Demokratie in der Europäischen Union: Eine Untersuchung der demokratischen Legitimation des europäischen Integrationsprozesses vom Vertrag von Amsterdam bis zum Entwurf einer Europäischen Verfassung [1 ed.] 9783428517176, 9783428117178

Andreas Tiedtke untersucht die demokratische Legitimation der EU vom Vertrag von Amsterdam bis zum Entwurf einer Europäi

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Demokratie in der Europäischen Union: Eine Untersuchung der demokratischen Legitimation des europäischen Integrationsprozesses vom Vertrag von Amsterdam bis zum Entwurf einer Europäischen Verfassung [1 ed.]
 9783428517176, 9783428117178

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Schriften zum Europäischen Recht Band 114

Demokratie in der Europäischen Union Eine Untersuchung der demokratischen Legitimation des europäischen Integrationsprozesses vom Vertrag von Amsterdam bis zum Entwurf einer Europäischen Verfassung

Von Andreas Tiedtke

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ANDREAS TIEDTKE

Demokratie in der Europäischen Union

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera und Detlef Merten

Band 114

Demokratie in der Europäischen Union Eine Untersuchung der demokratischen Legitimation des europäischen Integrationsprozesses vom Vertrag von Amsterdam bis zum Entwurf einer Europäischen Verfassung

Von Andreas Tiedtke

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Sommersemester 2004 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D5 Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-11717-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Johanna und Antonia

Vorwort Das Demokratiedefizit der Europäischen Union ist in aller Munde. Aber worin genau soll es eigentlich bestehen? Und handelt es sich um ein Demokratiedefizit mit juristischer Dimension, das gegen Völkerrecht, Europarecht oder nationales Verfassungsrecht verstößt – und, wenn ja, mit welchen Folgen? Angesichts zum Teil widersprüchlicher Argumente, mit denen wirkliche oder vermeintliche Schwächen der demokratischen Legitimation der Europäischen Union behauptet und begründet werden, und demzufolge auch höchst unterschiedlicher europarechtspolitischer Lösungsvorschläge dieses wirklichen oder vermeintlichen Missstandes ist es nötig, sich über die normative Ausgangslage Klarheit zu verschaffen. Von wem und wie wird den Organen der Europäischen Union und ihrem rechtlich erheblichen Handeln demokratische Legitimation vermittelt? Ist diese demokratische Legitimation – juristisch betrachtet – „ausreichend“? Mit der „Demokratieverträglichkeit“ der Struktur der Europäischen Union steht nicht weniger auf dem Spiel als Legitimität und Legalität des vereinten Europa. Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2004 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Sie befasst sich mit den vorgenannten Fragestellungen, ausgehend vom Entwicklungsstand der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften zum Vertrag von Amsterdam bis hin zum Entwurf eines Verfassungsvertrages durch den Verfassungskonvent unter Valéry Giscard d’Estaing. Besonderer Dank für kritische Anmerkungen, Ideen und Hilfestellungen gilt meinem Doktorvater Professor Dr. Christian Hillgruber. Er war jederzeit Ansprechpartner für Fragen und Ratgeber. Ganz herzlich bedanken möchte ich mich auch bei dem Zweitgutachter für diese Arbeit Professor Dr. Fritz Ossenbühl sowie bei den Herausgebern dieser Schriftenreihe Professor Dr. Dr. Detlef Merten und Professor Dr. Siegfried Magiera. Darüber hinaus gilt mein Dank Professor Dr. Hillgrubers wissenschaftlichem Assistenten Christoph Goos für seine geduldige und weitreichende Unterstützung. Ganz besonders möchte ich schließlich meiner Frau Johanna Tiedtke für ihre EDV-technische und moralische Unterstützung während der gesamten Promotionsdauer danken. Hersbruck, im Dezember 2004

Andreas Tiedtke

Inhaltsverzeichnis A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Kurze Historie der demokratischen Entwicklung der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

I. Hohe Behörde, Besonderer Ministerrat, parlamentarische Versammlung und Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

II. Fusion der Organe und Stärkung der parlamentarischen Versammlung . . . . . . . . .

25

III. Einführung des Verfahrens der Zusammenarbeit und Ausweitung der Mehrheitsentscheidung im Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

IV. Einführung des Mitentscheidungsverfahrens; Verantwortlichkeit der Kommission gegenüber einer qualifizierten Parlamentsmehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

V. Stärkung des Europäischen Parlaments durch weitere Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

C. Die Thesen vom Demokratiedefizit in der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

I. Äußeres Demokratiedefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

1. Nur indirekte demokratische Legitimation des Rates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

2. Unzureichende Kompetenzen des Europäischen Parlaments; fehlendes institutionelles Gleichgewicht (checks and balances) zwischen Rat und Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

3. Kein Responsible Government resp. Legislation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

4. Fehlendes Majoritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

5. Fehlen einer Kontrolle des Rates durch eine Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

6. Mangelnde Unabhängigkeit der Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

II. Mangelhafte demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments selbst (inneres Demokratiedefizit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

1. Die Auswirkungen der verschiedenen Wahlsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

2. Die Auswirkungen der Mandatskontingentierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

III. Fehlende Transparenz der Entscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

10

Inhaltsverzeichnis IV. Mangelnde vorrechtliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

1. These vom Fehlen eines europäischen Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

2. These vom Fehlen einer europäischen öffentlichen Meinung (europäischer Medien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

3. These vom Fehlen europäischer politischer Parteien und Interessenverbände

43

D. Die demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften bis zum Vertrag von Nizza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

I. Die Rechtsnatur der Europäischen Union und der Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . .

45

1. Rechtspersönlichkeit; internationale bzw. supranationale Organisation . . . . . .

46

a) Die Europäischen Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

b) Die Europäische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

2. Keine Kompetenz-Kompetenz (Verfassungsautonomie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

a) Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

b) Die „Generalermächtigung“ Art. 308 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

c) Keine Souveränitätsteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

d) Vorrang des Gemeinschaftsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

3. Nur subsidiäre Kompetenz bei konkurrierender Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . .

54

II. Kriterien für die demokratische Legitimation der EU und der Gemeinschaften

55

1. Völkerrechtliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

a) Völkerrechtliches Demokratiegebot für Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

b) Völkerrechtliches Demokratiegebot für internationale Organisationen . . .

60

c) Völkerrechtliches Verbot der Mehrheitsentscheidung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

2. Gemeinschaftsrechtliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

a) Einführung des Art. 6 Abs. 1 EUV durch den Vertrag von Amsterdam . . .

62

b) These: Demokratie, wie sie in den Mitgliedstaaten vorherrscht . . . . . . . . . .

64

c) Auslegung des Art. 6 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

aa) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

bb) Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

cc) Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

dd) Sinn und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

Inhaltsverzeichnis

11

3. Nationalstaatliche Perspektive, Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

a) Homogenität der Wertvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

b) These von der Kongruenz der demokratischen Standards . . . . . . . . . . . . . . . .

70

c) „Demokratisierung der Vertragsänderungen?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

d) Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht lediglich Programmsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

e) Herrschende Meinung in der Literatur und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

f) Die Mindestanforderungen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

aa) Stellungnahme zur Ansicht der herrschenden Meinung und der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

bb) Konkretisierende Auslegung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . .

82

(1) Methodik der Auslegung von Art. 23 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . .

82

(2) Kernbestand der Demokratie im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG (a) Ausgestaltung der Volkssouveränität zur Demokratie als Staats- und Regierungsform – lückenlose organisatorischpersonelle demokratische Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Mehrheitsprinzip – Kommunikations- und Informationsfreiheiten, Emanzipationsstruktur der Gesellschaft und Bildungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Mittelbar-repräsentative Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Parlamentarisches Regierungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Parlamentarische Demokratie und Gewaltenteilung . . . . . . . . . (f) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

(3) Berücksichtigung der Nicht-Staatlichkeit der Europäischen Union (a) Keine 1:1-Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Fehlen eines europäischen Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Nur stützende demokratische Legitimation durch Europäisches Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

(d) (e) (f) (g)

84

86 88 89 90 92 93 93 93 97

(i) Meinungen in Literatur und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . .

97

(ii) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Parlamentsvorbehalt bei Mehrheitsentscheidung im Rat? . . . . Demokratische Legitimation durch nationale Parlamente . . . . Verfassungsrechtliches Verbot der Entäußerung deutscher Staatsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99 101 103 105 107

g) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 III. Die demokratische Legitimation der EU und der Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . 109 1. Die demokratische Legitimation innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

12

Inhaltsverzeichnis a) Organisatorisch-personelle demokratische Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 aa) Der Europäische Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 bb) Der Rat der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 cc) Die Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 (1) Einsetzung, Abberufung und Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 (2) Demokratische Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 (a) Einsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 (b) Während der Amtsperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 (i) Verantwortlichkeit gegenüber dem Europäischen Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 (ii) Sachliche Rechtfertigung der Unabhängigkeit der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 (c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 dd) Das Europäische Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 (1) Die Wahl der Abgeordneten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 (2) Die Kritik der ungleichen Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 (a) Die Mandatskontingentierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 (b) Die unterschiedlichen Wahlsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 ee) Der Europäische Gerichtshof und das Gericht 1. Instanz . . . . . . . . . . . . . 126 ff) EZB – Weitere Institutionen der EU und der Gemeinschaften . . . . . . . . 128 (1) EZB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 (2) Weitere Institutionen der EU und der Gemeinschaften . . . . . . . . . . . 129 b) Parlamentarische Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 aa) Die parlamentarischen Rechte bei der Sekundärrechtsetzung . . . . . . . . 130 (1) Haushaltsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 (2) Verfahren der Mitentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 (3) Verfahren der Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 (4) Verfahren der obligatorischen Anhörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 (5) Verfahren, bei denen eine Beteiligung des Parlaments primärrechtlich nicht vorgesehen ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 bb) Die parlamentarischen Rechte bei Vertragsänderungen . . . . . . . . . . . . . . 134 cc) Die parlamentarischen Rechte im Hinblick auf Evolutivklauseln und vertragsimmanente Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . 135 (1) Evolutivklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (2) Art. 308 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 dd) Das Verhältnis des Parlaments zur Exekutive – die Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 (1) Die Exekutive der Union und der Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . 136

Inhaltsverzeichnis (2) Kontrolle von Kommission und Rat durch das Parlament . . . . . . . . (a) Personelle Verantwortlichkeit der Kommission gegenüber dem Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Kontrollrechte gegenüber dem Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Sonstige Kontrollbefugnisse gegenüber Kommission und Rat

13 138 138 138 139

(3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 ee) Die Stellung des Parlaments in den Rechtsschutzverfahren . . . . . . . . . . 140 ff) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 c) Keine Demokratie wegen intransparenten Verfahrens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2. Die demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften durch die Mitgliedstaaten, insbesondere durch die nationalen Parlamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 a) Vertragsänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 b) Legitimation der Sekundärrechtsetzung der Union und ihrer Gemeinschaften außerhalb ihres institutionellen Gefüges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 c) Sonstige Beteiligung der einzelstaatlichen Parlamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation durch den Vertrag von Nizza . . . 154 I. Vorgaben des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG für die Weiterentwicklung der EU . . . . . . . . 154 1. Meinungen in Literatur und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 a) Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG als flexible Integrations- und Struktursicherungsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 b) Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 c) (Unbedingte) Stärkung des Europäischen Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 d) „Behutsame“ Stärkung des Europäischen Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 e) Eingeschränkte Stärkung des Europäischen Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 f) Gleichlauf von Mehrheitsentscheidung und Mitentscheidung . . . . . . . . . . . . 159 g) Verbot der Gleichstellung des Europäischen Parlaments mit dem Rat . . . . 159 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 a) Stärkung der inneren demokratischen Legitimation und begrenzte Stärkung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 b) Ausbau der inneren demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

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Inhaltsverzeichnis c) Begrenzter Kompetenzzuwachs für das Europäische Parlament . . . . . . . . . . aa) Primärrechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sekundärrechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Kontrollbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

163 163 164 166

d) Stärkung der demokratischen Legitimation der Kommission . . . . . . . . . . . . . 167 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 II. Zunehmende Integration durch den Vertrag von Nizza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 1. Begriffsbestimmung – „zunehmende Integration“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 2. Zielsetzung des Vertrages von Nizza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 3. Fortschreiten der Integration durch den Vertrag von Nizza . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 a) Die Systematik des Vertrages von Nizza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 b) Institutionelle Vergemeinschaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Übertragung von Befugnissen von den Regierungen der Mitgliedstaaten auf den Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Überführung von Entscheidungen aus dem Einstimmigkeits- in den Mehrheitsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Neue Stimmgewichtung im Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ausdehnung der Mitentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

172 172 172 173 173

c) Materielle Vergemeinschaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 III. Die institutionellen Reformen durch den Vertrag von Nizza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 1. Das Europäische Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 a) Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 b) Änderung der Mandatskontingentierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 c) Weitere Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2. Der Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 a) Änderung der Stimmgewichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 aa) Motiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 bb) Die Änderungen im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 b) Ausweitung der Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit . . . . . . . . . . . . . . . 184 c) Ernennung der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3. Die Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 4. Der Gerichtshof und das Gericht erster Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 IV. Zusammenfassende Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 1. Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 2. Fortschreiten der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Inhaltsverzeichnis

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3. Für die demokratische Legitimation bedeutende institutionelle Änderungen 188 4. Subsumtion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 a) Europäisches Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 b) Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 c) Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 aa) Ernennung der Kommission durch den Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 bb) Weiterhin unzureichende demokratische Legitimation während der Amtsperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 d) Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 F. Die demokratische Entwicklung im Post-Nizza-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 I. Osterweiterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 II. Der Verfassungskonvent unter Staatspräsident (a.D.) Valéry Giscard d’Estaing 202 1. Der Konvent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 a) Der Europäische Rat von Laeken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 b) Themen und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 c) Die Zusammensetzung und Arbeitsweise des Konvents . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 2. Der EU-Verfassungsvertrag – Entwurf i.d.F. von Thessaloniki . . . . . . . . . . . . . . 208 a) Zum Stand des Verfassungsvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 b) Die Struktur des Verfassungsvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 3. Verbesserung der demokratischen Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften durch den Verfassungsvertragsentwurf des Konvents? 212 a) Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG und die „neue Union“ nach dem Verfassungsvertragsentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 b) Die „Verfassung“ der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 c) Schritthaltender Ausbau demokratischer Legitimation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 aa) Fortschreiten der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 (1) Europäisches Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 (2) Präsident des Europäischen Rates und Außenminister der Union 216 (3) Europäischer Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 (4) Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 (5) Sonstige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 bb) Weiterhin nur abgeleitete Hoheitsmacht der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 (1) Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 (2) Austritt aus der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

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Inhaltsverzeichnis

cc)

dd)

ee) ff) gg)

(3) Vertragsänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Regelung nach dem EV-E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) „Quorums“-Vorschlag der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Literaturmeinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Die „Passerelle“-Klausel Art. I-24 Abs. 4 EV-E . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Vorrang des Unionsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten . . . Ausbau der Kompetenzen des Europäischen Parlaments . . . . . . . . . . . . . (1) Kompetenzausbau nach Integrationsfortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Beteiligung bei Primärrechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Beteiligung bei vertragsimmanenter Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Gleichberechtigter Mitgesetzgeber im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Wahl des Kommissionspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stärkung der demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Mandatskontingentierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Mandatsverteilung bis 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Degressiv proportionale Vertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Einheitliches Wahlverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stärkung der demokratischen Legitimation durch die nationalen Parlamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die demokratische Legitimation der neuen Ämter „Präsident des Europäischen Rates“ und „Außenminister der Union“ . . . . . . . . . . . . . . . Die demokratische Legitimation der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223 223 224 225 226 229 231 232 232 233 233 234 235 236 237 237 237 238 239 240 241 243

d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 III. Finalität der Europäischen Union – Staatenbund oder Bundesstaat? – Begrenzung durch das Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 1. Der aktuelle Meinungsstand der Mitgliedstaaten Vereinigtes Königreich, Frankreich und Deutschland sowie der Beitrittsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 a) Die Position des Vereinigten Königreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 b) Die Position Frankreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 c) Die Position Deutschlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 d) Die gemeinsame Position Frankreichs und Deutschlands . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 e) Die Position der Beitrittsländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 f) Zusammenfassung der verschiedenen Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 aa) Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 bb) Der „kleinste gemeinsame Nenner“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Inhaltsverzeichnis

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G. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

2 Tiedtke

Abkürzungsverzeichnis a.A. a. a. O. ABl. Abs. AdR a.E. a.F.

Anm. Art. Bd. BGBl. BReg. BT-Drs. BVerfGE BVerwGE bzw. ders. d. h. dieselb. EAG EAGV EEA EG EGKS EGKSV EGV EMRK ESVP EU EuG EuGH EUV

andere Ansicht am angegebenen Ort Amtsblatt Absatz Ausschuss der Regionen am Ende alte Fassung (Bei Artikeln des EUV und EGV bedeutet der Zusatz a.F. in der Fassung des Vertrages von Maastricht. Artikel des EUV und EGV, die ohne den Zusatz a.F. oder n.F. zitiert werden, sind in der Fassung des Vertrages von Amsterdam wiedergegeben.) Anmerkung Artikel Band Bundesgesetzblatt Bundesregierung (der Bundesrepublik Deutschland) Bundestags-Drucksache Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehungsweise derselbe das heißt dieselben / dieselbe Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft Einheitliche Europäische Akte Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Europäische Menschenrechtskonvention Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europäische Union Gericht erster Instanz Europäischer Gerichtshof Vertrag über die Europäische Union

Abkürzungsverzeichnis EV-E EZB f. ff. Fn. GASP GG ggf. h.M. Hrsg. HS. i.d.F. i.d.R. i.d.S. insbes. i. S. d. i.S.v. i.V. m. krit. m. a.W. m.E. m. w. H. m. w. N. n.F.

Nr. o. o.J. o.O. o.S. o.T. PJZS ProtEntwParl

ProtVertruStimm

2*

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Vertrag über eine Verfassung für Europa – Entwurf des Konvents zum Stand 20. Juni 2003 (dem Europäischer Rat in Thessaloniki überreicht) Europäische Zentralbank folgende (Seite etc.) folgende (Seiten etc.) Fußnote Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (der Europäischen Union) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls herrschende Meinung Herausgeber Halbsatz in der Fassung in der Regel in diesem Sinne insbesondere im Sinne des im Sinne von in Verbindung mit kritisch mit anderen Worten meines Erachtens mit weiteren Hinweisen mit weiteren Nachweisen neue Fassung (Bei Artikeln des EUV und EGV bedeutet der Zusatz n.F. in der Fassung des Vertrages von Nizza. Artikel des EUV und EGV, die ohne den Zusatz a.F. oder n.F. zitiert werden, sind in der Fassung des Vertrages von Amsterdam wiedergegeben.) Nummer ohne ohne Jahr ohne Ort ohne Seitenangabe ohne Titel Polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen (der Europäischen Union) Europäischer Konvent, Entwurf von Protokollen über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit und über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäischen Union, Brüssel, 27. Februar 2003, CONV 579 / 03 Vertrag über eine Verfassung für Europa (Entwurf des Konvents zum Stand 20. Juni 2003) – Protokoll über die Vertretung der Bürgerinnen und Bürger im Europäischen Parlament und die Stimmgewichtung im Europäischen Rat und im Ministerrat

20 Rdn. resp. Rn. Rs. Rz. S. Slg. sog. str. u. a. UAbs. usw. u.U. v. vgl. wg. WÜV z. B. z.T.

Abkürzungsverzeichnis Randnummer respektive Randnummer Rechtssache Randzeichen Seite Sammlung sogenannt strittig und andere Unterabsatz und so weiter unter Umständen vom vergleiche wegen Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 zum Beispiel zum Teil

Im Übrigen werden die üblichen Abkürzungen gebraucht – insbesondere für juristische Fachzeitschriften –, deren Kenntnis vorausgesetzt wird. Hier nicht aufgeführte Abkürzungen sind im Text an entsprechender Stelle definiert.

A. Einführung „Demokratiedefizit in der Europäischen Union“ – dieser Ausdruck ist mittlerweile ein „locus communis“1 in der Diskussion um die demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften.2 Die Kritik an den demokratischen Verhältnissen in der Europäischen Union setzt an vielen Stellen an: Die Rechtsetzungskompetenzen in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften lägen hauptsächlich beim Exekutivorgan Rat, die Rechtsetzungsverfahren seien intransparent und könnten daher von den Bürgern nicht nachvollzogen werden. Zudem fehlte es schon an den „vorrechtlichen“ Voraussetzungen für eine Demokratie in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften, da es kein europäisches Volk und keine europäischen Medien gebe. Dies sind nur einige, besonders häufig anzutreffende Argumente, welche die demokratische Struktur der Europäischen Union betreffen. Oftmals wird die Kritik an der mangelnden demokratischen Legitimation der Union von den „Integrationisten“ verbunden mit der Forderung nach einer zentraleren Rolle des Europäischen Parlaments. Von manchen „Euroskeptikern“ hingegen wird als Remedur gegen das Demokratiedefizit Renationalisierung von Aufgabenbereichen der Union und der Gemeinschaften verlangt. Im Folgenden wird das Vorhandensein eines Demokratiedefizites in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften aus juristischer Sicht untersucht. Rechtspolitische oder philosophische Erwägungen zur Demokratie werden nicht angestellt, sondern es werden drei Rechtsquellen untersucht, aus denen sich (u.U. mittelbar) Vorgaben für eine demokratische Legitimation der EU und der Gemeinschaften ergeben können: Das Völkerrecht, das europäische Primärrecht, hier beschränkt auf EUV und EGV, und das nationale Verfassungsrecht, hier beschränkt auf das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Methodisch werden zunächst die verschiedenen Thesen, die ein Demokratiedefizit feststellen, erläutert. Sodann wird die demokratische Legitimation bis zum Vertrag von Nizza untersucht, wobei die Thesen derjenigen, die ein Demokratiedefizit feststellen, geprüft werden. Ausgehend von dem so gewonnenen Ergebnis wird danach gefragt, ob der Vertrag von Nizza ein mögliches Demokratiedefizit verstärkt oder ob die demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften durch ihn eine Stärkung erfahren hat. Narr, S. 253. Narr meint, der Begriff gehe auf Ralf Dahrendorf aus seiner Zeit als Brüsseler Kommissar zurück, der das erste Mal schon Anfang der siebziger Jahre vom „demokratischen Defizit“ gesprochen hätte (ders., S. 253). 1 2

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A. Einführung

Des Weiteren erfolgt ein Ausblick auf die demokratische Legitimation der EU und ihrer Gemeinschaften im Post-Nizza-Prozess, welcher die Osterweiterung und den Entwurf eines Verfassungsvertrages durch den Verfassungskonvent – zum Stand der Regierungskonferenz in Thessaloniki (20. / 21. Juni 2003) – in den Mittelpunkt stellt. Schließlich wird untersucht, welche Vorgaben aus dem Demokratieprinzip im Hinblick auf die Finalität der europäischen Integration folgen.

B. Kurze Historie der demokratischen Entwicklung der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften I. Hohe Behörde, Besonderer Ministerrat, parlamentarische Versammlung und Gerichtshof Den Beginn der Geschichte der Europäischen Union läutete die Regierungserklärung des französischen Außenministers Robert Schuman vom 9. 5. 1950 ein.3 In seinem sogenannten Schuman-Plan, entwickelt vor allem von Jean Monnet4, schlug er vor, die damaligen Schlüsselindustrien Frankreichs und Deutschlands, die Kohle- und Stahlindustrie, in einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS; sogenannte Montanunion) zusammenzufassen. Hierbei verfolgte er nicht nur wirtschaftspolitische, sondern auch sicherheitspolitische Interessen und er verstand die Gründung der EGKS ausdrücklich als „erste Etappe der Europäischen Föderation“.5 Aufgrund des Schuman-Planes erarbeitete eine Regierungskonferenz unter der Teilnahme von Frankreich, Deutschland, Italien und den BeNeLux-Staaten Belgien, Niederlande und Luxemburg, die sich bereits vorher zu einer Wirtschaftsgemeinschaft zusammengeschlossen hatten, einen Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der am 18. 4. 1951 in Paris unterzeichnet wurde und am 23. 7. 1952 in Kraft trat.6 Mit diesem Vertrag wurden die damaligen Schlüsselindustrien „vergemeinschaftet“, das heißt sie wurden dem nationalen Einfluss entzogen und unter übernationale Verwaltung gestellt. Der Vertrag wurde gemäß Art. 97 EGKSV für die Dauer von 50 Jahren ab dem 23. 7. 1952 abgeschlossen, wonach er zum 23. 7. 2002 auslief.7 Zu Beginn hatte die Gemeinschaft im 3 Europäisches Parlament, Generaldirektion Wissenschaft, Das Europäische Parlament und die Tätigkeit der Europäischen Union – Kurzdarstellungen, 6. Auflage, Bonn 1994, S. 25. 4 Vgl. Zacker, S. 10. Anm.: Jean Monnet war von 1919 bis 1923 stellvertretender Generalsekretär des Völkerbundes und seit 1946 Leiter des französischen Planungsamtes. Er war für den Aufbau der französischen Schwerindustrie nach dem zweiten Weltkrieg zuständig. 5 Auszug aus dem Regierungsentwurf Robert Schumans, abgedruckt bei Oppermann, Europarecht § 1, Rz. 19. 6 Beutler / Bieber / Pipkorn / Streil, S. 34. 7 Der Ablauf des EGKS-Vertrages wurde im Vertrag von Nizza im „Protokoll über die finanziellen Folgen des Ablaufs der Geltungsdauer des EGKS-Vertrages und über die Errichtung und Verwaltung des Forschungsfonds Kohle und Stahl“ (ABlEG Nr. C 80 v. 10. 3. 2001, S. 67 f.) geregelt. (Zu den Einzelheiten der Beendigung der EGKS: Obwexer, Das Ende der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, S. 517 ff.) Die Abwicklung der EGKS wurde so organisiert, dass deren gesamtes Vermögen am 24. 7. 2002 auf die EG

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B. Kurze Historie der demokratischen Entwicklung

Kern vier Organe: Die Hohe Behörde (High Authority, seit 1967 Kommission, auch Kommission der EWG), den Besonderen Ministerrat (seit 1967 Ministerrat oder Rat), die parlamentarische Versammlung (seit 1962 nannte sie sich selbst Europäisches Parlament) und den Gerichtshof.8 Jean Monnet wurde erster Präsident der Hohen Behörde. Die Hohe Behörde war ein supranationales Organ und als Hauptrechtsetzungsinstitution das zentrale Organ der EGKS.9 Die Hohe Behörde wurde nicht gewählt, sondern im Einvernehmen zwischen den Mitgliedstaaten beschickt.10 Einen entscheidenden Beitrag zur Gestaltung dieser Hohen Behörde lieferte Belgien. Es schlug bei einem Treffen der BeNeLux-Staaten vor, dass „Delegierte“ der Mitgliedstaaten in einem „Gremium“, dem der Präsident der Hohen Behörde vorsitzen sollte, gleich vertreten sein sollten (das heißt ein Delegierter je Mitgliedstaat).11 Die Unabhängigkeit der Mitglieder dieses Gremiums sollte dadurch sichergestellt werden, dass sie über eine lange Amtszeit verfügten. Weil die Regierungen in diesem Gremium nicht direkt vertreten sein würden, sollten sie „Kommissionäre“ (heute: Kommissare) bei der Hohen Behörde haben. Eine demokratische Legitimation dieses Organs fand somit nur mittelbar über die Regierungen der Nationalstaaten statt. Der Besondere Ministerrat sollte von Anfang an den Einfluss der Mitgliedstaaten auf die EGKS sicherstellen.12 Zwar hatte die Hohe Behörde umfassende Entscheidungsbefugnis im Hinblick auf die Kohle- und Stahlindustrie. Sollten Entscheidungen der Hohen Behörde jedoch politische Belange der Mitgliedstaaten berühren („questions à cheval“), war die Zustimmung des Besonderen Ministerrates nötig.13 Die parlamentarische Versammlung trat zum ersten Mal am 10. September 1952 in Straßburg zusammen.14 Sie bestand aus 78 Abgeordneten, die den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten entstammten. Ihre demokratische Legitimation war somit ebenfalls auf nationaler Ebene angelegt. Die gemeinsame Versammlung sollte, nach der in den Mitgliedstaaten vorherrschenden Praxis, eine demokratische Kontrolle über die Hohe Behörde ausüben. Die Etablierung eines parlamentarischen Organs innerhalb der EGKS war jedoch von Anfang an nicht nur eine Geste überging. Die Erträge aus dem Vermögen der EGKS, der „Forschungsfond für Kohle und Stahl“, werden in die Forschung in die mit Kohle- und Stahlindustrie zusammenhängenden Sektoren „eingespeist“ [Pache / Schorkopf, S. 1377 (1386)]. Art. 2 des Protokolles enthält eine Ermächtigung des Rates, über einen Rechtsrahmen für die Verwaltung des Forschungsfonds einstimmig zu beschließen. 8 Vgl. Saalfrank, S. 21. 9 Streinz, Europarecht, Rz. 20. 10 Zacker, S. 11. 11 Westlake, S. 2. 12 Westlake, S. 2 f. 13 Westlake, S. 3. 14 Corbett / Jacobs / Shackleton, S. 8.

II. Fusion der Organe

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an die Praxis der demokratischen Kontrolle in den Mitgliedstaaten, sondern ein Symbol für das Bestreben, die Gemeinschaft in Richtung einer engeren Union oder Föderation zu entwickeln. Die allenfalls mittelbare demokratische Legitimation der Institutionen der EGKS lieferte zunächst keine Kritikpunkte im Sinne der Bemängelung eines Demokratiedefizites, weil es bei der EGKS nur um die gemeinsame Überwachung und Verwaltung der damaligen Rüstungsschlüsselindustrien, also um eine sektoral eng begrenzte Integration, ging und nicht um eine wirtschaftliche und politische Union, wie sie die Europäische Union und die Gemeinschaften in ihrer Summe heute darstellen.

II. Fusion der Organe und Stärkung der parlamentarischen Versammlung Die im EGKS-Vertrag angelegten institutionellen Strukturen bildeten die Grundlage der Institutionen der EWG und der EAG. Diese wurden am 25. März 1957 durch die Römischen Verträge gegründet, die am 1. Januar 1958 in Kraft traten.15 Die Organe dieser Gemeinschaften waren der Rat, die Kommission, die Versammlung und der Gerichtshof. Die organisatorische Struktur von EWG und EAG stimmte weitgehend überein. Anders als bei der EGKS lag das Schwergewicht der Willensbildung beim Rat, über den die einzelnen Mitgliedstaaten, vertreten durch ihre Regierungen, an der Rechtsetzung und an den weiteren Kompetenzen partizipierten.16 Durch das Abkommen über gemeinsame Organe für die europäischen Gemeinschaften, welches zu den Römischen Verträgen vom 25. März 1957 zählt, und den Fusionsvertrag vom 8. April 1965 „verschmolzen“ die Organe der Gemeinschaften.17 Mit „Fusion“ ist hier gemeint, dass die Organe personell identisch waren. Jedoch handelten sie weiterhin als Organe der jeweiligen Gemeinschaft, zum Beispiel als Rat der EGKS oder als Gerichtshof der EWG. „Es kam somit nur zu einer strukturellen Fusion der Organe, nicht aber zu einer materiellen Fusion der Gemeinschaften.“18 Die Gemeinschaften blieben als selbständige Rechtssubjekte erhalten. Durch die Luxemburger Beschlüsse der EWG-Außenminister vom 29. 1. 1966 wurde hauptsächlich das Verhältnis des Rates zur Kommission berührt. Gemäß dem EWG-Vertrag hätte der Ministerrat ab 1966 in wichtigen Regelungsbereichen (u. a. Landwirtschaft und gemeinsame Handelspolitik) mit qualifizierter Mehrheit 15 16 17 18

Herdegen, Rz. 43. Herdegen, Rz. 44. Emmert, § 4, Rz. 3. Schweitzer / Hummer, Europarecht, Rz. 133.

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B. Kurze Historie der demokratischen Entwicklung

zu entscheiden gehabt. Bevor diese Regelung in Kraft trat, löste Frankreich mit seiner „Politik des leeren Stuhles“ eine „Verfassungskrise“ der Gemeinschaft aus.19 In einem „Agreement to Disagree“ innerhalb der Luxemburger Beschlüsse einigten sich die EWG-Außenminister, dass bei Beschlüssen, die die vitalen Interessen eines Mitgliedstaates berührten, weiterhin eine einvernehmliche Regelung gesucht werden sollte. Zugleich wurden die Befugnisse der Kommission restriktiv ausgelegt, so dass die Beschlüsse insgesamt betrachtet zu einer Gleichgewichtsverschiebung zu Gunsten des Rates und zu Lasten der Kommission führten.20 Für die drei Gemeinschaften wurde eine neue, erweiterte Versammlung21 installiert. Sie bestand aus 142 Mitgliedern und konstituierte sich am 19. März 1958 in Straßburg als „Europäische Parlamentarische Versammlung“22. Trotz des gemeinsamen Bestrebens, ein „Parlament“ zu schaffen, waren die Mitgliedstaaten zunächst sehr zurückhaltend, was die Ausstattung der Versammlung mit Befugnissen anbetraf.23 Die Kompetenzen des Europäischen Parlaments bestanden zu Anfang hauptsächlich aus Beratungsbefugnissen. Erst nach den sechziger Jahren wurde das Parlament mit weiterreichenden Kompetenzen versehen.24 Am 22 April 1970 erfolgte eine erste Erweiterung der Haushaltsbefugnisse durch den Vertrag von Luxemburg. Ein zweiter Vertrag, der diese Befugnisse erweiterte, wurde am 22. Juli 1975 in Brüssel unterfertigt. Ein historischer Schritt war die Einführung allgemeiner, unmittelbarer Wahlen durch den Beschluss des Rates vom 20. September 1976 und den Akt zur Einführung allgemeiner und unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments, der am 1. Juli 1978 in Kraft trat. Die ersten Wahlen, in denen 410 Abgeordnete gewählt wurden, fanden am 7. und 10. Juni 1979 statt.25 1980 entschied der Gerichtshof in seinem „Isoglucose-Urteil“ (Rs. 138 und 139 / 79, Roquette Frères, Slg. 1980, S. 3333), dass ein Rechtsakt nichtig ist, wenn die vertraglich vorgesehene obligatorische Anhörung des Europäischen Parlaments unterblieben ist.26 Dies gab dem Europäischen Parlament de facto die Möglichkeit, Entscheidungen zu verzögern und stärkte seine Position insbesondere bei unter Zeitdruck zu treffenden Entscheidungen (wie beispielsweise im Falle des Binnenmarktprogrammes 1992, innerhalb dessen alle Organe an einen strikten Zeitplan gebunden waren)27.

Oppermann, Europarecht, § 1, Rz. 29 f. Oppermann, Europarecht, § 1, Rz. 30. 21 Gemeinsame Versammlung der drei Gemeinschaften gemäß Art. 1 u. 2 des Abkommens über gemeinsame Organe für die europäischen Gemeinschaften vom 25. März 1957. Vgl. Corbett / Jacobs / Shackleton, S. 8. 22 Corbett / Jacobs / Shackleton, S. 8. 23 Corbett / Jacobs / Shackleton, S. 8. 24 Corbett / Jacobs / Shackleton, S. 8. 25 Emmert, § 9, Rz. 28. 26 Corbett / Jacobs / Shackleton, S. 10; Emmert, § 19, Rz. 111. 27 „De facto delaying power“, Corbett / Jacobs / Shackleton, S. 10. 19 20

IV. Einführung des Mitentscheidungsverfahrens

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III. Einführung des Verfahrens der Zusammenarbeit und Ausweitung der Mehrheitsentscheidung im Rat Um das Binnenmarktprogramm, das durch die Einheitliche Europäische Akte vom 28. Februar 1986 festgelegt wurde28, verabschieden zu können, einigten sich die Mitgliedstaaten auf eine starke Ausdehnung der Mehrheitsentscheidung im Rat.29 Da die Stimmengewichtung im Rat für Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit nach politischen Gesichtspunkten festgelegt wurde, gewann diese Gewichtung zunehmend an Bedeutung, je mehr das Prinzip der qualifizierten Mehrheit das Einstimmigkeitsprinzip verdrängte. Eine weitere institutionelle Neuerung durch die EEA war die Einführung des Verfahrens der Zusammenarbeit (Ex-Artikel 149 II EWGV, Artikel 189c EGV a.F., Art. 252 EGV). Dieses Verfahren brachte dem Europäischen Parlament eine weiterreichende Beteiligung an der Gesetzgebung, indem der Rat einen vom Europäischen Parlament abgelehnten Rechtsakt nur noch einstimmig verabschieden konnte.30

IV. Einführung des Mitentscheidungsverfahrens; Verantwortlichkeit der Kommission gegenüber einer qualifizierten Parlamentsmehrheit Im Dezember 1991 einigten sich die Mitgliedstaaten auf dem Gipfel von Maastricht auf eine Textfassung für den „Vertrag über die Europäische Union“. Der am 7. Februar 199231 – ebenfalls in Maastricht – von den Mitgliedstaaten ratifizierte Vertrag brachte neben der Gründung der Europäischen Union zahlreiche institutionelle und sachliche Änderungen des EGV mit sich.32 Durch den Vertrag von Maastricht wurde die Rechtsposition des Europäischen Parlaments erheblich gestärkt.33 Vier Vertragsänderungen sind in diesem Zusammenhang besonders von Bedeutung: Die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens (Artikel 189b a.F., Art. 251 EGV), das Recht, die Kommission zur Vorlage einer bestimmten Gesetzesinitiative aufzufordern (Art. 138b a.F., Art. 192 EGV), das Recht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen (Art. 138c a.F., Art. 193 EGV) und das Ernennungsverfahren der Kommission (Art. 158 II a.F., Art. 214 Abs. 2 Streinz, Europarecht, Rz. 33; vgl. Herdegen, Rz. 47; Emmert, § 4, Rz. 26. Emmert, § 4, Rz. 26. 30 Vgl. Streinz, Europarecht, Rz. 22, 33, 38; Herdegen, Rz. 47; Emmert, § 4, Rz. 28 ff. 31 In Deutschland konnte der Vertrag erst am 1. November 1993 in Kraft treten, nachdem die „Zustimmung“ des Bundesverfassungsgerichtes eingeholt wurde. Streinz, Europarecht, Rz. 40; Herdegen, Rz. 48. 32 Streinz, Europarecht, Rz. 43 ff.; Herdegen, Rz. 48 ff. 33 Vgl. Emmert, § 5, Rz. 9 ff. 28 29

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B. Kurze Historie der demokratischen Entwicklung

EGV). Mit dem Mitentscheidungsverfahren erhielt das Parlament ein absolutes Vetorecht gegen Rechtsakte. Lehnt das Parlament ab und kommt auch im Vermittlungsausschuss keine Einigung zu Stande, so ist der Rechtsakt nicht erlassen.

V. Stärkung des Europäischen Parlaments durch weitere Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens Durch den Vertrag von Amsterdam kam es insgesamt zu einer Stärkung der Institutionen der Europäischen Union gegenüber den Nationalstaaten. Die Position des Europäischen Parlaments wurde gestärkt, indem das Mitentscheidungsverfahren (Art. 251 EGV) auf insgesamt 23 neue Anwendungsfälle ausgeweitet wurde; für etwa 70 % der Gemeinschaftsrechtsetzung wurde das Europäische Parlament zum gleichberechtigten Mitgesetzgeber neben dem Rat.34 Zudem wird das Parlament bei der Benennung des Kommissionspräsidenten nicht mehr nur angehört, sondern es ist die Zustimmung des Parlaments erforderlich, Art. 214 Abs. 2 UAbs. 3 EGV. Im Hinblick auf den Rat der Europäischen Union wurde die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit auf 16 neue Fälle ausgedehnt.35 Damit wurde weiter vom Einstimmigkeitsprinzip abgewichen und dem Rat eine größere Handlungsfähigkeit eingeräumt. Innerhalb der Kommission wurden die Befugnisse des Kommissionspräsidenten gestärkt. Die Benennung der übrigen Kommissionsmitglieder erfolgt nicht mehr nur nach Anhörung des designierten Präsidenten, sondern im Einvernehmen mit ihm, Art. 214 Abs. 2 UAbs. 2 EGV. Zudem wurde ausdrücklich bestimmt, dass die Kommission ihre Tätigkeit unter der politischen Führung des Kommissionspräsidenten ausübt, Art. 219 Abs. 1 EGV.

34 Europäisches Parlament, Institutioneller Ausschuss, Sitzungsdokument, Bericht über den Vertrag von Amsterdam, Brüssel, 5. November 1997. Nach FAZ Nr. 139 v. 18. Juni 2003, S. 6, „Das große Europa – das neue Europa“, werden derzeit etwa drei Viertel aller Gesetze im Mitentscheidungsverfahren verabschiedet. 35 Europäisches Parlament, Arbeitsgruppe des Generalsekretariats, TASK-FORCE Regierungskonferenz, der Koordinator, Stellungnahme für den Präsident des Europäischen Parlaments, Straßburg, 15. Juli 1997, Teil 2, S. 6.

C. Die Thesen vom Demokratiedefizit in der Europäischen Union Unter diesem Buchstaben werden die verschiedenen Thesen „vom Demokratiedefizit in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften“ erläutert. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen Thesen findet unter Buchstabe D., II. und III. statt.

