfährt durch die Krankheit einen Riss.18 Fortan ist er hinausgeworfen in eine Existenz des Ausgestoßenseins und der Getrenntheit. Der christliche Gott tritt als ein Schicksal und eine Instanz ins Spiel, die dem Weltbefangenen seine heile Welt zerstört und ihn vereinzelt. Heinrich genießt nicht mehr Ruhm und Ehre, sondern sieht sich stattdessen mit der größten narzisstischen Bedrohung des Menschen konfrontiert – dem Tod. In ihrer ironisch-parodistischen Nacherzählung des ‚Armen Heinrich‘ nimmt Ricarda Huch insbesondere dieses Motiv eines sich selbst bespiegelnden Narzissmus auf. Ihr Heinrich gibt diese narzisstische Ausgangsposition allerdings nie auf. Versuchung auf dem Meierhof Heinrich beantwortet seine Krankheit schließlich mit dem Rückzug auf den Hof eines ihm verpflichteten Bauern, nachdem er alle seine sonstigen Güter veräußert und verschenkt hat. Der Wechsel seiner Lebensführung vom adligen Glanz in ein bäuerliches Milieu legt ein sichtbares Zeugnis von seinem ständischen Fall

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ab; gleichwohl erwartet ihn auf dem Bauernhof erneut eine idealische Struktur. Der Bauer auf diesem Hof ist kräftig und gesund, seine Frau fleißig, und die Kinder sind wohlgeraten (295 f.). Unter den Kindern ist es vor allem ein achtjähriges Mädchen,19 das sich Heinrich in besonderer Weise anschließt. Wo die anderen ihn meiden, erscheint er ihm ganz rein (344), es weicht kaum von seiner Seite und sucht beständig den Platz zu seinen Füßen (324/325). si was sîn kurzwîle gar. si hâte gar ir gemüete mit reiner kindes güete an ir herren gewant, daz man si zuo allen zîten vant under irs herren vuoze. (320–325)

Sie war seine ganze Freude. Sie hatte ihr Herz mit der Arglosigkeit eines Kindes ganz ihrem Herren zugewandt, so dass man sie immerzu zu seinen Füßen fand.

Es dient ihm hingebungsvoll, während er sich das Mädchen mit kleinen Geschenken gewogen macht, mit Spiegeln und Haarbändern, Gürteln und Ringen. Schließlich ist die heimlichkeit unter den beiden so groß, dass er es sein gemahel nennt (341). Jeder bildet für den anderen den Mittelpunkt seiner Existenz. Der geschärfte Blick für die defizitäre Ausgangsposition unseres Helden lässt jedoch erkennen, dass Heinrich hier erneut in eine Spiegelbeziehung hineingestellt wird. Das Mädchen und Heinrich bilden eine symbiotische Einheit, die gänzlich sich selbst genügt, in der ein jeder sich im anderen auf ideale Weise vervollkommnet sieht. Jeder ist auf den anderen im Sinne einer narzisstischen Objektwahl bezogen, die nach Ergänzung und Vervollständigung der eigenen Person trachtet. Das Mädchen sucht den schützenden Mann,20 zumal Heinrich für die gesamte Familie erklärtermaßen die Rolle eines Schutzherrn einnimmt (267–280), und Heinrich sucht in dem Mädchen das, was ihm selbst fehlt, nämlich Reinheit.21 Damit wird offenbar, dass Heinrich seine Krankheit fürs Erste mit einem regressiven Phantasma der Wiederverschmelzung beantwortet.22 Die Einheit mit dem gesunden Mädchen, das er sich mit kleinen galanten Geschenken geneigt macht, ermöglicht es ihm, seine Krankheit als eigenes Defizit auszublenden. Damit ist aber auch schon eine weitere Ebene dieser eigentümlichen Beziehung zwischen einem erwachsenen Mann und einem jungen Mädchen berührt, dass sich von ihm sein gemahel nennen lässt: eine Ebene des Begehrens. Denn daran lässt der Text keinen Zweifel: Heinrich will das Mädchen, und das Mädchen will Heinrich. Es umsorgt seinen Herrn, um in den Genuss seiner Zuneigung zu kommen (308–10), so vermittelt es uns der Text, und bringt es schließlich so weit, dass er es sein gemahel nennt (339–341). Er wiederum setzt seine Geschenke zielgerichtet ein, um dessen Gunst zu gewinnen (333/34). Heinrichs

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Krankheit und das kindliche Alter des Mädchens mögen ein erotisches Begehren zwar auf den ersten Blick verdecken, schiebt man diesen Vorhang jedoch beiseite, gibt die Beziehung unschwer ihren latent inzestuösen Charakter preis.23 Auffällig ist dabei zum einen, wie Heinrich das Mädchen mit der Ansprache gemahel nominell zu seiner Frau macht, zum anderen die auffällige Pose, in der uns das Paar vorgeführt wird. Das Mädchen sitzt zu Füßen Heinrichs (325), dessen Füße in seinem Schoß (462/63), wobei die Fußvokabel auffällig häufig fällt. Zu Beginn heißt es nicht nur, dass das Mädchen under irs herren vuoze (325) saß, sondern auch kurz vorher, dass es sich keinen Fußbreit von ihm entfernte (306/07). Als Heinrich später seine große Selbstbezichtigungsrede hält, wobei die Bedingung des Blutopfers ausgesprochen wird, und das Mädchen in der darauffolgenden Nacht seinen Entschluss zum Selbstopfer fasst, fällt das Wort vüeze gleich dreimal hintereinander. Zunächst in Bezug auf Heinrich, dessen Füße in ihrem Schoß stehen, als sie die bedeutungsvollen Worte hört (461–63), dann, um des Nachts ihre Lage im elterlichen Bett zu Füßen des Vaters und, beigefügt, auch der Mutter zu beschreiben (470–72). Schließlich hören wir noch, wie die Tränen des Mädchens die Füße der Eltern benetzen: daz ir ougen regen begôz / der slâfenden vüeze24 (478/79). Stephen L. Wailes liest insbesondere diese letzte Reihung so, dass ein sprachlicher Verbindungsfaden zwischen Heinrich als Ersatzvater und dem leiblichen Vater gesponnen wird, der einen inzestuösen Kontext herstelle.25 Obendrein spreche die Bewegung des Mädchens vom elterlichen Bett zu dem Bett Heinrichs am Morgen nach der zweiten durchwachten Nacht, als es ihm seinen gefassten Entschluss mitteilen will, seine eigene Sprache (905–909). Die zweimalige Titulierung als gemahel trägt in dieser Szene zusätzlich zu dem Eindruck intimer Nähe bei. Das Bild, wie Heinrichs Füße im Schoß des Mädchens ruhen, birgt aber noch mehr in sich. Man mag zunächst einen christlichen Horizont anzitiert sehen, wonach das Sichniederbeugen zu den Füßen als ein Akt spiritueller Unterwerfung zu gelten hat,26 und das Mädchen entsprechend in eine Aura der Heiligkeit gestellt sehen. Nimmt man allerdings einen rechtshistorischen Blickwinkel ein, demgemäß es als ein Zeichen der Inbesitznahme galt, den Fuß auf etwas zu setzen,27 dann erhält das Bild noch einmal eine veränderte Note. Wenn man nun zusätzlich berücksichtigt, dass aus psychoanalytischer Sicht den Füßen eine Stellvertreterfunktion als Phallussymbol28 zukommt, dann wird mit einem Mal unter der christlichen Patina mit männlichem Fuß und weiblichem Schoß ein sexuelles Bild sichtbar, das ein Moment männlicher Inbesitznahme und weiblicher Unterwerfung thematisiert. Heinrich als eine väterliche Ersatzfigur, so die versteckte Botschaft des Textes, lebt offenbar in allzu großer Nähe zu einer ‚Tochter‘, die er ‚seine Frau‘ nennt. Dass eine zu intime familiale Nähe Gefahren in sich birgt, hatte Hartmann bereits im ‚Gregorius‘ (411–420) explizit

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thematisiert. Während dort ein Geschwisterinzest und ein Mutter-Sohn-Inzest zum primären Gegenstand der Dichtung genommen sind, erweitert er hier das inzestuöse Spektrum um einen verdeckten Vater-Tochter-Inzest. Allerdings eröffnet im Gregorius die Übergabe der Schwester an den Bruder durch den sterbenden Vater, verbunden mit der Selbstbezichtigung des Vaters, seine Tochter nicht verheiratet zu haben, schon dort einen entsprechend erweiterten inzestuösen Bezugsrahmen.29 Die Versuchung der machthabenden Väter, sich ‚ihre‘ Töchter zu unterwerfen als die in patriarchalen Gesellschaften naheliegendste Inzestgefahr, bleibt allerdings bei Hartmann zugleich die verdeckteste.30 Im ‚Armen Heinrich‘ wird sie durch die Verschiebung vom leiblichen Vater auf Heinrich als eine Art Ersatzvater verschleiert. Heinrichs Krankheit jedoch, der Aussatz, gewinnt vor diesem Hintergrund einer quasi-inzestuösen Versuchung eine gänzlich neue Plausibilität. Sie steht in einem solchen Kontext nicht mehr nur als Causa der Beziehung im Hintergrund,31 sondern gerät gemäß dem mittelalterlichen Verweis- und Zeichencharakter der Lepra auch als sinnfälliger Ausdruck einer ‚unreinen‘ gegenwärtigen Beziehung in den Blick. Hinter dem quasi unschuldigen Beisammensein zwischen Heinrich und dem Mädchen lässt Hartmann eine inzestuöse Schuld aufscheinen, die dieser regressiven Beziehung das Zeichen der Sünde aufprägt. Dabei ist es gerade die narzisstische, das heißt auf wechselseitiger Bedürftigkeit basierende Färbung im Verhältnis der beiden Protagonisten, die den Inzestverdacht plausibel macht. Hatte Hartmann doch etwa auch dem Geschwisterinzest im ‚Gregorius‘ eine gewisse Hilflosigkeit und Bedürftigkeit der Protagonisten nach dem Tod des Vaters beigegeben, die das Vergehen der beiden einfühlbar machte. Während der ‚Gregorius‘ allerdings eine Geschichte von Fall und Buße erzählt, erzählt der ‚Arme Heinrich‘ eine Geschichte von Erlösung und Befreiung. Vor einem glückhaften Ende verdichtet sich das Geschehen allerdings vorab im Hinblick auf das fragwürdige Selbstopfer des Mädchens, das der Deutung einige Rätsel aufgibt. Ich gehe in der Chronologie der Geschichte also noch einmal zurück. Todesverachtung und Opferwille Die Idylle auf dem Meierhof zwischen der dienstbeflissenen Familie und ihrem Grundherrn, unserem ‚Armen Heinrich‘, wird nach Ablauf von drei Jahren dadurch gestört, dass diese beim Gedanken an den zu erwartenden Tod ihres Herrn all ihre, an dessen Großzügigkeit gebundenen, Vorteile in Frage gestellt sieht (349 f.). Aus einem sehr handfesten Eigeninteresse beziehungsweise einer realen ökonomischen Abhängigkeit heraus erkundigt sich der Bauer also bei dem kranken Heinrich nach dessen Heilungsaussichten. Heinrich gibt das zunächst Anlass, selbstkritisch Rückschau zu halten und in seiner Krankheit eine Antwort Gottes

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auf seinen vormaligen hochmuot zu erkennen. Diese wohl als gottgefällig zu interpretierende Einsicht verbindet er aber mit dem weniger gottgefälligen Beklagen der Ausweglosigkeit seiner Krankheit und dem Ausruf: nû wes unwert und wes nôt / wart ie zer werlde merre? (426/27).32 An einen Gott der Gnade vermag Heinrich genauso wenig zu glauben, wie er zuvor einen Gott der Strafe gefürchtet hat. Er sieht sich veranlasst, die Aussagen des salernitanischen Arztes zu wiederholen, diese als Ausweis seiner endgültigen Hoffnungslosigkeit zu nehmen und Gott um einen schnellen Tod zu bitten. Heinrich hält damit, wenn man so will, weiterhin an einem narzisstischen Phantasma fest, das sich noch in der Ohnmacht an dem eigenen Willen zum Tod aufrichtet und die Hoheit über das eigene Unglück nicht streitig machen lässt. Nach christlichem Verständnis macht er dort, wo ihm das Vertrauen in Gott fehlt, seine Rechnung weiter ohne ihn. Damit ist aber die Stunde des Mädchens gekommen, das jetzt den eigenen Todeswunsch gegen den Heinrichs setzt (459 f.). In der Nacht, in der es den Platz zu Füßen Heinrichs mit dem Platz zu Füßen seines Vaters und seiner Mutter im Familienbett austauscht, weckt es die Eltern mit seinen Tränen um den drohenden Verlust Heinrichs. Es teilt ihnen mit, dass aus seiner Sicht die einzige Lösung des Problems in seinem Opfertod läge, brächte dieser doch erstens für Heinrich die Gesundung, zweitens für die Familie die ersehnte Sicherheit und drittens für es selbst das ewige Leben mit sich. Setzen nun die Eltern diesem verstörenden Wunsch des Mädchens in der ersten Nacht noch Widerstand entgegen, beugen sie sich seinen beredten Argumenten, aus denen für sie der Heilige Geist zu sprechen scheint, schon in der Nacht darauf. Das Mädchen skizziert das Szenarium eines entbehrungsreichen Lebens im Diesseits und eines glückhaften Lebens im Jenseits, wenn es seine bisherige, vom Leben noch unbefleckte Unschuld rechtzeitig Gott darbrächte. Es möchte, so scheint es, seine Jungfräulichkeit als eine Art religiöses Kapital rechtzeitig einzahlen, bevor dieses unnützerweise verbraucht ist. Die Eltern willigen schließlich aus einer Nutzenabwägung in das Vorhaben ihrer Tochter ein. Sie wollen sich nicht den eventuellen Unmut ihres geschätzten Herrn zuziehen und sehen diese Art, ihr Kind zu verlieren, noch als die beste an (890–899). In der an ein Blutopfer gebundenen Heilungsbedingung für Heinrich scheint nun aber hinter aller aufgebotenen christlichen Rhetorik eine archaische Opfergesinnung durch, die eine höhere, blutheischende Macht mit dem Opfer eines stellvertretenden ‚Sündenbocks‘ zu befrieden sucht.33 Wenn das Mädchen nun in der Unterwerfung unter einen solchen Gott der Gewalt Teilhabe an dessen Macht sucht, spricht es eine aus dem Gefühl der Insuffizienz geborene Wunschphantasie aus. Es verlängert ihre im Diesseits gleichsam ins Leere laufenden Ansprüche auf Glück in ein Jenseits, zu dem es den Schlüssel mit seinem Blutopfer in der Hand zu haben glaubt.34 Wenn es für Heinrich, der für

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es eine Vaterposition einnimmt, sterben will, dann um mit einem göttlichen Stellvertreter Heinrichs, einem übergeordneten Vater im Himmel, auf immer vereint zu sein. Wo sich ihm das Leben verweigert, okkupiert es den Tod, mit dem es seiner Angst vor einem Verlassensein zuvorkommen will. Dabei leugnen sowohl Heinrich als auch das Mädchen in ihrer Verachtung des Todes dessen Realität gleichermaßen. Auch Heinrich leugnet ihn, wenn er das Selbstopfer seiner Gefährtin annimmt, um danach wie die sein zu wollen, die es dann nicht mehr geben wird. Die provokative Entscheidung des Mädchens und die Annahme des Selbstopfers durch Heinrich setzt der Text demnach von allen Seiten her auf bedenklichen Grund. Die Eltern willigen in den Tod ihrer Tochter mit Blick auf eigene Vorteile und Sicherheiten ein, Heinrich nimmt bedenkenlos einen fremden Tod für das eigene Leben in Kauf – sofern ihn Zweifel beseelen, beziehen sich diese allenfalls auf die Entschlusskraft des Mädchens (940 f.) – und das Mädchen ist angesichts der Angst um den Verlust Heinrichs bereit, das eigene Leben zu veräußern, um in einem imaginären Jenseits endgültig versorgt zu sein. Die mit Emphase und Eloquenz vorgetragene Begründung aus seinem Munde kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Autor dem Handeln seiner Figuren mit Distanz gegenübersteht. Den jeweils anderen haben die handelnden Figuren dabei nur sehr bedingt im Blick. Heinrich ist fixiert auf seine eigene Heilung, während ihm das Schicksal des Mädchens kaum zu Bewusstsein kommt. Das Mädchen wiederum will sich zwar für Heinrich opfern, kreist aber im Wesentlichen um die eigene Erlösung und den damit verbundenen Lohn. Hinter der symbiotischen Verklammerung der Figuren wird ihre tiefe Isolation spürbar. Aus dieser heraus gelingt Annäherung für Heinrich nur als Akt der Vereinnahmung und für das Mädchen nur als Akt der Unterwerfung. Erkenntnis und Heilung Nachdem das Mädchen nun seine Entscheidung Heinrich mitgeteilt hat, verfallen alle Beteiligten in tiefe Trauer (987 f.). Mit Heinrichs Entschluss, das Opfer des Mädchens anzunehmen, wandelt sich die Situation jedoch wieder schlagartig (1011 f.). Das Mädchen ist von Freude beseelt, und dank göttlichen Einflusses können sich nun auch die Eltern freuen. Heinrich trifft umgehend die notwendigen Reisevorbereitungen, wozu auch eine prachtvolle Ausstattung für das Mädchen mit schönen Pferden und kostbaren Kleidern gehört (1020–1026). Das Bild, so möchte man meinen, suggeriert die Heimführung einer Braut durch ihren Bräutigam zu einer bevorstehenden Hochzeit. Die Situation in Salerno bringt für das Paar, das sich dem Leser bislang in dem Bild des zu den Füßen Heinrichs ruhenden kleinen Mädchens eingeprägt

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hatte, nun einschneidende Veränderungen mit sich. Zum einen wird die abgeschlossene Zweierbeziehung durch das Hinzutreten des Arztes aufgebrochen, und zum anderen tritt das vormals kleine Mädchen nun als junge Frau in den Blick. Folgendes spielt sich ab: Der Arzt nimmt zunächst das Mädchen beiseite, um es angesichts der anstehenden Operation zugunsten Heinrichs ‚auf die Probe zu stellen‘. Zu diesem Zwecke malt er die anstehende Prozedur mit allen Schrecknissen vor dem Mädchen aus. Er konfrontiert es mit der Aussicht, es ausziehen, fesseln und aufschneiden zu wollen (1084–1093). Dann fährt er in seiner Rede fort: ,ez engeschach nie kinde alsô wê als dir muoz von mir geschehen. daz ich ez tuon sol unde sehen, dâ hân ich michel angest zuo.‘ (1096–1099)

„Nie wurde einem Kind so weh getan, wie Du es von mir erfahren musst. Dass ich es tun und ansehen muss, davor habe ich große Angst.“

Der Arzt redet also nunmehr von der eigenen großen Angst, dieses Schlimme dem Mädchen antun zu müssen, und appelliert indirekt an dessen Durchhaltevermögen, denn sonst sei alles umsonst gewesen (1100–1103). Darauf wendet das Mädchen mit großer rhetorischer Geschicklichkeit den Spieß um und beschuldigt nun seinerseits den Arzt der Zimperlichkeit (1119–1130). Das Mädchen wirft dem Arzt mangelnde Männlichkeit vor und versichert ihm, dass es als erwachsene Frau schon die Kraft mitbrächte, das alles auszuhalten, wenn er es denn nur endlich wagen würde zu ‚schneiden‘. Sein Ziel, um das es sich andernfalls betrogen sieht, ist die Himmelskrone (1168). Halten wir zwei mögliche Lesarten dieser Szene fest. Die erste, die sich in Anlehnung an die ausgewiesene Intention der Reise ergibt, ist diese: Der salernitanische Arzt stellt aus der Position ärztlicher Autorität heraus das Mädchen gezielt auf die Probe, um das ganze, äußerst schwierige Unterfangen der Operation abzusichern. Das Mädchen reagiert im Sinne einer vorbildlichen Opferbereitschaft. Eine zweite Lesart, die einen verschobenen Blickwinkel einnimmt und verstärkt auf die Körperlichkeit und die Geschlechterdifferenz in der Szene hinsieht, ließe sich so formulieren: Ein Mann droht einer Frau damit, sie auszuziehen, zu fesseln und ihr Gewalt anzutun. Wenngleich vom Herausschneiden des Herzens die Rede ist, trägt die angekündigte Gewalt als ein Akt der Penetration mit Betonung auf der Nacktheit und der erwartbaren Scham der Frau deutlich sexuelle Züge. Dann zeigt der Mann sich selbst ängstlich, bemüht sich um Rückversicherung bei der Frau angesichts der heiklen Aufgabe, ihr wehtun zu müssen, bis schließlich sie ihn entschlossen auffordert, nicht so zögerlich zu sein, sich zu trauen und ihr endlich zu beweisen, dass er ein Mann

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sei. Männliches Drohen und anschließendes Zögern verwandeln sich hier auf eigentümliche Weise in eine explizite weibliche Aufforderung. Es geht dann wie folgt im Text weiter: Der Arzt kehrt mit dem Mädchen wieder zu Heinrich zurück, berichtet ihm, dass mit dem Mädchen alles seine Richtigkeit habe, dass er jetzt Heinrich alsbald wieder gesund machen könne, und zieht sich mit dem Mädchen erneut in ein heimlich gemach (1181) zurück – um Heinrich zu schonen, wie es heißt. Obendrein verschließt er die Tür mit einem Riegel. Er fordert das Mädchen nun auf, sich auszuziehen, und dieser Aufforderung kommt das Mädchen mit erstaunlichem Überschwang nach: des was si vrô und gemeit, si zarte diu kleider in der nât, schiere stuont si âne wât und wart nacket unde blôz; si enschamte sich niht eins hâres grôz. (1192–1196)

Darüber war sie froh und glücklich: Sie riss die Kleider in der Naht auf, gleich stand sie hüllenlos da, nackt und bloß; sie schämte sich nicht ein bisschen.

Das vorgeblich religiöse Begehren des Mädchens trägt hier ganz offenbar das Gesicht einer sehr irdischen Entblößungslust.35 Das Motiv der Nacktheit und des Ausziehens spielt eine bedeutsame Rolle, nicht zuletzt vorbereitet durch die üppige Kleiderausstattung des Mädchens im Vorfeld. Heinrich hatte es schließlich mit den Kleidern beschenkt, die es sich jetzt förmlich vom Leib reißt – allerdings vor einem anderen Mann.36 Die Nacktheit des Mädchens verfehlt auch keineswegs ihre Wirkung auf den Arzt. Dieser glaubt, noch nie ein schöneres Wesen gesehen zu haben, und zeigt sich erneut verzaget (1203). Der Blick des Mädchens fällt dann auf einen hohen Tisch, er veranlasst es hinaufzusteigen und bindet es fest.37 Dann greift er zu einem langen und breiten mezzer (1209–11) und beginnt, es an einem bereitliegenden wetzestein (1218) bedächtig entlangzustreichen (ane strîchen, 1219), vorgeblich weil er ihm den Tod möglichst sanft antun will (1216). Das wiederum hört der vor der Tür wartende Heinrich, er sucht, bis er ein Loch in der Wand gefunden hat, und sieht das nackte, gebundene Mädchen. Dessen minneclicher (1233) Körper und der Blick zurück auf den eigenen kranken, heißt es nun, bewirken eine Umkehr und lassen ihn einen niuwen muot (1235) fassen. Er klopft an die Tür, erreicht gegen den entschiedenen Widerstand des Arztes Einlass, läuft zu dem Mädchen und verkündet, dass es zu schön sei, als dass man es sterben lassen könne. Das nackte Mädchen bricht in ein großes Klagegeschrei aus, schlägt sich auf die Brust und rauft sich die Haare, weil es sich um alle imaginierte Glückseligkeit betrogen sieht. Das alles hilft ihm aber nicht weiter, Heinrich zieht es gegen seinen Willen wieder an. Er bezahlt den

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Arzt, macht sich mit dem Mädchen auf den Heimweg, erlebt unterwegs eine Spontanheilung und nimmt es, nicht ohne die Zustimmung seiner Ratgeber eingeholt zu haben, schlussendlich zu seiner Frau. Das Mädchen selbst kommt nach dem Aufbruch nicht mehr zu Wort. Der Schluss lässt uns dann wissen, dass beide nach einem glücklichen langen Leben des ewigen Reichs Gottes teilhaftig wurden. Dem unerschrockenen Blick eines Auslandsgermanisten in deutsche Wörterbücher der Obszönitäten verdanken wir die Beweisführung, dass es sich bei der fraglichen Operationsszene um die metaphorische Umschreibung eines Geschlechtsaktes handelt,38 oder besser: die Inaussichtstellung eines solchen. Schon besagtes Messer fällt dadurch auf, dass es mit der Betonung seiner Länge und Breite als Operationsinstrument gänzlich ungeeignet ist.39 Nicht als solches gewinnt es hier seine Bedeutung, sondern als Phallussymbol. Die explizite Bearbeitung des ‚weiblichen‘ Wetzsteins, das wetzen und ane strîchen, sprechen ihre eigene Sprache. Anziehen und Ausziehen des Mädchens münden also hinter verschlossener Tür in ein verklausuliertes sexuelles Szenarium und eine Geräuschkulisse, die Heinrich notwendigerweise beunruhigen muss – ist die junge Frau doch schließlich ‚sein‘ Mädchen. All dies veranlasst ihn, genauer hinzuschauen, und eben diesem Blick entspringt dann das Unmögliche: Erkenntnis und Heilung. Vergegenwärtigen wir uns zunächst, worin die Einsicht Heinrichs im Anblick des nackten Mädchens besteht, bei dem er etwas sieht, was er vorher nicht gesehen hat. Er nimmt dessen gesunde Schönheit und seine eigene Krankheit wahr. Er macht die grundlegende Erfahrung einer Differenz als einer Differenz zwischen Gesundheit und Krankheit,40 Leben und Tod, Mann und Frau und damit die neue Erfahrung eigener Andersheit, wenn er zunächst sie und dann sich anschaut (1234). Wenngleich hier primär die Unterschiedenheit von Krankheit und Gesundheit thematisiert wird, gemahnt die Szene nicht von ungefähr an die biblische Erkenntnis der Nacktheit im Paradies als Erkenntnis einer basalen Unterschiedenheit von Mann und Frau, Mensch und Gott und damit eines primären Bewusstwerdungsaktes überhaupt. Ein solcher ereignet sich auch hier, und dieser ist es, der Heinrichs narzisstischen Horizont aufbricht. Der beziehungsweise die andere gerät nicht mehr nur als Verfügungsmasse eigener Bedürfnisse in den Blick, sondern als von ihm unterschiedenes Geschöpf Gottes. Christliches Verständnis will es so, dass ihm die Schönheit des Mädchens den Blick für die Präsenz eines göttlichen Schöpfers weitet, Heinrich kann sich erstmals selbst vergessen. Und mit dieser Erfahrung wird Heinrich das möglich, was ihm bislang verwehrt war: eine Verzichtsleistung zugunsten des Mädchens. Weil göttliche Ordnung wieder in ihr Recht gesetzt ist, kann sich dann auch seine Heilung ereignen. Diese entspringt nicht dem Zwangsmoment einer

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Opfertötung, sondern der Freiheit göttlicher Gnade. Die Handlungsfreiheit, die Heinrich gewonnen hat, spiegelt sich in der Handlungsfreiheit Gottes wider. Die Reifung Heinrichs, die sich im Anblick des Mädchens vollzieht, vollzieht sich aber in dieser Lesart mitnichten an dem Mädchen als Sinnbild der Tugend, sondern als leibhaftiger Körper. Auf diesen richtet sich sein männlicher Blick, und in diesem erkennt er den Wert des Lebens. Dieses Sehen unterscheidet sich jedoch wesentlich von einem bisherigen blinden Verfügungsanspruch über eine von ihm Abhängige, der mit einem inzestuösen Makel behaftet war. Das kleine Mädchen, in dessen Schoß er bislang seine Füße stellte, ist ihm nun zu einem personalen weiblichen Gegenüber geworden. Der ‚arme‘ Heinrich, der der Welt bislang ausschließlich mit dem selbstbezüglichen Anspruch auf Heilung begegnete, wandelt sich damit zu einem sehenden Heinrich, der das Mädchen ‚sieht‘ und rettet. Der männliche Blick auf den nackten Frauenkörper ist dabei aber kaum losgelöst von einem männlichen Begehren zu denken,41 auch wenn der Text ein solches beredt verschweigt. Heinrichs mit dem Anblick des Mädchens verbundene explizite Einwilligung in die eigene Sterblichkeit steht somit, wenn man so will, in einem doppelten Sinn als Selbstopfer im Raum – sowohl als Zeichen der Hingabe an einen christlichen Gott42 als auch in einem sehr kreatürlichen Sinn als Hingabe an den beziehungsweise die leibhaftige andere. Mögen wir dergestalt eine Freisetzung des Begehrens, welche eine bewusste Verzichtsleistung erst ermöglicht, beobachten können, bleibt noch die Frage nach einer vormaligen Hemmung offen. Ebendiese aber ist es, die der Text in dem eigentümlichen Wechselspiel zwischen zwei Männern und einer Frau in Salerno abhandelt und einen wesentlichen Bestandteil des anfänglichen Dialogs zwischen dem Arzt und dem Mädchen ausmacht. Darin folgte einer Drohgebärde seitens des Mannes in der Ausmalung der ‚Operation‘ gegenüber dem Mädchen das Eingeständnis eigener Ängste. Daraufhin übernahm das Mädchen die Führung und forderte den Mann explizit dazu auf, sich nicht so viele Gedanken zu machen und einfach zur Tat zu schreiten. Es hätte als Frau die Kraft, das alles schon auszuhalten. Zwar geht es hier vorgeblich um die Prozedur des Blutopfers, aber vor dem Wissen um die metaphorische Bedeutung der nachfolgenden Operationsszene gibt dieser Dialog unschwer seinen sexuellen Gegenstand preis. Das Zögern und Zaudern des Arztes angesichts der Vorgabe, dem Mädchen weh tun zu müssen, das anspornende Verhalten des Mädchens und nicht zuletzt die mit dem sogenannten Opfer verbundene Blutassoziation lassen an das Szenarium einer Defloration denken, in der allerdings das Mädchen den aggressiven Part einnimmt und die Hemmung beim Mann liegt. Betrachtet man nun den Arzt als einen Doppelgänger Heinrichs, dann würde dessen Angst die Angst Heinrichs widerspiegeln. Ein offenes Begehren aber wird gänzlich in das Mädchen

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hineinverlegt, das dann seinen szenischen Höhepunkt in der exaltierten Selbstentblößung findet. Thematisiert wird hier also eine männliche Angst, die durch ein weibliches Begehren kompensiert wird. Der Mann wechselt dabei von der quasisadistischen ärztlichen Rolle des Quälenden in die Rolle desjenigen, der des Zuspruchs bedarf. Heinrich blickt schließlich als ein Voyeur durch das Loch in der Wand und beantwortet damit die herausgehobene Zeigelust des Mädchens mit seiner Sehlust.43 Es ist aber nicht nur der Anblick des nackten und außerdem gefesselten Mädchens, der bei Heinrich offenbar eine Hemmung löst.44 Die Schwäche des Mädchens lässt Heinrich stark werden, und in einem vorgeblichen Schutzimpuls findet er aus der Rolle des bedürftigen Opfers seiner Krankheit heraus und wandelt sich zum schutzgebenden Mann.45 Das Dreiecksszenarium zwischen Heinrich, dem Arzt und dem Mädchen ist jedoch auch so angelegt, dass der Arzt für Heinrich die Züge eines Rivalen annimmt, dessen Intentionen sich auf das gleiche Objekt richten.46 Heinrichs Begegnung mit dem ‚Rivalen‘ fördert wiederum das eigene verdeckte Begehren zu Tage, und dies bewirkt, dass er das Mädchen vor dem Zugriff des anderen retten muss. Retten und Begehren beziehungsweise Retten, um das eigene Begehren zu sichern, fallen zusammen. Heinrich lässt den Arzt dann schließlich in gewisser Weise als Larve seines alten Ichs zurück und bringt das Mädchen unbeschadet, das heißt unberührt wieder nach Hause. Heinrich hat in einem komplexen Sinn der Versuchung widerstanden, das Mädchen zu opfern. Vermieden wurde ein archaisches Blutopfer, das den Gott des Christentums nicht mehr zu erreichen vermocht hätte, vermieden wurde aber auch der sexuelle Übergriff eines ‚Vaters‘ auf seine ‚Tochter‘ beziehungsweise eines standeshöheren Mannes auf ein noch unberührtes Bauernmädchen. Stattdessen führt nun ein Bräutigam seine Braut heim. Die Zirkulation des Begehrens Heinrichs Entwicklung besteht darin, zwischenmenschliche Grenzen erkannt und gewahrt zu haben. Dem namenlosen Mädchen ist, wie in anderen Romanen Hartmanns auch, eine vergleichbare Entwicklung verwehrt.47 Es ist die auf Heinrich hin angelegte Figur, die Heinrichs verdecktes Begehren auszutragen hat und gleichzeitig in ihrer Hilflosigkeit Heinrich den Anlass zur Bewährung liefert. Es ist im Wesentlichen der Katalysator Heinrichs, sein schrankenloser Hingabewunsch nötigt Heinrich, die Grenzen zu ziehen. Der bewusste Akt von Heinrichs Grenzziehung ist es dann, mit dem sich das Symptom des Aussatzes gleichsam erübrigt. Nicht mehr der Aussatz schafft eine leidvolle Distanz, sondern Heinrich respektiert die Distanz vor dem anderen. Mit der Hochzeit am Ende der Erzählung siegt aber gleichwohl beider Begehren, das, nunmehr

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inzestuöser Enge enthoben, in dem regulierten Rahmen der Ehe seinen Ort findet.48 Öffnet man dergestalt das spektakuläre Blutopfer des Mädchens in seiner Deutung auf die Normalität sexuellen Begehrens, auf damit verbundene Versuchung und Versagung hin, verliert der christliche Horizont der Erzählung damit nicht an Evidenz, sondern gewinnt an Tiefe. Mit der Wahrnehmung einer mehrdimensionalen semantischen Struktur rücken regressive Selbstabkapselung und inzestuöse Versuchung als verdeckte Sünde in das Zentrum des Geschehens, und der mit dem Blutopfer verbundene männliche Verfügungsanspruch49 gewinnt eine neue, beunruhigende Präsenz. Dessen Überwindung vollzieht sich für das männliche Subjekt jedoch überraschenderweise als eine integrative Öffnung oder, anders formuliert, als Anerkennung des eigenen Begehrens. Der Blick zurück auf sich selbst, den Heinrich tut, lässt eine neue Distanz zwischen ihm und dem Mädchen entstehen, die das begehrte Objekt der Bedrohung enthebt, vom Triebwunsch verschlungen und vernichtet beziehungsweise ‚geopfert‘ zu werden. Erst der Blick zurück auf das eigene Begehren ermöglicht es dem Mann, dieses zu regulieren und die Frau zu retten, zu behüten und zu heiraten. Dann braucht diese nicht mehr, wie in einer späteren Fassung des ‚Armen Heinrich‘,50 hinter Klostermauern verbannt zu werden, um sie vor dem Mann und den Mann vor sich selbst zu schützen. Die Anerkennung des eigenen Begehrens ist demnach gleichbedeutend mit der Anerkennung der Frau. Diese vollzieht sich im ‚Armen Heinrich‘ als ihre ständische Erhöhung im Akt der Heirat. Der blinde Fleck der Erzählung aber ist das namenlose Mädchen. Es bleibt dem Leser überlassen, inwieweit er dessen exaltiertes Begehren als ein authentisches ansehen oder dieses als männliche Phantasie begreifen will. Die Figur des Mädchens erschöpft sich in der Absolutheit ihres Unterwerfungsanspruchs. Als eine namenlose Figur wird es vom Dichter nicht zu einer individuellen Existenz erweckt, sie bleibt namenlos wie das Begehren selbst. Allerdings hat sich Hartmann nicht zuletzt in den Reden seiner unterwürfigen Frauengestalten, so auch in denen des Mädchens, ein Denkmal gesetzt. In der Selbstdarstellung seines nicht eingelösten Begehrens überflügelt das Mädchen als sprachmächtiges Subjekt seine männlichen Mitspieler bei Weitem. In ihm, möchte man meinen, gewinnt der narzisstische, grenzüberschreitende Gedankenflug des Dichters an Höhe.51 Siebenhundert Jahre später baut auch Gerhart Hauptmann seine dramatische Nachdichtung des ‚Armen Heinrich‘ um einen drohenden Missbrauch patriarchaler Verfügungsgewalt auf. Dass Hauptmann die Untertöne in der mittelalterlichen Dichtung nicht überlesen hat, ist der Art und Weise zu entnehmen, wie sowohl Gottfried, Ottegebes Vater, als auch Heinrich das Mädchen zu

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Anfang bedrängen. Ottegebe wird gleichsam zwischen Vater und Heinrich in einen Schraubstock patriarchaler Anmaßung eingeklemmt. Hauptmann macht jedoch weniger eine inzestuöse Nähe als Heinrichs Krankheit zum Skandalon in der Beziehung zwischen Heinrich und Ottegebe. Anders als Hartmann, der Heinrichs Aussatz nur als abstraktes Zeichen in den Raum stellt, ohne ihm eine konkret-sinnliche Dimension zu verleihen, baut Hauptmann dieses Motiv aus. Heinrich, in fortgeschrittenem Stadium bereits zu einem räudigen Wilden geworden, unterliegt der Versuchung, das Mädchen „berühren“, „ergreifen“ und „besudeln“ zu wollen, und hält sich diese Versuchung damit vom Leib, dass er das Mädchen mit Steinwürfen auf Distanz hält.52 Hauptmann gibt dem ‚schmutzigen‘ Begehren Heinrichs das konkrete Gesicht des Aussatzes. Hier wie dort aber steht eine sexuelle Versuchung im Raum, und hier wie dort führt männliche Entsagung zur Befreiung. Während Versuchung und Entwicklung der Figuren im mittelalterlichen Epos allerdings noch der Projektionsflächen symbolischer Verschlüsselung und des Eingreifens einer göttlichen Macht bedürfen, teilen die sich selbst bespiegelnden Figuren im neuzeitlichen Drama offen ihre Reflexionen mit. Gottes Eingreifen und die Bedeutung der Operationsszene werden damit stark in den Hintergrund gedrängt. Die alte Botschaft der Triebzähmung formuliert Hauptmanns Heinrich im selbstbewussten Duktus der Moderne jetzt so: „Es ist ein stolzes Ding, die Lust verstehn und Herr der Freude sein!“,53 und die opferwillige Ottegebe54 darf bei ihrer Hochzeit den Triumph ihres Begehrens auskosten: „Nun sterb ich doch den süßen Tod!“55 Ottegebe aber, die bei Hauptmann zu einem Namen und auch zu reflexiven Selbsteinsichten gekommen ist,56 hat zugleich den eloquenten Glanz des Hartmann’schen Mädchens verloren. Sie ist zu einer Grenzgängerin geworden, über die sich vornehmlich Dritte austauschen. Im modernen Drama, in dem das Bild des Messers zurückgenommen wird, halten die männlichen Protagonisten nunmehr das Heft der Redehoheit umso fester in der Hand.

2 Glanz und Zorn Das ‚Nibelungenlied‘

2.1 Der Zorn der Heroen Heldenepische Formen der Wut im ‚Nibelungenlied‘

Das ‚Nibelungenlied‘1 steht im Kontext der großen mittelhochdeutschen Epen, die um 1200 entstanden sind, als ein Unikat im Raum. Seine Verwurzelung in einer germanisch-mündlichen Erzähltradition der Heldensage unterscheidet das Lied von anderen volkssprachlichen Epen seiner Zeit, die vornehmlich altfranzösische Stoffe und Quellen adaptierten. Formal bildet sich diese Andersartigkeit in der Tektonik von 2400 Langzeilenstrophen ab, die sich von dem gängigen Reimpaarvers abhebt. Eine konventionelle Unterscheidung zwischen höfischem Roman einerseits und Heldenepos andererseits wird in der Forschung gleichwohl immer wieder in Frage gestellt. Kraftvolle Helden bevölkern ja schließlich auch die französischen und deutschen Artusromane, während das ‚Nibelungenlied‘ unter anderem mit einem hochartifiziellen Kleiderluxus als Ausweis höfischer Verfeinerung aufwartet. Dennoch ist eine mentale Grenzlinie zwischen Artusromanen und ‚Nibelungenlied‘ nicht zu leugnen, die sich zumal unter dem Blickwinkel der Emotionen abzeichnet. Denn zivilisierte Distanzgefühle wie Scham und Mitleid, welche die Helden der deutschen Artusromane auf ihrem Aventiurenweg erleiden und entwickeln,2 kennt das zeitgleich entstandene ‚Nibelungenlied‘ so gut wie nicht. Das Personal des ‚Nibelungenliedes‘ kommt stattdessen noch einmal grandioser und archaischer daher als seine arthurische Konkurrenz. Der Prototyp des nibelungischen Helden hat keine Gefühle, sondern ist dieselben: Siegfried etwa ist die Verkörperung der Wut selbst. Die Helden des ‚Nibelungenliedes‘ führen uns unter dem Blickwinkel einer neueren Emotionstheorie,3 welche zwischen instinktgeleiteten Primäremotionen und stärker kognitiv beeinflussten Sekundäremotionen unterschiedet, in erster Linie die Kraft einer basalen emotionalen Triebwelt vor. Wenngleich diese nicht die Präsenz von rationalisierten Emotionswelten ausschließt, gründet sich doch das Faszinosum des ‚Nibelungenliedes‘ vor allem auf der Darstellung dieser grundlegenden emotiven Energien, die sich im Phänomen des Zorns verdichten. Die allgegenwärtige Emotion der Wut ist in ihrer elementaren Wucht im ‚Nibelungenlied‘ ohne Beispiel. Der heroische zorn, wie die Schlüsselvokabel des Liedes heißt, ist im ‚Nibelungenlied‘ keine beliebige Emotion unter anderen, sondern vielmehr die zentrale Energie, welche das Lied vorantreibt. Irritierend ist dabei für den heutigen Leser, dass der Autor sich kaum je von den Wutentladungen seiner Protagonisten und damit verbundenen Gewaltexzessen distanziert. Wut ist im ‚Nibelungenlied‘

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Das ‚Nibelungenlied‘

nicht oder nicht nur eine negative Emotion, als die wir sie heute vornehmlich begreifen.4 Dennoch geraten all jene charismatischen Figuren, die sich vom großartigen Rausch der Aggression tragen lassen, in den unerbittlichen Sog des Untergangs. Nur drei Nebenfiguren, die sich durch Zurückhaltung im Kampf und sogar durch Feigheitsverdacht auszeichnen, überleben die Katastrophe: der Hunnenkönig Etzel, sein Vasall Dietrich und dessen Waffenmeister Hildebrand. Alle namhaften Helden jedoch, die die Bewunderung und Teilnahme der Leser auf sich gezogen haben, wie Gunther, Siegfried, Hagen und andere, sterben eines blutigen Todes. Am Ende steht der Leser ratlos und erschüttert da. Hatten ihn hochgradig ästhetisierte Gewaltdarstellungen gleichsam mit in einen Rausch der Aggressionen hineingezogen, erlebt er den Fall der großen Helden nun umso schmerzhafter. Trauer bildet das kompensatorische Korrektiv der Ekstasen der Gewalt, und nach einem solchermaßen strapaziösen Wechselbad der Gefühle macht sich der neuzeitliche Interpret auf die Suche nach dem Sinn hinter der Zumutung eines ‚sinnlosen‘ Endes. Dabei tritt ein für das ‚Nibelungenlied‘ typisches emotionales Gefüge zu Tage. Die destruktive Dynamik des Liedes folgt offenbar einer emotionalen Logik, in deren Mittelpunkt die Emotion der Wut steht. Im Folgenden soll der Handlungsverlauf des ‚Nibelungenliedes‘ in Erinnerung gebracht werden, um von dort aus an verschiedenen Nahtstellen des Liedes charakteristische Muster der Wut vorzustellen. Die Wut, so wird sich zeigen, unterliegt geschlechts- und standesspezifischen Differenzierungen, ihre Präsenz oder Absenz prägt das Bild der einzelnen Figuren, und sie bestimmt die kollektive Dynamik zwischen den kriegerischen Parteien.5 * Das ‚Nibelungenlied‘ gliedert sich in zwei große Teile, in denen zwei verschiedene Sagenkreise miteinander verwoben sind, die Siegfriedsage und die Sage vom Untergang der Burgunden; beide verweisen zurück in die Völkerwanderungszeit des 5. und 6. Jahrhunderts. Der erste Teil des Liedes gipfelt in Anlehnung an Teile der Siegfriedsage in der Ermordung Siegfrieds durch Hagen, wobei ein historisches Vorbild für die Figur Siegfrieds im Dunkeln liegt.6 Der zweite Teil mündet in den Untergang der Burgunden am Etzelhof, initiiert durch den Racheimpetus der hinterbliebenen Kriemhild. Hier sind noch gewisse Reflexe auf einen historischen Burgundenuntergang im 5. Jahrhundert wiederzufinden.7 Zu Beginn des Liedes bricht nun der Königssohn Siegfried vom Xantener Hof auf, um in Worms um Kriemhild, die Schwester der drei Burgunderkönige Gunther, Gernot und Giselher, zu werben. Als Siegfried in Worms angekommen ist, weiß man dort den jugendlichen Heißsporn allerdings hinzuhalten – er muss sich die schöne Kriemhild erst verdienen. Siegfried zieht für die Burgunden zunächst in einen Krieg gegen die Sachsen und verhilft später Gunther

Der Zorn der Heroen

zu der sagenhaft starken Brünhild unter Einsatz seiner magischen Tarnkappe. Als Gegenleistung erhält er Kriemhild zur Frau. Nach der Doppelhochzeit macht sich Siegfried noch ein weiteres Mal bei der Überwindung Brünhilds am Wormser Hof nützlich. Denn diese hatte ihren Ehemann in der Hochzeitsnacht, statt sich ihm hinzugeben, kurzerhand an einem Nagel in der Wand aufgehängt. In der zweiten Nacht agiert Siegfried unter der Tarnkappe erneut für Gunther, und Brünhild wie Siegfried stellen im Schlafgemach Gunthers ihre exzeptionelle Wut in einem beispiellosen Kampf der Geschlechter unter Beweis. Auf Umwegen führt dieser Stellvertretereinsatz des starken Siegfried für einen schwachen Gunther aber zur Ermordung des provokativ Stärkeren. Als Kriemhild Jahre später öffentlich Ring und Gürtel als die Zeichen von Brünhilds Jungfräulichkeit vor dieser herzeigt und triumphal behauptet, es sei Siegfried gewesen, der sie entjungfert habe,8 wird im Anschluss der Plan einer Ermordung Siegfrieds ins Spiel gebracht und später von Hagen auf einer eigens dafür inszenierten Jagd vollzogen. Die Wiederverheiratung Kriemhilds mit dem Hunnenkönig Etzel, vor der Hagen vergebens gewarnt hatte, steht am Beginn des zweiten Teils und bietet schließlich einer zutiefst verletzten Kriemhild die Basis, von der aus sie langgehegte Rachepläne in die Tat umsetzt. Eine hinterlistige Einladung führt ihre Brüder und Hagen, dessen Warnungen erneut ungehört verhallen, an den Etzelhof, und hier entfaltet sich nun eine interaktive Dynamik zwischen Kriemhild und Hagen, hunnischen und burgundischen Kampfverbänden, in der wechselseitige Vergeltungssucht als Antwort auf Kränkungen den Ton angibt. Die Funken des Zorns springen von Mann zu Mann und von einer Partei zur anderen über. Grandiose Kampfszenen zeugen von einer verselbständigten Wut, die nur mehr sich selbst feiert und von keinem mehr zu zügeln ist. Hagen ist, nachdem seine Warnungen zweimal in den Wind geschlagen wurden, der große Anführer einer entfesselten Gewalt. Als alle burgundischen Könige tot sind, stirbt er als Letzter von der Hand Kriemhilds. Ein zorniger Hildebrand rächt diesen unehrenhaften Tod seines großen Gegners, indem er Kriemhild, seine eigene Königin, in Stücke haut. Der Ich-Erzähler sagt in der letzten Strophe: Ine kan iu niht bescheiden,   waz sider dâ geschach, wan ritter unde vrouwen   weinen man dâ sach, dar zuo die edeln knehte,   ir lieben friunde tôt. hie hât daz maere ein ende:   daz ist der Nibelunge nôt. (2379) Ich kann euch nicht sagen, was danach geschah, nur so viel kann ich sagen, dass man sah, wie Ritter, Frauen und edle Knappen den Tod ihrer treuen Freunde beweinten. Hier findet die Geschichte ihr Ende. Das ist „der Nibelunge Not“.

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* Die ultimative Eskalation von Gewalt in den Schlussaventiuren hat im Lied ihre an die Emotion Wut gebundenen Vorläufer und Vorzeichen. Schauen wir zunächst auf die Ankunft Siegfrieds am Wormser Hof. Hier ist es Hagen, der den fremden Helden als den starken Siegfried aus Niederland zu identifizieren weiß und die Könige über dessen mythische Vergangenheit aufklärt (84 ff.). Wir erfahren aus seinem Mund, dass die Nibelungenkönige Schilbung und Nibelung im Land der Nibelungen mit der Bitte um Teilung des Nibelungenschatzes an Siegfried herangetreten sind. Wir erfahren von ihrer Unzufriedenheit und ihrem Zorn, von einem darauf seinerseits in Zorn geratenden Siegfried, der die unzufriedenen Könige und zwölf ihrer Gefolgsleute kurzerhand umbringt (94) und sich daraufhin, nach einem Kampf mit Alberich, dem Hüter des Schatzes, selbst zum Herrn desselben macht. Und bemerkenswerterweise fällt die Schlüsselvokabel vom zorn, die fortan allgegenwärtig sein wird, zum ersten Mal im Rahmen dieser Erzählung von Siegfrieds mythischer Vorgeschichte (93,4). Zorn als der dominante Affekt des ‚Nibelungenliedes‘ findet damit seine beispielhafte und primäre Form im mythischen Kontext, in der todbringenden Begegnung mythischer Gestalten. Zum Mythos gehört aber auch, dass der Zorn in einer quasi wertfreien Zone angesiedelt ist. Es gibt weder Gute noch Böse, sondern nur Sieger und Besiegte. In der epischen Gegenwart am Wormser Hof warnt Hagen nun davor, sich den Zorn dieses furchtgebietenden Mannes zuzuziehen, und empfiehlt, ihn entgegenkommend zu begrüßen. „Wir suln den herren  empfâhen deste baz, daz wir iht verdienen  des jungen recken haz. sîn lîp der ist sô küene,  man sol in holden hân, er hât mit sîner krefte  sô menegiu wunder getân.“ (101) „Wir müssen den jungen Herren möglichst zuvorkommend aufnehmen, damit wir uns nicht etwa die Feindschaft des jungen Recken zuziehen. Er ist so tapfer, dass es dringend geboten scheint, ihn zum Freund zu haben. So viele wunderbare Taten hat er mit kraftvoller Hand vollbracht!“

Gunther beherzigt sehr wohl Hagens Empfehlung, muss aber die Erfahrung machen, dass Siegfried auf die Frage nach dem Grund seines Kommens zu einer provokativen Rede ansetzt, die alle höfischen Konventionen sprengt und wieder den vreislîchen man (97,4) hervorkehrt: Er wolle die Kampfkraft der burgundischen Könige auf die Probe stellen und sich, falls diese ihm unterliegen sollten, deren Besitz und Ländereien untertan machen.

Der Zorn der Heroen

„Nu ir sît sô küene,  als mir ist geseit, sone ruoche ich, ist daz iemen  liep oder leit: ich will an iu ertwingen  swaz ir muget hân: lant unde bürge,  daz sol mir werden undertân.“ (110) „Da Ihr so überaus tapfer seid – jedenfalls hat man mir das berichtet –, so kümmere ich mich nicht darum, ob es jemandem angenehm ist oder es ihn stört: Alles was Ihr in Eurem Besitz habt, Reiche und Burgen, will ich Euch mit Gewalt abnehmen. Alles werde ich in meine Hände bekommen.“

Nun schlagen erstmals die Wellen des Zorns auf beiden Seiten hoch. Das burgundische Gefolge ist kaum mehr zu zügeln, allen voran will Ortwin von Metz, der Neffe Hagens, sofort zum Schwert greifen. Dass es aber ein rangniederer Gefolgsmann wagt, ihn, Siegfried, den Königssohn aus Xanten, herauszufordern, reizt wiederum Siegfried bis aufs Blut. Gernot und Gunther schreiten schließlich ein, Gernot erteilt seinen Leuten Redeverbot und Gunther schafft es, indem er Siegfried seiner großzügigen Gastfreundschaft versichert (127), diesen nicht nur zu befrieden, sondern obendrein in den Wormser Herrschaftsverband einzugliedern. Damit sind gewisse Koordinaten abgesteckt: Zorn in seiner energetisch aufgeladensten Form ist primär Teil einer mythischen, gegenhöfischen Welt. Dort fällt er zusammen mit dem archaischen Gesetz der Gewalt, das dem Stärksten die Macht zufallen lässt. Anders verhält es sich jedoch am Wormser Hof, wo derjenige über die Herrschaft verfügt, der seinen Zorn zu zügeln vermag. Als solcher macht Gunther sich zum Herrn über diejenigen, die ganz in ihren Affekten aufgehen. Die Figur Siegfrieds dokumentiert zwar insofern einen königlichen Status, als sie sich letztendlich doch nicht zu einer unbedachten Tat hinreißen lässt, steht aber als eine Gestalt mit hoher Reizbarkeit und mythischer Vergangenheit fürs Erste als ein triebgesteuerter Fremdkörper im höfischen Raum zu Worms. Gunther integriert diesen heroischen Fremdkörper jedoch, indem er dessen aggressive Potenz in den Kriegsdienst einbindet. Der Krieg gegen die Sachsen (4. Av.) gibt ihm den willkommenen Anlass, sich Siegfrieds Stärke zunutze zu machen, und Siegfried wiederum die Gelegenheit, seine Kraft öffentlich zur Schau zu stellen. Mit dem Aufbruch zum Krieg nimmt Siegfried dann Gunther gleichsam das Szepter der Macht ab, indem er sich zum Heerführer der Burgunden macht und alle Männer in der energetischen Eruption seines eigenen unbändigen Kampfeswillens mit sich reißt. Der Sieg ist überwältigend. Die Könige der Gegenseite, Liudeger und Liudegast, boten allerdings adäquate Gegner, die ihrerseits in großen Zorn gerieten und den Burgunden und Siegfried eine „schöne“ Schlacht lieferten. Mit Kriegsende wird der große zornmütige Heerführer und Sieger dann von Gunther jedoch wieder in seine Grenzen verwiesen.

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Ein weiteres Mal macht sich Siegfried bei der Erwerbung der starken Brünhild für Gunther unverzichtbar (6. Av.). Brünhild fällt insofern aus dem Muster der patriarchalen Geschlechterordnung in Worms, die nach ängstlichen Frauen und kampfeswilligen Männern unterscheidet, heraus, als sie auch ihrerseits in einen quasimännlichen Zorn zu geraten vermag und Siegfried später im Schlafgemach Gunthers fast in die Knie zwingt (671 ff.). Hier aber findet Siegfried wieder den Anschluss an seine energetischen Ressourcen, indem er stellvertretend für sein ganzes Geschlecht in einen großen überpersönlichen Zorn gerät: Wenn es ihm jetzt nicht gelänge, Brünhild in ihre Schranken zu verweisen, wäre es um die Zukunft des männlichen Geschlechts schlecht bestellt (673) – so die Einsicht, die ihm den Zorn und die Kraft verleiht, Brünhild zu besiegen. Dass aber Siegfried später am Wormser Hof selbst zum Opfer wird, entlarvt nur seine soziale Inkompetenz. Siegfried steht auch als der Held da, dessen enorme affektiv-energetische Aufladung an eine unübersehbare soziale Blindheit gebunden ist, der die Motive seiner Umgebung nicht zu durchschauen vermag, weil er geblendet ist von seiner Suche nach Anerkennung. Noch auf der Jagd, die Hagen um seiner Ermordung willen inszeniert hat, richtet sich unmittelbar vor seinem Tod seine Erwartung auf die Anerkennung der Freunde, die er nicht als seine Feinde zu erkennen vermag. Im zweiten Teil hat sich Hagen nun mit der Ermordung Siegfrieds auf der Ebene des Mythos zu dessen Nachfolger gemacht. Am Etzelhof wird er als derjenige bestaunt, der den starken Siegfried getötet hat (1733). Hagen kommt das Adjektiv grim zu, er ist der grimme, wilde und zornige Hagen. Sukzessive nimmt er Gunther die Macht ab und setzt dessen herrscherlicher Funktion der Affektregulation die Eskalation von Gewalt entgegen. Damit verliert Gunther im zweiten Teil nach und nach seine herrscherliche Identität, die ihn aus dem übrigen Kampfverband herausgehoben hatte, und wird am Schluss zu einem Krieger unter anderen, der sich von der Woge der Affekte tragen lässt. Wo Gunther den Kampf nicht aufhalten kann, stellt er sich mit in die erste Reihe (1968). Dieser Einsatz der Könige trägt im Lied zu dem Mythos der sagenhaften burgundischen Kampfkraft bei, die Kommentare der Bewunderung auf sich zieht, aber zugleich Zeugnis eines fatalen Ordnungsverlustes abgibt. Anstelle einer ordnungsstiftenden hierarchischen Struktur tritt das paradigmatische Zusammenhalten der Burgunden, die sogenannte Nibelungentreue,9 welche nichts anderes beschreibt als das massenpsychologische Phänomen, dem gemäß sich eine ängstliche und orientierungslose Gruppe um einen idealisierten, haltgebenden Führer schart. Der Halt ist in diesem Falle Hagen, der väterliche Schutzhandlungen gegenüber der Gruppe mit einem trotzigen Willen zum Untergang verbindet. Er ist derjenige, der alle Burgunden mit eigener Kraft über die reißende Donau setzt (1573), aber auch der, der am Ende das Boot zerschlägt (1581), weil er weiß, dass es keine Rückkehr mehr geben wird. Hagen hält in der ersten Nacht am Etzelhof vor dem Schlafsaal

Der Zorn der Heroen

Wache (30. Av.), schwört aber auch am anderen Morgen seine Männer auf dem Weg zur Kirche auf einen Kurs brutaler Gewalt im Umgang mit den Hunnen ein (1858). Hagen ist derjenige, der seine Krieger ermuntert, sich in der Erschöpfung des Kampfes am Blut der Toten zu laben, und damit ihr Überleben ermöglicht (2114), aber auch der, der am Ende ohne zu zögern Gunthers Kopf an Kriemhild ausliefert (2368/69), als diese das Geheimnis des Hortes von Hagen erfahren will. Dass Hagen Etzel als feige beschimpft, weil er nicht mitkämpfe, nimmt nicht wunder (2020). Etzel seinerseits vermag zu Anfang noch, die provokative Tötung eines Hunnen durch einen streitsüchtigen Volker zu befrieden, das heißt den Zorn der hunnischen Verwandten aufzuhalten (1894 ff.), tritt dann aber zunehmend mehr hinter Kriemhild zurück, die ihren Groll darin umsetzt, Etzels Leute Mann um Mann, Hundertschaft um Hundertschaft gegen die Burgunden in den Kampf zu schicken. Etzel wird zwar nicht zum Mitkämpfer, aber er geht neben dem Rachewillen Kriemhilds seiner regulierenden Herrschaftsfunktionen ebenso verlustig wie Gunther neben Hagen. Entfesselte Affekte als Reaktion auf Kränkungen, die Kühlung in der Rache suchen, springen im zweiten Teil als nicht mehr aufzuhaltende zwischen den Parteien hin und her. Alle namenlosen Krieger beider Seiten werden getötet, und zum Schluss töten sich auch noch die großen Helden wechselseitig. Der erste ‚große‘ Tod in diesem Sinne ist im zweiten Teil der Tod Rüdigers, der von der Hand Gernots fällt wie jener durch ihn (37. Av.). Der Tod Rüdigers, der als Vasall Etzels und Schwiegervater der Burgunderkönige beiden Kriegsparteien verbunden war, setzt die entscheidende Zäsur in der Feier der Gewalt. Sein Tod macht hinter dem ekstatischen Rausch der Schlacht die unwiederbringliche Zerstörung sozialer Existenz sichtbar und lässt die Krieger in ihrer Trauer vorübergehend im Kampf innehalten. Aber so, wie der Kampf danach wieder weitergeht, ist auch die Figur Rüdigers selbst zutiefst ambivalent. Zwar stürzt ihn seine Loyalität gegenüber Etzel in einen Konflikt, denn er hatte Giselher gerade noch seine Tochter versprochen, aber der Figur fehlt noch das Vermögen, diesen Konflikt produktiv zu bewältigen. Weil nach feudalem Muster seine Verbindlichkeiten gegenüber Etzel schwerer wiegen, stürzt er sich in selbstmörderischem Habitus in einen aussichtslosen Kampf gegen die Burgunden, in dem er einen der Könige tötet und obendrein selbst fällt. Rüdiger unterscheidet sich zwar in der Bewusstwerdung eines Konflikts von den meisten anderen Protagonisten des ‚Nibelungenliedes‘, die nur blinde Gefolgschaft kennen, aber er dokumentiert gleichwohl noch eine ungezügelte Kampfeswut. Als etwa ein Hunne den im Angesicht der Toten weinenden Rüdiger der Feigheit bezichtigt, befördert er diesen mit einem einzigen Faustschlag vom Leben zum Tod (2142). Etzel reagiert verärgert. Die erotische Hassbeziehung Kriemhilds und Hagens, der Hauptfiguren des zweiten Teils, mündet schließlich in dem masochistischen Triumph ihres wechselseitigen Todes. Kriemhild enthauptet Hagen und Hildebrand rächt Hagen an

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Kriemhild. Der große entgrenzende Zorn macht in einem großen Blutbad alle gleich und fordert von denjenigen, die in den Sog rauschhafter Selbst­auflösung geraten sind, den Preis ihres Lebens. * Im Lichte einer hermeneutischen Textinterpretation, die auf emotionstheoretische Erklärungen zurückgreift, wird für das ‚Nibelungenlied‘ ein komplexer emotionsbezogener Vorstellungsraum sichtbar, der nicht zuletzt die hohe Reflexivität des Autors erkennen lässt.10 Folgendes bleibt zu resümieren: 1. Zorn ist im ‚Nibelungenlied‘ eine ursprünglich positive Energie. Je unverstellter ein Held Zugang zu dieser energetischen Quelle hat, umso kraftvoller ist er. Der Rausch der Aggression erfüllt ihn dabei subjektiv mit einem Gefühl der Allmacht und gibt darüber hinaus auch seiner Umgebung Anlass, ihm diese zuzuschreiben.11 Entsprechend sind charismatische Führungsqualitäten im ,Nibelungenlied‘ wesentlich an die Primäremotion der Wut gebunden. Narzisstische Selbstüberhöhung, das Ausagieren von Wut und die Zuschreibung von Kraft fallen im ‚Nibelungenlied‘ im Wesentlichen zusammen. Paradigmatisch hierfür steht die Figur Siegfrieds, dessen Heldentum zutiefst ambivalent ist. Zwar ist er der Größte, Schönste und Stärkste, der die Übrigen einlädt, sich in seinem Glanze zu spiegeln – gleichzeitig haftet ihm aber auch das Defizit eines mangelnden sozialen Distanzierungsvermögens an. Seine Wut macht ihn lebendig und begehrenswert, aber auch gefährlich. Das Kollektiv stößt ihn da wieder von sich, wo er nur den eigenen Trieb zur Selbstdarstellung kennt. 2. Von den charismatischen Heerführern unterscheiden sich im ‚Nibelungenlied‘ die politischen Führungsgestalten, allen voran Gunther. Sie geraten kaum je in Zorn, sondern bedienen sich vielmehr der Affekte ihrer Gefolgsleute. Die Position der Herrscher zeichnet sich durch Selbstbeherrschung aus, die der Krieger hingegen durch schnelle affektive Reizbarkeit. Ein selbstbeherrschter König wie Gunther ist jedoch insofern abhängig von seinen Kriegern, als für ihn mit wachsender kognitiver Distanzierung auch eine Schwächung seiner physischen Potenz einhergeht. Gunther ist derjenige, der sich selbst und andere zu kontrollieren und zu lenken versteht, gleichwohl aber in seiner Männlichkeit hinter Siegfried zurückstehen muss: Der Glanz des primär herausragenden Helden fällt nicht auf ihn, sondern auf Siegfried. Ein affektbetonter Siegfried aber bleibt seinerseits abhängig von einem ihn kontrollierenden Gunther. Die solchermaßen defizitäre Ausgangsposition beider Könige, die sich in kompensatorischer Abhängigkeit voneinander befinden, gibt den Nährboden für eine destruktive Rachelogik ab. Uneingestandene Rivalität und verdeckte Wut treiben das Untergangsgeschehen im ersten Teil voran. Im zweiten Teil kann die Eskalation von

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Gewalt ihren Lauf nehmen, weil die Herrscherfiguren auf beiden Seiten als Affektregulatoren versagen. 3. Die Qualität eines großen Zorns kommt in erster Linie den Männern zu und unter diesen wiederum nur den Kriegern. Paradigmatisch wird dies zu Anfang im Sachsenkrieg vorgeführt, wo der Funke der Aggressionslust nach allen Seiten hin überspringt (4. Av.). Freund und Feind spenden einander in einem großen Kampf Anerkennung und Bestätigung. Knechtsfiguren wie der Nibelunge Alberich und selbst Frauen wie Brünhild stellen keine adäquaten Gegner dar, an denen sich der männliche Rausch der Aggression entzünden könnte. Beiden gegenüber nimmt sich Siegfried im Kampf zurück. Der Rausch der Grenzüberschreitung, den eine Schlacht zu bieten hat, ist an den ebenbürtigen Gegner gebunden. 4. Komplementär zur Aggressionslust der Männer werden im ‚Nibelungenlied‘ den Frauen die Emotionen Angst und Trauer zugeschrieben. In ihren Träumen nehmen sie zukünftiges Unheil vorweg, aber die Männer schlagen ihre Warnungen in den Wind. Sie bleiben weinend zurück, wenn die Männer in den Kampf ziehen. Auf der anderen Seite aber zeigt sich eine basale Abhängigkeit der Männer von den Frauen unter anderem darin, dass die männlichen Sieger ihren Sieg über den Gegner erst im Spiegel der imaginierten Trauer der Frauen recht eigentlich auszukosten vermögen (u. a. 200,4). Der tote Gegner erhält seinen Wert durch die Frauen, die ihn beweinen. Verausgabung im Kampf meint entsprechend immer auch den männlichen Triumph über eine als dominant erlebte Frauenwelt. Für eine solchermaßen bedrohliche matriarchale Gegenwelt stehen Brünhild und Kriemhild, in deren Nähe den Männern die Gefahr droht, ‚klein‘ zu werden. 5. Das ‚Nibelungenlied‘ baut eine spezifische Spannung um die ambivalente Qualität des Zorns auf. Zunächst steht Zorn als ein primärer Affekt für Lebenskraft schlechthin, der in hochgradig ästhetisierten und stilisierten Kampfszenen Anlass zu grenzenloser Bewunderung und identifikatorischen Hochgefühlen gibt. Wo zornmütige affektive Hingabe jedoch weithin gefeiert wird, gerät sie andernorts zur Fratze eines grundsätzlichen sozialen Unvermögens. Die Ekstase des Kampfes, die eine narzisstische Unverletzbarkeit suggeriert, mündet dann in die tiefempfundene Trauer der Überlebenden. Verzweiflung und Trauer bringen im ‚Nibelungenlied‘ nach den Hochgefühlen des Zorns die Waagschale der Affekte wieder ins Gleichgewicht – um den Preis eines schmerzhaften emotionalen Absturzes von Protagonisten und Rezipienten. Im imaginativen Raum des Liedes wird damit eine emotionsbezogene Mehrschichtigkeit sichtbar, in der ein Konglomerat von sowohl heroisch-archaischen als auch modern-rationalen Perspektiven ineinandergreift. Das Nibelungenlied überrascht den neuzeitlichen Leser damit, dass es den großen Zorn der Heroen zugleich entlarvt – und feiert.

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2.2 Kriemhild als grausame Mutter Die Darstellung mütterlicher Grausamkeit in Mittelalter und Neuzeit

Die weibliche Hauptfigur des ‚Nibelungenliedes‘,1 das von dem Meuchelmord an Siegfried und dem nachfolgenden Untergang aller Burgunden erzählt, in deren Mitte sich diese Schreckenstat ereignet hat, ist Kriemhild. Die Figur Kriemhilds und ihr Racheimpetus bilden die Klammer des Liedes. Dabei nimmt Kriemhild im Verlaufe der Handlung unterschiedliche soziale Rollen ein: die der gefügigen Schwester, die unter der Obhut ihrer Brüder steht, die der großen Liebenden, die mit dem strahlenden Siegfried eine höfische Minnebeziehung eingeht, die der ehrfurchtgebietenden Gattin und Herrscherin am Etzelhof und die der Mutter, die einen Sohn Siegfrieds und einen Sohn Etzels zur Welt bringt. Kriemhilds grandioser Rachefuror ist einerseits mit all diesen Rollen verbunden und bringt sie am Ende doch auch wieder zum Verschwinden. Am Schluss steht sie nur noch als furchterregende Rachegöttin da, die sich ihrer alles verschlingenden Rache selbst zum Opfer bringt. Die Figur Kriemhilds bringt eine zutiefst ordnungsfeindliche Triebwelt zur Darstellung und fordert uns dennoch Mitgefühl ab als eine Gestalt, in der uns die provokative Identität von Täterin und Opfer vorgeführt wird. Sie ist ein Prisma, in dem sich unterschiedlichste Schuld- und Unschuldsvermutungen brechen. Die mit der Figur verbundene Verstörung verdichtet sich auf eigentümliche Weise, wenn der Leser Kriemhild in ihrer Rolle als Mutter sieht. Im ‚Nibelungenlied‘ lässt sie zunächst nach dem Meuchelmord an Siegfried den gemeinsamen Sohn in Xanten zurück, um in Worms bei den Mördern zu bleiben. Hier ein bürgerliches Familienideal ins Spiel bringen zu wollen, würde allerdings den epischen Kontext verfehlen. Kriemhilds Verbleib in Worms steht für ihre Sippenbindung, für nicht mehr und nicht weniger. Augenfälliger nimmt sich ein späteres Szenarium am Etzelhof aus. Hier wird sie, nachdem die Burgunden ihrer hinterlistigen Einladung gefolgt sind und schwerbewaffnet in Etzels Saal Platz genommen haben, Etzels und ihren Sohn Ortlieb an die Tafel holen lassen. Der Text lässt keinen Zweifel daran, dass Kriemhild damit Hagen den Anlass liefern will, mit der Ermordung des Kindes die Kampfhandlungen voranzutreiben. Als solche ist die Szene eingebettet in die Stofftradition des Nibelungenmythos, die für dieses Szenarium unterschiedliche Fassungen bereithält. Uns stellt sich hier die Frage nach den variierenden Gestaltungen, denen Kriemhild als grausame Mutter in diesen Texten unterliegt. Ein knapper Überblick von der nordischen

Kriemhild als grausame Mutter

Sagenwelt über das mittelhochdeutsche ‚Nibelungenlied‘ bis zu Rezeptionen im 19. und 20. Jahrhundert will den Versuch unternehmen, Wandlungen zwischen Archaik und Moderne sichtbar zu machen. * Eine der rigidesten Formen mütterlicher Grausamkeit überliefert das ‚Alte Atlilied‘ der ‚Edda‘,2 in dem Gudrun den Tod ihrer Brüder an ihrem Gatten Atli rächt. Atli lädt hier Gunnar und Högni aus Gier nach dem Nibelungenschatz ein. Gunnar stirbt jedoch in der Schlangengrube, ohne das Geheimnis preiszugeben, nachdem er sich zuvor das Herz Högnis hat zeigen lassen. Als Atli zurückkommt, setzt Gudrun ihm im Gegenzug ein mit Honig gewürztes Mahl aus den Herzen seiner Söhne Erp und Eitil vor. Anschließend gibt sie in höhnendem Triumph öffentlich preis, was Atli da „gekaut“ (Str. 37,4) habe und antizipiert dessen Verdauungs- und Ausscheidungsprozess seiner eigenen Söhne. Das Gefolge tobt, klagt und weint, Gudrun aber vergießt weder eine Träne um ihre „bärenkühnen“ Brüder noch um ihre „blühenden“ Kinder (Str. 39). Später ersticht sie den betrunkenen Atli im ehelichen Bett mit dem Schwert und legt ein Feuer, nicht ohne vorab die Hunde von der Kette gelöst und vors Tor getrieben zu haben. Sie selbst kommt mit den anderen um. Atlis Verletzung der Sippenbindung, die Gudruns Ehre beschädigt hat, lässt sie in dieser Erzählung ohne Verzug zur Rache schreiten. Sie nimmt Atli, der ihr die Brüder genommen hat, im Gegenzug das Kostbarste, das er seinerseits besitzt, seinen ganzen Stolz und seine Hoffnung: die beiden Söhne. Aber mehr als das macht sie obendrein einen geschlechtlichen Fortpflanzungsvorgang von Zeugung und Geburt gleichsam im untergeschobenen Prozess des Verschlingens und Verdauens wieder rückgängig. Gudrun entmannt Atli indirekt, indem sie seine Zeugungskraft verhöhnt und ihn zu einem weiblich-verschlingenden Ungeheuer macht. Dann nimmt sie selbst das Schwert in die Hand und macht sich in der Tötung Atlis ihrerseits zum quasimännlichen Gewalttäter. Wo Atli aufgrund seiner Habgier seine männlich-schutzgebende Geschlechterrolle verfehlt, verkehren sich nun die Rollen von Mann und Frau in ihr monströses Gegenteil: Gudrun wird schwerttragend zum Mann und Atli, die Herzen seiner Söhne verzehrend, zur verschlingenden Urmutter. Eine aus den Fugen geratene Ordnung versinnbildlicht sich, wenn man so will, in einer Pervertierung der Geschlechter. Die Episode führt uns vor, dass ein archaischer Sippenverbund das Individuum nicht aus sich heraus existieren lassen kann. Wo dem Einzelnen die positive identifikatorische Einheit, die Selbstwert und Macht verleiht, genommen ist, bedarf es des destruktiven Zugriffs auf den anderen, um wieder eine kompensatorische Eigenmächtigkeit spüren zu können. In jedem Fall muss der andere spürbar bleiben, wo nicht in der ehelichen Begattung, so im Zugriff des Tötungsaktes, wo nicht

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im Fest, so im Kampf. Auch Gudruns Mutterrolle gewinnt ihre Funktion allein aus der Spiegelung durch das Kollektiv. Wo Atli aus der Rolle des schutzgebenden Mannes herausfällt, fällt auch Gudrun wie in einem Dominospiel aus der Rolle der schutzgebenden Mutter heraus und zeigt deren bedrohliche Kehrseite einer destruktiven mütterlichen Verfügungsmacht. Die Söhne des Mannes, der sie verletzt hat, haben in ihrem Leben keinen Platz mehr, nicht anders als bei der griechischen Medea, die ihre Kinder tötet, nachdem Jason sie verlassen hat. Auch für sie selbst gibt es in dieser Welt keinen Platz mehr. Wo in der Welt der Sage alles Glück und alles Unglück nach außen projiziert wird, haben die Gestalten keinen inneren Raum für ihren Schmerz. Erlösung liegt allein im Tod, in den Gudrun als Rächerin mit der Idee einer wiederherzustellenden sozialen Ganzheit hineingeht. So weit die Botschaft dieser altnordischen Dichtung. Im mittelhochdeutschen ‚Nibelungenlied‘, das Siegfriedsage und den Burgundenuntergang miteinander verbindet, nimmt Kriemhild jetzt Rache an ihren Brüdern für die Ermordung Siegfrieds. Dabei setzt sie, mehr oder minder verdeckt, das Leben ihres und Etzels Sohns Ortlieb ein, um die Kampfhandlungen eskalieren zu lassen. Die ‚Thidrekssaga‘ liefert hierzu eine Version, die noch einmal deutlich archaischere Züge trägt. Der Ortlieb des ‚Nibelungenliedes‘ heißt hier Aldrian. Die ‚Thidrekssaga‘ erzählt Folgendes:3 Aldrian, der Sohn Grimhilds und Attilas, kommt auf dem Festgelage im Garten zu Grimhilds Hochsitz gesprungen und küsst seine Mutter. Grimhild überredet ihren Sohn daraufhin, zu Högni hinüberzulaufen und diesen mit aller Kraft, die ihm zur Verfügung stünde, mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Damit könne er seine Tapferkeit unter Beweis stellen. Der Junge kommt der Aufforderung nach, der aufgebrachte Högni durchschaut sofort die dahinter stehende Einflüsterung Grimhilds, haut dem Kind mit einem Griff zum Schwert umgehend den Kopf ab und schleudert diesen Grimhild an die Brust. Dem Erzieher des Jungen schlägt er ebenfalls den Kopf ab. Erwartungsgemäß fordert Attila daraufhin die Hunnen zum Angriff auf. So weit erzählt die ‚Thidrekssaga‘ eine Episode, in der Motiv und Tat offen zu Tage liegen. Grimhild liefert ihren Sohn an Högni aus, um einer Provokation Attilas willen, Aldrian setzt sie dabei sozusagen als ihren verlängerten Arm ein. Sie trägt dem Kind ein ‚Spiel‘ auf, von dem sie weiß, dass Högni es nicht als solches hinnehmen wird, und setzt auf die Ansteckung der Affekte. Es geht ihr darum, die übrigen Beteiligten gleichsam auf das Niveau ihrer eigenen wütenden Rachsucht zu bringen, und ihr Kalkül geht auf. Irritierend für den neuzeitlichen Leser ist dabei jedoch die Tatsache, dass Mutter und Kind bei dieser Aktion in einem engen emotionalen Einvernehmen, oder anders formuliert, einer quasi-intakten Mutter-Kind-Bindung, vorgestellt werden. Dabei funktioniert die Aktion nicht etwa obwohl, sondern gerade weil es diese

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Bindung gibt. Aldrian agiert auf dieser Basis stellvertretend für die Mutter, und Högni seinerseits macht, wenn er dem Kind wütend den Kopf abschlägt, keinen entscheidenden Unterschied zwischen Mutter und Sohn. Es ist, als ob ein jeder teilhätte am anderen und eine große Wut nähren würde. Högni will Grimhild treffen, indem er das Kind trifft, und Grimhild will Högni treffen, indem sie die Reaktion Attilas antizipiert und provoziert. Dabei erweist sich, dass Grimhilds Hass auf Högni stärker ist als die Bindung an ihren Sohn. In der Stunde der Kränkung und Verletzung siegt eine regressive Hassbindung an die angestammten Blutsverwandten über eine progressive Bindung an den eigenen Nachfahren. Dieser fällt dem unbedingten Willen zum Untergang gleichsam genauso beiläufig zum Opfer wie die Hauptakteure selbst. Eine variierende Fassung dieser Episode aus der ‚Thidrekssaga‘ findet sich in der ‚Heldenbuchprosa‘.4 Diese tilgt die verstörende Zärtlichkeit zwischen Mutter und Sohn und lässt es zu einem zweimaligen Schlag kommen. Den ersten verzeiht Hagen noch, Gudrun fordert aber das Kind ein zweites Mal auf und erst dann kommt es zur Enthauptung. Hier haben wir es wieder mit einer eindeutig bösen Mutter zu tun. Eine irritierend enge Mutter-Kind-Bindung bietet auch das jüngere ‚Grönländische Atlilied‘ der Edda an.5 Dieses kennt nicht nur die grausige Mahlzeit – hier dient der Schädel der Kinder als Trinkschale, dem Bier ist ihr Blut beigemischt und die Herzen werden am Spieß gebraten –, sondern auch die Tötung selbst, die im ‚Alten Atlilied‘ nicht Gegenstand der Darstellung ist. Gudrun lockt hier die Kinder auf eine Bank, diese erschrecken sich zwar, weinen aber nicht und schmiegen sich in ihren Schoß. Auf Nachfrage der Kinder, was geschehe, antwortet sie: Gudrun: „Danach fragt nimmer! Vernichten will ich euch: Lust hatt ich lange, euch vom Leben zu heilen.“ Die Knaben: „Hinschlachten kannst du uns, dich hindert keiner; nicht ruht die Rachgier, wenn du’s recht erprobst.“ (Str. 76)

Daraufhin schneidet Gudrun ihnen die Kehle durch (Str. 77,4).6 Grandioser lässt sich wohl eine heroische Todesverachtung in einem Mutter-Kind-Kontext kaum mehr in Szene setzen. Die Mutter scheut sich nicht, ihren Hass zu offenbaren,

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und die Kinder fügen sich klaglos und sehenden Auges in ihr Schicksal, als ob der Tod von der Hand der Mutter noch das Leben selbst bereithielte. * Im ‚Nibelungenlied‘ selbst bekommt nun die Ortlieb-Episode noch einmal eine andere Wendung, hier ist die Kommunikation deutlich hintergründiger angelegt. Der emotionale Mutter-Kind-Bezug, der in der ‚Thidrekssaga‘ und im ‚Grönländischen Atlilied‘ noch beschworen wird, fehlt dabei ebenso wie der Faustschlag des Kindes. Zunächst berichtet der Text, dass Kriemhild ihren Sohn an die Tafel holen lässt: Dô der strît niht anders  kunde sîn erhaben (Kriemhilt ir leit daz alte  in ir herzen was begraben), dô hiez si tragen ze tische  den Etzelen sun. wie kunde ein wîp durch râche  immer vreislîcher tuon? (1912) Als der Kampf nicht anders begonnen werden konnte – in Kriemhilds Herz war der alte Schmerz tief eingegraben –, da ließ sie den Sohn Etzels an die Tafel bringen. Wie hätte eine Frau, nur um Rache zu üben, schrecklicher handeln können?

Der Autor lässt keinen Zweifel an Kriemhilds Motiv, ihren Sohn, indem sie ihn ins Zentrum des Konflikts holen lässt, um einer Provokation willen zu opfern.7 Etzel aber reagiert auf die Ankunft Ortliebs erst einmal so, dass er ihn seinerseits als Medium von Vermitt-lungsintentionen einsetzt. Er weist darauf hin, von welchem Nutzen Ortlieb als junger, starker und vermögender Ritter den Burgunden in ihren Diensten noch sein könne, und trägt die Bitte an sie heran, seinen Sohn mit nach Worms zu nehmen und am dortigen Hof zu erziehen (1914–17). Dass ein reicher und starker Spross Kriemhilds am Wormser Hof aber kaum auf eine Billigung Hagens stoßen kann, liegt auf der Hand. Hagens höhnischer Kommentar, dass der Junge doch wohl schon vom Tode gezeichnet sei, stellt dann auch wieder das feindselige Einvernehmen mit Kriemhild her beziehungsweise lässt die Übrigen verstört zurück. Hagen aber schlägt erst zu, nachdem die erste große Schlacht im Lager seines Bruders Dankwart bereits stattgefunden und auf beiden Seiten ihre Toten gefordert hat. Als Dankwart blutüberströmt in der Tür des Saales auftaucht und vom Tod Blödels aus dem hunnischen Lager und eigenen Verlusten berichtet, nimmt das Unheil nunmehr auch im Etzelsaal seinen Lauf. Hagen kommentiert zynisch: „Ich hân vernomen lange  von Kriemhilde sagen, daz si ir herzeleide  wolde niht vertragen. nu trinken wir die minne  unde gelten’s küneges wîn. der junge vogt der Hiunen,  der muoz der aller êrste sîn.“ (1960)

Kriemhild als grausame Mutter

„Ich habe seit Langem vernommen, man sage von Kriemhild, dass sie ihren tiefen Schmerz nicht verwinden könne. Nun wollen wir zum Gedächtnis Siegfrieds trinken und dem Trunk des Königs Bescheid tun: Der junge Vogt der Hunnen, der soll als Erster dran glauben.“

Der Autor fährt fort: Dô sluoc daz kint Ortlieben  Hagen der helt guot, daz im gegen der hende  ame swerte vlôz daz bluot, und daz der küneginne  daz houbet spranc in die schôz. dô huop sich under degenen  ein mort vil grimmec unde grôz. (1961) Da erschlug Hagen, der treffliche Held, das Kind Ortlieb, so dass ihm am Schwert entlang das Blut auf die Hände floss und der Königin der Kopf in den Schoß flog. Da hob unter den Helden ein grimmiges, schreckliches Morden an.

Schlag auf Schlag fallen von Hagens Hand der Kopf Ortliebs, in Kriemhilds Schoß rollend, der Kopf des Erziehers und die Hand des hunnischen Spielmanns und Unglücksboten Wärbels. Hagen wütet fort, Volker und die Könige stehen ihm in nichts nach und legen für die burgundische Kampfeskraft Ehre ein. Außer Dietrich, der mit seinem Gefolge abziehen darf und Etzel und Kriemhild mit hinausgeleitet, überlebt keiner der Hunnen das Gemetzel. Etzel aber gibt, als er wieder draußen ist, lediglich einen Kommentar des bewundernden Erschreckens über Volkers blutiges Wüten ab. Im Vergleich mit der ‚Thidrekssaga‘ bleiben für das ‚Nibelungenlied‘ folgende Differenzen festzuhalten. Zum Ersten fehlt im ‚Nibelungenlied‘ ein emotionaler Mutter-Kind-Bezug gänzlich. Ortlieb wird als ein nahezu verdinglichtes Objekt eingeführt, das als Sohn des Herrschers an die Tafel geholt wird. Zum Zweiten kommt eine Provokation Etzels kaum mehr zum Tragen, denn die Kampfhandlungen sind schon im Gange. Es geht lediglich um die Eröffnung des Kampfgeschehens im Saal, aber auch hier trägt die Ermordung Ortliebs durch Hagen eher den Zug eines Racheakts für bislang zu beklagende Tote und trägt zu einer Stimulation der Krieger auf beiden Seiten bei, als dass es um eine Provokation Etzels ginge. Dieser hält sich vielmehr trotz der Ermordung seines Kindes auffällig zurück, wie es seiner Rolle als mehr oder minder erfolgreicher Affektregulator im gesamten Lied entspricht, die auch in seiner anfänglichen Bitte an die Burgunden, Ortlieb am Wormser Hof in Dienst zu nehmen, zum Ausdruck kommt. Affektive Funken und aggressive Stimuli springen stattdessen unmittelbar zwischen den Kämpfenden beider Seiten, sei es im Lager Dankwarts oder jetzt im Etzelsaal, hin und her. Die Ermordung Ortliebs fügt sich

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als ein Anlass unter anderen in dieses Wechselspiel ein und gibt dem Erzähler die Gelegenheit, Kriemhilds und Hagens unbedingten Willen zum Untergang vorzuführen. Ortliebs Tod setzt dabei einen Akzent, aber auch nicht mehr. Bezogen auf Kriemhilds Rolle als Mutter wirkt die Fassung des ‚Nibelungenliedes‘ in gewisser Weise entschärft. Kriemhild tritt so gut wie gar nicht als Mutter in Erscheinung; es gibt keinen persönlichen Kontakt zwischen ihr und dem Kind, sie ist ganz unpersönliche Herrscherin. Der Rezipient wird damit, so möchte man meinen, geschont. Andererseits lässt der negativ-abwertende Erzählerkommentar (1912,4) im Sinne der Stofftradition keinen Zweifel an Kriemhilds Intentionen aufkommen. Vreislîches wîp und Mutterrolle aber werden nicht in einen Wechselbezug gestellt. Es hat dabei weniger den Anschein, als ob Kriemhild ihre Mutterschaft für ihre Rache nutzte, als dass ihre Mutterrolle gänzlich hinter der der Rächerin zum Verschwinden gebracht würde. Eine provokative Einheit von Mutterliebe und Bruderhass, wie sie die ‚Thidrekssaga‘ vorführt, ist im ‚Nibelungenlied‘ nivelliert. Die Welle affektiver Ansteckung zwischen Mutter, Kind, Hagen und Etzel ist also im ‚Nibelungenlied‘ weitgehendst unterbunden. Hagen agiert zwar noch seine Wut an dem Kind ab, und Kriemhild ermöglicht ihm dies, aber der Szene kommt keine dramaturgisch herausragende Rolle mehr zu. Der Nibelungendichter hat vielmehr das Motiv der affektiven Ansteckung universalisiert, es durchzieht als ein Leitmotiv das gesamte Epos und gewinnt Profil nicht zuletzt vor der Folie von gelungener Selbstbeherrschung.8 Soweit Etzel für diese Selbstkontrolle steht, ist der Ortlieb-Episode im ‚Nibelungenlied‘ ihre Spitze genommen. * Machen wir nun einen Sprung ins 19. und 20. Jahrhundert und schauen wir, wie man in der Neuzeit mit Kriemhilds provokativer mütterlicher Grausamkeit umgeht. Auf überraschende Weise hält Friedrich Hebbel in seinem Drama ‚Die Nibelungen‘ von 1871 das Motiv Kriemhilds für das Herbeibringen ihres Sohnes in der Schwebe.9 Kriemhild lässt Otnit mit der vorgeblichen Intention an die Tafel holen, dass zu seinen Ehren aufgespielt werde.10 Als Dankwart dann jedoch blutbefleckt den Schauplatz betritt und die Nachricht überbringt, dass keiner seiner Leute mehr am Leben sei, antizipiert Kriemhild sofort die Schreckenstat Hagens, schreit mehrfach um Hilfe, kann aber nicht verhindern, dass Hagen dem Kind den Kopf abschlägt. Etzel schwört daraufhin, ganz im Sinne der Stofftradition, Rache. Vorgeführt wird hier eine Kriemhild, deren Motiv, ihr Kind in das Zentrum des Konflikts zu holen, ähnlich wie im ‚Nibelungenlied‘, kaum beschönigt werden kann, die aber dennoch vor Schreck mehrfach aufschreit und um Hilfe ruft. Kriemhilds Agieren haftet hier etwas Traumwandlerisches an. Hebbel scheut sich nicht, Kriemhilds Rachsucht und ihre

Kriemhild als grausame Mutter

protektiven Mutterinstinkte, eine heroische und eine empfindsame Kriemhild miteinander zu verschmelzen. Fritz Langs Verfilmung des Stoffs aus dem Jahre 1924 bietet ein sehr viel einseitigeres Bild.11 Lang und seine Drehbuchautorin Thea von Harbou nehmen gleichsam ein bürgerliches Mutterideal zum Anlass, um an Kriemhild die Pervertierung desselben vorzuführen. Anders als im ‚Nibelungenlied‘ wird im Film die Geburt von Etzels Sohn als ein dramaturgischer Höhepunkt inszeniert, der Anlass gibt, die unterschiedlichen Gefühle von Etzel und Kriemhild in Szene zu setzen (Teil 2, Szene 3). Während der Hunnenkönig mit stolzen Vatergefühlen ausgestattet wird, erstarrt Kriemhild zur grausam-gefühlskalten Mutter, die das neugeborene Kind nur als Instrument ihrer Rache sieht. Im Hervorholen des Tuches mit der von Siegfrieds Blut getränkten Erde, mit dem sie sich, statt mit dem Kind, wieder auf ihr Lager legt, wird uns ihr unverrückbarer Racheimpetus vor Augen geführt. Und als sie von Etzel nach einem Wunsch gefragt wird, den er ihr aus Dankbarkeit für die Geburt eines Sohnes zu gewähren willens ist, wünscht sie sich eine Einladung ihrer Brüder. Der implizite Appell an Vorstellungen von einer ‚guten Mutter‘ bietet den Hintergrund für die Inszenierung einer emotionalen Abnormität. In einer späteren Einstellung sieht man die Hunnen auf ein Zeichen Kriemhilds über die Burgunden herfallen (Szene 5). Kriemhild hatte zuvor in angespannter Lage ihren Sohn in den Saal holen lassen, und es dauert nicht lange, bis Hagen den Etzelspross ermordet – als Antwort auf den Tod eines Burgunden. Der Zuschauer wird jedoch geschont und ein abstrakter Streich Hagens hinterlässt einen unversehrten Kinderkörper – eine der mannigfachen ‚schönen Leichen‘ des Films. Später ist Etzel immer wieder mit dem toten Kind auf dem Arm zu sehen. In Langs und von Harbous Nibelungenfilm ist Kriemhild als Mutter jegliche Ambivalenz genommen; sie lehnt ihr Kind schon bei der Geburt ab. Das Phantasma der Einheit mit einem toten Siegfried besetzt ihren ganzen psychischen Raum, er ist gleichsam ihr Kind. Wenn aber genau dieses Phantasma in der Schlussszene dadurch bestätigt wird, dass Etzel Kriemhild heim zu ihrem toten Siegfried schicken will, dann adelt der Film posthum Kriemhilds Wahnvorstellung. Es ist dieses ideologische Amalgam aus bürgerlicher Sittsamkeit und Größenwahn, das Fritz Langs und Thea von Harbous Nibelungenfilm so schwer erträglich macht.12 Wenig zimperlich und im Selbstbewusstsein des Sagenerzählers aus eigener Macht geht Helmut Krausser in seinem sogenannten ‚Nibelungendestillat‘, das den Titel ‚Unser Lied‘ trägt, mit dem Stoff um.13 Das Stück wurde 2005 in Bonn uraufgeführt. Krausser lässt die Grandiositätsattitüde der Figuren weitgehend in Schwäche und Lächerlichkeit umkippen. Kriemhild wiederum stattet er mit

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trotzig infantilen Zügen aus und lässt sie das Massaker überleben. Ihre Entdämonisierung, wenn man es so nennen will, schlägt auch in der modifizierten Ortlieb-Episode durch. Die Logik der Erzählung will es bei Krausser so, dass Kriemhild die Werbung Etzels annimmt, jedoch schwanger mit einem Kind Siegfrieds. Auf Bedenken Gunthers hin hört man sie sagen: „Sein erstes Wort wird Rache sein“ (359). Als es zehn Jahre später zu einer Einladung der Burgunden an den Etzelhof kommt, inszeniert Etzel für Hagen einen Zweikampf mit seinem Paradekämpfer, in den Hagen unter der Bedingung einwilligt, dass der Sohn Siegfrieds zuschauen solle. Hagen siegt und Etzel trägt ihm die Erfüllung eines Wunsches an. Hagen schlägt daraufhin nach einem kurzen Wortwechsel dem jungen Siegfried den Kopf ab. Als Kriemhild davon erfährt, schreit sie auf und ruft zum Angriff auf. Kriemhild wird also einerseits entlastet und andererseits mit Handlungskompetenz ausgestattet. Kriemhild weiß und tut, was sie will – aber als Opfer, nicht als Täterin. Der Kindsmord ist nur noch eine Sache unter Männern. Dabei entspricht es einer Tendenz Kraussers, die Frauen als Opfer zu stilisieren (Brünhild wird etwa von Siegfried und Gunther gemeinsam vergewaltigt) und die Männer sowohl abzuwerten als zu dämonisieren. Wenn man so will, erliegt auch die moderne Nachdichtung der hergebrachten Versuchung, Kriemhild auf Kosten Hagens zu exkulpieren. Eine Mutter, die ihr Kind opfert, passt da nicht mehr ins Bild. Andererseits arbeitet Krausser mit einer ironischen Brechung, wenn er das erzählte Geschehen permanent von Volker als dem schreibenden Sänger und dessen Frau im Sinne einer bloß erdachten Möglichkeit kommentieren lässt. Die Realität hätte demnach darin bestanden, dass das Kind mit drei Jahren an Fleckfieber gestorben sei. Moritz Rinke wiederum hält in seinem Stück ‚Die Nibelungen‘ von 2002 an der Version fest, der gemäß Kriemhild dafür sorgt, dass der gemeinsame Sohn von ihr und Etzel beim Fest an der Seite seines Vaters und in der Nähe Hagens zu sitzen kommt.14 Der Satz am Abend zuvor „Bringt ihn mir noch einmal, meinen Sohn“ (S. 90), lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie weiß, was sie da tut. Als am andern Tag Ortwin von Metz bluttriefend die Schreckensnachrichten überbringt, greift Hagen sich den Etzelsohn, hält ihm das Schwert an die Kehle und enthauptet ihn kurze Zeit später. Er wirft Kriemhild den Kopf des Kindes in die Arme, sie übergibt diesen Etzel, Etzel trägt ihn fort. * In den über die Jahrhunderte hinweg variierenden Szenarien um die Tötung von Kriemhilds Sohn kommen unterschiedliche Motivstränge zusammen. Mit Blick auf die männlichen Protagonisten liegt dabei offen das Motiv der Tötung eines Rivalen beziehungsweise eines Stellvertreters in der nächsten Generation zu Tage. Ein Sohn Kriemhilds, sei es der Sohn Etzels oder der Sohn Siegfrieds, stellt für Hagen einen potentiellen Rivalen dar, den es im Sinne eigener

Kriemhild als grausame Mutter

Interessen zu beseitigen gilt. Etzel trifft wiederum der Tod seines Sohnes, offen oder verdeckt, als Verletzung seiner herrscherlichen Person. Sieht man Kriemhild im Zentrum des Geschehens, stellt sich das Problemfeld weit weniger eindeutig dar. Gegenläufige Motivationen von mütterlichschützenden und destruktiv-rachgierigen Impulsen überkreuzen sich, die Rollen der Mutter und der Rächerin geraten miteinander in Konflikt und Konkurrenz. Denken wir zunächst an die Versionen der ‚Edda‘, an das ‚Alte Atlilied‘ und das ‚Grönländische Atlilied‘, in denen Gudrun ihre Brüder an Atli rächt, dann kommt hier ein Medea-Motiv zum Tragen, demgemäß die Frau ihre Kinder tötet, um den Mann, der sie verletzt hat, ihrerseits zu treffen. Sie tut dies außerdem, weil es für die Kinder eines Mannes, der sich von ihr abgewendet hat, keinen Platz mehr in ihrem Leben gibt. Mütterliche Schutzmacht schlägt an diesem Punkt in mütterliche Verfügungsmacht um. In der Stofftradition des mittelhochdeutschen ‚Nibelungenliedes‘ geht es nunmehr um den Etzelsohn, den Kriemhild ausliefert beziehungsweise opfert. Hier ist es das Kind des ungeliebten Mannes, der im Dienste der phantasmatischen Einheit mit dem eigentlich geliebten Mann geopfert wird. Das Band zu dem Kind des weniger geliebten Mannes ist nicht stark genug, um einem destruktiven mütterlichen Verfügungsanspruch im Dienste ihrer Rache entgegenstehen zu können. Dieser Umstand liegt im Umfeld nibelungischer Stofftraditionen und Verarbeitungen deutlich zu Tage – und unterliegt gleichzeitig beträchtlichen Abwehrtendenzen. In der ‚Thidrekssaga‘ und im ‚Grönländischen Atlilied‘ wird uns eine ungebrochene Ambivalenz von guter und böser Mutter zugemutet. In der ‚Thidrekssaga‘ liefert Grimhild ihren Sohn gezielt Högni aus und zeigt gleichzeitig die Züge einer emotional zugewandten Mutter, nicht anders die Gudrun im ‚Grönländischen Atlilied‘ der ‚Edda‘, welche den Kindern, die sich in ihren Schoß schmiegen, die Kehle durchschneidet. Wie verstörend diese Ambivalenz jedoch auch im Mittelalter wahrgenommen sein mochte, zeigen die Fassungen, die darauf verzichten. Eine derartige Ambivalenz fehlt in der ‚Heldenbuchprosa‘ und im ‚Alten Atlilied‘ der ‚Edda‘, und sie ist offenbar auch den Zuhörern des ‚Nibelungenliedes‘ nicht zuzumuten. Hier erkaltet Kriemhild und wird zu einer emotional unbeteiligten, berechnenden Frau, die nicht als Mutter, sondern als Herrscherin agiert. Die Frauen sind in diesen Fassungen gleichsam entmütterlicht. Die ‚Klage‘ schließlich, ein durchgängiger Begleittext mittelalterlicher Nibelungen-Handschriften, der offenbar eine tiefe Beunruhigung auffangen wollte, indem er die Wiederherstellung einer sozialen Ordnung in Szene setzt, geht dann noch einmal einen Schritt weiter. Hier gibt Etzel den Auftrag, das tote Kind zu seiner toten Mutter zu tragen (858–869). Eine zerstörte Mutter-KindEinheit wird posthum restituiert.

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Eine weitere Verschiebung der dargestellten Emotionen ist in den neuzeitlichen Texten zu beobachten. Jüngere Bearbeitungen des Stoffs kommen nicht mehr ohne eine emotionale Beteiligung Kriemhilds am Schrecken, den sie selbst evoziert, aus. Die Kriemhild Hebbels etwa zeigt mütterliche Besorgnis, obwohl sie sehenden Auges die Situation herbeigeführt hat. Fritz Lang und Thea von Harbou führen die Spaltung einer emotionslosen bösen Mutter und eines stolzen, guten Vaters ein. Kriemhild ist zwar kalt, aber dafür muss Etzel positive Bindungsgefühle zeigen. Bei Krausser erschrickt Kriemhild über den Tod des Kindes, an dem sie allerdings unbeteiligt ist, und bei Rinke nimmt sie vorab gleichsam wehmütig Abschied. Die Zumutbarkeitsschwellen haben sich offenbar noch einmal weiter verschoben. Die Darstellung mütterlicher Grausamkeit kommt nicht mehr ohne ein Leiden der grausamen Mutter an sich selbst aus. Sie ist weder mehr gleichzeitig gute und böse Mutter, wie in der ‚Thidrekssaga‘ und im ‚Grönländischen Atlilied‘, auch nicht mehr nur böse Herrscherin wie im ‚Nibelungenlied‘, sondern eine nachgerade unbewusst böse Mutter, die über sich selbst erschrickt. Ihrer Grausamkeit ist ein Moment des Zögerns und Verleugnens beigemischt. Sie tut etwas, was sie nicht tun dürfte, und erscheint als Opfer ihrer selbst, wo die archaische Täterin in der grausamen Bluttat noch ganz zu sich selbst kommt. Das Bild der ihr Kind preisgebenden Menschenmutter aber rüttelt an den Grundfesten unserer gesellschaftlichen Ordnung, es bedarf heute und bedurfte schon im Mittelalter gewisser Retuschen, die ein gesellschaftliches Phantasma schützen sollen, demgemäß die Mutter von Natur aus schützend auf ihr Kind bezogen ist. Die Sage erzählt aber davon, dass die biologische Mutter-KindBindung nicht schon von vorneherein auch eine tragfähige soziale Bindung darstellt. Letztere ist überall da gefährdet, wo eine soziale Ordnung zerbricht und die Mutter aus dieser herausfällt. Dann greift in der Welt der Sage ein Triebmechanismus, der die eigene Bedürfnisbefriedigung – im nibelungischen Kontext als Rache – vor die Bedürfnisse des Kindes stellt. Mütter vermögen Kinder genauso zu opfern wie Feldherrn Krieger. Kriemhild tut beides, Hagen ebenfalls. Die provozierende Grausamkeit der Kindstötung fügt sich dabei im ‚Nibelungenlied‘ in eine Gesetzmäßigkeit ein, wonach das große Hinschlachten primär auf einem sozialen Binnenproblem beruht. Die Verwandten und Schwäger werden füreinander zu Tätern und Opfern, nicht obwohl, sondern gerade weil sie sich in diesem Verbund zugleich aufgehoben und gefangen erleben. Eine Dialektik von Abhängigkeit und Befreiung treibt im ‚Nibelungenlied‘ die Eskalation von Gewalt aus sich hervor. Das Leben eines Kindes fällt aus dieser Logik nicht heraus, seine spezifische Wehrlosigkeit aber konfrontiert den Rezipienten auf besondere Art und Weise mit der Unerbittlichkeit von Triebhandlungen, die sich selbst überlassen bleiben.

Kriemhild als grausame Mutter

Wo aber das Problem in der Gegenwart gleichsam psychologisiert und in die Frau selbst hineinverlegt wird, könnte eine Botschaft, die das ‚Nibelungenlied‘ noch in aller Klarheit übermittelt, aus dem Blick geraten, nämlich die, dass in dem sozialen Netzwerk, das wir Gemeinschaft nennen, die Frau da auf ihr destruktives Triebprogramm zurückgeworfen wird, wo die Männer das ihrige ausleben. Auch wenn Frauen seit jeher das zivilisatorische Affektdämpfungsprogramm gleichsam für die Männer mit aufgebürdet bekommen, deren Triebpotential sowohl Krieger- wie Leistungsgesellschaften abzuschöpfen bestrebt sind, sollte das nicht verkennen lassen, dass auch Frauen eine spezifisch weibliche Wildheit in sich tragen, die keine Rücksicht auf das eigene Leben und das der Kinder kennt.

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2.3 Mythos und Antimythos Die Figur Siegfrieds

Der Siegfried des mittelhochdeutschen ‚Nibelungenliedes‘ ist auf überraschende Weise beides: Romanfigur und Sagengestalt, Königssohn aus Xanten und Drachentöter aus grauer Vorzeit. Beide Dimensionen, eine höfische und eine mythische, verbindet und verflicht der unbekannte Dichter höchst kunstvoll miteinander. Er führt uns durch die Räume einer höfischen Kultur, in denen sich gleichsam immer wieder verdeckte Türen öffnen, die Einblick in verborgene Nebenwelten gewähren. Siegfried scheint freien Zugang zu beiden Welten zu haben, einer Sphäre öffentlicher Repräsentation und einer Sphäre des Geheimnisses. Eingeführt wird er als ein höfisch erzogener Königssohn und wird doch gleichzeitig kraft seines Namens in den Assoziationsraum um den starken Siegfried der Sage hineingestellt. Dieser Siegfried der Sage, der nur immer wieder in Anspielungen anzitiert wird, begleitet den höfischen Siegfried gleichsam wie ein Doppelgänger oder wie ein Schatten. Er ist ihm Auszeichnung und Makel zugleich. Auch der neuzeitliche Leser glaubt, diesen Siegfried schon immer zu kennen und ist schnell mit abschätzigen Bemerkungen über diesen Superhelden bei der Hand. Wie man nur so dumm sein könne, Hagen förmlich ins offene Messer zu laufen, lautet der mitleidige Vorwurf, den diese Figur immer wieder hinzunehmen hat! Dabei legen diese Kommentare nur umso untrüglicher Zeugnis von der identifikatorischen Verführungskraft der Figur ab. Irgendwie kennen wir diesen grandiosen, eitlen und rührenden Siegfried nur zu gut. Er ist offenbar einer von uns. Im ‚Nibelungenlied‘ hat nun der Tod Siegfrieds die weiterführende Funktion, den grandiosen Untergang eines ganzen Kollektivs, den Untergang der Burgunden am Etzelhof im Gefolge der verräterischen Einladung Kriemhilds, zu motivieren. Das Lied zeichnet dabei die folgerichtige Entwicklung eines Untergangsgeschehens nach, das keinen überleben lässt. Nach und nach lernt der Hörer und Leser dabei begreifen, dass er sich in einer Welt der Bösewichter bewegt, denen der Autor aber weder seine Empathie noch seine Bewunderung entzieht. Die Figur Siegfrieds fügt sich in dieses Tableau ein. Er ist schuldig und unschuldig, grandios und schwach zugleich. Die Durchblicke auf den Siegfried des Mythos sind für das ‚Nibelungenlied‘ schnell aneinandergereiht. Bei Siegfrieds Ankunft in Worms erzählt Hagen davon, wie Siegfried sich im Land der Nibelungen den sagenhaften Hort erworben hat, und erwähnt kurz den Drachenkampf. Im Kontext der Brautwerbung

Mythos und Antimythos

um Brünhild und den verdeckten Einsatz Siegfrieds kommt dann die zum Hort gehörende Tarnkappe zum Einsatz. Hagens Meuchelmord an Siegfried wiederum ist an die verwundbare Stelle gebunden, auf die ein Lindenblatt fiel, als Siegfried im Drachenblut badete. Damit schreitet die Figur, wenn man so will, einen Weg der Mythisierung ab. Geboren als Königssohn, stirbt sie als hornhäutiger Drachentöter. Sie ist zugleich grandios und defizitär, unüberbietbar und nicht überlebensfähig. Wie der Dichter diese Ambivalenz zur Darstellung bringt und welche Funktion dem mythischen Urgrund im Verhältnis zu einer höfischen Oberfläche zukommt, soll hier in den Blick genommen werden. * Beginnen wir zunächst bei Siegfrieds denkwürdigem Auftritt in Worms. In Xanten hatte er sich als jugendlicher Heißsporn, wider die Warnungen seiner Eltern, nicht davon abhalten lassen, zu dem weithin gerühmten Wormser Hof aufzubrechen, um dort um die schöne Kriemhild zu werben (2. Av.). Für ihn und seine zwölf Begleiter hatten Sieglind und ihre Frauen wochenlang genäht und alle verfügbaren Kostbarkeiten aufgeboten. Die Ankunft in Worms (3. Av.) steht demnach ganz im Zeichen höfischer Prachtentfaltung und lockt das gemeine Volk an, das die Fremden ungehemmt angafft. Auch der Blick der Könige fällt von der Burg hinunter auf die Fremden und man lässt Hagen herbeirufen, damit er sie in Augenschein nähme und begutachte. An eben dieser Nahtstelle des Epos platziert der Dichter nun die Aufklärung über Siegfrieds mythische Herkunft. Es ist der herbeigerufene Hagen, der Siegfried als solchen erkennt, obwohl er ihn noch nie gesehen hat. Er aber weiß darum, dass diese extraordinäre Ausstrahlung nur einem zukommen kann, dem allseits berühmten Siegfried aus Niederland. Dann spricht er als Erstes davon, wie Siegfried sich im Land der Nibelungen zum Eigner des Nibelungenhorts gemacht hat. Die beschworene Situation im Land der Nibelungen weist dabei unübersehbare Parallelen zu der in Worms auf. Hier wie dort kommt Siegfried in Kontakt mit einer Gruppe örtlicher Machthaber und hier wie dort erkennt ihn ein Gefolgsmann als den berühmten Siegfried, ohne ihn je gesehen zu haben. Hier wie dort treten jeweils zwei Könige in Erscheinung, Gunther und Gernot in Worms, Schilbung und Nibelung im Land der Nibelungen. In der Sphäre des Mythos wird gleichsam die höfische Situation nachgestellt. Hagen entrollt nun folgendes Szenarium aus Siegfrieds Vergangenheit: Auf seinem Ritt durch das Land der Nibelungen, so Hagen, nimmt Siegfried verwundert wahr, dass man den ganzen Schatz aus dem Berg herausgetragen hat. Schilbung und Nibelung wollen ihn untereinander teilen und tragen dieses Ansinnen dann an Siegfried heran. Siegfrieds Blick fällt auf den prächtig schillernden Schatz, und man händigt ihm das Schwert Balmung als Vorleistung aus. Aber weil Siegfried es ihnen nicht recht machen kann, geraten die Könige

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in Zorn. Dies wiederum entflammt Siegfrieds Zorn, er tötet kurzerhand zwölf Gefolgsleute und anschließend beide Könige mit seinem neuen Schwert. Weitere siebenhundert Recken unterwirft er sich, den Zwerg Alberich bezwingt er und setzt ihn als Hüter des Schatzes ein. Der ganze Schatz wird dann wieder in den Berg zurückbefördert. Am Ende dieses Berichtes erwähnt Hagen noch kurz, dass Siegfried, seitdem er im Drachenblut gebadet habe, über eine unverwundbare Hornhaut verfüge. Und zum Schluss ergeht die Mahnung, einen so kühnen Helden im eigenen Interesse möglichst zuvorkommend zu behandeln. Es bleibt zunächst festzuhalten, dass in dieser Szene, die im Land der Nibelungen spielt, ein für das gesamte Lied typisches Schema der Affektansteckung entworfen wird. Die Schlüsselvokabel vom Zorn fällt hier das erste Mal. Es sind die Nibelungenkönige, die als Erste in Zorn geraten, und dieser Zorn springt umgehend auf Siegfried über, der diesen Energieschub in Mord und Totschlag umsetzt. Die Ursprungsgewalt des ‚Nibelungenliedes‘ wird somit an einem mythischen Ort unter mythischen Gestalten verortet. Hier, im Land der Nibelungen, gibt es Machthaber, die ihren Schatz beziehungsweise ihre Macht nicht teilen können, und es gibt einen Dritten, der dies ebenfalls nicht kann, dessen begehrlicher Blick aber längst auf das Gold gefallen ist und der sich dieses und damit die Macht mit mehreren Schwertstreichen gleich selbst aneignet. Wo alle Beteiligten des Teilens unfähig sind, weil sie im Bann ihres totalitären Besitzwunsches stehen, siegt der Stärkste – und die weniger Starken bleiben auf der Strecke. Das Nicht-teilen-Können markiert dabei auch das basale Unvermögen, die Position und die Ansprüche eines anderen wahrzunehmen und gelten zu lassen. Der eigene infantile Triebanspruch beansprucht gleichsam ungeteilte Geltung. Er besitzt maximale Durchsetzungs-, aber auch maximale Zerstörungskraft. Schaut man nun auf die Szene am Wormser Hof, der die Forschung das Etikett „Herausforderungsszene“ verliehen hat, dann ist unmittelbar evident, dass es hier um die gleiche Ausgangsposition mit unterschiedlichem Verlauf geht. Siegfried spielt auch hier den jungen Wilden und will in einem Zweikampf gleich das ganze Reich gewinnen. Die Forderung Siegfrieds in Worms: „lant unde bürge, daz soll mir werden undertân“ (110,4) repliziert den Erzählerkommentar im Land der Nibelungen: daz lant zuo den bürgen si im tâten undertân (95,4). Eine Wormser Vasallität ist sofort von Siegfrieds Angriffslust angesteckt und möchte die Waffen kreuzen. Stünde man nicht am Wormser Hof, sondern im Land der Nibelungen, wären wohl schon die ersten Köpfe gerollt. Der markante Unterschied aber liegt nun darin, dass Gunther und Gernot, anders als Schilbung und Nibelung, ihre Macht zu teilen und ihre eigenen Zornaffekte im Zaum zu halten vermögen. Und weil sie dazu im Stande sind, vermögen sie auch die Affekte ihrer Gefolgschaft zu kontrollieren. Selbstkontrolle und Fremdkontrolle gehen bei ihnen Hand in Hand. In diesem Umfeld wird

Mythos und Antimythos

Siegfrieds energetischer Überschuss gleichsam isoliert und mit dem diplomatischen Angebot Gunthers neutralisiert. Dô sprach der wirt des landes:  ‚allez daz wir hân, geruochet irs nach êren,  daz sî iu undertân, und sî mit iu geteilet  lîp unde guot.‘ dô wart der herre Sivrit  ein lützel sanfter gemuot. (127) Da sagte der Herr des Landes: „Alles, was wir haben, steht zu Eurer Verfügung, sofern Ihr davon angemessenen Gebrauch macht. Gut und Leben wollen wir mit Euch teilen.“ Da wurde der Herr Siegfried schon etwas besänftigt.

Gunther legt damit genau die Qualität an den Tag, die den Nibelungen ermangelt: Teilungskompetenz – wenngleich sein Angebot selbstredend vom Gestus des Herrschers Zeugnis ablegt, der gebend und teilend seine Herrschaft dokumentiert und legitimiert. Damit aber geht Siegfried aus der Begegnung mit den Wormser Königen, anders als aus der Begegnung mit den Nibelungen, nicht als Sieger hervor. Sieger sind vielmehr die Wormser Könige, die in einem unblutigen Kampf Siegfried ihrem Herrschaftsapparat angegliedert und zum Bleiben bewogen haben. Und wo die Nibelungenkönige fatalerweise mit dem Schwert Balmung in Vorleistung getreten sind, mit dem Siegfried ihnen den Todesstoß versetzt, halten die machtbewussten Könige in Worms das Kapital ihrer heiratsfähigen Schwester erst einmal unter Verschluss. Die Vorleistung wird von Siegfried erwartet. Er wird sie später als Heerführer im Sachsenkrieg erbringen. Ziehen wir an diesem Punkt eine Zwischenbilanz. Siegfried, der berühmte Held aus Niederland, hat sich in einem mythischen Land der Nibelungen zum Horteigner dank eines affektgesteuerten Gewalteinsatzes gemacht. Diese quasimythische Qualität bringt er auch mit an den Hof zu Worms, wo diese jedoch durch den Apparat außer Kraft gesetzt wird. Stattdessen gerät Siegfried hier nun indirekt selbst unter fremde Herrschaft. Damit aber verändert die Figur Siegfrieds ihr Gesicht. Steht die Erzählung Hagens noch indirekt unter dem Diktum der Selbstbehauptung des großen Einzelnen, dem eine beispielgebende Funktion zukommt, so wird eben dieser Mythos im Folgenden gebrochen. Er ist zwar noch insofern existent, als er dem Helden eine herausragende Aura verleiht, macht ihn aber nicht mehr zum Sieger, sondern verweist ihn in die Position des Untergebenen. In der höfischen Realität führt der affektbeherrschte Gunther den kraftstrotzenden Vorzeitheroen Siegfried gleichsam an der Leine. Siegfried spielt mit, denn er will Kriemhild. Kriemhild aber wird gleichsam von dem höfischen Drachen Gunther bewacht. An diesem aber prallen Siegfrieds unbeholfene Reizreden ab.

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Zugespitzt formuliert könnte man die Position Siegfrieds auch so umschreiben, dass seine Heldentaten aus einer numinosen Vorzeit ihm in der höfischen Gegenwart nichts einbringen. Siegfried, der Held aus Niederland, steht auch nach Drachenkampf und Horterwerb gleichsam wieder am Anfang, denn die Eroberung der Schwester dreier machtbewusster Könige funktioniert offenbar nicht nach einem ihm bekannten Schema. Wenn man so will, kann man dies aber auch als eine Bestätigung des Mythos auslegen. Dieser verlangt von seinen Helden den immer neuen, jeweils unverbrauchten Einsatz. Nur so gelingt Selbst- und Welteroberung, niemals aber als Wiederholung. Damit ist Siegfrieds heroischer Nimbus von Anfang an relativiert. Schließlich spricht die indirekte Erzählung der Vergangenheit Siegfrieds aus dem Munde Hagens schon für sich, denn sie legt Distanzen. Und Gegenstand der Darstellung ist denn auch nicht ein Drachenkampf, in dem der vorbildliche Einzelne der Welt ein Stück Ich-Stärke und Autonomie abringt, sondern das Hortteilungsszenarium im Land der Nibelungen. Dieses ist aber nicht durch die Überwältigung eines feindlichen Gegenübers gekennzeichnet, sondern durch eine Affektansteckung, in der Siegfried zugleich untergeht und den Sieg davonträgt. Gewährt wird ein Einblick in die Kinderstube zankender Vorzeitfiguren, in der alle alles haben wollen. Dem wird aber für Siegfried in Worms erst einmal der Riegel vorgeschoben. * Der Fortgang der Erzählung lehrt uns, dass auch Gunthers Überlegenheit in einem dialektischen Umschwung an ihre Grenzen stößt. Gunther zeigt sich zwar als der überlegene Manipulator Siegfrieds, er ist aber auch gleichzeitig auf ihn angewiesen. Im Sachsenkrieg ist es Siegfried, der das burgundische Heer kraft seines charismatischen Einsatzes zu einem überwältigenden Sieg führt (4. Av.). Als Belohnung wartet eine Begrüßung durch Kriemhild auf ihn, mehr aber auch nicht (5. Av.). Dann erweist sich Siegfried ein zweites Mal für den Hof als unverzichtbar. Gunther will nämlich die starke Brünhild aus Isenstein als Braut heimführen, sieht sich dazu aber ohne die Hilfe Siegfrieds außerstande (6. Av.). Über die magischen Körperkräfte, die Brünhild bezwingen können, verfügt allein Siegfried. Gunther selbst hat keinen Anteil an der Welt dieser magisch begabten Heroen. Hier kommt nun der Tarnmantel aus dem Schatz der Nibelungen zum Einsatz, den Siegfried Alberich abgerungen hat (7. Av.). Unter seinem Schutz beschwichtigt er Gunther, trägt ihn über alle Hindernisse hinweg und ficht die anstehenden Wettkämpfe mit der beängstigend starken Brünhild siegreich aus. er gîe dar tougenlîche  unt ruorte im sîne hant. Gunther sîne liste  vil harte sorclîch ervant.

Mythos und Antimythos

„Waz hât mich gerüeret?“  dâhte der küene man. dô sach er allenthalben;  er vant dâ niemen stân. er sprach „ich binz Sîfrit,  der liebe friunt dîn. vor der küneginne  soltu gar âne angest sîn. Den schilt gip mir von hende  unt lâ mich den tragen, unde merke rehte  waz du mich hœrest sagen! nu hab du die gebære,  diu werc will ich begân.“ do er in rechte erkande,  ez was im liebe getân. (452,3–454) Heimlich trat er zu ihm und berührte ihn an der Hand. Doch Siegfrieds Zauberkunst erschreckte Gunther sehr. „Was hat mich da berührt?“ so fragte sich der tapfere Held und sah sich nach allen Seiten um, ohne jemanden zu erblicken. Doch Siegfried sagte: „Ich bin es, Siegfried, Dein lieber Freund. Du brauchst vor der Königin keine Angst zu haben. Gib den Schild aus Deinen Händen und lass mich ihn tragen. Und achte genau auf das, was ich Dir jetzt sage: Mach du die Bewegungen, ich werde die Taten verrichten.“ Als Gunther Siegfried an der Stimme erkannte, da freute er sich sehr.

Siegfrieds Einsatz der Tarnkappe auf Isenstein ist Teil eines umfassenderen Lügentheaters, auf das sich die Wormser geeinigt haben, um Gunther als Brautwerber neben dem vergleichsweise imponierenderen Siegfried aufzubauen. Die Täuschung Brünhilds gelingt denn auch scheinbar, dafür nimmt sie jedoch ein latentes Unbehagen mit nach Worms, das den dortigen Frieden nach und nach zersetzt. Auf den ersten Blick setzt Siegfried den Tarnmantel als eine Art magischen Mehrwert ein, über den nur er verfügt. Damit verhilft er Gunther zu einem scheinbaren Sieg und sich selbst indirekt zu Kriemhild. Wie aber verhält sich dieser zweifelhafte Männerpakt zur Logik des Mythos? Betrachten wir den mythischen Helden als den großen Einzelnen, in dem vorbildhaft Körperstärke und errungene Ichstärke zusammenfallen, dessen Siege für gelingende Selbstbestimmung stehen, dann gewinnt ein Tarnmantel, der seinem Träger Unsichtbarkeit verleiht, eine besondere Zeichenhaftigkeit. Schließlich birgt der Blick des anderen, wie etwa Sartre darlegt, die grundsätzliche Gefahr des Selbstverlustes in sich, ist doch der Gesehene in eigentümlicher Weise dem Sehenden ausgeliefert. Wenn das sehende Subjekt dem anderen zum gesehenen Objekt wird, sind fragile Ichgrenzen tangiert, droht eine Art seelischer Ausblutung. Der Tarnmantel jedoch, der seinen Träger ganz verdeckt und verhüllt, schützt ein schwaches Ich vor einer solchen Übermächtigung. Der

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Unsichtbare kann sehen, ohne gesehen zu werden. Ihm wird kraft des magischen Objekts das basale psychische Vermögen verliehen, sich selbst zu verbergen. Der unsichtbar machende Tarnmantel ist seinem Träger auf mythischer Ebene Schutz und bergende Hülle im Kampf um Selbstfindung und Selbstbehauptung. Er leiht seinem Träger ein Vermögen aus, über das ein sich entwickelndes Ich noch nicht selbstverständlich verfügt. Schauen wir nach Maßgabe dieser Einsichten zurück auf die männlichen Hauptdarsteller Siegfried und Gunther, so ist unmittelbar evident, dass Siegfried, der seine Emotionen stets offen zur Schau trägt, sich damit indirekt Gunther ausliefert. Dieser aber weiß sich seinerseits so gut zu verbergen, dass er seinen Mitspielern keine Angriffsfläche bietet. Gunther hat die Tarnkappe des Herrschers gleichsam immer zur Hand, er verfügt über sie als eine Art zweiter Haut. Nun will es aber die Logik der Erzählung so, dass Siegfried seine Tarnkappe nicht im unmittelbaren Eigeninteresse in Anwendung bringt, sondern vielmehr um Gunther zu Diensten zu sein. Er kämpft und siegt, verbirgt dies aber, um Gunther damit einen Vorteil zuzuspielen und ihn sich damit zu verpflichten. Alle wissen das – nur eine weiß es nicht: Brünhild. Siegfried benutzt Brünhild unter Einsatz der Tarnkappe als Mittel zum Zweck. Einen eigentlichen Sieger gibt es nach den Wettkämpfen demnach nicht. Gunther hat sich Siegfried unterworfen und Siegfried Gunther, Brünhild unterwirft sich am Ende beiden. Die magische Funktion der Tarnkappe erscheint damit, losgelöst von einem mythischen Kontext, auf einen manipulativen Trick reduziert. Wo sie ihrem Träger nicht zu Selbstbestimmung und Autonomie in einer feindlichen Welt verhilft, findet sie Verwendung in der Huldigung einer fremden Macht. Die Tarnkappe aus dem Land der Nibelungen erscheint nurmehr als Imitat von Gunthers Herrschaftstechniken, welche die unselige Verstrickung der beiden Könige befördert. Der Mythos, der den Mut des Einzelnen feiert, ist außer Kraft gesetzt. Dies trifft dann auch auf Siegfrieds Einsatz im Schlafgemach Gunthers in Worms zu (10. Av.). Weil Brünhild ahnt, dass sie betrogen wurde, verweigert sie sich Gunther und muss ein zweites Mal von Siegfried überwältigt werden, wieder unter Einsatz der Tarnkappe. Gunther hatte dabei mit der Erzählung von seiner misslichen Hochzeitsnacht, die er an einem Nagel in der Wand aufgehängt verbracht hatte, Siegfrieds Einsatzwillen ähnlich angestachelt wie vor dem Sachsenkrieg. Siegfried konnte gar nicht anders, als seine Hilfe anbieten. Zum Zeichen seines Sieges verlässt Siegfried den Ort des Geschehens allerdings nicht ohne Brünhilds Gürtel und Ring, ein Umstand, mit dem er sich Hagen indirekt ausliefert. Wo der Hof von Siegfried gleichsam mehr Diskretion erwartet hätte, greift bei ihm ein urtümlicher Selbstdarstellungs- und Zeigeimpuls. Dieser zielt hier allerdings nicht auf Anerkennung durch die Frau, sondern auf

Mythos und Antimythos

Anerkennung durch seine männlichen Rivalen, womit der Betrug der Männer gleichsam einen sozialen Kurzschluss produziert. Denn der mythische Held sucht und findet Anerkennung durch die Frau. Im Nibelungenlied aber werden die Frauen so weit entwertet, dass diese Logik nicht mehr greifen kann und damit Männlichkeit fatalerweise ihren weiblichen Resonanzraum verliert. In anderen Fassungen der Nibelungensage gibt es den Einsatz einer Tarnkappe nicht, in jedem Fall aber ist der zweifelhafte Stellvertretereinsatz Siegfrieds ursächlich für seinen Tod. Im ‚Alten Sigurdlied‘ der ‚Edda‘ agiert Sigurd auf der Basis eines Gestaltentauschs, in der ‚Thidrekssaga‘ tauschen die Männer die Kleider. Gunther und Siegfried im Nibelungenlied wiederum verspielen in den Stellvertretereinsätzen gleichsam ihre personale Identität. Wo der Held im Mythos aber nicht um seiner Tapferkeit willen belohnt wird, wird er um seiner Falschheit willen bestraft. Denn der Mythos feiert den Helden, welcher einer Welt feindlicher Übermächte Strukturen der Selbstbestimmung abringt, und lässt diejenigen untergehen, die sich dem Surrogat der Macht ausliefern. Tod und Untergang erwachsen im Mythos wie in der höfischen Realität aus einer Verletzung sozialer Regeln. * In den Szenarien um Siegfrieds Tod wird der Mythos Siegfried dann noch einmal wirkungsvoll in Szene gesetzt (16. Av.). Das Phänomen der Hornhaut, ein Motiv, das auch die ‚Thidrekssaga‘ kennt, gibt dabei das Muster von Unverletzbarkeit und Verletzbarkeit vor. In Mythos und epischer Realität ist eins eng mit dem anderen verbunden. Zunächst hatten wir in Hagens Bericht anlässlich der Ankunft Siegfrieds in Worms von Siegfrieds Bad im Drachenblut erfahren: Noch weiz ich an im mêre  daz mir ist bekannt: einen lintrachen  den sluoc des heldes hant. er badete sich in dem bluote;  sîn hût wart hurnîn des snîdet in kein wâfen.  daz ist dicke worden schîn. (100) Übrigens weiß ich noch mehr von Siegfried: Er hat mit eigener Hand einen Drachen erschlagen, in dessen Blut er badete, so dass seine Haut von Horn überzogen wurde. Aus diesem Grunde – und das hat sich schon oft erwiesen – kann keine Waffe ihn verletzen.

Genaueres weiß Hagen im Nibelungenlied nicht. In der ‚Thidrekssaga‘ hingegen wird die Tatsache, dass Sigurd sich mit dem Drachenblut bestrichen hat, dabei aber die Stelle zwischen seinen Schulterblättern nicht erreichen konnte, als allgemein bekannt eingeführt. Dass Hagen genau auf diese Stelle zielt, braucht

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nicht weiter motiviert zu werden. Anders das ‚Nibelungenlied‘: Hier treibt Hagen eine vage Ahnung darum, dass auch ein Siegfried seine verletzbare Seite haben müsse, zu Kriemhild (15. Av.). Listenreich greift er die Sorge um ihren Mann anlässlich einer vorgeblichen Heerfahrt auf, bietet seine eigene Schutzbereitschaft an und schafft es so, Kriemhild das Geheimnis um die fragliche Stelle zu entlocken. Sie teilt ihm Folgendes mit: „Dô von des trachen wunden  vlôz daz heize bluot und sich dar inne badete  der küene recke guot, dô viel im zwischen die herte  ein linden blat vil breit, dâ mac man in versnîden:  des ist mir sorgen vil bereit.“ (902) „Als das heiße Blut aus den Wunden des Drachen rann und der tapfere, treffliche Recke sich darin badete, da fiel ihm ein ziemlich großes Lindenblatt zwischen die Schulterblätter, und an dieser Stelle kann man ihn verwunden. Das ist der Grund, weshalb ich mir so große Sorgen mache.“

An dieser Stelle, wo ein Lindenblatt hinfiel, als er im Drachenblut badete, möge sie doch ein kleines Zeichen auf sein Gewand nähen, legt Hagen da­raufhin Kriemhild tückischerweise nahe, vorgeblich damit er ihren Mann besser beschützen könne. Nun steht aber diese Szene noch ganz unter dem Nachhall des großen Frauenstreits vor dem Münster, der das Gleichgewicht am Hof empfindlich geschädigt hat (14. Av.). Eingeleitet wird diese Szene demnach mit der Angst Kriemhilds, die Burgunden könnten sich für ihren Auftritt vor dem Münster, bei dem sie Brünhild und Gunther bloßgestellt hat, an Siegfried rächen wollen. Kriemhild fühlt sich schuldig und nähert sich Hagen unterwürfig, als wolle sie etwas wiedergutmachen. Oder anders formuliert: Kriemhild erschrickt im Nachhinein über ihre eigene Aggressivität und fürchtet Rache. Eben diese Angst aber, das führt uns der Text vor Augen, projiziert sie in ihre Sorge um Siegfried: Hagen wiederum geriert sich als Wolf im Schafspelz und präsentiert sich als der, als den Kriemhild ihn in ihrer Hilflosigkeit gerne sehen möchte: als väterliche Schutzinstanz. In die Enge getrieben, sucht Kriemhild gleichsam Schutz bei dem heimlichen Aggressor, und in der Haltung der Selbstpreisgabe begibt sie sich in die Pose der Besiegten, die an den Edelmut des Siegers appelliert. Indem sie Hagen Siegfrieds verwundbare Stelle preisgibt, so die paradoxe Logik ihrer Unterwerfung, hofft sie, dass er Siegfried, und damit auch sie, schonen werde. Hagen aber, und das lässt ihre Rechnung nicht aufgehen, fühlt sich mitnichten als Machthaber, er ist vielmehr seinerseits die Verkörperung des Opfers, das sich das Recht zur Gegenwehr anmaßt. Er schlägt zu, weil auch er sich und seinen König in die Enge getrieben fühlt.