I. Äußeres Demokratiedefizit 1. Nur indirekte demokratische Legitimation des Rates Der Rat ist zum Stand des Vertrages von Amsterdam „immer noch“ Hauptrechtsetzungsorgan der Gemeinschaften; nur sofern das Mitentscheidungsverfahren zur Anwendung kommt, übt er die Rechtsetzungsbefugnis zusammen mit dem Europäischen Parlament aus. An dieser Legislativtätigkeit wird kritisiert, dass der Rat aus Vertretern der Exekutive bestehe, also aus Mitgliedern der nationalen Regierungen.36 Allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sei das Prinzip der Gewaltenteilung verfassungsimmanent. Die Gesetze würden – von Ausnahmen abgesehen – von den Parlamenten und damit durch die Volksvertreter verabschiedet. Eine Ausnahme bildeten insofern Frankreich und Portugal. Die Verfassungen dieser Länder grenzten die Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen dem Parlament und der Regierung ab. Jedoch stelle dies auf den zweiten Blick keine Anomalie dar; denn die wesentlichen Fragen, das heißt diejenigen Fragen, die etwa nach deutschem Verfassungsrecht dem Parlamentsvorbehalt37 unterlägen, insbesondere die Fragen der Organisation der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit, fielen in die Zuständigkeit der Parlamente.38 Kritisiert wird also, dass auf europäischer Ebene die Rechtsakte nicht von Volksvertretern, die direkt gewählt sind, erlassen werden, sondern von Regierungsmitgliedern. Diese sind jedoch nicht unmittelbar demokratisch legitimiert, sondern nur mittelbar durch die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierungen in den jeweiligen Mitgliedstaaten, was dazu führe, dass es in der Europäischen Union 36 Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (58); Emmert, § 14, Rz. 12, § 16, Rz. 10, § 17, Rz. 27 f. 37 Vgl. BVerfGE 68, S. 90 (106). 38 Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (55).

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C. Thesen vom Demokratiedefizit in der EU

und ihren Gemeinschaften immer noch an umfassender demokratischer Legitimation der Rechtsetzung fehlte.39 Dass der Rat Hauptrechtsetzungsorgan der Gemeinschaften ist, führe jedoch nicht nur dazu, dass ein Exekutivorgan als europäischer Gesetzgeber tätig würde, sondern es bestehe auch die Gefahr der Umgehung der nationalen Parlamente durch den Rat der Europäischen Union:40 Wenn der Rat Recht setze, das unmittelbar und vorrangig in den Mitgliedstaaten wirke, könnte beispielsweise der Deutsche Bundestag umgangen werden. Emmert41 beschreibt ein mögliches Umgehungsszenario so: Insbesondere Mitglieder von Koalitionsregierungen, die zu Hause auf ihren Koalitionspartner angewiesen seien, könnten versuchen, eine Regelung, die sich im nationalen Parlament nur schwer durchsetzen ließe, auf Gemeinschaftsebene zu verabschieden. Die Kommission mit ihrem Initiativmonopol könnte versucht sein, „das Spiel mit zu spielen“, da sie systembedingt an einer Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen interessiert sei. Die Regierungen der anderen Mitgliedstaaten könnten, unter Umständen auch gegen die eigene Überzeugung, dazu beitragen, die notwendige Mehrheit bzw. Einstimmigkeit herbeizuführen, weil sie von dem vorschlagenden Staat auf anderen Gebieten Gegenleistungen erwarteten. In diesem Zusammenhang wird der ehemalige Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Kohl, zitiert:42 „Wenn man sich im Bundestag [ . . . ] nicht durchsetzt, versucht man es [ . . . ] über die zweite Kammer [ . . . ]. Scheitert man auch im Bundesrat, dann wendet man sich an die geschätzten Kollegen im Europäischen Parlament. Die finden gemeinsam mit den nationalen Ressorts oft Mittel und Wege, um dann in Brüssel über irgendeine Stelle – und wenn es in der Sache noch so absurd ist – möglichst weiterzukommen, vielleicht sogar bis auf die Ebene einer Richtlinie. Im Ergebnis heißt das: Im Bayerischen oder Mainzer Landtag schimpft man dann gemeinsam über die Brüsseler Regelung, aber vorher hat man alles getan, um genau diese Brüsseler Regelung zu erreichen.“

Des Weiteren bedeute Demokratie auch, dass Entscheidungsträger, die eine Politik verfolgten, die innerhalb der Wählerschaft nicht mehrheitsfähig sei, abgewählt werden können. Dieses Prinzip sei aber durch die Einführung und Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat außer Kraft gesetzt; wenn die Vertreter eines Mitgliedstaates im Ministerrat überstimmt werden, hätten die Wähler keine Möglichkeit, die verantwortlichen Entscheidungsträger abzuwählen.43

39 40 41 42 43

Seeler, S. 721 (730). Emmert, § 14, Rz. 12, § 16, Rz. 10. Emmert, § 16, Rz. 10. Heitsch, S. 809 (823). Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (1134).

I. Äußeres Demokratiedefizit

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2. Unzureichende Kompetenzen des Europäischen Parlaments; fehlendes institutionelles Gleichgewicht (checks and balances) zwischen Rat und Parlament Die These der unzureichenden Kompetenzen des Europäischen Parlaments gegenüber dem Rat gründet darauf, dass der Rat bei der Rechtsetzung die Schlüsselposition innehat, während dem Parlament weitgehend nur eine ergänzende Funktion zukommt.44 Zudem verfüge das Parlament nicht über ein eigenes Initiativrecht. Wegen des Initiativmonopols45 der Kommission kann das Parlament also selbst dort, wo es als „Mitgesetzgeber“ berufen ist (Art. 251 EGV), kein Rechtsetzungsverfahren initiieren. Was das Gleichgewicht der Institutionen (checks and balances) angeht, habe das Parlament weder im Hinblick auf den Rat, noch in Bezug auf die Kommission ein Kreationsrecht. Lediglich die Benennung des Kommissionspräsidenten und der weiteren Mitglieder der Kommission seien von der Zustimmung des Parlaments abhängig (Art. 214 Abs. 2 UAbs. 1, 2. HS.; UAbs. 3 S. 1 EGV). Die Kompetenzen des Europäischen Parlaments wurden bis zum Vertrag von Amsterdam ständig erweitert. Die Kompetenzen des europäischen Parlaments in Bezug auf die Rechtsetzung reichten ante Nizza von den Befugnissen einer echten zweiten Kammer, deren positive Zustimmung erforderlich ist46, bis hin zu Konsultationsbefugnissen, also zum Verfahren der obligatorischen47 und fakultativen48 Anhörung sowie dem Konzertierungsverfahren49. Dabei hat das Parlament im häufigsten Verfahren, dem Mitentscheidungsverfahren, ebenfalls die Möglichkeit, die Verabschiedung eines Rechtsaktes zu verhindern, Art. 251 Abs. 6 EGV. Trotzdem sei das Europäische Parlament nicht gleichwertig an der Gesetzgebung beteiligt, sondern es habe weiterhin nur eine dem Rat untergeordnete Stellung inne.50 Bleckmann ist der Ansicht, dass auch nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam die Mitentscheidung des Parlaments zu den Rechtsakten des Rats nicht die Regel, sondern die Ausnahme sei.51 Zur Begründung seiner These knüpft er nicht Vgl. Oppermann, Europarecht, § 5 Rz. 242. Vgl. Art. 251 Abs. 2 UAbs. 1, 252 Buchst. a Abs. 1, 250 Abs. 2. Emmert, § 9, Rz. 97; Herdegen, Rz. 137. 46 Zustimmungsverfahren; herausragendes Beispiel: Art. 49 Abs. 1 S. 2, 2. HS. EUV. 47 Z. B. Art. 37 Abs. 2 UAbs. 3 EGV. 48 Das Verfahren der fakultativen Anhörung ist im EGV nicht geregelt. Es handelt sich um eine Interorganvereinbarung zwischen Parlament und Rat. Es findet Anwendung, wenn eine Beteiligung des Parlaments an der Rechtsetzung nicht vorgesehen ist (vgl. Hölscheidt, in: Grabitz / Hilf, Bd. II, Art. 192 EGV, Rz. 10 f.). 49 Das Konzertierungsverfahren findet ebenfalls auf Grund einer Interorganvereinbarung Anwendung (vgl. Hölscheidt, in: Grabitz / Hilf, Bd. II, Art. 192 EGV, Rz. 10 ff.). Wenn der Rat von der Stellungnahme des Parlaments abweichen will, wird das Gesetzgebungsverfahren an den Konzertierungsausschuss überweisen, der seiner Funktion nach mit dem deutschen Vermittlungsausschuss verglichen werden kann. 50 Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (55). 51 Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (55). 44 45

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C. Thesen vom Demokratiedefizit in der EU

daran an, bei wie vielen Rechtsakten das Parlament tatsächlich im Wege der Mitentscheidung beteiligt ist, sondern daran, in wie vielen Artikeln des EGV das Mitentscheidungsverfahren vorgesehen ist. Lediglich in 19 Artikeln sei auf das Mitentscheidungsverfahren verwiesen. In 14 Artikeln werde nur eine Anhörung des Parlaments verlangt, 15 Artikel würden das Parlament überhaupt nicht erwähnen. Dies gelte insbesondere für die besonders umfangreichen und häufig bemühten Generalklauseln der Art. 94 und 308 EGV. Zudem deckten die Mitentscheidungsbefugnisse nur einen kleinen Teil derjenigen Sachbereiche ab, die nach deutschem und französischem Recht dem Parlamentsvorbehalt unterlägen.52 Kritisiert wird auch, dass das Mitentscheidungsverfahren nicht stets zur Anwendung kommt, wenn der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet.53 Als Begründung wird vorgetragen, dass eine demokratische Legitimation vom Staatsvolk im Falle der Entscheidung des Rates mit der Mehrheit der Stimmen nicht mehr gewährleistet sein könne: „[ . . . ] denn die vom nationalen Staatsvolk demokratisch legitimierte Nationalregierung kann überstimmt werden. Wenn eine Entscheidung kommt, ist sie jedenfalls nur von einem Teil der europäischen Staatsvölker demokratisch legitimiert. Man kann auch sagen, dass dann, wenn die Gesamtregierung – hier die Gesamtheit des Ministerrats – nicht von einem Volk legitimiert ist, es auch keine Volksherrschaft gibt.“54

Auch die Kommission schlägt vor, dass ein Zusammenhang zwischen Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit im Rat und Beteiligung des Europäischen Parlaments im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens herzustellen sei.55 Ihre Forderung ist darauf begrenzt, „legislative Beschlüsse“, die mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden, mit dem Mitentscheidungsverfahren zu verknüpfen.56 Nach der Auffassung der Kommission ist also kein genereller „Gleichlauf“ zwischen Mehrheitsentscheidung im Rat und Mitentscheidung des Europäischen Parlaments erforderlich.

3. Kein Responsible Government resp. Legislation Doehring sieht es als common european principle of law an, dass jede Regierung und jedes Parlament dem Volk gegenüber verantwortlich sein müssten.57 Responsible government bedeute, dass eine Parlamentsmehrheit abwählbar und eine ReBleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (55). Maurer, S. 15 (38); Streinz, Die demokratische Legitimation der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft, S. 73 (80); Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (1134). 54 Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (1134). 55 Kommission, KOM (2000) endg., Brüssel, 26. 1. 2000, S. 7. 56 KOM (2000) endg., S. 27. 57 Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133. 52 53

I. Äußeres Demokratiedefizit

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gierung absetzbar sein müssten, sie müssten vom Volk für ihr Handeln zur Verantwortung gezogen werden können. In der Europäischen Union sei der Rat als Hauptlegislativorgan dem Volk gegenüber nicht verantwortlich. Nicht unmittelbar, da die Mitglieder des Rates nicht von den Europäern abwählbar seien. Aber auch nicht mittelbar durch die nationalen Parlamente oder das Europäische Parlament. Der Einfluss der nationalen Parlamente auf den Rat laufe jedenfalls dann ins Leere, wenn im Ministerrat das Mehrheitsprinzip herrsche, denn die vom nationalen Staat demokratisch legitimierte Regierung kann überstimmt werden. Durch das Europäische Parlament könne wiederum nur eine begrenzte Kontrollfunktion ausgehen. Es habe lediglich die Möglichkeit, einen Normerlass zu hindern.

4. Fehlendes Majoritätsprinzip Der These, dass die Einstimmigkeitsentscheidungen gegen das common principle of law des Mehrheitsprinzips verstießen, liegt folgende Argumentation zur Grunde: Kern des Mehrheitsprinzips sei es, dass die Mehrheit das geltende Recht konstituiere oder bestätige, wozu sich alle westlichen Demokratien bekennen würden.58 Sofern im Rat ein Rechtsakt nur einstimmig erlassen werde, könne jede Aktivität durch ein Veto verhindert werden.59 Dies widerspreche dem Mehrheitsprinzip.60

5. Fehlen einer Kontrolle des Rates durch eine Opposition Die Kritik des Fehlens einer Kontrolle des Rates durch eine Opposition weist Überschneidungen mit dem Kritikpunkt der mangelnden Gewaltenteilung und der mangelnden Verantwortlichkeit des Rates auf. Wenn auch eine klassische Gewaltenteilung nach Montesquieu in den modernen europäischen Staaten nicht existiere, weil insbesondere in parlamentarischen Demokratien die Regierung und die Parlamentsmehrheit unter einer einheitlichen Willensbildung stünden, so bestünde doch eine Gewaltenteilung zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung auf der einen und der Opposition auf der anderen Seite.61 Diese Gewaltenteilung sei deshalb besonders wichtig, weil so die Opposition die Möglichkeit habe, als Gegengewalt in die Position von Regierung respektive Parlamentsmehrheit einzutreten bzw. weil das Volk so eine Auswechslung von Regierung und Opposition herbeiführen könne. Innerhalb des Ministerrates gebe es eine solche Chance nicht. Selbst Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133. Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (1134). 60 Doehrings Argumente widersprechen sich hier m.E. Er kritisiert einerseits, dass der Rat wegen des Mehrheitsprinzips nicht gegenüber dem Volk verantwortlich sei, andererseits soll ein Einstimmigkeitserfordernis gegen das Majoritätsprinzip verstoßen. 61 Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (1135). 58 59

3 Tiedtke

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C. Thesen vom Demokratiedefizit in der EU

wenn sich eine Opposition zeigte, gebe es keine Möglichkeit der Auswechslung des gesamten Organs durch eine Opposition. Anmerkung: Auch im Europaparlament besteht für eine Opposition nicht die Möglichkeit, in die Position der Parlamentsmehrheit zu treten und infolge dessen die Regierung zu stellen. Denn die Parlamentsmehrheit im Europäischen Parlament verfügt hinsichtlich des Rates über keine und hinsichtlich der Kommission über keine alleinige Regierungskreationsfunktion.62 Während ihrer Amtszeit ist die Kommission von der Parlamentsmehrheit unabhängig und nur auf das Vertrauen einer 1 / 3-Minderheit des Europaparlaments angewiesen, Art. 201 Abs. 2 EGV.63 (Und selbst wenn die Mehrheit der Unionsbürger für eine Auswechslung der Parlamentsmehrheit stimmen würde, könnte die Wahl aufgrund der nicht bevölkerungsproportionalen Mandatskontingentierung dennoch zu einem anderen Ergebnis führen.64)

6. Mangelnde Unabhängigkeit der Gerichte Ein weiteres common principle of law sei die sachliche und persönliche Unabhängigkeit der Gerichte.65 In der Europäischen Union werden die Richter des EuGH gemäß Art. 223 Abs. 1, 2. HS. EGV von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen ernannt. Dies sei im Hinblick auf die tatsächliche wie vertragsrechtliche Rolle des EuGH bedenklich.66 Der EuGH habe eine Stellung, die einem nationalen Verfassungsgericht vergleichbar sei.67 Der EuGH betreibe zudem richterliche Rechtsfortbildung und schaffe judge made law in großem Umfang. „Für die Praxis bedeutet das zugleich, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs in ihrer Bedeutung als Rechtsquelle des Gemeinschaftsrechts noch über die bloße Auslegung andersartig niedergelegter Normen hinausgeht.“68 Es gebe zahlreiche Fälle, in denen nur noch der effet utile die Entscheidung bestimmt habe, weshalb der EuGH auch als Motor des Gemeinschaftsrechts bezeichnet werde.69 Im Hinblick auf diese Funktion des EuGH sei kein Verfassungssystem bekannt, in welchem die Exekutive selbst die Verfassungsrichter benennen könnte. Dies habe seinen Grund darin, dass in Bezug auf die Befangenheit eines Gerichts nicht nur das faktische Bestehen der Befangenheit wesentlich sei, sondern schon allein die Möglichkeit der Befangenheit. 62 Bei der Einsetzung der Kommission muss sich das Parlament nach der gemäß dem Vertrag von Nizza geltenden Rechtslage mit dem Rat ins Benehmen setzen, Art. 214 Abs. 2 EGV n.F. Vgl. unten D., III., 1., a), cc). 63 Siehe hierzu unten D., III., 1., a), cc), (2). 64 Siehe hierzu unten D., III., 1., a), dd), (2), (a). 65 Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (1134). 66 Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (1135). 67 Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (1135) m. w. N. 68 Emmert, § 12, Rz. 48. 69 Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, a. a. O. S. 1133 (1135).

II. Inneres Demokratiedefizit

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II. Mangelhafte demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments selbst (inneres Demokratiedefizit) Nach dem Urteil des BVerfG vom 12. Oktober 1993 („Maastricht-Urteil“) kommt dem Europäischen Parlament eine stützende Funktion bei der demokratischen Legitimation der Hoheitsmacht der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften zu.70 Zwar erfolge die demokratische Legitimation der Union zuvörderst durch die Rückkoppelung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten. Hinzu trete jedoch im zunehmenden Maße des Zusammenwachsens der europäischen Nationen die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das von den Bürgern der Mitgliedstaaten gewählte Europäische Parlament.71 Diese stützende Funktion ließe sich verstärken, wenn das Parlament nach einem in allen Mitgliedstaaten übereinstimmenden Wahlrecht gemäß Art. 190 Abs. 4 EGV gewählt würde und der Einfluss des Parlaments auf die Politik und Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften wachse. Nach der Auffassung von Emmert wäre es zu einfach, zu glauben, dass es lediglich einer umfassenden Mitentscheidungsbefugnis des Parlaments bei allen gemeinschaftlichen Rechtsetzungsakten bedürfe, um dem Demokratiedefizit beizukommen.72 In seiner derzeitigen internen Struktur würde das Europäische Parlament selbst demokratischen Grundanforderungen nicht entsprechen. Dieses „innere Demokratiedefizit“ gebe um so mehr Anlass zu Bedenken, je mehr Entscheidungsbefugnisse auf das Parlament übertragen würden.

1. Die Auswirkungen der verschiedenen Wahlsysteme Die Wahlen zum Europäischen Parlament gehen bisher nach verschiedenen nationalstaatlichen Vorschriften vor sich.73 Bislang wurde noch kein Entwurf des Europäischen Parlaments betreffend allgemeine unmittelbare Wahlen nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten vom Rat bzw. den Mitgliedstaaten gemäß Art. 190 Abs. 4 UAbs. 2 EGV angenommen. Dies hat zur Folge, dass bisher sehr unterschiedliche Wahlsysteme zur Anwendung kommen. Die Palette reicht dabei vom „reinen“ Verhältniswahlrecht (Bsp.: Italien) über ein Verhältniswahlrecht mit Sperrklauseln (Bsp.: Bundesrepublik Deutschland, 5 %-Hürde) bis zum relativen Mehrheitswahlsystem (UK außer Nordirland).74 Erhebliche Unterschiede bestehen auch hinsichtlich der Aufstellung der Kandidaten durch die Parteien bzw. BVerfGE 89, S. 155 (184 ff.). BVerfGE 89, S. 155 (184 ff.). 72 Vgl. Emmert, § 17, Rz. 28. 73 Beschluss des Rates und Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments vom 20. September 1976. 74 Vgl. Hölscheidt, in: Grabitz / Hilf, Bd. II, Art. 190 EGV, Rz. 30. 70 71

3*

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C. Thesen vom Demokratiedefizit in der EU

innerhalb der Wahlkreise.75 Die Disproportionalitätsquellen reichten hierbei von Sperrklauseln oder der Unterteilung des Wahlgebiets in unverbundene Wahlkreise, bis hin zum unterschiedlichen passiven Wahlalter. Diese unterschiedlichen Disproportionalitätsfaktoren verstärken das, was man in der Wahlforschung einen „Bias“ nennt.76 Dies bedeutet einen „Sieg der zweitstärksten Partei“.77 Ein eindrucksvolles Beispiel waren in diesem Zusammenhang die Direktwahlen von 1979, bei denen die Sozialdemokraten 4 Sitze mehr als die Konservativen bekamen, obwohl letztere rund 3,3 Millionen Stimmen mehr erhielten. Die unterschiedlichen Wahlsysteme führen mithin zu Verzerrungen beim Erfolgswert der Stimmen.

2. Die Auswirkungen der Mandatskontingentierung Hauptursache für die Verzerrungen zwischen Mandatsverteilung und Stimmenanteil sind jedoch nicht die unterschiedlichen Wahlsysteme, sondern ist die Mandatskontingentierung nach Art. 190 EGV (= Art. 138 EGV a.F.). Damit ist die fixe und nicht bevölkerungsproportionale Verteilung der Sitze im Europäischen Parlament gemeint. Im Einzelnen entsenden die Mitgliedstaaten nach dem Vertrag von Amsterdam die folgende Anzahl von Abgeordneten in das Europäische Parlament:78 Belgien: Dänemark: Deutschland: Griechenland: Spanien: Frankreich: Irland: Italien: Luxemburg: Niederlande: Österreich: Portugal: Finnland: Schweden: Vereinigtes Königreich: Gesamt:

25 16 99 25 64 87 15 87 6 31 21 25 16 22 87 626

(ca. 4,0%) (ca. 2,6%) (ca. 16%) (ca. 4,0%) (ca. 10%) (ca. 14%) (ca. 2,4%) (ca. 14%) (ca. 0,96%) (ca. 5,0%) (ca. 3,4%) (ca. 4,0%) (ca. 2,6%) (ca. 3,5%) (ca. 14%) (100%)79

Vgl. Emmert, § 9, Rz. 33. Lenz, S. 37. 77 Vgl. Lenz, S. 37. 78 Wegen des Verhältnisses der Sitze zu den Einwohnerzahlen der Länder vergleiche Anhang I. 79 Wegen der Einzelheiten vergleiche Anhang I und Anhang I.1. 75 76

II. Inneres Demokratiedefizit

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Waren danach 1994 beispielsweise rd. 67.000 Luxemburger Wählerstimmen zur Erringung eines Mandats notwendig, so waren in Deutschland rd. 814.000 Stimmen erforderlich. Mit anderen Worten, 814.000 Deutschen Wählern standen nur 67.000 Luxemburger Wähler gegenüber, ein Unterschied von 1:12,15.80 Nach den Bevölkerungszahlen im Jahresdurchschnitt 2001 standen immer noch 73.500 Luxemburger 831.000 Deutschen gegenüber, ein Verhältnis von 1:11,3.81 Und selbst wenn man dieses extremste Beispiel außer Acht ließe, ergäbe sich noch ein Unterschied in der Stimmgewichtung von 1: 2 zwischen der Gruppe der bevölkerungsstarken und der Gruppe der bevölkerungsschwachen Mitgliedstaaten.82 Diese Verzerrungen könnten durch unterschiedliches Abstimmungsverhalten noch gesteigert werden:83 Durch die Mandatskontingentierung in unverbundenen Wahlkreisen könne sich die bewusst festgesetzte Überrepräsentierung eines Landes durch eine überdurchschnittliche Wahlbeteiligung in eine Unterrepräsentation verwandeln, wie dies 1989 am Beispiel von Griechenland deutlich geworden sei.84 Und auch der umgekehrte Fall ist möglich und 1989 vorgekommen: Dänemark, das gegenüber dem EU-Durchschnitt fast um 100% überrepräsentiert gewesen ist, habe diesen „Vorsprung“ durch eine unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung auf 138 % ausgebaut. Diese unterschiedliche Stimmgewichtung verstoße gegen den Grundsatz der Zählwertgleichheit85 der Wählerstimmen, der als „common principle of law“ grundsätzlich86 in allen Mitgliedstaaten gelte – und somit auch für die Europäische Union und ihre Gemeinschaften gelten würde.87 Für die Bundesrepublik Deutschland habe das Bundesverfassungsgericht zu Art. 38 Abs. 1 GG entschieden, dass der Zählwert der Wählerstimmen absolut gleich sein müsse: Das Bundesverfassungsgericht trennt zwischen dem Zählwert und dem Erfolgswert der Stimmen.88 Hinsichtlich des Erfolgswertes könnten Abweichungen von der formalen Gleichheit der Stimmgewichtung „in Grenzen“ zugelassen werden, wenn dafür ein zwingender Grund gegeben sei.89 So sei beispielsweise die 5%-Hürde bei den Vgl. Emmert, § 17, Rz. 33. Zu den Zahlen vgl. Anhang I. 82 Emmert, § 17, Rz. 33. 83 Lenz, S. 35, 188. 84 Vgl. Lenz, S. 35. 85 Die Begriffe „Zählwert“ und „Erfolgschance“ werden in der Literatur synonym verwandt. Beides bedeutet im hier verstandenen Sinne, dass schon vor Wahlbeginn feststeht, dass die Stimmen einiger Wähler mehr oder weniger zählen werden, als die anderer. (Zum Teil wird auch noch zwischen dem Gebot des gleichen Zählwertes, der gleichen Erfolgschance und des gleichen Erfolgswertes differenziert (vgl. z. B. Lenz, S. 180).) 86 Zu den Durchbrechungen im Vereinigten Königreich (Überrepräsentierung von Wales und Schottland) und in Spanien (Überrepräsentierung der ländlichen Bevölkerung) vgl. Lenz, S. 182. 87 Vgl. Lenz, S. 176 ff., 181, 188 und ders., Anmerkung zu EGMR Urt. v. 18. 2. 1999 – 24833 / 94 (Denise Mattews / Vereinigtes Königreich), in: EuZW 1999, S. 308 (312). 88 Emmert, § 17, Rz. 34 ff. 89 BVerfGE 1, S. 208 (247 f.). 80 81

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C. Thesen vom Demokratiedefizit in der EU

Wahlen zum Deutschen Bundestag zu rechtfertigen. Hinsichtlich des Zählwertes jedoch hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, „dass es angesichts der in der demokratischen Grundordnung verankerten unbedingten Gleichheit aller Staatsbürger in der Teilnahme an der Staatswillensbildung gar keine Wertungen geben kann, die es zulassen würden, beim Zählwert der Stimmen zu differenzieren.“90 Dies gelte grundsätzlich auch in den übrigen Mitgliedstaaten der EU. Eine Unterteilung der Bevölkerung in Wahlkreise darf prinzipiell nur auf der Grundlage der Proportionalität der Bevölkerungsverteilung vorgenommen werden.91 Und nicht nur das gemeinsame Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten gehe von diesem Grundsatz der Zählwert- oder Erfolgschancengleichheit der Stimmen der Wähler aus. Dieser Grundsatz sei vielmehr ein common principle of law in allen westlichen Demokratien. Auch der US-Supreme Court gelange auf Grund des Gleichheitssatzes zu einem elementaren Grundrecht auf Wahlrechtsgleichheit. 92 Bei der Einteilung in unverbundene Wahlkreise93 fordere der Supreme Court, dass der Gesetzgeber die Wahlkreise as nearly of equal population as is practicable bilde. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ergeben sich jedoch auf Grund aufgezeigter Mandatskontingentierung schon auf der Ebene des Zählwertes große Unterschiede.94 Völlig gleichgültig, wie die Deutschen auch abstimmten, und selbst wenn alle für die gleiche Partei stimmen würden, so blieben sie doch, proportional gesehen, um den Faktor zwölf unbedeutender repräsentiert als die Wähler aus dem benachbarten Luxemburg. Diese Unterrepräsentierung werde auch nicht durch die Repräsentation der Mitgliedstaaten im Rat als Gegengewicht aufgehoben oder abgemildert:95 Der Rat der Europäischen Union („Rat“, Art. 5 EUV) besteht aus je einem Minister der Regierungen der Mitgliedstaaten, der befugt ist, für die jeweilige Regierung verbindlich zu handeln (Art. 203 Abs. 1 EGV). Er entscheidet mit einfacher (Art. 205 Abs. 1 EGV) oder qualifizierter (Art. 205 Abs. 2 EGV) Mehrheit oder einstimmig (z. B. Art. 250 Abs. 1, Art. 251 Abs. 3 S. 1, 2. HS. EGV). Sofern der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet, werden die Stimmen der Mitglieder wie folgt gewichtet (Art. 205 Abs. 2 EGV):96 BVerfGE 1, S. 208 (247 f.). Lenz, S. 176 ff., 181, 188. Zu den Ausnahmen im Vereinigten Königreich (Überrepräsentierung von Wales und Schottland) und in Spanien (Überrepräsentierung der ländlichen Provinzen): Ders., S. 182. Zur Rechtsprechung des BVerfG und des Conseil constitutionnel hierzu: Ders., S. 183 ff. 92 „One man – one vote“ und „Legislators represent people not trees and acres“ seien bekannte Grundsätze des US-Supreme Court (Lenz, S. 328). 93 Anm.: Die Verteilung von Sitzen auf die Mitgliedstaaten stellt eine solche Einteilung der EU in unverbundene Wahlkreise dar. 94 Emmert, § 17, Rz. 40. 95 Emmert, § 17, Rz. 41 ff. 90 91

III. Fehlende Transparenz der Entscheidungsverfahren Belgien: Dänemark: Deutschland: Griechenland: Spanien: Frankreich: Irland: Italien: Luxemburg: Niederlande: Österreich: Portugal: Finnland: Schweden: Vereinigtes Königreich:

5 3 10 5 8 10 3 10 2 5 4 5 3 4 10

(ca. 5,7%) (ca. 3,4%) (ca. 11%) (ca. 5,7%) (ca. 9,2%) (ca. 11%) (ca. 3,4%) (ca. 11%) (ca. 2,3%) (ca. 5,7%) (ca. 4,6%) (ca. 5,7%) (ca. 3,4%) (ca. 4,6%) (ca. 11%)

Gesamt:

87

(ca. 100%)97

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Die Vertreter des Rates seien nicht direkt vom Volk legitimiert, sondern nur indirekt über die nationalen Parlamente. Und schließlich seien auch im Rat bei Abstimmungen die mittleren und kleinen Mitgliedstaaten zu Lasten der bevölkerungsreicheren deutlich überrepräsentiert.

III. Fehlende Transparenz der Entscheidungsverfahren Diejenigen, die die mangelnde Transparenz der Entscheidungsverfahren in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften kritisieren, bemängeln, dass die auf Ebene der Europäischen Gemeinschaft erlassenen Rechtsakte auf für den Bürger undurchsichtige Art und Weise zu Stande kommen. Teilweise wird auf die 96 Die Stimmgewichtung im Rat betreffend Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit führt zu einem Vorteil der kleineren Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Relation von Stimmgewichtung zu Bevölkerungszahl. Jedoch wäre dieser Unterschied noch größer, wenn das völkerrechtliche Prinzip der souveränen Gleichheit zur Anwendung käme und somit Luxemburg und Deutschland je nur eine Stimme hätten. In Bundesstaaten finden sich sowohl Systeme souveräner Gleichheit, als auch Systeme, welche die Bevölkerungszahl berücksichtigen – wenn auch nicht proportional. In den USA beispielsweise entsendet jeder Bundesstaat zwei Senatoren, unabhängig von der Einwohnerzahl. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Bevölkerungszahl zwar berücksichtigt, Art. 51 Abs. 2 GG. Bremen, das im Bundesrat 3 Stimmen hat, ist gegenüber Nordrhein-Westfalen mit 6 Stimmen jedoch trotzdem um den Faktor 13,7 überrepräsentiert (Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland, http: // www.destatis.de / cgi-bin / printview.pl, Stand: 16. Dezember 2002. Vgl. auch Emmert, § 17, Rz. 41, dort noch 5 Stimmen für Nordrhein-Westfalen). 97 Zu den Einzelheiten (Relation Stimmverteilung / Bevölkerung etc.) vgl. Anhang II.

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C. Thesen vom Demokratiedefizit in der EU

Europäische Union die alte Formel Pufendorfs über das Heilige Römische Reich angewendet: „Monstro simile!“98 Die Europäische Union sei auf der Ebene des primären Gemeinschaftsrechts ein in Jahrzehnten immer komplizierter gewachsenes Geflecht aus Verträgen, Protokollen, Erklärungen, Beschlüssen u.s.w. geworden.99 Schon Europarechtler seien nicht mehr in der Lage, den gesamten Bereich der Entwicklung des Europarechts zu überblicken.100 Die breite Masse des Volkes sei nicht einmal über den Aufbau und die Aufgaben der Europäischen Union und der Gemeinschaften informiert. Beratungen und Abstimmungen im Rat fänden hinter verschlossenen Türen statt.101 Die Öffentlichkeit in den jeweiligen Nationalstaaten erfahre nicht, welcher Minister unter welchen Bedingungen einer Regelung zugestimmt habe. Die Öffentlichkeitsarbeit und Informationspolitik der Regierungen über ihre Mitwirkung in der gemeinschaftlichen Rechtsetzung sei häufig selektiv und folge der Regel, wonach Erfolge viele Väter hätten, Misserfolge hingegen Waisenkinder seien. Daraus entstünde auch der schlechte Ruf der Kommission, der eine Regelungswut vorgeworfen werde, wobei schlicht nicht erkannt würde, dass die Kommission fast immer nur Initiativen einbringen könne, die Rechtsakte aber vom Rat und den dort vertretenen Nationalregierungen erlassen würden. Manche Autoren nehmen gar an, dass die Intransparenz der Rechtsetzungsvorgänge – insbesondere im Rat – von den nationalen Regierungen sogar (zumindest zum Teil) begrüßt würde, weil „über die europäische Schiene“ Entscheidungen herbeigeführt werden könnten, die auf nationaler Ebene nicht durchsetzbar wären, wobei im selben Atemzug lautstark beklagt werden würde, dass sich Brüssel überall einmische.102 Udo Di Fabio meint, dass es die Unionsbürger wegen der mangelnden Transparenz der Entscheidungsprozesse schwer hätten, die neue Formation öffentlicher Gewalt zu verstehen und sich selbst als Subjekt dieser Entwicklung zu erkennen und er stellt die Fragen:103 „Wem ist der Weg europäischer Entscheidungen geläufig, wie viele Bürger Europas durchschauen das Werden und Wirken von Richtlinien und Verordnungen, wie viele sind auch nur in Grundzügen vertraut mit der Brüsseler Welt der Gremien und politischen Kompromisse? Wer überblickt die Zusammenhänge zwischen Wahlakt und praktischer Unionspolitik? Und wer hat eigentlich einen genauen Begriff für die in Europa seit dem Ende des Römischen Reiches einmalige Zusammenballung öffentlicher Gewalt, wer kennt das Ziel 98 Oppermann, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 87 (88), mit Hinweis auf einen Zeitungsbeitrag von Michael Stolleis aus 1992 in der FAZ (o. Datum, o.S.). 99 Oppermann, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 87 (88), mit dem Hinweis, dass die Textausgabe des Amtes für Veröffentlichungen der EG (1993) auf 881 Seiten neben EUV und EGV zehn weitere Verträge und grundlegende Rechtsakte sowie fünf wichtige Entschließungen und Erklärungen enthalte, wobei EGKSV und EAGV noch hinzuzurechnen wären. 100 Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (58). 101 Emmert, § 16, Rz. 12; ebenso: Oppermann,in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 87 (88). 102 Heitsch, S. 809 (823), m. w. N. 103 Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (738).

IV. Mangelnde vorrechtliche Voraussetzungen

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und die innere Systematik einer Union, die bislang im steten Fortschritt ihre eigene Identität zu finden schien?“

Was nicht verstanden werde und im Ziel nicht greifbar sei, das werde nur geduldet, nicht wirklich bejaht.104 Durch die intransparenten Entscheidungsverfahren in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften werde – ähnlich wie bei den gelegentlich als „byzantinisch“ bezeichneten Verfahren im U.S.-Kongress oder zwischen Deutschem Bundestag und Bundesrat – das für ein rein parlamentarisches System zentrale Prinzip der Verantwortung für die jeweils eigene Entscheidung weitgehend außer Kraft gesetzt.105

IV. Mangelnde vorrechtliche Voraussetzungen Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes106 ist Demokratie, soll sie nicht lediglich formales Zurechnungsprinzip bleiben, vom Vorhandensein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig. Das Fehlen dieser vorrechtlichen Voraussetzungen wird in der Literatur vor allem unter drei Punkten diskutiert:107 Dem Fehlen eines europäischen Volkes, dem Fehlen einer europäischen öffentlichen Meinung (oder europäischer Medien) und dem Fehlen von europäischen politischen Parteien.108

1. These vom Fehlen eines europäischen Volkes Der Ausdruck „Demokratie“, wörtlich Volksherrschaft, stamme aus dem Altertum und der Sinn sei auf den ersten Blick denkbar eindeutig: Im Staat solle das Volk sein eigener Herr sein.109 Die Staatsform der Demokratie setze also die Existenz eines Volkes voraus, das fähig sein müsse, einen gemeinsamen Willen zu bilden und in die Tat umzusetzen. Ein europäisches Volk, also eine europäische Zivilgesellschaft, gebe es jedoch nicht.110 Eine Gesellschaft benötige, um Grundlage einer Demokratie zu sein, ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, welches Mehrheitsentscheidungen und Solidarleistungen zu tragen vermöge.111 Dieses soDi Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (738). Heitsch, S. 809 (822 f.). 106 BVerfGE 89, S. 155 (185). 107 Vgl. Kluth, S. 33 ff.; Suski, S. 26 ff.; Narr, S. 251 (255 ff.); Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (57); Grimm, S. 581 (587 ff.). 108 Die Thesen überschneiden sich zum Teil und zum Teil bestehen auch Überschneidungen mit dem Kritikpunkt der mangelnden Transparenz der Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union. 109 Suski, S. 26. 110 Narr, S. 259, m. w. N. 111 Grimm, S. 581 (590). 104 105

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C. Thesen vom Demokratiedefizit in der EU

ziale Zusammengehörigkeitsgefühl gründe auf verschiedenen Faktoren: Kultur, Sprache, Religion und politische Schicksalsgemeinschaft seien einige, wobei keines der Kriterien allein ausschlaggebend sein könne, wie auch wiederum das Fehlen eines der Kriterien alleine nicht schade.112 Es müsse eine ausreichende soziale Homogenität vorhanden sein, die ein „Wir-Bewusstsein“113 tragen könne. Kritisiert wird nicht nur das Fehlen eines Volkes im soziologischen Sinne, sondern es gebe auch kein europäisches Volk im juristischen oder im funktionaldemokratischen Sinne.114 Der Polizeivorbehalt in der Union bzw. im EGV erlaube Diskriminierungen zu Gunsten der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Deshalb fehle das wichtigste Merkmal der Staatsangehörigkeit im juristischen Sinne, das Merkmal der Gleichheit aller Angehörigen eines Staates. Das Volk im funktionaldemokratischen Sinne betreffend müssten alle Mitglieder des Volkes gemeinsam und in gleicher Weise an der politischen Herrschaftsgewalt beteiligt sein.115 In der Europäischen Union sei dies jedoch nicht der Fall, da die Unterschiede der Wahlverfahren und – vor allem – die Mandatskontingentierung zu einer unterschiedlichen Stimmberechtigung (Zähl- und Erfolgswert unterscheiden sich, vgl. oben, C. II. 1. und 2.) der Unionsbürger führten. Nach Grimm116 ist das europäische Demokratiedefizit deshalb strukturell bedingt und es lässt sich daher nicht durch institutionelle Reformen kurzfristig beheben.

2. These vom Fehlen einer europäischen öffentlichen Meinung (europäischer Medien) Die These vom Fehlen einer europäischen öffentlichen politischen Meinung greift an folgendem Punkt an: Selbst wenn es ein europäisches Volk gebe, so würde dies freilich noch nicht bedeuten, dass die Einheit des Volkes und dessen Wille schon vorgegeben wäre, so dass er mit Hilfe der Staatsorgane nur noch zum Ausdruck gebracht werden müsse.117 Vielmehr sei ein Volk von Meinungs- und Interessengegensätzen durchzogen. Demokratie dürfe nicht mit Parlamentarismus gleichgesetzt werden. Der parlamentarische Prozess baue vielmehr auf einem gesellschaftlichen Prozess der Interessenvermittlung und Konfliktsteuerung auf, der die parlamentarische Entscheidung teils entlaste und teils vorstrukturiere. Es seien deshalb Kommunikationsmedien erforderlich, die jene Öffentlichkeit herstellten, durch welche allgemeine Meinungsbildung und demokratische Teilhabe erst ermöglicht würden. 112 113 114 115 116 117

Suski, S. 40. Kluth, S. 41. Suski, S. 73. Suski, S. 73. Grimm, S. 581 (590). Grimm, S. 581 (587).

IV. Mangelnde vorrechtliche Voraussetzungen

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Es sei eine „etatistische Verkürzung“118 anzunehmen, dass die Meinungs- und Interessenvermittlung, Willensbildung und Entscheidungsfindung, Stabilitäts- und Legitimitätssicherung, aus welcher der gesellschaftliche Zusammenhalt erwachse, von den staatlichen Organen allein bewirkt werden würde.119 In Europa gebe es jedoch keine europäischen Print- oder Funkmedien und die Voraussetzungen ließen sich auch nicht ohne weiteres schaffen. Ein solches europäisiertes Kommunikationssystem dürfe nicht mit der Berichterstattung über europäische Themen in nationalen Medien verwechselt werden. Diese richteten sich an ein nationales Publikum, blieben damit nationalen Sichtweisen verhaftet, und sie könnten deshalb ein europäisches Publikum nicht begründen und einen europäischen Diskurs nicht erzeugen. Europäisierung in der Kommunikation hieße demgegenüber, dass es europäische Medien geben müsse (Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen etc.). Diese müssten jedoch an den Sprachkompetenzen der Bürger scheitern. Das größte Hemmnis für eine Europäisierung liege demnach in der unüberwindlichen Sprachbarriere der elf verschiedenen Sprachen in der Union. Eine volle Parlamentarisierung der Europäischen Union, also der Ausbau der Kompetenzen des Parlaments, würde deshalb – in Ermangelung der vorrechtlichen Voraussetzung eines europäischen Kommunikationssystems – das europäische Demokratieproblem eher verschärfen als lösen. Auch Bleckmann geht vom Fehlen eines europäischen Meinungsbildungsprozesses aus.120 Ein solcher Meinungsbildungsprozess habe drei Funktionen: Erstens, eine breit angelegte Diskussion in der Öffentlichkeit, damit alle Interessen berücksichtigt werden können und damit ein Kompromiss gefunden werden kann. Zweitens habe der Meinungsbildungsprozess eine Kontrollfunktion, die Medien überwachten die staatlichen Organe als „vierte Gewalt“. Und drittens schaffe der öffentliche Meinungsbildungsprozess ein gemeinsames Bewusstsein der Bürger und damit eine verbindende Identität. Auf europäischer Ebene gebe es jedoch keine politischen Medien, und Vorgänge in Brüssel würden von den nationalen Medien sehr selten aufgegriffen.

3. These vom Fehlen europäischer politischer Parteien und Interessenverbände Ein weiterer Punkt der „demokratischen Mängelliste“121 im Hinblick auf die Europäische Union soll das Fehlen von europäisch organisierten und handelnden politischen Parteien und die nur geringe Entwicklung öffentlich europäisch agierender pluralistischer Interessenverbände und sozialer Bewegungen sein.122 118 119 120 121 122

Lepsius, S. 271. Grimm, S. 581 (587). Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (57 f.). Narr, S. 255. Vgl. Kluth, S. 62 und Grimm, S. 581 (588, 590).

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C. Thesen vom Demokratiedefizit in der EU

In den modernen europäischen Staaten fände die politische Meinungsbildung nicht von unten nach oben statt. Vielmehr formulierten die politischen Eliten Zielvorgaben und Programme. Weiterhin seien die Parteien für den Wähler in ihren jeweiligen Rollen als Regierungspartei oder Opposition wahrnehmbar und beurteilbar. Die politischen Parteien seien bislang jedoch nicht auf europäischer Ebene organisiert. Zwischen den Parteien gleicher oder ähnlicher politischer Grundausrichtungen fände bisher lediglich eine kooperative Zusammenarbeit statt.123 Das Fehlen entsprechender Strukturen sei ein weiteres vorrechtliches demokratisches Defizit in der Europäischen Union.124

123 124

Vgl. Kluth, S. 62. Grimm, S. 581 (588, 590).

D. Die demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften bis zum Vertrag von Nizza Im Folgenden wird die demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften ante Nizza untersucht. Zunächst wird geprüft, welche Rechtsnatur die Europäische Union und ihre Gemeinschaften haben. In einem zweiten Schritt werden die verschiedenen Rechtsquellen, aus denen sich ein Demokratiegebot für die Union und die Gemeinschaften ergeben könnte, untersucht. Schließlich wird dargestellt, ob und wie die Europäische Union und ihre Gemeinschaften demokratische Strukturgebote aus vorgenannten Rechtsquellen beachten.

I. Die Rechtsnatur der Europäischen Union und der Gemeinschaften Fraglich ist, welche Rechtsnatur die Union und ihre Gemeinschaften haben. Ausgehend von der klassischen Staatslehre müssten die Prüfungspunkte hier eigentlich Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsmacht heißen.125 Die folgende Darstellung beschränkt sich jedoch darauf, dem Zweck dieser Prüfung zur Folge, zunächst die Rechtsform der Gemeinschaften und der Union darzustellen und sodann die wesentlichen Unterschiede zu den „klassischen“ Nationalstaaten heraus zu arbeiten, soweit sie im Hinblick auf die demokratische Legitimation relevant sind. Die Untersuchung der Rechtsnatur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften geschieht im Vorfeld der Untersuchung des geforderten demokratischen Legitimationsniveaus. Bevor also festgestellt wird, ob die Europäische Union und ihre Gemeinschaften ausreichend demokratisch legitimiert sind, soll zunächst dargestellt werden, was die Europäische Union und ihre Gemeinschaften sind.

125 Sog. Dreielementelehre, vgl. Kimminich, S. 113; vgl. Zippelius, Erster Teil, Kapitel III, §§ 9, 11, 12.

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D. Demokratische Legitimation der EU bis zum Vertrag von Nizza

1. Rechtspersönlichkeit; internationale bzw. supranationale Organisation a) Die Europäischen Gemeinschaften Bei den Europäischen Gemeinschaften (EGKS, EG und EAG) handelt es sich um auf drei völkerrechtlichen Gründungsverträgen basierende, selbständige Gemeinschaften. Diese Gemeinschaften sind selbständige Völkerrechtssubjekte (vgl. Art. 281 EGV), d. h., sie besitzen – zumindest gegenüber den Mitgliedstaaten – eigene Rechtspersönlichkeit.126 Nach h.M. handelt es sich bei den Gemeinschaften jeweils um einen supranationalen Staatenverbund.127 Neben dem Begriff des Staatenverbundes128 werden noch die Bezeichnungen „Integrationsgemeinschaft“, „supranationale Organisation“, „funktionaler Zweckverband“, „Verfassungsverbund“ oder „europäisches Mehrebenensystem“ bzw. „Mehrebenenstruktur“ verwandt. Durch diese Begriffe soll einerseits klargestellt werden, dass es sich bei den Gemeinschaften nicht um einen Staat, auch nicht um einen Bundesstaat, handelt. Andererseits unterscheidet sich die Europäische Gemeinschaft von „herkömmlichen“ internationalen Organisationen. Denn dieser „neue Typus Staatenverbindung“129 zeichnet sich durch die Besonderheit aus, dass den Gemeinschaften im Rahmen ihrer Supranationalität die Befugnis eingeräumt ist, nicht nur gegenüber ihren Mitgliedstaaten, sondern auch unmittelbar in jedem Mitgliedstaat geltendes Recht zu setzen, d. h., unmittelbar auf die Rechte und Pflichten der Bürger der Mitgliedstaaten einzuwirken (Art. 249 Abs. 2 EGV). Hinzu kommt, dass die Gemeinschaften über ein lückenloses Rechtsschutzsystem verfügen, das über die Einhaltung der Verpflichtung aus den Verträgen wacht (Art. 226 f., Art. 234 EGV).

b) Die Europäische Union Die Europäische Union besitzt nach dem Willen der Mitgliedstaaten im Außenverhältnis gegenüber Drittstaaten oder anderen internationalen Organisationen keine Rechtspersönlichkeit.130 Zudem weist sie im Hinblick auf Rechtsetzungs126 Im Bezug auf Drittstaaten, d. h. solche Staaten, die nicht Mitglied der Gemeinschaften sind, können die Gemeinschaften Völkerrechtssubjektivität nur dadurch erlangen, dass sie von diesen anerkannt werden [vgl. Hillgruber, Das Verhältnis der EG und EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (349)]. 127 BVerfGE 89, 155 (183, 185); Brosius-Gersdorf, S. 133 (157); Oppermann, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 87 (90 ff.); Hilf, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 75 ff.; Kluth, S. 45 f. 128 BVerfGE 89, S. 155 (181 ff.). 129 Hillgruber, Das Verhältnis der EG und EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (355). 130 H. M. Vgl. ausführlich Hillgruber, Das Verhältnis der EG und EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (351 ff.); ders., Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (2); ders., Die Völkerrechtsfähigkeit der Europäische Union, S. 15 ff.; Bleckmann, Europa-

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kompetenzen, Entscheidungsverfahren oder eigene Jurisdiktion nicht den gleichen Grad an „Vergemeinschaftung“ auf wie die Europäische Gemeinschaft.131 Anders als bei den Gemeinschaften wird die Rechtssubjektivität der Europäischen Union durch den EUV nicht ausdrücklich anerkannt (vgl. Art. 1 EGV und Art. 184 EAGV). Nach Art. 37 EUV vertreten die Mitgliedstaaten und nicht die Union nach außen die in Angelegenheiten von Titel VI festgelegten gemeinsamen Standpunkte. Des Weiteren spricht der intergouvernementale Charakter der in Titel V und VI EUV bezeichneten Politiken und Formen der Zusammenarbeit, die entweder von den Mitgliedstaaten direkt, oder über den einstimmig handelnden Rat durchgeführt werden, gegen den Willen der Mitgliedstaaten, der Union eine eigene Rechtspersönlichkeit zukommen zu lassen.132 Die Europäische Union ist nach ihrer „Integrationsdichte“ internationale, nicht aber supranationale Organisation.133 Die supranationalen Handlungsformen der Gemeinschaften stehen der Europäischen Union bei der Durchführung ihrer Aufgaben in den Bereichen GASP und PJZS nicht zur Verfügung: Art. 28 Abs. 1 und Art. 41 Abs. 1 EUV verweisen gerade nicht auf die Handlungsformen des Art. 249 EGV, sondern nur auf die intergouvernementalen Handlungsformen (Art. 12 bzw. Art. 34 Abs. 2 EUV). Die Europäische Union hat also keine Rechtsetzungsbefugnisse mit unmittelbarer Wirkung in den jeweiligen Mitgliedstaaten. Des Weiteren ist die Mehrheitsentscheidung in der Europäischen Union in weit geringerem Maße verbreitet als in der Europäischen Gemeinschaft. Während in der Gemeinschaft die Mehrheitsentscheidung im Rat mittlerweile die Regel ist, ist sie in der Union weiterhin die Ausnahme, so dass, wie bei übrigen internationalen Organisationen auch, das Prinzip der souveränen Staatengleichheit im Vordergrund steht.134 Im Hinblick auf die Unterwerfung unter die Jurisdiktionsgewalt des Europäischen Gerichtshofes gibt es nun zwar eine eingeschränkte gerichtliche Kontrolle durch den EuGH im Hinblick auf die PJZS gemäß Art. 46 Buchst. b, Art. 35 EUV135. recht, Rz. 166; Everling, S. 936 (941); Hilf, in: Grabitz / Hilf, Bd. I, Art. A, Rz. 8, 25 ff.; Oppermann, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 87 (90); Emmert, § 5, Rz. 37 f. A. A.: Wichard, Wer ist Herr im europäischen Haus?, S. 170 (174) und ders., in: Callies / Ruffert, Art. 1 EGV, Rz. 9 f. 131 Vgl. ausführlich Hillgruber, Das Verhältnis der EG und EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (351 ff.); ders., Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (2); ders., Die Völkerrechtsfähigkeit der Europäische Union, S. 15 ff.; Emmert, § 5, Rz. 37 f. 132 Zu den weiteren Argumenten der herrschenden Meinung, die der Ansicht ist, dass der EU keine eigene Rechtspersönlichkeit zukommt, vgl. Wichard, in: Callies / Ruffert, Art. 1 EGV, Rz. 8, wobei Wichard selbst vertritt, dass die EU eigene Rechtspersönlichkeit habe [ders., Wer ist Herr im europäischen Haus?, S. 170 (174)]. 133 Vgl. Emmert, § 5, Rz. 38. 134 Vgl. Hillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (2). 135 Hillgruber weist jedoch darauf hin, dass auch im Bereich der PJZS die Zuständigkeit des EuGH im Allgemeinen eine fakultative Unterwerfung der Mitgliedstaaten voraussetzt, Art. 46 i.V. m. Art. 35 EUV (ders., Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (2).

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Jedoch fehlt die Rechtsprechungsgewalt des EuGH weiterhin im Bereich der GASP (Art. 46 EUV). In der Europäischen Gemeinschaft hingegen besteht ein lückenloses Rechtsschutzsystem.136

2. Keine Kompetenz-Kompetenz (Verfassungsautonomie) a) Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung Ein wesentlicher Unterschied der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften zu den souveränen Mitgliedstaaten ist das Fehlen der Kompetenz-Kompetenz.137 Das heißt die Union und ihre Gemeinschaften können im Rahmen ihrer hoheitlichen Gewalt nicht eigene Zuständigkeiten begründen, sich wie Nationalstaaten eigene Regelungsbereiche erst neu erschließen, sondern sie werden gemäß dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung („compétence d’attribution“) tätig138, Art. 5 Abs. 1, Art. 249 Abs. 1 EGV. Rechtsakte der Gemeinschaften, die aus den Grenzen der vertraglich eingeräumten Hoheitsbefugnisse ausbrechen, wären im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich, die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden.139 Eine Kompetenz-Kompetenz ist aber für jede Form von Staatlichkeit erforderlich.140

b) Die „Generalermächtigung“ Art. 308 EGV Art. 308 EGV wird als „Abrundungsermächtigung“141, „Lückenschließungsklausel“, „Öffnungsklausel“142 oder auch „Generalermächtigung“ bezeichnet.143 Art. 308 EGV ermöglicht eine vertragsimmanente Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts „unterhalb“ der Vertragsänderung, also ohne die Erforderlichkeit eines ergänzenden nationalen Verfahrens.144 Die Inanspruchnahme der KompeHillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (2). Vgl. Kirchhof, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 22. 138 Vgl. BVerfGE 89, S. 155 (193). 139 BVerfGE 89, S. 155 (188, 195, 209 f.) Dazu auch Hillgruber, Das Verhältnis der EG und EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (367, m. w. N.). 140 Scholz, in: Maunz / Dürig, Bd. III, Art. 23, Rz. 11. 141 Herdegen, Rz. 193. 142 Emmert, § 16, Rz. 7. 143 Vgl. Rossi, in: Callies / Ruffert, Art. 308, Rz. 3. 144 Rossi, in: Callies / Ruffert, Art. 308, Rz. 1, 4 m. w. H.; Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 77 m. w. H.; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 23, Rz. 22; Zur Abgrenzung von Evolutivklauseln, bei denen die Ratifikation durch die Mitgliedstaaten erforderlich ist, siehe unten D., III., 1., b), cc). 136 137

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tenzausweitung nach Art. 308 EGV darf nur dann erfolgen, wenn ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich ist, um im Rahmen des gemeinsamen Marktes Vertragsziele zu verwirklichen.145 Zudem ist Art. 308 EGV subsidiär gegenüber Einzelermächtigungen. Aufgrund von Art. 308 EGV können Verordnungen, Richtlinien oder Entscheidungen, aber auch „unbenannte“ Beschlüsse mit Wirkung gegenüber den Mitgliedstaaten oder Einzelnen erlassen werden, ebenso wie Sanktionen. Art. 308 EGV ermächtigt zudem zur Errichtung von rechtsfähigen Einrichtungen der Gemeinschaft.146 Art. 308 EGV setzt stets einen einstimmigen Ratsbeschluss voraus. Die auch als „necessary and proper clause“ bezeichnete Vorschrift des Art. 308 EGV führt nicht zu einer Durchbrechung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung in dem Sinne, dass der Gemeinschaft über die Öffnungsklausel des Art. 308 EGV eine eigene Kompetenz-Kompetenz zustünde.147 Die Abrundungsermächtigung ist an bestimmte, wenn auch allgemeine Voraussetzungen gebunden und unterscheidet sich dadurch von einer Kompetenz-Kompetenz.148 Ein Tätigwerden im Rahmen von Art. 308 EGV verlangt stets ein Doppeltes, nämlich (1) ein echtes, im Vertrag nicht vorgesehenes Regelungsbedürfnis (sowie weitere Tatbestandsvoraussetzungen149) und (2) Einstimmigkeit im Rat.150 Dies bedeutet, dass alle Regierungsvertreter im Rat – und somit alle Mitgliedstaaten – mit der Kompetenzausübung im Rahmen des Art. 308 EGV einverstanden sein müssen, weshalb auch im Rahmen von Art. 308 EGV keine echte (Teil-)Kompetenz-Kompetenz auf die Gemeinschaft übergegangen ist.151 Der EuGH hat die Voraussetzungen einer Inanspruchnahme von Art. 235 EGV in seinem Gutachten vom 28. 3. 1996152 über einen Beitritt der EG zur EMRK konkretisiert. Aus dem Gutachten des EuGH lässt sich der Schluss ziehen, dass bei der Ermittlung eines Gemeinschaftsziels vorrangig von den in Art. 2, 3 und 4 EGV niedergelegten Aufgaben und Tätigkeiten auszugehen ist.153 Für die Abgrenzung einer Vertragsänderung nach Art. 48 EUV von einer Abrundungskompetenz nach Art. 308 EGV stellt der EuGH zudem auf die Folgen der beabsichtigten Maßnahme ab. Danach übersteigt ein Vorhaben jedenfalls dann die Grenzen des Art. 308 EGV, wenn seine Folgen einer Vertragsänderung gleichkämen.

145 146 147

Herdegen, Rz. 193; Rossi, in: Callies / Ruffert, Art. 308, Rz. 9 ff. Rossi, in: Callies / Ruffert, Art. 308, Rz. 59 f. Vgl. Emmert, § 16, Rz. 7; Herdegen, Rz. 193; Rossi, in: Callies / Ruffert, Art. 308, Rz.

9 ff. 148 149 150 151 152 153

Rossi, in: Callies / Ruffert, Art. 308, Rz. 3. Siehe Rossi, in: Callies / Ruffert, Art. 308, Rz. 9 ff. Emmert, § 16, Rz. 7. Ebenso: Emmert, § 16, Rz. 6. In: EuZW 1996, S. 307 ff. Häde / Puttler, S. 13 (14).

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In dem EMRK-Betitritts-Gutachten führt der EuGH hierzu aus: „Eine solche Änderung des Systems des Schutzes der Menschenrechte in der Gemeinschaft, die grundlegende institutionelle Auswirkungen sowohl auf die Gemeinschaft als auch auf die Mitgliedstaaten hätte, wäre von verfassungsrechtlicher Dimension und ginge daher ihrem Wesen nach über die Grenzen des Artikels 235 hinaus. Sie kann nur im Weg einer Vertragsänderung vorgenommen werden.“154

Nach der Ansicht von Häde / Puttler lässt der Gerichtshof in diesem Gutachten eine Tendenz erkennen, die nahe an der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts155 zu liegen scheint und der in der Vergangenheit ausufernden Anwendung des Art. 235 EGV Grenzen einziehen könnte.156 Durch die in diesem Gutachten eingeleitete Präzisierung des Zielbegriffs in Art. 308 EGV und der Abgrenzung zu Art. 48 EUV dürfte es in Zukunft nicht mehr so leicht sein, der Gemeinschaft neue Politikbereiche zu erschließen, ohne die Zustimmung der mitgliedstaatlichen Parlamente einzuholen. Auch die gegenwärtige Praxis der Inanspruchnahme von Art. 308 EGV (Ex-Art. 235 EWGV) lässt m.E. nicht den Schluss zu, dass Art. 308 EGV zum Übergang einer Kompetenz-Kompetenz auf die Gemeinschaft führt. Art. 235 EWGV fand zu Beginn der Gemeinschaft nur wenig Beachtung.157 Erst 1962 erließ der Rat die erste auf diese Grundlage gestützte Maßnahme. In den folgenden zehn Jahren blieb es bei einzelnen Rückgriffen auf Art. 235 EWGV. Das Schlusskommuniqué der Pariser Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs von 1972 läutete eine Wende ein.158 Danach wurde die Absicht bekundet, die Gemeinschaftstätigkeit auf neue Bereiche auszudehnen und dazu alle Bestimmungen der Verträge einschließlich Art. 235 EWGV weitestgehend auszuschöpfen. Diese Absicht wurde durch eine Reihe von Maßnahmen auf den Gebieten der Zoll- und Agrarpolitik, der Sozialpolitik, der Umweltpolitik, der Forschungspolitik und der Regionalpolitik sowie durch die Schaffung zahlreicher Institutionen umgesetzt. Die Einheitliche Europäische Akte und der Vertrag über die Europäische Union haben diese und andere Politikbereiche inzwischen ausdrücklich in den Vertrag aufgenommen. Zur vergangenen Praxis der „weitestgehenden Ausnutzung“ von Art. 235 EWGV äußerte sich das BVerfG in seinem Maastricht-Urteil:159 „Wenn eine dynamische Erweiterung der bestehenden Verträge sich bisher auf eine großzügige Handhabung des Art. 235 EWGV im Sinne einer ,Vertragsabrundungskompetenz‘ [ . . . ] gestützt hat [ . . . ], so wird in Zukunft bei der Auslegung von Befugnisnormen durch Einrichtungen und Organe der Gemeinschaften zu beachten sein, dass der Unionsvertrag grundsätzlich zwischen der Wahrnehmung einer begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis und der Vertragsänderung unterscheidet, seine Auslegung deshalb in ihrem Ergebnis nicht 154 155 156 157 158 159

EuGH, in: EuZW 1996, S. 307, Tz. 35. BVerfGE 89, S. 155 (210); siehe unter diesem Buchstaben, unten. Häde / Puttler, S. 13 (15). Häde / Puttler, S. 13. Rossi, in: Callies / Ruffert, Art. 308, Rz. 6. BVerfGE 89, S. 155 (210).

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einer Vertragserweiterung gleichkommen darf; eine solche Auslegung von Befugnisnormen würde für Deutschland keine Bindungswirkung entfalten.“

Art. 308 EGV ist zum Integrationsstand von Amsterdam zwar nicht obsolet geworden und wird weiterhin für die „dynamische Weiterentwicklung“ des Gemeinschaftsrechts „im Lichte der gemeinschaftlichen Zielsetzungen“ in Anspruch genommen.160 Gleichwohl hat die gegenwärtige Bedeutung von Art. 308 EGV gegenüber der vergangenen Praxis der extensiven Inanspruchnahme abgenommen.161 Aufgrund der umfangreichen Normierungen in der Vergangenheit hat sich der gemeinschaftliche Regelungsbedarf insgesamt reduziert. Vor allem aber hat die Erweiterung des Kompetenzkatalogs durch die Einheitliche Europäische Akte und insbesondere durch die Verträge von Maastricht und Amsterdam die Bedeutung der Generalermächtigung schwinden lassen.162

c) Keine Souveränitätsteilung Zwischen den Mitgliedstaaten auf der einen Seite und der Union und den Gemeinschaften auf der anderen Seite besteht nach h.M. auch keine „Souveränitätsteilung“, selbst wenn erst die nationalen und gemeinschaftlichen Kompetenzen zusammengenommen die volle Kompetenzfülle eines modernen Staates mit ausschließlichem Herrschaftsanspruch begründen.163 Die Kompetenzen der Gemeinschaften sind diesen vielmehr im Rahmen der begrenzten Einzelermächtigungen zugewiesen, delegiert durch die Mitgliedstaaten.164 Die Mitgliedstaaten können den Kompetenzkatalog des EGV grundsätzlich jederzeit wieder verkleinern oder zurücknehmen.165

160 Rossi, in: Callies / Ruffert, Art. 308, Rz. 8: Nach wie vor werden zahlreiche Rechtsakte der Gemeinschaft auf Art. 308 EGV gestützt. Im Zeitraum vom Inkrafttreten des EUV (1. 11. 1993) bis zum 31. 7. 1997 wurden 70 Rechtsakte auf Grundlage von Art. 308 EGV erlassen. Vgl. auch Häde / Puttler, S. 13 (14). 161 Rossi, in: Callies / Ruffert, Art. 308, Rz. 6; vgl. auch Häde / Puttler, S. 13 (14). 162 Rossi, in: Callies / Ruffert, Art. 308, Rz. 7. Rossi meint, dass auch die deutliche Warnung des BVerfGE 89, S. 155 (210) und die Diskussion um die demokratische Legitimation der Gemeinschaft zu einer restriktiven Handhabung von Art. 308 EGV geführt haben können. 163 Vgl. Hillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (4). 164 Vgl. Seeler, S. 721 (723). Anderer Ansicht betreffend das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigungen sind Pernice (ders., S. 866 (871) und Grabenwarter (ders., S. 290 ff.). Nach der Ansicht von Pernice (ders., S. 871) ist das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung das Prinzip der Verfassungen überhaupt. Es gelte gleichermaßen für Kompetenzen der Mitgliedstaaten wie für die der Europäischen Union. Wenn es überhaupt Kompetenz-Kompetenz gebe, so läge diese in der Hand der Bürger, die Kompetenzen auf verschiedenen Ebenen konstituieren könnten. 165 Emmert, § 16, Rz. 6.

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d) Vorrang des Gemeinschaftsrechts? Die Union und die Gemeinschaften verfügen auch nicht unter dem Gesichtspunkt über eigene, originäre Kompetenzen, dass ihre Rechtsordnung nach der Rechtsprechung des EuGH166 den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten vorgeht. Denn während der EuGH den Vorrang des Gemeinschaftsrecht aus diesem selbst ableitet (weil die Regelungen des Gemeinschaftsrechtes eine eigene Rechtsordnung bildeten)167 und deshalb allenfalls die Gemeinschaft selbst ihren Vorranganspruch einschränken könnte, steht das Bundesverfassungsgericht – und mit ihm die Verfassungsgerichte fast aller Mitgliedsländer168 – auf dem Standpunkt, dass der Vorrang auf mitgliedstaatlicher Übertragung beruhe.169 Der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist zu folgen. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechtes entstammt nicht originär einer eigenen Rechtsquelle, sondern er wird erst durch das nationale Recht eingeräumt. Bei EUV, EGV, EGKSV und EAV handelt es sich um völkerrechtliche Verträge170, d. h. sie gelten völkerrechtlich zunächst nur zwischen den Vertragsstaaten. Damit das Gemeinschaftsrecht in den einzelnen Mitgliedstaaten Anwendung finden kann, bedarf es einer Transformation in die nationalen Rechtsordnungen bzw. eines innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehles.171 Der im Zustimmungsgesetz zu den Verträgen enthaltene Rechtsanwendungsbefehl ist die Grundlage für die Geltung des Gemeinschaftsrechts in Deutschland.172 Auch der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht hat seinen Geltungsgrund im nationalen Rechtsanwendungsbefehl.173 Hierzu Huber174: „Dabei ist es nicht entscheidend, ob er [der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht] – wie in Frankreich, Österreich oder Spanien – im nationalen Ver166 Urteil des EuGH vom 15. Juli 1964 in der Rs. 6 / 64, Costa gegen ENEL (Slg. 1964, S. 1251). 167 Vgl. EuGH, Urt. vom 5. 2. 1963, Rs. 26 / 62, van Gend & Loos und Urt. vom 9. 3. 1978, Rs. 106 / 77, Simmenthal II. 168 Vgl. Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, S. 194 (214 f. Fn. 146 ff.). Weitere Hinweise bei von Bogdandy, S. 192, Fn. 186. 169 Vgl. BVerfGE 89, S. 155. 170 Allgemeine Meinung. Vgl. statt vieler: Klein, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 103. 171 Hillgruber, Das Verhältnis der EG und EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (359, 361). Anderer Ansicht: Pernice, S. 866 (870): Nach der Ansicht von Pernice ist das nationale Zustimmungsgesetz nicht „Brücke“ oder innerstaatlicher Rechtsanwendungsbefehl für die Geltung fremden Rechts, sondern Annahme des vereinbarten Vertragsinhalts als Ausdruck des gemeinsamen Willens der Unionsbürger zur originären Konstituierung europäischer öffentlicher Gewalt. In der Union seien supranationale und nationale Rechtsebenen zu einem „Gesamtsystem“ verbunden. 172 Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, S. 194 (214). 173 Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, S. 194 (214). 174 Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, S. 194 (216 f.).

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fassungsrecht oder – wie in Großbritannien – im Zustimmungsgesetz niedergelegt ist . . . [oder] ob er – wie in Deutschland – in das Zustimmungsgesetz hineininterpretiert wird [ . . . ].“

Verfassungsrecht – als „höchste staatliche Rechtsquelle“ – tritt gegenüber dem Gemeinschaftsrecht nach alledem nur zurück, soweit die Verfassungen dies selbst bestimmen.175 Von der Frage des Geltungsvorranges zu unterscheiden ist die Frage, ob die unterzeichneten Mitgliedstaaten auf Grund der völkerrechtlichen Verträge über die Gründung der Gemeinschaften dazu verpflichtet sind, dem Gemeinschaftsrecht innerstaatlich Geltung – und damit gegebenenfalls auch Vorrang vor Verfassungsrecht und einfachem Gesetzesrecht – zukommen zu lassen. Völkerrechtlich sind die Mitgliedstaaten durch die Gründungsverträge in der Pflicht, den innerstaatlichen Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts herbeizuführen und aufrechtzuerhalten.176 Wenn sie diese Verpflichtung jedoch verletzen, führt dies nicht zu einer quasi dinglichen Geltung des Gemeinschaftsrechtes, sondern der seine übernommenen Verpflichtungen verletzende Mitgliedstaat wäre den im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Sanktionen (Art. 228 Abs. 2 UAbs. 3 EGV) ausgesetzt.177 Von der völkerrechtlichen Verpflichtung, dem Gemeinschaftsrecht innerstaatlich Geltungsvorrang vor nationalem Recht jeder Rangstufe zu verschaffen, könnten sich die Mitgliedstaaten durch einen einvernehmlichen actus contrarius178 oder durch eine Kündigung unter der Voraussetzung der clausula rebus sic stantibus179 (Art. 62 WÜV) wieder lösen.180 Ein Kündigungsrecht steht den Mitgliedstaaten als ultima ratio insbesondere für den Fall zu, dass die Organe der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften ultra vires handeln, sich also unter Überschreitung der ihnen zugewiesenen Einzelermächtigungen eine eigene Kompetenz-Kompetenz anmaßen. Nach erfolgloser Erschöpfung des vom EGV zur Verfügung gestellten Rechtsschutzverfahrens zur Erzwingung vertragsgemäßen Verhaltens der Organe der Gemeinschaft könnte ein Mitgliedstaat seine völkerrechtliche Bindung an den Vertrag durch Kündigung beenden.181

Hillgruber, Das Verhältnis der EG und EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (361). Hillgruber, Das Verhältnis der EG und EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (365). 177 Vgl. Hillgruber, Das Verhältnis der EG und EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (360). 178 Hillgruber, Das Verhältnis der EG und EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (365); Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, S. 194 (215). 179 Str. Dafür: Hillgruber, Das Verhältnis der EG und EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (366) und Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, S. 194 (215). 180 Nach h.M. besteht ein Kündigungsrecht nach völkerrechtlichen Grundsätzen, vgl. Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 2. Teil, S. 1234 (1242), mit Hinweis auf BVerfGE 89, S. 155 (204). 181 Hillgruber, Das Verhältnis der EG und EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (369). 175 176

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D. Demokratische Legitimation der EU bis zum Vertrag von Nizza

Nach alledem handelt es sich bei den Gründungsverträgen nicht um eine „unmittelbar von den Unionsbürgern abgeleitete und insoweit autonome Verfassungsordnung, sondern um eine ,staatenvermittelte‘“ 182. Ein Übergang der KompetenzKompetenz von den Mitgliedstaaten auf die Europäische Union und ihre Gemeinschaften hat also auch unter dem Gesichtspunkt des Vorranges des Gemeinschaftsrechts nicht stattgefunden.183 Bleckmann vertritt die Meinung, dass zwar nicht der Europäischen Union / Gemeinschaft eine Kompetenz-Kompetenz zustünde, jedoch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung grundsätzlich nicht für das Europäische Parlament gelte.184 Spätestens mit der Einführung der unmittelbaren Wahlen zum Europäischen Parlament sei das Demokratieprinzip in die Europäische Gemeinschaft übernommen worden. Dies beinhalte grundsätzlich auch, dass das Europäische Parlament die Fülle der Hoheitsgewalt der EG besitze, soweit die Kompetenzen nicht ausdrücklich auf andere Organe übertragen worden seien. Dies sei der „eigentliche Grund“, warum das Parlament auch vom Ministerrat konsultiert werden könne, wenn der EGV dies gar nicht vorsehe. Dem ist entgegenzuhalten, dass einem einzelnen Organ keine weiterreichende Kompetenz zustehen kann, als der Körperschaft, deren Organ es ist, selbst zusteht. Im Ergebnis geht Bleckmann auch nur soweit, dass das Europäische Parlament „Resolutionen, die völlig außerhalb des Zuständigkeitsbereiches der EG“ lägen, verabschieden könne.185 Diese Resolutionen aber wären ohne Rechtswirkung, weshalb die Ansicht Bleckmanns, dass das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung für das Europäische Parlament nicht gelte, im Ergebnis dahinstehen kann.

3. Nur subsidiäre Kompetenz bei konkurrierender Zuständigkeit Die fehlende Kompetenz-Kompetenz bzw. das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung sind ein wesentlicher Gesichtspunkt der Unterscheidung der Hoheitsmacht der Gemeinschaft von derjenigen der Nationalstaaten. „Verstärkt“ wird das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung durch das Subsidiaritätsprinzip, Art. 2 Abs. 2 EUV, Art. 5 Abs. 2 EGV, Protokoll Nr. 30 zum EGV, das im Bereich der konkurrierenden Kompetenz der Gemeinschaft gilt: Die Gemeinschaft darf im Bereich der konkurrierenden Zuständigkeit nur tätig werden, sofern und soweit die Ziele, die mit der Regelung verfolgt werden, nicht schon auf Ebene der Mitgliedstaaten ausreichend erreicht werden können, Art. 5 Abs. 2 EGV.186 Die Abgrenzung zwischen ausschließlicher und konkurrierender Kompetenz der Gemeinschaft ist in der Praxis allerdings schwierig und im Einzelnen strittig.187 Weder aus dem Prinzip der enumerativen Einzelermächtigung noch aus den jeweiligen Rechtsgrundlagen 182 183 184 185 186 187

Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, S. 194 (221). Hillgruber, Das Verhältnis der EG und EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (371). Bleckmann, Europarecht, § 6, Rz. 330. Bleckmann, Europarecht, § 6, Rz. 330. Vgl. BVerfGE 89, S. 155 (193, 210 f.). Vgl. Emmert, § 16, Rz. 15.

II. Kriterien für die demokratische Legitimation der EU

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lässt sich eindeutig bestimmen, ob eine Kompetenzübertragung zu einer ausschließlichen Zuständigkeit der Gemeinschaft geführt habe. Die Kommission hat in ihrem Memorandum über das Subsidiaritätsprinzip dem Rat und dem Parlament mitgeteilt, in welchen Bereichen ihrer Meinung nach eine ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft besteht.188

Das Subsidiaritätsprinzip stellt dabei nicht lediglich eine unkontrollierbare Zielbestimmung dar.189 Denn eine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips können die Mitgliedstaaten im Rahmen der Nichtigkeitsklage (Art. 230 EGV) angreifen. Wegen der Formulierung des Art. 5 Abs. 2 EGV wirkt das Subsidiaritätsprinzip im Prozess als Beweislastregel zu Gunsten der Mitgliedstaaten, da im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung ein prinzipieller Vorrang der mitgliedstaatlichen Kompetenzen geregelt wird.190 Den Nachweis, dass das Ziel der Maßnahme nicht durch die Mitgliedstaaten besser erreicht werden kann, muss die Gemeinschaft führen. Zudem schafft das Subsidiaritätsprinzip bereits im Vorfeld des Tätigwerdens der Organe der Gemeinschaft eine „Rechtfertigungs- und Begründungslast“191. So ist im Protokoll Nr. 30 zum EGV spezifiziert dargelegt, wie die Kommission bei Ausübung ihres Initiativmonopols das Subsidiaritätsprinzip zu prüfen hat, Ziff. 9 des Protokolls Nr. 30 zum EGV.

II. Kriterien für die demokratische Legitimation der EU und der Gemeinschaften Im Folgenden wird untersucht, anhand welcher Kriterien das Maß der demokratischen Legitimation der Europäische Union und ihrer Gemeinschaften zu bestimmen ist, um herauszufinden, ob ein „angemessenes demokratisches Legitimationsniveau“192 vorhanden ist. Um diese Kriterien für das Maß der demokratischen Legitimation in der Union und ihren Gemeinschaften zu erarbeiten, kann auf rechtstheoretische, rechtspolitische oder auf Argumente des aktuellen Rechtes zurückgegriffen werden.193 Gegenstand dieser Untersuchung ist die demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften aus juristischer Sicht. Im Hinblick auf das Vorliegen eines Demokratiedefizites wird deshalb nicht danach gefragt, ob politisch ein demokratisches Defizit in der Union vorhanden ist bzw. ob politisch mehr Demo188 Aufzählung bei Emmert, § 16, Rz. 15, mit Hinweis auf Kom.Dok.SEC(92)1990, vom 27. Oktober 1992, abgedruckt in Bulletin der EG 10 – 1992, S. 122 ff. 189 Vor allem die Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips wird bezweifelt; vgl. Emmert, § 16, Rz. 35. 190 Emmert, § 16, Rz. 37 und Herdegen, Rz. 101. 191 Herdegen, Rz. 101. 192 Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (738). 193 Vgl. Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 39, 40.

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kratie in der Union wünschenswert wäre, sondern ob sich aus Rechtsnormen ein Demokratiedefizit in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften ergibt. Bei dieser Untersuchung stehen drei Rechtsquellen zur Verfügung, aus denen sich ein Demokratiegebot für die Europäische Union und ihre Gemeinschaften ergeben kann, das Völkerrecht, die Europäischen Verträge und die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten.194

1. Völkerrechtliche Perspektive Wie bereits oben dargestellt, sind die Verträge zur Gründung der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaften völkerrechtliche Verträge. Deshalb könnte sich aus dem Völkerrecht ein Demokratiegebot für diese internationalen (bzw. supranationalen) Organisationen ergeben.

a) Völkerrechtliches Demokratiegebot für Staaten „Das [völkerrechtliche] Recht der Bürger eines Staates auf demokratische Teilhabe an der Staatsgewalt [ . . . ] ist nach wie vor sehr umstritten.“195 Fraglich ist, ob für Staaten ein völkerrechtliches Demokratiegebot gilt und ob daraus auf die Geltung eines Demokratiegebots für internationale bzw. supranationale Organisationen geschlossen werden kann. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker besagt, dass jedes Volk frei ist, über seine Regierungsform selbst zu bestimmen (vgl. Art. 1 Abs. 2, Art. 55 Charta der Vereinten Nationen).196 In der „Friendly Relations“ Declaration der Vereinten Nationen heißt es, dass jeder Staat das Recht habe, sein politisches, wirtschaftliches, soziales und kulturelles System ohne irgendeine Form der Einmischung von Seiten eines anderen Staates zu wählen.197 Das Selbstbestimmungsrecht der Völker stellt heute nach einer weit verbreiteten Auffassung in der Literatur ein „Prinzip“ des Völkerrechts dar, dass nicht mehr nur zwischenstaatliche Beziehungen betrifft, sondern ein kollektives Menschenrecht der Bevölkerung gegen den eigenen Staat verkörpert.198 Dass auch innere Entwicklungen als Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker angesehen werden, belegen die zahlreichen Resolutionen der UN-Generalversammlung Ebenso Brosius-Gersdorf, S. 133 (138). Fink, S. 896. Siehe hierzu auch Kokott / Vesting. 196 Vgl. allgemein zum Selbstbestimmungsrecht der Völker: Ipsen, §§ 28 – 30 und – vor allem historisch betrachtet – Kimminich, S. 114 – 123. 197 Erklärung über völkerrechtliche Grundsätze für freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Sinne der Charta der Vereinten Nationen vom 24. 10. 1970, Anhang der Res. der GV der VN Nr. 2625 (XXV). 198 Ipsen, § 30, Rz. 1 ff. 194 195

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zur Apartheid in Südafrika199 und die auf Kapitel VII UN-Charta gestützte Resolution des Sicherheitsrates, die zu einer militärischen Intervention in Haiti zur Wiederherstellung der Demokratie ermächtigt hat.200 Im Haiti-Fall ging es um die Frage, ob die innere Organisation eines Staates so ausgestaltet werden muss, dass eine demokratischen Grundsätzen genügende Beteiligung aller Bürger an der Regierung ermöglicht wird:201 „Die innere Organisation wird zumindest insoweit nicht als innere Angelegenheit Haitis behandelt, als der Rat den nach demokratischen Grundsätzen gewählten Präsidenten [ . . . ] Aristide und die von ihm ernannte Regierung auch nach deren Absetzung durch andere Verfassungsorgane Haitis als legitimen Vertreter dieses Staates behandelt und deren Zustimmung als eine Begründung für seine Befassung mit dieser Angelegenheit anführt.“

Das Völkerrecht nimmt grundsätzlich keine Bewertung der unterschiedlichen Staatsformen vor. Dies würde die Freiheit der Wahl des politischen Status durch das Volk und das Verbot der Einmischung in diesen Entscheidungsprozess beeinträchtigen.202 In diesem Sinne entschied der IGH im Nicaragua-Fall: „ [ . . . ] adherence by a State to any particular doctrine does not constitute a violation of customary international law; to hold otherwise would make nonsense of the fundamental principle of State sovereignty, on which the whole international law rests, and the freedom of choice of the political, social, economic and cultural system of a State.“203

Einer Meinung zufolge ergibt sich aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, dass den Völkern ein demokratisches Mitwirkungsrecht zusteht.204 Dass Selbstbestimmungsrecht berechtige die Völker dazu, bei der Gestaltung der Angelegenheiten ihrer Gemeinschaft eine aktive Rolle in Freiheit und Gleichheit zu spielen und dies sei Kennzeichen der Demokratie. Eine weitere Verbindung ergebe sich aus dem gemeinsamen Ursprung von Menschenrechten und Demokratie und daraus, dass eine umfassende Menschenrechtsverwirklichung die freie Selbstbestimmung voraussetze.205 Dagegen wird eingewandt: Würde aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker das Recht auf eine bestimmte Staatsform folgen – etwa die Demokratie –, so wären viele Staaten der Welt nicht völkerrechtsgemäß.206 Die UN-Charta macht in Art. 4 Abs. 1 die Aufnahme neuer Mitglieder davon abhängig, dass sie friedliebend sind, aber nicht von der Existenz demokratischer Strukturen;207 eine explizite RechtsIpsen, § 30, Rz. 5. Doehring, Demokratie und Völkerrecht, S. 127 (130) und ders., Völkerrecht, Rz. 788. Zum Haiti-Fall (Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide durch Militärputsch im Jahre 1991 und daran anschließende Ermächtigung von UN-Mitgliedstaaten zur Anwendung von Waffengewalt) vgl. Fink, S. 799 – 851 und S. 883 ff. 201 Fink, S. 883. 202 Ipsen, § 30, Rz. 6 ff. 203 ICJ Rep. 1986, S. 133, zitiert bei Ipsen, § 30, Rz. 4. 204 Nachweis bei Ipsen, S. 374. 205 Vgl. bei Ipsen, § 30, Rz. 4 ff. 206 Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (1136). 207 Ipsen, § 30, Rz. 5. 199 200

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pflicht zu einer demokratischen Staatsform ergibt sich aus der UN-Charta nicht.208 Manche Nationen, wie z. B. Saudi-Arabien, bekennen ausdrücklich, dass sie die Demokratie nicht als eine für sie tragfähige Staatskonstruktion ansehen.209 Ein Recht auf demokratische Teilhabe wäre deshalb nicht mit der auch aus dem Selbstbestimmungsrecht abgeleiteten Freiheit der Staaten, ihre innere Organisation frei von Einwirkungen Dritter gestalten zu können, vereinbar.210 Ein Recht auf demokratische Teilhabe bzw. ein Demokratiegebot für Staaten ist daher nicht gesicherter Bestandteil des allgemeinen Völkerrechts.211 Ein Demokratiegebot für Staaten ergibt sich auch nicht aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Nach Art. 21 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte212 hat jeder das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken. Nach Abs. 3 bildet der Wille des Volkes die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muß durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte besitzt jedoch „keinerlei rechtliche Bindungswirkung, sondern ist, wie alle Resolutionen der Generalversammlung, nur eine Empfehlung“213.