Mythos und Antimythos

Damit ist Kriemhild diejenige, die Siegfried in ihrer Schwäche unbewusst preisgibt und verrät. Sie ist ursächlich für den Tod Siegfrieds, weil sie etwas ausspricht, das besser unausgesprochen geblieben wäre. In diesem Sinne steht die verletzbare Stelle an Siegfrieds verhorntem Körper, welche auf ein Lindenblatt zurückzuführen ist, also ein Blatt von dem Baum, der in der germanischen Mythologie für Gemeinschaft steht und lieblich duftend die Konnotation von Liebe und Minne bereithält, auch in gewisser Weise für Kriemhild, die Frau, die Siegfried liebt. Der beziehungsweise die andere ist die Verletzbarkeit im narzisstischen Kosmos Siegfrieds, die sich seiner Wahrnehmung entzieht. Eine Fokussierung auf die Verletzbarkeit Siegfrieds aber lenkt zugleich den Blick auf seine scheinbare Unverletzbarkeit, seine Hornhaut. Dabei ist seine verhornte Haut unschwer als ein Moment mangelnder Sozialität auszumachen. Wo eine sensible Haut für Schmerzempfindung und Durchlässigkeit steht, für den Zauber des wechselseitigen Berührens, steht die Hornhaut für Verhärtung und mangelnde Empfindungsfähigkeit. Sie steht für einen Siegfried, der, weil er zuallererst immer nur an den eigenen Triumph denkt, zutiefst gemeinschaftsunfähig ist. Noch aus Anlass der Jagd, die Hagen zum Zwecke seiner Ermordung ausrichtet, erlegt Siegfried ohne Rücksicht auf Verluste so viele Tiere, dass man ihn bitten muss, die Ressourcen des Waldes zu schonen. Zur Quelle lockt Hagen ihn schließlich mit dem Köder eines Wettlaufs, der ihm einmal mehr die Gelegenheit bieten soll, sich in dem Glanz des Ersten sonnen zu dürfen. Wo Siegfried gleichsam verhornt ist, kann er die anderen nicht wahrnehmen, nicht mit ihnen fühlen, stößt ihn die Gemeinschaft als Fremdkörper letztlich wieder aus. Wo er verhornt ist, kann er aber auch seine Feinde nicht als solche erkennen. So wenig, wie er die eigenen Verletzungen spürt, fühlt er die der anderen. Die Stelle aber, die ihn gleichsam in seiner um sich selbst kreisenden Existenz noch mit den Sterblichen verbindet, ist die, wo das Lindenblatt hinfiel. Dort findet Berührung zwischen innen und außen statt, dort ist das narzisstische Phantasma der Unberührbarkeit ausgesetzt. Denn jeder Narzisst braucht sein Echo, gerade er ist in einer existentiellen Weise abhängig vom anderen, der ihm den Spiegel seiner selbst vorhält, ihn in seiner Großartigkeit bestätigt. Der Narzisst hat sein Ich gleichsam in den anderen ausgelagert, von dem aus er permanent auf sich selbst blickt. Die Abkapselung der selbstbezüglichen Struktur, die ihn dem anderen entfremdet, bringt von daher zugleich eine doppelte Verletzbarkeit mit sich. Abhängigkeit von anderen und labile Ichgrenzen gehen dabei Hand in Hand. Eben diese eigentümliche Dialektik von extremer Verletzbarkeit einerseits und Unberührbarkeit andererseits aber ist in dem Bild von Siegfrieds Hornhaut und seiner besonderen Stelle paradigmatisch eingefangen. Diese Vorstellung bringt es mit sich, dass Siegfried vor der Kontur der Hornhaut um ein Vielfaches verletzbarer erscheint als ein Körper ohne eine solche. Die Hornhaut bildet gleichsam

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die Kontrastfolie, welche seine Verletzbarkeit in ein grelles Scheinwerferlicht rückt und einen Fokus setzt, in dem sein Tod vorweggenommen wird. Hagen ist es dann, der ihm die Wunde beibringt, auf welche die narzisstische Struktur in ihrer Selbstauslieferung förmlich wartet. Er nutzt den blinden Fleck in Siegfrieds Sehfeld, seine Verkennung der Motive anderer und sticht zu. Mit dem tödlichen Stich zerstört er dann das Vollkommenheitsphantasma – endgültig und unwiederbringlich. Dabei ist Siegfrieds Tod für das Kollektiv Verletzung und Befreiung in einem. Die Trauer der Umstehenden ist zwar groß, Hagen aber pocht darauf, dass man endlich einen sozialen Störenfried beseitigt habe. Der Text aber wertet nicht. Er lässt die Ambivalenz der Figur Siegfrieds zwischen Grandiosität und Lächerlichkeit im Raume stehen. Er lässt sie offen für die Projektionen der Rezipienten, die sich von ihm distanzieren oder zuweilen seine Stärke ausleihen mögen. In eben dieser Offenheit dürfte eines der Geheimnisse dieser Dichtung liegen. Und wenn zur Erfassung der Siegfried-Figur die Terminologie einer psychoanalytischen Narzissmus-Theorie dienlich ist, so übermittelt eben diese Theorie auch die doppelte Wertigkeit ihres Gegenstands. Dass eine personale Entwicklung defizitär bleibt, die dem infantilen Phantasma fremder und eigener Allmacht verhaftet bleibt, liegt auf der Hand. Die Leugnung von Differenz bringt eine Verkennung der Realität mit sich, an der das Subjekt letztlich scheitern muss. Zugleich aber lehrt uns der psychoanalytische Blick auch, dass narzisstische Zufuhr die unverzichtbare Basis psychischer Entwicklung darstellt. Das Phantasma der Vollkommenheit ermöglicht es uns, die Erfahrung zu machen, dass die Welt auch als Unvollkommener zu meistern ist, und diese Verheißung der Bewältigung trägt der Siegfried der Sage in sich. Er vermag den Drachen, der für die Bedrohung durch eigene Triebwünsche und fremde Mächte steht, zu überwinden. Aber er muss doch sterben, weil er sich an Gunther verkauft und weil er sich nicht in die Gemeinschaft einzufinden versteht – weil er die Zuschreibung von Grandiosität nicht abschütteln kann und den fälligen Schritt der Distanzierung von sich selbst nicht geht. Genau darin liegt die tumpheit der Figur, die der Rezipient teils belächelt, teils als Zumutung von sich weist. Aber der Dichter entzieht ihr, wenn er sie auch decouvriert, nicht die öffentliche Bewunderung und auch nicht seine Sympathie. Eine der Leistungen des Nibelungendichters liegt darin, dass er die Vorgabe des Mythos psychologisiert und in ein höfisches Tableau überführt hat. Er holt den Mythos ein Stück weit an die Wirklichkeit heran, und ein Stück weit versetzt er die epische Wirklichkeit zurück in den Mythos. Damit schafft er eine schillernde Welt, die Durchblick in eigentümliche Vielschichtigkeiten gewährt. Höfischer Schein fungiert als eine Ebene der Verdrängung und Verleugnung, mythische Dunkelwelten fungieren als eine Ebene verdeckter Triebe. Das ‚Nibelungenlied‘ modernisiert den Mythos Siegfried, gleichsam ohne ihn zu entzaubern. Er konturiert die Ambivalenzen, die der Figur als Macht

Mythos und Antimythos

und Ohnmacht, als Selbstermächtigung und Opfertod beigegeben sind. Die von Hagen referierte Szene im Land der Nibelungen, die einen affektgeladenen Siegfried vorstellt, einen Siegfried, der sich zum Medium des Zorns macht, legt dabei von Beginn an das zugleich Faszinierende und Fragwürdige um die Fama von Siegfrieds Stärke frei. Siegfrieds legendäre Durchschlagskraft beeindruckt jeden, aber es wird auch klargemacht, dass diese Teil einer defizitären Struktur ist. Weil Siegfried so ist, wie er ist, unbeherrscht und affektbetont, ist er stark. Weil er aber so ist, wie er ist, ganz eins mit seinen Affekten und Begierden, weil ihm jeglicher Handlungsspielraum fehlt, ist er auch manipulierbar und zugleich untragbar. Dafür bringt die Gemeinschaft ihn um, obwohl sie ihn bewundert. Dafür macht sich Hagen zum Mörder. Die Tarnkappe kommt im ‚Nibelungenlied‘ in der Interaktion mit Siegfrieds Gegenpol, dem affektbeherrschten Gunther, zum Einsatz. Diesem ersetzt er unter der Tarnkappe die maskuline Stärke, die ihm abhandengekommen ist. Umgekehrt liefert sich Siegfried dafür an Gunther aus, von dem er sich kontrollieren lässt. Beide wollen demnach alles und schließen ein Kartell der Frauen- und Welteroberung. Zweckbündnisse auf Kosten Dritter, welche die Bündnispartner Macht abschöpfen lässt und als Rivalen in Anpassung und Unterwerfung gefangen hält, aber toleriert weder ein feudales System noch der Heldenmythos. Der Männerpakt, der für den narzisstischen Selbstbetrug steht, sich die Qualitäten des idealisierten anderen identifikatorisch ausleihen zu können, wird als solcher entlarvt. Er verletzt den Auftrag des mythischen Helden, sich aus eigener Kraft zu bewähren, und darf nicht ungesühnt bleiben. Nun bringt es aber die Geschichte im ‚Nibelungenlied‘ mit sich, dass Siegfried das Geheimnis gar nicht für sich behalten kann. Er muss es entäußern, weil ihm sozusagen die basale Disziplin fehlt, die ein solches Machtbündnis den Beteiligten abverlangt. Siegfried zeigt her und plaudert und Kriemhild trägt alles an die Öffentlichkeit. Siegfried steht unter dem inneren Zwang, Anerkennung einlösen zu müssen, auch da, wo diese gegen ihn arbeitet. Siegfried muss immer und unter allen Umständen vorne stehen, sonst löst sich die Figur in nichts auf. An diesem Punkt funktioniert auch Gunthers Kontrolle nicht mehr, und Hagen macht sich anheischig, ein dysfunktionales Mitglied des Hofes aus dem Weg zu räumen. Solchermaßen bestätigt das ‚Nibelungenlied‘ in einem ersten Schritt die phantasmatische Zuschreibung grandioser Allmacht und beflügelt damit die Phantasie seiner Hörer und Leser. In einem zweiten Schritt destruiert es dieses Phantasma und etabliert eine Ordnung der Grenzsetzung. Leben untersteht demnach dem Gesetz der Endlichkeit des Einzelnen, und wer dieses nicht freiwillig einzulösen bereit ist, den trifft die Hand des Schicksals. Dabei stellt paradoxerweise der katastrophale Untergang als ultimativer Ordnungsverlust die

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soziale Ordnung wieder her, denn die Figuren der Dichtung sind dem Gesetz des Mythos unterstellt, ohne dass sie darum wissen. Der Dichter selbst macht sich zum Medium desselben, und dort, wo der Hörer mitschwingt, findet auch er sich darin wieder. Der Mythos ist allgegenwärtig und allumfassend, er feiert den großen Einzelnen und er schützt das Kollektiv. Zuweilen stößt er alte Elemente ab und integriert neue. In diesem Prozess immer wieder neugeboren, überwältigt der sagenumwobene Siegfried von jeher unzählige Drachen und stirbt unzählige Tode. Im ‚Nibelungenlied‘ stirbt er, dafür zollen wir dem Dichter Bewunderung, seit 800 Jahren seinen beeindruckendsten Tod. Literatur Bühl, Walter L.: Zum Auf bau und zur Dynamik der Gefühle. Versuch einer katastrophentheoretischen Darstellung, in: Soziologie der Gefühle, hg. von Roswitha Schumann und Franz Stimmer, München 1987 (Soziologenkorrespondenz N. F. 12), S. 106–138. Die Edda. Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der Germanen, übertr. von Felix Genzmer, eingel. von Kurt Schier, 2. Aufl., Düsseldorf, Köln 1982. Gephart, Irmgard: Der Zorn der Nibelungen. Rivalität und Rache im ‚Nibelungenlied‘, Köln, Weimar, Wien 2005. Die Geschichte Thidreks von Bern, übers. von Fine Erichsen, Neuausg. mit Nachw. von Helmut Voigt, Düsseldorf, Köln 1967 (1924) (Thule 22), hier: S. 220, 268. Kohut, Heinz: Narzißmus (The Analysis of the Self, 1971). Eine Theorie der Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen, übers. von Lutz Rosenkötter, Frankfurt a. M. 1976. Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949, in: J. L.: Schriften, ausgew. u. hg. von Norbert Haas, übers. von Rodolphe Gasché u. a., Bd. 1, 4., durchges. Aufl., Weinheim, Berlin 1996, S. 61–70. Lévi-Strauss, Claude: Mythos und Bedeutung (Myth and Meaning). Vorträge, aus d. Engl. von Brigitte Luchesi, Frankfurt a. M. 1995. Neumann, Erich: Ursprungsgeschichte des Bewußtseins, mit e. Vorw. von C. G. Jung, Frankfurt a. M. 1992 (1949) (Geist und Psyche). Das Nibelungenlied. Mittelhochdt. Text und Übertragung, hg., übers. und mit e. Anh. versehen von Helmut Brackert, 29. Aufl., Teil 1. 2., Frankfurt a. M. 2004. Sartre, Jean Paul: Das Sein und das Nichts (L’être et le néant), übers. von Justus Streller, Hamburg 1962 (1943), S. 338–397: Der Blick. Stech, Julian: Das Nibelungenlied. Appellstrukturen und Mythosthematik in der mittelhochdeutschen Dichtung, Frankfurt a. M. u. a. 1993.

Sehen und Gesehenwerden

2.4 Sehen und Gesehenwerden Die Leidenschaft des mittelalterlichen Hofes am Beispiel des ‚Nibelungenliedes‘

Wenn wir die großen mittelhochdeutschen Epen auf uns wirken lassen, dann ist schwerlich auszumachen, welche Lust dort intensiver erlebt wird, die des Sich-zur-Schau-Stellens und Herzeigens oder die des suchenden, verschlingenden und taxierenden Sehens, mit anderen Worten: eine exhibitionistische oder eine voyeuristische Lust. Die Protagonisten der Texte sind wohl beiden Spielarten verfallen und noch der neuzeitliche Leser lässt sich bereitwillig in ein Zauberland der Blicke entführen, in dem in der Oszillation zwischen Sehen und Gesehenwerden alles Bedeutsame verborgen liegt: Macht und Reichtum, Herrschaft und Unterwerfung, Lieben und Geliebtwerden. Die mittelalterliche Hofgesellschaft, wie sie uns die Epen darbieten, konstituiert sich allererst über ihre Sichtbarkeit, und die Blicke weben das nonverbale Netz, das diese Gesellschaft zusammenhält. In ihnen machen sich die Beteiligten durchlässig füreinander, begehren sie den andern und versichern sich über ihn ihrer Identität. Die höfische Gesellschaft ist in erster Linie eine öffentliche. Sofern sich private Räume auftun, bleiben diese stets auf einen dominanten öffentlichen Raum bezogen. Entsprechend sind die bedeutsamen Blicke Fernblicke, sie überwinden eine Distanz, die der öffentliche Raum vorgibt, in dem Männern und Frauen, Herrschaftsträgern und Untergebenen bestimmte Positionen zugewiesen sind. In Blicken des Begehrens aber findet das, was die höfische Ordnung so streng zu separieren bemüht ist – Männer und Frauen, Krieger und Könige –, gleichsam wieder zu seiner Einheit. ‚Nähe aus der Distanz‘, so könnte man das Leitmotiv dieses kollektiven Schauens benennen, wobei noch das Sehen einer herrscherlichen Kontrolle unterliegt. Gegenläufig aber wohnt den suchenden Blicken im höfischen Raum auch ein Moment der Unordnung und Subversion bei. Die begehrlichen Blicke der Krieger geben gefährliche Affekte preis, die nur knapp unter der höfischen Oberfläche brodeln. Ein herausragendes Exemplum einer visuell aufgeladenen poetischen Wirklichkeit gibt das ‚Nibelungenlied‘ ab. Immer und immer wieder werden der Glanz roten Goldes und die Schönheit kostbarer Kleider beschworen, immer wieder wird die betörende Aura der Helden in Haltung und Gang beschrieben. Das ‚Nibelungenlied‘ schlägt mit der Suggestion seiner Sprache gleichsam ein in Hochglanz gedrucktes Bilderbuch von Celebrities auf. Der Text richtet sich an den Leser beziehungsweise Hörer als Voyeur, er stimuliert dessen imaginäre

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Sehlust und zieht ihn mit dieser gleichsam in sich hinein, ihn teilhaben lassend an einer Welt der Großen und Schönen. * Siegfried ist unter den Helden des ‚Nibelungenliedes‘ fraglos derjenige, der am existentiellsten darauf bezogen ist, gesehen und wahrgenommen zu werden, der die Blicke seiner Bewunderer ebenso genießt wie die Schaulustigen seinen Anblick. Ihn anschauend partizipieren sie an seiner Stärke und seinem Charisma. Siegfried wiederum kommt im Blick der Bewunderer gleichsam ganz zu sich selbst, in der Zuschreibung von Größe und Schönheit. Er ist der Kristallisationspunkt einer zirkulierenden Größenphantasie. Siegfrieds erster großer Auftritt bildet seine Ankunft in Worms in der dritten Aventiure. In Xanten hatten Sieglind und ihre Frauen wochenlang an den Kleidern für ihn und seine zwölf Begleiter gearbeitet. Das ungemein prachtvolle Auftreten der Helden an den Ufern zu Worms, das weithin leuchtende rote Gold, schimmernde breite Schilde und strahlende Helme, kostbare Kleider und ebensolches Sattelzeug, all das verfehlt denn auch nicht seine Wirkung. Die Wormser strömen herbei und gaffen die Fremden ungehemmt an (74,3). Von der Höhe der Burg aus sehen aber auch die Wormser Könige die Fremden, und man lässt Hagen herbeirufen, damit dieser sie in Augenschein nähme. Wo das Volk nur staunt, braucht der Herrscher Informationen. Hagen tritt also an ein Fenster und schaut mit dem taxierenden Blick des Höflings zu den Gästen hinüber. Und obwohl er niemanden je vorher gesehen hat, weiß er, dass jene herausragende Gestalt nur Siegfried sein kann, der berühmte Siegfried, der den Nibelungenschatz erworben und den Drachen getötet hat, wie er der Hofgesellschaft noch erzählen wird. Noch bevor also irgendwelche Worte gewechselt sind, hat Hagen die Situation entschlüsselt – im Medium des Sehens. Den begierig-staunenden Blicken des gemeinen Volks gesellt sich der prüfende Blick Hagens zur Seite. In jedem Fall aber hat Siegfried sein Ziel erreicht, sein selbstdarstellerisches Kalkül ist aufgegangen: Er steht im Mittelpunkt. Nun erzählt uns allerdings die Geschichte, dass Siegfried damit noch nicht an seinem eigentlichen Ziel, der Gewinnung Kriemhilds, angekommen ist, die Könige halten ihn zu ihr fürs Erste auf Distanz. Das heißt: Er bekommt sie nicht einmal zu sehen, wenngleich Kriemhild ihrerseits ausgiebigst Gelegenheit findet, ihn von ihren Fenstern aus bei den Ritterspielen zu betrachten. Einer anderen Kurzweil, so sagt uns der Text, bedurfte sie von da an nicht mehr (133,4). Kriemhild nimmt hier noch ganz den Part der passiven höfischen vrouwe ein, die dicke Mauern von dem Treiben draußen trennt, die lediglich sehend an dieser Welt teilhat. Das prototypische Bild der im Hof turnierenden Männer und der von ihren Fenstern zuschauenden Frauen teilt dabei Zeigelust und Schaulust zwischen den Geschlechtern auf. Den Männern kommt die exhibitionistische Pose zu – mit

Sehen und Gesehenwerden

langen Speeren bewehrt, schlagen sie ihre Rivalen vom Pferd – und den Frauen die voyeuristische. Sie lesen an den Erfolgen der Männer im Turnier deren erotische Attraktivität ab. Aber die Distanz, welche der Hof in diesem Arrangement vorgibt, lädt die Blicke noch mit einem weiteren Element auf. Denn die Frauen, die von oben herab auf die kämpfenden Ritter schauen, tun dies nicht nur als Frauen, die ein Interesse am anderen Geschlecht leitet, sondern auch als hochrangige Mitglieder des Hofes, die Anerkennung zu vergeben haben. Sie sind gleichsam, mit Max Scheler gesprochen, das „Wertungsauge“ des Hofes. Im Spiegel des weiblichen Blicks werden die Männer sich allererst ihrer Herausgehobenheit inne. Umgekehrt wird Siegfried erst nachdem er für die Wormser Könige in den Krieg gegen die Sachsen gezogen ist und einen grandiosen Sieg erfochten hat (4. Av.), der Anblick Kriemhilds gewährt – und nicht nur ihm, sondern auch den gewöhnlichen Kriegern (5. Av.). Im Spiel des vrouwen schouwen, des Frauenschauens, werden nunmehr die Rollen vertauscht, die Frauen zeigen sich in der exorbitanten Pracht ihrer schönen Roben und die Männer verlustieren sich an deren Anblick. Es ist auf der Siegesfeier Ortwin von Metz, der Gunther auffordert, nach den Frauen des Hofes zu schicken: Dô sprach zuo dem künege  der degen Ortwîn „welt ir mit vollen êren  zer hôchgezîte sîn, sô sult ihr lâzen schouwen  diu wünneclîchen kint, die mit sô grôzen êren  hie zen Burgonden sint. Was wære mannes wünne,  des freute sich sîn lîp, ez entæten schœne mägede  und hêrlîchiu wîp? lâzet iuwer swester  für iuwer geste gân.“ der rât was ze liebe  vil manegem helde getân. (273–274) Da sagte der Held Ortwin zum König: „Wenn Ihr auf dem Fest den vollen Glanz Eurer Herrschaft zeigen wollt, dann dürft Ihr den Gästen den Anblick der schönen Mädchen, den Stolz des Burgundenlandes, nicht vorenthalten. Was könnte einen Mann glücklich machen, was ihn erfreuen, wenn nicht die Schönheit der Mädchen und der Glanz der Damen? Lasst Eure Schwester vor den Gästen erscheinen.“ Dieser Rat entsprach genau den Wünschen zahlreicher Helden.

Dass nun auf Seiten der Frauen die allergrößte Sorgfalt auf Kleidung und Schmuck gelegt wird, versteht sich von selbst. Als Ute und Kriemhild sich dann mit einem Zug von über hundert Jungfrauen nähern, bricht ein großes Gedrängel unter den Kriegern aus.

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Das ‚Nibelungenlied‘

Von einer kemenâten  sach man si alle gân. dô wart vil michel dringen  von helden dar getân, die des gedingen hêten,  ob kunde daz geschehen, daz si die maget edele  solden vrœlîche sehen. (280) Von den Kemenaten her sah man den Zug herannahen. Da drängten die Helden sogleich heftig nach vorn; denn sie hofften, wenn irgend möglich, sich am Anblick der edlen Jungfrauen zu erfreuen.

Die Sittsamkeit der Frauen am Wormser Hof und eine mehr oder minder ungezügelte Schaulust der Krieger prallen hier aufeinander. Denn als Belohnung für seinen Einsatz im Kampf wird einem Kriegsvolk, auf dessen aggressive Affektbereitschaft der König angewiesen ist, das Stimulans vergönnt, die Damen des Hofes schauen, um nicht zu sagen: mit seinen Blicken abtasten zu dürfen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der König führt nicht nur die Kampfeslust seiner Krieger am Zügel, sondern auch ihre Schaulust (s. a. 300). Besondere Aufmerksamkeit aber zieht die schöne Kriemhild auf sich, das Drängen der Männer ist entsprechend groß (284,3) und die Begleiter der Damen müssen die Männer anhalten, vom Wege zurückzutreten. Siegfried aber gerät beim Anblick Kriemhilds in einen emotiven Ausnahmezustand, er wird abwechselnd bleich unde rôt (285,4). Und diese emotionale Bewegung wird vom Dichter eingefangen in die Beschreibung Siegfrieds als das Meisterwerk eines kunstreichen Malers; auch lässt er uns wissen, dass man sich erzählt, nie einen schöneren Mann gesehen zu haben (286). Die im Blick aufgenommene Impression springt also von einem Objekt zum anderen über, von der schönen Kriemhild auf Siegfried, von dem in Schönheit erstrahlenden Siegfried auf die Zuschauer. Siegfried stellt dabei eine Ikone dar, hinter der die Person gleichsam zum Verschwinden gebracht wird. Der Erzähler stellt ihn als das Meisterwerk eines Malers und als das Objekt öffentlichen Erzählens in den Mittelpunkt. Siegfried ist der Mythos, der allen gehört. Nun wird Gunther erneut aufgefordert, diesmal von Gernot, Siegfried mehr zu gewähren, nämlich eine personale Begrüßung durch Kriemhild (289). Und damit erlaubt das höfische Protokoll dem heimlichen Paar erstmals seinen wechselseitigen Anblick. Neben ein höfisches Reglement, das die Geschlechter in ihrer Separierung zu einseitig Schau- und Zeigelustigen macht, darf nun die Intimität gegenseitiger Blicke treten: mit lieben ougen blicken  ein ander sâhen an der herre und ouch diu frouwe:  daz wart vil tougenlîch getân. (293,3–4)

Sehen und Gesehenwerden

Mit freundlichen Blicken sahen der Ritter und die Dame einander an, doch immer nur heimlich und verstohlen.

Obwohl in aller Öffentlichkeit stehend, heißt es, dass das Paar sich heimlich ansah. So schreiten Siegfried und Kriemhild Hand in Hand dahin, eingewoben in den Kokon ihrer verstohlenen Blicke. Und auch diese Blickbeziehung wird noch einmal im Blick der zuschauenden Menge gedoppelt, denn die gegenseitige Anziehungskraft verleiht dem Paar eine Aura, die wiederum in magischer Weise die Blicke aller auf sich zieht. Alle anwesenden Gäste schauen nur auf dieses eine Paar. Dabei wird uns zu Gehör gebracht, dass mancher Krieger sich auch schon mal selbst an der Stelle Siegfrieds, womöglich sogar selbst bei der Königstochter liegen sieht (296,3). Die darin liegende Anstößigkeit wird aber sofort in der nächsten Zeile wieder eingeholt, in der es heißt, nie habe ein Held wie Siegfried höfischer um eine Frau geworben (296,4). Eine makellose höfische Oberfläche wechselt ab mit der Durchsicht auf unkaschierte Begehrlichkeiten. In diesem glänzenden Szenarium wird das spiegelbildliche Aufeinanderbezogensein der höfischen Gesellschaft als gemeinschaftsstiftende Basis erkenntlich. Der Herrscher liest sein Ansehen an der Menge der Anwesenden ab, der gemeine Krieger hat Teil an der herrscherlichen Macht im Anblick der Könige und schönen Frauen; das Paar Siegfried und Kriemhild spiegelt sich in wechselseitigen Blicken, und die Anwesenden wiederum finden ihre eigene Herausgehobenheit in der Einheit dieses idealen Paars gespiegelt. Die höfische Gesellschaft gibt sich auf dem Fest gleichsam den Raum für eine kollektive Selbstbespiegelung, welche die allgegenwärtigen Bedrohungen einer latent kriegsbereiten Existenz vergessen lässt. Ein jeder ist bereit, sich im Anblick des großartigen anderen zu verlieren, um sich selbst als ein Größerer und Schönerer wiedergegeben zu werden. Ein jeder ist bereit, den anderen mit seinem Blick zu adeln, um dessen erhebenden Anblick wiederum in sich selbst aufzurichten. Auf dem Fest nach dem Krieg tanken beschädigte Körper und beschädigte Identitäten neue Energien auf, bietet eine höfische Idealwelt eine Art buntbedrucktes Wundpflaster an. * Dass es aber hinter einer höfischen Idealwelt noch eine andere Realität gibt, eine Realität, welche von der Gier nach Macht und heimlichen Rivalitäten bestimmt ist, ist eine zentrale Botschaft des Liedes. In dieser Gegenwelt kippt das distanzierte Spiel der Blicke um in distanzlose Übermächtigung, Betrug und Tod. Die Weichen für ein dräuendes Unheil werden in dem perfiden Männerpakt der 6. Aventiure geschlossen. Siegfried verspricht Gunther, ihm bei der Überwindung der starken Brünhild auf Isenstein behilflich zu sein, der Einsatz von Siegfrieds Tarnkappe wird hierfür in Aussicht genommen, und Gunther verspricht Siegfried im Gegenzug seine Schwester Kriemhild. Minne wird als

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eine Funktion von Macht verhandelt; das Gesetz des Mythos, welches besagt, dass dem stärksten Mann die schönste Frau zukommt, wird pervertiert. Damit stehen nun aber vorerst eine neuerliche große Brautwerbungsfahrt und eine neuerliche große Ankunft auf dem Programm. Und wieder geht es darum, den einnehmenden ersten Eindruck zu machen, von dem der Erfolg einer solchen Unternehmung abhängt. Gunther bittet in Begleitung Siegfrieds Kriemhild unterwürfig, für entsprechende Kleider Sorge zu tragen, und das Paar Siegfried/Kriemhild findet bei diesem Besuch erneut Gelegenheit, innige Blicke auszutauschen (353). Für vier Tage wird dann jeder der ausfahrenden Helden – es sind Siegfried und Gunther, Hagen und dessen Bruder Dankwart – zwölf kostbare Kleider im Gepäck mit sich führen, drei für jeden Tag. Das Ablegen des Schiffes der kleinen Gruppe findet, wie bei solchen Gelegenheiten üblich, unter den Blicken der Frauen statt, die wieder einmal in ihren Fenstern stehen und zu gegebenem Anlass weinen (376/377). Und ebenso, wie sich die männlichen Helden unter den Augen der heimischen Frauen verabschieden, so werden sie an ihrem Zielort zu Isenstein jenseits des großen Wassers von den Blicken der dortigen Frauen empfangen (7. Av.). Die Blicke der Frauen bilden gleichsam den Rahmen ihrer heldischen Existenz. Hier auf Isenstein, einer matriarchalen Gegenwelt zum patriarchal regierten Worms, ereignet sich nun ein vergleichsweise ungehemmteres Schauen. Siegfried fordert Gunther zunächst auf, sich die Frauen dort oben in ihren Fenstern genau anzuschauen, bis dieser endlich Brünhild, das Objekt seiner Sehnsucht, ausfindig gemacht hat. Dieses Schauen aber veranlasst wiederum Brünhild, ihre nicht minder neugierigen Mädchen aus den Fenstern zurückzurufen. Die Mädchen nutzen daraufhin die Gelegenheit, sich für die Fremden schön zu machen, und postieren sich umgehend erneut in den engen venstern (395,3), diesmal also den Schießscharten, die ihnen die Möglichkeit bieten zu sehen, ohne gesehen zu werden. Unterdessen hatte Siegfried unter den Blicken der Frauen Gunther den vasallitischen Dienst des Steigbügelhaltens erwiesen, bevor er sein eigenes Pferd vom Schiffe holte: Eine vorher abgesprochene Inszenierung, die Gunther wirkungsvoll als Brautwerber in Szene setzen soll. Wenn man so will, zeitigt dieses trügerische Theater aber nicht den gewünschten Erfolg, denn ein Gefolgsmann Brünhilds macht gleichwohl Siegfried als den größten und schönsten Recken unter allen ausfindig und schließt von daher auf den berühmten Helden, obwohl er ihn noch nie gesehen hat. Es ist jetzt bereits das dritte Mal im Rahmen des Liedes, dass Siegfried allein auf Grund seiner stattlichen Erscheinung als solcher identifiziert wird. So war es schon im Land der Nibelungen, und so war es auch in Worms. Brünhild spricht entsprechend auch Siegfried als Ersten an. Siegfried lenkt aber sofort auf Gunther um und gibt sich als dessen Gefolgsmann aus. Brünhild wird fortan, weil sie den Worten Siegfrieds mehr glaubt als

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ihrer eigenen Wahrnehmung, in das Netz der Wormser Lügen hineingezogen. Siegfried wiederum mag zwar so weit gehen, dass er Lügengeschichten erzählt und Gunther die Steigbügel hält, er geht aber nie so weit, das Charismatische seiner äußeren Erscheinung zu verraten. Siegfried ist ebenso wie Gunther in strahlendes Weiß gekleidet, Hagen und Dankwart tragen glänzendes Schwarz. Aufrecht, schön und stark, kann Siegfried gar nicht anders, als immer wieder die Rolle seines Lebens zu spielen: Siegfried, den Helden aus Niederland. Bei den Kampfeinsätzen unter der Tarnkappe, in denen er Gunther zu einem Sieg über Brünhild verhilft, ist seine Gestalt dann den öffentlichen Blicken entzogen, nicht aber dem Leser und Hörer. Eine heimliche Dialektik lässt das Getarnte auf Enttarnung, das Verhüllte auf Enthüllung hin angelegt sein. Auch die beteiligten Wormser wissen um das Spiel, und die betrogene Brünhild nimmt eine dunkle Ahnung mit nach Worms. Dort vermitteln ihr spätestens der Anblick, wie Siegfried im Anschluss an die Hochzeit mit Gunthers Schwester im Kreise seines Gefolges an der königlichen Tafel Platz nimmt, Zweifel an der Legende, die man ihr erzählt hat (10. Av.). Sie weint öffentlich, vorgeblich aus Trauer um die nicht standesgemäß verheiratete Kriemhild, vielleicht aber mehr aus ohnmächtiger Wut über das eigene Schicksal. Gunther vermag sie nur notdürftig zu beruhigen und hat dann seine Rechnung in einer fatalen Hochzeitsnacht zu bezahlen. Brünhild überwältigt ihren liebeshungrigen Gatten, hängt ihn kurzerhand an einem Nagel in der Wand auf und macht es sich ohne ihn im Bett bequem. Siegfried wird diese Scharte in der kommenden Nacht erneut mit Hilfe der Tarnkappe auszumerzen haben und Brünhild ein zweites Mal besiegen, wie abgesprochen aber den letzten Akt ehelicher Okkupation Gunther überlassen. Hier aber greift nun das ungeschriebene höfische Gesetz der Sichtbarmachung. Denn Siegfried wird das Feld seines Sieges nicht ohne Beweise verlassen; Brünhilds Gürtel und Ring, die Insignien ihrer Jungfräulichkeit, wird er mit sich nehmen. Ob mit oder ohne Entjungferung, Siegfried beansprucht die fraglichen Objekte als Ausweis seiner Virilität. Und diese verlangt gleichsam nach öffentlichem Beifall, wenn Kriemhild schlussendlich die verräterischen Attribute Brünhild vor dem Münster herzeigt und die falsche Behauptung aufstellt, es wäre Siegfried gewesen und nicht ihr Bruder, der sie zur Frau gemacht habe (14. Av.). Einmal mehr lügen bei dieser Gelegenheit die Worte, aber die Objekte lügen nicht, sie besitzen ihre eigene Evidenz. Der falsche Eid der Männer kann demnach nichts mehr kitten, das Unheil nimmt seinen Lauf. Hagen wird für die Demütigung seines Königs und seiner Königin zur Rache schreiten und Siegfried später töten. Man mag es aber auch so sehen wollen, dass Siegfried sich mit der Weitergabe von Gürtel und Ring an Kriemhild längst selbst ausgeliefert hat – infolge seiner schrankenlosen Zeigelust. Denn Siegfried als eine genuin

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heroische Figur findet sich allererst im Blick der anderen wieder, er braucht ihre Spiegelung, um sich darin seiner selbst zu vergewissern. Siegfried nimmt dabei seine grandiose Eitelkeit überallhin mit: auf den Turnierplatz, in Gunthers Schlafzimmer und in sein eigenes, zuallerletzt auch auf die Jagd, die seinem Leben ein Ende setzen wird. Siegfried verstellt sein leidenschaftlicher Wunsch gesehen zu werden das Sehen und damit auch das Erkennen seiner Feinde. * Unter Vorspiegelung eines kriegerischen Einsatzes gelingt es nun Hagen, Kriemhild das Geheimnis um Siegfrieds Verwundbarkeit zu entlocken (15. Av.). An die Stelle, wo einst ein Lindenblatt zwischen seine Schultern fiel, als er im Drachenblut badete und sich damit eine unverwundbare Hornhaut zulegte, näht sie ein rotes Kreuz auf sein Gewand. Als Hagen, neben Siegfried herreitend, dieses Zeichen erblickt, lässt er die vorgebliche Heerfahrt abblasen und stattdessen eine Jagd ausrufen. Dabei will der Erzähler es so, dass besagte Stelle durch ein Kreuz sichtbar gemacht wird und dass Hagens Blick auf dieses Zeichen fällt. Hagen sieht dabei etwas, was Siegfried verborgen bleibt, so wie die Erzählung überhaupt offen lässt, ob Siegfried selbst um diese Stelle weiß. Lebt und kämpft er doch in dem Phantasma der absoluten Unverwundbarkeit und ist diese Stelle ja schließlich den eigenen Blicken entzogen. Hagen aber sieht etwas, das Siegfried zu sehen nicht gegeben ist, nämlich dass er für den Hof in der Unberechenbarkeit seines Tuns längst zu einer Gefahr geworden ist. Während Siegfried also fröhlich daherreitet, in Vorfreude auf die kämpferischen Herausforderungen, die seiner harren, hat ihn, zugespitzt formuliert, Hagen schon mit seinem Blick getötet. In Hagen kippt der bewundernde Blick der Höflinge um in den Blick des Neiders und Rächers. Dieser will nicht mehr an Siegfrieds Größe partizipieren, sondern jenen, weil er für das System untragbar geworden ist, vernichten. Hagens Blick ist zu einem verschlingenden Blick der Bemächtigung geworden, es ist der Blick des Jägers auf seine Beute. Zunächst aber wird Siegfried noch die Gelegenheit geboten, seine extraordinäre Kompetenz als Jäger unter Beweis zu stellen (16. Av.). Und er erlegt ohne Rücksicht auf Verluste so viel Wild, dass man ihn bitten muss, die Ressourcen des Waldes zu schonen. Bei der anschließenden Tafel im Wald hat Hagen dann dafür gesorgt, dass es keinen Wein zu trinken gibt. Stattdessen, schlägt er dem darüber unzufriedenen Siegfried vor, könne er seinen Durst ja an einer nahegelegenen Quelle stillen. Und auf den Weg dorthin lockt er ihn mit dem Vorschlag eines Wettlaufs. Es ginge die Mär von Siegfrieds außerordentlicher Schnelligkeit um, das möge er nun unter Beweis stellen. Das folgende Arrangement ist zeichenhaft: Siegfried bietet seinen Konkurrenten an, selbst mit kompletter Jagdausrüstung inklusive Köcher und Schwert zu laufen, während er Gunther und Hagen zugesteht, sich ihrer Kleider zu entledigen. Diese laufen

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also nur mit zwei weißen Hemden bekleidet über die Wiese, was aber Siegfried nicht daran hindert, gleichwohl als Erster an der Quelle anzukommen. Köcher und Schwert legt er ab, den mächtigen Speer lehnt er an eine Linde und stellt sich wartend in Positur. Er will Gunther den Vortritt lassen. Nachdem Gunther getrunken hat und Siegfried sich nun hinunterbeugt, jagt Hagen ihm den eigenen Speer durch das Kreuz in den Rücken, so dass Siegfrieds Blut auf sein Gewand spritzt. Siegfried wütet und vermag gerade noch seinen Schild auf Hagen zu schleudern, dann stürzt er blutend in die Blumen. Bevor er sein Leben aushaucht, anempfiehlt er Kriemhild noch der Obhut Gunthers. Die Herbeigelaufenen beklagen den Toten. Wenn man so will, spielen hier alle Beteiligten noch einmal sich selbst. Hagen und Gunther stellen in ihren weißen Hemden zugleich die bloßgestellten Opfer und die schamlosen Täter vor, die sie sind. Siegfried gibt den ewigen Ersten ab, der noch kurz vor seinem Tod als Hauptdarsteller die Bühne einnimmt. Eingenommen von sich selbst, fixiert auf den Beifall und den Blick seiner Mörder, ist der Jäger in die Falle getappt. Siegfried stirbt als Narziss, der eigene und fremde Machtansprüche verleugnet, weil ihm der andere als Spiegel seiner selbst unverzichtbar ist. Siegfried ist die Gestaltwerdung einer personifizierten Größenphantasie, der nie aus dem Spiegelkabinett seiner imaginären Vollkommenheit heraustritt. Wenn Siegfried irgendwo ankommt, ist sein Mythos immer schon da. In ihm geht die Figur gänzlich auf, und ihn umschließt sie noch in ihrem Tod. Sie weiß nicht, warum sie stirbt, sie weiß nur bedingt um ihre Feinde, aber der Dichter lässt Siegfried noch sterbend so malerisch in die Blumen sinken, dass sein Bild im Kosmos des Liedes unvergesslich bleibt. Siegfried stirbt, aber der Mythos Siegfried ist unsterblich. Siegfried ist das schöne wilde Tier, das wir aus sicherer Distanz bestaunen, dessen Attribute wir im identifikatorischen Blick vorübergehend ausleihen dürfen. Als Objekt eines narzisstischen Schauens aber muss Siegfried dafür bezahlen, wenn der Betrachter sich in seinem Anblick zu verlieren droht beziehungsweise ihn als übermächtig erlebt. In diesem Sinne ist Hagen der Vollstrecker eines Kollektivs, das sein Objekt der Anbetung wieder fallen lässt. So wie Siegfried der mit Blindheit geschlagene Selbstdarsteller ist, ist Hagen in Worms der Sehende, der nicht gesehen wird. Er ist der Wegweiser, der gebraucht wird, ohne gefeiert zu werden. Kriemhilds Ansinnen etwa, ihn bei ihrem Aufbruch nach Xanten mitzunehmen, trifft ihn als Zumutung, später werden seine Warnungen immer wieder überhört. Hagen ist derjenige, über den man verfügt, den man aber nicht sehen will. Er hat zwar alles im Blick, muss aber das Echo der Anerkennung vermissen. Der Seher, der selbst nicht gesehen wird, der ideale Vasall, der sich hinter seinen Königen zum Verschwinden bringt, kompensiert diesen Minderstatus schließlich durch die Usurpation von Macht. In Hagen kippt

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eine narzisstische Verarmung in den Willen zum Untergang um. Diesen Furor der Selbstermächtigung der Machtlosen teilt er im zweiten Teil mit Kriemhild. Das ‚Nibelungenlied‘ bietet zunächst eine ritualisierte höfische Welt der Selbstbespiegelung an, in der einem Bedürfnis nach Sehen und Gesehenwerden, nach Erkennen und Erkanntwerden Raum gegeben wird. Im Verborgenen und Dunklen wirkt jedoch eine Trieblogik von Selbst- und Fremdunterwerfung, die diese höfische Idealwelt sprengt. Siegfried macht sich unter der Tarnkappe zum Erfüllungsgehilfen Gunthers und unterwirft sich diesen gleichzeitig in einem Habitus der Überlegenheit. Nicht anders verhält es sich in der fragwürdigen Hochzeitsnacht, in der Siegfried sich Gunther zwar erneut gefällig zeigt und dennoch auf den Insignien seines Sieges beharrt. Ein Blick auf die verräterischen Objekte von Gürtel und Ring in der Öffentlichkeit vor dem Münster bringt das ganze soziale Chaos schließlich ans Licht, und die Sichtbarkeit der Schande zwingt den Hof zur Rache. Diese ist bereits zeichenhaft am Blick Hagens, einem Blick der Bemächtigung, abzulesen, bevor sie sich in der Bluttat erfüllt, die nur den Auftakt für das große Morden im zweiten Teil darstellt, das keine der charismatischen Figuren überleben lässt. Ein grandioser Untergang reißt alle heroischen Gestalten mit sich. Diese bieten dem Hörer und Leser zwar noch in ihrem Blute liegend ein Bild von faszinierender Intensität, sie sterben aber als Figuren, die hinter den Reflexen ihrer idealisierenden und dämonisierenden Projektionen füreinander letztlich unsichtbar geblieben sind. Literatur Gephart, Irmgard: Der Zorn der Nibelungen. Rivalität und Rache im ‚Nibelungenlied‘, Köln, Weimar, Wien 2005. Küchenhoff, Joachim: Sehen und Gesehenwerden. Identität und Beziehung im Blick, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 61 (2007), S. 445–462. Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949, in: J. L: Schriften, ausgew. u. hg. von Norbert Haas, Bd. 1, übers. von Rodolphe Gasché u. a., 4., durchges. Aufl., Weinheim, Berlin 1996, S. 61–70. Lacan, Jacques: Das Seminar, Buch XI (1964): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (Les quatre concepts fondamentaux de la psychoanalyse), Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. von Norbert Haas, 3. Aufl., Weinheim, Berlin 1987 (Das Werk), S. 71–126: Vom Blick als Objekt klein ‚a‘. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare, gefolgt von Arbeitsnotizen (Le visible et l’invisible, suivi de notes de travail par Maurice Merleau-Ponty), hg. von Claude Lefort, München 1986 (1964) (Übergänge 13).

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Das Nibelungenlied. Mittelhochdt. Text und Übertragung, hg., übers. und mit e. Anh. versehen von Helmut Brackert, 29. Aufl., Teil 1. 2., Frankfurt a. M. 2004. Sartre, Jean Paul: Das Sein und das Nichts (L’être et le néant), übers. von Justus Streller, Hamburg 1962 (1943), S. 338–397: Der Blick. Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, 4., durchges. Aufl., hg. mit e. neuen Sachreg. von Maria Scheler, Bern 1954 (Gesammelte Werke 2), hier S. 152. Wenzel, Horst: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995.

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3 Kampf der Geschlechter Wolfram von Eschenbach

3.1 Ritter und Frauen Geschlechterverhältnis und Identitätssuche in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘

Lassen wir uns auf die Artusromane und Heldenepen des Mittelalters ein, so begegnen wir einer wundersamen Welt von schönen Frauen und tapferen Helden, die an ihrer Oberfläche makellos glänzt. Nur die schönsten Frauen und stärksten Ritter betreten die Bühne, um miteinander in Wettstreit zu treten, und das nebengeordnete Personal von hässlichen Zwergen und Riesen oder verschlagenen Truchsessen scheint nur dazu angetan, den Glanz der Hauptakteure zu steigern. Erst aus der Distanz vermag der Leser gewisse Abstufungen noch unter den jeweils Größten und Tapfersten wahrzunehmen. So ist Parzival im epischen Kosmos fraglos der Schönste, Siegfried aus der Welt der germanischen Heldensage mit Abstand der Stärkste, und dem geneigten Leser steht es frei, sich in dieser Welt der Grandiosität und Idealität seine Favoriten zu küren. Einigen aber sind vielleicht die großen Charismatiker der mittelhochdeutschen Dichtung, ein Parzival mit seiner einnehmenden Schönheit und ein Siegfried mit seiner Aura magischer Stärke zu tumb, denn beide Helden zeichnet auch eine gewisse Naivität aus. Die Artusritter Iwein und Erec wiederum mögen anderen in ihrer Fehlbarkeit, ihren Scham- und Schuldgefühlen schon zu nahe an eine Welt des Alltäglichen heranreichen, als grandiose Helden schon zu ‚verkleinert‘ erscheinen, als dass sie ihre Fantasie zu okkupieren vermöchten. Der suchende Leser mag dann aber noch bei einem anderen Idealritter verweilen, um den Wolfram von Eschenbach den deutschen Artusroman bereichert hat: bei Gahmuret von Anschouwe. Gahmuret, der Vater Parzivals, wie Wolfram ihn uns vorstellt, zeichnet sich durch eine besondere Qualität unter seinen Mitstreitern aus, durch sein leidenschaftliches Verhältnis zu den Frauen beziehungsweise ein leidenschaftliches Verhältnis der Frauen zu ihm. Mit Gahmuret hat Wolfram nicht nur einen großen Helden, sondern darüber hinaus den größten Frauenhelden der höfischen Epik geschaffen, dessen vitalen Lebensentwurf er auf folgende Kurzformel bringt: strît und minne was sîn ger (35,25), „Kampf und Minne trieben ihn um“. Wo Erec und Iwein etwa ihren Lebens- und Entwicklungsweg in der erotischen Begegnung mit jeweils nur einer Frau abschreiten, treten derer gleich mehrere in Gahmurets Leben und halten den Helden mit ihren begehrlichen Ansprüchen in Atem. Und wenngleich nichts der Eitelkeit unseres Helden so sehr zu schmeicheln scheint wie der Blick der Frauen, so ist er doch gleichzeitig permanent auf der Flucht

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vor ihnen – bis ihn schließlich im ritterlichen Dienst der frühe Tod ereilt, noch vor der Geburt seines Sohnes Parzival. Sein Tod setzt einer rastlosen Existenz zwischen Minne und Kampf ein Ende und hinterlässt den Mythos eines großen Helden und Verführers. Noch im ‚Parzival‘ selbst führt der Autor im Anschluss an die Jeschute-Episode, in der ein kindlich-ungehobelter Parzival über eine adlige Frau in ihrem Zelt herfällt, um ihr gewaltsam Ring und Brosche zu entwenden (131,16–18), den Vater Gahmuret zum Vergleich an. Hätte Parzival von seinem Vater gelernt, diu bukel wære gehurtet baz (139,17), „wäre der Schildbuckel besser gestoßen worden“. Parzival muss hier hinter dem Vater zurückstehen, für den der Autor strît und minne in einer anzüglichen Metapher zusammenfallen lässt. Strît und minne, welche die Figur Gahmurets so exemplarisch zur Darstellung bringt, stellen aber auch die Grundlinien einer episch-ritterlichen Existenzform schlechthin dar. Bilden Turnier, Zweikampf und kriegerische Schlachten gleichsam die Basis der männlichen Existenz, so wird der Ritter sich dieser doch im Blick der Frauen erst eigentlich bewusst. Sie sind es, die in den Fenstern der Burgen stehen, um das ritterliche Treiben zu begutachten und danach ihre Gunst zu verteilen. Vor diesem Hintergrund soll hier den Spuren Gahmurets und seiner in ihrer Grandiosität so schillernden wie getriebenen Existenz zwischen schönen Frauen, gekonnter Selbstdarstellung und ritterlichem Dienst nachgegangen werden, um die innere Triebfeder dieser letztlich glücklosen Pendelbewegung aufzudecken. Für dabei zu Tage tretende Konflikte von Freiheit und Abhängigkeit wird auf Denkmuster der psychoanalytischen Narzissmustheorie zurückgegriffen, gemäß der eine ursprüngliche Einheit Ausgangspunkt einer jeden individuierenden Trennung ist. Gelungene Realitätsanpassung verlangt in diesem Bezugsrahmen das Heraustreten aus primären symbiotischen, das heißt narzisstischen Beziehungsmustern, welche das Individuum in ambivalenten Triebregungen zwischen Verschmelzungs- und Trennungswünschen gefangen halten. Vor dieser Deutungsfolie soll das eigentümliche Profil der Wolfram’schen Helden nachgezeichnet werden, zunächst für Gahmuret, den Prototyp eines grandiosen, narzisstisch betonten Helden, im Anschluss daran für Parzival selbst, den Namenshelden des Romans. Parzival soll exemplarisch in der Beziehung zu seiner leidgeprüften Cousine Sigune vorgestellt werden, der er insgesamt viermal im Verlaufe des Romans begegnet, zuletzt als Tote. Vorerst aber soll die Aufmerksamkeit dem Schicksal Gahmurets gelten, womit Wolfram den Anfang in einer intergenerativen Entwicklungslinie zwischen Vater und Sohn setzt. * Der Autor lässt uns an dem Lebensweg Gahmurets vom Moment seiner Enterbung an teilhaben. Wir erfahren, dass nach dem Tod des Vaters Gandin der gesamte Besitz nach französischem Erbrecht an den älteren Bruder Galoes fällt.

Ritter und Frauen

Gahmuret verlässt daraufhin das elterliche Haus, um in der Fremde ritterliche Bewährung und Anerkennung zu suchen, nicht ohne sechzehn Knappen und etliche Saumschreine voller Kostbarkeiten mitzunehmen, Gaben seines Bruders, seiner Mutter und einer namentlich nicht genannten Freundin. Als Zeichen seiner Entsippung legt er das väterliche Wappen des Panthers ab und wählt den Anker, Signum des heimatlos Fahrenden und Suchenden. Auf der Suche nach dem größten und mächtigsten Herrscher verdingt er sich als Söldner bei dem mächtigen Baruc von Baldac (Bagdad). Auf einer der Kriegsfahrten im Orient treibt ihn nun ein Seesturm an die Küste Zazamancs vor die Hauptstadt Patelamunt; hier wird die schöne dunkelhäutige Königin Belakane von feindlichen Heeren bedrängt, weil der vorbildliche Isenhart von Azagouc in einem Zweikampf mit Prothizilas, einem Fürsten aus dem Gefolge Belakanes, den Tod gefunden hat. Als ein Racheakt für den Tod seines Vetters hat der Schotte Fridebrant bereits das Land verwüstet, und die bedrängten Einwohner flehen Gahmuret nunmehr verzweifelt um Hilfe an. Dieser erklärt sich gegen Lohn dazu bereit und hält daraufhin mit seinen Leuten einen denkwürdigen Einzug in die Stadt (18,17–19,16): Zehn Lasttiere, gefolgt von zwanzig Knappen, traben durch die Gassen. Davor sieht man an der Spitze des Zuges das Dienstvolk, bestehend aus Pagen, Köchen und Küchenknaben. Nach den Knappen folgen zwölf Edelknaben und dahinter acht Rosse mit kostbaren Seidendecken. Das neunte Ross trägt das Sattelzeug Gahmurets, daneben geht ein Knappe mit dem Schild unseres Helden. Es folgen Posaunenbläser, ein Tamburinschläger, Flötenspieler und drei Fiedler – alle schreiten wohlgemerkt ohne Eile. Gahmuret selbst bildet zusammen mit seinem Kapitän den krönenden Abschluss dieser skurril-auffälligen ritterlichen Prozession, für die noch der letzte Küchenknabe und Gaukler aufgeboten wird. Als er später von dem Burggrafen Lachfilirost in den Palast zur Königin geführt wird, schickt er ebenfalls eine Reihe von Pagen vorweg, die sich paarweise bei der Hand halten. Gahmuret, der Söldner im Dienste des Baruc, liebt offenbar die Selbstinszenierung seiner Person und diese verfehlt auch nicht ihre Wirkung auf Belakane, die schöne schwarze Königin. Belakane tut sich gleichwohl schwer damit, ihre herrscherliche Gunst freimütig zu verschenken, hatte sie sich bei ihrem Burggrafen doch schon mehrfach rückversichert, ob der Fremde ihr auch statusmäßig ebenbürtig und ihrer Aufmerksamkeiten wert sei. Zu einem Willkommenskuss kann sie sich dennoch nicht entschließen, sie bittet vielmehr den Gast, umgekehrt sie zu küssen, nachdem sie ihm nur einige wenige Schritte entgegengegangen ist. Statt großer Formalitäten zieht sie ihn dann aber entschlossen in eine Fensternische, um ihm dort ihr Leid zu klagen. ‚ûf mîner triwe jâmer blüet‘ (28,8), „aus meiner Treue erblüht nur Jammer“, lässt sie den Fremden über den Tod ihres unseligen Freundes

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Isenhart wissen, von dem sie als Preis für das Versprechen ihrer Hingabe die Entäußerung seiner gesamten Kriegsausrüstung verlangt hatte. Mannigfache Seufzer, Tränen und verstohlene Blicke geben allerdings Hinweise darauf, dass die Königin ihrem Gast an Willen zu einnehmender Selbstdarstellung auch in dieser traurigen Lage in nichts nachsteht. Am Ende des Gespräches sind jedenfalls beide, über die Differenz ihrer Hautfarbe hinweg, einander verfallen und Gahmuret lässt sich vernehmen: ‚ich dien iu allez daz ich sol‘ (29,25), „ich leiste euch jeden Dienst“. Am Abend sucht die Königin ihren Ritter überraschenderweise noch einmal im Hause des Burggrafen auf, um während des Essens neben ihm niederzuknien und ihm die Speisen vorzuschneiden. Beim Abschied hören wir sie dann ihrerseits zu dem Gast sagen: ‚gebietet, hêrre: swes ir gert‘ (34,21), „befehlt mir, Herr, was ihr wollt“, und nicht von ungefähr verbringt Gahmuret daraufhin eine unruhige Nacht: in brâhte dicke in unmaht diu swarze Mœrinne, des landes küneginne. er want sich dicke alsam ein wit, daz im krachten diu lit. strît und minne was sîn ger: nu wünschet daz mans in gewer. (35,20–26)

Die Königin des Landes, die schwarze Mohrin, brachte ihn ganz und gar um den Verstand; er wand sich wie zum Strick die Gerte, dass ihm die Gelenke knackten. Kampf und Liebe wollte er: So wünscht ihm, dass sich dies erfüllt.

Selbstredend gewährt der Fortlauf der Erzählung Gahmuret eine stattliche Anzahl ritterlicher Triumphe, die Belakane umgehend für ihre Zwecke nutzt. Sie fasst das Ross des Siegers eigenhändig beim Zügel und führt ihn erst durch die Stadt, dann in ihren Palast. Dort entlässt die jungfräuliche Königin sofort seine Knappen, um ihn in ihr Schlafzimmer zu geleiten. Nach vollzogener Minne führt sie ihn an der Hand vor die Öffentlichkeit ihres Hofes und verkündet, dass sie nunmehr sich und ihre Ländereien diesem Ritter übergeben hätte. Gahmuret ist also König von Zazamanc, und es findet eine große Versöhnungsfeier statt. Ritterschefte aber lassen unseren Helden alsbald wieder an Abschied denken, und heimlich segelt er nächtens davon, nicht ohne vorher all sein Gold und das ungeheuer prachtvolle Zelt des toten Isenhart auf sein Schiff gebracht zu haben. In einem Abschiedsbrief gibt er vor, Glaubensdifferenzen hätten ihn zu diesem Schritt bewogen, und im Falle, dass ihm ein Sohn geboren werden sollte, legt er diesem noch seine väterliche Herkunft dar, die ihn als Spross aus der Artusfamilie ausweist. Ein halbes Jahr später wird der schwarzweiß gefleckte Feirefiz geboren.

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Gahmuret begegnet dann, ein Jahr nachdem er Belakane verlassen hat, auf dem Meer dem Schiff der Gesandtschaft des Schotten Fridebrant. Diese hat vor, in Zazamanc um Verzeihung für den Überfall zu bitten, und führt die gesamte Kriegsausrüstung des toten Isenhart, Diamanthelm, Schwert, Panzerhemd und Beinpanzer, mit sich, die Isenhart seinerzeit Fridebrant überlassen hatte. Gahmuret hat keine Bedenken, all diese Kostbarkeiten, die als Sühnegaben für Belakane gedacht sind, in Empfang zu nehmen und zu versprechen, die Botschaft in Zazamanc getreulich zu überbringen. Dies aber wird nie geschehen, stattdessen wird Gahmuret all diese Kostbarkeiten auf seiner nächsten Station in Spanien skrupellos in den Dienst seiner Aufmerksamkeit erheischenden Selbstdarstellung nehmen. Auf der Suche nach seinem Vetter Kaylet, dem König von Spanien, kommt Gahmuret schließlich nach Kanvoleis, wo Herzeloyde, die jungfräuliche Königin von Waleis, ein Turnier veranstaltet. Auf den Sieger warten ihre Hand und ihr Reich. Wiederum findet ein feierlicher Einzug mit großem Pomp und Getöse statt. Diesmal reitet aber kein berühmter Steuermann mehr an seiner Seite, vielmehr präsentiert sich Gahmuret als Ikone seiner selbst in gänzlich ungebrochener Zeigelust alleine dem Publikum (63,10–26). Gezeichnet wird ein Bild sinnlicher Verheißung: Ein nacktes, nur mit einem leichten Stiefel bekleidetes Bein hat Gahmuret lässig vor sich auf den Sattel gelegt, darüber ein flammend roter Mund und blondgelocktes Haar, das unter seiner Kopfbedeckung hervorquillt. Über einem schneeweißen Gewand trägt er einen Mantel von grünem Samt und schwarzem Zobel. Und Wolfram denkt dieses Bild noch weiter, denn als unser Held der Königin ansichtig wird, schnellt sein Bein flugs zurück, und er richtet sich kerzengerade auf – wie ein Falke, der nach Beute Ausschau hält. Allerdings wirft das kommende Geschehen auch die Frage auf, wer denn hier nun der Jäger und wer die Beute sei. Gahmuret sieht sich nämlich den Ansprüchen von gleich zwei Frauen ausgesetzt. In das Turnier zieht er noch beflügelt von einer Botschaft Ampflises, der Königin von Frankreich, die ihm nach dem Tod ihres Mannes sich selbst und ihr Land anbietet. Beim Aufbruch von Anschouwe hatte er noch ihre Geschenke mit sich geführt. Nachdem Gahmuret jedoch bereits im Vorturnier erfolgreich mehrere Anführer besiegt hat, lässt Herzeloyde ihn ohne Verzug als Sieger ausrufen und meldet sogleich kompromisslos ihre Ansprüche auf seine Person an. Gahmuret versucht noch, sich ihr zu entziehen, und besinnt sich mit einem Mal wieder Belakanes, an die er sich gebunden fühle. Auch den Tod seines Bruders Galoes und seiner Mutter Schoette, von dem er auf dem Turnier erfahren hat, führt er an. Herzeloyde bewirkt jedoch einen richterlichen Schiedsspruch zu ihren Gunsten, und den Boten Ampflises bleibt somit nur noch, unwillig das Land zu verlassen. Gahmuret fügt sich zwar dem Willen Herzeloydes, die in einem Machtkampf unter

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Frauen den Sieg für sich beanspruchen darf, bedingt sich aber die Freiheit zu regelmäßigen Kriegs- und Turnierfahrten aus. Andernfalls, lässt er Herzeloyde wissen, könne es ihr so ergehen wie einst Belakane. Die leidenschaftliche Beziehung zwischen Herzeloyde und Gahmuret ist nun von zweierlei geprägt: der weitgehenden Abwesenheit Gahmurets einerseits und der imaginären Einheit des Paares andererseits. Sinnfälligen Ausdruck nimmt dieses Ehemodell in der Praxis des Hemdentauschs. Auf seinen Kämpfen pflegt Gahmuret über der Rüstung ein seidenes Hemd Herzeloydes zu tragen, das diese wiederum auf ihrer Haut trägt, wenn er von einer Kriegsfahrt zurückkehrt. Achtzehn Hemden werden dergestalt verschlissen. Dem Paar ist aber nur eine kurze Zeit der Gemeinsamkeit beschieden, denn auf einer neuerlichen Kriegsfahrt in den Orient ereilt Gahmuret der ritterliche Tod in einem Zweikampf. Ein Heide hatte nämlich seinen Diamanthelm, den adamas Isenharts, mit Bocksblut erweicht, so dass ihn der Speer Ipomidons durch den Kopf treffen konnte. Gahmuret findet noch die Gelegenheit zu einer Beichte, wird in der Fremde begraben und, so will es Wolfram, fortan von den Heiden als Gott verehrt. Als nun die schwangere Herzeloyde, die sich hochgestimmt am Ziel ihrer Wünsche wähnte, vom Tod ihres Gatten erfährt, kommt sie ihrerseits dem Tod nahe. Sie besinnt sich jedoch ihres Kindes als eines Teils ihres Geliebten und spricht: ‚ich [...] bin sîn muoter und sîn wîp‘ (109,24/25). Später entblößt sie ihre Brust und benetzt das noch ungeborene Kind mit ihren Tränen und ihrer Milch in einer Art mütterlicher Taufe. Immerhin kann man sie davon abhalten, sich neuerlich das zerfetzte Hemd Gahmurets überzustreifen, und vierzehn Tage später kommt Parzival zur Welt. Herzeloyde und andere Frauen scharen sich um das Kind, betrachten eingehend sein männliches Geschlecht und können sich nicht enthalten, das Kind als kleinen Mann emphatisch zu liebkosen (112,21–27). Diese kurze Szene, die in ihrer für Wolfram typischen Direktheit beim Leser ein Amusement hervorruft, das nicht frei von Peinlichkeitsempfindungen ist, transportiert jedoch mehr als nur einen beiläufigen Lesereiz. Am Ende der Gahmuretbücher verweist die großartige Ambivalenz dieser Szene vielmehr auch zurück auf das eigentümliche Verhältnis des Vaters zu den Frauen, verbindet sie die paradiesische Vorstellung, von jeher der allseits bewunderte und begehrte Mittelpunkt in einer Welt weiblich-spendender Fülle zu sein mit der massiven Bedrohung, als ein hilfloses Objekt von ebenjenen weiblichen Kräften verschlungen zu werden. Das Mutter-Kind-Verhältnis als Urbild der Geschlechterbeziehung stellt sich hier auch als ein Machtgefälle dar, in dem Liebe, Bewunderung und Zuneigung überwältigende Züge annehmen. Und wenn Herzeloyde von sich sagt, dass sie ihrem Sohn Mutter und Ehefrau zugleich sei (109,24/25), spricht auch dies für sich. In der Tat löst die duale Beziehung

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Herzeloydes zu Parzival, die ihren Sohn fernab von einer ritterlich geprägten Welt in der Abgeschiedenheit von Soltane aufzieht, die symbiotische Beziehung zwischen Herzeloyde und Gahmuret ab. Und wie Gahmuret wird auch Parzival sie verlassen, um hinaus in die Welt zu ziehen, zunächst mit dem Ziel des Artushofes, später dem der Gralsherrschaft. Blicken wir zurück auf den Gahmuret’schen Lebensweg als einen Weg männlicher Identitätssuche, so fehlt diesem die progressive Linearität, wie sie für Parzival und andere Helden zutrifft. Gahmuret scheint eher in einem Muster von Wiederholungen gefangen zu sein; auch ist sein Lebensweg nicht von dem Antritt einer eigenen Herrschaft gekrönt. Zwar firmiert er zum Schluss als König etlicher Königreiche, realiter bleibt er aber bis zuletzt an seinen Gefolgsherrn, den Baruc von Baldac, gebunden, in dessen Dienst er den frühen Tod findet. Und so wenig wie eine glückhafte politische Herrschaft, so wenig ist ihm auch eine psychologische Selbstherrschaft beschieden. Gahmuret inszeniert den Kult einer personalen Freiheit, hinter dem sich jedoch eine tief verleugnete Abhängigkeit verbirgt. Insofern kreist das Gahmuret’sche Lebensdrama paradigmatisch um die Themen von Entborgenheit und Trennung, von Freiheit und Abhängigkeit. Die erste, primäre Erfahrung von Abhängigkeit und Unzulänglichkeit ereignet sich mit der anfänglichen Enterbung Gahmurets nach dem Tod Gandins. Anders als sein Sohn Parzival, der später seine Mutter aus eigenem Antrieb verlassen wird, verlässt Gahmuret unfreiwillig einen Ort, an dem es für ihn keinen Platz mehr gibt. Er tut dies aber nicht als ein Aventiurenritter, der nur auf die eigene Kraft zählt, sondern mit einem Tross schwerbeladener Saumtiere, auf denen er das Hab und Gut seiner elterlichen Familie mit sich führt. Sinnfälliger lässt sich der Aufbruch Gahmurets als buchstäblich ‚beschwert‘ kaum in Szene setzen. Gahmuret führt seine Vergangenheit, die vom Trauma einer Enterbung geprägt ist, im Gepäck mit sich. Seine erste Wahl fällt dann auf den mächtigen Baruc, dem er sich als Krieger verdingt. Der Text teilt mit, dass Gahmuret alles daran liegt, den Größten und Mächtigsten dieser Erde zu finden (13,9 ff.), eine Phantasie, die sich unschwer als die ersatzweise Suche nach einer grandiosen Eltern-Imago zu erkennen gibt. Das Herausfallen aus der Sippe, die quasiväterliche Verstoßung, wird jedenfalls damit kompensiert, dass Gahmuret ein feudales Abhängigkeitsverhältnis eingeht, aus dem er sich nicht mehr lösen wird. Fremde Größe gibt fortan die haltende Struktur in der Erfahrung eigener Kleinheit vor. Gahmurets Liebesverhältnis zu Belakane folgt dann zunächst dem literarischen Muster, wonach sich ein Ritter mit kämpferischem Einsatz eine eigene Frau erwirbt. Auffällig ist allerdings, dass Belakane ihm nicht eigentlich zugesprochen wird oder er um sie wirbt, sondern dass Belakane sich förmlich seiner bemächtigt. Dem Helden fallen auf einmal eine Frau und ein Königreich

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zu, ohne dass er recht weiß wie. Die Rollenverteilung von relativer weiblicher Macht – Belakane hält ja buchstäblich die Zügel in der Hand (44,3) – und relativer männlicher Ohnmacht lässt denn auch Gahmurets Entscheidung, Freiheit wieder in der Trennung zu suchen, nachvollziehbar erscheinen. Fürs Erste setzt sich Gahmuret damit von dem Muster des unseligen Isenhart ab, der in der totalen Unterwerfung unter den Willen einer Frau den Tod gefunden hatte, und beantwortet die Ansprüche Belakanes mit Verweigerung. Belakane ihrerseits scheint keinen Spielraum zwischen einer Haltung der Abstoßung gegenüber Isenhart einerseits und einer ebenso triebhaften Bemächtigung Gahmurets andererseits zu kennen. Dass der gemeinsame Sohn Feirefiz erst nach dem Abschied geboren wird, fügt sich wiederum in das Muster narzisstisch geprägter dualer Beziehungen. Denn das Phantasma großartiger Einheit, in dem der andere zum Objekt eigener Selbsterweiterung gemacht wird, ist an eine Zweierbeziehung gebunden, die keinen Dritten zulässt. Das Unvermögen einer strukturellen Triangulierung, bei der ein Dritter symbolisch präsent ist, ist Merkmal der narzisstischen Beziehung. Das solchermaßen entfaltete Problem personaler Grenzziehung spiegelt sich dann noch einmal in Gahmurets freizügiger Aneignung von Dingen. Er hat keine Bedenken, sich, nachdem er Zazamanc verlassen hat, mit den Gütern Belakanes zu schmücken und als König von Zazamanc Hof zu halten. Seinem Begehren, alle verfügbaren Gegenstände in den Dienst seiner Selbstdarstellung zu nehmen, scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein. Dass er sich dabei in erster Linie der Ausrüstung Isenharts bedient, meint aber noch mehr. Schließlich hatte Isenhart seine Unterwerfung unter die Willkür Belakanes das Leben gekostet, wofür seine Ausrüstung nunmehr Zeugnis ablegt, und Gahmuret schien ja gerade hierzu einen konträren Weg der Verweigerung eingeschlagen zu haben. Nun zeigt sich aber gerade im Anlegen der Isenhart‘schen Rüstung, dass auch er Opfer einer Selbstauslieferung werden wird, zwar nicht an eine Frau, aber an einen Kriegsherrn. Wo Gahmuret der einen Gefahr zu entrinnen glaubt, holt ihn die nächste ein. Der programmatische Wechsel von strît und minne dokumentiert demnach nur scheinbar Autonomie, in Wirklichkeit stellt er eine Pendelbewegung dar, die eine tieferliegende strukturelle Heteronomie verdeckt. In Spanien fügen sich die Verhältnisse für Gahmuret dann ähnlich wie in Zazamanc. Allerdings sind hier gleich mehrere Frauen im Spiel. Mehr Wahlfreiheit gewinnt er dadurch nicht, denn die Frauen klären unter sich, wem diese männliche Trophäe zukommt, und Gahmuret selbst hält sich durch sein Ausweichen auf das Feld ritterlicher Bewährung scheinbar schadlos. Damit ist für ihn eine Spaltung zwischen männlicher und weiblicher Sphäre angelegt. Weiblich und damit unmännlich ist das gesamte Umfeld einer Frau, es sei denn, er hat Gelegenheit, seine spezifisch phallischen Qualitäten einzubringen.

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Männlichkeit kann und muss Gahmuret von daher primär in einer kriegerischen Sphäre beweisen, die dem unmittelbaren Einflussbereich der Frau entzogen ist. Diese Abspaltung einer bedrohlichen Frauenwelt bringt es aber auch mit sich, dass Gahmuret umso auswegloser an diese gebunden bleibt. Vor diesem Hintergrund vermag das exzentrische Arrangement zwischen Herzeloyde und Gahmuret ein Phantasma der Einheit aufzurichten, in dem Gahmuret sich unter dem Hemd Herzeloydes gleichsam in einen bergenden Uterus zurückziehen und zugleich dem entgrenzenden Rausch des Kampfes hingeben kann. Herzeloyde verleibt sich ihrerseits diese andere, von ihr getrennte Welt ein, indem sie die Spuren der Schlacht auf ihrer Haut trägt. Die reale Trennung ist dabei Voraussetzung für die Aufrechterhaltung dieser Phantasie, die an der Realität notwendigerweise scheitern müsste, und soll für Gahmuret zugleich eine vorgebliche männliche Unabhängigkeit dokumentieren. Dass Gahmuret sterben muss, weil sein Helm durch das besagte Bocksblut „weicher wurde als ein Schwamm“ (105,21), weist aber doch unmissverständlich auf ein entscheidendes Defizit an männlicher Härte hin. Gahmuret bleibt somit von seiner quasiväterlichen Ausstoßung bis zu seinem Tod im Dienste des Baruc an eine phantasmatische Welt gebunden, die geprägt ist von kompensatorischen Bildern eigener und fremder Größe und solchen weiblicher Übermacht. Die Welt der Frauen erlebt er als gefährlichüberwältigend, und in der Vaterwelt, die ihn gleichsam traumatisierend an sich bindet, kommt er um. Alle Bindungen sind von einer tiefen Ambivalenz geprägt. Dies trifft aber nicht nur auf Gahmuret zu. Auch für Herzeloyde, die Mann und Sohn so kompromisslos an sich bindet, wendet sich in ihren Träumen das Männliche zum grausam Verletzenden. Vor Gahmurets Tod träumt sie von Blitzen, die sie durchzucken, und von einem Greifen, der an ihrer rechten Hand zerrt (103,25 ff.). Dann wandelt sich das Traumbild, und sie sieht sich als Amme eines Drachen, der sie zerreißt, an ihren Brüsten saugt und dann fortfliegt; das Herz reißt er ihr noch aus der Brust. In dem Drachen ist unschwer Parzival zu erkennen, nach dessen Fortgang sie tot zusammenbrechen wird. In der Totalität ihrer Hingabe und ihrer Besitzansprüche erlebt sie das eigene Kind als zerstörerischen Drachen, der ihre leibliche Integrität zerstört, und steht so als Mutter genauso ungeschützt da wie Gahmuret in seinem letzten Kampf. Gahmuret wiederum, der in einem grandiosen Selbstbild Halt findet und damit die Welt beeindruckt, geht in den Tod, bevor er jemals das bergende Phantasma eigener und fremder Größe verlassen hat. Die narzisstische Organisation von Dingen und Menschen um die eigene Person als Mittelpunkt der Welt, die Selbstbezogenheit auf das Bild eigener Größe teilt Gahmuret in dieser Konsequenz allenfalls noch mit dem Siegfried des ‚Nibelungenliedes‘. So wie

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dieser ist er aber auch in hohem Maße abhängig von der Anerkennung anderer. Und wie dieser bezahlt er eine Nichtanerkennung der Realität mit dem Tod. * Die Gahmuret- und die Parzivalgeschichte bilden primär ein männliches Drama ab, und Gahmuret hinterlässt nun mit Parzival einen Sohn, für den die Suche nach sich selbst von einem gänzlich anderen Ausgangspunkt beginnt. Statt quasiväterlicher Enterbung ist Parzival weiblicher Überfürsorge ausgesetzt. Mit Blick auf einen Generationenwechsel birgt das vordergründig Defizitäre der Parzival’schen Position damit auch ein kompensatorisches Element in sich, denn die Ent-borgenheit des Vaters wird in gewisser Weise in der weltausschließenden Naturnähe der Herzeloydenwelt am Sohn wieder eingeholt in eine Struktur primärer Ge-borgenheit. Gesättigt von mütterlicher Zuneigung tritt dieser seinen Weg in die Welt nunmehr aus eigenem Impuls an und bezaubert nicht von ungefähr alle, die ihm begegnen, mit seiner Schönheit und der Aura der Unschuld. Die forcierte Männlichkeit Gahmurets ist bei Parzival wieder zurückgenommen zugunsten einer eher naiven Kindlichkeit. Parzival haftet seine Mutterwelt von daher aber auch als ein Ruch des Lächerlichen und Zurückgebliebenen, eben der tumpheit, an. Immer wieder trägt er die simplifizierenden Ratschläge der Mutter vor sich her und offenbart sich damit als jemand, dem das eigene ‚männliche‘ Urteil noch fehlt. Der entscheidende Wendepunkt in Parzivals Leben ist allerdings der Besuch auf der Gralsburg, bei dem er es nicht wagt, die entscheidende, Teilnahme bekundende Frage gegenüber dem leidenden Anfortas zu stellen. Deshalb wird ihn später die hässliche Gralsbotin Cundrie verfluchen, ebenso wie Sigune, Parzivals Cousine mütterlicherseits. Sigune nimmt insofern eine markante Stellung auf dem Weg Parzivals zur Gralsherrschaft ein, als er ihr über den gesamten Handlungsverlauf hinweg viermal begegnet. Die vier Sigune-Episoden, die in eine höchst eigentümliche Bilderwelt eingebettet sind, sollen hier unter der Perspektive der Identitätsgewinnung für Parzival betrachtet werden. Parzival begegnet Sigune das erste Mal, nachdem er Jeschute mit den Trophäen von Ring und Brosche wieder verlassen hat (138,9–142,2). Als er einen Abhang hinunterreitet, hört er lautes Klagegeschrei und trifft vor einem Felsen auf eine Jungfrau, die sich in der Pose unsäglichen Schmerzes ihre langen braunen Zöpfe, den Schmuck ihrer Weiblichkeit, ausreißt. In ihrem Schoß liegt ein toter Ritter. Parzival führt in seiner Einfalt erneut den Rat seiner Mutter im Munde, Fremde grüßen zu sollen, und erkundigt sich teilnehmend nach dem toten Ritter, nicht ohne seinen kämpferischen Einsatz anzubieten und nach seinen Wurfspießen zu greifen. Sigunes erste Worte aber gelten bei seinem Anblick dem Lobpreis seiner Person, verbunden mit einer glückhaften Verheißung:

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si sprach zem knappen ‚du hâst tugent. gêret sî dîn süeziu jugent unt dîn antlütze minneclîch. deiswâr du wirst noch sælden rîch.‘ (139,25–28)

Sie sprach: „Du zeigst Vollkommenheit. Preis sei deiner Jugend-Schönheit und deinem liebenswerten Antlitz. Du wirst noch reich an Glück und Segen.“

und: ,du bist geborn von triuwen daz er dich sus kan riuwen.‘ (140,1–2)

„Bist von Geburt an loyal, dass du ihm Mitgefühl erweist.“

Dann fragt sie Parzival nach seinem Namen, woraufhin er die Antwort eines unverständigen Kindes gibt: ,bon fîz, scher fîz, bêâ fîz, alsus hât mich genennet der mich dâ heime erkennet.‘ (140,6–8)

„Bon fils, cher fils, beau fils – so haben alle mich genannt, denen ich daheim bekannt war.“

Sigune aber erkennt ihn in diesen Worten als den Sohn ihrer Tante Herzeloyde, der Schwester ihrer Mutter Schoysiane, und sie klärt ihn nunmehr über seinen Namen, das Geschlecht seiner Mutter und seines Vaters, seinen Geburtsort und die Königreiche, die ihm gehören, und vor allem seinen Namen auf. Parzival, das bedeute rehte enmitten durch (140,17) und meine, dass die unglückliche Liebe zu seinem Vater eine Furche mitten durch das Herz Herzeloydes gezogen habe. Und sie teilt ihm mit, dass der tote Ritter in ihrem Schoß Schionatulander ist, der in seinem Dienst und als ihr Minnediener von Orilus getötet wurde. Anlass sei ein Brackenseil, die Leine eines Jagdhundes, gewesen. Parzival sinnt daraufhin auf Rache. Sigune schickt ihn jedoch, um ihn von Gefahren fernzuhalten, auf den falschen Weg. Diese Begegnung steht noch ganz unter dem Zeichen von Parzivals tumpheit. Die naive Zitation der Mutter sowie die Unkenntnis seines eigenen Namens geben Zeugnis von einer inneren Struktur ab, in der das eigene Selbst und die Welt draußen noch als eine amorphe Einheit unter dem Dach unangefochtener mütterlicher Autorität erlebt werden. Obwohl Parzival seine Sehnsucht nach Selbsterweiterung äußerlich aus der Mutterwelt fortgetrieben hat, lebt er immer noch in dem imaginären Kokon einer großartigen Einheit. Und Sigune gibt ihm eben hierauf ein Echo, wenn sie bei seinem Anblick zunächst Worte der Bewunderung und der glückhaften Verheißung findet. Als seine mütterliche Verwandte repräsentiert sie noch einmal die Mutterwelt, die dem Heranwachsenden

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all die Zuneigung spendet, die das Kind braucht, um für das Abenteuer des Lebens gerüstet zu sein, die es Mut fassen lässt in die eigene Stärke angesichts einer überwältigenden Realität. Und wohl nicht zuletzt als Frucht eben dieser Erfahrung von Geborgenheit zeigt Parzival emphatische Teilnahme an dem Schicksal Sigunes und ihres toten Freundes. Zugleich ist Parzival von einem Vergeltungsimpuls beseelt, der ihn glauben macht, das Unrecht mit dem Einsatz seiner jugendlichen Körperkraft und seiner kindlichen Jagdspieße wieder korrigieren zu können. Die Vorstellung kompensatorischer Rache erweist sich hier ebenfalls als Teil einer infantilen Vorstellungswelt. Das zweite Mal trifft Parzival auf Sigune nach seiner Verstoßung von der Gralsburg (249,11–255,29). Wiederum hört er lautes Wehklagen und findet eine Jungfrau, diesmal auf einem Lindenstamm sitzend, vor, der ein toter, einbalsamierter Ritter im Schoß ruht. Beide erkennen einander zunächst nicht wieder. Parzival bietet der Jungfrau seine Hilfe an. Diese aber fragt ihn zuerst, wo er denn in dieser Einöde die vergangene Nacht verbracht hätte, und Parzival erzählt von der Burg. Sigune glaubt, ihn korrigieren zu müssen, und berichtet von den Umständen auf dieser Burg, die den Namen Munsalvaesche trage, von den Gralsherrschern und davon, dass diese Burg nur für den unwissend Vorherbestimmten sichtbar sei. Schließlich aber erkennt sie in dem fremden Ritter Parzival und frohlockt bei der Aussicht, dass er dem Gralsgeschlecht die ersehnte Erlösung gebracht habe. Parzival fragt nun seinerseits nach, woran sie ihn denn erkannt habe, und daraufhin gibt sich Sigune nun selbst zu erkennen, erinnert ihn an die Verwandtschaft ihrer Mütter, an den Tod Schionatulanders und lässt ihn wissen, dass sie täglich neu um ihren Freund trauere. Parzival verhehlt nicht, dass ihn ihr gewandelter Anblick erschüttere, der Verlust ihrer roten Lippen, ihres Haupthaares und all ihrer Lebenskräfte. Ihn schaudert ob der makabren Gesellschaft, der sich Sigune aussetzt, und er fordert sie auf: ‚wir sulen disen tôten man begraben‘ (253,8). Sigune kommt jedoch ihrerseits auf die Heilserwartungen zu sprechen, die sie an die Mitleidsfrage gegenüber dem leidenden Anfortas knüpft, als verhieße diese auch ihrem Leid Erlösung. Und als Parzival bekennen muss: ‚ich hân gevrâget niht‘ (255,1), bricht sie in Wehklagen aus und verflucht ihn mit starken Worten: ,ir truogt den eiterwolves zan, dâ diu galle in der triuwe an iu bekleip sô niuwe.‘ (255,14–16)

„Ihr habt den Eiterzahn des Giftwolfs! Und es wuchs die Gallgeschwulst ganz frisch aus Eurer Liebe!“

Mit diesen Worten wird Parzival unwiderruflich aus dem Paradies seiner Kindheit verstoßen. Statt bewundernder Nachsicht trifft ihn nun eine narzisstische Kränkung in aller Wucht. Als er von Sigune fortreitet, ist er nicht mehr eins

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mit sich und der Welt, sondern beschwert von der Einsicht in ein entscheidendes Versäumnis, um nicht zu sagen: von Schuld. Ein reales und ein ideales Selbst klaffen mit der Errichtung einer zensierenden Über-Ich-Instanz, zu deren Stimme sich Sigune macht, nachhaltig auseinander. Damit vollzieht Parzival einen Akt der Reifung. Wenn er im unmittelbaren Anschluss an diese Begegnung Orilus im Zweikampf überwindet und ihn veranlasst, sich wieder mit Jeschute zu versöhnen, tut er dies vor der Einsicht in das SchuldhaftTörichte seines damaligen Überfalls. Er beeidet dies öffentlich und gibt den Ring, über den er noch verfügt, wieder zurück. Parzival rächt also nicht etwa die Schuld von Orilus am Tod von Schionatulander, sondern reflektiert seine eigene Schuld gegenüber Jeschute. Rache als Gewaltimpuls nach außen wird als Empfindung von Reue nach innen zurückgenommen und in einen Akt der Befriedung umgesetzt. Mit dem Tadel Sigunes kommt Parzival sein Wunsch nach dem Gral aber auch erst eigentlich zu Bewusstsein, denn mit dem Tadel ist ja auch die Aufklärung über den Gral verbunden. Aus dem Munde Sigunes wird die Übernahme der Gralsherrschaft allerdings als eine ganz spezifische Rollenerwartung an ihn herangetragen, und von daher eröffnet sich in einem generativen Kontext nicht nur für den jungen Parzival eine Kluft zwischen Wunsch und Realität, die den Anstoß zu einer innerpsychischen Differenzierung gibt, sondern ist auch die ältere Generation in der Durchsetzung ihrer Ansprüche einer Frustration ausgesetzt. Sigune als Sprachrohr derselben weist Parzival zweimal den Weg, aber nicht diese Weisungen führen ihn weiter, sondern nur seine inneren ‚Umwege‘. Vor dem Hintergrund einer generativen Dynamik lässt sich das phasenhafte Ableben Sigunes, das mit Parzivals mentalem ‚Erwachen‘ parallel verläuft, auch als Symbol für das Abtreten des Alten begreifen, das Parzival später buchstäblich beerdigen wird. Die dritte Begegnung zwischen Parzival und Sigune ereignet sich noch vor der entscheidenden Begegnung Parzivals mit dem frommen Einsiedler Trevrizent (435–442,25). Parzival reitet ziellos durch einen Wald, als er auf eine neu errichtete Klause über einem Bachlauf stößt. Der Erzähler teilt mit, dass hier Sigune, eingeschlossen über dem Sarg ihres Freundes, als Klausnerin lebt. Parzival reitet nahe ans Fenster, fragt, ob jemand da sei, und hört die Stimme einer Frau. Schamerfüllt wirft er sofort sein Pferd herum, steigt ab, wie es ihm der höfische Anstand vorgibt, legt seine Waffen ab und geht zurück ans Fenster. Parzival fragt, wie sie als Klausnerin in dieser Wildnis leben könne, und die Frau berichtet, dass sie das Essen vom Gral bekomme; die Zauberin Cundrie bringe es ihr regelmäßig samstags abends. Parzival provoziert sie dann, indem er sie auf einen Ring anspricht, den sie als Klausnerin trage, und dies gibt Sigune nunmehr Anlass, von ihrem Schicksal und dem des toten Schionatulander zu

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erzählen, dass sie jetzt als Jungfrau in ewiger Treue und Verbundenheit mit ihm eins sei und den Ring, ein Geschenk ihres Freundes, zum Zeichen dafür trage, dass er vor Gott ihr Mann sei. Jetzt erst erkennt Parzival Sigune und gibt auch sich zu erkennen. Sigune fragt freundlich nach ihm und dem Gral und Parzival kann nur von seinem großen Kummer und seiner freudlosen Suche berichten. Sigune nimmt ihren alten Tadel zurück und weist ihm den Weg, den Cundrie, die Gralsbotin, vor Kurzem genommen hat. Parzival nimmt umgehend Abschied und folgt der Spur, die sich jedoch alsbald wieder verliert. In dieser Begegnung hat Parzival also bereits ritterlich-moralische Werte verinnerlicht und verfügt über das zivilisatorische Signum der Scham, als er gegen einen höfischen Sittenkodex verstoßen hat. Allerdings – er reagiert auch nicht mehr mit der kindlich ungebrochenen Teilnahme auf Sigune wie in den Begegnungen zuvor. Wenn er die Jungfrau spöttisch auf den kostbaren Ring, den sie als Klausnerin trägt, anspricht, zeugt dies auch von einer neuen kritischen Distanz zum anderen. An die Stelle naiven Urvertrauens ist ein neues Misstrauen getreten und an die Stelle unmittelbarer Teilnahme Reflexion. Demgemäß wird er jetzt auch nicht mehr dazu kommen, seinem Mitgefühl Ausdruck zu geben, sondern stattdessen, nachdem Sigune sich zu erkennen gegeben hat, vom eigenen Leiden an der Gralssuche berichten. Die innere Beschwertheit Parzivals ermöglicht es dann wiederum Sigune, ihren Tadel zurückzunehmen und ihn auf den Weg zur Gralsburg zu schicken. Später, nach seiner Gralsberufung und seinem Wiedersehen mit Condwiramurs, fragt Parzival seine Leute erneut nach Sigunes Klause, und man geleitet ihn dorthin (804,8–805,12). Dort angekommen findet man sie jedoch nur noch tot vor, ein Anblick, der insbesondere die Cousine Condwiramurs erschüttert. Unmittelbares Betroffensein wird ganz auf sie verlagert, während Parzival bei dieser vierten und letzten Begegnung sozusagen in herrscherlicher Distanz verweilt. Man öffnet den Sarg Schionatulanders, in dem er einbalsamiert in unversehrter Schönheit ruht, legt Sigune neben ihn und schließt den Sarg wieder. Dann reitet die Gesellschaft mit Parzival, Condwiramurs und dem Sohn Loherangrin weiter nach Munsalvaesche, wo ein festlicher Empfang stattfindet. Die Entwicklung Parzivals lässt sich jetzt auch an der familialen Dreierkonstellation ablesen, welche die Überwindung einer dualen symbiotischen Ausgangsposition anzeigt. Betrachten wir die Suche Parzivals unter dem Blickwinkel äußerer Trennungen und innerpsychischer Distanzierungen, gewinnt von hier aus auch sein Name eine eigenartige Tiefe. Wolfram deutet zunächst den französischen Imperativnamen Perce-val, der so viel wie „Durchdringe das Tal“ mit einer aktiverobernden Konnotation meint, in seine passivische Entsprechung um. Nicht mehr das Bild des Durchdringens, sondern das der gezogenen Furche stellt er

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in den Mittelpunkt, und zwar ausgehend von Herzeloyde als leidender Frau. Dieser wurde die Furche von Gahmuret mitten durch ihr Herz gezogen, rehte enmitten durch (140,17), so die Deutung aus dem Munde Sigunes. Anders als das französische Perceval bietet die mittelhochdeutsche Namensdeutung damit verstärkt ein Bild der Teilung und Trennung an. Wenn Wolframs Parzival den Namen mit ebendieser Deutung führt, heißt dies, dass er das elterliche Schicksal in sich trägt, und zwar primär als das erlittene Schicksal der Mutter. Parzival ist gleichsam die Gestaltwerdung von Herzeloydes Trennungsschmerz. Freilich gibt das Wissen des Lesers darum, dass Parzival im Fortgehen der Mutter unbewusst einen weiteren, diesmal tödlichen Schmerz zufügt, der Deutung aus dem Munde Sigunes einen doppelten Boden, und obendrein liegt hier im Bild von Mutter und Sohn auch das primäre Trennungstrauma der Geburt nahe. Wolfram lässt in Parzival gleichsam aktiv Trennendes und passiv Trennung Erleidendes ineinander spielen. Im Übrigen errät Parzival ja auch nicht, wie Perceval, seinen Namen selbst (Chr. 3575), sondern erfährt ihn aus dem Munde der Cousine. Damit verweist die hergestellte Nähe der Person Parzivals zum passiven Drama des inneren ‚Durchfurchtwerdens‘ auch auf die Kränkung durch die Gralsgemeinschaft, die Parzival zu erleiden hat. Sind es doch jenes Ereignis und die daran anschließenden Verfluchungen, die ihm die naive Einheit seines Lebensgefühls zerstören und ihn sich mittels Anwandlungen von Schuld und Scham als innerlich entzweit erleben lassen. Die Ausstoßung der Gralsgemeinschaft geht auch durch ihn rehte enmitten durch. So wie aber das Aktiv-Männliche des Namens Perceval seinen positiven Werthorizont besitzt, so auch Wolframs passivische Wendung des Namens. Mehr als das Versäumnis der unterlassenen Frage selbst und eine Korrektur desselben ist es schließlich die ‚Furche‘ der Kränkung selbst, die Konfrontation mit der eigenen Unzulänglichkeit, die den tumben Parzival einem Prozess der Erziehung unterwirft. * Spannen wir zum Schluss noch einmal den Bogen zum Schicksal Gahmurets. Gefühle von Schuld und Scham als Funktionen einer inneren Differenzierung, als Repräsentanzen gesellschaftlicher Ansprüche an den Einzelnen kennt Gahmuret noch nicht. Seine Vitalität und Ausstrahlung beruhen vielmehr auf dem ungebrochenen Glauben an die eigene männliche Stärke, die freilich eine tieferliegende Struktur infantiler Abhängigkeiten verdeckt. Gahmuret ist keine Progression in Richtung auf eine herrscherliche Autonomie beschieden, aber aus seiner Liebe mit Herzeloyde geht immerhin Parzival, der neue Gralsherrscher, hervor. Die Sigune der Parzival-Bücher stellt nun gleichsam den Gegenpol der erotischen Existenz Gahmurets dar. Sie stirbt nach einem Leben ohne Liebeserfüllung ihrem toten Freund nach – ohne Nachkommen. Wo Gahmuret sich in eine grenzenlose Weite entäußert, kapselt sich Sigune in starrer Pose von der Welt ab, um ganz in ihrer

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Jenseitsprojektion aufzugehen. Mag man für die Männer Isenhart und Schionatulander insofern von einem ähnlichen Schicksal ausgehen, als sie die Willfährigkeit gegenüber einer Frau mit dem Leben bezahlen, stellt Sigune jedoch einen Gegenpol zu Belakane dar. Denn wo Belakane sich umstandslos dem nächsten Mann zuwendet, verharrt Sigune in der selbstreflexiven Pose der Schuldigen. Die Hinweise im Text auf das Motiv des Brackenseils sind rar, und dass Sigune ihren Freund einem davonlaufenden Jagdhund hinterherschickt, der ein kostbares Seil mit dem Text einer Liebesgeschichte hinter sich her schleift, wird erst in dem später entstandenen ‚Titurel‘ ausgeführt. Aber der Leser soll doch wohl davon ausgehen, dass Sigune ihren Freund, dem sie sich bislang verweigerte, in einem Willkürakt davongeschickt hat. Nun beschwert sie sein Tod, an dem sie sich schuldig fühlt und den sie mit härtester Askese beantwortet. Auf die Rigidität ihres Minnediktums folgt die Selbstbestrafung, welche ihren sinnfälligen Ausdruck im Bild der Klause gewinnt. Innere, Grenzen setzende Struktur nimmt hier die Gestalt einer engen Behausung, um nicht zu sagen: eines Gefängnisses an. Hinter der Rigidität ihrer Weltabsonderung aber leugnet Sigune die eigentliche Trennung von ihrem Geliebten, die Trennung durch den Tod, umso nachhaltiger und geht in dem Phantasma einer Einheit mit dem Toten auf, das ihr buchstäblich alle Lebenssäfte entzieht. Allen Figuren, die wie Sigune in einem regressiven Phantasma der Einheit befangen sind, ist gleichsam als letztendliche Erfüllung desselben der Tod beschieden. Gahmuret stirbt, weil sein Helm weicher war als ein Schwamm, das heißt, weil er nie männliche Festigkeit erworben hat. Herzeloyde stirbt sozusagen in zwei Phasen, mit dem Tod ihres Geliebten und mit dem Fortgang des Sohnes, das heißt mit dem Verlust zweier sie gänzlich ausfüllender Liebesobjekte. Sigune stirbt Schionatulander nach, und Isenhart und Schionatulander sterben im Minnedienst, weil auch sie ihre personalen Grenzen nicht zu wahren wussten. Die solchermaßen in ihrem narzisstischen Kosmos eingeschlossenen Personen erleben den anderen, wie Herzeloyde, als Drachen oder werden selbst für den anderen zu einem verschlingenden Ungeheuer. Parzival selbst aber führt sein Weg weiter. Er geht weder in der erotisch-kämpferischen Rauschhaftigkeit, wie sie die Vaterwelt repräsentiert, auf, noch in der Weltverleugnung, wie sie Sigune verkörpert, und nimmt, wenn man so will, aus der einen Welt die Vitalität, aus der anderen die Selbstdistanzierung mit, um den eigenen Weg der Reifung zu gehen. Freilich bezahlt auch Parzival für Zivilisierung und Befriedung seinen Preis. Als derjenige, der gegenüber Anfortas nach seiner Gralsberufung endlich die sogenannte Mitleidsfrage stellen wird: ‚œheim, was wirret dir?‘ (995,29), „Oheim, was quält dich?“, und damit das Vermögen dokumentiert, die Position des anderen zu imaginieren, hat er zugleich auch die identifikatorische Unmittelbarkeit verloren, mit der er an dem Leiden Sigunes teilhatte.

Ritter und Frauen

Nun ist Parzival, ebenso wie Gahmuret, ein männlicher Held, während die weiblichen Figuren in ihrer dramatischen Funktion den männlichen durchweg nachgeordnet sind. Sigune tritt beispielsweise nur im Zusammenhang mit Parzival auf, Belakane nur mit Gahmuret. Im Rahmen dieses männlich-zentrierten Blickfeldes erzählt der Text von männlicher Identitätssuche, die sich wesentlich in Auseinandersetzung mit dem Weiblichen vollzieht, in der ambivalente Wünsche zwischen Vereinigung und Trennung, zwischen der Belebung einer ursprünglichen Nähe und dem Impuls männlicher Abgrenzung bestimmend sind. Gahmuret liefert sich sozusagen abwechselnd Vater- und Mutterwelten aus, ohne eigene Autonomie zu gewinnen, ohne auf der Grundlage innerer symbolischer Repräsentanzen die Fähigkeit zur Vermittlung zu gewinnen. Parzivals Weg ist insofern als ein kompensatorischer zu begreifen, als die ­substitutive Männlichkeit des Vaters wieder eingeholt wird in eine Kindheit unter bergender mütterlicher Obhut. Diese entlässt ihn zwar mit entscheidenden Defiziten, aber auch mit der Gabe auratischer Anziehung. Wolfram gestaltet das scheinbare Paradoxon, dass erst eine primäre haltende Struktur diejenige Trennungsleistung ermöglicht, welche väterliche Gebote und Frustrationen zu integrieren vermag. Bemerkenswerterweise aber trifft die entscheidende Kränkung Parzivals, die Verstoßung aus der Gralsgemeinschaft, ihn vor allem über weibliche Figuren. Cundrie und Sigune verkörpern gleichsam den mütterlichtriebhaften Ausstoßungsimpuls, der Herzeloyde fehlt. Gewinnung von männlicher Identität vollzieht sich in Wolframs ‚Parzival‘ über Schritte der Trennung von Frauenwelten, die sich entweder, wie bei Gahmuret, als Spaltungen manifestieren oder über integrative Prozesse in ein vorbildhaftes Ehemodell münden. Für Letzteres stehen Parzival, aber auch die Namenshelden der deutschen Artusromane Hartmanns von Aue: Erec und Iwein. Trennung aus der einnehmenden Aura des Weiblichen verweist in diesem Kontext weiter auf generelle Prozesse von psychologischer Distanzierung und Differenzierung. Signifikant für die Helden in einem arturischen Umfeld ist dabei die Gewinnung von Distanzgefühlen der Scham und Schuld. Erec und Iwein durchleben diese aufs Intensivste, aber auch Parzival ‚erlernt‘ sie, und gekrönt wird dieser Prozess einer Verinnerlichung normativer Ansprüche durch die Gewinnung von Mitgefühl, mittels dessen der andere symbolische Repräsentanz gewinnt und Akte sozialer Integration und Vermittlung möglich werden. Wolframs ‚Parzival‘ spielt nun mit Gahmuret, einem Angehörigen der Artussippe, der jedoch nie in Berührung mit dem Artushof kommt, eine Kontrastfigur ein, die sich, ähnlich wie die Helden des ‚Nibelungenliedes‘, durch ihr ungebrochen grandioses Selbstbild auszeichnet. Gefühle von Scham, Schuld oder Mitgefühl sind Gahmuret fremd, dafür aber durchlebt er seine erotischen und kämpferischen Begierden umso intensiver, steht er, wenn man so will, einem

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vitalen Urgrund noch näher. Nicht von ungefähr geht daher gerade von den minder ‚zivilisierten‘ Gestalten der mittelalterlichen Epen ein eigenes Faszinosum aus. Der paganen Sinnenfreude Gahmurets setzt Wolfram jedenfalls damit, dass er diesen nach seinem Tod von den Heiden als Gott verehren lässt (107,19/20), sein eigenes Denkmal. Literatur Chrétien de Troyes: Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Der Percevalroman oder die Erzählung vom Gral, altfranz. Text und dt. Übers., übers. und hg. von Felicitas Olef-Krafft, Stuttgart 1991. Freud, Sigmund: Zur Einführung des Narzißmus (1914), in: S. F.: Gesammelte Werke, Bd. 10, Frankfurt a. M., S. 137–170. Gephart, Irmgard: Geben und Nehmen im ‚Nibelungenlied‘ und in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘, Bonn 1994. Gephart, Irmgard: Textur der Minne. Liebesdiskurs und Leselust in Wolframs ‚Titurel‘, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik (60) 2005, S. 91–132. Henseler, Heinz: Die Theorie des Narzißmus, in: Dieter Eicke (Hg.), Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 2: Freud und die Folgen, Zürich 1976, S. 459–477. Kohut, Heinz: Narzißmus (The Analysis of the Self, 1971). Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen, übers. von Lutz Rosenkötter, Frankfurt a. M. 1976. Küchenhoff, Joachim: ‚Zur Einführung des Narzißmus‘ – eine Relektüre, in: Psyche (58) 2004, S. 150–169. Pietzcker, Carl: Einheit, Trennung und Wiedervereinigung. Psychoanalytische Untersuchungen eines religiösen, philosophischen, politischen und literarischen Musters, Würzburg 1996. Wolfram von Eschenbach: Parzival, übertr. von Dieter Kühn, kommentiert von Eberhard Nellmann, Bd. 1. 2., Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek der Klassiker).

Textur der Minne

3.2 Textur der Minne Liebesdiskurs und Leselust in Wolframs ‚Titurel‘

Wolframs von Eschenbach ‚Titurel‘,1 sein spätes unvollendetes Werk, erzählt in zwei Fragmenten von der Jugendliebe Sigunes und Schionatulanders. Thematisch ist es aufs Engste mit dem früher entstandenen ‚Parzival‘2 verknüpft, in dem wir in vier Episoden Sigune kennenlernen, wie sie um ihren toten Geliebten trauert und ihm schließlich nachstirbt. Dennoch bilden Folge- und Vorläufertext keine sinnfällige Einheit. Im Sinne einer Chronologie liefert der ‚Titurel‘ zwar nachträglich Versatzstücke der Geschichte eines Paares, das im ‚Parzival‘ mit dem toten Schionatulander seine eigentliche Geschichte schon hinter sich hat, gibt aber mehr Rätsel auf, als dass es zum unmittelbaren Verständnis der Schicksale beitrüge. Zu sehr differieren die Eindrücke, welche die elegischen Siguneepisoden aus dem ‚Parzival‘ einerseits und die Dynamik der Geschichte von Sigune und Schionatulander im ‚Titurel‘ andererseits hinterlassen.3 Nicht nur dass Wolfram im ‚Titurel‘ eine andere metrische Form wählt und statt des Reimpaarverses eine Strophenform mit vier Langzeilen benutzt, die dem Text sein andersgeartetes eigentümliches Pathos verleiht – auch die Anlage der Figuren, vor allem Sigunes, ist in eine gänzlich andere Vorstellungswelt transponiert. Die Welt im ‚Titurel‘ ist in gewisser Weise diesseitiger geworden. Weihevolle Gralsbezüge, wie sie der ‚Parzival‘ anbietet, wurden weitgehend fallengelassen und die Personen stattdessen mit sehr irdischen Begierden und Ängsten ausgestattet. Quasireligiöse Bilder von klausnerischer Einsamkeit und Entsagung im ‚Parzival‘ sind im ‚Titurel‘ abgelöst durch elaborierte Minnedialoge und ein turbulentes Jagdszenarium. Das erste der beiden überlieferten Fragmente setzt sich vornehmlich aus Dialogen zusammen, die um die Erfahrung und Bewältigung der Minne kreisen. Den Mittelpunkt des zweiten Fragments, das unverbunden neben dem ersten steht, bildet dann als ein höchst eigentümliches Objekt das mit Edelsteinen beschriftete Seil eines entlaufenen Bracken, ein Seil mit Liebesgeschichten, die Sigune in Bann schlagen. Minne als erfahrene, besprochene und schriftlich niedergelegte bildet also das Grundmotiv dieses kleinen Werks, das sich auf den ersten Blick höchst disparat und bruchstückhaft präsentiert und vor allem den Leser mit der Frage allein lässt, was passiert, nachdem Sigune, die Heldin der Geschichte, ihren Geliebten Schionatulander neuerlich fortschickt, um ihr den entflohenen Bracken mit seinem Seil wiederzubringen. Denn hier bricht das zweite Fragment ab, und der leere Raum füllt sich nur bedingt mit dem

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Bild Sigunes, wie sie im ‚Parzival‘ ihren im Minnedienst gefallenen Geliebten in den Armen hält. Ein kurzer Ausblick auf den ‚Parzival‘ soll aber zunächst diese textuellen Bezüge noch einmal vergegenwärtigen. Parzival und Sigune In Wolframs großem Parzival-Epos existiert Sigune, die Cousine Parzivals, welche mit ihrem toten Freund in den Armen schon von Beginn an zu einer Ikone weiblichen Leidens erstarrt, nur durch den Blick des männlichen Titelhelden. Auf seinem Weg der Gralssuche begegnet er ihr insgesamt viermal,4 und es gibt keine Begegnung, in der Parzival sich nicht spontan mitfühlend zu dem Leid seiner Cousine um ihren Geliebten äußern würde.5 In ihrer Leidenserstarrung aber stellt Sigune für Parzival eine wichtige Mittlerin zur Gralswelt dar. Als Angehörige der Gralssippe vertritt sie deren Ansprüche und verfügt über exklusive Informationen, verkörpert aber auch zugleich ein Korrektiv gegenüber den Anmaßungen dieser exklusiven und exkludierenden Gemeinschaft. Parzivals zentrales Missgeschick, seine kommunikative Unfähigkeit gegenüber dem leidenden Anfortas auf der Gralsburg, sein Unvermögen, die erwartete Mitleidsfrage zu stellen,6 ist in seinem Verhältnis zu Sigune schon von jeher relativiert.7 In ihrer Lebensentsagung bildet die Cousine überdies den Kontrapunkt zu Parzivals unbekümmertem Anspruch auf den Gral. Sigune absorbiert gleichsam alle Negativität, um Parzival auf seinen vorherbestimmten Weg dynastischer Heilserringung zu weisen. Sie selbst stirbt schließlich, wenn man so will, einen Opfertod für Parzival und ihre Sippe. Wolframs ‚Titurel‘ erzählt nun die hinführende Geschichte zu Schionatulanders und Sigunes Tod, gibt dieser jedoch eine gänzlich andersgeartete Färbung als den Siguneepisoden im ‚Parzival‘. Die Prophetin und Mittlerin, deren Existenz mit der Schicksalserfüllung Parzivals erlischt, erwacht hier gleichsam zu neuem, eigenem Leben. Wir erfahren von ihrer Lebensgeschichte, dem Tod ihrer Mutter, neuen elterlichen Bindungen, ihrer zaghaften Liebe zu Schionatulander und ihrer merkwürdigen Leidenschaft für eine Schrift, die auf die Leine eines Jagdhundes appliziert ist. Trotz des elegischen Grundtons tritt uns eine Sigune aus Fleisch und Blut, eine Kindfrau mit Tugenden und Begierden entgegen, die wir im ‚Parzival‘ nur als bleiche, trauernde Jungfrau kennengelernt hatten. Der Leser ist demnach geneigt, den späteren Text eher als eine Art Wiedererweckung der Unglücklichen zu lesen und so die Liebenden nicht nur als frühzeitig Verstorbene, sondern auch als ewig Suchende und Begehrende im Gedächtnis zu behalten. Nicht passive weibliche Leidensbereitschaft, sondern ein unerfülltes Begehren beider Liebespartner dominiert im ‚Titurel‘ und setzt mit dem einprägsamen Bild des wilden Bracken, der sich von seiner Halterung losreißt, den provozierenden

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Schlusspunkt im zweiten Fragment. Weniger Tod und Entsagung als vielmehr ein sehr lebendiges Streben geben somit das kardinale Interpretationsproblem in der nachfolgenden Dichtung auf. Inhaltlich und formal geben die Fragmente dabei einen enormen Spannungsbogen zwischen Brüchigkeit und Ganzheit vor. Dass sie als Ganzes Sinn transportieren, steht außer Frage, dass sich ein eindeutiger Sinn in der schillernden Vielschichtigkeit des kleinen Werks allerdings auch immer wieder entzieht, ebenso. Schon der Fragmentcharakter bringt die Absenz einer geschlossenen Wertwelt mit sich, wie sie der ‚Parzival‘ immerhin noch vordergründig anbietet, wenngleich die Überfülle an Denkfiguren und Assoziationsräumen, die dieses gewichtige Opus aufwirft, kaum in dem harmonisierenden Schluss mit all seinen Eheschließungen aufgeht. Ob für den ‚Titurel‘ nun die Erfahrung von Offenheit und Unvollständigkeit eher in negativen Kategorien von Zerfall und Untergang gedeutet wird oder in positiven Kategorien von Innovation und Reflexivität,8 hängt dabei vom Blickwinkel des Interpreten ab. Konsens dürfte in der Forschung jedoch darüber bestehen, dass Sprache und Schrift in ungewöhnlicher Weise im ‚Titurel‘ sich selbst zum Thema geworden sind,9 in einer Abstraktion, deren phantasiebeflügelnder Impuls bis in unsere Tage reicht. Insbesondere Sigunes finales „Textbegehren“,10 ihr Wunsch nach dem entschwundenen Seil, stellt dabei eine Herausforderung für die Interpreten dar, worüber allerdings die markante Lebensgeschichte, die Sigune doch beigegeben ist wie dem Bracken das Seil, oftmals in den Hintergrund tritt. Zwar lässt die fragmentarische Dichtung einen geschlossenen Erzählbogen vermissen, die Deutung möchte jedoch aufzeigen, dass einzelne Teile in sich schlüssiger aufeinander bezogen sind, als es auf den ersten Blick den Anschein hat, die Figuren psychologisch konsistenter angelegt sind, als die formale Brüchigkeit zunächst erkennen lässt. Auch wenn eine Kunstfigur wie die Minne rhetorisch im Mittelpunkt steht, sollte dies nicht eine differenzierte emotive Interaktion zwischen den Beteiligten übersehen lassen. Bei aller Distanzierung, die Teil der sprachlichen Codierung ist, greifen nämlich diskursive Rationalität und eine vielfach bedrohlich erlebte Emotionalität eng ineinander, ist der konventionelle Minnediskurs nicht nur ein Medium der Vermeidung, sondern auch ein Medium der Verständigung, signifikant noch in den Missverständnissen der Akteure. Im ersten Fragment wird demnach das Augenmerk verstärkt auf die emotionale Grundlegung einer artifiziellen Diskursebene zu richten sein. Die nachfolgende Eruption der Handlung im zweiten Fragment mit dem plötzlichen Auftauchen des Bracken an der Lagerstatt des Paares, dem Einfangen und der wilden Flucht desselben sowie dem Rätsel der beschrifteten Leine bleibt vor diesem Hintergrund zu deuten. Vor allem soll das prägnante Bild von Bracke, beschriftetem Seil und ebensolchem Halsband auf seine Symbolik im Kontext von Natur und Kultur befragt werden. Anders als in der allegorischen fügt sich

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in der symbolischen Deutung auch hier Disparates noch einmal zusammen. Das erste Fragment beginnt jedoch zunächst mit einem genealogischen Rückblick auf die Ahnen des Gralsgeschlechts. Altersklage und Kindheitsgeschichten Altgermanisten wissen, dass es im ‚Titurel‘ nur am Rande um die Figur geht, die diesen Namen trägt, um den Ahnherrn des Gralsgeschlechts, und dass das fragmentarische Werk lediglich einer wissenschaftlichen Konvention folgend mit dem Namen der erstgenannten Person betitelt wurde. Nicht also die Altersschwäche des greisen Titurel, sondern die Jugendliebe Sigunes und Schionatulanders stehen im Mittelpunkt der Dichtung, und dennoch gibt die wehmütige Rede des abdankenden Titurel in den ersten Strophen des ersten Fragments die melancholische Grundstimmung des gesamten Werks vor. Am Ende seines Lebens, als aus dem starken Titurel der swache geworden ist (12,1), gibt dieser den Gral an seinen Sohn Frimutel weiter, und hebt, den Tod vor Augen, zu einer großen, resignativen Klage an. Dô sich der starke Tyturel  mohte gerüeren, er getorste wol sich selben  unt die sîne in sturme gefüeren. sît sprach er in alter:  ‚ich lerne, daz ich schaft muoz lâzen.  des phlac ih schône unt gerne.‘ ‚Möhte ih getragen wâppen‘,  sprach der genende, ‚des solt der luft sîn gêret  von spers krache ûz mîner hende. sprîzen gæben schate vor der sunnen. vil zimierde ist ûf helmen  von mînes swertes ecke enbrunnen. Obe ich von hôher minne  ie trôst enphienge, unt op der minnen süeze  ie sælden kraft an mir begienge, wart mir ie gruoz von minneclîchem wîbe, daz ist nu gar verwildet  mînem seneden klagendem lîbe. (1–3) Als sich der starke Titurel noch rühren konnte, getraute er sich wohl, sich und die Seinen auf vorbildliche Weise in die Schlacht zu führen. Später, im Alter, sprach er: „Ich sehe ein, dass ich den Schaft lassen muss. Den pflegte ich gewandt und mit Freude zu schwingen. / Könnte ich noch Waffen tragen“, sprach der Tapfere, „so müsste der Wind geehrt sein durch das Krachen der Speere, die ich mit meiner Hand würfe. Ihre Splitter gäben Schatten vor der Sonne. So mancher Schmuck ist auf Helmen schon durch die Schneide meines Schwertes in Flammen aufgegangen. /

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Wurde mir jemals durch Hohe Minne freudige Zuversicht zuteil, hat die Süße der Minne mir jemals Glück und Stärke verliehen, empfing ich jemals den Gruß einer liebreizenden Frau – das ist meinem sehnsuchtsvollen, klagenden Dasein nun gänzlich fremd geworden.

Ohne hinführende Worte wird der Leser unvermittelt mit der sehnsüchtigrückschauenden Trauer eines alten Mannes konfrontiert, der noch am Leben hängt. Adliges Sippenverständnis, das Erfüllung in der Fortpflanzung sucht, wird zwar anzitiert, berührt die grundstürzende Melancholie des gealterten Kriegshelden jedoch genauso wenig wie eine an den Gral gebundene Heilsperspektive aus dem ‚Parzival‘. Über die mitschwingende Bitternis können auch die folgenden Hinweise auf art und geslähte, der Gedanke an die Vererbung hoher Werte wie wâre minne und triuwe an die nachfolgenden Generationen, nicht hinwegtäuschen (4). Vielmehr nimmt der Leser überrascht zur Kenntnis, dass die Selbstdeutung Titurels mitnichten um gelebte Entsagung im Dienste des Grals kreist, wie er es aus dem ‚Parzival‘ glaubt gelernt zu haben, sondern um die sehr profanen Themen von Kriegslust und Minnedienst – und dies obwohl der Gral im ‚Parzival‘ kriegerischen Einsatz doch nur als dessen Verteidigung und Buße für die Templeisen vorsieht,11 zudem weltliche Minne allein für den Herrscher reserviert und auf die Frau einschränkt, die vom Gral genannt wurde.12 Aber nicht die Weltentsagung einer religiösen Gesellschaftsidee, welche Liebe und Kampf gänzlich in den Dienst des Herrscherhauses nimmt, sondern der wehmütige Rückblick auf die hohe Lust am Gebrauch von Waffen und die vielfältigen Begegnungen mit schönen Frauen bewegen Titurel in seiner Rede. Ja, in seiner Phantasie hält er sich noch mit der Imagination eigener Grandiosität schadlos für seine tatsächliche Hinfälligkeit (2). Und so wie er um das Leben trauert, trauern auch die Seinen um ihn, denen er väterliches Leitbild gewesen ist (11). Wolfram lässt hier also den ideellen Entwurf einer erhabenen Gralswelt aus dem ‚Parzival‘ sichtbar in den Hintergrund treten,13 um davor ein menschliches Drama zu inszenieren, in dem der Tod nicht auf ein himmlisches Jenseits, sondern auf die verlorene Fülle des Lebens verweist. Titurel erhält seine Würde nicht dank idealischer Zuschreibungen, sondern als sterbliche Existenz, deren Ängste und Trauer der Rezipient teilen kann. Die Vorstellung paradiesischer Bedürfnisbefriedigung,14 die mit den wunderbaren Qualitäten des Grals verbunden ist – um den Preis des Triebverzichts – , hat sich wieder in ihr irdisches Gegenteil, nämlich die Erfahrung von Mangel, Alter und Tod verkehrt. Und der Leser mag hinter dem Bild des alten Gralskönigs auch das Bild des gealterten Dichters ahnen, der von einer leidenschaftlich geliebten Sinnenwelt Abschied nimmt. Der Erzähler führt die genealogische Schau der Gralsfamilie (13–36) dann weiter über Frimutel zu dessen Tochter Schoysiane und ihrer Hochzeit mit Kiot,

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um hier die idealtypische Darstellung von weiblicher Schönheit und männlicher Tapferkeit abrupt umkippen zu lassen in eine pathetische, weltumspannende Klage: owê des, nu nâhet im sîn trûren! / sus nimet diu werlt ein ende: unser aller süeze an dem orte ie muoz sûren (17,3–4) (O weh, nun naht ihm sein Leid! So ist der Lauf der Welt: Unser aller Freude muss sich am Ende stets in Bitternis verkehren). Aus der Perspektive Kiots berichtet der Erzähler nunmehr von der Geburt eines Kindes und dem tragischen Tod seiner Mutter. Der Leser weiß, dass es sich bei diesem Kind um die Heldin der Geschichte, Sigune, handeln muss: Sîn wîp in ze rehter  zît gewerte eins kindes. daz mich got erlâze  in mînem hûs eines solhen ingesindes, daz ich als tiure müese gelten! die wîle ih hân die sinne,  sô wirt es von mir gewünschet selten. (18) Seine Frau schenkte ihm nach angemessener Zeit ein Kind. Möge mich Gott vor einem solchen Zuwachs in meinem Haushalt bewahren, den ich so teuer bezahlen muss! Solange ich meine Sinne beisammen habe, wird mir ein solcher Wunsch nie in den Sinn kommen.

In der erzählerischen Ich-Rede werden überraschend harte Worte gebraucht. In identifikatorischer Pose mit dem betroffenen Vater gibt der Ich-Erzähler zu verstehen, dass er unter diesen Umständen gerne auf das Kind verzichtet hätte. Seine Worte, die durchaus einem adligen Sippendenken zuwiderlaufen, wirken nachgerade wie ein Fluch, der dem Neugeborenen den Tod der Mutter als eine Art Urschuld anlastet und es seine Unerwünschtheit schon mit dem ersten Atemzug spüren lässt. Auch wenn die Folgestrophe (19) dann einem konventionellen Frauenpreis gewidmet ist, berichtet der Text sogleich wieder von dem schmerzlichen Verlust für Kiot, der Beerdigung Schoysianes und der Entscheidung Kiots, sich aus dem weltlichen Leben zurückzuziehen (20–24). Auch sein Bruder Manfilot folgt ihm in teilnehmendem Leiden auf diesem Weg, während Sigune damit schon in der Wiege zur Erbin von Kiots Ländereien wird (22). Tampunteire, Kiots zweiter Bruder, wird schließlich fürs Erste die kleine Sigune zu sich nehmen, um sie gemeinsam mit seiner Tochter Kondwiramurs aufzuziehen. Sigunes Abschied von Kiot begleiten viele Tränen (25,2). So weit die Geschichte von Sigunes Geburt, die sich vorab in einen epischen Heldentopos zu fügen scheint, der immer wieder familiäre Gemeinsamkeit unterläuft.15 Die signifikante Verlorenheit des Heldenkindes als Waise oder Halbwaise ist insofern Teil des Heldenmythos, als dieses in seiner sozialen Entborgenheit symbolisch freigesetzt wird für die Suche nach sich selbst beziehungsweise einem gesellschaftlich relevanten Ziel. Aber nicht nur dies,

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auch die grundsätzliche Gefährdung einer leidenschaftlichen Zweierbeziehung wird hier sichtbar, die strukturell einen Dritten ausschließt. Mit dem Tod der Mutter im Kindbett fügt sich auch das Schicksal von Schoysiane und Kiot in jenes Muster von Liebesgeschichten ein, denen in gewisser Weise ihre sozial nicht lebbare Exklusivität dadurch besiegelt wird, dass ein Partner stirbt, und deren symbiotische Radikalität letztlich lebensverneinend ist.16 Als überlebender Mann wählt Kiot hier den Weg der sozialen Entsagung, der ihm in struktureller Parallele zum Siguneschicksal aus dem ‚Parzival‘ den Raum für die Einheit mit der toten Geliebten bietet, eine letzte Unzertrennlichkeit in der endgültigen Trennung ermöglichend.17 Schließlich liegen mit dem Verlust der Mutter für Sigune und dem Verlust des Vaters für Parzival bei beiden Kindern in beiden Texten ähnliche Ausgangspositionen vor, die allerdings als mütterliche Dominanz für Parzival, den Herzeloyde in einer weltfernen Einöde großgezogen hat, und als väterliche Dominanz für Sigune gemäß der Wolfram’schen Verwandtschaftslogik auf unterschiedliche Symbolfelder verweisen.18 Sigune ist, wie noch zu zeigen sein wird, im ‚Titurel‘ gleichsam ohne mütterliche Korrekturen dem väterlichen Trennungsprinzip ausgesetzt, während Parzival im Gegensatz hierzu durch mütterliche Bindungskräfte festgehalten und zunächst einer männlichen Welt entfremdet wird. Allerdings führt nur die Absenz des Mütterlichen bei Wolfram in den Tod, wohingegen die väterliche Absenz korrigierbar ist. Sigunes erste Trennung im ‚Titurel‘ nach dem Tod der Mutter, die Trennung vom Vater, führt sie zum Vaterbruder Tampunteire, wo sie in der Gesellschaft ihrer Cousine Kondwiramurs aufwachsen soll. Der Name der Ersatzmutter findet keine Erwähnung, wodurch der mütterliche Verlust noch unterstrichen wird. Sogleich schwenkt der Text dann über zum Schicksal der Mutterschwester Herzeloyde, die von dem verstorbenen Kastis als jungfräuliche Witwe hinterlassen wurde (26/27). Und als Tampunteire, Sigunes Ziehvater, stirbt, bemüht sich die leidgeprüfte Herzeloyde eindringlich um die inzwischen Fünfjährige, ohne dass ein klares Motiv genannt würde (28).19 Die Reihenfolge der Strophen – erst wird vom Schicksal Herzeloydes, dann vom Tod Tampunteires berichtet – legt es allerdings nahe, dass Herzeloyde in einem ‚Gewinn‘ Sigunes eine Kompensation für den Verlust des Mannes sucht. Wenn man so will, lässt sich der besitzergreifende Habitus Herzeloydes aus dem ‚Parzival‘, die dort alles einsetzt, um Gahmuret zu bekommen, auch im ‚Titurel‘ wiederfinden. Diu küngin Herzelaude  an Sigûnen dâhte. si warp mit al ir sinnen,  daz man die von Brûbarz ir brâhte. Kondwîrâmûrs begunde weinen, daz si gesellikeit und der  stæten liebe an ir solte vereinen. (29)

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Die Königin Herzeloyde dachte an Sigune: Sie setzte alles daran, dass man sie ihr von Brubarz brachte. Kondwiramurs weinte darum, dass sie von ihrer Gesellschaft und der tiefen Zuneigung zu ihr geschieden sein sollte.

Dass dieser Wechsel für das Kind Sigune eine harsche Trennung bedeutet, wird durch die Tränen von Kondwiramurs offenbar, die ihre geschwisterliche Gefährtin verliert. Sigune selbst aber bleibt tränenlos, ohne erkennbare Zeichen der Trauer. Statt dessen hören wir sie sagen: [...] ,liebez väterlin,  du hayss mir gewinnen mein schrein vollen tocken,20  wenn ich zu meiner muomen var von hynnen. so bin ich zu der ferte wol berihtet. ez lebt manig ritter,  der sich in meinen dienst noch verphlichtet.‘ (30) Liebes Väterchen, lass mir meine Truhe voll mit Puppen bringen, wenn ich von hier zu meiner Tante reise. Dann bin ich zu der Reise gut ausgerüstet. Es gibt viele Ritter, die sich noch in meinen Dienst verpflichten werden.

Sigunes Worte lesen sich wie die Selbstberuhigung einer versteinerten Seele. Wenn schon nicht die Menschen, mit denen sie zusammengelebt hat, transportabel sind, so sind es doch ihre emotiven Ersatzobjekte, die Puppen, und als hätte sie schon gelernt, sich ganz auf diese zu beschränken, bleibt sie angesichts eines dramatischen Verlustes ohne Tränen und ohne Protest. Nur mit ihren Puppen fühle sie sich wohl gerüstet, und als verstünde das kleine Mädchen auch schon die gesellschaftlichen Spielregeln von Status und Macht, tröstet sie sich über einen emotionalen Verlust noch mit der Aussicht auf ihre zukünftige Position als Minneherrin hinweg.21 Ihre Machtphantasien als Kompensation emotionalen Entzugs werden nun mitnichten korrigiert, sondern noch bestätigt durch die Antwort ihres väterlin,22 der zu einer rittertypischen Hyperbel greift.23 Wol mich so werdes kindes,  das ist also versuonnen! got muoss Kathelangen  also herer frawen an dir lannge gunnen. mein sorge slaffet, so dein sælde wachet. und were Swartzwalde hie ze lannde, er wurd ze scheften gar durch dich ­gemachet. (31)24 Wohl mir, dass ich ein solch edles Kind mit solchem Verstand habe! Gott möge Katelangen für lange Zeit in deiner Person eine solch herrliche Herrscherin vergönnen. Meine Sorge schläft, wenn nur dein Heil wach ist. Und wenn der Schwarzwald hierzulande läge, so würde er wegen dir ganz und gar zu Lanzenschäften verarbeitet.

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Eine mütterliche Figur hingegen, die Bindung symbolisieren würde, bleibt gänzlich abwesend.25 Sofern man die erstarrte Sigune aus den letzten ParzivalEpisoden im ‚Titurel‘ wiederzufinden sucht, begegnet sie einem wohl hier, und Kondwiramurs weint um ihre Ziehschwester, wie sie im ‚Parzival‘ über deren Sarg trauert (P 805,3–10). Der folgende Text bietet zunächst einen Frauenpreis für Sigune und Herzeloyde (32–35), um mit dem Abschluss dieser Sequenz den Topos wieder zu durchbrechen und kritisch zu der heranwachsenden Jüngeren Stellung zu nehmen: Nu hœret frömde wuonder  von der maget Sigaunen. do sich ir prüstel dræten  und jr rayd fal har beguonde braunen, do huep sich in jr hertzen hochgemüete, sy begunde stoltzen und losen  und tet das doch mit weiplicher güete. (36) Nun vernehmt wundersame Dinge von Sigune, dem jungen Mädchen. Als ihre kleinen Brüste runder wurden und ihre blonden Locken anfingen, dunkel zu werden, da erwachte Selbstbewusstsein in ihrem Herzen: Sie wurde stolz und übermütig, und doch bewahrte sie dabei durchaus ihre weiblichen Vorzüge.

Diese Strophe ist ebenso wie die Abschiedsstrophen 30 und 31 nicht in der Handschrift G überliefert,26 was den psychologischen Zusammenhang mit diesen umso sinnfälliger erscheinen lässt. Hochgemüete, stoltzen und losen erwachsen hier in der Adoleszenz nicht von ungefähr aus einer lebensgeschichtlich verankerten Deprivation.27 Auf die Kindheitsgeschichte Sigunes folgt nunmehr die Schionatulanders (37–46), die zwar weniger dramatisch aufgebaut ist, dennoch in struktureller Parallele zu dieser auch eine Geschichte vielfacher Trennungen ist. Die Erzählung beginnt mit Gahmuret. Gleich die erste Strophe, welche beiläufig anmerkt, dessen Frauengeschichten hier nicht erzählen zu wollen, erwähnt in diesem Satz zwei Trennungen, nämlich die Gahmurets von der ‚Mohrin‘ Belakane und die von seiner ersten Minneherrin Anphlise (37). Die Folgestrophen berichten davon, dass Anphlise ein fremdes Kind großgezogen habe (38), das von ihr wiederum Gahmuret bei dessen Ritterweihe vor seiner Orientfahrt überlassen worden sei (39/40). Wir hören dann vom Tod des Vaters Gurzgri in Joie de la Court (41), von Mahaute, seiner Mutter, und erfahren schließlich den Namen des Kindes: Schionatulander. Später erfahren wir, dass Anphlise Schionatulander unmittelbar nach seiner Entwöhnung aufgenommen hat, was an dieser Stelle den Gedanken an einen frühen Tod der Mutter nahelegen mag (129).28 Der Text schwenkt dann noch einmal zurück zu Sigune, der als Angehörige des Gralsgeschlechts ein Sonderstatus, auch gegenüber Schionatulander, zugesprochen

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wird (43, 44), und eröffnet schließlich die Perspektive auf die Kinderminne der beiden Halbwaisen. Die Erzählung vom Weg Schionatulanders kommt zwar beiläufiger daher und wird an keiner Stelle negativ kommentiert, gleichwohl ist eine präzise Parallele zu dem Schicksal Sigunes nicht zu übersehen. Ebenso wie Sigune wird auch Schionatulander zunächst bei einem gegengeschlechtlichen Ersatzelternteil untergebracht, um dann einem gleichgeschlechtlichen überantwortet zu werden. Sowohl die Verwandtschaftslinie von Gahmuret zu Schionatulander wie die von Herzeloyde zu Sigune laufen dabei über die mütterliche Seite.29 Gahmuret ist ein Cousin Schionatulanders (Mutterschwestersohn) und Herzeloyde die Schwester von Sigunes Mutter. Schionatulanders leibliche Eltern sind ebenso abwesend wie die Sigunes, wobei von dem Tod des jeweils gleichgeschlechtlichen Elternteils berichtet wird. Alles in allem aber scheint der Dichter für das männliche Lebensdrama von Verlust und Trennung weniger Negativkonnotationen bereitzuhalten als im Falle Sigunes, wobei hier unschwer ein spezifisches Rollenbild erkennbar wird. Dem Mädchen kommt wohl mehr Empathie zu als dem jugendlichen Knappen, für den sich das Trennungsschema in ein konventionelles Rollenbild einfügt. Der Unstern, unter dem das Schicksal Sigunes und Schionatulanders steht, ist also nicht nur an der Häufung von ritterlichen Todesfällen abzulesen, die den Tod Schionatulanders vorwegnehmen und eine kritische Distanzierung des Dichters von einer höfischen Minnelogik nahelegen. Er spiegelt sich darüber hinaus in einer systematisch aufgebauten Vielzahl von Trennungen, durch gewaltsamen Tod, aber auch durch Krankheit oder höfische Konventionen, welche die Wegmarken in zwei streng symmetrisch konstruierten Lebensgeschichten setzen. Wenn auch der schwierige Lebensweg beider Kinder nur ansatzweise aus deren eigener Sicht berichtet wird, also die Perspektive des höfischen Betrachters dominiert, der emotive Brüche gleichsam in der höfisch-idealen Form wieder zusammensetzt, so bilden doch die Todesallusionen einen atmosphärischen Untergrund, der diesen Lebenswegen ihre individuelle Tragik verleiht. Eine solche war ja schon dem anfänglich auftretenden Helden, Titurel, mitgegeben, und auch Kiot fällt ebenfalls aus aller Sippengemeinschaft heraus, in der heillosen Trauer um Schoysiane seinerseits unfähig, dem neugeborenen Kind Geborgenheit zu geben. Entborgenheit und Trauer, Trennung und Vereinzelung stellen die Koordinaten der Sigune-und-Schionatulander-Welt dar, die auf die Einsamkeit des Alters, das Unglück der Liebenden und nicht zuletzt: die Not des heranwachsenden Kindes verweisen. Damit unterzieht Wolfram seine Gralsvision aus dem ‚Parzival‘ noch keiner Destruktion,30 aber er ändert seinen Blickwinkel. Im Folgenden erfährt der Leser, dass die Kinder, nachdem Gahmuret und Herzeloyde ein Paar geworden sind, nunmehr in Kanvoleis gemeinsam unter

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der Obhut Gahmurets in einer Kemenate aufwachsen (47), womit Sigunes Mutterlosigkeit und das Übergewicht eines patriarchalen Pols neuerlich akzentuiert werden. Dass die Minne die Kinder dort viel zu früh überfällt, bildet den Auftakt des folgenden Minneexkurses (47–49). Schionatulander ist noch niht stark an sînem sinne (47,3), heißt es, und: Owê des, si sint noch ze tump ze solher angest (48,1) (O weh, sie sind doch noch zu unerfahren für solche Nöte). Über zwei Strophen hinweg wendet sich der Erzähler dann dezidiert Schionatulander zu: Schoynatulander  moht ouch sîn wîse von manger süezen botschaft,  die diu Franzoyse küngin Anphlîse tougenlîche enbôt dem Anschevîne. die erwarb er unt wande in  vil dicke ir sorge. nu wende ouch die sîne! Schoynatulander  vil dicke wart innen, wie sîner muomen sun Gahmuret  kunde sprechen mit manlîchen sinnen unde wie sich der von kumber kunde scheiden. des iach im vil der tiuschen  diet, als tæten ouch die werden heiden. (54/55) Schionatulander hatte alle Ursache, in Liebesdingen erfahren zu sein, und zwar wegen der vielen Liebesbotschaften, die die französische Königin Anphlise dem von Anschouwe heimlich gesandt hatte. Er nämlich hatte sie überbracht und ihnen oftmals ihre Liebesnot gelindert. Nun lindere auch seine Schmerzen! Schionatulander hatte oftmals erfahren, wie klug und männlich Gahmuret, der Sohn seiner Mutterschwester, zu reden und seinem Liebeskummer ein Ende zu machen verstand. Dafür war er beim Christenvolk berühmt und ebenso auch bei den edlen Heiden.

Schionatulander wurde also manches Mal von Anphlise zu Gahmuret geschickt, und der Leser erinnert sich daran, wie Anphlise ihn einst an Gahmuret übergeben haben soll (39). Hinter einem vordergründigen höfischen Ausbildungsmotiv war schon hier das Motiv einer ‚Liebesgabe‘ zu erkennen: Anphlise gab Gahmuret Schionatulander als einen Teil ihrer Welt mit, der ihn begleiten sollte, und benutzt ihn später immer wieder als Boten zu ihrem Freund. In der fragilen Beziehung zwischen Anphlise und Gahmuret war Schionatulander demnach zugleich Liebesgabe und Liebesbote, und Assoziationen zu dessen späterer Mittlerrolle und der Botenrolle des Bracken drängen sich auf. Es wird aber auch sichtbar, wie in der symmetrischen Komposition der neuen Lebensgemeinschaft auf Kanvoleis Schionatulander in gewisser Weise die Rolle eines Sohnes aus der Beziehung Anphlise/Gahmuret anhängt, während Sigune auf

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die Ehe Herzeloyde/Kastis rückverweist. Aus der Perspektive der elterlichen Freunde und ihrer neuen Liebe sind die Kinder also eher mit dem Odium des Vergangenen behaftet, was an Herzeloydes merkwürdiger Reaktion auf die Minneoffenbarung Sigunes später noch deutlicher zu Tage treten wird (122 ff.). Zukunftsweisender Spross aus der Beziehung Herzeloyde/Gahmuret ist hingegen Parzival. Die Folgestrophe nimmt dann Gahmurets Einfluss auf Schionatulander in den Blick und stellt diesen als gewandten Charmeur dar, der sich mit geschickter Rede stets allzu großer Unannehmlichkeiten zu erwehren wusste (55). Ein Vorbild an Lebensgewandtheit wird vage in den Raum gestellt – das aber durch das bekannte glücklose Ende der Schionatulandergeschichte schon jetzt hinfällig ist. So kann diese Passage eigentlich nur auf das Gegenteil ihrer vorgegebenen Botschaft verweisen, nämlich darauf, dass die Jungen in der Liebe eben nicht von den Alten lernen können. In diesem Sinne wird der folgende Minnedialog zwischen Sigune und Schionatulander (57–72) denn auch gerne als Zeugnis eines gekünstelten MinneDiskurses gelesen, der sich altklug an den Habitus der Erfahrenen anlehne und schon von daher ein Scheitern in sich trage.31 Kiening und Köbele haben allerdings mit ihrer Analyse der Jagdmetapher darauf aufmerksam gemacht, dass der Dialog durchaus seine originäre Dynamik entfaltet, mit sprachlich schillernden Bezügen zwischen Subjekt und Objekt, Jäger und Gejagten, Minne und Liebenden, die den Blick auf ein erweitertes Minneverständnis eröffnen.32 Im Folgenden soll nunmehr der Versuch unternommen werden, den Minnedialog auf seine Beziehung zur vorab entwickelten Lebensgeschichte der Protagonisten hin zu befragen, auf seine mögliche Authentizität hinter einer artifiziellen Rhetorik. Minne im Gespräch Die jungen Liebenden finden also zueinander vor dem Hintergrund der Liebesbeziehung ihrer elterlichen Freunde, und beide teilen miteinander eine Lebensgeschichte der Trennungen. In einer langen Wechselrede offenbaren sie sich schließlich ihre Liebe. Der Dialog wiederum ist eingerahmt von Reden Schionatulanders, und Leitmotiv seines Sprechens ist die Bitte um helfe in seiner Liebesnot, hinter der er selbst von Anbeginn als extrem hilfsbedürftiges Subjekt sichtbar wird. Der süeze Schoynatulander genande, als sîn gesellekeit  in sorgen manecvalt in kûme gemante, dô sprach er: ‚Sigûne, helfe rîche, nu hilf mir, werdiu maget, ûz  den sorgen, sô tuostu helfeclîche!‘ (56)

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Der liebliche Schionatulander fasste sich ein Herz, so wenig ihn auch sein vertrauter, doch kummervoller Umgang mit Sigune dazu drängte. Da sagte er: „Sigune, du Hilfreiche, nun hilf mir aus meinen Sorgen, liebliches Mädchen; dann erweist du dich wirklich als hilfreich.“

Helfe und die stammverwandten Begriffe ziehen sich wie ein roter Faden durch die Worte Schionatulanders (57,3–4; 58,3; 62,4; 70,3; 72,3–4). Teilweise variiert er das Motiv mit dem genâde-Begriff (60), aber Sigune reagiert abwehrend: Sie gibt zu verstehen, dass sie als Waise in einem fremden Land die falsche Adressatin für seine Sorgen sei: Er möge dorthin gehen, wo man ihm besser helfen könne (61). Schionatulander insistiert jedoch eindringlich darauf, dass sie ihn ‚mit ihrem Herzen anschauen‘ möge (62). Nun gehört zwar das Motiv des GnadeGewährens zum konventionellen Repertoire der Minnelyrik, Schionatulanders Hilfsbegehren und die Häufung der Hilfsvokabeln gehen aber kaum darin auf. Zumal Sigune die Bitte um genâde in keiner Weise als das annimmt, was sie dem Topos nach meint, nämlich die Gewährung erotischer Gunst, sondern als Bitte um Nothilfe. Diese aber könne sie nicht leisten, weil sie selber in Not sei (61). Schauen wir auf Sigune, so fällt auf, dass sie dem drängenden Wunsch Schionatulanders nach Hilfe ihrerseits mit Distanz begegnet. Auf seine Bitte um Hilfe und Anteilnahme (62) antwortet sie mit einem skeptischen Zurücktreten vor der minne, wenn diese auf ihren Freund denn eine solch bedrohliche Wirkung habe (63). Sie löst eine personifizierte Minne gleichsam aus ihrer Beziehung heraus und fragt abstrakt nach deren Weiblichkeit oder Männlichkeit, Gezähmtheit oder Wildheit (64). Schionatulander beschreibt sie daraufhin in Metaphern der Jagd als machtvolles jagendes Subjekt (65).33 Und als könne sie die eigene Position in dieser Beschreibung verorten, gesteht sie jetzt ihre eigenen existentiellen Verlustängste um den geliebten Freund: Schoynatulander,  mich twingent gedanke, sô du mir ûz den ougen kumest,   daz ich muoz sîn an fröuden diu kranke, unze ich tougenlîche an dich geblicke. des trûre ich in der wochen  niht zeinem mâle, ez ergêt alze dicke. (66) Schionatulander, auch mich bedrängen die Gedanken, so dass, wenn dich meine Augen verlieren, unfehlbar all meine Freude schwindet, bis ich dich dann wieder verstohlen anblicke. Deswegen falle ich nicht bloß einmal in der Woche in Trauer, es geschieht nur allzu oft.