Ein Demokratiegebot für Staaten könnte sich jedoch aus dem partikulären Völkerrecht ergeben. Als völkerrechtliche Rechtsquelle für ein Demokratiegebot für Staaten kommt der „Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ (IPbpR) vom 19. 12. 1966 (BGBl. 1973, S. 1534) in Betracht. Der IPbpR trat 1976 in Kraft und bindet heute 165 der 191 UN-Mitglieder (ca. 86 %)214, darunter sämtliche Mitgliedstaaten der Europäischen Union215. Der IPbpR ist als Teil der „Menschenrechtspakte“ für diejenigen Staaten, die ihn ratifiziert haben, bindend.216 Fink, S. 896. Ipsen, § 30, Rz. 7. 210 Fink, S. 896 f. 211 Im Ergebnis ebenso: Fink, S. 897; Doehring, Demokratie und Völkerrecht, S. 127 (129); ders., Demokratiedefizit in der Europäischen Union, S. 1133 (1136); Ipsen, § 30, Rz. 5, 12; Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 39 ff. Zur Frage, ob Art. 25 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte mittlerweile als Gewohnheitsrecht anzusehen ist vgl. Franck, S. 46 (64) und (dagegen) Doehring, Demokratie und Völkerrecht, S. 127 (128 f.). 212 Resolution 217 A (III) der Generalversammlung vom 10. Dezember 1948. 213 Kimminich, S. 340. Vgl. auch Fink, S. 889 (m. w. H.): „Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte wird [ . . . ] in die Form einer unverbindlichen Empfehlung der Generalversammlung gekleidet.“ 214 Quelle: Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Systematische Sammlung des Bundesrechts, Geltungsbereich des IPbpR am 23. Januar 2004, unter www.admin.ch / ch / d / sr / 0_103_2 / . Vgl. auch Franck, S. 46 (64). 215 Europäisches Parlament, Generaldirektion Wissenschaft, Perspektiven der Anti-Diskriminierungspolitik, Luxemburg 2000, SOCI 105 DE (PE 168.637), S. 9. 216 Kimminich, S. 342. Problematisch ist allerdings die Durchsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem IPbpR; vgl. zu dieser Problematik Kimminich, S. 345 f., 208 209

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Durch den IPbpR wurden die Freiheitsrechte des Individuums somit erstmals auf eine verbindliche völkervertragliche Grundlage gestellt.217 Somit sind auch die Grundzüge des innerstaatlichen Verfassungssystems eine Frage völkerrechtlicher Legalität geworden.218 Nach Art. 25 IPbpR besteht ein vertraglich verbürgtes Menschenrecht, an der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten und an freien Wahlen teilzunehmen.219 Art. 25 IpbpR gibt jedem Bürger der vertragsschließenden Staaten das Recht: „(a) To take part in the conduct of public affairs, directly or through freely chosen representatives; (b) To vote and to be elected at genuine periodic elections which shall be by universal and equal sufferage and shall be held by secret ballot, guaranteeing the free expression of the will of the electors.“ Bemerkenswert an Art. 25 IPbpR ist, dass er sich durch seinen Wortlaut („genuine elections“ – „wirkliche Wahlen“) zugleich gegen seine sophistische Auslegung wendet.220

Art. 25 IPbpR gibt jedem Staatsbürger eines Unterzeichnerstaates einen Anspruch auf Schaffung und Erhaltung eines demokratischen Regierungssystems.221 Dabei enthält Art. 25 IPbpR keinen bloßen Formelkompromiss, sondern eine eindeutige inhaltliche Festlegung auf westliche Demokratievorstellungen.222 Da alle EU-Mitgliedstaaten den IPbpR ratifiziert haben, sind sie durch das Völkerrecht zu einer demokratischen Staatsform verpflichtet. Des Weiteren folgt – nach allgemeiner Auffassung – aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ein Demokratiegebot für die EU-Mitgliedstaaten, die alle zugleich Mitgliedstaaten des Europarates und Unterzeichnerstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind.223 Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls der EMRK verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, freie, gleiche, geheime und periodische Wahlen abzuhalten.224 Franck, S. 46 (64 ff.), Hillgruber / Kempen, Das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes, S. 323 (327). 217 Fink, S. 889 und 895. 218 Hillgruber / Kempen, Das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes, S. 323 (327). 219 Doehring, Demokratie und Völkerrecht, S. 127 (128); Ipsen, § 30, Rz. 6. 220 Vgl. Hillgruber / Kempen, Das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes, S. 323 (326). 221 Hillgruber / Kempen, Das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes, S. 323 (326), m.w.H. 222 Hillgruber / Kempen, Das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes, S. 323 (326). Vgl. auch Franck, S. 46 (58): „The Covenant [International Covenant on Civil and Political Rights = IPbpR] clearly intends to make the right of self-determination applicable to the citizens of all nations, entitling them to determine their collective political status through democratic means.“ 223 Ipsen, § 30, Rz. 13; Franck, S. 46 (66); vgl. auch Doehring, Demokratie und Völkerrecht, S. 127 (130 a.E.). 224 Franck, S. 46 (66); vgl. von Bogdandy, S. 149 (181) und Lenz, S. 157.

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Nach alledem ergibt sich aus dem Völkervertragsrecht ein Demokratiegebot für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union.225

b) Völkerrechtliches Demokratiegebot für internationale Organisationen Fraglich ist jedoch, ob sich aus dem völkervertraglichen Demokratiegebot für Staaten ein Demokratiegebot für internationale bzw. supranationale Organisationen entnehmen lässt. Denn unmittelbare Adressaten des aus der EMRK und dem IPbpR folgenden Demokratiegebotes sind nur die Vertragsstaaten.226 Eine supranationale Organisation wie die Europäische Gemeinschaft unterscheidet sich signifikant von einem Staat, nicht nur hinsichtlich der Totalität der Herrschaftsmacht227, sondern auch im Hinblick auf die fehlende Kompetenz-Kompetenz. Zudem gilt im universellen Völkerrecht das Prinzip der Staatengleichheit 228, da sich in internationalen Organisationen eben nicht ein Volk bzw. Völker, sondern Staaten begegnen. Eine direkte, nicht über ihre Regierungen vermittelte Beteiligung der Völker der Staaten an der „Regierung“ einer internationalen bzw. supranationalen Organisation würde grundsätzlich das Prinzip der Staatengleichheit außer Acht lassen. Bildete man beispielsweise aus den Völkern der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften ein „Unionsvolk“, so führte dies dazu, dass die Deutschen auf eine nach den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit gewählte Regierung einen größeren Einfluss hätte als z. B. die Niederländer – und auch als alle anderen EU-Mitgliedstaaten, da die Deutschen das größte Einzelvolk in der EU sind. Insofern würde die strikte Beachtung des Prinzips der Staatengleichheit in einer internationalen Organisation sogar die Nichtbeteiligung der Völker der Vertragsstaaten an der Willensbildung der Organisation verlangen, da ansonsten der Einfluss der größeren Völker stets größer wäre.229 Das Demokratiegebot der EMRK und des IPbpR ist somit auf die Europäische Union und ihre Gemeinschaften nicht unmittelbar anwendbar. Zwar ist der Ansicht, dass sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihren Verpflichtungen aus der EMRK (oder dem IPbpR) nicht entziehen können, indem sie staatliche Vgl. Franck, S. 46 (90). Ob dies anders wäre, wenn die „neue“ Union der EMRK beitreten würde, wie dies Art. I-7 Abs. 2 S. 1 EV-E vorsieht, kann hier offen bleiben. Vgl. hierzu Schwarze, Ein pragmatischer Verfassungsentwurf, S. 535 (541). 227 Totalität ist hier in dem Sinne zu verstehen, dass von der staatlichen Herrschaftsmacht weit mehr Lebensbereiche betroffen sind (wie z. B. innere und äußere Sicherheit, soziale Sicherung, Steuern), als von der Herrschaftsgewalt der Europäischen Gemeinschaft. 228 Kimminich, S. 288. 229 Im Ergebnis auch gegen ein völkerrechtliches Demokratiegebot für internationale Organisationen: Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 39 ff.; Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (1136). 225 226

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Aufgaben an einen Staatenverbund delegieren, zuzustimmen.230 Dies bedeutet im Grundsatz, dass auch die Akte der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften, die in die Rechtsstellung der Bürger eingreifen, einer demokratischen Legitimation bedürfen. Wie diese demokratische Legitimation in einer supranationalen Staatengemeinschaft jedoch hergestellt wird, das bleibt dieser überlassen, da die EMRK (und auch der IPbpR) kein Gebot hinsichtlich eines konkreten Legitimationsniveaus für eine supranationale Gemeinschaft vorgibt.231 Die Europäische Union und ihre Gemeinschaften können als internationale respektive supranationale Organisationen „[ . . . ] insoweit ein eigenständiges Legitimationssystem verwirklichen [ . . . ]“232.

c) Völkerrechtliches Verbot der Mehrheitsentscheidung? Das Prinzip der Staatengleichheit stellt ein Grundprinzip der zwischenstaatlichen Beziehungen dar, Art. 2 Ziff. 1 Satzung der UNO. Aus dem Prinzip der Staatengleichheit wird abgeleitet, dass für jeden Staat Völkerrecht nur mit seiner Zustimmung für ihn bindend werden kann.233 Dem könnte das im Rat vorherrschende Prinzip der Mehrheitsentscheidung entgegenstehen. Das Völkerrecht könnte insofern indirekt einen „Demokratievorbehalt“ dahingehend enthalten, dass ein völkerrechtlicher Rechtsakt einer internationalen Organisation stets der Zustimmung aller betroffenen Mitgliedstaaten bedürfte.234 Das Prinzip der formalen Staatengleichheit steht jedoch einer stärkeren Integration eines Staates in eine internationale Organisation, die nach dem Mehrheitsprinzip entscheidet, nicht entgegen.235 Den Konsens aller Vertragsstaaten vorausgesetzt, kann in internationalen Organisationen vom Einstimmigkeits- zum Mehrheitsprinzip übergegangen werden. Denn bei der Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf eine internationale oder supranationale Organisation liegt in dem Übertragungsakt eine allgemeine Zustimmung der einzelnen Mitglieder zu der Zulässigkeit von Mehrheitsentscheidungen, sofern die zu Mehrheitsentscheidungen 230 Streinz, Die demokratische Legitimation der Rechtsetzung in der Europäischen Gemeinschaft, S. 73 (80). 231 Vgl. hierzu Streinz, Die demokratische Legitimation der Rechtsetzung in der Europäischen Gemeinschaft, S. 73 (80), mit Hinweis auf Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften, in: Gedächtnisschrift für Geck, Köln u. a. 1989, S. 625 (650 ff.). 232 Ebenso: Streinz, Die demokratische Legitimation der Rechtsetzung in der Europäischen Gemeinschaft, S. 73 (80). 233 Kimminich, S. 288. 234 Vgl. zur Kritik am Mehrheitsprinzip innerhalb des Rates: Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (oben C., I., 3.). 235 Kimminich, a. a. O. S. 289. Auch die UNO verwendet beispielsweise das Mehrheitsprinzip, und zwar generell in der Generalversammlung und auch im Sicherheitsrat, auch wenn für die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates das Prinzip der Einstimmigkeit gilt.

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ermächtigenden Verträge wiederum einstimmig – auf dem Prinzip der formalen Gleichheit fußend – geschlossen wurden; eine Verletzung des Souveränitätsprinzips ist damit ausgeschlossen. Das gleiche gilt im Hinblick auf die Beteiligung eines Parlaments, bei welchem nicht jeder Staat die gleiche Zahl von Abgeordneten entsendet, wie dies in der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften der Fall ist. Die Staaten, die sich in einer inter- / supranationalen Organisation zusammenschließen sind auch diesbezüglich frei, ihre souveräne Gleichheit zu Gunsten der Organisation zu beschränken, und zwar in einem auf dem Prinzip der souveränen Gleichheit basierenden völkerrechtlichen Vertrag, wie dies beispielsweise der EUV und der EGV sind.236

d) Ergebnis Nach alledem ergibt sich aus dem allgemeinen Völkerrecht kein Demokratiegebot für die Europäische Union bzw. ihre Gemeinschaften. Umgekehrt wird durch das Prinzip der souveränen Gleichheit weder eine Mehrheitsentscheidung noch die Beteiligung der Unionsbürger an der Ausübung der Hoheitsgewalt der Europäischen Union und der Gemeinschaft untersagt.

2. Gemeinschaftsrechtliche Perspektive Fraglich ist, ob das Gemeinschaftsrecht selbst Kriterien enthält, anhand derer der Grad der demokratischen Legitimation der Europäische Union und ihrer Gemeinschaften zu messen ist, um herauszufinden, ob ein „angemessenes demokratisches Legitimationsniveau“237 vorhanden ist.

a) Einführung des Art. 6 Abs. 1 EUV durch den Vertrag von Amsterdam Vor der Amsterdamer Vertragsrevision war lediglich in der Präambel des Unionsvertrages geregelt, dass sich die Union zu den Grundsätzen der Demokratie bekennt.238 Nach Amsterdam ist in Art. 6 Abs. 1, 1. HS. EUV geregelt, dass die Union auf dem Grundsatz der Demokratie beruht. Im 2. Halbsatz ist angeführt, dass dieser Grundsatz allen Mitgliedstaaten gemeinsam ist. Da die Gemeinschaften Grundlage der Europäischen Union sind, gilt Art. 6 Abs. 1 auch für die Europäischen Gemeinschaften, Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUV.

236 237 238

Vgl. Kimminich, S. 289. Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (738). Vgl. Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 46.

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b) These: Demokratie, wie sie in den Mitgliedstaaten vorherrscht Nach dieser These ist mit Demokratie i. S. d. Art. 6 EUV diejenige Demokratie gemeint, wie sie in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften vorherrscht.239 Daher sei im Wege der Rechtsvergleichung der Demokratien der Mitgliedstaaten zu ermitteln, was Demokratie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EUV bedeutet.240 Durch eine solche wertende Rechtsvergleichung der nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf das Demokratieprinzip gelange man zu denjenigen Demokratieprinzipien, die für die Union maßgeblich seien.241 Das für die Gemeinschaft maßgebliche Legitimationsniveau müsse unter Rückgriff auf einen den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen allgemeinen Rechtsgrundsatz gefunden werden.242 Der den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsame Demokratiestandard bilde dann den Maßstab für das gemeinschaftsrechtliche Legitimationsniveau.243 Nach anderer Ansicht enthält Art. 6 Abs. 1 GG zwar ein an die Union gerichtetes Demokratiegebot244, das einen von den Mitgliedstaaten ausgehenden gemeineuropäischen Standard zur Grundlage hat245, der funktional an die rechtliche Gestalt der Union angepasst werden muss.246 Inhaltlich sei dieses an die Union gerichtete Demokratiegebot jedoch nicht „induktiv“ durch eine Rechtsvergleichung der Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten zu ermitteln, sondern negativ nach der „Subtraktionsmethode“ (Subtraktion dessen, was eindeutig nicht mit dem 239 Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 f. (Demokratie, wie sie in den westeuropäischen Staaten entwickelt worden ist); Brosius-Gersdorf, S. 133 (163; noch zu Art. F Abs. 1 EUV: Der den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsame Demokratiestandard bildet den Maßstab für das gemeinschaftsrechtliche Legitimationsniveau); Suski, S. 97 (Mindestanforderungen eines gemeinschaftsweit gültigen Verständnisses von Demokratie); Kluth, S. 89 ff. 240 Brosius-Gersdorf, S. 133 (163); Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 f.; Suski, S. 97, mit dem Hinweis, das „wertende“ Rechtsvergleichung nicht bedeute, dass der kleinste gemeinsame Nenner der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen maßgebend sei. 241 Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 f.; Kluth, S. 89 ff.; Suski, S. 97 ff. 242 Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (54); Brosius-Gersdorf, S. 133 (163). 243 Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (54); vgl. Brosius-Gersdorf, S. 133 (163), mit Hinweis auf Kluth, S. 90 ff. 244 Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, S. 77, 89 f., 102. 245 Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, S. 79. 246 Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, S. 90. Durch Art. 6 Abs. 1 EUV sei das Homogenitätsgebot der Mitgliedstaaten an die rechtlichen Strukturen der Union im Primärrecht verankert worden (a. a. O., S. 102). Art. 6 Abs. 1 EUV gehöre als Verfassungsstrukturklausel der Verfassung der Europäischen Union zum Teil der Grundstrukturen der durch das Primärrecht geschaffenen autonomen Rechtsordnung und sei daher auch der Aufhebung durch die Mitgliedstaaten entzogen (a. a. O., S. 101).

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Demokratiegrundsatz vereinbar ist247) und positiv nach einer deduktiven Methode, und zwar durch die Ableitung des Demokratieprinzips aus den Inhalten internationalrechtlicher Stellungnahmen und Verträge (z. B. Satzung des Europarates, EMRK, Charta von Paris), die von allen Mitgliedstaaten als bindend anerkannt werden. c) Auslegung des Art. 6 EUV aa) Wortlaut Nach dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 EUV beruht die Union auf dem Grundsatz der Demokratie (1. Halbsatz). Dieser Grundsatz ist allen Mitgliedstaaten gemeinsam (2. Halbsatz). Die Auslegung, dass hiermit gemeint sei, die Demokratie in der EU bestimme sich nach den in den Mitgliedstaaten vorherrschenden Demokratien, ist somit vom Wortlaut der Vorschrift gedeckt. Näher liegt jedoch Folgendes: Der 1. Halbsatz bestimmt, dass die Union auf dem Grundsatz der Demokratie beruht. Damit wird die prinzipielle Geltung des Demokratieprinzips für die Union angeordnet. Durch den 2. Halbsatz wird hingegen nicht geregelt, dass dieser für die Union geltende Grundsatz durch die Verfassungen bzw. Demokratien der Mitgliedstaaten bestimmt wird, sondern, dass dieser Grundsatz allen Mitgliedstaaten gemeinsam ist. Es wird also gerade keine Verknüpfung zwischen nationalen Demokratien und der Demokratie der Union hergestellt, sondern bestimmt, dass die Mitgliedstaaten Demokratien sein müssen. Art. 6 Abs. 1, 2. HS. EUV ist demnach nicht auf die Union ausgerichtet, sondern enthält ein Demokratiegebot für die Mitgliedstaaten.248 Dafür spricht auch der von Art. 6 Abs. 2 EUV abweichende Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 EUV. Denn in Abs. 1 heißt es gerade nicht, dass die Union die Grundsätze der Demokratie „achtet“, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mietgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben würden, sondern anstatt „achtet“ steht in Abs. 1 „beruht auf“. Eine Verknüpfung zu den Demokratien der Mitgliedstaaten wird in Abs. 1, 2. HS. begrifflich gerade nicht hergestellt.

bb) Historie Die Aufnahme von Art. 6 Abs. 1 EUV in den Amsterdamer Vertrag geht gedanklich auf den Vorschlag der irischen Ratspräsidentschaft vom 26. Juli 1996 zu247 Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, S. 79: „Die konkreten Merkmale der Grundsätze [des Art. 6 Abs. 1 EUV] lassen sich vielmehr durch ihren Gegensatz definieren, also von der Vorstellung einer Grundordnung, wie sie nicht sein soll.“ 248 So auch Geiger, Art. 6 EUV, Rz. 2. Schorkopf meint, das vertikale Sollensgebot des Art. 6 Abs. 1, 2. HS. EUV, das die Mitgliedstaaten zur Demokratie verpflichte, sei inhaltlich an den mitgliedstaatlichen Verfassungsstrukturen orientiert. Es handele sich nicht um ein inhaltlich selbständiges Gebot, sondern um einen „Reflex“ der horizontalen Homogenität (ders., Homogenität in der Europäischen Union, S. 44 ff., 102, 225).

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rück.249 Von Seiten der nationalen Delegationen erfuhr der Gedanke, dass der Beitritt zur Union nur möglich sei, wenn der Bewerberstaat nachgewiesenermaßen die Grundsätze des Art. 6 Abs. 1 EUV einhalte, starke Unterstützung. Die irische Regierung hat in ihrem White Paper zum Vertrag von Amsterdam die Entstehung des Art. 6 Abs. 1 mit dem Erfordernis begründet, ausdrücklich klarzustellen, dass die Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf Demokratie notwendige Bedingung für die Mitgliedschaft in der Union sei.250

cc) Systematik Dafür, dass Art. 6 Abs. 1, 2. HS. EUV auf die Mitgliedstaaten und nicht auf die Union ausgerichtet251 ist, spricht auch eine Zusammenschau mit Art. 7 Abs. 1 und Art. 49 Abs. 1 S. 1 EUV. Art. 7 Abs. 1 EUV zielt ebenfalls auf die Mitgliedstaaten ab, wenn er bestimmt, dass der Rat in der Zusammensetzung der Regierungschefs feststellen kann, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Grundsätze des Art. 6 Abs. 1 EUV vorliegt. Auch nach Art. 49 Abs. 1 S. 1 EUV ist nicht die Europäische Union selbst, sondern sind „künftige“ Mitgliedstaaten die Adressaten der in Art. 6 Abs. 1 EUV benannten Grundsätze. Die Festlegung des Art. 6 Abs. 1, 1. HS. EUV, dass die Union auf dem Grundsatz der Demokratie beruht, bedeutet daher nicht, dass damit die Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten zum Maßstab für die demokratische Legitimation der Union werden sollen. Aus einer systematischen Auslegung des Art. 6 Abs. 1, 1 HS. EUV ergibt sich, dass der hier niedergelegte Demokratiegrundsatz durch die Einzelvorschriften im EGV zur demokratischen Legitimation der Gemeinschaft (insbesondere Art. 19 Abs. 2, Art. 189 bis 219 und Art. 249 ff. EGV) erst konkretisiert wird,252 ebenso wie das in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG niedergelegte Demokratieprinzip des Grundgesetzes durch die weiteren Vorschriften des Grundgesetzes konkretisiert wird.253 Das ergibt sich schon daraus, dass die „Verfassunggeber“ (also die Mitgliedstaaten als Herren des Primärrechts) Demokratie so verstanden haben müssen, wie sie sie in den Einzelbestimmungen des EGV ausgeprägt haben.254 Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, S. 70, m. w. N. Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, S. 71, m. w. N. 251 Vgl. Geiger, Art. 6, Rz. 2 und Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, S. 78, 99. 252 A.A. Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53; vgl. auch Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, S. 75. 253 Vgl. Schnapp, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 20, Rz. 14, m. w. H.; Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 4 f.; Stein, in: Wassermann, Art. 20, Abs. 1 – 3 III, Rz. 16. 254 So für Art. 20 GG: Schnapp, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 20, Rz. 12, m. w. H. Vgl. auch Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, S. 91: „Das [ . . . ] demokratische Prinzip kann sich also nur im Rahmen der vertraglichen Bestimmungen [ . . . ] entwickeln.“ 249 250

5 Tiedtke

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Zudem ist der EGV als völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten gleichrangig mit dem EUV – auch wenn die Gemeinschaften „Grundlage“ (Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUV) der Europäischen Union sind. Art. 6 Abs. 1 EUV steht somit im Rang nicht über Art. 19 Abs. 2, 189 ff., 249 ff. EGV. Im EGV finden die demokratischen Grundsätze der Union ihre konkrete Ausgestaltung, und zwar auf der Ebene des „Unions- bzw. Gemeinschaftsverfassungsrechtes“, also des Primärrechts. Die Art. 189 bis 201, 202 bis 210, 211 bis 219 und 249 ff. EGV regeln die demokratische Legitimation der EG aber gerade nicht derart, dass die EG ihrem Aufbau nach über ein parlamentarisches Regierungssystem verfügt, das dem der Mitgliedstaaten weitgehend entspricht.255 Die Mandatskontingentierung, die bereits auf der Ebene des Zählwertes der Stimmen zu Verschiebungen der Wahlrechtsgleichheit führt, ist den Demokratien der Mitgliedstaaten grundsätzlich unbekannt256, ebenso das substantielle Übergewicht des Rates, also eines Organs, das mit Regierungsvertretern beschickt wird, bei der Gesetzgebung oder die Verantwortlichkeit der Kommission während ihrer Amtsperiode nur gegenüber einer Parlamentsminderheit, Art. 201 Abs. 2 EGV. Würden die Regelungen des EGV im Hinblick auf die demokratische Legitimation der EG den Anforderungen des EUV an eine demokratische legitimierte Gemeinschaft nicht genügen, so läge „verfassungswidriges Verfassungsrecht“ vor. Da innerhalb einer „Verfassung“ bzw. hier eines völkerrechtlichen Vertrages über die Grundordnung der Union und ihrer Gemeinschaften jedoch alle Normen von gleichem Rang sind, weil sie den Willen der gleichen Vertragsparteien („des gleichen Verfassunggebers“) konkretisieren, kann eine Norm des Primärrechts einer anderen primärrechtlichen Norm m.E. nicht vorgehen.257 Im Ergebnis kann die Frage, ob es primärrechtswidriges Primärrecht gibt, dahinstehen. Denn selbst bei der Annahme eines Stufenverhältnisses innerhalb des Primärrechts käme man nicht zu dem Schluss, dass Art. 6 Abs. 1, 1. HS. EUV ein über die konkrete Ausgestaltung des Demokratieprinzips in den Art. 189 bis 219 Vgl. Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (55). Lenz, S. 188. 257 Stichwort: „Verfassungswidriges Verfassungsrecht“; vgl. BVerfGE 48, S. 127 (165), zur Vereinbarkeit von Art. 12a Abs. 1 GG mit Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG. Siehe hierzu auch Kurzniederschrift über die Sitzung vom 23. 7. 2002, Brüssel, 31. Juli 2002, CONV 223 / 03, S. 3 und 8. A. A. Aranauld, Andreas von, Normenhierarchien innerhalb des primären Gemeinschaftsrechts – Gedanken im Prozess der Konstitutionalisierung Europas, in: EuR 2003, S. 191 (216). Nach dieser Ansicht könnten die Mitgliedstaaten die Bindung an höherrangiges Primärrecht aber beseitigen, wenn sie das höherrangige Primärrecht selbst ändern. Ein Verstoß gegen höherrangiges Primärrecht läge also nur vor, wenn die Mitgliedstaaten mit der Schaffung neuen Primärrechts gegen höherrangiges Primärrecht verstießen, ohne dieses selbst zu ändern. Weitergehend (Grundstrukturen sind Änderungen durch Mitgliedstaaten entzogen): Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, S. 101, Tz. 143, m. w. H.; Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (54); zu einem „Stufenbau“ von Vorschriften innerhalb der Gemeinschaftsverträge siehe auch Herdegen, Rz. 163 (mit Hinweis auf EuGH, Gutachten I / 91, Slg. 1991, I-6079, Rn 35 ff.), 166. 255 256

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und 249 ff. EGV hinausgehendes Demokratiegebot enthalten soll. Art. 6 Abs. 1, 1. HS. EUV wurde von den Vertragsparteien im Rahmen der Regierungskonferenz von Amsterdam vereinbart und ist deshalb auch historisch konkret auszulegen.258 Auf der gleichen Regierungskonferenz wurden die Art. 189 bis 219 und 249 ff. EGV (teilweise) modifiziert. Der „Verfassunggeber“ (die Vertragsparteien) hätte(n), wenn Art. 6 Abs. 1, 1. HS. EUV ein über die konkrete Ausgestaltung des Demokratieprinzips hinausgehendes Demokratiegebot für die Europäische Union und ihre Gemeinschaften beinhalten würde, sehenden Auges „primärrechtswidriges Primärrecht“ geschaffen. dd) Sinn und Zweck Auch nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift kann Art. 6 EUV kein von den Mitgliedstaaten abgeleitetes Demokratieprinzip auf der Ebene der Union bzw. der Gemeinschaften einführen wollen. Aus den Demokratieprinzipien, so wie sie in den Verfassungen der Mitgliedstaaten geregelt sind, im Wege der Rechtsvergleichung zu einem „fundamentalen Demokratieprinzip“ der Union zu gelangen, kann schon deshalb nicht zielführend sein, weil dieses demokratische Fundamentalprinzip wieder eines wäre, das auf der Staatlichkeit der Mitglieder der EU beruhte und das deshalb nicht analog auf die Ebene der nicht-staatlichen internationalen bzw. supranationalen Organisationen EU bzw. Europäische Gemeinschaften transferiert werden könnte. Anhand welcher Kriterien sollte aber entschieden werden, welche Elemente nationaler Demokratieprinzipien auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene zur Geltung kommen müssen? Wenn die Art. 189 ff. EGV die demokratische Legitimation der Organe der Union bewusst abweichend von den nationalen Bestimmungen regeln, dann kann dies nur bedeuten, dass das demokratische Prinzip auf Gemeinschaftsebene in der Gestalt geltendes Recht ist, wie sich Ausprägungen dieses Prinzipes im Gemeinschaftsrecht finden. Die Rechtsprechung des EuGH steht diesem Auslegungsergebnis nicht entgegen. Nach EuGH, Urt. vom 29. 10. 1980259, soll nach den Verträgen zwischen den Organen der Gemeinschaft ein „institutionelles Gleichgewicht“ bestehen. Dies begründet der EuGH damit, dass auf Gemeinschaftsebene, wenn auch in beschränktem Umfang, ein grundlegendes demokratisches Prinzip vorhanden sei, nach welchem die Völker durch das Europäische Parlament an der Ausübung der hoheitlichen Gewalt in der Union beteiligt seien. Dieses – in beschränktem Umfang – vorhandene demokratische Prinzip in der Gemeinschaft leitet der EuGH somit nicht aus einem mitgliedstaatlichen oder sonstwie allgemein geltenden Demokratieprinzip her, sondern aus den Vorschriften über die Beteiligung des Europäischen Parlaments an der Rechtsetzung: „Diese Befugnis260 ist für das vom Vgl. Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, S. 69 f. Rs. 138 / 79 (Roquette Frèses / Rat), Slg. 1980, S. 3333, 3360. 260 Anm.: Gemeint ist die Anhörung des Parlaments als Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 43 Abs. 2 UAbs. 3 EWGV (= Art. 37 Abs. 2 UAbs. 3 EGV). 258 259

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Vertrag gewollte institutionelle Gleichgewicht wesentlich.“261 Der EuGH argumentiert also, dass das Primärrecht selbst ein grundlegendes demokratisches Prinzip beinhalte und zieht die Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten lediglich zur Auslegung des Primärrechts heran. Dass der EuGH in ständiger Rechtsprechung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen als ungeschriebenen Bestandteilen des Gemeinschaftsrechts ausgeht262, bedeutet ebenfalls nicht, dass die Vorgaben für die demokratische Struktur der Union und der Gemeinschaften durch Rechtsvergleichung nationalstaatlicher Verfassungen zu ermitteln wären. Zwar ergeben sich solche allgemeinen Rechtsgrundsätze vor allem aus den gemeinsamen Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten – und alle Mitgliedstaaten sind auf das Demokratieprinzip festgelegt.263 Im Wege der Rechtsvergleichung lassen sich Rechtsfolgen für die Europäische Union und ihre Gemeinschaften jedoch nur insoweit ableiten, als diese Rechtsfolgen nicht gegen ausdrückliche Regelungen der Verträge verstoßen.264 Die Regelungen des Primärrechts geben also den Rahmen für das europäische Demokratieprinzip vor. Innerhalb dieses Rahmens kann durch Rechtsvergleichung der nationalen Verfassungsordnungen ein so ermitteltes gemeinsames demokratische Prinzip der Nationalstaaten zur Auslegung herangezogen werden. Es ist jedoch nicht statthaft, mittels Rechtsvergleichung der Rechtsordnungen der Nationalstaaten zu einer Art „übergemeinschaftlichem Gemeinschaftsrecht“ 265 zu gelangen und aus diesem Demokratieprinzipien abzuleiten, die im Widerspruch zum kodifizierten Gemeinschaftsrecht stehen. Auch Geiger kommt bei der Auslegung von Art. 6 EUV zu dem Ergebnis, dass das Prinzip der Demokratie zwar die Fundierung allen staatlichen Handelns auf dem Willen des Volkes verlange und dass insbesondere – in Anlehnung an Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK – in angemessen Zeitabständen freie und geheime Wahlen abzuhalten seien.266 Er gelangt jedoch nicht zu der Schlussfolgerung, dass das Demokratieprinzip des Art. 6 EUV deshalb auf Grund einer Zusammenschau der nationalen demokratischen Ordnungen einen Maßstab für die Organisation der Hoheitsgewalt der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften vorgebe, sondern dass das demokratische Prinzip durch die demokratische Legitimation der Mitglieder des Europäischen Rates, des Rates der Europäischen Union und durch die Beteiligung des Europäischen Parlaments umgesetzt werde.

d) Ergebnis Es gibt ein Demokratieprinzip auf der Ebene der Europäischen Union und der Gemeinschaften, das juristisch allgemein in Art. 6 Abs. 1, 1. HS. EUV und konkret 261 262 263 264 265 266

EuGH Rs. 138 / 79 (Roquette Frèses / Rat, Slg. 1980, a. a. O.). Vgl. Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 44 m. w. N. Ebenso Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 44. Ebenso Bleckmann, Europarecht, § 6, Rz. 326. Cremer, S. 21 (37). Geiger, Art. 6 EUV, Rz. 5 a.E. So auch Stumpf, in: Schwarze, Art. 6 EUV, Rz. 11.

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vor allem in den Art. 19 Abs. 2, 189 bis 219 bzw. 249 bis 252 EGV niedergelegt ist. Dieses gemeinschaftsrechtliche Demokratieprinzip ist an die Demokratien, wie sie in den gemeinsamen Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten ausgestalten sind, angelehnt. Es entspricht jedoch weder den nationalen Demokratien, noch geben diese – auf europäischer Ebene – konkrete Maßstäbe für das Niveau der demokratischen Legitimation für die Union oder die Gemeinschaften vor.267 Das Demokratieprinzip der Gemeinschaften und der Union ist somit ein von den Mitgliedstaaten als Herren der Verträge selbst im Primärrecht gestaltetes.268 „Die Forderung der Ausweitung parlamentarischer Kompetenzen [des Europäischen Parlaments] verbleibt im politischen Raum, sie kann mit dem unionalen Demokratieprinzip kaum begründet werden.“269

3. Nationalstaatliche Perspektive, Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG Bislang wurde festgestellt, dass sich aus dem Völkerrecht kein Demokratiegebot für die Europäische Union und ihre Gemeinschaften ergibt. Ein gemeinschaftsrechtliches Demokratieprinzip gibt es zwar, dies ist jedoch durch das Gemeinschaftsrecht konkretisiert, so dass es nicht wiederum als Maßstab für sich selbst dienen kann. Fraglich ist, ob aus den nationalstaatlichen Verfassungen Vorgaben für die demokratische Legitimation der Union und ihrer Gemeinschaften folgen. Adressaten einer aus einer nationalen Verfassung folgenden Vorgabe für eine bestimmte demokratische Struktur der Europäischen Union und der Gemeinschaften sind die Verfassungsorgane der Mitgliedstaaten. 270 Nur sie können durch die nationalen Verfassungen rechtlich gebunden werden. Die Europäische Union und ihre Gemeinschaften wären von einem in einer nationalstaatlichen Verfassung niedergelegten Demokratiegebot also nur indirekt bzw. tatsächlich betroffen, sofern einem Mitgliedstaat die weitere Übertragung von Hoheitsbefugnissen bzw. der Abschluss von Vertragsänderungen verwehrt wäre.271 Die folgende Darstellung beschränkt sich auf das deutsche Verfassungsrecht.

Ebenso: Cremer, S. 21 (37). Ebenso: Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 46; vgl. auch Kluth (ders., S. 88 ff.), der davon ausgeht, dass das gemeinschaftsrechtliche Legitimationsniveau aus den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten zu entwickeln ist, stimmt zu, dass das Demokratieprinzip „als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts [ . . . ] die expliziten Zuständigkeitsregelungen des EGV nicht derogieren [ . . . ]“ könne. 269 von Bogdandy, S. 149 (176). 270 Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 16 f. 271 Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 23, Rz. 7, 28, 30; Scholz, in: Maunz / Dürig, Bd. III, Art. 23, Rz. 55, 81; Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Art. 23, Rz. 6. 267 268

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a) Homogenität der Wertvorstellungen Vor der Einführung des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG wurden vor allem zwei Thesen vertreten, nach denen die Handlungen der Europäischen Gemeinschaften demokratisch legitimiert sein müssten, die These von der „strukturellen Kongruenz“ und die These von der „Homogenität der Wertvorstellungen“.272 Nach Art. 24 Abs. 1 GG konnte der Bund schon vor der Einführung des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. Die These von der „strukturellen Kongruenz“ besagt, dass Hoheitsrechte nur auf solche zwischenstaatlichen Einrichtungen übertragen werden dürfen, die der innerstaatlichen Bundesverfassungsordnung kongruent seien, also eine der Bundesverfassung entsprechende demokratische, föderalistische und rechtsstaatliche „Verfassung“ haben, was sich vor allem aus Art. 20 i.V. m. Art. 79 GG ergäbe.273 Die These wurde von der Lehre der „Homogenität der Wertvorstellungen“ abgeschwächt: Hiernach muss eine internationale Organisation, auf welche die Bundesrepublik Deutschland Hoheitsbefugnisse übertrage, zwar nicht strukturell mit der deutschen Verfassung kongruent sein, jedoch müsse im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG eine Homogenität der Wertvorstellungen vorhanden sein.274 Nach der Einführung des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG, der sogenannten Struktursicherungsklausel, ist der Streit um das Erfordernis der Homogenität der Wertvorstellung oder der strukturellen Kongruenz obsolet geworden, da die Europäische Union – und damit auch ihre Gemeinschaften275 – nunmehr ausdrücklich demokratischen Grundsätzen verpflichtet wird.

b) These von der Kongruenz der demokratischen Standards Dass Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG die Beachtung demokratischer Grundprinzipien von der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften fordert, ist herrschende Meinung.276 Fraglich ist jedoch, ob Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG ein Legitimationsniveau für die Europäische Union fordert, das demjenigen der deutschen Verfassung entspricht, mit anderen Worten eine demokratische Struktur verlangt, die (weitestgehend) derjenigen der Bundesrepublik Deutschland entspricht.

Vgl. Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 47. Vgl. Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 47, m. w. N. 274 Vgl. Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 48. 275 Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG „ [ . . . ] gilt für die gesamte Entwicklung der Europäischen Union, also nicht nur für das als Union bezeichnete ,institutionelle Dach‘, sondern auch für die älteren, in die Union einbezogenen Gemeinschaften.“ (Breuer, S. 417 (421).) 276 Vgl. Cremer, S. 21 (35 ff.); Brosius-Gersdorf, S. 133 (139 ff.); Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 51 ff.; BVerfGE 89, S. 155 (182, 185 ff.); Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 20; Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 20. 272 273

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Nach einer Literaturmeinung ist dies der Fall. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG verlange für die Europäische Union einen gemeinschaftsrechtlichen Legitimationsstandard, der demjenigen des deutschen Grundgesetzes entspreche.277 „Aus diesen [Anm.: Art. 23 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 3 GG] geht hervor, dass eine grundsätzliche Beachtung nationaler Verfassungsgrundsätze, wie Demokratieprinzip, Gewaltenteilung und Bundesstaatsprinzip, nicht ausreicht, sondern dass vor allem auch die institutionelle Struktur der Europäischen Gemeinschaft / Union dem Umfang der zu übertragenden Hoheitsrechte entsprechen müsste.“278 [ . . . ] „Als Ergebnis ist auch hier festzuhalten, dass die Gemeinschaft desto eher eine Struktur aufweisen muss, die dem Gewaltenteilungsprinzip des Grundgesetzes entspricht, je mehr Kompetenzen auf sie übertragen werden.“279

Hier geht es also nicht um die Frage, ob Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG den Kerngehalt eines näher zu definierenden allgemeinen Demokratieprinzips schützt, sondern ob Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG die gleichen demokratischen Standards, die für die Bundesrepublik Deutschland gelten, für die Union und ihre Gemeinschaften fordert, ob also das demokratische Prinzip der deutschen Verfassung auch für die internationale bzw. supranationale Ebene von Union und Gemeinschaft gilt.280 Für diese unterschiedslose Geltung des Demokratieprinzips des Grundgesetzes (insbesondere des Art. 20 Abs. 2 GG) im Hinblick auf die Europäische Union und ihre Gemeinschaften wird angeführt: Aus der Auslegung des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG in Bezug auf die Formulierung, dass die Europäische Union demokratischen „Grundsätzen“ verpflichtet sei, folge nicht, dass ein im Vergleich zum deutschen Recht niedrigerer Demokratiestandard gefordert würde.281 Vielmehr lasse sich aus dem Fehlen der Formulierung „einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren“ (also dem Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG im Hinblick auf den Grundrechtsschutz) in Bezug auf die Demokratie in der Europäischen Union folgern, dass betreffend die demokratische Legitimation der Union eine „im Wesentlichen vergleichbare“ Legitimation auf der Ebene der Europäischen Union eben nicht ausreichend sei.282 Dagegen spricht jedoch, dass das Fehlen der Formulierung „im Wesentlichen vergleichbar“ im Hinblick auf die demokratischen Grundsätze ebenso in die genau andere Richtung interpretiert werden kann: Bezüglich des Demokratieprinzips in der Europäischen Union fordert Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG gerade keine dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbare Struktur, sondern nur die Beachtung demokratischer „Mindeststandards“ des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland.283 277 278 279 280 281 282

So Brosius-Gersdorf, S. 133 (163); Kirchner / Haas, S. 760 (771). Kirchner / Haas, S. 760 (771). Kirchner / Haas, S. 761 (768). Ablehnend: Breuer, S. 417 (421). Brosius-Gersdorf, S. 133 (163). Brosius-Gersdorf, S. 133 (163 f.).

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Als weiteres Argument für die Kongruenz der demokratischen Standards wird angeführt, dass Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG dem Wortlaut nach nahezu identisch seien.284 Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG bezwecke, dass die Länder den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates verpflichtet seien. Sowohl Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG als auch Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG zielten demnach darauf ab, bestimmte Strukturentscheidungen des Grundgesetzes zu wahren und verpflichteten die Länder bzw. die Europäische Union dazu, diesen Strukturprinzipien zu entsprechen. Da der von Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG verwendete Begriff „demokratische Grundsätze“ im Sinne des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 2 GG) zu verstehen sei, könne mit der identischen Formulierung in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG ebenfalls nur das Demokratieprinzip des Grundgesetzes gemeint sein. Hiergegen ist einzuwenden, dass vorstehende Argumentation schon den Wortlaut von Art. 28 Abs. 1 GG unvollständig wiedergibt. Für die Länder fordert Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG, dass deren Ordnung den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates „im Sinne dieses Grundgesetzes“ entsprechen müsse. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG bezieht sich im Hinblick auf die demokratischen Grundsätze jedoch gerade nicht auf das deutsche Grundgesetz.285 Ein Bezug auf das deutsche Grundgesetz wird nur im Hinblick auf den Grundrechtsschutz hergestellt und auch hier wird kein Grundrechtsschutz „im Sinne dieses Grundgesetzes“ verlangt, sondern nur ein „im Wesentlichen vergleichbarer“ Grundrechtsschutz. Zudem wird übersehen, dass schon in Bezug auf das rechtliche Fordern-Können ein wesentlicher Unterschied betreffend die Europäische Union und ihre Gemeinschaften einerseits und die Länder der Bundesrepublik Deutschland andererseits besteht. Eine Bundesverfassung kann – kraft ihres Vorranges – von einem angeschlossenen Gliedstaat eine ihrer Ordnung entsprechende Landesverfassung verlangen. Umgekehrt kann ein angeschlossener Gliedstaat dies vom Bund nicht verlangen. Ebenso sinnwidrig wäre es, wenn ein Mitgliedstaat einer internationalen Organisation von dieser verlangte, dass sie eine seiner Verfassung entsprechende Grundordnung aufweisen müsse, da die internationale Organisation diese Vorgabe unmöglich erfüllen könnte, wenn die in ihr zusammengeschlossenen Mitgliedstaaten unterschiedlich verfasst sind. Nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 erfordert die Änderung der vertraglichen Grundlagen der EU, durch die das Grundgesetz geändert wird, ein Verfahren nach Art. 79 Abs. 2 GG, und die Änderung darf Art. 79 Abs. 3 GG nicht verletzen. Hieraus wird gefolgert, dass das von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG geforderte Legitimationsniveau höher sein müsse, als der in Art. 79 Abs. 3 GG geforderte Demokratiestandard.286 Denn Art. 79 Abs. 3 beinhalte lediglich eine Art „Minimumgarantie“, 283 Ebenso Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 51; Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 20; Streinz, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, Art. 23, Rz. 20. 284 Brosius-Gersdorf, S. 133 (164). 285 Ebenso: Classen, S. 238 (243). 286 Brosius-Gersdorf, S. 133 (165).

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die nur die wesentlichen Elemente der geschützten Prinzipien gewährleiste. Würde Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG von vornherein nur ein reduziertes Maß an Demokratie fordern, dann hätte Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG, der ausdrücklich auf Art. 79 Abs. 3 GG verweist, lediglich deklaratorische Bedeutung. Weiter wird angeführt, dass nach dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes alle Hoheitsgewalt auf den Willen des Legitimationssubjektes rückführbar sein müsse, im Falle der Union also auf den Willen der Unionsbürger.287 Nach der ratio legis des Prinzips demokratischer Legitimation verlange Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG für die Europäische Union deshalb, dass eine ununterbrochene Legitimationskette zwischen der Union und den Unionsbürgern bestehe. Die Struktursicherungsklausel Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG ziele demnach darauf ab, bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union die bestehenden Strukturprinzipien der Bundesrepublik Deutschland zu wahren. Hiermit sei es aber unvereinbar, auf einige der in Art. 20 Abs. 2 GG verankerten, für die deutsche Staatsgewalt entwickelten Strukturmerkmale zu verzichten und sich für die Europäische Union von vornherein mit einem geringeren Legitimationsniveau zufriedenzugeben.288 Hiergegen spricht, dass das Demokratieprinzip in den Mitgliedstaaten zwar stets einen ununterbrochenen Zurechnungszusammenhang zwischen Legitimationsobjekt – also dem Staat – und Legitimationssubjekt – also dem Staatsvolk – fordert. Dies gilt aber nur im Hinblick auf das Demokratieprinzip in den Mitgliedstaaten. Wegen der „strukturellen Unterschiede“289 zwischen Union und Mitgliedstaaten kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG sich am parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland orientiert. Eine solche Sicht würde nicht nur die Notwendigkeit eines in einer supranationalen Organisation noch weitaus stärker als in einem Bundesstaat ausgeprägten föderalistischen Elements übersehen.290 Sie ließe auch gänzlich außer Betrachtung, dass die EU als Staatenverbund mit Rechtsetzungsbefugnis in einem Spannungsverhältnis zwischen der souveränen Gleichheit der Mitgliedstaaten auf der einen Seite und demokratischer Legitimation der Rechtsakte durch die Unionsbürger auf der anderen Seite steht. Nach der These von der Kongruenz der demokratischen Standards würde dieses Spannungsverhältnis einseitig zu Gunsten der unmittelbaren demokratischen Legitimation aufgelöst, obwohl die Union und ihre Gemeinschaften ihrer Rechtsnatur nach mehr einer internationalen (bzw. supranationalen) Organisation entsprechen als einem Staat.291 Des Weiteren war dem verfassungsändernden Gesetzgeber bei Verabschiedung von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG der status quo der demokratischen Legitimation der Union bekannt. So wird auch in weiten Teilen der Literatur vor allem negativ be287 288 289 290 291

Brosius-Gersdorf, S. 133 (165). Brosius-Gersdorf, S. 133 (166). Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 51. Vgl. Frowein, S. 301 (302). Vgl. auch Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 20, 23.

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schrieben, was Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG nicht verlangt, nämlich die demokratischen Strukturen des Grundgesetzes bzw. der Bundesrepublik Deutschland eins zu eins auf die Union zu übertragen.292 Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG ist historisch konkret auszulegen und verweist auf die Unionsgestalt im Maastricht-Vertrag. Der verfassungsändernde Gesetzgeber ist sich der Nicht-Staatlichkeit der Union und damit der Nicht-Übertragbarkeit staatlicher Demokratiemodelle auf die Europäische Union und ihre Gemeinschaften bei Verabschiedung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG bewusst gewesen.293 Hätte er Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG also im Sinne der hier dargestellten Literaturmindermeinung verstanden, so hätte er mit dem Vertrag von Maastricht sehenden Auges einen EUV ratifiziert, der nicht im Einklang mit dem soeben erst und in diesem Zusammenhang geschaffenen Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG gestanden hätte. Zudem kann Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG nach seinem Sinn und Zweck nicht Unmögliches von der Union verlangen: Der fehlende strukturelle Unterbau des Europäischen Parlaments, die noch unzureichende Organisation der Parteien und Interessenverbände auf europäischer Ebene sowie das Fehlen europaweiter Medien lassen es praktisch nicht zu, ein den Nationalstaaten nachempfundenes parlamentarisches Regierungssystem zu fordern.294 Darüber hinaus kann Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG von den Europäischen Gemeinschaften und der Union keine dem deutschen Grundgesetz entsprechende demokratische Struktur fordern, weil Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG und die weiteren, das Demokratieprinzip konkretisierenden Vorschriften des Grundgesetzes ihrem Sinn und Zweck nach nicht auf die Union und ihre Gemeinschaften angewendet werden können.295 Mit „Staatsgewalt“ im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, die vom (deutschen) Volk ausgeht, ist nicht diejenige Hoheitsgewalt gemeint, die von einer zwischenstaatlichen Einrichtung im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG oder Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG ausgeübt wird, weil diese ihre Grundlage notwendig auf der Ebene des Völkerrechts hat, also Legitimationssubjekt nicht ein Staatsvolk sondern Völkerrechtssubjekte, also Staaten, sind.296 Die Hoheitsgewalt der Europäischen Union und der Gemeinschaften hat ihren Ursprung in einem gemeinsamen Akt mehrerer souveräner Staaten. Würde man die Struktursicherungsklausel Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG so verstehen, dass das Demokratieprinzip der deutschen Verfassung 292 Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 20, 23; Scholz, in: Maunz / Dürig, Bd. III, Art. 23, Rz. 57; Streinz, in: Sachs, Art. 23 Rz. 20 f. 293 Vgl. Bundesregierung zu Art. 23 I; BT-Drucksache 12 / 3338, 6; Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 20, 23. 294 Ebenso Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 52, m.w.H. 295 Ebenso Cremer, S. 21 (35): Nach Cremer muss die Ausgestaltung des Demokratieprinzips im Sinne von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG auf europäischer Ebene den Besonderheiten einer zwischenstaatlichen Gemeinschaft Rechnung tragen. Daher könne die Ausprägung des Demokratieprinzips im Hinblick auf die Union und die Gemeinschaften mit derjenigen auf nationaler Ebene nicht identisch sein. „Parallelität bedeutet nicht Identität.“ 296 Cremer, S. 21 (26).

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analog auf die Europäische Union und die Europäische Gemeinschaft zu übertragen wäre, so würde es sich bei Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG in der Tat um einen „Grundgesetzimperialismus“ 297 bzw. ein „Blockadepotential“ 298 handeln. Der Zweck von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG im Hinblick auf das Ziel der europäischen Integration könnte wohl kaum erreicht werden, wenn diese Vorschrift der Bundesrepublik gebieten würde, ihre demokratischen Verfassungsprinzipien kompromisslos, also ohne Rücksicht auf die Nicht-Staatlichkeit der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften einerseits und auf die demokratischen Traditionen der anderen Mitgliedstaaten andererseits, durchzusetzen.299 Nach alledem fordert Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht die analoge Übertragung der im deutschen Grundgesetz angelegten demokratischen Struktur auf die Europäische Union und ihre Gemeinschaften.300

c) „Demokratisierung der Vertragsänderungen?“ Weber vertritt – wenn auch nicht direkt mit Blick auf Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, so doch vor dessen Hintergrund301 –, dass das Demokratieprinzip auch die Demokratisierung des Verfassunggebungsprozesses selbst erfordere, also die „Demokratisierung der Vertragsänderungen“.302 Zwar würden die europäischen Völker über die Ratifikationsverfahren in den Parlamenten mittelbar – und vereinzelt unmittelbar über Referenden – beteiligt. Eine demokratische Legitimation des VerfassungsBreuer, S. 417 (421), m. w. H. So Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, S. 586 (590). Nach Ossenbühl folgt aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht, „dass die Deutschen, die ja auch im internationalen Bereich so gern mit dem Grundgesetz winken, das Grundgesetz zum Maß aller Dinge machen müssen oder dürfen, sondern nur, dass ein Kernbestand an Verfassungsprinzipien auch um den Preis eines vereinten Europa nicht disponibel sein soll“ [ders., S. 629 (633)]. 299 Everling beschreibt die Situation drastisch: „Die Union wäre am Ende, wenn jeder Mitgliedstaat seine Verfassungsprinzipien absolut durchsetzen würde.“ [Ders., S. 936 (945).] Das aber könne der verfassungsändernde Gesetzgeber, der die Union ermöglichen wollte, nicht gemeint haben. „Die Forderung nach struktureller Kongruenz kann sich daher nur auf den Kernbereich der in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG genannten Grundsätze, nicht aber auf deren konkrete Ausgestaltung im Grundgesetz beziehen.“ [Ders., S. 936 (945).] 300 Ebenso: Ossenbühl, S. 629 (633); Breuer, S. 417 (421). Letztlich kommt Brosius-Gersdorf zu dem Ergebnis, dass zwar Art. 20 Abs. 2 GG der Maßstab für die demokratische Legitimation sei, die Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG fordere, dass jedoch ein etwa bestehendes „Legitimationsdefizit“ durch integrationspolitische Belange, denen Art. 23 Abs. 1 GG diene, und zu dessen Gunsten mit dieser Norm eine Grundsatzentscheidung im Grundgesetz getroffen worden sei, gerechtfertigt sei [dieselb., S. 133 (169)]. Das heißt Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG verlange zwar auf europäischer Ebene ein Demokratieprinzip, das sich an Art. 20 Abs. 2 GG orientiere. Eine Nichtorientierung an Art. 20 Abs. 2 GG sei jedoch durch Art. 23 GG und die mit dieser Norm konstatierte Integrationsoffenheit zugleich wieder gerechtfertigt. 301 Weber sieht in Art. 23 Abs. 1 GG selbst lediglich einen „an die Unionsverfassung gerichteten Programmsatz prinzipieller Homogenität“ [ders., S. 325 (329)]. 302 So Weber, S. 325 (330). 297 298

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D. Demokratische Legitimation der EU bis zum Vertrag von Nizza

änderungsprozesses selbst fehle jedoch. So sei das Europäische Parlament bei künftigen Verfassungsänderungen auf ein Anhörungsrecht beschränkt, Art. 48 Abs. 2 S. 1 EUV. Solange aber das Parlament als Vertretung des europäischen Volkes – des künftigen Souveräns – gehindert sei, am „Verfassungsprozess“ entscheidend teilzuhaben und seine Rolle mitzugestalten, solange bleibe es gewissermaßen konstitutionell „mediatisiert“. Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden. Die Verträge zur Gründung und Änderung der Union und der Gemeinschaften werden zwischen den Mitgliedstaaten geschlossen. Die demokratische Legitimation dieser Ratifikationen selbst geschieht – hierin ist Weber zuzustimmen – durch die nationalen Parlamente bzw. das jeweilige Wahlvolk in den Mitgliedstaaten im Wege eines Referendums. Bei Vertragsänderungen, also dem „Verfassunggebungsprozess“, geht es aber nicht um die demokratische Legitimation von Rechtsakten der Europäischen Union bzw. Gemeinschaft; denn Vertragsänderungen sind Akte der Mitgliedstaaten selbst. Somit geht es um die demokratische Legitimation von Rechtsakten der Nationalstaaten „in ihrer gesamthänderischen Verbundenheit“. Würden die Nationalstaaten den „Verfassunggebungsprozess“ (die Änderung des Primärrechts) aber aus ihren Händen in die Hand des Europäischen Parlaments geben, so bedeutete dies nichts anderes, als dass die Union und ihre Gemeinschaften künftig über KompetenzKompetenz verfügten.303

d) Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht lediglich Programmsatz Nach einer anderen Ansicht in der Literatur lässt sich für das Demokratiegebot des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG ein exakter Inhalt oder ein konkretes Legitimationsniveau nicht ermitteln.304 Auch die Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten, die das Demokratieprinzip enthalten, könnten nur wieder für Staatlichkeit einen Maßstab bilden und nicht für den Bereich zwischenstaatlicher Organisationen Vorgaben liefern.305 Dies gehe auch aus der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes hervor. Zwar sei diese vor dem Hintergrund von Art. 38 GG ergangen, jedoch sei es ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, von der es auch in der Maastricht-Entscheidung nicht abgegangen sei, dass der angegriffene Akt der öffentlichen Gewalt am Maßstab des ganzen Grundgesetzes geprüft werde und deshalb sei – jedenfalls implizit – auch Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG Gegenstand der Prüfung gewesen. Das Bundesverfassungsgericht habe zwar entschieden, dass die demokratische Legitimation der Europäischen Union zuvörderst durch die Rückkoppelung des Handelns europäischer Organe an die nationalen Parlamente erfolge. Ein exakter juristischer Maßstab lasse sich aus der Entschei303 Zur Unzulässigkeit einer damit verbundenen Entstaatlichung der Bundesrepublik Deutschland siehe unten D., II., 3., f), bb), (3), (e) und (f). 304 Cremer, S. 21 (39); Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 52 f. 305 Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 52 f.

II. Kriterien für die demokratische Legitimation der EU

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dung des Bundesverfassungsgerichtes jedoch kaum gewinnen.306 Wie die Rückanbindung der Handlungen der europäischen Organe an den Willen der Staatsvölker zu geschehen habe, überlasse das Grundgesetz weitgehend der Gestaltung der europäischen Staaten.307 Die Effektivität demokratischer Legitimation entziehe sich einer konkreten Messung.308 Auch das Bundesverfassungsgericht habe nur festgestellt, „dass ein hinreichend effektiver Gehalt an demokratischer Legitimation, ein bestimmtes Legitimationsniveau“309 erreicht werden müsse. Die genaue „Höhe“ des Legitimationsniveaus lasse sich aus der Entscheidung des Gerichts nicht ablesen. Daher könne nur festgestellt werden, ob die demokratische Rückbindung der europäischen Gewalt im institutionellen System funktionsfähig angelegt sei.310 Diese Auffassung vermag nicht zu überzeugen. Wenn kein Maßstab dafür gefunden werden kann, welches Legitimationsniveau erreicht werden muss, so kann auch nicht festgestellt werden, ob dieses Niveau erreicht wird. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG so zu verstehen, dass sein Inhalt in der Weise ausgefüllt wird, dass alles als mit ihm vereinbar angesehen wird, „was aus politischen Gründen als wünschenswert oder hinnehmbar angesehen wird“311, hieße der Vorschrift den Charakter als Rechtsnorm abzuerkennen. Zumindest muss Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG Mindeststandards festsetzen, bei deren Unterschreiten die Struktursicherungsklausel ihre Wirkung entfaltet. Denn es wäre beispielsweise sicherlich mit Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG nicht mehr vereinbar, wenn in der Union und den Gemeinschaften ein zentrales, nicht-kollegiales Entscheidungsorgan – wie z. B. ein von den Mitgliedstaaten eingesetzter Kommissionspräsident – im „Alleingang“ die Rechtsakte erlassen würde. Dies ist offensichtlich. Mithin muss es durch Auslegung der Norm ermittelbare Kriterien geben, nach denen festgestellt werden kann, welches Legitimationsniveau auf keinen Fall unterschritten werden darf312, auch wenn Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG keine konkreten Aussagen darüber trifft – und auch nicht treffen kann – wie die institutionelle Struktur der Union und der Gemeinschaften im Einzelnen ausgestaltet sein muss.

Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 54. Cremer, S. 21 (39), mit Hinweis auf BVerfGE 89, S. 155 (179): „Aus Art. 38 GG kann nicht abgeleitet werden, wie der institutionelle Rahmen der Europäischen Union auszugestalten ist.“ 308 Weber, S. 325 (329), der wegen der „schwierigen Justitiabilität“ von Art. 23 Abs. 1 GG annimmt, dass es sich hierbei lediglich um einen Programmsatz handelt. 309 BVerfGE 89, S. 155 (182). 310 Cremer, S. 21 (40). 311 Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 53. 312 Ebenso Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 17 ff.; Scholz, in: Maunz / Dürig, Bd. III, Art. 23, Rz. 54 ff.; Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 16 ff. 306 307

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D. Demokratische Legitimation der EU bis zum Vertrag von Nizza

e) Herrschende Meinung in der Literatur und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Nach überwiegender Ansicht in der Literatur werden durch Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG die grundlegenden Konstitutionsprinzipien313 des GG auch für die Europäische Union verbindlich erklärt. Die verfassungsrechtlichen Forderungen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG können sich zwar zwangsläufig nur auf der europäischen Ebene entfalten. Sie sind aber allein binnengerichtet und können schon wegen des möglichen Adressaten von nationalem Verfassungsrecht auch nur binnengerichtet sein.314 Auf die Gemeinschaftsorgane wirken sie nur insoweit mittelbar, als sie die verfassungsrechtlichen Grenzen deutscher Integrationsfähigkeit dokumentieren.315 Von der Struktursicherungsklausel Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ist die „Verfassungsbestandsklausel“ Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG zu unterscheiden.316 Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG setzt der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Union zum Schutz des demokratischen Prinzips in Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG Grenzen.317 Während Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG die Schranken der Integrationsgewalt in Bezug auf den Übertragungsadressaten bezeichnet, erfolgt die Schrankenziehung des Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG mit Blick auf den Übertragungsgegenstand.318 Trotz des unterschiedlichen Ansatzpunktes hängen die Forderungen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 und S. 3 GG zusammen. Die in der Verfassungsbestandsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG enthaltenen Sicherungen finden sich grundsätzlich auch in der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG.319 Die Struktursicherungsklausel Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG steht in einem mittelbaren Zusammenhang mit der Regelung des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG.320 Generell wird die Beachtung des Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. 79 Abs. 3 GG bereits durch die Verpflichtung der Europäischen Union auf die Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG in erheblichem Umfang gewährleistet.321 Soweit das nicht geschieht, besitzt Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG eine eigenständige Bedeutung, v.a. im Hinblick auf die bundesstaatliche Struktur der Bundesrepublik.322 313 Scholz, in: Maunz / Dürig, Bd. III, Art. 23, Rz. 54: „Die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG ,verlängert‘ den Geltungsanspruch jener innerstaatlichen (grundgesetzlichen) Konstitutionsprinzipien gleichsam auf die supranationale Ebene der Europäischen Union [ . . . ].“ 314 Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 17. 315 Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 17. 316 Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 52. Vgl. auch Everling, S. 936 (944); Breuer, S. 417 (422). 317 Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 51. 318 Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 83. 319 Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 84. 320 Scholz, in: Maunz / Dürig, Bd. III, Art. 23, Rz. 55. 321 Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 23, Rz. 28. Rojahn meint, die Sicherung demokratischrechtsstaatlicher Strukturen der Union falle nicht in den Anwendungsbereich von Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG, sondern sei Inhalt von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG (Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 52). 322 Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 23, Rz. 28; Scholz, in: Maunz / Dürig, Bd. III, Art. 23, Rz. 55, 81.

II. Kriterien für die demokratische Legitimation der EU

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Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG bindet die Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland bei ihrer Integrationspolitik an die Voraussetzung, dass die demokratischen Mindeststandards auf der Ebene der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften gewahrt und verwirklicht werden.323 Wenn dies nicht oder nicht hinlänglich geschehen sollte, wären entsprechende (völkerrechtliche) Vereinbarungen verfassungswidrig. Werden die Strukturvorgaben des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht beachtet, ist die Übertragung von Hoheitsrechten unwirksam.324 Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG soll zugleich positiv-richtungsweisend und negativgrenzziehend sein:325 Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG berücksichtige einerseits die Eigenart supranationaler Organisationen, auf die sich die Strukturprinzipien staatlichen Ursprungs nur in abgewandelter und teilweise abgeschwächter Form übertragen ließen, andererseits werde Raum gelassen für eine Union, die sich in bestimmten, den westeuropäischen Demokratien eigenen Strukturen entwickeln könne.326 Das demokratische Strukturprinzip des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG sei als Verweis auf denjenigen Kerngehalt des Demokratieprinzips zu begreifen, der allen Mitgliedstaaten der Union – ungeachtet unterschiedlicher Ausprägungen – gemeinsam sei.327 Für die Bundesrepublik führe die Frage nach dem Kerngehalt des Demokratieprinzips zu Art. 20 GG. Denn diesen halte das GG für so bedeutsam, dass er dem Zugriff auch des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen sei. Jedoch führe auch eine Auslegung der Strukturklausel im Lichte von Art. 20 Abs. 1 GG nur zu begrenztem Erkenntnisgewinn, da in Folge des hohen Abstraktionsgrades der Norm nur schwer konkrete Handlungsanweisungen und Kontrollmaßstäbe für den Integrationsprozess abzuleiten seien.328 Das demokratische Strukturerfordernis setze voraus, dass die Mitgliedstaaten Demokratien seien und dass das Tätigwerden der Union sich auf die Bürger der Mitgliedstaaten zurückführen lasse und ihnen gegenüber verantwortet werden muss. Da aber ein Unionsvolk weder tatsächlich noch rechtlich329 vorhanden sei, könne die Union nur durch die Staatsvölker der Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert werden. Daher fordere das Demokratiegebot des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, dass innerhalb der Union eine von den Staatsvölkern ausgehende Legitimation und Einflussnahme gesichert werde.330 Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG verlange keine Homogenität oder strukturelle Kongruenz, sondern demokratische Strukturen, wie sie den Mitgliedstaaten der EuropäiScholz, in: Maunz / Dürig, Bd. III, Art. 23, Rz. 55; Ossenbühl, S. 629 (633). Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 23, Rz. 7, 30. 325 Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 17. 326 Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 20 mit Hinweis auf BReg. zu Art. 23 I, BT-Drs. 12, 3338, 6. 327 Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 20 m. w. N. 328 Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 22. 329 Vgl. Art. 1 Abs. 2 EUV: „Union der Völker Europas“. 330 Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 23, mit Hinweis auf BVerfGE 89, S. 155 (184). 323 324

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schen Union und gemeineuropäischer Verfassungskultur immanent seien, unter Berücksichtigung der Andersartigkeit der Union als supranationaler Organisation (auch als „strukturangepasste Grundsatzkongruenz“331 oder „entwicklungsoffene Strukturkongruenz“332 bezeichnet). Das so strukturangepasste demokratische Grundsatzkongruenzgebot fordere in seiner Konkretisierung eine doppelseitige demokratische Legitimation333, allerdings mit einem substantiellen Übergewicht der Legitimation durch die Staatsvölker334: Wegen der Struktur der Union als eine „Union der Völker Europas“ (Art. 1 Abs. 2 EUV) bedürfe die Union „zuvörderst“ der demokratischen Legitimation über die Staatsvölker der Mitgliedstaaten, welche durch die Zustimmungsgesetze zu den Integrationsverträgen auf der einen Seite und laufend durch die Rückkoppelung an die nationalen Parlamente über den Rat als Organ, das mit Regierungsmitgliedern beschickt ist, die den einzelstaatlichen Parlamenten gegenüber verantwortlich sind, auf der anderen Seite hergestellt werde.335 Das Europäische Parlament als unmittelbar demokratisch legitimiertes Organ könne wegen der Eigenheit der Union als supranationale Organisation im derzeitigen Entwicklungsstand lediglich eine „Stützfunktion“, aber nicht die Funktion des „tragenden Pfeilers“ haben.336 Dies wiederum bedeute, dass die Begründung zwischenstaatlicher hoheitlicher Zuständigkeiten der Union und ihrer Gemeinschaften der demokratischen Legitimation durch die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten bedürfe.337 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes legt das substantielle Schwergewicht der demokratischen Legitimation der Europäischen Union ebenfalls auf die Parlamente der Mitgliedstaaten: „Im Zustimmungsgesetz zum Beitritt zu einer Staatengemeinschaft ruht die demokratische Legitimation sowohl der Existenz der Staatengemeinschaft selbst als auch ihrer Befugnisse zu Mehrheitsentscheidungen, die die Mitgliedstaaten binden.“338 Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 22, m. w. N. Di Fabio, Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, S. 31. 333 Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 24 ff. 334 Di Fabio, Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, S. 33: Di Fabio hält die Mitgliedstaaten der Europäischen Union als „offene Staaten für unentbehrliche Zurechnungspunkte demokratischer Verantwortung“. 335 Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 25. 336 Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 26; ebenso: Scholz, in: Maunz / Dürig, Bd. III, Art. 23, Rz. 57: „Solange [ . . . ] kein gemeinschaftlich-europäischer Staat bzw. kein europäisches Staatsvolk mit entsprechender Homogenität oder ein europäischer Volkssouverän besteht, solange also keine gemeinschaftlich-staatskonstituierende Identität besteht, folglich auch keine europäische Verfassungsgebung das Europäische Parlament zum gemeinschaftlichen demokratischen Legitimationsorgan erheben kann, solange ist von einer zweistufigen [ . . . ] Demokratiestruktur auch im Lichte des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG auszugehen.“ 337 Scholz, in: Maunz / Dürig, Bd. III, Art. 23, Rz. 57, mit Hinweis auf BVerfGE 89, S. 155 (182 und 184). 338 BVerfGE 89, S. 155 (184). Auch wenn das BVerfG-Urteil vor dem Hintergrund des Art. 38 GG erging, so ist Prüfungsumfang einer Verfassungsbeschwerde stets die gesamte 331 332

II. Kriterien für die demokratische Legitimation der EU

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Ausführlich setzt sich das Bundesverfassungsgericht damit auseinander, warum das Europäische Parlament (derzeit) noch nicht primärer Träger der Legislative der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften sein könne:339 Demokratie, solle sie nicht lediglich formales Zurechnungsprinzip bleiben, sei vom Vorhandensein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig, wie einer ständigen freien Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen, in der sich auch politische Ziele klärten und wandelten340 und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen forme. Dazu gehöre auch, dass die Entscheidungsverfahren der Hoheitsgewalt ausübenden Organe und die jeweils verfolgten politischen Zielvorstellungen allgemein sichtbar und verstehbar seien und ebenso, dass der wahlberechtigte Bürger mit der Hoheitsgewalt, der er unterworfen ist, in seiner Sprache kommunizieren könne. Parteien, Verbände, Presse und Rundfunk seien sowohl Medium als auch Faktor dieses Vermittlungsprozesses, aus welchem heraus sich eine öffentliche Meinung in Europa zu bilden vermöge. Die Wahrnehmung von Hoheitsgewalt durch einen Staatenverbund wie die Europäische Union sei auf die Ermächtigungen souverän bleibender Staaten gegründet, die im zwischenstaatlichen Bereich regelmäßig durch ihre Regierungen handelten.341 Daher sei sie primär intergouvernemental bestimmt und der Erlass europäischer Rechtsnormen dürfe in größerem Umfang bei einem mit Vertretern der Regierungen beschickten Organ liegen, als dies im staatlichen Bereich verfassungsrechtlich hinnehmbar wäre. Zusammenfassend gehen herrschende Meinung in Literatur und Rechtsprechung davon aus, dass Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG gewisse „Mindeststandards“ für die demokratische Struktur der Europäischen Union verlangt. Einig ist man sich im Ergebnis darin, dass die nationalen demokratischen Strukturen nicht unbesehen auf die Europäischen Union und ihre Gemeinschaften übertragen werden können, sondern dass es einer Anpassung auf Grund der Nicht-Staatlichkeit der Union und der Gemeinschaften bedürfe. Das Übergewicht der demokratischen Legitimation der Akte der Europäischen Union müsse bei den nationalen Parlamenten liegen – indirekt durch Verabschiedung der Zustimmungsgesetze und durch die Verantwortlichkeit der Regierungsvertreter im Rat gegenüber den nationalen Parlamenten –, eine lediglich ergänzende Funktion komme dem Europäischen Parlament zu.

Verfassung, so dass vorgenannte Entscheidung auch vor dem Hintergrund des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG erging (so auch Randelzhofer, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 52 f.). 339 BVerfGE 89, S. 155 (185). 340 Vgl. BVerfGE 5, S. 18 (135, 198 u. 205); 69, S. 315 (344 ff.). 341 BVerfGE 89, S. 155 (186 f.). 6 Tiedtke

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D. Demokratische Legitimation der EU bis zum Vertrag von Nizza

f) Die Mindestanforderungen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG aa) Stellungnahme zur Ansicht der herrschenden Meinung und der Rechtsprechung Die Argumentation von Rechtsprechung und herrschender Meinung in der Literatur ist bis zu dem Punkte lückenlos nachvollziehbar, dass Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG demokratische Mindestanforderungen an die Struktur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften stellt und dass diese Mindestanforderungen nicht die gleichen sein könnten, wie diejenigen, die in Deutschland bzw. den anderen Mitgliedstaaten für diese selbst gelten. Die Präzisierung der Mindestanforderungen wird dann jedoch vom Ergebnis her vorgenommen, in dem die gegenwärtige Struktur der EU im Ergebnis als den Mindestanforderungen entsprechend beschrieben wird, ohne dass vorher eine Konkretisierung dahingehend stattfindet, welche demokratischen Mindestanforderungen Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG abstrakt verlangt.342 Fragen, wie etwa die, ob die Mindestanforderungen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG dem Grundgesetz oder den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten zu entnehmen seien, werden (teilweise) offen gelassen. Auch die Rechtsprechung geht ohne vorherige Konkretisierung, welche demokratischen Kernstrukturen das Grundgesetz verlangt, zum nächsten Schritt über und statuiert, dass auf Grund des Charakters der Europäischen Union als internationale Organisation die demokratische Legitimation „zuvörderst“ durch die Nationalstaaten und lediglich stützend durch das Europäische Parlament herbeizuführen sei und herbeigeführt werde. Auch Breuer stellt fest, dass die Frage, wie der verfassungsrechtlich fixierte Kern des demokratischen Prinzips, das in der Struktursicherungsklausel Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG aufgeführt ist, in praktikabler Weise zu konkretisieren sei, offen bleibe und dass diese Frage offensichtlich „rechtswissenschaftliche Verlegenheit“ erzeuge.343 Ossenbühl spricht insoweit von „allgemeiner Ratlosigkeit“.344 Im Folgenden wird daher untersucht, welche abstrakten Mindestanforderungen Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG an die Struktur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften stellt. bb) Konkretisierende Auslegung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG (1) Methodik der Auslegung von Art. 23 Abs. 1 GG Art. 23 Abs. 1 GG ist eine Norm des deutschen (verfassungsändernden) Gesetzgebers. Dem Grundsatz nach ist deshalb davon auszugehen, dass die Europäische Union und die Europäische Gemeinschaft nicht irgendeine demokratische Struktur 342 343 344

Breuer, S. 417 (422). Breuer, S. 417 (422). Ossenbühl, S. 629 (633).

II. Kriterien für die demokratische Legitimation der EU

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aufweisen müssen, sondern sich zu jener Art von Demokratie bekennen müssen, die für den innerstaatlichen Anwendungsbereich durch Art. 79 Abs. 3 GG prinzipiell für unantastbar erklärt wird.345 Auf der anderen Seite darf Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht zu einem „Grundgesetzimperialismus“ führen, das heißt es muss ausreichend Spielraum für die Respektierung anderer Ausformungen des demokratischen Prinzipes bleiben, so wie sie in den übrigen Mitgliedstaaten bestehen.346 Zur Umsetzung der wesentlichen Kernprinzipien der Demokratie kann die EU deshalb auch andere Wege gehen als das Grundgesetz, und zwar auch als in Art. 20 GG geregelt.347 Denn Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ist nicht nur Struktursicherungs-, sondern zugleich auch Integrationsnorm. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union348 werden von der Bundesrepublik Deutschland als Demokratien anerkannt. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG verlangt eine Struktursicherung in Bezug auf den wesentlichen Kern des Demokratieprinzips, der allen Mitgliedstaaten – ungeachtet unterschiedlicher Ausprägungen – gemeinsam ist.349 Wegen dieser Doppelfunktion von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG als Struktursicherungs- und Integrationsnorm sind bei der Ermittlung der Fundamentalprinzipen der Demokratie im Sinne des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG die Verfassungsordnungen der anderen Mitgliedstaaten insofern zu berücksichtigen, als zu den wesentlichen Kernprinzipien der Demokratie des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG keine demokratischen Mindeststandards gehören können, die einen „Grundgesetzimperialismus“ bewirken würden.

345 Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 105. 346 Vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 106. 347 Ebenso Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 106. 348 Und auch weitere Staaten, wie beispielsweise die U.S.A. oder die Schweiz. 349 Breuer, S. 417 (422); Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 21: Art. 23 verlange „[ . . . ] die Erfüllung von [ . . . ] demokratischen Anforderungen [ . . . ], wie sie den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und gemeineuropäischer Verfassungskultur gemeinsam sind [ . . . ]“. Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 20: „Als Grundlage normativer Bindungen können die [ . . . ] Strukturprinzipien [ . . . ] nur dienen, wenn sie als Verweisungen auf die Kerngehalte jener Prinzipien begriffen werden, die allen Mitgliedstaaten der Union – ungeachtet unterschiedlicher Ausprägungen – gemeinsam sind.“ Vgl. auch Everling, S. 936 (944), Ossenbühl, S. 629 (633) und Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Art. 23, Rz. 8.

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(2) Kernbestand der Demokratie im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG (a) Ausgestaltung der Volkssouveränität zur Demokratie als Staats- und Regierungsform – lückenlose organisatorisch-personelle demokratische Legitimation Der Kerngedanke des Demokratieprinzips im Sinne des Grundgesetzes ist die Volkssouveränität, das heißt, dass das Volk Träger der Hoheitsgewalt ist.350 Volkssouveränität bedeutet negativ-grenzziehend, dass nicht ein Monarch, eine Oligarchie, ein Diktator oder die Herrschaft Gottes die Regierung eines Staates bilden bzw. begründen.351 Positiv-konstituierend bedeutet Volkssouveränität, dass ein effektiver demokratischer Legitimationsstrang, eine „ununterbrochene Legitimationskette“ vom Legitimationssubjekt, dem Volk, zum Legitimationsobjekt, der Herrschaftsgewalt, reichen muss.352 Denn in der Demokratie als Staats- und Regierungsform ist das Volk nicht nur „Ursprung und letzter Träger“ der politischen Herrschaftsgewalt, sondern das Volk übt die politische Herrschaftsgewalt auch selbst aus und hat sie aktuell inne. In der Demokratie herrscht das Volk nicht nur, es regiert auch.353 Die ununterbrochene Legitimationskette zwischen dem Volk und den die Herrschaftsmacht innehabenden Staatsorganen bezieht sich auf den gesamten Umfang staatlichen Handelns.354 Die demokratische Legitimation kann in eine organisatorisch-personelle, eine funktionell-institutionelle und eine sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation unterteilt werden. Aus dem Erfordernis der organisatorisch-personellen demokratische Legitimation folgt, dass zu jedem mit Hoheitsmacht ausgestatteten Organ und Organwalter eine lückenlose Legitimationskette führen muss, die beim Volk ihren Ausgangspunkt nimmt. Die funktionell-institutionelle Legitimation erfolgt durch die Festlegung der Verfassung, welches Organ welche Hoheitsgewalt ausübt. Sachlich-inhaltlich erhalten die Regierung und die Rechtsprechung ihre Legitimation durch die strikte Bindung an das Gesetz.355 Demokratische Legitimation darf nicht durch das Dazwischentreten eines nicht hinreichend demokratisch legitimierten Organs unterbrochen werden, muss also 350 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 10; Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 2; Schnapp, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 20, Rz. 18; Sachs, in: Sachs, Art. 20, Rz. 12; Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Art. 20, Rz. 11 f.; Stein, in: Wassermann, Art. 20, Abs. 1 – 3 III, Rz. 32; Kluth, S. 30 f. 351 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 10. 352 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 11; Schnapp, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 20, Rz. 20; Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Art. 20, Rz. 11 f.; Stein, in: Wassermann, Art. 20, Abs. 1 – 3 III, Rz. 36 ff.; BVerfGE 89, S. 155 (187). 353 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 8. 354 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 16. 355 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 15 f., 21.