Nun aber geht Schionatulander seinerseits auf Distanz und spricht objektivierend von der Übermacht der Minne, die ihr Recht fordere (67), sowie der Minne als

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Diebin (68). Sigune nimmt das Gesprächsangebot an und thematisiert, ebenfalls in der Form objektivierender Zuschreibung, das potentielle Rachebegehren einer allmächtigen Minne (69). Offenbar reagiert sie feinnervig auf ein Zurückweichen Schionatulanders vor ihrer Eröffnung und kehrt mit ihm zurück zu den Spielregeln des Minnediskurses. Somit ist der Dialog der beiden Liebenden durch zwei entgegengesetzte Bewegungen bestimmt: ein drängendes Auf-den-anderen-Zugehen oder SichOffenbaren und eine Tendenz zur Objektivierung und Distanzierung, bei der die personifizierte Minne als eine Art Puffer zwischen den Akteuren aufgebaut wird. In der ängstlichen Pendelbewegung zwischen Nähe und Distanz ermöglicht das Sprechen über die Minne, das stets um Motive ihrer Gewalt kreist, sich dem anderen in der eigenen Verletzbarkeit mitzuteilen, ohne ihm zu nahe zu treten oder ihn zu nahe an sich herantreten zu lassen. Das abstrakte Überwältigungsthema spiegelt sich demnach im sehr konkreten Umgang der Liebenden miteinander wider, wobei der quasiartifizielle Diskurs unmittelbar im Dienste einer gegenwärtigen emotionalen Balance steht. Mit dem Sprechen über die Minne verhindern die Liebenden gleichsam ein Untergehen in deren mächtigem Sog, das heißt den eigenen machtvollen Gefühlen. Allerdings gerät eben jene fragile Balance gegen Ende des Gesprächs aus dem Gleichgewicht. Schionatulander geht noch einmal auf die Gewalt der Minne ein, um dann die bisherige Gesprächsfiguration, in der sich beide frontal gegenüberstehen und sozusagen über die Minne hinweg verständigen, zu verändern: nu sulen wir bêdiu nâch ir helfe kriegen mit unferscharter friuntschaft  minne kan mit ir wanke niemen betriegen. (70,3–4) Nun lass uns beide mit unverbrüchlicher Freundschaft um ihren Beistand werben; denn bei unverbrüchlicher Freundschaft kann einen die Minne mit ihrem Wankelmut nicht in die Irre führen.

Er führt eine Wir-Gemeinschaft ein, in der sie beide vereint auf die Minne schauen, welche nunmehr direkt zur Adressatin eines gemeinsamen helfeAnspruchs gemacht wird. Mit dieser Wendung aber ist für Sigune offenbar eine signifikante Grenzüberschreitung vollzogen, und sie schreckt deutlich zurück: Owê, kunde diu minne  ander helfe erzeigen, dane daz ich gæbe  in dîn gebot mînen frîen lîp für eigen! mich hât dîn iugent noch niht reht erarnet. du muost mich under schilteclîchem  dache ê gedienen: des wis vor gewarnet! (71)

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O weh, könnte doch die Minne andere Hilfe gewähren, als dass ich jetzt schon meine Freiheit wie eine Leibeigene unter dein Gebot stellte! So jung, wie du bist, hast du mich noch nicht auf die rechte Weise erworben. Du musst mich unter dem Schild zuvor erst verdienen: Lass dir dies von vornherein gesagt sein!

Auf das erste und einzige wir in diesem Dialog reagiert Sigune sofort mit der Angst um ihre Freiheit, ihren frîen lîp, und stellt gleichzeitig das Trennungsdiktat des Minnedienstes in den Raum. Schionatulander unterwirft sich diesem Diktat umstandslos, um sogleich wieder in die regressive Haltung des Hilfesuchenden ihr gegenüber zurückzufallen: Frouwe, als ich mit kraft  diu wâpen mac leiten, hie enzwischen unt ouch danne mîn lîp  wirt gesehen in den süezen sûren arbeiten, sô daz mîn dienst nach dîner helfe ringe. ich wart in dîner helfe erboren.  nu hilf, sô daz mir an dir gelinge! (72) Herrin, sowie ich kraftvoll die Schwertleite empfangen habe und auch schon bis dahin und danach, wird man mich in süßen, herben Bewährungskämpfen sehen, so dass ich dienstbereit nach deiner Zuwendung strebe. Denn ich empfing mein Leben allein, damit du mir beistehst. Nun wende dich mir zu, so dass ich bei dir Erfolg haben kann.

Dabei versteigt sich Schionatulander in der Annahme des Minneauftrags dazu, Sigune auch noch als die Hilfsinstanz in Anspruch zu nehmen, die ihm bei ihr helfen solle (72,4). Das heißt: Er nimmt die Entlassung in den Minnedienst gar nicht im Sinne eines Lohn-Leistungs-Gedankens an, sondern verharrt weiterhin distanzlos im Banne der ihr zugeschriebenen Allmacht. Sigune, die sich selbst als bedürftig erlebt und diesem Mangelerleben in der zentralen mittelalterlichen Vorstellung der Heimatlosigkeit Ausdruck gibt, ist für Schionatulander offenbar Quell aller Fülle und Befriedigung, Nothelferin in allen Leiden und Projektionsfläche aller Hoffnungen. Und es fällt schwer, die hier entfaltete Betroffenheit nur als Ausdruck eines in die Konvention gewendeten männlich-erotischen Begehrens zu begreifen oder als ungelenken Umgang eines Jugendlichen mit den Spielregeln der Minne. Vielmehr scheint die sogenannte Kinderminne hier auch eine emotional infantile Hilflosigkeit zu umschreiben, die nach Erlösung durch eine helfende Frau Ausschau hält. Wenn immer wieder das große Unglück des Paares beschworen wird, so müsste es eigentlich schon hier verortet werden: Die Liebenden trennen sich, weil sie paradoxerweise ihre Nähe nicht ertragen können, und der Minnedienst wird von Sigune umstandslos in den Dienst ihrer eigenen Näheangst genommen, um

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nach den gegenseitigen Offenbarungen wieder eine ‚sichere‘ Distanz herzustellen. Medium der Trennung ist hier wie andernorts der Minnedienst, die vorgebliche Bewährung des Mannes im Kriegsdienst, Ausweis seiner Männlichkeit einerseits und Probe auf seine Befähigung zum Triebaufschub andererseits. Seiner Idee nach ist der Minnedienst also unpersönlich, die Frau der Katalysator noch zu zügelnder Triebe. Blicken wir jedoch von hier aus zurück auf die Sigune-Schionatulander-Geschichte, ist ersichtlich, dass Sigunes Impuls, Schionatulander fortzuschicken, mitnichten in diesem Schema aufgeht. Die idealische Zielsetzung der Institution Minnedienst wird widerlegt durch das Motiv Sigunes, sich der bedrohlich erlebten Nähe von Schionatulander erwehren zu wollen. Sie initiiert eine Trennung, die strukturell in der Beziehung der Liebenden angelegt ist, und nimmt für ihre radikale Konfliktlösung ein konventionelles Muster in Anspruch. Minnedienst als Institution aber ist vor diesem Hintergrund nicht erst am Punkte eines tödlichen Ausgangs in Frage gestellt, sondern bereits an seinem Beginn, an den Wolfram als Kasus paradoxerweise den unvermittelten Durchbruch von noch ungeordneten Affekten setzt, die ihre Begründung wiederum in den Lebensgeschichten der Liebenden finden. Ein kurzer Rückblick mag dies noch einmal verdeutlichen: Sigunes Geschichte ist eine Geschichte des Mangels und der Trennungen.34 Die Absenz matriarchaler Zuwendungen und Bindungskräfte schwebt über ihrer gesamten Lebensgeschichte; auch alle elterlichen Ersatzbeziehungen nach dem Tod der leiblichen Mutter sind hiervon gezeichnet. Und wo eine Beziehung zur Ziehschwester bestand, wurde auch diese zerrissen. Der Leser denkt an ihr Trauma der frühen Kindheit zurück, wenn er Sigune von ihren Ängsten um den Verlust Schionatulanders sprechen hört (67), als ob hier – mit der Verspätung eines ganzen Lebensabschnitts – die Angst zum Tragen käme, die das kleine Kind mit seinen Puppen so rigoros überspielt hatte. Auch Schionatulander ist in der Fremde großgeworden, und dass Anphlise Gahmuret mehr geliebt hat als ihn beziehungsweise er als Mittler in dieser Beziehung mit seinen eigenen Bedürfnissen zurückzustehen hatte, erzählt seine Geschichte. Die Gewalt der Minne trifft also noch schwache Kinder, wie der Erzähler so eindringlich mitzuteilen bemüht ist (47–49), aus doppeltem Grunde: aufgrund ihres Alters, aber auch aufgrund ihrer individuellen, von Entbehrungen geprägten Geschichte. Für den Leser wird hiermit der Zusammenhang erkennbar, dass zwei junge Menschen offenbar ihre erste Liebe mit all den Sehnsüchten belasten, die in ihrer Kindheit nicht erfüllt wurden, und zwei bedürftige Seelen all ihre infantilen Projektionen aufeinander richten. Schionatulander erlebt Sigune als mächtiges versagendes Objekt, das nur durch Unterwerfung zu gewinnen ist, während Sigune Angst hat, von Schionatulander ‚verschlungen‘ zu werden, und die Trennung sucht, um ihre Ich-Grenzen zu wahren. Die Liebenden stehen aufgrund

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emotionaler Mangelerfahrungen im Banne infantiler Imagines, die ihnen die Welt verstellen. Gleichzeitig aber erleben sie die Liebe als Verheißung der Einheit, die sie nie auskosten durften. Ambivalente Triebregungen von Anziehung und Abstoßung bilden das Wechselbad ihrer Liebe.35 Die sogenannte Kinderminne von Sigune und Schionatulander ist also nicht nur eine Minne von Kindern, die noch nicht reif genug sind für das Gesellschaftsspiel der Minne, sondern auch eine Liebe zweier kindlich-schwacher Seelen, die die Gesellschaft nicht hat stark werden lassen. Minne und Minnedienst erscheinen dabei im Spiegel der Gesellschaftskritik, die das Individuum in Schutz nimmt. Ein Blick auf die anderen zwei Minnegespräche nach der Trennung der Liebenden, den Dialog zwischen Schionatulander und Gahmuret auf ihrer gemeinsamen Orientfahrt und das Gespräch zwischen den daheimgebliebenen Frauen Sigune und Herzeloyde soll dies weiter verdeutlichen. Der Rat der Älteren Diz was der anevanc ir geselleschefte / mit worten (73,1–2) (Dies war der Beginn ihres Liebesverhältnisses, das in Worten bestand), heißt es nach dem Gespräch zwischen Sigune und Schionatulander, aber noch in der gleichen Strophe wird mit der Namensnennung desjenigen, durch den Gahmuret auf seiner Orientfahrt umkommen wird, der Tod anzitiert. Gahmurets Tod selbst ist nicht Gegenstand der Darstellung im ‚Titurel‘, die Kenntnis um ihn wird jedoch als Tatbestand aus dem ‚Parzival‘ beim Leser vorausgesetzt. Der „Anfang der Liebe mit Worten“ (73,1–2) ist für Schionatulander und Sigune also gleichbedeutend mit Trennung, und Trennung ist wiederum gleichbedeutend mit Tod. Etliche Anspielungen folgen (76,3; 78,4; 89 u. a.). In der Verschachtelung der Schicksale von Gahmuret und Schionatulander legt der Text eine Parallelisierung nahe, wobei der Leser sich zunächst schwertut, der Begründung von Gahmurets Tod zu folgen, die besagt, dass ihn die Minne in den Tod gejagt hätte: Sus iaget in diu minne an den rê. den enphienc er von Ipomidône (74,4) (So jagte ihn die Minne in den Tod. Der wurde ihm durch Ipomidon zuteil). Aus dem ‚Parzival‘ wissen wir, dass er für seinen Dienstherrn in den Krieg zieht, und Herzeloyde spielt im ‚Parzival‘, anders als Sigune im ‚Titurel‘, eher den Part der besitzergreifenden Geliebten, zu der Gahmuret seinerseits immer wieder Distanz sucht. Aber es heißt ja auch nicht, dass Herzeloyde ihn in den Tod geschickt hätte, sondern die minne. Nehmen wir diese Aussage ernst, wird damit die Verpflichtung Gahmurets gegenüber dem Dienstherrn relativiert und ein Minnekasus eingeführt, in dem er der Fortstrebende ist, derjenige, der von der Minne ‚gejagt‘ wird, wie es heißt (74,4). In der erzählerischen Nachbarschaft der Ereignisse legt der Text für Gahmuret damit ein ähnliches Motiv nahe wie für Sigune, einen Wunsch nach Trennung, der in der Minne selbst begründet liegt und die Betroffenen in ihrer Angst vor

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der überwältigenden Nähe des anderen zu ‚Gejagten‘ ihrer eigenen Gefühle macht (vgl. 65). Dann schwenkt der Text um zu Schionatulander und dessen beklagenswertem Zustand (88 ff.). Wirt imer tiost mit hurte  von sperbrechens krache ûz sîner hant durh schilde  brâht, sîn lîp ist ze dem ungemache doch ze kranc: diu starke minne in krenket, und daz sîn gedanc nâch lieplîcher liebe unvergezzen sô denket. (90) Wenn er jemals im kraftvollen Ansturm unter dem Lärm splitternder Lanzen mit eigner Hand durch Schilde hindurch den Zweikampf versucht, so ist er für solche Mühen doch viel zu schwach. Es schwächt ihn die starke Minne und dass sein Gedanke unablässig an die liebreizende Geliebte denkt.

Schionatulander ist körperlich schwach von der starken minne. Die Folgestrophe berichtet, dass er immer dann, wenn andere Jungritter in Turnieren ihre Kräfte erprobten, beiseite stehen musste (91). Der Jungritter wird uns demnach in einer Verfassung vorgeführt, welche die Idee des Minnedienstes ad absurdum führt: Statt körperliche Ertüchtigung und Stärkung im Wettstreit herbeizuführen, schwächt er Schionatulander soweit, dass er von vornherein im Abseits steht. Dennoch bleibt sein Zustand Gahmuret lange Zeit verborgen (93), bis er schließlich an dem Schwinden aller Lebenskräfte des ihm Anvertrauten Anstoß nimmt und Schionatulanders Liebeskummer erahnt: ‚Ich spür an dir die minne, alze grôz ist ir slâge‘ (100,1) („Ich nehme an dir die Spur der Minne wahr, allzu ausgeprägt ist ihre Fährte“), spricht er den Cousin an. Und wieder macht Schionatulander in seiner Verzweiflung den ihm Nächsten zum Adressaten eines flehentlichen Hilfegesuchs, um Hilfe vor Sigune: ‚lâ dîne helfe schouwen!‘ (105,4) („Lass mich deine Hilfe erkennen!“) und ‚die wîle wis mîn voget, daz dîn scherm mich erner vor Sigûnen twingen‘ (106,4) („Sei du bis dahin mein Schutzherr, damit dein Schutz mein Leben beschirme vor der bedrängenden Gewalt Sigunes“). Wie sieht nun die Reaktion Gahmurets auf diese Eröffnung Schionatulanders aus? Gahmuret hebt an mit einer ritterlichen Hyperbel, welche auf die Unzahl der von Schionatulander noch zu werfenden Speere Bezug nimmt (107), um dann dessen Wahl Sigunes als eines Sprosses aus wahrhaft hohem Geschlecht zu begrüßen (108/109/110). Bei Herzeloyde wolle er sich entsprechend für ihn einsetzen (111,3). Mit der Bekräftigung von Schionatulanders Männlichkeit und dem Preis Sigunes reproduziert Gahmuret ein konventionelles Minneverständnis, verfehlt damit aber die Person des Schutzbefohlenen entschieden. Dessen extreme körperliche Schwäche wird aufgelöst in einem suggestiven Gegenbild und die Liebeswahl lediglich nach Statuskriterien befürwortet. Schionatulanders

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eigentliche Not, das Leiden an seinen Minnegefühlen, bleibt unbeantwortet, und denkt man an die Anlage der Lebensgeschichten, wird der Entwurf von Vereinzelung und Entborgenheit damit konsequent fortgeführt. Auch als notleidender Heranwachsender genießt Schionatulander keinen empathischen Rat, keine wahre helfe, zumal der väterliche Cousin selbst ein tödliches Minneschicksal in sich trägt, selbst schon als Minneopfer stigmatisiert ist. In Entsprechung zum Gespräch der Männer wendet sich der Text dann Sigune und Herzeloyde zu; der Verlauf ist hier ähnlich. Herzeloyde beobachtet erschreckt die Beeinträchtigung von Sigunes Schönheit, ihre geröteten Augen (115,1–2), ihr glanzloses Gesicht (117,4), und teilt der Nichte ihre Sorgen um sie mit, nicht ohne ihre eigene Sorgenlast um Gahmuret zu erwähnen (116). Und als sähe sie einen kausalen Zusammenhang zu Sigunes jetziger Lage und als gäbe es sie selbst nicht, zeigt sie sich auf merkwürdige Weise betroffen von Sigunes Waisenstatus: ‚Ellendiu maget, nu muoz mich dîn ellende erbarmen‘ (118,1) („Heimatloses Kind, dein Leben in der Fremde erregt mein Mitgefühl“). Sigune hebt daraufhin zu einer elaborierten Gegenrede an (119–126). Zunächst weist sie Herzeloydens Klage um ihre Waisenschaft zurück, denn Herzeloyde selbst sei doch immer wie eine Mutter zu ihr gewesen.36 Dann geht Sigune im Einzelnen auf ihre Liebesqual ein. Sie benutzt Wendungen von Bindung und Fesselung: ‚er quelt mîne wilde gedanke an sîn bant, al mîn sin ist im bendec‘ (121,4) („Er schlägt mein ungezügeltes Sehnen in seine Fesseln, all meine Gedanken sind an ihn gekettet“) und beschreibt sich in den Folgestrophen in lyrischer Manier selbst als eine höfische Frau, die vergebens nach ihrem Geliebten Ausschau hält (122–125).37 Aber auch Schionatulanders Position weiß sie zu imaginieren: ‚ich weiz wol, daz in wider gein mir iaget sendiu sorge, der mih doch kann mîden‘ (125,4) („Aber ich weiß nur zu gut, dass ihn die Liebessehnsucht wieder zu mir zurücktreibt, wenn er mir auch jetzt fernbleibt“). Während sie für ihn die Metapher des Gejagten benutzt, sieht sie sich selbst einem Wechselbad von Frost und Hitze ausgesetzt: Owê des, mir ist sîn  kunft alze tiure, nâch dem ich dicke erkalte,  unt dar nâch, als ich læge in dem gnaneistenden viure, sus erglüet mich Schoynatulander. mir gît sîn minne hitze  alse Egremuntîn dem wurme salamander. (126) Ach, wie sehne ich mich nach seinem Kommen, der mein Herz so oft vor Kälte erschauern lässt – und gleich darauf ist mir, als läge ich im knisternden Feuer: So lässt mich Schionatulander erglühen. Seine Minne versetzt mich in Feuersglut so wie der Berg Agremontin den Salamander.

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Ihre Glutmetaphern legen ein erotisches Begehren nahe und vielleicht reagiert Herzeloyde gerade hierauf so alarmiert. ,Owê‘, sprach diu küngin  ‚du redest nâch den wîsen. wer hât dich mir verrâten?  nu fürht ich der Franzoysære küngin Anphlîsen, daz sich habe ir zorn an mir gerochen. al dîniu wîslîchen  wort sint ûz ir munde gesprochen. Schoynatulander  ist hôch rîcher fürste. sîn edelkeit, sîn kiusche  getörste doch nimêr genenden an die getürste, daz sîn iugent nâch dîner minne spræche, op sich der stolzen Anphlîsen  haz an mir mit ir hazze niene raeche‘. (127–128) „O weh,“ sagte die Königin, „du redest ja schon wie die Erfahrenen! Wer hat dich zu meinem Schaden so falsch beraten? Nun, ich fürchte die Franzosenkönigin Anphlise, dass sich deren Groll an mir gerächt hat. Denn all deine altklugen Sprüche klingen, als kämen sie aus ihrem Munde. Schionatulander ist ein großmächtiger Fürst. Sein Adel, sein lauterer Sinn wagten sich doch niemals an ein solches Wagnis, in seinem Alter deine Liebe zu beanspruchen, wenn sich der Hass der hochfahrenden Anphlise nicht gehässig an mir rächen wollte.“

Herzeloydes Kommentar zu Sigunes so kundig vorgetragener Rede (127) mag man als Vorbehalt gegenüber einer unreifen Adaptation von Minnetopoi lesen. Doch vielleicht klingen Sigunes wîslîche Worte in den Ohren Herzeloydes auch nach erotischen Erfahrungen, die sie an dem ‚Kind‘ schockieren. Jedenfalls lassen diese sie an ihre eigene Beziehung zu Gahmuret und weiter an ihre alte Rivalin Anphlise denken, und Herzeloydes erste Reaktion auf Sigunes Ansprache wirkt hier entsprechend befremdlich. Über drei Strophen hinweg (127–129) entwickelt sie die selbstbezügliche Phantasie, dass sich Anphlise offenbar über ihren heimlichen ‚Agenten‘ Schionatulander an ihr für den Verlust Gahmurets habe rächen wollen, und zwar durch eine Beschädigung Sigunes.38 Herzeloyde kann nicht glauben, dass Schionatulander es ohne einen unguten Einfluss Anphlises in so jungen Jahren gewagt haben sollte, um Sigune zu werben. Sollte dem aber nicht so sein – und hier macht Herzeloyde plötzlich eine Kehrtwendung – stünden den beiden Liebenden alle Freuden offen (129) und sie, Sigune, möge ihrem Freund zu Ehren wieder Glanz und Farbe annehmen (130). Nachdem sie noch Sigunes zartes Alter beklagt hat, führt sie das unglückselige Schicksal Mahautes, der Mutter Schionatulanders, die ihren Mann verloren hat, an, das auch Sigune beschieden wäre (132). Für Schionatulander aber prophezeit sie in Analogie zu

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Gurzgri ritterlichen Ruhm, an dem sich Sigune erfreuen solle (133–135). Herzeloyde absolviert damit einen beeindruckenden Zick-Zack-Kurs zwischen Ablehnung und negativer Prophezeiung einerseits und ermunternden Zureden andererseits, an Sigunes Gefühlsnotstand in ähnlicher Weise vorbeiredend wie Gahmuret an dem Schionatulanders. Sigunes knappe Antwort fällt dann ähnlich ehrerbietig aus wie die ihres Freundes (112): ‚owol mich, muome‘, sprach diu herzoginne, / ‚daz ich den Grâharzoys vor al der werlde nu mit urloube sô minne!‘ (136,3–4) („Wohl mir, Tante,“ sagte da die Herzogin, „dass ich nun vor aller Welt die Erlaubnis habe, den von Graharz zu minnen!“). Tröstung im Sinne empathischer Teilnahme dürften ihr die Worte Herzeloydes, die primär mit eigenen Gefühlen von Schuld und Eifersucht zu kämpfen hat, aber genauso wenig gegeben haben wie die Worte Gahmurets Schionatulander. In diesem Sinne steht Sigune nach wie vor als Waise da, auch wenn sie weiß, was sie ihrer Ziehmutter schuldig ist. Beide Jugendliche bleiben in der Fülle ihrer überwältigenden Gefühle auf sich selbst gestellt, mit gesellschaftlichen Spielregeln konfrontiert, die wenig mit ihrer situativen Befindlichkeit zu tun haben. Sie bleiben einer Umgebung ausgeliefert, die sie in ihrer Kindheit nicht hinreichend stärken konnte und an dem Punkt, wo ihre emotionale Bedürftigkeit in einer frühen Liebe schmerzhaft aufbricht, aufs Neue allein lässt. Schionatulander und Sigune ist vom Dichter das Lebensproblem mitgegeben, lieben zu lernen, ohne je geliebt worden zu sein. Wenn den Liebenden in der Forschung gerne die Vorhaltung gemacht wird, dass sie sich mit einer starren Auslegung der Minneregeln ihre Liebe zueinander verstellen würden, so bleibt anzumerken, dass der Text hierfür Gründe liefert. Und nicht nur das junge Liebespaar, auch ihre älteren Ratgeber sind befangen in Konventionen, die nur notdürftig unterschwellige Gefühle zu überdecken vermögen. Die Trennungslogik der Dichtung ist dabei doppelt begründet, in gesellschaftlichen Vorgaben von Minnedienst und Kriegsdienst – und in ambivalenten Gefühlen von Anziehung und Abstoßung. Einheit ist zwar der Fluchtpunkt aller Liebessehnsüchte, aber je mehr sich die Liebenden dieser Sehnsucht ausgeliefert erleben, umso notwendiger ist zur Aufrechterhaltung der eigenen Identität die Trennung. Indem Sigune aber nun die ‚Freiheitssuchende‘ und Initiatorin der Trennung ist, wird in der Verkehrung der gängigen Geschlechterrollen ein ursprüngliches Motiv offengelegt, das nicht in der Konvention aufgeht, während Herzeloyde und Gahmuret in weiblichem Festhalten und männlichem Unabhängigkeitsstreben noch ein idealtypisches Paar darstellen. In der Berührung mit den Nöten des jungen Liebespaars zeichnet sich aber auch für die Älteren ein höchst irrationales Konfliktbündel ab, das ihre Liebe kaum mehr zum Vorbild macht. Nimmt man die Jagdmetapher zu Hilfe, erscheint Gahmuret vielmehr als ein Gejagter, der permanent auf der Flucht ist, während Herzeloyde eifersüchtig ihr Revier verteidigt. Der Minnedienst als solcher ist

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demnach kaum alleinige Ursache für das vielfältige Unglück im ‚Titurel‘, aber er ist die Gelenkstelle, an der individuelle Bedürfnisse und gesellschaftliche Ansprüche ineinandergreifen, sich wechselseitig beeinflussen, einander zunutze machen oder ausschließen. Das erste Titurel-Fragment ist, wie bereits vielfach kommentiert, ausgesprochen handlungsarm. Zwar finden einige Ortsveränderungen statt, aber diese werden nicht als Bewegungen inszeniert, sondern nur als wechselnde Kulissen aufgestellt, vor denen die Protagonisten vornehmlich als Redende auftreten. Die Statik des Hintergrunds gibt dabei die Aufmerksamkeit frei für die innere Dynamik der monologischen und dialogischen Selbstmitteilungen. Die Figuren sprechen über das Alter und die Jugend, den Tod und die Minne in metaphernreichen Bezügen, die ihre Rede als literarischen Diskurs ausweisen. Auf den ersten Blick scheinen sich die Protagonisten gleichsam hinter den Diskursformen zu verstecken, mit denen sie eine beträchtliche Distanz zwischen sich aufbauen. Hinter der formalen Distanzierung lauert aber nicht von ungefähr eine verblüffende Distanzlosigkeit. Wenn Herzeloyde sich etwa in Identifikation mit Sigune als Opfer Anphlises sieht, so spricht dies für ein eklatantes Unvermögen ihrerseits, Sigune als selbständige, von ihr unabhängige Person wahrzunehmen. Auch wenn Schionatulander sich immer wieder in seiner eigenen Suche nach hilfespendenden Objekten verliert, weist dies auf eine insoweit mangelhafte psychische Struktur hin. Gahmuret wiederum projiziert umstandslos den eigenen Minnekodex auf den Cousin, während Sigune in diesem Kreis die Einzige ist, die ihre eigene Position selbstreflexiv wahrnehmen kann, die zunächst von der Angst um den Verlust Schionatulanders spricht und dann von der Angst um die eigene Freiheit. Für den Rezipienten als beobachtenden Dritten erweisen sich die Reden und Wechselreden der Personen durchaus als transparent auf deren individuelle Verletzbarkeiten und Unzulänglichkeiten hin. Liebe oder Minne aber wird in diesem Kontext dezidiert an ein Identitätsproblem gekoppelt. Indem der geliebte andere in das Leben der Betroffenen tritt, werden zwar vitale Quellen belebt und Glücksgefühle freigesetzt – aber auch leidvolle Sehnsüchte und Ängste um die eigenen Grenzen geschürt. Wenn Liebe gesellschaftlich auf die Trennung von alten Strukturen und die Öffnung auf neue hinzielt,39 seelisch auf Abnabelung und auf neue Selbstkonturen in einer neuen Beziehung, wird zudem ersichtlich, dass die Trennung der Liebenden voneinander unter Umständen auch regressiv sein kann, nämlich dann, wenn sie Neues verhindert und Altes festhält. In diesem Sinne bleibt nämlich Schionatulander nach der Trennung von Sigune im Dienste Gahmurets dessen alter Nähe verhaftet, während Sigune länger im Einflussbereich Herzeloydes verweilt. Die Angst vor dem anderen führt in der Verweigerung und Trennung also noch nicht unbedingt in die ‚Freiheit‘, die Sigune imaginiert, sondern womöglich nur

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zurück in das Althergebrachte. Minnedienst als vorgebliches Vehikel sozialen Fortschritts wird damit vom Dichter seiner potentiell regressiven Tendenzen überführt, hinter denen der Tod, auch als Tod der Liebe selbst, lauert. Die Wildheit des Textes Hinterlässt das erste Fragment somit einen Eindruck von Statik und Starrheit, von einem eigentümlichen Befangensein der Protagonisten, die in ihren rationalisierenden Diskursen große Räume der Distanz zwischen sich legen, so ändert sich die Atmosphäre mit dem Beginn des zweiten Teils grundlegend. Vorsichtig vermittelnde Gespräche schlagen um in dramatisch-impulsive Bewegungsabläufe. Die Liebenden lagern gemeinsam in der Natur, als sich ein Jagdhund mit seinem Gebell vernehmen lässt, offenbar auf der Spur eines Wildes jagend, und Schionatulander, gleichsam angesteckt durch den lautstarken Jagdtrieb des Hundes, fühlt sich seinerseits animiert, den Hund einzufangen. Dass er von Kindesbeinen an für seine Schnelligkeit bekannt war, aber von Trevrizent noch übertroffen wurde, ist dem Dichter eine Mitteilung wert (137/138). Uf spranc sîn lîp gein der stimme, als er wolte den bracken ergâhen (139,4) (Schon sprang er auf, der Stimme nach, als ob er den Bracken erlaufen wollte), heißt es, aber die Situation stellt sich dann so dar, dass das Wild ihm gleichsam vor die Füße läuft und damit auch der Hund, der zuvor einem Fürsten entlaufen war, Schionatulander diesen also nur noch einzufangen braucht, um ihn dann Sigune zu überreichen: einen Hund, der kein gewöhnlicher Jagdhund ist, sondern ein schillerndes edelsteinbesetztes Halsband trägt mit einer ebensolchen phantastischen Leine, die beide eine Schrift erkennen lassen. Diese ganze stürmische Eruption von Jagd- und Lebenslust und staunenswertem Luxus wird aber vom Dichter mit wiederholten düsteren Kommentaren versehen, die das scheinbare Glück des Augenblicks in ihr trauriges Gegenteil verkehren (137,4; 139,3; 140,3; 143). Über vier Strophen hinweg (144–147) wird zunächst das Raffinement und die Kostbarkeit des edelsteinbesetzten Seiles beschrieben, wobei der Ich-Erzähler in provokanter Manier darauf aufmerksam macht, dass er sich dieses Seil wohl kaum hätte entgehen lassen (145,4), und, hätte er denn die Wahl zwischen Seil und Hund, diese wohl eindeutig ausfiele (147,4). Wolframs Spiel mit dem Gegenteil lenkt also schon hier den Blick darauf, dass Hund und Leine untrennbar sind, dass der Hund als symbolischer Vermittler von Natur und Kultur, dem hier noch Halsband und Leine mitgegeben sind, nicht in einzelne Teile dividiert werden kann, dass beide, Hund und Seil, vielmehr innig zusammengehören – und vor allem, dass das Seil nicht ohne den Hund zu haben ist oder: der Text nicht ohne den Boten. Sigune wendet nun ihre gespannte Aufmerksamkeit zunächst dem Seil und dem Halsband zu. Das überaus prunkvolle Halsband trägt den Namen des

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Hundes: Gardevîas hiez der hunt. daz kiut tiuschen: ‚Hüete der verte!‘ (148,4) (Gardeviaz hieß der Hund. Das ist zu deutsch: ‚Gib acht auf die Fährte!‘). Dass dieser Leitspruch im übertragenen Sinne verstanden werden soll, erläutern die folgenden beiden Strophen als Schrift auf dem Halsband, welche ein ethisches Postulat als höfischen Weg für Mann und Frau preisen (149/150). Das Seil wiederum erzählt die Geschichte zweier Liebespaare aus der Familie Schionatulanders. Florie, die ältere Schwester Claudittes, liebte Ilinot, der in ihren Diensten ums Leben kam. Wir erfahren, dass sie ihn wie ihr eigenes Kind großgezogen hat, zum anderen, dass sie auch seine amîe war, wenngleich ohne ligende minne (152). Ilinot kam bei einer Tjost ums Leben und Florie stirbt ihm nach; der Text kommentiert: Flôrîe starp ouch an der selben tiost, doch ir lîp nie spers orte genâhte (153,4) (Florie starb auch durch den gleichen Zweikampf, obwohl sie mit einer Speerspitze niemals in Berührung gekommen war). Die phallische Metapher macht uns noch einmal darauf aufmerksam, dass Florie als Jungfrau starb. Florie und Ilinot geben also das Exemplum einer unglücklichen, sexuell unerfüllten Liebe ab, wobei für Florie auf merkwürdige Weise Mutter- und Geliebtenstatus ineinandergeschoben werden. Sohn und Geliebter, Mutter und Freundin sind sich in einer quasi-inzestuösen Verbindung ohne ‚Sünde‘ immer die gleichen geblieben, in einer regressiven Beziehung, die ihren Abschluss konsequenterweise im Tod findet. Anders verhält es sich jedoch mit Clauditte, der jüngeren Schwester Flories, und ihrem Geliebten Ehkunat (154–158).40 Als der Hof von ihr eine Ehelichung erwartet, fällt ihre Wahl in autonomer Entscheidung auf Ehkunat, den sie auch zu ihrem Geliebten macht (156,2). Anders als Ilinot, der seinem Sohnesstatus nie eigentlich entwachsen ist, wird Ehkunat durch seinen Namen mit einer Aura der Ungezähmtheit versehen: herzoge Ehcunaver von Bluome diu wilde (157,4) (Herzog Ehcunaver von der wilden Blume). Und weiter heißt es in der letzten Strophe, von der unklar bleibt, ob sie einem gelesenen Text Sigunes entspricht oder ob sie sich nur an den Leser wendet: Sît er von der wilde  hiez, gegen der wilde si sante im disen wiltlîchen  brief, den bracken, der walt unt gevilde phlac der verte, als er von arte solte. ouch iach des seiles schrift, daz si  selbe wîplîcher verte hüeten wollte. (158) Da er nach der Wildnis hieß, sandte sie ihm in die Wildnis diesen Wildfang als Brief, den Bracken nämlich, der durch Wald und Felder auf der Fährte blieb, wie es seine Art war. Ferner besagte die Inschrift des Seiles, dass auch sie selbst auf ihren weiblichen Weg achtgeben wollte.

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Clauditte schickt also Ehkunat, dem Wilden, in die Wildnis einen wiltlîchen Brief, nämlich den Bracken, der seiner Natur gehorcht, wenn er die Spur des Wildes verfolgt. Sigune entnimmt dem Text eine Erzählung, in der das gegenseitige Begehren eines Liebespaares in der wilden Bewegung des Bracken zur Darstellung gebracht wird. Die ‚Wildheit‘ zwischen Ehkunat und Clauditte steht dabei in deutlichem Gegensatz zu der jungfräulichen Gehemmtheit zwischen dem allzu nahen Paar Ilinot und Florie. Allerdings vermittelt die letzte Zeile noch die Ermahnung zum Bewahren einer wîplîchen verte. Wîplîch und wiltlîch scheinen gegenläufig aufeinander bezogen zu sein. Und hier brechen die Informationen über die Schrift auf dem Seil ab. Vergegenwärtigen wir uns nun noch einmal das signifikante Ensemble von Hund, Halsband und Seil. Der Jagdhund bringt eine ungeheure motorische Dynamik in das Geschehen ein, die auch Schionatulanders Instinkte weckt: Ihn juckt es gleichsam in den Beinen, die Bewegung von Jagen und Gejagtwerden mitzuvollziehen, eine kreatürliche Bewegungslust verbindet ihn mit dem Tier. Dann aber braucht er diese gar nicht einzusetzen, denn der Hund läuft ihm sozusagen in die Arme, und zwar nicht nur als Tier, sondern als Tier mit einem Text. Ohne Aufmerksamkeit für den Text aber übergibt Schionatulander den Bracken dann Sigune, bei der die ungestüme Motorik der Ereignisse fürs Erste zur Ruhe kommt – denn Sigune beginnt zu lesen. Zunächst liest sie die Schrift auf dem Halsband, eine Moralsentenz, die auf den rechten Weg verweist und über den Namen des Hundes, Gardevîas, auch auf dessen Natur rückbezogen ist. Dass der Instinkt des Hundes und ein höfisch-ethisches Programm jedoch nicht deckungsgleich sind, der weitere Verlauf vielmehr die Unvereinbarkeit beider Wege aufzeigt, gehört zu den Eckpfeilern der Titurel-Deutung. Aber es geht hier nicht nur um Hund und Text, es geht auch um den spezifischen Ort, auf dem der Text zu finden ist, das Halsband, das zu einer symbolischen Deutung einlädt. Nicht von ungefähr ist das normative Programm einer höfischen Welt auf das Teil appliziert, mittels dessen sich der Mensch das Wilde verfügbar macht. Als Signum der Unterwerfung der Natur unter die Kultur oder der Anbindung der Natur an den Menschen wird dem vierbeinigen Tier das Band um den Hals gelegt und festgeschnürt. Der Mensch verbindet sich mittels der Leine, die am Halsband befestigt wird, mit den Triebkräften des Tieres. Setzen wir nun den Bracken für die naturhaften Anteile des Menschen, so stellt sich das moralischnormative Postulat der Gesellschaft gleichsam als das Halsband dar, mit dem die Kultur die menschliche Natur in ihren Dienst nimmt und bindungsfähig macht. Die konkrete ‚Bindung‘ des Tieres verweist dabei unmittelbar auf die soziale Bindungsfähigkeit des gezähmten Menschen, der nicht mehr haltlos von seinen ambivalenten Triebregungen hin- und hergerissen wird.

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Betrachten wir aber nun den Bracken als die Natur des Menschen und dessen Halsband als das normative Postulat der Gesellschaft, mit dem sich diese die Natur des Menschen gefügig macht, so bleibt noch das Seil selbst, das signifikanterweise in dieser Geschichte von niemandem gehalten wird oder gehalten werden kann, sondern das dem Bracken anhängt wie ein Schweif, wie ein Teil seiner selbst. Aber es ist ja auch kein einfaches Seil mehr, es ist ein in mehrfacher Hinsicht sehr kostbarer Text, der individuelle Geschichten von Liebe und Tod, Bindung und Trennung aufrollt,41 Geschichten, in denen Natur und Kultur zu einer Einheit verschmelzen. Und lesend nimmt Sigune diese Geschichten auf, Liebesgeschichten, die etwas mit ihr und Schionatulander zu tun haben: die Erzählung von Florie und Ilinot als die Geschichte einer symbiotischen Beziehung und eines ungelebten Lebens, das vorzeitig im Tod mündet, und die von Clauditte und Ehkunat als die hoffnungsvolle Verheißung einer Synthese von individuellen und gesellschaftlichen Ansprüchen. Für Letztere zeigt die Geschichte das Schlussbild zweier Personen, die getrennt sind, sich aber in leidenschaftlicher ‚Wildheit‘ aufeinander zu bewegen. Damit bietet der Text Sigune etwas, das ihr bisher versagt war, das als qualitativ Neues in ihr Leben tritt – eine Spiegelung ihrer selbst in der Darbietung negativer und positiver Seinsmöglichkeiten. Der Text bietet gefahrlos Existenzen an, die der Leserin nie ungerufen zu nahe treten. Florie und Ilinot, Clauditte und Ehkunat kann sie als partielle Spiegelungen ihrer selbst begreifen, von denen sie nicht, wie bei Herzeloyde und Gahmuret, in deren eigene Problemwelt verwickelt wird. Lesend ergreift Sigune die Chance, etwas über sich, Schionatulander und die Welt zu erfahren, und lesend macht sie eine neue Erfahrung von Nähe und Distanz.42 Als Sigune aber nun hingeht und – ‚gefesselt‘ von der Lektüre – das Seil von der Zeltstange löst, um weiterlesen zu können, strebt der Hund mit Macht fort (159 ff.). Ihr fällt erst jetzt ein, dass sie dem Hund etwas zu fressen geben sollte, aber da hat er sich schon losgemacht, und Sigune bleibt mit zerschürften Handflächen zurück. Schionatulander, derweil mit nackten Beinen im Wasser stehend, um Fische mit einer Federangel zu fangen (159/164), hört das Bellen des Hundes und setzt ihm hinterher. Ohne ihn einholen zu können, zerkratzt er sich Beine und Füße im Dickicht und hinterlässt eine Blutspur, die deutlicher als die des Wildes ist, wie es heißt (165/166). Gewaschen tritt er vor Sigune hin und beide beklagen gegenseitig ihre Wunden (168). Als Sigune jedoch den Verlust des Seiles beklagt, wiegelt er die Bedeutung der Schrift ab (169). Sigune aber gibt emphatisch zu verstehen: ‚dâ stuont âventiure an der strangen‘ (170,1) („Da stand eine Aventiure auf dem Seil“). Das Ende der Geschichte zu erfahren, ist ihr mehr wert als alle ihre Besitztümer, und sie erwarte von Schionatulander im Hinblick auf ihre gemeinsame Zukunft, dass er ihr das Seil zurückbringe: ‚du muost mir daz seil ê erwerben, dâ Gardevîaz ane gebunden stuont hinne‘ (171,4) („Dann musst

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du mir zuerst das Seil holen, an dem Gardeviaz eben hier drinnen angebunden stand“). Schionatulander will es wagen und bittet noch: ‚unt halt niht mîn herze sô lange in dînen banden!‘ (172,4) („Und halte mein Herz nicht so lange gefesselt“). Die Brackenseilepisode erzählt also eine Geschichte von Jagen und Fangen, Binden und Lösen, die auch einer geschlechtsspezifischen Rollenverteilung verpflichtet ist. Schionatulander, vom Jagdfieber gepackt, fängt einen Bracken und bringt ihn zu Sigune – als Liebesgabe, oder, wenn man so will, als ‚Köder‘. Verdeckt dürfte sich sein Jagdtrieb ja auch auf Sigune richten und der ungestüme Bracke etwas von ihm selbst überbringen. In gewisser Weise ‚beißt‘ Sigune auch tatsächlich an und lässt sich von dem Text ‚fesseln‘, verliert dabei aber den Bracken aus dem Auge, dem wiederum Schionatulanders vornehmliche Aufmerksamkeit gilt.43 Sigune vergisst fatalerweise, mit dem halbwilden Hund das zu tun, was Menschen mit Tieren gemeinhin machen, um sie zu zähmen: nämlich ihn zu füttern. Deshalb bleibt der Bracke seinem Trieb treu, nimmt die Spur des Wildes wieder auf, und mit ihm entfliehen auch Seil und Text. Will man also nach einer ‚Schuld‘ Sigunes fragen,44 so wäre diese fraglos noch vor der späteren Entsendung Schionatulanders anzusiedeln. Schließlich liegt die Ursache des Übels im Entlaufen des Bracken begründet, und hierfür liefert der Text ein sehr anschauliches Tableau: Sigune löst das Seil von der Zeltstange, um den Text weiter verfolgen zu können – wobei sich allerdings zwei Hindernisse auftun. Zum einen ist das Seil mit seinen applizierten Edelsteinen als Halteseil für menschliche Hände gänzlich untauglich, zum anderen zieht am anderen Ende ein Jagdhund, der seinem Trieb folgen will. In adäquater Einschätzung der Situation hätte Sigune also nicht das Seil ‚lösen‘ dürfen, bevor sie nicht einem andersgearteten Akt der ‚Bindung‘ beziehungsweise Zähmung mit der Fütterung des Hundes nachgekommen wäre. Diesem Akt stand aber ihr eigener Lesehunger im Wege. So wie ihr eigener Lesetrieb mit ihr durchgeht, geht ihr auch der Bracke durch. Wenn Sigune also die Bedürfnisse des Bracken verkennt, dieser aber als dessen Gabe auf Schionatulander zurückverweist, so verkennt sie wohl auch die kreatürlichen Bedürfnisse des Freundes. Während Sigune in einem Kontext von Binden und Lösen, Zähmen und Jagen einerseits eine rollenspezifische Zuschreibung des Bindens und Zähmens verfehlt, wird sie zum anderen selbst mit einem sehr eigenständigen, mächtigen Trieb ausgestattet, der auch sie in Verwandtschaft mit dem Bracken bringt: ihrer Leselust. Der Hund will das Wild, Schionatulander will Sigune, aber Sigune will die Schrift. Wenn wir zurückdenken an die Minnedialoge, so war Sigune diejenige, die unter allen Protagonisten die vergleichsweise reflexivste Haltung einnahm, die von eigenen Befindlichkeiten und Ängsten mitteilen konnte, ohne gänzlich in ihnen aufzugehen. Zum anderen steht sie als die Figur im Mittelpunkt der

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Dichtung, welche die gravierendsten Trennungen und Entbehrungen zu erleiden hatte. Innerhalb der verzweigten Gralsfamilie, deren Schicksale weithin von Entborgenheit und Vereinzelung gekennzeichnet sind, verdichtet sich dieses Fatum gleichsam noch einmal in ihrer Person. Familie und Gruppe vermögen ihr keine Festigkeit im Leben zu geben, und als sie Schionatulander begegnet, misstraut sie auch dieser Beziehung, baut sie unter Berufung auf ihre Freiheit ‚sichere‘ Distanzen zwischen sich und ihm auf. Zwar ist Sigunes Begehren nach dem anderen existent, aber in seiner Brechung wird sie wieder auf sich selbst zurückgeworfen. In dieser unerfüllten Welt, in der einer dem anderen fremd geworden ist, sieht sie sich nunmehr mit einer Schrift konfrontiert, die bunt und glänzend wie eine Versuchung an sie herantritt. Der Text weckt ihre Neugierde,45 so wie der Bracke Schionatulanders Bewegungslust weckte, und Sigune bemächtigt sich des Textes ohne Vorbehalte. Allerdings macht nunmehr sie die Erfahrung, dass sich ‚der andere‘ entwindet, und ihre Verletzung ist entsprechend groß: als Aufschürfung ihrer Hände und als Versagung ihres Lesehungers. Schionatulander zieht sich ebenfalls Verletzungen zu, im Dickicht der Natur, als er den Bracken verfehlt, den er ebenso wenig zähmen konnte wie Sigune. Beide ziehen sich Verletzungen zu, indem sie etwas halten und einfangen wollen, aber nicht wissen wie. Ist das Seil als solches noch ein Medium der Bindung zwischen Mensch und Tier, Kultur und Natur, etwas, das gehalten werden kann und einen anderen hält, ist das Brackenseil im ‚Titurel‘ mit der Applizierung seiner steinernen Buchstaben dieser Funktion weitgehend beraubt. Es eignet sich zwar zum Lesen, aber kaum mehr zum Binden und Halten, und das Bild des Bracken, der sich immer wieder losreißt und in seiner Wildheit die Leine hinter sich her schleift, ist insofern signifikant. Paradoxerweise wird nämlich mit der ‚Verschriftlichung‘ des Seils einer animalischen Triebhaftigkeit Vorschub geleistet, ist der Bracke mit anhangendem Text schwerer zu halten als ohne diesen. Das Bild mag dokumentieren, dass mit der Kulturleistung der Schrift auch eine Distanzierung von der Natur einhergeht. Sofern Schrift als Zeichen der Herrschaft über die Natur fungiert, bringt sie auch eine Entfremdung von der Natur mit sich, die sich womöglich gegen den Menschen selbst kehrt. Denn mit einer Distanzierung von der Natur trübt sich auch die Befähigung, eigene und fremde Naturanteile wahrzunehmen und zu zähmen. Letztlich symbolisiert das Bild von Bracke und Seil eine Krise sozialer Bindungen. Anstelle der Leine als Instrument des Haltens ist ein hochartifizielles Seil getreten, das zwar Geschichten von Bindung und Trennung erzählt, aber den ungestümen Jagdhund verstärkt seinen Trieben überlässt, seine Triebhaftigkeit gleichsam von einer Halterung abkoppelt. Wenn Seil und Text aber nicht mehr ‚Bindung‘ begründen, so evozieren sie doch etwas anderes: Erkenntnis.

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Sigune will etwas über sich und die Welt erfahren, bevor sie sich ‚bindet‘. Und um wieder an den entflohenen Text heranzukommen, bindet sie Schionatulander neuerlich an sich und schickt ihn stellvertretend für sich selbst dem Bracken hinterher;46 sie macht den Freund gleichsam zu ihrem Jäger oder Jagdhund, den sie ihrerseits an der Leine des Minnedienstes hält. In gewisser Weise nimmt sie Schionatulander damit ebenso als Helfer für sich in Anspruch, wie er es in den Minnedialogen des ersten Fragments ihr und Gahmuret gegenüber getan hatte. Das heißt, hinter ihrer begehrlichen Neugier lauert gleichfalls ein bedrohlicher Selbstverlust – hat Sigune sich doch als leidenschaftlich Lesende schon so weit an den Text ‚verloren‘, dass sie seines Wiederfindens dringend bedarf, um sich ihrer selbst vergewissern zu können. Das Abenteuer des Lesens ist ihr zum Abenteuer des Lebens selbst geworden, in dem sie männliche Hilfe braucht. Wenn aber Schionatulander dieses Abenteuer nicht ‚besteht‘, so teilt sich darin auch sein eigenes Unvermögen mit, Sigunes Not adäquat zu erfassen. Wo er, selbst hilflos, sich nur blind ihrem Wunsch unterwirft, vermag auch er ihr nicht zu helfen. Damit wird eine zirkuläre Bewegung geschlossen: Ohne einander verstehen zu können, bleiben Jäger und Gejagte mittels ihrer Trieb­ impulse untrennbar aufeinander bezogen, wobei Flucht oder Jagd wie eine Kippfigur immer wieder wechseln. Indem Schionatulander etwa dem fliehenden Bracken nachsetzt, wird er zugleich selbst zum Gejagten, zum Objekt einer ihn jagenden Minne, das die verräterische Spur eines ‚Getroffenen‘ nach sich zieht. Instinkte ketten die Beteiligten aneinander, ohne dass sie fähig wären, soziale Bindungen einzugehen. Ähnlich wie der Bracke reißen sie sich immer wieder los und folgen einem wechselhaften Kurs von Nähe und Distanz. In dem suggestiven Bild von Bracke und Seil fehlt bezeichnenderweise der Haltende, denn der Text als autonomes Gebilde lässt einen solchen nicht mehr zu und behauptet seine Eigengesetzlichkeit. In gewisser Weise aber ersetzt er diesen auch. Indem der Text eine neue Symbolebene mit ästhetischem Eigenwert repräsentiert, stellt er sich außerhalb eines Gesetzes von Bindung und Trennung, gehört er allen und keinem, hat auch er Teil an der Wildheit des Bracken. Der Text als Symbol repräsentiert nicht mehr nur die Wirklichkeit, sondern bringt zugleich eine neue, eigene hervor. Er hinterlässt Spuren, blutige Spuren, Verletzungen und Verwundungen, wie die Liebe selbst, wird selbst zum gefahrbringenden Eros, der die Betroffenen zu berühren und zu verwunden vermag.47 Wie die Liebe tritt der Text auch als eine neue Verheißung auf, die der Erkenntnis, und schickt die Liebeshungrigen, die partiell zu Erkenntnishungrigen geworden sind, auf die Suche. Zwar entspringt er als Symbol dem Wunsch nach Distanzierung, aber, einmal in die Welt gesetzt, ist auch er eingegliedert in den Kreislauf der Triebe und Emotionen – gebunden an die Wildheit des Bracken.

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Resümee Im Wolframs ‚Titurel‘ tritt die Minne als eine große gewaltige Kraft auf, die stärker ist als die noch allzu jungen Liebenden. Als Diebin und Jägerin macht sie die Verliebten zu hilflosen Opfern, die sich ihrerseits in langen Diskursen über sie zu verständigen und ihrer zu erwehren versuchen. Überwältigende, leidenschaftliche Gefühle nehmen in der personifizierten Minne eine Gestalt an, mittels der sich die Protagonisten von sich selbst distanzieren. Aus der Erzählerperspektive werden große Emotionen in ihr dramaturgisch gebündelt und vor allem: verrätselt. Denn die Helden und Heldinnen begegnen der Veräußerung ihrer innersten Leidenschaften als etwas Fremdem, vor dem ihr ideales Erscheinungsbild weithin ungetrübt bleibt. Solchermaßen ist die ‚Minne‘ eine der großen Deutungsentwürfe des Mittelalters für eine Sphäre des Irrationalen, nur schwer Beherrschbaren, der sich das rationale Bewusstsein gegenüberstellt. Im ‚Titurel‘ wird vor allem die Differenz zwischen diesen beiden Sphären betont: Das Irrationale behauptet sein Recht, und das Bewusstsein kämpft um Sieg oder Niederlage – oder aber um den symbolischen Bann der Versprachlichung. In diesem Spannungsfeld bewegt sich Wolframs ‚Titurel‘ in einer fließenden Dialektik zwischen den Polen von Freiheit und Zwang, Wildheit und Zähmung, Nähe und Distanz, ohne dass eindeutige moralische Konturen sichtbar würden. Immer wieder verkehren sich Figuren in ihr Gegenteil, wird der Jäger zum Gejagten und die Freiheitssuchende zur Gefesselten. Einer verbindlichen Wertorientierung legt der Text damit alle nur denkbaren Hindernisse in den Weg. Das erste Fragment entwickelt in den großen Dialogen vor allem einen Problemkreis von Nähe und Distanz, hinter dem ein grundsätzliches Identitätsproblem sichtbar wird. Mangelhafte Bindungen erscheinen in der Kons­ truktion der Lebensläufe dabei als Bedingung für eine spätere Bindungsunfähigkeit. Liebende können sich nicht lieben oder halten, weil sie eine haltlose Kindheit erlebt haben und Angst an den Grenzen der eigenen Identität ihr Lebensgefühl beschwert. Zwar bietet der Dichter diese Zusammenhänge an, weist sie jedoch nicht explizit als solche aus und hält somit die epische Idealität der Figuren in der Schwebe. An der Oberfläche des Textes wird diese Idealität durch die ständige Präsenz des Todes getrübt, der wie die Minne als äußeres Fatum an die Personen herantritt, verdeckt aber als ein regressiver Sog in den Figuren selbst liegt. Das Todesmotiv wird vor allem dominant nach der ersten Trennung der Liebenden, mit der sie ihre Liebe verfehlen und in der Folge ihrer Lebendigkeit verlustig zu gehen drohen. Als Anlass und Ausgangspunkt der Trennung unterliegt der Minnedienst dabei einer gesellschaftskritischen Perspektive des Erzählers, die allerdings nicht nur einem möglichen Tod der Betroffenen gilt, sondern in gewisser Weise den Tod der Liebe selbst zum Gegenstand nimmt.

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Das zweite Fragment spielt das Moment der Wildheit ein, das im ersten Fragment präludiert wurde. Ein ungestümer Bracke belebt die Szene, ein Jagdhund, der instinktsicher seinem Trieb folgt und, anders als die Liebenden vorab, seine Lebensspur nicht verlässt. Schionatulander überreicht seiner Freundin den Bracken als zeichenhaftes Geschenk, aber das Geschenk ist ambivalent. Zwar weckt es tatsächlich Sigunes Triebe, ihr Begehren richtet sich jedoch auf den Text, und an diesem Punkt klaffen die Triebbewegungen aller Beteiligten endgültig auseinander. Den Hund zieht es auf die Blutspur, Schionatulander zu Sigune und Sigune zum Text. Wildheit als ursprüngliche Lebendigkeit kippt um in Bindungslosigkeit, die den Tod bereithält. Bindung hätte in diesem Fall Zähmung des Hundes bedeutet, als Wahrnehmung und Befriedigung seiner Bedürfnisse. Ausweglos aber erscheint die Situation da, wo diejenige, von der Zähmung erwartet wird, selbst noch ‚wild‘ ist, wo sie das Begehren des Freundes abwehrt, nur um ihn in den Dienst eigener, andersgearteter Begierden zu nehmen. Damit wird das höfische Minneparadigma, das wesentlich an die Frau und den Minnedienst gebunden ist, grundsätzlich in Frage gestellt, vornehmlich dort, wo die Verweigerung der Frau nicht mehr primär auf den Triebaufschub des Mannes zielt, sondern sie selbst als begehrendes Wesen in Erscheinung tritt. Männliche Unterwerfung trägt vor diesem Hintergrund nicht mehr zur Versittlichung bei, sondern ist vorderhand selbstdestruktiv und wird als männliche Schwäche entlarvt. Projektionen auf eine idealisierte Frau fallen wieder auf den Mann zurück, wo die Frau eigene Identitätsprobleme austrägt beziehungsweise diese ihr literarisch zugestanden werden. Erstes und zweites Fragment sind durch das Thema von Bindung und Trennung miteinander verbunden. Das erste Fragment entwickelt lebensgeschichtliche Zusammenhänge, in der Bindung zum Problem wird und eine Folge von Trennungen das Leben der Liebenden beschwert. In einem mittelalterlichen Bezugsrahmen stehen Waisenstatus, Aufwachsen in der Fremde und das relative Versagen der Ratgeber für erlebte Mängel, die konsequent in dem Wolfram’schen Verwandtschaftssystem als ein weithin abwesendes mütterliches Bindungsprinzip und ein dominantes männliches Trennungsparadigma ihre geschlechtssymbolische Zuordnung finden. Schicksalhafte und intentionale Trennungen sind demnach das Unglück des jungen Liebespaars, das sich nicht zu halten vermag. Im zweiten Fragment wird diese Ausgangsposition auf eine neue Symbolebene verlagert, auf die des Bracken mit seinem ihm anhangenden Seil, der nicht mehr zu halten ist. Die dialogisch-diskursive Struktur des ersten Fragments wird überführt in eine Struktur dynamischen Handelns einerseits und versunkenen Lesens andererseits. Dies kommt in etwa einem Vitalisierungsschub gleich, denn wir erleben die Protagonisten als Jagende und Begehrende. Gleichzeitig werden jedoch neue Distanzen zwischen ihnen aufgerissen. Waren sie im

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ersten Fragment in ihren rationalisierenden Diskursen eher triebgehemmt, stehen sie nunmehr als solitär Begehrende da, die einander verfehlen. Gerade ihr triebhaftes Begehren aber führt die Liebenden in die Vereinzelung, denn das jeweilige Objekt des Begehrens flieht den Begehrenden. Die Liebenden bleiben isoliert, weil sie den anderen in der Befangenheit eigener Triebansprüche nicht wahrnehmen können. Wenn Parzivals Suche nach dem Gral eine Suche nach Herrschaft und gesellschaftlicher Anerkennung ist, die an die Fähigkeit zur Empathie gekoppelt wird, so ist Sigunes Suche nach dem Text nicht mehr auf die Überwindung von Vereinzelung angelegt, sondern, im Bilde der Einheit von Text und Leserin, auf ihre letztendliche Erfüllung.48 Sigunes Ausgangsposition ist die eines existentiellen Mangels, vor der sie jedoch kompensatorisch Züge von Subjektivierung entfaltet. Ihre selbstreflexive Position im ‚Titurel‘ lässt sie in gewisser Weise als Paradigma einer intellektuellen Existenz oder Vorbotin eines modernen Lebensgefühls auftreten, die, eines festen Halts in der Gruppe beraubt, ihre betrogenen Bedürfnisse nach Nähe in die Suche nach Erkenntnis umlenkt. Nähe zur Schrift bringt jedoch im Bilde des scharfkantigen Seils eine weitere Distanzierung von der Natur mit sich, hinter der diese als zügelloser Bracke umso nachhaltiger ihre nicht hintergehbare Herrschaft behauptet. In der Dialektik von Hund und Text ist der Hund selbst zudem unfähig, die Schrift zu lesen, ja er ist sich nicht einmal ihrer Existenz bewusst. Er steht für das Unbewusste als Kehrseite des Bewussten. Beide treten im Bild von Bracke und Seil als voneinander separierte psychische Welten in Erscheinung, die gleichwohl eine unlösbare Einheit bilden. Je stärker aber nun von Sigune das Ausgeliefertsein an die Mächte der Natur erlebt wird, umso stärker wird wiederum ihr Wunsch nach Freiheit. Der Text, welcher in der symbolischen Doppelung von der Realität abgehoben und zugleich mit ihr verbunden ist, verspricht Erlösung von diesen Zwängen und steht als neue Verheißung im Raum, entzieht sich aber auch wieder, wie Narziss sein Spiegelbild, dem begehrlichen Zugriff der Lesenden. Nun ist der Wolfram’sche Text zwar Teil eines stofflichen Entwurfs mit tödlichem Ausgang, hält dem Leser aber als Fragment49 noch Freiräume der Imagination offen. Dem Rezipienten bleibt jedenfalls die Spannung, die mit der neuerlichen Trennung der Liebenden verbunden ist, erhalten und die regressive Vollendung des Todes in ihrem lebendigen Begehren weiter aufgeschoben.

4 Autonomiegewinn und Erotik Walther von der Vogelweide

Codex Manesse · Walther von der Vogelweide

4.1 Scham, Sinnlichkeit und Tugend Zum Begriff der ‚schame‘ bei Walther von der Vogelweide

Heutzutage ist Scham ein Tabugefühl. Jeder kennt das peinigende Gefühl, aber nur selten wird es zur Sprache gebracht. Folgen wir Norbert Elias, ist es ein Teil jenes Preises, der uns im Verlaufe eines Prozesses der Zivilisation für eine Dis­ ziplinierung und Befriedung unseres Zusammenlebens abverlangt wird. Darin unterwirft sich das Individuum gesellschaftlichen Normen als inneren Leitbil­ dern, vor denen es sich zu schämen lernt: „Schäm dich“ ist nicht von ungefähr eine altbekannte Floskel im Erziehungsverhalten der älteren gegenüber der jüngeren Generation. Als eine mittelalterliche Interpretation des Schamprob­ lems und in gewisser Weise als Vorwegnahme einer Elias’schen Kulturkritik mag man Hartmanns von Aue ‚Erec‘ lesen. Gleich zu Beginn ist der Held nach einer demütigenden Züchtigung durch einen Zwerg quälenden Schamattacken ausgesetzt, und die Scham durchzieht als ein dominantes Motiv, das die Pro­ tagonisten mit sich selbst entzweit, den gesamten Roman. Hiermit verglichen findet der Schambegriff bei Walther von der Vogelweide eine gänzlich andere Verwendung. Auch er ist am Phänomen der Scham interessiert, jedoch über­ wiegend aus der Perspektive des Statthalters von Scham als Tugendwert.1 Nicht die hilflose Scham eines gedemütigten Subjekts, sondern Scham als morali­ sches Bewusstsein und Medium von Selbstschutz, das heißt Scham als posi­ tive kulturelle Errungenschaft ist wichtiger Bestandteil seines idealtypischen Menschen- und Gesellschaftsbildes. Wo Scham fehlt, markiert dies hingegen ein gesamtgesellschaftliches Defizit. Im Folgenden möchte ich zunächst auf Scham als Tugend in der Walther’schen Lyrik eingehen, mit einem kurzen Ausblick auf psychosoziologische Schamthe­ orien. Am Beispiel des ‚Lindenlieds‘ soll dann die Rolle von weiblicher Scham in ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Akzeptanz sinnlicher Liebe vorgestellt werden. Aufs Engste verbunden mit dem Phänomen der Scham ist dabei die Frage nach der Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern. Und abschlie­ ßend mögen noch zwei weitere Texte darlegen, wie die Erwähnung von Scham einerseits und ein verdeckter Schamgestus andererseits normative Horizonte, die Walther selbst absteckt, in drastischer Ironisierung wieder unterlaufen. * Walthers Begriff von Scham als Tugend ist zunächst relativ leicht überschaubar: Schamgefühl zeichnet durchgängig ein selbstbewusstes Ich aus (etwa L 93,18; L 183,2), das sich dezidiert von den ‚Schamlosen‘ (L 64,4; L 45,34; L 73,36)

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abgrenzt. Schame findet Erwähnung im Kontext von anderen Tugendbegriffen wie reht und zuht (L 102,27) und markiert eine Position sittlicher Überlegenheit. Schamlos sind im Gegensatz hierzu diejenigen, denen es an Selbstbeherrschung fehlt, die sich nicht selbst in der Hand haben (L 81,9) und allenfalls situations­ abhängig eine Scham vor Fremden (L 81,12) an den Tag legen. Wer sleht den lewen? wer sleht den risen? wer überwindet jenen und disen? daz tuot jener, der sich selber twinget und alliu sîniu lit in huote bringet ûz der wilde in stæter zühte habe. geligeniu zuht und schame vor gesten mugen wol ein wîle erglesten. der schîn nimt drâte ûf und abe. (L 81,7–14)2

Wer schlägt den Löwen? Wer schlägt den Riesen? Wer überwindet jenen und diesen? Das tut jener, der sich selbst bezwingt und alle seine Glieder in seine Gewalt bringt aus der Wildnis in den Hafen fester Zucht. Geliehener Anstand und Zurückhaltung vor Fremden mögen wohl eine Weile blenden: Dieser Glanz nimmt rasch zu – und (rasch wieder) ab. (I, 301)

Eine temporäre Scham vor Dritten, welche nur auf den äußeren Schein setzt, gilt demnach als eindeutig minderwertig gegenüber einer ‚moralischen Scham‘,3 die an ein inneres Gebot gebunden ist. Wahre schame und zuht erscheinen vor diesem Hintergrund als Exponenten einer inneren Instanz von Selbstkontrolle. ‚Moralische Scham‘ wird, in ihrer Präsenz oder Absenz, dabei überwiegend an ein männliches Subjekt gebunden, das wiederum in Abhängigkeit von einer Frau gedacht wird. Die gern zitierten Zeilen: swer guotes wibes minne hat / der schamt sich aller missetat (L 93,17/18) bezeugen ein Zentrum höfischer Ethik, welche freilich auch ihre Kehrseite bereithält: Daz die man als übel tuont, / dast gar der wibe schult: dest leider so (L 90,31/32). Insofern liegt die Verantwortung für die sittliche Tugend oder Untugend der Männer bei den Frauen, denen damit im Entwurf Walther’scher Kulturkritik ein eigener Part der Verantwortung beziehungsweise des Versäumnisses zugewiesen wird. Beklagt wird ferner aus einer kulturpessimistischen Perspektive die Schamlosigkeit einer Gegenwart (z. B. L 102,26 f.), wohingegen der Wert der Scham als utopischer Entwurf in eine verklärte Vergangenheit projiziert (z. B. L 21,10–24) beziehungsweise in der Distanzierung von gegenwärtigen Missständen vom dichterischen Ich selbst vereinnahmt wird. Auf dieser Ebene spiegelt die Walther’sche Ethik ein verinnerlichtes Schamver­ ständnis wieder, wie es etwa von Norbert Elias als Teil einer inneren Ausdifferenzierung

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in einem zivilisatorischen Prozess gedacht wird.4 Scham bildet demnach einen Teil jener ‚Selbstzwangapparatur‘, durch die der Mensch im Laufe seiner zivilisatori­ schen ‚Affektmodulierung‘ äußere Zwänge ersetzt. Für das 13. Jahrhundert mag man in diesem Sinne Thomasin von Zerklaere zitieren, der Scham als eine Art Metatugend beschreibt: Ich gib den chinden dise lere, ob si ir iht denne wellent mere daz muogen si dar nach gewinnen. ob si sichz vlizzen von ir sinnen, si sulen schamen sich ze mazzen, wan swer sich schamet, der muoz verlazen ruom, luge, spot und schalcheit und mangerslaht unsteticheit. an drin dingen man haben sol scham, swer ir wil phlegen wol: ein, daz man niht spreche unere, diu ander, daz man habe die lere daz man gebare reht unde wol, diu dritte, daz man tuo, daz man sol. (185–198)

Den jungen Leuten erteile ich diese Lehre (wenn sie mehr davon haben wollen, können sie sie im Folgenden finden, wenn sie so gescheit sind, sich darum zu bemühen): Sie sollen sich in gehörigem Maße schämen, denn wer sich schämt, muss ablassen von Prahlerei, Lüge, Spott, Niedertracht und vielerlei Missetaten. In Bezug auf dreierlei soll Scham empfinden, wer ihr auf rechte Weise Raum geben will: erstens, damit man nichts Ehrloses spreche, zweitens, damit man die Lehre beherzige, sich korrekt und gut aufzuführen, drittens, damit man tue, wozu man verpflichtet ist.

si sulen beide schamech sin junchherren unde vrovelin. (215/216)5

Beide sollen sie schamhaft sein, junge Männer und junge Mädchen.

Thomasins Sicht auf ‚schame‘ als Erziehungsziel und ein heutiges Verständnis von Scham, das diese in engem Zusammenhang mit der Ichentwicklung sieht, berühren sich hier. Scham setzt nämlich ein entwickeltes Ichgefühl voraus, das sich, herausgehoben und abgesondert von einer Gruppe, seiner selbst in einem Diskrepanzerlebnis bewusst wird. Das ganz kleine Kind etwa oder der bewusst­ seinsgetrübte Betrunkene sind in diesem Sinne noch oder wieder ‚schamlos‘, ebenso eine Gruppe, wie Georg Simmel anführt.6 Die moderne Emotionstheorie zählt Scham zu den Distanzgefühlen, im Gegensatz zu den sogenannten Primärgefühlen, das heißt instinktnahen Gefühls­ reaktionen, bei denen Affekt und Handeln nahe beieinanderliegen – etwa einem Wutimpuls, den das Subjekt unmittelbar ausagiert.7 Die Spannung des Affekts und die Spannungsabfuhr gehen dort Hand in Hand, während bei einem Gefühl wie der Scham eine größere Distanz des Subjekts zu sich selbst und zu

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seinem Gegenüber vorhanden ist. Max Scheler spricht etwa davon, dass man nicht gleichermaßen „schamvoll“ wie wehmütig und traurig ist: „Scham ist ein Gefühl, das ein Fühlen unseres Selbst als eines Gegenstandes in sich schließt oder voraussetzt“,8 und Georg Simmel spricht von einer Betonung des Ichs, die allererst die Voraussetzung für ein Diskrepanzerlebnis zwischen dem Ich und einer an das Ich herangetragenen Norm darstelle.9 Scham markiert so die Nahtstelle, an der ein Individuum Autonomie gewinnt und sich zugleich als Teil einer Gesellschaft zu begreifen lernt. Sigmund Freud führt hierzu im Rah­ men seines psychoanalytischen Schichtenmodells „ein von außen aufgenötigtes Ichideal“ an, das den primären kindlichen Narzissmus als vergesellschaftende Instanz ablöse und dessen Befriedigung nunmehr in der Erfüllung dieses Ide­ als bestehe.10 Die von Freud ausgehende psychoanalytische Narzissmustheo­ rie11 geht dabei in ihrem Entwicklungsmodell von einer primären Ureinheit zwischen Mutter und Kind aus, die dem Kinde Sicherheit und Geborgenheit schenkt und ein Gefühl der Alleinheit beziehungsweise Allmacht vermittelt. Dieses ‚Größenselbst‘ wird dem psychoanalytischen Modell zufolge im Laufe der Entwicklung durch ein realitätsangepasstes Ich ersetzt, das zwischen sich und dem anderen unterscheiden lernt, jedoch nie gänzlich den Bezug auf ein primäres Größenselbst verliert, das in Phasen der Regression wiederbelebt wird. In diesem Modell steht die Scham an der Schwelle zur Realitätsgewinnung, in der das Ich sich aus einer erlebten Alleinheit herauslöst und die Wahrnehmung seiner selbst als ‚anders‘ – wie im Paradiesmythos – mit Scham belegt. Wann immer sich in diesem Prozess das Individuum im Gewahrwerden von Diskre­ panzen als ‚klein‘ erlebt, hat dies ein negatives Beschämungsgefühl zur Folge. Soweit Scham jedoch bei fortschreitender Stabilisierung und Differenzierung eine innere Wächterfunktion wahrnimmt, die das Individuum vor Bloßstellun­ gen schützt,12 ist sie Bestandteil eines gesunden Selbstwertgefühls oder, aus der Perspektive Walthers von der Vogelweide, Indiz eines gesunden Gemeinwesens. Vor diesem Hintergrund dokumentiert allerdings die Vereinnahmung der adligen Frau als Repräsentantin einer normativen Instanz, wie sie beispielhaft für eine höfische Ethik ist und hier auch für Walther gilt, noch eine starke Objekt­ gebundenheit personaler Über-Ich-Strukturen.13 Das Gegenüber einer primären narzisstischen Ureinheit ist gleichsam noch nicht aus seiner Spiegelfunktion14 entlassen, das Ich bedarf seiner noch als idealisiertes Objekt zur Versicherung seiner selbst in einem Übergangsstadium, in dem ideale Ichanteile noch im Entstehen, d. h. noch nicht genügend gefestigt sind. Die adlige Frau erscheint demnach als idealisiertes Objekt, das sich in der Logik des hohen Minnesangs männlichem Begehren verweigern muss, weil sie dann nicht mehr als ideali­ siertes Objekt zur Verfügung stünde. Eine eigene Subjekthaftigkeit hingegen, welche die Basis von Gegenseitigkeit darstellt, kann der Frau aufgrund einer

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strukturellen Schwäche des männlichen Ichs, das um seine Vergesellschaftung ringt, noch nicht zugebilligt werden. Denn wo sich das männliche Ich eigener Grenzsetzungen noch nicht sicher ist, benötigt es das harte weibliche ‚Nein‘, an dem es sich moralisch und intellektuell reiben kann. * In diesem Kontext verdient nun die andere Seite der Walther’schen Idee von Scham Beachtung, die Scham der Frauen in den sogenannten Mädchenliedern, welche das Gattungsmuster durchbrechen, indem sie relativ unverhohlen die sinnliche Liebe besingen. Hier ist die Frau nicht mehr Trägerin eines zuge­ schriebenen abstrakten Schamideals, sondern zeigt sich schamhaft in konkre­ ten erotischen Situationen. Obwohl die These der ständisch minderen Frau in den Liedern ihre Gültigkeit verloren hat, verzichtet die Forschung ungern auf den Terminus – vielleicht ist es das Schüchtern-Schamvolle der weiblichen Personen, das sie noch in dem Mädchenbegriff gespiegelt sieht.15 Im ‚Linden­ lied‘ schämt sich das weibliche Ich (L 40,12), und im ‚Kranzlied‘ beobachtet das männliche Ego die Scham im Blick seines weiblichen Gegenübers (L 74,32). Soweit es sich um Frauenstrophen handelt, stehen diese in einer lyrischen Tra­ dition, welche dem weiblichen Rollen-Ich die Formulierung geschlechtlicher Wünsche erlaubt – die aber, im Gegensatz zu den ‚Mädchenliedern‘ Walthers, traditionell von situativer Trennung überformt wird.16 Denn erotische Erfüllung wird durch das gattungstypische Gebot der Geschlechterdistanzierung, das an feindliche Personen und Situationen gebunden ist, stets ins Negative gewendet, als Verlusterfahrung oder unerreichbares Ziel. Das literarische Muster erlaubt so, einem maximalem Begehren Ausdruck zu geben, während die Wächter, Rivalen und Neider einen gesellschaftlichen Anspruch der Triebhemmung durchsetzen, damit aber auch den Protagonisten zugleich Struktur für ihre an der Schwelle der Liebesbegegnung gefährdeten Ichgrenzen geben. Sexualität trägt nämlich – wenn man dem Schicksal Erecs folgt – ein erhebliches regressives Potential in sich, als ein, aus männlicher Perspektive, unkalkulierbarer Sog zurück in eine weiblich-mütterlich dominierte Ureinheit. In diesem Rahmen bewegt sich die charakteristische Spannung, welche die Texte vom frühen bis zum hohen Minnesang aufbauen, zwischen der Lust sehn­ süchtigen Begehrens, die den Raum für eine beglückende Vereinigung eröff­ net, und dem erfolgreichen Widerstand gegenüber einem Ichverlust. Negative Wächter-Figuren aber vertreten mit den Normen der Gesellschaft auch die Sicherheit eines gefährdeten Ichs, womit sich eine Dichotomie von Individuum und Gesellschaft als innerpsychische Ambivalenz zwischen Verschmelzungs­ sehnsucht und Ich-Verteidigung widerspiegelt. Die Auslotung dieser Ambiva­ lenz an der Nahtstelle von Regression und Isolation, Nacht und Tag, Natur und Hof, Wir-Gefühlen und leidendem Ich bildet das Ferment des Minnesangs.

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Signifikantes Merkmal der vom Gattungsmuster abweichenden ‚Mädchen­ lieder‘ Walthers ist nun, dass sie ohne die topischen huote-Figuren auskom­ men, sinnliche Liebe vielmehr als gesellschaftlich toleriert in Erscheinung tritt. Und eben hier taucht das Motiv weiblicher Scham auf ! Eine Analyse des Walther’schen Lindenlieds soll diesen Perspektivenwechsel näher beleuchten. ‚Under der linden an der heide, dâ unser zweier bette was, dâ mugent ir vinden schône beide gebrochen bluomen unde gras. Vor dem walde in einem tal, tandaradei, schône sanc diu nahtegal.

„Unter der Linde auf der Heide, wo unser beider Bett war, da könnt Ihr finden sorgfältig beides niedergedrückt: Blumen und Gras. Vor dem Wald in einem Tal, tandaradei, sang schön die Nachtigall.

Ich kam gegangen zuo der ouwe, dô was mîn friedel komen ê. Dâ wart ich enpfangen, hêre frowe, daz ich bin sælic iemer mê. Kuster mich? wol tûsentstunt, tandaradei, seht, wie rôt mir ist der munt.

Ich kam gegangen zu der Aue, dahin war mein Freund schon gekommen. Dort wurde ich empfangen – Heilige (Jung-)Frau! – so dass ich immerzu glücklich bin. Er küsste mich wohl tausendmal, tandaradei, seht, wie rot mein Mund ist.

Dô hat er gemachet alsô rîche von bluomen eine bettestat. des wirt noch gelachet inneclîche, kumt iemen an daz selbe pfat, Bî den rôsen er wol mac, tandaradei, merken, wâ mirz houbet lac.

Dann hat er gemacht so prächtig aus Blumen ein Lager. Darüber wird noch gelacht, inniglich, wenn jemand eben dieses Weges kommt. An den Rosen kann er wohl, tandaradei, erkennen, wo mein Haupt lag.

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Daz er bî mir læge, wessez iemen, nun welle got, sô schamt ich mich. wes er mit mir pflæge, niemer niemen bevinde daz, wan er und ich, Und ein kleinez vogellîn, tandaradei, daz mac wol getriuwe sîn.‘ (L 39,11–40,18)

Dass er bei mir lag, wüsste es jemand, das wolle Gott nicht, dann schämte ich mich. Was er mit mir machte – niemals möge jemand das erfahren, nur er und ich und ein kleines Vöglein, tandaradei, das wird wohl verschwiegen sein.“ (II , 229–231)

Dass hier eine Frau spricht, gibt die erste Strophe des Liedes noch nicht preis. Zu Anfang gibt es noch keine Ich-Sprecherin und keinen männlichen Partner, nur die Figur der Zweisamkeit von unser zweier bette, auf die auch die Paarig­ keit von schone beide / gebrochen bluomen unde gras rückverweist. Ein personales Gegenüber bildet das ir der vierten Zeile. Die so Angesprochenen werden auf einen Platz in der Natur aufmerksam gemacht, über dem noch die Aura der Liebe liegt. Schön wie das Liebeslager sei auch der Gesang der Nachtigall gewe­ sen, erfahren wir – die Personen selbst aber bleiben unsichtbar: nur Assoziatio­ nen, ausgehend von unser zweier bette – schone – gebrochen, geben der Phantasie Nahrung. Die zweite Strophe hebt dann mit einem singulären Ich an, das über die Liebesbegegnung erzählt. Von ihrem Liebespartner spricht eine Frau in der dritten Person, während sie sich weiterhin an einen ungenannten Adressaten wendet. So teilt sich die anfängliche paarige Einheit der ersten Strophe in eine weibliche Person, welche die Begrüßung durch ihren Geliebten stolz erinnert und mit hinweisendem Gestus in der Gegenwart feiert (seht, wie rot mir ist der munt), und ihren abwesenden friedel. Als die Frau schließlich in der dritten Strophe davon erzählt, wie ihr Geliebter ein Blumenlager bereitet hat, setzt sie nunmehr in heiterem Erinnern ein identifikatorisches Einverständnis mit den imaginären Zuhörern voraus. Und auf diese Figur der Selbstoffenbarung und Einladung zu allgemeiner Freude folgt in der letzten Strophe die Scham der Frau, welche die Situation in verblüffender Weise schließt: Wüsste jemand davon, dass er bei ihr gelegen hat, sie schämte sich. Aber, was er mit ihr getan hat, niemals werde es jemand anderes erfahren als er und sie alleine – und ein kleiner Vogel. Denkt man an das zentrale Liebes- und Identitätsproblem von Tristan und Isolde als ein Zerrissensein zwischen Hof und Natur, Öffentlichkeit und Heim­ lichkeit, dessen grundlegende Dichotomie die Liebenden nicht aufzuheben vermögen, erscheint das Lindenlied Walthers nachgerade als seine glückliche Auflösung. Dem erzählenden Ich gelingt es dort, sich vor einem imaginären

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Dritten zugleich zu zeigen und zu verbergen, und eben dieses subtile Wechsel­ spiel lässt einen erotischen Raum entstehen. Wo der Vorzeigehabitus der dritten Strophe die Gefahr in sich trägt, dass ein innecliches lachen in grobes Gelächter umschlägt, erhält sie durch die Scham ihren festen Rahmen. Das heißt, dort, wo traditionellerweise der objektivierte Blick auf die Liebenden durch missgünstige merkaere eine Wende und letztendliche Trennung herbeiführt, greift stattdessen das subjektive Gefühl der Scham, welches die Grenzziehung nicht einem Drit­ ten überlässt, sondern als autonomes Ich leistet. Dieses grenzt seinerseits den imaginären anderen aus einer Situation aus, die nur dem sprechenden Ich und seinem Vertrauten vorbehalten bleibt. In aller Leichtigkeit bewegt sich damit das personale Ich zwischen einem Raum intimer Vertraulichkeit, der von der Scham gleichsam ‚bewacht‘ wird, und einem gesellschaftlichen Rahmen, in dem es mit Dritten in Beziehung steht und Erfahrungen teilt, ohne sich gänzlich preiszugeben. Das Wir-Gefühl aus der ersten Strophe bleibt im Hintergrund präsent, ohne in eine Dichotomie mit gesellschaftlichen Ansprüchen zu gera­ ten. Eine Polarität von Einheit und Trennung wird gleichsam aufgelöst in der Wahlfreiheit eines autonomen Ichs, das zwischen Räumen der Scham und der ‚Schamlosigkeit‘ unterscheidet. Und das narzisstische Hochgefühl, das durch die Liebesbegegnung belebt wurde, wird veräußert, aber auch wieder zurückge­ nommen – wie das vogellin, da sich zwar vernehmen, aber nicht einfangen lässt. Auch wenn das nachhallende Liebesgefühl des Einsseins mit der Natur und den Menschen auf Mitteilung drängt, die Scham schützt das Ich vor rivalisierenden Neidern. Solchermaßen können sich dann auch die negativen Aufpasser in ima­ ginäre wohlwollende Zeugen verwandeln, weil die Scham sie stellvertretend aus ihrer Wächterfunktion entlassen hat. Sie dürfen jetzt Lebenslust widerspiegeln auf einem Terrain, wo die Grenzen abgesteckt sind. Und verhüllt tritt die Lust der Liebe nunmehr selbstbewusster auf. Einem literarischen Muster gemäß hat hier eine Frau die Subjektrolle inne, und diese bringt eine Scham zum Ausdruck, die in starkem Maße Züge einer ‚zivilisatorischen Affektmodulierung‘ trägt und zugleich im Gewande verklei­ nernder Schüchternheit daherkommt. Das Wissen um die männliche Autorschaft der Lieder legt wiederum nahe, weibliche Haltungen in den Frauenstrophen als männliche Projektionen zu begreifen,17 und in diesem Sinne mag man hinter dem triumphalen Habitus des weiblichen Rollen-Ichs im Lindenlied unschwer auch einen männlichen Schatten erkennen, der auf seinen Erfolg verweist. Die zur Schau gestellte Scham in einem erotischen Kontext aber trägt so pointiert weibliche Züge, dass sich die Frage nach ihrer kompensatorischen Funktion im Wechselspiel der Geschlechter stellt. Scham im Lindenlied ist als solche eminent weiblich, weil sie zunächst einmal höchst unmännlich ist. Sie bringt eine Haltung schamvollen Selbstzurücktretens zur Darstellung, die man zwar

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als kokett deuten mag, sich aber grundsätzlich gegenbildlich zu dem männ­ lichen Idealtypus aggressiver Körperlichkeit verhält. Walther beschwört zwar immer wieder ein abstraktes moralisches Schamgefühl, von erotischer Scham ist jedoch sein Männerbild insofern frei, als seine männlichen Alter Egos pri­ mär mit drängendem Selbstgefühl auftreten. Wenn sich demnach in einem erotischen Kontext die Frau schämt, befördert dies personale Differenzierung und gesellschaftliche Affektregulierung, ohne dass ein zeitgenössisches Männ­ lichkeitsbild, das noch wesentlich von dem Nimbus einer starken kriegerischen, sexuell-aggressiven Potenz lebt, angetastet würde. Das heißt, wo die weibliche Scham als regulierende, Grenzen setzende Instanz auftaucht, sei es gegenüber dem Mann oder gegenüber der Gesellschaft, kann eine vitale männliche Trieb­ haftigkeit unberührt bleiben. In Fortschreibung der traditionell versagenden Rolle der adligen Frau bliebe also auch mit zunehmender Lockerung in einem alternativen Textzeugnis wie dem Lindenlied eine wesentliche Regelfunktion an die Frau gebunden. Wie weit diese Rollenverteilung in der Dichtung tat­ sächliche ideologische Geschlechterdifferenzen ihrer Zeit widerspiegelt oder vorderhand literarischen Mustern Rechnung trägt, die möglicherweise in ihren Identifikationsanreizen weniger einseitig erlebt wurden, als ihre Rollenvertei­ lung vorgibt, bleibt eine offene Frage. * Abschließend seien noch zwei Schamszenen vorgestellt, in denen Walther sei­ nen eigenen Schambegriff ironisch wendet, um ihn als ‚Waffe‘ eines männlichen Ichs gegenüber einer ‚ungnädigen‘ Frau zu verwenden. Zunächst eine Strophe aus Walthers ‚Mailied‘: Rôter munt, wie dû dich swachest! lâ din lachen sîn. scham dich, daz dû mich an lachest nâch dem schaden mîn. Ist daz wol getân? owê sô verlorner stunde, sol von minneklîchem munde solhe unminne ergân! (L 51,37–44)

Roter Mund, wie Du Dich entstellst, lass Dein Lachen sein. Schäme Dich, dass Du mich anlachst bei meinem Kummer. Ist das wohlgetan? Ach über die verlorene Zeit, wenn aus liebreizendem Munde solche Lieblosigkeit kommen darf! (II , 275)

Hier gibt ein männliches Ich seine Enttäuschung über die unminne der Frau als ‚Schäm dich‘ an diese zurück. Aufforderung zur Scham wird als rhetorische Floskel eingebracht, um weibliche Versagenshaltung zu unterlaufen, indem sie einen roten Mund quasi moralisch diskriminiert. Das heißt, die adlige Frau, die aufgrund ihrer Unnahbarkeit zum leuchtenden Stern moralischer Integrität

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erhoben ist, wird durch das ‚Schäm dich‘ eben dieser Vorbildfunktion entkleidet – in der ironischen Ansprache an ein Attribut ihrer Sinnlichkeit. Das ‚Schäm dich‘ konterkariert und demontiert hier weibliche Scham als Tugendwert und mag wohl gleichzeitig eine – leider abwesende – erotische Scham anzitieren. Ein rätselhafter Gestus in der Dichtung Walthers, der sich in ebenso paradoxer wie verblüffender Weise als Schamgebärde entlarven lässt, soll nicht unerwähnt bleiben. Die zweite Strophe zu Bin ich dir unmaere? lautet: Sol daz sîn dîn huote, daz dîn ouge mich sô selten siht? tuost dû daz ze guote, sone wîze ich dir dar umbe niht. Sô mît mir das houbet, daz sî dir erloubet, und sich nider an mînen fuoz, sô dû baz enmügest: daz sî dîn gruoz. (L 50,27–34)

Soll das Dein Schutz sein, dass Dein Auge mich so selten ansieht? Tust Du das in guter Absicht, dann mach ich Dir daraus keinen Vorwurf. Also vermeide mein Haupt, das sei Dir erlaubt, und sieh hinab auf meinen Fuß, wenn Du mehr nicht tun kannst: Das sei Dein Gruß. (II , 379)

Vordergründig bietet hier das dichterische Ich eine Art Kompromiss an. Wenn die Frau ihn in ihrer Gleichgültigkeit schon nicht direkt ansehen wolle, dann möge sie doch wenigstens auf seine Füße schauen. Günther Schweikle spricht hier von einem „Verständigungsvorschlag“ und „einer originellen Abwandlung des Grußmotivs“;18 Ingrid Kasten sieht hinter dem gemiedenen Blick ein „Motiv der Geheimhaltung“.19 Als szenisch vorgestellte aber stellt genau jene Gebärde der niedergeschlagenen Augen in der Blickvermeidung einen klassischen Scham­ gestus dar20 – und zwar auf Seiten der Frau. Nach szenischer Deutung kehrt hier das ‚Schäm dich‘ eines enttäuschten, wenn nicht gar selbst beschämten männ­ lichen Ichs in verdeckter Form wieder, und die Zeilen Sô mît mir das houbet / daz sî dir erloubet, / und sich nider an mînen fuoz transportieren bei genauerem Hinsehen einen Überlegenheitshabitus, hinter dem ein gekränktes männliches Ich aufscheint. Vermeintlicher weiblicher Hochmut wird mit der – kaschierten – Inszenierung ihrer Erniedrigung kompensiert, eine weibliche Versagung von Anerkennung im Raum dichterischer Phantasmen ‚gerächt‘. In seinem eigenen Kosmos waltet der Dichter autonom über weibliche Idealisierung – und ihre Demontage im Dienste männlicher Genugtuung. Wenn Walther von der Vogelweide übereinstimmend als Vollender und Überwinder des Hohen Minnesangs gefeiert wird, dessen Forderung nach Gegenseitigkeit in der Liebe stets zu neuen Deutungen Anlass gibt und dessen gesamte Dichtung von dem basalen Duktus eines selbstbewussten Ichs geprägt ist, dann vermag eine Analyse seines Schamverständnisses diese Position weiter

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zu erhellen. Sie ist wesentlicher Bestandteil eines personalen Selbstwertgefühls und markiert eine Position der Abgrenzung in unterschiedlichsten Zusam­ menhängen. Neben Schambewusstsein als dem Bestandteil eines klassischen Tugendkanons in einem gesellschaftskritischen Kontext fällt dabei der Blick auf Scham als Filiation einer inneren psychischen Struktur. Beide Aspekte bringt Walther in teils reflexiver, teils zuschreibender Manier, mit pathetischem Anspruch oder in verdeckter Ironie, als der Dichter zum Ausdruck, der von sich und seiner kreativen Existenz sagen konnte: Ich hân dir gedienet sô, Werlt, daz ich michs niht schame. (L 183,8/9)

Ich habe dir so gedient, Welt, dass ich mich dessen nicht schäme. (II, 435)

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4.2 Ich-Verlust und Autonomiegewinn in der Minnelyrik Walthers von der Vogelweide ‚Minnediskurs‘ (C 44) und ‚Kranzlied‘ (C 51)

In einer Briefsammlung des 12. Jahrhunderts ist folgendes kleine Lied, das in keiner Anthologie fehlt, anonym überliefert: Du bist mîn, ich bin dîn. des solt dû gewis sîn. dû bist beslozzen in mînem herzen, verlorn ist daz sluzzelîn: dû muost ouch immêr darinne sîn. (MF 3,1)1

Du bist mein, ich bin dein, dessen sollst du sicher sein. Du bist verschlossen in meinem Herzen, verloren ist der Schlüssel fein – du musst für immer drinnen sein.2

Das schlichte Lied hat kein Liebesproblem und keine Liebesspannung zum Gegenstand, wie sie uns aus dem höfischen Minnesang vertraut sind, son­ dern ganz im Gegenteil: eine grandiose Liebesgewissheit. ‚Du‘ und ‚ich‘, ‚mein‘ und ‚dein‘ sind verwechselbare Teile einer geschlossenen Einheit, in der alles potentiell Trennende auf ewig aufgehoben und sicher ‚verschlossen‘ ist, wie in dem umschließenden Reim. Selbst die basale Differenz von Mann und Frau ist nivelliert, denn ein begehrendes Paar lässt sich nur schwerlich hinter diesen Zeilen imaginieren. Eher mag der Leser an eine Mutter-Kind-Symbiose den­ ken, die wiederum so vollkommen gerundet ist, dass fraglich bleibt, ob Mutter oder Kind sprechen. In jedem Fall dominiert ein possessiver Habitus, der den anderen in wettstreitender Vereinnahmung zum Teil der eigenen Welt macht und sich gleichzeitig selbst ausliefert. Das Lied beschwört einen paradiesischen Urzustand, ein Urbild aller Liebe, in welcher der Schlüssel zur Welt draußen abhandengekommen und die basale Sicherheit eines wechselseitigen Aufgeho­ benseins gegeben ist – und lässt zugleich hinter der schalkhaften Umschreibung dieses primitiven Besitzens und Verfügens schon die unvermeidliche Trennung aufscheinen. Die Ambivalenz von Einheitssehnsucht und individuierender Trennung, wie sie sich schon in diesem kleinen Lied angedeutet findet, ist ein Grundthema des Minnesangs. Für die frühe Zeit sei hier beispielhaft ein zweistrophiger Wechsel des Kürenberger angeführt.

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‚Ich stuont mir nehtint spâte  an einer zinne, dô hôrt ich einen rîter  vil wol singen in Kürenberges wîse  al ûz der menigîn. er muoz mir diu lant rûmen,  alder ich geniete mich sîn.‘ (MF 8,1) Nu bring mir her vil balde  mîn ros, mîn îsengewant, wan ich muoz einer vrouwen  rûmen diu lant, diu wil mich des betwingen,  daz ich ir holt sî. si muoz der mîner minne  iemer darbende sîn. (MF 9,29) Ich stand gestern Abend spät  an der Zinne, da hörte ich einen Ritter  sehr schön singen in der Weise des Kürenbergers,  aus der Menge heraus. Er muss verschwinden,  oder ich will meine Lust mit ihm haben. Nun bring mir sogleich her  mein Pferd, meine Rüstung, denn ich muss von einer edlen Frau  verschwinden. Die will mich dazu zwingen,  dass ich ihr gehöre. Aber sie wird meine Liebe  niemals bekommen.3

Eine fordernde Frau, die den von ihr erwählten Sänger unbedingt haben oder andernfalls außer Landes schicken will, ruft hier die trotzige Abwehr des Man­ nes hervor. Dieser stellt, nach Ross und Rüstung rufend, seine Autonomie unter Beweis. Offenbar sucht er die räumliche Trennung, wo er sich in seiner Selbst­ bestimmung noch als gefährdet erlebt, wo die umworbene Frau, in psychoana­ lytischer Terminologie, noch Züge einer ‚verschlingenden Mutter-Imago‘ trägt. Der personale Spielraum von Nähe und Distanz, gehen wir denn von dem tota­ litären Diktum der Frau und der eiligen Flucht des Mannes aus, ist zwischen triebhafter Anziehung und Abstoßung noch gering. Nur die Trennung vermag dem wechselseitigen Selbstbehauptungsanspruch Ausdruck zu geben. Haben wir es im frühen Minnesang noch mit situativ wandelbaren Distanzie­ rungen zu tun, werden diese später eingeholt in ein zunehmend festeres Gefüge vorgängiger Getrenntheit. Eine grundsätzliche Verweigerungshaltung der Frau oder aber widrige Umstände bilden nun den topischen Rahmen, der die For­ mulierung einer flammenden Sehnsucht erlaubt. Weil die Erfüllung der Liebe nicht oder allenfalls temporär möglich ist, entsteht Raum für die Erfahrung von Sehnsucht und das ekstatische Besingen einer entrückten Einheit. Liebe als potentielle Regression, als Sog der Triebwelt in eine ursprüngliche Unge­ schiedenheit, wird gleichsam einem regulierenden Bann unterworfen, welcher die Auslotung neuer Gefühlsräume ermöglicht. Paradigmatisch hierfür sei der

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Typus des Tagelieds angeführt. Das Tagelied besingt die beseligende Einheit der Liebenden in der nächtlichen Dunkelheit und das bedrohliche Ende mit dem Anbruch des Tages. Der Mann wird die Frau verlassen und die Frau ihn beklagen. Besungen wird im trauernden Rückblick eine aufzugebende Voll­ kommenheit, wo der fortstrebende Mann gleichwohl schon Teil der Tageswelt ist. Ob er die Frau und eine von ihr repräsentierte Welt der Einheitsgewissheit je wiederfinden wird, weiß er noch nicht, aber das Licht des Tages und des Bewusstseins verweisen in die Zukunft und werden – zumindest vorerst – über die Dunkelheit der Nacht triumphieren.4 * Walther von der Vogelweide und seine Minnelyrik möchte man, um im Bilde zu bleiben, der Tagseite der Kunst zuordnen. Jedenfalls besitzt sein Werk einen sehr rationalen, vielfach ironischen Grundton. Er stößt die hergebrachte Min­ nekonzeption zwar nicht um, verleiht ihr aber gleichsam einen doppelten Boden und gewinnt damit für seine Subjekte neuen psychischen Raum. Unter diesem Blickwinkel sollen zwei Lieder vorgestellt werden. Das eine: Saget mir ieman, waz ist minne? (44 [L 69,1])5 wird ausgehend von der dort artikulierten For­ derung nach gegenseitiger Liebe überwiegend als minnetheoretischer Dis­ kurs gelesen.6 Das ‚Kranzlied‘ (51 [L 74,20]) wiederum evoziert als eines der sogenannten ‚Mädchenlieder‘ vor allem ständische Erwägungen,7 wobei beide Themen im Sinne der Zuschreibung einer entweder reformerischen oder die Konvention bestätigenden Position Walthers diskutiert werden. Ich möchte hier vor dem Hintergrund des psychologischen Grundkonflikts der Minne zwi­ schen Einheitssehnsucht und Freiheitswunsch die Frage nach dem innovativen Potential der Walther’schen Lyrik neu stellen. Meine Fragestellung zielt darauf ab, inwieweit in den Liedern ein von seinem Liebesobjekt abhängiges Ich die Szene betritt oder neue Perspektiven auf einen veränderten Subjektstatus hin entworfen werden. In Saget mir ieman, waz ist minne? spricht das lyrische Ich eine imaginäre Gesellschaft mit der rhetorischen Frage an, was denn nun die Minne eigent­ lich sei. (I) Saget mir ieman, waz ist minne? weiz ich des ein teil, sô west ich es gerne mê. der sich baz denne ich versinne, der berihte mich, durch waz sie tuot sô wê. Minne ist minne, tuot sie wol; tuot sie wê, sô heizet sie niht rehte minne. sus enweiz ich, wie sie denne heizen sol.

Ich-Verlust und Autonomiegewinn

Sagt mir jemand: Was ist Minne? Weiß ich’s auch zum Teil, so wüsst ich gerne mehr davon. Wer sich besser als ich darauf versteht, der erkläre mir, warum sie gar so wehtut. Minne ist Minne, wenn sie wohltut. Tut sie weh, so heißt sie ohne jedes Recht Minne, doch ich weiß nicht, wie sie dann heißen soll.8

Für den Sprecher sei sie etwas, das guttue; schmerze sie jedoch, heiße sie nicht von Rechts wegen Minne. Lust und Unlust als widersprüchliche Erfahrungen werden dann als ein quasiterminologisches Problem in den Raum gestellt: sus enweiz ich, wie sie denne heizen sol (44, I,7). In der Folgestrophe gibt das Ich nun der Vorstellung von einer Minne Raum, die von zwei Seiten geteilt werden müsse, denn ein Herz alleine könne sie nicht fassen. (II ) Ob ich rehte râten kunne, waz die minne sî, sô sprechet denne jâ. minne ist zweier herzen wunne: teilent sie gelîche, sô ist die minne dâ. Sol sie aber ungeteilet sîn, sône kan sie ein herze aleine niht enthalden. owê, woltestû mir helfen, vrouwe mîn! Wenn ich richtig raten kann, was die Minne ist, so sagt „ja“! Minne ist zweier Herzen Freude, teilen sie zu gleichen Teilen, dann ist die Minne da. Soll aber nicht geteilt werden, dann versteht ein Herz allein nichts von ihr zu fassen. O weh, wolltest Du mir helfen, Herrin mein!9

Der Sprecher hebt in einem selbstgewissen Duktus an und definiert die Minne vor einem imaginären Publikum als die wunne zweier Herzen. Im Anschluss an diese Aussage entäußert er sich jedoch in der Vorstellung der Nichterfül­ lung mit einem Mal als extrem hilfsbedürftig: owê, woltestû mir helfen, vrouwe mîn! Die Frau, die vorher nur in der Distanz präsent war, wird nun in einer regressiven Bewegung zum mächtigen hilfespendenden Fluchtpunkt und zur direkten Adressatin. In der dritten Strophe wird das helfe-Motiv dann weiter­ gesponnen und in eine aggressive Entweder-oder-Forderung gewendet, hinter der die Abwehrreaktion des überwältigten Ichs spürbar wird.

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(III ) Vrouwe, ich trage ein teil zuo swære, wellest dû mir helfen, sô hilf an der zît. sî aber ich dir gar unmære, daz sprich endeclîche, sô lâz ich den strît Und bin von dir ein ledic man. dû solt aber einez rehte wizzen, , daz dich lützel ieman baz geloben kan. Herrin, ich trage etwas zu schwer, willst Du mir helfen, so hilf bei Zeiten! Bin ich Dir aber ganz zuwider, das sag deutlich, dann gebe ich es auf und bin wieder ein freier Mann. Du musst aber eines genau wissen, dass Dich kaum ein anderer besser zu preisen versteht.10

Entweder sie, die Frau, solle sofort helfen oder, wenn er ihr denn gleichgültig sei, dies deutlich kundtun. Dann wäre er eben wieder frei. Allerdings, und das müsse sie dann hinnehmen, so gut wie er könne sie wohl kein Zweiter besin­ gen. Diese Vergeltungsphantasie des männlichen Egos wird in der folgenden Strophe zugespitzt. Es habe immer den Anspruch, sein Bestes zu geben, und von daher hätten sie, die Frau, stets die guten Wünsche des Publikums begleitet. (IV ) Ich wil alsô singen immer, daz sie danne sprechen: ‚erne sanc nie baz‘. desne gedankestû mir nimmer! daz verwîz ich dir alrêst, sô denne daz. Weistû, wie sie wünschen dir? ‚daz sie sælic sî, durch die man uns sus singet!‘ sich, vrouwe, den gemeinen wunsch hâstû ouch von mir! Ich will immer so singen, dass sie dann sagen: Er sang nie besser. Das wirst Du mir niemals danken, das tadle ich an Dir zuerst; und noch dies: Weißt Du, was sie Dir wünschen? „Dass die glücklich sei, um derentwillen man uns so schön singt!“ Sieh, Herrin, auch diesen allgemeinen Wunsch verdankst Du mir.

Ich-Verlust und Autonomiegewinn

Eine solche öffentliche Wertschätzung, wie er sie hier zitiert, verdanke sie also ausschließlich ihm. In der fünften Strophe11 wendet sich der Sprecher dann wieder von seiner vrouwe ab, und in der Gestalt eines selbstreflexiven Mono­ logs kommt nunmehr ein trotzig aufbegehrendes Ego zu Wort, das allerdings wieder in eine resignative Klage mündet: (V) Kan mîn vrouwe süeze siuren? wænet sie, daz ich ir liep gebe umbe leit? solt ich sie dar umbe tiuren, daz sie sich kêre an mîn unwerdekeit? Sô kunde ich unrehte spehen. wê, waz rede ich ôrlôser und ougen âne? swen die minne blendet, wie mac der gesehen? Versteht meine Herrin Süßes zu vergällen? Glaubt sie, dass ich ihr Liebes gebe für Leid? Soll ich sie deshalb werter machen, dass sie es zurückgibt zu meiner Entwürdigung? Dann verstünde ich nicht richtig zu sehen. Weh, was sag ich tauber Blinder? Den die Minne blind macht, wie vermag der zu sehen?12

Das Lied, wie es hier nach der Strophenfolge in den Handschriften E und F vorgestellt wurde, kommt auf den ersten Blick als die streitbare Eröffnung eines Minnediskurses daher, gäbe es nicht den mehrfachen Durchbruch eines schwachen männlichen Egos, das sich hilfesuchend an seine vrouwe wendet. Bei genauerem Hinsehen kommt der Frau aber auch in den Passagen, die sich als objektivierte Minnereflexion geben, die Position eines allmächtigen Objekts zu. Ist sie doch diejenige, von der abhängt, ob die Minne für den Sprecher eine gute oder schlechte ist. Zwar klagt der Sprecher entschieden die Erfüllung sei­ ner Bedürfnisse ein, erlebt sich aber noch im Einfordern der Liebe als von der Frau abhängig. Sie schwebt als die Imagination einer Versagenden oder Gewäh­ renden, als Herrin über Schmerz und Freude über ihm. Vor ihr erlebt sich das männliche Ego als klein und abhängig und leugnet dies zugleich vehement. Im Anschluss an sein explizites Hilfsbegehren (II, 7) fantasiert es etwa die Frau kompensatorisch als ein Objekt, das sich ihrerseits in Abhängigkeit von ihm befinde, insofern als nämlich ihr öffentliches Ansehen von ihm und seinem Sin­ gen abhänge. Die Macht, die es vorher der Frau als Minneherrin zugeschrieben hatte, schreibt es nun sich selbst als Sänger zu. Und in der letzten Strophe ver­ sucht das männliche Ego dann in selbstsuggestiver Manier noch einmal, sich

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seiner eigenen Freiheit zu vergewissern, um dann jedoch mit der Erkenntnis des Ausgeliefertseins an die Minne fürs Erste aufzugeben. Im Sinne der beiden Kürenberger-Strophen ist das Lied noch von einer triebhaften Wechselwirkung zwischen Anziehung und Abstoßung getragen; die Frau stellt ein magnetisches Kraftfeld dar, in dem das männliche Subjekt gefangen ist. Von daher wird der narzisstische Kosmos des Minnesangs, der um ein männliches Subjekt zentriert ist, nicht im Hinblick auf ein lebendiges Gegenüber überschritten, die Frauenfigur verbleibt weiterhin im Bann männ­ licher Projektionen – und dennoch liegt eine entscheidende Akzentverlagerung vor: Das Subjekt spielt sein eigenes Begehren als ein legitimes ein. Neben die unbedingte Unterwerfung unter eine grenzensetzende Realität oder eine ver­ sagende Frau tritt ein rebellisches Lustprinzip auf den Plan.13 Dieses sucht die wunne (II, 3), nicht den Schmerz (I, 4). Zwar projiziert ein Lust-Ich noch alle Unlust nach außen und ist noch nicht eigentlich in ein Wechselspiel mit der Realität getreten,14 ausgehend von diesem Prozess wird jedoch eine veränderte poetische Spannung entworfen. Wo der Schmerz gleichsam eine Erfahrung indi­ viduierender Vereinzelung darstellt, liegt die wunne nunmehr in der Erfahrung des Teilens. Neben die dichotome Figur von Überwältigung oder Vereinzelung tritt die Denkfigur der Gemeinsamkeit (II, 4), die allerdings als theoretischer Entwurf in gewisser Weise noch neben der poetischen Realität steht. Trieberfül­ lung und Versagung aber gehören nicht mehr fraglos einer Zweiweltenordnung an, sondern dazwischen hat sich das männliche Subjekt gestellt und erprobt im Spiel der Minne seine Kräfte.15 * Während dem eben besprochenen Lied ein gereizt-aggressiver Unterton zu eigen ist, der die Unruhe eines männlichen Egos zum Ausdruck bringt, sind die Lieder Walthers, welche eine tatsächliche erotische Begegnung erinnern oder beschwören, von einer gewissen Heiterkeit getragen, so auch das ‚Kranzlied‘ (51). Von den fünf überlieferten Strophen bilden die ersten drei eine geschlossene Sinneinheit. In der ersten Strophe nähert sich das werbende Ich in der Erin­ nerung einer Frau mit dem Angebot eines Kranzes. (I) ‚Nement, frowe, diesen cranz‘, alsô sprach ich zeiner wol getânen maget, ‚sô zieret ir den tanz mit den schœnen bluomen, als irs ûffe traget. Het ich vil edele gesteine, daz mües ûf iuwer houbet, obe ir mirs geloubet. sênt mîne triuwe, daz ich ez meine.

Ich-Verlust und Autonomiegewinn

„Nehmt, Herrin, diesen Kranz“, so sprach ich zu einem wohlgestalten Mädchen, „dann schmückt Ihr den Tanz mit den schönen Blumen, wie Ihr sie (dann auf dem Haupte) tragt. Hätte ich viel edles Gestein, das sollte auf Euer Haupt, wenn Ihr mir’s glauben wollt. Seht meine Treue, dass ich es (ehrlich) meine.16

Das Bild zielt zunächst auf eine öffentliche Hervorhebung ihrer Person als Zierde des Tanzes, auf den Schmuck hoch oben auf ihrem Kopf, auch in Form von Edel­ steinen – hätte der Geber sie denn zur Verfügung. Seine nachhaltige Versicherung, wie ernst er es meine, lässt jedoch zwischen den Zeilen eine selbstreflexive Ironie durchscheinen. In der zweiten Strophe wird diese nach oben zielende Bewegung denn auch prompt in ihr Gegenteil verkehrt und gleichsam herunter auf die Erde geholt. (II ) [ ] Ir sît sô wol getân, daz ich iu mîn schappel gerne geben wil, daz beste, daz ich hân. wîzer unde rôter bluomen weiz ich vil, Die stênt sô verre in jener heide. dâ sî schône entspringent und die [ ] vogele singent, dâ suln wir si brechen beide.‘ Ihr seid so wohlgeschaffen, dass ich Euch meinen Blumenkranz gerne geben will, den schönsten, den ich habe. Weiße und rote Blumen weiß ich viele, die stehen da fern auf jener Heide, wo sie herrlich aufsprießen und die Vögel singen, dort wollen wir beide sie pflücken.“

Die topischen Bilder der Heide, des Vogelsangs und der zu brechenden Blu­ men sprechen für sich. Die Wendung von der distanzierten Werbung in einem gesellschaftlichen Raum zur unumwundenen erotischen Annäherung in den Bildern der Natur ist vollzogen. Dass das Mädchen dies sehr wohl verstanden hat, lässt uns die dritte Strophe wissen, denn es errötet vor Scham, schlägt die Augen nieder und neigt sich dem Sprecher zu.

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(III ) Si nam, daz ich ir bôt, einem kinde vil gelîch, daz êre hât. ir wangen wurden rôt same diu rôse, dâ si bî der liljen stât, Des erschamten sich ir liehten ougen. doch neic si mir vil schône. daz wart mir ze lône. wirt mirs iht mêre, daz trage ich tougen. Sie nahm, was ich ihr anbot, ganz wie ein junges Mädchen von höfischem Anstand. Ihre Wangen wurden rot gleich der Rose, wo sie bei der Lilie steht. Darüber wurden ihre strahlenden Augen voll Scham. Dabei verneigte sie sich vor mir sehr anmutig. Das war mir zum Lohn. Wird mir etwas mehr zuteilwerden, das halte ich geheim.

Wie es von hier aus weitergeht, bleibt unklar und soll es nach dem Willen des Sprechers auch bleiben: daz trage ich tougen, endet die Strophe. Eine gewisse Nähe zum ‚Lindenlied‘ (16) und dessen Schluss-Strophe teilt sich hier mit. Auch dort schämt sich eine Frau, als weibliches Ich, und auch dort ist diese Aussage damit verbunden, dass es erotische Geheimnisse hat, die es nicht willens ist zu teilen.17 Einher mit dem Schamgefühl geht hier wie dort der reflexive Bezug auf eine Erfahrung, die den Blicken Dritter entzogen wird, und während das literarische Muster ansonsten äußere Trennungsmomente vorgibt, regulieren sich die Liebenden hier gleichsam selbst. Im ‚Kranzlied‘ gleitet nun der männliche Sprecher mit der Erklärung von Heimlichkeit: daz trage ich tougen, die schon im Präsens gesprochen wird, hin­ über in die Gegenwart der Folgestrophe, wo er sein verlorenes Liebesobjekt sucht – folgt man denn der Reihenfolge in den Handschriften. (V) Mir ist von ir geschehen, daz ich disen sumer allen meiden muoz vaste under diu ougen sehen. lihte wirt mir eine, sô ist mir sorgen buoz. waz obe si gêt an disem tanze? frowe, dur iuwer güete rucket ûf die hüete. owê, gesæhe ichs under cranze!

Ich-Verlust und Autonomiegewinn

Mir ist durch sie etwas widerfahren, so dass ich diesen Sommer allen Mädchen tief in die Augen sehen muss: Vielleicht begegnet mir die eine, dann ist meinem Kummer abgeholfen. Wie, wenn sie in diesem Tanze schreitet? „Herrinnen, seid so gütig, rückt die Hüte höher!“ Weh mir, sähe ich sie mit einem Kranz!

Im Anschluss an das daz trage ich tougen (III, 8) der dritten Strophe beginnt also die Gegenwartsstrophe als eine Verkündung der Suche. Allerdings geben die vierte und fünfte Strophe der Forschung ein ganz spezifisches Problem auf, das gemeinhin mit einer Umstellung der Strophen beantwortet wird. Der Gegenwarts­ strophe folgt nämlich in A und C noch eine Traumstrophe, die überwiegend im Sinne einer rhetorischen Figur verstanden wird, welche das bereits Geschehene im narrativen Modell des Traumes als Illusion entlarve.18 Und um die im Präsens gesprochene Strophe dem rückschauenden Einfluss der Traumstrophe zu entziehen, wird sie nach hinten platziert und die Traumstrophe nach vorne geholt, so auch in der Ausgabe von Christoph Cormeau, nach der hier zitiert wird.19 Im Sinne einer Beibehaltung der Reihenfolge der Handschriften wird allenfalls zu beden­ ken gegeben, dass die beiden letzten Strophen auch als alternative Geleitstrophen verstanden werden können.20 Ich möchte hier jedoch aufzeigen, dass das Lied sehr wohl in seiner ursprünglichen Strophenfolge als eine Sinneinheit lesbar ist, wobei der Traumstrophe dann allerdings eine andere Bedeutung zukommt. Das Geschehene, was auch immer es gewesen sein mag – das lyrische Ich schweigt sich hierüber aus –, hat also offenbar Spuren in dem Sprecher hinterlassen, und er sucht die Erneuerung und Wiederholung seiner Liebeserfahrung in der Gegenwart: sei es mit ‚ihr‘ oder einer anderen, denn auch diese Interpretation lässt der Text zu (V, 4). Vielleicht findet er die Gesuchte gar auf diesem Tanz, und die Kranz-Replik in der letzten Zeile gibt dem Lied an dieser Stelle eine gewisse Rundung. In der Handschrift E endet das Lied hier. In A und C folgt jedoch noch eine weitere Strophe: (IV ) Mich duhte, daz mir nie lieber wurde, danne mir ze muote was. die bluomen vielen ie von den boumen bî uns nider an daz gras. Seht, dô muoste ich von fröiden lachen, dô ich sô wunneclîche was in troume rîche, dô taget ez und muose ich wachen.

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Mich dünkte, dass ich noch nie in meinem Herzen glücklicher war als damals. Die Blüten fielen immerzu von dem Baume zu uns nieder ins Gras. Seht, da musste ich vor Freude lachen, als ich, so beglückt, im Traume reich war. Da tagt es – und ich muss erwachen.

Auf die leidenschaftliche Suche des männlichen Ichs vorher, das eine vergan­ gene Liebeserfahrung (I–III) in der Gegenwart mit sich trägt (V), folgt nun­ mehr die Wunscherfüllung und zwar als Wunscherfüllung im konkreten Traum oder genauer gesagt: als Rückblick auf einen Wunschtraum (IV ).21 Es geht hier nicht um die Entlarvung einer poetischen Wirklichkeit als Illusion, sondern vielmehr um das Recht des Begehrens und dessen scheinbare Erfüllung. Die Strophe schaut weniger auf das Vergangene als in die Zukunft, sie formuliert, im Anschluss an den Ausdruck des Suchens, die Macht des Wunsches, der im Bild des Traumes seine Realität behauptet. Mit dem Schlussvers: dô taget ez und muose ich wachen, eröffnen die Zeilen aber auch Assoziationen auf die Situation des Tagelieds: Wer dächte nicht an den Refrain in Heinrichs von Morungen Tagelied: Dô tagte ez (MF 143,22).22 Selbst die Injektion ‚Owê‘, die dort alle Stro­ phen einleitet, findet sich hier im Schlussvers der vorherigen Strophe wieder. Offenbar spielt Walther hier mit der Nähe zwischen den beiden Situationen, dem unschönen Erwachen aus einem schönen Traum und der leidvollen Tren­ nung nach einer gemeinsamen Nacht. Indem er jedoch seine Traumsituation mit der poetischen Realität des Tagelieds in Beziehung setzt, fällt auf Letztere ein ironisches Licht. Dô taget ez und muose ich wachen ist auch als Parodie der hergebrachten Tagelieddramatik lesbar, und zwar von einer Position aus, wel­ che die Dichotomie von Nacht und Tag hinter sich gelassen hat. Walthers Lied weist nämlich eine entscheidende Differenz zu jener auf: Nicht äußerer Zwang, als welcher der Tag dem liebenden Paar im Tagelied erscheint und zwei unver­ einbare Welten aufeinanderprallen lässt, bestimmt das Geschehen, sondern der Wechsel von Traum- und Wachbewusstsein eines Subjekts, das in der Kontinuität seines Bewusstseins über verschiedene Räume regiert. Missliebig ist zwar auch das Erwachen aus einem Wunschtraum, aber nur als eine alltägliche Erfah­ rung. Wo das Tageslicht nämlich seinen Schrecken verloren hat, wandelt das Sprecher-Ich Walthers unerschrocken zwischen Vergangenheit und Gegenwart, öffentlichen und heimlichen Räumen, Traum und Wirklichkeit, oder anders gesagt: zwischen den Wünschen der Nacht und den Ansprüchen des Tages. Natur und Kultur, Lust und Realität verschränken sich miteinander, und eine

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melancholisch gebrochene Heiterkeit ersetzt die existentielle Grenz­erfahrung des vom Tageslicht bedrohten Paares, das seine Trennung nur als endgültige denken kann. Für eine dramatische Klage gibt es in der Welt des ‚Kranzlieds‘ jedoch keinen Anlass, allenfalls für eine nüchterne Anmerkung: und muose ich wachen. Walthers Ego geht nicht mehr gänzlich auf in seinen Wünschen und Begierden, sondern schaut mit einer gewissen Ironie auf sich selbst zurück – eben wie der Träumer im Licht des Tages auf seinen Traum. Das leidenschaftliche Anhangen des Tageliedpaares aber, das den Wechsel von Vereinigung und Tren­ nung noch nicht fassen kann und nur die Unterwerfung unter den Trieb oder die Norm kennt, evoziert im Walther’schen Kosmos ironische Distanzierung – wie ja auch sein eigenes ‚Tagelied‘ (59) als Parodie auf die gattungstypische Theatralik des Abschiednehmens lesbar ist.23 Wo der Minnesang das Gebot der Trennung errichtet hat, in dessen Bannkreis das lyrische Ich seiner leiden­ schaftlichen Gefühle innewird, nimmt Walther nunmehr der Leidenschaft ihre Macht und eröffnet seinen Ich-Helden im Medium der Selbstdistanzierung neue Spielräume der Autonomie – und der Erotik. Die ältere Forschung nahm bei den sogenannten ‚Mädchenliedern‘ eine ständische Herabsetzung der Frauenfigur wahr, während die neuere Forschung eher von einer ständischen Indifferenz ausgeht.24 Allerdings bleibt nach wie vor die Absenz eines Unterwerfungsgestus unter die versagende oder gewährende vrouwe zu verzeichnen.25 Sofern die adlige Herrin jedoch Züge eines strengen Über-Ichs im Sinne einer gesellschaftlich geforderten Triebkontrolle trägt, unterliegt diese Instanz damit auch einer Relativierung. Denn wo eine äußere Norminstanz verinnerlicht wird, erübrigt sich auch das Bild der Herrin, an die die Kontrolle abgegeben wurde. Walthers Subjekte haben, wenn man so will, selbst das sluzzelîn in der Hand, das sie zum Betreten unterschiedlicher Min­ neräume ermächtigt.

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5 Trieb und Witz Der Stricker und Konrad von Würzburg

5.1 Das Gehäuse des Selbstzwangs Zu Strickers Kurzerzählung von der ‚Eingemauerten Frau‘

Im bunten Panoptikum der Stricker’schen Kurzerzählungen, die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden sind, sticht die Geschichte von der ‚Eingemauerten Frau‘ durch ihre bildhafte Eindringlichkeit in besonderem Maße hervor, und wer sie einmal gelesen hat, wird ihre surreale Phantasiewelt kaum mehr vergessen.1 Angesiedelt im Genre schwankhafter Ehestandsmaeren berichtet der Text lakonisch von einem Mann, der eine Frau geehelicht hat, dann jedoch feststellen muss, dass diese sich nicht umstandslos seinem Willen fügt und er daran auch mit Bitten und Drohungen nichts zu ändern vermag. Der Machtkampf zwischen den Geschlechtern kulminiert schließlich in einem Prügelexzess, bei dem der Mann die Frau bis an den Rand seiner Kraft blutig schlägt, sie jedoch immer noch verbal die Oberhand behält und widerständig darauf verweist, dass sie auf drei Seiten noch unversehrt sei. Innehaltend bedauert er daraufhin, seine zuht (32) vergessen zu haben, und beschließt nun kurzerhand, seine Frau einmauern zu lassen. Nur ein kleines Fenster verbindet sie noch mit der Außenwelt. Gleichsam in Isolationshaft genommen, erhält die Frau jetzt nur noch das minderwertigste Brot und wird obendrein von ihm mit einer weiteren Mauer, einer Mauer des Schweigens, abgestraft. Vervollkommnet wird dieses phantastische Racheszenarium noch damit, dass er sie zur Zeugin seines Wohllebens mit anderen Frauen macht. Sofern sich Freunde oder Verwandte aber für sie einsetzen, weiß er diese dadurch in Zaum zu halten, dass er als Gegenleistung für die Freilassung seiner Frau den gesamten Besitzstand des Bittstellers als Pfand verlangt – für den Fall, dass seine Frau sich wieder als rückfällig, sprich ‚böse‘ erweist. Diese Maßnahmen einer totalen sozialen Isolierung zeitigen alsbald, wen wundert dies, mit der reuigen Umkehr der Frau Erfolg, die nach dem Muster einer religiösen ‚conversio‘ inszeniert wird: Die Teufel fahren aus ihr heraus, und der Heilige Geist nimmt Einzug. Im neuerworbenen Zustand der Läuterung zeigt sie Reue und verlangt nach einem Priester, um ihre Sünden zu bekennen und ihr Seelenheil zu retten. Und im Anschluss an ihre dramatischen Selbstbeschuldigungen und ihre Ankündigung, lebenslänglich Buße tun zu wollen, legt der Priester nun dem Mann eindringlich nahe, seiner Frau zu vergeben. Beide Männer treten dann an ihr Fenster, sie bittet kniend um Vergebung, und der Mann lässt hocherfreut seine Freunde herbeirufen. Als diese versammelt sind, die Mauern eingerissen werden und man die Ehefrau bittet, ihr Gefängnis zu

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Der Stricker

verlassen, tut sie sich jedoch schwer damit, dieser Bitte nachzukommen. Es bedarf nachdrücklicher Überredung durch den Priester. Fortan gilt sie als heilige Frau, und nach einem sieben Tage währenden Fest steigt sie schließlich auf eine Bank, um von dort aus eine charismatische Ansprache an alle Anwesenden zu halten, in der sie ihre Selbstbezichtigung öffentlich wiederholt und gleichzeitig allen Gästen aufträgt, der Welt von ihr zu künden, auf dass man böse Frauen fortan zu ihr schicke. Sie traue sich zu, diese zu bekehren. Von diesen aber weiß der Text zu berichten, dass sie sich schon aus Furcht vor einem ähnlich harten Schicksal besonnen hätten. Patriarchale Ordnungsvorstellungen tragen mit diesem Ende also den Sieg davon, wenngleich es die Frau ist, die sich in der Aura des Ruhms sonnen darf. Die sogenannte moralische Botschaft ist von daher, wie so oft beim Stricker, nicht eindeutig. Das Prügeln hat zwar ein Ende gefunden, aber dass sich Mann und Frau nach dieser Kur noch einmal erotisch näherkommen könnten, erscheint absurd. Weniger ein Ideal ehelicher Gemeinschaft als vielmehr Vorstellungen von Entsagung und Separierung besetzen als unsichtbare Mauern den poetischen Raum. Lange Jahre war die Forschung von dem Gedanken geprägt, das Stricker’sche Œuvre sei einem gesellschaftlichen Ordnungsanspruch verpflichtet und als sogenannte „didaktisch-mahnende Erbauungsliteratur“2 zu verstehen.3 Nun können Deutungen, die auf eine didaktische Intention abheben, zwar heutzutage nicht mehr auf ungeteilte Zustimmung hoffen und haben darüber hinaus ihre expliziten Kritiker gefunden,4 dennoch ist die Befassung mit den Texten weiterhin von moralischen Erwägungen gekennzeichnet – für die ‚Eingemauerte Frau‘ nicht zuletzt als Frage nach dem Geschlechterverhältnis. Eine moralische Dualität von Gut und Böse, Recht und Unrecht, scheint sich dabei nur zu geschmeidig dem primären Gegensatzpaar von Mann und Frau anzupassen.5 Begreift man die Ehe in diesem Zusammenhang jedoch als eine dyadische soziale Urform, tritt im Falle der ‚Eingemauerten Frau‘ hinter der jeweils zugeschriebenen Bösartigkeit von Mann oder Frau ein generelles Problem von Affektdurchbrüchen und Affektregulierung zu Tage. Schauen wir mit dieser Perspektive auf den Anfang der Erzählung, so begegnen uns immerhin der unverhohlene Machtkampf zwischen Mann und Frau und eine massive körperliche Bedrohung.

Das Gehäuse des Selbstzwangs

Ein ritter tugende rîche nam ein wîp êlîche. dô wolde si ir willen hân und des sînen niht begân. daz mohte er niht erlîden und hiez siz gar vermîden. dô si durch slege noch durch bete deste baz noch deste rehter tete, dô dröuwete er ir sêre; dô dröuwete si im noch mêre. er sluoc ir einen voustslac, er sprach: ‚nu ist mir umbe den sac als mære sam umbe daz sacbant!‘ er brach ir abe ir gewant. einen swæren knütel er gevie; sînen zorn er si enpfinden lie. (1–16)

Ein Ritter, reich an Tugenden, war mit einer Frau verheiratet, die stets ihren Willen durchsetzen, seinen aber nicht erfüllen wollte. Das mochte er nicht ertragen und befahl ihr, dieses Verhalten zu ändern. Als sie sich weder durch Schläge noch durch Bitten besserte oder sich angemessen verhielt, drohte er ihr heftig – doch sie drohte ihm noch stärker. Er schlug sie mit der Faust und sprach: „Der Sack ist mir genauso egal wie die Sackschnur!“ Er riss das Kleid herunter und griff nach einem schweren Knüppel. Seinen Zorn ließ er sie spüren.

Der Mann klagt Gehorsam ein, die Frau verweigert ihn. Zunächst gehen sie mit Worten aufeinander los, dann schlägt er sie mit Fäusten: Dargestellt wird eine Urszene sozialen Unfriedens. Die Institution der Ehe gibt zwar den Rahmen vor, aber von einer Triebzähmung, wie sie die mittelalterliche Kirche mit ihr verknüpft sehen will, ist nichts zu spüren. Blanke Selbstbehauptungsansprüche beherrschen die Szene, und statt geordneter Zweisamkeit erleben wir das Drama einer affektiven Verstrickung. Nun kommt im mittelalterlich-christlichen Weltbild dem Mann zwar die hierarchisch übergeordnete Position zu, haltlos zu prügeln unz im der arm tet sô wê, / daz er nicht slahen mohte mê (19/20) und sich von seiner Frau provozieren zu lassen, passt jedoch mitnichten in mittelalterlich-kirchliche Vorstellungen von Ehe. Der Mann will vielleicht seine Frau zähmen, die Kirche aber auch den Mann, während hier aggressive Affekte noch auf ihre Zügelung warten. Das Problem gibt demnach nicht nur der Ungehorsam der Frau auf, sondern auch der affektive Zustand des Paares und vor allem der Zorn des Mannes. Genau an diesem Punkt haltloser Aggression des Mannes und haltloser Drohungen der Frau – er hat sie schon auf einer Seite gänzlich zu Schanden geschlagen und sie stachelt ihn noch weiter an –, platziert die Geschichte nun die Einmauerung der Frau. Der Mann hält inne und muss erkennen, dass er mit dem Einsatz seiner überlegenen Körperkraft nichts bewirkt und obendrein um ihretwillen seine zuht vergessen hat. Seine Wut ist mit ihm durchgegangen. Sehen wir fürs Erste von der Rache- und Strafintention des Mannes ab, so verändert die Einmauerung die Situation dahingehend, dass ein Affektdurchbruch erst

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einmal oberflächlich befriedet, sozusagen ‚eingemauert‘ wird, die Frau vor seinen Fäusten geschützt ist und er vor allem vor sich selbst und seinem eigenen Zorn. dô hiez er mûren ein gaden. daz wart gemachet âne tür; ein venster kêrte er her vür. dâ wart si inne vermûret. er sprach: ‚sît iu sûret diu vriuntschaft und der dienest mîn, sô sult ir âne mich sîn. sô muget ir deste baz genesen; ir sult mîn vrœlîche entwesen. sît ir mir traget sô grôzen haz, sô ist uns beiden deste baz. ez ist uns guot vür zornes nôt‘. (36–47)

Da ließ er einen Raum ohne Türe mauern; nur ein Fenster wurde ausgespart. Sie wurde eingemauert. Er sprach: „Da es Euch so schwerfällt, freundlich zu mir zu sein und mir zu ­dienen, so sollt Ihr ohne mich leben. Auf diese Weise werdet Ihr Euch besser ­fühlen, Ihr sollt fröhlich sein ohne mich. Da Ihr mich so sehr hasst, ist dies für uns beide besser; es hilft uns gegen den Zorn.“

Die Worte des Mannes ‚ez ist uns guot vür zornes nôt‘ (47) klingen in der WirForm zwar eher zynisch, andererseits lässt der Text aber auch den Wutaffekt der Frau erkennen. Ihre verbalen Attacken werden jedoch ebenfalls mit einem totalen Kommunikationsabbruch abgeschnitten, mit der Mauer des Schweigens, die der Mann ihr gegenüber zusätzlich errichtet (55). Das ungezügelte Gegeneinander der kämpfenden Parteien wird also überführt in eine totale Separierung, bei der Mauern jetzt Grenzen markieren, wo die Kontrahenten vorher keine Schranken kannten. Wo er beklagt hatte, ,daz ich mîn zuht an iu zebrach‘ (32), und sie im masochistischen Triumph darauf verwiesen hatte, ‚ir hât iuch selbe erslagen‘ (33), scheint eine gewisse Ordnung eingekehrt zu sein. Nun stellt sich die Situation allerdings für die Frau als Opfer fraglos misslicher dar als für den Mann. Sie ist gänzlich auf sich selbst zurückgeworfen und erhält nur das schwärzeste Brot, während er vor ihren Augen andere Frauen hofiert. Die indirekte Botschaft des Mannes an die Frau ließe sich vielleicht mit dem Satz paraphrasieren: ‚Schau her, wie gut es mir ohne dich geht!‘ Dazu bedarf es dann wohl des Fensters in der Mauer, nicht nur als Zugeständnis an die Frau, sondern auch an den Mann, damit ihr Blick ihn treffen und er sich durch sie wahrgenommen fühlen kann. Das provokante Szenarium gibt so einer narzisstischen Phantasie Raum, in der er seine vermeintliche Unabhängigkeit imaginiert, die Frau aber gerade noch so weit duldet, dass sie als notwendige Selbstbestätigung fungieren kann.6 Denn wo sich das Subjekt in leidvoller Abhängigkeit vom anderen erlebt, leugnet es eben diese vehement, um sich in der scheinbaren Autonomie noch als zutiefst abhängig von dessen Anerkennung

Das Gehäuse des Selbstzwangs

zu erweisen. Die Verteilung der Geschlechterrollen in der ‚Eingemauerten Frau‘ befriedigt dabei zwar vordergründig die Phantasie des Mannes, die Situation ist jedoch auch paradigmatisch für eine defizitäre Konstellation schlechthin, in der das Ich seine Allmachtsphantasien verteidigt. Letztlich verkörpert das Arrangement um die eingemauerte Frau eine Wunschphantasie des Ehemannes von ehelicher Zweisamkeit, in der die Ehefrau ganz auf sein Echo beziehungsweise die Zuschauerin seiner selbst reduziert ist. Und als solches überschreitet das groteske Szenarium nunmehr deutlich den vorgeblich erzieherischen Anspruch. Aber auch aus der Perspektive der Frau bietet die Einmauerung mehr als nur eine ‚Bekehrung‘. Wenn sie sich schließlich dem Willen ihres Mannes unterwirft, scheint dies zwar auf den ersten Blick ein Akt der Selbsterhaltung angesichts einer lebensfeindlichen Isolation zu sein und damit das vorgeblich disziplinarische Strafkalkül des Mannes aufzugehen. Aber die obsessiven Schuldgefühle, Sündenbekenntnisse, Bußfertigkeiten und Selbstdemütigungen gehen schließlich weit über die Erwartungen des Mannes hinaus. Nach ihrer ‚conversio‘ hören wir sie zu dem Priester sagen: ‚ich bin das sündigeste wîp, / diu ie gewan wîbes lîp‘ (131/132) und weiter: sie sprach ‚des übelen muotes, des hât mich nu bekêret got. ich wil allez sîn gebot behalten, swâ ich immer kan. durch got, nu bittet mînen man, daz er mir sîne hulde gebe und lâze mich, die wîle ich lebe, hie büezen mîne schulde und suochen gotes hulde. ich hân weder got noch in gevorht, dâ mit hân ich die werlt verworht – der wil ich nimmer nâhen komen. mir het der tîvel gar benomen beide vorht und minne, wîsheit und rehte sinne. ichn weiz, wes ich gein got engalt, daz er dem tîvel den gewalt sô grôzen über mich verlie – ichn weste dô, waz ich begie. ich kan mich des nu wol verstân, daz ich wirs denne übel hân getân des bin ich mir selber immer gram.‘ (148–169)

Sie erwiderte: „Gott hat mich nun von der Bosheit geheilt. Ich will alle seine Gebote beachten, wo immer ich kann. Bittet nun im Namen Gottes meinen Mann, dass er mir wieder seine Zuneigung schenke und mich auf dieser Welt, solange ich lebe, meine Schuld büßen und Gottes Gnade suchen lasse. Ich hatte weder Gott noch ihn gefürchtet, deshalb habe ich das irdische Leben verwirkt – ich will nicht mehr zu ihm hin. Mir hatte der Teufel Furcht und Liebe, Weisheit und Verstand genommen. Ich weiß nicht, was ich vor Gott ­verschuldet habe, dass er dem Teufel so eine große Macht über mich verlieh – ich wusste nicht, was ich tat. Jetzt weiß ich wohl, dass ich mich mehr als boshaft verhalten habe – deshalb werde ich mich ewig über mich ärgern.“

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Die bekehrte Frau gibt sogar der Einschätzung Raum, dass sie doch eigentlich den Tod durch die Hand ihres Mannes verdient hätte: ‚daz mir mîn man den lîp niht nam, / dâ hât er baz ze mir getân, / denne ich umbe in gedienet hân‘ (170–172). Und ihre Schuld möchte sie nunmehr dadurch abtragen, dass sie zeit ihres Lebens innerhalb der Mauern Buße tun will. Dass ihr dies ermöglicht werde, darum solle der Priester ihren Mann bitten (152–156). Später, als dann beide Männer gemeinsam an ihr Fenster treten, spricht sie ihren Mann auch direkt an: ‚und lâzet mich die wîle ich lebe, hie suochen gotes hulde umbe unser beider schulde.‘ (216–218)

„Und lasst mich den Rest meines Lebens Gottes Gnade suchen um unser beider Schuld willen.“

Die bußfertige Rede schmeichelt dem Ehemann. Von Genugtuung erfüllt lässt er seine Freunde herbeirufen und gibt sich vor ihnen der Vorstellung hin, dass er mit seiner Rache- und Strafaktion die göttliche Bekehrung bewirkt habe: ‚daz ich an der hûsvrouwen rach, / des hât si got bekêret‘ (228/229). Eigener Wille und der Wille Gottes fallen in seiner narzisstischen Phantasie zusammen. Als ihr Gefängnis dann aber aufgebrochen wird, bedarf es noch langen Zuredens durch den Priester, nicht zuletzt mit Hinweis auf ihre Gehorsamspflicht, um sie dazu zu bewegen herauszutreten. Als sie dann endlich herauskommt und der Mann sie um Verzeihung bittet, wehrt sie dies allerdings wieder ab und behauptet: ‚ir sît unschuldic wider mich; / diu schuldige leider daz bin ich‘ (255/256). Wenn man so will, widersetzt sie sich immer noch den männlichen Vorgaben und spielt gleichsam ihr eigenes Spiel. Freigelassen taucht sie also nicht mehr ein in das alltägliche Getriebe, sondern trägt als ‚heilige Frau‘, wie es heißt, den Anspruch vor sich her, ihr Leben der Bekehrung anderer sogenannter böser Frauen widmen zu wollen, als Buße, um einen zornigen Gott zu beschwichtigen (260 ff.). ‚welt ir mich niht dar inne lân, daz ich gestille gotes haz, sô erloubet mir doch hie ûze daz, daz ich got dâ mit êre und übeliu wîp bekêre – daz kan ich nu wol geschaffen.‘ beide leien unde pfaffen, die vielen ir ze vuoze, daz si die selben buoze behielte durch den rîchen got. (260–269)

„Wenn ihr mich schon nicht hier drinnen lassen wollt, um den Zorn Gottes zu besänftigen, dann erlaubt mir draußen wenigstens, Gott damit zu dienen, böse Frauen zu bekehren – das kann ich ja nun wohl.“ Alle fielen ihr zu Füßen und baten sie, diese Buße um des allmächtigen Gottes willen auf sich zu nehmen.

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Ihre Schuldbekenntnisse und ihr Bußwillen erhöhen und separieren sie zugleich, und das, was der Mann einst in Form der Einmauerung als Strafe über sie verhängt hatte, führt sie nun als freiwillige Selbstbeschränkung fort. Das Bild ist so grotesk wie beklemmend. Dabei ist die Mauer aus Stein zunächst einmal Signum unserer sesshaft gewordenen Kultur, sie soll Schutz vor äußeren Gefahren bieten, separiert den Menschen aber auch gleichzeitig von seiner natürlichen Umgebung. Ambivalenzen von Schutz und Isolierung werden von daher gemeinhin anhand von Durchbrüchen in der Mauer reguliert, von Fenstern und Türen, und idealiter bewegt sich der Kulturmensch autonom zwischen einer geschützteren Innenwelt und einer bedrohlicheren Außenwelt. Für die Eingemauerte in unserer Erzählung aber gibt es keine Tür mehr, ihr Bewegungstrieb ist beschnitten. Die Mauer, die Schutz geben soll, wird selbst zur Bedrohung. Das Bild der eingemauerten Frau in Strickers Erzählung aber erinnert im Kontext des Mittelalters, das die Geburt des Gefängnisses noch nicht erlebt hat, vor allem an die Praxis des Einmauerns von Inklusen, zumeist frommen Frauen, die sich auf eigenen Wunsch einmauern ließen, um in der radikalen Separierung von den Menschen ihrem Gott näher zu sein.7 Für den religiösen Bereich liegt es nahe, in der Einmauerung das Bild der absondernden Klostermauern, die Mönche und Nonnen vor einer Welt irdischer Gefährdungen schützen sollen, welche ihr Seelenheil bedrohen, noch einmal gedoppelt und radikalisiert zu sehen. In der Existenz der Inklusen wird selbst die Gemeinschaft der Gottsuchenden aufgegeben, um Gott näher zu sein – wird noch vor dem körperlichen Tod der soziale Tod inszeniert. Nur ihre stellvertretende Buße verbindet die Inklusen noch mit der Gemeinschaft der Lebenden, die sie als Heilige verehren, denn für diejenigen, die draußen sind, findet das Lebensgefühl des Ausgeliefertseins an die Mächte und Triebe dieser Welt in den Eingeschlossenen ein paradigmatisches Gegenbild, die Schwierigkeit des menschlichen Zusammenlebens eine Antwort in der totalen Entsagung. Um Entsagung geht es aber letztlich auch in der ‚Eingemauerten Frau‘. Diese findet allerdings nicht wie bei einer Inkluse ihren Höhepunkt in der Einmauerung selbst, sondern in ihrem Fall wird die Einmauerung von einem radikalen Bußwillen abgelöst, werden unsichtbare Mauern mit hinübergenommen in eine soziale Existenz. Dem heutigen Leser drängt sich nicht von ungefähr mit dem Bild der Einmauerung das Bild des ‚homo clausus‘ von Norbert Elias auf, der den modernen Menschen von unsichtbaren Mauern umstellt sieht: „Die Vorstellung des einzelnen Menschen, dass er ein homo clausus ist, eine kleine Welt für sich, die letzten Endes ganz unabhängig von der großen Welt außerhalb seiner existiert, bestimmt dann das Bild des Menschen überhaupt. Jeder andere Mensch erscheint ebenfalls als ein homo clausus; sein Kern, sein Wesen, sein eigentliches Selbst

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erscheint ebenfalls als etwas, das in seinem Innern durch eine unsichtbare Mauer von allem, was draußen ist, auch von allen andern Menschen, abgeschlossen ist.“8 Was Elias hier aus einer psychogenetischen Perspektive als Prozess der Zivilisation beschreibt, erscheint in der Gesellschaftstheorie von Max Weber als Prozess der Rationalisierung. Für die Begrenzungen und Erstarrungen, die damit verbunden sind, hat Weber das Begriffsbild vom ‚Gehäuse der Hörigkeit‘ geprägt, das, geboren aus dem Geist christlicher Askese, auf eine arbeitshörige Welt kapitalistischen Berufsmenschentums und hierarchisch gegliederter bürokratischer Systeme verweise.9 Vielleicht hätte er die vormals eingemauerte Frau in ihrem rastlos-unterwürfigen Bekehrungswahn als Vorbotin einer rationalen Lebensführung angesehen, in der sich ‚Tat‘ und ‚Entsagung‘, wie es bei Weber heißt, miteinander verschwistern und einem unproduktiven Lebensgenuss entgegenstemmen.10 Kehren wir aber zurück zur konkreten Situation der Ehefrau, die so brutal von ihrem Mann in die Schranken verwiesen und eingemauert wurde. Der naive Leser fragt hier nach der berechtigten Wut der Frau auf den Aggressor, zumal wir sie gerade noch als affektiv reizbar erlebt hatten. Stattdessen aber scheinen all ihre aggressiven Affekte unter dem Einfluss des totalen sozialen Entzugs mit einem Mal gänzlich verschwunden zu sein, und vor uns steht, als ein Produkt dieser ungeheuerlichen Zwangsmaßnahme, ein von Reue, Selbstbestrafungsund Selbstheiligungsphantasien beseeltes neues Wesen. Gewiss kommt sie jetzt den Vorstellungen ihrer patriarchalen Umwelt nach, aber in der Erfüllung eines Übersolls geht sie noch deutlich darüber hinaus. Genau genommen dürfte ja der Lustgewinn, den der Mann letztendlich aus der gewandelten Situation wird ziehen können, gering sein, weil sie als entrückte Heilige, die ganz auf das vermeintliche Allgemeinwohl, sprich: die Bekehrung anderer bezogen ist, mitnichten der Phantasie der fügsamen Ehefrau entspricht. Ihr öffentlicher Anspruch überschreitet jedenfalls eindeutig eine häuslich-demutsvolle Lebenspraxis, was nicht zuletzt daran ablesbar ist, dass er in der Erzählung nach ihrer Freilassung nicht mehr zu Wort kommt und sie nunmehr die Redende ist. Auch der Mann wird also eingeholt in diese neue Ordnung von Schuld und Buße, in der seine Ehefrau zum Vorbild stilisiert wird und ihm das Ausagieren seines Zorns versagt ist. Denn der Vertreter der Kirche hatte auch den Ehemann in die Zucht genommen: ‚ir hât ûf si ein michel teil / gezürnet; des entuot niht mê‘ (193/194). Die vom Mann eingeforderte Gegenleistung für den Gehorsam der Frau ist nämlich der Gewaltverzicht. Auch für ihn besteht also die Mauer, die er zwischen sich und ihr errichtet hat, weiter, und wo zu Beginn mit dem drastischen Bild ihrer in Fetzen herunterhängenden Haut eine gefährliche Distanzlosigkeit dargestellt wurde, ist die Frau jetzt von einer Aura religiös-sittlicher Unnahbarkeit umgeben.

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Für den erstaunlichen Gesinnungswandel der Frau aber scheint die These Freuds eine plausible Erklärung anzubieten, dass die ungnädige Stimme des Über-Ichs eine Wiederkehr des ursprünglichen Aggressionspotentials darstellt, welches vom anderen abgezogen und gegen das eigene Ich gewendet wird.11 Libidinöse Aggressivität ist demnach weiterhin im Spiel, aber mit veränderter Zielrichtung. Und wo das handelnde Ich sich vorab seinen nach außen gerichteten Triebregungen ergeben hatte, unterwirft es sich nun der autoritären Stimme in seinem Innern, die es als Wiedergänger der eigenen Aggressivität mit dem Zorn Gottes bedroht (261). Selbstunterwerfung spielt eine maßgebliche Rolle in unserer Erzählung, aber im Falle der Frau nicht unbedingt unter den Mann als Person, sondern unter den Mann als Instrument des autoritären Anspruchs der Gesellschaft, den sich die Frau so zu eigen macht, dass sie fortan nicht etwa dem Mann als solchem Gehorsam erweist, sondern einem quasireligiösen Gebot folgt. Die entsagungsvolle Unterwerfung unter das Gesetz hält dabei noch einen kompensatorischen Lustgewinn bereit: In der Identifikation mit seinem Ich-Ideal vermag das Ich nämlich alte Allmachts- und Wunschphantasien neu zu beleben.12 Wenn es sich ganz einer höheren Ordnung hingibt, nimmt diese es womöglich auch ganz in sich auf. Jedenfalls hofft die Stricker’sche Frau im Rahmen des mittelalterlichen Weltbildes auf einen Platz im Himmel. Dahinter aber, so hat es den Anschein, gibt es noch eine weitere Ebene, auf der die Frau nun ihrerseits, wie vorab der Mann, das Haus zur Bühne macht, wenn sie von erhöhter Position aus eine Ansprache an die Gäste hält und diese auffordert, man möge ihre Geschichte in der ganzen Welt verkünden. Ein verdeckter Racheimpuls soll womöglich ihrem Ehemann signalisieren, wie unabhängig sie sich nun ihrerseits von ihm gemacht hat. Das heißt, die gefährlichen aggressiven Triebe des Ausgangsszenariums wurden zwar domestiziert – mit einer markanten Verschiebung der Rollen, bei der das Opfer gleichsam die Übergriffe des Täters zu verbüßen hat –, aber die neue Befriedung ruht noch auf den alten Trieben und hinterlässt ein gewisses soziales Vakuum. Dem Schluss der Erzählung ist ein gewisses ‚Unbehagen in der Kultur‘ beigegeben, und so gesehen lässt sich Strickers Geschichte von der ‚Eingemauerten Frau‘ als Paradigma der kulturellen Implantation von Selbstzwängen lesen, die ihren Ursprung in massivem Fremdzwang hat, hier in der totalen Isolation, welche nichts anderes darstellt als die radikalisierte Form des gängigen Erziehungsmittels unserer Kultur: des Liebesentzugs. Der Mann agiert dabei als Instrument autoritärer gesellschaftlicher Ansprüche, aber am Ende ist es die Frau, die mit der Errichtung einer inneren normativen Instanz Subjekthaftigkeit gewonnen hat. Sie hat sich nicht nur der äußeren Autorität unterworfen, sondern sie vor allem auch verinnerlicht und kann von daher nun der Gemeinschaft als strahlendes Vorbild dienen, auch gegenüber dem Mann.13

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Zwischen dem infantilen Ego des Mannes und der rigiden Struktur der Frau klafft in der Erzählung allerdings eine spürbare Lücke, welche die Entwicklung einer wahrhaften Autonomie vermissen lässt. Männliche und weibliche Position werden lediglich kompensatorisch aufeinander bezogen. Die eingemauerte Frau, die es zum Schluss nicht mehr ist, hat also tatsächlich manches mit einer Inkluse gemein. Sie teilt mit ihr nicht nur die vorübergehende Erfahrung materiellen Eingemauertseins, sondern auch die Radikalität eines einschränkenden Lebensentwurfs, in dem für das Leben selbst nicht mehr viel Raum bleibt, sei es durch tatsächliche oder imaginäre Mauern. Und die Gemeinschaft verehrt sie gleichfalls, weil sie in einer Art Selbstopfer eine stellvertretende Buße auf sich nimmt, die zur Erlösung der Gemeinschaft beitragen soll. Strickers Erzählung führt, wenn man so will, die zuht als Gewaltmaßnahme vor, die aus dem Menschen als Triebwesen ein Gemeinschaftswesen formt. So wie die Frau exemplarisch eingemauert wurde in das Dogma vom weiblichen Gehorsam, ist aber nun ein jeder für sich eingemauert in das Gesetz, das ihm Schutz vor sich selbst und dem anderen gewähren soll. Das Gehorsamkeitsgelübde der Frau gegenüber dem Mann spiegelt dabei die Unterwerfung unter ein patriarchales Gesetz schlechthin wider, das der Gesellschaft ihre hierarchische Ordnung vorgibt. Als Wächter der Triebansprüche bringt diese Ordnung aber auch neue Vorstellungswelten von Schuld und Strafe mit sich, sofern sich der aggressive Triebimpuls als Stimme eines rigiden Gewissens wiedermeldet. Der Weg personaler Individuation und gesellschaftlicher Integration verlangt seinen Preis. Nun münden die Stricker’schen Erzählungen selten in eine eindeutige soziale Harmonie. Sie bieten die Extreme an, die den Rezipienten vielleicht abstrakt bedrohen, bei denen er sich angesichts ihrer Überspitzungen jedoch auf der sicheren Seite wähnen darf. So schnell wird schließlich keine Frau eingemauert und – wie es in einer anderen Erzählung geschieht – kein Ehemann lebendig begraben.14 Amüsement, Schadenfreude und Erleichterung dürften sich hier beim Publikum die Hand geben, ohne dass daraus eine Verhaltensmaxime zu gewinnen wäre. Auch in der ‚Eingemauerten Frau‘ geht es weniger um eine inhaltliche Didaxe, als um das Problem der Errichtung einer normativen Struktur als solcher. Es geht um destruktive Affekte und ihre Regulation durch Zwang, um die personale Aneignung normativer Vorgaben und ihre Verinnerlichung und um die Gewinnung eines gemeinschaftlichen Vorbilds. All dies wird karikierend und überzeichnet dargeboten, das Groteske beherrscht die Szene. Und wenn das Sündenbewusstsein dem mittelalterlichen Menschen ein Medium der Selbstdistanzierung war, war es wohl auch, wie zu allen Zeiten, das Lachen. Wo das eine bedrückt, befreit das andere. Lachend werden uns im Übrigen auch die versammelten Gäste selbst vorgeführt. Nachdem unsere Ehefrau nämlich

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ihre Bekehrungsdienste angeboten hat, sehen sich einige unter den Anwesenden animiert, von ihrem eigenen häuslichen Chaos zu berichten. Daraufhin, so kommentiert der Text, wart dâ vil gelachet / von rittern und von vrouwen (293/294). Die neu eingekehrte Ordnung wird demnach zwar gutgeheißen, aber an ihre Durchsetzbarkeit scheint man nur bedingt zu glauben. Lachend versöhnt man sich vielmehr mit den Unvollkommenheiten dieser Welt. So gesehen bietet die Stricker‘sche Erzählung also weder eine positive noch eine negative Moral an, aber sie leistet das, was Aufgabe des Narren und eines närrischen Erzählens ist: dem Publikum einen Spiegel vorzuhalten.

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5.2 Halbe Birnen und sonstige Lustbarkeiten Zur mittelalterlichen Schwankerzählung von der ‚Halben Birne‘ des Konrad von Würzburg

Lachen und Träumen sind, wie Sigmund Freud uns gelehrt hat, zwei Wege, mit denen wir im Spannungsfeld zwischen Trieb- und Kulturansprüchen die seelische Balance zu wahren vermögen. Sie bieten Räume, in denen die weggeschobenen Anteile unseres Seelenlebens dennoch ihre Existenz behaupten dürfen und die Lust über die Kontrolle obsiegt. Wenn diese Sphären der geschickt getarnten Befreiung des Verdrängten für unsere Gegenwart nun schon genug Rätsel aufgeben, so gilt dies umso mehr für vergangene Epochen. Literarische Schriftzeugnisse aus dem Mittelalter, die Witziges und Komisches transportieren, konfrontieren uns gleichsam mit einer doppelten Verrätselung: der des sich verhüllenden Triebs und der der sich verhüllenden Epoche. Zwar sind auch mittelalterliche Texte dem neugierigen Leser von heute sehr wohl einfühlbar, die Unmittelbarkeit eines evozierten Lachens teilen wir allerdings nur noch selten mit unseren Vorfahren.1 Hier betreten wir eher schmunzelnd das Feld der Spekulation – sofern wir nicht von vorneherein die Waffen strecken und scheinbar Ungereimtes als eine historische Geschmacksfrage beiseitestehen lassen oder die mittelalterliche Konvention didaktischer Belehrung allzu wörtlich nehmen. Aber schauen wir, ob folgende Schwankerzählung aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, die vom heiklen Genuss eines Nachtisches ausgeht und in der Überlieferung Konrad von Würzburg2 zugeschrieben wird, ihre Wirkung tatsächlich aus einem vorgeblich erzieherischen Anspruch bezogen hat. Der skurril-obszöne Text, der Elemente aus unterschiedlichen mittelalterlichen Schwankmotiven wie dem des ‚tölpelhaften Freiers‘ oder des ‚verstellten Narren‘ aufnimmt,3 erzählt in 525 Reimpaarversen Folgendes: Ein mächtiger König nennt eine schöne Tochter sein Eigen, die er bislang noch jedem Mann verweigert hat. Auf Wunsch der Königstochter wird nun im schönen Monat Mai zur allgemeinen Unterhaltung ein Turnier veranstaltet, auf dessen Sieger als Belohnung ihre Hand wartet. Unter den Teilnehmern des Turniers zeichnet sich besonders ein stattlicher Ritter namens Arnolt aus, der in Waffenrock und Satteldecke aus grasgrünem Samt nicht zu übersehen ist. Wen auch immer er angreift, der muss ihm gegenüber das Unterwerfungsgelöbnis ablegen, und die Königstochter beobachtet aufmerksam, wie viele Ritter er vom Pferd auf den Rasen befördert. Das entgeht nicht dem König, der den Ritter daraufhin an seine reich gedeckte Tafel lädt. Zum Nachtisch werden

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Birnen serviert, die besten auf der ganzen Welt, wie uns der Text wissen lässt, für je zwei Personen eine, auch für ihn und die Königstochter eine, dazu etwas Käse. Ohne große Umstände zu machen, nimmt unser Held nun sein Messer, zerteilt die Birne in zwei Hälften, schiebt sich die eine Hälfte, ohne abwarten zu können, selbst in den Mund und reicht die andere, man höre und staune, ungeschält und unzerteilt seiner Tischdame. Als Arnolt sich das nächste Mal wieder auf dem Turnierplatz zeigt, beschimpft diese ihn öffentlich ob seiner schlechten Manieren: ,ei chafaliers, werder helt, der die biren unbeschelt halben in den munt warf, ei chafaliers ungefuoc, der die halbe biren nuoc!‘ (103–108)

„Hei, Chevalier, großer Held, der die Birne halb und ungeschält in den Mund steckte, ungehobelter Chevalier, der die halbe Birne verputzte!“

und ,hiute und iemer laster hab er, der die halbe biren az. er ist an hovezühte laz.‘ (112–114)

„Schande, heute und immerdar, über ihn, der die halbe Birne aß. Ihm mangelt es an höfischer Erziehung.“

Arnolt vergeht fast vor Scham, reitet dann wütend nach Hause und schwört Rache. Sein Knappe Heinrich rät ihm, sich zu diesem Zwecke als Narr unkenntlich zu machen, die Haut zu schwärzen, einen schweren Kolben als Wanderstab zur Hand zu nehmen und sich polternd wieder an den Hof zu begeben, an der königlichen Tafel alles zusammenzuschlagen und fortan die Nähe der Königstochter zu suchen. Arnolt kommt dieser Aufforderung nach, verursacht bei der belustigten Hofgesellschaft viel kokettes Gekreisch und macht es sich dann zur Gewohnheit, nachts vor der Kemenate der Königstochter zu lagern. Eines Abends, als eines der feinen Edelfräulein heraustritt, um Wasser zu lassen, stolpert diese über den Narren, berichtet davon sogleich ihrer Herrin, und man lässt den Toren umgehend zur allgemeinen Belustigung hereinholen und sich ans Feuer setzen. Bei dieser Gelegenheit zeigt sich, dass ihm einige Bekleidungsstücke fehlen und sein gut ausgestattetes Gemächt ihm in die Asche hängt. Unser Ritter spielt den Toren, so gut er kann, bis sich irgendwann sein männliches Alter Ego, sein ebenalter (277) (Gleichaltriger), zum Angriff schickt und stolz mit ûfgerichtem sper (282) dasteht. Die Königstochter entflammt sogleich „wie Zunder“ (286), schickt alle ihre Zofen hinaus und wendet sich Hilfe suchend an eine erfahrene Alte namens Irmengart – denn der verfluchte Tor rührt sich nicht von der Stelle. Die Alte weist zunächst ihre noch jungfräuliche Herrin

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auf eine Lagerstatt, führt ihr dann den vermeintlich taubstummen Toren zu, der sich aber, zum Leidwesen der Damen, erst einmal wie ein Igel zusammenrollt. Wieder wendet die Königstochter sich hastig an die Alte, die nun den ungefügen Mann auf deren „weichen Bauch“ platziert. Als dieser immer noch „wie ein alter Hofhund“ (369) daliegt, beginnt die Alte mit einem Stecken „Stich für Stich“ (375) sein Hinterteil zu bearbeiten. Zur allgemeinen Erleichterung kommt nun Bewegung in die Sache – bis der gekränkte Ritter kurz vor dem Höhepunkt ihrer gemeinsamen Freuden seine Dame wieder zappeln lässt und die Königstochter sich neuerlich genötigt sieht, verzweifelt ihre Vertraute anzurufen: ,stüpfa, maget Irmengart durch dîne wîpliche art, diu von geburt an erbet dich, sô reget aber der tôre sich!‘ (385–388)

„Stich zu, Jungfer Irmengart, um deiner weiblichen Natur willen, die dir von Geburt an mitgegeben, damit der Tor sich wieder regt!“

Die Alte lässt sich nicht lumpen, sticht und stößt fleißig, bis die Aktion zu ihrem erlösenden Ende kommt und in diu süezekeit zerran, „ihnen die Süßigkeit zerrann“ (395). Anschließend wird der vermeintliche Narr aus der Burg geworfen. Als Arnolt, nun wieder als Ritter, seinem Knappen das Geschehene berichtet, ist dieser höchst zufrieden und rät seinem Herrn, wenn er sich wieder auf den Turnierplatz begebe und die Königstochter wieder, wie zu erwarten, ihre Schmährede aufnehme, er ihr mindestens zweimal mit der Zitation obiger Ansprache an ihre Kammerjungfrau antworten solle. Alles läuft tatsächlich so ab wie vorhergesehen und geplant, der Ritter hat diesmal eine ungemein wirkungsvolle Gegenrede parat, und vor lauter Schreck und Scham wird die bloßgestellte Königstochter erst grüner als Gras und dann rot wie eine Kirsche. Nun weiß die treue Kammerjungfer ihrer Herrin nur noch zu raten, den Ritter um ihrer Ehre willen zu sich kommen zu lassen und in aller Freundlichkeit dazu zu bewegen, sie zu heiraten, nicht ohne tadelnd anzumerken, dass man in dieser Welt für unverdient ausgeteilte Schmähungen eben seine Quittung hinzunehmen habe. Glaubt nun aber der Leser, die Geschichte nehme hier nach einigen grotesken Winkelzügen ein gutes Ende, alle Heiratswilligen seien verheiratet und das Paar lebe fortan glücklich und in Freuden miteinander, sieht er sich getäuscht. Stattdessen berichtet der Erzähler uns, dass der Ritter, angeblich gezeichnet von dem ungelücke (483), das ihm in dieser Nacht widerfahren sei, als man ihn gestupst und gestoßen habe, sein Leben lang argwöhnisch geblieben sei. Und deshalb gibt der Erzähler allen Frauen den Rat, sich schicklicher zu benehmen als die lüsterne Königstochter, der ihr Ritter auf immer böse geblieben sei, und den Männern, sich besser zu benehmen, damit sie ihre Ehre nicht so schnell aufgrund einer kleinen missetât (509) verlören, wie es Arnolt hätte hinnehmen müssen, wäre er nicht noch in die Rolle des Narren geschlüpft.

Halbe Birnen und sonstige Lustbarkeiten

So weit eine geraffte Inhaltsangabe der Erzählung. Versuchen wir nun, es besser zu machen als unser Held und diese „etwas indezente“4 Geschichte ordentlich zu schälen, zu portionieren und den Kern herauszupräparieren, damit sie für den neuzeitlichen Leser genießbarer wird. Vorderhand bieten sich zwei Deutungsebenen an. Eine erste knüpft am vorgeführten Gegensatz von individueller Triebäußerung und gesellschaftlicher Norm an und nimmt, von einer Sphäre höfischer Öffentlichkeit ausgehend, in der Tischzuchten eine maßgebliche Rolle spielen, einen zivilisationstheoretischen Blickwinkel ein. Eine zweite greift die tendenziösen Elemente dieser Schwankerzählung auf, Formen einer Lust der Entblößung und des Verschlingens, von Aggressions- und Unterwerfungslust, die sich vornehmlich in der ‚heimlichen‘ Welt der Kemenate entfalten und von denen wir annehmen, dass sie einen unverzichtbaren Anteil evozierten Lachens dargestellt haben. Hierfür stellt die Psychoanalyse ein Instrumentarium zur Verfügung, das Freud unter anderem in seiner Studie zum Witz ausbreitet, in der er dem aggressiv-tendenziösen und dem sexuell-tendenziösen Witz und damit auch entsprechenden Äußerungen des Komischen generell den Vorrang vor harmloseren Formen des Vergnügens zuschreibt.5 Beginnen wir aber fürs Erste mit einem Blick auf die ‚harmlosere‘ höfische Welt von Verhaltensregulierungen und arbeiten wir uns sozusagen von außen nach innen, von der Schale zum Kern, vor. Spielregeln höfischen Verhaltens werden in der Erzählung von der ‚halben Birne‘ im öffentlichen Raum verhandelt, auf dem Turnierplatz, wo die Regel gilt, dass der im Kampf Unterlegene seine Unterwerfung zu geloben hat, und bei Tische, wo Tischzuchten den richtigen Verzehr von leckeren Früchten vorschreiben. Unser Ritter, der auf dem Turnierplatz brilliert und seine Überlegenheit unter Beweis gestellt hat, scheitert jedoch bei der ‚Tischprobe‘ und wird dafür von einer herzlosen Königstochter öffentlich lächerlich gemacht. Allerdings ist das Objekt des Streits nicht beliebig, die saftige Frucht hat im Mittelalter eine eindeutige Konnotation zum weiblichen Geschlecht und mehr noch: das Birnenessen steht auch für den Geschlechtsverkehr selbst.6 Der Wechsel des Schauplatzes von der Tafel zum Schlafgemach ist also vorprogrammiert. Hier rächt der Betroffene sich damit, dass er die scheinbar so züchtige Königstochter in der Verkleidung des Narren ihrer leiblichen Begehrlichkeit überführt – und sie dafür ebenfalls öffentlich abstraft. ‚Feine Königstöchter sind auch nicht besser als grobe Ritter‘, könnte man so die Moral von der Geschicht‘ umschreiben, die sich als Erstes aufdrängt. Freilich ist der Standort des Erzählers in dem komplizierten Wechselspiel von Verhaltensregeln und Regelüberschreitung nicht eindeutig auszumachen. Die germanistische Forschung hat sich hier eher auf die Seite der hovezuht, der höfischen Sitte, geschlagen. Sie beklagt den „elitären Dünkel“ und eine „prekäre Scheinzivilisiertheit“ 7 der Königstochter sowie einen

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Mangel an „ethischem Verstand“,8 auf die der Autor im Sinne einer umfassenderen, die bloße Etikette überschreitenden erzieherischen Absicht aufmerksam mache. In dieser Einschätzung weiß man sich in der Forschung zumindest einig mit Jungfer Irmengart, die ihre Herrin zum Schluss für den unverdienten itewîz, „die unverdiente Schmähung“ des Ritters, tadelt (462). Auch die kürzere Fassung der ‚halben Birne‘ von Hans Folz aus dem späten 15. Jahrhundert betont vornehmlich den Hochmut der Königstochter und mündet in eine entsprechende Frauenschelte.9 In der Nachfolge von Norbert Elias102 gerät ferner eine Dialektik von triebgeleiteter Affektabfuhr und höfischer Zucht, die auf Selbstkontrolle und Langsicht setzt, in den Blick. Unter diesem Blickwinkel sei das Szenarium in der Kemenate der Königstochter Teil einer destruktiven Gegenwelt, die der rigide höfische Zivilisationsanspruch aus sich hervortreibe und in der „blinder Naturzwang“, eine „rücksichtslos ausgelebte natûre“, „tierische Dumpfheit“ und „Untermenschlichkeit“ den Ton angäben.11 Der Narr, der von der höfischen Gesellschaft ‚hofiert‘ werde, erscheine als Spiegelung der unzivilisierten höfischen Kehrseite. Ort des Sprechens des neuzeitlichen Interpreten ist hier eine Position der Distanzierung und des Abscheus. Beobachtbar ist ihm, dass eine fällige Integrationsleistung von Trieb und Kultur noch keine befriedigende Lösung gefunden hat. Das zu vermutende Lachen des mittelalterlichen Hörers bleibt ihm genauso fremd wie dem Erzähler, der die Geschichte mit wohlmeinenden Ratschlägen an Männer und Frauen beschließt. Allerdings – lässt sich aus der Erzählung nicht auch der archaische Triumph des Unzivilisierten über das Zivilisierte herauslesen? So gesehen gäbe die groteske Kemenatenszene die ganze Hofetikette in einer spiegelnden Dramaturgie der Lächerlichkeit preis. Schließlich übt sich Arnolt ja nunmehr in all den Verhaltungen, die man bei Tisch von ihm erwartete, und befleißigen sich die Frauen mannigfacher Verrichtungen, wie sie bei Tisch angesagt waren. Was aber dabei herauskommt, wenn man der Natur nicht ihren Lauf lässt und besserwisserische Frauen agieren lässt, statt männlichen Trieben zu vertrauen, sei es bei Tisch oder im Bett, mag dann an dieser Groteske abzulesen sein! Freilich, dass diese Zivilisationskritik einseitig auf Kosten der Frauen geht, lässt bei dem skeptischen Interpreten beziehungsweise der Interpretin wieder Zweifel aufkommen, ob mit dieser Variante die Möglichkeiten der Deutung ausgeschöpft sind. Wo in mittelalterlichen Texten allzu laut über Frauen gelacht wird, lohnt in der Regel die Frage nach dem männlichen Lustgewinn. Blicken wir von hier aus noch einmal auf den Schluss der Erzählung, in dem die bis dahin entfaltete Komik so unvermittelt in eine gattungstypische moralische Ansprache umschlägt. Nachdem eine nächtliche sexuelle Begegnung dargestellt wurde, bei der trotz aller Sonderbarkeiten alle Beteiligten unzweifelhaft

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auf ihre Kosten gekommen sind, ist auf einmal von dem ‚Unglück‘ (483) die Rede, das dem Mann in jener Nacht dank der boesen tücke (482) der Frauen widerfahren sei, als man ihn gestoßen und gestochen hatte. Dann werden die Frauen ermahnt, sittsamer zu sein als die unkeusche Königstochter. Wenn wir aber nun diese Aussagen gleichsam vom Kopf auf die Füße stellten und in dem Sinne wörtlich nähmen, als sie eine Verkehrung der tatsächlichen Verhältnisse aussprächen – in einem mit Freud klassischen Abwehrvorgang der Umkehrung ins Gegenteil? Dann hätte den Mann im Gegenteil diese Nacht insgeheim ‚glücklich‘ gemacht und an die Frauen erginge der versteckte Appell der Unkeuschheit. Freud hat uns schließlich gelehrt, dass die Libido ihrer eigenen Logik folgt, und damit sind wir denn auch auf die zweite Deutungsebene übergewechselt, die nach dem Sinnüberschuss des obszönen Kerns der Erzählung und dem Lustgewinn der Protagonisten (und Rezipienten) fragt. Halten wir uns noch einmal die Ausgangsposition unseres ‚Paares‘ vor Augen. Arnolt präsentiert sich in exhibitionistischer Manier auf dem Turnierplatz, prächtig ausstaffiert und mit den Waffen des Ritters angetan. Seiner Zeigelust entspricht die Schaulust der Königstochter, die bislang noch vor der Männerwelt zurückgehalten wurde. Die Begegnung bei Tisch steht unter dem unzweideutig sexuell konnotierten Zeichen des gemeinsamen Verspeisens einer Birne. Hier bekommt aber nun die Annäherung einen Riss. Seinem Verschlingen der Frucht entspricht ihre Verweigerung, jedenfalls teilt uns der Text nicht mit, dass sie ihre Hälfte gegessen hätte. Stattdessen ergeht sie sich in einer verbalen Invektive. Später, in der Kemenate, kommt es dann zu einer Begegnung unter gewandelten Vorzeichen. Seine exhibitionistische Pose ist diesmal in der Rolle des Narren gänzlich unverhüllt, sie reagiert darauf im Sinne einer männlichen Wunschvorstellung mit manifestem Begehren, frönt aber nun ihrerseits einem indirekten ‚Verschlingen‘, das er wiederum mit einer Variante der ‚Verweigerung‘ beantwortet. Nicht anders als sie befleißigt auch er sich im Anschluss einer verbalen Bloßstellung,12 womit das Paar partiell die Züge widerspenstiger Verliebter zeigt, die ihr uneingestandenes Begehren als verbale Aggressivität abführen. Der triebhafte Wunsch des Verschlingens geht dabei Hand in Hand mit der Angst beziehungsweise Abwehr des Verschlungenwerdens. Ungeklärt ist aber bislang die Rolle der Jungfer, die in der Kemenatenszene eine Schlüsselrolle spielt. Schauen wir uns die Rollenverteilung noch einmal genauer an: Mann und Frau agieren hier jeweils mit einem ‚Doppelgänger‘. Als jungfräuliche Königstochter kann die Frau ihrem Begehren nur mit Hilfe der erfahrenen Alten zur Erfüllung verhelfen. Die Alte ist hingegen mit einem veritablen ‚Phallus‘ ausgestattet, der sie zu aktivem Mitspiel ermächtigt. Arnolt seinerseits ist gleichfalls gespalten, in seinen ebenalter, das heißt Gleichaltrigen, der forsch den Angriff probt, und seine übrige Person, die ebenso passiv bleibt

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wie die Königstochter. Die Komik speist sich dabei in erster Linie aus der merkwürdigen Bewegungslosigkeit der Figuren.13 Beide Seiten erscheinen damit, wenn man so will, in bisexueller, zugleich aktiver und passiver Pose, bei der die jeweils rolleninadäquate Seite von männlicher Passivität und weiblicher Aktivität als personale Abspaltungen in Erscheinung treten, als phallisch-bewehrte Jungfer Irmengart einerseits und als gehemmter Narr andererseits.14 Die in der Erzählung eingangs vorgeführten sozialen Rollen des kämpfenden Mannes und der im Hintergrund abwartenden Frau werden damit konterkariert. Folgte man einer zivilisationstheoretischen Deutung, wäre die groteske Umkehrung einer gesellschaftlich-normativen Vorstellung, vor der die phallisch-bewehrte Frau der Lächerlichkeit preisgegeben würde, als letztendliche Bestätigung der Norm zu deuten, stünden die potentiellen Lacher sozusagen auf der ‚richtigen‘ Seite. Wie aber, wenn wir auf den Spuren libidinöser Triebe den Protagonisten ihr verdecktes gelücke zubilligten, wenn sich unter den Masken der Narretei und der Abspaltung weibliche Aggressions- und männliche Unterwerfungslust ausleben dürften, wenn Arnolt, der auf dem Turnierplatz ausschließlich die Unterwerfungsgelöbnisse seiner besiegten Rivalen entgegennimmt und selbst immer ‚oben‘ bleibt, in der Heimlichkeit der Kemenate seinerseits der Lust passiver Unterwerfung nachgäbe? Immerhin begibt er sich dort im Gewand des Narren in eine Position, die ja nicht nur grotesk ist, sondern sich auch gefährlich nah an einem homosexuellen Setting bewegt. Damit aber wird ein für das Mittelalter hochtabuisierter Bereich gestreift,15 der die moralische Schlussapotheose, die auf der Misslichkeit des Vorgefallenen insistiert, nachgerade unverzichtbar macht. Homoerotik aber ist hier mit Freud an ein bisexuelles Objekt gebunden, eine ‚Frau mit Penis‘, die noch einmal die eigene Männlichkeit spiegelt und ein frühkindliches männliches Phantasma reproduziert, das die Differenz der Geschlechter noch nicht fassen kann.16 Die Geschichte präsentiert sich demnach in einer makellosen Verpackung, die beim Öffnen einen zunehmend anstößigeren Inhalt preisgibt. Hinter der moralischen Belehrung und der Karikatur des Höfischen offeriert sie mit der nächtlichen ‚Triole‘ ein bemerkenswertes Arrangement bisexueller Lust, in dem unser Ritter sich einer quasimännlichen Frau unterwirft, die ‚das Heft in der Hand behält‘.17 Dass der männliche Triebimpuls in der Erzählung als groteskes Verlangen der Frau erscheint, ist unschwer als eine Verschiebung zu deuten. Somit reagiert der gedemütigte Arnolt auf die Abstrafung durch die Königstochter zwiefach – mit aggressiver verbaler Rache einerseits und passiver sexueller Unterwerfung andererseits. Die Rache als aggressiver Affekt, der auf Genugtuung für eine erlittene Schmach zielt, ist mehr oder minder legitim. Der Unterwerfungsimpuls hingegen, der eine verbale, quasisadistische Abstrafung mit masochistischer Selbstzurücknahme und der Lust nach der Vereinigung

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mit dem beziehungsweise der Stärkeren beantwortet, ist tabuisiert, zumal im Rahmen eines mittelalterlichen Männlichkeitsideals. Das dürfte der eigentliche Witz dieser tendenziösen Erzählung sein, und dieser ‚Kern‘ sollte von zivilisierten Essern beziehungsweise Lesern nicht achtlos liegen gelassen werden. In Konrads ‚halber Birne‘ geht es eben nicht nur um Tischzuchten und höfische Erziehung, um den Widerspruch von Kultur und Sexualität im Allgemeinen, hier geht es auch um ganz spezifische Tabuzonen einer Gesellschaft, für die wir das Etikett ‚patriarchal‘ bereithalten. Wo der ideale Mann ein Exemplum aggressiver Selbstbehauptung darstellt, gibt dessen unterwerfungswillige Kehrseite einen willkommenen Gegenstand der Satire ab – und bedarf diese in der literarischen Bearbeitung zugleich der Tarnung. Neuzeitliche Leser können diese sehr konkrete Geschichte nur mehr portionsweise ‚verdauen‘, zum einen, weil sie sich der Vorstellungswelt mittelalterlicher Texte entfremdet haben, zum anderen, weil sie auf eigene Tabuzonen stoßen. Endlich am Punkte der Erkenntnis angekommen, mag es ihnen dann so gehen wie vielen Zuhörern karnevalistischer Büttenreden. Sie wissen nicht recht, ob sie über so viel Anstößigkeit noch lachen dürfen.

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6 Transformation des Mythos Richard Wagner, Fritz Lang und Francis Ford Coppola

6.1 Liebe und Leid Richard Wagners ‚Tristan und Isolde‘ und Gottfrieds von Straßburg ‚Tristan‘

Gottfried und Wagner Zu den Früchten der Jahre Wagners im Schweizer Exil zählt sein Operndrama ‚Tristan und Isolde‘, das gerne als sein musikalisch innovativstes Werk betrachtet wird. Inspiriert nicht zuletzt von einer leidenschaftlichen Beziehung zu Ma­thilde Wesendonck, der Frau seines Gönners, schreibt er den ‚Tristan‘ von 1856 bis 1859 nieder.1 Friedrich Nietzsche, Verehrer und Kritiker Wagners in Personalunion, sah sich von dem Werk als Exempel einer absoluten Selbstaufgabe nachhaltig überwältigt. Wagner selbst erlebte den Schaffensprozess an der Oper als grenzgängerisch. Ich zitiere aus einem Brief an Mathilde Wesendonck: „Dieser ‚Tristan‘ wird was Furchtbares!“ Wagners Vorlage für den keltischen Stoff war das Versepos ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg, das, um 1210 entstanden, zu den großen dichterischen Zeugnissen einer ersten Blütezeit der deutschen Literatur zählt und unvollendet geblieben ist. Das Epos erzählt von Tristan, dessen Vater Riwalin bei seiner Geburt bereits tot ist und dessen Mutter Blancheflur bei seiner Geburt stirbt. Tristan wirbt für den englischen König Marke, den Bruder seiner Mutter, um die irische Königstochter Isolde, verstrickt sich mit dieser aber dank eines versehentlich genossenen Minnetranks noch auf der Überfahrt in eine leidenschaftliche Liebe. Die folgenden Ereignisse am Markehof umkreisen die Problematik einer heimlichen ehebrecherischen Beziehung. Den vielgliedrigen Handlungsaufbau der Gottfried’schen Dichtung hat Wagner auf ein schmales Kondensat zusammengeschmolzen: Minnetrank, Vereinigung, Entdeckung und Liebestod. Primäre Handlungselemente hat er übernommen, andere verändert. Am Ende steht ein Werk, das sich sehr weit von seiner Vorlage entfernt hat und dennoch dessen Geist atmet. Zunächst fällt der Umstand ins Auge, dass Wagner seinen ‚Tristan‘ erst auf der Überfahrt des Paares von Irland nach Cornwall, unmittelbar vor der dramatischen Minnetrankszene, einsetzen lässt. Die umfangreiche Vorgeschichte wird von seinen Protagonisten nur in einigen Grundzügen erinnert. Der komplette dritte Aufzug der Oper liegt dann jenseits seiner Vorlage, da Gottfrieds Roman in der Trennungsphase der beiden Liebenden abbricht, warum, wissen wir nicht. Erwartbar wäre gemäß der Stofftradition gewesen, dass der verwundete Tristan, auf Isolde wartend, stirbt, weil seine neue Isolde, Isolde mit den weißen Händen,

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fälschlicherweise angibt, das herannahende Schiff habe ein schwarzes Segel gehisst, nicht ein weißes, wie es die Ankunft der blonden Isolde signalisieren sollte. Tristan stirbt darauf noch vor der Ankunft des Schiffes und Isolde stirbt, als sie den toten Tristan erblickt. Marke lässt später auf Tristans Grab einen Rosenstock, auf Isoldes eine Weinrebe setzen. Beide Pflanzen verflechten sich zum Zeichen ihrer unauflöslichen Liebe ineinander. Das bis auf den heutigen Tag beträchtliche Irritationsmoment in der Dichtung Gottfrieds liegt nun darin, dass der Roman nicht etwa mit einer verzehrenden Sehnsucht der Liebenden abbricht, sondern mit einem Tristan, der sich in Anlehnung an eine Ovid’sche Liebespragmatik immer mehr der fragwürdigen Liebe zu einer anderen Isolde, deren Hauptattraktion in ihrem Namen liegt, hingibt, während er seine ursprüngliche Isolde, sei es zur eigenen Entlastung, sei es im Unglauben an ihre Liebe, in den Armen Markes imaginiert. Ausgehend von den letzten Passagen Gottfrieds liegt nachgerade der Schluss nahe, dass hier nicht zwei Liebende sterben werden, wohl aber ihre Liebe. Tristan und Isolde, so möchte man mutmaßen, überleben, aber heruntergestuft auf das Niveau durchschnittlicher Liebespaare. Das Ende von Gottfrieds Roman und das Ende von Wagners Oper liegen also denkbar weit auseinander. Schauen wir aber zunächst auf die Anfänge der beiden Werke. Wagner hat kundgetan, dass es ihm allererst auf die innere Dramatik seiner Protagonisten angekommen sei. Auch Gottfried hat sich seinerzeit bereits von einer bestehenden Tradition abgegrenzt und für sich, unter Berufung auf Thomas von Britannien, in Anspruch genommen, eine ‚wahre‘, wir mögen heute sagen: psychologisch verfeinerte, Geschichte zu erzählen. Ich beginne zunächst mit dem mittelalterlichen Epos. Die Erzählung hebt an mit der Vorgeschichte der Eltern Tristans. Riwalin und Blancheflur, die Schwester König Markes, lernen sich am Markehof kennen und lieben. Die Umstände führen Riwalin zunächst in einen Krieg, er kehrt verwundet zurück, und die verzweifelte Blancheflur lässt sich bei ihm als Ärztin einschmuggeln. Aus einer ersten Liebesvereinigung entsteht Tristan. Riwalin gesundet wider Erwarten (anders im Übrigen als in der Erinnerung Tristans bei Wagner), und das Paar verlässt später den Hof, weil dort für die schwangere Blancheflur kein Verweilen mehr ist. Das Paar fährt nach Parmenien, in die Heimat Riwalins, über, Riwalin fällt kurz darauf im Kampf gegen seinen Lehnsherrn Morgan, eine vor Leid gänzlich verstummte und erstarrte Blancheflur gebiert Tristan und stirbt. Ein treues Vasallenehepaar zieht Tristan als vorgeblich eigenes Kind auf, um ihn zu schützen, und lässt ihm eine außerordentlich sorgfältige Erziehung angedeihen. Tristan erlernt etliche Sprachen und Instrumente und wächst als Wunderkind heran. Dieses Wunderkind wird von Seefahrern entführt. Es verschlägt Tristan schließlich unbekannterweise an den Hof seines Onkels Marke, wo der begabte Knabe sofort

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zum gefeierten Mittelpunkt des Hofes avanciert. Marke fühlt sich zu seinem Neffen hingezogen und ist darauf bedacht, ihn stets um sich zu haben. Die verborgenen Verwandtschaftsverhältnisse werden schließlich aufgedeckt, als Rual, der Ziehvater Tristans, auf seiner Suche nach dem Knaben an den Markehof gelangt. Tristan kehrt vorübergehend zurück nach Parmenien, rächt seinen Vater an Morgan und kehrt wieder zurück an den Markehof. Dort wartet die kämpferische Auseinandersetzung mit dem irischen Zinseintreiber Morold auf ihn, ein Bruder der Mutter Isolde, bei Wagner ein Verlobter der jungen Isolde, er tötet diesen, wird aber von einem vergifteten Speer, dessen Gift von der alten Isolde stammt, am Oberschenkel verwundet. Die Wunde führt ihn unter dem Decknamen Tantris ins feindliche Irland, die Mutter Isolde heilt ihn und er unterrichtet als Gegenleistung die junge Isolde. Wieder zurück in Cornwall besingt er emphatisch deren außerordentliche Schönheit und Tugend. Die Höflinge, inzwischen in hohem Maße eifersüchtig auf die exkludierende Nähe Tristans zu ihrem König, dieser hat Tristan auch zu seinem Erben eingesetzt, schmieden ein Komplott. Tristan solle zurück nach Irland fahren, um dort für Marke um die junge Isolde zu werben. Weil dort jeden Engländer der sichere Tod erwartet, hofft man auch auf den Tod Tristans. Im Vergleich beider Werke fällt zunächst einmal ins Auge, dass Wagner jegliches höfische Kolorit der Vorlage ausspart. Für Gottfried aber war dieses mehr als nur Beigabe, es trug wesentlich die Identität seiner Protagonisten. Der Markehof ist der kulturelle Mittelpunkt seines Romans, er zieht die Menschen aufgrund seiner höfisch verfeinerten Sitten an. Und Tristan ist der personale Mittelpunkt des Romans, weil er der Begabteste in einer elitären Gesellschaft ist. Diese Eigenschaft kommt ihm schon zu, bevor er als Liebender in Szene gesetzt wird, und dank dieser Eigenschaft lernt er Isolde erst kennen. Sein Vermögen, mit allen Fremden in ihrer Landessprache in Kontakt zu treten, sein überirdisch schönes Harfenspiel, seine Kenntnis in- und ausländischer musikalischer Weisen, seine vollendeten Umgangsformen, seine Schönheit öffnen ihm alle Türen und Herzen. Tristan ist der Spiegel einer Gesellschaft, in dem diese ihre eigenen Werte wiederfindet, und Tristan seinerseits braucht diese Gesellschaft wie die Luft zum Atmen. Tristan fällt diese herausgehobene Rolle dabei vor dem Hintergrund einer defizitären Ausgangsposition zu. Er wächst ohne leibliche Eltern auf, und seine schon früh erbrachten intellektuellen Leistungen, der Text spricht hier von der buoche lêre und ir getwanc (2085), treten in eine kompensatorische Funktion ein. ‚Kompensation als Kulturleistung‘ ist das Paradigma, das Gottfried bereits im 13. Jahrhundert zum Gegenstand nimmt. Seine intellektuellen und künstlerischen Leistungen verhelfen Tristan schließlich zu einer Ersatzidentität, die eine für das Mittelalter tragende genealogische überblendet.

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Das Künstlertum am Hofe als Wechselspiel von Darbietung und Wertschätzung ist dabei tragend für die Dreiecksbeziehung, wie Gottfried sie für Tristan, Isolde und Marke entwirft. Ein fragiles Gleichgewicht beruht darauf, dass Marke die Nähe Tristans und Isoldes genießen darf, ebenso Tristan und Isolde ihrer beider Nähe und gleichzeitig die Gegenwart des Hofes. Das spannende Spiel des absoluten Begehrens wird überdies durch die strukturgebende Größe eines Dritten, hier Marke, gleichsam auf Dauer gesetzt. Etwas simplifizierend könnte man sagen, dass alle drei sich mit dem Arrangement des heimlichen Ehebruchs recht wohl befinden, gäbe es da nicht die neidischen Höflinge, die das Liebespaar ständig zu überführen trachten. Aber auch die geben dem Paar noch Anlass, seine souveräne Überlegenheit und seinen Listenreichtum immer aufs Neue unter Beweis zu stellen. Bei dieser Dynamik hält sich der mittelalterliche Roman über weite Strecken auf. Isolde Ich komme nun zu Wagner. Sein ‚Tristan‘ bietet, anders als das private Liebesleben des Meisters, in dem Freundschaft und Ehebruch in einem elitären künstlerischen Milieu ähnlich nah beieinander lagen wie in dem mittelalterlichen Epos, eine solch schillernde Hofwelt nicht. Die Figuren von Wagners ‚Tristan‘ sind entschieden vereinzelter. Ein gemeinsamer Genuss von Kunst und Geselligkeit kommt nicht zur Darstellung, es sei denn, man möchte diesen im Medium der Oper selbst aufgehoben sehen, das Darsteller und Rezipienten zu einer Gemeinschaft formt, die den edlen Herzen, wie Gottfried sie in seinem Tristan-Prolog beschwört und anspricht, einige Jahrhunderte später recht nahekommt. Der erste Akt der Oper hebt nun damit an, dass Isolde auf der Überfahrt nach England sterben will, weil ihr die Aussicht auf eine Hochzeit mit Marke, an den sie sich von Tristan verkauft fühlt, unerträglich ist. In wütender Enttäuschung phantasiert sie den Untergang des Schiffes dank von ihr entfesselter Naturkräfte. Das hilflose Opfer ergeht sich ganz offensichtlich in kompensatorischen Allmachtsphantasien. Die Handlung setzt sich dann fort als ein rachebeflissenes Machtspiel, und man fühlt sich fürs Erste eher in die Welt der Nibelungensage versetzt als in den Tristan-Stoff. Wagner hatte immerhin für den ‚Tristan‘ gerade die Arbeit am ‚Siegfried‘ niedergelegt. Wenn Isolde nun Tristan sehr bestimmt zu sich befiehlt, um ihn zur Rede zu stellen, dann benutzt sie den erniedrigenden Begriff des „eigenholden“ (134). Dieses Terminus bedient sich Brünhild im Nibelungenlied in der Zuschreibung auf Siegfried als Provokation gegenüber Kriemhild. Kurwenal, der Vertraute Tristans, reagiert bei Wagner entsprechend gereizt, und die beiden Männer weigern sich, dem Ansinnen Brangänes, der Dienerin Isoldes, Folge zu leisten. Isolde erzählt daraufhin Brangäne von dem

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gar nicht heldischen, anrührenden Blick Tristans, als sie mit dem Schwert vor ihm gestanden habe, um den Mörder ihres Verlobten Morold zu töten. Damals habe sie auf den Racheakt verzichtet und die Wunde Tristans, getroffen von seinem Blick, geheilt. Er aber hätte sie, unter Verletzung all ihrer verborgenen Gefühle, im Gegenzug „Kornwalls müdem König“ (309) als Ehefrau anempfohlen. Diesen Verrat will Isolde nun an Tristan mit dem Todestrank, einem der von der Mutter mitgegebenen Zaubertränke, rächen. Brangäne wird noch einmal mit der betrügerischen Nachricht losgeschickt, Tristan möge herbeikommen, um Vergessen und Vergeben für eine ungesühnte Schuld zu erbitten. Diese Huld würde ihm gewährt werden. Erschiene er nicht, weigerte sich Isolde, mit ihm vor Marke zu erscheinen. Tristan erscheint tatsächlich, und am Ende vertauscht eine erschütterte Brangäne wissentlich den Todestrank mit dem Liebestrank, der eigentlich für Isolde und Marke bestimmt war. Isolde reicht Tristan den Trank und trinkt dann selbst. Eine Art liebesmystischer Conversio ist die Folge, vormalige beiderseitige Abwehr wandelt sich in wechselseitige Hingabe. Im Vergleich zu Gottfried verschärft Wagner die Situation auf dem Schiff gravierend. Er konstruiert eine Vorgeschichte, der gemäß Tristan in der Schuld steht, Marke die Hochzeit mit Isolde nahegelegt zu haben. Bei Gottfried sind es noch die Höflinge, die Tristan aus Missgunst ins Verderben schicken wollen. Wagner aber geht hin und lastet seinem Tristan, nicht anders übrigens als seinem Siegfried im ‚Ring‘, eine neue schmähliche Schuld an und baut damit die Opferposition der Frau und damit ihre Bereitschaft zur Rache deutlich aus. Aus dieser heraus wird Isolde, nicht anders als Brünnhilde, zur Rächerin. Bei Gottfried hingegen erleben wir noch, wie Tristan eine unglückliche Isolde auf der Überfahrt zärtlich umsorgt und am Ende um einen Erfrischungstrank bittet, den er selbst an Isolde weiterreicht. Wenn man so will, bietet er durchaus das Bild eines verdeckt offensiven Verführers. Der Tristan Wagners aber ist gänzlich in die Defensive gedrängt. Hier ist es am Ende eine offensive und rachelüsterne Isolde, die den Trank reicht, vermeintlich als Todestrank. In beiden Fällen, im mittelalterlichen Epos wie in der Oper, aber wird mit der gemeinsamen Einnahme eines Tranks eine Dynamik freigesetzt, die eine verborgene Struktur offenlegt. In Gottfrieds Geschichte kommt im Medium des Tranks einem vormals unbewusst aufeinander bezogenen Paar seine Liebe zu Bewusstsein. Des Weiteren kommt dem Liebestrank aufs Ganze gesehen die wichtige Funktion einer Exkulpation zu. Er verleiht einer moralisch fragwürdigen Liebe schicksalhafte Dignität. Bei Wagner wiederum ist die Liebe schon da, aber nur als eine negative, als Enttäuschung Isoldes und Schuldgefühl Tristans. Anders als bei Gottfried setzt Wagners Isolde nun den Trank in voller Bewusstheit ein, und zwar als Todestrank. Sie will den Tod Tristans als Rache und gleichzeitig ihren eigenen. Dieses Rachemotiv wird allerdings durch die

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Szene zuvor relativiert, als Tristan ihr sein Schwert reicht und sein Leben als Sühneopfer anbietet, Isolde aber auf seinen Tod verzichtet. Die Vertauschung der Tränke durch Brangäne bringt dann gleichsam die verdeckte Seite von Isoldes Begehren zum Vorschein, wenngleich dem Minnetrank noch der Todestrank beigemischt zu sein scheint. Die Tränke der alten Isolde sind in diesem Kontext zunächst einmal Ausweise weiblicher Macht. Dieser Macht verdankt Tristan seine vergiftete Wunde und gleichzeitig die Heilung derselben. Und wenn eine verletzte junge Isolde, die ihre Heilkräfte bei Wagner als Liebesbeweis eingesetzt hat, in dieser Liebe jedoch übersehen und missachtet wird, sucht sie Genugtuung in der Zerstörung. Brangäne, das Alter Ego Isoldes, unterläuft allerdings den Zerstörungswunsch ihrer Herrin – und verhilft damit doch noch einem ursprünglichen Liebeswunsch zur Erfüllung. In Erfüllung gehen wird am Ende allerdings auch Isoldes Todeswunsch. Die Wirkung des Tranks fällt nun bei Wagner entschieden abgründiger aus als bei Gottfried. Tristan und Isolde erkennen nämlich nicht nur einander in ihrer Liebe, ihr erkennender Blick fällt auch in besonderer Weise auf sie selbst zurück. Sie werden sich nicht nur ihrer Liebe bewusst, sondern zugleich einer Schuld, nicht geliebt zu haben. Ihr vormaliger Zustand erscheint ihnen mit einem Mal als irreal, Tristan erinnert sich seiner Vorstellung von „Ehre“ (744) als „trügenden Zaubers tückische List“ (749/59) und Isolde der von ihr erlebten „Schmach“ (746) als „törigen Zürnens eitles Dräun“ (751/51). Vormals Bewusstes bekommt nun den Charakter eines Traums und vormals Unbewusstes bricht ein in das Tagesbewusstsein: „du mir einzig bewusst, höchste Liebeslust“. Unbeschwerte ‚Flitterwochen‘, wie Gottfried sie den mittelalterlichen Liebenden bereitet, die für den Rest der Überfahrt ihre Liebe genießen dürfen, vergönnt Wagner seinen Liebenden nicht. In ihre Liebeseröffnung, die mit einer totalen Überflutung ihres Wachbewusstseins einhergeht, bricht der dramatische Auftritt Markes ein. Und wo im mittelalterlichen Epos das Liebespaar diesem bei der Landung gewappnet mit einem erstaunlichen Tableau von Lügen entgegentritt, der Austausch der jungfräulichen Brangäne mit Isolde in der Hochzeitsnacht bereits abgekartetes Spiel ist, sind Isolde und Tristan bei Wagner mehr oder minder handlungsunfähig, Isolde: „Muss ich leben?“ (798) und Tristan: „O Wonne voller Tücke! O truggeweihtes Glücke!“ (800/01). Diese Art von hilfloser Selbstentblößung zeigt das mittelalterliche Paar nie! Isolde und Tristan Ich komme nun zum zweiten Aufzug. Dieser hebt damit an, dass Brangäne vergeblich versucht, Isolde davor zu bewahren, in eine Falle zu tappen und Tristan zu empfangen, während die Hofgesellschaft auf einer Jagd ist. Isolde aber beruft

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sich emphatisch auf Frau Minne, die des „Todes Werk“ so nachhaltig gewendet hätte, zu diesem Zeitpunkt freilich noch nicht ahnend, dass Tristan in Kürze willentlich in Melots Schwert laufen wird. Sie gibt das verabredete Zeichen und löscht das Licht. Die Tag-und-Nacht-Reflexionen im folgenden Liebesduett zwischen einem „bösen Tag“ (1081/82) und dem liebesfreundlichen „Wonnereich der Nacht“ (1191) gemahnen an die Nachtbegeisterung der Romantiker mit Anleihen bei Novalis (Hymnen an die Nacht) und Schlegel (Lucinde). Mediävisten mögen darin aber auch tragende Elemente des Tagelieds wiederfinden. Hier dürfen die Liebenden ihrem Begehren nur in der Nacht nachkommen, während das Anbrechen des Tages sie unwiderruflich auseinandertreibt. Wächterfiguren künden das Morgengrauen als Gefahr an. Eine Grenzen setzende Struktur wird im Tagelied gänzlich nach außen projiziert und lässt die Liebenden sich umso leidenschaftlicher einander hingeben. In Wagners Oper ist die Wächterin Brangäne, wenn sie ruft: „Habet acht! Habet acht! Bald entweicht die Nacht“ (1306–08). Das große Liebesduett steigert sich dann ekstatisch und beschwört einen gemeinsamen Liebestod, der die Liebeseinheit verewigen und beider Identitäten endgültig miteinander verschmelzen soll. Diese „höchste Liebes-Lust“ (1460), die wir uns sexuell oder spirituell vorstellen können, findet allerdings jäh zu ihrem Ende mit dem Einfall von Marke und Melot. Melot zeigt Genugtuung, seinem Herrn endlich den Betrug Tristans vorführen zu können, und Marke klagt in tiefem Bass Tristan des Verrats seiner Freundschaft an. Tristan, Abschied nehmend, holt sich die Versicherung Isoldes ein, ihm folgen zu wollen, verkündet, dass es Melot gewesen sei, der ihn seinerzeit dazu angestiftet habe, für Marke um Isolde zu werben, und greift Melot an, um dann willentlich in dessen Schwert zu laufen. Eine vergleichbare Szene, in der Marke die Liebenden gemeinsam mit einem Höfling in flagranti überführt, gibt es bei Gottfried nicht. Dort sind es entweder nur Marke oder nur die Höflinge, die das Liebespaar entdecken, womit eine quasi rechtsverbindliche Gegenüberstellung bis zum Ende nicht stattfindet und eine vage Unbestimmtheit nie gänzlich ausgeräumt wird. Entsprechend kommt es nie zu einem vergleichbaren Vorwurf Markes an Tristan. Wagner aber löst diese ursprüngliche Triade, wie sie für das mittelhochdeutsche Epos charakteristisch ist, auf und überführt sie in widerstreitende dyadische Beziehungen, in deren Zentrum Tristan steht. Tristan wird in der Oper als vorerst unsichtbarer Adressat Isoldes eingeführt, die heftigste Vorwürfe angesichts des Verrats eines zwar unausgesprochenen, aber dennoch unleugbaren liebenden Einvernehmens an ihn heranträgt. Tristan nimmt diese Vorwürfe an, wenn er zunächst den Tod durch Isoldes Schwertstreich sucht und dann einen Trank zu sich nimmt, dessen beabsichtigte Wirkung ihm nicht verborgen geblieben ist. Der Liebestrank zieht Tristan, der zuvor Isolde floh, dann allerdings unwiderruflich in ihren

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Bann. Marke trägt nun, in symmetrischer Wiederholung, ähnliche Vorwürfe wie Isolde an Tristan heran. Er bezichtigt ihn seinerseits des Verrats. Wiederum beugt sich Tristan dieser Anklage, er nimmt Abschied, provoziert aber vorher noch eine tödliche Verwundung. Wagner erschafft damit eine Tristan-Figur, der keine personale Struktur außerhalb ihrer Bindungen an Marke einerseits und Isolde andererseits zukommt und die in dem Konflikt zwischen zwei widerstreitenden Treueansprüchen nicht anders kann, als in einem nachgerade verzweifelten Unterwerfungsgestus die Selbstauslöschung zu suchen. Ein identitätsloser Tristan fällt von der Untreue gegenüber seiner Geliebten machtlos in die Untreue gegenüber seinem König, dem Sog des jeweils Gegenwärtigen erliegend – und sucht dafür die Selbstbestrafung. Und erstaunlicherweise negiert Tristan am Ende des zweiten Akts den gerade noch beschworenen lustvollen Liebestod mit Isolde, wenn er sofort im Anschluss den Opfertod in heroischer Vereinzelung sucht. Der Tod im ‚Tristan‘, das lernen wir, trägt unterschiedliche Gesichter, ein liebendes weibliches, das die Gemeinsamkeit, und ein männliches, das die Vereinzelung anstrebt. Zwischen beiden Gesichtern aber kommt es auch zu Überblendungen, so, wenn Tristan sich vor der Auseinandersetzung mit Melot noch bei Isolde versichert, dass sie ihm nachfolgen werde – in das nächtige Dunkel, „daraus die Mutter einst mich sandt‘“ (1609/10). Tristan War der erste Aufzug der Isoldes, der zweite Aufzug der beider Liebender, so gehört der letzte Aufzug Tristan. Dieser befindet sich schwer verletzt zusammen mit einem Hirten und Kurwenal auf heimischem Boden in Kareol. Man erwartet die Ankunft der „Ärztin“ (1666) Isolde. Tristan taucht langsam erwachend auf aus einer Welt des Unbewussten, einem „Reich der Welten Nacht“ (1758) und des „Ur-Vergessens“ (1762), wie es heißt. Neuerlich ans Licht des Tages treibt ihn eine verzehrende Sehnsucht nach Isolde. Isoldes Trank erinnert er als „Gifttrank“ (1961), der ihn zu „ew’ger Qual“ (1968) verdamme, diesen gleichwohl als selbstgebraut erkennend, als Produkt eines väterlichen und mütterlichen Erbes und eigener „Liebestränen“ (2001). Als solchen verflucht er den Trank und sich selbst, wobei Selbsterkenntnis und größtmögliche Selbstentfremdung hier Hand in Hand gehen. Auch hier bleibt noch einmal auf die gänzlich andere Welt des mittelalterlichen Romans zu verweisen, denn dort findet der Liebestrank durch die Liebenden kein einziges Mal mehr Erwähnung. Er hat seine Bedeutung neben der unmittelbaren Evidenz ihrer Liebe verloren. Schon kündigt sich dann im dritten Akt Isolde an, Tristan reißt sich in suizidaler Geste seinen Verband herunter, sieht sein Blut fließen und eilt im größten Taumel Isolde entgegen: „Wie, hör‘ ich das Licht?“ (2164). Isolde nennt Tristans

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Namen, Tristan den ihren und – stirbt. Fortan gehört die Szene wieder Isolde. Erneut sieht diese sich einer Liebesenttäuschung ausgesetzt. Herbeigeeilt, um eine Stunde mit ihrem Geliebten zu wachen und gemeinsam mit ihm zu sterben, klagt sie den Toten noch einmal an: „Trotziger Mann! Strafst du mich so mit härtestem Bann?“ (2210–12). Ein zweites Schiff landet mit Marke, Melot und Brangänge, die Marke über den Liebestrank und seine Wirkung aufgeklärt hat. Marke möchte die Liebenden vereinen, und wir erfahren bei dieser Gelegenheit, dass er nie mit Isolde die Ehe vollzogen hat (1556–59), aber er begegnet nur noch einem toten Tristan, Kurwenal und Melot strecken sich gegenseitig nieder. Isolde ist zwischenzeitlich entrückt im Anblick Tristans, den sie wie eine Christusgestalt erstrahlen sieht, und erlebt sich dann selbst sterbend lustvoll mit ihm vereint. Daran, dass hier am Ende eine triumphale Liebesvereinigung gefeiert wird, lassen Text und Musik keinen Zweifel. Und dennoch sterben hier zwei Liebende zwei unterschiedliche Tode. Tristan hat auf Isolde gewartet, nicht etwa um gemeinsam mit ihr zu leben oder zu sterben, sondern um von aller quälenden Sehnsucht befreit endlich sterben zu können – in der Vorstellung, mit seiner Geliebten eine neuerliche Liebesnacht teilen zu dürfen. In phantasmatischer Erfüllung aller seiner Wünsche entzieht er sich dabei zugleich ein letztes Mal Isoldes realen Erwartungen. Sie hält nur mehr einen Toten in den Armen, der sich aller Kommunikation entzieht. Aber hier macht Isolde noch einmal eine Umkehr mit, sie erlebt eine Art christologischer Auferstehung ihres toten Geliebten und mit dieser selbst eine orgiastisch-religiöse Verklärung. Vieles verbindet das Paar Isolde/Tristan dabei mit Wagners Brünnhilde und Siegfried. Auch Brünnhilde folgt Siegfried in den Tod und erhebt ihn posthum wieder zu ihrem idealischen Geliebten. Siegfried wiederum teilt mit Tristan eine gewisse Getriebenheit, die beide immer wieder zu Opfern von Umständen werden lässt. Beide Helden sind darin schuldig und unschuldig zugleich. Brünnhilde singt in ihrer Schlussarie: „Der Reinste war er, der mich verriet“ (1937/38), und Marke singt im letzten Aufzug des ‚Tristan‘: „Du treulos treuester Freund“ (2286). Im Vergleich mit Gottfried fällt für beide Tristan-Schöpfungen die Signifikanz einer Identitätsproblematik auf. Bereits in der mittelalterlichen Dichtung ist die Minnethematik mit einem genealogischen Defizit verknüpft. Seine Elternlosigkeit begründet Tristans außergewöhnliche Fähigkeiten, aber auch neuartige Abhängigkeiten wie die eigentümliche Bindung an seinen Onkel und Ersatzvater Marke und eine darauf aufbauende Bindung an Mutter und Tochter Isolde. Tristans Beziehungen tragen dabei die regressive Prägung von Vater- und Muttersuche als stets offenbleibende Suche nach nie erfahrener Beheimatung. In einem quasi-inzestuösen Beziehungsdreieck sucht er abwechselnd Anlehnung bei der gleichgeschlechtlich väterlichen und gegengeschlechtlich mütterlichen

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Seite. Zu einer eigentlichen Loslösung kommt er nicht und damit auch nicht zu einer im mittelalterlichen Sinne von Herrschaft eigenmächtigen Liebe. Er bleibt abhängig – zugleich aber auch als höfischer Ritter und Liebhaber überlegen. Auch Wagner verankert seinen Tristan als identitätsschwache Figur in einer Doppelbindung. Sein Tristan ist aber in ungleich stärkerem Maße mit moralischen Fehltritten und anhangenden Schuldgefühlen belastet, oder anders formuliert: Sein Über-Ich ist strenger. Wo die Liebenden des mittelalterlichen Romans noch, solange sie am Markehof verweilen, eins sind mit ihrem Begehren und das Böse außerhalb von ihnen zu verorten ist, tragen Wagners Protagonisten gesteigerte innere Ambivalenzen aus, Flüche und Sehnsüchte richten sich auf das jeweils gleiche Objekt. Während Isolde sich dabei nach Einnahme des Minnetranks aber durchgängig zu ihrer Liebe bekennt, gibt es einen solchen festen Boden für die Liebe Tristans nicht. Tristan wird zwischen Loyalitätsbindungen an Marke und seiner Liebe zu Isolde hin- und hergeworfen, beide tragen gleichermaßen das Stigma einer regressiven Selbstauslieferung, die ihn zugleich in die Vereinzelung treibt. In der Überreiztheit seines finalen Liebeswahns ist Tristan ein Grenzgänger, und es mag uns nicht wundernehmen, dass einen gleichermaßen sensiblen wie psychisch labilen Nietzsche der Blick in einen solchen Spiegel erschüttert haben mag. Der lange währende Tod Tristans und Isoldes zeigt am Ende eine Täterund eine Opferseite: ‚aus Liebe töten‘ und ‚aus Liebe sterben wollen‘. Isolde will anfänglich Tristan aus enttäuschter Liebe töten und sich mit ihm. Tristan wiederum will von Beginn an sterben. Er macht dazu gleich mehrere Anläufe und sucht in heroischer Manier den Tod als Ausweg aus einem für ihn nicht zu bewältigenden Treuekonflikt. Isolde wird ihm folgen, weil sie ohne Tristan nicht leben kann und will. Eine lustvolle körperlich-seelische Entgrenzung geht dabei im gesamten Werk ein unentwirrbares Konglomerat mit masochistischen Unterwerfungsgebärden, Machtphantasien und realitätsflüchtigen Jenseitsphantasmen ein. Am Ende steht über einem inhaltlich wie musikalisch von Dissonanzen geprägten Werk die irritierende Gleichung von Begehren und Töten, Begehrtwerden und Getötetwerden. Wagner, das bleibt zum Schluss noch einmal zu erwähnen, kommt das Verdienst zu, dem Tristan-Stoff die nach Gottfrieds Roman gültigste künstlerische Gestaltung gegeben und in das Medium der Oper transponiert zu haben. Der Tristan-Mythos verhandelt dabei, in der Neuzeit nicht anders als im Mittelalter, eine Dialektik von Bewusstem und Unbewusstem, von rationaler Kontrolle und nicht kontrollierbaren Trieben. Anders als für die mittelalterlichen Protagonisten, denen alle Hemmnisse als äußere Projektionen entgegentreten, aber atmet die Selbstreflexivität der Protagonisten Wagners den Geist des 19. Jahrhunderts. Sie erinnern sich, deuten, verhöhnen und klagen an. Damit wird aber auch die

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bei aller Schicksalhaftigkeit noch vergleichsweise leichtfüßige Minnebeziehung des mittelalterlichen Paars in eine schwerfällige Dichotomie von Liebeszwang und Erlösungstod überführt. Das neuzeitliche Paar leidet primär unter dem Säurebad seiner Reflexionen, von dem die Regression der Sexualität oder des Todes Erlösung verspricht. Der Liebestod auf der Opernbühne ist schließlich Opfertod und Auferstehung zugleich, und der Zuhörer darf nach einem Blick in den schwindelerregenden Abgrund der ‚Geburt von Kunst aus dem Geist der Regression‘ auf den Schwingen der Musik einen Blick in den Himmel tun. Der ‚Tristan‘ ist in der Tat „furchtbar“, aber auch furchtbar schön, Entzauberung und Apotheose von Liebe in einem. Literatur Gottfried von Straßburg: Tristan. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdt. übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, Bd. 1. 2. 3., Stuttgart 1993. Wagner, Richard: Tristan und Isolde. Textbuch mit Varianten der Partitur, hg. von Egon Voss, Stuttgart 2003. Wagner, Richard: Der Ring des Nibelungen. Dritter Tag: Götterdämmerung. Textbuch mit Varianten der Partitur, hg. von Egon Voss, Stuttgart 1997. Wagner, Richard: Richard Wagner an Mathilde und Otto Wesendonck. Tagebuchblätter und Briefe, hg. von Julius Kapp, Leipzig 1915, hier: S. 185 (Brief von 1859).

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6.2 Liebe und Verrat Richard Wagners ‚Götterdämmerung‘

Felsen und Felsformationen sind in Wagners ‚Ring‘ allgegenwärtig, ob als Felsenriffe am Grunde des Rheins, in dem zerklüfteten Erdinnern, wo die Nibelungen hausen, oder als ufersäumende felsige Anhöhen. Auch Walhall ragt als Krone eines Felsengipfels in den Himmel. Fast möchte man meinen, dass die allgegenwärtige Schroffheit der Felsen für die Schroffheit zerklüfteter Seelenlandschaften steht, an denen die Protagonisten sich aufschürfen. Wilde felsige Landschaften aus Stein stehen allerdings auch für eine trutzige Dauer, welche die Hinfälligkeit der Figuren überragt. Vor einem Felsenberge, dem Walkürenfelsen, nimmt auch der letzte Tag des ‚Rings‘ seinen Anfang. Jener Fels gibt den Hintergrund ab für die drei Nornen, die mit dem Spinnen und Spannen der Schicksalsseile beschäftigt sind. Ein solches goldenes Seil einander zuwerfend und an Baumzweigen oder Felsvorsprüngen festmachend, singen sie von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und lassen die Taten Wotans Revue passieren. Die Nornen erschaffen das Schicksal zwar nicht, aber sie verleihen ihm im spinnenden Erinnern und singenden Erzählen Evidenz und Kontur. Und während sie ihr besonderes Wissen singend offenbaren, wird das Seil gleichsam zu einem Netzwerk verflochten. Rückblickender und ahnender Deutung kommt dabei die Funktion weiblich-mütterlichen Bindens und Sinnstiftens zu. Aber just bei diesem Geschäft reißt den Nornen das Seil, das unter anderem an einer Felskante festgemacht wurde. Diese ist scharf und unnachgiebig, sie beschädigt das Seil – das Seil, ein dramatischer Vorgang, reißt. Und dieser Riss fällt zusammen mit der Erzählung vom zerbrochenen Speer des gleichermaßen unnachgiebigen Wotan. Der Zuschauer weiß, dass es Siegfried war, der als Enkelsohn den symbolischen Vatermord an Wotan vollzogen und damit gleichzeitig dessen Sohnesmord an Siegmund gerächt hatte. Wotan, der in seinem phallischen Selbstverständnis getroffene Vatergott, habe diese Entmachtung umgehend damit beantwortet, dass er die ohnehin kränkelnde Weltesche, aus der er einst seinen Speer geschnitten hatte, habe fällen lassen – so die zweite Norne. Die dritte Norne sieht nunmehr voraus, wie ihn das Feuer der rings um Walhall aufgehäuften Scheiterhaufen der Weltesche umlodert. Wotan, der ‚Untergeher‘, mit einem Seitenblick auf Thomas Bernhard, wird also eine verblichene Macht nie loslassen, ebenso wenig wie die Bruchstücke seines Speers. Der bereits von der Bühne abgetretene Gott hat sich, wie wir hören, hinter der

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ihm einzig verbliebenen Macht, der zum Untergang, verschanzt. Wo aber die Welt solchermaßen ihre eigene Zerstörung betreibt, wo statt in weiblicher Weise gebunden, männlich gefällt und zerschlagen wird, fliehen die erschrockenen Nornen in den sicheren Schoß des Erdinnern zurück – mit der einmütigen Losung „Hinab, zur Mutter, hinab!“ (148). Über der Erde tobt ein männlich dominierter Machtkampf und unter der Erde wartet ein regressiver mütterlicher Schoß. Nachdem die Nornen sich wieder in eine Sphäre der Dunkelheit und des Unbewussten zurückgezogen haben, tritt nun das Paar Brünnhilde und Siegfried aus dem dunklen Steingemach der Liebe wieder ans Tageslicht. Eine ekstatische Liebesvereinigung liegt hinter ihnen, die Trennung steht bevor, aber diese wird vorerst eingeholt in das Phantasma einer grandiosen Liebeseinheit. Brünnhilde erhält, nachdem sie all ihre jungfräuliche Walkürenkraft aufgegeben hat, von Siegfried den Ring als Liebespfand. Siegfried wiederum gibt kund, dass er sich nur mehr noch als Brünnhildes Arm betrachte. Brünnhilde schenkt ihm ihr Ross Grane und ein machtvoll-grandioses mehrfaches „Heil“ (255) besiegelt den Identitätentausch und ein verschmelzungsseliges Allmachtsgefühl. Um dieses Phantasma zu zerstören, hätte es weniger bedurft als des kaum mehr zu überbietenden Verrats Siegfrieds. Denn nach einem Gesetz des Lebens wie der Oper, werden regressive Phantasmen erlebt und inszeniert, um wieder zerstört zu werden. Dass ein Siegfried, der ganz von dem männlich-erotischen Wunsch nach dem Besitz seiner Mutter beziehungsweise einer Nachfolgerin derselben getrieben ist, diese glückhaft gefundene Frau wieder aufgeben muss, ist Teil des Spiels zwischen den Geschlechtern. Denn ein Mann stellt von jeher seine Männlichkeit in der Trennung unter Beweis. Der zurückbleibenden Frau dann ein Ersatzobjekt seiner selbst, ein Kind oder in unserem Fall: einen Ring, zu hinterlassen, entspricht ebenfalls einem bekannten Muster. Siegfried schwingt sich also auf dem Rücken Granes, dem veräußerten männlichen Anteil Brünnhildes, auf zu neuen Heldentaten. Brünnhilde, der vormaligen Walküre, die einst mit Grane durch die Lüfte ritt, bleibt nur mehr der weniger rühmliche Part des Wartens und Sehnens. Gemeinschaft kann ihr nur mehr ein Substitut bieten, der Ring. Dass es einer Befreiung gleichkäme, sich dieses Objekts zu entledigen, nicht nur für Wotan und die Welt, wie Waltraute es von ihr fordert, sondern auch für sie selbst, ist einsichtig. Aber die Brünnhilde Wagners, aus einer germanischen Sagenwelt entlehnt, gibt, nicht anders als eine bürgerliche Ehefrau, ihren erworbenen Besitzstand ungern auf. Der Besitz tritt als Fetisch an die Stelle des abwesenden Geliebten. Er ersetzt diesen und macht gleichzeitig den Geliebten zum Besitz. Entsprechend ist der Ring als Liebespfand auch in der Hand Brünnhildes ein Symbol der Macht. Auch ihr wird der Ring zum Medium narzisstischer Selbstbespiegelung. Wo die Männer sich im Glanz des Goldes Vorstellungen von eigener Macht hingeben, findet Brünnhilde in ihm

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die Grandiosität des Paares Siegfried/Brünnhilde gespiegelt, in das hinein sie sich gänzlich entäußert hat. Einst hatten Fasolt und Fafner den Ring eingefordert, um damit eine Ritze zu schließen, durch die noch der wärmende Blick der lebenspendenden Freia zu ihnen drang. Mit dem Ring, der die Lücke schloss, aber erlosch auch der Glanz von Freias Augen hinter dem kalten Glanz des Metalls, das seinem Besitzer nichts anderes mehr als dessen eigene Allmachtsphantasien widerzuspiegeln vermag. Der Fluch Alberichs jedoch, der auf dem Ring lastet, fällt für Brünnhilde zusammen mit einem vorgezeichneten Schicksal als Tochter Wotans. Als eine solche zärtlich geliebte Vatertochter in Abwesenheit einer fernen Mutter erlebte sie sich in bergender Einheit mit ihm als dessen eigener Wille und als töchterliche Vollstreckerin seiner Wünsche. Aus diesem bevorzugten Status einer jungfräulichen Walküre, die in der Gunst ihres Vatergottes steht, stürzt sie jäh, als sie Siegmund und Sieglinde gegen Wotans Willen schützt und damit das Gesetz des Vaters bricht. Wotan wiederum, dem Gesetz mehr verpflichtet als der Liebe zur Tochter, bleibt nichts anderes übrig, als seine geliebte Tochter zu verstoßen, in einem brutalen Gewaltakt, der sich kaum minder gegen ihn selbst als gegen sie richtet: Er macht sich anheischig, sie dem nächstbesten Mann zu dessen willkürlicher Verfügung zu überlassen. Zwar kann Brünnhilde dieses entsetzliche Unheil gerade noch abwehren, und sie wird am Ende immerhin von Siegfried aus dem Schlaf erweckt – Wotans töchterlicher Besitz bleibt allerdings im Weiterreichen von Vater zu Enkelsohn sozusagen in der Familie, und für Brünnhilde lebt in ihrer Liebe zu Siegfried eine alte Liebeseinheit zwischen Vater und Tochter fort. In der gefeierten Besonderheit der inzestuösen Beziehungen im Ring, sei es in der Nähe zwischen den Geschwistern Siegmund und Sieglinde, zwischen dem Vater Wotan und seiner Tochter Brünnhilde, zwischen Siegfried und Brünnhilde als Abkömmlingen der gleichen väterlichen Linie oder auch Wotan und Erda, dem Vatergott und seiner Urmutter, rundet sich ein latentes Allmachtsphantasma. Vor diesem Hintergrund aber fehlt im gesamten RingZyklus der Raum für etwas, das mit dem Signum der Abwesenheit belegt ist: Liebe, oder mehr noch: Liebe als Austausch. Stattdessen gibt eine hermetisch geschlossene Verwandtschaftsstruktur die Matrix vor, auf der Machtstreben und Unterwerfungsbereitschaft vereinzelter Protagonisten in Szene gesetzt werden. Diese befinden sich immer schon in einer patriarchal regulierten Position der Über- oder Unterordnung, der nicht zu entkommen ist, weder als Tochter noch als Sohn, Bruder oder Schwester. Es sei nur daran erinnert, dass sich Siegmund, so er Sieglinde nicht behalten könne, immerhin das Recht anmaßt, sie zu töten. Inzestuöse Beziehungen stehen solchermaßen nicht nur für einen erotischen Stimulus, sondern auch für Vereinnahmung, um nicht zu sagen: Macht. Sie

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tragen die gefahrvolle Doppelgesichtigkeit ödipalen Begehrens zwischen Lust und Zerstörung. Die explizit mit dem ‚Ring‘ verknüpfte Machtthematik wiederholt sich damit implizit noch einmal auf der Ebene inzestuöser Liebesbeziehungen, womit die Gesamtkonzeption des ‚Rings‘ den Protagonisten letztlich keinen Ausweg lässt. * Sitzt Brünnhilde auf ihrem Felsen nun gleichsam schon bei Siegfrieds Aufbruch in der Falle, so wird sie ungleich später durch die Machenschaften der Gibichungen einem perfiden Liebesverrat ausgesetzt, der in der Rezeption des Nibelungenstoffs seinesgleichen sucht. Wagner nimmt hier eine Mythenmontage vor, in der alte Sagenelemente und das mittelhochdeutsche ‚Nibelungenlied‘ so ineinander geschachtelt werden, dass Brünnhilde in einer Art und Weise zum Objekt eines Frauenhandels gemacht wird, die eine Frau das Fürchten lehren mag. Es geht um nicht weniger als Zuhälterei und Zwangsverheiratung. Doch schauen wir zunächst auf den Ort des Geschehens. Dabei ist die Halle der Gibichungen der erste Ort in der Ring-Oper, der mit den Insignien einer höfischen Kultur ausgestattet ist. Hochsitze, Trinkgeräte und ein Teppich markieren eine Gegenwelt zu Höhle, Hütte oder Steingemach. Zugleich ist die Halle laut Anweisung für das Bühnenbild jedoch nach einer Seite hin offen zum Rhein, dieser ist wiederum mit felsigen Anhöhen gesäumt. Natur und Kultur stehen in einem offenen Wechselbezug miteinander. Wagners Siegfried betritt nun ähnlich hitzköpfig wie der Siegfried des ‚Nibelungenliedes‘ fremdes Terrain. Wie im ‚Nibelungenlied‘ fordert er den König als Erstes zum Kampf heraus, und auch hier wird er von Hagen erkannt und identifiziert und von Gunther mit einem großzügigen Teilungsangebot all seiner Güter geschickt in den Herrschaftsapparat eingebunden. Siegfried steht hier wie dort, im mittelhochdeutschen Epos wie in der Oper des 19. Jahrhunderts, im Banne einer fremden Macht. Bei Wagner ist das Spiel allerdings schon abgekartet, bevor Siegfried den Boden der Halle betritt. Ein Begrüßungstrunk tut sein Übriges, den Siegfried noch in Erinnerung an Brünnhilde ergreift und in ihrem gänzlichen Vergessen absetzt. Der Trank symbolisiert die restlose Übermächtigung Siegfrieds durch eine verlockende fremde Welt. Wo er sich kurz vorher noch als Arm Brünnhildes erlebt hat, lässt er sich nun gleichsam zum verlängerten Arm Hagens machen – der seinerseits wieder von Alberich gesteuert wird. Gunther und Siegfried trinken Blutsbrüderschaft, und die erotische Anziehung Gutrunes vermischt sich für Siegfried mit der Attraktion des Männerbündnisses. Wenn Siegfried aber nun sein Angebot einbringt, eine ferne Brünnhilde, die auf einem Felsen, umzingelt von einer Feuerlohe, ausharre, für Gunther überwinden zu wollen, dann verschärft Wagner den sich vollziehenden Verrat im

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Vergleich mit seinen Vorlagen erheblich. Denn im ‚Nibelungenlied‘ ist allenfalls eine sehr vage Ahnung von einer fernen Bekanntschaft Siegfrieds mit Brünhild präsent, im Alten Sigurdlied der Edda gibt es eine solche ebenfalls nicht und in der Völsunga Saga geben sich Brynhild und Sigurd lediglich das Versprechen, einander angehören zu wollen. Die Kombination von einem betrügerischen Männerpakt einerseits und einer leidenschaftlichen Liebe mit dem Gefühlspathos des 19. Jahrhunderts andererseits sowie einer zwangsweisen Übergabe der vormals geliebten Frau an einen fremden Mann ist in dieser Form eine Schöpfung Wagners. So schlecht kommt Siegfried sonst nirgends weg. Und so tief ist der Fall Brünnhildes auch nirgendwo sonst als in der ganz normalen Infamie einer Beziehungswelt, die der bürgerlichen nachempfunden ist. Der Wagner’sche Siegfried macht nun gleich ein doppeltes Geschäft. Indem er Brünnhilde an Gunther verkauft, streicht er als Gewinn den Besitz einer neuen, momentan attraktiveren Frau ein und entledigt sich gleichzeitig der alten. Diese braucht ihm sozusagen kein schlechtes Gewissen mehr zu machen – kommt ihr doch, von außen betrachtet, gleichsam auch ein respektabler Neuer zu. Einer Doppelhochzeit unter männlicher Dominanz steht nun nichts mehr im Wege. Während Siegfried also schon mit Brünnhildes Verrat beschäftigt ist, verteidigt diese noch nichtsahnend den Besitz des Rings gegenüber Waltraute. Diese überbringt die Botschaft, dass Wotan, der sich wohlgemerkt selbst an die Bruchstücke seines Speers klammert, verkündet habe, Brünnhilde könne das große Erlösungswerk vollbringen, indem sie den Ring den Rheintöchtern zurückgebe. Brünnhilde aber verweigert dies heftig und Waltraute blickt verständnislos auf den Liebestaumel ihrer Schwester. Nur allzu bald aber lernt Brünnhilde mit dem Auftauchen eines fremden und gleichzeitig irritierend vertrauten Mannes begreifen, dass Wotans einst über ihr verhängter „Hohn und Jammer“ (806), wie es heißt, sich nun erfüllen wird. Siegfried erweist sich so doch noch als Erfüllungsgehilfe und Vollstrecker von Wotans Abstrafung der abgefallenen Walkürentochter. Er wandelt offenbar unbewusst in den Fußstapfen seines Großvaters. Den Ring, den Brünnhilde an ihrer Hand gleichsam als Abwehrzauber auf dem Walkürenfelsen beschwörend vorstreckt, in illusorischer Verkennung einer Realität, die längst über ihr Liebesphantasma hinweggerollt ist, reißt Siegfried ihr schließlich nach siegreichem Kampf gewaltsam vom Finger. Er tut dies unter der Tarnkappe vorgeblich als Gunther. Aber für Siegfried meint dieser Gestus doch wohl nichts anderes, als dass er sich einen Ring, den er als sein Eigentum betrachtet und allenfalls nach Maßgabe eigener Willkür zu teilen bereit war, selbstherrlich wieder aneignet. Nach seinem Pakt in der Halle der Gibichungen gibt der vormalige Drachentöter das Beispiel eines gefühllosen, fremdgesteuerten Mannes ab, der selbst zum Drachen geworden ist. Zwischen Liebe und Macht gibt es für ihn keinen Unterschied mehr.

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Wotan und Siegfried agieren dabei als zutiefst Bindungs- und im Falle Siegfrieds: Erinnerungslose, die, selbst ungebunden, nur andere binden. Diese bindungslose Welt ist im ‚Ring‘ zugleich eine Welt der Mutterlosigkeit. Alle Protagonisten stehen in einem primären Bezug zu ihren Vätern oder Brüdern, so Hagen zu seinem Vater Alberich, Mime zu seinem Bruder Alberich, Siegmund und Sieglinde zu ihrem Vater Wotan, Brünnhilde und die übrigen Walküren zu Wotan als ihrem Vater, Siegfried zu seinem Ziehvater Mime und seinem Großvater Wotan, Gutrune zu ihrem Bruder Gunther. Fricka, die Gattin Wotans, ist kinderlos wie ihre Schwester Freia. Diese ist ebenfalls, wie Brünnhilde, ein Objekt des Tauschs zwischen Männern. Erda, die Urmutter, und die Nornen sind weitgehend in einen Bereich des unterirdisch Unbewussten abgedrängt. Mütter sind entweder, wie die Siegmunds und Sieglindes, unbekannt, tot wie Sieglinde als die Mutter Siegfrieds oder, wie Erda, die Mutter Brünnhildes, abwesend. So wie die Liebe im Ring mit dem Zeichen der Abwesenheit belegt ist, sind es auch die Mütter. Die Männer wiederum sind, wenn man so will, schlechte Mütter. Das bleibt von Mime für Siegfried und wohl auch von Wotan für Brünnhilde zu sagen. Sie schmieden Gold zu Ringen, bauen Götterburgen und sind überhaupt mit allerlei bedeutsamen Machenschaften beschäftigt, die sie in einem Netz von Rivalitäten gefangen halten. Der Ring als Instrument der Macht kursiert dabei als Substitut für eine abwesende Liebe. Auch Brünnhildes Hingabe, die Siegfried immerhin in die gefeierte Berührung mit einem abwesenden und ersehnten Mütterlichen bringt, bleibt dabei töchterlich gebunden. Noch im Disput mit Waltraute hofft sie auf die Wiederaufnahme in die Gunst Wotans. Wagners Ring-Oper aber wäre wohl kaum ein solcher Erfolg beschieden, wenn Brünnhilde nur abhängige Kindfrau und nicht auch machtvolle Streiterin wäre. In dieser Kombination besitzt die Rolle eine außerordentliche Strahlkraft und kommt ihr, im Rahmen des ‚Rings‘, wohl das größte Charisma zu. Dabei ist es aber nicht allein Brünnhildes Liebe, sondern kaum weniger ihre furiose narzisstische Wut, die, zumindest für den Zuschauer, eine Erlösung darstellt – schenkt diese ihm doch die ersehnte Genugtuung für das miterlittene Unrecht. Eine erniedrigte und gedemütigte Brünnhilde, in der Halle der Gibichungen gelähmt auf das Paar Siegfried und Gutrune starrend, entdeckt nun in dem Moment ihre Walkürenkraft wieder, als sie des Rings an Siegfrieds Hand gewahr wird – und damit das ganze Ausmaß der Intrige zu ermessen beginnt. Für einen solch grandiosen Betrug schreit sie nach ultimativer Rache. Und ganz im Sinne der Stofftradition pariert die Geknechtete mit einem gezielten Gegenschlag. Als ihr klar wird, dass ihre eigene Kränkung in dieser Männerrunde nichts, aber auch gar nichts zählt, dreht sie den Spieß um. Die mit allem Nachdruck vorgebrachte falsche Behauptung, Siegfried hätte Gunther bei seinem zweiten Besuch

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mit ihr betrogen, lässt das ganze hehre Männerbündnis einstürzen. Siegfried steht auf einmal als Treubrüchiger da und an Gunther klebt fortan die Schande. Brünnhilde nimmt den klassischen Part der weiblichen Liebenden ein, die, vormals ganz liebender Bindung ergeben, ihre Verletzung nunmehr mit dem entschiedenen Willen zur Zerstörung derselben beantwortet. Den Frauen kommt mit der Kraft des Bindens eben auch die Kraft des Trennens zu. Brünnhilde will nur noch Siegfrieds Tod, als Sühnetod für alle. Gemeinsam mit Hagen schmiedet sie ein offenes Komplott, von dem Hagen auch Gunther zu überzeugen weiß mit den Worten: „Dir hilft kein Hirn, dir hilft keine Hand: dir hilft nur – Siegfrieds Tod!“ (1388–90). Gunther und Brünnhilde rufen noch Wotan an, Hagen seinen eigenen väterlichen Gegengott Alberich. * Der Beginn des letzten Aufzugs der ‚Götterdämmerung‘ spielt, laut Bühnenanweisung, in einem „wilden Wald- und Felsental am Rheine“. Gleichsam als Walküren der Unterwelt tummeln sich dort die drei Rheintöchter und erwarten „des Vaters Gold“ (1475) von dem Lichthelden Siegfried zurück. Siegfried verirrt sich auf einer Jagd dorthin, sie necken und umzirzen ihn wie einst Alberich und fordern den Ring zurück. Siegfried verweigert ihnen diesen jedoch, und als er ihn schlussendlich doch preisgeben will, sind es nun die Rheintöchter, die ihn ablehnen und auf den Fluch verweisen, den er erst noch zu erraten habe. Noch als Zurückgewiesener aber lässt Siegfried selbstgefällig den Blick des Frauenhelden auf den schönen Nixen ruhen, sich gerade noch, wo nicht seiner vorletzten, so doch immerhin seiner letzten Eroberung, Gutrunes, erinnernd, der er fürs Erste treu zu bleiben sich vornimmt. Siegfried hat sich, wie es den Anschein hat, gegen eine Frauenwelt, die ihn einst das Fürchten lehrte, erfolgreich immunisiert – indem er sie seiner angemaßten Verfügungsgewalt unterwirft. Dann tauchen, in Erfüllung der Prophezeiung der Rheintöchter, die Jagdgesellen Gunther und Hagen auf. Hagen lässt durchblicken, dass ein schwermütiger Gunther nicht glücklich in seiner Ehe ist. Hagen schenkt einen Trank ein, Siegfried ergreift ihn in üblicher Hochstimmung und schickt sich an, einem verzagten Gunther zum Vorbild Heldentaten aus seinem Leben darzubieten. Er singt von seiner Jugend, der Tötung des Drachen und der Mimes. Bevor er fortfährt, mischt Hagen ihm noch ein Kraut in sein Trinkhorn und Siegfried erinnert sich nun auch wieder, wie er Brünnhilde einst aus ihrem Schlaf erweckte und welch ein Zauber mit dieser ersten Liebesbegegnung verbunden war. Und genau in diese Erinnerung hinein sticht Hagen ihm den Speer in den Rücken. Sterbend geht Siegfried damit wieder ein in eine phantasmatische Liebeseinheit. Sein Blutsbruder Gunther neigt sich schmerzerfüllt über ihn, ein einsamer Hagen schreitet davon. Siegfried stirbt also in Wagners Musikdrama genauso unbedarft und grandios, wie er gelebt hat. Er weiß nicht, warum er sterben muss, aber sterbend kommt er

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gleichsam wieder zu sich selbst. Die Wahrheit ist, nach Maßgabe dessen, dass er am Ende mit der falschen Frau verheiratet ist und die richtige verspielt hat, wohl nicht von ungefähr tödlich. Siegfried stirbt gleichzeitig als großer Liebender und großer Verräter – allerdings ohne Unrechtsbewusstsein. Über eine entsprechende Distanz zu sich selbst verfügt diese Figur nicht. Eine solche ist gleichsam in einen entschieden reflektierteren Hagen hineinverlegt. Dieser wiederum legt als Täter mit der eigenen Verschlagenheit zugleich die Verschlagenheit seines Opfers frei. Mit dem Tod Siegfrieds rundet sich schließlich eine männliche Heldenexistenz, die sterbend wieder in den mütterlichen Schoß zurückkehrt. Der große Lichtheld und Erwecker geht wieder ein in Dunkelheit und Unbewusstheit. Die letzte Szene spielt noch einmal in der Halle der Gibichungen, dem kultivierten Ort der Unkultur, an dem der große Verrat geplant wurde. Der Trauerzug mit Siegfried nähert sich. Trotzig bekennt sich Hagen vor Gutrune zu seiner Tat und fordert als ewig Zurückstehender endlich den Ring der Macht ein. Gunther erhebt ebenfalls Ansprüche und wird von einem Schwertstreich Hagens niedergestreckt. Als Hagen jedoch nach dem Ring an der Hand des Toten greift, erhebt sich drohend dessen Arm. Brünnhilde wiederum, die große Rächerin, findet im Anblick des toten Geliebten, der nun wieder ganz ihr zu gehören scheint, endlich ihren Frieden, sie belobigt erneut den „hehrsten Helden“ (1902) und befiehlt, Scheiterhaufen aufzuschichten. Auch ihre Lüge deckt sie jetzt auf und verkündet, dass Siegfried die Freundestreue nie gebrochen habe. Mit Blick nach oben macht sie noch den Göttervater für das ganze Unheil verantwortlich, bevor sie dann Siegfried den Ring vom Finger zieht, ihn sich selbst überstreift, auf dass die Rheintöchter diesen, vom Feuer gereinigt, wieder an sich nähmen. Sie selbst legt das Feuer und „ihn zu umschlingen, umschlossen von ihm, in mächtigster Minne vermählt ihm zu sein!“ (2027–30) reitet Brünnhilde auf Grane in die Flammen, ihrem toten Siegfried entgegen. Hagen macht noch den Versuch, den Rheintöchtern den Ring abzuringen und wird von ihnen mit in die Tiefe gerissen. Am Ende sieht man die Rheintöchter mit dem Ring spielen, der Rhein tritt, wieder im Besitz des Goldes, zurück in sein Bett, die brennende Halle stürzt ein und auch Walhall geht am Horizont in Flammen auf. Die Naturelemente, so hat es fürs Erste den Anschein, triumphieren über eine Kultur, die sich selbst den Untergang bereitet hat. Die großen Vorreiter des Untergangs, Siegfried und Brünnhilde, sterben in diesem Szenarium getrennte Tode und sind dennoch im Tod vereint. So will es Wagner und so will es nicht zuletzt die Opernbühne. Gleichwohl lohnt ein Vergleich mit Wagners großem Gegenspieler Verdi und dem Schluss von ‚La Traviata‘. Auch hier findet ein Paar nach einer gescheiterten Liebe im Angesicht des Todes wieder zusammen, aber nicht nach Maßgabe einer Wiedervereinigung im Jenseits. Wo Wagner eine Differenz von Tod und Leben in einem ideellen

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Liebesentwurf einebnet und nivelliert, verleiht in Verdis Oper eine nicht hintergehbare Differenz von Leben und Tod dem Leben gerade seine sinnliche Intensität. Es erscheint kostbarer im Angesicht des Todes. Und die sterbende Violetta blickt nicht im Sinne einer endgültigen Vereinigung ins Jenseits, sondern bleibt in der Imagination für das Glück ihres Geliebten dem Diesseits zutiefst verhaftet. Leben, Lust und Liebe gehören zusammen und werden durch die schmerzhafte Präsenz des Todes nur erhöht. Welche Kultur und Musikkultur sich stärker dem sinnlichen Genuss, welche sich stärker ideellen Entwürfen verpflichtet sieht, bedarf hier keiner Kommentierung. Das Jenseitsphantasma Brünnhildes in Wagners ‚Ring‘ mit einem neuerlich idealisierten Siegfried an ihrer Seite aber stellt bei genauerem Hinsehen den programmatischen Entwurf einer Götterdämmerung als Untergang einer alten und Aufscheinen einer neuen Welt entschieden in Frage. Eine notwendige Katharsis findet eben nicht statt, denn um diese möglich sein zu lassen, bedarf es stets des offenen Blicks auf eine vollzogene Zerstörung. Ein solch gnadenloser Blick ist etwa dem mittelhochdeutschen ‚Nibelungenlied‘ eigen, und auch dort, wo Feuersbrünste in der Edda ein Rachewerk vollenden, liegt die Kraft des Wandels in der Zerstörung selbst. Dahinter fällt der Blick nicht. Mit Brünnhildes posthumer Idealisierung ihres Liebesobjekts aber liefert Wagner nicht nur ein Opiat der Erbauung, sondern er hält auch das Bild eines mächtigen umschlingenden Weiblichen aufrecht. Noch vor Siegfrieds Geburt war Brünnhilde ja schon, indem sie Sieglinde schützte, eine Art Geburtshelferin für Siegfried. Ihre Liebesbegegnung wiederum stand unter dem Zeichen von Siegfrieds Muttersuche, und indem sie am Ende gemeinsam mit Hagen den Tod Siegfrieds initiiert, rundet sich das Phantasma des lebenspendenden zum wiederverschlingenden machtvollen Weiblichen. Dieser Macht müssen die Männer im ‚Ring‘ immer wieder entfliehen, so die Frau nicht entwertet oder in die Abwesenheit gedrängt wird. Brünnhilde wiederum bleibt ihrerseits abhängig von einer Vater-Imago, die sie sich nicht zerstören lässt, sei es in der Gestalt Wotans oder Siegfrieds. Wagner nimmt den Mythos in den Dienst, um eine narzisstische Struktur von Abhängigkeiten darzulegen – und gleichzeitig in ihrer regressiven Verführungskraft neu zu bestätigen. Wotan wiederum, der erlösungsbedürftige Göttervater und Burgenbauer, ein Patriarch von Format, der mit selbstgemachten Gesetzen die Welt zu regieren antritt und doch nur von ihr regiert wird, kennt in seinem Streben nach Macht und Größe die Liebe nicht. Er bedarf der Projektion auf ein Weibliches, das ihn mit seinem Selbstopfer erlöst. Diese Projektion hält ihn gebunden und stellt ihn zugleich frei – für Wichtigeres im Leben eines Mannes beziehungsweise Gottes. Die Projektionsfiguren, seien es Söhne, Enkelsöhne oder Töchter, von denen ein Wotan sich Erlösung von selbstgeschaffenen Zwängen erwartet, müssen aber notwendigerweise mit ihm untergehen – freiwillig oder unfreiwillig.

Liebe und Verrat

Erst in dieser kollektiven Selbstvernichtung, symbolisiert in dem Fällen der Weltesche, wird eine Figur, die auf Selbstüberhöhung angelegt ist, endlich von sich selbst befreit. Aus der Asche Walhalls, so wir uns denn diese Imagination erlauben, würden sich aber wohl nur die Chimären der Vergangenheit erheben wollen und ihr altbekanntes Spiel von vorne beginnen – in einer Welt, in der die Frauen an den Männern und die Männer an sich selbst leiden. Eine solche Vaterwelt würde aber wohl auch wieder strahlende Götterburgen und gleißende Ringe zu verteilen haben. Denn noch an einem weiteren Punkt überschreitet das Zerstörungswerk der ‚Götterdämmerung‘ nicht eine imaginäre Grenze. Der Ring, wie er erst in dem Geschehen der Oper selbst zu seiner Gestalt findet, wird zwar im Feuer geläutert, erstaunlicherweise aber dort nicht eingeschmolzen. Er behält seinen Glanz und seine Schönheit und ist als solcher mehr, als das unbearbeitete Rheingold es je war – er ist Kunst. Die Rheintöchter bekommen ihr Gold gleichsam veredelt zurück, und wo es dereinst am Grunde liegend nur einen diffusen Glanz verbreitete, taugt es ihnen nun als ein schillerndes Objekt zu fröhlichem Spiel. Kunst wiederum lebt von beidem, vom Wandel und von der Dauer, von der Selbstbehauptung des Kunstwerks über die Zeiten hinweg und von der je neuen und frischen Aneignung im Wandel der Zeiten. In Wagners ‚Ring‘ kommt beides zusammen. Der unsterbliche Göttervater Wotan hat eine Vision von Walhall, zu ihrer Durchführung braucht er jedoch die sterblichen Riesen Fasold und Fafner. Mit der Aussicht, an der Unsterblichkeit der Götter teilhaben zu können, kauft er sie ein, mit der Zerstörung, das heißt: Vergänglichkeit der Burg endet das ganze Unternehmen. Das Gegenstück zu der in die Wolken ragenden Götterburg Walhall ist der unterirdisch geschmiedete Ring des Schwarzalben Alberich und seines Bruders Mime. Die Liebesverweigerung der Rheintöchter findet hierin eine Kompensation als Verheißung von Macht. An die Stelle realen Austauschs tritt nunmehr ein narzisstisches Grandiositätsphantasma – das allerdings einen bedeutsamen Handlungsimpuls in sich trägt. Ein Akt der Versagung setzt in Wagners ‚Ring‘ immerhin einen beachtlichen Schaffensprozess frei, denn kreativen Gestaltungswillen müssen wir dem hässlichen Alberich, nicht anders als Wotan, wohl zubilligen. Die Leerstelle eines nicht erfüllten Begehrens setzt gleichsam das Begehren nach mehr frei, nach Herrschaft nicht mehr nur über den einen anderen, sondern gleich über die ganze Welt. Der andere, in diesem Fall Mime, wird jetzt aber entschieden dem Dienst am eigenen Werk unterworfen. Selbstausbeutung und Fremdausbeutung gehen bei diesem Geschäft Hand in Hand, und die triumphale männliche Logik ist fürs Erste klar: Kunst ist mehr wert als Liebe. Die Wunde und die Leerstelle, welche enttäuschte Liebe hinterlässt, fungiert dabei als Motor von Kultur, während der Ring zugleich das Symbol eines

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Allmachtsphantasmas und die Kultur selbst ist. Er ist das Werk, das seinen Schöpfer erhebt und sich zuzeiten auch wieder gegen ihn wendet. Mal ist er anwesend, mal abwesend, mal Gold, mal Ring, mal liegt er am Grunde des Rheins, mal schmückt er die Hand seines Trägers. Er ist das Zeichen einer kreativen Fluktuation, die nie bei ihrem Besitzer bleibt und erst an der Kreuzung multipler Begehren Gestalt annimmt. Er ist Form und Leere, Segen und Fluch. Glücklich wird man mit ihm, wenn man ihn nicht festhält, sondern wie die Rheintöchter, die in dem fluiden Element des Wassers zu Hause sind, mit ihm spielt. Literatur Bolen, Jean Shinoda: Ring der Macht (Ring of power). Entschlüsselung eines Mythos, Basel 1993. Borchmeyer, Dieter: Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, Frankfurt a. M. 2002. Borchmeyer, Dieter: Das Theater Richard Wagners: Idee – Dichtung – Wirkung, Stuttgart 1982. Clément, Catherine: Die Frau in der Oper. Besiegt, verraten und verkauft (L’opéra ou la défaite des femmes), Stuttgart 1992. Dahlhaus, Carl: Richard Wagners Musikdramen, Stuttgart 1971. Mertens, Volker: Richard Wagner und das Mittelalter, in: Richard-Wagner-Handbuch, hg. von Ulrich Müller und Peter Wapnewski, Stuttgart 1986. Wagner, Richard: Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend. Textbuch mit Varianten der Partitur, hg. und kommentiert von Egon Voss, Stuttgart 2009.

Größenwahn

6.3 Größenwahn Zur Untergangsdynamik im ‚Nibelungenlied‘ und in Richard Wagners ‚Der Ring des Nibelungen‘

Einleitung Größenwahn, so möchte man meinen, ist ein deutsches Thema. Das erschreckendste Beispiel stellt zweifellos Hitler dar, der im 20. Jahrhundert die halbe Welt mit Krieg und Völkermord überzog und sich schließlich im Angesicht seiner Niederlage, in der Wahnvorstellung, ein Opfer von Feigheit und Verrat zu sein, eine Pistole an die Schläfe setzte – die perverse Genugtuung eines grandiosen Untergangs noch mit in den Tod nehmend. Eine kritische nationale Selbstbespiegelung nimmt in den letzten Jahren vermehrt auch die Verstrickungen des Festspielhauses Bayreuth mit dem Nationalsozialismus in den Blick. Man mag auch in diesem prekären Verhältnis das Symptom von Allmachtsphantasmen ausmachen, muss sich hier aber zugleich Rechenschaft darüber ablegen, dass für das 19. Jahrhundert Richard Wagner zunächst einmal ein Beispiel für einen, wenn man so will, künstlerisch eminent erfolgsträchtigen Größenwahn abgibt. Denn mit dem Anspruch aufzutreten, nicht nur die Partitur, sondern auch den Text für ein dreieinhalbtägiges Opernmarathon, den ‚Ring des Nibelungen‘, zu liefern, für das ein eigenes Festspielhaus zu errichten sei, in dem wiederum nur die Werke des Meisters aufgeführt werden sollten, muss und musste im Alltagsjargon als größenwahnsinnig gelten. Der Umstand, dass der Künstler diese Idee jedoch in die Tat umgesetzt hat und die Bayreuther Festspiele bis auf den heutigen Tag ein internationales Publikum anziehen, spricht für sich. Wagners Größenphantasien haben offenbar ihn und seine Mitstreiter zu Höchstleistungen beflügelt. Größenwahn, für den die Gegenwart auch die psychologischen Differenzierungen einer psychoanalytischen Narzissmustheorie bereithält, ist demnach ein zutiefst ambivalentes Phänomen. Er mag in blinder Verkennung der Realität in den Untergang führen oder aber in kreativen Grenzüberschreitungen Kunst und Kultur befördern. Im Hinblick auf die schillernde Persönlichkeit Richard Wagners geht es aber nicht nur um narzisstische Persönlichkeitsanteile des Künstlers, eine forciert antisemitische Attitüde inbegriffen, vielmehr verhandelt dieser selbst das Thema des Größenwahns in seinen Werken, allen voran im ‚Ring des Nibelungen‘. Das Objekt des Rings steht dabei für das Phantasma von Macht. Er ist das Objekt, in dem sich die Größenphantasien der Protagonisten brechen. Begonnen hat Richard Wagner das vierteilige Werk mit ‚Siegfrieds Tod‘, welcher der heutigen

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‚Götterdämmerung‘ zugrunde liegt. Dieser Teil wiederum nimmt ganz wesentliche Handlungselemente aus dem ‚Nibelungenlied‘ auf, das ein unbekannter Dichter um 1200 niedergeschrieben hat. Sehen wir einmal von der musikalischen Adaption Wagners ab, besetzt dieser Text immer noch den ersten Rang in der Bearbeitung des Nibelungenstoffs. Das ‚Nibelungenlied‘ kennt nun einen doppelten Untergang: Der erste Teil endet mit dem Meuchelmord an Siegfried, der zweite, im Gefolge der Rache für denselben, mit dem Untergang aller Burgunden. Die Fallhöhe der Protagonisten in dem mittelhochdeutschen Epos ist dabei beträchtlich, und ich möchte im Folgenden das dichte Netz von Idealisierungen, Dämonisierungen und einem fatalen Willen zum Untergang zunächst einmal näher beleuchten. Im Anschluss wird auf Richard Wagners Operndrama ‚Der Ring des Nibelungen‘, in das noch weitere altnordische Quellen eingeflossen sind, einzugehen und die Frage nach aufschlussreichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu stellen sein. Lassen Sie mich aber vorab in Anlehnung an die Narzissmustheorie noch ein paar signifikante Merkmale des Größenwahns kurz festhalten: 1. Die Phantasie eigener Größe ist eng verbunden mit Vorstellungen eigener Kleinheit. Das Größenphantasma tritt hier in eine kompensatorische Funktion ein und verleiht das subjektive Empfinden von Macht und Stärke. 2. Die Idealisierung eines anderen erlaubt die stützende Teilhabe an dessen zugeschriebener Größe. Umgekehrt stattet eine Dämonisierung den anderen mit einer negativen Macht aus, unter deren Bann das sich als klein erlebende Ich verharrt. Wo es nicht an fremder Größe teilhaben kann, sucht es seinen Triumph in der Rolle des großen Opfers. 3. Die soziale Balance auf der Grundlage von Selbst- und Fremdzuschreibungen phantasmatischer Größe ist grundsätzlich fragil. Die Phantasie eigener Größe wird ständig bedroht von Phantasien eigener Unzulänglichkeit und der große andere muss gegebenenfalls wieder vernichtet werden, weil er das eigene Selbst zu verschlingen droht. 4. Phantasien eigener Größe können betont produktive Kräfte freisetzen, wenn sie auf eine Tat oder ein Werk projiziert werden. Zerstörung und Untergangsbereitschaft zum einen und schöpferische Tat zum anderen liegen hier nahe beieinander. Das ‚Nibelungenlied‘ Kommen wir nun fürs Erste zum ‚Nibelungenlied‘. Die Welt des ‚Nibelungenliedes‘ ist, mehr noch als die anderer zeitgenössischer Epen, eine schillernde Welt phantasmatischer Größe. Ihre Helden sind ausschließlich von bemerkenswerter Kraft und die Damen ausnahmslos von erlesener Schönheit, die Feste und der Austausch von Gaben sind abundant. Der Wormser Hof als

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Sitz der Burgunderkönige, wie er uns gleich zu Anfang vorgestellt wird, sonnt sich in einem Höchstmaß an Ehren. Diese goldglänzende Welt ist allerdings, das machen schon die ersten Zeilen unmissverständlich klar, dem Untergang geweiht. Der nibelungische Glanz ist von Beginn an morbide. Unter allen exorbitanten Helden ragt nun ein Held noch einmal besonders heraus: Siegfried, der Held aus Niederland. Er bricht im ‚Nibelungenlied‘ auf, weil er Kriemhild, die schöne Schwester der berühmten Burgunderkönige, erobern will. Seine Eltern am Hof in Xanten halten dies für ein außerordentlich gefährliches Unterfangen, aber Siegfried lässt sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Im Zuge dieses Aufbruchs wird dem Leser nun interessanterweise Siegfried als eine Person mit zwei Identitäten nahegebracht, zunächst als ein Königssohn, der eine entsprechend sorgfältige höfische Erziehung genossen hat – dann aber auch als ein ganz anderer. Hagen weiß seinen Königen beim Anblick des fremden Ritters im Burghof, den er dank seiner stattlichen Erscheinung als Siegfried erkennt, obwohl er ihm noch nie zuvor begegnet ist, über diesen Dinge zu erzählen, die nicht mehr einer zivilisierten höfischen Welt, sondern einer magischen Unterwelt angehören. Er, Siegfried, so Hagen, habe einst im Nibelungenland die Nibelungenkönige Schilbung und Nibelung erschlagen und sich daraufhin zum Eigner eines riesigen Schatzes gemacht, der dort in einem Berg lagere. Anlass sei die Aufforderung der Könige an Siegfried gewesen, für sie den Schatz zu teilen. Als Siegfried dem aber nicht zu ihrer Zufriedenheit habe nachkommen können, sei es zum Streit gekommen, den ein zorniger Siegfried unter Einsatz des Schwertes aus dem Schatz bedenkenlos für sich entschieden habe. Wir erfahren aus dem Munde Hagens noch des Weiteren, dass Siegfried einst einen furchtbaren Drachen getötet hat und seit einem Bad in dessen Blut über eine unverletzbare Hornhaut verfüge. Dann schwenkt die Erzählung wieder zurück an den Wormser Hof. Hier folgt nun die sogenannte Herausforderungsszene, in der Siegfried es erneut darauf anlegt, die Burgunderkönige mit seiner Körperkraft zu besiegen und die Herrschaft an sich zu reißen, sich aber diesmal von den Königen beschwichtigen und in das höfische Gefolge einreihen lässt. Den Wunsch nach Kriemhild muss Siegfried notgedrungen aufschieben. Damit blickt der Leser nach den ersten drei Aventiuren auf Siegfried als einen Mann mit zwei Seiten hin, zum einen auf einen höfischen Königssohn, der sich den Burgunderkönigen schließlich situationsbedingt unterordnet, zum anderen auf einen unverletzbaren, grandiosen Vorzeitheroen. Wir könnten es auch so formulieren: Vorgestellt wird uns die soziale Oberfläche eines zivilisierten Mitglieds der höfischen Gesellschaft und ein dazugehöriges weit weniger soziables Größenselbst. Die Folgehandlung, soweit sie den ersten Teil des ‚Nibelungenlieds‘ ausmacht, ist schnell umrissen. Siegfried harrt am Wormser Hof aus, weil er Kriemhild

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haben will, und die Burgunder Führung wittert die Chance, sich einen herausragenden Kämpfer für eigene Zwecke nutzbar zu machen. Dies geschieht dann auf zweifache Weise. Zunächst zieht Siegfried für die Burgunderkönige in den Krieg und erringt einen grandiosen Sieg über die Sachsen und Dänen. Zur Belohnung darf er, nachdem bereits ein Jahr verstrichen ist, das erste Mal Kriemhild sehen. Dann macht Siegfried sich bei Gunthers Brautwerbung um Brünhild nützlich, indem er für Gunther auf Isenstein unter der Tarnkappe aus dem Nibelungenhort einen siegreichen Wettkampf mit der magisch bewehrten Jungfrau ausficht. Im Anschluss kommt es zur Doppelhochzeit von Brünhild und Gunther, Siegfried und Kriemhild. Das Arrangement scheint perfekt zu sein. Der mächtige Gunther, dem es allerdings an männlicher Stärke fehlt, und Siegfried, der grandiose, charismatische Kämpfer, dem gewisse politische Führungsqualitäten ermangeln, bilden zusammen ein unschlagbares Gespann. Siegfried erklärt sich dann noch ein weiteres Mal bereit, für Gunther in die Bresche zu springen, und überwindet, nochmals unter Einsatz der Tarnkappe, eine zornige Brünhild, die sich in der Hochzeitsnacht ihrem angetrauten Ehemann verweigert, weil sie ahnt, dass etwas an diesem Hof nicht stimmt. Siegfried kann sich allerdings am Ende, nachdem er Brünhild niedergerungen hat, nicht enthalten, ihr Gürtel und Ring abzunehmen, die Attribute ihrer Jungfräulichkeit, wenngleich er absprachegemäß den letzten Schritt der Entjungferung Gunther überlässt. Aus dieser höchst fragwürdigen Nacht erwächst dann einige Jahre später – Gürtel und Ring sind inzwischen in die Hände Kriemhilds gelangt – ein schicksalhafter Streit unter den Frauen, welcher von beiden der größte und stärkste Mann zukäme. Brünhild erlebt eine ungeheure Kränkung mit dem Vorwurf Kriemhilds, die Gürtel und Ring herzeigt, eine kebse (836,4), sprich: Nebenfrau Siegfrieds zu sein, und daraus erwächst dann im Zusammenspiel mit einem intriganten Hagen der Plan für Siegfrieds Tod. Am Ende ersticht Hagen auf einer eigens zu diesem Zwecke inszenierten Jagd Siegfried rücklings mit dessen eigenem Speer. Siegfrieds Tod ist der dramatische Höhepunkt des ersten Teils des ‚Nibelungenlieds‘. Alle Welt klagt laut um den unfassbaren Tod eines geliebten Helden, während Hagen in gewisser Weise als Vollstrecker eines Ritualmordes dasteht, denn Siegfried, das macht der Text gleichfalls klar, war für den Wormser Hof schlussendlich untragbar geworden. Als ein Held, dem die eigene personale Überlegenheit stets an erster Stelle stand, untergrub er die hierarchische Ordnung des Wormser Hofs. Deshalb musste er sterben, deshalb wird er aber auch maßlos beweint, denn der Tod des unübertroffen starken Siegfried, der nur mit einer List umgebracht werden konnte, hinterlässt eine empfindliche Leerstelle. Das Kollektiv stößt zwar am Ende denjenigen, den es zum Größten erhoben

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hat, wieder ab, weil er als der Größte zu gefährlich geworden ist, aber es tut dies schmerzbewegt. Siegfrieds Tod kommt von daher ein ganz eigenartiger Nimbus zu. Sein Tod ist ein schöner Tod, sei es im ‚Nibelungenlied‘, wo er auf eine Blumenwiese niedersinkt, oder in Wagners ‚Götterdämmerung‘, wo sein Tod mit dem großartigen Trauermarsch gefeiert wird. Als gehörte der grandiose Siegfried, der im ‚Nibelungenlied‘ nur für die Anerkennung und den Beifall seines Publikums gelebt und gekämpft hat, sterbend diesem nun ganz und gar. Als vollzöge sich mit seinem Tod so etwas wie eine mystische Einswerdung von Bewunderern und Bewundertem. Das ‚Nibelungenlied‘ aber spinnt nach Siegfrieds Tod den Faden der Größenphantasien mit zwei anderen Figuren weiter, mit Hagen und Kriemhild, und führt uns fortan das Exempel einer wechselseitigen Dämonisierung vor. Für Kriemhild, fixiert auf Rache für Siegfried, wird Hagen mehr und mehr zum großen Versagenden, der all ihrem Lebensglücke im Wege steht. Beispielhaft steht ihr hierfür neben Siegfrieds Tod vor allem die Versenkung des Hortes. Ihre Existenz, in der sie sich vom großen Opfer zur großen Täterin wandelt und nur um der Möglichkeit zur Rache willen eine zweite Ehe mit Etzel eingeht, erfüllt sich in dem Augenblick, als sie Hagen mit Siegfrieds Schwert enthauptet. Nicht anders wird Kriemhild umgekehrt für Hagen zur großen Teufelin, die ursächlich für alle Unbill ist, die den Burgunden zustößt. Weil er ihre Brüder nicht davon abhalten kann, ihrer hinterlistigen Einladung zu folgen, wirft er sich zum Heerführer auf, dem der ganze burgundische Heeresverband, getrieben von unterschwelligen Ängsten, blind folgt, um von ihm in den Untergang geführt zu werden. Nicht anders als Kriemhild kostet auch er am Ende den fragwürdigen Triumph aus, dass Kriemhild tatsächlich so schrecklich ist, wie er immer schon gewusst hat. Der gefangengenommene Hagen spricht am Ende von seinem Schwur, den Ort des Hortes nicht preiszugeben, solange noch einer der Könige lebe, und Kriemhild präsentiert ihm daraufhin umgehend Gunthers abgeschlagenen Kopf. Hildebrand aus dem Lager der Hunnen wird Kriemhild schließlich, nachdem sie Hagen getötet hat – denn selbstverständlich verweigert dieser auch nach dem Tod Gunthers die Preisgabe des Hortes –, in einem Akt männlicher Solidarität in Stücke zerhauen. Nur drei, vergleichsweise defensive, Personen aus dem Lager der Hunnen überleben: Etzel, Dietrich und Hildebrand. Alle Burgunden, die sich in der Vorstellung grandioser Unverletzbarkeit in den Kampf gestürzt haben, sind tot. Daz ist der Nibelunge nôt, so lautet die letzte Zeile der Handschrift B des ‚Nibelungenliedes‘. Im zweiten Teil erleben wir im ‚Nibelungenlied‘ einen großen kollektiven Untergang, für den sich in Wagners ,Ring‘ keine Entsprechung findet. Der Dichter des ‚Nibelungenliedes‘ inszeniert dabei einen schreckenerregenden und

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zugleich absolut trostlosen Zusammenbruch aller sozialen Ordnung. Denn im ‚Nibelungenlied‘ gibt es keine Erlösung und, wenngleich das Geschehen in einer christlich geprägten, höfischen Welt situiert ist, keine Perspektive auf einen christlichen Heilshorizont. Der Dichter lässt seine Leser vielmehr mit dem Tod aller vormals gefeierten Helden in einer diesseitigen Welt alleine – ohne eine moralische Belehrung, ohne Beschwörung einer Transzendenz. Ich fasse kurz zusammen. Eine Welt von phantasmatischer Größe, von Ehre, Tapferkeit, Schönheit und Macht stürzt im ‚Nibelungenlied‘ in sich zusammen, wie es die düsteren Prophezeiungen im Lied schon immer gewusst haben. Sie bricht ein, weil die Protagonisten in einer Welt rivalisierender Projektionen leben, die sie nur auf Kosten anderer und am Ende auch ihrer eigenen Existenz aufrechterhalten können. Groß sind die Helden dabei in ihren ungezügelten Affekten und ihrer machtvollen Wut, in der sie als Kämpfer gleichsam über sich selbst hi­nauswachsen, allen voran Siegfried. Klein sind sie in ihren Kränkungen, die nach kompensatorischer Rache schreien. Im ersten Teil muss Siegfried, der Drachentöter, der für den Wormser Hof am Ende selbst zum Drachen geworden ist, seine Aura unbezwingbarer Stärke mit dem Leben bezahlen, im zweiten Teil reißen Kriemhild und Hagen, verbunden in nachgerade erotischem Hass, mit dem sie dem jeweils anderen alles Böse anlasten, ganze Personenverbände mit in den Tod. Richard Wagners ‚Der Ring des Nibelungen‘ Blicken wir nun auf das große Bühnenwerk des 19. Jahrhunderts hin, das kaum noch Schlachten anbietet, dafür aber einer erhabenen Götterwelt und einem eigentümlichen Netzwerk inzestuöser Liebesbeziehungen Raum gibt: Wagners ‚Ring des Nibelungen‘, in Bayreuth uraufgeführt 1876. Während im ‚Nibelungenlied‘ ein Ring als Teil des Nibelungenhorts keine Rolle spielt, gibt ein solcher nun in Wagners Oper das zentrale Motiv für eine begehrte und angemaßte Macht vor. Als solches wandert der Ring zwischen den Personen. Dem Reigen dieser Personen im ‚Ring des Nibelungen‘ will ich nun folgen. ‚Das Rheingold‘ Im ‚Rheingold‘, dem Vorabend des Zyklus, hebt das Geschehen signifikanterweise mit der Figur des hässlichen, zwergenhaften Alberich an, dem die schönen Rheintöchter ihre erotische Gunst versagen. Der berühmte Es-Dur-Dreiklang, den Beginn der Schöpfung beschwörend, präludiert eine feuchte Untiefe, welche die Lust zur Sexualität verkörpert, am Ende jedoch die Verfluchung von Liebe bereithält. Anfänglich wirbt Alberich brünstig um die Rheintöchter, sich hilflos zwischen glitschrigem Glimmer (54) und schleckem Geschlüpfer (58) bewegend, wird jedoch von den ihn verhöhnenden Rheintöchtern immer wieder getrogen, bis er am Ende Wellgundes harschen Spott hinnehmen muss:

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Pfui, du haariger, höckriger Geck! Schwarzes, schwieliges Schwefelgezwerg! Such dir ein Friedel, dem du gefällst! (103–108)

Diese Spottrede kitzelt nun gleichsam Alberichs Bosheit hervor, er erliegt jedoch noch einmal Flosshildes falschen Beteuerungen, bis am Ende Schmerz und Wut aus ihm herausbrechen. Und just hier lässt nun die Sonne das Rheingold in der Tiefe erstrahlen, das selbst auf eigentümliche Weise zwischen Lust und Macht oszilliert. Lässt doch das anfängliche Gebot des väterlichen Flusses an seine Flusstöchter, den Schlaf des Goldes zu hüten (30–32), auch einen ödipalen Besitzanspruch erahnen, der darauf abzielt, mit dem Gold auch das Begehren seiner Töchter schlafen zu lassen. Das väterliche Gebot brechen die Rheintöchter dann aber doch, wenn sie ausplaudern, dass ein aus dem Rheingold geschmiedeter Ring demjenigen maßlose Macht verliehe, der der Liebe entsagte. Hier irren die Rheintöchter nun aber entschieden, wenn sie diese Fähigkeit Alberich nicht zutrauen, denn dieser nutzt die Gunst des Augenblicks und findet nun gleichsam wieder ganz zu sich selbst, sich erstmals als Niblung titulierend: Spottet nur zu! / Der Niblung naht eurem Spiel! (300/301). Die Aussicht darauf, dort, wo man seiner Lust nicht freiwillig entgegenkommt, sich diese erzwingen zu können, lässt ihn die Gelegenheit beim Schopfe packen und das Rheingold rauben. Sein Entsagungsakt besteht dabei lediglich darin, von einem ohnehin aussichtslosen Unterfangen abzulassen und seine Energien anderswo unterzubringen. Der in den Augen der Frauenwelt unattraktive Alberich verlagert also sein Begehren von der Erotik auf die Macht, wobei Erotik, wie wir sie bis dahin kennengelernt haben, deutlich als Machtspiel inszeniert wird. Am Ende der ersten Szene des gesamten Opernzyklus wird nicht etwa ein Antagonismus von Liebe und Macht entworfen, sondern werden Liebe, Lust und Macht aufs Innigste miteinander verwoben. Verliebt in die Macht sind vorerst alle Beteiligten und damit auch affiziert von größenwahnsinnigen Anwandlungen. Die sich überlegen wähnenden Rheintöchter sind damit konfrontiert, dass Alberich, wiewohl hässlich, nicht dumm ist, vielmehr sie am Ende als die Dummen dastehen lässt. Alberichs erweckte Größenphantasien aber sind unübersehbar gekoppelt an einen hergebrachten Minderstatus und erfahrene Erniedrigung. Der Ring soll seine defizitäre Existenz rächen (313). Nachdem es Alberich nun gelungen ist, sich den Ring aus dem Rheingold zu fertigen, baut er ein System frühkapitalistischer Ausbeutung auf. Seinen Bruder Mime und die übrigen Nibelungen zwingt er in Nibelheim dazu, stetig neues

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Gold zu schürfen und zu glänzendem Geschmeide zu verarbeiten. Derweil lässt auch sein göttlicher Gegenspieler Wotan für sich arbeiten. Während er im Schlaf von einer hehren Burg träumt, sind die Riesen Fasold und Fafner damit beschäftigt, diese zu bauen. Träumend schaut er die hochragende Burg, geschaffen zu seinem Ruhm, erwachend sieht er, wie sein Wille Gestalt angenommen hat (334/335). Aber Wotans Größenphantasie bricht notgedrungen ein, als die Riesen auf dem ihnen versprochenen Lohn in Gestalt von Freya beharren. Und weil unmittelbar noch kein Ersatz zur Hand ist, wird der Halbgott Loge nicht ohne Schadenfreude Zeuge, wie die Götter, der jugendverleihenden Äpfel aus Freyas Garten beraubt, anfangen dahinzuwelken. Allerdings steigt Loge mit Wotan noch nach Nibelheim hinab und trotzt Alberich mit List den Schatz und den Ring ab, dem jetzt allerdings der Fluch des maßlos gekränkten Nibelungen anhaftet: so lang er lebt, / sterb‘ er lechzend dahin, / des Ringes Herr / als des Ringes Knecht (1503–1506). Es kommt dann im Anschluss zum Tausch zwischen Wotan und den Riesen, in dem Freya mit dem Hort ausgelöst wird. Den Ring gibt Wotan allerdings erst nach intensivem Zureden Erdas wieder ab. In Händen der Riesen führt dessen Besitz dann auch zum sofortigen Unheil, Fafner tötet seinen Bruder Fasolt. Als Fafner mit Hort und Ring die Bühne verlassen hat, schreiten die Götter schließlich unter den erhabenen Klängen des Walhallmotivs auf die Burg zu. Loge aber imaginiert schon ihren Untergang. Der Schwarzalbe Alberich und der Lichtalbe Wotan stellen also zwei polare Ausprägungen männlicher Größenphantasien dar, die sich miteinander kreuzen. Beide Figuren sind dabei auf ihre Art und Weise zunächst äußerst produktiv. Alberich lässt unterirdisch Gold zu Geschmeide verarbeiten und häuft einen riesigen Schatz an, Wotan lässt eine visionäre Wohnstatt zum Zeichen seines Ruhmes auf Bergeshöhen errichten. Beide Sphären, eine düstere Unterwelt und eine hehre Götterwelt, fließen nun auf eigentümliche Weise ineinander, wenn mit den Schätzen der Unterwelt die Riesen für ihre Arbeit an einer himmelstürmenden Burg bezahlt werden. Sowohl Alberich als auch Wotan partizipieren dabei an einem Größenphantasma von Herrschaft und Ruhm und sind doch zutiefst abhängig. Denn Alberich steht in der Schuld der Rheintöchter, während Wotan in der Schuld der Riesen steht. Von diesen Schuldverhältnissen geht eine Eigendynamik aus, die sie nicht mehr zu kontrollieren vermögen. Dazwischen tritt die Verheißung von Macht, wie sie von dem Ring ausgeht, als das eigentliche Medium der Versklavung, das als eine Art Widerhaken immer schon die schmerzhafte Abwesenheit von Macht in sich trägt. Ring und Walhall stehen dabei in einem Verhältnis der Spiegelung zueinander. Auch Walhall kommt als imaginärer Fluchtpunkt, der in der Oper nie selbst zum Schauplatz wird, nicht anders als dem Ring von Beginn an die Doppelgesichtigkeit von Verheißung und Untergang zu.