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lückenlos sein.356 Sie kann nur durch eine allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahl357 herbeigeführt werden. Dies rührt daher, dass Art. 20 Abs. 2 GG nicht eine lediglich theoretische Art von Demokratie verlangt, sondern eine Demokratie in „praktisch-politischer Art und Weise“358. Das heißt negativ, dass eine lediglich „theoretische Konstruktion“ der Übertragung der Herrschaftsmacht vom Volk auf die staatlichen Organe oder ein einmaliger Einsetzungsakt nicht ausreichend ist, um eine Legitimationskette vom Volk zur Hoheitsgewalt zu begründen. Positiv bedeutet dies, dass periodisch Wahlen stattfinden müssen, so dass eine ständige Rückkoppelung zwischen dem Volk und der staatlichen Herrschaftsmacht vorhanden ist.359 Durch die Wahlen wird eine organisatorisch-personelle demokratische Legitimation bestehend in einer ununterbrochenen Legitimationskette zu den mit der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben betrauten Amtswaltern hergestellt.360 Bleckmann meint, dass „Zweck des Demokratieprinzips in der Massengesellschaft“ primär die Garantie der Richtigkeit (Gerechtigkeit) der demokratischen Entscheidung sei.361 Ein Demokratiedefizit könne demnach durch andere „Garantien ausgeglichen werden“.362 Der europäische Willensbildungsprozess sei so aufgebaut, dass alle durch die Entscheidung betroffenen Interessen berücksichtigt würden. Zudem spiele der Rechtssatzvorbehalt eine erhebliche Rolle, der verlange, dass alle die Interessen der Mitgliedstaaten und der Bürger berührenden Einzelentscheidungen ihre Grundlage in einem Rechtssatz fänden. Die Organe der EG seien dadurch gezwungen, ein umfassendes Ordnungskonzept für alle Bereiche zu entwickeln, alle Interessen zu berücksichtigen und den Gleichheitssatz zu beachten.363 Dadurch könne die Richtigkeit der Entscheidung sozusagen auch ohne Volkssouveränität bzw. demokratische Legitimation durch Wahlen sichergestellt werden. Das Prinzip der Volkssouveränität ist das Fundament des Demokratieprinzips. In den westlichen Demokratien folgt aus dem Prinzip der Volksherrschaft, dass alle Herrschaftsmacht auf den Willen des Volkes rückführbar sein muss, und zwar Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 16. Voraussetzung einer demokratischen Wahl im Sinne des Grundgesetzes und der Verfassungsordnungen aller demokratischen Staaten westlicher Prägung ist dabei die demokratische Gleichheit: Es handelt sich hierbei um eine strikte, schematische Gleichheit mit formalem Charakter (Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 43). Dies bedeutet, dass das Wahlrecht grundsätzlich alleine an die Staatsangehörigkeit und das Erreichen eines bestimmten Mindestalters gekoppelt ist, ansonsten aber unabhängig von Geschlecht, Rasse, Vermögen, Herkunft oder Religion ist. 358 Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 35 ff. 359 Schnapp, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 20, Rz. 15, 20. 360 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 16. 361 Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (58). 362 Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (58). 363 Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (58). 356 357

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durch allgemeine, freie und gleiche Wahlen. Demokratie hat indes nichts mit der „objektiven Richtigkeit“ der im demokratischen Prozess gefundenen Entscheidung zu tun, und eine nicht auf die Autorität des Volkes rückführbare Herrschaftsmacht kann auch nicht dadurch demokratisch legitimiert werden, dass rechtsstaatliche Garantien, wie beispielsweise der Gesetzesvorbehalt, die Ausübung der Herrschaftsmacht beschränken.364 Die Frage der objektiven Richtigkeit oder der Gerechtigkeit einer Entscheidung hat nichts damit zu tun, ob die Entscheidung vom Volke ausgeht. So kann auch ein Monarch im Stande sein, eine gerechte und richtige Entscheidung zu treffen, aber sie wäre eben dem Volk nicht zurechenbar. Umgekehrt kann – wie auch immer dies zu bewerten wäre – eine „objektiv falsche“ Entscheidung durchaus eine demokratische Entscheidung sein, nämlich wenn sie von einer Parlamentsmehrheit getragen wird. Es geht also bei der Volkssouveränität nicht um die Richtigkeit der Entscheidungen bzw. um „Vernunfthoheit“365, sondern einzig um die Rückführbarkeit der Entscheidungen auf den Volkswillen. (b) Mehrheitsprinzip – Kommunikations- und Informationsfreiheiten, Emanzipationsstruktur der Gesellschaft und Bildungssystem Zudem werden als Kernelemente des Demokratieprinzips das Mehrheitsprinzip bei demokratischen Entscheidungen, die freie Meinungsäußerung im politischen Prozess, eine öffentliche Presse ohne Zensur sowie das Recht, Parteien und Interessenvereinigungen zu bilden, genannt.366 Weiterhin werden eine ausreichende Emanzipationsstruktur in der Gesellschaft und ein entwickeltes Schulsystem als unabdingbare vorrechtliche demokratische Voraussetzungen angeführt.367 Es dürfte jedoch unstreitig sein, dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union über vorgenannte Strukturen verfügen, weshalb auf diese Kernelemente von Demokratien westlicher Prägung nicht näher eingegangen wird.368 Auch im Folgenden werden diese Voraussetzungen als gegeben unterstellt. Das Mehrheitsprinzip zählt zu den „fundamentalen Prinzipien“ der Demokratie.369 Die Begründung des Mehrheitsprinzips folgt aus dem Prinzip der Freiheit 364

Ebenso Hillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1

(17). Hillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (17). Vgl. Schnapp, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 20, Rz. 16 f.; Sachs, in: Sachs, Art. 20, Rz. 13; Stein, in: Wassermann, Art. 20, Abs. 1 – 3 III., Rz. 17, 41 ff., 59 ff. 367 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 60. 368 Ob all diese Voraussetzungen bei den Beitrittskandidaten (s. u. F., I.), insbesondere bei den Staaten, die ehemals zum Ostblock bzw. zur Sowjetunion od. Jugoslawien gehört haben, ebenfalls ohne Weiteres als gegeben unterstellt werden können, soll an dieser Stelle ausdrücklich offen bleiben. 369 Sachs, in: Sachs, Art. 20, Rz. 22; Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 52 ff.; Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit, S. 459 (461 ff.). 365 366

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und Selbstbestimmung und aus dem Prinzip der demokratischen Gleichheit.370 Die Autonomie des Einzelnen ist – unter der Prämisse gleicher Freiheit der anderen – am relativ größten, wenn gilt, was die Mehrheit beschließt.371 Wären es mehr, würden die Befürworter, wären es weniger, würden die Gegner einer bestimmten Entscheidung benachteiligt. 372 Nach der Ansicht von Sachs kann das Mehrheitsprinzip nicht mit einem bestimmten Mehrheitserfordernis, etwa dem der einfachen Mehrheit, gleichgesetzt werden. Qualifizierte Mehrheitsanforderungen schränkten das Mehrheitsprinzip nicht ein, sondern erforderten nur eine größere Annäherung an das Ideal der Einstimmigkeit.373 Der Ansicht von Sachs wird nicht gefolgt. Das Erfordernis qualifizierter Mehrheiten bedeutet „weder eine Verstärkung von noch ein Mehr an Demokratie“374. Vielmehr bedarf es für die Festlegung eines bestimmten Inhalts der demokratischen Ordnung in der Demokratie gerade der Übereinstimmung der Mehrheit, nicht weniger, aber auch nicht mehr:375 „Ließe man weniger genügen, könnte eine Minderheit ihren politischen Willen einer Mehrheit aufoktroyieren, eine mit der gleichen Freiheit unvereinbare Zumutung. Forderte man eine qualifizierte Mehrheit, könnte eine Sperrminorität die Verwirklichung des Mehrheitswillens vereiteln, eine ebenfalls nicht zu rechtfertigende Benachteiligung der Mehrheit der Freien und Gleichen.“376

Auch nach dem Grundgesetz werden grundlegende staatliche Entscheidungen nach Maßgabe der Mehrheitsregel getroffen: Die Beschlüsse des Bundestages und Bundesrates (Art. 42 Abs. 1 S. 1, 52 Abs. 3 S. 1 GG), die Wahl des Bundeskanzlers (Art. 63 Abs. 2 – 4 GG), die Ablösung des Bundeskanzlers aufgrund konstruktiven Misstrauensvotums (Art. 67 GG) und die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung (Art. 54 Abs. 6 GG). Qualifizierte Mehrheiten sind somit allenfalls zum Zwecke des Minderheitenschutzes gerechtfertigt, und ferner dort, wo die Kerngehalte der demokratischen Ordnung selbst, wie etwa die demokratischen Freiheitsrechte oder Ausformungen des demokratischen Gleichheitsprinzips, in Frage stehen.377

370 371 372 373 374 375 376 377

Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 52. Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit, S. 460 (462). Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 52. Sachs, in: Sachs, Art. 20, Rz. 24 f. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 53. Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit, S. 459 (462). Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit, S. 459 (462). Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 53.

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(c) Mittelbar-repräsentative Demokratie Auch die mittelbar-repräsentative Demokratie und die Freiheit vom imperativen Mandat gehören zum Kern der Demokratie im Sinne des Grundgesetzes.378 Eine Rätedemokratie mit imperativen Mandat lässt sich nicht in Einklang mit dem Grundgesetz bringen.379 Der Gedanke von Urwählerversammlungen und Weisungen widerspricht dem Gedanken der Volkssouveränität: Nach allen geschichtlichen Erfahrungen würde es nicht zu einer ernsthaften Anwendung der der Rätedemokratie zu Grunde liegenden theoretischen Vorstellungen kommen.380 Die Willensbildung in den Urwählerversammlungen und damit auch die Weisungen würden nahezu naturgesetzlich von einer kleinen, politisch ehrgeizigen und meist leicht erregbaren Minderheit herrühren. In der Praxis liefe die Rätedemokratie deshalb auf eine Oligarchie hinaus. Eine plebiszitäre Demokratie muss in einer modernen Massendemokratie zwangsläufig an der praktischen Undurchführbarkeit scheitern.381 Das Grundgesetz konzipiert die Bundesrepublik Deutschland als repräsentative Demokratie.382 Die Entscheidung für die repräsentativ-mittelbare Demokratie ist nicht lediglich eine von mehreren möglichen, gleichermaßen grundgesetzkonformen Ausgestaltungen des Demokratieprinzips, sondern die im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG und damit auch im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG gebotene, weil sowohl eine unmittelbare Demokratie als auch ein imperatives Mandat das Prinzip der Volkssouveränität in einer modernen Massendemokratie nicht hinreichend effektiv gewährleisten können.383 Dies bedeutet nicht, dass Plebiszite generell unzulässig wären; auch das Grundgesetz kennt sie384, und vor allem die Verfassungen der Gliedstaaten.385 Aber eine generelle unmittelbare Demokratie ohne gewählte, weisungsungebundene Repräsentanten wäre verfassungswidrig. Ein Vergleich mit den Verfassungsordnungen der anderen Mitgliedstaaten stützt das gewonnene Ergebnis, dass zum Kerngehalt des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG die 378 Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 64, 66. 379 Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 66. 380 Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 68. 381 Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 40. Es gebe heute keinen demokratischen Staat mehr, in dem die direkte Demokratie eine wirklich ausschlaggebende Bedeutung hätte (ders, Rz. 37). 382 Schnapp, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 20, Rz. 18; Stein, in: Wassermann, Art. 20, Abs. 1 – 3 III., Rz. 35 ff. 383 Allgemeine Meinung, vgl. Schnapp, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 20, Rz. 18; Stein, in: Wassermann, Art. 20, Abs. 1 – 3 III., Rz. 35 ff.; Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 40. 384 Art. 29 Abs. 2 GG. 385 Z. B. Art. 18 Abs. 3, 72, Abs. 1, 74 Bayerische Verfassung.

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mittelbar-repräsentative Demokratie gehört:386 Die Parlamentarier sämtlicher Mitgliedstaaten sind mittelbar-repräsentativ legitimiert und nicht an Weisungen der Wähler gebunden. Auch wenn Plebiszite in vielen Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten vorgesehen sind, so wird die staatliche Herrschaftsmacht zum ganz überwiegenden Teil durch Parlament, Regierung und Rechtsprechung, also gewählte Organe, ausgeübt. (d) Parlamentarisches Regierungssystem Die Bundesrepublik Deutschland hat ein parlamentarisches Regierungssystem. Das heißt, dass die Bundesregierung vom Parlament konstituiert wird, Art. 63 Abs. 1, 67, 68 GG. Nach der Ansicht von Kluth ist das parlamentarische Regierungssystem „die regelmäßige und genuine Entfaltungsform demokratischer Herrschaftsorganisation in einer pluralistischen und komplexen modernen Industriegesellschaft“.387 In einem parlamentarischen Regierungssystem ist die Regierung nicht nur in ihrer allgemeinen Politik, sondern auch in ihrem personellen Bestand vom Vertrauen des Parlaments abhängig.388 Hiervon abzugrenzen ist die parlamentarische Demokratie. In der parlamentarischen Demokratie hat das Parlament eine zentrale Stellung („Präponderanz“);389 die Regierung bzw. das direkt gewählte Staatsoberhaupt ist jedoch nicht vom Vertrauen des Parlaments abhängig. Deshalb kann beispielsweise auch ein präsidiales Regierungssystem (wie z. B. die Präsidialdemokratie der U.S.A.) eine parlamentarische Demokratie sein.390 Die begriffliche Trennung von parlamentarischer Demokratie und parlamentarischem Regierungssystem ist notwendig, um zu entscheiden, ob die Erste oder (auch) das Letztere zum Kernbestand der Demokratie im Sinne von Art. 23 386 Wie dargestellt ist Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zugleich Integrationsnorm, und die Mitgliedstaaten der EU werden von der Bundesrepublik Deutschland sämtlich als Demokratien anerkannt. Deshalb ist bei der Auslegung von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG stets im Auge zu behalten, dass es bei den hier verlangten demokratischen Mindeststandards nicht um solche gehen kann, die eine Integration in die Europäische Union quasi unmöglich machen, weil einseitig die demokratische Struktur des Grundgesetzes als Maßstab für die demokratische Struktur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften dienen soll. 387 Kluth, S. 90. Kluth diskutiert das parlamentarische Regierungssystem als Maßstab für die demokratische Legitimation der Europäischen Union (ders., S. 90). Dabei bezieht er sich auch auf Anforderungen der Verfassungen der Mitgliedstaaten, um Anknüpfungspunkte für die normative Bestimmung des Legitimationsniveaus zu finden, explizit auch auf Art. 23 Abs. 1 GG (ders., S. 88). 388 Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 78, mit Hinweis auf das obiter dictum in BVerfGE 9, 268 ff. (281). 389 Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 79. 390 Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 79.

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Abs. 1 S. 1 GG gehört. Da wegen Art. 79 Abs. 3 GG und im Hinblick auf den Integrationszweck von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nur ein demokratischer Mindeststandard in den Schutzbereich vorgenannter Vorschriften einbezogen werden soll, ist der Kernbestand der Demokratie in diesem Sinne in einem möglichst engen aber doch ausreichendem Rahmen zu ermitteln. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Volkssouveränität auch in einem (lediglich) präsidialen Regierungssystem, welches zudem eine parlamentarische Demokratie darstellt, sichergestellt werden kann. Es führen dort zwei Legitimationsstränge vom Volk zur staatlichen Herrschaftsmacht, einmal derjenige zum Parlament und zum anderen derjenige zum Präsidenten, der die Regierung bildet oder zumindest ernennt (z. B. U.S.A.). Die aus der Volkssouveränität fließenden demokratischen Grundprinzipien (wie oben391 dargestellt) können sich also auch in einem präsidialen Regierungssystem entfalten. Zudem spricht ein Blick auf die französische Verfassung, die teilweise eine präsidiale Demokratie ist, dafür, dass Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG kein parlamentarisches Regierungssystem fordert, da der verfassungsändernde Gesetzgeber Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG in Kenntnis des französischen Verfassungssystems erlassen hat und nichts dafür spricht, dass er die Umsetzung dieser Strukturen innerhalb der Europäischen Union für verfassungswidrig hielte bzw. dass er die Republik Frankreich als einen nicht im Kern demokratischen Staat ansieht. Deswegen gehört zum Kernbestand der Demokratie i.S.v. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zwar die parlamentarische Demokratie, nicht aber ein parlamentarisches Regierungssystem.392 (e) Parlamentarische Demokratie und Gewaltenteilung Der Kernbestand parlamentarischer Demokratie wird nach Herzog positiv und negativ wie folgt abgegrenzt:393 Positiv müsse in einer parlamentarischen Demokratie das Parlament über einen ausreichenden Bestand an Entscheidungs- bzw. Steuerungsbefugnissen verfügen. Negativ sei parlamentarische Demokratie jedenfalls dann nicht mehr gegeben, wenn das Parlament ausschließlich auf unverbindliche Kontrollrechte (z. B. Interpellationsrecht und Recht der parlamentarischen Debatte) beschränkt wäre. Des Weiteren gehörten ein Mehrparteiensystem und das Institut der Opposition zum Kern parlamentarischer Demokratie.394 Darüber hinaus zähle die Gewaltenteilung zum Mindeststandard parlamentarischer DemoD., II., 3., f), bb), (a), (b) und (c). Ebenso Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 81: „In der Tat verlangen weder das demokratische Prinzip des Art. 20 I noch das Prinzip der Volkssouveränität (und erst recht nicht das Prinzip der repräsentativen Demokratie) das Recht des Parlaments, ggf. die Regierung oder die Regierungsspitze zu stürzen. Die Bundesrepublik ist unter der Geltung des GG m. a. W. zwar ein parlamentarisches Regierungssystem, sie braucht es aber nicht zu bleiben.“ 393 Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 83. 394 Vgl. Schnapp, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 20, Rz. 14. 391 392

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kratie nach dem Grundgesetz395, auch in dem Sinne, dass es keinen monistischen Parlamentsvorbehalt geben dürfe.396 Das Grundgesetz verlange jedoch lediglich die vorgenannten parlamentarischen Mindeststandards von der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften.397 Darüber hinaus verlange das Grundgesetz keinen Parlamentarismus wie den, den es selbst verwirklicht. Dies gelte sowohl hinsichtlich der Stellung des Parlaments im Verhältnis zur Exekutive als auch hinsichtlich der Thematik, die im deutschen Verfassungsgefüge durch Art. 20 Abs. 3 GG (Allzuständigkeit des Gesetzgebers) abgesteckt werde. Dem ist zu folgen. Die parlamentarische Demokratie stellt eine weitere Konkretisierung des Demokratiegebotes im Sinne des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG dar.398 Denn eine mittelbar-repräsentative Demokratie mit Gewaltenteilung ist ohne Parlament kaum vorstellbar – und kommt in der Praxis westlicher Demokratien auch nicht vor. Für dieses Ergebnis spricht auch eine Auslegung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG unter Berücksichtigung der Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten – und auch z. B. der U.S.A. Zwar verfügen die EU-Mitgliedstaaten mehrheitlich über – unterschiedlich ausgeprägte – parlamentarische Regierungssysteme.399 In Frankreich oder den US.A. z. B. ist der Staatspräsident bzw. der Präsident jedoch dem Parlament nicht personell verantwortlich. Ein System parlamentarischer Demokratie impliziert zugleich, dass zwischen dem Parlament und den anderen Organen ein „institutionelles Gleichgewicht“400 bestehen muss. Ein institutionelles Gleichgewicht zwischen den Organen auf europäischer Ebene ist zudem erforderlich, wegen des „zwar längeren, aber erprobteren Weges“401 demokratischer Legitimation der Regierungsvertreter im Rat gegenüber der unmittelbaren demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments. In allen westlichen Demokratien gibt es Exekutive, Legislative und Judikative. Diese Gewaltverschränkung ist grundlegendes Prinzip demokratischer Verfassungsstaaten.402 Jedoch passt dieses Prinzip mit seinen staatlichen Konkretisierungen nicht in jeder Hinsicht auf die Europäische Union und ihre „Mehrebenendemokratie“. 403 Deshalb bedarf es einer funktionalen Anpassung, was von Art. 23 Abs. 1 GG vorausgesetzt wird: Auf europäischer Ebene wird das Prinzip der Gewaltenteilung 395 Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 140; Sachs, in: Sachs, Art. 20, Rz. 38. 396 So Sachs, in: Sachs, Art. 20, Rz. 38. 397 Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 114. 398 Vgl. auch Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 114, der für die Zeit vor Inkrafttreten von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG n.F. zum gleichen Ergebnis gelangt. 399 Vgl. Kluth, S. 91 (vgl. auch S. 30 f.). 400 EuGH, „Titandioxid-Urteil“, in: JZ 1992, S. 578 (Slg. 1991, I-2867). 401 Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (742). 402 Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (742). 403 Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (742).

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durch den Grundsatz des „institutionellen Gleichgewichts“404 konkretisiert.405 Es geht auf europäischer Ebene weniger um die Wahrung der üblichen Gewaltenteilung, sondern um ein institutionelles Gleichgewicht, das ein angemessenes demokratisches Legitimationsniveau sichert. Weil die Völker Europas in ihrem jeweiligen Verfassungsraum eine andere Qualität demokratischer Legitimation vermitteln, darf der Rat als Organ, das mit Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten beschickt ist, nicht hinter andere Organe zurückgedrängt werden. „Positionen und Gewichte der europäischen Organe müssen so ausgestaltet sein, dass ein annäherndes Mächtegleichgewicht zwischen Mitgliedstaaten und eigenständiger Gemeinschaftsgewalt erhalten bleibt.“406 Auch unter diesem Gesichtspunkt verbietet sich in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften jeder monistische Parlamentsvorbehalt.407 (f) Zusammenfassung Der Kernbestand der Demokratie im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG orientiert sich demnach an den Mindeststandards des Grundgesetzes, so wie sie in Art. 20 Abs. 2 mit Art. 79 Abs. 3 GG festgelegt sind, unter Berücksichtigung der demokratischen Strukturen der Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten. Die demokratische Struktur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften muss deswegen auf dem Prinzip der Volkssouveränität aufbauen. Alle Staatsmacht muss in dem Sinne vom Volk ausgehen, dass durch allgemeine, freie, geheime und gleiche Wahl alle Organe, die Herrschaftsgewalt ausüben, zumindest mittelbar legitimiert sind (organisatorisch-personelle demokratische Legitimation408). Weiterhin muss die Demokratie der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften eine mittelbar-repräsentative und parlamentarische Demokratie sein. Dies wiederum bedeutet im Kern, dass das Parlament über einen ausreichenden Bestand an Entscheidungs- bzw. Steuerungsbefugnissen verfügen muss, also nicht ausschließlich auf unverbindliche Kontrollrechte (z. B. Interpellationsrecht) beschränkt sein darf.409

EuGH, „Titandioxid-Urteil“, abgedruckt in: EuGH JZ 1992, S. 578 (Slg. 1991, I-2867). Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (742). 406 Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (742). 407 Im Ergebnis so wohl auch Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (742). 408 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 16. 409 Vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 114; Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, S. 586 (589). 404 405

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(3) Berücksichtigung der Nicht-Staatlichkeit der Europäischen Union (a) Keine 1:1-Übertragung Bislang wurde beschrieben, welche Kernelemente der Demokratie von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG gefordert werden. Es wurde festgestellt, dass die Volkssouveränität Kern und Ausgangspunkt des Demokratieprinzips ist, das sowohl Art. 20 Abs. 2 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG als auch Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG meint. Nunmehr wird erörtert, wie in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften diese Rückkoppelung politischer Herrschaftsmacht an den Willen eines Legitimationssubjektes gestaltet sein soll. (b) Fehlen eines europäischen Volkes Im Folgenden wird erläutert, ob es ein „europäisches Volk“ bzw. ein „Unionsvolk“ gibt und welche Verbindung die Unionsbürgerschaft zwischen den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten begründet. Die Unionsbürgerschaft wird im zweiten Teil des EGV in den Art. 17 bis 22 EGV geregelt. Nach Art. 17 Abs. 1 S. 2 EGV ist Unionsbürger, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt. Die Unionsbürgerschaft ist somit an die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates gekoppelt, wobei sich Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit alleine nach nationalem Recht bestimmen.410 Die Rechtsstellung der Unionsbürger folgt aus dem gesamten EGV. Im zweiten Teil des EGV sind das Recht auf Freizügigkeit (Art. 18 EGV), das Kommunalwahlrecht (Art. 19 Abs. 1 EGV), das Wahlrecht zum Europäischen Parlament (Art. 19 Abs. 2 EGV), der konsularische und diplomatischer Beistand in allen Mitgliedstaaten (Art. 20 EGV), das Petitionsrecht, das Recht auf Anrufung eines Bürgerbeauftragten, und das Recht, sich in einer Amtssprache nach Wahl an die Organe der EG zu wenden (Art. 21 EGV), geregelt. Weitere Rechte und Pflichten folgen aus sonstigen Vorschriften des EGV und dem Sekundärrecht.411 Somit begründet das Gemeinschaftsrecht unmittelbare Rechtsbeziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Unionsbürgern.412 Die Gesamtheit der Unionsbürger ist identisch mit der Gesamtheit der Völker der Mitgliedstaaten (Art. 189 Abs. 1, Art. 19 Abs. 2 EGV) bzw. der Summe der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten (Art. 17 Abs. 1 EGV).413 Mit der durch den Vertrag von Maastricht begründeten Unionsbürgerschaft wird zwischen den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten ein auf Dauer angelegtes formal-rechtliches Band geknüpft, das dem bestehenden Maß existentieller Gemeinsamkeiten einen rechtlich verbindlichen Ausdruck verleiht.414 Hatje, in: Schwarze, Art. 17 EGV, Rz. 5. Kluth, S. 46 f.: Grundrechtsschutz, Rechtsschutzverbürgung gegenüber der Gemeinschaftsgewalt sowie der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten. 412 Hatje, in: Schwarze, Art. 17 EGV, Rz. 8; Kluth, S. 45 m.w.H. 413 Vgl. Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (741, 742). 414 BVerfGE 89, S. 155 (184); Schmitz, S. 217 (219). 410 411

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Nach einer Ansicht in der Literatur bedeutet Volkssouveränität die Identität von Subjekt und Objekt der Herrschaftsgewalt.415 In der Europäischen Union sind die Adressaten der Akte der Herrschaftsgewalt der Europäischen Union und der Gemeinschaften teilweise unmittelbar die der Staatsgewalt in den Mitgliedstaaten unterworfenen Personen416 und teilweise die Mitgliedstaaten selbst417. Fraglich ist in diesem Zusammenhang, ob die Gesamtheit der Unionsbürger taugliches Legitimationssubjekt für eine parlamentarische Demokratie, die Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG grundsätzlich für die Europäische Union vorschreibt, ist. Denn „Volk“ im Sinne des Grundgesetzes, also nach Art. 20 Abs. 2 GG, meint das Staatsvolk als politische Schicksalsgemeinschaft.418 Diese Schicksalsgemeinschaft ist definiert durch das formale Band der Staatsangehörigkeit.419 Volkssouveränität bedeutet also nicht Kongruenz zwischen Herrscher und Beherrschten. Das Volk ist vielmehr gekennzeichnet durch eine existentielle Verbundenheit mit dem Staat.420 „Die Staatsangehörigen sind mit dem politischen Leben und Schicksal des Staates, den sie bilden und tragen, unlöslich verknüpft [ . . . ]. An seinen Erfolgen und Leistungen nehmen sie ebenso teil wie an seinen Schwächen und den ihm von außen drohenden Gefahren. Was dem Staat im Inneren oder von außen politisch widerfährt und was nach innen und außen von ihm ausgeht, haben sie mitzutragen und dafür einzustehen. Sie – und nur sie – bilden das politische Volk, von dem gemäß Art. 20 Abs. 2 GG die Staatsgewalt ausgeht [ . . . ].“421

Diese ein Staatsvolk kennzeichnende existentielle Verbundenheit der Staatsangehörigen ist unabhängig von vorrechtlichen Voraussetzungen, wie beispielsweise der Sprache, Medien, politischen Parteien und Interessenverbänden. Eine demokratische Legitimation ist deshalb auch nicht durch Teilvölker, die „Gesamtheit der Betroffenen“ der politischen Herrschaftsmacht oder die Summe derjenigen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Staat haben, herzustellen.422 In einem Nationalstaat kann demokratische Legitimation deshalb grundsätzlich nur durch das Staatsvolk vermittelt werden. In einem Bundesstaat treten die Ländervölker hinzu, bedingt durch das föderalistische Prinzip, das gerade durch ein Mitwirken der einzelnen Ländervölker am Staatswesen des Bundesstaates charakterisiert ist. Vergleiche hierzu die Verfassungen der Bundesrepublik Deutschland, der USA und der Schweiz als klassische bundesstaatliche bzw. föderale Verfassungen, die sämtlich durch ein Mitwirken der Ländervölker auf der Ebene des Bundesstaates charakterisiert sind: Stein, in: Wassermann, Art. 20, Abs. 1 – 3 III, Rz. 10. Vgl. z. B. Art. 249 Abs. 2 S. 2 EGV. Verordnungen gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. 417 Vgl. z. B. Art. 249 Abs. 3 EGV. 418 Vgl. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 26. 419 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 26. 420 Vgl. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 28. 421 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 26. 422 Vgl. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 26 ff. 415 416

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– In der Bundesrepublik Deutschland wirken die Ländervölker über ihre Regierungen an der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit, Art. 50 GG. – Gemäß Art. 45 in Verbindung mit Art. 47, 148 S. 2 und 150 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft wirken die Kantone über den Ständerat, der aus einem bzw. zwei Abgeordneten je Kanton besteht (je nach Bevölkerungszahl, Art. 150 S. 2 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft) an der Gesetzgebung des Bundes mit, Art. 148 S. 2 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. – In den USA sind die Staaten über den Senat als zweite Kammer des Kongresses an der Gesetzgebung der Union beteiligt, Art. 1 Sec. 1, 3 und Sec. 7 Par. 2 Constitution of the United States of America.

Die Europäische Union und ihre Gemeinschaften sind demgegenüber mit den Unionsbürgern nicht derart existentiell verbunden wie dies in Nationalstaaten der Fall ist.423 Die Gesamtheit der Unionsbürger (Art. 17 Abs. 1 EGV) bildet kein einheitliches europäisches Volk oder „Unionsvolk“. Zwar bündelt die Unionsbürgerschaft Rechte und Pflichten, die zwischen den Bürgern und der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften eine besondere rechtliche Beziehung schaffen.424 Sie tritt jedoch nur neben die Staatsangehörigkeit und schafft keine vergleichbar enge Rechts- und Pflichtenbindung wie die Staatsangehörigkeit.425 Nicht nur die Exekution der ganz großen Mehrzahl der Rechtsakte, die von der Europäischen Gemeinschaft gesetzt werden, liegt bei den Mitgliedstaaten. Auch die soziale Letztverantwortung für die Unionsbürger wird von den jeweiligen Nationalstaaten getragen, ebenso wie die elementare Verantwortung für die innere und äußere Sicherheit. „Während an die Staatsangehörigkeit herkömmlicherweise umfassende politische Teilhaberechte, Schutzansprüche und grundlegende Pflichten gegenüber der Gesellschaft (z. B. Wehrpflicht, Steuerpflicht) anknüpfen, die Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer politischen Schicksalsgemeinschaft sind, bleibt die Unionsbürgerschaft auf einen Status beschränkt, welcher die geteilte Verantwortung zwischen EU und Mitgliedstaaten für den Einzelnen widerspiegelt.“426

Darüber hinaus sind die Unionsbürger kein mit den einzelnen Staatsvölkern der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften vergleichbares „europäisches Staatsvolk“, weil die vorrechtlichen Voraussetzungen für Demokratie in der Union, also auf europäischer Ebene, nicht gleichermaßen vorhanden sind wie in den einzelnen Mitgliedstaaten. „Demokratie, soll sie nicht lediglich formales Zurechnungsprinzip bleiben, ist vom Vorhandensein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig, wie einer ständigen Hatje, in: Schwarze, Art. 17 EGV, Rz. 6 f. Für ein „Unionsvolk“ als primäres Legitimationssubjekt für das Handeln der Union und – neben den Mitgliedstaaten – für die Legitimation des Primärrechts: Schmitz, S. 217 (223 ff., 226 ff.). 425 Hatje, in: Schwarze, Art. 17 EGV, Rz. 6 f. 426 Hatje, in: Schwarze, Art. 17 EGV, Rz. 9. 423 424

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D. Demokratische Legitimation der EU bis zum Vertrag von Nizza freien Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen formt. Dazu gehört auch [ . . . ], dass der wahlberechtigte Bürger mit der Hoheitsgewalt, der er unterworfen ist, in seiner Sprache kommunizieren kann.“427 Zwar gibt es auch in föderalistischen Staaten wie beispielsweise der Schweiz oder den U.S.A.428 mehrere Sprachen, so dass unterschiedliche Sprachen alleine das Werden eines Staatsvolkes nicht notwendig hindern.429 Jedoch verfügen z. B. die Schweiz oder die U.S.A. selbstverständlich über auf Bundesebene organisierte Verbände, Medien und Parteien.

Wenn also Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG von der Europäischen Union eine Struktur als parlamentarische Demokratie verlangt, ist festzuhalten, dass die Gesamtheit der Unionsbürger (Art. 17 Abs. 1 EGV) respektive die Summe der Völker der Mitgliedstaaten (Art. 189 Abs. 1 i.V. m. Art. 19 Abs. 2 EGV) nicht gleichwertig wie die einzelnen Staatsvölker in ihren jeweiligen Mitgliedstaaten demokratische Legitimation vermitteln können.430 Deshalb können die Europäische Union und ihre Gemeinschaften im Schwerpunkt nur über die Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert sein. Diese Auslegung wird durch folgende prinzipielle Überlegung gestützt: Sieht man es als Grundsatz an, dass die Legitimation der Hoheitsgewalt eines EinheitsNationalstaates von seinem Staatsvolk herrührt und die Legitimation der Hoheitsgewalt eines Bundesstaates vom Bundesvolk und von den Ländervölkern als Teilvölkern, repräsentiert in einem Bundesorgan, dann folgt auf der „nächsten Stufe“, also für den Staatenverbund, dass dieser grundsätzlich von den in der Union zusammengeschlossenen Völkern (Art. 1 Abs. 2 EUV), also von den Staatsvölkern über die Mitgliedstaaten, demokratisch legitimiert werden muss. Ein Bundesvolk gibt es in einem Staatenverbund nicht, weshalb das „Staatenverbund-Volk“, im Falle der Union und ihrer Gemeinschaften also die Summe der Unionsbürger, keine originäre, gleichwertige demokratische Legitimation vermitteln kann. Nach alledem ist Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG im momentanen Stadium des europäischen Integrationsprozesses so auszulegen, dass die demokratische Legitimation der Europäischen Union nicht aus ihr selbst heraus, also innerhalb ihrer eigenen institutionellen Struktur bewerkstelligt werden kann, sondern ihr außerhalb ihres institutionellen Gefüges von den Mitgliedstaaten her zugeführt werden muss. 427 BVerfGE 89, S. 155 (185). Nach der Ansicht von Schmitz sind die vorrechtlichen Voraussetzungen technisch herstellbar (ders., S. 217 (223 ff.). 428 Dort hat sich das Englische nur faktisch durchgesetzt (http: // en.wikipedia.org / wiki / Languages_in_the_United_States). 429 Allerdings gibt es keinen Staat, in welchem, wie in der EU, aktuell elf verschiedene Sprachen gesprochen würden, ohne dass sich eine oder mehrere Haupt- bzw. Amtssprachen etabliert hätten. 430 A.A. (Primat der demokratischen Legitimierung durch ein Unionsvolk) Schmitz, S. 217 (225 ff.).

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(c) Nur stützende demokratische Legitimation durch Europäisches Parlament Die demokratische Binnenstruktur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften muss nach vorangehender Auslegung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG grundsätzlich derjenigen einer parlamentarischen Demokratie entsprechen. Es muss also innerhalb der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften ein Parlament als Institution existieren, das über einen ausreichenden Bestand an Entscheidungs- und Steuerungsbefugnissen verfügt. Fraglich ist, ob die Gesamtheit der Völker der Mitgliedstaaten (Art. 189 Abs. 1 EGV) – nicht in ihrer Eigenschaft als jeweils einzelne Staatsvölker der Mitgliedstaaten, in der sie über die nationalen Parlamente demokratische Legitimation vermitteln431, sondern ohne ein Dazwischentreten der Organisationsform der Mitgliedstaaten432 –, die identisch mit der Gesamtheit der Unionsbürger (Art. 17 Abs. 1 i.V. m. Art. 19 Abs. 2 EGV) ist, über das Europäische Parlament zumindest eine gewisse demokratische Legitimation vermitteln kann bzw. muss. (i) Meinungen in Literatur und Rechtsprechung Nach einer in der Literatur verbreiteten Ansicht können auch die Unionsbürger demokratische Legitimation vermitteln.433 Zwar hätten alle demokratischen Staaten westlichen Modells ein Staatsvolk als Legitimationssubjekt; daraus könne jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass demokratische Legitimation nur im Kontext herkömmlicher Nationalstaaten möglich sei.434 Die „parlamentarische Kontrolle“ sei in ihrer Eignung nicht auf den Nationalstaat beschränkt, sondern ein generelles Konzept zur Legitimation von politischer Entscheidungsmacht und sie könne auch im Rahmen staatsübergreifender europäischer Gemeinschaftsbildung Geltung beanspruchen.435 Eine „Demokratie ohne Volk“ sei auf supranationaler Ebene grundsätzlich möglich, ohne dass Abstriche am vertrauten und bewährten Legitimationskonzept erforderlich seien.436 Aus der Selbstbestimmung der Person folge, dass derjenige, der sich einer Hoheitsgewalt beugen müsse, zumindest daran beteiligt sein soll, diejenigen zu bestimmen, die über ihn Hoheitsgewalt ausüben, und zwar unabhängig davon, ob die betroffenen Personen Teil eines Staatsvolkes sind.437 BVerfGE 89, S. 155 (185 f.). Vgl. Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (742). 433 Vgl. Kluth, S. 42; Zuleeg, S. 1069 (1071); Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, S. 586 (589). Nach Tomuschat [ders., S. 489 (496)] ist es ganz unvermeidlich, dass ein Staatenverbund nach anderen Regeln und Verfahren lebe, als diejenigen, die sich in der europäischen Verfassungstradition – einer Tradition der Staatlichkeit – ausgebildet hätten. Dies würde jedoch nicht bedeuten, dass ein Staatenverbund deshalb zwangsläufig eine niedrigere demokratische Legitimation aufweisen müsse. 434 Kluth, S. 42. 435 Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, S. 586 (589). 436 Kluth, S. 43. 437 Zuleeg, S. 1069 (1071 f.). 431 432

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Auch fehle es nicht an tatsächlichen und vorrechtlichen Voraussetzungen für eine Demokratie in der Europäischen Union.438 „Der an die Staatsangehörigkeit anknüpfende Volksbegriff versagt demgegenüber als Orientierungspunkt im Bereich der suprastaatlichen Ordnung. Ohne das formale Band der Staatsangehörigkeit zerfließt das Volk in einer Vielzahl von Ordnungskriterien, die für sich allesamt nicht geeignet sind, die geschichtlich gewordene politische Wirklichkeit der heutigen Staatenwelt zu erfassen.“439

Bei den Unionsbürgern sei eine ausreichende wirtschaftliche, politische und kulturelle Homogenität gegeben. Die Bürger könnten sich in ihrer jeweiligen Sprache über die Politik der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften informieren, und auch bei den Parteien zeichne sich schon länger ein paneuropäischer Kooperationsprozess ab.440 von Bogdandy geht davon aus, dass die Union auf einer „dualen Legitimationsstruktur“ beruht (These von der gleichwertigen Doppellegitimation).441 Legitimationssubjekte seien die Gesamtheit der Unionsbürger und die über die mitgliedstaatlichen Verfassungen organisierten Völker als politische Verbände. Jarass ist der Ansicht, dass sich die Tätigkeit der Union auf die Unionsbürger zurückführen lassen müsse.442 Dies erfolge zum einen durch die direkte Legitimation über das Europäische Parlament; dazu komme die indirekte Legitimation, insbesondere über die Parlamente der Mitgliedstaaten. Schmitz führt an, dass das Europäische Parlament gemäß Art. 189 Abs. 1 EGV aus Vertretern der Völker der Mitgliedstaaten besteht.443 Die Legitimation, die es vermittelt, stammt nach seiner Ansicht deshalb aus der gleichen Quelle wie die des Rates – ausschließlich von den Staatsvölkern der Mitgliedstaaten.444 Auch aus dieser Argumentation könnte eine Gleichwertigkeit der demokratischen Legitimation durch das Europäische Parlament und durch die Staatsvölker über ihre nationalen Parlamente hergeleitet werden. Dem ist m.E. entgegenzuhalten, dass die Vermittlung der demokratischen Legitimation durch die Staatsvölker hinsichtlich des Europäischen Parlaments einerseits und des Rates andererseits unterschiedlich ist. Die Vertreter des Rates werden durch die Staatsvölker über die nationalen Parlamente445, also innerhalb der staatlichen Organisationsformen446, demokratisch legitimiert. Die demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments erfolgt jedoch nicht mittelbar über die einzelnen, in ihren Mitgliedstaaten organisierten Staatsvölker, sonKluth, S. 66. Kluth, S. 36. 440 Kluth, S. 49 ff., 61 f. 441 von Bogdandy, S. 149 (174). 442 Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 23, Rz. 8. 443 Schmitz, S. 217 (225). 444 In der politischen Praxis trete das Europäische Parlament zwar als einheitliche Vertretung aller Unionsbürger auf; dies könne jedoch nichts an dem eindeutigen „rechtlichen Befund“ ändern [Schmitz, S. 217 (225)]. 445 BVerfGE 89, S. 155 (184 f.) 446 Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (742 f.). 438 439

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dern unmittelbar durch die Gesamtheit der Völker der Mitgliedstaaten (Art. 189 Abs. 1 i.V.m. Art. 17 Abs. 1 und 19 Abs. 2 EGV) ohne eine dazwischentretende Vermittlung durch ein nationales Organ.

Nach Ansicht von Di Fabio sind die Unionsbürger neben den einzelnen Staatsvölkern der Mitgliedstaaten einer von mehreren Demen in der Mehrebenendemokratie der Europäischen Union.447 Auf der Grundlage einer zunehmenden rechtlichen Verdichtung der Unionsbürgerschaft vermittelten die Völker der Mitgliedstaaten dem Europäischen Parlament eine von der Organisationsform der Mitgliedstaaten unabhängige demokratische Legitimation, die neben das von den Mitgliedstaaten vermittelte Legitimationspotential trete. In beiden Fällen finde sich die Legitimationsquelle in den Völkern Europas, aber einmal würde sie entlang des längeren, aber erprobten Weges durch die mitgliedstaatliche Organisationsform fließen und das andere Mal entlang des kürzeren, noch neuen Weges durch einen unmittelbaren Wahlakt. Das Bundesverfassungsgericht ist der Meinung, dass durch den Vertrag von Maastricht zwischen den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten ein auf Dauer angelegtes rechtliches Band geknüpft wurde, dass zwar nicht eine der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einem Staat vergleichbare Dichte besitzt, dem bestehenden Maß existentieller Gemeinsamkeit jedoch einen rechtlich verbindlichen Ausdruck verleiht.448 Die von den Unionsbürgern ausgehende Einflussnahme könne in dem Maße in eine demokratische Legitimation der europäischen Institutionen einmünden, in dem bei den Völkern der Europäischen Union die vorrechtlichen Voraussetzungen erfüllt seien.449 Die „stützende Funktion“ des Europäischen Parlaments bei der demokratischen Legitimation der Europäischen Union könne zudem verstärkt werden, wenn das Parlament nach einem in allen Mitgliedstaaten übereinstimmenden Wahlrecht gewählt werden würde und der Einfluss des Parlaments auf die Politik und Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft wüchse.450 Auch das Bundesverfassungsgericht geht demnach davon aus, dass die Unionsbürger imstande sind, eine demokratische Legitimation in der Europäischen Union wenn schon nicht vollständig zu begründen, so doch zu ergänzen. (ii) Stellungnahme Die Unionsbürger sind als Europäer geschichtlich und als Unionsbürger wirtschaftlich und politisch verbunden. Nicht derart existentiell, wie Staatsbürger eines souveränen Staates; aber es wäre umgekehrt ebenso falsch, jede Verbundenheit der Unionsbürger untereinander abzustreiten und zu dem Ergebnis zu gelangen, sie könnten keinerlei demokratische Legitimation vermitteln. Die Unionsbürger bilden 447 448 449 450

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Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (741 f.). BVerfGE 89, S. 155 (184). BVerfGE 89, S. 155 (184 f.). BVerfGE 89, S. 155 (186).