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‚Die Walküre‘ Das Motiv des Rings wird erst am zweiten Tag im ‚Siegfried‘ wieder aufgenommen. Die ‚Walküre‘ liefert am ersten Tag hierfür die Vorgeschichte. Das Zwillingspaar Siegmund und Sieglinde, hervorgegangen aus einer Verbindung von Wotan mit einer irdischen Frau, zeugt in inzestuöser Leidenschaft Siegfried. Wotan wird in einen Streit mit Fricka verwickelt, aus dem diese siegreich hervorgeht, denn der Göttervater verzichtet darauf, seinen ehebrecherischen Sohn Siegmund im Kampf gegen Hunding zu schützen, und straft seine Walkürentochter Brünnhilde dafür ab, dass sie gleichwohl Partei für Siegmund ergreift. Siegmund kommt dennoch im Kampf um und Brünnhilde kann Sieglinde eben noch zur Geburt ihres Sohnes Siegfried verhelfen, der später elternlos von dem Schmied Mime, dem Bruder Alberichs, aufgezogen werden wird. Am Ende der ‚Walküre‘ versenkt ein gleichermaßen aufgebrachter und erschütterter Wotan seine Lieblingstochter nach einem ergreifenden Liebesduett in einen Dornröschenschlaf. Und als ließe die Absenz des bewundernden töchterlichen Blickes den großen Gott nun in sich zusammenfallen, tritt er im Folgenden nur noch als Wanderer auf. Wotan und Brünnhilde aber sind fürs Erste eines gemeinsamen väterlich-töchterlichen Liebesphantasmas beraubt. ‚Siegfried‘ Im ‚Siegfried‘ des folgenden Tages prophezeit der Wanderer schließlich im Zwiegespräch mit Mime indirekt, dass es Siegfried sein werde, der den zum Drachen mutierten Fafner als Hüter des Horts überwinden werde. Siegfried wird dann Notung, das zerbrochene Schwert Siegmunds, neu schmieden, damit Fafner ins Herz stechen und Tarnkappe und Ring an sich nehmen. Das Drachenblut lehrt ihn die Sprache des Waldvogels zu verstehen, und als der verschlagene Mime ihm einen Gifttrank reichen will, tötet er diesen. Auf dem Weg zu Brünnhilde, den ihm der Vogel weist, zerschlägt er dem Wanderer, sprich seinem Großvater Wotan, der sich ihm in den Weg stellen will, den Speer. Im ‚Siegfried‘ findet also ein weiterer signifikanter Ringwechsel statt, der Siegfried gegenüber Fafner als den Überlegenen ausweist. Ein Machtwechsel vollzieht sich aber noch auf einer anderen Ebene. Mit dem Ring unterwegs zu Brünnhilde, entmachtet Siegfried zugleich Wotan. Er zerschlägt ihm den Speer und setzt sich damit an dessen Statt. Wenn Brünnhilde die Augen aufschlägt, wird ihr liebender Blick, mit dem sie zuletzt ihren Vater Wotan anschaute, nun auf seinen Enkelsohn Siegfried fallen. Die inzestuöse Verstrickung wird fortgesponnen, aber zugleich ein Generationenwechsel vollzogen. Siegfried tritt als der großartige Erwecker Brünnhildes auf, und beide besingen ekstatisch ihre Liebe. Siegfrieds große Heldentat ist die Erweckung Brünnhildes, zu der ihm ein sozusagen doppelter Vatermord den Weg ebnet, ein symbolischer an seinem göttlichen Großvater und ein realer an seinem hässlichen nibelungischen

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Ziehvater, Verkörperungen der ambivalenten Seiten eines guten und bösen Vaters. Brünnhilde trägt dabei für Siegfried teils schwesterliche, teils mütterliche Züge, ist sie es doch, der er sein Leben zu verdanken hat. Die grandiose Liebesoffenbarung, die er im Folgenden mit ihr teilt, ist in gewisser Weise ein neuerliches Geburtserlebnis, trägt aber schon von Beginn an einen grandiosen Selbstverlust in sich. Einander findend, verlieren die Liebenden zugleich sich selbst und wissen um den ihnen beschiedenen Untergang. Selbstermächtigung und Selbstverlust, Liebe und Liebeswahn fallen auf dem Zenit ihrer Liebesvereinigung zusammen. Rauschhafte Regression trägt dabei das Gesicht inzestuöser Selbstbespiegelung. ‚Götterdämmerung‘ Am letzten Tag der Aufführung, in der ‚Götterdämmerung‘, erreicht die RingDramatik ihren Höhepunkt. Zunächst hinterlässt Siegfried bei seinem Abschied den Ring der zurückbleibenden Brünnhilde als Liebespfand. Der Fluch des Rings greift allerdings auch hier. Denn während Brünnhilde ihr Besitztum noch heftig gegen Waltrautes Ansinnen verteidigt, ihn den Fluten zu übergeben, ist an einem anderen Ufer der Liebesverrat längst beschlossene Sache. Siegfried nämlich, das Kind des Waldes, das sich in Brünnhildes Nähe gänzlich an diese verlor, verliert sich nun nicht minder bei der Ankunft in der prachtvollen Halle der Gibichungen an eine dortige Mitwelt. Hagen, der Neffe seines Ziehvaters Mime, aber agiert dort als verlängerter Arm seines eigenen rachsüchtigen Vaters Alberich. Mit einem vom Glanz geblendeten Siegfried hat er nun leichtes Spiel, ein Trank reicht, um Siegfried seine Liebe vergessen und zum Erfüllungsgehilfen seiner Pläne zu machen. Er selbst, Siegfried, ist es dann, der den Vorschlag einbringt, Brünnhilde für Gunther erwerben zu wollen, um seinerseits die Schwester Gunthers, Gutrune, heiraten zu können. Gutrune, das bleibt hier kurz zu erwähnen, trägt gewisse Züge der Kriemhild aus dem ersten Teil des ‚Nibelungenlieds‘, die als Schwester Gunnars und Högnis in der Edda wiederum Gudrun heißt. Auf dem Walkürenfelsen wird Siegfried dann, unter der Tarnkappe in der Gestalt Gunthers, Brünnhilde den Ring brutal wieder entreißen. Zur Halle der Gibichungen verschleppt, sieht Brünnhilde ihren vormaligen Ring allerdings nicht an der Hand Gunthers, sondern an der Hand Siegfrieds wieder und es kommt in der Folge zum Mordkomplott zwischen Hagen und Brünnhilde. Nach der vollzogenen Ermordung Siegfrieds wieder zurück in der Halle fordert Hagen den Ring ein und ersticht Gunther. Dann tritt Brünnhilde auf, zieht dem toten Siegfried den Ring vom Finger, steckt ihn sich an, weil sie ihn den Rheintöchtern wiedergeben wolle, und reitet auf Grane in den flammenden Scheiterhaufen. Plötzlich bricht das Feuer ein und der Rhein wälzt sich über die Brandstätte, auf seinen Wogen die Rheintöchter. Hagen wirft sich mit dem

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Ausruf Zurück vom Ring (S. 429) in die Fluten, woraufhin die Rheintöchter ihn hinab in die Tiefe ziehen. Am Horizont brennt Walhall. In der ‚Götterdämmerung‘ stürzt das zuvor aufgebaute grandiose Liebesphantasma Siegfrieds und Brünnhildes dramatisch in sich zusammen. Brünnhilde klammert sich an den Ring wie eine bürgerliche Ehefrau an ihr Besitztum, während ihr Mann schon über alle Berge ist. Siegfried wiederum, den eine Frau einst das Fürchten lehrte, findet zu einem derart routinierten Umgang mit dem weiblichen Geschlecht – sein jägerischer Blick fällt am Ende auch auf die Rheintöchter –, dass für Liebe nicht mehr viel Raum bleibt. Erst im Tod findet das Paar wieder zurück zu einer anfänglichen Liebesoffenbarung, in der es das Leben einst in seiner ganzen Tiefe gekostet hatte. Ich fasse noch einmal für den ‚Ring‘ zusammen. Grandiosität und Scheitern der Liebe zwischen Siegfried und Brünnhilde greifen aufs Innigste ineinander. Eine grenzüberschreitende Disposition, die für alle Liebenden im ‚Ring‘ mit der Signatur des Inzests einhergeht, öffnet immer wieder einen ekstatischen Raum, dem aber keine Dauer beschieden ist. Alle Liebesphantasmen tragen vielmehr das Programm der Selbstauslöschung in sich, in dem die Liebe allerdings noch im Untergang groß ist. Der große Dämon des Untergangs ist auch in Wagners ,Ring‘, nicht anders als im ‚Nibelungenlied‘, Hagen. Die Figur Hagens, des Zurückgesetzten, findet dabei in Wagners ,Ring‘ zu einer eigentümlichen Tragik und Tiefe. Als Kind einer Verbindung zwischen Alberich und Kriemhild, die nicht von Liebe, sondern von Macht bestimmt war, einer im Übrigen nichtinzestuösen Verbindung, trägt er das Erbe der insuffizienten Existenz seines Vaters fort. Dieses Schicksal nimmt ein bei Wagner selbstreflexiver Hagen gleichsam wissend an. Zugleich ist er als Abkömmling einer dunklen Unterwelt der Dämon Siegfrieds, des Lichthelden, wie in gewisser Weise auch Alberich der Dämon Wotans ist. Wotan ist der schwächelnde Vatergott, der nur noch ungedeckte Schecks zu verteilen hat und der schließlich auf die von Alberich erwirtschafteten Ressourcen zurückgreifen muss. Eine Minderwelt von Geld und Macht steht einer hehren Götterwelt inzestuöser Beziehungen gegenüber, und doch sind beide zutiefst miteinander verschränkt. Siegfried, Lichtheld und Enkel Wotans, wird von dem Nibelungen Mime großgezogen. Brünnhilde schließlich kommt der doppelgesichtige Part der Rächerin und Erlöserin zu. Anfänglich ganz töchterlich ihrem Vater ergeben, gibt sie sich im Folgenden ganz Siegfried hin. Erst in der Rache, so möchte man meinen, kommt diese Figur ganz zu sich selbst und erweckt sich nunmehr in einem Akt des Ungehorsams aus eigener Kraft. Mit der Lüge, Siegfried habe Gunther in jener Nacht auf dem Walkürenfelsen betrogen, greift sie manipulativ in das Geschehen ein und bringt damit eine ganze frauenfeindliche Männerordnung zum Einsturz.

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Am Ende zündet Brünnhilde den Scheiterhaufen für einen toten Siegfried und damit auch imaginär Walhall an, den Anspruch vor sich hertragend, die Götter im Feuerbrand von sich selbst zu erlösen. Erahnter Untergang und ersehnte Erlösung fallen nun zusammen. Im Feuer findet Brünnhilde schließlich noch ihre Liebe zu Siegfried wieder, dem sie sich in mächtiger Minne (2029) als sein Weib wieder vereint. Schlussbetrachtung Am Ende bleibt, die mittelalterliche und die Wagner’sche Bearbeitung des Nibelungenstoffs noch einmal nebeneinanderzustellen. Evident ist, dass sowohl die mittelhochdeutsche Dichtung als auch die Oper des 19. Jahrhunderts ihr Spiel mit dem Rausch der Allmacht treiben. Das ‚Nibelungenlied‘ zieht den Leser in eine Feier ästhetisierter Gewalt von sich selbst unverletzbar wähnenden Heroen hinein, während die Oper den Rausch regressiver Liebe feiert. Im Mittelpunkt des Nibelungenmythos steht dabei die Figur Siegfrieds, der im ‚Nibelungenlied‘ wie im ‚Ring‘ eine grundsätzliche Ambivalenz zukommt. Hier wie dort eignet ihr eine gewisse Tumbheit und Naivität, zugleich aber ist Siegfried der alle Mitspieler überstrahlende Held. Im ‚Nibelungenlied‘ ist er dies primär aufgrund seiner unermesslich großen Stärke im Kampf. Stark ist der Siegfried Wagners ebenfalls, aber er profiliert sich weit mehr noch als großer beziehungsweise scheiternder Liebender. Die symbiotische Nähe zwischen Siegfried und Brünnhilde ist dabei unverkennbar ein Entwurf des 19. Jahrhunderts, vor deren Hintergrund der Liebesverrat eine ganz neue Dimension gewinnt. Nirgendwo sonst in den Quellen kommt Siegfried so schlecht weg und nirgendwo sonst ist Brünnhildes Fall tiefer. Das Spiel von Grandiosität und Untergang verlagert Wagner in eine mit bürgerlichen Gefühlen ausgestattete Beziehungswelt, der freilich die inzestuösen Freiheiten eines Gottes und seiner Nachfahren zugrunde liegen. Wagners Götter und Halbgötter sind nicht zuletzt groß in ihren Triebansprüchen, vornehmlich ihren erotischen. Sie nehmen sich einfach das, wofür Alberich erst viel Mühe aufwenden muss und was ein Hagen nie kennenlernt. Ihnen wird von Zeit zu Zeit aber auch alles wieder genommen. Das wiederum kommt in Wagners Universum einer Erlösung gleich. Untergang vollzieht sich als Erlösung, Erlösung als Untergang. Rückblickend ist nicht zu leugnen, dass dargestellter Größenwahn sowohl im ‚Nibelungenlied‘ wie in Wagners ‚Ring‘ einen Gestus der Verführung in sich birgt. Grandiose Kämpfer und grandiose Liebende, die über ein besonderes energetisches Potential zu verfügen scheinen, laden zur Identifikation ein. Der Größenwahn findet aber weder hier noch dort eine werkimmanente Bestätigung. Der Leser oder Hörer, der mit den großen Helden des ‚Nibelungenliedes‘ ein Phantasma der Allmacht und der Erhabenheit von Gewalt durchlebt hat, stürzt mit den toten Helden

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auch ab in eine Zerstörung, die in ihrer Immanenz total ist. Auch bei Wagner sind Figuren wie Wotan, Brünnhilde, Siegfried, Hagen am Ende tot. Auch sie müssen sterben, weil ihre Phantasmen an der Realität beziehungsweise den Ansprüchen der anderen scheitern. Allerdings hält Wagner seinen Protagonisten mit einer dem Tod beigegebenen Erlösungsvorstellung gleichsam noch eine Hintertüre offen. Richard Wagner zieht nun immer wieder aufs Neue den Vorwurf einer Nähe zwischen dem Pathos seiner Opern, den ideologischen Aussagen seiner theoretischen Schriften und nationalsozialistischem Ungeist auf sich. Ich vermag hier nicht auf Wagners theoretisches Werk einzugehen, allerdings steht für mich außer Frage, dass ein Bühnenwerk zunächst einmal nicht durch die programmatischen Aussagen seines Autors zu erklären, sondern in seiner künstlerischen Eigengesetzlichkeit wahrzunehmen ist. In diesem Sinne stellt sich mir Wagners ‚Ring‘ als eine wirkungsmächtige Fortschreibung des Nibelungenmythos dar, in der einer bürgerlichen Gesellschaft mit beeindruckender psychologischer Tiefenschärfe ihre geheimen Abgründe vorgehalten werden. In Wagners ‚Ring‘ geht es, nicht anders als im ‚Nibelungenlied‘, um abgründige Triebwelten, die wir gerne in mythische Vergangenheiten projizieren, damals wie heute. Der Blick im Spiegel des Werks zurück in eine mythische Vergangenheit ist dabei für den Betrachter nicht zuletzt ein Blick zurück in eine kollektive und personale Kinderwelt, der er sich vorerst entwachsen fühlt und die ihn doch als letztendlicher Fluchtpunkt aller seiner Ängste und Sehnsüchte nicht loslässt. Wagners Musik hebt in besonderer Weise solche emotionalen Tiefenschichten hinauf ins Rampenlicht der Bühne, nicht ohne einen latenten Überwältigungsanspruch. Folgen wir dem Dirigenten Christian Thielemann, lebt die künstlerische Umsetzung dabei aber nicht zuletzt vom gelingenden Widerstand. Schauen wir noch einmal auf den Ring, der am Ende von Wagners Oper mitnichten spurlos in den Fluten verschwindet. Hier schließt sich kein Kreis, der vom Ungeschaffenen über das Geschaffene wieder zum Ungeschaffenen zurückführte. Überraschenderweise schmilzt der Ring ja auch nicht im Feuer, sondern wird am Ende von Flosshilde triumphal in die Höhe gehalten. In einer anderen Textfassung heißt es, dass die Rheintöchter lustig mit dem Ringe spielend, im Reigen schwimmen (Zentner, S. 80). Der Ring wird also nicht wieder zu ungeformtem Gold, sondern er bleibt geschmiedeter Ring, wird aber in den Händen der Rheintöchter nunmehr zu einem Objekt harmlosen Spiels. Das vormalige Signum aller Größenphantasmen wird nun, wenn man so will, als Kunst gefeiert. Wagners ‚Ring‘ erzählt neben einer Geschichte von Größenwahn und Untergang auch eine der Bedingungen von Kunst und Kreativität. Wotan, der Göttervater, erlebt am Ende des ‚Rheingolds‘ so etwas wie einen großartigen schöpferischen Durchbruch. Wo Donner musikalisch zunächst eine enorme Spannung,

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um nicht zu sagen: schöpferische Unruhe zur Darstellung bringt, entlädt sich diese dann in einen großen, imaginären Raum hinein, und Wotan darf im Angesicht seiner Burg seinen gottgemäßen Schöpferstolz auskosten. Allerdings haftet ihm zugleich ein faustisches Übel an, liegt doch auch hinter ihm der eine und andere unlautere Pakt. Dies gibt wiederum dem Feuergott Loge Anlass, ihn auf den Spuren Mephistos zu begleiten und seinerseits mit der eigenen Lust an der Zerstörung zu liebäugeln. Himmel und Hölle, Kreativität und Zerstörung, liegen wieder einmal nahe beieinander. Literatur Gephart, Irmgard: Der Zorn der Nibelungen. Rivalität und Rache im Nibelungenlied, Köln, Weimar, Wien 2005. Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, nach der Handschrift B hg. von Ursula Schulze, übers. u. komm. von Siegfried Grosse, Stuttgart 2010. Rüsenberg, Irmgard: Vom Walküren-Felsen zur Gibichungen-Halle: Liebe und Verrat zwischen Felsgestein und Halle der Macht, in: Rhein und Ring, Orte und Dinge: Interpretationen zu Richard Wagners ‚Der Ring des Nibelungen‘. Beiträge der Ostersymposien Salzburg 2007–2010, hg. von Ulrich Müller u. a., Anif/Salzburg 2011 (Wort und Musik), S. 209–219. Wagner, Richard: Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend. Textbuch mit Varianten der Partitur, hg. u. komm. von Egon Voss, Stuttgart 2009. Wagner, Richard: Götterdämmerung. Wortlaut der Partitur, hg. u. eingel. von Wilhelm Zentner, Stuttgart 1995.

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6.4 Faszination des Untergangs Die Verfilmung des Nibelungenstoffs durch Fritz Lang und Thea von Harbou

1924 wurde nach zweijähriger Produktionszeit Fritz Langs Stummfilm ‚Die Nibelungen‘, für den Thea von Harbou das Drehbuch geschrieben hatte, in Berlin uraufgeführt.1 Langs künstlerisches Gestaltungsvermögen, eine für damalige Zeiten aufwendige Tricktechnik sowie eine markante Filmarchitektur und Kostümausstattung haben den ‚Nibelungen‘ ihren Platz in der Filmgeschichte gesichert. Nun zieht der deutsche Kinofilm der Weimarer Zeit immer wieder aus doppeltem Grunde Beachtung auf sich: aufgrund seines künstlerischen Niveaus und filmgeschichtlich innovativer Impulse, aber auch als der mediale Vorbote einer diktatorisch-totalitären Ära. Auch in Langs Nibelungenfilm wirken eine spezifische Herrschaftsarchitektur sowie die Arrangements gesichtsloser Menschenreihen heutzutage auf den ersten Blick befremdlich. Dem Literaturwissenschaftler fallen zudem eigentümliche Dämonisierungen und Moralisierungen im Handlungsgeschehen auf. Für die Deutung dieser Zeichen hat vor allem Siegfried Kracauer2 maßgebliche Impulse gegeben.3 Dabei steht Kracauers Geschichte des deutschen Films von 1947 noch ganz unter dem überwältigenden Eindruck, dass Kinobilder in einer Überlappung von Fiktion und Realität in der nationalsozialistischen Zeit Wirklichkeit geworden zu sein scheinen, sowohl als propagandistische szenische Arrangements politischer Selbstfeiern wie als Inkarnation filmischer Dämonen in den Führergestalten des Regimes.4 Im Blickwinkel des Filmkritikers erscheint dabei vieles als Teil eines komplexen Bedingungsgefüges, das ein totalitäres Regime mit an die Macht gespült hat, beziehungsweise als Fundus, aus dem sich ein totalitäres Regime zu bedienen wusste. Wie man auch immer den ideologischen Standort von Fritz Langs Nibelungenfilm verorten mag, in jedem Fall war für die Filmemacher mit der Produktion des Films der Anspruch einer antielitären Popularisierung des Stoffs verbunden.5 Die Tatsache, dass die höfische Literatur des 13. Jahrhunderts und damit das dem Film zugrunde liegende ‚Nibelungenlied‘ einer adligen Führungsschicht vorbehalten war, haben Fritz Lang und seine Drehbuchautorin Thea von Harbou zum Anlass genommen, das noch ambivalent bewertete ‚Massenmedium‘ Film aufs Neue zu rechtfertigen, hier als Vermittler alter Bildungsinhalte.6 Und wenn Lang betont, wie sehr die technischen Mittel des Films den mythischmärchenhaften Zügen des Stoffs entgegenkämen, dann vermeint man zudem

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einen filmischen Anspruch auf Anknüpfung an mündliche Erzähltraditionen wahrzunehmen, aus denen das höfische Epos hervorgegangen ist. Wie aber erreicht der Film die Popularisierung eines literarisierten Stoffes,7 der formal und inhaltlich nicht wenige Hürden bereithält? In Ergänzung zu den vorliegenden filmästhetischen Deutungen8 soll hier zunächst eine Analyse der inhaltlicherzählenden Aussagen des Films vorgenommen werden, soweit sie aus einer Gegenüberstellung mit den maßgeblichen mittelalterlichen Quellen gewonnen werden kann, um sie dann mit filmästhetischen Kategorien im engeren Sinne in Beziehung zu setzen.9 Ein literaturwissenschaftlicher Blickwinkel soll dabei nicht geleugnet werden. * Grundlage des zweiteiligen Films ist das ‚Nibelungenlied‘, das ein unbekannter Dichter in der Zeit der ersten Hochblüte deutschsprachiger Literatur um 1200 verfasste.10 Anders als Richard Wagner, der vornehmlich auf altnordische Quellen zurückgegriffen hat, haben Regisseur und Drehbuchautorin des 20. Jahrhunderts die prägnante bühnenräumliche Dramaturgie des ‚Nibelungenliedes‘ erkannt und aufgegriffen und ihren Film im Wesentlichen entlang der szenischen Höhepunkte des mittelhochdeutschen Liedes gedreht.11 Das Ambiente einer Wormser Hofwelt, Siegfrieds provokative Ankunft am Hof, seine Standeslüge auf Isenstein und das damit verbundene Standesproblem, der Frauenstreit vor dem Münster, die Inszenierung von Siegfrieds Tod mit Jagd, Quelle und Wettlauf, Rüdigers stellvertretende Werbung um Kriemhild und schließlich sein Eid wurden unverkennbar als bildträchtige Motive dem ‚Nibelungenlied‘ entnommen. Auch die Gliederung in einen ersten Teil ‚Siegfried‘ und einen zweiten Teil ‚Kriemhilds Rache‘ folgt dem Aufbau des ‚Nibelungenliedes‘. Gleichwohl kann Fritz Langs Film kaum als eine werkgetreue Literaturverfilmung gelten – und hat dies ja auch nicht beabsichtigt. Für einen sogenannten nationalen Stoff wurden weitergehende Motive vermeintlich nationaler Sinnstiftung in Anspruch genommen und unter diesem Vorzeichen auch weitere Quellen verwertet, vor allem die Heldenlieder der ‚Edda‘.12 Aus germanisch-nordischen Sagenkreisen stammen etwa die Figur des Schmiedes Mime, eine stark dämonisierte Brünhild mit Waberlohe und das Motiv der Blutsbrüderschaft zwischen Gunther und Siegfried. Wo Thea von Harbou ihren Eklektizismus mit dem Anspruch begründet, komplexe kollektive Erinnerungen abbilden zu wollen,13 nimmt der heutige Mediävist jedoch eher eine markante Verflachung der Charaktere und ihrer Wechselbeziehungen wahr. Mit der weithin flächig-statuarischen Ästhetik des Films scheinen auch die Protagonisten, vergleicht man sie mit den mittelalterlichen Helden, schablonisiert und erstarrt zu sein.14 Zwar sind Fritz Lang manche einprägsame Einstellungen gelungen, die man auch als eine gelungene Interpretation des mittelhochdeutschen Textes

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verstehen mag; mittels wesentlicher Veränderungen, Ergänzungen und Weglassungen, zum Teil mit Bezug auf altgermanische und altnordische Überlieferungen, zum Teil als bloße Umordnungen der mittelhochdeutschen Vorlage, erzählt der Film jedoch eine grundsätzlich neue Geschichte in neugeschaffenen fiktionalen Räumen. Dabei wird die geschlossene höfische Welt des mittelalterlichen Textes in stilisierter Form zwar als eine Wormser Hofwelt übernommen und wiederbelebt, aber durch archaische Gegenwelten ergänzt. Siegfried bricht etwa im Film aus einer dunklen Höhlenwelt auf in eine höfische Lichtwelt voller Verheißungen.15 Eine erdnahe archaische und eine höfisch-zivilisierte Welt werden so in ein ‚Fortschrittsverhältnis‘ zueinander gesetzt. Und sowohl Züge des Isenstein’schen Panoramas, mehr noch aber das Lager Etzels mit seinen kreatürlich geduckten Hunnen beleben dann den anfänglich inszenierten Gegensatz zwischen einer chthonischen Unterwelt und einer formvollendeten Hofwelt aufs Neue. Die Handlungslogik des Filmes erfährt dadurch im Vergleich zum ‚Nibelungenlied‘ eine wesentliche Umstrukturierung. Im Rückgriff auf vorhöfische Überlieferungen bietet der Film immer wieder dunkle Unterwelten als reale Antipoden hellerer Lichtwelten an und etabliert gleichzeitig eine neue moralische Differenz. Damit eröffnet der Film eine duale Struktur von Gut und Böse, Hell und Dunkl, die weder das mittelalterliche Epos noch die Sagenüberlieferung so kennen. 16 Das heißt, der Film präsentiert Gute und Böse, wo das alte ‚Nibelungenlied‘ eine dem Untergang geweihte Gesellschaft anhand sehr komplexer Verstrickungen vorführt, die buchstäblich keine ‚Guten‘ mehr kennt, und die altnordischen Quellen noch von einer Schicksalserfüllung in einer vorhöfischen Welt jenseits moralischer Wertungen berichten. Langs und von Harbous Nibelungenfilm unterlegt somit dem Schicksalsthema des alten Stoffes eine moralisierende und vergleichsweise simplifizierende Handlungslogik, die nicht nur einzelne Mythologeme nach formalästhetischen Prinzipien aneinanderreiht,17 sondern diese auch gezielt zu einem neuen ideologischen Konstrukt zusammenfügt. Besonders prägnant lässt sich dies an den handelnden Charakteren und den zentralen Motiven der Rache und der Treue ablesen, denen im Folgenden die analytische Aufmerksamkeit gelten soll. In formaler Anspielung auf die Gliederung des mittelhochdeutschen ‚Nibelungenliedes‘ in Aventiuren und die Einteilung der ‚Edda‘ in Heldengesänge ist der Film in je sieben ‚Gesänge‘ für beide Teile gegliedert. Es erscheint sinnvoll, der eigentümlichen Handlungslogik des Films entlang dieses Fadens zu folgen, wobei es selbstredend nicht darum gehen soll, mangelnde ‚Werktreue‘ vorzuführen, sondern mittels der literarischen Vorlagen die Trivialisierung und Ideologisierung des Stoffs offenzulegen.18 *

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Teil 1: Siegfried (1) ‚Wie Siegfried den Drachen erschlug‘ ist die erste Handlungssequenz übertitelt, die aber zugleich abweicht von dem formal anzitierten ‚Nibelungenlied‘. Wohl von Wagner inspiriert, wird im Film der Siegfried der Sage in der Höhle Mimes gezeigt, wie er sein Schwert schmiedet, während er im ‚Nibelungenlied‘ als Xantener Königssohn eingeführt wird.19 Nur Mimes eingeblendete Worte, er könne Siegfried nichts mehr lehren, also möge er heim nach Xanten reiten, stellen noch eine Verbindung zum Königshof in Xanten her. In dieser dunklen Wald- und Höhlenwelt, die von geduckten Kreaturen bevölkert ist, erreicht Siegfried schließlich die Erzählung von Kriemhild als Verheißung einer geistig-rationalen Lichtwelt, die mit ihren stets wiederkehrenden Bildmotiven der läutenden Kirchenglocken und des in einen Kirchenraum einfallenden Lichts in Szene gesetzt wird. Siegfried als stattliche blonde Lichtgestalt20 mit weißem Pferd scheint dieser Welt eher zuzugehören als den verkrüppelten Höhlenmenschen, von denen er umgeben ist. Der Erringung der Königstochter schaltet die mythisierende Logik des Films nunmehr die Überwindung des Drachen vor. Nach dem Ritt durch einen Kulissenwald mit überdimensionierten Bäumen, wohl als Projektion überdimensionierter Gefahren zu verstehen, findet an einer Quelle der Kampf mit dem Drachen statt. Ein relativ defensiver Drache und ein relativ angriffslustiger Siegfried stellen das bildliche Pendant zum späteren Mord Hagens an Siegfried dar, der ebenfalls an einem Wasser stattfindet. Wie dann beim Bad im Drachenblut das Blatt vom Lindenbaum, gelöst durch eine Bewegung des Drachen, auf Siegfrieds Schulter hinabfällt und damit seine geheime Verletzbarkeit als fortan Unverletzbarer begründet, wird deutlich in Szene gesetzt. (2) Auch die nächste Sequenzenüberschrift ‚Wie Volker von Kriemhild sang und wie Siegfried nach Worms kam‘ birgt in sich eine signifikante Neuerung. Nicht Hagen, wie im ‚Nibelungenlied‘, erzählt den Burgunden von der mythischen Vergangenheit Siegfrieds, um sie vor seiner unbändigen Kraft zu warnen, sondern der Hofpoet Volker singt hier ein romantisches Lied, das eine liebesbereite Kriemhild dazu bewegt, dem Sänger einen von ihr verfertigten Mantel zu übergeben. Und im Vortrag Volkers folgt auf die Drachentötung die Eroberung des Horts und der Tarnkappe, indem Siegfried den Zwergenkönig Alberich überwindet. Siegfried triumphiert als Lichtheld mit dem Schwert Balmung aus dem Nibelungenhort in der Hand über einen amorphen Alberich. Die filmtechnisch raffinierte Versteinerung Alberichs und die seiner Zwergenknechte rückt diese Unterwelt, und damit auch die Erdwelt Mimes sowie später die der Hunnen, in den Grenzbereich zu einer mineralischen Welt ohne Bewusstsein. Der alte mythische Gegensatz von ungeschiedener Dunkelheit und erkennender Lichtwelt wird sinnfällig inszeniert.

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Siegfrieds Weg an den Wormser Hof führt schließlich über eine Brücke, auf der wir ihn in Siegerpose oberhalb eines Abgrundes sehen, nicht mehr tief unten in riesigen Schluchten und Waldkulissen wie bei seinem Aufbruch. Hagen, der seinen Königen im ‚Nibelungenlied‘ noch empfiehlt, Siegfried angemessen zu begrüßen, empfiehlt dem König Gunther im Film laut eingeblendetem Text: „Weigere ihm den Willkomm!“ Gunther aber besteht auf den Gepflogenheiten des Gastrechts. Ein im ‚Nibelungenlied‘ angelegter Konflikt zwischen Gunther und Siegfried wird übergangen und sogleich ein öffentlicher Gegensatz zwischen Siegfried und Hagen inszeniert. Offenbar will man schon jetzt dem Publikum Hagen als späteren Mörder Siegfrieds unmissverständlich vor Augen führen. Und ein Siegfried, der nicht mehr von einem Xantener Königshof angereist kommt, sondern den sein Schicksal von der archaischen Höhlenwelt eines Mime geradewegs in die stilisierte Welt von Worms katapultiert, unterliegt im Film auch nicht den Hemmungen und Konflikten, die einem Xantener Siegfried zunächst den Mund verschließen. Der Film-Siegfried wirbt vielmehr offen um die Königstochter. Lang und von Harbou arbeiten nun sozusagen mit einem Zeitraffer, wenn sie Hagens Bedingung an Siegfried, er möge bei der Brautwerbung um die unnahbare Brünhild für Gunther behilflich sein, von einem fortgeschritteneren Handlungsverlauf im ‚Nibelungenlied‘ in die Ankunftsszene verlegen und damit der Begrüßung Siegfrieds am Wormser Hof mit abweichender Motivierung gleichwohl ihren dramatischen Effekt bewahren. Das heißt, im Film wird der ursprüngliche Gegensatz zwischen Gunther und seinem Herausforderer Siegfried, der gleich um das gesamte Königreich streiten will, nivelliert zugunsten einer Opposition von Siegfried und Hagen. Beide geraten hier in einen heftigen Streit um den von Hagen zugemuteten Vasallenstatus Siegfrieds, in dem Hagen nur noch durch Dritte zu halten ist – bis die sanftmütige und besänftigende Kriemhild erscheint. Eine unter der huote ihrer Brüder stehende Kriemhild, auf deren bloßen Anblick Siegfried im ‚Nibelungenlied‘ lange zu warten hat, taucht im Film als eine Art Friedensengel mit dem Begrüßungstrunk für den Gast auf. Die beiden einander zugehörenden blonden Lichtgestalten dürfen sich also schon jetzt innig in die Augen sehen. Von Belang ist in diesem Zusammenhang insbesondere die markante Umgestaltung der Figur Gunthers. Zwar entwickelt er sich auch im ‚Nibelungenlied‘ mehr und mehr zu einem schwachen König, gleichwohl füllt er dort im ersten Teil noch den Part eines machtbewussten und kalkulierenden Herrschers aus, der sich die Fäden der Macht nicht entwinden lässt. Im Film hingegen steht er von Beginn an in Abhängigkeit des dämonischen Hagen, der immer wieder als sein Schatten bildlich in Szene gesetzt wird. Hagen, einäugig und mit geflügeltem Helm, mag dem Betrachter in der Tat als Verkörperung des Todesgottes Odin

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erscheinen.21 Gunther und Siegfried aber werden als ‚treue‘ Freunde vorgeführt, auf deren Freundschaft nur durch Hagen ein Schatten fällt. (3) ‚Wie Siegfried Brunhild für Gunther gewann‘. – Mit geflügeltem Helm erscheint auch die dunkle Brünhild auf Isenstein, womit sie in die Nähe des düsteren Hagen rückt. Ihre Haartracht, kurz und lockig mit freier Stirn, verbindet sie jedoch mit Siegfried. Eine Alte, die Brünhild die Zukunft vorhersagt, belebt dann einmal mehr eine chthonisch-dunkle Sphäre. Und schließlich öffnet man den Helden aus Worms die Tore der Burg. Wo im ‚Nibelungenlied‘ dort alle Wormser Helden einschließlich Hagen und Siegfried im Angesicht geballter matriarchaler Gewalt zittern und zagen, erscheint im Film nur Gunther schwach. Siegfried führt ihn jedoch in einem spannenden Wettkampf mit Brünhild dank seiner Tarnkappe wohlbehalten durch alle Gefahren. Hagen wird am Rande zum unangreifbar starken Helden als Widerpart einer dämonischbeeindruckenden Brünhild stilisiert. (4) ‚Wie Brunhild zu Worms einzog und wie die Könige sich vermählten‘. – Die Ankunft von Brünhild in Worms ist schließlich mit dem einprägsamen Bild der bis zur Brust im Wasser stehenden helmtragenden Burgunden verbunden, die für Brünhild eine Brücke bilden, ein Bild, das in seiner entpersonalisierenden Funktionalisierung menschlicher Gestalten an die knechtischen Zwerge, die den Schatz zu stemmen haben, erinnert und zu den vielzitierten Elementen einer irritierenden Massenästhetik im Film zählt.22 Als sich Brünhild schließlich auf dem Schiff einer Annäherung Gunthers, der sie offenbar hinausgeleiten will, gewaltsam widersetzt und ihn binden will (die Regisseure verpflanzen hier Elemente der fatalen Wormser Hochzeitsnacht aus dem ‚Nibelungenlied‘ auf das Schiff ), tritt Hagen hinzu und verweist Brünhild durch seine bloße Präsenz in ihre Schranken. Sowohl Brünhild wie Hagen unterliegen damit einer Dämonisierung, welche das Fragwürdige der ganzen Brautgewinnung für den schwachen Gunther in ihrer Person konzentriert. Eine Brünhild, die im ‚Nibelungenlied‘ nicht zuletzt als betrogene Frau in Erscheinung tritt, betrogen von einem mächtigen, für sie undurchschaubaren Männerbündnis, wandelt sich im Film zu einer Art Teufelin mit misstrauisch lauerndem Blick, die ihr Schicksal nicht anders verdient hat, weil sie die Männer willkürlich demütigen will. Nicht von ungefähr lassen die Filmemacher nach der Ankunft einen Priester an die abweisende Brünhild herantreten, der, das Kreuz über sie schlagend, gleichsam einen Bann vollzieht. Allenfalls Hagen vermag Brünhild noch Grenzen zu setzen, und Gunther schrumpft vollends zur willenlosen Marionette zwischen den beiden. Wieder in Worms, fordert Siegfried dann gegenüber Gunther, gemäß ihrer Abmachung, Kriemhild als seine Braut ein. Es ist jedoch Brünhild, die laut das Schicksal der Schwester des Königs beklagt, die einem vermeintlichen Vasallen

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vermählt würde, woraufhin Gunther ankündigt, noch heute Blutsbrüderschaft mit Siegfried trinken zu wollen. Lang und von Harbou haben hier aus dem ‚Nibelungenlied‘ das Motiv der Standeslüge Siegfrieds übernommen, der sich auf Isenstein als Vasall Gunthers ausgibt, um Brünhilds Aufmerksamkeit von sich auf Gunther zu lenken, und mit dem alten Sagenmotiv der Blutsbrüderschaft kombiniert. Auch in Worms sehen wir dann wieder eine Brünhild, die sich von einer ohnmächtig Weinenden im ‚Nibelungenlied‘ zur bösartig-eifersüchtigen Rivalin gewandelt hat. Gleichzeitig wird auch Hagen als dämonische Figur neu in Szene gesetzt, wie er mit dem Reichen eines Blutbechers die Schwurbruderschaft zwischen Gunther und Siegfried besiegelt, gleichsam in negativer Wiederholung des Begrüßungstrunks, den Kriemhild Siegfried reicht. Und als es um den Männlichkeitsbeweis in der Hochzeitsnacht, sprich die Überwindung der widerspenstigen Brünhild geht, ist es im Film nunmehr auch er, Hagen, der dem zögerlichen Siegfried die Tarnkappe vorhält und ihn zum neuerlichen Kräfteeinsatz nötigt. Wie im alten Sigurdlied der ‚Edda‘ agiert Siegfried im Film dann in der Gestalt Gunthers, wobei im Vergleich zum ‚Nibelungenlied‘ der kräfteraubende Kampf der beiden Heroen stark verharmlost und seiner brutalen Drastik entkleidet ist. Überhaupt ist im mittelhochdeutschen Text die archaische Verbindung des Paares Brünhild und Siegfried noch stärker spürbar, dort bietet Siegfried Gunther seine Dienste selbständig an und gewinnt im Kampf eine eigentümliche heroische Statur in einem stellvertretenden Einsatz für das ganze männliche Geschlecht. Im Film wird das komplexe Geschehen auf eine bloße Reaktion Siegfrieds auf die Nötigung Hagens reduziert. Verharmlost aber, um nicht zu sagen ‚zivilisiert‘, wird die Gestalt des kraftstrotzenden Sagenhelden generell. Langs und von Harbous Siegfried ist nicht mehr der charismatische Siegfried des ‚Nibelungenliedes‘, der die Bewunderung aller auf sich zieht, zugleich aber als Bedrohung für die Gemeinschaft einen sozial gefährlichen Selbstbehauptungsanspruch vor sich herträgt, sondern eher ein romantisierter Frauenheld, der hie und da von moralischen Selbstzweifeln angekränkelt ist. Insofern teilt Siegfried mit Gunther das Schicksal der Entheroisierung: Siegfried ist sein narzisstischer Selbstbehauptungswille genommen, Gunther seine Machtgier. Mehr und mehr läuft damit im Film das komplexe Motivgefüge der Vorlage um Siegfrieds Tod auf die Eifersucht und Rachgier Brünhilds und den überlegenen Dämon Hagen hinaus; die Herrschergestalten, das heißt die Könige aber werden exkulpiert. (5) ‚Wie nach sechs Monden Siegfrieds Morgengabe, der Nibelungen Hort, zu Worms eintraf und wie die Königinnen miteinander stritten‘. – Der Film greift Grundmotive des ‚Nibelungenliedes‘ auf, den Hort als Signum von Siegfrieds Macht und den Neid der Burgunden. Allerdings wird auch hier wieder eine markante zeitliche Umordnung vorgenommen. Es ist nicht Kriemhild, die

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erst nach Siegfrieds Tod den Hort auf die Einflüsterungen Hagens hin nach Worms holen lässt, sondern im Film nimmt Siegfried selbst den Schatz in Worms in Empfang und verteilt das Gold unter den missbilligenden Augen der Burgunden, insbesondere Brünhilds und Hagens, freigebigst unter das Gefolge. Dieser Gestus wirkt als Herrscherprivileg provozierend, und Brünhild drängt an diesem Punkt denn auch auf die Entfernung Siegfrieds vom Hof; Hagen stimmt ihr bei. Das Motiv ist neu, erfasst aber eine im ‚Nibelungenlied‘ angelegte Grundstruktur herrscherlicher Rivalitäten. Denn zumal ja im Film das Herrscherpaar Siegfried und Kriemhild in Xanten ausgespart bleibt, wird der Wunsch Brünhilds im ‚Nibelungenlied‘, das Paar in Worms wiederzusehen, hier in einen Ausstoßungsaffekt verkehrt. Die Umkehrung bleibt jedoch innerhalb der Logik einer affektiven Reaktion Brünhilds auf Siegfried. Siegfried aber, der im ‚Nibelungenlied‘ als großer Krieger einen glanzvollen Sieg gegen die Sachsen errungen hat und der auch das zweite Mal nach Worms mit großem kriegerischen Gefolge reist, erscheint im Film im spielerischen Austeilen seiner Schätze einmal mehr als jugendlich-unschuldiger Held, der nichts Böses im Schilde führt. Als solchen führt ihn dann auch die Szene vor, wie er sich im sonnigen Idyll auf einer Bank sitzend mit den Vögeln unterhält, eine Fähigkeit, die ihm durch das Kosten des Drachenbluts zugefallen war (das ‚Nibelungenlied‘ übergeht dieses alte Sagenmotiv). Und als Kriemhild beiläufig mit dem Armreif Brünhilds ankommt, den eine Zofe unter ihren Kleidern gefunden hatte, dürfen wir einen zerknirschten und beschämten Siegfried erleben, für den die Erinnerung an seine betrügerische Beihilfe in der Hochzeitsnacht höchst unangenehm ist, der Kriemhild voller Schuldgefühle das Geschehene gesteht und sie inständig bittet, den fatalen Armreif zu verbergen. Wo die mittelalterlichen Quellen nur grandiosen Stolz – im ‚Nibelungenlied‘ gibt Siegfried das dem Armreif entsprechende Attribut des Gürtels später als eine Art Siegestrophäe an seine Frau weiter – und grandiose Lügen kennen, wird hier ein zweiflerischer, reuiger Sünder vorgeführt, und reuige Sünder verdienen bekanntermaßen Vergebung. Der anschließende Frauenstreit vor dem Münster nimmt zwar das Ambiente des ‚Nibelungenlieds‘ auf, entlehnt aber wichtige Motive aus dem alten Sigurdlied. Im Anschluss an den Rangstreit der Frauen – jede will den mächtigsten Mann ihr Eigen nennen dürfen – zeigt Kriemhild den Armreif her und klärt Brünhild über das Geschehen in der Hochzeitsnacht auf. Brünhild, in ihrer Existenz nachhaltig erschüttert, will sich daraufhin von der Brücke stürzen. Als Hagen und Gunther sie mit Gewalt davon abzuhalten trachten, verpflichtet sie diese umgehend zur Rache an Siegfried – und bis zum Vollzug derselben tritt sie in den Hungerstreik. Gunther, der sich allerdings noch gebunden fühlt, weiß sie zu motivieren, indem sie ihm vorlügt, Siegfried habe sie entjungfert. Das heißt: Siegfrieds neuerworbenen Gefühlen zweifelnder Selbstreflexion auf

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der einen Seite wird auf der anderen Seite die rachelüsterne Brünhild aus einer alten Sagenschicht gegenübergestellt. Der Schuldige wird damit exkulpiert und die Betrogene in Schuld verstrickt. (6) ‚Wie Gunther Siegfried die Treue brach‘. – Auch bei der Inszenierung von Siegfrieds Tod folgt der Film seiner Logik der Schwächung Siegfrieds und Gunthers und einer Stärkung Hagens. Die Jagd, die zum Zwecke der Ermordung Siegfrieds arrangiert wird, verzichtet darauf, einen übermütig starken Siegfried zu zeigen, der in seinem überbordenden Jagdeifer fremde Ressourcen plündert und das Lager mit einer zweifelhaften Bärenjagd ins Chaos stürzt. Stattdessen sehen wir Siegfried und Gunther als zwei Kind-Brüder, die sich in einem sie emotional bedrückenden Streit befinden. Siegfried bietet Gunther voller Zuversicht wieder seine Freundschaft an. Ein schwacher, geduckter Gunther, von Brünhild und Hagen gelenkt, wendet sich jedoch schuldbewusst ängstlich ab und lässt den Dingen ihren Lauf. Hagen inszeniert dann den Wettlauf zum Wasser und ermordet Siegfried schließlich mit einem Speerwurf, als jener trinkt. Und wo sich im ‚Nibelungenlied‘ das ganze burgundische Gefolge stumm hinter ihn stellt, weichen die Umstehenden im Film voller Schrecken vor ihm zurück. Hagen ist nicht mehr ein dem Kollektiv verbundenes Vollzugsorgan wie im Epos, sondern ein sozial isolierter Übeltäter. Markant ist die bildliche Nähe zwischen der Drachenszene und der Ermordung Siegfrieds: wiederum eine liebliche Natur und ein Wasser, aus dem Siegfried trinkt wie vordem der Drache, und ein Hagen, der auf das Szenarium blickt wie vormals Siegfried. Eine mythische Logik des Stoffs, wonach Siegfried als Drachenüberwinder selbst zum Drachen wird, der beseitigt werden muss, wird man hier – zumindest auf den ersten Blick – filmisch umgesetzt sehen. So sinnfällig dieser Zusammenhang allerdings auf einer visuellen Verweisebene gemacht wird, so unerfüllt bleibt er auf der Ebene der Figurendarstellung. Siegfried ist ja eben alles Drachenhafte, das heißt Bedrohliche für die Gemeinschaft genommen, indem er zum reuigen Sünder domestiziert wird. Eher ist Hagen eine Reinkarnation des Drachen, der sich in gewandelter Gestalt an Siegfried rächt, ist er doch einäugig wie der Lindwurm, der durch Siegfried am Auge verletzt wurde. Damit wird aber nicht ein prozessualer mythischer Kreislauf von Überwinden und Überwundenwerden, sondern ein Sieg des von jeher Bösen inszeniert. (7) ‚Wie Kriemhild Hagen Tronje Rache schwur‘. – Der Gegensatz zwischen einem schwächlichen und infantilisierten Gunther und einer dämonischen Brünhild wird im Weiteren noch vertieft. Wie im alten Sigurdlied lacht Brünhild laut auf, als ein geduckter Gunther sich ihr nähert, um von der Tötung Siegfrieds zu berichten. Statt Befriedigung zu zeigen, gesteht sie Gunther höhnisch, dass Siegfried nie mit ihr geschlafen habe, und wirft ihm nun Treuebruch vor. Der eingeblendete Text lautet: „Heil Dir, König Gunther! Um eines Weibes Lüge willen erschlugst Du Deinen treusten Freund!“

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Das Treuemotiv wird dann an dem Leichnam Siegfrieds weitergesponnen, um den sich schließlich der Hof versammelt hat. Kriemhild nimmt, gemäß einem Motiv aus dem ‚Nibelungenlied‘, die Begebenheit, dass Siegfrieds Wunde mit dem Eintreten des düsteren Hagen aufs Neue zu bluten beginnt, als Beweis und fordert nunmehr von ihren Brüdern Rache an Hagen. Gunther, Volker und Gernot stellen sich jedoch nach und nach demonstrativ vor Hagen – eine originäre Bildidee der Filmemacher. Und Gernot werden im Zwischentext folgende Worte in den Mund gelegt: „Treue um Treue, Kriemhild. Seine Tat ist die unsere! Sein Los ist das unsere! Unsere Brust ist sein Schild!“ Gunther kompensiert also seine Treulosigkeit gegenüber Siegfried mit seiner Treue zu Hagen – und Gernot spricht dazu ein Treueversprechen im Duktus der biblischen Racheformel. Treue und Treulosigkeit, Rache und Aufopferungswillen werden in ein zähflüssiges Pathos eingeschmolzen und zu einem Bild verdichtet, in dem sich ein männliches Kollektiv gegenüber einer anmaßenden Frau formiert. Auch im ‚Nibelungenlied‘ steht Kriemhild einer geschlossenen männlich-burgundischen Phalanx gegenüber. Diese steht aber noch nicht unter dem Leitstern der ‚Treue‘, sondern ist als rationales Zweckbündnis im Sinne von Machterhalt und Machterweiterung durchschaubar. Mit dem Tod Siegfrieds hat sich dann auch Brünhilds symbiotische Existenz erschöpft, und bei der Totenwacht im Münster hockt sie leblos zusammengesunken am Fußende von Siegfrieds Bahre. Als Kriemhild ihren Mantel aufschlägt, ist zu sehen, wie sie einen Schwertknauf vor ihrer Brust umfasst hält: Offenbar ist sie Siegfried freiwillig in den Tod gefolgt. Kriemhild übernimmt damit die Rolle Brünhilds als Rachegöttin, was ihre nunmehr dunkel geschminkten Augen unterstreichen. Blicken wir zurück auf das Geschehen des ersten Filmteils, so bricht Siegfried aus einer dunklen Höhlen- und Waldwelt, die von Knechtsgestalten bewohnt wird, auf in eine höfische Lichtwelt, welche die Verheißung einer Frau für ihn bereithält. Zwar erreicht er den Hof und heiratet schließlich diese Frau, wird aber letztlich zum Opfer dämonischer Machenschaften, die in höfischem Gewand daherkommen. Der Film löst also seine selbst kreierte Verheißung nicht ein; die neue höfische Welt ist vielmehr ähnlich missgünstig wie die alte Höhlenwelt, und Siegfrieds Überwindung des Drachen sowie des Zwergenkönigs Alberich sind nur Stationen auf dem Weg in sein Unheil. Könnte man diesem Verlauf noch eine Schicksalslogik vor dem Hintergrund einer anzunehmenden ‚dunklen‘, weil triebgesteuerten Innenwelt zusprechen, die einem archaischen Siegfried zukäme, haben wir es im Film jedoch mit einem banalisierten Helden zu tun, dem quasibürgerliche Gefühlsattribute beigegeben werden. Seine kriegerischen Potenzen sind zurückgenommen, ebenso seine Selbstbehauptungsansprüche; vorgeführt wird stattdessen ein juvenil-unschuldiger blonder Jungmann, der sich von Hagen zu einem Betrug verführen lässt und darüber

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in moralische Zerknirschung verfällt. Sein naives Weltverhältnis lässt er sich jedoch nicht nehmen. Nicht von ungefähr und nicht nur aufgrund zeitabhängiger Geschmacksbilder wirkt der Filmheld also auf uns lächerlich, wo unter Umgehung von Rivalitätskonflikten ein zum unschuldigen Opfer purifizierter und damit simplifizierter Sagenheld aus der Taufe gehoben wird.23 Man könnte es auch so formulieren: Der dünnhäutige Siegfried des Films lässt seine sagenhafte Hornhaut vermissen. Verharmlost wird auch Gunther, dem erstaunlicherweise alle Machtgelüste genommen sind, der seinen Nächsten freundschaftlich zugetan ist – wären da nicht Hagen, der ihm immer wieder das Böse einflüstert, und Brünhild, die ihn zerstören will. Wo die Helden Siegfried und Gunther also geschwächt und in gewisser Weise ‚verbürgerlicht‘, das heißt: auf Kosten ihrer heroischen Stärke mit selbstreflexiven Attributen und Gefühlen ausgestattet werden, unterliegen Brünhild und Hagen einer konsequenten mythischen Stilisierung. Zwar haben auch noch im mittelalterlichen ‚Nibelungenlied‘ die Gestalten ihren dämonischen Schatten, jedoch in einer schillernden Manier, die kenntlich macht, dass ihre dämonische Qualität von den Zuschreibungen Dritter abhängig ist.24 Hagen und Brünhild aber sind bei Lang gleichsam Gestalten des Bösen aus eigener Kraft, an denen das Böse verdinglicht wird – wie im zweiten Teil an Kriemhild. Übrigens verleiht ihre archaische Unerbittlichkeit den dämonischen Figuren im Film die vergleichsweise größte Würde. Im Zusammenspiel mit den weicheren Charakteren wird allerdings ein dem Film eigentümliches ideologisches Weltbild sichtbar: Dämonisierte Figuren werden zu Teufeln innerhalb einer quasichristlichen Dualität von Gut und Böse.25 In diesem Sinne erscheinen auch die zentralen Frauenfiguren Kriemhild und Brünhild im ersten Teil als Spaltungen von Gut und Böse, ähnlich wie Maria und der Maria-Roboter in dem Lang-Film ‚Metropolis‘ von 1927. Und hier wie dort haben wir es mit einer Konstellation zu tun, welche die eigentlichen Machthaber auf Kosten Dritter entlastet. Gunther und Siegfried werden im Nibelungenfilm ebenso exkulpiert wie im Metropolis-Film der Industrielle Fredersen; der Erfinder Rotwang nimmt, wenn man so will, dort die Stelle des Bösewichts Hagen ein. Stellt man im Hinblick auf den Mord an Siegfried die Frage nach der ödipalen Konstellation, so zeigt sich im Vergleich zum ‚Nibelungenlied‘ eine markante Verschiebung. Während dort der Mord an Siegfried im weitesten Sinn als Brudermord zu begreifen ist – es gibt eine klare Konfliktlinie zwischen Gunther und Siegfried, Hagen agiert in gewisser Weise als Alter Ego Gunthers und ist ja auch in den alten Sagen noch ein leiblicher Königsbruder –, erscheint Hagens Mord im Film eher als der Sohnesmord einer Vaterfigur.26 Beide ‚Söhne‘, Gunther wie Siegfried, sind ihm gegenüber machtlos, und Gunther kann buchstäblich nicht aus dem Schatten einer dominierenden Hagen-Vaterfigur heraustreten. Eben

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dieses Bild, Hagen mit mächtigem geflügelten Helm als der Schatten Gunthers, aber auch Siegfrieds,27 setzt der Film wiederholt in Szene. Und als nach dem Vollzug der Blutsbrüderschaft Siegfried und Gunther einander die Hände reichen, legt Hagen, von hinten herantretend, seine Hand demonstrativ auf die ihren. Während Siegfried bei seiner Ankunft am Wormser Hof noch Rebellion gegenüber den Zumutungen Hagens zur Schau stellte, gerät er im Verlauf des Geschehens zunehmend mehr unter den ‚väterlichen‘ Bann Hagens, der den ‚Rebellen‘ schließlich beseitigen wird.28 Teil 2: Kriemhilds Rache (1) ‚Wie Kriemhild um Siegfried trauerte und wie König Etzel durch Rüdiger von Bechlarn um sie warb‘. – Das Motiv der Brautwerbung für Etzel durch Rüdiger stellt im mittelhochdeutschen ‚Nibelungenlied‘ die Klammer zwischen dem ersten und zweiten Teil dar und wurde getreulich von den Regisseuren übernommen, ebenso Rüdigers Racheversprechen gegenüber Kriemhild und sein diesbezüglicher Eid. Neu ist die zeitliche Verzahnung von Hortraub und Brautwerbung. Hagen beobachtet Kriemhild, wie sie großzügig aus dem Hort an Bedürftige austeilt, nicht ohne auf den noch ungesühnten Mord an ihrem Gemahl zu verweisen. Kriemhilds Rachebegehren wird dabei zwar eindeutig thematisiert, gewinnt aber wenig Plausibilität angesichts der Schar von Bettlern und Siechen, vor denen sie als eine Art mittelalterliche Heilige in Szene gesetzt wird. Hagen sieht sich jedoch genötigt zu handeln, und als Kriemhild schließlich die Nachricht vom Hortraub erhält, ist dies für sie der Anlass, in die Hochzeit mit Etzel einzuwilligen. Hagens vehemente Warnungen vor einer Verbindung der gekränkten Kriemhild mit dem mächtigen Etzel, die im ‚Nibelungenlied‘ einen deutlichen Konflikt mit den Königen markieren, werden im Film auf eine kurze Bemerkung gegenüber Gernot, es gelte nun, das Reich zu schützen, reduziert. Sie passten wohl nicht zu dem harmonisierenden Entwurf burgundischer Treue seitens der Filmemacher. Überhaupt gruppiert sich die Handlungslogik des zweiten Teils von Anfang an um zwei Motivpole: um Kriemhilds Rache als den negativen und die Treue der Burgunden als den positiven Pol. Während im ‚Nibelungenlied‘ die Treue der Burgunden erst im späteren Handlungsverlauf thematisiert wird und als eine zweifelhafte Kohäsionskraft des burgundischen Kampfverbands deutlich regressive Züge trägt – damit auch wesentlichen Anteil an dem kollektiven Untergang hat –, wird die burgundische Treue im Film von Beginn des zweiten Teils an als eine quasitugendhafte Qualität in Kontrast zu einer rachsüchtigen Kriemhild entwickelt.29 In Ablösung der dämonischen Brünhild wird Kriemhild nun dämonisiert, wo sie im ‚Nibelungenlied‘ zunächst noch Trost und Anlehnung bei ihren Angehörigen sucht. Im Film aber fordert Kriemhild bei Gunther

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alsbald Rache an Hagen ein, erfährt aber unter Hinweis auf die burgundische Treue eine Ablehnung. „Er hielt mir die Treue, ich halte sie ihm,“ heißt die eingeblendete Antwort Gunthers. Gleichwohl befindet sich Gunther gegenüber Kriemhild in einer defensiven Position, vergleichbar der gegenüber Brünhild. Das heißt, die Verharmlosung und Schwächung Gunthers wird auch im zweiten Teil konsequent fortgeführt. Und wo im ‚Nibelungenlied‘ die Könige am Hortraub indirekt sehr wohl beteiligt sind, agiert Hagen im Film gänzlich eigenmächtig und kippt den Hort bei Eis und Schnee Schild für Schild in den Rhein. (2) ‚Wie Kriemhild von der Heimat Abschied nahm und wie sie von Herrn Etzel empfangen wurde‘. – Vor dem Aufbruch sehen wir die rachelüsterne Kriemhild noch einmal als pathetisch Trauernde in einem Blut-und-BodenBild, das wohl der Phantasie der Filmemacher entsprungen ist. Kriemhild sucht noch einmal den Ort auf, wo Siegfried starb – inzwischen ist es Winter geworden –, und gräbt dort unter dem Schnee nach heimatlicher Erde, um sie mit sich in die Fremde zu nehmen: „Du hast Siegfrieds Blut getrunken, Erde! Einst will ich Dich tränken mit Hagen Tronjes Blut“, offeriert uns der Zwischentitel. Auf dieses quasiheidnische Ritual folgt ein Gebet am Grabe. Beim Abschied am Hofe führt der Film sodann eine gänzlich verhärtete Kriemhild vor, die sich nur von Giselher zärtlich verabschiedet und sich den Übrigen gegenüber schroff verweigert (das ‚Nibelungenlied‘ hält hier noch vielfältige Ambivalenzen und eine gewisse Herrscher-Rivalität zwischen dem Burgundenkönig und dem Abgesandten Etzels bereit). Wir sehen Kriemhild dann noch einmal von verkrüppelten Bettlern und Kranken umringt, während im Kontrast hierzu die Kamera zu einem mächtigstarken Hagen schwenkt, wie er imponierend und aufrecht auf einem Geländer sitzt. Immer wieder inszeniert der Film den Kontrast von aufrechter Schönheit und verkrüppelter Hässlichkeit. Hier ist es der Mörder, der seine ‚Schönheit‘ behauptet, und die missgestalteten Armen sollen wohl schon auf das Hunnenvolk verweisen. Ähnlich wie bei der Begrüßung Brünhilds am Wormser Hof sehen wir auch bei Kriemhilds Abschied eine Priesterfigur mit einem Kreuz, der offenbar das Böse bannen will. Einen grundsätzlichen Milieuwechsel bietet der Film dann mit dem Lager der Hunnen an, das in ein archaisches Ambiente versetzt wird. Wilde Reiterhorden sprengen heran. Nackte Kinder, barbusige Frauen, allesamt geduckte Gestalten, die an die Kreaturen in Mimes Höhlenwelt erinnern, bewegen sich aufgescheucht zwischen runden Erdbauten, deren Merkmal unregelmäßige Spitzbögen sind. Hunnische Späher, die wie Affen in einem Baum hocken, entdecken den herannahenden Zug und das Affenartige ihrer Bewegungen wird durch die Art und Weise, wie sie herunterspringen, noch unterstrichen. Beherrscht und geordnet hingegen erscheint der Einzug der Burgunden in das

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Hunnenlager. Im Saal Etzels wird dem klaren geometrischen Dekor von Worms eine verschlungene ornamentale Figurenwelt entgegengestellt, innerhalb derer Etzel als halbwilde majestätische Führergestalt auf einem riesigen Geweih thront, zu seinen Füßen eine chaotische Menschenmenge in wirrer Betriebsamkeit. Und vor der ankommenden Kriemhild als einer statuarischen Schönheit aus einer fernen höfischen Welt – das Fußvolk wurde des Saales verwiesen – wirft er seinen Königsmantel über eine Schmutzlache, um ihr den Weg zu ebnen. Erneut setzt der Film Kriemhild gleich zu Beginn als Rache- und Todesgöttin in Szene, wenn sie Etzel den Racheschwur abnimmt, bevor sie seine Frau werden will. Die Begebenheit erinnert an den Racheschwur Gunthers gegenüber Brünhild, und wieder wird ein komplexes Kausalitätsgefüge einseitig in einer dämonisierten Frauenfigur verschmolzen. Auch der große Etzel nimmt gegenüber Kriemhild nun eine ängstlich-ergebene Haltung ein. (3) ‚Wie König Etzel vor Rom lag und wie Kriemhild ihre Brüder entbieten ließ‘. – Eine burleske Szene, in der Etzel als schlafender und liebestoller Herrscher verhöhnt wird, erinnert an ein Motiv aus der mittelalterlichen Artusepik. Hier wird ein wütender Etzel nun durch eine unvermutete Freudennachricht besänftigt – die Geburt eines Sohnes. Anders als im ‚Nibelungenlied‘ wird diese im Film als ein dramaturgischer Höhepunkt inszeniert, der Anlass gibt, die unterschiedlichen Gefühle von Etzel und Kriemhild darzustellen. Während der Hunnenkönig mit stolzen Vatergefühlen ausgestattet wird, erstarrt Kriemhild zur grausam-gefühlskalten Mutter, deren Blick auf das Kind nur als Instrument ihrer Rache fällt. Im Hervorholen der blutgetränkten Erde, mit der sie sich, statt mit dem Kind, wieder auf ihr Lager legt, hatte sie sich noch einmal ihrer Bestimmung versichert. Und als sie von Etzel nach einem Wunsch gefragt wird, wünscht sie sich eine Einladung ihrer Brüder, woraufhin ein demütig-freudiger Etzel seinen Bruder Bloedel nach Worms schickt. Wiederum arbeitet der Film mit einer Vermischung mythisch-archaischer und christlich-moralischer Vorstellungswelten, wobei der männlichen Figur einmal mehr eine eher ‚humane‘ Position zukommt und die Frau als Inkarnation des Bösen auftritt. Der implizite Appell an Vorstellungen von einer ‚guten Mutter‘ bietet den Hintergrund für die Inszenierung einer emotionalen Abnormität. (4) ‚Wie Kriemhild ihre Brüder empfing‘. – Unmittelbar nach Ankunft der Burgunden – von einer Zwischenstation in Bechelaren und der Heirat von Dietlind und Giselher erfahren wir nur als Erzählung Bloedels – fordert Kriemhild im Film von Etzel ohne Umschweife sein Racheversprechen ein. Ebenso wie vormals ihr Bruder verweigert sich aber auch der Ehemann, diesmal unter Hinweis auf hergebrachtes Gastrecht: Er bietet allenfalls einen Zweikampf mit Hagen an, vor dem Kriemhild jedoch zurückweicht. Männliche Treue wird also im Film erneut dezidiert weiblicher Rachsucht gegenübergestellt.

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Ansonsten übernehmen Lang und von Harbou markante Motive aus dem mittelalterlichen Epos: Wie Kriemhild Gold auf Hagens Kopf aussetzt, wie Hagen und Volker vor dem Saal, in dem die Burgunden liegen, Wacht halten und wie Hagen das feige hunnische Gesindel verscheucht.30 Hagen und Volker als stattliche herausragende Krieger heben sich einmal mehr von den minderen Hunnen ab, die stets in großen Gruppen, erdnah kriechend, eine kontrastierende Primitivität verkörpern. – Am Rande wird Kriemhild vor überdimensionierten menschenleeren Kulissen ins Bild gesetzt, wie sie sich am Gemäuer entlang über den Hof bewegt. (5) ‚Wie die Hunnen mit den Nibelungen das Sonnwendfest feierten‘. – Auf Einladung Etzels ziehen die Burgunden, die fortan Nibelungen heißen, provokativ in voller Rüstung in den Saal ein, und hier wie für die nun folgenden Kampfhandlungen liefert das ‚Nibelungenlied‘ wieder das Grundgerüst. Vor den Kämpfen aber nutzt der Film die Gelegenheit, ausgiebigst die Primitivität einer lärmend feiernden Hunnenschar ins Bild zu setzen, wo etwa einer von ihnen vor lauter Begeisterung mit bloßen Händen in seinen Brei klatscht. Auf ein Zeichen Kriemhilds fallen die Hunnen schließlich über die Burgunden her – mit unritterlichen Waffen wie Äxten, Knüppeln und Pfeilen. Kriemhild hatte in angespannter Lage ihren Sohn in den Saal holen lassen, und es dauert nicht lange, bis Hagen den Etzelspross ermordet – als Antwort auf den Tod eines Burgunden. Wo im ‚Nibelungenlied‘ allerdings klar von einer Enthauptung die Rede ist, wird hier der Zuschauer geschont und ein abstrakter Streich Hagens hinterlässt einen unversehrten Kinderkörper – eine der ‚schönen Leichen‘ des Films. Lang und von Harbou greifen dann wieder einmal auf eine alte Sagenschicht zurück, wenn sie mit diesem Vorfall Etzels Aufhebung des Gastrechts verbinden – und damit ihre Konstruktion einer grausam-gefühlskalten Mutter abrunden. Zwischen einer Minderzahl von tapferen burgundischen Rittern mit Schwert und Schild und einer Vielzahl von Hunnen, die regellos über die Gäste herfallen, beginnt der Kampf zu toben. Dietrich von Bern erwirkt schließlich für sich und die Seinen freien Abzug, und wie im ‚Nibelungenlied‘ verlässt er mit Etzel und Kriemhild unter dem Geleit Gunthers den Saal. (6) ‚Der Nibelungen Not‘. – Kriemhild tut sich schwer, ihre Hunnen, die vor burgundischer Kampfesmacht zurückgewichen sind und sich nun ihrer Königin auf allen vieren nähern, erneut zu motivieren. Der Hinweis auf Rache für das Kind verfehlt jedoch nicht seine Wirkung, und die Hunnen überfallen den Saal mit den Burgunden erneut, indem sie über das Dach hineinklettern und gleichzeitig das Tor stürmen. Ritterliche Einzelkämpfe, wie sie das ‚Nibelungenlied‘ in hochstilisierter Form bereithält, gibt es nicht: Die Hunnen, ohne Rüstung und ohne ritterliche Waffen können allein aufgrund ihrer erdrückenden Überzahl und unter großen Verlusten die Oberhand gewinnen, und stets

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bleibt der Gegensatz zwischen den ritterlichen Kriegern aus Worms und dem halbwilden hunnischen Gesindel gewahrt. Auch im Folgenden wird eine weitere Zuspitzung des filmtypischen Gegensatzes von nibelungischer Treue einerseits und Kriemhild’scher Rachewut andererseits in Szene gesetzt. Kriemhild und Etzel wollen zu wiederholten Malen Hagen ausgeliefert bekommen, womit immer wieder der Anlass geboten wird, innerburgundische Gemeinschaftsgefühle vorzuführen. Schließlich nötigt Kriemhild Rüdiger, gemäß der Vorlage im ‚Nibelungenlied‘, seinen vasallitischen Eid einzulösen und gegen die Burgunden, unter ihnen sein Schwiegersohn Giselher, anzutreten. Etzel ist immer wieder mit dem toten Kind im Arm zu sehen. (7) ‚Der Nibelungen Ende‘. – Rüdiger betritt nunmehr den Saal, fordert Hagen zum Kampf heraus und trifft dabei versehentlich den zwischen ihnen stehenden Giselher. Im ‚Nibelungenlied‘ liefert Rüdiger den Burgunden noch einen erbitterten, aber vorbildlichen Kampf. Ritterliche Kampfeswut, wie sie das ‚Nibelungenlied‘ sattsam vorführt, wird im Film jedoch stark beschönigt: Die Burgunden kämpfen rein defensiv und die Gegenseite ist um alle ritterlichen Qualitäten gebracht. Zwar gibt es reichlich Tote, aber mit Giselher wird ein weiterer quasiunversehrter Verletzter unter den namhaften Helden vorgeführt. Als Etzel wiederholt auf der Auslieferung Hagens besteht, lassen die Filmemacher für Dietrich folgenden Zwischentitel einblenden: „Ihr kennt die deutsche Seele nicht, Herr Etzel!“ oder in einer anderen Version: „Ihr kennt nicht die feste Treue der Germanen“. Innerburgundische Machtkonflikte, die das ‚Nibelungenlied‘ sehr wohl kennt, bleiben dabei auf der Strecke, ebenso wie die kriegstreiberische Rolle Hagens. Kriemhild wird dann endgültig, wie im ersten Teil Hagen, zu einer entrückten Verkörperung des Bösen stilisiert, wenn Etzel vor ihr zurückweicht, wie sie unbeweglich auf den brennenden Saal mit ihren Verwandten darin starrt – auf ihren Befehl hin war der Saal mit Feuerpfeilen beschossen worden. Auch vor Hagen hatte der Film nach Siegfrieds Tod die Umstehenden zurückweichen lassen. Im brennenden Saal offeriert der Film dann folgende markante Szene: Alle Burgunden sind tot oder geschwächt, die Halle ist verwüstet. Hagen hält angesichts herabstürzender brennender Scheite schützend seinen Schild über Gunther und geht dann auf das Tor zu: „Ich will nicht, daß König Gunther von Burgund den Rauchtod stirbt. Ich bringe Frau Kriemhild meinen Kopf.“ Ein geschwächter Gunther hält ihn jedoch mit letzter Kraft auf. „Sagt, Nibelungen, wollt ihr euer Leben mit Hagen Tronjes Kopf erkaufen?“ lautet der eingeblendete Appell Gunthers an seine Krieger. Ein heftiges Köpfeschütteln und Gunther schaut Hagen beredt an: „Treue, die an Eisen nicht zerbrach, schmilzt auch nicht im Feuer, Hagen Tronje!“ Es folgen die Bilder herabfallender brennender Balken und ein pittoreskes Flammenmeer, untermalt mit

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der melodisch-triumphalen Musik von Gottfried Huppertz, als eine filmische Suggestion pathetischer Untergangsbereitschaft, in der das Kollektiv der Burgunden den Tod erwartet. Die besagte Szene ist dem alten Text neu hinzugefügt. Zwar verlangen auch dort die Burgunden nicht, dass Hagen sich ausliefert, Hagen bietet sich aber auch wohlgemerkt nie dazu an! Sich für die Gemeinschaft zu opfern steht einem Hagen im ‚Nibelungenlied‘ denkbar fern, auch wenn er die Gefühle der Gemeinschaft auf sich zu ziehen weiß. Vielmehr ist er es, der die Gemeinschaft dort seinem unerbittlichen Rachewillen unterwirft, welcher der Racheobsession Kriemhilds in nichts nachsteht. Und die vereinigte Kampfkraft der Burgunden unter der Führung Hagens verdankt sich im ‚Nibelungenlied‘ nicht zuletzt einer ohnmächtigen Unterwerfung Gunthers, der seine Rolle als vermittelnder König verfehlt. Dietrich, ein Vasall Etzels mit höfischem Habitus und damit, ebenso wie Rüdiger, in eigentümlichem Kontrast zu dem halbwilden hunnischen Volk stehend, bringt Hagen und Gunther schließlich gefesselt und lebend aus dem Saal: Hagen ist gezeichnet, ohne Helm, steht aber aufrecht, Gunther lehnt sich an ihn. Etzel will nach Hagen, dem Mörder seines Sohnes, greifen, lässt dann jedoch von ihm ab und weist zu Kriemhild hinüber. Dietrich übergibt daraufhin Kriemhild Siegfrieds Schwert, das Hagen geführt hatte, und mit dem Schwert sehen wir Kriemhild in Gedanken bei ihrem toten Geliebten verweilen. Erst lässt sie dann Gunther fortbringen. Nach kurzem verbalem Schlagabtausch mit Hagen um den Verbleib des Hortes – er verkündet, dass man sich gelobt hätte, den Ort nicht preiszugeben, solange einer der Könige noch lebe – reagiert sie prompt: Das heißt, sie lässt umgehend den Kopf Gunthers von einem Hunnen vorzeigen. Hagen lacht wild, und Kriemhild streckt ihn mit einem unklaren Schwertstreich nieder. Dann ist zu sehen, wie sie offenbar selbst getroffen ist, ohne dass der Täter gezeigt würde. Der kundige Zuschauer weiß, dass es Hildebrand war, der vorher ins Bild gerückt wurde. Sie nimmt noch ihr Tuch mit Erde aus dem Busen und schüttet es aus mit den Worten: „Nun, Erde, trinke dich satt!“, bevor sie stirbt.31 Etzel fängt sie in mitfühlendem Gestus auf und ordnet an, sie zurück nach Worms zu ihrem toten Gemahl zu bringen: „Bringe sie heim zu Siegfried, ihrem toten Gatten! Keinem andern Manne gehörte sie je!“ Die Schlusseinstellung zeigt sie im Schoße Etzels liegend, eine ikonographische Einstellung, die an Bilder der Pietà gemahnt. Der Film inszeniert damit ein vergleichsweise verträgliches Ende, indem er das große Köpferollen am Ende des ‚Nibelungenliedes‘ zurücknimmt. Dort lässt Kriemhild nämlich erst Gunther enthaupten, zeigt dessen Kopf mit eigener Hand vor und schlägt dann Hagen den Kopf ab – worauf Hildebrand die laut schreiende Kriemhild in einem stellvertretenden Racheakt ‚in Stücke haut‘.

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Trivialisierende Nacherzählungen verharmlosen in der Regel diesen seit jeher so provozierenden wie erschütternden und unversöhnlichen Schluss.32 Auch im Film wird Kriemhild gleichsam dem Gesetz der Rache enthoben, wenn sie in unversehrter Schönheit stirbt, mit unklarer Kausalität, die auch an eine lautlose Selbstauslöschung denken lässt, als ewig treue Geliebte ihres toten Gemahls.33 Aber mehr noch: Indem Etzel die tote Kriemhild heim zu ihrem toten Siegfried schicken will, gerät das Ende in die Nähe des Tristan-und-Isolde-Mythos, wo der Tod die unglücklich Liebenden wieder vereint. Eine zugleich regressive und tröstliche Wiedervereinigung tritt an die Stelle von endgültiger Trennung und Zerstörung. * In der Gestaltung seiner dämonischen Hauptfiguren verfehlt der Film nicht seine Wirkung. Eine düster-schöne Brünhild, ein verwitterter Hagen und eine makellose Kriemhild transportieren partiell den unerbittlichen Schicksalsgedanken eines alten Sagenkerns. Gleichwohl begibt sich der Film immer dort auf eine trivialisierende Ebene, wo er uns daneben ‚gute‘ Heroen mit ‚menschlichen‘ Gefühlen zeigt, von Reue und Zweifel oder Vaterstolz beseelt. Bindungs- und selbstreflexive Gefühle werden mit archaischen Antrieben in einen moralisierenden Wechselbezug gesetzt – säuberlich nach Rollen getrennt, wobei ursprüngliche Ambivalenzen in den Figuren nach außen verlagert werden. In diesem Sinne werden denn allein die archaischen Kräfte kausal für das Unheil gemacht, und das Böse wäre nicht faszinierend, wenn es nicht siegen würde. Um noch einmal das ‚Nibelungenlied‘ heranzuziehen: Das Unheil entsteht dort aus einem Ineinandergreifen von sehr rationalen Machtinteressen und irrationalen Triebwelten. Im Film werden die handfesten politischen Interessen dieser Gesellschaft von königlichen Machthabern und mächtigen Vasallen jedoch stark eingeebnet. Stattdessen wird eine ideologische Deutungsebene, die das ‚Nibelungenlied‘ des 13. Jahrhunderts an seiner Oberfläche zwar anbietet, jedoch in seiner eigenen Dramaturgie der Hinfälligkeit überführt – die von Freundes- und Vasallentreue –, simplifizierend neu angeboten. Ein feudaler Wert der triuwe, der offenbar schon um 1200 mehr als brüchig geworden war und den Individualisierungstendenzen der Zeit entgegenstand, wird als sogenannte ‚Nibelungentreue‘34 dem Publikum des 20. Jahrhunderts vorgeführt, und zwar mit der Suggestion, dass eine pure Gruppenkohäsion das große Unheil transzendieren könne. Ihre ‚Treue‘ kann die Burgunden zwar auch nicht vor dem Untergang retten, aber sie soll ihrem Tod Würde verleihen. Im ersten Teil des Films ist es noch der ‚Treuebruch‘, der das weiblich initiierte Unheil möglich macht; im zweiten Teil ist die ‚Treue‘ gleichsam das männliche Antidot zur weiblichen Rachsucht, welche es auf die Zerstörung der Männer abgesehen hat; denn wo die Männergruppe zusammenhält, hat die mächtige böse Frau keine

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Macht mehr über sie. Diese mythische Vorstellung, die unschwer als Projektion eines schwachen männlichen Ichs zu erkennen ist, durchzieht unter anderem auch noch das mittelhochdeutsche ‚Nibelungenlied‘. Allerdings behält hier der Erzähler stets Distanz zu den Ängsten seiner Figuren, und eine regressive Gruppendynamik, die in Hagen einen quasiväterlichen Führer sucht, wird zwar im ‚Nibelungenlied‘ exempelhaft vorgeführt, aber mitnichten ideologisch verbrämt. Hagens Anteil am Untergang bleibt im ‚Nibelungenlied‘ unmittelbar evident. 1933 kam nur der erste Teil des Nibelungenfilms wieder in die Kinos, das Gesamtprojekt stieß also wohl nicht auf die ungeteilte Zustimmung der nationalsozialistischen Führung. Aber dennoch wird Görings Nibelungen-Bezug in seiner Stalingradrede Winter 1943,35 in der ein fatalistischer Kampfeswille der Nibelungen als vorbildhaft glorifiziert wird, vor dem Hintergrund des LangFilms sinnfällig. Und wenn Sebastian Haffner in seiner ‚Geschichte eines Deutschen‘ die „Kameradschafts-Hurerei“,36 das heißt die breitgestreute, systematische Inszenierung von Gruppenregressionen in militärischen und paramilitärischen Verbänden so glänzend als das Mittel des Nationalsozialismus beschreibt, mit dem es sich seine willfährigen Erfüllungsgehilfen geformt habe, dann kann man den Nibelungenfilm Langs mit seiner Darbietung von ‚germanischer Treue‘ schwerlich von einer ideologischen Last freisprechen.37 Fragwürdig bleibt dem Betrachter auch nach wie vor die spezifische Ästhetik des Films, welche die Menschen in so starkem Maße als Teile ihrer Umgebung funktionalisiert.38 Das trifft zum einen auf die höfische Welt in Worms zu, welche Soldaten und Herrscherfiguren in überdimensionierte Räume hi­neinstellt, sie zum Dekor derselben macht und immer wieder in den Rahmen der Rundbögen hineinzwingt – aber genauso auch auf die Knechtsgestalten der ‚Unterwelten‘, die in Haltung und Kleidung ihre Erdnähe zum Ausdruck bringen. Wo die Wormser mit dem sie umgebenden Hof verschmelzen, aus dem die Kamera sie nicht entlässt, werden die Hunnen und Waldmenschen, um das menschliche Signum des aufrechten Ganges gebracht, zu Teilen ihrer Höhlenwelt, die sie in animalischer Erdnähe bevölkern.39 Einer individuellen Dynamik zwischen diesen Bereichen gibt der Film kaum Raum und nimmt damit viele Gestaltungsgesetze von ‚Metropolis‘ vorweg.40 Und weil die Figuren derart entindividualisiert und stilisiert sind, entziehen sie sich auch einer emotionalen Teilnahme des Zuschauers. Emotionalität spielt neben einer kühlen visuellen Ästhetik allenfalls die Musik von Gottfried Huppertz ein. Offenbar kommt schon im Nibelungenfilm, noch vor ‚Metropolis‘, eine Vision Langs von Fremdbestimmtheit zum Tragen, welche die Ohnmachtsgefühle der damaligen Zeit angesichts von Kriegserfahrung, Zusammenbruch der Monarchie, politischer Instabilität und schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen widerspiegeln mag und in eine zeitlos-unbestimmte

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Vergangenheit projiziert.41 Im Einklang mit dem mythologischen Interesse seiner Zeit bindet der Film nun die Vorstellung von Fremdbestimmtheit an einen germanischen Schicksalsgedanken an, wobei er im Vergleich zum mittelalterlichen ‚Nibelungenlied‘ eine partielle Remythologisierung des Stoffes vornimmt. Gleichzeitig werden die spröden Vorzeithelden aber auch selektiv mit selbstreflexiven Gefühlen ausgestattet und in einen christlich-klerikalen Rahmen gestellt. Dämonisierungen und Sentimentalisierungen offerieren somit im Film eine neue Ordnung von Gut und Böse, welche Rivalitäten verschleiert und die Widerständigkeit der alten Texte einebnet. Paradoxerweise wird so mit dem Anspruch und Versuch der Wiederbelebung eines alten Themas aus verschiedenen Quellen der Stoff in seiner ursprünglichen Komplexität verfehlt. Die Rätselhaftigkeit eines zwingenden selbstdestruktiven Prozesses und ein ebenso grauenvolles wie sinnloses Ende werden in vordergründige Kausalitäten und einen beschönigenden Schluss gezwungen. Kriemhild wird nicht in einer Entladung von Hass ‚in Stücke gehauen‘, sondern stirbt in abstrakter Unantastbarkeit und makelloser Schönheit, ebenso wie Siegfried, mit dem sie wieder vereint werden soll. Langs ‚Wille zum 42 gefriert gleichsam einen vulkanischen Stoff zu Eis. Und als Leitidee in einer Abfolge von bildträchtigen Mythologemen und Werkfragmenten bieten uns die Filmemacher den vermeintlichen Gemeinschaftswert der Gefolgschaftstreue mit seinen Varianten der Freundes- und Gefährtentreue an.43 Das, was das ‚Nibelungenlied‘ schon im 13. Jahrhundert in so bestürzender Klarheit darlegt, nämlich eine gefährliche Bereitschaft zur Regression, die in den sicheren Tod führt, wird gleichsam in seiner dargestellten Verführungskraft distanzlos angenommen und als Wert präsentiert.44 ‚Germanische Treue‘, ein letztlich aus der Angst geborener regressiver Wunsch nach Gruppenkohäsion, ein narkotisierendes Substitut der Ohnmächtigen, verschleiert und verfestigt als vermeintlicher Wert jedoch nachhaltig das tatsächliche Gefälle von Macht und Ohnmacht.45 Der Sog in den Untergang als das Kernstück des Nibelungenmythos mündet im Film denn auch konsequenterweise mit den Hauptfiguren in einen ‚schönen Tod‘ – als der letztgültigen Gestalt von absoluter Treue, die in Kriemhild und Brünhild mit einem absoluten Rachewillen verschmilzt. Brünhild und Kriemhild sterben als die vollkommenen Ikonen, die sie schon immer waren, und der tote Siegfried bietet nicht etwa den geschundenen Leichnam eines ‚Gejagten‘, sondern eine Leiche von skulpturaler Schönheit. Ja, die starre Schönheit der Figuren enthebt diese gleichsam einem Gegensatz von Tod und Leben, sie überzieht schon das Leben mit dem Hauch des Todes und den Tod mit der Blüte der Schönheit.46 Der Weg zu Leni Riefenstahls entemotionalisierter Körperästhetik ist von hier aus nicht mehr weit, der ‚Triumph des Willens‘ und der ‚Schönheit‘47 liegen vielmehr nahe beieinander. Und während die stattlichen

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Helden aus Burgund und ihre schönen Frauen Exemplen einer statuarischen Schönheit darstellen, wird in ihren Gegenspielern, den Schmiedeknechten, Nibelungenzwergen und Hunnen, einer Vorstellung vom Minderwertigen und Gemeinen ein menschliches Antlitz geliehen. Eine weithin dualistische Weltkonstruktion unterscheidet immer wieder nach Gut und Böse, Treu und Untreu, Schön und Hässlich – nicht ohne eine Vision vom letztendlichen Sieg der Schönheit. Fritz Langs und Thea von Harbous Nibelungenfilm stellt somit Regressionen auf unterschiedlichen Ebenen dar: das Aufgehen des Individuums im Apparat der Wormser Hofwelt, die Verschmelzung kreatürlich zurückgebliebener Menschen mit der Natur und die imaginäre Unsterblichkeit der großen Helden in einem ‚schönen‘ oder zumindest heldenhaften Tod, der ein glückloses Leben transzendieren soll. Der Schrecken aber, den alle diese Formen des Untergangs bereithalten, wird in der Vollkommenheit der schönen Bilder ebenso geleugnet, wie die Helden des ‚Nibelungenliedes‘ in ihrem Allmachtswahn die Realität leugnen. Thea von Harbou und Fritz Lang bieten die Nibelungensage jedoch nicht als Erzählung einer Verkettung von Betrug und Rache, von gefährlichen menschlichen Urantrieben, vom tiefen Fall aus der Höhe des Ruhms in die Totalität eines kollektiven Untergangs an, sondern als Kitsch-Version eines geschlossenen regressiven Kreislaufs, der mit einem männlichen Aufbruch aus einer dunklen Höhlenwelt anhebt und mit dem großen Sterben unter ähnlich minderen Kreaturen endet. Sie erzählen die mythisierende Geschichte einer alles verschlingenden Erde, die ihre Kinder frisst, und ‚besingen‘ zugleich die geheimnisvolle Schönheit der Selbstaufgabe im Untergang. Hier soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass die zeitgenössische Germanistik ihren entschiedenen Anteil an der ideologischen Funktionalisierung und Verzerrung des ‚Nibelungenliedes‘ als eines sogenannten „Nationalepos“48 hatte. Eine pathetische Feier von Natur, Tod und Vergänglichkeit stimmt schon August Vilmar in seiner Kommentierung des ‚Nibelungenliedes‘ an,49 und Gustav Roethe propagiert in seinen Schriften ein Heldentum „ästhetischer Selbstzucht“ nach Maßgabe einer Polarisierung von „Wildheit“ und „höfischem Heldentum“50 und einer Glorifizierung „deutscher Treue“.51 Auch hier dürften sich also die Filmemacher bedient haben. Dies alles wird uns schließlich nicht ohne christliche Verbrämung angeboten. In der Schlusseinstellung kommt Kriemhild im geschlechterverkehrten Bild einer Pietà die Position einer ‚Erlöserin‘ zu, und im Programmheft spricht Thea von Harbou davon, dass ihr Film dazu berufen sei, „als ein Sendbote von deutschem Wesen, deutscher Arbeit, Geduld und Kunst einer jener Apostel zu werden, zu denen ihr Meister sprach: Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker!“52 Offenbar geht für die Filmemacher mit einer programmatischen

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Überhöhung und Übersteigerung ihres Sujets53 auch eine narzisstische Überhöhung ihrer selbst als ‚Meister‘ einher und ist dort, wo ein sogenannter nationaler Stoff sakralisiert wird,54 sonst nichts mehr heilig.55 Dass die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen mit ihren spezifischen Inferioritätsgefühlen56 für kompensatorische Größenphantasien anfällig war, belegt also auch der Nibelungenfilm, dessen zugrunde liegender Stoff eine ähnliche Problematik umkreist. Dort müssen nicht von ungefähr all jene grandiosen Helden sterben, die sich selbst für unsterblich halten. Thea von Harbou und Fritz Lang sind jedoch eher der Verführungskraft einer verrätselten Textlogik erlegen, als dass sie Intellektualität und Distanz im Umgang mit den Quellen bewiesen hätten. „Dem deutschen Volke“57 jedenfalls, dem der Film schwärmerisch gewidmet ist, wurde mit dieser Bearbeitung des beunruhigenden Untergangsepos nicht die Möglichkeit einer produktiven Auseinandersetzung gegeben, sondern haben Regisseur und Autorin nur die zeittypischen Sehnsüchte nach großer Form und großen Gefühlen mit einem filmischen Surrogat beantwortet.

Hagen von Tronje und Tom Hagen

6.5 Hagen von Tronje und Tom Hagen Francis Ford Coppolas und Mario Puzos Mafia-Film ‚Der Pate‘ und das ‚Nibelungenlied‘

Ein filmbegeisterter Mediävist verzeichnet mit Bedauern, dass nach Fritz Langs großem Nibelungenfilm aus den zwanziger Jahren keine künstlerisch herausragende filmische Bearbeitung des Stoffs mehr zu sehen war. Auf nibelungischer Spurensuche in der Welt des Kinos aber zieht ihn ein cineastisches Meisterwerk aus dem Jahre 1972 in seinen Bann, in dem es, wie im ‚Nibelungenlied‘,1 um Verrat und Rache geht, in dem Feste gefeiert werden und Blut fließt, ein Film, in dem Gewalt, nicht anders als im ‚Nibelungenlied‘, als Signum phantasmatischer Allmacht gefeiert und zugleich in Frage gestellt wird. Die Rede ist hier von Francis Ford Coppolas zwischenzeitlich zu einem Mythos avancierten2 Mafia-Film ‚Der Pate‘ (‚The Godfather‘), zu dem 1974 noch ein zweiter, 1990 ein dritter Teil in die Kinos kam.3 Bei aufmerksamem Sehen fällt dem mediävistisch geschulten Zuschauer nun auf, dass es, nicht anders als in der burgundischen Königsfamilie, auch in dem mafiosen Corleone-Clan drei Brüder (Santino/Sonny, Fredo, Michael) und eine Schwester (Constanzia/Connie) gibt und dass auch hier der Mann der Schwester (Carlo), der seine Loyalität dem Clan gegenüber gebrochen hat, umgebracht wird. Im Besonderen aber entdeckt er in der Corleone-Familie einen ‚Consigliere‘, der nicht nur eine verblüffende Rollenverwandtschaft zum vasallitischen Ratgeber Hagen aus dem ‚Nibelungenlied‘ aufweist, sondern auch praktisch dessen Namen trägt. Hagen von Tronje wird im Film zu ‚Tom Hagen‘. Wenn dann in der Szene, in welcher der hitzige Sonny ( James Caan) seinen Schwager Carlo öffentlich verprügelt, auch noch ein Lastwagen mit der Aufschrift „Rheingold“ im Hintergrund steht, während aus einem Hydranten Wasser spritzt, kann wohl kein Zweifel mehr daran bestehen, dass die Filmemacher das ‚Nibelungenlied‘ und Richard Wagners ‚Ring des Nibelungen‘ als Referenzen für einen zeitlosen Kampf um die Macht kennen und zitieren.4 Ehe nun einige Parallelen zwischen dem amerikanischen Mafia-Thriller und dem mittelhochdeutschen Epos zur Sprache kommen, sei vorab des Rätsels vermutete Lösung beigegeben. Mario Puzo, der Autor des Erfolgsromans ‚The Godfather‘5 – für den die Filmrechte im Übrigen schon vor Erscheinen des Buches aufgekauft waren – und gemeinsam mit Coppola Drehbuchautor des Films, war im Zweiten Weltkrieg auch in Deutschland stationiert. So spielt sein erster Roman ‚The Dark Arena‘ (1955) im Deutschland der Nachkriegszeit.

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Es braucht also nicht zu verwundern, wenn ein lesebeflissener amerikanischer Schriftsteller bei seinem Deutschlandaufenthalt auch das ‚Nibelungenlied‘ entdeckt oder dessen Lektüre vertieft haben mag. Dass das ‚Nibelungenlied‘ zu den Inspirationsquellen für einen amerikanischen Kultfilm des 20. Jahrhunderts zählt, ist aber wohl nur wenigen bewusst.6 Blicken wir aus dieser Perspektive zunächst noch einmal zurück auf die markante Figur des Tom Hagen, gespielt von Robert Duvall. Dass Mario Puzo den Nibelungenstoff nicht nur oberflächlich kannte, zeigt die Konstruktion der Herkunft Hagens im Film. Er nimmt mit einer deutsch-irischen Abstammung7 neben dem sizilianischen Corleone-Clan eine Sonderstellung und als elternloser Freund Sonnys die Rolle eines Ziehsohns ein, der später für die Corleone-Familie die Funktion eines Anwalts übernimmt.8 Vasallitische Ergebenheit erscheint neuzeitlich gewandelt als anwaltliche Loyalität. Subtil wird Tom Hagen dabei in Anlehnung an sein großes Vorbild als eine Figur in Szene gesetzt, die, unmittelbarer Machtbefugnisse enthoben, den größten Überblick mitbringt. Er ist auch derjenige, der mit durchschlagender Effizienz die Inte­ ressen des Clans vertritt, der verhandelt und gegebenenfalls bedenkenlos handelt. Wenngleich der Zuschauer erfährt, dass Tom Hagen in Erfüllung des gängigen Mafia-Musters eine Frau, Kinder und eine Freundin hat, wird er jedoch, nicht anders als sein mittelhochdeutscher Namensvetter, nahezu ausschließlich in frauenferner Vereinzelung beziehungsweise in der Männergruppe der Familie gezeigt. Und, wie sollte es anders sein, natürlich werden auch seine weitsichtigen Ratschläge an entscheidenden Stellen nicht befolgt. Vito Corleones Absage an den Einstieg in das Rauschgiftgeschäft bereitet den Abstieg der Familie vor, während Tom Hagen noch zugeraten hatte. Gleichermaßen warnt Tom Sonny davor, das Grundstück der Familie ohne Leibwächter zu verlassen, worüber sich dieser jedoch hinwegsetzt und in seinen Tod fährt. Auch im zweiten Teil prallen berechtigte Bedenken Tom Hagens an Michael (Al Pacino), dem neuen Don, ab. Neben Hagen als dem auffälligsten ‚Doppelgänger‘ mag man hie und da bei den Figuren von Kay (Diane Keaton), der amerikanischen Frau Michaels, und Connie (Talia Shire) noch an die Kriemhild des ersten Teils des ‚Nibelungenliedes‘ denken. Die betroffene Connie klagt ihren Bruder Michael nach dem Mord an Carlo, ihrem Ehemann, so erregt wie hilflos an, und Kay wiederum nimmt in dieser Szene gegenüber ihrem bedenkenlos lügenden Ehemann eine auffallend vertrauensselige Haltung ein. Beide Figuren erinnern dabei an die zugleich hilflose und wütende Kriemhild im ersten Teil des ‚Nibelungenlieds‘. Hier wie dort werden Frauen als kindliche Opfer männlicher Gewalt in Szene gesetzt. Die Welten der Geschlechter bleiben allerdings im ‚Paten‘, anders als in dem mittelalterlichen Text, in dem eine verletzte Kriemhild zu einer grandiosen Rache findet, nach gewaltbereiten Männern und passiven Frauen weithin

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getrennt. Erst der dritte Teil der Paten-Trilogie nimmt hier eine signifikante Wendung vor. * Neben der Figurengestaltung ist es vor allem das strukturelle Moment der Gewalt, das den mediävistisch bewanderten Zuschauer bei der Rezeption des Films aufmerken lässt. Hier wie dort, im mittelalterlichen wie im neuzeitlichen Opus, stößt er auf eine signifikante Ordnung der Gewalt,9 und hier wie dort verzeichnet er auch eine gekonnte Sympathielenkung des Rezipienten, welcher sich einer ‚guten‘ und einer ‚bösen‘ Gewalt gegenübersieht. Schauen wir in diesem Zusammenhang als Erstes auf eine spezifische Regelhaftigkeit von Affekt und Affektkontrolle im ‚Nibelungenlied‘. Das mittelhochdeutsche Epos bietet uns eine Ordnung an, wonach Gunther, dem mächtigsten Mann am Wormser Hof, zugleich das größte Maß an Selbstkontrolle zukommt. Er widersteht der Provokation Siegfrieds bei dessen Ankunft in Worms zu einem Kampf um Sieg und Niederlage und bringt es vielmehr zustande, am Ende einen befriedeten Siegfried in den Wormser Herrschaftsverband einzugliedern. Gunther, der älteste der Könige, gerät bemerkenswerterweise im Laufe des gesamten Liedes, in dem ‚Zorn‘ eine Schlüsselvokabel darstellt, selbst kein einziges Mal außer sich, anders als seine Gefolgsleute. Auf die Reizreden Siegfrieds reagieren diese sofort aufgebracht und mit zornmütiger Kampfbereitschaft. Es liegt dann an Gernot und Gunther, die Mannschaft zu zügeln. Siegfried wiederum verkörpert mit einer deutlich niedrigeren Schwelle affektiver Gewaltbereitschaft den Gegenpol zu Gunther und verfügt damit gleichzeitig über ein kriegerisches Charisma, dessen Gunther ermangelt. Das ‚Nibelungenlied‘ entwickelt also eine Logik der Gewalt, wonach demjenigen, der sich selbst zu beherrschen versteht, die Macht zukommt – die allerdings existentiell von dem Einsatz ihm ergebener, affektbereiter Krieger abhängt. Interessanterweise hebt nun auch der ‚Pate‘ mit einer Szene an, die eine vergleichbare Ordnung vorführt. Marlon Brando alias Vito Corleone empfängt auf der Hochzeit seiner Tochter im abgedunkelten Zimmer Bittsteller und hört sich das Anliegen des italienischen Bestattungsunternehmers Bonasera an, der Vergeltung für die Misshandlungen seiner Tochter durch amerikanische Freunde sucht. Nachdem der Don sich die Versicherung der sogenannten Freundschaft Bonaseras eingeholt hat, sagt er dem neugewonnenen ‚Freund‘ seine Dienste zu. Sein Auftrag an Tom Hagen lautet daraufhin, absolut zuverlässige, das heißt selbstkontrollierte Männer auf diesen Fall anzusetzen, denn man sei ja schließlich kein Verein von Mördern.10 Im Anschluss empfängt er nur widerstrebend den furchtgebietenden Luca Brasi, seinen ihm gänzlich ergebenen Killer-Intimus für besondere Aufgaben. Auch der ‚Pate‘ führt also nicht anders als das ‚Nibelungenlied‘ eine Hierarchie der Macht vor, ausgehend von einem Oberhaupt, das die Ausübung von

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Gewalt über zwei Instanzen hinweg delegiert, das über affektiv gewaltbereite Männer verfügt und diese kontrolliert. Vito Corleone stellt darüber hinaus, nicht anders als Gunther, zugleich die Person dar, die ihre eigenen Affekte am vollkommensten im Griff hat. Zu seinen Maximen gehört es etwa, den Verhandlungspartner niemals merken zu lassen, was in einem selbst vorgeht, so die Belehrung an seinen Sohn Santino nach Verhandlungen mit dem Drogenboss Solozzo. Signifikant für die zunehmende Brüchigkeit des Systems unter der Leitung seines Sohnes Michael ist wiederum, dass dieser im zweiten Teil wiederholt die Selbstbeherrschung verliert und in Wut gerät. Das betrügerische System Gunther/Siegfried des ‚Nibelungenlieds‘ und das mafiose System des ‚Paten‘ zeigen in diesen Spaltungstendenzen eine bemerkenswerte Verwandtschaft auf. Hinter einer glänzenden Fassade lauert hier wie dort eine hässliche Gewalt. Kennzeichnend für den Mafia-Film ist in diesem Zusammenhang noch der Umstand, dass auch die am Ende ‚sauberen‘ Machthaber einen Initiationsweg des Mordens hinter sich bringen. Michael Corleone, der später die Position des Vaters einnimmt, schießt in einem denkwürdigen Racheakt Solozzo und den korrupten Polizeioffizier McCluskey eigenhändig nieder. Dass auch Vito Corleone, der alte Pate, seine Karriere mit einem Initiationsmord begründet, ist Gegenstand der Rückschau im zweiten Teil der Trilogie mit Robert de Niro als jungem Vito Corleone. Des Weiteren bietet der Film als Beispiel für eine überschießende Gewalt, wie sie auch im zweiten Teil des ‚Nibelungenlieds‘ immer wieder thematisiert wird, etwa die Szene an, wie Sonny Corleone von Maschinengewehrsalven eines feindlichen Clans niedergemäht wird. Die Täter treten und schießen in einer Orgie der Gewalt immer noch auf den längst toten Körper ein. Signifikant ist hier wiederum, dass derjenige als Erstes zum Opfer wird, der, wie hier Sonny, selbst von überschießenden Affekten geleitet wird. Dessen ebenfalls heißblütiger unehelicher Sohn wird allerdings am Ende des dritten Teils, eine alte mafiose Vitalität verkörpernd, die Position des dritten Dons in der Familie übernehmen. Sowohl im mittelalterlichen Epos als auch im Mafia-Thriller werden im Brennpunkt der Gewalt moralische Kategorien weithin außer Kraft gesetzt. Für das ‚Nibelungenlied‘ gilt, dass alle Helden in ihrer außerordentlichen Kampfeskraft und Tapferkeit bis zum letzten Atemzug gefeiert werden, gleichzeitig aber ein Handlungstableau entworfen wird, in dem am Ende ein jeder in Racheimpulse, Dominanzansprüche, Unterwerfung und Schuld verstrickt ist. Auch der Mafia-Film entwirft einen Kosmos, in dem eine konsensuelle Gewaltbereitschaft keine tragfähige Unterscheidung von Gut und Böse mehr zulässt. Wenngleich Deutungsmuster einer Negativdidaxe oder Gesellschaftskritik sowohl an das ‚Nibelungenlied‘ als auch den Mafia-Film herangetragen werden, dürften diese einem spezifischen Faszinosum, das für beide Werke gilt, kaum

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umfänglich gerecht werden. Für uns als Zeitzeugen des Kino-Films liegt es hier nahe, die Sympathielenkung des Zuschauers mit der Suggestion der Bilder und der Musik einmal genauer in Augenschein zu nehmen. * Der erste Teil des ‚Paten‘ hebt mit der bunt-bewegten Hochzeit der Tochter Don Corleones an, die als ein familiär-glamouröses Ereignis mit Gesang und Tanz inszeniert wird. Mafiose Gewalt ist dabei zwar latent präsent, kommt aber nicht ins Bild, und soweit der Zuschauer von Gewaltaktionen in Kenntnis gesetzt wird, liegen seine Sympathien bei den Corleones. Wenn etwa der Bestattungsunternehmer in der anfänglichen Bittstellerszene vom Versagen der amerikanischen Justiz berichtet, welche die Strafe für die feixenden Täter zur Bewährung ausgesetzt habe, bringt der Zuschauer einer Vergeltungstat durchaus Akzeptanz entgegen. Nicht anders ergeht es ihm mit dem Anschlag auf den Filmproduzenten Woltz, der in einer berühmt gewordenen Filmszene am Morgen den Kopf seines 600.000 Dollar teuren Rennpferdes in seinem Luxusbett vorfindet. Dieser wurde vorab als ein durch und durch eitler und überheblicher Manipulator vorgestellt. In den folgenden real inszenierten Morden und Mordversuchen befinden sich die Corleones dann stets in der Opferposition. Der Killer Luca Brasi, den wir kein einziges Mal selbst im Einsatz erlebt haben, wird von Solozzos Leuten brutal umgebracht. Don Vito Corleone, den wir weithin als teilnehmenden und sorgenden Familienvater erlebt haben, wird zum Opfer eines hinterhältigen Anschlags und Michael, der eben mit einer militärischen Auszeichnung nach dem Krieg in das New York der vierziger Jahre heimgekehrt ist, wird von dem korrupten Polizisten McCluskey brutal geschlagen. Wenn dann schließlich Michael jenen Polizisten und den Drogenboss in einem Restaurant mit ein paar Schüssen niederknallt, erleben wir dies durchaus mit Genugtuung und nehmen auch einigermaßen gefasst die Schockszene des blutspuckenden und röchelnden Polizisten hin. Auch der Zuschauer bringt einen Initiationsweg der Gewalt hinter sich beziehungsweise wird auf diesen geführt. Die nächste Gewalttat spielt sich dann auf Sizilien ab, als Michaels frisch vermählte Braut statt seiner mit einem präparierten Auto in die Luft fliegt; wieder erleben wir ein Mitglied der Corleone-Familie als Opfer. Mit Michaels Rückkehr nach New York erfährt der Zuschauer dann zwar vom zwischenzeitlich ausgebrochenen Krieg der Banden, sieht hierzu aber keine konkreten Szenen. Ausgiebig aber erlebt er den blutrünstigen Mord an Sonny, dem ältesten Sohn, mit. Michael tritt im Anschluss an dessen Stelle und initiiert einen kalkulierten Rachefeldzug. Vito Corleone stirbt inzwischen im Spiel mit seinem Enkel eines natürlichen Todes, und Michael nimmt als neuer Don den Handkuss entgegen. Halten wir also fest, dass der Zuschauer weithin das ganze mafiose Treiben aus der Binnenperspektive der Corleone-Familie miterlebt und eine vormalige

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Distanz, die er anfänglich mit der Figur Michaels geteilt haben mochte, zugunsten eines Mitschwingens mit den allfälligen Racheimpulsen alsbald verliert. Der Zuschauer erlebt zuerst Schlag auf Schlag die schmutzigen Übergriffe der Feinde und surft am Ende gleichsam auf den Wellen der rächenden Gewalt mit, welche die Überlegenheit der Corleones, ‚seiner‘ Familie, unter Beweis stellen. Anders als der familienzugewandte Sympathieträger Vito Corleone entpuppt sich Michael zwar als kälter und unnahbarer, auch ihm aber kommt eine respektgebietende Aura überlegener Intelligenz zu. Schauen wir von hier aus noch auf die beiden Nachfolgefilme des ‚Paten‘. Im zweiten Teil ziehen die Rückblenden auf den jungen Vito, gespielt von Robert de Niro, noch einmal in verstärktem Maße die Sympathien des Zuschauers für einen überlegenen Gangster, der seine Familie über alles stellt, auf sich. Gewalt nach außen rechtfertigt sich als Schutzhandlung nach innen und Rache trägt die Züge erlösender Gerechtigkeit. Dieser nostalgische Nimbus wird jedoch durch eine epische Gegenwart konterkariert. Michael, der Don der zweiten Generation, ist von Vernichtungswünschen besessen, die das vormalige fein ausbalancierte Netzwerk seines Vaters untergraben. Anschläge scheitern, das Ehepaar Michael und Kay trennt sich, Tom Hagen warnt vergebens vor riskanten Aktionen, und vormalige Allmachtsphantasmen brechen nun auch für den Zuschauer ein. Der dritte Teil, 18 Jahre nach dem ersten gedreht, knüpft in seiner offensiven Gewalt-Dynamik und mit zahllosen szenischen Zitaten wieder stärker an den ersten an. Michael, gealtert und krank, wirkt zunehmend abgeklärter und gibt nun die Weisheiten seines Vaters an seinen Neffen Vincent (Andy Garcia), den unehelichen Sohn Sonnys, weiter. Dieser betritt gleichsam als ein junger Siegfried die filmische Bühne, hitzig und schwer zu zügeln, protegiert von seiner Tante Connie. Michael wiederum, der im zweiten Teil noch von Zornausbrüchen geleitet wurde, steht nunmehr dem affektiv reizbaren Vincent mit größter Selbstbeherrschung gegenüber – so etwa in der Szene in seinem Arbeitszimmer, als Vincent Joey Zasa ins Ohr beißt. Vincent macht sich denn auch alsbald mit überlegener Stärke und Gewaltbereitschaft, nicht anders als ein Siegfried am Wormser Hof, unentbehrlich, während Michael seinerseits vergebens um eine vollständige Legalisierung seiner Geschäfte ringt. Der dritte Teil spielt nun bemerkenswerterweise auch Connie, die sich nach dem Tod der Mutter aufopfernd neben ihren Bruder gestellt hatte, in den Vordergrund. Nicht anders als die Kriemhild des ‚Nibelungenlieds‘ bleibt auch Connie bei den Mördern ihres Ehemanns, und nicht anders als Kriemhild durchläuft auch sie im Folgenden einen radikalen Wandel. Der Zuschauer sieht zu, wie Connie, durchgehend in dramatisches Schwarz gekleidet, nun ihrerseits auf Rache und Gewalt setzt und die Männer lenkt. Nach einem Anschlag hören

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wir sie zu ihrem Bruder sagen: „Now they’ll fear you“, er darauf: „Maybe they should fear you“. Wo Michael um sogenannten Frieden bemüht ist, stachelt Connie Vincent zum Mord an und lässt ihn schließlich schwören, die Familie zu rächen, wenn dieser etwas zustoßen sollte. Einen vergleichbaren Schwur nimmt Kriemhild im ‚Nibelungenlied‘ auch Etzels Brautwerber Rüdiger ab. Im Film ist dieser Schwur mit der denkwürdigen Geste eines Handkusses von Vincent an Connie verbunden, in dem Galanterie in den filmtypischen Unterwerfungsgestus hinüberspielt. Wenngleich Vincent selbst alsbald von den Männern als neuer Don geküsst wird, so steht doch Connie als machtvolle heimliche ‚Patin‘ hinter ihm. Tom Hagen wiederum ist im dritten Teil verstorben und durch einen weniger profilierten Anwalt ersetzt, womit ein vormaliges konspiratives Männerbündnis praktisch aufgelöst ist. Ein weibliches Opfer bildet schließlich den dramatischen Schlussakt des dritten Teils und damit der gesamten Trilogie. Bei einem Anschlag auf Michael vor der Oper in Palermo wird seine Tochter Mary tödlich getroffen. Die verzweifelte Trauer des überlebenden Vaters und der übrigen Familienangehörigen stellt die letzte große Szene im Film dar – Mediävisten mögen hier auch an die letzten Strophen des ‚Nibelungenlieds‘ denken. * Führen wir uns zum Schluss noch einmal den Umgang des mittelalterlichen Textes und des neuzeitlichen Films mit dem zentralen Thema der Grandiosität vor Augen. Nimmt man die Referenzen des Films auf Texte der Weltliteratur zum Ausgangspunkt, etwa das ‚Nibelungenlied‘ oder Shakespeare, so bleibt doch ein kardinaler Unterschied zu verzeichnen. Am Ende des ‚Nibelungenlieds‘ oder auch eines Shakespeare-Dramas ist nichts mehr beim Alten, Leser und Zuschauer werden in eine Bewegung hineingenommen, die ihnen ein vormaliges Weltverhältnis erschüttert. In der Paten-Trilogie von Coppola und Puzo hingegen ist am Schluss im Kern alles so, wie es schon immer war. Die Fortsetzung des Dramas mit neuer Besetzung ist imaginär präsent, die Welt des Mafiamythos dreht sich zwischen affektiver Reizbarkeit der Jungen und abgeklärter Selbstbeherrschung der Alten, zwischen Grandiositätsphantasmen und einer Zerstörung derselben im Kreis. Wie der Film lockt zwar auch das ‚Nibelungenlied‘ den Rezipienten in breiten Schilderungen virtuoser Kampfszenen auf die Pfade vitalisierender Allmachtsphantasmen, mutet dem Rezipienten allerdings gerade vor dieser Kulisse eine sehr viel radikalere Desillusionierung zu. Von der ‚familia‘ der Burgunden überlebt keiner, und der mittelalterliche Text entlässt seine Rezipienten damals wie heute mit einer beträchtlichen kognitiven und emotionalen Bewältigungsaufgabe. Welche komplexen Deutungsfolien man an den Mafia-Film nun im Hinblick auf ein zeitgeschichtliches Panorama Amerikas oder den Zerfall einer

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Familie auch herantragen mag, eine vergleichbare Bewältigungsaufgabe obliegt dem Zuschauer hier nicht. Als gelehriger Schüler seines großen Vorbilds Sergei Eisenstein, des genialen Propagandafilmers und richtungweisenden Filmtheoretikers, setzt Coppola vielmehr auf emotionale Über-wältigung und lotet, wie alle großen Regisseure, die Macht der Bilder und der Musik aus. Diese Bilder lassen den Zuschauer im ‚Paten‘ an einem virtuosen Machtspiel teilnehmen, in dem sich ästhetischer Genuss mit lustvoller Identifikation paart und eine verdrängte Triebwelt auf ihre Kosten kommen mag. Mit seinen Schlussbildern setzt der Regisseur den Zuschauer allerdings auch wieder auf dem Boden einer vertrauten Wertwelt ab. Der überwältigende Erfolg des ‚Paten‘ bei Publikum und Kritik betrifft dabei primär den ersten Teil, der nicht nur der dramaturgisch geschlossenste ist, sondern auch eine mafiose Welt phantasmatischer Allmacht am ungebrochensten in Szene setzt. Alle Schandtaten, welche die Corleone-Familie treffen, werden sozusagen mit Billigung des Zuschauers im Rahmen des Films gerächt. Die glänzende Oberfläche wird allerdings in der Schlusseinstellung durch den distanznehmenden Blick Kays auf Michael als neuen Don getrübt. Der zweite Teil bestätigt das Muster überlegenen Gangstertums in der epischen Vergangenheit, bricht es aber in der epischen Gegenwart nachhaltig auf. Der dritte Teil besinnt sich noch einmal auf die Effekte des Gangsterfilms, entwirft aber ein verändertes familiäres Tableau. Nicht nur die Geschäftsmethoden werden zeitgemäß in die Welt der Hochfinanz, zumal der Vatikanbank, verlagert, auch die Familie zeigt sich gewandelt. In den achtzehn Jahren zwischen erstem und dritten Teil hat sich mit der Geschlechterordnung einer westlichen Welt auch die Geschlechterordnung im ‚Paten‘ gewandelt, die Frauen sind unabhängiger und härter, die Männer weicher geworden. Die größtmögliche Verletzung für das männliche Oberhaupt der Familie ist nun nicht mehr der Verlust eines Sohnes, sondern der Verlust der Tochter, während der Sohn der dritten Generation es endlich schafft, sich von seinem Vater zu lösen.11 Anders auch als im ersten Teil, wo sich alle Betroffenen beim Tod Santinos äußerst gefasst geben, wird nun mit dem Abschluss der Trilogie einer großen affektiven Trauerszene Raum gegeben. Al Pacino alias Michael Corleone öffnet paralysiert den Mund zu einem Schrei, der erst etliche Sekunden später ausgestoßen wird. Dann fährt die Kamera zurück, und die Schlusseinstellung zeigt ihn allein vor karger sizilianischer Landschaft als gealterten Mann, wie er sich noch einmal der Frauen in seinem Leben erinnert. Er setzt ein letztes Mal seine Sonnenbrille auf, Signum seiner vormaligen Rolle, und fällt tot zu Boden. Weniger das bittere Ende eines belasteten Lebens aber wird hier in den Gesichtszügen Michaels gezeigt und mit der Musik untermalt als vielmehr der Tod eines Mannes, der in der Einsamkeit seinen Frieden gefunden hat. Wie

Hagen von Tronje und Tom Hagen

der Vater stirbt auch der Sohn eines natürlichen Todes, womit der Lebenslauf eines Mafiagangsters in der Rückschau unmerklich die Züge einer paradigmatischen menschlichen Existenz annimmt. Die Jungen können darin nicht anders, als nach der Macht zu greifen und Schuld auf sich zu laden, die Alten haben ihren Preis zu zahlen. Es ist dabei nicht zuletzt der europäische Heldenmythos, der in den imponierenden amerikanischen Film-Gangstern fortlebt. Hier wie dort werfen Männer um eines individuellen und kollektiven Mehrwerts ihr Leben in die Waagschale, hier wie dort zählt mental-physische Präsenz und gewinnt das Leben mit den gewaltbereiten Helden an Intensität und Farbe. Hier wie dort trägt Gewalt das Doppelgesicht faszinierender Vitalität und sozialer Grausamkeit und wird ein Geflecht von Abhängigkeiten zwischen affektbereiten und affektkontrollierten Figuren in Szene gesetzt. Die grandiose mythengesättigte Welt des Kinos der sogenannten ‚neuen Welt‘ aber weiß um ihre Wurzeln in der alten, und eine aufgezeigte inspiratorische Nähe zwischen dem ‚Nibelungenlied‘ und dem ‚Paten‘ dürfen wir sowohl dem wirkungsmächtigen mittelalterlichen Epos wie Coppolas und Puzos filmischem Meisterwerk zur Ehre gereichen lassen.

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Beziehung von Gott und Mensch Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Genesis 1–3

7.1 Erfüllung und Entsagung Die Leidenschaft der Gottesminne bei Mechthild von Magdeburg

Mechthilds von Magdeburg ‚Fließendes Licht der Gottheit‘ verfügt über eine ganz besondere Qualität.1 Wenn man von der Lektüre aufschaut, ist die Welt farbiger und frischer geworden, ihr Geruch intensiver, ihr Geschmack köstlicher. Eine enorme sinnliche Plastizität verleiht Mechthilds Himmel und Hölle ausmessender Prosa ihre charakteristische Erdung. Neben der bilderreichen Sprache ist es dabei vor allem eine markante affektive Bewegung, die diesem mystischen Text sein unverwechselbares Antlitz gibt. An die Brautmystik Bernhards von Clairvaux und Wilhelms von St. Thierry anknüpfend ist die Seele als Braut auf der leidenschaftlichen Suche nach ihrem göttlichen Bräutigam – und dieser seinerseits nach der menschlichen Seele. Beide verbindet eine extraordinäre Sehnsucht, die nur in der Vereinigung geistlicher minne gestillt werden kann, welche mit kühnen erotischen Metaphern umschrieben wird. Aber diese Vereinigung bildet mitnichten den Endpunkt von Mechthilds brautmystischem Entwurf. Vielmehr folgen Sehnsucht und Vereinigung aus der Perspektive der Braut immer wieder die unvermeidliche Trennung, neuerliches Warten und schließlich gar die vollständige Entsagung allen Genusses in der gotzvroemdunge, der Gottesferne. Diese außerordentlich komplexe und weitgespannte emotionale Minnebewegung, welche die Seele auf ihrer Gottsuche mitmacht, wirft die Frage nach der spezifischen emotionalen Qualität der mystischen Erfahrung bei Mechthild auf, die Frage nach regressiven oder progressiven Tendenzen in der erfahrenen Gottesnähe und Gottesferne. Um diesen emotiven Bogen angemessen würdigen zu können, sollen an den mittelalterlichen Text die Horizonte einer neueren Emotionstheorie angelegt werden, die, in der Tradition abendländischer Affektdeutung stehend, in besonderer Weise um die Integration kognitiver und affektiver Aspekte bemüht ist. In einem kurzen Abriss soll vorab dieser Deutungshorizont vorgestellt werden. Die herkömmliche Polarität von Affekt und Ratio mag man dabei heutzutage in den begrifflichen Prägungen von Primär- und Sekundäremotionen beziehungsweise Basis- und Distanzgefühlen wiedererkennen.2 Unter Primärgefühlen3 werden instinktgeleitete Emotionen verstanden, in denen Empfindung und Handeln weitgehend zusammenfallen, etwa in der Einheit von Angst und Flucht oder Begehren und Besitzergreifen. In ihnen agiert das Individuum auf hohem energetischem Niveau gleichsam als Medium seiner Triebkraft.4 Hiervon

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unterschieden werden die stärker kognitiv beeinflussten sogenannten Sekundäremotionen. Die diesen zukommende Symbolisierungsfähigkeit legt eine Distanz zwischen Impuls und Handeln und eröffnet neue Entscheidungs- und Handlungsspielräume. Eine moderne Emotionstheorie möchte die aufgezeigte Polarität zwischen Primär- und Sekundäremotionen, Instinkt und Kognition jedoch keineswegs als eine unilineare Aufstiegsbewegung verstanden wissen. Vielmehr stellt man sich eine intensive Hin- und Herbewegung zwischen den Polen vor, in denen ein instinkthafter Urgrund gleichsam die Lebendigkeit bereitstellt, von dem stärker kognitiv bestimmte Strukturen notwendigerweise abhängig bleiben. Einen teilweise integrativen Ansatz zwischen rationalen und irrationalen Seelenanteilen vertritt auch bereits Aristoteles, wenn er im ‚Strebevermögen‘ die Bereitschaft eines irrationalen Seelenanteils verortet, auf die Vernunft hinzuhören und ihr als der sittlich Überlegeneren zu gehorchen.5 An diesem Punkt mag man jedoch auch eine signifikante Akzentverschiebung im modernen Denken erkennen. Hier interessiert nunmehr vorrangig eine Abhängigkeit kognitiver Anteile von irrationalen Schichten. In den Blick gerät bei diesen emotionstheoretischen Ansätzen auch das subjektive Erleben von Freiheit und Zwang. Hingabe an den Triebimpuls mag zwar mit einem rauschhaften Einheitserleben verbunden sein, sie unterwirft den Betroffenen aber auch einem Handlungszwang, in dem er sich als fremdbestimmt erlebt. Diesem entrinnt er nur, wenn er es vermag, zwischen sich und den affektiven Impuls eine Distanz zu legen, in der sich kognitive Funktionen der Symbolisierung entfalten können, wobei ein solcher Prozess in der Regel nicht ohne negative Leidensgefühle abläuft. Für die emotive Bewegung unter dem Vorzeichen der Triebgefühle, in dem das Individuum von gegensätzlichen Emotionen, etwa Freude und Trauer, hinund hergeworfen wird, hält die moderne Theorie den Begriff des ‚katastrophischen Wechsels‘ bereit.6 An dessen Stelle tritt erst unter dem Vorzeichen von gleichsam gezähmten Sekundäremotionen mit vermindertem Affektausschlag mentale Beruhigung und Kontinuität, eine Denkbewegung, die ebenfalls bereits bei Aristoteles zu finden ist, der die Beziehung zwischen irrationalen und rationalen Seelenanteilen als die Beziehung zwischen einem Bewegten und einem Festen ansieht.7 Auch Mechthilds emotionale mystische Vorstellungswelt umreißt einen weiten Spannungsbogen zwischen Affekt und Selbstkontrolle, Genuss und Leiden, Nähe und Distanz. An dessen einem Ende steht die beseligende Einheit, die einunge, am anderen Ende leidvolle Gottesferne, die vroemedunge. Beide Zustände stehen, wie zu zeigen sein wird, in einer dialektischen Wechselbeziehung, welche die charakteristische Dynamik von Mechthilds Gottessuche ausmacht. Beiden Erfahrungen, und dies steht im Fokus unserer Aufmerksamkeit,

Erfüllung und Entsagung

gilt Mechthilds spirituelle Hingabe. Diese dynamische Bewegung soll anhand einiger ausgewählter Kapitel vorgeführt werden. * In zweiten Kapitel des ersten Buches: Von drin personen und von drin gaben wird die geistliche Aufstiegsbewegung der Seele als ein Verlassen des Körpers geschildert. Die Emanation des Göttlichen in die Seele erfährt diese als einen Gruß der fliessenden drivaltekeit (20,26), der dem lichamen (20,27), dem Körper, seine Kraft raubt.8 Mit höfischem Gebaren empfängt und grüßt dann in diesem Bild der dreifaltige Gott die Seele, kleidet sie in vornehme Kleider und gibt, wie es heißt, sich selbst in ihre Gewalt (22,5), denn Minnebewegung und Hingabe zwischen Gott und Seele sind zutiefst wechselseitig. Diese beide Personen überschreitende Bewegung, die sich im Raum der Minne ereignet, mündet dann in eine Aufhebung aller Unterschiede, eingebettet in ein geistlich-erotisches Spiel in einem intimen Raum der Heimlichkeit und Exklusivität: ... wan er wil alleine mit ir spilen ein spil, das der lichame nút weis ... (22,9/10). Dann heißt es jedoch bald: Wenne das spil allerbest ist, so muos man es lassen (22,18), und Gott spricht: ,Juncfrou, ir muessent úch neigen‘, ,ihr müsst niedersteigen‘ (22,19). Die Trennung geht dabei, anders als die Vereinigung, stets von der männlichen göttlichen Person aus, und die Seele erleidet die neuerliche Rückkehr in den irdischen Körper in Demut: ,Lieber herre, es muos sin als der wirt gebútet‘ (22,26/27) („Lieber Herr, es muss geschehen, wie der Hausherr befiehlt“, 23,30/31). Allerdings vermittelt diese Aussage vor dem Hintergrund, dass die göttliche Person unmittelbar vorher noch ihr Wohlgefallen an der Sehnsucht der Seele geäußert hat (22,23–25), auch eine aktive Bekräftigung der Trennung seitens der Seele. Der Körper beklagt sich nun bei der Rückkehr der Seele über seine Entkräftung, während die Seele ihrerseits den Körper als ihren Mörder und Feind anspricht, der die Grenzen markiert, in die sie sich neuerlich zu schicken hat. Zum Schluss des Kapitels heißt es dann: Disen gruos mag noch muos nieman enpfan, er si denne úberkomen und ze nihte worden. In disem gruosse will ich lebendig sterben (24,6–8) (Diesen Gruß kann und wird niemand empfangen, er sei denn überwältigt und zunichte geworden. In diesem Gruß will ich lebendig sterben, 25,11/12). Der Gruß ist hier also das Geschehen, von dem ein Ich gänzlich überwältigt wird, in dem es sich selbst aufgibt und das Subjekt einen Tod bei lebendigem Leib erlebt.9 Ein halbes Jahrhundert später wird dieser zentrale Gedanke abendländischer Mystik bei Meister Eckhart als der Gedanke des Lassens philosophisch-spekulativ entfaltet werden. In ihm ist die Möglichkeit der Aufhebung aller Dualität grundgelegt, sofern der Mensch bereit ist, all sein selbstbezügliches Trachten zu lassen. Bei Mechthild vollzieht sich diese Einswerdung nun auf der Basis einer starken affektiven Bewegung, der gerunge, der Sehnsucht zwischen Gott und der Seele, welche die einunge, die Einheit, sozusagen als Geschenk mit sich bringt.

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Eine Differenz zwischen Subjekt und Objekt verschwindet schließlich auf dem Höhepunkt der Minnebegegnung, weil ein Subjekt, das ein Objekt noch begehren und wahrnehmen könnte, sich im hingebenden Genuss, der lust, gebruchunge und süesse, wie es bei Mechthild heißt, gänzlich aufgibt. Als eine ekstatische brautmystische Begegnung wird die Vereinigung von Seele und Gott auch in dem viel beachteten 44. Kapitel des ersten Buches geschildert.10 Der göttliche Bräutigam befiehlt dort der Seele sich auszuziehen und diese spricht: ,Herre, nu bin ich ein nakent sele und du in dir selben ein wolgezieret got. Únser zweiger gemeinschaft ist das ewige lip ane tot‘. So geschihet da ein selig stilli nach ir beider willen. Er gibet sich ir und si git sich ime. Was ir nu geschehe, das weis si, und des getroeste ich mich. Nu dis mag nit lange stan; wa zwoei geliebe verholen zesamen koment, si muessent dike ungescheiden von einander gan.‘ (64,17–24) „Herr, nun bin ich eine nackte Seele und du in dir selbst ein Gott in großer Herrlichkeit. Unser beider Gemeinschaft ist das ewige Leben ohne Tod.‘ Darauf tritt da eine selige Stille ein, wie es beide wollen. Er schenkt sich ihr, und sie schenkt sich ihm. Was ihr jetzt geschieht, das weiß sie – und dies ist mein Trost. Nun kann dies nicht lange währen; wo zwei Liebende heimlich zusammenkommen, müssen sie immer wieder auseinandergehen, ohne sich doch zu trennen.“ (65,28–36)

Die ‚unio mystica‘ ist demnach bei Mechthild ein durchaus zwiespältiges Ereignis, weil sie nicht ohne Trennung erfahrbar ist. Allerdings wird die schmerzhafte Trennung bei Mechthild durch eine untergründig präsent bleibende Ungeschiedenheit der Liebenden wieder relativiert. Die ‚unio‘ ist zwar nicht ohne Trennung denkbar, aber umgekehrt die Trennung auch nicht ohne eine tiefgründige Einheit. In Mechthilds Brautmystik greifen die Vorstellung einer neuplatonischen Aufstiegsbewegung, in der sich die Seele Gott als der allein bewegenden Kraft aufsteigend nähert beziehungsweise dieser wieder entsinkt, und eine qualitativ anders gelagerte Vorstellung von zwei ebenbürtigen Liebespartnern ineinander. Die Vorstellung zweier Liebender, die sich wechselseitig begehren, aber treibt notwendigerweise das Moment der Trennung aus sich hervor, denn ohne ein getrenntes Gegenüber kann es auch keine Bewegung aufeinander zu geben.11 Die beseligende ‚unio‘ aber hat in diesem Modell einen stark regressiven Charakter, weil sie der als Person gedachten Seele zwar die Wonne der Einheit schenkt, aber auch etwas nimmt, nämlich personale Integrität. Leidend und aufbegehrend sehnt sich die in ihren Körper zurückgekehrte Seele nach einer erneuten Entgrenzung. In der Ablehnung beziehungsweise dem Hadern mit

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seiner Körperlichkeit spiegelt sich dabei, wenn man so will, eine Selbstentfremdung des Subjekts wider, das ein beseligendes Ganzheitserlebnis mit einer diesseitigen Entzweiung, mit einer Dissoziierung seiner selbst und einem harten Aufschlag bezahlt. Die beseligende Gottesnähe stellt nur den einen Pol einer umfassenderen Spannung dar. Insofern verfügt die ‚unio‘, indem sie die unvermeidliche Trennung mit sich bringt, gleichsam über eine negative Kehrseite. Eine spezifische Leidensbereitschaft nimmt aber diese Gottesferne bereitwillig auf sich, um daran zu wachsen. * In besonderer Weise setzt sich das zwölfte Kapitel des vierten Buches12 mit der Thematik der gotzvroemdunge, der Gottesferne, auseinander.13 Das Kapitel nimmt die Situation der bräutlichen Seele nach erfahrener Vereinigung und Trennung zum Ausgangspunkt, in der diese sich ihre Untröstlichkeit nicht durch die Angebote eines Trostes aus zweiter Hand nehmen lässt, weder durch die Schönheiten dieser Welt noch durch das Himmelreich oder die Heiligen. Allein Gott selbst in der Gestalt von Gottes Sohn kann ihr Trost spenden: Mir smekket nit wan alleine got ... (258,33). Auf eben jenes innige Schmecken Gottes ist die Seele allerdings bereit zu verzichten, um Gottes Lob zu mehren. Wenn sie sich selbst nicht dazu in der Lage sieht, will sie allen Geschöpfen auftragen, Gott an ihrer Stelle zu preisen. Im Anblick dieses großen Lobpreises verschwindet dann all ihr Weh (260,6). Die Seele wandelt ihre Entfremdung und Sehnsucht nach der Nähe Gottes also in eine Bewegung um, in die alle Geschöpfe dieser Welt einbezogen werden und die in einen großen Lobpreis Gottes mündet. Es wird jetzt nicht mehr das Bild der Verschmelzung zweier Liebender, das keinen Beobachter zulässt, geboten, sondern ein orchestraler Gleichklang aller Geschöpfe, den Gott genießt. Aus einer exklusiven Liebesbeziehung ist eine inkludierende kosmische Umarmung geworden, in der die Seele selbst ihr Vermögen an andere abgegeben hat (258,35–260,1). Nach Ablauf von acht Jahren des Trostes in dieser Art einer qualitativ andersartigen, distanzierteren Gottesnähe aber wartet in diesem Kapitel auf die Seele eine weitergehende Prüfung (260,13 ff.). Nach dem Muster der ‚sinkenden Minne‘ fällt sie jetzt ab unter die büßenden und verlorenen Seelen in qualvolle Finsternis. Der Herr fragt sie: ,Wie lange wilt du hie wesen?‘ Die brut: ,Eya, entwich mir, lieber herre, und la mich fúrbas sinken durch din ere‘ (260,28–30) („Wie lange willst du hier bleiben?“ Die Braut: „Ach, verlass mich, lieber Herr, und erlaube mir, tiefer zu sinken um deiner Ehre willen“, 261,37–263,2). Damit wird die Entfernung von Gott in einer Bewegung des Sinkens weiter vergrößert, aber nicht etwa als ein unfreiwilliges Erleiden, sondern vielmehr als ein aktiver Wunsch der Seele: Die Seele ist hier selbst die treibende Kraft ihres Abstiegs. In der Finsternis

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verliert sie dann alle Erkenntnis, Licht und Liebe und verfällt in Unglauben. Jetzt spricht die Seele: ‚Wa sint ir nu, vro stetekeit? Heissent den waren glouben zuo mir gan‘ (262,5–6) („Wo seid ihr nun, edle Beständigkeit? Bittet den wahren Glauben, zu mir zu kommen“, 263,15/16). Über diesen wahren Glauben aber hört die Seele Folgendes: Gottvater fordert sie auf, sich dessen zu erinnern, was geschehen war, als es nichts zwischen ihm und ihr gab. Gott-Sohn fordert sie auf, sich ihrer durchlittenen Qualen zu erinnern und der heilige Geist spricht: ‚Gedenk, was du geschriben hast‘ (262,10/11). In einem Moment größter Gottesferne und Selbstentfremdung ergeht also der Appell an die Seele, sich gleichsam erinnernd wieder zusammenzufügen, sich erfahrener Freuden und Leiden zu vergewissern und darüber hinaus ihres Schreibens. Gott lenkt den Blick der Seele auf sie selbst zurück und veranlasst sie, sich einen neuen symbolischen Raum aufzuschließen, der den Zwang der Gefühle in einer selbstreflexiven Distanz übersteigt und transferiert. Der dreifaltige Gott, der mit sich selbst im Austausch steht, indem er sich in verschiedene Instanzen teilt und doch eins bleibt, der als Vater die Einheit des Alls verkörpert, als menschgewordener Sohn Trennung und Begrenzung durchleidet und als Heiliger Geist das vermittelnde Wort verkörpert, spricht zu der Seele und liefert ihr den Spiegel, in dem sie sich selbst in einer neuen Subjekthaftigkeit erblicken kann. Entsprechend heißt die Seele im Folgenden nun eine selige Gottesferne (262,17) willkommen und feiert diese mit den Worten: ‚du galle ist honig worden in dem guome miner sele‘ (262,23–24), ‚die Galle ist zu Honig geworden im Gaumen meiner Seele‘. Als die Seele alle Geschöpfe erneut bittet, den Herrn zu loben, kehren diese ihr nunmehr den Rücken zu, was die Seele jedoch unendlich froh macht: ‚Nu ergat an mir sin ere, wan nu ist got wunderlich mit mir, nu mir sine vroemedunge bekemer ist denne er selber‘ (262,29–31) („Nun erweist sich seine Ehre an mir, denn jetzt, da mir Gottes Ferne heilsamer ist als er selbst, ist er auf unbegreifliche Weise mit mir“, 265,3–5). Nun, da ihr neben der Gottesnähe auch die Gemeinschaft mit den Geschöpfen genommen ist, da sie endgültig haltlos geworden nur noch in sich selbst Halt findet, ist Gott mehr denn je ‚wunderlich mit ihr‘, wie es im Text heißt. In dieser neuen Verlassenheit vollzieht die Seele aber noch einen weiteren Schritt. Die Seele antizipiert, dass Gott sie trösten will, und bittet ihn von daher, ihr fernzubleiben. Auch als Gott nun seinerseits sein ungestilltes Begehren an sie heranträgt, kann sie dies nur annehmen unter der Bedingung, dass allein ihm dabei wohl sei. Das Subjekt verteidigt gleichsam einen neuen Raum der Unabhängigkeit, indem es sich verweigert und selbst neue Bedingungen vorgibt. Danach aber fällt die bräutliche Seele in noch tiefere Finsternis, in der sie ihren Leib vor Qual krümmt. Die aufsteigende pine, der Schmerz, aber, der Einlass ins Himmelreich erbittet, wird abgewiesen, er darf nur der Bote der

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Seele sein. Von dieser aber wird als Bedingung für den Einlass erwartet, dass sie steteklich und wise (264,14), ‚beständig‘ und ‚weise‘ sei. Der katastrophische Wechsel von ‚unio‘ und Trennung, um den emotionstheoretischen Terminus aufzunehmen, wird also abgelöst durch ein neues Ideal der Beständigkeit. Gott ist damit nicht mehr der Gott der süessekeit, er ist aber auch nicht die pine, der Schmerz, sondern er wird jetzt von der Seele am Grunde ihrer stetekeit, ihrer Beständigkeit, erfahren. Dieser Gotteserfahrung liegt nicht mehr die affektive Bewegung der gerunge, der brennenden Sehnsucht, zu Grunde, sondern das Beharrungsvermögen der Seele, das eine neue Einheit in der Imagination und im Glauben findet. Wo die affektive Bewegung einen Wechsel von Glück und Entbehrung mit sich bringt, wo eine beseligende Selbstentgrenzung mit einer schmerzhaften Verlusterfahrung auf dem Boden der Realität bezahlt wird, bleibt das Subjekt in der kontrollierten Gottesferne gleichsam Herr im eigenen Haus. Weil ihm erinnernd und imaginierend seine Lust und sein Leid zur Verfügung stehen, kann es die Gottesferne als einen Zustand annehmen, der so relativ ist wie die unio-Erfahrung selbst. Einheit stiftet jetzt das Bewusstsein, das beide Pole integriert. Das Subjekt versucht nicht mehr der Dualität des Daseins in der Selbstauslieferung an einen der beiden Pole zu entkommen, sondern findet eine neue Einheit in der imaginativen Zusammenschau beider. Und indem es beide Pole aus der Distanz in ihrer Bezogenheit erkennen kann, findet es seine Freiheit in der Wahl der Entsagung wieder. Der ‚wahre Glauben‘ appelliert also an die sich vom aktuellen Genuss oder Schmerz lösende Vorstellungskraft und an die denkende Zusammenschau. Gott ist nunmehr ein Entwurf von Einheit, in dem sich das Subjekt von den Wechselfällen seines Begehrens emanzipiert. Aber auch bei Mechthild triumphiert nicht einfach der Logos über den Affekt, geht es nicht einfach um Selbstbeherrschung als Ziel: Die feurige Sehnsucht nach Gott bleibt bis zum Ende für Mechthild zentral. In ihrem letzten, siebten Buch heißt es: Owe leider, min alter stat mir nu sere ze scheltende, wan es ist unnútze an schinenden werken und ist leidor kalt an gnaden. Es ist ouch unmehtig, das es der jugent nit hat, da es die vúrigen gotz minne mitte tragen mag‘ (536,19–22) („O weh, zu meinem Leidwesen gibt mir mein Alter nun großen Anlass zur Schelte, denn es ist unbrauchbar zu leuchtenden Werken, und es ist zu meinem Schmerz kalt an Gnaden. Es ist auch kraftlos, weil es der Jugend entbehrt, mit der es der feurigen Gottesliebe standhalten könnte“, 537,29–33). Die relative Absenz einer vormals leidenschaftlich beseelten Gottesbegegnung gibt ihr im Alter Anlass zur Klage und bleibt damit bis zum Schluss ein wesentlicher Bezugspunkt ihres Denkens. Einer regressiven Einheitserfahrung wird also keineswegs ihr Rang streitig gemacht, vielmehr stellt diese den Grundtonus ihrer religiösen Existenz bereit. Die Seele, die als Alter Ego Mechthilds auftritt, wächst jedoch an der damit verbundenen

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Mechthild von Magdeburg

Verlusterfahrung. Passiv erlittene Trennung münzt sie in freiwillige Entsagung um, das Hadern mit dem Verlust überführt sie in ein demütig angenommenes Leiden und öffnet damit das Tor für ein qualitativ neues Gotteserlebnis. In der nunmehr erworbenen stetekeit vermag sie auch noch am Grunde von Einsamkeit und Schmerz Gott zu spüren. Gott ist ihr gleichsam noch einmal größer und weiter geworden – und damit auch sie sich selbst. In der mentalen Distanzierung lernt sie die Spannung zwischen Erfüllung und Verzweiflung auszuhalten und damit eine ins Unbewusste reichende Entgrenzungserfahrung in ihr Bewusstsein zu integrieren. Indem sie sich selbst zum Objekt nimmt, erschafft sie sich als autonomes Subjekt neu; eine Erfahrung der Entgrenzung beantwortet sie mit einer bewussten Grenzziehung – und stellt sich damit im christlichen Horizont in die Nachfolge der Passion Christi, in der Gott menschwerdend sich selbst Grenzen auferlegt hat. Mechthilds weltzugewandte Minnemystik mag man auch in Beziehung zu sich wandelnden Motiven in der profanen Minnedichtung des 12. und 13. Jahrhunderts sehen, an der sich ebenfalls mentale Distanzierungen ablesen lassen. So wird beispielsweise im Minnesang die Dramatik von Vereinigung und Trennung in besonders markanter Weise in der Gattung des Tagelieds durchgespielt, in der die Anforderungen des lichten Tages unvereinbar neben den Wonnen der Nacht stehen und die Liebenden immer wieder aufs Neue auseinandertreiben. Davon heben sich nun etwa bei Walther von der Vogelweide Protagonisten ab, die neue mentale und erotische Spielräume gewinnen.14 Anstelle alles verzehrender Leidenschaft und erzwungener Trennung tritt bei diesen ein rationaler Grundzug der Selbstdistanzierung und Ironisierung, der das Minnefatum aufbricht und neue Räume entstehen lässt, in denen sie sich autonom zu bewegen beginnen. Insofern sind auch im Werk Mechthilds, das wir gewohnt sind als Exemplum einer affektiven Erlebnismystik wahrzunehmen, deutliche Züge einer Rationalisierung und Individualisierung erkennbar. Auf der Suche nach Gott tritt das Individuum in eine neue Selbsterfahrung ein, in der es gleichsam auf den Schwingen seiner Leidenschaft neue Grenzen seiner selbst auslotet und absteckt. Die in diesem Prozess erfahrene brautmystische Vereinigung mit dem göttlichen Gegenüber trägt dabei insofern regressive Züge, als sich das Individuum in ihr gleichsam an der Quelle seiner Existenz energetisch auflädt und aus ihr seine Hoffnung schöpft,15 während die Erfahrung der Gottesferne das Individuum auf einen Weg der Differenzierung und Abgrenzung lenkt. Mechthild von Magdeburg spielt somit das große mystische Grundthema des Lassens auf zwei Ebenen durch: zum einen als ein Loslassen des bewussten Selbst in der erotisch-spirituellen Vereinigung und zum anderen als das Lassen jeglichen Habenwollens in der bewussten Entsagung. Für Ersteres ist der ‚spirituelle Triebimpuls‘ des Begehrens Movens einer kosmischen Entgrenzungserfahrung,

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während es in der entsagenden Gottesferne um das Lassen des Triebes selbst geht. Diese Entsagung bleibt aber, und hierin dürfte die großartige Lebensfülle von Mechthilds Text wesentlich begründet liegen, stets gebunden an den Wert der ganzheitlich erfahrenen Einheit, denn der Gott Mechthilds schenkt der suchenden Seele beides: Erfüllung und Entsagung, Nähe und Distanz, Einheit und Vielfalt, Liebe und Freiheit. Mechthilds dichterische Gestaltung dieser menschlichen Grundspannung hat bis heute nichts von seiner Gültigkeit eingebüßt.

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Meister Eckhart

7.2 Der Christ der Zukunft hat vergessen, dass er ein Christ ist Meister Eckhart und die Radikalität des Lassens

Mystik, so sind wir zu denken gewohnt, entspringt der Einheit und zielt auf Einheit. Entsprechend besetzt der Begriff der ‚unio mystica‘ als ein zentrales Paradigma den Raum der Mystikrezeption, während er zugleich eine Distanz zwischen der Erhabenheit mystischer Erfahrung und der Profanität irdischen Daseins suggeriert. Machen wir uns aber als Leser ernsthaft auf den Weg, den großen Mystikern zu folgen, dann finden wir uns unverhofft in einer Welt enormer Spannungen wieder, welche eine derartige Zuschreibung sprengt. Neben potentieller Einheitserfahrung behauptet nicht weniger das Thema des Getrenntseins sein Recht. Mechthild von Magdeburg lotet nach dem Muster der Wechselfälle irdischer Liebe die Spannung zwischen Gottesnähe und Gottesferne aus und macht es sich und dem Leser zur Aufgabe, diese Spannung auszuhalten. Teresa von Avila verblüfft den psychologisch versierten Leser mit der differenzierten Darstellung einer von Dämonen besiedelten Innenwelt, die modernen Emotionstheorien in nichts nachsteht. Jakob Böhme lässt sein gesamtes Denken um das Zusammengehen und Sichtrennen verschiedener gegensätzlicher Qualitäten kreisen, die Welt aus sich hervortreiben und erst in der Reibung Gestalt annehmen, permanent neue Höllen und Himmel im menschlichen Inneren und kosmischen Äußeren hervorbringend. Meister Eckhart schließlich entzieht einer regressiven Einheitssehnsucht jeglichen Boden, wenn er vom Lassen Gottes spricht. Erfüllung sei nicht in der Einheit mit Gott, sondern im Lassen Gottes zu suchen. Aus heutiger Perspektive mögen wir das Drama der Subjektwerdung des modernen Menschen in der Innenschau der Mystiker vorgezeichnet und gespiegelt sehen. Eckharts Denken, das immer wieder aufs Neue seine Anschlussfähigkeit über die Religionen und Zeiten hinweg unter Beweis stellt, soll unter diesem Blickwinkel hier näher betrachtet werden – nicht ohne Seitenblick auf einen modernen psychologischen Einheitsdiskurs. In der Gegenwart, welche von einer Scheu vor der Gottesrede geprägt ist, hat ein solcher Diskurs um Einheit und Trennung unter anderem einen Platz in der psychoanalytischen Narzissmustheorie gefunden.1 Dieser Ansatz baut auf einer Polarität zwischen einem Urzustand phantasmatischer Einheit und der Anerkennung von Realität als Anerkennung von Differenz auf. Eine Akzentsetzung liegt eindeutig auf dem Pol der Trennung als dem zu zahlenden Tribut von Individuation. In dem Ausgangspunkt eines narzisstischen Primärzustands, wie Freud ihn nennt, liegt

Der Christ der Zukunft hat vergessen, dass er ein Christ ist

allerdings in einer gelingenden Symbiose zugleich die notwendige Vo­raussetzung für das Wagnis der Trennung begründet. Es ist der Glanz im Auge der Mutter, das Spiegelbild, das es im Auge des anderen in phantasmatischer Vollkommenheit zeigt, welches das Kind allererst ermutigt, Zutrauen zu sich zu finden und in die Welt hinauszugehen. In der christlichen Ikonographie hat die Vorstellung einer intimen Ureinheit, die grenzenlose Geborgenheit schenkt, über die Jahrhunderte hinweg ihre künstlerische Gestaltung im Bild Marias mit dem Kind gefunden, deren Gesichter sich eins im anderen spiegeln. Blicken wir von hier aus zurück auf die Gedankenwelt Eckharts. In seiner Predigt Von dem edeln menschen bietet Eckhart in bildlicher Eindrücklichkeit den Stufenweg einer Entwicklung zum inneren, neuen und edlen Menschen an, der sich abhebt vom alten, irdischen und äußeren Menschen:2 Der êrste grât des innern und des niuwen menschen, sprichet sant Augustinus, ist, sô der mensche lebet nâch dem bilde guoter und heiliger liute und aber noch gât an den stüelen und heltet sich nâhe bî den wenden, labet sich noch mit milche. Der ander grât ist, sô er iezent anesihet niht aleine die ûzerlîchen bilde, ouch guote liute, sunder er löufet und îlet ze lêrê und ze râte gotes und götlîcher wîsheit, kêret den rücke der menscheit und daz antlütze ze gote, kriuchet der muoter ûz der schôz und lachet den himelschen vater ane. Der dritte grât ist, sô der mensche mê und mê sich der muoter enziuhet und er ir schôz verrer und verrer ist, entvliuhet der sorge, wirfet abe die vorhte, als, ob er möhte sunder ergerunge aller liute übel und unreht tuon, es enluste in doch niht; ... (II , 318,18–32) Die erste Stufe des inneren und des neuen Menschen, spricht Sankt Augustinus, ist es, wenn der Mensch nach dem Vorbilde guter und heiliger Leute lebt, dabei aber noch an den Stühlen geht und sich nahe bei den Wänden hält, sich noch mit Milch labt. / Die zweite Stufe ist es, wenn er jetzt nicht nur auf die äußeren Vorbilder, da­runter auch auf gute Menschen, schaut, sondern läuft und eilt zur Ehre und zum Rate Gottes und göttlicher Weisheit, kehrt den Rücken der Menschheit und das Antlitz Gott zu, kriecht der Mutter aus dem Schoß und lacht den himmlischen Vater an. / Die dritte Stufe ist es, wenn der Mensch mehr und mehr sich der Mutter entzieht und er ihrem Schoß ferner und ferner rückt, der Sorge entflieht, die Furcht abwirft, so dass, wenn er gleich, ohne Ärgernis aller Leute zu erregen, übel und unrecht tun könnte, es ihn doch nicht danach gelüsten würde; ... (II , 319, 19–35)

Auf der vierten Stufe ist der Mensch nunmehr bereit, Versuchungen und Anfechtungen auf sich zu nehmen, auf der fünften lebt er mit sich selbst in Frieden, auf der sechsten ist er schließlich ganz zum Kind Gottes geworden, seiner selbst

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‚entbildet‘, in vollkommenem Vergessen allen vergänglichen und zeitlichen Lebens. Am Ende ist der innere Mensch ganz in die Einheit eingegangen, weil er sich aller Bilder und Vorstellungen entledigt hat, weil er diese ‚vergessen‘ hat, um sich ganz als Kind Gottes wiederzufinden. Dieser ganz und gar verinnerlichte Mensch, wie Eckhart ihn imaginiert, aber hat seinen Weg mit Schritten der Trennung angetreten. Der letztendlichen Einheit lagert Eckhart die Trennungsbewegung eines von seiner Mutter wegstrebenden kindlichen Subjekts vor. Dabei wird hier in aller Deutlichkeit ersichtlich, dass es Eckhart mitnichten um die Trennung von Objekten geht, die, weil sie als ‚äußere‘ Objekte minderwertig wären, um wertvollerer Objekte willen zu lassen wären. Dies ließe sich schwerlich von den haltgebenden Stühlen und Wänden und gewiss nicht vom Schoß und der Milch der Mutter sagen. Vielmehr geht es um das Wagnis der Trennung schlechthin, um ein Lassen als das Loslassen von haltgebenden äußeren Strukturen. Was dem Kind die Stühle sind, sind dem geistig Suchenden demnach die personalen Vorbilder und Lehren. Diese haben zwar ihre Berechtigung in einer Welt des Laufenlernens, aber der Mensch steht gleichsam erst dann auf seinen eigenen zwei Beinen, wenn er aus sich heraus weiß, was Gut und Böse ist, wenn er den Halt in sich selbst gefunden hat, wenn er aus eigener Kraft aufrecht dasteht und nicht mehr durch äußere Unbill umzuwerfen ist. Dieser gelassene Mensch, der ein äußeres Halteseil losgelassen hat, hat sein Zentrum in sich selbst gefunden, er hat sich in einer Art geistiger Evolution selbst aufgerichtet und schreitet frei von Anhaftungen in den Raum. Und weil er in einem Wagnis des Lassens zu sich selbst gefunden hat, weiß er darum, dass ihn der gesamte Kosmos trägt – er braucht keine Stühle und Krücken mehr, er steht, wie Eckhart es immer wieder formuliert, ledic und vrî‚ ledig und frei wie Gott selbst da. In der Predigt Q 46 Haec est vita aeterna heißt es: Und alsô: allez, daz dû nimest, daz nimest dû in dînem eigene; und swaz werke dû nicht ennimest in dînem eigene, diu werke sint alliu tôt vor gote. ... wan daz dinc lebet, daz bewegunge nimet von sînem eigene (I, 492,32–494,3) (Alles, was du nimmst, das nimmst du aus deinem Eigenen; und welche Werke du nicht aus deinem Eigenen nimmst, die Werke sind alle tot vor Gott. ... denn das Ding lebt, das Bewegung aus seinem Eigenen nimmt, I, 493,35–495,4). Der Mensch findet Gott also nur in sich selbst vor, und nur Werke, die aus seinem eigenen Inneren entsprungen sind, sind lebendig. Träger von schöpferischer Kraft ist demnach ein Subjekt, das sich von äußeren Anhaftungen getrennt und seine inneren Ressourcen entdeckt hat. * Inwieweit es Eckhart in seinen Vorstellungsräumen des Lassens und der Abgeschiedenheit tatsächlich um eine Errungenschaft von Autonomie geht, die auf geleisteten Trennungsprozessen aufruht, mag die Maria-und-Martha-Predigt

Der Christ der Zukunft hat vergessen, dass er ein Christ ist

Q 86 Intravit Jesus in quoddam castellum veranschaulichen.3 Eckhart stellt in dieser Predigt die Perikope aus dem Lukas-Evangelium, welche davon berichtet, dass Maria zu den Füßen des Herrn ruht, um ihm zuzuhören, während Martha darum bemüht ist, dem Herrn zu dienen, auf den ersten Blick gleichsam vom Kopf auf die Füße. Er ergreift Partei für Martha und lässt einen liebevollkritischen Blick auf Maria ruhen. Eckhart gibt fürs Erste drei Gründe an, die Maria dazu bewegt haben, zu den Füßen Christi zu verharren: Driu dinc tâten Marîen sitzen bî den vüezen Kristî. Daz eine was, daz diu güete gotes umbegriffen hâte ir sêle. Daz ander was unsprechelîchiu begirde: si begerte, si enwiste wes, und wollte, si enwiste waz. Daz dritte was süezer trôst und lust, den si schepfete ûz den êwigen worten, diu dâ runnen durch den munt Kristî. (II, 208,8–13) Drei Gründe ließen Maria zu den Füßen Christi sitzen. Das eine war (dies), dass die Güte Gottes ihre Seele umfangen hatte. Das Zweite war ein unaussprechliches Verlangen: Sie sehnte sich und wusste nicht wonach, und wünschte, ohne zu wissen was. Das Dritte war der süße Trost und die Beglückung, die sie aus den ewigen Worten schöpfte, die da aus dem Mund Christi rannen. (II , 209,9–15)

Eckhart gibt hier eine Szene vor, in der Maria die Nähe zu Christus in einer Art und Weise genießt, die sie ganz in seiner Gegenwart und seinen Worten aufgehen lässt. Zwei Absätze weiter beschreibt Eckhart nun ein geistiges im Gegensatz zu einem sinnlichen Genügen so, daz von allem luste daz oberste wipfelîn der sêle niht enwirt geneiget her abe, daz ez niht ertrinke in dem luste, ez enstande gewalticlîche ûf im (II, 210,1–3) (... wenn durch alle Beglückung der oberste Wipfel der Seele nicht herabgebeugt wird, so dass er nicht ertrinkt im Wohlgefühl, vielmehr machtvoll darübersteht, II, 209,34–211,3). Eckhart meldet also Vorbehalte an gegenüber einer identifikatorischen Einheitssehnsucht, in der der oberste Wipfel der Seele gleichsam geneigt wird, weil sich das Ich dem anderen preisgibt und lässt Martha zu Christus sagen: ,herre, heiz, daz si mir helfe‘, als ob sie spræche: ‚mîne swester dunket, si vermüge, swaz si welle, die wîle si bî dir in dem trôste sitzet. Nû lâz sie schouwen, ob ez alsô sî, und heiz sie ûfstân und von dir gân‘ (II, 210,29–212,4) (‚Herr, heiß [sie], dass sie mir helfe‘, als hätte sie sagen wollen: ,Meiner Schwester dünkt’s, sie könne [auch schon], was sie [nur] wolle, solange sie [nur] bei dir unter deinem Troste sitze. Lass sie nun erkennen, ob dem so sei, und heiß sie aufstehn und von dir gehen!‘, II, 211,36–213,5). In diesen Worten scheint Eckhart nachgerade die narzisstische Täuschung entlarven zu wollen, die wähnt, in der Identifikation mit dem idealisierten anderen an dessen Qualität teilhaben zu können. Not tut aber auch hier, ebenso wie in dem

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Bild von dem Kind, das sich von seiner Mutter entfernt, das Aufstehen und Weggehen aus eigener Kraft, sei es von der Mutter oder von Christus, der hier eine quasimütterliche Position einnimmt. Eckhart lässt also Martha die Position Marias als defizitär entlarven – ohne Maria jedoch seine Empathie zu entziehen.4 Christus tröstet vielmehr Martha, sie möge sich keine Sorge machen, Maria würde beizeiten noch werden wie sie. Martha wird dabei das Verdienst zugeschrieben, ‚bei‘ den Dingen stehen zu können, nicht etwa ‚in‘ ihnen zu ertrinken. Wenngleich in dieser Predigt der Begriff der Abgeschiedenheit nicht vorkommt, so ist doch ersichtlich, dass Eckhart Martha als eine Figur darstellt, die in einer solchen lebt. Martha hat die Anstrengung der Gewinnung von Distanz geleistet, sie hat die Projektionen, die ein lustgesteuertes Ich in die Welt entlässt, um an fremden Objekten zu haften, aufgegeben. Sie steht da als die, die sie ist, in einer Welt, wie sie ist. Christus aber weiß andererseits darum, dass Maria zum gegebenen Zeitpunkt schon aufstehen wird, er weiß darum so gut, wie es eine Mutter für ihr Kind weiß. Eckhart gestaltet hier gleichsam den Umstand, dass wir alle beizeiten des Trostes und der Regression bedürfen, dass wir ohne eine solche Unterstützung erst gar nicht den nächsten Schritt in die Welt hinaus wagen würden. So hat Maria denn für sich gleichwohl den besten teil (II, 212,12), wie Eckhart zitiert, gewählt. Christus schenkt ihr seine Nähe in der Gewissheit, dass sie ihn eines Tages verlassen wird, um zu leben und leben zu lernen (II, 210,12 ff.) und zu werden wie Martha. * In gewisser Weise illustriert das sehnsuchtsvolle Anhangen Marias die weitgetriebene Abstraktion der berühmten Armutspredigt. Der Mensch, der dort in inwendiger Armut steht, ist derjenige, der nichts mehr will, nichts mehr weiß und nichts mehr hat, während Maria noch im Wollen und Begehren der Nähe Christi gefangen ist.5 Eckhart zeichnet nun dieses Wollen in der Predigt Q 52 Beati pauperes spiritu nach vor der Folie eines uranfänglichen Nicht-Wollens. Dieser Urzustand vor aller Geschaffenheit kannte noch kein Wollen von irgendetwas, noch keine Geschiedenheit von Mensch und Gott: ... dô enwolte ich niht, noch enbegerte ich niht, wan ich was ein ledic sîn und ein bekennære mîn selbes nâch gebrûchlîcher wârheit. Dô wolte ich mich selben und enwolte kein ander dinc; daz ich wolte, daz was ich, und daz ich was, daz wolte ich, und hie stuont ich ledic gotes und aller dinge. (I, 554,6–11) ... da wollte ich nichts und begehrte ich nichts, denn ich war ein lediges Sein und ein Erkenner meiner selbst im Genuss der Wahrheit. Da wollte ich mich selbst und wollte nichts sonst; was ich wollte, das war ich, und was ich war, das wollte ich, und hier stand ich Gottes und aller Dinge ledig. (I, 555,6–11)

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Dieser Urzustand ist eine in sich geschlossene Form, in dem es noch kein Gefühl des Mangels gibt. Alles ist mit sich selbst identisch. Erst als der Mensch aus dieser Kugel heraustritt und auf sich selbst als geschaffene Kreatur, als endliches Wesen zurückblickt, ist die Dualität von Gott und Mensch als eine Frucht der Selbstspaltung des Subjekts geboren. Gott ist ihm fortan die Projektion einer verlorengegangen Einheit.6 Eckharts Botschaft aber ist nun die, dass der Mensch nie die Einheit mit seiner Projektion wird herstellen können – so wenig, wie Narziss sein Spiegelbild je wird greifen können, denn der geschaffene Gott ist nur ein Bild. Eckharts weitergehende Botschaft ist die, dass der Mensch sich zu entbilden, das heißt aller Bilder, aller Vorstellungen zu entledigen habe. Mit auf den Weg gibt er uns in den „Reden der Unterweisung“ die Aufforderung: Nim din selbes war, und swâ du dich vindest, dâ lâz dich (II, 340,31–32) (Richte dein Augenmerk auf dich selbst, und wo du dich findest, da lass von dir ab, II, 341,33/34). Die Bewegung auf Gott hin führt also von einem äußeren Gott weg, hin zu mir selbst. Dabei ist bereits der unverstellte Blick zurück auf mich selbst ein Akt des Loslassens. Selbstwahrnehmung meint immer auch Selbstdistanzierung, die neben ein triebhaftes Habenwollen tritt. Ist also der Weg der Regression, welcher die verlorene vorbewusste Einheit in der identifikatorischen Einheit mit einem äußeren Objekt wiederherzustellen sucht, versperrt, bleibt dem Subjekt, das sich einmal getrennt hat, gleichsam nur die Flucht nach vorne in immer neue Akte der Trennung und des Lassens. Am Ende dieses Weges, an dem es vergessen hat, wer es ist und wo es herkommt, an dem es gelebt und dem Leben gedient hat, mag dann die Erkenntnis und die Erfahrung warten, dass es nie den Urgrund des Lebens verlassen hat und nie aus ihm wird herausfallen können. Da braucht es dann, in einem solchen durchbrechen (u. a.: I, 562,15), auch keinen Gott mehr. Es hat das Bild eines freien und ledigen Gottes in einem Prozess des Entbildens in sich selbst zurückgenommen. Es ist selbst ledic und vrî. Gotteskindschaft meint von hier aus nichts anderes als ein wahrhaft radikales Erwachsensein, das die Hand haltgebender Autoritäten und Identifikationsfiguren endgültig losgelassen hat. Dieser Durchbruch vollzieht sich wesentlich als Anerkennung meiner Selbstschöpfung: ... dâ was ich selbe, dâ wolte ich mich selben und bekante mich selben ze machenne disen menschen (I, 560,19–21) (... da wollte ich mich selber und erkannte mich selber (willens), diesen Menschen (= mich) zu schaffen, I, 561,24/25) und: daz got ‚got‘ ist, des bin ich ein sache; enwære ich niht, sô enwære got nicht ‚got‘ (I, 561,32–562,2) (... dass Gott „Gott“ ist, dafür bin ich die Ursache: Wäre ich nicht, so wäre Gott nicht „Gott“, I, 561,37–563,2). Es ist paradoxerweise die Einsicht in meine selbst gewählte Getrenntheit von Gott oder modern gesprochen: die Anerkennung von Differenz, die mich zugleich Fühlung mit dem Urgrund aller

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Möglichkeiten des Seins vor aller Trennung aufnehmen lässt. Die Rückkehr zu Gott meint Einsicht und Erkenntnis, dass ich mich mit Gott in die Ursache der Schöpfung teile.7 Schöpfung ist Trennung, die aus der Einheit kommt.8 Diese Schöpfung in göttlicher Freiheit findet dann bei Eckhart im Prozess des Empfangens, Gebärens und Rückgebärens zwischen Gott und Christus, zwischen Christus und dem Menschen als eine Art ununterbrochener energetischer Fluss statt.9 Das Leben erfüllt sich in dem dynamischen Prozess der Gottesgeburt als Antwort auf die Forderungen des Lassens und der Abgeschiedenheit. In den so entstandenen Freiraum rückt Eckhart das Bild des Gebärens in den Mittelpunkt als einen Akt, der keine Wiederholungen kennt, der auch nicht willentlich herbeigeführt wird, sondern der sich ereignet. Es ist absichtsloses, zweckfreies Tun, dass sich vom Zweckhandeln der Kaufleute unterscheidet (Q 1, I, 12). Es ist, wenn man so will, frei fließende Energie, die in vollem Umfang zur Verfügung steht, wenn die Bindung an äußere Objekte aufgegeben wurde.10 Blicken wir von hier aus noch einmal auf die Maria-und-Martha-Predigt zurück. Bemerkenswert ist dabei, dass Eckhart die Sequenz nicht auf eine einseitige normative Aussage zulaufen lässt. Es sieht zwar auf den ersten Blick so aus, als ob Eckhart die Maria-freundliche Aussage des Evangeliums in eine Favorisierung Marthas verkehre.11 Aus dem Blick gerät dabei aber leicht, dass durch die Figur Christi eine Triangulierung herbeigeführt wird, die beide Positionen relativiert. In Christus wird gleichsam die Dichotomie von ‚vita activa‘ und ‚vita contemplativa‘ aufgehoben, denn er spricht Martha zwar die reifere Position zu, wirkt aber gleichwohl beruhigend auf sie ein, indem er ihr ihre Sorge um Maria zu nehmen versucht. Christus steht als eine Instanz da, die ihre Empathie nach allen Seiten einbringt und der Situation eine Zuschreibung des Mangels aberkennt, indem er letztlich einer jeden der beiden Frauen ihre je eigene Existenzform als eine temporär adäquate zubilligt. Christus steht über den normativen Wertigkeiten, wie sie die beiden Schwestern der Tradition nach verkörpern. Er ist gleichsam ‚bei‘ den Frauen, wie der Abgeschiedene ‚bei‘ den Dingen ist, und bringt in dieser Distanzierung eine Kraft der Befriedung und des Ausgleichs ein. Eckhart lässt mit Christus eine psychische Freiheit Gestalt annehmen, welche duale Zuschreibungen in sich aufnimmt und integriert. Christus ist hier auch als Symbol eines autonomen Subjekts lesbar, dessen Empathie und Klarsicht eine abstrakte Normativität übersteigt. * Meister Eckharts Gottesbegriff changiert in den deutschen Predigten an der Grenze zur Auflösung.12 Zum einen gibt es den Gott der Projektion, den menschengemachten Gott, der letztendlich zu lassen ist. Dieser Gott ist dem Menschen so lange ein Leitbild, bis er selbst so ledig und frei, so abgeschieden ist, wie er diesen imaginiert.13 Zum anderen gibt es den Gott des Urgrunds, der

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aber eigentlich kein Gott ist, weil der Mensch sich in ihm noch nicht getrennt hat und noch in Einheit mit sich selbst und Gott ruht. Dieser Gott ist dem Menschen bei Eckhart kein personales Gegenüber, er ruht vielmehr am Grunde seines Bewusstseins als Quelle des Lebens. Gott ist hier eine Seinsform der Möglichkeit, in welche die Schöpfung sich immer wieder zurückzunehmen vermag.14 Dabei sind die Trennung von Gott und der Rückweg zu Gott aufs Innigste miteinander verbunden, beide fallen am Ursprung des Lebens zusammen. Einheit ist dabei für Eckhart nicht ohne Lassen erfahrbar. Für den Menschen aber bedeutet Lassen in einem tieferen Sinne das Aufsichnehmen von Trennung als das Loslassen von Objekten, die wir nach Maßgabe unserer Bedürfnisse besetzt halten. Erst in einem solchen Gelöstsein und solchermaßen gelösten Tun kann sich der Schöpfungsprozess der Gottesgeburt ereignen. Einheit liegt von hier aus darin begründet, dass ein Kontinuum kreativer Prozesse des Trennens und Gebärens aus einer gestaltlosen Ewigkeit kommt und stets wieder in diese zurückkehrt. Je rückhaltloser der gelassene Mensch sich diesem Wandel des Lebens anheimgibt, um so mehr ist ihm die zugrunde liegende Einheit allen Lebens spürbar. Damit verzichtet Eckhart weitgehend auf Gott als eine idealisierte Vater- oder Mutterfigur, die Schutz und Trost gewährt. Er schickt den Menschen gleichsam in die Entborgenheit, um ihn seine Schöpferkraft und seine göttliche Freiheit entdecken zu lassen. Den christlichen Identifikationsangeboten räumt er nur eingeschränkte Gültigkeit ein. Mit einem solchen Entwurf hat Eckhart im 14. Jahrhundert für eine Irritation gesorgt, die bis heute anhält. Nicht dass die Intellektuellen seiner Zeit dem brillanten Denker nicht hätten folgen können, aber dem gemeinen Volke eine radikale Perspektive der Selbstverantwortung zu predigen, das stellte wohl auch eigene Positionen im autoritären Gefüge zu sehr in Frage. Die Hüter eines religiösen Zaubergartens lassen sich aus diesem nur ungern vertreiben. Blicken wir heute aus einer Perspektive, die sich in einen Prozess der Rationalisierung hineingestellt sieht, auf den Denker Eckhart zurück, dann mögen wir in ihm auch den Vorboten einer aufscheinenden Entzauberung sehen wollen, der seinen Platz noch mitten in einer überreichen mittelalterlich-christlichen Kultur einnimmt und teilhat an dem intellektuellen Kathedralenbau seiner Zeit – aber dieser gleichzeitig auch schon den Rücken zukehrt, wie das Kind, das dem Schoß seiner Mutter entflieht, einer Zeit entgegen, die an neuen Ufern neue Abstraktionen sucht. Heutzutage stehen wir vor neuen Bedrohungen, die von Wissenschaft und Religion ausgehen. Dabei schlagen Projektionen eines ausufernden Größenwahns unter anderem in fiktionalen Katastrophenphantasien auf uns zurück. Der Mensch, der sein will wie Gott, fürchtet nichts mehr, als dass Gott sich

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an ihm rächt; gleichzeitig mit dem Akt eigener Grenzüberschreitungen wartet er auf die grenzüberschreitende Reaktion seines Gegenübers. Das macht uns Angst und schenkt uns zugleich auch wieder Erleichterung, weil wir darin eine haltgebende Grenze spüren. Gott, den wir zu entthronen angetreten sind, zeigt sich uns wieder – als furchtgebietender Vater. Dergestalt mögen wir auf Prozesse von Welteroberung als einen fortwährenden Versuch von Grenzüberschreitungen und Rückzügen blicken. Wir probieren aus, wie weit wir gehen können, erobern Neuland und treten beizeiten wieder den Rückzug an. Fürs Erste hat es den Anschein, als ob der Mystiker, der eine Existenz der Zurückgezogenhheit führt, weniger Unglück in die Welt zu bringen vermöchte als ein militärischer Führer, der todbringende Waffen einsetzt, oder ein Wissenschaftler, der dazu seinen Beitrag geleistet hat. Eckhart aber konfrontiert uns damit, dass eine unterwerfungsbereite Triebnatur hier wie dort zu finden ist. Dabei blickt er auf die Welt nicht nach Maßgabe eines Modells, das es zu verbessern gälte – denn Gott hält seit jeher immer schon das jeweils Beste für den Menschen bereit in einer Welt, die mehr ist als ein Modell –, sondern er blickt zurück auf den Menschen nach Maßgabe seiner Möglichkeiten, er sieht ihn im Horizont von Gefangenschaft und Freiheit. Diesen definiert er in Beziehung zu einer inneren Bewegung des Wollens, des Greifen- und Sichausliefernwollens, die einen Raum der Freiheit besetzt hält.15 Einer solchen Bewegung des Begehrens, die er vom Menschen gelassen sehen möchte, entspringt dabei nicht nur ein zügelloser Eroberungsdrang, sondern ebenso eine regressive Verschmelzungssehnsucht, beide sind als ein triebgeleitetes Verschlingen- und Verschmelzenwollen aufeinander bezogen – und beide halten den Menschen gefangen. Eckhart stellt dem die Vision eines freien, gelassenen Menschen gegenüber, der die innere Distanz gewonnen hat, neben seinen Triebimpulsen zu stehen und nicht mehr in diesen aufzugehen, der um die Ruhe und Leerheit des Geistes vor allem Drang zur Gestaltwerdung weiß. Dieser braucht nicht mehr die Bedrohung durch eigene Projektionen zu fürchten, und er stellt auch für andere keine Bedrohung mehr da. Seine eigene Selbstgewissheit befähigt ihn, den Eigenwert der gesamten Schöpfung anzuerkennen. Dieser Mensch ist frei zu geben und zu nehmen, ein fließender Austausch tritt an die Stelle festgefügter Bilder und Normen. Er hat schließlich vergessen, ob er seine Reise als Mönch oder Krieger, als Christ oder Nicht-Christ angetreten hat. Auf dem Wege, zu werden wie Christus, hat er vergessen, dass es diesen einst gegeben hat.

Loslassen und in der Wirklichkeit ankommen

7.3 Loslassen und in der Wirklichkeit ankommen Berührungen westlichen und östlichen Denkens bei Meister Eckhart und Meister Dôgen

Das monastische Milieu des 13. Jahrhunderts hat in Ost und West zwei große Denker hervorgebracht: den Dominikanermönch Meister Eckhart und den Zen-Buddhisten Meister Dôgen.1 Beide kennzeichnet die Verwurzelung in traditionalen Denksystemen, beiden kommt aber auch, wenn man so will, eine Überschreitung derselben zu. Sowohl Eckhart als auch Dôgen lassen dabei in Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche ihre paradoxalen Denkbewegungen auf ein radikales Verständnis von Freiheit zulaufen. Diese Ansätze fordern nach wie vor zur Auseinandersetzung heraus. Vereinfacht ließe sich ein gemeinsamer Fokus beider Denkrichtungen mit der Formel umreißen, dass eine existentielle Selbsterfahrung an eine existentielle Selbstaufgabe gekoppelt wird. Eine vergleichende Betrachtung möchte in diesem Rahmen Spiegelungen zwischen den Denkern sichtbar machen und hofft so, zu einem vertieften Verständnis ihrer Gedanken beitragen zu können. Vorab soll eine lebensweltliche Gemeinsamkeit von Meister Eckhart und Meister Dôgen nicht unerwähnt bleiben, die beide so unterschiedliche Zuschreibungen wie ‚Philosoph‘, ‚Mystiker‘, ‚Literat‘ und ‚Seelsorger‘ auf sich ziehen. Eine monastische Einbettung – der Dominikanerorden für Meister Eckhart, für Meister Dôgen ein buddhistisches Kloster der Tendai-Schule und spätere selbständige Klostergründungen – bringt es mit sich, dass beide stets unmittelbar auf eine Gemeinschaft hin gelehrt und gelebt haben. Christlich gesprochen kam ihnen die Funktion von ‚Seelenführern‘ zu. Beide verbindet zudem ein eminent schöpferischer Umgang mit Sprache. Eckhart hat das Wagnis unternommen, theologische Inhalte nicht nur im Latein des Klerus, sondern auch in der deutschen Volkssprache, deren Entwicklung durch ihn entscheidende Impulse erfahren hat, zu verkünden. Dôgen wiederum hat, anders als die meisten buddhistischen Gelehrten seiner Zeit, nicht auf Chinesisch, sondern auf Japanisch geschrieben, mit dem er überdies ungewöhnlich frei umging.2 Einen entsprechenden Kanon lehrhafter Texte durchzieht bei beiden Denkern eine explizite Aufforderung des Lassens, die hier exemplarisch zum Ausgangspunkt genommen werden soll. Zunächst wird die Bedeutung des lâzens in den deutschen Schriften Eckharts ins Auge gefasst3, im Anschluss ein Versuch der Näherung an die Vorstellung des Lassens für Dôgen erfolgen.

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Beide Beispiele, der Selbstvergleich nach Maßgabe eines spirituellen Besitzens und die Klage über unvollkommene äußere Bedingungen, sind in einem religiösen Kontext situiert. Dies sollte aber nicht darüber hinwegsehen lassen, dass Eckhart hier eine allgemeine menschliche Schwäche zum Gegenstand nimmt. Im ersten Beispiel ist es die, sich stets mit anderen zu vergleichen und ein vermeintliches Defizit zu beklagen, im zweiten Beispiel, über die Absenz eines erwünschten Zustands Klage zu führen. Beide Klagen aber überführt Eckhart ihrer heimlichen Selbstbezüglichkeit, und seine Antwort ist klar und entschieden: In der wârheit, diz bist dû allez selber und anders niht zemâle. Ez ist eigener wille, aleine enweist dû es niht oder endünket es dich niht ... („Wahrlich, darin steckt überall dein Ich und sonst ganz und gar nichts. Es ist der Eigenwille, wenn zwar du’s auch nicht weißt oder es dich auch nicht so dünkt ...“)6 und weiter: dû bist ez in den dingen selber, daz dich hindert, wan dû heltest dich

Loslassen und in der Wirklichkeit ankommen

unordenlîche in den dingen. Dar umbe hebe an dir selber an ze dem êrsten und lâz dich („Du bist es [vielmehr] selbst in den Dingen, was dich hindert, denn du verhältst dich verkehrt zu den Dingen“).7 Eckhart nimmt hier die Position einer predigenden Autorität ein, die zur Umkehr auffordert, zum Lassen von sich selbst. Er führt weiter an, dass der Mensch in allen seinen äußeren Fluchtbewegungen nur Unfrieden finde, der Friede aber allein im Lassen von ûzwendigen dingen8 zu finden sei. Darin sieht Eckhart ein grundlegendes Moment der Freiheit enthalten: wan, der sînen willen und sich selber læzet, der hât alliu dinc gelâzen als wærlîche, als si sîn vrî eigen wæren und sie besezzen hæte in ganzem gewalte („Denn wer seinen Willen und sich selber lässt, der hat alle Dinge so wirklich gelassen, als wenn sie sein freies Eigentum gewesen wären und er sie besessen hätte mit voller Verfügungsgewalt“).9 Das Kapitel 3 endet schließlich mit den einprägsamen Worten: Nim dîn selbes war, und swâ dû dich vindest, da lâz dich; daz ist daz aller beste („Richte dein Augenmerk auf dich selbst, und wo du dich findest, da lass von dir ab; das ist das Allerbeste“).10 Da dieser Text von Eckhart in einem klösterlich-lehrhaften Kontext entstanden ist, liegt fürs Erste eine Deutung im Sinne eines normativen Anspruchs nahe, wonach es einen egoistischen Eigenwillen aufzugeben gilt. Gott, dessen Name erst ganz am Ende des Kapitels fällt,11 wird hierfür als kompensatorische Verheißung ins Spiel gebracht. Tatsächlich aber bringt Eckhart in seiner Rede weit mehr als nur eine Moraldidaxe vor, er liefert uns vor allem ein Psychogramm, das ein idealtypisches Projektionsmuster abbildet. Im ersten Beispiel lässt er einen Sprecher Klage führen, der das eigene Ich im Vergleich als minderwertig erlebt. Der Sprecher macht die anderen ‚groß‘ und sich selbst daneben ‚klein‘, möchte sich aber gleichzeitig gerne aufgewertet sehen, das heißt ebenfalls spirituell ‚arm‘ sein. Darüber führt er Klage. Ähnlich verhält es sich im zweiten Beispiel. Hier schildert Eckhart in paraphrasierender Ich-Rede, wie personales Glück an die Bedingungen von Kloster und Klausur gebunden wird. Über die Absenz dieser Bedingungen glaubt das Subjekt Klage führen zu sollen. Ein Subjekt rechtfertigt also sein Ungenügen an sich und der Welt nach Maßgabe von polarisierenden Zuschreibungen. Es idealisiert andere Menschen beziehungsweise andere Verhältnisse und bleibt somit auf diese fixiert. Eine neuzeitliche Diagnose würde hier wohl infantile Positionen der Abhängigkeit ausmachen. Nach Eckhart werden so notwendigerweise innere Spannungen produziert beziehungsweise hindernisse und unvride,12 aus denen der Mensch nur im Lassen herausfindet. Erst indem er seine Verfügungsgewalt über das, was er gelassen hat, unter Beweis stellt, macht er sich frei und gewinnt auf bedeutsame Weise gewalt13 über sich selbst. Loslassend erhebt er sich über die Dinge, die er zuvor begehrend festhielt.14

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Der bedeutsame Angelpunkt der Eckhart’schen Konzeption von Gelassenheit liegt nun darin, dass es nicht um das Lassen der Dinge an sich geht, sondern um das Lassen des Wollens der Dinge, das heißt der geistigen Vorstellung, welche die Dinge haben möchte. Diese Vorstellung ist bei Eckhart selbst das Hindernis. Die Hindernisse sind die inneren Bilder, die nach außen projiziert werden und die sich gleichsam in nichts auflösen, wenn ich sie in meiner Vorstellung fallen lasse. Dem solchermaßen gelassenen Menschen aber mangelt es fortan an nichts mehr. Das Lassen besetzter Objekte bringt es vielmehr mit sich, dass der Mensch sich im Gegenzug mit der ganzen Fülle des Seins beschenkt sieht. Ob er im Sinne einer Vorstellung von sich selbst geistig arm ist oder nicht, ob er im Kloster lebt oder nicht, spielt, um Eckharts Beispiele noch einmal aufzugreifen, dann keine Rolle mehr. Die Fülle des Seins kommt ihm genau dort zu, wo er gerade steht. Dabei hat der gelassene Mensch genau genommen zweierlei hinter sich gelassen: die Identifikation mit seinem Begehren (‚ich will geistig arm sein‘) und die Identifikation mit einer dieses kontrollierenden normativen Vorstellung (‚du sollst geistig arm sein‘). Eckhart exemplifiziert hier eine Einsicht, die Freud als die Bindung einer moralischen Über-Ich-Instanz an die Energien eines triebgesteuerten Es beschreibt. Denn dem normierenden Über-Ich liegt nach Freud die Triebbesetzung eines geliebten Objekts zugrunde. Ihm zuliebe wird die kulturell geforderte Entsagung verinnerlicht. Das ursprüngliche Begehren oder Habenwollen aber wird damit nicht beseitigt, sondern lediglich umgelenkt.15 Eckhart argumentiert also genau dort mit dem Eigenwillen des Menschen, wo Freud noch hinter asketischen Entsagungen einen menschlichen Triebegoismus ausmacht. Vor diesem Hintergrund mag noch einmal deutlicher hervortreten, dass es Eckhart in seinem Modell des Lassens nicht um eine Wahl zwischen den Dualitäten von Gut und Böse geht, sondern um das Aussetzen eines inneren Konflikts im Lassen aller Vorstellungen und Bilder, ‚guter‘ und ‚böser‘. Am Ende des hier besprochenen dritten Kapitels zitiert Eckhart das Bibelwort ‚saælic sint die armen des geistes‘16 und verknüpft damit den Gedanken des Lassens mit dem Gedanken der geistigen Armut, der zuvor bereits als Gegenstand seines Exempels Erwähnung gefunden hatte. Dieser Topos der geistigen Armut steht nun im Mittelpunkt der Armutspredigt,17 wo Eckhart die Kategorien des Nichtwollens, Nichtwissens und Nichthabens auflistet. Für die Kategorie des Nichtwollens führt er als Negativbeispiel fromme Leute an, die sehr betont danach trachteten, Gottes Willen zu erfüllen, und führt vor, dass diese noch in ihrem hehren Vorsatze, nicht besser als Esel, von ihrem eigenen Willen angetrieben seien.18 In der geistigen Armut aber ginge es um die grundsätzliche innere Verfassung eines Nichtwollens, wobei sich das obige Beispiel aus den ‚Reden der Unterweisung‘ hier passgenau einfügen ließe. Für die zweite Kategorie des

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Nichtwissens verweist Eckhart auf einen Zustand ohne alle Selbsterkenntnis oder Gotteserkenntnis. Als Drittes schließlich bedeute Nichthaben, dass der Mensch nicht einmal mehr über eine Stätte verfüge, darin Gott wirken könne, weil Gott im Menschen gleichsam in sich selbst verweile.19 Ausgehend von einem Verständnis des absoluten Nichtwollens, das folgerichtig nicht einmal mehr einen Willen Gottes erfüllen will, kommt Eckhart in der Armutspredigt zu seiner vielleicht radikalsten Spekulation um die Seinseinheit von Gott und Mensch, die sich an jenem Punkt des Nichtwollens offenbart. Denn in der êwigen art gotes20 wusste der Mensch noch nicht um ein Leben Gottes in ihm, weil in ihm nichts anderes lebte als er selbst: waz dâ lebete, daz was er selber.21 Er war ohne eigenes Wissen, das heißt ohne Wissen um sich selbst oder um Gott. Dieser imaginierte Urzustand entspricht für Eckhart der vollkommenen geistigen Armut, wie sie der Mensch anstreben soll. In diesem uranfänglichen Sein Gottes war kein Unterschied zum Sein des Menschen: wan in dem selben wesene gotes, dâ got ist obe wesene und ob underscheide, dâ was ich selbe, da wolte ich mich selben und bekante mich selben ze machenne disen menschen. Her umbe sô bin ich mîn selbes sach nâch mînem wesene, daz êwic ist, und niht nâch mînem gewerdenne, daz zîtlich ist. In jenem Sein Gottes nämlich, wo Gott über allem Sein und über aller Unterschiedenheit ist, dort war ich selbst, da wollte ich mich selbst und erkannte mich selbst [willens], diesen Menschen [= mich] zu schaffen. Darum bin ich Ursache meiner selbst meinem Sein nach, das ewig ist, aber nicht meinem Werden nach, das zeitlich ist.22

Eckharts Urzustand in der Ewigkeit ist demnach ein Zustand der vollkommenen Identität eines Ichs mit sich selbst. Es ist zugleich ein Zustand vollkommener Freiheit, in dem auch der Wille zum Geboren- oder Nichtgeborenwerden eingeschlossen ist. Insofern als der Mensch hier in seiner eigenen Ursache ruht, gibt es keine Ursache-Wirkungs-Relation, keine Zeit und keinen Ort. Hier steht der Mensch ganz in der Ewigkeit. Dem ‚zeitlichen‘ Menschen allerdings, der zwischen Geburt und Tod steht, ist diese Dimension nur als ein durchbrechen23 erfahrbar. Da, wo er sich in diesem durchbrechen selbst als nicht unterschieden von Gott erfährt, gibt es diesen dann aber auch nicht mehr. Es ist dies der Punkt der größten Armut, des letztmöglichen Lassens, des größten Selbstverlustes und des größten Gottesverlustes. Eckhart entwirft damit einen in die Vergangenheit rückprojizierten Zustand der Einheit, der grundsätzlich unerreichbar ist. Gleichzeitig denkt er eine solche Dimension irdischer Existenz unabdingbar beigegeben. Das Geborene ist demnach nicht getrennt vom Ungeborenen, aber dieser Umstand entzieht sich

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in der Welt der Zeitlichkeit einem erkennenden Zugriff. Wir können ihn nicht in unser Bewusstsein von uns selbst integrieren, er ist allenfalls in einem durchbrechen blitzartig erfahrbar. Diesem durchbrechen aber kommen weder Selbsterkenntnis noch Gotteserkenntnis zu. Es weiß nichts von sich. Es ist durch und durch ‚arm‘, ohne Wollen, ohne Wissen, ohne Haben. Zu Beginn des vierten Kapitels in Die rede der underscheidunge mit der Überschrift Von dem nützen lâzenne, daz man tuon sol von innen und von ûzen („Vom Nutzen des Lassens, das man innerlich und äußerlich vollziehen soll“) spricht Eckhart davon, dass ein Mensch nie so viel gelassen haben könnte, als dass er nicht noch mehr zu lassen fände.24 In einem stets aufs Neue zu unternehmenden Vollzug des Lassens setzt er sich in einen Prozess der Näherung an die Ewigkeit, der unabschließbar ist. Frieden findet sich für Eckhart in dieser permanenten Bewegung. Unfrieden entsteht nur da, wo diese Bewegung blockiert ist. Knüpfen wir von hier aus noch einmal an die Einsicht an, dass es Eckhart um das Lassen innerer Bilder und Vorstellungen als um ein radikales Entbilden25 geht, und nehmen wir zur Kenntnis, dass ein solcher Prozess grundsätzlich nicht abschließbar ist, so liegt auf der Hand, dass es um ein fortwährendes Lassen als Antwort auf ein fortwährendes Neuentstehen von Vorstellungen und Bildern geht. Eckhart sieht also eine menschliche Psyche dauerhaft damit beschäftigt, innere Bilder zu produzieren und diese wieder aufzugeben. Bleibt sie an einzelnen Bildern haften und räumt ihnen eine objektive Wirklichkeit ein, gerät sie in Verwirrung. Kann sie sich aber von diesen immer wieder lösen, gesellt sich zu dieser Bewegung eine innere Ruhe, in der Gott erfahren werden kann. Gott, so möchte man meinen, ist aus dieser Perspektive ein Gott der Bewegung und des Wandels. Ihm gilt es, sich zu überlassen. Die inneren Vorstellungen aber, die wir mit uns herumtragen, bilden laut Eckhart keine objektive Wirklichkeit ab, sondern nur uns selbst und unser eigenes Begehren. Räumen wir diesen irrigerweise den Status einer äußeren Realität ein, sitzen wir in einem selbstgeschaffenen Käfig, in dem wir nur Gitterstäbe beziehungsweise hindernisse sehen. Lassen wir diese jedoch, sind wir frei. Wie aber sieht bei Eckhart gelebte Gelassenheit aus? In der Predigt 86 ‚In­travit Iesus in quoddam castellum‘ geht Eckhart explizit auf eine lebenspraktische Dimension ein. In ihr widmet er sich anhand der Perikope von Maria und Martha aus dem Lukas-Evangelium der Spannung zwischen Handeln und Kontemplation. Dabei schlägt er einen Grundton an, der die Position Marthas, als der tätig Dienenden, gegenüber der Position Marias, die im Banne der Person Christi zu dessen Füßen sitzt, verteidigt. Eine Kritik Marthas an Maria nimmt er jedoch in der Aussage Christi wieder zurück, der Maria ihre Haltung der Anlehnung durchaus als ein notwendiges Entwicklungsstadium zubilligt.26 Die tätige Martha aber steht in dieser Predigt beispielhaft für einen Menschen,

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der bî den dingen und nicht in den dingen27 steht und somit Eckharts Ideal einer inneren Abgeschiedenheit erfüllt. Dieses ist wiederum aufs Engste mit seiner Vorstellung des Lassens verbunden, denn der gelassene Mensch verfügt insofern über innere Abgeschiedenheit, als er sich nicht mehr in der Identifikation mit Objekten der Außenwelt in dieser verliert. Sein Handeln markiert dabei zugleich Distanz und Verbundenheit, Freiheit und Hingabe: wan, swer da würket in dem liehte, der gât ûf in got, vrî und blôz alles mittels: sîn lieht ist sîn gewerbe, und sîn gewerbe ist sîn lieht. Also stuont diu liebe Martha („Denn wer da wirkt im [vollen] Licht, der steigt hinauf zu Gott, frei und bloß von allem Vermittelnden: Sein Licht ist sein Wirken, und sein Wirken ist sein Licht“).28 Die biblische Martha steht in diesem Sinne ganz im Lichte ihres Tuns, auf das allernæhste29 bezogen. An anderer Stelle heißt es: Marthâ bekante baz Marîen dan Marîâ Marthen, wan si lange und wol gelebet hâte; wan leben gibet daz edelste bekennen. Leben bekennet baz dan lust oder lieht allez, daz man in disem lîbe under gote enpfâhen mac, und etlîche wîs bekennet leben lûterer, dan êwic lieht gegeben müge. Êwic lieht gibet ze erkennenne sich selber und got, aber niht sich selber âne got; aber leben gibet ze erkennenne sich selber âne got. Martha kannte Maria besser als Maria Martha, denn sie hatte [schon] lange und recht gelebt; denn das Leben gibt das edelste Erkennen. Das Leben erkennt besser[,] als Lust oder Licht [es vermögen,] alles, was man in diesem Leben unterhalb Gottes [= abgesehen von Gott] erlangen kann, und in gewisser Weise reiner, als es das Licht der Ewigkeit zu verleihen vermag. Das Licht der Ewigkeit [nämlich] lässt uns immer [nur] uns selbst und Gott erkennen, nicht aber uns selbst ohne Gott; das Leben aber gibt uns selbst zu erkennen ohne Gott [= unter Absehung von Gott].30

Eckhart setzt hier anstelle von Wirken und Tun das Leben selbst als obersten Wert. Denn das ewige Licht gebe zwar sich selbst und Gott zu erkennen, das Leben aber sich selbst ohne Gott. Immer wieder führt Eckhart Aussagen über eine innere Abgeschiedenheit oder Gelassenheit, verbunden mit Exkursen über die Wesenseinheit von Gott und Mensch, zurück auf den Vollzug des Lebens selbst. Das Leben selbst ist in diesen Passagen die Aufgabe, an der sich der Mensch zu bewähren hat, es selbst ist der Lehrmeister und der Weg zur Erkenntnis, als der es alle anderen Wege der Erkenntnis überbietet. Leben und innerer Entwicklungsprozess greifen unabdingbar ineinander. Zurückgehend auf Eckharts Vorstellung eines fortwährenden Prozesses des Lassens innerer Bilder und Anhaftungen, der nie zu einem Ende gebracht werden kann, ist ein rechtes Leben im Sinne Eckharts ein Leben des Lassens,

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Wirkens und Übens. Ein solches Leben dient keiner Absicht, nur sich selbst, und indem der Mensch fortwährend von sich selbst ablässt, wird er immer mehr zu seinem gewerbe, seinem Tun. Statt sich in selbstbezüglichen Bildern und Vorstellungen zu verfangen, die ihn hindern und Unfrieden säen, entäußert er sich in ein absichtsloses Wirken,31 das ihn mit Gott und der Welt verbindet. Dieses Wirken ist zugleich ein Nicht-Tun, das in der Ewigkeit ruht.32 Das bis auf den heutigen Tag provokative Element in Eckharts Denken liegt darin, dass er sich zwar virtuos im Rahmen des mittelalterlichen philosophischchristlichen Weltbildes bewegt, dieses aber auch in seiner hierarchischen Struktur gleichzeitig aufbricht. Denn wenn der Mensch Gott nicht mit seinem Denken fassen kann, sondern der Weg allein in einem radikalen Entbilden liegt, dann beraubt Eckhart den Menschen in letzter Konsequenz jeglicher Haltepunkte in seiner inneren Vorstellungswelt. Der Weg zu Gott ist für Eckhart mit einem grundlegenden Vergessen33 aller Bilder verbunden, an die sich menschliches Begehren heftet. Erst wenn ein solcher begehrlicher eigen wille gänzlich gelassen wird, kann der Mensch paradoxerweise zu seinem wahrhaft lebendigen eigenen finden.34 Dieser Mensch hat seine Projektionen, die ihm gleichsam die Sicht verstellen, hinter sich gelassen und ist durchlässig geworden für eine Schöpfung, von der er sich fortwährend neu empfängt und an die er sich wirkend fortwährend wieder zurückgibt.35 Meister Dôgen Nicht von ungefähr legt das Eckhart’sche Denken, das eine personale Gottesvorstellung immer wieder abstrahierend übersteigt, nahe, nach Gemeinsamkeiten mit dem fernöstlichen Buddhismus Ausschau zu halten. Dabei geben sich die großen Gestalten Eckhart und Dôgen über die Hemisphären hinweg gleichsam ein Echo. Dennoch liegen kulturelle Unterschiede auf der Hand, und es bleibt zunächst darauf zu verweisen, dass Dôgens Werk im Rahmen buddhistischer Tradition in einer konkreten Praxis wurzelt, der Praxis des Zazen.36 Diese traditionelle Form der Sitzmeditation setzt körperlich eine sowohl aufrechte als auch entspannte Haltung zum Ziel und mental ein Vorbeiziehenlassen gedanklicher Vorstellungen, ohne an diesen festzuhalten. Man lässt diese, einem alten Zenspruch gemäß, ins Haus, bietet ihnen aber keinen Tee an. Will man dieser Praxis überhaupt die Bezeichnung Meditation zukommen lassen, so ist es eine Meditation ohne Inhalt: Shikantaza („Nur-Sitzen“), Mushotoku („ohne Absicht“). Begleitet wird die Übung des Sitzens von der Übung alltäglicher Verrichtungen im Dienste für die Gemeinschaft. Nach einem vierjährigen China-Aufenthalt kam Dôgen 1227 mit vertieften Erfahrungen des Zazen wieder zurück nach Japan.37 Sein Hauptwerk, das Shôbôgenzô38 („Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“),39 entstand im Anschluss zwischen 1231 und 1253.

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Im Rahmen des Shôbôgenzô, das sich in 95 Kapitel untergliedert, kommt dem dritten Kapitel Genjô kôan („Das verwirklichte Universum“) eine besondere Stellung zu. Dieses Kapitel behandelt die Einheit von Buddha und Dharma, Selbst und Welt: Den Buddha-Weg ergründen heißt sich selbst ergründen. Sich selbst ergründen heißt sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen heißt eins mit den zehntausend Dingen sein. Eins mit den zehntausend Dingen sein heißt Körper und Geist von uns selbst und Körper und Geist um uns fallen zu lassen.40

Die Erfahrung der Buddha-Natur aller Existenzen, das Ergründen oder Lernen des Buddha-Wegs liegt, so Dôgens Botschaft, in uns selbst, wobei diese Rückwendung nicht etwas Festes vorfindet, sondern gleichsam in einen offenen Raum vorstößt, in dem das Selbst, wenn es sich findet, zugleich auflöst. In diesem Selbstvergessen erfahren sich Selbst und Welt als Einheit, und diese ist wiederum gleichbedeutend mit dem Fallenlassen von Körper und Geist. Eine zentrale buddhistische Vorstellung ist hierbei die grundsätzliche Unfestigkeit aller Existenz, sowohl des personalen Selbst als auch der äußeren Welt. Dôgen bringt hier das Beispiel ein, dass ein Mensch auf einem Boot glaube, das Ufer bewege sich. Erst wenn er unmittelbar auf das Boot schaue, erkenne er, dass das Boot sich bewege. Daraus folgert er: Genauso ist es, wenn Körper und Geist verwirrt sind und wir versuchen die zehntausend Dinge [der Welt] zu verstehen; dann denken wir irrtümlich, dass unser Geist und unser Wesen etwas Beständiges seien. Wenn wir jedoch unmittelbar handeln und zur konkreten Situation im gegenwärtigen Augenblick zurückkommen, wird die Wahrheit klar, dass die zehntausend Dinge ohne ein [beständiges] Selbst sind.41

Diese Erfahrung von Unbeständigkeit macht die Verwirklichung auf dem Buddha-Weg aus. Wenn Körper und Geist im Zazen zur Ruhe kommen, wird die subtile Bewegung aller Existenz, die kein festes Zentrum besitzt, wahrnehmbar. In dem poetischen Kapitel 14 des Shôbôgenzô: Sansui gyô („Das Sûtra der Berge und Wasser“) beschreibt Dôgen diese Erfahrung anhand der Bewegung und Selbsterfahrung der Berge und Wasser: Wenn ihr an der Bewegung der Berge zweifelt, kennt ihr eure eigene Bewegung noch nicht. Eure eigene Bewegung existiert wirklich, aber ihr kennt sie noch nicht und habt sie noch nicht geklärt. Wenn ihr eure eigene Bewegung erkennt, werdet ihr gewiss auch die Bewegung der Blauen Berge verstehen.42

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Eine solche Seinserfahrung, die in der Totalität des gegenwärtigen Augenblicks aufgeht und sich der Bewegung des Universums überlässt, lässt ein vorgestelltes Kontinuum von Zeit hinter sich: Brennholz wird zu Asche, und die Asche kann niemals wieder zu Brennholz werden. Trotzdem sollten wir die Asche nicht als das Spätere und das Brennholz als das Frühere ansehen. Ihr müsst nämlich verstehen, dass das Brennholz im Dharma seinen eigenen Platz einnimmt. Es hat [zwar] ein Vorher und ein Nachher, aber trotzdem existiert das Vorher unabhängig vom Nachher. Asche nimmt im Dharma ihren eigenen Platz als Asche ein. Sie hat ein Vorher und ein Nachher.43

Im Buddha-Dharma kommt jedem Ding in jedem Augenblick eine vollständige, unabhängige Existenz zu. Es steht zwar in einem Zusammenhang von Ursache und Wirkung, ist aber auch davon unabhängig. Aus dem Herz-Sutra44­ zitiert Dôgen die Worte „Nicht-Werden“ und „Nicht-Vergehen“45 und fährt fort: „Leben ist der Stand eines Augenblicks. Tod ist der Stand eines Augenblicks. ... Im Buddha-Dharma denken wir nicht, dass Winter zu Frühling wird, und wir sagen nicht, dass Frühling zu Sommer wird.“46 Dieses Verständnis des Buddha-Dharma nimmt also nicht eine zeitliche Beziehung, welche Erfahrungen nach Maßgabe eines Werdens und Vergehens zwischen Leben und Tod miteinander verknüpft, zum Ausgangspunkt, sondern lässt Existenz in der Totalität des jeweiligen Augenblicks aufgehen. Ein jeder Augenblick existiert aus seinem eigenen Zentrum heraus.47 Und in einem jeden dieser Augenblicke ist der vollständige Buddha-Dharma über Raum und Zeit hinweg präsent. Im Wandel dieser gesättigten Augenblicke ist das Leben grundsätzlich in Bewegung – ohne einen Haltepunkt. Der Überlieferung nach beschäftigte den jungen Dôgen, bevor er nach China ging, die Frage, worin die Bedeutung des Übens zu suchen sei, wenn die Einheit des Dharma immer schon gegeben sei.48 Diese Frage verweist auf die zentrale Botschaft Dôgens, dass die Erleuchtung als Erleben einer grundlegenden Einheit nur im Üben und Handeln erfahrbar sei, als Antwort.49 Bei Dôgen gibt es keine Erfahrung der Wahrheit ohne Praxis beziehungsweise ohne Handeln. Im ersten Kapitel des Shôbôgenzô mit dem Titel Bendôwa („Ein Gespräch über die Praxis des Zazen“) heißt es: Bedenkt ferner, dass die höchste Wahrheit uns seit Anbeginn niemals fehlte; wir empfangen und benutzen sie fortwährend. Da wir aber nicht fähig sind, direkt zur höchsten Wahrheit vorzustoßen, neigen wir dazu, in abstrakten Vorstellungen zu leben, denen wir nachjagen, so als ob sie wirklich wären, und gehen so an der großen Wahrheit vorbei.“50 Des Weiteren: „Es ist wohl offensichtlich, dass der Buddha-Dharma nicht über das verstandesmäßige Verstehen, dass wir selbst Buddha sind, zu erfassen ist.“51

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Dôgen legt dar, dass alle Existenz seit jeher in der Einheit des Buddha-Dharma steht, sich diese Einheit aber unserer normalen Erfahrung entzieht und wir geneigt sind, uns in unseren abstrakten Vorstellungen von der Welt zu verlieren. Die Wahrheit lässt sich nach Dôgen jedoch nicht mit dem Verstand erfassen, und an eben diesem Punkt setzt er den Wert der richtigen Übung an, welche in diesem Kapitel gleichzusetzen ist mit der Praxis des Zazen: Sitzt nur richtig und erlangt den Zustand, in dem ihr Körper und Geist fallen lasst. Wenn ein Mensch auch nur für einen Augenblick aufrecht im Samâdhi sitzt und in Körper, Rede und Geist die Buddha-Haltung offenbart, nimmt die ganze DharmaWelt diese Haltung ein, und der unendliche Raum kommt zum Erwachen.52

In der Übung des Sitzens geht es um das ‚Fallenlassen von Körper und Geist‘, eine Formel, die sich durch das ganze Werk zieht. In der Hingabe an das aufrechte Sitzen werden Körper und Geist, soweit sie fallengelassen werden, durchlässig, und die Erfahrung dieser Durchlässigkeit kommt dem ‚Erwachen‘ gleich. Darin nimmt der Erwachende zugleich alles Sein mit sich, weil sich alles Sein wechselseitig durchdringt. Weil diese Wahrheit in jedem Üben präsent ist, ist Üben Erwachen. Weil das richtige Üben absichtslos ist, kennt es nicht das Ziel des Erwachens, sondern ist es das Erwachen selbst. In dem Kapitel 23 Gyôbutsu yuigi („Das reine würdevolle Handeln der Buddhas“), überträgt Dôgen die Wertschätzung des Übens auf die Wertschätzung des reinen Handelns. Das reine, würdevolle Handeln der Buddhas hebt sich ab von einem Denken, das sich in einem vermeintlichen Erkennen selbst gefangen setzt: „Wer nicht wie ein Buddha handelt, hat sich noch nicht von den Fesseln ‚Buddha‘ und ‚Dharma‘ befreit. ... Von der Fessel ‚Buddha‘ gefangen zu sein bedeutet, dass man die Wahrheit nur als die [so genannte] ‚Wahrheit‘ erkennt und begreift und von diesem Erkennen und Begreifen selbst gefangen ist. ... Es ist so, als ob man sich selber ankettet, obwohl es keine Kette gibt. ... Der jetzt handelnde Buddha ist niemals in solchen Fesseln gefangen.“53 – „Bei einem solchen Handeln lässt der Buddha nämlich [die Handlung] selbst handeln, während die Handlung gleichzeitig den Buddha handeln lässt.“54 – „Gerade weil das Handeln weit über das Denken hi­nausgeht, könnt ihr es nicht [mit Worten] beschreiben, nicht [für etwas] benutzen, und ihr könnt es niemals [vollständig] erfassen.“55

Folgen wir Dôgen, ereignen sich die Erfahrung von Einheit oder das Erwachen grundsätzlich nicht in einem abstrakten Raum des Denkens, sondern nur im konkreten Handeln eines „konkreten Ichs“.56 Im reinen Handeln befreit sich der Mensch von festgefügten Vorstellungen, zu denen auch jedes rein

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verstandesmäßige Erkennen gehört. Das reine würdevolle Handeln der Buddhas aber findet nur in der vollständigen Übergabe an den Fluss des Lebens und seine nie endende Bewegung statt, als Fallenlassen von Körper und Geist. In diesem Fallenlassen und dieser Bewegung liegt alle Seinserfüllung, in ihr erfahren sich die Blauen Berge, die Wasser und alle Buddhas selbst, diese Selbsterfahrung mit allen Wesen teilend. Sowohl Eckhart als auch Dôgen bewegen sich in religiösen Denksystemen, die traditionale Dualitäten verhandeln: die Relation von Gott und Mensch, Ewigkeit und Endlichkeit sowie die Beziehung von Täuschung und Erwachen in den Koordinaten von Buddha und Dharma. Sowohl Eckhart als auch Dôgen nehmen in ihren Schriften jedoch eine mehrdimensionale Perspektive ein. Immer wieder konturieren sie die Differenz zwischen einer Welt der Ewigkeit und einer Welt der Zeitlichkeit, zwischen Wahrheit und Täuschung, Buddhas und Buddha-Dämonen, Zeit und Zeitlosigkeit, Ort und Ortlosigkeit und so fort. Zugleich lassen sie diese Differenzierungen jedoch auch immer wieder auf ihre eigene Verneinung zulaufen und öffnen damit das Tor in eine Dimension, die alles begriffliche Denken hinter sich lässt. Die Einheit von Gott und Mensch, Buddha und Dharma, wie sie für Eckhart als ein ‚Durchbrechen‘, für Dôgen als ‚Erwachen‘ erfahren wird, werden jenseits religiöser Lehrgebäude angesiedelt. Beide Denker relativieren mit dieser Öffnung das Denksystem, in dem sie sich bewegen, und weisen damit über sich hinaus. Eckhart fasst ein radikales Lassen in das Bild der geistigen Armut mit den Kategorien des Nichtwollens, Nichtwissens und Nichthabens. Für Dôgen wiederum ist Erwachen an das ‚Loslassen von Körper und Geist‘ gebunden. Beiden Denkern geht es dabei um eine grundlegende Absichts- oder Ziellosigkeit, die selbst auf das Streben nach Erkenntnis verzichtet. In letzter Konsequenz fallen sowohl ‚Buddha‘ als auch ‚Gott‘ dieser Ziellosigkeit zum Opfer. Hier wie dort wird eine Einheitserfahrung an eine grundlegende Selbst- und Weltaufgabe gebunden, die sich nicht als Willensakt vollzieht, sondern einer durchdringenderen Wahrnehmung entspringt. Einem Akt bewussten Erkennens bietet sie keinen Raum mehr. Sie ist einfach nur vollständig da. Pointierter als bei Eckhart liegt für Dôgen der Schlüssel zum Buddha-Weg und zur Buddha-Erfahrung im Üben. Das konkrete Üben löst den Übenden von den Fesseln seines Denkens und damit von seiner Ich-Beschränkung. Im Üben und Handeln kann er seine Projektionen loslassen. Signifikant ist hierbei, dass beide Denker ihr besonderes Augenmerk auf eine reflexive gedankliche Tätigkeit richten, die, sofern der Mensch sich an diese als vermeintliche Objektivationen der Wirklichkeit hält, ein kardinales Hindernis darstellt. Für beide Denker verläuft hier eine Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit. Festzuhalten bleibt aber zugleich, dass hier wie dort ‚Täuschung‘ und ‚Wahn‘

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sozusagen das Material abgeben, das den spirituellen Weg markiert. Wenn für Eckhart das Lassen der Königsweg zur Gotteserfahrung ist, sind folglich alle Bilder, die es zu lassen gilt, Stufenleitern. Gleiches gilt für die Praxis des Zen. Täuschungen und Illusionen sind gleichsam der Boden, aus dem sich die spirituelle Praxis erhebt.57 Beide Denker greifen in ihren Bemühungen, die Einheit des Seins jenseits von Begriffen zu umkreisen, die notwendigerweise an eine Dualität gebunden sind, zu Paradoxien, die eine duale Ordnung wieder negieren. In diesen Ansätzen fallen alle Gegensätze von Endlichkeit und Ewigkeit, Täuschung und Wahrheit wieder in einer Wirklichkeit zusammen. Eckhart und Dôgen haben kein festes Ziel anzubieten, aber sie nehmen den Leser mit auf eine Reise, die sein Denken verändert.

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7.4 Nicht-Wollen und Nicht-Eingreifen Meister Eckhart und das chinesische Dao

Einleitung Der Sprung vom europäisch-christlichen Mittelalter, dem geistigen Boden Meister Eckharts, in den Daoismus des chinesischen Altertums ist groß. Dabei mag zunächst einmal verwundern, dass Schriften Eckharts eher selten im Regal einer deutschen Buchhandlung zu finden sind, während das ‚Daodejing‘ des Laozi, ein Grundtext des Daoismus, mittlerweile in jeder Esoterik-Ecke seinen Platz hat. Die westliche Neugierde auf das ganz andere Denken des Ostens ist offenbar groß, wenngleich sich hier die Frage stellt, ob das in der Fremde vermutete ganz andere wirklich so grundstürzend anders ist als das oftmals unbekannte oder vergessene Eigene. Meister Eckhart, der damals wie heute für die Infragestellung von festgefügten Denkmustern und provokative Grenzüberschreitungen steht, mag hier als Gewährsmann herangezogen werden. Der Entstehungsraum und der literarische Ansatz von Eckharts Werk auf der einen und den daoistischen Schriften auf der anderen Seite sind allerdings grundverschieden. Eckharts Texte sind uns als mehr oder minder geschlossenes Werk der historischen Persönlichkeit Eckhart überliefert und tragen die Zeichen eines institutionellen kirchlichen Rahmens. Die Überlieferung für die großen Texte des Daoismus stellt sich hingegen sehr viel unübersichtlicher dar. Wenngleich sie die Namen von legendären Meistern tragen – das bereits erwähnte ‚Laozi‘1 etwa heißt so viel wie „Meister Lao“ – liegen doch die Verfasserschaften über weite Strecken im Dunkeln. Bei den drei Grundtexten, dem ‚Laozi‘, dem ‚Zhuangzi‘2 und dem ‚Liezi‘3 handelt es sich um Kompilationen, deren Grundbestände bis auf die Zeit um 300 v. Chr. zurückgehen. Das ‚Daodejing‘ des Laozi, eine Sammlung von 81 gereimten Sinnsprüchen4 und das im Westen bekannteste Werk, führt den zentralen Begriff des dao in seinem später hinzugetretenen Titel. Dao meint die kosmische Ordnung in ihrem wandelbaren Vollzug, die alle Gegensätze umschließt und sich allen Definitionen entzieht, während Daodejing so viel wie das dao und seine Wirkungen meint. Eine gängige Übersetzung von dao mit „Weg“5 knüpft an die Alltagsbedeutung des Begriffs an und legt unter anderem die Vorstellung eines moralisch-ethischen Leitwegs nahe. Dem steht jedoch das dynamischere, prozessuale Verständnis eines Weges gegenüber, der sich erst im Beschreiten formt, eher als ‚Lauf‘ oder ‚Gang‘ im Sinne von ‚Lauf der Dinge‘ oder ‚Lauf des Wassers‘6 zu verstehen.7

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So verzichtet man heute denn auch weitgehend auf eine Übertragung dieses schillernden Begriffs, der sich in viele Richtungen hin offen hält. Das Sein und das Nicht-Sein In die philosophischen Spekulationen um das dao gibt das berühmte erste Kapitel des ‚Laozi‘ einen vieldiskutierten Einstieg:8 Dào kě dào fei cháng dào. míng kě míng, fēi cháng míng. (1–4) wú míng tiān dì zhī shĭ. yŎu míng wàn wù zhī mŭ. (5–6) gù cháng wú, yù yĭ guān qí miào. cháng yŎu, yù yĭ guān qí jiào. (7–10) cĭ ling zhě, tóng chū ér yì míng; tóng wèi zhī xuán. xuán zhī yòu xuán: zhòng miào zhī mén. (11–14) Dao, kann es ausgesagt werden, ist nicht das beständige Dao. Der Name, kann er genannt werden, ist nicht der beständige Name. (1–4) Was ohne Namen ist, ist Anfang von Himmel und Erde. Was einen Namen hat, ist Mutter der zehntausend Dinge. (5–6) Wenn man daher beständig [im] Nicht-Sein [ist], besteht der Wunsch, dadurch seine feinen Verästelungen zu erkennen. Wenn man beständig im Sein ist, besteht der Wunsch, dadurch seine Grenzen zu erkennen. (7–10) Diese beiden treten zusammen hervor und haben unterschiedliche Bezeichnungen; beide gemeinsam heißen mystisches Dunkel.

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Das Dunkle des Dunklen: aller feinen Verästelungen Tor. (11–14)

Das Kapitel beginnt mit dem Wort dao und der Setzung einer programmatischen Differenz. Unterschieden wird zwischen einem sagbaren und einem andersgeartet dauerhaften dao (cháng dào) sowie einem benennbaren und einem andersgeartet dauerhaften Namen (cháng míng). Ohne Namen (wú míng) ist der Anfang von Himmel und Erde, während die Mutter der zehntausend Dinge einen Namen hat (yôu míng) (5–6). In den folgenden Zeilen (7–10) schließlich hat ein Subjekt im wú, dem Nichts oder der Leere, verweilend, das Bestreben, dessen Feinheiten wahrzunehmen, in yôu, dem Sein oder der Form, wörtlich zu übersetzen mit „haben“, das Bestreben, äußere Grenzen zu erkennen. Die Bewegung zielt mithin einerseits auf eine Feinstruktur und zum anderen auf äußere Grenzen. Beide Sphären werden aber durch die jeweils geltend gemachte Beständigkeit (cháng) des Subjekts miteinander verbunden. Die letzten vier Zeilen (11–14) relativieren nun explizit den vorherigen Antagonismus. Beide Sphären, wú und yôu, so heißt es nun, treten zusammen hervor, sie haben lediglich unterschiedliche Namen. Für beide wird aber nun ein gemeinsamer Begriff eingeführt: xuán, das Dunkle und Tiefe. Das Dunkle des Dunklen als das gesteigerte Dunkle bildet am Ende das Tor zu allen sogenannten ‚feinen Verästelungen‘ (miào). Damit gibt dieser kurze Text am Ende mehr Fragen auf, als er beantwortet. Eine Unterscheidung von dauerhaft und nicht-dauerhaft, Sein und Nicht-Sein wird gesetzt und zugleich eindeutigen Zuordnungen entzogen. So ist bereits der scheinbar klare Antagonismus von yôu míng und wú míng, mit und ohne Namen, rätselhaft. Der Anfang von Himmel und Erde soll namenlos und damit im Sinne der vorherigen Zeilen beständig sein, die Mutter der zehntausend Dinge namhaft und damit wandelbar. Nun stehen zwar Himmel und Erde für Beständigkeit, einen Anfang von Himmel und Erde können wir uns aber wohl kaum anders als einen dynamischen Prozess vorstellen. Anfang steht in einem herkömmlichen Verständnis für Öffnung, Aufbruch, Aufbau und Bewegung. Auf der anderen Seite wird die Mutter9 der zehntausend Dinge als namhaft und damit einem Wechsel unterworfen eingeführt. Evident ist hier wiederum, dass die Vielzahl von Erscheinungsformen einem Wechsel unterworfen ist, die Mutter als Gebärende zu den geborenen ‚Kindern‘ beziehungsweise Dingen doch aber eher in einem Verhältnis der Beständigkeit und Ruhe steht. Wir kommen also bestenfalls für die Aussage von Zeile 5 zu dem Ergebnis eines beständigen Wechsels und für Zeile 6 zu dem Ergebnis einer wechselhaften Beständigkeit. Die Gratwanderung, die der Text unternimmt, besteht nun darin, dass zum Einen eine explizite Trennung zwischen yôu und wú, Sein und Nicht-Sein, vollzogen wird, diese Gegensätze aber auch wieder in eine basale Einheit eingeholt

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werden. Von daher wird dem ‚Laozi‘ immer wieder eine Beziehung der Ergänzung zwischen yôu und wú, Sein und Nicht-Sein, zugeschrieben, in der eins das andere wechselseitig hervorbringe beziehungsweise eins ins andere münde.10 Neben einer solchen zirkulären Vorstellung kausaler Verschlingungen vermittelt das erste Kapitel aber auch die Vorstellung einer punktuellen Gleichzeitigkeit. Yôu, das Sein, wird demnach nicht nur wieder zu wú, Nicht-Sein, und umgekehrt, sondern yôu ist immer zugleich schon wú und umgekehrt das Nicht-Sein immer schon Sein. Trennung bringt lediglich das sondernde Bezeichnen, um nicht zu sagen: das sondernde Denken mit sich. Das Denken umkreist gleichsam den Gegenstand seiner Erkenntnis aus unterschiedlichen Perspektiven, der sich ihm einmal als Form, einmal als Leere zeigt, den es aber nie, wie ein Satellit seinen Planeten, als Ganzes in den Blick bekommt. Als sprachliches Kunstwerk steht das ‚Laozi‘ selbst in der Mitte eines Widerspruchs. Differenz wird zwar begrifflich vollzogen, die Geltung von Begrifflichkeit aber gleichzeitig in Frage gestellt. Als rhythmisierte, reimgebundene Sprache, von der in den Wiederholungen und Alliterationen eine enorme Suggestionskraft ausgeht, ist der Text jedoch mehr als nur eine Anhäufung von Begriffen, er steht selbst in einer umfassenderen, lebendigen Bewegung. Gegensatzpaare werden in gleichermaßen einfachen wie kunstvollen Verschränkungen wieder dynamisiert, Evidenz wird aufgelöst in Nicht-Evidenz, Eindeutigkeit in Mehrdeutigkeit. Wagen wir von dieser Sprachbetrachtung im Angesicht des philosophischen Grundproblems von Einheit und Vielfalt einen ersten Sprung zu Meister Eckhart. Ursprung im Nichts Im Daoismus heißt das einheitsstiftende Prinzip dao, für Meister Eckhart ist es Gott. Sowohl in den Spekulationen um das dao als auch im Denken Eckharts aber stellt das Nichts einen zentralen Fluchtpunkt dar. Eckhart thematisiert das Nichts unter anderem eingehend in der Predigt 71, die das Damaskuserlebnis des Paulus zum Gegenstand nimmt.11 Eckhart übersetzt den lateinischen Bibeltext: ,Paulus stuont ûf von der erden, und mit offenen ougen ensach er niht‘12 („Paulus stand auf von der Erde, und mit offenen Augen sah er nichts“)13. Drei Zeilen später kommentiert Eckhart: daz niht was got14 („dieses Nichts war Gott“) und im Weiteren: dô er got sach, dô sach er alliu dinc als ein niht15 („Als er Gott sah, da sah er alle Dinge als ein Nichts“). Später heißt es noch einmal in der Umkehrung: Und dô er alliu dinc sach als niht, dô sach er got16 („Und als er alle Dinge als ein Nichts sah, da sah er Gott“). Als ein Nichts sieht Paulus die Dinge in Gott, weil sie in Gott so kleinvüege,17 das heißt kleinteilig sind, dass das Auge sie nicht wahrnehmen kann. Gott und die Dinge als Nichts sind sinnlich nicht greifbar und entsprechend namelôs18 („namenlos“). Eckhart geht

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dann noch einen Schritt weiter und verbindet das Nichts und Gott mit dem Begriff der Einheit: Ich enmac niht gesehen, daz ein ist19 („Ich kann nicht sehen, was eins ist“). Einheit kann sich mit anderen Worten nur im Nichts herstellen, folglich ist Gott Nichts.20 Maßgeblich bei Eckhart ist nun, dass die Gelenkstelle des Textes in der Wahrnehmung des Paulus liegt. Paulus, das ist hier das Entscheidende, sieht die Dinge als ein Nichts und in diesem Nichts offenbart sich ihm ihre Einheit und damit Gott. Das heißt: Nicht die Dinge haben sich verändert, sondern Paulus steht in einer veränderten Wahrnehmung der Dinge. In dieser sind sie ihrer äußeren Grenzen und Form entkleidet, sie sind so kleinvüege, sprich: subtil, dass sie sich den Sinnen entziehen, er sieht sie, entgrenzt und entkleidet, als ein Nichts. Existenz zeigt sich ihm in diesem grenzenlosen Nichts in ihrer unsichtbaren Einheit und ihrem Ursprung.21 Die Dinge als niht bleiben aber zugleich, so Eckhart, auch iht, das heißt: etwas. Gleich im Anschluss an die Aussage, dass ich nicht sehen kann, was eins ist, heißt es: Got ist ein niht, und got ist ein iht. Swaz iht ist, daz ist ouch niht22 („Gott ist ein Nichts, und Gott ist ein Etwas. Was etwas ist, das ist auch nichts“). Nachdem Eckhart also zunächst die Besonderheiten des Nichts als nicht sichtbar im Sinne einer Feinstruktur umschrieben hat, gesellt er dem Nichts wieder das iht, sprich: etwas, bei und lässt beide in einer Identität zusammenfallen. Nach der Lektüre des ersten Kapitels des ‚Laozi‘ kommt uns diese Bewegung einer Separierung und Wiederzusammenführung von Nichts und Etwas beziehungsweise wú und you vertraut vor. Sowohl Eckhart als auch das ‚Laozi‘ stellen dabei eine Differenzierung dezidiert in den Kontext von Wahrnehmung. Paulus sieht bei Eckhart die Dinge als ein Nichts. Im ‚Laozi‘ wiederum richtet sich die Wahrnehmung eines Subjekts im wú auf die feinen Verästelungen (miào), im yôu davon abweichend auf die äußere Form (jiào). Der Gegenstand der Erkenntnis verändert sich für das Subjekt also hier wie dort mit seinem je eingenommenen Standort. Sowohl im gesamten ‚Laozi‘ als auch im Werk Eckharts geht nun eine Tendenz dahin, das Nichts und ein Prinzip der Einheit nahe zusammenzuführen, hier wie dort wird aber auch immer wieder das Sein als das andere in diese Einheit eingeholt. Gott und das dao, die sich primär einer begrifflichen Bemächtigung und unmittelbar sinnlichen Wahrnehmung entziehen, sind gleichwohl in jedem Ding, jeder Form enthalten, denn die Feinstruktur ist an eine Grobstruktur gebunden, niht und icht,23 wú und yôu treten zusammen hervor. Als Zeitzeuge des 21. Jahrhunderts ist man geneigt, anlässlich der Lektüre dieser großen mystischen Texte, die um etwas sogenanntes kleinvüeges und sogenannte „feine Verästelungen“ (miào) kreisen, eine Brücke zur modernen Physik zu schlagen. Der nicht mehr sichtbare Forschungsgegenstand einer Teilchenphysik, die antritt, das nicht mehr Messbare zu messen, darf wohl mit Fug und Recht im Sinne

Nicht-Wollen und Nicht-Eingreifen

Eckharts und Laozis als Nichts betitelt werden, ein Nichts, das gleichwohl durch und durch materiell ist. Die schöpferische Dynamik der Gottesgeburt Für Eckhart ist das Nichts zudem der Ort der Gottesgeburt. In der bereits zitierten Predigt 71 führt er das Gleichnis an, wie ein Mensch vom Nichts schwanger würde und Gott als die Frucht des Nichts im Nichts geboren würde.24 Andernorts beschreibt er dieses Gebären als Geburt des Sohnes durch den Vater und als ein Rückgebären des Sohnes in den Vater, wobei er am Ende die Identitäten von Vater, Sohn und Mensch beziehungsweise Mensch und Gott, Gebärendem und Geborenem in eins fallen lässt.25 Gott gebiert sich demnach im Menschen permanent, âne underlâz26 („ohne Unterlass“) selbst neu. Dieses Gebären Gottes und des gottgleichen Menschen seiner selbst ist Eckharts zentraler Schöpfungsgedanke. Schöpfung ereignet sich für ihn in einem êwigen nû27 („ewigen Nun“), einer ewigen Gegenwart.28 Diese auf Dauer gesetzte Gegenwart meint nichts anderes als die Hingabe von Schöpfer und Geschöpf an eine fortlaufende Bewegung, in der das Subjekt nirgends haften bleibt und in der ständigen Verwandlung seiner selbst in einer sich ständig wandelnden Gegenwart bleibt. Zu Eckharts Vorstellung von der Gottesgeburt als einem schöpferischen Wandlungsprozess liegt ein Vergleich mit dem 16. Kapitel des ‚Laozi‘ nahe. Zhì xu jí, shŎu jìng dŬ. wàn wù bìng zuò, wú yĭ guān fù. fú wù yún yún, gè fù guī qí gēn. guī gēn yuē jìng. jìng yuē fù mìng. fù mìng yuē cháng. zhī cháng yuē míng. bù zhī cháng, wàng zuò xiōng. zhī cháng róng, róng ni gōng, gōng ni quán, quán ni tiān, tiān ni dào, dào ni jiŭ. mò shēn bú dài. (1–19)

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Den höchsten leeren Pol erreichen und den stillen langsamen Fortgang bewahren! Was die zehntausend Dinge angeht, so wirken sie auch daraus und ich sehe sie dahin zurückkehren. Nun sind die Dinge zahllos und üppig, ein jedes kehrt wieder zu seinem Ursprung zurück. Zu seinem Ursprung zurückkehren, bedeutet Ruhe. Ruhe heißt, das Geschick zu wiederholen. Das Geschick zu wiederholen, heißt Konstanz. Die Konstanz nicht zu erkennen, bedeutet, unbesonnen Unheil zu bewirken. Die Konstanz zu erkennen, beinhaltet alles, alles umfassend, das ist dann Allgemeinheit, Allgemeinheit bedeutet Vollständigkeit, Vollständigkeit bedeutet dann Natur, Natur bedeutet dann Dao. Dao bedeutet dann lange Dauer. Wenn die Person vergeht, ist sie nicht bedroht. (1–19)

Folgendes Kausalgefüge wird hier angeboten: Aus einer höchsten Leere heraus wirkten die zehntausend Dinge und kehrten wieder in diese als ihren Ursprung zurück. Das Zurückkehren zum Ursprung bedeute Ruhe und diese Ruhe bedeute zugleich, das Geschick im Sinne eines Neuanfangs zu wiederholen. Wiederholung stehe für eine allumfassende Konstanz. Diese Konstanz zu erkennen, verweise auf Allgemeinheit und Vollständigkeit, Vollständigkeit wiederum bedeute Natur, Natur bedeute dao, dao lange Dauer. In dieser auf Dauer gesetzten Verwandlung und Wiederholung gebe es für die Person keine Bedrohung. Eckhart und Laozi umkreisen beide die Frage nach Vergänglichkeit und Ewigkeit, wobei der Leser hinter vordergründigen Differenzen auf tiefgreifende Übereinstimmungen stößt. Zwar unterscheiden sich der östliche und der westliche Blick, wenn Eckhart das Schöpfungsgeschehen als dramatische Geburtsakte der Erneuerung entwirft, Laozi hingegen im Kapitel 16 von einem „stillen langsamen Fortgang“29 redet und der Fokus mehr auf der Wiederholung als der Erneuerung liegt. Dennoch, so möchte man in der Sprache des Laozi sagen, stehen beide Autoren gemeinsam in der Tiefe mystischer Dunkelheit und halten ein Tor der Erkenntnis offen. Beide Texte bringen uns nahe, dass es keine greifbare Ewigkeit gibt, Beständigkeit vielmehr allein in der Wiederholung allen Seins als eines ewigen Neuanfangs liegt. In dieser dauerhaften Bewegung vergehen die Dinge permanent, bleiben aber zugleich in der Teilhabe an diesem beständigen Wandlungsprozess bei sich selbst.

Nicht-Wollen und Nicht-Eingreifen

Das Nichts stellt gleichsam eine Gelenkstelle dieses Wandlungsprozesses zwischen Ruhe und Bewegung dar, den imaginären Punkt, an dem eine alte Bewegung zur Ruhe kommt, um in eine neue überzugehen. Einen Stillstand gibt es in diesem fortlaufenden Prozess jedoch nicht und deshalb kann es auch keine substantielle Trennung von Nichts und Etwas geben. Das Nichts als Movens der Bewegung in der Ruhe und das Etwas als bewegte Materie sind nicht voneinander zu trennen, das ruhelos Bewegte ist zugleich der in der Ruhe stehende Beweger, Immanenz und Transzendenz umarmen einander.30 Meister Eckhart hat diesen Gedanken an keiner Stelle so zugespitzt formuliert wie in der berühmten Predigt ‚Beati pauperes spiritu‘.31 Im Rahmen des christlichen Vorstellungsraums von Schöpfung münden von hier aus Schöpfer und Geschöpf, Gott und Mensch in eine Einheit, in der es keinen Gott und keinen Menschen mehr gibt, nur noch die überwältigende Fülle der Schöpfung selbst. Nicht-Eingreifen und Nicht-Wollen Im Rahmen der Spekulationen um das dao kommt nun der lebenspraktischen Vorstellung des wúwéi eine besondere Position zu. Wéi steht in diesem Doppelbegriff für Handeln, wúwéi für ein Handeln aus wú, dem Nichts heraus. Wúwéi32 meint in dieser eigentümlichen Färbung ein intuitives Handeln, das mit der Offenheit des wú in Verbindung steht und sich im Einklang mit dem dao befindet, ein reines Tun ohne ‚Zu-Tun‘.33 Im ‚Daodejing‘ taucht der Begriff das erste Mal in Kapitel 2, Zeile 12 auf, Simon übersetzt ihn mit „Nicht-Eingreifen“.34 Tiān xià jiē zhī měi zhī wéi měi: sī è yĭ. jiē zhī shàn zhī wéi shàn, sī bú shàn yĭ. (1–5) gŭ yŎu wú xiāng shēng, nán yì xiāng chéng. cháng dun xiāng xíng, gāo xià xiāng qīng, yīn shēng xiāng hé, qían hòu xiāng suí. (6–11) shì yĭ shèng rén chŭ wú wéi zhī shì, xíng bù yán zhī jiào.

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wàn wù zùo yān ér bù cí. shēng èr bù yŎu. wéi ér bú shì. gōng chéng ér bù jū. fū wéi fú jū, shì yĭ bú qù. (12–19) „In der Welt weiß jeder, was die Schönheit des Schönen ausmacht: Wahrlich, dies ist das Hässliche. Jeder weiß, was die Güte des Guten ausmacht: Wahrlich, es ist das Ungute. (1–5) Deshalb … bringen sich Sein und Nicht-Sein wechselseitig hervor, vollenden sich schwer und leicht wechselseitig, gestalten sich lang und kurz wechselseitig, messen sich oben und unten wechselseitig, passen sich Tonhöhe und Klangfarbe wechselseitig an, bestimmen vorne und hinten ihre Reihenfolge wechselseitig. (6–11) Aus diesem Grund beschäftigt sich der Vollkommene mit Angelegenheiten des Nicht-Eingreifens und führt die Lehre des Nicht-Redens aus. Was die zehntausend Dinge angeht, so handelt er in ihnen und äußert sich nicht. Sie entstehen, doch er will sie nicht in Besitz nehmen. Er handelt, doch stützt er sich nicht darauf. Er vollendet seine Leistungen, doch bleibt er nicht [dabei]. Nur wenn er nicht da stehen bleibt, entfernt er sich gerade dadurch nicht. (12–19)

Die ersten Zeilen erläutern zunächst eine Dialektik, wonach die Gegensätze von schön und hässlich, gut und ungut aufeinander verweisen. In Zeile 6 heißt es, dass sich Sein und Nicht-Sein wechselseitig hervorbringen, woraufhin die folgenden gegenbildlichen Begriffe in ein engmaschiges Netz verwoben werden, in dem alles aufeinander bezogen ist und sich aneinander austariert.35 Der Weise greift in dieses Gefüge nicht ein, er übt sich vielmehr in „Angelegenheiten des Nicht-Eingreifens und führt die Lehre des Nicht-Redens aus“ (12–13). Hier wie auch im Folgenden legt der Text das Schwergewicht auf Negationen, gibt aber gleichzeitig zu erkennen, dass der Weise gleichwohl ein Handelnder und

Nicht-Wollen und Nicht-Eingreifen

Lehrender ist. Der Weise nimmt aber die Dinge nicht in Besitz und er stützt sich auch nicht auf dieselben oder anders formuliert: Der Weise wahrt Distanz.36 Er wahrt Distanz zu den Dingen und, das vermitteln die letzten Zeilen, er lässt die Dinge auch wieder los und bleibt in Bewegung. Eben dadurch aber bleibt er in Kontakt mit ihnen. Nicht-Eingreifend schwingt der Weise also in einer komplexen Bewegung mit, die er nicht zu stören bemüht ist, weder in Form von Vereinnahmungen noch Selbstauslieferungen, er bleibt vielmehr empfänglich für das große Ganze, in dem er sich selbst als Teil bewegt. Alle Bewegung bleibt zìrán,37 zu übersetzen in etwa mit: „so, wie es ist“ oder „von selbst so“.38 Das so andersgeartete ‚Zhuangzi‘,39 ein weiterer Grundtext des Daoismus, der in zeitlicher Nachbarschaft zum ‚Laozi‘ entstanden ist und, anders als jenes, in elaborierte Narrationen ausgreift, findet für die Prinzipien eines Lebens im Einklang mit dem dao eigene eindringliche Worte und Bilder. „Zerstöre das Himmlische nicht mit dem Menschlichen; störe dein Schicksal nicht durch absichtsvolles Handeln“40 oder „Lass einfach alle Dinge sich von selbst entwickeln“41 sind Worte aus dem berühmten Kapitel „Herbstfluten“. Dieses enthält einen Dialog zwischen dem Grafen des Gelben Flusses und dem Herrn des größeren, umfassenderen Nordmeeres. Letzterer macht in der Position des Lehrenden unter anderem folgende Aussage: „Wenn deshalb jemand sagt: ‚Mache das Rechte zu deinem Lehrer, nicht das Falsche, mache die gute Regierung zu deinem Lehrer, nicht die Unordnung‘, dann ist das ein Missverständnis der großen Ordnung von Himmel und Erde sowie der Eigenschaften der Myriaden Dinge.“42 Eine Dualität von richtig und falsch oder gut und schlecht ist also nicht maßgebliche Richtschnur für das Handeln eines Weisen. Dieser blickt nicht auf eine defizitäre Welt, die es in seinem Sinne zu scheiden und zu optimieren gälte, sondern er findet eine Welt vor, in deren großer Ordnung bereits alles enthalten ist. Für das Subjekt ist diese Wahrnehmung daran gekoppelt, den eigenen persönlichen Fokus aufzugeben und – im Bilde des ‚Zhuangzi‘ – den Blick über die umfassenden, unendlichen Weiten des Nordmeeres gleiten zu lassen. Dann teilt es sich in das große dao, in das es eintreten, das es sich aber nicht unterwerfen kann. Als Mediävist möchte man dem Sinologen gerne die Schriften Eckharts zuspielen, denn eine Verwandtschaft des wúwéi mit Meister Eckharts Konzept der Abgeschiedenheit43 ist unübersehbar. Eckharts bekannte Umschreibung eines mehr Bei-den-Dingen- als In-den-Dingen-Seins44 trifft das subtile Moment einer inneren Distanzierung, wie es auch im wúwéi vorliegt, verblüffend genau. Mit dem Modell einer inneren Abgeschiedenheit entwirft Eckhart einen Raum innerer Freiheit für den Menschen, in dem dieser, losgelöst von allen äußeren Anhaftungen, all sein Tun auf Gott ausrichtet oder anders formuliert: ganz in seinem Tun ist, ohne sich daran zu verlieren. Sein Handeln ist frei und absichtslos

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wie das Wirken des Weisen im dao. Sowohl Eckhart als auch das ‚Laozi‘ betonen dabei eine Tendenz der Selbstzurücknahme. Ich zitiere aus dem ‚Laozi‘: „Wenn man das dao praktiziert, dann wird man täglich mehr reduziert“,45 oder: „Das Genügende am Genügen zu erkennen, ist beständiges Genügen“.46 Eckhart wiederum lehrt eine innere Armut im Nicht-Wollen, Nicht-Wissen und Nicht-Haben.47 Beide Denker betonen dabei das scheinbare Paradox, dass der Mensch im Verlust des Eigenwillens das wahrhaft Eigene erst gewinnt.48 Das heißt, dass hier wie dort der Mensch sich erst im Loslassen äußerer Objekte mit einer größeren, kosmischen Kraft verbunden wiederfindet und damit erst eigentlich bei sich selbst ankommt.49 Eine irgendwie geartete Bedrohung kann es für die Person in dieser umfassenden Bewegung nicht geben, in der alles Vergehende sich im Selbstverlust fortwährend erneuert. Es bleibt noch eine Denkfigur zu erwähnen, die sich sowohl bei Eckhart als auch im ‚Laozi‘ findet. Im chinesischen Text heißt es: „Wer Dao, die große Imago, hat, / dem läuft das, was unter dem Himmel ist, zu.“50 Eckhart wiederum sagt: Der gote anehaftet, dem haftet got ane und alliu tugent. Und daz dû vor suochtest, daz suochet nû dich; daz du vor jagetest, daz jaget nû dich ...51 („Wer Gott anhaftet, dem haftet Gott an und alle Tugend. Und was zuvor du suchtest, das sucht nun dich; wem zuvor du nachjagtest, das jagt nun dir nach …“). Eine vorgängige Selbstaufgabe meint demnach nicht etwa Selbstauslöschung, sondern für beide Denker eine gesteigerte personale Präsenz, in der die eigene Offenheit Menschen und Dinge an sich zieht und neue Beziehungen hervorbringt.52 Das Glück der Selbstlosigkeit ist die Selbsterweiterung. Eckharts Werk und die Texte des Daoismus stehen beide in der Tradition der philosophischen Denksysteme ihrer Zeit und treten doch auch an, diese zu relativieren, Eckhart in Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Theologie, die daoistischen Schriften in Auseinandersetzung mit dem Konfuzianismus. Anstelle von dualen Wertwelten entfalten sie eine, man möchte sagen, wahrnehmungszentrierte Weltsicht. Sie lenken die Aufmerksamkeit des Lesers von einer Welt, wie sie sein sollte, zurück auf eine vorfindliche Welt, wie sie bereits da ist, in uns und um uns. Sie führen aus der Geschäftigkeit zurück in ein Nichts, in dem alle Fülle des Seins geborgen ist. In diesem Sinne lernen wir, um noch einmal das eindrückliche Bild vom Herrn des Nordmeeres aufzunehmen, offenen Blicks über die Weiten großer östlicher und westlicher Meere hinzuschauen.

Bilder einer ‚anfangenden‘ Seele

7.5 Bilder einer ‚anfangenden‘ Seele Innere Entwicklung in der ‚Vita‘ Heinrich Seuses im Spiegel seiner Visionen

Seuse, dies mag den Leser zunächst befremden, spricht in seiner ‚Vita‘1 von sich selbst in der dritten Person. Er stellt sich hinter die Figur des ‚Dieners der ewigen Weisheit‘, denn ein solcher, so lässt er uns in der Vorrede wissen, wäre er gerne gewesen, und so wäre er auch gerne genannt worden (7). Die Geschichte dieses Dieners nimmt ihren Anfang gemäß einem hagiographischen Muster mit einer geistlichen Umkehr. Gott neigt sich ihm und seinem jugendlich-unsteten Geist zu, um ihm fortan eine neue Mitte zu geben.2 Auf sozialer Ebene hat dies zur Folge, dass ihm ein oberflächliches Beisammensein mit anderen, auch im Kontext einer klösterlichen Existenz, fortan verleidet ist. Ein solches verträgt sich nicht mehr mit der inneren Stimme, die er vernimmt. Gibt Seuses Protagonist aber doch einmal dem Bedürfnis nach mitmenschlicher Nähe nach, zieht er sich alsbald enttäuscht wieder zurück, und am Ende des ersten Kapitels heißt es: Ein ding waz im do ein pinliches liden, daz er nieman hate, dem er sin liden klagti, der daz selb sůchti in der selben wise, als im geruefet waz (10,4–7) („Eines aber ging ihm besonders nahe, dass er niemanden habe, dem er sein Leid klagen könne, der in gleicher Weise dasselbe suche, so wie er gerufen worden war“, 40). In einem Akt der Bewusstwerdung kommt Seuses Alter Ego damit zu der grundstürzenden Einsicht, anders zu sein als die anderen, über eine Innenwelt zu verfügen, die er nicht mit anderen teilen kann. Durch die Ansprache Gottes aus der Gruppe herausgehoben, wird er sich zwar selbst in neuer Weise wiedergegeben, findet sich aber auch in einer bis dahin unbekannten sozialen Entborgenheit wieder. Die folgenden Betrachtungen lassen sich von dem Gedanken leiten, dass der geistliche Entwicklungsweg, den Seuse seine Figur des Dieners abschreiten lässt, im Zusammenhang eines allgemeinen Reifeprozesses zu sehen ist, fällt doch der Zeitpunkt des geistlichen Aufbruchs des Dieners, seiner abkêr von der äußeren Welt und seiner Hinwendung zu Gott, mit achtzehn Jahren in den bedeutsamen Lebensabschnitt der Adoleszenz (8,4/5).3 Diese Entwicklungsphase bringt über die Zeiten und Kulturen hinweg ihre eigenen dramatischen Brüche, Leiden und Konflikte mit sich,4 und Seuses Protagonist teilt nicht zuletzt eine existentielle Erfahrung von Heranwachsenden, die sich aus hergebrachten Bindungen lösen und einer neuen Einsamkeit ausgesetzt sehen. In der ‚Vita‘ offenbart sich die Innenwelt des Protagonisten in einer Überfülle an Imaginationen und Visionen, in denen vor allem Maria und Jesus eine

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Schlüsselrolle einnehmen. Diese Bilder, in denen der Protagonist gleichsam eine himmlische Familie um sich versammelt und in denen die vielschichtige Innenwelt einer aufbrechenden, sich entwickelnden Existenz sichtbar wird, sollen hier auf ihre Symbolik hin befragt werden. Schaut man genauer hin, lassen sich in der ‚Vita‘ vor allem zwei große, signifikante Symbolwelten unterscheiden: zum einen die von Mutter und Kind5und zum anderen die des Kreuzes. Erstere eröffnet dem einsamen Diener in den mannigfachen Bildern liebender Einheit eine Welt der Fülle und des Trostes. Bilder des Kreuzweges wiederum werden mit den asketischen Übungen verknüpft und legen Zeugnis von einer Sphäre des Mangels und des Leidens ab. Beide Symbolwelten sind, wie zu zeigen sein wird, in einem dialektischen Spannungsverhältnis aufeinander bezogen.6 Seuses ‚Vita‘ gliedert sich in zwei große Teile, wobei der erste Teil in der Forschung gemeinhin noch einmal zweigeteilt wahrgenommen wird. Der Phase des ,Knappen‘ folgt die des geistlichen ,Ritters‘ (55),7 in welcher der Diener seine bisherige asketische Praxis als ich-verhaftet erkennt und sich die Perspektive fortan auf eine neue Gelassenheit im Sinne des Lassens seiner selbst hin öffnet. Der zweite Teil der ‚Vita‘ doppelt diesen geistlichen Entwicklungsweg dann noch einmal für seine ‚geistliche Tochter‘, Elsbeth Stagel, mit welcher der Diener von nun an in eine seelsorgerische Beziehung gestellt wird.8 Hier soll das besondere Augenmerk auf den Kapiteln über den ‚anfangenden‘ Menschen (3,3) bis zur Wende in der Mitte des ersten Teils (Kap. 19/20) und der in diesem Rahmen entfalteten Bilderwelt liegen. Eine erste Einheit bilden die anfänglichen zehn Kapitel, die noch ganz unter dem Zeichen einer liebenden Mutter-Kind-Einheit stehen und diese in mannigfachen Szenarien einer Begegnung des Dieners mit der Gottesmutter und ihrem Kind beschwören. Es folgt darauf die Wende, die von solcherart behütenden Einheitsszenarien wegführt und eine neue Fokussierung auf auszuhaltende körperliche Leiden mit sich bringt. Ihre Aufgipfelung finden diese Leiden in den blutigen Selbstkasteiungspraktiken der Kapitel 15 bis 18, dem wohl eigentlichen Skandalon von Seuses ‚Vita‘. An diese wird unter anderem das Erklärungsmodell einer Opfertheorie herangetragen. Der Schluss bietet einen Ausblick auf den ‚gelassenen‘ Menschen, wie er das Leitbild der folgenden Phase des geistlichen Entwicklungswegs des Dieners darstellt. Damit richtet sich die Fragestellung weniger auf eine didaktisch-lehrhafte Aussage des Textes,9 sondern auf den Text als Zeugen einer seelischen Bewegung, die ihren Weg im Wechselspiel zwischen weiblich und männlich betonten Symbolwelten nimmt. Im Rahmen der vielfältigen Imaginationen werden dabei Vorstellungen, die der Diener bewusst in sich selbst wachruft, und solche Visionen und Auditionen, die von außen an ihn herantreten, gleich behandelt.10

Bilder einer ‚anfangenden‘ Seele

Die Imaginationen des Dieners werden wiederum in ihrer bildhaften Einheit mit dessen Selbstinszenierungen auf einer realen Textebene wahrgenommen. Bilder der guten Mutter Gleich zu Beginn wartet der Text im vierten Kapitel mit einer provozierenden Szene auf: Wir erfahren, wie der Diener sich eigenhändig den Namen Jesu ‚auftätowierte‘. Unmeziges fúre (15,27) der Liebe in seiner Seele habe ihn dazu veranlasst, mittels eines Griffels11 das Christusmonogramm IHS („Jesus Hominum Salvator“) genau über seinem Herzen einzuritzen.12 Er bat Jesus daraufhin, blutüberströmt unter dem Kruzifix kniend, er möchte ihm dieses Zeichen auch innerlich in sein Herz eingravieren und somit ihrer beider ewige Verbundenheit besiegeln. Nur einem einzigen Vertrauten zeigte der Diener es, und später fand er im Anblick dieses Zeichens Trost bei ihm begegnenden Widrigkeiten. In der Zeit einer Umformung seiner Identität, der Lösung aus alten Beziehungen und des Eingehens neuer mutet dieser Akt wie ein archaischer Initiationsritus an, wenngleich er nicht im Schoß einer Gruppe, sondern in subjektzentrierter Einsamkeit vollzogen wird. Dem Mal auf dem Körper kommt dabei eine doppelte Funktion zu: Es setzt eine Differenz, und es dokumentiert eine neue ideelle Zugehörigkeit.13 Der Diener gehört, nachdem er mit diesem Mal gezeichnet und ausgezeichnet wurde, nicht mehr zu den anderen, sondern zu Gott. Und wenn der Diener im Anblick seines eigenen und des imaginierten Blutes Jesu entrückt wird,14 mag man dies als eine Art spiritueller Blutsbrüderschaft ansehen. Immer wieder gibt das fließende warme Blut seines eigenen Körpers im Verein mit den imaginierten Wunden Christi dem Diener Anlass zu einer ersehnten Einheitsvorstellung. Wo sich in seiner Imagination eigenes und fremdes Blut vermischen, vermischen sich auch die Seelen und die Identitäten. Das fließende Blut scheint für den spätmittelalterlichen Mystiker ein ähnliches Faszinosum der Entgrenzung bereitzuhalten, wie für den hochmittelalterlichen Epiker in der Darstellung des Krieges. An der entstandenen seelischen Leerstelle nach vollzogener Trennung von den ‚anderen‘ empfängt der Diener nun visionären himmlischen Trost in Form von Lichtvisionen (Kap. 2) und der beseligenden Nähe der Gottesmutter und ihres Sohnes. Tröstende weibliche Präsenz findet sich vor allem in den ersten Kapiteln. Hier hat die ewige Weisheit für den Diener zunächst die Gestalt einer Liebsten, die seine jugendlichen Sinne betört (11,27 f.), dann nimmt sie die Gestalt einer liebenden Mutter an (15,4 f.), der er wie ein sugendez kindli (15,10) auf dem Schoße steht. Bei einer Morgenmeditation erlebt der Diener die ewige Weisheit als Morgenstern, als Lichtbringerin und Himmelskönigin (Kap. 5), und er hört eine Stimme sagen: ,so du mich ie minneklicher umbvahest und ie unmaterilicher kússest, so du in miner ewigen klarheit ie minneklicher und

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ie lieplicher wirst umbvangen‘ (18,5–7) („Je liebevoller du mich umfassest und je geistiger du mich küssest, umso liebevoller und gütlicher wirst du in meiner ewigen Klarheit umfangen werden“, 48). Später zeigt ihm ein Engel die verborgene Wohnung Gottes in seiner Seele (20,10–23), und er erblickt in seinem Leibesinnern die ewige Weisheit als ruhende Gestalt, wie diese die Seele des Dieners auf ihrem Schoße liebevoll umarmt. Die in der Wolfenbütteler Handschrift beigefügte Abbildung (W fol 13v) zeigt hier für die ewige Weisheit eine männliche Figur15 mit Bart und die Seele als unbekleidetes Kind (19).16 Zwar verläuft die Identifikationslinie in diesen Vorstellungen primär zwischen dem Diener und dem Kind, die Abbildung, welche die ewige Weisheit als dem Diener ähnliche Person im Hohlraum seines Körpers darstellt, das Kind auf dem Schoß, macht aber auch sinnfällig, dass er mit der verlangenden Suche seiner kindlichen Seele zugleich eine behütende und nährende Instanz in sich aufrichtet. Es ist eine Aura zärtlicher Nähe, in die sich der Diener im Medium seiner Imaginationen wie in einen Kokon einhüllt – in der er sich selbst Mutter und Kind ist. Seuses beziehungsweise des Dieners rigide Bußpraktiken scheinen in diesen Passagen zärtlicher Nähe und Geborgenheit nur gelegentlich auf, etwa als Erwähnung eines neuen Bußgürtels (20,24), dessen Schmerzen jedoch durch himmlische Visionen vergessen gemacht werden. In höchst eigentümlicher Weise stellt uns das siebte Kapitel „In weler ordnung er ze tisch gie“ den Diener in geistlicher Gesellschaft bei Tisch vor. Er bittet zunächst die ewige Weisheit in Gestalt Jesu als Gast zu sich, wobei hier wie andernorts der Gedanke der Reziprozität eingebracht wird: Der Diener meldet den Anspruch an, den einladen zu dürfen, der auch ihn schon gespeist habe. Er hebt seinem Gast die Schüsseln entgegen, dass er sie segne, und hebt ihm seinen Becher entgegen, bevor er selbst trinkt. Dann nimmt er fünf Schlucke im Gedenken an die Wunden seines Herrn. Eine strenge Ritualisierung dient hier offenbar einer Verzögerung und Einübung von Triebkontrolle. Ein Exemplum für den Ausgleich zwischen Triebzähmung und Triebgewährung gibt die anrührende Episode um das heikle Verlangen des Dieners nach Obst (25). Der Diener hat zunächst ein Gesicht, in dem er einen Apfel angeboten bekommt. Anders als der biblische Adam aber lehnt unser Diener das Angebot ab, weil all sein Verlangen nach der Ewigen Weisheit gehe. Das starke Verlangen nach Obst stellt sich gleichwohl noch ein, er schämt sich dessen und isst zur Buße zwei Jahre lang überhaupt keine Früchte mehr, bleibt aber mehr denn je Sklave seines Begehrens. Schließlich kommt er mit sich überein, mit der ihm zustehenden Portion zufrieden sein zu wollen, und will es als eine Einwilligung Gottes annehmen, wenn dieser dem Konvent, nach einer Phase des Mangels, wieder Obst schicke. Der Zufall will es, dass sich gleich am nächsten Morgen für den Konvent die Möglichkeit ergibt, eine große Menge Äpfel zu

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erwerben. Der Diener, der sein übermäßiges Verlangen nun gezähmt und den Regeln der Gemeinschaft untergeordnet hat, beginnt, in Dankbarkeit wieder Früchte zu essen. Einen Apfel teilt der Diener nunmehr zum Verzehr in vier Teile, wie wir hören. Drei Teile isst er im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit, daz vierde teil in der minne, als dú himelsch můter irem zarten kindlin Jesus ein epfelli gab ze essen (25,20/21) („das vierte mit der Liebe, mit welcher die himmlische Mutter dem zarten Kinde Jesus ein Äpflein zu essen gab“, 54). Wenn der Diener den vierten Teil seines Apfels schließlich so isst, wie Maria ihn ihrem Sohn dargereicht hätte, bricht er gleichsam das triebhafte Begehren, das auf unmittelbare Befriedigung drängt, in einem Gestus des Innehaltens. Das strenge Askeseschema des totalen Triebverzichts ist in diesen Szenarien ersetzt durch das Schema liebevollen Gebens und Nehmens. Dabei sieht sich der Diener zugleich als Mutter und als Kind, vermag also ein triebhaftes Verlangen aufzuschließen in eine Sphäre des Begehrens und der Erfüllung. Auf diese Weise aber wird dem Begehren im Bild der liebenden Zuneigung von Mutter und Kind gleichsam die Spitze genommen, weil die personale Bindung den Trieb dominiert und so einen Raum der Geborgenheit entstehen lässt. Triebkontrolle und Triebbefriedigung gehen hier in einer idealisierten Mutter-Kind-Beziehung eine paradigmatische Lösung ein.17 Zu Weihnachten und darüber hinaus verzichtet der Diener nun gänzlich auf den vierten Teil des Apfels und bietet ihn stattdessen der Gottesmutter an, auf dass sie ihn ihrem Sohn geben möge. Hier zeichnet sich wieder eine gewisse Tendenz zur totalen Entsagung und der damit verbundenen Polarisierung von Begehren und Entbehren an. Und wenn der Diener gelegentlich doch zu schnell gegessen und getrunken oder eine seiner Ordnungen nicht eingehalten hat, schämt er sich vor seinen himmlischen Tischgenossen und bestraft sich mit einer Buße. Des Dieners imaginäre geistliche Gefährten als Projektionen seiner Innenwelt changieren zwischen liebevoll fördernden und streng kontrollierenden Instanzen.18 Mal weiß er sich aufgehoben in einer Sphäre der Fülle und Gewährung, dann scheint sich wieder eine Entsagung fordernde Stimme zu melden, die eine Spannung von Mangel und Begehren aus sich hervortreibt. Seuse rollt den Konflikt einer jugendlichen Seele auf, deren innere Kontroll­ instanzen noch experimentell fließend sind, in der gewährende und versagende Stimmen noch heftig miteinander konkurrieren. Eine auf Umwegen eingespielte Stimme der Wertschätzung oder des Wohlwollens als Vision eines Fremden findet sich immer wieder in der ‚Vita‘ im Anschluss an Kontexte des Leidens oder der Demütigung.19 So endet das siebte Kapitel mit der Erzählung über einen Fremden, der davon berichtet, folgende Worte in einem gesiht vernommen zu haben: „wellest du ein ordenliches tischsizen haben, so gang zů minem diener, und haiss dir alle sin wise sagen“ (25,32/33) („Willst

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du lernen, wie man sich bei Tische gut verhält, so geh zu meinem Diener und lass dir all seine Art mitteilen“, 55). Man mag in diesen Worten unschwer die Wunschprojektion desjenigen erkennen, der nach Belohnung für seine Versagungen Ausschau hält. Das achte Kapitel knüpft an die Sitte an, dass junge Männer in der Neujahrsnacht von ihren Mädchen einen Kranz erbitten, und schildert, wie der Diener seinerseits die Gottesmutter bittet, sie möge ihm behilflich sein, einen Kranz von ihrem Kind, das hier mit der ewigen Weisheit gleichgesetzt wird, zu erhalten. Diese Bitte, vor einem Marienbild vorgetragen, wird begleitet von innerem Singen und heißen Tränen der Rührung. Später wird dann Maria selbst als ewige Weisheit angesprochen. Zwischen Mutter und Kind sind die Grenzen also fließend, und in seiner Verehrung stellt sich der Diener gleichsam in diese symbiotische Einheit hinein. Ähnliches vollzieht sich im zehnten Kapitel, wenn er die Gottesmutter bittet, ihm das Kindlein zu reichen, damit er es küssen könne. Er betrachtet das Kind, breitet seine Arme in dú endlosen teil der witen welt (30,6/7) („die endlose Weite der Welt“, 59) aus, nimmt das Kind und herzt es und gibt es dann seiner Mutter wieder zurück. Immer wieder beschwört Seuse in diesen Imaginationen eine Urgemeinschaft von Mutter und Kind, die wie ein spätes Wiedereintauchen in eine uranfängliche Seligkeit wirkt – als hätte ihn die einschneidende Erfahrung seiner kêr dazu veranlasst, neuerlich zu den Quellen eines glückseligen Lebensgefühls vor aller Trennung zurückzugehen, um dieses gleichzeitig zum Modell eines geistlichen Neuanfangs zu nehmen. In diesem Stadium des anvahenden menschen sind die Figuren der Gottesmutter, des Jesuskindes und des Dieners noch in einer engen identifikatorischen Einheit miteinander verbunden. Der Diener spiegelt sich sowohl in dem Kind wie in der Mutter, und Mutter und Kind bilden ihrerseits eine Einheit mit unscharfen Grenzen. In allseitigen Umarmungen taucht der Diener ein in eine Aura von Fülle und Geborgenheit, welche wiederum die Basis legt für Imaginationen beseligender personaler Entgrenzung, in denen er sich mit allen Geschöpfen verbunden erlebt (27,30/31). Der Kosmos, den Seuse in diesen Bildern entwirft, ist noch ein gleichsam vorbewusst geschlossener, fungiert aber als Grundlegung einer basalen Gehaltenheit im Sinne eines gesunden Narzissmus.20 Aus einer Sphäre uranfänglicher Einheit empfängt der Diener in allen später auftauchenden Konflikten korrigierenden und kompensatorischen Trost. Maria repräsentiert für ihn die ‚gute Mutter‘, von der seine lebenszugewandte Seite die ‚Milch‘ empfängt.

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Bilder des Leidens Die mütterliche, trostspendende Gegenwart Mariens beziehungsweise der Ewigen Weisheit gibt in den Anfangskapiteln noch den vorherrschenden Ton an. Eine deutliche Wende thematisiert hier das dreizehnte Kapitel. Gott habe den Diener lange genug mit himmlischem Trost verwöhnt, jetzt sei es an der Zeit, dass er sich auch der Marter des menschgewordenen Herrn unterziehe: „Du můst den durpruch nemen dur min gelitnen menscheit, solt du warlich komen zů miner blossen gotheit“ (34,11/12) („Du musst durch meine leidende Menschheit hindurch, sollst du wirklich zu meiner lauteren Gottheit gelangen“, 63). Damit ändert sich auch die Symbolwelt, in der sich der Diener bewegt. Der Diener, so wird erzählt, ging zu Fastnachten, während einer Zeit, da er sich schwerster Fastenübungen unterzog, in eine geheizte Stube des Klosters, denn ihn fror und hungerte sehr (Kap. 11). Noch mehr quälte ihn der Durst. Als er jedoch mitansehen musste, wie man dort unbeschwert Fleisch und guten Wein genoss, verließ er den Raum wieder, von Mitleid zu sich selbst erfasst. Im Anschluss hatte er eine Vision, bei der er draußen den ungemein lieblichen Gesang eines Knaben hörte, der ihn all seine Not vergessen ließ. Als er nachfragte, zeigte sich ihm ein Jüngling, der ihm erklärte, dieser Gesang gelte nur ihm. Dann reichte der singende Knabe dem Jüngling durch das Fenster einen Korb mit reifen roten Früchten wie Erdbeeren, den der Jüngling an den Diener weitergab. Begirlich (32,3) nahm der Diener das Körbchen an sich. Der Jüngling erklärte ihm, dass er damit in besonderer Weise ausgezeichnet und beschenkt worden sei: „du můst liden und můst och fúrbaz me liden denn vil ander menschen“ (32,15/16) („Du musst leiden und mehr leiden als viele andere Menschen“, 61). Als sich der Diener an das Fenster stellte, segnete ihn der Knabe. Damit endete die Erscheinung. Ein deutlicher Wandel zeichnet sich hier ab. Den Rahmen geben nicht mehr spendende mütterliche Fülle und eine himmlische Geselligkeit bei Tisch vor, sondern extremes Fasten, Dürsten und Frieren. Wie schon zu Anfang erfährt sich dabei der Diener im Kontakt mit seinen Mitbrüdern als ‚anders‘. Wo diese einem geselligen Wohlleben frönen, verlangt er sich harte asketische Übungen ab, wo diese gemeinsam essen und trinken, übt er sich in Enthaltung. Das Thema der Triebbeherrschung, das in den Tischritualen und dem Vierteilen des Apfels präludiert wurde, spielt sich nun nicht mehr im imaginativen Schonraum einer Mutter-Kind-Beziehung ab, sondern als männlicher Kampf gegen die eigene Natur: Der Diener fordert sich im Versagen von Essen und Trinken das Äußerste ab. Statt süßer Früchte, die er zwischen sich selbst, der Gottesmutter und dem Kind kreisen ließ, nimmt der Diener nunmehr die imaginären roten Früchte des Leidens an. Dieses Leiden, das ihn als ein Geschenk unter seinen Mitmenschen auszeichnen, ihn gleichsam individuieren soll, steht unter der Schutzgeste

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eines ihn segnenden Jesusknaben. In Jesus als seinem geistlichen Spiegel aber erblickt der Diener sich nunmehr allein, ohne Mutter. Er ist jetzt aus einem schützenden mütterlichen Raum herausgetreten, um sich der Welt zu stellen. Und damit beginnt Seuses beziehungsweise des Dieners eigentlicher Kreuzweg. Im zwölften Kapitel vergleicht er einen Maibaum mit dem Kreuz Christi. Im dreizehnten Kapitel, wo er sich dezidiert zur Nachfolge des leidenden Herrn aufgerufen sieht, stellt er sich als Zeugen des Kreuzwegs Christi vor und schreitet mit diesem den Kreuzgang des Klosters ab.21 Er fällt vor seinem Heiland auf die Knie, küsst die Erde zu seinen Füßen und bittet diesen, ihn, seinen Diener, mit in den Tod zu nehmen. Schließlich kniet er unter dem Kruzifix auf der Kanzel nieder in Betrachtung seines Herrn, wie er entkleidet und ans Kreuz genagelt wird, und greift zur Geißel, um sich so selbst mit Christus ans Kreuz zu nageln, darum bittend, niemals von ihm geschieden zu werden (36,12–19). Wie bereits zu Beginn, wo er sich die Buchstaben Jesu in die Haut ritzte, ist seine Beziehung auch hier eine affektiv-identifikatorische, sich nach Verschmelzung sehnende. Eine wichtige Rolle kommt in diesem vorgestellten Szenarium der Gottesmutter zu, an deren Leiden der Diener lebhaften Anteil nimmt. Denn in dem grundlosen herzeleid der zarten můter (35,31) wird erst eigentlich die ganze Dramatik des Kreuzestods Christi offenbar. Und in Entsprechung zu dem teilnehmenden Schmerz Mariens nähert sich ihr auch der Diener in teilnehmender Art und Weise. Er stellt sich vor, wie sie am Grab ihres Sohnes sitzt und wie er sie wieder heim zu ihrer Mutter Anna führt, ja, wie er tröstend und ermahnend zu ihr spricht, dass sie von nun an ein kúngin der wirdekeit, unser zůversiht und únsrú suessekeit, als an dem gesang stet (37,1/2) („die Königin aller Würde, unsere Zuversicht, unsere liebliche Frau sei, wie es im Gesange heißt“, 66) sei. Am Schluss bittet er sie, seine Seele in der Stunde des Todes durch das himmlische Tor in die ewige Seligkeit zu geleiten. Hier kommt die tragende Rolle des Mütterlichen zum Ausdruck. Da, wo Maria mit dem Tod ihres Sohnes in ihrer mütterlichen Identität zutiefst verletzt ist, bringt der Diener sie wiederum heim zu ihrer eigenen Mutter. Eine symbolische ‚Magna Mater‘ bildet den letzten Zufluchtsort vor allem Unheil. Die Betonung des Mütterlichen findet sich ebenso wieder in den Erinnerungen an die eigenen Eltern. Der Vater als ein weltzugewandter Mensch wird durch die Gebete Seuses beziehungsweise des Dieners aus dem Fegefeuer erlöst, während die Mutter als eine fromme Frau sofort nach ihrem Tod in die ewige Seligkeit eingeht (23/24). Von ihrem Tod berichtet der Diener an anderer Stelle, dass sie, als sie einst zu Beginn der Fastenzeit im Münster das geschnitzte Altarbild der Kreuzabnahme Christi betrachtete, in mitfühlendem Schmerz mit dem Schmerz der zarten Mutter ohnmächtig zusammengebrochen sei. Zu Hause habe sie noch krank bis zum Karfreitag gelegen und sei dann gestorben, als man die Passion verlesen habe (Kap. 42).