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vielmehr eine neue Qualität eines Legitimationssubjektes. 451 Auch wenn die Völker der Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit als Unionsbürger aufgrund des „schwächeren formalen Bandes“, das sie als Unionsbürger miteinander verbindet, und der fehlenden vorrechtlichen Voraussetzungen keine gleichwertige demokratische Legitimation vermitteln können, wie diejenige, die die Staatsvölker über ihre nationalen Parlamente vermitteln452, ist die Vermittlung von Legitimation über das Europäische Parlament unmittelbarer als über die Regierungen der Mitgliedstaaten.453 Zwar kann man daraus nicht schließen, dass die durch die Unionsbürger über das Europäische Parlament vermittelte demokratische Legitimation gleichwertig oder gar höherrangig gegenüber derjenigen ist, die die Staatsvölker in ihrem Verfassungsraum über die nationalen Parlamente vermitteln. Denn hierfür fehlt es nicht nur an den vorrechtlichen Voraussetzungen, sondern auch an der Gleichheit der Wahl.454 Dies spricht auch gegen die These von der gleichwertigen Doppellegitimation und für eine nur stützende demokratische Legitimation durch das Europäische Parlament. Soweit aber von den Unionsbürgern über das Europäische Parlament nach momentanem Integrationsstand eine ergänzende demokratische Legitimation innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften selbst erfolgen kann, hat diese nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zu erfolgen. Diese Ansicht vertritt wohl auch das Bundesverfassungsgericht: Wenn das Bundesverfassungsgericht meint, dass sich die momentane stützende demokratische Funktion des Europäischen Parlaments verstärken ließe und dass die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden müssten455, dann bedeutet dies nichts anderes, als dass auch das Bundesverfassungsgericht der Ansicht ist, dass das deutsche Grundgesetz fordert, dass beim Integrationsstand zur Zeit des Inkrafttretens des Vertrages von Maastricht auch innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union eine unmittelbare demokratische Legitimation über das Europäische Parlament durch die Völker der Mitgliedstaaten nicht nur vorhanden ist, sondern von Verfassungs wegen vorhanden sein muss.

451 Ebenso, nur mit der abweichenden Schlussfolgerung, dass die demokratische Legitimation der EU und der EG deshalb primär durch das „Unionsvolk“ erfolgen müsse: Schmitz, S. 217 (223 ff.). 452 BVerfGE 89, S. 155 (186). 453 Ebenso Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (742 f.); Schmitz meint, dass die Entscheidung eines unmittelbar gewählten Parlamentes auf „höherer Legitimation“ beruhe als die der nur mittelbar auf das Volk zurückzuführenden Regierung und er sieht hierin den Grund für den Parlamentsvorbehalt für wesentliche Entscheidungen in vielen Staaten (ders., S. 217 (226). 454 Siehe unten D., III., 1., a), dd), (2). 455 BVerfGE 89, S. 155 (S. 186).

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(d) Parlamentsvorbehalt bei Mehrheitsentscheidung im Rat? Dem Europäischen Parlament kommt mithin die Funktion zu, die demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften zu stützen. In der Literatur wird die Meinung vertreten, dass diese stützende demokratische Legitimation durch das Europäische Parlament insbesondere in den Bereichen geboten sei, in welchen der Rat nicht einstimmig entscheidet.456 Als Begründung für eine solche unmittelbare Verknüpfung wird vorgetragen, dass eine demokratische Legitimation vom Staatsvolk im Falle der Entscheidung des Rates mit der Mehrheit der Stimmen nicht mehr gewährleistet sein könne. Solange der Rat einstimmig entscheide, sei eine demokratische Legitimation durch die „Hilfskonstruktion“457 der Rückkoppelung der Regierungsvertreter im Rat an die nationalen Parlamente gewährleistet.458 Mit dem Übergang von einstimmigen Entscheidungen im Rat zu solchen mit qualifizierter Mehrheit, verliere diese Hilfskonstruktion jedoch ihre Gültigkeit. Zumindest von den europäischen Staatsvölkern, die im Rat überstimmt worden seien, sei der jeweilige Rechtsakt des Rates nicht mehr demokratisch legitimiert.459 Auch die Kommission sieht im „Auseinanderfallen“ von Mehrheitsentscheidung im Rat und Mitentscheidung anscheinend ein demokratisches Defizit, wenn sie vorschlägt, dass ein Zusammenhang zwischen der Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit im Rat und der Beteiligung des Europäischen Parlaments im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens herzustellen sei.460 Ihre Forderung ist jedoch darauf begrenzt, „legislative Beschlüsse“, die mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden, mit dem Mitentscheidungsverfahren zu verknüpfen.461 Diese „Lücke“ in der demokratischen Legitimation bei Entscheidungen des Rates mit qualifizierter Mehrheit, so verkürzt die Schlussfolgerung vorgenannter Auffassungen, könne nur durch einen Gleichlauf von Mehrheitsentscheidung im Rat und Mitentscheidungsverfahren geschlossen werden, so dass die mangelnde demokratische Legitimation über die einzelstaatlichen Parlamente durch die Beteiligung des Europäischen Parlaments kompensiert würde. Eine demokratische Legitimation durch das Europäische Parlament träte – dieser Logik zur Folge – an die Stelle der demokratischen Legitimation durch diejenigen Staatsvölker, deren Regierungsvertreter im Rat überstimmt wurden.462 456 So Maurer, S. 15 (38); Pernice, S. 866 (869); Streinz, Die demokratische Legitimation der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft, S. 73 (80); Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (1134). 457 Maurer, S. 15 (19). 458 Vgl. auch Pernice, S. 866 (869). 459 Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (1134). 460 Kommission, KOM (2000) endg., Brüssel, 26. 1. 2000, S. 7. 461 KOM (2000) endg., S. 27. 462 Anzumerken ist, dass in der Fassung des Vertrages von Amsterdam im EGV in vier Fällen das Mitentscheidungsverfahren zur Anwendung kommt, obwohl der Rat einstimmig und nicht mit qualifizierter Mehrheit entscheidet (Kommission, KOM (2000) endg., S. 27).

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Dem wird nicht gefolgt. Das Europäische Parlament könnte durch seine Zustimmung zu einem Rechtsakt, bei dessen Erlass beispielsweise die deutschen Regierungsvertreter im Rat überstimmt wurden, eine solche „fehlende demokratische Legitimation“ durch das deutsche Staatsvolk gar nicht ersetzen: Denn erstens, wenn es so wäre, dass in dem Falle des Überstimmtwerdens der deutschen Ratsvertreter die demokratische Legitimation durch das deutsche Staatsvolk wegfiele, dann könnte das Europäische Parlament hierfür keine demokratische Legitimation auf gleichem Legitimationsniveau liefern, weil die Unionsbürger nicht in gleichem Maße demokratische Legitimation vermitteln können wie die Staatsvölker der Mitgliedstaaten. Und zweitens ist nicht einzusehen, wieso das Europäische Parlament gerade beispielsweise die fehlende Legitimation durch das deutsche Staatsvolk ersetzen können sollte. Denn zunächst sind es zwei verschiedene Legitimationssubjekte, nämlich die Unionsbürger bzw. die Summe der Völker der Mitgliedstaaten auf der einen Seite und das deutsche Volk auf der anderen Seite, die dem jeweiligen Parlament demokratische Legitimation vermitteln. Zudem könnten auch die deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament überstimmt werden. Da das Europäische Parlament eine fehlende demokratische Legitimation durch das deutsche Staatsvolk also nicht ersetzen könnte, muss auch für Mehrheitsentscheidungen des Rates eine durch das deutsche Staatsvolk vermittelte demokratische Legitimation bestehen. Diese folgt aus dem Zustimmungsbeschluss des deutschen Gesetzgebers zu dem völkerrechtlichen Vertrag, mit welchem staatliche Hoheitsmacht auf eine zwischenstaatliche Einrichtung übertragen wird, die nach dem Mehrheitsprinzip entscheidet.463 Aus dieser parlamentarischen Zustimmung folgt auch die demokratische Legitimation für Mehrheitsentscheidungen, die gegen den Willen der eigenen Regierung ergehen. Schließlich spricht das Argument, dass Art. 23 GG nicht nur Struktursicherungsklausel, sondern auch „Integrations(förderungs)norm“ ist, gegen einen Gleichlauf von Mehrheitsentscheidung im Rat und Mitentscheidung durch das Europäische Parlament. Denn würde Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG derart konkrete Vorgaben im Hinblick auf das „Wie“ der demokratischen Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften machen, dann wären Einigungen mit den anderen Mitgliedstaaten, insbesondere mit solchen, die bei der Gesetzgebung die Kompetenzen zwischen Regierung und Parlament aufteilen, im Hinblick auf Vertragsänderungen schwer zu erzielen. So trat beispielsweise die französische Nationalversammlung im Vorfeld von Amsterdam zwei geforderten Ausweitungen des Beteiligungsrechtes des Europäischen Parlaments entschieden entgegen, und zwar erstens hinsichtlich der Mitentscheidung bei Durchführungsbestimmungen (sog. Komitologie) und zweitens hinsichtlich des Einflusses auf die Bereiche Wirtschafts- und Währungsunion und gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.464 Und auch das britische Vgl. Kirchhof, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 11 (19); BVerfGE 89, S. 155 (184). So Streinz, Die demokratische Legitimation der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft, S. 73 (77). 463 464

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Oberhaus war gegen eine generelle Anwendung des Mitentscheidungsverfahrens in allen Fällen, in denen der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet.465 (e) Demokratische Legitimation durch nationale Parlamente Bislang wurde die „Architektur des Demokratieprinzips“466 von denjenigen, die ein Demokratiedefizit in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften beklagen, nahezu ausschließlich im innerstaatlichen Rechtskreis und mit Blick auf die Ausübung nationaler Herrschaftsgewalt betrachtet. Die Union und ihre Gemeinschaften weisen jedoch wesentliche Unterschiede zu den ihnen angehörenden Nationalstaaten auf. Deswegen können die demokratischen Organisationsmodelle der „geschlossenen Nationalstaaten“ 467 auch nicht analog auf der europäischen Ebene angewandt werden, weshalb es nicht möglich ist, die „nationalstaatlichen Denkschablonen“468 auf Europa zu übertragen. Das grundlegende Prinzip klassischer Verfassungsstaaten mit seinen staatlichen Konkretisierungen passt so nicht auf die Union und ihre Gemeinschaften.469 Auch in der Literatur wird überwiegend gesehen, dass die besondere Rechtsnatur von Europäischer Union und Europäischer Gemeinschaft bei der Findung und Festsetzung der Mindeststandards, die Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG von der Union und ihren Gemeinschaften fordert, zu berücksichtigen ist:470 Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG berücksichtige die Eigenart supranationaler Organisationen, auf die sich die Strukturprinzipien staatlichen Ursprungs nur in abgewandelter und teilweise abgeschwächter Form übertragen ließen.471 Konkreter (im Hinblick auf das „Wie“ der demokratischen Legitimation) wird eine weitere Ansicht: Wegen der Struktur der Union als einer Union der Völker Europas (Art. 1 Abs. 2 EUV) bedarf die Union zuvörderst der demokratischen Legitimation über die Staatsvölker der Mitgliedstaaten.472 Diesen Ansichten ist zu folgen. Da die Europäische Union und ihre Gemeinschaften kein Staat sind, müssen auch nicht „so strenge“ Anforderungen an ihre demokratische Legitimation gestellt werden – dies ist die Kehrseite davon, dass die Unionsbürger nicht derart zu einer Schicksalsgemeinschaft verwoben sind wie Staatsvölker.473 Die Union und ihre Gemeinschaften verfügen nicht wie ihre Mit465 Streinz, Die demokratische Legitimation der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft, S. 73 (77). 466 Brosius-Gersdorf, S. 133. 467 Vgl. Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (741). 468 Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (741). 469 Vgl. Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (741). 470 So Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 20; ebenso Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 24 ff. 471 Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 20. 472 Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 24 ff., m. w. N.; so auch: BVerfGE 89, S. 155 (184). 473 von Bogdandy meint: „Die größere private Freiheit in der Union birgt den Preis geringerer demokratischer Selbstbestimmung.“ [Ders., S. 149 (178).)

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D. Demokratische Legitimation der EU bis zum Vertrag von Nizza

glieder über eine originäre Kompetenz-Kompetenz.474 Die ihr zugewiesenen begrenzten Einzelermächtigungen wurden ihr von demokratischen Mitgliedstaaten übertragen, nur innerhalb dieses „Auftrages“ dürfen die Union und ihre Gemeinschaften tätig werden. Diese Begrenzung der Befugnis, tätig zu werden, wird durch das Subsidiaritätsprinzip noch verstärkt.475 Der Geltungsgrund der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft liegt im innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl476, der wiederum auf nationaler Ebene seine demokratische Legitimation erhält. Die Mitgliedstaaten als Herren der völkerrechtlichen Verträge477 könnten diese Verträge als ultima ratio auch durch Kündigung beenden.478 Diese Aspekte der NichtStaatlichkeit bzw. Supra- und Internationalität der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union sind bei der Auslegung von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG insofern zu berücksichtigen, als die demokratische Legitimation der Union und der Gemeinschaften nicht auf die gleiche Weise wie in einem Nationalstaat verwirklicht werden kann. Das bisherige Ergebnis war, dass Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG eine parlamentarische Demokratie als demokratischen Mindeststandard für die Struktur der Europäischen Union fordert. Dies wiederum bedeutet im Kern, dass das Parlament über einen ausreichenden Bestand an Entscheidungs- bzw. Steuerungsbefugnissen verfügen muss, also nicht ausschließlich auf unverbindliche Kontrollrechte beschränkt sein darf. Die Nicht-Staatlichkeit der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften führt nicht dazu, dass innerhalb der Strukturen der Union und ihrer Gemeinschaften ein unter den entwickelten Mindeststandards liegendes demokratisches System etabliert werden könnte. Denn dies würde Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG seinen Charakter als Struktursicherungsklausel nehmen. Sie stützt jedoch das Ergebnis der Auslegung, dass es zuvörderst die nationalen Parlamente sein müssen, welche die Ausübung der hoheitlichen Befugnisse der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften demokratisch legitimieren. Die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG weist insoweit über die Strukturen der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften, ihre innere Verfasstheit selbst hinaus und verlangt die parlamentarisch-demokratische Legitimation einer supranationalen Gemeinschaft auch und gerade außerhalb ihres institutionellen Gefüges durch die sie tragenden Mitgliedstaaten.479 Innerhalb der Struktur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften führt die Rechtsnatur dieser inter- bzw. supranationalen Organisationen zu folgendem 474 475 476

Vgl. oben D., I., 2. Vgl. oben D., I., 3. Vgl. Hillgruber, Das Verhältnis der EU und der EG zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347

(359). Vgl. oben D., I., 1. Str. Vgl. Hillgruber, Das Verhältnis der EG und der EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347(366, 369 f.). 479 Vgl. BVerfGE 89, S. 155 (184). 477 478

II. Kriterien für die demokratische Legitimation der EU

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Ergebnis: Da die Hoheitsgewalt der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften durch einen Staatenverbund ausgeübte Hoheitsgewalt ist, gründet sie auf der Ermächtigung souveräner Staaten. Im zwischenstaatlichen Bereich handeln Staaten regelmäßig durch ihre Regierungen. Daher ist dieser Bereich vorwiegend intergouvernemental geprägt, weshalb – unbeschadet der prinzipiellen Organisation als parlamentarische Demokratie – ein Organ, dass in größerem Umfang exekutiv beschickt ist – und deshalb unter Umständen indirekter legitimiert ist als ein Parlament – eine zentrale Stellung im Hinblick auf die Ausübung der Hoheitsgewalt einnehmen kann.480 Dass diese Exekutivvertreter ihrerseits der demokratischen Legitimation durch eine ununterbrochene Legitimationskette vom Wähler des jeweiligen Volkes bedürfen, ist eine Selbstverständlichkeit, die von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union erfüllt wird.481 (f) Verfassungsrechtliches Verbot der Entäußerung deutscher Staatsgewalt Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ist eine Norm des deutschen Grundgesetzes und daher vor dem Hintergrund des gesamten Grundgesetzes zu interpretieren. Deshalb ist bei der Auslegung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zu berücksichtigen, dass das Grundgesetz keine Entäußerung der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland gestattet.482 Dem Deutschen Bundestag müssen bei Kompetenzübertragungen auf die Europäische Union Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben, Art. 38 GG.483 „Im Anwendungsbereich des Art. 23 GG schließt Art. 38 GG aus, die durch die Wahl bewirkte Legitimation und Einflussnahme auf die Ausübung von Staatsgewalt durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, dass das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird“.484

Hieraus folgt, dass das Demokratieprinzip eine Generalermächtigung der Europäischen Gemeinschaft zur Rechtsetzung nicht erlaubt, da dies einer Entäußerung der deutschen Staatsgewalt gleichkäme.485 Soweit aber Kompetenzen auf einen Staatenverbund übertragen werden, muss in Folge von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG 480 Vgl. BVerfGE 89, S. 155 (186 f.). Hillgruber ist der Ansicht, dass das Demokratieprinzip gerade fordert, dass, solange die Staatsvölker über die nationalen Parlamente die demokratische Legitimation herstellen, dem Rat die zentrale Rolle bei der Ausübung der Gemeinschaftsgewalt zukommt [ders., Das Verhältnis der EG und der EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (373)]. 481 Vgl. Kluth, S. 91 mit Hinweis auf einschlägige Artikel der Verfassungen der Mitgliedstaaten. 482 BVerfGE 89, S. 155. 483 BVerfGE 89, S. 155 (186). 484 Leitsatz Nr. 1 des Maastricht-Urteils, BVerfGE 89, S. 155. 485 Hillgruber, Das Verhältnis der EG und der EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (367); vgl. auch Kirchner / Haas, S. 760 (762) und Di Fabio, Eine Europäische Charta, S. 737 (742).

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D. Demokratische Legitimation der EU bis zum Vertrag von Nizza

sichergestellt werden, dass eine vom deutschen Volk ausgehende Legitimation und Einflussnahme auch innerhalb des Staatenverbundes gesichert bleibt.486 Ein „Aufgehen“ der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften bzw. der Verlust der Souveränität durch Herabstufung zu einem Gliedstaat eines europäischen Bundesstaates ist nach der deutschen Verfassung unzulässig.487 Zutreffend wird diesbezüglich darauf hingewiesen, dass in der Präambel des Grundgesetzes stehe, dass das deutsche Volk als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa mitwirken wolle, nicht aber, dass die Bundesrepublik Deutschland in einem vereinten Europa aufgehen solle.488 Auch die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland als Gliedstaat in einem europäischen Bundesstaat ist nach dem Grundgesetz nicht zulässig.489 Das Integrationsziel „Europäische Union“ ist auf eine zwischenstaatliche bzw. supranationale Einrichtung, nicht auf einen Bundesstaat festgelegt.490 Rechtssystematisch ist Art. 23 Abs. 1 S. 1 im Lichte von Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG auszulegen, der wiederum auf die Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG verweist.491 Und „der Verlust der Völkerrechtsunmittelbarkeit, der Kompetenz-Kompetenz und der (anteiligen) ,Herrschaft‘ über die Gründungsverträge“ der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften, der „mit Einfügung der Bundesrepublik Deutschland in einen europäischen Bundesstaat verbunden wäre“, ließe sich nicht mehr mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbaren.492 Ein Eintritt in einen europäischen Bundesstaat könnte demnach nicht auf der Grundlage des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, sondern nur durch einen Akt der verfassunggebenden Gewalt des Volkes begründet werden, die durch Art. 79 Abs. 3 GG nicht normativ gebunden wird.493 Vgl. BVerfGE 89, S. 155 (184). Vgl. BVerfGE 89, S. 155 (185 ff.) sowie Di Fabio, Eine Europäische Charta, S. 737 (742); Hillgruber, Das Verhältnis der EG und der EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (367); vgl. auch Kirchner / Haas, S. 760 (762): Nach der Meinung von Kirchner / Haas soll zwar ein europäischer Einheitsstaat verfassungsrechtlich ausgeschlossen sein; Art. 23 Abs. 1 GG verwehre aber nicht die Schaffung eines europäischen Bundesstaates. Jedoch betonen auch Kirchner / Haas die Notwendigkeit vorrechtlicher Voraussetzungen für Demokratie, die bei der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften (noch) nicht vorhanden seien, weshalb sie folgern, dass eine weitere Übertragung von Kompetenzen auf die Europäische Union und ihre Gemeinschaften unzulässig sei [dieselb., S. 760 (766 ff.)]. 488 Kirchner / Haas, S. 760 (762). Zu dem Aspekt des Demokratieprinzips, der einem Aufgehen der Bundesrepublik Deutschland entgegensteht: Di Fabio, Eine Europäische Charta, S. 737 (742) und Hillgruber, Das Verhältnis der EG und der EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (367). 489 Ebenso: Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 15 f. (str.). Für die Zulässigkeit eines europäischen Bundesstaates (nicht jedoch Einheitsstaates): Kirchner / Haas, S. 760 (762) und Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 299; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 23, Rz. 6, 29. 490 Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 15 f. 491 Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 15 f., m. w. H. 492 Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 15 f. 493 Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 15 f., m. w. H. 486 487

II. Kriterien für die demokratische Legitimation der EU

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Unabhängig von der Streitfrage, ob die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich Gliedstaat eines europäischen Bundesstaates werden dürfte, bleiben die Mitgliedstaaten als souveräne Staaten im momentanen Integrationsstadium jedenfalls „unentbehrliche Legitimationsquellen“ der Gemeinschaftsgewalt, weil „die Völker Europas in ihrem jeweiligen Verfassungsraum immer noch am verlässlichsten diejenigen Artikulations- und Kontrollmöglichkeiten finden“, die eine funktionierende demokratische Willensbildung möglich machen.494 Dieses Verbot der Totalentäußerung deutscher Staatsgewalt stützt das gefundene Ergebnis. Denn wenn Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG eine dominante Stellung des Europäischen Parlaments wie in einem parlamentarischen Regierungssystem – z. B. mit Regierungskreations- und Hauptrechtsetzungsfunktion – forderte, würde hierdurch quasi ein pouvoir constituant geschaffen. Eine übermäßige Ausweitung der Kompetenzen eines direkt und unmittelbar gleich gewählten Europäischen Parlaments könnte dazu führen, dass der beim Deutschen Bundestag verbleibende Aufgabenbereich immer weiter dahinschmelzen würde.495 Es wäre mithin historisch wahrscheinlich, dass es zu einer Entäußerung deutscher Staatsgewalt käme, die das Grundgesetz nicht zulässt. Denn ein von den Unionsbürgern unmittelbar legitimiertes Parlament mit eigener Initiativ- und dominanter Rechtsetzungsbefugnis, das in eigener Sache die Kompetenzgrenzen der Einzelermächtigungen auslegt, wäre von der Tendenz her darauf angelegt, die vertraglich eingeräumten Einzelermächtigungen über ihre Grenzen hinaus zu einem allgemeinen Zugriffsrecht auszudehnen und zu vervollständigen. (g) Zwischenergebnis – Wegen des Fehlens eines europäischen Staatsvolkes und wegen des Charakters der Union und der Gemeinschaften als Staatenverbände müssen im Schwerpunkt die nationalen Parlamente die Ausübung der Herrschaftsmacht der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften demokratisch legitimieren. 494 Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (742), mit Hinweis auf BVerfGE 89, S. 155 (185 ff.) und Kirchhof, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 11 ff. 495 Hier kann eine Parallele zum preußischen Heeres- und Verfassungskonflikt von 1862 bis 1866 gezogen werden. Obwohl die Krone weiterhin Trägerin der Exekutivgewalt und aller Rechte war, die nicht ausdrücklich anderen Staatsorganen zugewiesen waren, führte die Budgethoheit des Parlaments quasi zu einem totalen Parlamentsvorbehalt im Hinblick auf alle haushaltsbelastenden Maßnahmen der Krone (vgl. Hillgruber, in: Mangoldt / Klein / Starck, Bd. III, Art. 110, Rz. 13 ff.). Das Parlament hatte somit indirekt über den Haushalt auch die Hoheit über die ihm nicht zugewiesenen Teile der Staatsgewalt, mit anderen Worten es saß verfassungsrechtlich „am längeren Hebel“ (ders., in: Mangoldt / Klein / Strack, Bd. III, Art. 110, Rz. 15) kraft seiner Vetoposition betreffend den Haushalt. Dieses System „ [ . . . ] war in der Hand eines dazu entschlossenen Parlaments sogar tendenziell dazu geeignet, das der Verfassung zu Grunde liegende monarchische Prinzip zu überwinden und zur Parlamentarisierung der Regierung zu führen“ (ders., in: von Mangoldt / Klein / Strack, Bd. III, Art. 110, Rz. 13 a.E.).

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D. Demokratische Legitimation der EU bis zum Vertrag von Nizza

– Innerhalb der Binnenstruktur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften muss eine – die demokratische Legitimation durch die nationalen Parlamente ergänzende – parlamentarische Demokratie etabliert sein. – Ein monistischer Parlamentsvorbehalt bzw. ein substantielles Übergewicht des in der Binnenstruktur von Europäischer Union und Gemeinschaften angesiedelten Parlaments trägt die Gefahr einer Entstaatlichung der Bundesrepublik Deutschland in sich und widerspricht zudem dem Charakter von Union und Gemeinschaft als inter- bzw. supranationaler Organisation.

g) Ergebnis Zusammenfassend ergibt sich folgendes Ergebnis: – Aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG folgt, dass die Europäische Union und ihre Gemeinschaften über demokratische Strukturen verfügen müssen. Dieses Gebot richtet sich – da es aus dem Grundgesetz stammt – selbstverständlich nur an die deutsche Staatsgewalt, die Herrschaftsbefugnisse auf die Europäische Union und ihre Gemeinschaften nur unter dieser Voraussetzung übertragen darf. – Aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG lassen sich durch Auslegung Konkretisierungen der geforderten demokratischen Mindeststandards ermitteln. – Im Einzelnen ergeben sich folgende Strukturanforderungen aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG:

– Die Europäische Union und ihre Gemeinschaften müssen auf dem Prinzip der Volkssouveränität gründen. – Alle Herrschaftsmacht muss durch allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahl lückenlos – wenn auch unter Umständen nur mittelbar – legitimiert sein. Als Legitimationssubjekte kommen hierbei grundsätzlich sowohl die Gesamtheit der Unionsbürger als auch die einzelnen Staatsvölker in Betracht. – Ihrer Struktur nach müssen die Europäische Union und die Gemeinschaften einer parlamentarischen Demokratie entsprechen. Das heißt, dass das Parlament innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften über einen ausreichenden Bestand an Entscheidungs- und Steuerungsbefugnissen verfügen muss, also nicht lediglich auf unverbindliche Kontrollrechte verwiesen sein darf. Andererseits kann dieses Parlament innerhalb der Binnenstruktur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften die europäische Ausübung der Herrschaftsmacht nur ergänzend demokratisch legitimieren, weshalb innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union kein monistischer Parlamentsvorbehalt bzw. kein substantielles Übergewicht des Europäischen Parlaments vorhanden sein darf. – In erster Linie muss die Ausübung der Herrschaftsmacht durch die Europäische Union und ihre Gemeinschaften über die nationalen Parlamente demokratisch legitimiert werden. Dies rührt daher, dass die Unionsbürger nicht in

III. Demokratische Legitimation der EU und der Gemeinschaften

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der gleichen Qualität demokratische Legitimation vermitteln können, wie die jeweils als Schicksalsgemeinschaft verbundenen Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten. Zudem sind die vorrechtlichen Voraussetzungen für eine Demokratie auf der Ebene der Union nicht gleichermaßen vorhanden wie innerhalb der Mitgliedstaaten.

III. Die demokratische Legitimation der EU und der Gemeinschaften Im Folgenden wird anhand einer Bestandsaufnahme die Ist-Situation der demokratischen Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften dargestellt und überprüft, ob die Union und ihre Gemeinschaften die von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG geforderten demokratischen Mindeststandards „einhält“. Es geht hier also nicht darum, heraus zu finden, ob die Union und ihre Gemeinschaften auf eine Weise demokratisch strukturiert sind, wie sie rechtspolitisch vielleicht wünschenswert erschiene, sondern allein um die Frage, ob Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG der Bundesrepublik Deutschland die Übertragung von Hoheitsrechten auf diese Europäische Union und ihren Gemeinschaften verwehrt. Mit anderen Worten: Die Frage lautet nicht, ob die Europäische Union und ihre Gemeinschaften optimal demokratisch verfasst sind, sondern ob sie undemokratisch sind, so dass es der Bundesrepublik Deutschland vom Grundgesetz untersagt wird, Hoheitsrechte auf diese inter- bzw. supranationalen Organisationen zu übertragen.

1. Die demokratische Legitimation innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften a) Organisatorisch-personelle demokratische Legitimation Die organisatorisch-personelle Legitimation besteht in einer ununterbrochenen Legitimationskette zu den mit der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben betrauten Amtswaltern.496 Mithin gilt es zu überprüfen, ob das Demokratieprinzip innerhalb der Europäischen Union verankert ist, das heißt, ob alle Herrschaftsmacht ausübenden Organe – wenn auch mittelbar – durch allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen lückenlos legitimiert sind, wobei hier als Legitimationssubjekte sowohl die Gesamtheit der Unionsbürger als auch die Staatsvölker in Betracht kommen.

496

Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 16; vgl. oben D., II., 3., f), bb), (2), (a).

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D. Demokratische Legitimation der EU bis zum Vertrag von Nizza

aa) Der Europäische Rat Der Europäische Rat besteht aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten sowie dem Präsidenten der Kommission, Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV. Seine organisatorisch-personelle Legitimation erhält der Rat also – vom Kommissionspräsidenten abgesehen (siehe hierzu unten c), Kommission) – von den Staatsvölkern. Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union werden sämtlich entweder direkt vom jeweiligen Staatsvolk gewählt (wie z. B. der Präsident der Französischen Republik) oder sie sind mittelbar legitimiert, indem sie ihrem – unmittelbar gewählten – Parlament verantwortlich sind.497 Mithin ist die demokratische Legitimation des Europäischen Rates nicht innerhalb der Binnenstruktur der Europäischen Union angelegt, sondern sie erfolgt von außerhalb durch die Nationalstaaten. Sofern in der Literatur Bedenken wegen der langen, mittelbaren Legitimationskette zu den Regierungsvertretern geäußert werden498, beziehen sich diese auf den Rat der Europäischen Union („Rat“) und nicht auf den Europäischen Rat. Denn beim Europäischen Rat handelt es sich nicht um ein „Organ“ im völkerrechtlichen Sinne. Zwar legt der Europäische Rat nach Art. 4 Abs. 1 EUV die allgemeinen politischen Zielvorstellungen für die Entwicklung der Union fest und er bestimmt nach Art. 13 Abs. 1 EUV die Grundsätze der GASP. Deshalb wird er auch als „Leitorgan“ der Europäischen Union bezeichnet. In der völkerrechtlichen Terminologie wird der Begriff „Organ“ jedoch grundsätzlich nur auf Organisationen mit eigener Rechtspersönlichkeit bezogen, die die Europäische Union nach h.M. jedoch nicht besitzt.499 Der Europäische Rat bildet somit letztlich nur die „Bündelung des politischen Willens der Mitgliedstaaten durch die Bereitstellung eines gemeinsamen Forums“500. bb) Der Rat der Europäischen Union Der Rat der Europäischen Union („Rat“, Art. 5 EUV) besteht aus je einem Minister der Regierungen der Mitgliedstaaten, der befugt ist, für die jeweilige Regierung verbindlich zu handeln (Art. 203 Abs. 1 EGV). Er entscheidet mit einfacher (Art. 205 Abs. 1 EGV) oder qualifizierter (Art. 205 Abs. 2 EGV) Mehrheit oder einstimmig (z. B. Art. 250 Abs. 1, Art. 251 Abs. 3 S. 1, 2. HS. EGV). 497 Vgl. Kluth, S. 91, mit Hinweis auf Art. 90 belgische Verfassung, § 15 dänische Verfassung, Art. 67 f. GG; Art. 20, 49, 50 französische Verfassung; Art. 84 griechische Verfassung; Art. 28 irische Verfassung; Art. 94 italienische Verfassung; Art. 82 luxemburgische Verfassung; Art. 42 Abs. 2 niederländische Verfassung; Art. 193, 198 portugiesische Verfassung; Art. 108 spanische Verfassung und weiteren Hinweisen. 498 So Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (58); Emmert, § 14, Rz. 12, § 16, Rz. 10, § 17, Rz. 27 f. 499 Vgl. Herdegen, Rz. 66. 500 Herdegen, Rz. 66. Zur „Janusköpfigkeit“ des Europäischen Rates, der seine Beschlüsse nach Art. 7 Abs. 2 WVRK als Europäischer Rat oder als Rat der Europäischen Union auf Grundlage des Gemeinschaftsrechts fassen kann vgl. Emmert, § 9, Rz. 79.

III. Demokratische Legitimation der EU und der Gemeinschaften

111

Die organisatorisch-personelle Legitimation des Rates ist mithin demokratisch von der gleichen Qualität wie diejenige des Europäischen Rates. Die Minister sind Mitglieder der jeweiligen nationalen Kabinette und diese wiederum sind demokratisch legitimiert, indem sie ihrem – unmittelbar gewählten – Parlament verantwortlich sind.501 In allen Mitgliedstaaten ist zudem eine rechtlich verbindliche Einflussnahme auf die Minister möglich, entweder durch den Regierungschef oder durch das Parlament selbst.502 An dieser „mittelbar-mittelbaren“ demokratischen Legitimation setzt die oben503 dargestellte Kritik einiger Literaturmeinungen an.504 Diese Literaturmeinungen beurteilen die demokratische Legitimation des Rates wie diejenige eines staatlichen Organes, mit anderen Worten: sie lassen die Qualität der Gemeinschaften als supranationaler Staatenbündnisse zwischen Staat und internationaler Organisation außer Betracht. Konkret ist auf die Kritik unter dem Blickwinkel des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG wie folgt zu antworten: Die fehlende Möglichkeit für das deutsche Staatsvolk, die verantwortlichen Entscheidungsträger im Rat abzuwählen, wenn der deutsche Minister im Rat überstimmt wird, folgt schon aus der Natur der Sache. Das deutsche Staatsvolk ist nur eines von vielen Staatsvölkern der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften. Durchgehende Einstimmigkeit im Rat wiederum würde die Union und ihre Gemeinschaften nicht von übrigen Organisationen, die auf einstimmigen völkerrechtlichen Verträgen gründen, unterscheiden. Weiterhin ist das Modell, eines Organs, welches mit mitgliedstaatlichen Regierungsvertretern besetzt ist, nicht nur in supranationalen Organisationen bekannt, sondern auch in Bundesstaaten, beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland. Auch der Bundesrat – nur und ausschließlich ein Organ des Bundes – verfügt nicht über eine unmittelbar vom Gesamtvolk ausgehende demokratische Legitimation, sondern stützt sich auf die in Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG vorgeschriebene Legitimation durch die Landesvölker.505 Ein weiterer Kritikpunkt im Hinblick auf die organisatorisch-personelle demokratische Legitimation des Rates ist, dass der Rat nicht absetzbar bzw. abwählbar sei, dass es also innerhalb der Union und ihrer Gemeinschaften kein responsible government gebe. In allen Mitgliedstaaten sei jedoch die Regierung dem Parlament verantwortlich.506 501 Vgl. Kluth, S. 91, mit Hinweis auf Art. 90 belgische Verfassung, § 15 dänische Verfassung, Art. 67 f. GG; Art. 20, 49, 50 französische Verfassung; Art. 84 griechische Verfassung; Art. 28 irische Verfassung; Art. 94 italienische Verfassung; Art. 82 luxemburgische Verfassung; Art. 42 Abs. 2 niederländische Verfassung; Art. 193, 198 portugiesische Verfassung; Art. 108 spanische Verfassung. 502 Vgl. Kluth, S. 82 mit Hinweisen auf die einschlägigen Verfassungsvorschriften der Mitgliedstaaten. 503 C., I., 1. 504 Unter anderem: Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (58); Emmert, § 14, Rz. 12, § 16, Rz. 10, § 17, Rz. 27 f. 505 Siehe Kluth, S. 83 f. mit Hinweis auf BVerfGE 83, 37 (53). 506 So Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133.

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D. Demokratische Legitimation der EU bis zum Vertrag von Nizza

Dies ist streng genommen keine Frage der organisatorisch-personellen demokratischen Legitimation, sondern der funktionell-institutionellen. 507 Die nationalen Regierungen sind sämtlich ihren jeweiligen Parlamenten verantwortlich. Der Rat ist als Organ, das von den Mitgliedstaaten besetzt wird, organisatorisch-personell durch die Staatsvölker der Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert. Deswegen kann nicht aufgrund der Tatsache, dass der Rat als Organ im Ganzen nicht abwählbar ist, geltend gemacht werden, es fehle insofern auf europäischer Ebene am responsible government. Nicht das Kollegialorgan Rat, wohl aber die im Rat zusammenkommenden Regierungsvertreter können sämtlich von ihren Staatsvölkern abberufen werden.508 An ähnlicher Stelle setzt die Kritik an, es stelle ein common european principle of law dar, dass es in einer Demokratie eine Opposition geben müsse.509 In allen Mitgliedstaaten habe eine Opposition die verfassungsrechtlich gesicherte Möglichkeit, die Regierungskontrolle zu erlangen respektive in die Parlamentsmehrheit einzutreten. Beim Rat als einem Organ, das von den Regierungen der Mitgliedstaaten beschickt wird, gibt es zwar auf europäischer Ebene keine Opposition. Jedoch gibt es bezüglich der Regierungen, die den Rat beschicken, jeweils eine nationalstaatliche Opposition, so dass die Konzeption des Rates als Organ nicht gegen den Grundsatz verstößt, dass es in einer Demokratie die Institution der Opposition geben muss. Dieser Grundsatz ist beim Rat nur denknotwendig anders umgesetzt. Nach alledem sind die Regierungsvertreter im Rat und somit auch der Rat als Organ selbst – wenn auch mittelbar – lückenlos demokratisch legitimiert.

cc) Die Kommission (1) Einsetzung, Abberufung und Unabhängigkeit Die Kommission besteht aus 20 Mitgliedern, wobei mindestens ein Staatsangehöriger jedes Mitgliedstaates der Kommission angehört, höchstens sind zwei Kommissionsmitglieder je Staat zulässig, Art. 213 Abs. 1 UAbs. 1, UAbs. 3 EGV. Zunächst benennen die Regierungen der Mitgliedstaaten einstimmig den Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission, Art. 214 Abs. 2 UAbs. 1 EGV.510 Die Benennung des Kandidaten für das Amt des Präsidenten der KommisVgl. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 14 f.; Classen, S. 238 (244). Die Kritik von Doehring, dass die Nicht-Abwählbarkeit des Rates gegen das Prinzip „responsible government“ verstoße (ders., Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133), könnte übrigens ebensogut gegen den Deutschen Bundesrat vorgebracht werden. Denn auch dieser besteht aus Regierungsvertretern (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GG). Und auch hier ist das Prinzip des responsible government dadurch verwirklicht, dass die jeweiligen Regierungen der Bundesstaaten den Landesvölkern verantwortlich sind. 509 Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (1135). 507 508

III. Demokratische Legitimation der EU und der Gemeinschaften

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sion bedarf der Zustimmung des Europäischen Parlaments, Art. 214 Abs. 2 UAbs. 1, 2. HS. EGV, und zwar mit der absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen, Art. 198 Abs. 1 EGV (einfache Mehrheit). Sodann benennen die Regierungen der Mitgliedstaaten und der Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten einstimmig die Kandidaten für die übrigen Kommissionsämter, Art. 214 Abs. 2 UAbs. 2 EGV. Das so gekürte Kandidatengremium bedarf wiederum der Zustimmung des Europäischen Parlaments mit einfacher Mehrheit, Art. 214 Abs. 2 UAbs. 3, S. 1 EGV. Sind die Kandidaten sämtlich benannt, so werden der Präsident der Kommission und die weiteren Kommissionsmitglieder einstimmig von den Regierungen der Mitgliedstaaten ernannt, Art. 214 Abs. 2 UAbs. 3 S. 2 EGV. Verkürzt bedeutet dies, dass für die Ernennung der Kommission ein einstimmiger Beschluss der Regierungen der Mitgliedstaaten sowie des Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten und ein Beschluss des Europäischen Parlaments mit einfacher Mehrheit erforderlich ist. Während der Amtsperiode der Kommission kann die Kommission als Ganzes, nicht jedoch einzelne Kommissionsmitglieder, durch Misstrauensvotum des Europäischen Parlaments gezwungen werden, geschlossen ihr Amt niederzulegen, Art. 201 Abs. 2 S. 1 EGV. Das Misstrauensvotum bedarf der qualifizierten Mehrheit von 2 / 3 der abgegebenen Stimmen und der Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments, Art. 201 Abs. 1 S. 1 EGV. In der Ausübung ihrer Ämter sind die Mitglieder der Kommission nicht an Weisungen durch die jeweiligen Regierungen der Mitgliedstaaten gebunden; im Gegenteil, es ist ihnen sogar untersagt, Weisungen entgegenzunehmen, Art. 213 Abs. 2 UAbs. 2 S. 1 und – spiegelbildlich – S. 3 EGV. (2) Demokratische Legitimation (a) Einsetzung Zunächst ernennen die Regierungen der Mitgliedstaaten den Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten. Dieser ist mithin lückenlos durch die Regierungen der Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert. Nach dieser Erstkür erhält zunächst der Kommissionspräsident und sodann das Kollegium Kommission als Ganzes eine zweite, stützende demokratische Legitimation durch die Zustimmung des Europäischen Parlaments, das die Kandidatenbenennung durch die nationalen Regierungen mit einfacher Mehrheit bestätigen muss. Es besteht somit ein „primärrechtlicher Zwang zum Kompromiss“ zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten auf der einen Seite und der einfachen Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments auf der anderen Seite. 510 Wörtlich heißt es in Art. 214 Abs. 2 UAbs. 1: „Die Regierungen der Mitgliedstaaten benennen im gegenseitigen Einvernehmen [ . . . ]“ Dies heißt im Ergebnis jedoch nichts anderes, als dass Einstimmigkeit erforderlich ist.