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Seuse ruft eine christliche Ikonographie, in der sich die Geschichte Jesu in den Bildern der Gottesmutter mit dem Kind und dem Tod Jesu mit der schmerzensreichen Maria unter dem Kreuz verdichtet und damit in eigentümlicher Weise ein komplementäres Weibliches betont, auf, um sich sympathetisch darin zu versenken. Die Beziehung von Mutter und Sohn stellt den Fokus seiner affektiven ‚compassio‘ dar. Ein Blick auf die Urgeschichte der Religionen lehrt uns nun, dass der exklusiven Mutter-Kind-Beziehung in der Tat eine Schlüsselposition für die Entwicklung eines Transzendenzbewusstseins zugesprochen wird: Erst die ganz besondere Beziehung von Mutter und Kind, die sich in einer bedrohlichen Umwelt ausgebildet und verfestigt habe, war es demnach, die den Tod als einschneidendes soziales Ereignis dem Menschen ins Bewusstsein habe dringen lassen.22 „Es ist nicht nur ‚irgendein‘ Lebewesen derselben Art und derselben Horde, das stirbt, sondern die Mutter beziehungsweise das Kind als immer noch bleibender Teil der eigenen Existenz.“23 Erst aus der Bindung erwächst der Schmerz, und Bewusstsein konstituiert sich von daher primär als Bewusstsein vom Tod. Mit der Erkenntnis von der Endlichkeit des Lebens geht aber auch zugleich die Sehnsucht einher, den Tod überschreiten zu wollen. Aus der Perspektive des Kindes ist so die Mutter das erste Gottessymbol, sind die ersten Gottheiten Muttergottheiten und steht die Mutter in der Zuschreibung des Kindes für einen Lebensquell, der sich nicht erschöpft. Aus der realen mütterlichen Funktion des Nährens und Behütens erwächst die symbolische Zuschreibung einer Magna Mater, die Leben und Tod umfasst, wenngleich die irdische Mutter sterblich ist. Diese grundlegende Dimension unseres religiösen Bewusstsein spiegelt sich, wenn wir so wollen, in den affektiv hochbesetzten Imaginationen Seuses wider, in deren Mittelpunkt die exemplarische Beziehung von Maria und ihrem Sohn als eine idealisierte Mutter-Kind-Beziehung steht. In diesem Beziehungsgefüge stehen Mutter, Kind und der Diener gleichsam in einem großen schutzgebenden Lebenszusammenhang, der den materiellen Tod überschreitet, und an dessen Schwelle Maria steht, um den Diener dereinst hinüberzugeleiten. Maria ist die primäre Garantin des ‚ewigen Lebens‘, weil in ihr der Schmerz über den Tod der tiefste ist. Ihr Schmerz schließt das Tor zur Ewigkeit auf, in der sich alles Leben wieder erneuert. Blut und Sühne Im Kontrast zu dieser matriarchalen, lebenspendenden Welt steht eine mutterlose Welt asketischer Selbstzüchtigung. Sollte nun die Selbstgeißelung auf der Kanzel noch einer Anverwandlung an die blutigen Martyrien Christi dienen, heißt es zu Beginn der viel beachteten Kapiteln 15 bis 18, in denen auf engem Raum eine langjährige rigide Bußpraxis zusammengefasst wird:24 Er hate gar ein

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leblich natur in siner jugende. Do dú begonde ir selbes bevinden und er markte, daz er mit im selben úberladen was, daz was im biter und swere. Er sůchte mengen list und gross bůssen, wie er den lip macheti undertenig dem geiste (39,3–6) („In seiner Jugend hatte er eine frische Art. Als er ihrer bewusst wurde und merkte, dass sie ihn selbst bedrängte, empfand er das als bitter und beschwerlich. Er suchte nach mancherlei Kunstgriffen und viel Bußübung, um seinen Leib dem Geist zu unterwerfen“, 68). Die im Folgenden dargelegten blutigen Selbstkasteiungen stehen also fürs Erste nicht unter dem Vorzeichen einer ‚Imitatio Christi‘, sondern reihen sich ein in eine asketische Praxis der Triebzähmung. Diese geht für den Diener mit der Selbstwahrnehmung einher, von der eigenen lebhaften jugendlichen Natur allzu sehr bedrängt zu werden, womit wiederum ein spezifisch adoleszentes Problemfeld angesprochen wird. Denn der Heranwachsende sieht sich neu erwachten Trieben ausgesetzt, die erst noch in die Persönlichkeit zu integrieren sind. Hier geht es aber vorerst nicht um Integration, sondern um Kampf und Unterwerfung, um den Anspruch des Geistes, sich den Körper zu unterwerfen. In komprimierter Form werden diverse Praktiken der Selbstkasteiung vorgestellt, für die jeweils unterschiedliche Zeiträume von acht bis zu fünfundzwanzig Jahren geltend gemacht werden. Zunächst ist von einem härenen Bußkleid für den Unterkörper die Rede, in welches Riemen mit 150 spitz zugefeilten Nägeln eingearbeitet gewesen seien, alle gegen den Körper gewendet, welches nun der Diener möglichst eng zuzog, um sich darin für die Nacht niederzulegen (Kap. 15). Die Qual, die er so zu erleiden hatte, wenn ihm obendrein das Ungeziefer zusetzte – es kam ihm vor, als läge er in einem Ameisenhaufen – ließ ihn weinen und sich fühlen wie ein Wurm, der mit spitzen Nadeln gestochen wird. Gleichwohl habe der Diener, wie schlimm es auch gekommen sei, nie von dieser Praxis abgelassen, vielmehr sich zur Verschärfung noch zusätzliche Maßnahmen ausgedacht, etwa eine kunstsinnige Haltevorrichtung für Hände und Arme, die seine Gliedmaßen derart unter Spannung gesetzt hätten, dass sie zitterten, oder dornenbesetzte Handschuhe, mit denen er sich, wenn er sich im Schlaf habe kratzen wollen, die Haut aufgerissen habe, bis er aussah, als hätte ihn ein Bär mit seinen Klauen zerkratzt. Im sechzehnten Kapitel geht es in diesem Duktus weiter, nunmehr unter dem Vorzeichen, etwaz zeichens an sinem libe ze tragene eines enpfintlichen mitlidens dez pinlichen lidens sines gekrúzgeten herren (41,3–5) („ein Zeichen mitfühlenden Mitleidens des grausamen Erduldens seines gekreuzigten Herrn an seinem Leib zu tragen“, 70). Der Diener stellt sich ein Holzkreuz von der Größe einer Hand her, in das hinein er dreißig eiserne Nägel schlägt, um es zwischen den Schultern Tag und Nacht auf der bloßen Haut zu tragen. In besonderer Weise verfeinert er diese Foltervorrichtung im letzten Jahr noch mit Nadeln. Wir

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hören, dass sich seine menschlichú nature (41,18) allerdings erschrocken habe, als er sich dieses Kreuz auf den Rücken gespannt und er darob die Nadelspitzen an einem Stein wieder umgebogen habe. Jedoch reute ihn seine unmanlich zagheit (B 41,20) bald, und er feilte die Nägel wieder spitz. Es war ihm, als läge eine igelhut (41,24) auf ihm. Zweimal täglich schlägt er sich während dieser Zeit mit der Faust so fest auf das Kreuz, dass er sich die Nagelspitzen anschließend aus dem Fleisch ziehen muss. Beim ersten Mal bittet er Christus am Kreuz, er möge mit seinen Wunden die seines Dieners heilen, und beim zweiten Mal nagelt er sich zu Christus ans Kreuz, um sich niemals mehr von ihm zu trennen. Ein drittes Mal nimmt er diese Praxis als Buße im Falle besonderer Nachlässigkeiten oder Verfehlungen auf sich. So habe er einst unbedachter Weise die Hände zweier junger Mädchen in die seinen genommen. Für diese ungeordnete lust (42,11) schlägt er sich auf das Kreuz, bis ihm die Nägel im Fleisch stecken bleiben. Später fällt er vor einem Bild seines göttlichen Richters (42,20) nieder und erlegt sich eine weitere disciplin (42,21) auf. Dann schreitet er im Kapitelsaal von Heiligenbild zu Heiligenbild und schlägt sich dreißigmal auf das Kreuz, bis ihm das Blut den Rücken herunterläuft. Und also erarnet er den lust vil bitterlich, den er hat gehabt unordenlich (42,23/24) („So entgalt er gar bitter die von ihm begangene Ungehörigkeit“, 72). Am St.-Clemens-Tag, nachdem er eine Lebensbeichte abgelegt hat, züchtigt er sich mit einer speziellen Geißel, bis ihm wiederum das Blut an Armen und Beinen hinunterrinnt und die Geißel in ihre Einzelteile zerbricht. Sein eigener beklagenswerter Zustand erinnert ihn an die Leiden des Heilands und erfüllt ihn gleichzeitig mit tiefem Mitleid zu sich selbst. Er weint und bittet Gott um Tilgung seiner Sünden vor sinen milten ogen (43,28). Bei anderer Gelegenheit wäscht sich der Diener seine Wunden mit Essig und Salz, um seine Schmerzen zu steigern. Am St.-Benedikts-Tag wiederum geißelt er sich so stark, dass eine Hauptader getroffen wird und das Blut in beängstigendem Maße aus ihm herausrinnt. Das Kapitel endet mit dem Bericht über die Vision einer Frau namens Anna, die den Diener in eben dieser Verfassung sieht, in ihrer Vision daraufhin zu ihm tritt und ihn von weiteren Schlägen abhält. Dabei trifft ein Schlag ihren eigenen Arm, und als sie wieder zu sich kommt, hat sie an dieser Stelle dunkle Flecken. Si trůg dú kuntlichen wortzeichen mit grossem smerzen vil zites (44,22–23) („Sie trug dies offenbare Merkmal lange Zeit mit großem Schmerz“, 75). In Kapitel 18 werden die unsäglichen Leiden, die der Diener durch einen radikalen Verzicht des Trinkens auf sich nimmt, behandelt. Er bietet Gott sein Herzblut an, auf dass er damit den Durst seines Sohnes am Kreuze stille. An anderer Stelle klagt er: „owe got, du erkennest allein herzliden und herzennot: wie bin ich in dis welt so recht erbetselklich geborn, daz ich in aller genuegde so reht grossen

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gebresten můss liden!“ (48,17–19) („Ach Gott, du allein weißt um alles Herzeleid und alle Not; was bin ich doch in ein Leben voll ständiger Not geboren, dass ich bei allem Genüge so großen Mangel leiden muss“, 77). Später jedoch erscheint ihm wieder die Gottesmutter mit ihrem Kind und löscht zunächst seinen Durst mit dem klaren Wasser aus einem Krug und bietet ihm bei einer weiteren Vision den geistlichen Trank, der aus ihrem Herzen fließt, an. Der Diener nimmt dies als Belohnung für seine Pein dankbar an. Und wiederum wird von der Vision einer frommen Frau berichtet, der die Gottesmutter erschienen sei, um ihr von Johannes Chrysostomus zu erzählen, wie er einst, da er als Junge vor einem Altar mit dem Bild der Gottesmutter und ihrem trinkenden Sohn niedergekniet sei, anstelle des Sohnes ihre Milch habe trinken dürfen. Dies, wird der frommen Frau beschieden, sei auch dem Diener geschehen. Überdies lässt die Gottesmutter die Frau wissen, solle der Diener von nun an wieder Wein trinken dürfen. Damit kommen die extensiven Selbstkasteiungen zu einem Ende, das wesentlich in den Händen von Frauenfiguren liegt. Sie sind es, die den Diener ‚retten‘, die den Diener wieder mit seiner Kreatürlichkeit und seinen körperlichen Bedürfnissen aussöhnen. Die Stimme der Lebenserhaltung ist für den Diener eine weibliche Stimme. Am Anfang dieser Bußexzesse aber stand, daran sei erinnert, der signifikante Wechsel von einer mütterlich dominierten Welt des Trostes hin zu einer mutterlosen Welt körperlicher Entbehrungen. Dabei bringen die wiederholten Versicherungen, der Diener habe trotz aller Schmerzen nie in seinen Übungen nachgelassen, den Charakter von initiatorischen ‚Härtetests‘ zum Vorschein. Hat er sich aber doch einmal unmanlicher zagheit (41,20) schuldig gemacht, kompensiert er dies mit doppelter asketischer Anstrengung. Das Kompendium der Bußübungen mutet im Fortlauf der ‚Vita‘ nicht von ungefähr wie ein Initiationsritual an, das dem Zwecke dient, mittels harter Proben den Heranwachsenden aus einer umsorgenden Mutterwelt herauszulösen und in eine fordernde Vaterwelt zu überführen.25 In den rigiden Praktiken des Fastens, Schlagens und Schmerzenerleidens scheint noch, so will man meinen, eine primitive Stammesreligiosität durch. Und wenn der Diener seiner geistlichen Tochter im zweiten Teil ähnlich extreme Praktiken untersagt (107), mag dies auch so zu deuten sein, dass die besonders harten Übungen den Männern vorbehalten sind. Alle Übungen vollzieht der Diener unter den Augen einer göttlichen Instanz, und zwar einer sowohl gütigen als auch richtenden Instanz, die Sühne für begangene Sünden einfordert. Der Habitus einer mitleidenden ‚Imitatio Christi‘ mischt sich mit einem Unterwerfungsgestus gegenüber einem Richter-Gott, der Opfer verlangt. So bietet der Diener Gott, indem er bei Tische auf ein Getränk verzichtet, den kühlenden Saft seines Herzens an, auf dass er damit den Durst seines Sohnes, den dieser sterbend am Kreuze erlitten habe, lösche (48,1–3). Ein

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paar Zeilen weiter spricht der Diener Gott an: „owe, ewiges gůt, diner verborgen gerihten!“ (48,7) („O ewiges Gut, über deine verborgenen Gerichte!“, 76), oder aber es verbindet sich für den Diener im Anschluss an exzessive Bußübungen das Mitleid mit sich selbst mit dem für den gegeißelten Christus, und er bittet Gott um Vergebung seiner Sünden (43,13–28). Eine theologisch orientierte Deutung schreibt diesen rigiden asketischen Praktiken zwei primäre Intentionen zu – zum einen die Unterwerfung des Körpers und seiner Leidenschaften unter den Geist, zum anderen eine affektive ‚compassio‘, die auf den Nachvollzug der Wehrlosigkeit des gekreuzigten und gequälten Christus abziele: Der Schmerz diene dabei als affektives Stimulans.26 Die These einer angestrebten Vergeistigung stützt sich wesentlich auf das Beispiel der frühchristlichen Wüstenmönche, die Seuse selbst in seiner ‚Vita‘ mehrfach anführt, wenngleich die blutigen Facetten der vorgeführten Praktiken kaum auf diese zurückzuführen sein dürften.27 Die These einer ‚compassio‘ findet bereits eine Einschränkung im Text der ‚Vita‘ selbst. Dort ist es die Stimme der Ewigen Weisheit im zwanzigsten Kapitel, welche die ichgesteuerten Antriebe der Übungen im Sinne eines asketischen Leistungsbewusstseins als defizitär beschreibt (57,1–9). Es bleibt also die Frage nach den verstörenden Autoaggressionen in Seuses ‚Vita‘ weiterhin offen. Signifikant ist die Verkoppelung der Übungen mit den Aspekten von Sühne und Buße, und zwar sowohl der Verfehlungen des Dieners selbst, etwa als abzuleistende Buße für die unschuldige Berührung der Hand eines Mädchens (42,8 f.), als auch der Sühneleistung Christi für die Sünden der Menschen, für die der Diener wiederum seine eigene asketische Leistung als Ablösung anbietet (u. a. 48,1–3). Eine zirkulierende Sühneleistung zwischen Jesus und dem Diener ist auf einen teils gütig-vergebenden, teils richterlich-fordernden Vater-Gott bezogen. Zu denken gibt nun der Umstand, dass eine identifikatorische Bewegung des Dieners auf den leidenden Jesus hin in Praktiken mündet, welche in ihrer Gewaltsamkeit eher an die Täter gemahnen. Ein Kontext, demzufolge in der Passion Christi die Gewalt überwunden wurde, treibt hier paradoxerweise eine neue Gewalt als Gewalt gegen die eigene Person aus sich hervor. Die Religionsgeschichte bietet hierfür eine in die Vorgeschichte des Menschen zurückreichende Erklärung an.28 Paläoanthropologische Forschungen zeichnen das Bild einer frühen Bedrohung der Hominiden, noch bevor diese selbst zu Jägern wurden, durch Raubtiere. Weder mit entsprechenden Abwehrwerkzeugen ausgestattet noch als Zweibeiner zu einer schnellen Flucht befähigt, konnten sie, nachdem sie aus dem Urwald in die Savanne gezogen waren, schnell zur Beute von Raubkatzen werden. Eine wirksame Abwehrstrategie bestand allenfalls darin, sich zu einer Horde zusammenschließen, die das Raubtier als einen großen Gesamtkörper wahrnahm, den

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es nicht anzugreifen wagte. Wurde gegebenenfalls aber die Anspannung zu groß und stob die Horde bei einer Belagerung auseinander, blieben die Schwächsten zurück und wurden zum Opfer der Raubtiere – womit aber auch der Rest der Gruppe fürs Erste der Gefahr enthoben war. Der Schluss, dass archaische Opferrituale und Sündenbockmechanismen in solchen prähistorischen Erlebnissen ihren Ursprung haben, liegt nahe, wobei Baudler Schuldzuschreibungen auf den Sündenbock einer späteren Entwicklungsphase zuordnet, die aus dem Schwächeren einen Schuldigen habe werden lassen.29 Gleichzeitig aber diente das Raubtier dem Hominiden indirekt wohl auch als Nahrungslieferant, insofern der Hominide in den Überresten der fremden Beute für sich eine wichtige Eiweißquelle vorfand. Diese frühmenschliche Erfahrung mit einem mächtigen anderen Wesen, das nicht das eigene bedrohte Schicksal zu teilen schien, ließ das Raubtier, neben der Mutter, zu einem frühen Gottessymbol werden. Löwen, Panther, Bären und andere Raubtiere spielen in archaischen Religionen und Mythen eine bedeutsame Rolle. Um einen hungrigen Raubtiergott zu befrieden, brachte der frühe Mensch diesem blutige Opfer dar oder machte sich in initiatorischen Riten selbst zum Raubtier, damit in einem bedeutsamen evolutionären Schritt seinen Beutestatus hinter sich lassend.30 Eine Theorie von der Restexistenz einer archaisch-blutigen Opferreligion und damit verbundener Initiationsriten in Seuses ‚Vita‘ könnte für sich in Anspruch nehmen, dass der Diener in Seuses Bußkapiteln in der Beschreibung seines beklagenswerten Zustandes mehrfach Tiermetaphern, wie etwa die des Bären (40,22), benutzt. Nun beanspruchen freilich das Christentum ebenso wie die anderen großen Weltreligionen für sich, diesen Urgrund einer sakralisierten Gewalt überwunden zu haben. Insbesondere René Girard macht sich in der Gegenwart zu einem emphatischen Fürsprecher und Verteidiger der christlichen Botschaft der Gewaltlosigkeit.31 Im Rahmen seiner mimetischen Theorie, welche die kollektive Hinrichtung eines für schuldig befundenen Sündenbocks als primitivste Form der Herstellung von Ordnung auf der Grundlage von Gewalt ausmacht, schreibt er dem Leiden Christi und dessen Tradierung in den Evangelien die epochale Bedeutung zu, den Mechanismus des ‚mimetischen Furors‘, das heißt des Herdentriebs einer Gruppe, die sich nach innen reinigt, indem sie alles Böse nach außen projiziert, als solchen erkannt, aufgedeckt und entmachtet zu haben. Indem die Unschuld des für schuldig Befundenen nachhaltig ins Bewusstsein gehoben und damit die Schuld derjenigen, die ‚nicht wissen, was sie tun‘, offengelegt wurde, konnte die sakralisierte Gewalt archaischer Religiosität ideell abgelöst werden durch ein christliches Modell paradigmatischen Gewaltverzichts. Christus ist für Girard ein Katalysator von Gewalt, weil er die Rolle des Opfers gleichsam verstehend auf sich nimmt und damit die Schuld der Täter rückspiegelt.

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Baudler teilt diesen Ansatz Girards über weite Strecken, rückt aber ergänzend ins Blickfeld, dass in der christlichen Religion mit einer Deutung von Jesu Tod als stellvertretendem Sühneopfer für die Sünden der Menschen von Ferne noch der alte ‚gefräßige‘ Raubtiergott hindurchscheine, der sein Opfer fordere, und der als solcher vor allem noch im Alten Testament gegenwärtig sei.32 Insofern stellt die Interpretation des Opferstatus von Jesus für ihn einen Streitpunkt dar. Wo Girard in einigen Spätschriften einen positiven Opferbegriff verwende, der eine Deutung von Christi Tod als ‚letztes‘ Sühneopfer zulasse und Christus selbst als ‚vollkommenen Sündenbock‘ begreife, grenzt Baudler sich hiervon dezidiert ab.33 Jeglicher Ansatz einer Vorstellung von Gott, in der dieser ein blutiges Opfer annimmt, restituiert für ihn wieder eine archaische Gewaltlogik zwischen einem vergöttlichten Stärkeren und einem opferwilligen Schwächeren. Den Gegenpol zu einem gewaltsamen ‚Raubtiergott‘ stelle nun auf der Ebene archaischer Antriebe das noch ältere, lebensbehütende Muttersymbol dar. Und in der Tat ist es ja bei Seuse so, dass die lebensschützende Wende durch das Erscheinen wohlmeinender weiblicher Figuren eingeleitet wird. Nicht von ungefähr trägt die Frau, die ihn in einer Vision von Schlimmerem abhält, den Namen der Mutter Marias, Annas, der ‚Großen Mutter‘. Wenn diese aber nun gleichsam den Schlag des Dieners gegen sich selbst mit ihrem eigenen Körper auffängt, bleibt eine archaische Stellvertretersymbolik ungebrochen. Sie nimmt ihm sein Leiden ab, um es ihrerseits am eigenen Körper auszutragen, macht sich damit sozusagen selbst zum ‚Sündenbock‘. Letztendliche Zuflucht aber liegt für den Diener in der Imagination, an Stelle Jesu wieder in den Schoß der Gottesmutter zurückkehren zu dürfen und sich von ihr nähren zu lassen. Marias Erlaubnis, den Diener wieder Wein trinken zu lassen, vermittelt über eine fromme Frau, bricht dann gleichsam den bösen Bann. Das Symbol des Mütterlichen eröffnet Seuses Diener wieder die Rückkehr in den Schoß des Lebens, wo er seiner Lebendigkeit in der Härte der Entsagungen und Kasteiungen verlustig zu gehen drohte. Seuses gesamte Passionsmystik findet in den Visionen und Imaginationen einer trostspendenden mütterlichen Symbolwelt ihr ausgleichendes Gegengewicht. Inwieweit Seuse die Instanz einer ‚guten Mutter‘ verinnerlicht hat, sich aber auch mit inneren Stimmen der Versagung auseinandersetzt, wird in besonderer Weise in dem Prolog zu seiner ‚Vita‘ sichtbar (7–8). Dort berichtet er uns von einer, hier noch nicht namentlich genannten, Schwester seines Ordens, die seine Erzählungen und Gedanken zur eigenen Erbauung niedergeschrieben habe. Er selbst sieht sich bemüßigt, als er dieses „geistlichen Diebstahls“ (7,15) gewahr wird, die Niederschriften zu verbrennen, bis er eine himmlische Botschaft erhält, die ihm dies untersagt. So kommen seine Gedanken vorgeblich als erhaltene Niederschriften der Ordensfrau auf uns über. Wenn diese Konstruktion auch so

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nicht glaubwürdig ist und gemeinhin als Selbstrechtfertigungsstrategie gedeutet wird,34 ist ihr Symbolgehalt umso aufschlussreicher. Aus der Perspektive Seuses lassen sich die Personen und Stimmen sehr wohl als Personifikationen unterschiedlicher innerer Instanzen verstehen. Wenn er selbst sich veranlasst sieht, seinen eigenen Text zu verbrennen, ist dahinter unschwer das Gefühl eigenen Unwerts beziehungsweise von Scham zu erkennen. Eine unterstützende Gegenstimme gebietet dieser Art geistiger Selbstvernichtung schließlich Einhalt. Der Ordensschwester aber, die er später seine geistliche Tochter nennt, kommt als Bewahrerin seiner Gedanken die Funktion eines primären mütterlichen ‚Behälters‘ zu.35 Sie ist gleichsam das weibliche Medium, durch das seine Gedanken ‚geboren‘ werden und als solche wieder auf ihn zurückkommen. Sie ist der Spiegel, in dem er sich allererst selbst wahrnimmt. Vom ‚anfangenden‘ zum ‚gelassenen‘ Menschen Die Kapitel 19 und 20 leiten nunmehr über zu einer neuen Phase, die unter dem Vorzeichen rechter gelassenheit (53,7) steht. Hier soll ein knapper Ausblick genügen. In einer Vision begegnet dem Diener ein Jüngling, der ihn zu einem Meister in ein schönes Haus führt, wo sich wiederum eine Art Einweihungsritual vollzieht. Der Diener wird zu der Einsicht geführt, dass seine vormaligen Übungen insofern äußerliche gewesen seien, als sie noch von seinem Eigenwillen bestimmt gewesen seien. „Ich will dich nu dir selber nemen“ (57,3) („jetzt will ich dich dir selber wegnehmen“, 85), hört er sich später angesprochen und auf gänzlich neue Leiden vorbereitet. Damit vollzieht sich eine Wende, die für den Diener eine entscheidende soziale Öffnung mit sich bringt. Die Leiden, die nun auf ihn zukommen, sind nicht mehr selbst zugefügte Leiden, sondern von außen an ihn herantretende. Im Kontakt mit anderen stehend, auf Reisen und in seelsorgerischer Tätigkeit sieht er sich in der Opferrolle desjenigen, der mannigfachen Verleumdungen und übler Nachrede ausgesetzt ist. Und über dieses neuartige Leiden ‚am anderen‘ gelangt er mit der Zeit zu einer gänzlich neuen Perspektivierung seiner Existenz ‚für den anderen‘. Am Ende von Kapitel 26 wendet der Diener sich mit der Bitte um das Seelenheil eines Mörders, der ihm zuvor Angst und Schrecken eingejagt hatte, an Gott. Aus einer Situation extremer Belastung heraus vermag er nunmehr von sich selbst abzusehen und die Position seines Gegenübers einzunehmen. In der Fürbitte für den Mörder stellt er sich nun, wenn man so will, wahrhaft in eine Nachfolge Christi. Spätestens hier wird die psychische Entwicklung, die Seuses Diener abgeschritten hat, konkret fassbar. Bis zu seiner ‚Wende‘ hatte er sich vornehmlich in einem imaginativen Raum von identifikatorischen Beziehungen zwischen Verschmelzungswünschen und Opferbereitschaft bewegt. Auf der anfänglichen Suche nach Geborgenheit und Trost erlebte er sich immer wieder in liebender

Bilder einer ‚anfangenden‘ Seele

Einheit mit der Gottesmutter und ihrem Kind. Aus dieser regressiven kindlichen Beziehung herausgetreten, strebte er dann unter jünglingshaftem Vorzeichen die identifikatorische Einheit mit dem leidenden Christus am Kreuze an, zu dem er sich buchstäblich ans Kreuz nageln wollte. Gleichzeitig bot er seine blutigen Selbstkasteiungen einem Vater-Gott als Sühneleistung an. Dabei bewegte sich der Diener sowohl in seiner Suche nach Trost wie in seinen Selbstkasteiungen in einem narzisstisch betonten Kosmos, in dem alle Objekte auf ihn hin geordnet waren. Zwar hatte er mit der Anrufung Gottes in seinem 18. Lebensjahr die Erfahrung gemacht, ‚anders zu sein als die anderen‘, und damit gleichsam das Saatkorn eines Ichbewusstseins empfangen, ohne dass jedoch der andere als anderer damit für ihn schon erfahrbar geworden wäre. Damit ist das Paradox formuliert, dass der Diener erst da, wo er sich ein Stück weit aus seiner imaginativen Welt der Einheitssuche herausbegibt, in einem tieferen christlichen Sinn beziehungsfähig wird, dass er erst von dort aus die Reife erwirbt, zu sich selbst und seinen unmittelbaren Bedürfnissen Distanz nehmen zu können und offen zu werden für den anderen. Der andere verkörpert damit nicht mehr nur, wie zu Beginn, eine Instanz, dessen vereinnahmendem Sog sich eine erwachende Individualität entgegenstemmt, auch nicht mehr nur den übermächtigen anderen, der ihn in seinem Wert verkennt, sondern er tritt als seinerseits Bedürftiger in das Blickfeld des Dieners, der sich ihm im Selbstbewusstsein des Seelsorgers nähert. Der bis dahin zurückgelegte Weg eines ‚anfangenden Menschen‘, wie es bei Seuse heißt, ist damit aber noch nicht als defizitär zu etikettieren. Ausgehend von der Anrufung Gottes stellen die visionären und imaginativen Welten dieser Phase und auch darüber hinaus dem Diener einen Raum zur Verfügung, in dem er haltende, mütterliche Objekte in sich aufrichtet, die fortan seine Innenwelt strukturieren. In der inneren Zwiesprache mit den göttlichen Personen, ihren Antworten und ihren Blicken, vermag er wie in einem Spiegel sein eigenes Ich zu erkennen und sich in diesen Erscheinungen immer wieder aufs Neue seiner Identität als Geschöpf Gottes zu versichern.36 Erst diese intime Nähe in seinen imaginativen Welten ermöglicht es ihm, das Leiden der Selbstwerdung in der Realität auf sich zu nehmen, das sich für ihn als Leiden am andern, als eine Folge schwerwiegender Kränkungen und Verkennungen darstellt. Die imaginativen Einheitserlebnisse und Einheitsvorstellungen stellen für den Diener eine Art geistlicher Wegzehrung dar, die ihn auf diesem Weg begleiten. Seuses soziale Öffnung, die Zentrierung seiner Existenz um Sorge und Fürbitte für den anderen, bleibt jedoch bis zum Schluss zwiespältig. Zum einen wächst mit dem eigenen erfahrenen Leid seine Empathiefähigkeit und gibt er durchaus das vorbildhafte Beispiel desjenigen ab, der von Gott im Leiden zu einem rechten, das heißt mitfühlenden Menschen gemacht wurde. Andererseits

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bleibt die Hinwendung zum anderen bis zum Ende eng mit der Vorstellung des eigenen Sühneopfers verbunden. In der Identifikation mit Christus und dessen sühnendem Opfertod strebt er selbst die Rolle des stellvertretenden Sühneopfers und Erlösers an. Er geißelt sich jetzt nicht mehr als Buße für eigene Verfehlungen, sondern stellvertretend für den anderen, den er erlösen will (135). Eine ‚Imitatio Christi‘ zielt damit nicht nur auf den wehrlosen Christus, sondern auch auf den Christus, der über sein Selbstopfer Teilhabe an der Macht des Vaters hat. Seuses blutige Askesepraktiken sind heutzutage nur schwer erträglich und bringen uns einen historischen Mentalitätswandel zu Bewusstsein. Wenn aber im kirchlichen Raum nach wie vor zu Bitt- und Sühneprozessionen aufgerufen wird, die um das Erbarmen des Herrn flehen wollen, zeugt dies auch von der anhaltenden Präsenz des Opferschemas als eines universalen Erlebnis- und Vorstellungsmusters. Immerhin hat das 14. Jahrhundert auch einen wirkungsmächtigen Kritiker dieses Welt- und Gottesverhältnisses hervorgebracht. Meister Eckharts gesamtes Schreiben, so möchte man meinen, ist darauf ausgerichtet, die Vorstellung eines irgendwie manipulierbaren, durch den menschlichen Willen zu beeinflussenden göttlichen Wesens zu destruieren. Damit gerät allerdings auch ein personales göttliches Gegenüber weitgehend aus seinem Blickfeld. Seuses Religiosität bewegt sich in einem weiten Spannungsbogen zwischen einer emotional teilnehmenden ‚compassio‘, die wesentlich an Bilder des Mütterlich-Weiblichen gebunden ist, und einem ‚männlichen‘ Erlösungsanspruch, der Opferbereitschaft und Leistungswillen an einen Vater-Gott heranträgt. Fluchtpunkte von Seuses Imaginationen sind zum einen die Gottesmutter, die mit ihrer Milch seine Lebendigkeit gewährleistet und tröstende Umarmungen bereithält, zum anderen das fließende Blut Christi, das sich in seiner Vorstellung mit dem seinen mischt und für einen Austausch zwischen ihm und dem ‚Vater‘ beziehungsweise ihm und Christus steht. Sowohl die mütterliche wie die väterliche Seite dieser Symbolwelten sind dabei ambivalent besetzt. Während die mütterliche Seite Erquickung und Trost bietet, aber auch für eine kindliche Rückbindung steht, welche der Diener zu überwinden trachtet, fächern sich die männlichen Personen auf in einen brüderlichen Christus und einen teils gütigen, teils fordernden Vater-Gott. Vor den Ansprüchen eines sühne- und opferheischenden Gottes vermag Seuses Diener partiell Zuflucht in inneren Mutterwelten zu finden – ohne diesem jedoch gänzlich entkommen zu können. Seuse gibt mit seiner ‚Vita‘ das eindrucksvolle Zeugnis einer spätmittelalterlichen reflexiven Innenschau ab, in der eine Seele ihren guten und ihren bösen Geistern begegnet.

Verbotene Lust

7.6 Verbotene Lust Grenzziehung und Selbstermächtigung im zweiten Schöpfungsbericht

Verbot und Auflehnung Die Mannigfaltigkeit einer biblischen Bilderwelt teilt sich uns in Text und Text­ exegese, aber auch in der reichen christlich geprägten Tradition der bildenden Kunst von Mittelalter und früher Neuzeit mit. Dabei mögen wir im Falle der Paradieserzählung (Genesis 2,4b–3,24) auf eigentümliche Diskrepanzen stoßen. Während eine theologische Rezeption im Besonderen um die Frage der Schuld kreist, welche dem ersten Menschen seit dem Genuss der verbotenen Früchte anhafte, nutzt die Kunst das Motiv von Adam und Eva nicht zuletzt für eine Feier von Sinnlichkeit und Schönheit. Beispielhaft für das 15. und 16. Jahrhundert sind hier Lucas Cranach, Hans Baldung Grien und Albrecht Dürer zu nennen. Christlich-symbolische Aspekte verschmelzen etwa bei Dürer, dessen Blick gefällig auf der Nacktheit seiner Figuren ruht, mit sehr profanen Bildelementen. Von einem triebfeindlichen Verständnis des Sündenfalls augustinischer Prägung setzt sich auch der deutsche Idealismus ab. Kant etwa verkehrt die These von Augustinus, der gemäß der Mensch erst nach dem Sündenfall mit dem Fluch unreiner Begierden geschlagen worden sei,1 nachgerade in sein Gegenteil. Er würdigt den Sündenfall als Produkt einer vernunftgesteuerten Wahlfreiheit, die den Menschen von dem „Gängelwagen des Instinkts“ und der „Vormundschaft der Natur“, als die er die Stimme Gottes überraschenderweise versteht, loslöse und den Menschen in den „Stand der Freiheit“ einsetze.2 Das Odium individueller Schuld tritt in Kants Entwurf dabei hinter die epochale Errungenschaft von Mündigkeit für die Gattung zurück.3 Einen weiteren Schub im Sinne tendenziell positiver Deutungen bringt im 20. Jahrhundert die Freud’sche Psychoanalyse mit sich, für welche die Auflehnung gegen den realen und symbolischen Vater unter dem Vorzeichen des Ödipus-Komplexes Movens von personaler Entwicklung schlechthin darstellt.4 Aus dem nachfolgenden breiten Spektrum einer Tiefenpsychologie erwachsen unterschiedliche Deutungsperspektiven für die Paradieserzählung. So stellt etwa für die bei Freud5 grundgelegte Narzissmustheorie das Paradies primär ein regressives Einheitsphantasma dar, das an eine ursprüngliche Mutter-Kind-Dyade anknüpfe, während die Vertreibung eine grundlegende menschliche Trennungserfahrung beziehungsweise ein reales menschliches Trauma repräsentiere.6 Den harten Triebkonflikten Freuds wiederum setzt Gustav Jung die versöhnlichere

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Suche der Psyche nach dem ‚wahren Selbst‘ in einer symbolischen Welt von Archetypen entgegen. In der analytischen Psychologie Jungs wird das Paradies zum Schauplatz eines menschlichen Individuationsprozesses, in dem Trennung und Schuld als progressive Entwicklungsanstöße fungieren.7 Der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann trägt in seinem Opus Magnum zur jahwistischen Urgeschichte mit dem Titel „Strukturen des Bösen“ eine Vielzahl von Theoremen und Deutungen sowohl freudianischer als auch jungianischer Richtungen zusammen, um diese jedoch immer wieder theologischen Implikationen unterzuordnen.8 Seine Rahmenthese einer grundlegenden menschlichen Angst, aus welcher die Sünde hervorginge,9 verknüpft er mit der Botschaft, dass nur eine vertrauensvolle Hinwendung zu Gott aus dieser herausführe. Das Drama von Genesis 2–11 wird vor diesem Hintergrund kurzerhand mit dem Etikett einer Fehlentwicklung belegt.10 Die Sündenfokussierung christlicher Bibelexegese überträgt Drewermann ungebrochen auf psychoanalytische Denkschemata, wenn er eine theologisch-moralische Abwertung als Pathologie bestätigt. Der Urmensch, so Drewermann, falle in Sünde und damit in die ‚Strukturen des Bösen‘, weil er ‚gestört‘ sei. 11 Ich möchte nun meinerseits versuchen, der bedeutsamen Frage nach Erkenntnis und Schuld im zweiten Schöpfungsbericht, auch unter Berücksichtigung psychoanalytischer Perspektiven, nachzugehen. Dabei steht zunächst als ein kardinales Deutungsproblem im Raum, dass der Text der Genesis das Erleben von Scham und damit die Einsicht in eine geschlechtliche Differenz erst als Folge der Gebotsübertretung im Essen der verbotenen Frucht kennt. Gebotsübertretung und bewusste Sexualität werden vordergründig separiert. Einen Denkanstoß in eine gegenläufige Richtung gibt hier allerdings Dürers Adamund-Eva-Stich aus dem Jahre 1504.12 In ihm tritt uns zu einem Zeitpunkt, der noch vor dem Genuss der verbotenen Frucht liegt, ein ganz offenbar seiner Geschlechtlichkeit und Verführungsmacht bewusstes Paar gegenüber. Dieses Bild soll zunächst zum Gegenstand der Betrachtung genommen werden. Im Anschluss soll eine Analyse des Bibeltextes folgen, welche einen ersten bedeutsamen Akt des Ungehorsams und der Trennung mit Prozessen von Verinnerlichung und personaler Differenzierung in Beziehung setzt. Selbstbewusste Lust in der Adam-und-Eva-Darstellung Albrecht Dürers Das klassische Motiv von Adam und Eva bot Malern von Humanismus und Frührenaissance eine willkommene Gelegenheit, sich dem Studium des menschlichen Körpers zu widmen, so auch Albrecht Dürer in seinem Kupferstich von 1504, der heute zu den Beständen der Albertina zählt. Während eine ältere Forschung hier eine Rückwendung zu antiken ästhetischen Formprinzipien eher negativ kommentierte, suchen neuere Arbeiten den christlichen Gehalt des

Albrecht Dürer, Adam und Eva, 1504

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Bildes und eine entsprechende Einheit von Inhalt und Form wieder stärker zu würdigen.13 Sieht man allerdings genauer hin, transportiert das Bild eine Botschaft, die sich zwar antiker und christlicher Vorgaben bedient, jedoch weder so ohne Weiteres unter die eine oder die andere subsumiert werden kann. Auf Dürers Kupferstich stehen Adam und Eva vor dem Hintergrund eines Waldes dem Betrachter frontal zugewandt im Vordergrund. Ihre nackten helleren Körper heben sich ab von dem Dunkel der dahinter dicht gedrängt stehenden Baumstämme. Eingefangen ist der Moment unmittelbar vor dem Genuss der verbotenen Frucht. In der linken Bildhälfte steht Adam, in der Mitte befindet sich der hellere Baum der Erkenntnis mit einem nach rechts aufragenden Zweig, der Blattwerk und Früchte trägt. Um diesen Zweig windet sich die Schlange. In der rechten Bildhälfte steht Eva. In ihrer linken, nach rückwärts gebogenen Hand hält sie eine Frucht, deren anhangender Zweig ein Blatt trägt, das ihre Scham bedeckt. Adam in der linken Bildhälfte ergreift mit seiner rechten Hand den begrünten Zweig eines weiteren Baumes am linken Bildrand, der als Baum des Lebens zu begreifen sein dürfte und an dem ein Schild mit Dürers lateinischer Signatur hängt. Oberhalb sitzt ein Papagei. Adams Scham wird von einem Blatt bedeckt, das aus selbigem Baum herauswächst. Im unteren Drittel des Bildes sind Paradiestiere zu sehen: ein gehörnter Elch, ein gehörntes Rind, ein Hase, eine Katze und eine Maus.14 Beide Figuren, Mann und Frau, haben den Kopf zur Mitte gewendet. Adam schaut in das Gesicht Evas. Eva, mit wehendem Haarschopf und angewinkeltem Arm, schaut auf die Frucht in ihrer rechten Hand und die Schlange. Trägt man das Vorwissen der Paradieserzählung an dieses Szenarium heran, so ist zu sehen, wie die Schlange die Frucht in ihrem Maul hält und Eva in die Hand legt. Betrachtet man die Szene aber unvoreingenommen, dann möchte man eher meinen, dass Eva die Schlange von der Frucht, die sie lose mit den Fingerkuppen hält, kosten lässt. Die Schlange selbst wiederum ist nicht Eva, sondern Adam zugewandt. Schlange und Unterarm Evas bilden dabei ein offenes Dreieck, dessen Spitze mit der Frucht auf das Geschlecht Adams weist. Die eine Diagonale im Bild verläuft von Evas Blick rechts oben über die Frucht und den Schlangenkopf hin zu Adams Geschlecht. Die gegenläufige Diagonale verläuft vom Papagei und Kopf Adams links oben über dessen seitlich ausgestreckten linken Arm hin zu Evas Geschlecht. Im Schnittpunkt der Diagonalen befindet sich die Frucht mit der Schlange. Die Köpfe des Paares und die Frucht bilden ein oberes, Frucht und Schamblätter ein unteres Dreieck. Das Paar ist zwar über seine Blicke aufeinander bezogen, bietet aber seine Körper frontal dem Betrachter an. Dargestellt wird ein Szenarium, das die biblische Erzählung von der Verführung Evas durch die Schlange in eine latente

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Uneindeutigkeit transponiert. Hier, so möchte man meinen, verführt Eva nicht weniger die Schlange als umgekehrt beziehungsweise verführen Adam und Eva sich wechselseitig. Die beiden runden Früchte, die Eva in ihren Händen hält, und die ins Zentrum platzierte Schlange sind dabei unschwer auch als SexualSymbole lesbar. Während nun Eva und die Schlange über die Frucht miteinander in enger Berührung stehen, greift die linke Hand Adams unterhalb davon, auf der Höhe von Evas Geschlecht, dergestalt um einen Astdorn in der Mitte, dass ein anatomisch irreal verkrümmter Zeigefinger diesen ringförmig umschließt. Links daneben sehen wir noch, wie sich der Schwanz der Schlange durch einen ringförmiges Astteil zieht.15 Benennen wir diese kleinen Spielereien getrost als das, was sie sind: versteckte Obszönitäten.16 Die Zeitgenossen des Künstlers fanden ja durchaus Geschmack an derberen Späßen, wenn man etwa einen Blick in das Volksbuch von Till Eulenspiegel wirft. Dürer lädt also die Verheißung der Lust, die mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen verbunden ist, eindeutig sexuell auf. Seine Magie aber gewinnt dieses Kunstwerk nicht zuletzt daraus, dass der Betrachter durch den Zeigehabitus der Figuren unmittelbar in das Geschehen einbezogen wird. Er beantwortet die Zeigelust der Figuren gleichsam anstelle ihrer selbst mit seiner eigenen Schaulust. Daran wiederum, dass hinter allem ein Künstler steht, der mit seiner Kunst teilhat an göttlicher Unsterblichkeit, gemahnt uns dessen deutlich sichtbare, am Baum des Lebens hängende Signatur. Festzuhalten bleibt am Ende, dass Dürer die Paradieserzählung, wenn man so will, vom Kopf auf die Füße stellt. Hier werden keine passiven Verführungsopfer, sondern selbstgewisse Verführer dargestellt. Adam umfasst den Ast mit der Dürer’schen Signatur, zwischen den zwei in den Vordergrund gerückten Baumstämmen stehend, in nachgerade phallischer Selbstgewissheit, und die hellere, rundere Eva weiß offenbar genau, was sie will und was sie anzubieten hat. Sie ist als Pendant zu dem ‚bannertragenden‘, hoch aufgerichteten Adam die Herrin der Früchte und der Tiere zu ihren Füßen. Der Künstler, so möchte man meinen, hat dem Sündenfall die Sünde ausgetrieben und feiert Weiblichkeit und Männlichkeit, Kunst und Künstler. Schauen wir vor dem Hintergrund dieser Deutung des Adam-und-Eva-Mythos durch einen großen Künstler zurück auf den Bibeltext. Die Geburt des Widerspruchs im zweiten Schöpfungsbericht Der nach allgemeiner Einschätzung früher entstandene zweite Schöpfungsbericht schlägt dabei einen gänzlich anderen Grundton an als der erste, welcher von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen berichtet. In dem später entstandenen Text der Priesterschrift, den der Kompilator an den Anfang setzt, haben die Gestalt Gottes und seine Geschöpfe noch keine individuelle Kontur.

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Gott spricht in den Kosmos hinein und erschafft so Himmel und Erde, er schaut seine Schöpfung an und er segnet sie – noch mehr oder minder eins mit seinem Werk. Es gibt zwar den personalen Rückzug Gottes am siebten Tag und damit eine Art von Trennung, aber der Text kennt noch keinen Konflikt zwischen Schöpfer und Geschöpf. Der Grundton des Textes ist der einer großartigen Einheit.17 Anders die nachfolgende Erzählung vom Paradies, hier treten wie auf einer Bühne nacheinander unterschiedliche Akteure auf: Gott der Herr mit väterlichen, teils mütterlichen Zügen, dann Adam, später Eva, beide zu einer göttlichen Autorität aufschauend, eine personifizierte Schlange und am Schluss die Cherubim mit ihren flammenden Schwertern. Schauplatz ist der Garten Eden, in dem sich das erste folgenreiche Drama der biblischen Geschichte ereignen soll. Den Anfang setzt der Text damit, dass er noch einmal hinter den bereits in Genesis 1 erreichten Stand der Schöpfung zurückgeht und erneut die Erschaffung des Menschen zum Gegenstand nimmt. Anders aber als der oder die Autoren des ersten Schöpfungsberichtes, welche die Symbolisierungsleistung des Sprechens in der Formel ‚und Gott sprach‘ akzentuieren und damit einen Raum der Abstraktion entstehen lassen, entwirft der Text der Paradieserzählung eine sehr konkrete Welt materieller Gegenständlichkeit. Wir hören, wie Jahwe den Menschen dank eines aufsteigenden Nebels aus dem feuchten Ackerboden formt und ihm den Atem des Lebens durch die Nase einbläst. Jahwe spricht nicht, sondern er macht mit seinen Händen. ‚Gott der Herr‘, wie Luther die den Text kennzeichnende Doppelung von Jahwe und Elohim übersetzt, ist ein sehr menschenähnlicher Gott, der erste Mensch wiederum ein sehr irdisches Geschöpf und die Erde, auf der beide stehen, sehr handgreiflich. Denn Gott pflanzt auch einen Garten in Eden mit mancherlei Bäumen darin, in seiner Mitte den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.18 Bewässert wird der Garten durch einen Strom, der sich in vier Arme teilt. In diesen Garten hinein setzt Gott den Menschen, auf dass er ihn bebaue. Er dürfe von allen Bäumen essen, ausgenommen vom Baum der Erkenntnis. Tue er dies, müsse er sterben. In deutlichem Kontrast zum ersten Schöpfungsbericht, der in eine grenzenlose Weite zielt, geht es im zweiten Schöpfungsbericht um paradigmatische Grenzziehung. Anstelle kosmischer Weite steht die Umfriedung eines bebauten Gartens. Der erste Mensch wird in diese Umfriedung hineingestellt, und als Pendant äußerer Grenzziehung wird ihm auch eine innere Grenzziehung auferlegt: die Einhaltung einer Speiseordnung.19 Der Garten teilt sich nunmehr in eine erlaubte und eine unerlaubte Zone. Zwischen Gott und Mensch tut sich der Unterschied auf, dass Gott Gebote ausspricht, an die sich der Mensch zu halten hat. In der Paradieserzählung wird der erste Mensch somit in eine

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duale Struktur von innen und außen, oben und unten hineinversetzt. Und indem seine Welt von Trennungslinien durchzogen wird, welche die Gestalt eines kultivierten Gartens und eine soziale Beziehung von Gott und Mensch umreißen, ist gleichzeitig mit diesen Grenzziehungen das Problem der Grenzüberschreitung geboren. Auf das ausgesprochene Speiseverbot folgt nun unmittelbar die Ansage Gottes, dass es nicht gut sei, dass der Mensch allein sei, und Adam eine ‚Gehilfin‘, ein Gegenüber bekommen solle (2,18).20 Anders als im Text der Priesterschrift, wo die beiden ersten Menschen von Beginn an als Mann und Frau erschaffen werden, ist der erste Mensch hier nicht geschlechtlich definiert. Zunächst aber bildet Gott der Herr – wiederum aus Lehm – eine Reihe von Tieren und Vögeln, die er Adam bringt, auf dass dieser ihnen einen Namen gäbe. Das Ausgangsproblem eines ranggleichen Gegenübers für den Menschen bleibt damit jedoch bestehen, und so lässt Gott Adam in einen tiefen Schlaf fallen, entnimmt ihm eine Rippe, baut daraus eine Frau und führt sie Adam zu. Dieser findet Gefallen an einem Geschöpf, das ihm gleich ist und dennoch ein anderes. Adam wird dann die prophetische Rede in den Mund gelegt, dass man dieses Geschöpf, wie Luther übersetzt, ‚Männin‘ nennen und der Mann um der Frau willen Vater und Mutter verlassen werde (2,23/24). Der Erzähler erwähnt noch kurz, dass Adam und Eva nackt waren, sich dieser Nacktheit aber nicht schämten. Damit gibt es also von nun an einen Mann und eine Frau, die aber, zugespitzt formuliert, von sich noch nicht wissen, dass sie es sind. Signifikant ist hier, dass Gott die Gefährtin oder das Gegenüber Adams nicht, wie diesen selbst und ebenso die Tiere und Vögel, aus Lehm formt, sondern dass er Adam in eigenartiger Weise teilt. Noch, so hat es den Anschein, verharren Mann und Frau nach dieser Operation in einer eigentümlich unbewussten Einheit. Noch kennen sie keine Scham, weil sie sich einer entscheidenden Differenz noch nicht innegeworden sind.21 Aber hier kommt nun die Schlange ins Spiel! Als Erstes sehen wir die neuerschaffene Frau nicht etwa in Interaktion mit Adam oder mit Gott, sondern mit der Schlange. Diese spricht, plötzlich auf der Bühne des Geschehens auftauchend, die Frau mit einem Unterton der Provokation auf das Speiseverbot Gottes an: „Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?“ (3,1). Eva berichtigt die Schlange dahingehend, dass sie sehr wohl von den Bäumen im Garten äßen, nur nicht von dem einen, von dem Gott ihnen gesagt habe, dass sie sonst sterben müssten. Und an dieser Stelle passiert nun etwas Überraschendes! Die Schlange stellt nämlich die göttliche Androhung, dass der Mensch bei Übertretung des Verbots sterben müsse, in Frage und mutmaßt stattdessen, dass Gott dieses Verbot primär um einer Wahrung seiner Dominanz willen ausgesprochen habe. Denn wenn die Menschen vom Baum der Erkenntnis äßen, würden auch ihnen die

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Augen aufgetan werden, und sie würden sein wie Gott. Göttliche Fürsorge deutet die Schlange hier in einen göttlichen Machtanspruch um und ebnet damit den Weg zu einem quasilegitimen Aufbegehren. Jetzt erst treten die Früchte als etwas besonders Verlockendes an die Frau heran – weil sie eine Lust für die Augen sind und weil sie Klugheit verheißen. Die Frau begehrt die Früchte also zugleich sinnlich und geistig. Sie kostet und gibt Adam davon zu essen, und nachdem beide gegessen haben, erkennen sie, dass sie nackt sind, und machen sich Schurze aus Feigenblättern. Als sie Gott in der Abendkühle sich nähern hören, verstecken sie sich. Adam erklärt Gott, dass er sich vor ihm fürchte, weil er nackt sei. Zur Rede gestellt, schiebt er die Schuld am Genuss der verbotenen Früchte auf Eva, diese wiederum auf die Schlange, und nun folgen nach allen Seiten göttliche Verfluchungen und die endgültige Vertreibung aus dem Garten Eden. Da der Mensch nun schon geworden sei „wie unsereiner“ (3,22), dürfe er nicht auch noch vom Baum des Lebens essen und ewig leben, so die göttliche Formel. Am Ende der Erzählung blickt der Leser auf eine gleichermaßen atemberaubende wie rätselhafte Verquickung von Geschlechtlichkeit und Erkenntnis, Verbot und Strafe zurück. Rivalität zwischen Schöpfer und Geschöpf Blicken wir noch einmal auf den ersten Schöpfungsbericht hin, in dem das Thema der Geschlechtlichkeit noch nicht problematisiert wird. Gott erschafft dort den Menschen von Beginn an als Mann und Frau und der ubiquitäre Fortpflanzungsauftrag an alle Geschöpfe setzt die Schöpfung in die Vollmacht der Selbsterhaltung. Gott stößt hier einen Schöpfungsprozess an, der am Ende ihn und die Schöpfung in Freiheit entlässt. Grundlegend anders nimmt sich hingegen die Ausgangssituation in dem vorpriesterschriftlichen Schöpfungsbericht aus. Hier liegt der Fokus anfänglich auf einer intimen Dyade von Gott und Mensch. Gott legt einen Garten an und erschafft Tiere und einen weiteren Menschen zur Gesellschaft für den ersten. Gott sorgt für den Menschen, aber er gibt auch Regeln für dieses Arrangement vor, er ist zugleich ein Gott der Fürsorge und der Macht. Dergestalt entwirft die Erzählung nach Maßgabe eines familialen Urmodells ein paradigmatisches Eltern-Kind-Verhältnis mit entsprechendem hierarchischem Gefälle. Gott lässt den Menschen aber auch symbolisch an seiner Macht teilhaben. Er regt ihn an, Vieh und Vögeln Namen zu geben. Diese Vater-Sohn-Idylle kommt allerdings jäh zu einem Ende, nachdem Gott aus Adams Seite ein zweites menschliches Wesen geschaffen hat, eine Frau. Aus der Zweierbeziehung erwächst nun eine Dreierbeziehung,22 und es bildet sich ein neues Kräfteverhältnis aus. Statt der dualen Beziehung ‚großer Gott und kleiner Mensch‘ wird nun die Konstellation ‚zwei gegen einen‘ möglich. Das Einfallstor für Aufruhr und Verführung ist dabei die Frau, der ‚andere‘ Mensch.

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Handelt es sich im ersten Schöpfungsbericht, wenn Gott den Menschen nach seinem Bilde schafft, um eine Spiegelbeziehung zwischen Gott und Mensch, werden im zweiten Schöpfungsbericht Mann und Frau selbst in ein Spiegelverhältnis zueinander gesetzt. Der zweite Mensch wird nach dem Bilde des ersten geschaffen. Gott schafft nicht mehr nur sich selbst ein Gegenüber, sondern er schafft darüber hinaus dem Menschen, aus nunmehr deutlich differenzierterem Ausgangsmaterial als feuchter Erde, seinerseits ein Gegenüber. Die Frau, in gewisser Weise eine Abspaltung des Mannes, vernimmt nun die verführerische Rede der Schlange nachgerade wie eine innere Stimme des Aufruhrs, welche die hergebrachte Ordnung in Frage zu stellen antritt. Die Stimme des Aufruhrs siegt dabei über eine Stimme der Unterwerfung. Nach dem Genuss der Früchte blicken die Menschen dann auf sich selbst zurück und nehmen ihre Nacktheit wahr und damit auch eine Differenz. Ihnen wurden, wie die Schlange vorhersagte, die Augen aufgetan, sie erkennen den Unterschied von Mann und Frau und machen sich Schurze. Sie erkennen aber auch den Unterschied von Gott und Mensch und verstecken sich. Sie haben Angst vor Gott. Folgt man einer Deutung, die auch Westermann vertritt, welche mit der Erkenntnis von Gut und Böse weniger eine moralische Dimension als vielmehr eine grundsätzliche Polarität angesprochen sieht,23 dann tritt der Mensch als Erkennender aus einem urtümlichen Stadium der Einheit heraus in eine Existenz von begrifflichen Dualitäten und Gegensätzen. Die Dinge stehen nicht mehr ungeschieden beieinander, sondern getrennt voneinander gegenüber, sie teilen sich fortan in Gott und Mensch, Mann und Frau, Innen und Außen, Gut und Böse. Wenn das Verbot Gottes dabei den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen mit einem Tabu belegt, so bringt das Verbot selbst bereits eine signifikante Zweiteilung von Erlaubtem und Unerlaubtem mit sich. Diese primäre Scheidung wird obendrein im Namen des Baumes zum Ausdruck gebracht: Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse trägt gleichsam Früchte des Unterscheidungsvermögens. Notwendigerweise zerstört der Genuss dieser Früchte eine vormalige Einheit und insofern ist der Baum der Erkenntnis in der Tat ein Baum des Todes. Zwar erfüllt sich die entsprechende Strafandrohung Gottes nicht als unmittelbarer Tod der Menschen, jedoch als folgenreicher Eintritt in die Sterblichkeit. Eine vormalige unbewusste Einheit des Lebens zerfällt dem Menschen fortan in die Gegensätze von Leben und Tod. Verwirrend bleibt dabei, dass der Mythos gleichsam zwei Motivationsstränge für die Gebotsübertretung anbietet, einen sinnlichen und einen geistigen. Eva wird verführt von der Aussicht auf Gottgleichheit und Erkenntnis, aber nicht minder von dem appetitlichen Anblick der Früchte, die ihre Sinne stimulieren. Damit stellt sich erneut die Frage nach der Rolle der Geschlechtlichkeit für die erste entscheidende Gebotsübertretung des Menschen. Zwar gibt sich

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das besagte Speiseverbot auf den ersten Blick als ein Triebverbot zu erkennen, aber lediglich als ein orales. An seiner Oberfläche leugnet der Text demnach eine mutmaßliche Identität von Verbotsübertretung und Geschlechtlichkeit, legt aber paradoxerweise gleichzeitig Spuren, die eben genau hierauf verweisen. Dies weist bereits Gunkel in seinem Genesis-Kommentar von 1910 auf, wenngleich seine These mehr Ablehnung als Zustimmung auf sich zieht.24 Ich gehe aber noch einmal am Text entlang: So folgt unmittelbar auf die Aussprache des Speiseverbots die Verkündigung Gottes, der Mensch brauche eine Gehilfin. Unmittelbar auf die Anmerkung des Erzählers, Mann und Frau seien nackt gewesen, ohne sich zu schämen, tritt die Schlange als Verführerin auf. Unmittelbar auf den Genuss der verbotenen Früchte folgt dann die Erkenntnis der Nacktheit und die Vertreibung aus dem Garten Eden. Diese hat dann schließlich die Gründung des weitverzweigten Menschengeschlechts zur Folge. Der Text legt also unterschwellig eine Spur, die darauf verweist, dass das Essen der so ungemein verlockenden Früchte vom Baum der Erkenntnis mehr meint als das Essen einer Feige oder eines Apfels, dass es vielmehr für den Genuss des anderen Geschlechts und die Kraft zur Fortpflanzung steht. Diese Botschaft hat auch Dürer dem Text entnommen und zugespitzt. Damit gewinnt aber auch das Verbot, und hier können wir uns durchaus von einem Geist des Widerspruchs, den die Schlange verkörpert, inspirieren lassen, eine neue unmittelbare Evidenz. Knüpfen wir an das soziale Gefüge von Eltern und Kindern an, dann wird dieses primär dadurch begründet, dass Geschlechtlichkeit den Eltern vorbehalten ist und sie wiederum für die Ernährung ihrer Kinder aufkommen. Auch Gott kommt für die Ernährung seiner Kinder auf.25 Geschlechtlichkeit aber, folgen wir dieser Spur, verwehrt er ihnen. Dabei entspricht es nicht nur den Bedingungen bäuerlicher Gesellschaften, dass geschlechtsreife Kinder für sich selbst aufzukommen haben und sozusagen aus dem Nest geworfen werden, es entspricht auch dem Rivalitätsgefüge zwischen den Generationen, dass Kinder sich im Moment einer geschlechtlichen Außenorientierung von ihren Eltern lösen und eine vormalige Einheit mit diesen zugunsten einer neuen sozialen Einheit aufkündigen. Hiervon spricht der Text sogleich nach der Erschaffung der Frau als Prophetie aus dem Munde Adams: „Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen“ (2,24). Und genau diesen Prozess eröffnet der Text mit dem Auftauchen der Schlange dann auch in unmittelbarer Folge! Aus der Perspektive der Schlange, der Widersacherin Gottes, kommt Gott dabei ein repressiver Anspruch der Machterhaltung zu. Dagegen bäumt sich Eva in Gemeinschaft mit der Schlange auf. Und hier tut Adam nun bezeichnenderweise das, was er zuvor in seiner prophetischen Rede angekündigt hatte, er verlässt ‚Vater und Mutter‘ beziehungsweise Gott, um seinem ‚Weibe anzuhangen‘

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(2,24). Die Nähe zu Gott hinter sich lassend und seinen Gehorsam aufgebend, sucht er die Nähe zu Eva, die in machtvoller Weise seiner Triebnatur anspricht. Diesen Akt legt ihm die christliche Theologie bekanntlich als Sünde aus. Aber wollen wir uns tatsächlich einen alttestamentlichen Gott vorstellen, dessen Willen es entsprach, seine Geschöpfe stets unter seiner Vormundschaft in einem umzäunten Garten zu halten? Immerhin setzt Gott selbst bereits mit der Formulierung des Verbots ein Zeichen, das fortan als die Markierung einer Differenz zwischen einem autoritären Gebot und einer menschlichen Triebbewegung nicht mehr zu übersehen ist. Der aufrührerische Triebanspruch aber hat, nehmen wir das Bild eines Schöpfergottes ernst, nicht minder seinen Ursprung in diesem als das untersagende Verbot. Vielleicht ist der Gott der Paradieserzählung in seinem Ursprung doch weniger harmonie- und ordnungsliebend, als eine theologische Exegese ihm immer wieder gerne unterstellt.26 Vielleicht tritt er an, die Kraft seiner Geschöpfe herauszufordern und sie in die Freiheit zu entlassen. Reflexives Unterscheidungsvermögen als Lust der Erkenntnis und körperliche Lust am anderen Geschlecht webt der Mythos dabei nahezu untrennbar ineinander.27 Kognitives und biologisches Begehren treiben am Ende neue Komplexitäten aus sich hervor. Scham, Schuld und Personalisierung Signifikant ist ferner die zweifache Scham der Menschen im Paradies. Mann und Frau schämen sich zunächst voreinander und machen sich Schurze. In einem weiteren Schritt schämen sie sich vor Gott und verstecken sich. Auch hier arbeitet der Mythos mit einer Doppelung. Zunächst greift die Scham als eine konkret geschlechtliche. In dem neuerworbenen Vermögen, auf sich selbst zurückzublicken und sich selbst voreinander als ‚anders‘ wahrzunehmen, verhüllen und betonen sie diese Andersheit mit ihrer Kleidung gleichermaßen. Sie haben sich, soziologisch gesprochen, vergesellschaftet. Die Erzählung aber greift noch weiter. Die Menschen verstecken sich nun auch vor Gott, seinem Blick ausweichend. Der anerkennende Blick Gottes aus dem ersten Schöpfungsbericht, der noch wiederholt sah, ‚dass alles gut war‘, hat sich in einen negativen Blick der Kontrolle verkehrt. Der Mensch sucht, diesem auszuweichen, und muss doch Rede und Antwort stehen. In der Entzweiung mit Gott treffen den Menschen dann Verfluchung und Vertreibung als Entzweiung mit der Natur, die von nun an sowohl Eva als auch Adam feindlich gegenübersteht. Bezeichnend an dem Verhör Gottes aber ist die Tatsache, dass der Mensch, der sich unter den Bäumen versteckt hat, die Stimme Gottes hört, ohne ihn zu sehen, wir mögen auch sagen: sie als eine innere hört. Diese neue Stimme ist eine prüfende, anklagende und strafende. Und mit der Aufrichtung einer solchen normativen Instanz in seinem Inneren, welche die Psychoanalyse ‚Über-Ich‘28

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nennt, erlebt er den anderen Selbstanteil, sein ‚Ich‘, noch als klein und defizitär, oder im Bild der Paradieserzählung: als nackt und schutzlos.29 Ein solches, eben erwachendes Ich hat gleichsam noch nicht aus sich he­raus Bestand und muss seine Schuld noch geflissentlich weiterreichen, so wie es Adam und Eva tun. Wenn Eva am Ende nicht zurück auf Adam, sondern auf die Schuld der Schlange verweist, fällt dazu im Rahmen der mit der Schlange verbundenen Vieldeutigkeit auch die Nähe zum männlichen Geschlecht ein, womit sich der Kreis dann wieder schließen würde. Adam und Eva verwiesen so wechselseitig auf die Verführungsmacht des anderen Geschlechts, die sie ja, so der Text, wiederum Gott zu verdanken hätten. Die statthabende personale Ausdifferenzierung aber, so die Botschaft der Paradieserzählung, gründet auf einem Akt des Ungehorsams. Erst die Selbsterfahrung im Akt des Ungehorsams und damit eine statthabende Trennung ermöglicht dem Menschen die Übertragung und Wiederaufrichtung des Gebots in seinem Inneren. Erst die Trennung von einer göttlichen Autorität macht es möglich, eine solche in sich selbst wiederzufinden und zu sein ‚wie‘ Gott. Wie Gott zu sein bedeutet aber auch, auf den kleinen Menschen in sich herunterzuschauen. Die in Genesis 2 anfänglich aufgebaute Spannung bleibt also bestehen, sie hat lediglich ihren Austragungsort verlagert, sie wurde verinnerlicht. In gewisser Weise legen, ausgehend von dem Paradigma des Sündenfalls, große Teile der Rezeptionsgeschichte Zeugnis von einer Identifikation mit jenem Stadium ab, in dem ein noch kleines Ich von einem strengen Über-Ich gequält wird.30 Die traditionale Exegese schlägt sich dabei auf die Seite der strafenden Autorität, wenn sie das Verdikt der Sünde ausspricht, die allenfalls, so bei Hans-Peter Müller, als ‚tragisch‘ diskutiert wird.31 Gegenpositionen wiederum feiern den Triumph von Aufstand und Selbstermächtigung einer erstarkenden Ich-Instanz und paktieren gleichsam mit Eva und der Schlange. Die Nähe Evas zum Bösen, die der Mythos dabei aufbaut, ist auch in Zeiten des Feminismus schwerlich zu leugnen. Eva aber ist zugleich das entscheidende Movens einer Fortentwicklung. Sie ist nicht nur ein abgeleitetes anderes, sie ist nachgerade der Geist des Widerspruchs selbst, hervorgegangen aus bereits vorhandener komplexer Materie. In Gemeinschaft mit der Schlange ist sie das große Gegenüber Gottes, während Adam noch sohnhaft an dessen Seite steht. Ein schöpferisch Positives symbolisiert der Mythos männlich, ein Prinzip machtvoller Negation weiblich.32 Der Geschlechtlichkeit aber kommt im Mythos, an der Nahtstelle zwischen Einheit und Zweiheit, der Nimbus eines Geheimnisses zu. Sexualität lockt mit der Verheißung von großartiger Einheit und eröffnet einen Raum der Selbsterweiterung, so wie bereits Gilgamesch eine Selbsterhöhung bei der Dirne erlebt, die ihn ‚wie einen Gott‘ zu Tische führt.33 Aber die Sexualität wirft den

Verbotene Lust

Menschen auch auf seine bedürftige Triebnatur zurück. Rauschhaftem Allmachtserleben mischt Gott die Bitternis der Sorge um die Nachkommen bei. Der strafende Gott steht auch für ein Realitätsprinzip, das einem Lustprinzip feindlich gegenübersteht.34 Allerdings entlässt Gott seine Geschöpfe nicht in eine Welt der Mühen, ohne diesen zuvor schützende Kleider aus Fellen gemacht und angelegt zu haben. Hier trägt das väterliche Zornes-Drama die Züge eines umsorgenden, mütterlichen Abschieds. Neben väterlicher Härte steht weiblichschutzgebende Weichheit und Wärme. Folgen wir dem Mythos, wie er sich uns in der Paradieserzählung darbietet, gab es eine Zeit, in der der Mensch ohne eine Erfahrung des Mangels noch ganz in der Einheit lebte. In der Gegenwart der Erzählung ist dem Menschen der Wiedereintritt in ein solches Paradies verwehrt, und wir betrachten es gerne als verloren. Der Mythos selbst aber berichtet nirgends von einer Zerstörung. Vielmehr hüten Wächter dessen Eingang und markieren damit zuallererst eine Trennungslinie zwischen diesseitiger Realität und jenseitigem Paradies. Wo in Mythen allerdings Wächter und Tore aufgestellt werden, warten selbige immer auch darauf, von Berufenen überwunden und durchschritten zu werden.35 Im Paradies aber steht der Baum des Lebens, mit Früchten, die, als eine Art Antidot zum Baum der Erkenntnis, ewiges Leben schenken. Mit der Brechung des einen Tabus errichtete Gott wieder ein neues, eine neuerliche machtvolle Differenz zwischen Gott und Mensch und – eine neue Herausforderung in die Welt setzend. Ein selbstbewusster Dürer antwortet hierauf, indem er seinem Adam einen Zweig vom Baum des Lebens in die Hand gibt, der seine Signatur trägt.

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7.7 „Und Gott sah, dass es gut war“ Bindung und Freiheit im ersten Schöpfungsbericht

Über dem ersten Schöpfungsbericht (Gen 1,1–2,4a), der Erzählung von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen, liegt ein besonderer Zauber. Wir hören, wie Gott der Welt eine Struktur von Zeit und Raum gibt, wie er die Elemente, die Gestirne, die belebte Welt erschafft und allem Lebendigen aufträgt, sich fortzupflanzen und damit den göttlichen Schöpfungsakt fortzuführen. Wir hören, wie er immer wieder auf seine Schöpfung hinsieht, alles für gut befindend. Wir hören, wie er schließlich am siebten Tag ausruht von seinem Tun und diesen Tag segnet. In dieser abschließenden Ruhe rundet sich die Schöpfung zu einer Vollkommenheit, die jedoch in der nachfolgenden Paradieserzählung (Gen 2,4b ff.) alsbald zerstört werden wird. Denn nachdem Gott für den Menschen einen eingehegten Garten geschaffen hat, bricht darin ein verhängnisvoller Geist des Widerspruchs auf und die Welt zerfällt in Zwietracht. Die nun aufbrechende Dramatik steht unter den machtvollen Zeichen der Dualität von Gott und Teufel, Mann und Frau, Innen und Außen, Gut und Böse. Der erste Schöpfungsbericht aber vermittelt noch das Bild einer Welt, die mit sich selbst im Frieden ist. Die Welt als komplexe Vielheit ist geschaffen, aber noch ist alles gut, noch ist sie gänzlich aufgehoben im Blick ihres Schöpfers. Sechsmal heißt es im Text: „Gott sah, dass es gut war“ (1,4.10.12.18.21.25), beim siebten Mal am Ende des sechsten Tages heißt es „... und siehe, es war sehr gut“ (1,31). Wenn wir schließlich sechsmal gehört haben, dass im göttlichen Blick alles gut war, beim siebten Mal gar ‚sehr gut‘, dann haben wir bis dahin gelernt, genau hinzuhören, erwartend, was kommen wird, haben uns immer wieder bestätigt gesehen – und nehmen am Ende die kleine Differenz wahr. All diese Formeln hallen weiter in uns nach und werden zu einer inneren Stimme, die uns sagt, dass wirklich alles gut, vielleicht sogar ‚sehr gut‘ ist und dass wir gesehen und anerkannt werden. Ein eigentümliches Zögern mag den Leser dann vielleicht veranlassen, am Ende des ersten Schöpfungsberichts innezuhalten und das Weiterlesen noch für eine Weile auszusetzen, um in der Wirkungsmacht dieser Worte zu verweilen. Wie aber vermögen diese Zeilen uns, noch in Zeiten eines naturwissenschaftlich-rationalen Weltverhältnisses, auf wundersame Weise in ihren Bann zu ziehen? Vor allem zwei Momente sollen hier betrachtet werden, als Erstes der Blick Gottes, der wiederholt sieht, dass alles gut ist, und zum Zweiten Gott in der Ruhe, wie sie der siebte Schöpfungstag festschreibt

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(2,1–4a). Schauen wir als Erstes auf das mit der sogenannten Billigungsformel verbundene signifikante Element des göttlichen Sehens hin. Verbundenheit im Blick Gottes Der erste Schöpfungsbericht gibt, wie die gesamte Priesterschrift, die ihm wichtigen Botschaften in wiederkehrenden Formeln weiter. Das Sprechen und Sehen Gottes ereignen sich gleichsam in der Rhythmik organischer Natur. Von daher dürfen wir diesen Akten vertrauen, sie schwingen mit uns und wir mit ihnen. Dem göttlichen Sprechen, eingeleitet mit der Formel „Und Gott sprach“, folgt die Bestätigung des Vollzugs mit der Formel „Es geschah so“ und am Ende der Blick der Annahme in der Formel „Und Gott sah, dass es gut war“. Ob man nun den Schöpfungsbericht als eine ursprüngliche Texteinheit oder eher als Textschichtung begreift,1 in jedem Fall gilt, dass mit diesem sogenannten Wortbericht dem Textganzen eine eigene reflexive Struktur zukommt. Initiierendes Sprechen, Bestätigung des Vollzugs und schließlich der Blick der Annahme schaffen eine Aura von Distanz und eröffnen damit ein besonderes Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf. Während das babylonische Epos „Enuma elisch“ etwa einen Lobpreis des Schöpfergottes durch die anderen Götter kennt, verankert der Genesis-Text mit der Billigungsformel ein Moment der Anerkennung seitens des Schöpfergottes gegenüber seiner Schöpfung.2 Gottes Blick sieht hier ausdrücklich, dass alles gut ist.3 Dabei taucht die Formel schon auf, bevor Gott den Menschen geschaffen hat, aber Leser oder Hörer stellen schließlich von jeher einen Echoraum für die Worte des Textes dar, der auch im Text selbst präsent ist. Auch wenn der Mensch erst später geschaffen wird, so greift ein jedes „Und Gott sah, dass es gut war“ gleichsam vorweg auf den besonderen Akt der Schöpfung des Menschen, der immer schon im Erwartungshorizont des Rezipienten liegt. Er kann gar nicht anders, als eine jede Formel, die das Gute beschwört, im Hinblick auf den Akt zu lesen, mit dem er selbst in das Zentrum des Geschehens rückt und der schließlich mit einem „sehr gut“ hervorgehoben werden wird. Sprechen und Sehen Gottes tragen demnach immer schon ein menschliches Hinhören und Gesehenfühlen in sich. Auch vor der Erschaffung des Menschen in der Folge der Werke steht die Imagination derselben notwendigerweise im Raum. So gesehen, knüpft der göttliche Schöpfer mit seinem Blick ein Band zwischen sich und einer noch jungen Schöpfung, einer Schöpfung, die aus bedeutsamen Akten der Trennung hervorgeht. Trennung und Sonderung beziehen sich dabei zunächst auf die Elemente, die voneinander geschieden werden, so das Licht von der Finsternis und das Wasser von der Erde. Diese grundlegenden Differenzierungs- und Strukturierungsprozesse werden dann weiter ausgefaltet in der Schaffung pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebens in

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großer Vielfalt, „ein jedes nach seiner Art“, wie es heißt. Alles Lebendige erhält da­raufhin den Auftrag zur Fortpflanzung, und alles Lebendige erhält seine ihm zukommenden Nahrungsressourcen. Aus der bloßen Sonderung ist somit ein komplexes, ineinander verwobenes Schöpfungswerk hervorgegangen, das sich mittels eines prozessualen Kreislaufs auf überraschende Weise selbst zu tragen und zu erneuern vermag. Dank einer ihr inhärenten Triebstruktur ist die Weltenschöpfung, salopp gesagt, ein Selbstläufer, der sich in fortdauernder Unruhe selbst erneuert. Das wiederum befindet Gott am sechsten Tag in seiner Schau für „sehr gut“. Damit ist ein Moment der Trennung aber nicht nur in der ordnenden Sonderung der Elemente zu finden und in einer Art evolutionärer Zellteilung, die eine überraschende Formenvielfalt hervorbringt, sondern nicht minder in einer grundlegenden Trennung von Schöpfer und Geschöpf. Der Schöpfer hat seine Geschöpfe gleichsam aus sich heraus entlassen und freigesetzt, auf dass sie ohne seine initiierende Ansprache weiterleben. Er hat sein Werk vollendet – oder anders gewendet: Die Schöpfung bedarf ihres Schöpfers nicht mehr. Führen wir uns dergestalt den Schöpfungsakt auch als einen radikalen Trennungsakt vor Augen, dann gewinnt der Blick Gottes als ein Medium haltender Verbindung noch einmal seine besondere Bedeutung. Indem Gott seine Geschöpfe anblickt, bestätigt er ihre Existenz als eine von vorneherein ‚gute‘. Väterliche Gebote und Leistungserwartungen sind noch nicht existent, der erste Blick Elohims, des erhabenen Gottes der Priesterschrift, auf die Welt ist hier noch ein fast mütterlicher Blick, der das Leben ohne Einschränkung würdigend annimmt. Der Leser aber, den die Mühen seines Alltags spüren lassen, dass er aus dem Paradies vertrieben wurde, darf noch einmal einen regressiven Raum der Geborgenheit betreten. Dieser Raum ist bereits von Licht erfüllt, in ihm herrscht kein bedrohliches Chaos mehr, sondern Ordnung. In ihm hat er bereits ein eigenständiges Bewusstsein errungen – ist aber gleichwohl noch ganz bei Gott, noch ganz hineingestellt in das Staunen des Lebens über sich selbst. Er darf sich gesehen fühlen von einem Gott, der weiß, dass alles gut ist. Jenseits allen Leidens in dieser Welt eröffnen die Worte der Formel einen großartigen Raum des Aufgehobenseins für diejenigen, die sich neuerlich als Geschöpfe Gottes anzunehmen bereit sind. Dabei lässt sich die biblische Vorstellung vom Gesehenwerden durch das Auge Gottes durchaus in der modernen Einschätzung einer grundlegenden Bedeutung des Blicks des anderen für Prozesse der Identitätsbildung wiederfinden.4 Das Kleinkind, noch bevor es sich selbst propriozeptiv als Ganzheit spüren kann, baut gemäß der Theorie des Spiegelstadiums5 Identität und Selbstgefühl uranfänglich über das Bild des anderen von sich selbst auf. Es bedarf der Spiegelung im Auge eines Gegenübers, um sich allererst darin als herausgehobene Einheit erfahren zu können. Auf dem Wege der Identifizierung mit

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diesem Bild des anderen von sich selbst baut es dann Stück für Stück einen eigenen Identitätsentwurf auf. Dieser Entwurf, der Getrenntheit integriert, kann aber nur auf der Basis der Erfahrung von Verbundenheit geleistet werden, die sich wesentlich im Austausch der Blicke herstellt. Im Blick des anderen erfährt das Kind eine grundlegende Bestätigung seiner eigenen Existenz durch die Außenwelt, die es dann wieder in sich hineinnehmen kann. Dieser uranfängliche Blick, der uns sagt „Du bist da“ trägt ebenso die Botschaft in sich „Es ist gut, dass du da bist“, während der spätere paradiesische Sündenfall, um wieder auf den Bibeltext zurückzukommen, sich in einer Heimlichkeit ereignet, die einem göttlichen Blick, der zwischenzeitlich zu einem Blick der Kontrolle geworden ist, ausweicht. Selbstbestätigung und Verbundenheit einerseits, Flucht und Kontrolle andererseits liegen demnach, wie schon der Mythos lehrt, nahe beieinander. Im Kern dieser psychologischen Perspektiven aber steht die Einsicht, dass es für den Menschen keine autonome Selbstschöpfung gibt. Wir existieren nicht aus uns heraus, sondern nur durch den anderen, der uns Wechselprozesse von Identifikation und Projektion, Externalisierung und Internalisierung ermöglicht.6 Auch in einem säkularisierten Weltbild gibt es also einen Schöpfer außerhalb unserer selbst, den bedeutenden anderen.7 Literaturwissenschaftler reden gerne von dem Identifikationsangebot eines Textes, und nach Maßgabe einer Dualität von Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf finden wir uns fürs Erste auf der Seite der Geschöpfe wieder. Allerdings trifft dies nur die eine Seite des anzitierten Vorstellungsraums. Denn schließlich spricht der Text nicht nur von einem göttlichen Schöpfer, sondern legt darüber hinaus kraft seiner Existenz Zeugnis davon ab, dass auch hinter ihm ein Autor, sprich: Schöpfer, steht. Lesend vollziehen wir dessen Schöpfungsakt nach, dabei selbst, sowohl im emotionalen Berührtsein wie in der hermeneutischen Anstrengung, zum Mitschöpfer werdend. Erst im teilnehmenden Hören und Lesen wird das gesprochene und geschriebene Wort zu einem lebendigen Wort, wie es eine breite mystische Tradition immer wieder betont.8 Der Zauber des ersten Schöpfungsberichts liegt also auch darin, dass wir uns zugleich in unserer Gotteskindschaft und in der Dignität und Handlungsmacht eines Schöpfers gespiegelt sehen, die beide eng aufeinander bezogen sind. Der Schöpfergott aber, so die Schrift, unterbricht die Unruhe seines Wirkens, er ruhte am siebten Tag der Schöpfung aus von seinen Werken und segnete diesen Tag als einen heiligen Tag (2,1–4a). Schauen wir also nach der Besonderheit des göttlichen Blicks auf diese Besonderheit der göttlichen Ruhe hin.

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Bewusstsein in der Ruhe Gottes Vom ersten bis zum sechsten Tag der Schöpfung hatte es sechsmal geheißen, dass aus Abend und Morgen ein neuer Tag ward. Die festgefügte Folge von Abend und Morgen legt dabei die Vorstellung der dazwischenliegenden Nacht nahe, in der Schöpfer und Schöpfung jeweils zur Ruhe kommen. Der Tag mit seinem Licht gehört der Arbeit und die Dunkelheit der Nacht der Ruhe; Gottes Schöpfungswerk vollzieht sich demnach im Einklang mit dem Rhythmus der Natur. Der siebte Schöpfungstag aber ist nicht mehr nur Teil eines natürlichen Rhythmus, der unmittelbar sinnlich erfahrbar ist, sondern mehr als das: Er ist im Rahmen israelitischer Zeitrechnung markierende Setzung. Diese Setzung ordnet sich zwar dem Tag-und-Nacht-Rhythmus unter, stellt sich aber auch zugleich darüber. Sie schöpft gleichsam die Spannung, die das Licht des Tages mit sich bringt, ab, um diese Energie von der Unruhe auf die Ruhe umzulenken, von der Arbeit auf die Feier, vom Tun auf das Nicht-Tun. Was aber geschieht in diesem Nicht-Tun? Dreimal ist im letzten Absatz des Schöpfungsberichts von den Werken, die Gott machte, die Rede: 2 Und so vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. 3 Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte. (Gen 2,2–3)9

Der Text blickt zurück und zitiert den zurückliegenden Schöpfungsakt mehrfach. Auf bedeutsame Weise scheint die Ruhe nun den Raum freizugeben für ein Abbild des Schöpfungsaktes im Inneren Gottes, am siebten Tag können die vorherigen sechs Schöpfungstage gleichsam resümiert werden. Vorab hatte Gott die Tiere des Wassers und der Luft (1,22) und später den Menschen (1,28) gesegnet und damit den Auftrag zur Fruchtbarkeit verbunden. Jetzt segnet er, nunmehr ohne Ansprache an ein Geschöpf, den Tag, an dem er ruht und damit – in einem reflexiven Gestus gleichsam sich selbst. In der aktualisierten LutherÜbersetzung heißt es, ich wiederhole noch einmal: „Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte.“10 Der angehängte Relativsatz erhält dabei eine besondere Betonung durch die Wiederaufnahme des Namens Gottes und die auffällige Besonderheit zweier Verben in der Bedeutung von ‚machen‘ in diesem Satzteil, einmal im Infinitiv, einmal im Präteritum. Buber wählt hier eine Partizipialkonstruktion und übersetzt „... denn an ihm feierte er von all seiner Arbeit, die machend Gott schuf“.11 Mit dieser signifikanten Doppelung ordnet der Text dem zurückliegenden Handeln Gottes also eine herausragende

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Bedeutung zu und spricht damit gleichzeitig mit dem Bericht von Gottes Segen über die Ruhe implizit seinen Segen über das Schöpfungswerk aus. Ruhe und Schöpfung, Feiern und Machen werden im letzten Absatz derart ineinander verschränkt, dass eines auf das andere verweist und eines das andere aufwertet. Die vormaligen Segen über die Lebewesen galten ihrer Mehrung und Fortpflanzung, der Segen über den siebten Tag gilt der göttlichen Ruhe. Die Polarität der Schöpfung, die anfänglich in der Scheidung von Licht und Finsternis begründet wurde, findet nunmehr ihre abstrahierende Entsprechung in der Gegenüberstellung von Unruhe und Ruhe. Während sich in der Unruhe das Begehren der Schöpfung manifestiert, tritt der Schöpfer in der Ruhe des Bewusstseins gleichsam von diesem zurück. Das eine schließt das andere stets aus, wie Tag und Nacht einander ausschließen, aber beide verweisen aufeinander. Begehren und Bewusstsein bilden zwei Pole der Schöpfung, nicht anders als Licht und Finsternis. Im Innehalten kommt das Bewusstsein zu sich selbst, um sich erneut wieder aufzugeben im Fluss des Lebens. Mit dem Siebentagezyklus und der Einführung des siebten Tages als Ruhetag wird dem Schöpfungsmythos, der sich primär auf eine Abfolge der Schöpfungswerke gründet, eine zweite, eminent aussagekräftige Dimension verliehen: die einer Reflexivierung des ganzen Schöpfungsgeschehens. Die Zusammenführung des mythischen Stoffs und seiner archaischen Formelsprache mit der israelitischen Siebentagegliederung wird dabei zu einer ästhetischen Einheit von hohem Rang verschmolzen, an deren Ende nicht nur die Welt erschaffen ist, sondern mit ihr ein personal konturierter Gott in die Geschichte eintritt. Grundgelegt ist dieser Prozess bereits im Sprechen und Sehen Gottes, die für eine Distanzierung stehen, die Beziehung ermöglicht. Gott und die Welt, der Schöpfer und sein Geschöpf sind nach Maßgabe eines wechselseitigen Echoverhältnisses miteinander verbunden und aufeinander bezogen. Sie bringen sich gleichsam wechselseitig hervor, in einem offenen Prozess von Bildgebungen und Verinnerlichung. Dieser Prozess ist auch auf den Leser hin offen. Gott schafft den Menschen nach seinem Bilde, aber der Text liefert nicht minder ein Bild, das der Mensch sich von seinem Gott schafft. Schöpfung vollzieht sich in den Zeilen des ersten Schöpfungsberichtes als Sprechakt, als Symbolisierung, welche eine vorbewusste Wirklichkeit neu erschafft, indem sie sie ins Bewusstsein hebt. Dieser Schöpfungsakt vollzieht sich gleichsam in jedem Sprechen durch jeden Sprecher neu, wobei das Bild, das sich der Mensch sprechend und schreibend von seinem Gott macht, ihm im allerweitesten Sinne ein Vor-bild ist.12 Indem der Mensch Gott denkt, entwirft er einen Möglichkeitsraum, den er über sich selbst hinaus öffnet. In diesen Möglichkeitsraum hinein setzt der erste Schöpfungsbericht nach einer Abfolge von sechs Schöpfungstagen mit acht Werken abschließend den

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besonderen siebten Schöpfungstag. Am siebten Tag wird eine äußere Bewegung angehalten und quasi nach innen umgelenkt. In der Ruhe setzt sich, so möchte man meinen, der materielle Schöpfungsakt in einen seelischen fort, in dem das Vollzogene nachlebt und der Schöpfer noch einmal die geschaffene Fülle als eine innere einsammelt. Neben einem komplexen äußeren Kosmos entsteht ein personaler Innenraum, der zur Selbsterkenntnis befähigt. Gott, der immer wieder billigend und bestätigend auf die Welt hingeschaut hatte, findet am Ende des Schöpfungsaktes in einem Moment der Distanznahme gleichsam zur Erkenntnis seiner selbst. Aus dem anfänglichen „Geist Gottes“, der auf dem Wasser schwebte, ist nicht nur die äußere Welt, sondern zugleich mit dieser ein personaler Gott erwachsen, dem eine grundsätzliche Freiheit zukommt. Gottes Innehalten am letzten Tag der Schöpfung unterbricht in signifikanter Weise eine Welle schöpferischen Tuns beziehungsweise eine der Schöpfung innewohnende Triebbewegung. Denn der Schöpfergott, das offenbart dieser besondere Tag, steht in der grundlegenden Freiheit zu wirken oder nicht zu wirken. Eins mit seiner Schöpfung ist er dennoch in der Lage, hinter diese zurückzutreten. Am siebten Schöpfungstag schaut Gott auf eine Welt, in der nicht das Licht die Finsternis verdrängt hat, sondern in der das Licht neben der Finsternis existiert, der Tag neben der Nacht. Er schaut nicht auf eine Welt, in der die Fülle die Leere verdrängt hat, sondern er tritt selbst wieder zurück in den Schatten, um auf die lichte Fülle zu schauen. Gott erschafft die Welt und Gott lässt die Welt wieder. Die schöpferische Einheit der Gegensätze Auf diese dialektische Bewegung projiziert Meister Eckhart in seinem lateinischen Genesis-Kommentar seinen eigenen Denkansatz. Für den siebten Schöpfungstag spricht er von dem Schweigen Gottes und davon, dass sich in diesem Nicht-Sprechen Beständigkeit und Festigkeit herstelle,13 „denn er [Gott] schuf nicht und ging weg“, wie Eckhart sagt.14 Dieses Kontinuität verbürgende Nicht-Tun ist aber aus der Perspektive Eckharts zugleich ein ewiges Tätigsein. Im Aufhören höre Gott doch nicht auf und im Tätigsein ruhe er dennoch.15 Dem entspricht wiederum Eckharts Konzept einer inneren Abgeschiedenheit, wie er es in seinen deutschen Schriften entwickelt.16 Darin ist der Mensch mehr bei den Dingen als in den Dingen, er geht, mitten im Leben stehend, seinen Werken nach, ohne sich in diesen zu verlieren. Eine innere Abgeschiedenheit lässt ihn vielmehr stets bei sich selbst und damit bei Gott verweilen. Eckhart konturiert hier ein Moment innerer Distanz gegenüber einer sich im Außen verlierenden Triebbewegung, und diese gebändigte Bewegung beziehungsweise tätige Ruhe verlegt Eckhart auch in das Wirken Gottes. Unruhe und Ruhe fallen in der einen göttlichen Gegenwart zusammen, denn Gottes Bewusstsein

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vermag stets beide Pole des Daseins zu umfassen. Er ist ungebunden, ledic und vrî, wie Eckhart immer wieder sagt – und eben darin findet die Schöpfung ihren bindenden Halt. Gott, Schöpfer und Schöpfung sind in der Spekulation Eckharts in einem ewigen Anfangen eins, in dem es keine hierarchische Abhängigkeit gibt. Damit wird die Vorstellung einer Linearität von Ursache und Wirkung unterlaufen, in der ein Folgendes von einem Vorhergehenden abhängt, um die Betonung auf eine schöpferische Gegenwart zu lenken, die in göttlicher Freiheit stets alle Möglichkeiten in sich birgt. In diesem Anfang durchdringen sich vorgeburtlicher Möglichkeitsraum und geborene Gestalt und öffnen sich permanent aufeinander hin. Das Geborene taucht in der Ruhe wieder ein in das Ungeborene, und die Form trennt sich in der Unruhe aus dem Ungeformten. Alle Schöpfungstage sind in diesem schöpferischen Anfang gleichzeitig präsent. Schöpfung ist für Eckhart ewiger Anfang und ewige Gegenwart.17 In der Schöpfungsgeschichte wird eine solche grundsätzliche Offenheit des gesamten Schöpfungsgeschehens dadurch hergestellt, dass der dreimal ausgesprochene Segen jeweils auf Dauer zielt. Wenn der Segen Gottes zweimal dem Fortpflanzungsauftrag der lebenden Schöpfung galt, dann trägt auch der letzte Segen über den Tag der Ruhe implizit einen Fortpflanzungs- beziehungsweise Fortführungsauftrag in sich.18 Gott, der an diesem letzten Tag seine Schöpfung lässt, gibt noch dieses Lassen segnend weiter als ein in alle Zukunft zu Lassendes. Neben dem der Schöpfung beigegebenen Fortpflanzungs- und Selbsterhaltungstrieb, der den Fortbestand des Lebens sichert, tritt damit als struktureller Gegensatz ein bewusstes Innehalten. Dabei hält Gott nicht etwa die Schöpfung an, sondern er hält sich selbst an. Genau in diesem Moment ist beides präsent: die Bewegung der Schöpfung und die Ruhe des Bewusstseins. Ich fasse zusammen. Der erste Schöpfungsbericht entwirft einen enormen Spannungsbogen. Zunächst führen die einzelnen Schöpfungsakte immer wieder Trennungen auf, kosmische Ordnung entsteht als Differenzierungsleistung. Diese in kosmische Weiten ausgreifenden Entfaltungen von Vielheit werden jedoch gehalten von einem göttlichen Blick, der ihre Einheit wahrt. Der göttliche Blick ist gleichsam das Bindeglied, in dem alle Schöpfung aufeinander bezogen bleibt und in dem sie zugleich ein haltendes Gegenüber findet. Er ist der zentrale Fokus einer Schöpfung, die sich nicht im Unendlichen verliert, sondern auf ihren göttlichen Ursprung bezogen bleibt. Dabei vermag Gottes Blick die Unvollkommenheit der Schöpfung als Bedingung ihrer Vollkommenheit zu erfassen. Er befindet für gut, dass sich die Schöpfung im Gebären und Zerstören, im Leben und Sterben, angetrieben von ihrem Ungenügen an sich selbst, fortwährend selbst erneuert.

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Im Aussetzen äußerer Aktivität, in der Ruhe des siebten Tages, aber geht der Blick Gottes gleichsam nach innen. In diesem wird der Schöpfer sich seiner selbst und seines Tuns bewusst, indem er seine Geschöpfe ‚sein‘ lässt. Zugleich gilt sein Segen jetzt nicht mehr der Fruchtbarkeit und Fortpflanzung seiner Geschöpfe, sondern dem Innehalten in der Bewegung derselben. In diesem Innehalten tritt der Schöpfer gleichsam heraus aus der Schöpfung, um auf sie verweisen zu können. Das sich selbst genügende göttliche Bewusstsein stellt sich neben die ruhelose Bewegung der Schöpfung. Dem Leser gibt der erste Schöpfungsbericht damit Antwort auf zwei Grundbedürfnisse menschlicher Existenz. Zum einen nimmt er ihn auf der Ebene der Geschöpflichkeit in eine basale Geborgenheit hinein. Der Leser darf sich und der Welt vertrauen, weil diese in Gott gehalten ist. Zum anderen lässt der Text ihn aber auch teilhaben an der Schöpferkraft Gottes und dessen grundsätzlicher Freiheit und lädt den Leser auf diese Weise gleichsam mit einer doppelten Lebensenergie auf, ihm zugleich Wurzeln und Schwingen verleihend. So wie wir Gott am Ursprung des Lebens als dessen Quellgrund imaginieren, tritt hier der Text selbst in die Funktion einer großartigen Inspirationsquelle.

Anmerkungen Einleitung

1  Einen jüngeren Überblick zur Emotionsgeschichte liefert: Jan Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012. Exemplarisch für zahlreiche mediävistische Sammelwerke seien einige jüngere Veröffentlichungen genannt: Emotionen in Mittelalter und Renaissance, hg. von Christoph Kann, Düsseldorf 2014 (Studia Humaniora 44); Passiones animae. Die ‚Leidenschaften der Seele‘ in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie. Ein Handbuch, hg. von Christian Schäfer und Martin Thurner, 2. Aufl., Berlin 2013 (2010) (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie 53); Machtvolle Gefühle, hg. von Ingrid Kasten, Berlin 2010; Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 14 (2009), H. 1: ‚Furor, zorn, irance‘. Interdisziplinäre Sichtweisen auf mittelalterliche Emotionen, hg. von Bele Freudenberg. 2  Folgende Monographien erschienen unter meinem vormaligen Namen: Irmgard Gephart, Der Zorn der Nibelungen. Rivalität und Rache im ‚Nibelungenlied‘, Köln, Weimar, Wien 2005 und Irmgard Gephart, Das Unbehagen des Helden. Schuld und Scham in Hartmanns von Aue ‚Erec‘, Frankfurt a. M. u. a. 2005. 3  Diese Polarität setzt etwa die Illustration zu Konrad von Altstetten in der Manessischen Liederhandschrift subtil und hintersinnig ins Bild. Das Liebespaar präsentiert sich in entspannt-zärtlicher Pose, während der Falke auf der Hand des Mannes, ganz gefräßiger Raubvogel, ein rohes Stück Fleisch verschlingt. Nicht von ungefähr verkörpert dem Mittelalter die Falknerei die ästhetische Verbindung von animalischem Trieb und gelungener Triebzähmung und gilt eine gleichnishafte Verwandtschaft von Falkenjagd und Liebesjagd. 4  Den unterschiedlichen Entstehungskontexten geschuldet, verfügen die Aufsätze zum Teil über einen Anmerkungsapparat, zum Teil über ein angehängtes Literaturverzeichnis. Die Anmerkungen finden sich mit je eigener Zählung am Ende des Buches versammelt, die Literaturverzeichnisse stehen jeweils bei den einzelnen Aufsätzen.

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Scham und Begehren: Hartmann von Aue

1.1 Das Abenteuer der Scham und ein ‚verdachter‘ Held 1.2 Enite und die Pferde

1  Hartmann von Aue, Erec, hg. von Albert Leitzmann, fortgef. von Ludwig Wolff, 6. Aufl. bes. von Christoph Cormeau u. Kurt Gärtner, Tübingen 1985 (Altdeutsche Textbibliothek 39). Übersetzungen im Folgenden nach: Hartmann von Aue, Erec. Mittelhochdt. Text und Übertr. von Thomas Cramer, Frankfurt a. M. 1995. 2  So ist schon bei Homer die enge Verbindung von Ross und Reiter elementarer Bestandteil seiner Dichtung, wo Pferde mitunter gar menschliche Gefühle zeigen. Vgl. auch Udo Friedrich, „Der Ritter und sein Pferd. Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im Mittelalter“, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450, hg. von Ursula Peters, Stuttgart, Weimar 2001 (DFG Symposion ... 2000) (Germanistische Symposien-Berichtsbände 23), S. 245–267. Friedrich arbeitet vor allem gegensätzliche Zuschreibungen heraus, wonach

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Anmerkungen: Enite und die Pferde

die mittelalterliche Theologie das Bild von Ross und Reiter als Exemplum ethischer Selbstbeherrschung in Anspruch nimmt, der Feudaladel hingegen die Wildheit des Pferdes als feudale Qualität positiv besetzt. 3  Anders Manfred Günter Scholz, „Der hövesche got und der Sælden wec. Zwei ‚Erec‘-Konjekturen und ihre Folgen“, in: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, hg. von Christoph Huber, Burghart Wachinger u. Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 2000, S. 135–151: „Das Pferd und Enite, das ist eine Partnerschaft, die im Zeichen der ‚senftekeit‘ steht, eine Partnerschaft, die sich von Anfang an bewährt“ (136). 4  In antiker Tradition stehend trifft dies vor allem auf Parzival und Gawan bei Wolfram von Eschenbach zu, deren Pferde auch Namen tragen. In Hartmanns ‚Erec‘ trägt nur das Pferd Gaweins, Wintwalite, einen Namen. 5  Chrétien de Troyes, Erec et Enide, Erec und Enide, Altfranzösisch/Deutsch, übers. und hg. von Albert Gier, Stuttgart 1987. 6  Gertrud Jaron Lewis (Das Tier und seine dichterische Funktion in Erec, Iwein, Parzival und Tristan, Bern u. a. 1974) hat die Verwendung dieser Termini im ‚Erec‘ untersucht und bestätigt bis auf eher unspezifische Ausnahmen die obige Differenzierung (S. 15/16). 7  Eine geschlechtsspezifische Zuordnung von ‚Pferdemodellen‘ nimmt auch Ingrid Bennewitz zum Ausgangspunkt ihrer Enite-Deutung: I. B., „Die Pferde der Enite“, in: Literarische Leben, Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters, Fs. für Volker Mertens zum 65. Geb., hg. von Matthias Meyer u. Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, S. 1–17, hier 7. 8  Vgl. Peter William Hurst, “Enite’s Dominion over the Horses. Notes on the Coalescence of Platonic and Hagiographic Elements in an Episode from Hartmann’s Erec”, Medium Aevum 63 (1994), S. 211–221. Hurst weist mit Bezug auf diverse zeitgenössische Quellen nach, dass diese von Hartmann neu eingefügte Episode den hagiographischen Topos der friedlichen bzw. freundschaftlichen Koexistenz eines Heiligen mit wilden Tieren an einem gesellschaftsfernen Ort aufnimmt (S. 215/216). Dabei komme es Hartmann auf die Einspielung eines christlichplatonischen Gedankenguts in die Form des Artusromans an, und zwar in der Darstellung der Notwendigkeit einer inneren Wandlung und Reifung Enites vor ihrer zukünftigen neuerlichen Wahrnehmung königlicher Würden und Pflichten (S. 218). Das Szenarium gebe damit den inneren Kampf Enites um die Befreiung von einem triebgeleiteten Chaos in Karnant und die Wiedererringung einer neuen Ordnung zu erkennen (S. 214). In ihrer vorübergehenden Harmonie verweise die Szene ferner vorausdeutend auf das spätere Zusammenleben des Paares (S.  217). Hurst möchte von daher Hartmanns Verwendung des hagiographischen Topos weniger als bloße Entlehnung denn als kreative Erneuerung verstanden wissen (S. 218). 9  Vgl. hierzu Beate Ackermann-Arlt, Das Pferd und seine epische Funktion im mittelhochdeutschen ‚Prosa-Lancelot‘, Berlin u. a. 1990, Vorbem. u. Einl. Zur spezifisch mittelalterlichen Allegorese von Pferd und Reiter für die ‚militia christiana‘ s. Andreas Wang, Der ‚Miles Christianus‘ im 16. und 17. Jahrhundert und seine mittelalterliche Tradition. Ein Beitrag zum Verhältnis von sprachlicher und graphischer Bildlichkeit, Bern, Frankfurt a. M. 1975 (Mikrokosmos 1): „Der Antagonismus von Geist und Körper oder doch die Beherrschung des Körpers durch den Geist findet seinen adäquaten Ausdruck in dem Bild vom Pferd und Reiter und wird damit für das Mittelalter zu einer, gegen die Epheser-Vorlage zwar neuen, aber gleichwohl verlässlichen Aussage der ‚militia christiana‘. Denn wenn oben festgestellt werden musste, dass zwar ‚caro‘ in die Gruppe der Feinde aufgenommen worden ist, aber eine ‚res‘ für die Vernichtung der ‚caro‘ nicht aus der Waffenallegorese zur Verfügung gestanden hat, so kann jetzt korrigierend ergänzt wer-

Anmerkungen: Enite und die Pferde

den, dass das Mittelalter sich diese ‚res‘ schafft, indem sie das Pferd des Ritters in die Allegorese hineinnimmt“ (129). 10  Zur Veranschaulichung der Beziehung von ‚Es‘ und ‚Ich‘ im Rahmen seines seelischen Schichtenmodells führt auch Sigmund Freud ein Pferdegleichnis an: „Man könnte das Verhältnis des Ichs zum Es mit dem des Reiters zu seinem Pferd vergleichen. Das Pferd gibt die Energie für die Lokomotion her, der Reiter hat das Vorrecht, das Ziel zu bestimmen, die Bewegung des starken Tieres zu leiten“: S. F., Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1932), in: S. F., Gesammelte Werke, Bd. 15, Frankfurt a. M. 1999, S. 1–208, hier 83. 11  Platon, Sämtliche Werke, nach der Übers. v. Friedrich Schleiermacher hg. von Walter F. Otto u. a., Bd. 4, Hamburg 1991, S. 27/28, 34/35: Phaidros 246 a; 247 c; 253 d–254 e. 12  Platon wird gerne im Hinblick auf seine Negativeinschätzung der Affekte benannt, die, im sterblichen Teil der Seele verortet, eine Gefahr für den Höherstrebenden darstellten (vgl. u. a. Timaios 69 c, d). Dass allerdings schon bei Platon die Grundlagen einer Affektenlehre zu finden sind und der Gegensatz von Affekt und Vernunft relativierbar ist, macht Knut Eming („Die Unvernunft des Begehrens. Platon über den Gegensatz von Vernunft und Affekt“, in: Affekte, hg. von Stefan Hübsch u. Dominic Kaegi, Heidelberg 1999, S. 11–32) zum Gegenstand seiner Abhandlung: „Zwischen dem Begehren und der Vernunft kann es einen Zusammenhang der Fortsetzung derart geben, dass die Vernunft die Mächtigkeit der Affekte auf ihr gemäße Ziele lenkt, wodurch gerade die Affektivität für die Wirklichkeit des Guten zur Voraussetzung wird“ (31). 13  Georges Duby (Die Frau ohne Stimme, Liebe und Ehe im Mittelalter, Frankfurt a. M. 1995) etwa spricht in diesem Zusammenhang von einem „Erziehungsspiel“ (S. 83) und einer „pädagogischen Prüfung“ (S. 84), deren Wert er freilich einseitig auf Seiten der Männer verortet, „damit der junge Mann durch die fortgesetzte Versuchung und Gefahr lernen konnte, sich zu beherrschen und seinen Körper zu kontrollieren“ (S. 84), wohingegen „die Frauen weiterhin zugleich gefürchtet, verachtet und rigoros unterdrückt wurden, was übrigens die Literatur der höfischen Gesellschaft an erster Stelle beweist“ (S. 85). 14  Im Übrigen sind die Körperkontakte zwischen Erec und Enite generell minimiert, Szenen einer scheuen Zärtlichkeit, wie sie bei Chrétien zu finden sind (Verse 445, 470 ff., 709 ff.), hat Hartmann fallen gelassen. 15  Vgl. hierzu Rosemary Combridge, The Use of Biblical and Other Learned Symbolism in the Narrative Works of Hartmann von Aue, in: Hartmann von Aue. Changing Perspectives, London Hartmann Symposium 1985, ed. by Timothy McFarland and Silvia Ranawake, Göppingen 1988 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 486), S. 271–284. R. Combridge geht von einer doppelten symbolischen Zuschreibung für die Pferde im ‚Erec‘ zwischen Gut und Böse als dem ,faithful animal‘ einerseits und dem ,leacherous beast‘ andererseits aus, wofür sie mehrere Zeugen mittelalterlich-antiker Philosophie von Aristoteles über Konrad von Megenburg bis zu Hugo von St. Victor anführt (S. 272). Meine Beobachtung einer grundsätzlichen Ambivalenz sehe ich bei R. Combridge bestätigt, kann ihr aber nicht in ihrer These folgen, dass Hartmann mit einer Steigerung von ,faithfulness‘ auf eine Unterstellung von ,wantonness‘ gegenüber Enite seitens Erecs antwortet. Der Charakter einer grundsätzlichen Ambivalenz der Pferde reicht m.  E. strukturell über den Gegensatz zwischen den Pferden der Knechtschaft einerseits und den idealen Pferden als Geschenk andererseits hinaus und erschöpft sich nicht in einer bloßen Abbildfunktion für Enite. 16  Vgl. Gertrud Jaron Lewis (wie Anm. 6), S. 15/16. 17  Vgl. u. a. Erich Köhler, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik, 2., erg. Aufl., Tübingen 1970, S. 144 ff.

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Anmerkungen: Enite und die Pferde

18  Mit den Attributen des Pferdes, seinen Farben, seiner Gestalt, seiner Herkunft und seiner Ausrüstung ist überdies eine weitere Symbolebene verbunden, die in der Literatur eine detaillierte Ausdeutung erfahren hat. Vgl. vor allem: Petrus W. Tax, Studien zum Symbolischen in Hartmanns Erec, ZfdPh 82 (1963), S. 29–44 und Heimo Reinitzer, Über Beispielfiguren im Erec, DV js 50 (1976), S. 597–639, hier 615 ff. 19  Vgl. Ingrid Bennewitz (wie Anm. 7), S. 13/14.

1.3 Die Anerkennung des Begehrens

1  Ich zitiere im Folgenden nach: Hartmann von Aue, Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein, hg. u. übers. von Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6). 2  Eine Dichotomie zwischen heidnischer und christlicher Motivik betont: Winder McConnell, Sacrificium in Hartmann von Aue’s Der arme Heinrich, in: Neuphilologische Mitteilungen 84 (1983), S. 261–268. Die Geschichte basiere auf der Akzeptanz des Blutopfers als Heilungsweg durch den Leser und sei von daher primär als nicht theologisches Werk zu lesen. Neil Thomas hingegen liest aus dem Text eine christliche Kritik an dem Blutopferschema heraus: N.  Th., Hartmann’s ‘Der arme Heinrich’. Narrative Model and Ethical Implication, in: The Modern Language Review 90 (1995), S.  935–943. Der Text führe Heinrich als moralisch defizitär vor, wenn er die Möglichkeit des Mädchenopfers nicht von vorneherein ablehne, er beinhalte eine Kritik magischen Denkens. Hartmanns Heilungsweg dokumentiere eine moralische Entwicklung. 3  Eine Schuld Heinrichs für die Zeit vor seiner Erkrankung existiert zwar nur in seiner Selbstdeutung, spätestens seine auffällige moralische Bedenkenlosigkeit in Bezug auf die Annahme des weiblichen Opfers dürfte ihm jedoch eine solche anlasten. Dass sein Abstehen von diesem Vorhaben dann seine Heilung als einen Gnadenakt Gottes mit sich bringt, fügt sich in einen christlichen Heilshorizont. Vor diesem Hintergrund gibt allenfalls die Bewertung der Tatsache, dass das Mädchen so heftig den eigenen Tod begehrt, ein Problem auf. Als eine neuere Auseinandersetzung mit der Rolle des Mädchens nenne ich exemplarisch: Carsten Kottmann, Amor und Caritas. Zur Rolle des Mädchens im ‚Armen Heinrich‘, in: Leuvense bijdragen 88 (1999), S. 305–322. Einen interessanten Vergleich der A- und B-Fassung legt Hans-Jochen Schiewer vor: H.-J. Sch., Acht oder Zwölf. Die Rolle der Meierstochter im ‚Armen Heinrich‘ Hartmanns von Aue, in: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag, hg. von Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, S. 649–665. Schiewer vertritt die These, dass die B-Fassung, die keine Hochzeit der Protagonisten kennt, die Meierstochter in Anlehnung an einen konventionellen Erwartungshorizont stärker als Semi-Religiose profiliere. 4  So steht etwa für Kurt Ruh die Nacktheit des Mädchens für Reinheit und Unschuld: K. R., Hartmanns ‚Armer Heinrich‘. Erzählmodell und theologische Implikation (1971), in: K. R., Kleine Schriften, Bd. 1. Dichtung des Hoch- und Spätmittelalters, hg. von Volker Mertens, Berlin, New York 1984, S.  23–37, hier S.  33. Ein jüngeres Beispiel einer allegorischen Auslegung findet sich u.  a. bei: Albrecht Classen, Herz und Seele in Hartmanns von Aue „Der arme Heinrich“. Der mittelalterliche Dichter als Psychologe?, in: Mediaevistik 14 (2001), S. 7–30. Das nackte Mädchen steht bei Classen für die Nacktheit, Hilflosigkeit und Schutzbedürftigkeit der menschlichen Seele (S. 25). 5  John Margetts sucht nachzuweisen, dass sexuelles männliches Begehren im gesamten Werk Hartmanns immer wieder an eine ‚unterdrückte‘ Frau gekoppelt und in einer voyeuristischen, sadomasochistischen Atmosphäre angesiedelt wird: J. M., Observations on the Representation of Female Attractiveness in the Works of Hartmann von Aue with Special Reference to ‘Der

Anmerkungen: Die Anerkennung des Begehrens

arme Heinrich’, in: Hartmann von Aue. Changing Perspectives. London Hartmann Symposium 1985, ed. by Timothy McFarland and Silvia Ranawake, Göppingen 1988 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 486), S. 199–210. Margetts legt m. E. überzeugend dar, dass es sich bei der Operationsszene in Salerno um die Umschreibung eines Sexualaktes handelt (S. 201/202). 6  Wailes wartet mit der provozierenden These auf, dass nicht nur im ‚Gregorius‘, sondern auch im ‚Armen Heinrich‘ ein Inzest abgehandelt wird, und zwar ein verdeckter Vater-Tochter-Inzest, wobei er auch schon im Gregorius hinter dem Geschwisterinzest einen verdeckten Inzestwunsch des Vaters wahrnimmt (S. 72 f.): Stephen L. Wailes, Hartmann von Aue’s Stories of Incest, in: Journal of English and Germanic Philology 91 (1992), S. 65–78, bes. 74–78. 7  Kerry Shea vertritt die These, dass Heinrich, durch seine Krankheit geschwächt, ‚feminisiert‘ und zum Objekt fremder Blicke gemacht, durch seinen besitzergreifenden, phallischen Blick auf das Mädchen, das damit seinerseits zum Objekt erniedrigt werde, wieder Dominanz gewinne und damit eine patriarchale Ordnung wiederhergestellt werde: K. S., The H(I)men Under the Kn(eye)fe: Erotic Violence in Hartmann’s ‘Der arme Heinrich’, in: Exemplaria 6 (1994), S. 385– 403. Eine Gegenthese vertritt Birgit A. Jensen, Transgressing the Body: Leper and Girl in Hartmann von Aue’s ‘Der arme Heinrich’, in: ABäG 61 (2006), S. 103–126. Auch sie geht davon aus, dass die Lepra für Heinrich Statusverlust und ‚Verweiblichung‘ mit sich bringe. In der Beziehung zu dem Mädchen werde allerdings eine utopische Gleichheit zwischen Bauernmädchen und Ritter entworfen, die als Kritik an einer hergebrachten Hierarchie zu verstehen sei. 8  Vgl. hierzu richtungweisend: Christoph Cormeau, Hartmanns von Aue ‚Armer Heinrich‘ und ‚Gregorius‘. Studien zur Interpretation mit dem Blick auf die Theologie zur Zeit Hartmanns, München 1966. 9  Dass die Abhandlung des Inzestproblems in der mittelalterlichen Politik, Literatur und Philosophie kaum ohne psychoanalytische Bezüge angemessen zu verstehen ist, hat Jutta Eming zuletzt betont in: J.  E., Mediävistik und Psychoanalyse, in: Codierungen von Emotionen im Mittelalter / Emotions and Sensibilities in the Middle Ages, hg. von C. Stephen Jaeger u. Ingrid Kasten, Berlin, New York 2003 (Trends in Medieval Philology 1), S. 31–44, hier S. 33–36. 10  Im Werk Sigmund Freuds findet sich keine systematische Abhandlung des Ödipuskomplexes. Exemplarisch zu nennen sind: S. F., Das Ich und das Es (1923): Kap. III , Das Ich und das Über-Ich, in: S. F., GW XIII , S. 256–267; Sigmund Freud, Die Frage der Laienanalyse (1926), in: S. F., GW XIV , S. 207–296, bes. S. 241–243 u. S. 253/254; Vgl. a. Hans W. Loewald, Ich und Realität (1949), in: H. W. L., Psychoanalyse (Papers on Psychoanalysis, 1980). Aufsätze aus den Jahren 1951–1979, aus d. Amerikan. übers. von Hilde Weller, Stuttgart 1986, S. 15–34. 11  Vgl. Sigmund Freud, Der Untergang des Ödipuskomplexes (1924), in: S. F., GW XIII , S.  395–402; Hans W. Loewald, Das Dahinschwinden des Ödipuskomplexes (1978), in: H. W. L., Psychoanalyse [Anm. 10], S. 377–400. 12  Vgl. u. a. Sigmund Freud, Zur Einführung des Narzißmus (1914), in: S. F., GW X, S. 137– 170; Heinz Henseler, Die Theorie des Narzissmus, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 2: Freud und die Folgen, hg. von Dieter Eicke, Zürich 1976, S. 459–477. 13  Ausreichende ‚narzisstische Zufuhr‘ ist die Voraussetzung dafür, dass das Kind den Trennungsschritt wagt. Hat das Kind nicht primäre Erfahrungen seiner selbst in der intensiven Spiegelung durch eine Bezugsperson machen können, die einen inneren Raum der Sicherheit entstehen lassen, bleibt es auf das narzisstische Stadium fixiert. 14  Vgl. S. Freud, Zur Einführung des Narzissmus [Anm. 12]. Zur narzisst. Objektwahl zwischen narzisstischem Typus und Anlehnungstypus s. bes. S. 153 f.

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Anmerkungen: Die Anerkennung des Begehrens

15  Zum Begriff des ,Selbstobjekts‘ vgl. Heinz Kohut, Narzissmus (The Analysis of the Self ). Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen, übertr. von Lutz Rosenkötter, Frankfurt a. M. 1976 (1971), u. a. S. 14. 16  „Er war eine Blüte der Jugend, ein Spiegel gesellschaftlicher Freuden.“ 17  Der Text schreibt hier dem biblischen Hiob eine Dulderqualität zu, von der Heinrichs Verhalten absticht. Vgl. a. Joachim Theisen, Typologie und Individualität. Zur Rezeption des Buches Ijob im ‚Armen Heinrich‘ Hartmanns von Aue, in: Spuren. Festschrift für Theo Schumacher, hg. von Heidrun Colberg u. Doris Petersen, Stuttgart 1986 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 184), S. 81–106. 18  In ihrer ironisch-parodistischen Nacherzählung des ‚Armen Heinrich‘ (1898) greift Ricarda Huch insbesondere das Motiv einer narzisstischen Ausgangsposition auf. Der Ritter Heinrich liebt die in ihre eigene Schönheit verliebte Irminreich, die vornehmlich die Pose einer sich selbst im Handspiegel Betrachtenden einnimmt oder dem noch größeren Vergnügen frönt, sich mit Heinrich gemeinsam in einem großen Spiegel anzuschauen. Das Paar schwelgt im Selbstgenuss seiner Herausgehobenheit und sucht bei seiner Hochzeit die Spiegelung in den Augen der Menge – bis Heinrichs Blick auf einen Aussätzigen fällt, der dann die fatale Ansteckung mit sich bringt. Später nimmt er tatsächlich das Selbstopfer des Bauernmädchens Liebheidli an, das bis zuletzt auf die Liebe Heinrichs hofft. Zwar ereilt ihn dafür die göttliche Strafe, doch er stirbt unbekehrt als ein lebenshungriger Ritter, dem seine eigenen Begierden näher stehen als christliche Tugenden. Die Dichterin erzählt die Geschichte des Armen Heinrich so, dass Heinrich eine betont narzisstische Ausgangsposition nie aufgibt, gerade damit aber den einfältigen Mönch Baldrian in seinen Bann zieht: Ricarda Huch, Der arme Heinrich, in: R. H., Gesammelte Werke, Bd. 4, Köln, Berlin 1967, S. 699–757. 19  Zu den unterschiedlichen Altersangaben in den Hss. A und B – die Leiths. A nennt acht Jahre, die spätere Fassung B zwölf – vgl. Schiewer [Anm. 3]. 20  Vgl. Freuds Kategorie des Anlehnungstypus: S. Freud: Zur Einführung des Narzissmus [Anm. 12], S. 157. 21  Vgl. Freuds Kategorie des narzisstischen Typus, ebd., S.  156. Auf die komplementäre Funktion der Figur des Mädchens nimmt auch Schiewer [Anm. 3], bes. S. 659, Bezug, der sich u. a. auch auf Ruh [Anm. 4] beruft. 22  Eine ‚Regression auf den Primärzustand‘ führt Henseler [Anm. 12] als primitive Kompensationsform angesichts einer Erschütterung des Selbstwertgefühls an (S. 464). 23  Vgl. Wailes [Anm. 6]. 24  „ ... dass der Regen aus ihren Augen die Füße der Schlafenden begoss“. 25  Vgl. Wailes [Anm. 6], S. 75/76. 26  Vgl. Gerd Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst, Freiburg i. Br. 1991, S. 121. 27  Vgl. Herder-Lexikon Symbole, Freiburg i. Br. 1978, S. 57. 28  Vgl. bei Sigmund Freud u. a.: S. F., GW V, S. 54; GW XI , S. 157. 29  Vgl. Wailes [Anm. 6], S. 70. 30  Dazu immer noch lesenswert: Otto Rank, Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie des dichterischen Schaffens, 2., wesentl. vermehrte u. verb. Aufl., Leipzig, Wien 1926, Kap. XI . Die Beziehungen zwischen Vater und Tochter. 31  Vgl. auch Cormeau [Anm. 8], S. 139: „Die Erzählung ist aber ebenso wenig die Demonstration vom Fall, der Buße und der Wiedererhebung eines Menschen. Schuld und Leid bilden nicht eine Kette von Ursache und Wirkung.“ 32  „Wessen Schande und wessen Not wäre auf der Welt je größer gewesen?“

Anmerkungen: Die Anerkennung des Begehrens

33  Zur These eines archaischen Raubtiergottes vgl. Barbara Ehrenreich, Blutrituale (Blood Rites). Ursprung und Geschichte der Lust am Krieg, Hamburg 1999 (1997), S. 59 und Georg Baudler, Gewalt in den Weltreligionen, Darmstadt 2005. 34  Dass Größenphantasien aber nicht nur als Abwehrmechanismus gegen archaische Ängste mit einem Negativetikett zu versehen seien, sondern „dass Kultur ihrem Wesen nach kreativ umgesetzte Größenphantasie ist“, ist eine Botschaft Peter Passetts: P. P., Streiflichter auf die Entwicklung des Konzepts der Größenphantasie in der psychoanalytischen Theorie, in: Größenphantasien, hg. von Johannes Cremerius u. a., Würzburg 1999 (Freiburger Literaturpsychologische Gespräche 18), S. 23–43. Immerhin lässt der Autor seine Figur ausgerechnet im Moment der Entfaltung ihres Phantasmas ihre größte Eloquenz entfalten. 35  Zum Motiv der Nacktheit vgl. u.  a. Rosemary Wallbank, The Salernitan Dimension in Hartmann von Aues ‘Der arme Heinrich’, in: German Life & Letters 43 (1989/90), S. 168–176, hier S. 173. Sie knüpft an die Beobachtung an, dass gemäß entsprechenden Abbildungen eine vollständige Entblößung in der damaligen medizinischen Praxis eher unüblich gewesen dürfte, will aber die Nacktheit des Mädchens in ihrer spirituellen allegorischen Bedeutung ganz einem medizinischen Kontext enthoben sehen. Wailes [Anm. 6] hingegen sagt über die Nacktheit des Mädchens: “It plainly heightens the erotic impact of the episode” ( S. 77). 36  Vgl. eine alte These Ranks, der die Kleiderfülle an dieser Stelle als Verdrängungsmotiv bzw. Überkompensation einer Exhibitionsneigung deutet: Otto Rank, Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung. Ges. Studien aus den Jahren 1912 bis 1914, Leipzig, Wien 1919, zur Nacktheit S. 177 ff., hier bes. S. 197 ff. 37  Wailes [Anm. 6] zieht eine Verbindungslinie von dem Operationstisch zum häuslichen Bett: “The operating table recalls the only other furniture of the story, the beds at home, and the girl takes off her clothes to mount it just as she undressed to go to bed with her father (and mother)” (S. 76/77). 38  Margetts [Anm. 5]: “‘mezzer’ (AH 1209) is used as a phallic circumlocution; ‘wetzestein’ (AH 1218) is used for a part of the female genitals, the clitoris; ‘ane strîchen’ (AH 1218) is used as a metaphor for deflowering and/or impregnation; ‘wetzen’ (AH 1221) is a metaphor for copulation” (S. 202). 39  Vgl. auch Wailes [Anm. 6], S. 77/78. 40  Vgl. Scott E. Pincikowki, The Body in Pain in the Works of Hartmann von Aue, in: A Companion to the Works of Hartmann von Aue, ed. by Francis G. Gentry, Rochester 2005, S. 105–124, hier S. 117: “Heinrich learns that the pain he bears is his own and should not be transferred to the maiden’s body.” 41  Zum Begehren als positiver Kategorie und Ursprung aller Lebendigkeit vgl. u. a. Jacques Lacan, Das Begehren, das Leben und der Tod, in: J. L., Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, übers. von Hans-Joachim Metzger, Freiburg i. Br. 1980 (Das Seminar von Jacques Lacan II ), S. 259–274. 42  Das Motiv des Selbstopfers verbindet auch die unterschiedlichen Motivstränge. In der Silvesterlegende ist es der Verzicht des heidnischen Kaisers Konstantin auf das Bad im Kinderblut, das ihn in der anschließenden Taufe durch Papst Silvester heilt. In Konrad von Würzburgs ‚Engelhard‘ opfert der Freund seine Kinder, die dann wiedererweckt werden. Beide Legenden bieten eine männliche Verzichtsleistung aus unterschiedlichen Positionen an. Vgl. Christoph Cormeau u. Wilhelm Störmer, Hartmann von Aue. Epoche, Werk, Wirkung, München 1985, S. 146–150. 43  Shea [Anm. 7] betont die stark voyeuristische Komponente im ‚Armen Heinrich‘.

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Anmerkungen: Die Anerkennung des Begehrens

44  Margetts [Anm. 5] nimmt eine entsprechende sadomasochistische Komponente im Werk Hartmanns in den Blick. 45  Heinrich teilt hier eine männliche Entwicklung angesichts hilfsbedürftiger Frauen mit anderen Helden aus den Artusromanen Hartmanns von Aue. 46  Zum Phänomen des mimetischen Begehrens vgl. René Girard, Das Heilige und die Gewalt (La violence et le sacré). Aus d. Franz. von Elisabeth Mainberger-Ruh, Frankfurt a. M. 1994 (1972), insbes. Kap. VI : Vom mimetischen Wunsch zum monströsen Doppelgänger. 47  Zur kompensatorischen Funktion der weiblichen Hauptfigur in Hartmanns ‚Erec‘ vgl. Irmgard Gephart, Das Unbehagen des Helden. Schuld und Scham in Hartmanns von Aue ‚Erec‘, Frankfurt a. M. u. a. 2005, u. a. S. 71 ff. 48  Schiewer [Anm. 3] sieht im weltlichen Schluss der Hs. A einen Bruch „mit der religiöslegendarischen Grundstimmung der Erzählung“ (S. 664). Der B-Schluss hingegen, der beide Protagonisten ins Kloster gehen lässt, passe sich einer konventionellen Leseerwartung an (S. 665). 49  Cormeau arbeitet genau dieses Moment der Versuchung, über fremdes Leben verfügen zu wollen, als zentrale Schuld Heinrichs heraus: Cormeau [Anm. 8], bes. S. 134 ff. Ich stimme Cormeau im Wesentlichen zu, sehe aber hinter dem in Aussicht genommenen legendarischen Blutopfer noch das ‚Opfer‘ der Jungfräulichkeit des Mädchens aufscheinen. 50  So in der Fassung B, vgl. Schiewer [Anm. 3]. 51  Hier sei erneut an das Motiv von Kultur als kreativ umgesetzter Größenphantasie erinnert, vgl. Passett [Anm. 34]. 52  Gerhart Hauptmann, Der arme Heinrich, in: G. H., Sämtliche Werke, hg. von HansEgon Hass, Bd. 2: Dramen, Berlin 1996, S. 75–181, hier S. 137. 53  Ebd., S. 180. 54  Pater Benedikt spricht von Ottegebes „leidbegieriger Lust“, ebd., S. 136. 55  Ebd., S. 181. 56  Etwa: „Ich log! Ich rang um seine Seele nicht ...“, ebd., S. 175.

2

Glanz und Zorn: Das ‚Nibelungenlied‘

2.1 Der Zorn der Heroen

1  Im Folgenden wird zitiert nach: Das Nibelungenlied. Mittelhochdt. Text und Übertr. hg., übers. und mit einem Anh. versehen von Helmut Brackert, T. 1. 2., Frankfurt a. M. 2004/2005. 2  Vgl. Irmgard Gephart, Das Unbehagen des Helden. Schuld und Scham in Hartmanns von Aue ‚Erec‘ (Kultur, Wissenschaft, Literatur 8), Frankfurt a. M. u. a. 2005. 3  Vgl. etwa Walter  L. Bühl, Zum Aufbau und zur Dynamik der Gefühle. Versuch einer katastrophentheoretischen Darstellung, in: Roswitha Schumann und Franz Stimmer (Hg.), Soziologie der Gefühle (Soziologenkorrespondenz N. F. 12), München 1987, S. 106–138. 4  Vgl. etwa Carroll E. Izard, Die Emotionen des Menschen (Human Emotions), Weinheim 1981, S. 373. 5  Vgl. ausführlicher: I. G., Der Zorn der Nibelungen. Rivalität und Rache im ‚Nibelungenlied‘, Köln, Weimar, Wien 2005. 6  Für die Gestalten Siegfried und Brünhild hat man zuzeiten Parallelen in der Geschichte der Franken sehen wollen. So gab es im merowingischen Königshaus des 6. Jahrhunderts eine gewalttätige Königin namens Brunichild. Sigibert, Brunichilds Mann, wurde 575 ermordet, Brunichild wurde gefangengenommen und zu Tode gefoltert. Otto Höfler wiederum möchte in der Siegfried-Gestalt eine Mythisierung des Cheruskerfürsten Arminius sehen, der den

Anmerkungen: Der Zorn der Heroen

römischen Feldherrn Varus 9 n. Chr. im Teutoburger Wald geschlagen hat. Vgl. hierzu u. a. Werner Hoffmann, Nibelungenlied, 6., überarb. und erw. Aufl. des Bandes ‚Nibelungenlied‘ von Gottfried Weber und Werner Hoffmann, Stuttgart, Weimar 1992, S. 40–48. 7  Im Jahre 436/437 trug der römische Feldherr Aetius mit Hilfe verbündeter Hunnen am Rhein einen überwältigenden Sieg über die Burgunden unter König Gundahari davon. Überlebende der Katastrophe wurden von Aetius in Savoyen im Rhonegebiet angesiedelt. Den Untergang der Burgunden verlegt das ‚Nibelungenlied‘ vom Rhein an den Hof des Hunnenkönigs Etzel, der in Wirklichkeit nur mit Hilfstruppen beteiligt war und erst ab 441 Alleinherrscher war. Die Tatsache, dass Attila 453 in der Hochzeitsnacht mit einer germanischen Frau namens Hildico an einem Blutsturz starb, mag Ausgangspunkt weiterer Sagenbildung gewesen sein. Vgl. u. a. Werner Hoffmann, ebd. 8  Diese Behauptung stellt im Rahmen des Liedes eine Fehlinformation dar. Bemerkenswert ist allerdings die Tatsache, dass Kriemhild gegenüber Brünhild eine Haltung vollständiger Identifikation mit Siegfried einnimmt, die keinen Raum für eine potentielle eigene Kränkung oder die Wahrnehmung einer solchen lässt. Hier wie andernorts tritt die vollständige soziale Distanzlosigkeit des Paares Siegfried und Kriemhild zu Tage, die mitursächlich ist für seinen Untergang. 9  Zum Begriff der ‚Nibelungentreue‘, der erstmals von Reichskanzler Bernhard von Bülow am 29.3.1909 in einer Rede vor dem Reichstag gebraucht wurde, um die deutsch-österreichische Allianz in der bosnischen Krise zu beschwören, vgl. etwa: The Nibelungen Tradition. An Encyclopedia, ed. by Francis G. Gentry u. a., New York, London 2002, S. 311/312. 10  Vielfach gerät über der anonymen Überlieferung des Liedes, die u. a. einer heldenepischen Erzähltradition geschuldet ist, die Tatsache einer personalen Autorschaft aus dem Blick. Rätsel, die der Text aufgibt, werden vorschnell als Ausläufer einer schwer zu durchschauenden Stoffgeschichte abgetan, während die Reflexivität eines Autors u. U. unterschätzt wird. 11  Vgl. Izard [Anm. 4], S. 370/71.

2.2 Kriemhild als grausame Mutter

1  Es wird zitiert nach: Das Nibelungenlied, nach der Ausg. von K. Bartsch hg. von H. de Boor, 21. rev. und von R. Wisniewski erg. Aufl., Wiesbaden 1979. Übersetzungen nach: Das Nibelungenlied. Mittelhochdt. Text u. Übertr., hg., übers. u. mit e. Anh. versehen von Helmut Brackert, 29. Aufl., Frankfurt a. M. 2004. 2  Die Edda. Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der Germanen, übertr. von F. Genzmer, eingel. von K. Schier, Düsseldorf, Köln 21982, S. 209–216. 3  Die Geschichte Thidreks von Bern, übers. von F. Erichsen, Neuausg. mit Nachw. von H. Voigt (Thule 22), Düsseldorf, Köln 1967 (1924), S. 402/403. 4  Das deutsche Heldenbuch. Nach dem mutmaßlich ältesten Druck neu hg. von A. von Keller, reprograf. Nachdr. der Ausgabe Stuttgart 1867, Stuttgart 1966, S. 10. 5  Die Edda [Anm. 2], S. 234–248, hier Str. 75–87. 6  Rosenfeld zitiert eine andere Version, der gemäß Genzmer übersetzt: „Sie hieb die Hälse durch.“ Er sieht hier die Versionen der Thidrekssaga und des Nibelungenliedes mit den Enthauptungen des Kindes grundgelegt: H.-F. Rosenfeld: Ortliebs Tod. Mit einer Einleitung zur Überlieferung des Nibelungenliedes, in: Uf der mâze pfat (FS Werner Hoffmann), Göppingen 1991, S. 71–95, hier S. 81/82. 7  Die Handschrift C (Das Nibelungenlied nach der Handschrift C, hg. von U. Hennig, Tübingen 1977) folgt auch hier ihrer durchgängigen Intention einer Entlastung Kriemhilds, indem sie Strophe 1912 wie folgt verändert:

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Anmerkungen: Kriemhild als grausame Mutter

Dô die fürsten gesezzen und nu begunden ezzen, getragen zuo den fürsten dâ von der künec rîche

wâren überal dô wart in den sal daz Etzelen kint. gewan vil starken jâmer sint. (1963)

Zu den überlieferungsgeschichtlichen Varianten dieser Stelle vgl. eingehend: H.-F. Rosenfeld [Anm. 6]. Auch ‚Die Klage‘ wiegelt ab: Diu Klage. Mit den Lesarten sämtlicher Handschriften, hg. von K. Bartsch, unveränd. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1875, Darmstadt 1964, S. 27/28: ez was ouch leider dar zuo komen daz ir kint was erslagen: daz enwolden niht vertragen die ez dâ rechen solden und ouch dienen wolden Etzelen dem rîchen. (500–505) 8  Vgl. hierzu eingehender: I. Gephart, Der Zorn der Nibelungen. Rivalität und Rache im Nibelungenlied, Köln, Weimar, Wien 2005. 9  Friedrich Hebbel, Die Nibelungen. Ein deutsches Trauerspiel in 3 Abteilungen, in: F. H., Werke, 2. Bd., hg. von G. Fricke u. a., München 1964, S.105–319, hier 4. Akt, 21./22. Szene. 10  Ebd., S. 300. 11  Die Nibelungen, Teil 1: Siegfried; Teil 2: Kriemhilds Rache. Uraufführung Berlin 1924. Regie: Fritz Lang; Drehbuch: Thea von Harbou. 12  Vgl. I.  Gephart, Faszination des Untergangs: Die Verfilmung des Nibelungenstoffes durch Fritz Lang und Thea von Harbou, Sprache und Literatur 34 (2003), S. 96–117. 13  Helmut Krausser, Unser Lied. Gesang vom Untergang Burgunds, Nibelungendestillat, in: H. K., Stücke 93-03, Frankfurt a. M. 2003, S. 325–375. 14  Moritz Rinke, Die Nibelungen. Mit einem Nachwort von P. Becker, Reinbek b. Hamburg 2 2002, 3. Akt, 6. Szene.

2.3 Mythos und Antimythos 2.4 Sehen und Gesehenwerden

3

Kampf der Geschlechter: Wolfram von Eschenbach

3.1 Ritter und Frauen 3.2 Textur der Minne

1  Wolfram von Eschenbach, Titurel, hg., übers. und mit einem Kommentar und Materialien versehen von Helmut Brackert und Stephan Fuchs-Jolie, Berlin, New York 2002. Zitate und Übersetzungen wurden dieser Ausgabe entnommen. 2  Wolfram von Eschenbach, Parzival, Studienausgabe, nach der 6. Ausg. von Karl Lachmann, Berlin 1965. 3  Das Inkonsistente der Beziehung zwischen Prätext und Folgetext thematisieren auch Christian Kiening und Susanne Köbele, Wilde Minne. Metapher und Erzählwelt in Wolframs ‚Titurel‘, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 120 (1998), S. 234–265, hier S. 235. Walter Haug spricht in diesem Zusammenhang von einem „Sprung“

Anmerkungen: Textur der Minne

und „inneren Umbruch“ Sigunes: W. H., Erzählen vom Tod her. Sprachkrise, gebrochene Handlung und zerfallende Welt in Wolframs ‚Titurel‘, in: Wolfram-Studien, hg. von Werner Schröder, Bd. 6, Berlin 1980 (Veröffentlichungen der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft), S. 8–24, hier S. 21. 4  P 138,9–142,2; 249,11–255,29; 435–442,25; 804,8–805,12. 5  P 138,28 f.; 249,27 f.; 252,27 f.; 440,20 f.; 442,4 f. 6  Zur abwehrenden Rolle der Gralsgemeinschaft vgl. Irmgard Gephart, Geben und Nehmen im ‚Nibelungenlied‘ und in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘, Bonn 1994, S. 142 ff. 7  Auch als Sigune von seinem gescheiterten Besuch auf der Gralsburg erfährt und ihn verstößt, ändert sich ihre Wertschätzung nicht wesentlich. Die nächste Begegnung wird beide wieder zusammenführen, diesmal unter dem Vorzeichen der Teilnahme Sigunes für die Nöte Parzivals. 8  Beispielhaft für eine ‚Zerfallsthese‘ sind zu nennen: Walter Haug, Erzählen vom Tod her (Anm.  3) und Helmut Brackert, Sinnspuren. Die Brackenseilinschrift in Wolframs von Eschenbach ‚Titurel‘, in: Erzählungen in Erzählungen, hg. von Harald Haferland und Michael Mecklenburg, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 155–175. Um einen ganzheitlich-konstruktiven Deutungsansatz hingegen bemühen sich Christian Kiening und Susanne Köbele in: Wilde Minne (Anm. 3). 9  Richtungweisend hat bereits Max Wehrli diese These formuliert: M. W., Wolframs ‚Titurel‘ (1974), in: M. W., Gegenwart und Erinnerung. Gesammelte Aufsätze, hg. von Fritz Wagner und Wolfgang Maaz, Hildesheim, Zürich 1998 (Spolia Berlolinensia 12), S. 208–226. 10  Helmut Brackert, Sinnspuren (Anm. 8), S. 161. 11  P 468,28–30; 473,1 ff.; 492,9/10. 12  P 478,13 ff.; 495,7 ff. 13  Auch Ulrich Wyss fokussiert auf die Negativität des Titureleingangs, möchte diese aber als Selbstkorrektur des Dichters gegenüber dem ‚Parzival‘ verstanden wissen: U. W., Selbstkritik des Erzählers. Ein Versuch über Wolframs Titurelfragment, in: ZfdA 103 (1974), S. 249– 289, hier S. 261–263. 14  Der Gral spendet Speise und Trank in paradiesischer Fülle (P 238,8 ff.) und vermag den Prozess des Alterns aufzuhalten (P 469,14 ff.). 15  So verlässt vielfach der Mann die Frau (Feirefiz), stirbt der Mann noch vor der Geburt des Kindes (Parzival), verliert das Kind gar beide Eltern (Tristan), oder es wird ausgesetzt (Gregorius). 16  Zu dem literarischen Muster von Einheit, Trennung und neuer Einheit auf der Grundlage der psychoanalytischen Narzissmustheorie vgl. Carl Pietzcker, Einheit, Trennung und Wiedervereinigung. Psychoanalytische Untersuchungen eines religiösen, philosophischen, politischen und literarischen Musters, Würzburg 1996. 17  Hier wie dort stehen auch Schuldprojektionen im Raum: bei Sigune, die sich im ‚Parzival‘ eine Schuld am Tod Schionatulanders zuschreibt, weil sie ihn nicht erhört hat (Pz. 141,20/21), und im ‚Titurel‘ als Erklärung eines Ich-Erzählers, der sich von dem quasischuldigen Neugeborenen distanziert (18), in identifikatorischer Emphase, die den Leser aufmerken lässt und als paradoxer Hinweis auf untergründige Schuldgefühle des Vaters gelesen werden kann. 18  Vgl. Elisabeth Schmid, Familiengeschichten und Heilsmythologie. Die Verwandtschaftsstrukturen in den französischen und deutschen Gralromanen des 12. und 13.  Jahrhunderts, Tübingen 1986 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 211), darin 6. Kap.: Wolfram von Eschenbach, ‚Parzival‘. Versuch einer strukturalen Betrachtung der Verwandtschaftsbeziehungen, S. 171–204. Schmid weist dem weiblich-mütterlichen Prinzip im Wolfram’schen Verwandtschaftskosmos beziehungs- und friedensstiftende Eigenschaften zu, während das väterlich-männliche für Tod und Trennung steht.

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Anmerkungen: Textur der Minne

19  Ulrich Wyss (Selbstkritik des Erzählers, Anm.  13) fasst das Unvermittelte dieses Vorgangs in die Worte: „Herzeloyde entsinnt sich, aus welchem Grund auch immer, der kleinen Nichte und lässt sie zu sich bringen“ (S. 265). 20  Zum Motiv der tocken bei Wolfram vgl. H. Brackert und St. Fuchs-Jolie: Wolfram von Eschenbach, Titurel (Anm. 1), S. 217/218. Vorab wird die Ähnlichkeit dieser Strophen mit der Obie-Obilot-Episode im ‚Parzival‘ erörtert (S. 216/217). 21  Vgl. Helmut Brackert, Sinnspuren (Anm.  8): „Mit großer Einfühlung hat der Erzähler hier neben die Puppen, den Ersatzformen für den Liebesmangel, gleichsam als spätere Kompensationsform die ritterlichen Bewährungskämpfe gestellt und damit beides aufeinander bezogen“ (S. 172). In ihrer Titurel-Ausgabe (Anm. 1) formulieren H. Brackert und St. FuchsJolie es so: „Auch wenn in Rechnung zu stellen ist, daß Familienbeziehung und Intimität in der Adelserziehung des Hochmittelalters sich moderner Mentalität entziehen, so ist doch auffällig, wie massiv und dominant hier die Motive der Trennung, des Abschieds, der Fremdheit sind“ (S. 217/218). 22  Wer der Adressat Sigunes und dementsprechend der Antwortende in Strophe 31 sein soll, ist nicht ganz eindeutig und wohl auch abhängig davon, wie man Strophe 28 deutet. Während W. Mohr (Wolfram von Eschenbach, Titurel. Lieder. Mittelhochdeutscher Text und Übersetzung, hg. von Wolfgang Mohr, Göppingen 1978, Göppinger Arbeiten zur Germanistik 250) die Strophe so liest, dass Karideiz, der Sohn Tampunteires, als Nachfolger des verstorbenen Vaters amtiert (S. 13), lesen H. Brackert und St. Fuchs-Jolie (Wolfram von Eschenbach, Titurel, Anm. 1) die Strophe so, dass sowohl Tampunteire als auch Karideiz gestorben sind (S. 77), der angesprochene Vater in Strophe 30 demnach Kiot, der leibliche Vater Sigunes, ist (S. 216/217). 23  Zur bei Wolfram geläufigen Schwarzwald-Hyperbel vgl. Ulrich Wyss, Selbstkritik des Erzählers (Anm. 13), S. 265. 24  Die Strophen 30 und 31 fehlen in Handschrift G. Zur Echtheitsdiskussion vgl. Joachim Heinzle, Stellenkommentar zu Wolframs Titurel. Beiträge zum Verständnis des überlieferten Textes, Tübingen 1972 (Hermaea. Germanistische Forschungen, N. F. 30), S. 53/54. 25  Vgl. Elisabeth Schmid, Familiengeschichten und Heilsmythologie (Anm. 18). 26  Zur Echtheitsdiskussion der Strophe 36 vgl. Ulrich Wyss, Selbstkritik des Erzählers (Anm. 13), S. 266. 27  Herzeloyde ist zwar nun als Ersatzmutter in Sigunes Leben getreten, aber ihre eigene Jungfräulichkeit dürfte diese Rolle auch relativieren und ihr eher eine schwesterliche Nähe zuweisen. 28  Vgl. Joachim Heinzle, Stellenkommentar (Anm. 24), S. 173. 29  Zur Wolfram’schen Bindungssymbolik, die die mütterliche Linie mit Bindung besetzt, vgl. Elisabeth Schmid, Familiengeschichten und Heilsmythologie (Anm. 18). 30  So die These von Ulrich Wyss, Selbstkritik des Erzählers (Anm. 13), u. a. S. 262 u. 268. 31  Vgl. etwa Ulrich Wyss, Selbstkritik des Erzählers (Anm. 13), S. 270. 32  Christian Kiening und Susanne Köbele, Wilde Minne (Anm. 3), S. 240 ff. 33  Vgl. Ch. Kiening und S. Köbele, Wilde Minne (Anm. 3), S. 240 ff. 34  Vgl. auch Helmut Brackert, Sinnspuren (Anm. 8), S. 171. 35  Zu einer Erklärung dieser Zusammenhänge aus der Perspektive der psychoanalytischen Narzissmustheorie vgl. etwa: Heinz Kohut, Narzißmus (The Analysis of the Self ). Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen, übers. von Lutz Rosenkötter, Frankfurt a. M. 1976 (1971) oder: Heinz Henseler, Die Theorie des Narzißmus, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 2, Freud und die Folgen, hg. von Dieter Eicke, Zürich 1976, S. 459–477. 36  In Strophe 61 hatte sie sich Schionatulander gegenüber hierzu noch gegenteilig geäußert.

Anmerkungen: Textur der Minne

37  Zur Diskussion um einen gattungsmäßigen Reflex in diesen Strophen vgl. Ruth Harvey, Zu Sigunes Liebesklage (Tit. 117–119), in: Wolfram-Studien, hg. von Werner Schröder, Bd. 6, Berlin 1980, S. 54–62. 38  H. Brackert und St. Fuchs-Jolie (Anm. 1) arbeiten in ihrem breiten Kommentar zu dieser rätselhaften Passage eingehend das Wahnhafte von Herzeloydes Verdächtigungen heraus, ohne aber plausible Erklärungen hierfür aus der Literatur anführen zu können (S. 376–379). Die offensichtliche Paranoia Herzeloydes findet jedoch m. E. im Rückblick auf den ‚Parzival‘ eine naheliegende Begründung in deren aggressiver Werbung um Gahmuret, bei der sie in einem weiblichen Machtkampf Anphlise zielsicher mattsetzt. Dass hiermit für sie Schuldgefühle verbunden sein mögen, die sie wiederum als Rachephantasien auf Anphlise rückprojiziert, entspräche nur einer psychologischen Logik. Vgl. hierzu mit ähnlichen Überlegungen auch: Marion E. Gibbs, Ampflise im ‚Parzival und im ‚Titurel‘, in: Wolfram-Studien, hg. von Werner Schröder, Bd. 6, Berlin 1980 (Veröffentlichungen der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft), S.  48–53. Im Rahmen der Titurel-Dichtung aber hat der Dichter mit dieser befremdlichen Phantasie Herzeloydes in jedem Fall das Verhältnis von ihr zu Sigune seiner mütterlichen Idealität beraubt und den Blick freigegeben auf pathogene Befindlichkeiten der Ersatzmutter, die Sigunes Verlorenheit steigern – wo diese nämlich nicht als Person wahrgenommen wird, sondern nur als Objekt in einer selbstbezüglichen Phantasiewelt besetzt wird. 39  Vgl. dies als eine Grundthese bei Francesco Alberoni, Liebe. Das Höchste der Gefühle (Ti amo), aus dem Italien. von Anja Giese, München 1998. 40  Ernst  S. Dick (Minne im Widerspruch. Modellrevision und Fiktionalisierung in Wolframs ‚Titurel‘, in: ‚Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig‘. Festschrift zum 60. Geb. von Hans-Gert Roloff, hg. von James Hardin u. Jörg Jungmayr, Bern u. a. 1992, S. 399–420) deutet die Liebe von Clauditte und Ehkunat als Teil eines vorgeblichen Paradigmenwechsels, der von einer ‚Kampfminne‘ weg und zu einer ‚Suchminne‘ hinführe. 41  Zur Materialität des Brackenseils vgl. Sidney M. Johnson, Das Brackenseil des Gardeviaz zwischen Wirklichkeit und Phantasie, in: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder zum 75. Geburtstag, hg. von Kurt Gärtner u. Joachim Heinzle, Tübingen 1989, S. 513–519. 42  Vor diesem Hintergrund lässt sich m. E. Sigunes Verlangen nach dem Text nicht nur einseitig als Fehlleistung begreifen, wie es etwa Siegfried Christoph tut in: S. Ch., Authority and Text in Wolfram’s ‘Titurel’ and ‘Parzival’, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999), S. 211–227. Wenn Christoph den im ersten Fragment angebotenen Rat der Älteren ebenso wie den Text im zweiten Fragment als bloße autoritäre Substitute des Lebens selbst versteht, so mag dies zwar bedingt zutreffen, trägt aber nicht der Tatsache Rechnung, dass nur diese Erfahrungsebene den deprivierten Jugendlichen offensteht und nicht primär ein Mangel an Einsicht, sondern ein struktureller Identitätskonflikt vorgeführt wird. Ein potentieller Vorwurf an die Jungen fällt in der Logik der Geschichte nämlich auf die Alten zurück, und Sigunes Wunsch nach dem Text eignet von daher nicht nur der Charakter eines fehlgeleiteten Begehrens, sondern auch die Kühnheit intellektueller Suche, die einem existentiellen Mangelerlebnis entspringt. 43  Über den Vorrang des Lesens vor der Liebe für Sigune vgl. Walter Haug, Lesen oder lieben? Erzählen in der Erzählung, vom ‚Erec‘ bis zum ‚Titurel‘, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 116 (1994), S. 302–323. 44  Zur Frage nach Sigunes Schuld vgl. auch Siegfried Christoph, Wolfram’s Sigune and the Question of Guilt, in: The Germanic Review 56 (1981), S. 62–69. 45  Vgl. Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, erw. und überarbeitete Neuausg. von ‚Die Legitimität der Neuzeit‘, 3. Teil, Frankfurt a. M. 1973. Blumenberg setzt

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Anmerkungen: Textur der Minne

Neugierde und zwischenmenschliche Entfremdung folgendermaßen zueinander in Beziehung: „Daß überhaupt Neugierde zu einem der zentralen Laster des Menschen werden kann, charakterisiert nicht nur und nicht zuerst ihn selbst, sondern die Welt, in der er sich vorfindet, als eine Sphäre blockierter Unmittelbarkeit und nur partieller anthropozentrischer Teleologie, besetzt mit Zonen der Verborgenheit und Abgelegenheit, der Seltsamkeit und des entfremdenden Vorbehalts“ (S. 171). 46  Vgl. Karin Hauer, Über den ‚sin‘. Begehren und Gesetz in Wolframs ‚Titurel‘, Wien 1992. Hauer zeichnet in detaillierter Textanalyse den Zusammenhang von Begehren, Bewegung, Jagd und Gesetz im ‚Titurel‘ nach und behandelt u. a. eine diesbezügliche Geschlechterdifferenz. Da die Frau nicht über einen eigenen Bewegungsradius verfüge, sei sie auf die stellvertretende Bewegung des Mannes angewiesen (u. a. S. 17 ff.). 47  Bei Roland Barthes (Die Lust am Text, aus dem Franz. von Traugott König, Frankfurt a. M. 1974), der auf die Sinnlichkeit, Plastizität und Realität einer quasierotischen Beziehung zwischen Text und Leser eingeht, heißt es etwa: „Ich interessiere mich für die Sprache, weil sie mich verletzt oder verführt“ (S. 58). 48  Helmut Brackert, Sinnspuren (Anm. 8), sieht hinter Sigunes „einsamem isolierten Lesen“ (S.  170) eine Auflösung des höfischen Kultur- und Erzählzusammenhangs. In der Tat sind die Signale einer Auflösung von Gemeinschaft im Text nicht zu übersehen, aber die Deutung dürfte kaum dem Gewinn an Subjekthaftigkeit, der die Sigunefigur im ‚Titurel‘ kennzeichnet, gerecht werden. 49  Siegfried Christoph (Authority and Text in Wolframs ‘Titurel’ and ‘Parzival’, Anm. 42) vertritt hierzu die These, dass der fragmentarische Charakter des Werks von Wolfram durchaus beabsichtigt gewesen sei (S. 222).

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Autonomiegewinn und Erotik: Walther von der Vogelweide

4.1 Scham, Sinnlichkeit und Tugend

1  Vgl. David N. Yeandle, ,schame‘ im Alt- und Mittelhochdeutschen bis um 1210. Eine sprach- und literaturgeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung einer ethischen Bedeutung, Heidelberg 2001 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte). Yeandle hat eine breite Sammlung von Belegstellen vorgelegt, innerhalb der er Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide im Rahmen seiner Fokussierung auf eine ethische Aussage besonderen Stellenwert zukommen lässt. Er unterscheidet im Wesentlichen nach positiver, negativer und gemischter Scham einerseits sowie Eigen- und Fremdscham andererseits. 2  Ich zitiere nach: Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausg. Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner, hg. von Christoph Cormeau, Berlin, New York 1996. Übersetzungen nach: Walther von der Vogelweide, Werke. Gesamtausgabe. Mittelhochdt./Neuhochdt., hg., übers. u. kommentiert von Günther Schweikle, Bd. 1: Spruchlyrik, Bd. 2: Liedlyrik, Stuttgart 1994/1998. 3  Zur Unterscheidung von moralischer und sozialer Scham vgl. Sighard Neckel, Achtungsverlust und Scham. Die soziale Gestalt eines existentiellen Gefühls, in: Zur Philosophie der Gefühle, hg. von Hinrich Fink-Eitel u. Georg Lohmann, Frankfurt a. M. 1993, S. 244–265, hier S. 248–251: „Moralische Scham ist inneres Gebot, soziale äußerer Zwang“ (S. 250). 4  Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, 7. Aufl., Frankfurt a. M. 1980, S. 397–408: Scham und Peinlichkeit. Zu einem Vergleich der Ansätze Freuds und Elias’ vgl. auch: Sighard Neckel, Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleich-

Anmerkungen: Scham, Sinnlichkeit und Tugend

heit, Frankfurt a. M. 1991, S. 133–137. Bei Neckel (S. 47–52) findet sich auch eine Stellungnahme zu dem konkurrierenden anthropologischen Paradigma von Scham- und Schuldkulturen, auf das David N. Yeandle (Anm. 1) durchgängig Bezug nimmt. Eine Widerlegung und Korrektur der Elias-Kritik von Hans Peter Duerr ist nachzulesen bei Michael Schröter, Scham im Zivilisationsprozeß. Eine Diskussion mit Hans Peter Duerr, in: M. S., Erfahrungen mit Norbert Elias, Frankfurt a. M. 1997, S. 71–109. 5  Thomasin von Zerklaere, Der Welsche Gast, hg. von F. W. Fries, Bd. 1 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 425,1), Göppingen 1984, S. 127. Übersetzung aus: Thomasin von Zerklaere, Der Welsche Gast, ausgew., eingel., übers. und mit Anm. versehen von Eva Willms, Berlin, New York 2004, S. 27/28. 6  Vgl. Georg Simmel, Zur Psychologie der Scham, in: G. S., Schriften zur Soziologie, hg. u. eingel. von Heinz-Jürgen Dahme u. Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1983, S. 140–150, hier S. 147: „Für die Gruppe, in der der Einzelne verschwindet, ist der Mangel an Schamgefühl bezeichnend. [...] Nur das ganz selbständige, für sich verantwortliche Ich gibt den Rahmen ab, innerhalb dessen nun die Betonung und die Herabsetzung seiner selbst in jene charakteristische Reibung miteinander treten können.“ 7  Zu einer Kategorisierung nach Gefühlen primärer und höherer Ordnung vgl. etwa Walter L. Bühl, Zum Aufbau und zur Dynamik der Gefühle: Versuch einer katastrophentheoretischen Darstellung, in: Soziologie der Gefühle. Zur Rationalität und Emotionalität sozialen Handelns, hg. von Roswitha Schumann und Franz Stimmer München 1987 (Reihe: Soziologenkorrespondenz N. F. 12). 8  Max Scheler, Über Scham und Schamgefühl, in: M. S., Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1, 2. Aufl. Bern 1957, S. 65–154, hier S. 81. 9  Vgl. Anm. 6. 10  Vgl. Sigmund Freud, Zur Einführung des Narzißmus, in: S. F., Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Frankfurt a. M. 1992, S. 49–78, hier S. 75. 11  Als eine wichtige Veröffentlichung unter anderen sei genannt: Heinz Kohut, Narzißmus (The Analysis of the Self, 1971). Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen, Frankfurt a. M. 1976. Indem die Theorie des Narzissmus als Entwicklungstheorie eine Regulierung des Wohlbefindens und des Selbstwertgefühls zu ihrem Gegenstand macht, stellt sie sich neben eine klassische Ich-Psychologie, die sich als Triebzähmungstheorie versteht. Die Narzissmustheorie aber stellt nicht mehr eine triebgebundene Lust-Unlust-Balance in den Mittelpunkt, sondern eine Dynamik von Sicherheit/Unsicherheit beziehungsweise Vertrauen/Urverunsicherung, welche an eine ursprüngliche Mutter-KindDyade gebunden wird. Kohut sucht gleichwohl eine Vermittlung zu Freud: „Es mag jedoch nützlich sein zu sagen, dass das Größen-Selbst (welches bis zu einem gewissen Grade Freuds purifiziertem Lust-Ich [1915a] analog ist) Entsprechungen in den Erfahrungen Erwachsener hat [...]“: H. K. (ebd.), S. 46. Vgl. auch: Heinz Henseler, Die Theorie des Narzißmus, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 2: Freud und die Folgen, hg. von Dieter Eicke, Zürich 1976, S. 459–477. 12  Vgl. Günter H. Seidler, Phänomenologische und psychodynamische Aspekte von Schamund Neidaffekten, in: Psyche 55, 2001, S. 43–62: „Die Scham schützt die Integrität des Selbst und die des Gegenübers“ (S. 47). 13  Vgl. etwa Rainer Krause, Psychodynamik der Emotionsstörungen, in: Psychologie der Emotion, hg. von Klaus R. Scherer, Göttingen, Toronto, Zürich 1990 (Enzyklopädie der Psychologie C, IV , 3), S. 630–695, hier insbes. S. 680 ff.: Die Verinnerlichungsvorgänge. 14  Heinz Kohut (Anm.  11) spricht in diesem Zusammenhang von ‚mirroring‘ als empathischer narzisstischer Zufuhr, derer das sich entwickelnde Ich notwendig bedarf. Vgl. auch

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Anmerkungen: Scham, Sinnlichkeit und Tugend

Jacques Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychonalyse in Zürich am 17. Juli 1949, in: J. L., Schriften, ausgew. u. hg. von Norbert Haas, Bd. 1, 4., durchges. Aufl., Weinheim, Berlin 1996, S. 61–70. 15  Heike Sievert (Walther von der Vogelweide: Under der linden, in: Gedichte und Interpretationen, Mittelalter, hg. von Helmut Tervooren, Stuttgart 1993, S. 129–143) merkt jedoch für den Begriff des Mädchenliedes kritisch an: „Mit dieser Bezeichnung wird das Bild der Frau in diesem und anderen Liedern Walthers auf das des ganz jungen, unschuldigen, unerfahrenen Mädchens eingegrenzt und damit ganz unzulässig verniedlicht“ (S. 138). 16  Vgl. auch Heike Sievert (ebd.), S. 135/136. 17  Vgl. u. a. Günther Schweikle, Minnesang. 2., korr. Aufl., Stuttgart, Weimar 1995, S. 182. 18  Walther von der Vogelweide, Werke. Gesamtausgabe, Bd. 2: Liedlyrik, hg., übers. u. kommentiert von Günther Schweikle, Stuttgart 1998, S. 737. 19  Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters, Edition der Texte u. Kommentare von Ingrid Kasten, übers. von Margherita Kuhn, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 3), S. 934. 20  Vgl. etwa Günter H. Seidler (Anm. 12), S. 46/47.

4.2 Ich-Verlust und Autonomiegewinn in der Minnelyrik Walthers von der Vogelweide

1  Des Minnesangs Frühling, bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Bd. 1: Texte, 36., neugestaltete und erw. Aufl., Stuttgart 1977. 2  Übersetzung aus: Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters, Edition der Texte und Kommentare von Ingrid Kasten, übers. von Margherita Kuhn, Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek des Mittelalters 3), S. 31. 3  Deutsche Lyrik (Anm. 2), S. 47. 4  Vgl. auch die Deutung des Tagelieds bei Dietlinde Eckensberger, Die Anfänge der deutschen Liebeslyrik. Ein psychoanalytischer und psychohistorischer Deutungsversuch, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 31 (1993), S. 223–248, hier S. 234. 5  Ich zitiere im Folgenden nach: Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausg. Karl Lachmanns mit Beitr. von Thomas Bein und Horst Brunner, hg. von Christoph Cormeau, Berlin, New York 1996. 6  Vgl. etwa die Forschungsüberblicke in: Walther von der Vogelweide, Werke, Gesamtausgabe, hg., übers. und komm. von Günther Schweikle, Bd. 2: Liedlyrik, Stuttgart 1998, S. 730–734 und in: Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters, Edition der Texte und Kommentare von Ingrid Kasten, Übersetzungen von Margherita Kuhn, Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek des Mittelalters 3), S. 955–957. 7  Vgl. etwa Joachim Heinzle, Mädchendämmerung. Zu Walther 39, 11 und 74, 20, in: Verstehen durch Vernunft. Festschrift für Werner Hoffmann, hg. von Burkhardt Krause, Wien 1997 (Philologica Germanica 19), S. 145–158 und Ingrid Bennewitz, ‚vrouwe/maget‘. Überlegungen zur Interpretation der sogenannten Mädchenlieder im Kontext von Walthers MinnesangKonzeption, in: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk, hg. von HansDieter Mück, Stuttgart 1989 (Kulturwissenschaftliche Bibliothek 1), S. 237–252. 8  Übersetzung nach: Walther von der Vogelweide, Sämtliche Lieder. Mittelhochdt. und in neuhochdt. Prosa, hg. und übertr. von Friedrich Maurer, 6. Aufl., München 1995, S. 91. 9  Ebd., S. 91. 10  Ebd., S. 91/93.

Anmerkungen: Ich-Verlust und Autonomiegewinn in der Minnelyrik Walthers von der Vogelweide

11  Mit dieser Strophe beginnt das Lied als sechsstrophiges in der Handschrift C. Zu dieser Fassung vgl. Christiane Henkes u. Sylvia Schmitz, Kan mîn frowe süeze siuren? (C 240 [248] – C 245 [254]). Zu einem unbeachteten Walther-Lied in der Großen Heidelberger Liederhandschrift, in: Walther von der Vogelweide. Textkritik und Edition, hg. von Thomas Bein, Berlin, New York, 1999, S. 104–124. Henkes und Schmitz deuten das Lied in einem minnetheoretischen Bezugsrahmen als Formulierung eines grundlegenden Zweifels an der Möglichkeit von Minnesang schlechthin (S. 122). 12  Übers. nach Maurer (Anm. 8), S. 93. 13  Zum Spannungsverhältnis zwischen Lust- und Realitätsprinzip vgl. beispielhaft für den späten Freud: Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: S. F., Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich u. a., Bd. 9: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, Frankfurt a. M. 2000, S. 191–270. 14  Sigmund Freud benutzt hierfür den Terminus des ‚purifizierten Lust-Ichs‘, vgl. etwa S. F., Triebe und Triebschicksale (1915), in: S. F., Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich u. a., Bd. 3: Psychologie des Unbewußten, Frankfurt a. M. 2000, S. 75–102, hier S. 98. 15  Im Rahmen des Freud’schen Schichtenmodells ließe sich der Prozess auch als die Erstarkung einer Ich-Instanz gegenüber konkurrierenden Ansprüchen der Triebe (Es) und eines fordernden Über-Ichs beschreiben. 16  Übersetzung des Kranz-Lieds nach: Walther von der Vogelweide: Werke, Gesamtausgabe, Bd. 2: Liedlyrik, hg., übers. und kommentiert von Günther Schweikle, Stuttgart 1998, S. 279–283. 17  Vgl. Irmgard Gephart, Scham, Sinnlichkeit und Tugend: Zum Begriff der ‚schame‘ bei Walther von der Vogelweide, in: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Produktion, Edition und Rezeption, Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 11–26, hier S. 17 ff. 18  Grundlegend für diese Deutung ist der Aufsatz von Peter Wapnewski, Walthers Lied von der Traumliebe (74, 20) und die deutschsprachige Pastourelle (1957), in: Walther von der Vogelweide, hg. von Siegfried Beyschlag, Darmstadt 1971 (Wege der Forschung 112), S. 431–483. 19  Vgl. Anm. 5. Schweikle (Anm. 6) bietet zwar die Strophenfolge der Handschriften, referiert in seinem Kommentar jedoch die hergebrachten Forschungspositionen (S. 674 ff.). 20  Vgl. Ingrid Bennewitz (Anm. 7), S. 250. 21  Auch für Walthers ‚Traumballade‘ (C 64) entwickelt Urban Küsters vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Traumtheorie eine Deutung des Traumes als Wunscherfüllung (S.  349  ff.), wenngleich er das ‚Kranzlied‘ im Sinne der hergebrachten Deutung heranzieht (S. 353), vgl. U. K., ‚Waz der troum bediute‘. Glückszeichen und Glücksvorstellungen in Walthers Traumballade L. 94,11, in: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk, hg. von Hans-Dieter Mück, Stuttgart 1989 (Kulturwissenschaftliche Bibliothek 1), S. 341–362. 22  Zu formsymbolischen Anspielungen auf das Tagelied vgl. Wolfgang Mohr, Spiegelungen des Tagelieds, in: Mediaevalia litteraria, Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag, München 1971, S. 287–304. 23  Vgl. auch John A. Asher, Das Tagelied Walthers von der Vogelweide. Ein parodistisches Kunstwerk, in: Mediaevalia litteraria (Anm.  22), S.  279–286. Carola L. Gottzmann hingegen, die Walther als ‚Moralisten und Edukator‘ (S. 76) begreift, liest das Tagelied Walthers in Abgrenzung von Asher als nicht humoristische Kritik an einer überkommenen Minnekonzeption: C. L. G., Das Tagelied Heinrichs von Morungen und Walthers von der Vogelweide. Überlegungen zur Absage an das Tagelied der hochhöfischen Zeit, in: Ist zwîvel herzen nâchgebûr. Günther Schweikle zum 60. Geburtstag, hg. von Rüdiger Krüger, Stuttgart 1989 (Helfant-Studien 5), S. 63–82, hier u. a. S. 71.

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Anmerkungen: Ich-Verlust und Autonomiegewinn in der Minnelyrik Walthers von der Vogelweide

24  Zur Diskussion der Stände-Thematik vgl. auch Manfred Günter Scholz, Walther von der Vogelweide, Stuttgart, Weimar 1999 (Sammlung Metzler 316), S. 119 ff., hier bes. S. 127. 25  Auf eine Einebnung des „Gefälles zwischen Minneherrin und Werber“ (S.  289) geht auch Theodor Nolte in seinen Überlegungen zum innovativen Charakter der Walther’schen Minnelyrik ein (S. 285 ff.). Wo Nolte auf den Aspekt eines gesellschaftlichen Sinnangebots abhebt, möchte ich den zugrunde liegenden Wandel der psychischen Ausgangsposition des männlichen Ichs sichtbar machen: Th. N., Walther von der Vogelweide. Höfische Idealität und konkrete Erfahrung, Stuttgart 1991.

5

Trieb und Witz: Der Stricker und Konrad von Würzburg

5.1 Das Gehäuse des Selbstzwangs

1  Mittelhochdeutsche und neuhochdeutsche Zitate im Folgenden nach: Der Stricker, Erzählungen, Fabeln, Reden. Mittelhochdt./Neuhochdt., hg., übers. u. komm. von Otfrid Ehrismann, Stuttgart 1992. Der neuhochdeutsche Text wurde in Einzelfällen in Anpassung an die Parallelsetzung der Zitate leicht umgestellt. 2  Wernfried Hofmeister, Rebellion und Integration in Strickers ‚Eingemauerter Frau‘, in: Mediävistik 5 (1992), S. 71–77, hier S. 73. Paradigmatisch für diese Position steht Hedda Ragotzky, Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers, Tübingen 1981. 3  Ehrismann sondert unter den Erzählungen die Maeren als sog. „moralische Erzählungen“ aus, worunter er auch die ‚Eingemauerte Frau‘ rubriziert. Vgl. Der Stricker (Anm. 1). 4  Vgl. etwa Michael Egerding, Probleme mit dem Normativen in Texten des Strickers. Vor­ überlegungen zu einem neuen Strickerbild, in: Amsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik 50 (1998), S. 131–147. Vgl. auch Walter Haug, der in seinem „Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung“ (in: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1993, S. 1–36) eine radikale Gegenposition formuliert, indem er das Maere als Gattungsbegriff verabschieden möchte und nicht etwa ein bestehendes Regelsystem, sondern vielmehr die Freiheit zur Ordnungslosigkeit als Kennzeichen der mittelalterlichen Kurzerzählung verstanden wissen will. 5  Wo heute mitunter dem ‚übelen wîp‘ des Mittelalters der ‚böse Mann‘ einer als patriarchal entlarvten Ordnung gegenübergestellt wird, versucht Albrecht Classen in seinem Aufsatz zum Thema des Geschlechterkampfs in Strickers Maeren dieses Bild zu relativieren und einen differenzierteren Blick auf eine, trotz formaler Herrschaftsansprüche, weitgehende Gleichberechtigung der Geschlechter zu eröffnen. Ich stimme dem zu, kann allerdings seinen Blick auf den Stricker als „defender of women’s rights“ (S. 118), als Vorkämpfer für die Rechte der Frau, nicht mehr teilen. Vgl. Albrecht Classen, Misogyny and the Battle of Genders in the Stricker’s ‘Maeren’, in: Neuphilologische Mitteilungen 92 (1991), S. 105–122. Eine Änderung des Blickwinkels strebt auch Jutta Eming an, wenn sie für die ,Eingemauerte Frau‘ zurecht darauf aufmerksam macht, dass die Frau in dieser Erzählung indirekt sehr wohl ihren Superioritätsanspruch auf dem Umweg der Aneignung des religiösen Musters von Reue und Buße zu wahren und durchzusetzen versteht. In diesem Zusammenhang jedoch von einem ,Sich-selbst-treu-Bleiben‘ der Heldin zu reden (S. 227) und mit dem klerikalen Szenarium eine ernstgemeinte Religionskritik zu verknüpfen, scheint mir ein Zuviel an moralischem Impetus an den Text heranzutragen. Vgl. Jutta Eming, Subversion through Affirmation in the Stricker’s ‘Eingemauerte Frau’, in: The Growth of Authority in the Medieval West. Selected Proceedings of the International Conference Groningen 6–9 November 1997, ed. by Martin Gosman u. a., Groningen 1998, S. 213–228.

Anmerkungen: Das Gehäuse des Selbstzwangs

6  Ich nehme hier Gedanken einer psychoanalytischen Narzissmustheorie auf, die bei Sigmund Freud grundgelegt ist in: S. F., Zur Einführung des Narzissmus (1914), in: S. F., Gesammelte Werke, Bd. X, Frankfurt a. M. 1999, S. 137–170. Vgl. auch Heinz Henseler, Die Theorie des Narzißmus, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 2: Freud und die Folgen, hg. von Dieter Eicke, Zürich 1976, S. 459–477. 7  Die Nähe der ‚Eingemauerten Frau‘ zur mittelalterlichen Praxis des Einmauerns und ihrer hagiographischen Narration hat Stephen L. Wailes bereits in den siebziger Jahren detailliert analysiert, wobei er jedoch mit seiner These einer im ersten Teil sogenannten ‚ernsthaften Parodie‘, im zweiten Teil ungebrochenen Affirmation des religiösen Musters einen theologischdidaktischen Horizont nicht überschreitet: S. L. W., Immurement and Religious Experience in the Strickers’s ‘Eingemauerte Frau’, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 96 (1974), S. 79–102. 8  Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1, 7. Aufl., Frankfurt a. M. 1980 (1936), S. IL . Gleichzeitig zeigt Elias die reale soziale Welt hinter dieser Vorstellung als eine Welt der vielfältigsten Vernetzungen, der ‚Interdependenzverflechtungen‘ und ‚wandelbaren Figurationen‘ (S. IL ) auf. 9  Vgl. u.  a. Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (Mai 1918), in: M. W., Gesammelte politische Schriften, 3., erneut vermehrte Aufl., mit einem Geleitwort von Theodor Heuss, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1971, S. 306–443, hier S. 332. 10  Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/1905), in: M. W., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, 9. Aufl., Tübingen 1988, S. 17– 206, hier S. 202–204. 11  Vgl. etwa Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: S. F., Gesammelte Werke, Bd. XIV , Frankfurt a. M. 1999, S. 419–506. 12  Vgl. etwa Rolf Fetscher, Ich-Ideal und Über-Ich im Rahmen einer modifizierten Strukturtheorie, in: Psyche 57 (2003), S. 193–225, hier S. 194 ff. 13  So lässt der Priester den Hausherrn etwa wissen, dass seine Frau nicht um irdischer Vorteile willen Verzeihung sucht, sondern im Hinblick auf ihr Seelenheil (S. 191). Der göttlichreligiöse Bezug steht für Verinnerlichung und Verallgemeinerung. 14  Der Stricker, Verserzählungen (Anm. 1), S. 28–36: Der begrabene Ehemann. Hier tritt im Bild des widerstandslosen männlichen Körpers amorphe Passivität an die Stelle grenzensetzender Struktur, wie sie in der ‚Eingemauerten Frau‘ verbildlicht wird.

5.2 Halbe Birnen und sonstige Lustbarkeiten

1  Eine Auseinandersetzung mit dem Feld ‚toter Witze‘ im Werk Wolframs von Eschenbach vor dem Hintergrund von S. Freuds „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“ liefert etwa: Karl Bertau, Versuch über tote Witze bei Wolfram (1973), in: K. B., Wolfram von Eschenbach. Neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglichkeit in der Geschichte, München 1983, S. 60–109. Von Freuds Kategorie der Witze mit feindseliger Tendenz geht auch aus: Werner Röcke, Der zerplatzte Enterich und der Koch als Rollbraten. Gelächter und Gewalt in Wolframs ‚Willehalm‘, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. XI , 1 (2001), S. 274–291. 2  Konrad von Würzburg (?), Die halbe Birne, in: Novellistik des Mittelalters, hg., übers. u. komm. von Klaus Grubmüller, Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23), S. 179– 207. Zur Diskussion um die Glaubwürdigkeit der überlieferten Autorzuschreibung an Konrad von Würzburg vgl. den Kommentar des Herausgebers S. 1083 ff.

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Anmerkungen: Halbe Birnen und sonstige Lustbarkeiten

3  Vgl. ebd., S. 1095/1096 und Kurt Ranke, Birne: Die halbe B., in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 2, Berlin 1979, Sp. 421–425. 4  Kurt Ranke, Birne: Die halbe B. (Anm. 3), Sp. 424. 5  Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905), GW Bd.  VI , Frankfurt a. M. 1999, S. 97 ff. 6  Vgl. u. a. Edith Feistner, Kulinarische Begegnungen: Konrad von Würzburg und ,Die halbe Birne‘, in: Vom Mittelalter zur Neuzeit, Festschrift für Horst Brunner, hg. von Dorothea Klein u. a., Wiesbaden 2000, S. 291–304, hier S. 295 ff. Aufgrund der Verwandtschaft des Themas der Tischzuchten mit dem übrigen Werk Konrads betrachtet Feistner die Verfasserschaft Konrads von Würzburg als evident. 7  Edith Feistner, Kulinarische Begegnungen (Anm. 6), S. 301 und 298. 8  Jan-Dirk Müller, Die ‚hovezuht‘ und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ‚Halber Birne‘, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft, Bd. 3 (1984/1985), S. 281–311, hier S. 287. 9  Hans Folz, Die Reimpaarsprüche, hg. von Hanns Fischer, München 1961 (MTU 1), S. 22–28. Übersetzung in: Schwankerzählungen des deutschen Mittelalters, ausgew. u. übers. von Hanns Fischer, 2. Aufl., München 1968, S. 31–36. Im Vergleich zu der Fassung aus dem 13. Jahrhundert hat Folz die Ungeschicklichkeit des Ritters bei Tisch ausgebaut und die prekäre Kemenatenszene verknappt. Aus dem ursprünglichen „stap“ der Dienerin wird bei Folz eine Nadel. Der Schluss mündet in eine einseitige Ermahnung der Frau. 10  Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd.  1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, 7. Aufl., Frankfurt a. M. 1980 (1936). Siehe u. a. in Bd. 1, Kap. 2,4: Über das Verhalten beim Essen, S. 110–173. 11  So bei Jan-Dirk Müller, Die ‚hovezuht‘ und ihr Preis (Anm.  8), hier S.  303, 306, 305, 302/303. 12  Zur ‚Entlarvung‘ s. Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (Anm. 5), S. 231 ff. 13  Zur Komik der Bewegung s. ebd., S. 221 ff. 14  Wolfgang Beutin erwähnt zwar nicht Konrads von Würzburg ‚Halbe Birne‘, führt aber in seinem Kapitel ‚Transvestitismus, Rollentauschspiele‘ Konrads ‚Trojanerkrieg‘ und die Jugendgeschichte des feminisierten Achill an: W. B., Sexualität und Obszönität. Eine literaturpsychologische Studie über epische Dichtungen des Mittelalters und der Renaissance, Würzburg 1990, S.  225. Möglicherweise ließe sich die Verfasserschaft Konrads von Würzburg für die ‚halbe Birne‘ auch von dort her stützen. 15  Vgl. etwa Hubertus Lutterbach, Sexualität im Mittelalter. Eine Kulturstudie anhand von Bußbüchern des 6. bis 12. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 1999 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 43), S. 147 ff. oder Thomas Bein, Orpheus als Sodomit. Beobachtungen zu einer mittelhochdeutschen Sangspruchstrophe mit (literar)historischen Exkursen zur Homosexualität im hohen Mittelalter, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 109 (1990), S. 33–55. 16  Auf seine Einschätzung der menschlichen Sexualität als einer ursprünglich bisexuellen, bevor diese eine Ausprägung als vorwiegend heterosexuelle oder aber homoerotische Objektwahl erfährt, geht Freud u. a. ein in: Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), GW Bd. V, Frankfurt a. M. 1999, S. 44 ff. Die Frau mit dem Penis verkörpert für Freud eine „Spiegelung der eigenen bisexuellen Natur“ (ebd., S. 44) des Mannes.

Anmerkungen: Halbe Birnen und sonstige Lustbarkeiten

17  Freud begreift männliche Homosexualität in ihrem passiven Hingabewunsch auch als Mutterfixierung, als Wunsch, Männer so zu lieben, „wie die Mutter sie geliebt hat“: S. F., Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (ebd.), S. 44.

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Transformation des Mythos: Richard Wagner, Fritz Lang und Francis Ford Coppola

6.1 Liebe und Leid

1  Konzeption 1854, Fertigstellung des 1. Aktes 1857 in Zürich, des 2. Aktes nach der Trennung von seiner Frau Minna 1858–1859 in Venedig, des 3. Aktes 1859 in Luzern. Uraufführung am 10.6.1865 in München, Dirigent: Hans von Bülow, Gesamtleitung: Richard Wagner, Tristan: Ludwig Schnorr von Carolsfeld. 1886 erste Inszenierung in Bayreuth auf Veranlassung Cosimas.

6.2 Liebe und Verrat 6.3 Größenwahn 6.4 Faszination des Untergangs

1  Die Nibelungen, Teil 1: Siegfried (gekürzte Version von 1933: Siegfrieds Tod), Teil 2: Kriemhilds Rache, Uraufführung Berlin 1924, Regie: Fritz Lang; Drehbuch: Thea von Harbou. Dieser Aufsatz nimmt die rekonstruierte Fassung von 1988 mit der von Berndt Heller neu eingespielten ursprünglichen Musik von Gottfried Huppertz zur Grundlage. 2  Siegfried Kracauer, Schriften, Bd. 2: Von Caligari zu Hitler (From Caligari to Hitler). Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt a. M. 1979 (1947). 3  Auch wenn Kracauer immer wieder kritisch gelesen wird (vgl. etwa: Thomas Koebner, Von Caligari führt kein Weg zu Hitler. Zweifel an Siegfried Kracauers Methoden der Kulturanalyse, in: Konterbande und Camouflage. Szenen aus der Vor- und Nachgeschichte von Heinrich Heines marranischer Schreibweise, hg. von Stephan Braese und Werner Irro, Berlin 2002, S. 143–170), prägt sein Denkansatz doch nach wie vor die internationale Auseinandersetzung mit dem damaligen deutschen Film. 4  Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler (Anm. 2), S. 287. 5  Vgl. Fritz Lang, Worauf es beim Nibelungen-Film ankam, in: Die Nibelungen [Programmheft], o. O., o. J., S. 12–16, hier S. 12: „Es mußte mir also darauf ankommen, in einer Form, die das Heilig-Geistige nicht banalisierte, mit den Nibelungen einen Film zu schaffen, der dem Volke gehören sollte und nicht, wie die ,Edda‘ oder das mittelhochdeutsche Heldenlied, einer im Verhältnis ganz geringen Anzahl bevorzugter und kultivierter Gehirne“, oder an anderer Stelle: „Und ich habe nichts anderes versucht, als eine dieser Tragödien, so schön und so gegenwartsstark, als ich selbst sie nur empfand, durch die lebendigste Kunstart unserer Zeit – durch den Film – den Menschen von heute neu zu schenken“, in: Fritz Lang, Stilwille im Film, in: Fritz Lang. Die Stimme von Metropolis, hg. von Fred Gehler u. Ullrich Kasten, Berlin 1990, S. 161–164. 6  Aus der Perspektive des heutigen Filmwissenschaftlers stehen hinter einem vorgeblichen Vermittlungsanspruch allerdings handfeste ökonomische Interessen. Laut Thomas Elsässer ging es bei den Adaptionen sog. deutscher Nationalliteratur darum, „aus der Popularität und dem Bekanntheitsgrad des Materials Kapital zu schlagen“: Th. E., Das Weimarer Kino, in: Geschichte des internationalen Films (The Oxford History of World Cinema), hg. von Geoffrey Nowell-Smith, Stuttgart, Weimar 1998 (1996), S. 130–141, hier S. 136/137.

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Anmerkungen: Faszination des Untergangs

7  Hier bleibt noch Thea von Harbous ‚Das Nibelungenbuch‘ (München 1924) zu erwähnen. Das Buch, eine romanhafte Verarbeitung des Stoffs, wurde sozusagen als ‚Buch zum Film‘ ein halbes Jahr vor der Uraufführung auf den Markt gebracht und ist mit Photos aus dem Film illustriert, folgt jedoch einem abweichenden Aufbauprinzip. Es beginnt mit der Entsendung Rüdigers nach Worms durch Etzel und berichtet die Siegfried-Geschichte als Erzählung Kriemhilds. Die Widmung des Buches lautet: ‚Dir und Deutschland‘. Als ein Text, der eindeutig die Grenze zum Kitsch überschritten hat und einem gefühligen Pathos in schwülstiger Sprache frönt, ist er heutzutage nur schwer genießbar. 8  Exemplarisch sei hier eine Arbeit genannt, die an die kritischen Perspektiven von Siegfried Kracauer und Lotte Eisner anknüpft: Heinz-B. Heller, „Man stellt Denkmäler nicht auf den flachen Asphalt“. Fritz Langs Nibelungen-Film, in: Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Joachim Heinzle und Anneliese Waldschmidt, Frankfurt a. M. 1991, S. 351–369. Eine hingegen eher sympathetische Deutung liegt etwa von Klaus Kanzog vor: K. K., Der Weg der Nibelungen ins Kino. Fritz Langs Film-Alternative zu Hebbel und Wagner, in: Wege des Mythos in der Moderne. Richard Wagner, ‚Der Ring des Nibelungen‘, eine Münchner Ringvorlesung, hg. von Dieter Borchmeyer, München 1987, S. 202–223. 9  Eine gängige Polemik, die darauf abzielt, entweder Inhalt und Stoff für die Wirkung des Films verantwortlich zu machen oder aber Elemente äußerer Gestaltungsprinzipien, wie Dekor und Architektur, scheint mir wenig sinnvoll zu sein. 10  Als eine zweisprachige Ausgabe unter anderen sei hier genannt: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdt. übers. und komm. von Siegfried Grosse, Stuttgart 1997. 11  Obwohl neuere Forschungen verstärkt die maßgebliche Mitarbeit Thea von Harbous betonen, die dem Regisseur minutiös ausgearbeitete Drehbücher geliefert hat (vgl. Reinhold Keiner, Thea von Harbou und der deutsche Film bis 1933, Hildesheim, Zürich, New York 1984, Studien zur Filmgeschichte 2, S. 84–90), erscheint es mir nicht angebracht, eine getrennte Zuschreibung inhaltlicher Verantwortlichkeiten für Thea von Harbou und bildlich-formaler für Fritz Lang vorzunehmen. Die enge Lebens- und Arbeitsgemeinschaft beider zur damaligen Zeit lässt wohl eine solche Konstruktion ebenso wenig zu wie die Tatsache, dass ein Regisseur für seinen Film als Ganzes verantwortlich zeichnet. Und wenn neuerdings die starke Einflussnahme Thea von Harbous auch im ästhetischen Bereich betont wird, so ist doch wohl umgekehrt eine mögliche Einflussnahme Langs auf das Drehbuch nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen. 12  Die Edda. Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der Germanen, übertragen von Felix Genzmer, eingel. von Kurt Schier, 2. Aufl., Düsseldorf, Köln 1982. 13  Vgl. Thea von Harbou, Vom Nibelungen-Film und seinem Entstehen (in: Die Nibelungen, Anm. 5, S. 6–11): „Es war nicht möglich, bei einem Vorbild der Überlieferung zu bleiben, denn die eine oder andere im Bewußtsein des Volkes wurzelnde Erinnerung an den Drachentöter Siegfried, an die Nibelungen und Herrn Etzel hätte dabei zu kurz kommen müssen. Da­rum verzichtete ich auf die getreue Nachschöpfung einer Überlieferung und bemühte mich, aus allen – und es gibt mehr an Zahl, als man sich träumen läßt! – das Schönste herauszupflücken und wieder zu einem Ganzen zu verschmelzen“ (S. 10). 14  Reinhold Keiner (Thea von Harbou, Anm. 11) berichtet im Übrigen, dass der Film schon damals „in ‚gebildeten‘ Kreisen auf breite Ablehnung und Unverständnis“ (S. 88) gestoßen sei. 15  Zur Lichtregie Langs vgl. u. a. Sabine Hake, Architectural Histories: Fritz Lang and ‘The Nibelungs’, in: Wide Angle 12 (1990), S. 38–57, hier bes. S. 51 ff. 16  Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass man bereits im Mittelalter Schwierigkeiten mit der Rezeption dieses wenig erbaulichen Textes hatte und die Handschriften einen Folgetext

Anmerkungen: Faszination des Untergangs

überliefern, der erzählend an den Schluss des ‚Nibelungenliedes‘ anknüpft und das erschütternd Unerklärliche des Liedes mit Rationalisierungen und Moralisierungen und vor allem ‚Klagen‘ aufzufangen versucht: Diu Klage. Mit den Lesarten sämtlicher Handschriften, hg. von Karl Bartsch, Darmstadt 1964 (unveränd. reprograf. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1875). 17  Diese These vertritt Heinz-B. Heller, „Man stellt Denkmäler nicht auf den flachen Asphalt“ (Anm. 8), S. 356. 18  Deutungen des ‚Nibelungenliedes‘, die ich hier immer wieder einfließen lasse, sind eingehender entwickelt in: Irmgard Gephart, Der Zorn der Nibelungen. Rivalität und Rache im ‚Nibelungenlied‘, Köln, Weimar, Wien 2005. 19  Werner Wunderlich weist darauf hin, dass in der Nibelungenliteratur nach dem Ersten Weltkrieg Siegfried als Schmied gern als Symbol eines wiederauferstehenden Deutschland verwendet wurde: „Der Glaube an die Wirtschaftskraft Deutschlands und den Arbeitswillen seiner Bevölkerung verband sich mit mythischen Vorstellungen des Schmieds, seinen geheimnisvollen Fähigkeiten und seiner Urkraft“: Der Schatz des Drachentödters. Materialien zur Wirkungsgeschichte des Nibelungenliedes, zusammengestellt und kommentiert von Werner Wunderlich, Stuttgart 1977, S. 79. 20  Victoria M. Stiles (The Siegfried Legend and the Silent Screen. Fritz Lang’s Interpretation of a Hero Saga, in: Literature Film Quarterly 8 [1980], S. 232–236, hier S. 235) erkennt in Siegfried den nordischen Sonnengott Baldur, in Hagen den Todesgott Odin wieder. 21  Vgl. ebd., S. 234. 22  Kritische Kommentare gehen vor allem zurück auf Siegfried Kracauer, etwa S. K., Von Caligari zu Hitler (Anm. 2), S. 103. Zu Kracauers Verständnis des Massenornaments vgl. auch: S. K., Das Ornament der Masse (1927), in: S. K., Schriften, Bd. 2: Aufsätze 1927–1931, Frankfurt a. M. 1990, S. 57–67. Kracauer gibt in seinen Schriften immer wieder zu verstehen, dass er die Massenarrangements Langs, die für spätere Nazi-Inszenierungen vorbildhaften Charakter gehabt hätten, für ein moralisches Versagen des Regisseurs erachtet. Zu Relativierungen dieser Negativeinschätzung vgl. etwa David J. Levin, Richard Wagner, Fritz Lang and The Nibelungen. The Dramaturgy of Disavowal, Princeton 1998, S. 100/101. 23  Wie weit diese Charakterumbildung signifikant für das Siegfried-Bild einer damaligen reaktionären Nibelungen-Literatur war, ist bei Werner Wunderlich (Der Schatz des Drachentödters, Anm. 19, S. 71) nachzulesen: „Mit der Entstehung der Dolchstoßlegende wurde das Schicksal Siegfrieds intensiver als je zuvor als das Schicksal des tragischen Helden interpretiert. Siegfrieds strahlende Größe beschwört Haß und Neid seiner Feinde herauf, deren Heimtücke er unterliegen muß (...). Siegfried wurde zum Leitbild und zur Beglaubigungs­ instanz kollektiver Selbsttäuschung; Hagen – während des Krieges noch als Symbol heldischer, todesmutiger Bewährung verherrlicht – aber zur Inkarnation des finsteren Bösen, der den ‚Sonnensiegfried‘ gefällt hat.“ 24  Als ein immer wiederkehrender Topos deklariert der Text etwa männliches Unglück als durch Frauen, weibliches durch Männer bedingt. 25  Zwar steht auch das ‚Nibelungenlied‘ des 13. Jahrhunderts in einem christlich geprägten Raum, es verweigert jedoch konsequent eine schlüssige christliche Sinndimension. Nicht zuletzt die Ungeschiedenheit von Gut und Böse und die Absenz einer Heilsperspektive machen die verstörende Kraft des alten Epos aus. 26  Zu einer Quasivaterfigur wird Hagen im ‚Nibelungenlied‘ erst im zweiten Teil. 27  So sind beide, Siegfried und Hagen, etwa auf Isenstein zu sehen. 28  Auch Thomas Elsässer (Das Weimarer Kino, Anm.  6, S.  136) erwähnt mit Bezug auf Siegfried Kracauer, dass die Unterwerfung von Rebellen unter ein Gesetz der Väter ein Strukturmerkmal des Weimarer Kinos darstelle, ohne jedoch auf den Nibelungenfilm Bezug zu

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Anmerkungen: Faszination des Untergangs

nehmen. Zum Thema ödipaler Konstellationen im Weimarer Kino siehe eingehender auch: Thomas Elsässer, Film History and Visual Pleasure: Weimar Cinema, in: Cinema Histories, Cinema Practices, ed. by Patricia Mellencamp and Philip Rosen, Los Angeles 1984 (The American Film Institute Monograph Series 4), S. 47–84, bes. S. 60 ff. Wenngleich der NibelungenFilm nicht exemplarisch herangezogen wird, lassen sich Sätze wie der folgende zweifellos auch auf diesen anwenden: “In this respect, the homosexual, paranoid, narcissistic fantasies which constitute Kracauer’s portrait of the ‘German soul’ as masculine, masochistic and ‘tossed be­ tween rebellion and submission’ can certainly be read off the films with persuasive regularity [...]” (S. 61). 29  Die empathischen Begriffe von ‚Gemeinschaft‘ und ‚Treue‘ werden von den Filmemachern übrigens auch mehrfach im Zusammenhang mit einer Rückschau auf die Produktion und Dank an die Beteiligten im Programmheft benutzt: Thea von Harbou, Vom NibelungenFilm und seinem Entstehen (Anm. 13), S. 9/10; Fritz Lang, Worauf es beim Nibelungen-Film ankam (Anm. 5), S. 15 f. Und mehr noch als hier schwelgt Fritz Lang in seinem Beitrag ‚Arbeitsgemeinschaft im Film‘ (in: Fritz Lang. Die Stimme von Metropolis, Anm. 5, S. 164–169) in pathetischen Gemeinschaftsbeschwörungen. Für Thea von Harbou und sich selbst benutzt er den Begriff der „Arbeitskameradschaft“ (S. 165). „Gemeinschaftliche Liebe und bedingungslose Hingabe an die Idee“ (S. 167) bescheinigt er seinen Mitarbeitern, ebenso dass „treuere und opferwilligere Mitarbeiter [...] kein Regisseur haben“ kann (S.  167). Und: „[...] hier erfüllte sich, was wir Deutschen sonst so schwer entbehren: die Einigkeit“ (S. 169). 30  Für das Motiv der tapferen Burgunden und feigen Hunnen hält Hollywood aber auch die propagandistische Umkehrung bereit, vgl.: Hans Beller, Die Deutschen als Hunnen. Feindbildproduktion in Hollywood (1914–1930), in: Unser Jahrhundert in Film und Fernsehen. Beiträge zu zeitgeschichtlichen Film- und Fernsehdokumenten, hg. von Karl Friedrich Reimers u. a., München 1995 (kommunikation audiovisuell. 2), S. 11–34. 31  Tom Gunning (The Films of Fritz Lang. Allegories of Vision and Modernity, London 2000) beschreibt Kriemhild folgendermaßen: “This is a dead woman walking – and staring – which is why, once her revenge is accomplished, she dies so suddenly, collapsing like an abandoned marionette” (S. 50). 32  Exemplarisch sei hier etwa die Jugendbuchbearbeitung von Auguste Lechner genannt: A. L., Die Nibelungen. Glanzzeit und Untergang eines mächtigen Volkes, 16. Aufl., Würzburg 1998 (1951). 33  In der Inhaltsangabe, die im Programmheft abgedruckt ist (Die Nibelungen, Anm.  5, S. 17–24), hie und da mit kleinen Abweichungen vom Film, heißt es: „Der alte Waffenmeister Dietrichs von Bern, Hildebrand, der es nicht erträgt, daß so edle Recken um eines Weibes willen gefallen sind, gibt Kriemhild den Tod, der keinen Schrecken für sie hat, nur endliche Erlösung“ (S. 24). 34  Zum Begriff der ‚Nibelungentreue‘, der 1909 von Reichskanzler Bernhard von Bülow in einer Rede vor dem Reichstag geprägt wurde, um die deutsch-österreichische Allianz in der bosnischen Krise zu umschreiben, vgl. etwa: The Nibelungen Tradition. An Encyclopedia, ed. by Francis G. Gentry u. a., New York, London 2002, S. 311/312. 35  Vgl. Peter Krüger, Etzels Halle und Stalingrad: Die Rede Görings vom 30.1.1943, in: Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum (Anm. 8), S. 151–192 inkl. Abdruck der Rede. 36  Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, mit einer Vorbemerkung zur Taschenbuchausgabe und einem Nachwort zur Editionsgeschichte von Oliver Pretzel, München 2002, S. 279.

Anmerkungen: Faszination des Untergangs

37  Kritisch kommentiert auch Reinhold Keiner (Thea von Harbou, Anm.  11, S.  90) eine Unterstützung reaktionärer Kreise im damaligen Deutschland durch den Film, der als Aufführung und in publizierten Textauszügen des Drehbuchs eine breite Wirksamkeit entfaltet habe. Gewisse Ambivalenzen bleiben auch mit den Filmemachern verbunden. Während Fritz Lang als Flüchtling und Emigrant – 1933 hat er Deutschland nach einem Gespräch mit Goebbels überstürzt verlassen – über einen Verdacht ideologischer Affizierung erhaben zu sein scheint (vgl. Fritz Lang, Autobiography, in: Lotte Eisner, Fritz Lang, New York, o. J., Repr. d. Ausg. London 1976, S. 9–15, hier S. 14/15) wissen wir von der in Deutschland zurückbleibenden Thea von Harbou, deren Lebensgemeinschaft mit Fritz Lang damals schon zerbrochen war, dass sie fortan in der Nazi-Film-Produktion mitgewirkt hat (vgl. u. a. Patrice Petro, Joyless Streets. Women and Melodramatic Representation in Weimar Germany, Princeton Univ. Press 1989, S. 26/27), laut Klaus Kreimeier „eine der vielen schönen Seelen, die dem Faschismus – nicht etwa ‚erlagen‘, sondern ihm in die Arme flogen“: K. K., Der Schlafwandler. Fritz Lang und seine deutschen Filme, in: ... Film ... Stadt ... Kino ... Berlin ..., hg. von Uta Berg-Ganschow und Wolfgang Jacobsen, Berlin 1987, S. 89–116, hier S. 92. 38  Vgl. u.  a. Heinz-B. Heller, „Man stellt Denkmäler nicht auf den flachen Asphalt“ (Anm. 8), S. 363. Während dieses Phänomen seit Siegfried Kracauer einer vielfach negativen Bewertung unterliegt, stellt Tom Gunning (The Films of Fritz Lang, London 2000) eine ästhetische Logik des Films zwischen der Entzauberung einer mythischen Welt und Todesfatalismus betont distanziert dar. Der deutsche Leser reagiert allerdings irritiert darauf, mehrfach mit dem Begriff vom ‚Holocaust der Burgunden‘ konfrontiert zu werden (S. 50/51). 39  Vgl. auch Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler (Anm. 2), S. 102 und Klaus Kreimeier, Der Schlafwandler (Anm. 37), S. 105. Als wollten die Filmemacher sich schon vorab gegenüber zukünftiger Kritik rechtfertigen, gehen sie übrigens im Programmheft (Die Nibelungen, Anm. 5) gleich mehrmals auf das Thema der Menschenmassen ein, und zwar mit dem allem Augenschein widersprechenden programmatischen Anspruch einer bewussten Vermeidung derselben (S. 9, 13, 14). 40  Fred Gehler und Ullrich Kasten (Fritz Lang. Die Stimme von Metropolis, Anm. 5) grenzen sich hier von der kritischen Einschätzung Kracauers ab: „Es steht auf einem ganz anderen Blatt, daß sich der Künstler Lang – in einer Mischung von Faszination und Schauder – sehr wohl der Suggestion ‚autoritärer Muster von Menschen‘ bewußt war“ (S. 101). Auch wenn man dem zustimmt, bleibt jedoch die irritierende Beobachtung zu verzeichnen, dass Lang keine eigentlich tragenden Gegenwelten zu diesen ‚autoritären Mustern‘ gestaltet. 41  Zu dem merkwürdigen Schillern der Filme Langs zwischen einem sensiblen Künstlertum, das Schwingungen seiner Zeit aufnimmt, und der distanzlosen Reproduktion eines Zeitgeistes äußert sich Klaus Kreimeier wie folgt: „Langs Filme, selbst sehr anfällig für die Attitüden der Zeit, fangen sie auch präzis ein, verankern sie in der Psychologie der Figuren, im Inventar der Bilder und inszenatorischen Einfälle“: K. K., Der Schlafwandler (Anm. 37), S. 101. 42  Vgl. Fritz Lang, Stilwille im Film, in: Fritz Lang. Die Stimme von Metropolis (Anm. 5), S. 161–164. 43  Mit ihrer Vorliebe für biblische Wendungen spricht Thea von Harbou in: Vom Epos zum Film (Die Woche 26, 1924, Nr.  6, S.  138–140) gar vom „Hohenlied bedingungsloser Treue“ (S. 139). 44  Zu vergleichbaren Ergebnissen aus einer anderen Perspektive kommt auch: David J. Levin, Richard Wagner, Fritz Lang and The Nibelungen (Anm. 22), bes. Kap. 3: Viewing with a Vengeance. The Dramaturgy of Appearances in Fritz Lang’s ‘Siegfried’, S.  96–140. Levin untersucht das Verhältnis von Blicken und Macht im ersten Teil des Nibelungenfilms und

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Anmerkungen: Faszination des Untergangs

kommt zu dem Ergebnis, dass dem beherrschten und kritischen Blick Hagens eine Siegerposition mit national-ideologischem Anspruch zukommt: “Put in terms of its pedagogical imperative, the film suggests that we must unlearn Siegfried’s naive and seductive appeal – which is reiterated in his naive relationship to the image – in favor of that most appealing (because long-established) of national virtues: critical distance and (what amounts to the same thing) upstanding, unquestioning, and unrelenting loyalty” (S. 138). Im Medium der Dramaturgie des Blicks erfasst der Text m. E. vieles von dem impliziten ideologischen Gehalt des Films. Schwerer fällt es allerdings, der These zu folgen, wonach im Rahmen einer filmhistorischen Rivalität Siegfried mit Hollywood und Hagen mit einer deutschen Filmproduktion gleichgesetzt wird, die hiermit ihren Superioritätsanspruch behaupte. Wie man auch zu dieser Deutung stehen mag, in jedem Fall scheint eine kritische Haltung gegenüber den nationalen Untertönen des Films im Ausland schärfere Konturen anzunehmen als hierzulande. 45  Nicht von ungefähr kam laut Kreimeier dem Film die zweifelhafte Ehre zu, 1929 in dem nationalsozialistischen Blatt „Der Angriff“ als „Film der deutschen Treue“ gepriesen zu werden: Klaus Kreimeier, Der Schlafwandler (Anm. 37), S. 105. 46  Insofern kann ich auch nicht dem polemischen Einwand von Fred Gehler und Ullrich Kasten (Fritz Lang. Die Stimme von Metropolis, Anm. 5) folgen: „Menschliche Leidenschaften unterminieren die geometrischen Flächen. Das Ornament zerfällt, es wird – ganz entgegen der These Kracauers – vom Menschlichen, von den übermächtigen Gefühlen zerstört“ (S. 101). Denn die Zerstörung lässt beispielsweise Gestalten wie Brünhild, Siegfried und vor allem Kriemhild als Verkörperung einer Wormser Geometrie visuell unangetastet. 47  Vgl. Thea von Harbou, Vom Nibelungen-Film und seinem Entstehen, in: Die Nibelungen (Anm. 5), S. 6–11: „Schönheit über Schönheit fand ich in dem alten Liede, und es gab keine Grenzen in ihrer Verwirklichung“ (S. 10). In ‚Vom Epos zum Film‘ (Anm. 43) spricht sie ferner davon, „die unaussprechliche Herrlichkeit der Welt um Kriemhild und Siegfried dem deutschen Volke in einer Form zu offenbaren, die ebenso seiner Sehnsucht nach dem Wunder entspricht wie seiner Überarbeitung und Müdigkeit“ (S. 139). 48  Aug. F.  C. Vilmar, Geschichte der Deutschen National-Litteratur, 26.  Aufl., Marburg 1905, S. 50. 49  Ebd., S. 80/81. 50  Gustav Roethe, Deutsches Heldentum (1906), in: G. R., Deutsche Reden, Leipzig [1927], S. 1–18, hier S. 14. 51  Gustav Roethe, Deutsche Treue in Dichtung und Sage (1923), in: Ebd., S. 19–47. 52  Ebd. S. 11. Auch Fritz Lang liebte diese biblische Wendung: „Hier liegt für mein Gefühl die ethische Aufgabe des Films und speziell des deutschen Films: Gehe hin in alle Welt und lehre alle Völker! Hier liegt der Angelpunkt des Wunsches, den Nibelungenfilm zu schaffen“: Fritz Lang, Stilwille im Film, in: Fritz Lang. Die Stimme von Metropolis (Anm. 5), S. 161–164, hier S. 162. – Auch in ‚Vom Epos zum Film‘ (Anm. 43) schreckt Thea von Harbou nicht vor narzisstischen Phantasien und biblischem Pathos zurück: „Denn kraft seiner Besonderheit ist der Film – und von allen Künsten nur er allein – etwas Allmächtiges. Ein Wille sagt: Es werde! – und siehe da, es wird!“ (S. 139). 53  Vgl. Fritz Lang, Kitsch – Sensation – Kultur und Film, in: Fritz Lang. Die Stimme von Metropolis (Anm.  5), S.  202–206, über den Nibelungenfilm: „Der Film als Zeitdokument (eine Gattung, von der Mabuse nur ein erdgebundener Vorläufer war) zeigt den Menschen von heute – oder vielmehr: er muß ihn zeigen – in derselben Übersteigerung, in der ich die ‚Nibelungen‘ zu zeigen versucht habe. Nicht einen Menschen von 1924, sondern ‚den‘ Menschen

Anmerkungen: Hagen von Tronje und Tom Hagen

von 1924. Denn der Mensch als Begriff braucht Überlebensgröße in den Ausmaßen seines Empfindens und Handelns, auch da, wo er ganz klein, ganz schäbig wird“ (S. 206). 54  Vgl. Fritz Lang, Worauf es beim Nibelungen-Film ankam (Anm. 5), S. 12. Lang spricht hier u. a. von dem „geistigen Heiligtum“ der Nation. 55  Wenn Fritz Lang in ‚Stilwille im Film‘ (in: Fritz Lang. Die Stimme von Metropolis, Anm. 5, S. 161–164) den hehren Anspruch vor sich herträgt, „[...] – das letzte Gemunkel eines Natur-Märchen-Glaubens – mit der tiefen Inbrunst ernster Gebete im Dom zu vereinen, das Geheimnis der Urelemente mit dem Geheimnis des Weihrauchs“ (S. 163), so dürfte er diesen Anspruch gleich doppelt verfehlt haben. 56  Wie weit diese auch das Selbstverständnis des deutschen Films betrafen, belegen die mehrfachen Abgrenzungen und Rechtfertigungen gegenüber Hollywood im Programmheft (Die Nibelungen, Anm. 5, S. 7, 8, 15) und die permanente Bekräftigung eines originären Deutschtums. 57  „Dem deutschen Volke zu eigen“ lautet die Widmung des Films.

6.5 Hagen von Tronje und Tom Hagen

1  Das Nibelungenlied. Mittelhochdt./Neuhochdt., nach der Hs B hg. von Ursula Schulze, ins Neuhochdt. übers. u. komm. von Siegfried Grosse, Stuttgart 2010. 2  Vgl. Norbert Grab, Bernd Kiefer, Ivo Ritzer (Hg.), Mythos ‚Der Pate‘. Francis Ford Coppolas Godfather-Trilogie und der Gangsterfilm, Berlin 2011. 3  Francis Ford Coppola: The Godfather (Der Pate), USA 1972, 175 Min., mit Marlon Brando und Al Pacino; The Godfather Part II , USA 1974, 196 Min., mit Al Pacino und Robert de Niro; The Godfather Part III , USA 1990, 163 Min., mit Al Pacino und Andy Garcia. Der erste Teil erhielt den Oscar für den besten Film (an Albert S. Ruddy), das beste adaptierte Drehbuch (an Coppola und Puzo) und den besten Hauptdarsteller (an Marlon Brando). Brando hat 1973 allerdings die öffentliche Entgegennahme des Oscars aus Protest gegen die Diskriminierung der Indianer in der damaligen amerikanischen Filmindustrie verweigert, gleichwohl wird ihm dieser Oscar gemeinhin zuerkannt. 4  Den Studierenden aus meinem Seminar „Ritter und Revolverhelden“ im WS 2011/12 an der Universität Bonn verdanke ich wichtige Anregungen zu diesem Thema. 5  Mario Puzo: Der Pate (The Godfather). Roman, deutsch von Gisela Stege, 11. Aufl., Reinbek b. Hamburg 2010 (1969). 6  Grob, Kiefer und Ritzer erwähnen zwar die antike Tragödie, Shakespeare und Wagners ‚Ring des Nibelungen‘ als Inspirationsquellen, übersehen aber die Strukturelemente aus dem ‚Nibelungenlied‘ im Film, die nicht in Wagners ‚Ring‘ eingegangen sind: Norbert Grob, Bernd Kiefer u. Ivo Ritzer, An American Tragedy. ‚The Godfather‘ als filmisches Epos des 20. Jahrhunderts, in: Mythos ‚Der Pate‘ (Anm. 2), S. 8–40, hier S. 10. 7  Tom Hagen zu dem Filmproduzenten Woltz: “I’m German-Irish.” 8  Zur Herkunft Hagens vgl. Mario Puzo (Anm. 5), S. 54 ff. Puzo bringt im Roman auch eine Augenkrankheit des jungen Hagen ins Spiel (S. 57), die an den Verlust von Hagens rechtem Auge im ‚Waltharius‘ denken lässt. 9  Vgl. eingehend Irmgard Gephart: Der Zorn der Nibelungen. Rivalität und Rache im ‚Nibelungenlied‘, Köln, Weimar, Wien 2005 und Kap. 4 dieses Buches. 10  Vito Corleone zu Tom Hagen: “Give this to Clemenza. I want reliable people; people that aren’t gonna be carried away. I mean, we’re not murderers, despite of what this undertaker says.” 11  Anthony Corleone ist im Begriff, eine Karriere als Sänger anzutreten, und auch Tom Hagens hinterbliebener Sohn Andrew lebt als Priester außerhalb einer mafiosen Welt.

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Anmerkungen: Erfüllung und Entsagung

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Beziehung von Gott und Mensch: Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Genesis 1–3

7.1 Erfüllung und Entsagung

1  Im Folgenden wird zitiert nach: Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, hg. von Gisela Vollmann-Profe (Bibliothek des Mittelalters 19), Frankfurt a. M. 2003. 2  Vgl. u. a. Walter L. Bühl, Zum Aufbau und zur Dynamik der Gefühle. Versuch einer ka­ tastrophentheoretischen Darstellung, in: Soziologie der Gefühle, hg. von Roswitha Schumann u. Franz Stimmer (Soziologenkorrespondenz N. F. 12), München 1987, S. 106–138. 3  Ins Auge fällt bei der gängigen Konstruktion von vier Grundgefühlen (Freude und Trauer, Angst und Wut) die nahezu identische Konstruktion mit den vier Hauptaffekten der Stoa. Bei Chrysipp sind es Begierde und Furcht, Lust und Schmerz: Stoicorum veterum fragmenta, hg. von Johannes von Arnim, Bd. 3, Leipzig 1903, S. 110 (456). Von Cicero übernimmt sie noch Augustinus als ‚cupiditas‘ und ‚timor‘, ‚laetitia‘ und ‚tristitia‘ (vgl. u. a. Aurelius Augustinus, Die Bekenntnisse [Confessiones], Übertr., Einl. u. Anm. von Hans Urs von Balthasar, 2.  Aufl., Einsiedeln, Trier 1988, S. 254: 10. Buch, XIV , 22). 4  Max Weber hat hierfür den Begriff des affektuellen Handelns geprägt. Er führt im Rahmen seiner Handlungslehre die Kategorie des ‚affektuellen Handelns‘ ein, die sich im Gegensatz zu den anderen Handlungskategorien des ‚zweckrationalen‘, ‚wertrationalen‘ und ‚traditionalen‘ Handelns durch eine unmittelbare affektuelle Bedürfnisbefriedigung auszeichne: „Affektuell handelt, wer sein Bedürfnis nach aktueller Rache, aktuellem Genuß, aktueller Hingabe, aktueller kontemplativer Seligkeit oder nach Abreaktion aktueller Affekte (gleichviel wie massiver oder wie sublimer Art) befriedigt“: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5., rev. Aufl. bes. von Johannes Winckelmann, Studienausg., Tübingen 1980, S.12. 5  Aristoteles, Nikomachische Ethik, Übers. u. Nachw. Franz Dirlmeier, Stuttgart 1992, S. 29–33: Buch I, 13. 6  Vgl. Walter Bühl (Anm. 2). 7  Irrationales entspricht einem Bewegtwerden, Rational-Sittliches einem Dauerzustand oder einer festen Grundhaltung: Aristoteles, Nikomachische Ethik, Übers. u. Nachw. Franz Dirlmaier, Stuttgart 1992, S. 42: Buch II , 4. 8  Diese Vorstellung geht zurück auf die neuplatonische Emanationslehre des Dionysius Areopagita (vgl. Stellenkommentar 20,25 in Mechthild von Magdeburg [Anm. 1], S. 706). 9  Zum Thema des Sterbens in der Minne und des Selbstverlustes vgl. u.  a. S.  23,30/31; 25,11/12; 26,21/22; 38,4; 48,15/16; 76,14; 576,9/10. 10  Von der minne weg an siben dingen, von drin kleiden der brúte und von tantzen (58). 11  Vgl. Georg Simmel, Die Persönlichkeit Gottes, in: G.  S., Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais, mit einem Nachwort von Jürgen Habermas, Berlin 1983 (1923), S. 154–168, hier S. 161. 12  Wie die brut, die vereinet ist mit gotte, verwirfet aller creaturen trost sunder alleine gotz, und wie si sinket von der pine (258). 13  Zur Thematik der gotzvroemdunge vgl. auch Helena Stadler, Konfrontation und Nachfolge. Die metaphorische und narrative Ausgestaltung der unio mystica im Fliessenden Licht der Gottheit von Mechthild von Magdeburg (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, Bd. 35), Bern u. a. 2001, S. 156–173. Seelhorst nimmt das Phänomen unter der Perspektive der ‚compassio‘ in den Blick: Jörg Seelhorst, Autoreferentialität und Transformation. Zur Funktion mystischen Sprechens bei Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart und Heinrich Seuse, Tübingen, Basel 2003, S. 107–115.

Anmerkungen: Erfüllung und Entsagung

14  Vgl. Irmgard Gephart, Ichverlust und Autonomiegewinn in der Minnelyrik Walthers von der Vogelweide: ‚Minnediskurs‘ (C 44) und ‚Kranzlied‘ (C 51), in: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide, Wolfger von Erla, Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich), hg. von Helmut Birkhan (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 721), Wien 2005, S. 115–124. 15  Die nach-freudianische Psychoanalyse bezeichnet eine Rationalität zurückbildende psychische Bewegung als ‚Regression im Dienste des Ich‘, so etwa Reimut Reiche: „Heute wissen wir, daß alle schöpferischen, kulturinnovativen Leistungen auf die vorübergehende Auflösung bislang festgefügter Ich-Grenzen angewiesen sind. Diesen Vorgang nennen wir Regression im Dienste des Ichs“: R. R., Einleitung, in: Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse. Die Zukunft einer Illusion, Frankfurt a. M. 1993, S. 7–30, hier S. 15.

7.2 Der Christ der Zukunft hat vergessen, dass er ein Christ ist

1  Vgl. u. a.: Sigmund Freud, Zur Einführung des Narzissmus (1914) (= Gesammelte Werke, Bd. 10), Frankfurt a. M. 1999, S. 137–170; Jacques Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949 (= Schriften, ausgew. u. hg. von Norbert Haas, übers. von Rodolphe Gasché u. a., Bd. 1), Weinheim, Berlin 41996, S. 61–70; Heinz Kohut, Narzissmus (The Analysis of the Self, 1971). Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen, übers. von Lutz Rosenkötter, Frankfurt a. M. 1976. 2  Ich zitiere im Folgenden, auch in den Übersetzungen, nach: Meister Eckhart, Werke, hg. und komm. von Niklaus Largier, Bd. I, II , Frankfurt a. M. 1993. 3  Vgl. u.  a. Dietmar Mieth, Predigt 86: ‚Intravit Jesus in quoddam castellum‘, in: Georg Steer u. Loris Sturlese (Hg.), Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, Bd. II , Stuttgart 2003, S. 139–176. Die Infragestellung der Echtheit der Predigt bei Kurt Ruh und insbesondere Günter Stachel sehe ich durch Dietmar Mieth nachhaltig entkräftet. In seiner Einschätzung der Martha-Figur als Trägerin von ‚inwendiger Gegenwärtigkeit‘ (S. 161) stimme ich mit Mieth überein, in meiner Einschätzung einer verhalten kritischen Sicht Eckharts auf Maria gehe ich über Mieth hinaus. 4  Zu Eckharts skeptischer Grundhaltung gegenüber einer affektgeleiteten weiblichen Religiosität vgl. Otto Langer, Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie. Zu Meister Eckharts Auseinandersetzung mit der Frauenfrömmigkeit seiner Zeit, München 1987, hier bes. S. 230 ff. 5  Vgl. zum Begriff des Wollens im Sinne eines geistigen Begehrens in Antike und Mittelalter Kurt Flasch, Predigt 52: ‚Beati pauperes spiritu‘, in: Georg Steer u. Loris Sturlese (Hg.), Lectura Eckhardi, Bd. I, Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, Stuttgart, Berlin, Köln 1998, S. 163–200, hier 185/86. 6  Kurt Flasch (Anm. 5) spannt in seinem Kommentar der Armutspredigt einen Bogen zur Quaestio Parisiensis I und setzt an den Schluss seiner Deutung den in der Armut stehenden Intellekt. Ich möchte an dieser Stelle jedoch die unterschiedlichen Denkansätze zwischen der deutschen Predigt und dem lateinischen Text pointieren. In der Armutspredigt nimmt Eckhart in der Ich-Rede in radikaler Weise die Position des Menschen ein und lässt ihn dort identisch mit Gott als Ursache allen Seins sein, in der er noch ungeschaffen, also im eigentlichen Sinne noch nicht Mensch ist. In der Quaestio Parisiensis I hinwiederum denkt Eckhart diesen Urzu-

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Anmerkungen: Der Christ der Zukunft hat vergessen, dass er ein Christ ist

stand von Gott und seinem Verhältnis zum Sein her. Gott steht hier als Ursache, Möglichkeit und Erkennen, als ‚intellectus‘ über dem geschaffenen Sein und geht diesem voraus. In der Armutspredigt aber nimmt Eckhart nicht diese Hierarchie zum Gegenstand seiner Betrachtungen. Hier kommt dem Menschen vielmehr zugleich die Qualität des geschaffenen Seins und die der in sich selbst ruhenden göttlichen Ursache zu. Der Mensch, wie er hier entworfen wird, steht gleichsam mit einem Bein im manifesten Sein und mit dem anderen in dessen unbegrenzter Möglichkeit. In dieser Doppelgesichtigkeit aber entzieht er sich einer hierarchisierenden Denkfigur von Erkennen und Sein. 7  Vgl. Eckhard Wulf, Das Aufkommen neuzeitlicher Subjektivität im Vernunftbegriff Meister Eckharts, Diss. Tübingen 1972, hier bes. S. 113. Wulf legt in seiner Deutung dar, dass Eckhart in Gott Ursache und Wirkung in einer Instanz zusammenfallen lässt: Gott schafft sich in sich selbst. Eckhart entwirft damit im Verständnis Wulfs eine neue ich-betonte Subjektivität, die sich abhebt von den mittelalterlichen Schemata hierarchisierender Seinsbegründungen. 8  Zum Seelengrund als Einheit vgl. Burkhard Mojsisch, Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, Hamburg 1983, S. 139–144. 9  Zum Thema der Gottesgeburt vgl. u. a. die Predigt Q 1, Intravit Jesus in templum (I, 15/17). 10  Das Konzept der Gottesgeburt spiegelt sich auch in Eckharts Begriff der Vernunft, sofern diese reines prozesshaftes Denken ist, vgl. Wulf (Anm. 7). 11  Die Forschung kommt nach Maßgabe dieser Polarität zu variierenden Ergebnissen, die sich mehr oder minder kritisch zu der Maria-Position in Beziehung setzen. Eine im Vergleich zu Mieth (Anm. 3) kritischere Position nimmt Otto Langer ein, der mit der Figur Marias eine grundsätzliche Abwertung von Affekten und Stimmungen bei Eckhart verbunden sieht: Otto Langer, Rationalität und religiöse Erfahrung. Drei Paradigmen: Eriugena, Bernhard von Clairvaux, Meister Eckhart, in: Klaus Ridder (Hg.), Wolfram-Studien XX. Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur. Blaubeurer Kolloquium 2006, Berlin 2008 (= Veröffentlichungen der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft), S. 299–327, hier 320/21. 12  Aus der Perspektive des Zen-Buddhismus wird immer wieder, trotz wahrgenommener Ähnlichkeiten, auf eine grundsätzliche Differenz zwischen Meister Eckharts Denken und östlicher Philosophie hingewiesen, die beispielsweise Ueda in einem ‚personalistischen Theismus‘ bei dem christlichen Denker auszumachen glaubt. Auch Byung-Chul Han nimmt für den Zen-Buddhismus eine Philosophie radikaler Immanenz in Anspruch, die er Eckhart abspricht. Eckharts Gottesverständnis wiederum unterstellt er einen narzisstischen Grundzug. Meines Erachtens wird Eckhart von diesen Autoren zu konformistisch gedeutet und ein provokativer Grundzug der Entpersonalisierung in Eckharts Lehre verkannt, weil er mit dem Christentum als grundsätzlich unvereinbar angenommen wird. Vgl. Shizuteru Ueda, Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre Konfrontation mit der Mystik des Zen-Buddhismus, Gütersloh 1965 (= Studien zu Religion, Geschichte und Geisteswissenschaft  3); Byung-Chul Han, Philosophie des ZenBuddhismus, Stuttgart 2002. 13  Vgl. u. a. Q 1, I, 12,33–14, 4. 14  Eckhard Wulf (Anm. 7) arbeitet hierzu, ausgehend von dem Vernunftbegriff Eckharts, Gott als schöpferische Spontaneität und entsubstantialisiertes reines Denken, insbesondere im Spätwerk, Eckharts heraus. In diesem Gottesverständnis dürfte sich Eckhart auch mit der Lehre des Zen-Buddhismus berühren, der von einer ursächlichen Leerheit des Geistes ausgeht, vgl. u.  a. Shunryu Suzuki, Zen-Geist, Anfänger-Geist (Zen Mind, Beginner’s Mind), Berlin 92000, hier bes. S. 147–153. 15  Die Selbstpsychologie hält bezeichnenderweise für Objekte, die nach Maßgabe eigener Bedürfnisse besetzt werden, den Begriff der ‚Selbstobjekte‘ bereit.

Anmerkungen: Loslassen und in der Wirklichkeit ankommen

7.3 Loslassen und in der Wirklichkeit ankommen

1  Meister Eckhart (Tambach ca. 1260–vermutlich Avignon 1328); Meister Dôgen (Kyôto 1200–Kyôto 1253). 2  Vgl. Heinrich Dumoulin, Geschichte des Zen-Buddhismus, Bd.  2: Japan, Bern 1986, S. 52/53. 3  Zur Radikalität des Lassens bei Eckhart vgl.: Irmgard Gephart, Der Christ der Zukunft hat vergessen, dass er ein Christ ist, in: Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik, Bd. 6, Stuttgart 2009, S. 168–178. 4  Vgl. Kurt Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, 2., überarb. Aufl., München 1989, S. 31–46. 5  Ich zitiere nach: Meister Eckhart, Werke. Bd. I, II , Texte und Übers. von Josef Quint, hg. und kommentiert von Niklaus Largier, Stuttgart 1993 (Bibliothek des Mittelalters 20. 21). RdU, EW II , S. 338,16–21, S. 339,16–22. 6  RdU, EW II , S. 338,22–24, S. 339,23–25. 7  RdU, EW II , S. 338,29–31, S. 339,31–33. 8  RdU, EW II , S. 340,4. 9  RdU, EW II , S. 340,22–25, S. 341,23–26. 10  RdU, EW II , S. 340,31–33, S. 341,33–34. 11  RdU, EW II , S. 340,26–29. 12  RdU, EW II , S. 340,2–3. 13  RdU, EW II , S. 340,25. 14  RdU, EW II , S. 340,25–26. 15  Zum Aufbau des Instanzenmodells vgl. bei Freud u. a. das Kap. VII in: Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, GW , Bd. 14, Frankfurt a. M. 1999, S. 419–506. 16  RdU, EW II , S. 340,27. 17  Pr. 52, EW I, S. 550–563. 18  Pr. 52, EW I, S. 552,9. 19  Pr. 52, EW I, S. 558. 20  Pr. 52, EW I, S. 556,7. 21  Pr. 52, EW I, S. 556,8. 22  Pr. 52, EW I, S. 560,18–23, S. 561,22–27. 23  Pr. 52, EW I, S.  562,3–22. Zum Durchbruchsmotiv bei Eckhart vgl.: Alois M. Haas, Durchbruch zur ewigen Wahrheit, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 2 (2008), S. 171–187. 24  RdU, EW II , S. 342,3–4. 25  S. u. a. Liber ,benedictus‘, EW II , S. 240,5; Pr. 86, EW II , S. 218,2–3. 26  Pr. 86, EW II , S. 212,10–15. 27  Pr. 86, EW II , S. 214,19. 28  Pr. 86, EW II , S. 216,13–15, S. 217,19–21. 29  Pr. 86, EW II , S. 208,16/19. 30  Pr. 86, EW II , S. 210,12–19, S. 211,14–23. 31  Vgl. u. a. Pr. 1, EW I, S. 10 ff. 32  Vgl. in Gen. I, LW I,1, S. 324. 33  Vgl. u. a. VeM, EW II , S. 320,8–12. 34  Vgl. u. a. Pr. 46, EW I, S. 492,21–494,6. 35  Diese Zirkulation einer Bewegung des Austauschs fasst Eckhart in das Motiv von der Gottesgeburt, der gemäß Gottvater den Sohn gebiert, dieser wiederum den Menschen und in der sich dieser Prozess umgekehrt wieder als ein Rückgebären vom Menschen über den Sohn

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Anmerkungen: Loslassen und in der Wirklichkeit ankommen

hin zu Gott fortsetzt. Vgl. Rodrigo Guerizoli, Die Verinnerlichung des Göttlichen. Eine Studie über den Gottesgeburtszyklus und die Armutspredigt Meister Eckharts, Leiden, Boston 2006 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 88). 36  Vgl. Heinrich Dumoulin (Anm. 2), S. 55–59. 37  Posthum gilt er als Begründer der Sôtô-Schule des Zen-Buddhismus, deren Name mit dem berühmten, von ihm später gegründeten Kloster Eiheiji verbunden ist. 38  Ich zitiere hier nach der vierbändigen deutschen Übersetzung von G. Linnebach und G. W. Nishijima, der die dreibändige japanische Iwanami-Ausgabe zugrunde liegt. Die Übersetzer haben einen Sprachduktus gewählt, der um Verständlichkeit und Klarheit bemüht ist; ein ausführlicher Anmerkungsapparat ist dem Leser, der nicht des Japanischen mächtig ist, hilfreich: Dôgen, Shôbôgenzô. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, aus dem japanischen Urtext ins Deutsche übertr. von Gabriele Linnebach und Gudo Wafu Nishijima, Heidelberg/Leimen: Bd. 1, 2., durchges. Aufl. 2008 (2001), Bd. 2 2003, Bd. 3 2006, Bd. 4 2008. 39  Zum Begriff ‚gen‘: Auge vgl. Heinrich Dumoulin (Anm. 2), S. 53. 40  Dôgen (Anm. 38), Bd. 1, S. 58. 41  Dôgen (Anm. 38), Bd. 1, S. 58; vgl. auch: Rolf Elberfeld, Auf Bootsfahrt mit Dôgen. Zen und Philosophie, in: Handbuch Spiritualität, hg. von Karl Baier, Darmstadt 2006, S. 292–303. 42  Dôgen (Anm. 38), Bd. 1, S. 195. 43  Dôgen (Anm. 38), Bd. 1, S. 58. Zu ‚Körper und Geist‘ vgl. u. a. Christian Steineck, Leib und Herz bei Dôgen. Komm. Übers. u. theoret. Rekonstruktion, St. Augustin 2003. 44  Das ‚Herz-Sutra der höchsten Weisheit‘ ist ein kurzer Text, der die Essenz des Mahayana-Buddhismus enthält, vgl. u.  a. Garma C.  C. Chang, Die buddhistische Lehre von der Ganzheit des Seins (The Buddhist Teaching of Totality). Das holistische Weltbild der buddhistischen Philosophie, Bern, München, Wien 1989 (1979), S. 97–110. 45  Dôgen (Anm. 38), Bd. 1, S. 58. 46  Ebd. 47  Dôgen geht hierauf insbesondere in dem Kapitel 11 ‚Uji‘ („Die Sein-Zeit“), ein: „Versteht die Zeit nicht so, als ob sie nur ‚verfliegen‘ würde, sondern begreift, dass ‚Verfliegen‘ nicht ihre einzige Funktion ist. ... Alles, was in diesem ganzen All existiert, ist eine Kette von Augenblicken, und es ist gleichzeitig für sich allein bestehende Augenblicke der Zeit. Und da [Zeit immer] Sein-Zeit ist, ist sie die Zeit meines eigenen Seins“: (Anm. 38), Bd. 1, S. 137. 48  Zum Problem von ‚ursprünglicher‘ und ‚erworbener Erleuchtung‘ vgl. u. a. Heinrich Dumoulin (Anm. 2), S. 42. 49  Die Annahme der Einheit von Übung und Erleuchtung wird gemeinhin als bezeichnend für die Sôtô-Schule des Zen-Buddhismus angesehen. Zur Beziehung von Buddha-Dharma, Selbst und Üben bei Dôgen vgl.: Kunihiko Nagasawa, Das Ich im deutschen Idealismus und das Selbst im Zen-Buddhismus. Fichte und Dôgen, Freiburg i. Br., München 1987, hier bes. Kap.  II . Dôgen, S. 59 ff.; Kunihiko Nagasawa, Das Prinzip des Ich bei Fichte und das Problem des Selbst bei Dôgen, in: All-Einheit. Wege eines Gedankens in Ost und West, hg. von Dieter Henrich, Stuttgart 1985 (Veröffentlichungen der Internationalen Hegel-Vereinigung 14), S. 180–199. 50  Dôgen (Anm. 38), Bd. 1, S. 33. 51  Dôgen (Anm. 38), Bd. 1, S. 41. 52  Dôgen (Anm. 38), Bd. 1, S. 29. 53  Dôgen (Anm. 38), Bd. 2, S. 63. 54  Dôgen (Anm. 38), Bd. 2, S. 64. 55  Dôgen (Anm. 38), Bd. 2, S. 65. 56  Dôgen (Anm. 38), Bd. 2, S. 64.

Anmerkungen: Loslassen und in der Wirklichkeit ankommen

57  Zur Einheit von Täuschung und Erwachen vgl. u. a.: Jochen Adam, Ich und das Begehren in den Fluchten der Signifikanten. Eine Vernähung der Lacan’schen Psychoanalyse mit dem Zen-Buddhismus, Oldenburg 2006 (Transpersonale Studien), S. 213–220.

7.4 Nicht-Wollen und Nicht-Eingreifen

1  Der Autorname ist bei den angeführten chinesischen Texten auch für das Werk selbst gebräuchlich. Ich zitiere im Folgenden nach: Laozi, Daodejing. Das Buch vom Weg und seiner Wirkung, Chinesisch/Deutsch, übers. und hg. von Rainald Simon, Stuttgart 2009. 2  Zhuangzi. Das Buch der Spontaneität (Wandering on the Way). Über den Nutzen der Nutzlosigkeit und die Kultur der Langsamkeit. Das klassische Buch daoistischer Weisheit, hg. und aus dem Chin. ins Engl. übertr. von Victor H. Mair, aus dem Engl. übers. von Stephan Schuhmacher, Oberstdorf 22013. Eine Auswahl, die um eine Einl. und Anm. erweitert wurde, bietet: Zhuangzi. Auswahl, Einl. und Anm. von Günter Wohlfart, übers. von Stephan Schuhmacher, Stuttgart 2003. 3  Im Falle des ‚Liezi‘ haben wir es gar mit einer Textsammlung zu tun, die vermutlich den Zeitraum von ungefähr 300 v. Chr. bis 300 n. Chr. umfasst: Liä Dsi, Das wahre Buch vom quellenden Urgrund, aus dem Chin. übertr. von Richard Wilhelm, mit einem Vorw. von Hans van Ess, München 2009 (1911). 4  Zahlenmystisch steht die 81 für 9 mal 9. Zur Textüberlieferung und zur inneren Struktur des ‚Laozi‘ siehe auch Alan K. L. Chan, The Daode Jing and Its Tradition, in: Daoism Handbook, ed. by Livia Kohn, Leiden, Boston, Köln 2000 (Handbuch der Orientalistik, Abt.  4, China 14), S. 1–29, hier bes. S. 6, 17. 5  Hiervon abweichend übersetzte Richard Wilhelm, Nestor einer modernen deutschen Sinologie, dao mit „Sinn“: Laotse. Tao te king. Das Buch vom Sinn und Leben, übers. und mit e. Kommentar von Richard Wilhelm, Köln 1982 (1910). 6  Zur Wassermetaphorik vgl. u. a. Kap. 32,14 des ‚Laozi‘. 7  Vgl. Wohlfart (Anm. 2), S. 161. Brunozzi versteht dao als „ursprüngliche Bewegtheit“: Philippe Brunozzi. Das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit in der antiken chinesischen Philosophie, München 2011 (Welten der Philosophie 8), S. 170. 8  Ich übernehme hier im Großen und Ganzen die Übersetzung von Simon, wie sie abgedruckt ist, nehme aber im Abgleich mit anderen Übersetzungen einige Modifizierungen nach Maßgabe der von Simon zusätzlich angebotenen Wort-für-Wort-Übertragung vor. Zeile 11 beziehe ich, anders als Simon, nicht auf die Zeilen 1 bis 4, sondern auf die vorherigen Mehrfachnennungen von you und wu. 9  Zum Motiv der Mutter und zum Primat des Weiblichen im ‚Laozi‘ vgl. Max Kaltenmark, Lao-tzu und der Taoismus (Lao Tseu et le taoisme), aus dem Franz. von Manfred Porkert, Frankfurt a. M. 1981 (1965), S. 69–77, 103–107. In Kap. 25,6 des ‚Laozi‘ wird das dao selbst als Mutter bezeichnet. 10  Vgl. Kap. 2,6 des ‚Laozi‘. Vgl. ferner den Exkurs zur Dialektik der Dao-Lehre im ‚Laozi‘ bei Tsung-Tung Chang, Metaphysik, Erkenntnis und praktische Philosophie im Chuang-Tzu. Zur Neu-Interpretation und systematischen Darstellung der klassischen chinesischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1982, S. 94–121, hier bes. S. 102–105. Chang spricht würdigend von einer „taoistischen Dialektik der ausgleichenden Pendelbewegung“ (S.  108) im ‚Laozi‘, die „keine kongeniale Nachfolge“ (S. 107) mehr gefunden hätte. 11  Zum Nichts und zur Gottesgeburt in dieser Predigt vgl.: Burkhard Hasebrink, Predigt 71: ,Surrexit autem Saulus‘, in: Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten

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Anmerkungen: Nicht-Wollen und Nicht-Eingreifen

gelesen und gedeutet, hg. von Georg Steer und Loris Sturlese, Bd. I, Stuttgart, Berlin, Köln 1998, S. 219–245. 12  Pr. 71, DW III , S. 211,3/4. 13  Die Übersetzungen der Eckhart-Texte wurden von Quint übernommen. 14  Pr. 71, DW III , S. 211,6. 15  Ebd., S. 212,1/2. 16  Ebd., S. 219,2/3. 17  Ebd., S. 213,2. 18  Ebd., S. 221,8. 19  Ebd., S. 222,11–223,1. 20  Zur Spannung zwischen Einheit und Beziehung im Schöpfungsverständnis Eckharts vgl.: Christine Büchner, Was heißt ‚lûter niht‘? Meister Eckharts Schöpfungsverständnis im Rahmen seines Denkens der Einheit Gottes, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch, Bd.  1: Meister Eckhart aus theologischer Sicht, hg. von Volker Leppin u. Hans-Jochen Schiewer, Stuttgart 2007, S. 111–123. 21  Vgl. auch Pr. 5b, DW I, S. 94,4–7. 22  Pr. 71, DW III , S. 223,1/2. 23  Zur ‚Isticheit‘ bei Eckhart vgl.: Burkhard Mojsisch, Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, Hamburg 1983, S. 100–105. 24  Pr. 71, DW III , S. 224,5–7. 25  Vgl. Pr. 6, DW I, S. 109,2–112,9. 26  Ebd., S. 109,7. 27  Pr. 2, DW I, S. 34,2. 28  Zur Gottesgeburtslehre bei Eckhart in den Predigten 52 und 101 bis 104 vgl.: Rodrigo Guerizoli, Die Verinnerlichung des Göttlichen. Eine Studie über den Gottesgeburtszyklus und die Armutspredigt Meister Eckharts, Leiden, Boston 2006 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 88). 29  Laozi [Anm. 1], Kap. 16,2. 30  Zum Bewegungsmoment vgl. Brunozzi [Anm. 7], insbes. S. 169–185. 31  Vgl. Pr. 52, DW II , S. 478–524. 32  Zum wuwei vgl. Lutz Geldsetzer u. Han-ding Hong, Chinesische Philosophie, Stuttgart 2008, hier bes. S. 107–113. 33  Vgl. Günter Wohlfart, Der Philosophische Daoismus. Philosophische Untersuchungen zu Grundbegriffen und komparative Studien mit bes. Berücksichtigung des Laozi (Lao-tse), Köln 2001 (Reihe für asiatische und komparative Philosophie 5), hier insbes. Kap. 3, S. 81–99. 34  Weitere Nennungen in den Kapiteln 3, 10, 37, 38, 43, 48, 57, 63, 64 des ‚Laozi‘. 35  Brunozzi (Anm. 7) spricht von einem „konkreativen Gesamtvollzug“, S. 185. 36  Vgl. ebd., S. 196. 37  Vgl. Laozi (Anm. 1), Kap. 25,18: „Was Dao anbetrifft – sein inneres Gesetz ist das, was so ist, wie es ist (dào fa zì rán)“. Weitere Nennungen in den Kapiteln 17, 23, 51, 64 des ‚Laozi‘. 38  Vgl. Wohlfart (Anm. 33), hier insbes. Kap. 4, S. 101–116. Das wuwei, das den Dingen ihr Sosein und ihre natürliche Ordnung, ziran, im Nicht-Eingreifen belässt, taucht im ‚Laozi‘ schließlich in zahlreichen Bezügen als Merkmal eines dem Volk zuträglichen Herrschers auf. Von hier aus wird das ‚Laozi‘ auch als politischer Text verstanden. Bezüge zur Ausübung von Herrschaft etwa in den Kap. 3, 17, 29, 37, 60. 39  Vgl. den grundlegenden Kommentar von Chang (Anm. 10). 40  Zhuangzi, hg. von Mair (Anm. 2), S. 199.

Anmerkungen: Nicht-Wollen und Nicht-Eingreifen

41  Ebd., S. 198. 42  Ebd., S. 196. 43  Vgl. RdU, DW V, S. 200,9–209,4; 280,9. 44  Pr. 86, DW III , S. 485,5/6. 45  Laozi (Anm. 1), Kap. 48,2. 46  Laozi (Anm. 1), Kap. 46,7. 47  Pr. 52, DW II , S. 488,4–6. 48  Im Kap. 7 des ‚Laozi‘ [Anm. 1] heißt es hierzu, dass der Vollkommene, der seine Person zurückstelle, deshalb sein Eigenes erreichen könne. Eckhart spricht in der Predigt 46 davon, dass allein das in Gott gegründete Eigene lebendig sei, alles andere hingegen tot (Pr. 46, DW II , S. 383,8–10). 49  Büchner (Anm. 20) begreift dieses eigentliche Sein als ein Sein in Beziehung, S. 118. 50  Laozi (Anm. 1), Kap. 35,1/2. 51  RdU, DW V, S. 200,4/5. 52  Über den Herrscher, der im ‚Laozi‘ das wuwei verwirklicht, sagt Brunozzi (Anm. 7): „Erst durch seine selbstlose Rezeptivität wird er nämlich das Volk sowie den gesamten Lauf der Dinge in seinen Bann ziehen. Alles wird ihm sodann folgen“ (S. 197).

7.5 Bilder einer ‚anfangenden‘ Seele

1  Ich zitiere im Folgenden nach: Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, im Auftrag der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte hg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907, S.  7–195: Seuses Leben. Die Übersetzungen sind entnommen: Heinrich Seuse, Deutsche mystische Schriften, aus dem Mittelhochdt. übertr. und hg. von Georg Hofmann, mit einer Hinführung von Emmanuel Jungclaussen, Einl. von Alois M. Haas, Zürich, Düsseldorf 1999 (1966). 2  Bynum macht darauf aufmerksam, dass männliche Viten sehr viel stärker als weibliche von einschneidenden adoleszenten Konversionen und Krisen geprägt sind. Als eine mögliche Erklärung bietet Bynum an, dass der vergleichsweise höhere Grad der Selbstbestimmung und der freiere Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen junge Männer wohl auch dazu befähigt und veranlasst habe, diese um so entschiedener in einem Entschluss der Weltentsagung abzulehnen: Caroline Walker Bynum, Holy Feast and Holy Fast. The Religious Significance of Food to Medieval Women, Berkeley, Los Angeles, London 1987, S. 24/25, 285/286. 3  Die Zeiträume, die Seuse etwa immer wieder für die Dauer seiner Selbstkasteiungen angibt, überschreiten zwar einen adoleszenten Rahmen im engeren Sinne, die Tatsache jedoch, dass die ‚Vita‘ systematisch nach Reifungsphasen aufgebaut ist, legitimiert die Berücksichtigung einer entwicklungspsychologischen Dimension. 4  Vgl. u. a.: Geschichte der Jugend, Bd. 1: Von der Antike bis zum Absolutismus, hg. von Giovanni Levi und Jean-Claude Schmitt, Frankfurt/Main 1996. Zum Mittelalter siehe die Aufsätze von Christiane Marchello-Nizia, Elisabeth Crouzet-Pavan und Michel Pastoureau. 5  Während diese Imaginationen in der hiesigen Forschung eher beiläufig behandelt oder übergangen werden, finden sie besondere Aufmerksamkeit in den Schriften Caroline Walker Bynums, die Seuse eine besondere Affinität zur weiblichen Frömmigkeit und Bildern der Weiblichkeit zuschreibt, siehe etwa: Bynum (Anm. 2), S. 102–105. Unter dieser Perspektive erscheint Seuse weniger als Seelsorger in hierarchisch übergeordneter Position denn als spirituell Suchender und Aufnehmender.

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Anmerkungen: Bilder einer ,anfangenden‘ Seele

6  Zur allgemeinen Bedeutsamkeit christlicher Symbole vgl. etwa: Georg Baudler, Einführung in symbolisch-erzählende Theologie. Der Messias als Zentrum der christlichen Glaubenssymbole, München, Wien, Zürich 1982. 7  Mit der Rolle des geistlichen Ritters setzt sich auseinander: Meri Heinonen, Henry Suso and the Divine Knighthood, in: Holiness and Masculinity in the Middle Ages, ed. by P. H. Cullum and Katherine J. Lewis, Cardiff 2004, S. 79–92. Ihre zentrale These lautet: “The clear message which Suso’s ‘Leben’ gives to its readers is that only men could be true knights of God.” 8  Seuse betreute Elsbeth als Seelsorger von 1335 bis zu ihrem Tod 1360. 9  Vgl. hierzu etwa Walter Blank, Heinrich Seuses ‚Vita‘. Literarische Gestaltung und pastorale Funktion seines Schrifttums, in: ZfdA 122, 1993, S. 285–311. Die pastorale Funktion der Vita gegenüber Ordensfrauen betont auch Werner Williams-Krapp, Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspiritualität in der ‚Vita‘ Heinrich Seuses, in: Festschrift Walter Haug und Burkhart Wachinger, hg. von Johannes Janota u. a., Bd. 1, Tübingen 1992, S. 407–421. 10  Seuse selbst ‚relativiert‘ seine Visionen in diesem Sinne etwa im ‚Büchlein der ewigen Weisheit‘ und im ‚Horologium Sapientiae‘, wo er sie überwiegend als Gleichnisreden verstanden wissen will (H  216). Zur psychologischen Problematik von Visionen vgl. Karl Rahner, Visionen und Prophezeiungen. Zur Mystik und Transzendenzerfahrung, hg. von Josef Sudbrack, Freiburg/Breisgau, Basel, Wien 1989. Rahner geht von sog. ‚einbildlichen‘, d. h. nicht körperlich erlebten Visionen als Normalfall aus. Siehe auch: Alois M. Haas, Kunst rechter Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik, 2., durchges. und verb. Aufl., Bern u. a. 1996, S. 179 ff.: Seuses Visionen – Begriff der Vision. 11  Die Verwendung eines Schreibgriffels eröffnet noch einen weiteren Assoziationsraum, der das Schreiben des Dieners betrifft, vgl. Williams-Krapp (Anm. 9), S. 412. 12  Vgl. auch: Urban Küsters, Narbenschriften. Zur religiösen Literatur des Spätmittelalters, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. von Jan-Dirk Müller u. Horst Wenzel, Stuttgart, Leipzig 1999, S. 81–109, hier S. 105–109. 13  Van Gennep spricht hier von Trennungs- und Angliederungsriten: Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage), 3., erw. Aufl., Frankfurt/Main, New York 1999, hier vor allem S. 70 ff. 14  Largier schreibt auch der Praxis des Asketen ein Moment der Inszenierung, des Voyeurismus und der „Erregung der Imagination“ (S. 20) als wesentlich zu: Niklaus Largier, Lob der Peitsche. Eine Kulturgeschichte der Erregung, München 2001, hier u. a. S. 19/20. 15  Die ewige Weisheit unterliegt einem gewissen Gestaltwandel zwischen den Geschlechtern und nimmt teils jesushafte, teils marienhafte Züge an. Vgl. hierzu Volker Mertens, Der Bräutigam, die Braut – die Weisheit und ihr Diener. Geschlechterkonzepte der Brautmystik bei Bernhard und Seuse, in: Mystik – Überlieferung – Naturkunde. Gegenstände und Methoden mediävistischer Forschungspraxis. Tagung in Eichstätt am 16. und 17. April 1999, hg. von Robert Luff und Rudolf Kilian Weigand, Hildesheim, Zürich, New York 2002, S. 1–16; Carolyn Diskant Muir, Bride or Bridegroom? Masculine Identity in Mystic Marriages, in: Holiness and Masculinity in the Middle Ages (Anm. 7), S. 58–78, hier S. 59–69. 16  Zum Verhältnis von Bild und Text in den Seuse-Handschriften vgl. Niklaus Largier, Der Körper der Schrift. Bild und Text am Beispiel einer Seuse-Handschrift des 15. Jahrhunderts, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. von Jan-Dirk Müller u. Horst Wenzel, Stuttgart, Leipzig 1999, S. 251–272; Stephanie Altrock und Hans-Joachim Ziegeler, Die Geburt des Autors im späten Mittelalter. Vom „diener der ewigen wisheit“ zum Autor Heinrich Seuse, in: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000 „Zeiten-

Anmerkungen: Bilder einer ,anfangenden‘ Seele

wende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“, hg. von Peter Wiesinger, Bd. 5: Mediävistik und Kulturwissenschaften, Berlin u. a. 2002 ( Jahrbuch für Internationale Germanistik A 57), S. 323–332. 17  In ihrer Arbeit über die Bedeutung des Essens für religiöse Frauen des Mittelalters schätzt Bynum (Anm. 2) die Befassung Seuses mit dem Thema des Essens so ein, dass nicht das Essen als solches im Vordergrund stehe, sondern die damit verbundene Welt weiblicher Emotionalität: “Insofar as nursing was, for him, a fundamental motif, it expresses the centrality not so much of food as of women and mothers in his emotional world” (S. 102). 18  Vgl. etwa Rolf Fetscher; Ich-Ideal und Über-Ich im Rahmen einer modifizierten Strukturtheorie, in: Psyche 57, 2003, S. 193–225. 19  Vgl. 22, 3 f., 44, 12 f., 50, 18 f. u. a. 20  Vgl. hierzu Rainer Krause, Psychodynamik der Emotionsstörungen, in: Psychologie der Emotionen, hg. von Klaus R. Scherer, Göttingen, Toronto, Zürich 1990 (Enzyklopädie der Psychologie C, IV , 3), S.  630  ff., hier S.  682/683. Krause geht u.  a. auf narzisstisch betonte Prozesse im religiösen Erleben des Christen ein und merkt an, dass die totale Einswerdung mit Gott ja auch für den Mystiker nur im Tode möglich sei und einem psychotischen Ich-Verlust gleichkomme. Er differenziert dann noch einmal zwischen einem ‚gesunden Narzissmus‘, der mit erfahrener Gottnähe einhergehe, und einer „schweren narzisstischen Verarmung“ (683), wie sie für Strömungen des Protestantismus zu gelten habe, der eine Symbiose mit Gott strikt ablehne. 21  Langer spricht hier von „einer Art paraliturgischer Inszenierung“, die einer ‚memoria passionis‘ diene: Otto Langer, Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung – Stationen eines Konflikts, Darmstadt 2004, hier S. 367. 22  Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf: Georg Baudler, Gewalt in den Weltreligionen, Darmstadt 2005, S. 16 ff. 23  Ebd., S. 18. 24  Vgl. Blank (Anm. 9), der die systematische Struktur der ‚Vita‘ analysiert hat. 25  Vgl. Baudler (Anm. 22), S. 37. 26  Vgl. Langer (Anm. 21), S. 372. 27  Bihlmeyer (Anm. 1) führt in seiner kommentierenden Einleitung nur unblutige Praktiken als beispielgebend auf: S. 79, Anm. 2. Zu einem Verständnis der ,Vita‘ als Medium der Darbietung der Altväterspiritualität in Form kommentierter aktueller Lebensbeispiele für geistliche Frauen gelangt Williams-Krapp (Anm. 9). 28  Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf: Baudler (Anm. 22), S. 21 ff. sowie Georg Baudler, Die Befreiung von einem Gott der Gewalt. Erlösung in der Religionsgeschichte von Judentum, Christentum und Islam, Düsseldorf 1999. 29  Vgl. Baudler 1999 (Anm. 28) in Auseinandersetzung mit Girard, S. 77. 30  Vgl. Barbara Ehrenreich, Blutrituale (Blood Rites). Ursprung und Geschichte der Lust am Krieg, Hamburg 1999 (1997), S. 59. 31  Vgl. u. a. René Girard, Das Heilige und die Gewalt (La violence et le sacré), Frankfurt/ Main 1992 (1972); R. G., Ich sah den Satan vom Himmel fallen, München 2002. 32  Vgl. Baudler (Anm. 22), S. 145. 33  Zur Auseinandersetzung Baudlers mit René Girards und Raymund Schwagers Opferbegriff vgl. Baudler 1999 (Anm. 28), S. 63–79. 34  Pleuser spricht in diesem Zusammenhang von einer „kunstvollen Variation des Demutstopos“: Christine Pleuser, Tradition und Ursprünglichkeit in der Vita Seuses, in: Heinrich Seuse. Studien zum 600. Todestag 1366–1966, ges. und hg. von Ephrem M. Filthaut, Köln

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Anmerkungen: Bilder einer ,anfangenden‘ Seele

1966, S. 135–160, hier S. 143. Grundlegend zur Autorschaft Seuses: Julius Schwietering, Zur Autorschaft von Seuses Vita, in: Humanismus, Mystik und Kunst in der Welt des Mittelalters, hg. von Josef Koch, Leiden, Köln 1953, S. 146–158. 35  Ich beziehe mich hier auf einen Terminus des Psychoanalytikers Wilfred R. Bion, der für die Mutter-Kind-Beziehung von einer ‚Container‘-Funktion der Mutter ausgeht, die psychisch noch nicht verdaubares Material des Kindes aufnimmt, um es ihm in gewandelter, für das Kind verwertbarer Form zurückzugeben, vgl. etwa: W. R. Bion, Aufmerksamkeit und Deutung, aus dem Engl. von Elisabeth Vorspohl, Tübingen 2006. 36  Vgl. auch Krause (Anm. 20).

7.6 Verbotene Lust

1  Zu Augustinus als ‚Vater der Erbsünde‘ vgl. u. a.: Kurt Flasch, Eva und Adam. Wandlungen eines Mythos, 2. Aufl., München 2005, S. 38–42. 2  Immanuel Kant, Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: Ders., Werke. Akademie-Textausgabe, unveränd. photomechan. Abdr. des Textes der von der Preuß. Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausg. von Kants ges. Schriften, VIII , Berlin 1968, S. 109–123, hier 115. 3  Ebd., S. 115–118. 4  Hierzu grundlegend: Sigmund Freud, Totem und Tabu (1913), in: Ders., GW IX , Frankfurt a. M. 1999, S. 1–207 und weitere verstreute Texte zum Thema des Ödipuskomplexes. 5  Sigmund Freud, Zur Einführung des Narzissmus (1914), in: Ders., GW X, Frankfurt a. M., 1999, S. 137–170. 6  Vgl. Carl Pietzcker, Einheit, Trennung und Wiedervereinigung. Psychoanalytische Untersuchungen eines religiösen, philosophischen, politischen und literarischen Musters, Würzburg 1996. 7  Vgl. Mario Jacoby, Sehnsucht nach dem Paradies. Tiefenpsychologische Umkreisung eines Urbilds, Fellbach 1980 (Schriftenreihe des C. G. Jung-Instituts Zürich 2).. 8  Eugen Drewermann, Strukturen des Bösen, 1. 2. 3., München 1977–1978. 9  Ebd., Teil 3, S. 140 u. ö. 10  Ebd., Teil 2, S. 617. 11  Ebd., Teil 3, S. 582/83 u. ö. 12  Klaus Albrecht Schröder u. Marie Luise Sternath (Hg.), Albrecht Dürer. Anlässlich der Ausstellung in der Albertina, Wien, 5.9.–8.12.2003, Ostfildern-Ruit 2003, Kat. 65, S. 257. 13  Vgl. in Auseinandersetzung mit Erwin Panofsky: Anne-Marie Bonnet, ‚Akt‘ bei Dürer, Köln 2001 (ATLAS . Bonner Beiträge zur Renaissanceforschung 4), hier S. 156–170. 14  Katze, Elche, Hase und Rind werden mit Bezug auf Panofsky gemeinhin den vier Temperamenten zugeordnet. Vgl. Carsten-Peter Warncke, Sprechende Bilder – sichtbare Worte. Das Bildverständnis in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Forschungen 33), S. 306. Zum Verständnis der Tiere siehe auch eine kritische Auseinandersetzung bei Berthold Hinz, Adam und Eva, in: Klaus Albrecht Schröder u. Marie Luise Sternath (Hg.), Albrecht Dürer (Anm. 12), S. 254–256. 15  Das Schlangenmotiv wiederholt sich dann noch einmal im Schwanz der Katze, welcher die Füße Evas umspielt, während die Katze die Maus zu Füßen Adams fixiert beziehungsweise beide Tiere sich wechselseitig belauern. 16  Anne-Marie Bonnet (Anm. 13) sieht meine Deutung darüber hinaus gestützt durch andere Akte Dürers, in denen etwa eine voyeuristische Geschlechtslust inszeniert wird (Adam und Eva, o. D.; Feder, Abb. 27, S. 80) oder die männliche Figur einen ähnlichen Gestus zeigt

Anmerkungen: Verbotene Lust

wie der Adam des Kupferstichs (Nacktes Paar mit geflügeltem Teufel, o. D.; Feder, Abb. 41, S. 90). Carsten-Peter Warncke (Anm. 14) deutet den Gestus Adams noch in christlicher Tradition als Öffnung einer Schwurhand zu einem Gestus des Forderns, S. 311. 17  Vgl. Irmgard Rüsenberg, „Und Gott sah, dass es gut war“. Bindung und Freiheit im ersten Schöpfungsbericht, in: Aufgang 8 (2011), S. 53–61. 18  Der Genesis-Text führt eine signifikante Doppelung der Bäume ein. Während es für den Baum des Lebens Parallelen in der altorientalischen Literatur gibt, ist ein Vorbild für den Baum der Erkenntnis nicht bekannt, vgl. u. a.: Beate Ego, Adam und Eva im Judentum, in: Christfried Böttrich, Beate Ego u. Friedmann Eißler, Adam und Eva in Judentum, Christentum und Islam, Göttingen 2011, S. 11–78, hier S. 15/16. 19  Auch Westermann geht explizit auf das Motiv der Grenzziehung ein: Claus Westermann, Genesis. 1. Teilbd. Gen. 1–11, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1976 (Biblischer Kommentar Altes Testament I/1), S. 304/305. 20  Buber übersetzt hier ‚Gegenpart‘: Martin Buber, Die fünf Bücher der Weisung, verdeutscht von M. B. gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Köln 1954, S. 14. Beate Ego betont die positive Konnotation des im Hebr. im Maskulinum stehenden ezer: Beate Ego, Adam und Eva im Judentum (Anm. 18), 18. 21  Hier fehlt dem ‚kindlichen‘ Urmenschen offenbar noch das Distanzgefühl der Scham, das den reifen Menschen insofern kennzeichnet, als es zu einer Reibung zwischen „einer unvollkommenen Wirklichkeit und einer ideell vorhandenen normierenden Ganzheit“, wie Georg Simmel es formuliert, kommt: Georg Simmel, Zur Psychologie der Scham, in: Ders., Schriften zur Soziologie, Frankfurt a. M. 1983, S. 140–150, hier 148. 22  In der Psychoanalyse hat sich für solche Konstellationen der Begriff der ‚Triangulierung‘ von Ernst Abelin durchgesetzt, gemäß der eine symbiotische Dyade mit dem Hinzutreten eines Dritten aufgebrochen wird. Klassischerweise löst die Figur des Vaters eine Mutter-KindDyade auf, während es hier die Frau ist, die eine Vater-Sohn-Beziehung ‚stört‘. 23  Vgl.: Claus Westermann, Genesis (Anm. 19), S. 331. 24  Dies hat bereits früh nachgewiesen: Hermann Gunkel, Genesis, 3. Aufl., Göttingen 1910 (Göttinger Handkommentar zum Alten Testament I.1), S. 14–19. Gunkel stellt die Erkenntnis des Geschlechts in Gemeinschaft mit einer erwachsenen „Reife des Urteils“ und „Vernunft“ (S. 15). Eine Beziehung dieses sexuellen und außersexuellen Reifeschubs zum Verbot Gottes diskutiert er nicht. 25  Auch Gunkel betont in seiner Deutung immer wieder die Kindlichkeit des Urmenschen vor dem Essen vom Baum der Erkenntnis, ebd., S. 14–19. 26  Vgl. etwa Beate Ego, Adam und Eva im Judentum (Anm. 18), S. 21: „Wieso kommt es zu einer Störung der anfänglichen Harmonie zwischen Gott, Mensch und Natur? Und warum ist es gerade die Schlange, die aus der Ordnung der göttlichen Schöpfung ausbricht?“ 27  Hier gilt es auch, die vielschichtige Bedeutung des originalen hebräischen Begriffs zwischen Wissen und geschlechtlicher Erfahrung zu berücksichtigen, vgl. Willy Schottroff, ‚erkennen‘, in: Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament I, München 1971, S. 682– 701. Man mag hier auch an die Einsicht Freuds denken, der gemäß alle geistigen Energien in einer niederen Triebsphäre wurzeln. 28  Paradigmatisch legt Freud sein Schichtenmodell dar in: Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Ders., Gesammelte Werke 14, 1999, S. 419–506. 29  Auch Claus Westermann, Genesis (Anm. 19) geht hierauf ein: „Die eigentliche Tiefe der Erzählung liegt darin, dieses Nacktsein, dieses Bloßgestelltsein des Menschen vor Gott als das Neue, als das, was jetzt anders geworden ist, hinzustellen“, S. 345.

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Anmerkungen: Verbotene Lust

30  Die Vorstellung einer überindividuellen Erbsünde mag dabei jedoch auch, angesichts des mit allen Reifeprozessen einhergehenden subjektiven Erlebens von Schuld, als kollektive Entlastung fungieren. Zum Komplex von Schuld und Elternmord vgl. Hans W. Loewald, Das Dahinschwinden des Ödipuskomplexes, in: Ders., Psychoanalyse. Aufsätze 1951–1979, Stuttgart 1986, S. 377–400, hier bes. S. 380–390. 31  Vgl. Hans-Peter Müller, Erkenntnis und Verfehlung. Prototypen und Antitypen zu Gen 2–3 in der altorientalischen Literatur, in: Trutz Rendtorff (Hg.), Glaube und Toleranz, Gütersloh 1982, S. 191–210, hier 197. 32  Auch bei Dürer steht Adam auf der Seite vom Baum des Lebens, Eva auf der anderen. 33  Das Gilgamesch-Epos, übers. u. mit Anm. vers. von Albert Schott, Stuttgart 1994, S. 26, 2. Tafel. 34  Zu Freuds zentralen Kategorien von Lustprinzip und Realitätsprinzip vgl. u. a.: Sigmund Freud, Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens (1911), in: Ders., Gesammelte Werke VIII , Frankfurt a. M. 1999, S. 230–238. 35  Auch Haag macht darauf aufmerksam, dass die Fortexistenz des Gartens Eden nach dem göttlichen Strafgericht eine Öffnung als potentieller „Beginn eines neuen göttlichen Handelns“ in sich birgt: Ernst Haag, Der Mensch am Anfang. Die alttestamentliche Paradiesvorstellung nach Gn 2–3, Trier 1970 (Trierer Theologische Studien 24), S. 73.

7.7 „Und Gott sah, dass es gut war“

1  Vgl. Martin Arneth, Durch Adams Fall ist ganz verderbt ... Studien zur Entstehung der alttestamentlichen Urgeschichte (=  Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments 217), Göttingen 2007, S. 23. 2  Vgl. Martin A. Klopfenstein, „Und siehe, es war sehr gut!“ (Genesis 1,31). Worin besteht die Güte der Schöpfung nach dem ersten Kapitel der hebräischen Bibel?, in: Hans-Peter Mathys (Hg.): Ebenbild Gottes – Herrscher über die Welt. Studien zu Würde und Auftrag des Menschen (Biblisch-theologische Studien 33), Neukirchen-Vluyn 1998, S. 56–74, hier S. 57/58. 3  Kratz und Spieckermann deuten diesen Blick in dem Sinne, dass Gott „die Funktionstüchtigkeit des geschaffenen Werkes im Sinne der Anordnung“ feststelle. Eine solche Deutung aber, die Gottes Sprechen und Handeln gleichsam in einen echolosen Raum hineinstellt, greift meines Erachtens zu kurz: Reinhard G. Kratz und Hermann Spieckermann, Schöpfer/Schöpfung, II . Altes Testament, in: Theologische Realenzyklopädie 30, Berlin 1999, S. 258–283, hier 270. 4  Vgl. u. a. Joachim Küchenhoff, Sehen und Gesehenwerden: Identität und Beziehung im Blick, in: Psyche 61 (2007), S. 445–462. 5  Hierzu grundlegend: Jacques Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949 (Schriften, ausgew. u. hg. von Norbert Haas, Bd. 1), Weinheim, Berlin 41996, S. 61–70. 6  Vgl. u. a. Ulrich Moser u. Ilka von Zeppelin, Implizite und explizite Formen der Reflexivität (am Beispiel von Traum, Wahn und psychoanalytischer Situation), in: Psyche 63 (2009), S. 1181–1206, hier insbes. S. 1186–1191. 7  Vgl. u. a. Eva Kahlenberg, Aus den Augen – noch im Sinn? Vom Selbst in Anderen, in: Psyche 64 (2010), S. 59–85. 8  Eine wirkungsmächtige Vorstellung des ‚inneren Worts‘ hat Sebastian Franck entwickelt, u. a. in: Sebastian Franck, Paradoxa, hg. u. eingel. von Siegfried Wollgast, Berlin 1966 (1534).

Anmerkungen: „Und Gott sah, dass es gut war“

9  Die Bibel oder die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1972. 10  Steck findet in dem Satz eine Verschränkung von Sabbatterminologie und Schöpfungsaussage wieder: Odil Hannes Steck, Der Schöpfungsbericht der Priesterschrift. Studien zur literarkritischen und überlieferungsgeschichtlichen Problematik von Genesis 1,1–2,4a, Göttingen 21981, S. 195. Auch Schmidt liest Gen 2,1–3 unter dieser Perspektive: Werner H. Schmidt, Die Schöpfungsgeschichte der Priesterschrift. Zur Überlieferungsgeschichte von Genesis 1,1–2,4a und 2,4b–3,24 (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 17), Neukirchen-Vluyn 31973, S. 157. 11  Martin Buber, Die fünf Bücher der Weisung. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Köln, Olten 1954, S. 12. 12  So ist bei Georg Simmel der Satz zu finden: „Gott ist nicht der Mensch im Großen, aber der Mensch ist Gott im Kleinen“: Georg Simmel, Die Persönlichkeit Gottes, in: G. S., Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne, gesammelte Essays, Berlin 1983 (1923), S. 154–168, hier 166. 13  Meister Eckhart, Expositio libri Genesis, in: Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke. Die lateinischen Werke 1, Stuttgart 1964, S. 185–444, hier 309. 14  Ebd., S. 324. 15  Ebd., S. 324. 16  S.  etwa Meister Eckhart, Die rede der underscheidunge, Kap.  6. Von der abegescheidenheit und von habenne gotes, in: Meister Eckhart, Werke II , Texte und Übers. von Ernst Benz u. a., hg. u. komm. von Niklaus Largier (Bibliothek des Mittelalters 21), Stuttgart 1993, S. 344–353. 17  Eckhart spricht von einem „ersten einfachen Jetzt der Ewigkeit“, „primum nunc simplex aeternitatis“: Meister Eckhart, Expositio libri Genesis (Anm. 13), S. 190. 18  Vgl. Odil Hannes Steck, Der Schöpfungsbericht der Priesterschrift (Anm. 10), S. 195–197.

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Drucknachweise Die Kapitel dieses Buches sind überarbeitete Fassungen folgender Aufsätze (bis 2010 unter meinem früheren Namen „Gephart“ erschienen): 1.1  Irmgard Gephart, Hartmanns von Aue ‚Erec‘, das Abenteuer der Scham und ein ‚verdachter‘ Held, in: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik und Literatur (12), Sommer 2008, S. 22–28. Wiederabdruck: Irmgard Rüsenberg, Das Abenteuer der Scham und ein ‚verdachter‘ Held. Hartmanns von Aue ‚Erec‘, in: „Musst nur wagen, wagen, wagen!“ Ein Rückblick auf 25 Kritische Ausgaben, hg. von Fabian Beer, Marcel Diel, Benedikt Viertelhaus, Bonn 2015 (Edition Kritische Ausgabe 5), S. 141–153. 1.2  Irmgard Gephart, Enite und die Pferde. Animalischer und zivilisierter Körper in Hartmanns von Aue ‚Erec‘, in: Körperkonzepte im arthurischen Roman, hg. von Friedrich Wolf­zettel, Tübingen 2007, S. 353–367. Überarbeitete Fassung des entsprechenden Kapitels aus meinem Buch: I. G., Das Unbehagen des Helden. Schuld und Scham in Hartmanns von Aue ‚Erec‘, Frankfurt a. M. u. a. 2005. 1.3  Irmgard Rüsenberg, Die Anerkennung des Begehrens. Erkenntnis und Heilung in Hartmanns von Aue ‚Armem Heinrich‘, in: Emotionen in Mittelalter und Renaissance, hg. von Christoph Kann, Düsseldorf 2014 (Studia Humaniora 44), S. 267–293. 2.1  Irmgard Gephart, Der Zorn der Heroen. Heldenepische Formen der Wut im ‚Nibelungenlied‘, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 14 (2009), H. 1: ‚Furor, zorn, irance‘. Interdisziplinäre Sichtweisen auf mittelalterliche Emotionen, hg. von Bele Freudenberg, S. 41–49. 2.2  Irmgard Gephart, Kriemhild als grausame Mutter. Die Darstellung mütterlicher Grausamkeit in Mittelalter und Neuzeit, in: 10. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Heldinnen, hg. von Johannes Keller und Florian Kragl, Wien 2010 (Philologica Germanica 31), S. 21–31. 2.3  Irmgard Gephart, Mythos und Antimythos in der Figur Siegfrieds, in: Schätze der Erinnerung. Geschichte, Mythos und Literatur in der Überlieferung des Nibelungenliedes. Dokumentation des 7. wissenschaftl. Symposiums der Nibelungenliedgesellschaft Worms e. V. und der Stadt Worms vom 17. bis 19. Oktober 2008, hg. von Volker Gallé, Worms 2009 (Schriftenreihe der Nibelungenliedgesellschaft Worms e. V. 6), S. 61–78. 2.4  Irmgard Gephart, Sehen und Gesehenwerden. Die Leidenschaft des mittelalterlichen Hofes, in: „Es trübt mein Auge sich in Glück und Licht“. Über den Blick in der Literatur. Festschrift für Helmut J. Schneider zum 65. Geburtstag, hg. von Kenneth S. Calhoon u. a., Berlin 2010, S. 25–34. 3.1  Irmgard Gephart, Der Ritter und die Frauen. Geschlechterverhältnis und Identitätssuche in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘ im Spiegel der psychoanalytischen Narzissmustheorie, in: König Artus lebt! Eine Ringvorlesung des Mittelalterzentrums der Universität Bonn, hg. von Stefan Zimmer, Heidelberg 2006, S. 93–116. 3.2  Irmgard Gephart, Textur der Minne. Liebesdiskurs und Leselust in Wolframs ‚Titurel‘, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik (60) 2005, S. 89–128. 4.1  Irmgard Gephart, Scham, Sinnlichkeit und Tugend. Zum Begriff der ‚schame‘ bei ­Walther von der Vogelweide, in: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Produktion, Edition und Rezeption, hg. von Thomas Bein, Frankfurt a. M. u. a. 2002 (Walther-Studien 1), S. 11–26. 4.2  Irmgard Gephart, Ich-Verlust und Autonomiegewinn in der Minnelyrik Walthers von der Vogelweide, in: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion der Österreichischen Akademie

Drucknachweise

der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich), hg. von Helmut Birkhan, Wien 2005, S. 115–124. 5.1  Irmgard Gephart, Das Gehäuse des Selbstzwangs. Zu Strickers Kurzerzählung von der ‚eingemauerten Frau‘, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik (61) 2006, S. 169–182. 5.2  Irmgard Gephart, Halbe Birnen und sonstige Lustbarkeiten. Zur mittelalterlichen Schwankerzählung von der ‚Halben Birne‘ des Konrad von Würzburg, in: Witz und Psychoanalyse. Internationale Sichtweisen – Sigmund Freud revisited, hg. von Karl Fallend, Wien 2006, S. 87–94. 6.1  Irmgard Rüsenberg, Liebe und Leid. Richard Wagners ‚Tristan und Isolde‘ und Gottfrieds von Straßburg ‚Tristan‘. Vortrag auf dem Symposium „Exil und Asyl – Richard Wagner in der Schweiz“ am 18./19. August 2012 in Bayreuth (unveröffentlicht). 6.2  Irmgard Rüsenberg, Vom Walkürenfelsen zur Gibichungen-Halle: Liebe und Verrat zwischen Felsgestein und Halle der Macht, in: Rhein und Ring, Orte und Dinge. Interpreta­ tionen zu Richard Wagners ‚Der Ring des Nibelungen‘, Beiträge der Ostersymposien Salzburg 2007–2010, hg. von Ulrich Müller u. a., Anif/Salzburg 2011 (Wort und Musik 73), S. 209–219. 6.3  Irmgard Rüsenberg, Größenwahn. Zur Untergangsdynamik im ‚Nibelungenlied‘ und in Richard Wagners ‚Der Ring des Nibelungen‘. Vortrag auf dem Wagner-Symposium „Wetterleuchten, Götterdämmerung, Katharsis“ in Bonn, April 2013 (unveröffentlicht). 6.4  Irmgard Gephart, Faszination des Untergangs. Die Verfilmung des Nibelungenstoffs durch Fritz Lang und Thea von Harbou, in: Sprache und Literatur 34 (2003), S. 96–117. 6.5 Unveröffentlicht. 7.1  Irmgard Gephart, Erfüllung und Entsagung. Die Leidenschaft der Gottesminne bei Mechthild von Magdeburg, in: Passiones animae. Die „Leidenschaften der Seele“ in der mittel­ alterlichen Theologie und Philosophie, hg. von Christian Schäfer und Martin Thurner, Berlin 2009 (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie 53), S. 123–132; in der 2., erw. Aufl. 2013, S. 197–206 unter dem Namen Irmgard Rüsenberg. 7.2  Irmgard Gephart, Der Christ der Zukunft hat vergessen, dass er ein Christ ist. Meister Eckhart und die Radikalität des Lassens, in: Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik, Bd. 6: Von der Wissenschaft zur Mystik, hg. von José Sanchez de Murillo und Martin Thurner, Stuttgart 2009, S. 168–178. 7.3  Irmgard Rüsenberg, Loslassen und in der Wirklichkeit ankommen. Berührungen westlichen und östlichen Denkens bei Meister Eckhart und Meister Dôgen, in: Verschieden- im Einssein. Eine interdisziplinäre Untersuchung zu Meister Eckharts Verständnis von Wirklichkeit, hg. von Christine Büchner und Andrés Quero-Sánchez, Leuven, voraussichtl. 2016 (Eckhart. Texts and Studies). 7.4  Irmgard Rüsenberg, Nicht-Wollen und Nicht-Eingreifen. Meister Eckhart und das chinesische Dao. Vortrag auf der Tagung der Meister-Eckhart-Gesellschaft „Meister Eckhart – interreligiös“ vom 28.3. bis 30.3.2014 in München. Publikation in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 10 (2016). 7.5  Irmgard Gephart, Bilder einer ‚anfangenden‘ Seele. Innere Entwicklung in der ‚Vita‘ Heinrich Seuses im Spiegel seiner Visionen, in: ‚mit clebeworten underweben‘. Festschrift für Peter Kern zum 65. Geburtstag, hg. von Thomas Bein u. a., Frankfurt a. M. u. a. 2006, S. 125–144. Wiederabdruck in: Heinrich Seuse – Bruder Amandus, hg. von Jakobus Kaffanke, Berlin 2015 (Heinrich-Seuse-Forum 2), S. 61–85 unter dem Namen Irmgard Rüsenberg. 7.6  Irmgard Rüsenberg, Verbotene Lust. Grenzziehung und Selbstermächtigung im zweiten Schöpfungsbericht, in: Münchener Theologische Zeitschrift, Jg. 63 (2012), S. 109–121. Überarb. Fassung in: Jochen Schmidt (Hg.), Religion und Sexualität, Würzburg 2016 (Studien des B ­ onner Zentrums für Religion und Gesellschaft).

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Abbildungsnachweise

7.7  Irmgard Rüsenberg, „Und Gott sah, dass es gut war“. Bindung und Freiheit im ersten Schöpfungsbericht, in: Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik, Bd. 8: Der Siebte Schöpfungstag, hg. von José Sánchez de Murillo und Martin Thurner unter bes. Mitwirkung von Irmgard Rüsenberg, Stuttgart 2011, S. 53–61.

Abbildungsnachweise S. 10: Konrad von Altstetten. Aus: Manessische Liederhandschrift. Vierzig Miniaturen und Gedichte, Stuttgart 1985, S. 110. S. 18: Hartmann von Aue. Aus: Manessische Liederhandschrift. Vierzig Miniaturen und Gedichte, Stuttgart 1985, S. 94. S. 160: Walther von der Vogelweide. Aus: Manessische Liederhandschrift. Vierzig Miniaturen und Gedichte, Stuttgart 1985, S. 67. S. 341: Albrecht Dürer, Adam und Eva, 1504, Kupferstich, Pl. 25,2 x 19,5 cm, Wien Albertina, Inv. DG 1930/1451. www.albertina.at.

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Abbildungsnachweise

7.7  Irmgard Rüsenberg, „Und Gott sah, dass es gut war“. Bindung und Freiheit im ersten Schöpfungsbericht, in: Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik, Bd. 8: Der Siebte Schöpfungstag, hg. von José Sánchez de Murillo und Martin Thurner unter bes. Mitwirkung von Irmgard Rüsenberg, Stuttgart 2011, S. 53–61.

Abbildungsnachweise S. 10: Konrad von Altstetten. Aus: Manessische Liederhandschrift. Vierzig Miniaturen und Gedichte, Stuttgart 1985, S. 110. S. 18: Hartmann von Aue. Aus: Manessische Liederhandschrift. Vierzig Miniaturen und Gedichte, Stuttgart 1985, S. 94. S. 160: Walther von der Vogelweide. Aus: Manessische Liederhandschrift. Vierzig Miniaturen und Gedichte, Stuttgart 1985, S. 67. S. 341: Albrecht Dürer, Adam und Eva, 1504, Kupferstich, Pl. 25,2 x 19,5 cm, Wien Albertina, Inv. DG 1930/1451. www.albertina.at.

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