8 Tiedtke

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D. Demokratische Legitimation der EU bis zum Vertrag von Nizza

(b) Während der Amtsperiode (i) Verantwortlichkeit gegenüber dem Europäischen Parlament Nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG muss zwischen den Wählern (Staatsangehörigen bzw. Unionsbürgern) und den Herrschaftsmacht ausübenden Amtswaltern eine „ununterbrochene Legitimationskette“, also eine „Kette individueller Berufungsakte“511 bestehen.512 Ein „demokratischer Freiraum“ – auf nationaler Ebene auch „ministerialfreier Raum“ genannt – ist grundsätzlich nicht zulässig.513 Nach ihrer Einsetzung ist die Kommission gemäß dem Primärrecht unabhängig vom Vertrauen der sie mit-einsetzenden Regierungen, Art. 213 Abs. 2 UAbs. 2 S. 1 und – spiegelbildlich – S. 3 EGV.514 Sie bleibt zwar während ihrer gesamten Amtsperiode von 5 Jahren vom Vertrauen des Parlaments abhängig, so dass der demokratische „Legitimationsstrang“515 zum Parlament grundsätzlich nicht abreißt. Allerdings sind an die Abberufung der Kommission durch das Europäische Parlament (zu) hohe Voraussetzungen geknüpft: Das Mehrheitsprinzip ist fundamentaler Bestandteil des Demokratieprinzips. 516 Die Kommission ist aber nur vom Vertrauen einer Minderheit des Europäischen Parlaments abhängig.517 Wegen der erforderlichen 2 / 3-Mehrheit zur Abberufung der Kommission reicht eine Minderheit von 1 / 3 plus einer Stimme aus, um eine Abberufung der Kommission durch die Mehrheit der Abgeordneten zu verhindern. Das 2 / 3 Quorum des Art. 201 EGV ist also zu hoch, um eine ausreichende demokratische Legitimation der Kommission durch das Europäische Parlament während ihrer Amtszeit zu begründen.518

511 Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 53. 512 Siehe oben D., II., 3., f), bb), (2), (a); vgl. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 16. Dies wird z. B. in der Deutschland dadurch gewährleistet, dass die Beamtenernennungsakte allesamt auf die Minister rückführbar sind und die Minister wiederum durch den Regierungschef ernannt werden, der seinerseits dem Parlament verantwortlich ist. 513 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 24; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Art. 86, Rz. 3, mit Hinweis auf BVerfGE 9, S. 268 (282); 22, S. 106 (113 f.). 514 Emmert sieht demgegenüber auch nach der Ernennung der Kommission noch eine Abhängigkeit der Kommissare von den nationalen Regierungen (ders., a. a. O. § 9, Rz. 85). Wegen der Beschränkung der Amtszeit der Kommissare auf fünf Jahre (Art. 214 Abs. 1 EGV) seien die Kommissare einem „psychologischen Druck“ ausgesetzt, die nationalen Interessen bei wichtigen Entscheidungen „nicht völlig aus dem Blick zu verlieren“, sofern sie nach ihrer Amtszeit wiederernannt werden möchten bzw. auf eine adäquate andere Stelle spekulieren. 515 Wg. des Wortes „Legitimationsstrang“: Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 47. 516 Vgl. oben D., II., 3., f), bb), (2), (b). 517 Vgl. zu Mehrheitsprinzip in der Demokratie und Rechtfertigung der Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit: Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit, S. 459 (462 f.) und Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 53. 518 Im Ergebnis ähnlich: von Bogdandy, S. 149 (177, Fn. 113 a.E.).

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(ii) Sachliche Rechtfertigung der Unabhängigkeit der Kommission Es ist daher fraglich, ob die Kommission, die während ihrer Amtszeit keine demokratische Legitimation durch die Mehrheit der Abgeordneten des Europäischen Parlamentes erhält und deren Mitglieder für die Dauer ihrer Amtsperiode auch nicht den Regierungen der Mitgliedstaaten oder dem Rat verantwortlich sind, ausreichend im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG demokratisch legitimiert ist. Zur Auslegung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG können die Argumente des Bundesverfassungsgerichtes aus der Maastricht-Entscheidung betreffend die Europäische Zentralbank herangezogen werden.519 Danach kennt auch das Grundgesetz Modifikationen des Demokratieprinzips, durch welche ein Raum ohne parlamentarische Verantwortung entsteht.520 „Die Verselbständigung der meisten Aufgaben der Währungspolitik bei einer unabhängigen Zentralbank löst staatliche Hoheitsgewalt aus unmittelbarer staatlicher oder supranationaler parlamentarischer Verantwortlichkeit, um das Währungswesen dem Zugriff von Interessentengruppen und der an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandatsträger zu entziehen (so bereits Regierungsentwurf zum Bundesbankgesetz, BTDrucks. 2 / 2781 S. 24 f.). Diese Einschränkung der von den Wählern der Mitgliedstaaten ausgehenden demokratischen Legitimation berührt das Demokratieprinzip, ist jedoch als eine in Art. 88 Satz 2 GG vorgesehene Modifikation dieses Prinzips mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar.“521

Das Bundesverfassungsgericht beschränkt diese Rechtfertigung der Abweichung vom Demokratieprinzip ausdrücklich auf eine unabhängige Zentralbank. Auf andere Politikbereiche lasse sich diese Argumentation nicht übertragen, wobei das Bundesverfassungsgericht diese Nicht-Übertragbarkeit nicht weiter begründet.522 Fraglich ist, ob diese Rechtsprechung zumindest mit Einschränkungen auf die Kommission übertragbar ist. Es könnte argumentiert werden, dass die Kommission ihre Aufgaben als „Motor der Integration“523 und als „Hüterin des Gemeinschaftsrechts“524 gemäß Art. 211 EGV ohne ihre Unabhängigkeit von den nationalen Regierungen nicht erfüllen könnte. Wäre sie nicht nach Art. 213 Abs. 2 UAbs. 1 und 2 EGV weisungsunabhängig, so wäre die Willensbildung in der Kommission grundsätzlich die gleiche wie diejenige im Rat – nur dass die Stimmenverhältnisse anders gewichtet wären. Die Kommissionsmitglieder würden nicht vorrangig zum Siehe hierzu auch unten D., III., 1., a), ff), (1). Vgl. BVerfGE 89, S. 155 (207 – 209) zu Art. 88 S. 2 GG. Zudem bleibt es auch bei nach der Verfassung unabhängigen Organen bei einer Verantwortlichkeit gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber, der die Unabhängigkeit eines Organes jederzeit wieder rückgängig machen kann [BVerfGE 89, S. 155 (207 f.)]. 521 BVerfGE 89, S. 155 (208). 522 BVerfGE 89, S. 155 (209). 523 Emmert, § 9, Rz. 97. 524 Emmert, § 9, Rz. 101. 519 520

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Gesamtwohl der Gemeinschaft, sondern zum Wohle ihres jeweiligen Mitgliedstaates handeln. Die Unabhängigkeit der Kommissionsmitglieder von ihren jeweiligen Regierungen ist demnach grundsätzlich sachlich gerechtfertigt. Andererseits steht die Unabhängigkeit der Kommissionsmitglieder von ihren jeweiligen einzelstaatlichen Regierungen m.E. einer Verantwortlichkeit während der Amtsperiode gegenüber dem Rat der Europäischen Union oder gegenüber dem Europäischen Rat als Organ nicht entgegen. Zudem sind die Befugnisse der Kommission weitreichender als diejenigen einer Zentralbank, die „den ,strengen Kriterien des Maastrichter Vertrages und der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken hinsichtlich der Unabhängigkeit der Zentralbank und der Priorität der Geldwertstabilität‘“ entsprechen müssten.525 Das Initiativmonopol der Kommission gibt dieser nicht nur die Möglichkeit, den Rechtsetzungsprozess (vor-)entscheidend zu steuern. Ohne die Initiative der Kommission können die weiteren Rechtsetzungsorgane auch keine Änderungen von bereits erlassenen Rechtsakten vornehmen (actus contrarius). Darüber hinaus kann die Kommission durch die Rücknahme ihrer Initiative einem Rechtsetzungsprozess, der sich entgegen ihrer Erwartung entwickelt, die Grundlage entziehen, Art. 250 Abs. 2 EGV.526 Deshalb muss an die Stelle einer demokratischen Legitimation der Kommission während ihrer Amtszeit durch die Rückkoppelung an die nationalen Parlamente (zumindest) die stützende demokratische Legitimation durch das Europäische Parlament treten.527 Diese ist jedoch nicht ausreichend, weil die Kommission nur vom Vertrauen einer Minderheit des Europäischen Parlamentes abhängig ist. Auch Hillgruber geht davon aus, dass die Kommission nicht ausreichend demokratisch legitimiert ist:528 „Bei der Ausübung ihrer Zuständigkeiten unterliegt die Kommission [ . . . ] keiner wirksamen demokratischen Kontrolle – weder gegenüber den Parlamenten der Mitgliedstaaten noch gegenüber dem Europäischen Parlament, weil ihre Mitglieder bei ihrer Tätigkeit Unabhängigkeit genießen. Als ,unabhängige Verwaltung‘ ohne (hinreichende) parlamentarische Verantwortlichkeit für ihr Tun erweist sich die Kommission als demokratieresistenter Fremdkörper innerhalb der Organisationsstruktur der Europäischen Gemeinschaft.“

Andererseits war dem verfassungsändernden Gesetzgeber die demokratische Legitimation der Kommission allgemein und Art. 144 EGV des Vertrages von Maastricht (jetzt Art. 201 EGV) im Besonderen bei Verabschiedung von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG bekannt. Hätte der verfassungsändernde Gesetzgeber die demokratische Legitimation der Kommission als einen Verstoß gegen Art. 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGE 89, S. 155 (208). Emmert, § 17, Rz. 21 f.; vgl. auch Herdegen, Rz. 136 f. 527 Man könnte zwar argumentieren, dass die demokratische Legitimation der Kommission stärker wäre, wenn sie dem Rat oder den Regierungen der Mitgliedstaaten als Kollegium gegenüber personell verantwortlich wäre. Allerdings könnte dies auch zu einer stärkeren Abhängigkeit der Kommissionsmitglieder von den nationalen Regierungen führen. 528 Hillgruber, EU-Kommission auf dem Prüfstand!, in: VDI-Nachrichten v. 31. 01. 2003, S. (1) 2. 525 526

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GG angesehen, hätte er mit dem Vertrag von Maastricht einen Vertrag ratifiziert, der nicht im Einklang mit dem soeben erst – und in diesem Zusammenhang – geschaffenen Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG gestanden hätte.529 Deshalb ist davon auszugehen, dass das hinsichtlich der demokratischen Legitimation der Kommission bestehende Defizit insgesamt nicht derart ins Gewicht fällt, dass die Übertragung der Hoheitsrechte auf die Europäische Union und ihre Gemeinschaften hierdurch unwirksam würde. Das bestehende Defizit ist also ausgehend vom Integrationsstand von Maastricht – und m.E. auch noch Amsterdam, da durch diese Vertragsrevision kein wesentlicher Integrationsfortschritt erzielt wurde – mit Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG vereinbar.530 (c) Zusammenfassung Die Kommission erfährt ihre organisatorisch-personelle demokratische Legitimation bei ihrer Einsetzung durch die Regierungen der Mitgliedstaaten und damit durch die nationalen Parlamente. Während ihrer Amtszeit ist es m.E. sachlich gerechtfertigt, dass die Kommissionsmitglieder von den Regierungen der Mitgliedstaaten – und damit von den nationalen Parlamenten – unabhängig sind. An die Stelle der demokratischen Legitimation durch die Rückkoppelung an die nationalen Parlamente tritt die (stützende) demokratische Legitimation durch das Europäische Parlament, die jedoch mit dem demokratischen Grundprinzip der Mehrheitsentscheidung nicht vereinbar ist, da die Kommission nur vom Vertrauen einer Minderheit des Europäischen Parlaments abhängig ist. Dem verfassungsändernden Gesetzgeber war dieses demokratische „Defizit“ bei Verabschiedung von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG allerdings bekannt. Deswegen führt dieses im Einzelfall (hinsichtlich der Kommission) bestehende demokratische Defizit insgesamt nicht zu einer Unterschreitung der von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG geforderten demokratischen Mindeststandards.

529 Hillgruber sieht in der Unabhängigkeit der Kommission eine Einschränkung der von den Völkern der Mitgliedstaaten ausgehenden demokratischen Legitimation [ders., Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (17)]. M.E. ist die Kommission durch die konkrete Ausgestaltung ihrer demokratischen Legitimation das am „dünnsten“ demokratisch legitimierte Organ der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften. Ein Ausbau der Kommission zu einer echten Exekutive mit Machtbefugnissen, die nationalen Regierungen vergleichbar wären, wäre deshalb nach hier vertretener Auffassung nicht mit Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG vereinbar. 530 Zu der Notwendigkeit eines Ausbaus der demokratischen Legitimation der Kommission bei wesentlicher Zunahme ihrer Machtfülle („System kommunizierender Röhren“), vgl. unten E., I., 2., d).

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dd) Das Europäische Parlament (1) Die Wahl der Abgeordneten Das Europäische Parlament besteht nach dem Vertrag von Amsterdam aus 626 Abgeordneten aus den zur Zeit 15 Mitgliedstaaten.531 Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments sind Abgeordnete „der Völker“ (Art. 189 Abs. 1 EGV) der Mitgliedstaaten. Der Abgeordnetenstatus der Mitglieder des Europäischen Parlaments ist nicht einheitlich geregelt, sondern bestimmt sich nach den nationalen Gesetzen (in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Europaabgeordnetengesetz (EuAbgG) vom 6. April 1979) und dem Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaft. Gemeinsam ist den Abgeordneten die Unabhängigkeit ihres Mandats, also dass sie nur ihrem Gewissen verantwortlich sind (in der Bundesrepublik Deutschland folgt dies aus § 2 EuAbgG). Darüber hinaus genießen sie Immunität und Idemnität (in der Bundesrepublik Deutschland folgt dies aus § 5 Abs. 1 EuAbgG). Die Mandatsdauer der Abgeordneten ist an die Amtsdauer gekoppelt, beträgt also fünf Jahre, Art. 3 Abs. 2 DWA.

Die Wahlen erfolgen nach verschiedenen Wahlrechten in den jeweiligen Mitgliedstaaten, Art. 7 Abs. 2 DWA532. Auf ein gemeinsames Wahlverfahren, wie in Art. 190 Abs. 4 EGV vorgesehen, konnte man sich bislang noch nicht einigen.533 Gemeinsam ist den Wahlen zum Europäischen Parlament in den Mitgliedstaaten, mit der Ausnahme von England, Schottland und Wales534, das Prinzip des Verhältniswahlrechtes, wobei jedoch unterschiedliche Anforderungen im Hinblick auf die Teilnahme an den Wahlen und betreffend Sperrklauseln (z. B. 5 %-Hürde) bestehen. In Deutschland richtet sich das Wahlverfahren nach dem Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland vom 8. März 1994 (Europawahlgesetz – EuWG). Ein Unterschied zum Wahlrecht zum Bundestag besteht zum einen darin, dass die Abgeordneten nach reinem Verhältniswahlrecht gewählt werden, es also keine Erststimme, sondern nur eine Stimme gibt, die man einer Landesoder Bundesliste geben kann, § 2 Abs. 1 EuWG. Ein weiterer Unterschied ist, dass gemäß § 6 Abs. 3 S. 1, § 6b Abs. 2 EuWG535 nicht nur Deutsche, die ihren Wohnsitz in Deutschland unterhalten, das aktive und passive Wahlrecht bezüglich der zu wählenden 99 Abgeordneten der Bundesrepublik Deutschland ausüben können, sondern auch in Deutschland lebende Unionsbürger.

Vgl. Art. 190 Abs. 2 EGV. Beschluss und Akt des Rates zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung vom 20 September 1976, BGBl. 1977 II S. 734; in der Fassung vom 1. 2. 1993, BGBl. 1993 II S. 1243, geändert durch Beitrittsvertrag vom 24. 6. 1994, BGBl. II S. 2022, in der Fassung des Beschlusses vom 1. 1. 1995 ABl. Nr. L 1 / 1. 533 Vgl. Emmert, § 9, Rz. 30. 534 Dort ist ein Mehrheitswahlrecht vorgesehen. 535 Dies ist gemäß Art. 19 Abs. 2 S. 1 EGV auch im Primärrecht verankert. 531 532

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(2) Die Kritik der ungleichen Wahl (a) Die Mandatskontingentierung Kritisiert wird in der Literatur vor allem die Gleichheit der Wahl der Abgeordneten zum Europäischen Parlament536; hier wird auch vom „inneren Demokratiedefizit“537 in der Europäischen Union gesprochen. Hervorgerufen wird dieses innere Demokratiedefizit durch die unterschiedlichen Wahlverfahren und – vor allem – durch die Mandatskontingentierung. Der Unterschied in der Gewichtung der Wählerstimmen zwischen der Gruppe der bevölkerungsstarken und der bevölkerungsschwachen Mitgliedstaaten beträgt durchschnittlich 1 zu 2 zu Gunsten der bevölkerungsschwachen. Dies führt nicht nur zu einem unterschiedlichen Erfolgswert der Stimmen, sondern schon zu einem unterschiedlichen Zählwert bzw. einer unterschiedlichen Erfolgschance.538 Hinsichtlich des Zählwertes von Wählerstimmen dürfe es mit Rücksicht auf die Gleichheit der Wahl „ [ . . . ] angesichts der in der demokratischen Grundordnung verankerten unbedingten Gleichheit aller Staatsbürger an der Teilnahme an der Staatswillensbildung gar keine Wertungen geben [ . . . ]“539, die es zuließen, beim Zählwert der Stimmen zu differenzieren.540 Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit sei ein elementarer Ausdruck des demokratischen Prinzipes, da er die formal gleiche Herrschaftsteilhabe der Bürger sichere.541 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes betreffend die Unzulässigkeit eines unterschiedlichen Zählwertes der Stimmen542, die von denjenigen angeführt wird, die ein „inneres Demokratiedefizit“ bejahen, bezieht sich auf die Bundesrepublik Deutschland und damit auf einen Bundesstaat – und nicht auf internationale bzw. supranationale Organisationen, wie es die Europäische Union und die Europäische Gemeinschaft sind. In der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften hingegen ist es nicht nur hinzunehmen, den einzelnen Staaten eine Anzahl von Mandaten im Kontingent zuzuweisen, es ist sogar sachgerecht. Denn Träger der Herrschaftsmacht sind nicht die Unionsbürger, sondern die Staatsvölker der Mitgliedstaaten, Art. 1 Abs. 1 EUV, Art. 1 EGV. Die Unionsbürger sind zwar identisch mit der Summe der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, Art. 17 Abs. 1 S. 2 EGV. Auch ist die Unionsbürgerschaft Voraussetzung für die Aktivlegitimation zur Wahl Siehe oben C., II.; vgl. vor allem Lenz, S. 37; Emmert, § 17, Rz. 34 ff. Emmert, § 17, Rz. 34 ff. 538 Vgl. hierzu oben C., II. Die Begriffe „Zählwert“ und „Erfolgschance“ werden in der Literatur synonym verwandt. Beides bedeutet im hier verstandenen Sinne, dass schon vor Wahlbeginn feststeht, dass die Stimmen einiger Wähler mehr oder weniger zählen werden, als die anderer. (Zum Teil wird auch noch zwischen dem Gebot der des gleichen Zählwertes, der gleichen Erfolgschance und des gleichen Erfolgswertes differenziert (vgl. z. B. Lenz, S. 180).) 539 BVerfGE 1, S. 208 ff. (247 f.). 540 Vgl. C., II; Lenz, S. 37; Emmert, § 17, Rz. 34 ff. 541 BVerfGE 11, 351 (360); BVerfGE 69, 92 (106). 542 BVerfGE 1, S. 208 (247 f.). 536 537

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der Abgeordneten des Europäischen Parlaments, Art. 19 Abs. 2 S. 1 EGV. Jedoch repräsentieren die Abgeordneten des Europäischen Parlaments die „Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“543 und nicht die Unionsbürger als einheitliches „Wahlvolk“ oder „Unionsvolk“544. Die Union und die Gemeinschaft sind als inter- bzw. supranationale Organisationen ein aliud zu ihren staatlichen Mitgliedern. Deshalb kann Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG als Struktursicherungsund Integrationsnorm nicht fordern, dass das in den Mitgliedstaaten geltende Prinzip der Gleichheit der Wahl, hier im Sinne der Zählwertgleichheit der Stimmen aller Unionsbürger, kompromisslos gegenüber dem grundsätzlich in internationalen Organisationen geltenden Prinzip der formalen Staatengleichheit durchgesetzt wird545. Das Bundesverfassungsgericht entschied auf eine Verfassungsbeschwerde hin (die allerdings nicht zur Entscheidung angenommen wurde), welche sich gegen die Festsetzung der Anzahl der Sitze im Europäischen Parlament richtete, in einem Beschluss:546 „Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit wird durch die gegenwärtige Zusammensetzung des Europäischen Parlaments schon darum nicht verletzt, weil diese dem Charakter der Europäischen Union als eines Verbundes souveräner Mitgliedstaaten (vgl. Art. F Abs. 1 EUV a.F.) [in der Version des Vertrages von Amsterdam: Art. 6 Abs. 3 EUV] entspricht und mithin nicht an den Maßstäben gemessen werden kann, die nach dem Grundgesetz für die Wahl eines Parlaments in der Bundesrepublik Deutschland Geltung haben. [ . . . ] Vom Europäischen Parlament geht im derzeitigen Stadium der Integration lediglich ergänzende demokratische Abstützung der Politik der Europäischen Union aus. Die Ausübung ihrer hoheitlichen Befugnisse wird zuvörderst über die nationalen Parlamente [ . . . ] legitimiert [ . . . ]. Die Gleichheit des diese Legitimation sichernden Wahlrechts wird damit durch das Wahlrecht zu den nationalen Parlamenten gewährleistet.“

Zudem kann argumentiert werden, dass sich eine Zählwertungleichheit hinsichtlich der Wählerstimmen nur ergibt, wenn man die Unionsbürger bzw. die Völker der Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit als Wähler betrachtet, grundsätzlich jedoch nicht, wenn man die einzelnen Staatsvölker isoliert als Legitimationssubjekte ansieht (vgl. Art. 189 EGV). Denn in allen Mitgliedstaaten der EU gilt grundsätzlich, dass eine Unterteilung der Bevölkerung in Wahlkreise nur auf der Grundlage der Proportionalität der Bevölkerungsverteilung vorgenommen werden darf.547 Die Art. 189 Abs. 1, 1. HS. EGV. Schmitz, S. 217 (225, 228). 545 Dies meint wohl auch Kluth, wenn er anführt, dass „ [ . . . ] die Begünstigung der kleinen Mitgliedstaaten bei der Sitzverteilung im Parlament [ . . . ]“ damit zusammenhinge, dass diese sich nur „ausreichend“ repräsentiert fühlten, wenn ihnen ein über ihren prozentualen Bevölkerungsanteil hinausgehender Sitzanteil zukäme (ders., S. 70). Kluth führt weiter aus, dass es sich bei der von ihm sogenannten „Besetzung nach Länderproporz“ (ders., S. 69) um einen Fall der sog. vitalen mitgliedstaatlichen Interessen handele, für deren Anerkennung Art. 189 EGV eine tragfähige normative Basis liefere. 546 Beschluss vom 31. 5. 1995, Az. 2 BvR 635 / 95, abgedruckt in: EuGRZ 1995, S. 566. 543 544

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Wahlen zum Europäischen Parlament gehen bisher nach verschiedenen nationalstaatlichen Vorschriften vor sich.548 Somit wird bei den sich jeweils nach nationalem Recht bestimmenden Wahlen der Abgeordnetenkontingente des Europäischen Parlaments der Grundsatz der Zählwertgleichheit der Stimmen prinzipiell beachtet. Soweit Art. 19 Abs. 2 S. 1 EGV auch die Unionsbürger mit Wohnsitz in dem Abgeordnete entsendenden Staat für wahlberechtigt erklärt, sind es zwar nicht nur die jeweiligen Staatsangehörigen, welche die Abgeordneten des Mitgliedstaats wählen. Hier kann aber argumentiert werden, dass diese Regelung als sachgerechte Durchbrechung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahlen innerhalb der jeweiligen Mandatskontingente insofern sachgerecht ist, als heute die Unionsbürger, die in einem anderen Mitgliedstaat leben, wegen der Freizügigkeit (Art. 18 Abs. 1 EGV) innerhalb der Europäischen Union nicht mehr dazu motiviert sein werden, die Staatsangehörigkeit des jeweiligen Aufenthaltsstaates anzunehmen. Das führt dazu, dass zunehmend mehr Nichtstaatsangehörige in Mitgliedstaaten der EU ihren Wohnsitz haben werden. Zudem soll Art. 19 Abs. 2 EGV seinem Sinn und Zweck nach die Integration fördern, indem er die Identifikation der Unionsbürger mit ihrem Aufenthaltsstaat und mit der Europäischen Union dadurch fördert, dass diese an den Kommunal- und Europaparlamentswahlen teilnehmen können.

Andererseits wäre es umgekehrt nicht sachgerecht, die Europäische Gemeinschaft als supranationale Organisation genauso zu behandeln wie eine beliebige internationale Organisation und die Abgeordnetenkontingente nach dem Prinzip der formalen Staatengleichheit zu vergeben, was dazu führen würde, dass die Bundesrepublik Deutschland als bevölkerungsreichster Staat in der Europäischen Gemeinschaft genauso viele Abgeordnete entsenden würde wie Luxemburg, der bevölkerungsärmste Staat der Gemeinschaft. Bei einer isolierten Sichtweise, die nur auf die Wahlrechtsgleichheit innerhalb der jeweiligen Mandatskontingente abstellt, würde die Kritik der ungleichen Wahl seitens der Rechtsprechung549 und der Literatur550 ihrer Grundlage entbehren. Eine solche isolierte Betrachtung ist m.E. zu einseitig. Vielmehr muss bei der Beurteilung der Gleichheit der Wahlen zum Europäischen Parlament auf die Gesamtheit der Wähler abgestellt werden. Denn das Europäische Parlament wird von der Gesamtheit der Völker der Mitgliedstaaten (Art. 189 Abs. 1 i.V. m. Art. 19 Abs. 2 EGV) unmittelbar, also ohne Dazwischentreten der Organisationsform der Mitgliedstaaten, gewählt.551 Eine Wahlrechtsgleichheit im Hinblick auf die Gesamtheit der Wähler könnte bei einer auf der Staatengleichheit basierenden Mandatskontingentierung nicht einmal ansatz547 Lenz, S. 176 ff., 180, 188. Zu den Durchbrechungen hinsichtlich des Grundsatzes der Zählwertgleichheit der Stimmen im Vereinigten Königreich (Überrepräsentierung von Wales und Schottland) und in Spanien (Überrepräsentierung der ländlichen Bevölkerung): Ders., S. 181 f. 548 Beschluss des Rates und Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments vom 20. September 1976. 549 BVerfGE 89, 155 (186), Stärkung der demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments durch Einführung eines einheitlichen Wahlrechts. 550 Vgl. beispielsweise Emmert, § 17, Rz. 34 – 40 und Herdegen, Rz. 142 f. 551 Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (742 f.).

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weise verwirklicht werden. Deshalb ist im Wege praktischer Konkordanz552 ein Ausgleich zwischen dem Prinzip der Zählwertgleichheit und dem Prinzip der formalen Staatengleichheit zu finden, „solange“553 das Europäische Parlament nicht ein europäisches Volk oder „Unionsvolk“, sondern die Gesamtheit der Völker der Mitgliedstaaten in ihrer Verbundenheit als Unionsbürger repräsentiert.554 Im Hinblick auf die genaue Ausgestaltung dieses im Wege der praktischen Konkordanz zu etablierenden Wahlsystems kann Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG keine konkreten Vorgaben machen. Hier muss ein weiter Spielraum für die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge bestehen, wenn Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG seine Doppelfunktion als Struktursicherungs- und Integrationsnorm erfüllen will. Die Grenze des Gestaltungsspielraums der Mitgliedstaaten, den Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG gewährt, ist die angemessene Vertretung der Völker, wie sie auch von Art. 190 Abs. 2 S. 2 EGV gefordert wird. Wenn beispielsweise Frankreich und Österreich gleich große Mandatskontingente zugewiesen würden, wäre das französische Volk555 eindeutig unangemessen vertreten. Eine Meinung in der Literatur rechtfertigt die Mandatskontingentierung, die zu einer Überrepräsentierung der kleinen Mitgliedstaaten führt, durch einen Vergleich mit dem Minderheitenschutz in nationalen Rechtsordnungen.556 In Demokratien westlichen Formats seien Bevorzugungen von Wählergruppen auf Grund des Minderheitenschutzes bekannt. Die Minderheiten seien in den parlamentarischen Gremien – gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil – überrepräsentiert. Dies würde jedoch hingenommen, da ein Grund für diese Ungleichbehandlung darin liege, die Akzeptanz des bestehenden Systems bei möglichst vielen Wählern zu gewährleisten und damit die politische Stabilität zu erhalten. „Denn hier würde ein streng durchgeführter Stimmenproporz von den betreffenden Minderheiten nicht mehr akzeptiert werden, wohingegen bei bestehendem Minderheitenschutz sich die Mehrheit mit der geringeren Repräsentanz ihrer Stimmen zufrieden gibt. Der Grund dafür liegt darin begründet, dass die Mehrheit dennoch ihre Interessen gewahrt sieht.“557 Deswegen sei eine Interessenabwägung zwischen dem Gleichheitsgebot und dem Minderheitenschutz nötig.558 Im Rahmen dieser Interessenabwägung dürfe das Gleichheitsgebot jedoch nicht vollständig ausgehöhlt werden. Dem Gleichheitsgebot würde am stärksten Rechnung getragen, wenn grundsätzlich von der proportionalen Stimmverteilung ausgegangen würde und nur solche Abweichungen zugelassen würden, die aus Legitimationsgründen unvermeidbar seien.559 Ebenso für praktische Konkordanz, aber mit anderer Begründung: Kluth, S. 70. Wobei damit nicht gesagt werden soll, dass die Union Staatlichkeit anstreben sollte oder darin das Ziel der Integration besteht. 554 Auch für die grundsätzliche sachliche Rechtfertigung der Mandatskontingentierung aus dem Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit der Staaten und Gleichheit der Bürger: Schmitz, S. 217 (227). 555 Vgl. zu den Bevölkerungszahlen: Anhang I. 556 Suski, S. 77. 557 Suski, S. 78. 558 Suski, S. 79. 559 Zuzustimmen ist Suski (dieselb., S. 77 ff.), sofern sie sich dafür ausspricht, dass eine Interessenabwägung stattfinden müsse. Im Wege praktischer Konkordanz einen Ausgleich 552 553

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Der Unterschied in der Gewichtung der Wählerstimmen zwischen der Gruppe der bevölkerungsstarken und der bevölkerungsschwachen Mitgliedstaaten beträgt durchschnittlich 1 zu 2 zu Gunsten der bevölkerungsschwachen.560 Am stärksten ausgeprägt ist der Unterschied in der Gewichtung der Wählerstimmen naturgemäß zwischen dem Land, das die geringste Bevölkerungszahl in der Europäischen Union hat, und dem Land, mit der größten Bevölkerungszahl – also zwischen Luxemburg und der Bundesrepublik Deutschland. In etwa 73.500 Luxemburgern stehen 831.420 Deutsche je Europaparlamentarier gegenüber.561 Das entspricht einem Verhältnis von ca. 1 zu 11,3. Im Deutschen Bundesrat herrscht beispielsweise mit einem Verhältnis von 1 zu 13,71 ein noch größerer Unterschied betreffend den Quotienten aus Bevölkerungszahl je Stimme zwischen Bremen und NordrheinWestfalen.562 Würde man die Stimmen proportional je Einwohnerzahl vergeben, so müsste, damit das kleinste Land Luxemburg noch einen Abgeordneten stellen kann, ein Wahlkreis, aus dem ein Abgeordneter entsandt wird, in etwa 400.000 Einwohner haben.563 Die Bundesrepublik Deutschland müsste dann alleine 205 Abgeordnete entsenden – statt wie bislang 99. Damit wäre mit schon jetzt – vor der Osterweiterung – insgesamt 900 Parlamentariern die Arbeitsfähigkeit des Parlaments ernsthaft gefährdet. Nach alledem führt die Mandatskontingentierung, wenn man auf die Summe der Unionsbürger bzw. die Gesamtheit der Völker der Mitgliedstaaten blickt zu einer Zählwertungleichheit der Wählerstimmen. Diese ist jedoch wegen der Struktur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften als inter- bzw. supranationale Organisation sachlich gerechtfertigt. Die Wahlen zum Europaparlament sind demnach gleiche Wahlen im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG.564

zwischen dem Prinzip der formalen Staatengleichheit einerseits und der Zählwertgleichheit der Stimmen im Rahmen einer demokratischen Wahl andererseits herzustellen, stellt eine solche Interessenabwägung dar. Im Ergebnis geht es jedoch im Rahmen von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht darum, welche Interessengewichtungen konkret dem Gleichheitsgebot „am stärksten Rechnung tragen“ (vgl. dieselb., S. 79) würden, da im Rahmen von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nur Mindeststandards gesetzt werden. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG kann seinem Sinn und Zweck nach den Mitgliedstaaten als Herren der Verträge nicht schon das Ergebnis der Interessenabwägung vorwegnehmen, sondern nur die Grenzen aufzeigen, innerhalb derer die Interessenabwägung stattzufinden hat. 560 Vgl. auch Suski, S. 76. 561 Vgl. Anhang I. 562 Quelle für Einwohnerzahlen: Statistisches Bundesamt Deutschland, http: // www. destatis.de / cgi-bin / printview.pl, Stand: 16. Dezember 2002. Vgl. auch Emmert, § 17, Rz. 41. 563 Zahlen nach Emmert, § 17, Rz. 50. 564 Im Ergebnis ebenso Kluth, S. 70; Suski, S. 79; BVerfGE 89, S. 155; BVerfG, Beschluss vom 31. 5. 1995, Az. 2 BvR 635 / 95, abgedruckt in: EuGRZ 1995, S. 566.

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(b) Die unterschiedlichen Wahlsysteme Auch diejenigen Meinungen in der Literatur, die in der Mandatskontingentierung keinen Verstoß gegen das demokratische Fundamentalprinzip der Gleichheit der Wahl sehen, betrachten die unterschiedlichen Wahlverfahren565 als einen Zustand, den es „dringend abzuschaffen“ gelte.566 In diese Richtung tendiert auch das Bundesverfassungsgericht, wenn es äußert, dass sich die „stützende Funktion“, die das Europäische Parlament im Hinblick auf die demokratische Legitimation der Europäischen Union inne hat, „[ . . . ] verstärken ließe, wenn es nach einem in allen Mitgliedstaaten übereinstimmenden Wahlrecht gemäß Art. 138 Abs. 3 EGV [in der Fassung von Amsterdam: Art. 190 Abs. 4 EGV] gewählt würde [ . . . ]“.567 Die unterschiedlichen Wahlsysteme zur Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments in den Mitgliedstaaten reichen von einem fast „reinem“ Verhältniswahlrecht (Bsp.: Italien) über Verhältniswahlrecht mit Sperrklauseln (Bsp.: Bundesrepublik Deutschland, 5%-Hürde) bis hin zum relativen Mehrheitswahlrecht (Bsp.: U.K., außer Nordirland).568 Auch Kumulieren und Panaschieren, wie dies den bayerischen Bürgern von der Kommunalwahl bekannt ist, ist in einigen Wahlsystemen möglich. Erhebliche Unterschiede bestehen auch hinsichtlich der Aufstellung der Kandidaten durch die Parteien bzw. innerhalb der Wahlkreise.569 Die Disproportionalitätsquellen reichen hierbei von Sperrklauseln oder der Unterteilung des Wahlgebiets in unverbundene Wahlkreise bis hin zum unterschiedlichen Wahlalter, das von 18 bis zu 25 Jahren divergiert.

Richtig ist, dass die unterschiedlichen Wahlsysteme – betrachtet man die Unionsbürger in ihrer Gesamtheit als „Wahlvolk“ – zur Disproportionalität des Erfolgswertes der Stimmen führen. Diese Disproportionalität verstärkt das, was man in der empirischen Wahlforschung einen „Bias“ nennt, also einen Sieg der zweitstärksten Partei.570 Ein solcher Effekt ist immer dann möglich, wenn Mandate in unverbundenen Wahlkreisen vergeben werden.571

Vgl. Art. 7 Abs. 2 DWA. So z. B. Kluth, S. 70 f. 567 BVerfGE 89, S. 155 (186). 568 Siehe Hölscheidt, in: Grabitz / Hilf, Bd. II, Art. 190, Rz. 30. 569 Vgl. Emmert, § 9, Rz. 33. 570 Vgl. Lenz, S. 37. 571 So etwa auch in Deutschland: Dort bestand 1969 und 1980 ein Bias zu Gunsten der SPD, die jeweils 51% der Direktmandate gewann, obwohl CDU / CSU bei den Erststimmen – gesamt betrachtet – stärkste Parteien war. Infolge des – bis auf die Überhangmandate – vollständigen Verhältnisausgleichs hat sich dieser Bias der SPD aber nicht auf die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages ausgewirkt (vgl. Lenz, S. 37). Zu weitaus stärkeren Verschiebungen beim Erfolgswert der Stimmen kann es jedoch beim Mehrheitswahlrecht kommen. 1979 beispielsweise gewannen die britischen Konservativen 60 der 78 möglichen Sitze des Vereinigten Königreiches für das Europäische Parlament. Das sind 21 Sitze mehr, als sie bei Verhältniswahlrecht erhalten hätten (Corbett / Jacobs / Shackleton, S. 20). Die britischen Grünen beispielsweise haben 1989 14% der Stimmen erhalten, ohne einen einzigen Sitz im Europäischen Parlament zu gewinnen. 565 566

III. Demokratische Legitimation der EU und der Gemeinschaften

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Die unterschiedlichen Wahlsysteme sind jedoch nicht die Hauptursache für die Verzerrungen beim Erfolgswert der Wählerstimmen; in erheblich stärkerem Umfang wirken sich die fixen und nicht bevölkerungsproportionalen Mandatsverteilungen aus572, die schon auf der Ebene des Zählwertes zu Ungleichheiten führen. Auf der Ebene des Erfolgswertes der Stimmen sind jedoch auch in den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Ausprägungen vorhanden. Verhindert z. B. in Deutschland die 5 %-Hürde, dass beispielsweise die 4,9 % der Stimmen, die eine bestimmte Partei erhalten hat, Erfolg haben, so kann es bei einem reinen Mehrheitswahlrecht dazu kommen, dass ein Kandidat mit 30 % der Stimmen die relativ meisten Stimmen in seinem Wahlkreis erhält und 70 % der Stimmen ohne Erfolg bleiben.573 In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, dass auch bei Geltung des Mehrheitswahlrechtes jede Wählerstimme den gleichen Zählwert, also die gleiche Erfolgschance hat.574 Das demokratische Fundamentalprinzip der gleichen Wahl im Sinne des gleichen Zählwertes der Stimmen, das in allen westlichen Demokratien gilt, wird hierdurch also nicht verletzt. Dass alle Stimmen den gleichen Erfolgswert haben, ist aber schon logisch nicht möglich.575 Wenn aber schon die fixe und nicht bevölkerungsproportionale Mandatskontingentierung, die zu Verzerrungen bereits auf der Ebene des Zählwertes der Stimmen führt, nicht gegen das demokratische Strukturgebot des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG verstößt, dann kann erst recht nicht die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten intern ihre Abgeordneten nach unterschiedlichen Wahlsystemen wählen, die lediglich Auswirkungen auf der Ebene des Erfolgswertes der Stimmen haben, zu einer Verletzung des Prinzipes der Gleichheit der Wahl führen. Zudem spielen die Wahlsysteme national eine große Rolle im Hinblick auf die Verfassungstradition des jeweiligen Landes und die Akzeptanz der durch die Wahl gefundenen Regierungsmehrheit durch die Wähler. Man stelle sich vor, man würde das Mehrheitswahlrecht im klassischen Verhältniswahlrecht-Land Italien einführen oder umgekehrt das Verhältniswahlrecht im Vereinigten Königreich. Dies würde zu einer weitreichenden Veränderung der politischen Landschaft führen. Fördert doch ein Mehrheitswahlrecht ein Zweiparteiensystem, wohingegen es beim (reinen) Verhältniswahlrecht zu vielen Splitterparteien kommen kann. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, der die Wahrung demokratischer Grundprinzipien in der Union – aus deutscher Perspektive – sichern soll (und nicht demokratische Optimallösungen), könnte seine Doppelfunktion als Struktursicherungs- und Integrationsnorm kaum erfüllen, wenn er den Mitgliedstaaten vorschriebe, nach welchem konkreten Wahlrecht sie ihre Abgeordneten für das Europäische Parlament zu wählen hätten. Vgl. Lenz, S. 37. Nach dem Mehrheitswahlrecht werden beispielsweise die Abgeordneten des Europäischen Parlaments für das Vereinigte Königreich – mit Ausnahme von Nordirland – gewählt. 574 Bei anderer Ansicht müsste man ein Land, dass seine Parlamentssitze nach dem Mehrheitsprinzip vergibt, als undemokratisch bezeichnen (z. B. das Vereinigte Königreich), obwohl jede Wählerstimme grundsätzlich die gleiche Chance hat, es eine Opposition gibt, responsible government herrscht etc. (zu Abweichungen von der Zählwertgleichheit der Stimmen hinsichtlich der Überrepräsentierung von Wales und Schottland siehe Lenz, S. 182). 575 Dies folgt schon aus der Begrenzung der Parlamentssitze. 572 573

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(3) Ergebnis Nach alledem verstößt die organisatorisch-personelle demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments nicht gegen das in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG statuierte Demokratieprinzip. Die Wählerstimmen haben in den jeweiligen Mitgliedstaaten die gleiche Erfolgschance. Die sich ergebende Zählwertungleichheit bezogen auf die Gesamtheit der Unionsbürger ist durch die Natur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften als Staatenverbund sachlich gerechtfertigt. ee) Der Europäische Gerichtshof und das Gericht 1. Instanz Der Europäische Gerichtshof besteht aus 15 Richtern und wird von den Generalanwälten unterstützt, Art. 221 Abs. 1, Art. 222 Abs. 1 S. 1 EGV. Die Kandidaten für die Ämter der Richter und Generalanwälte müssen nach dem Recht der jeweiligen Mitgliedstaaten die für höchste richterliche Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen, Art. 223 Abs. 1, 1. HS. EGV. Ernannt werden sie im gegenseitigen Einvernehmen durch die Regierungen der Mitgliedstaaten. Sie werden auf sechs Jahre bestimmt, wobei alle drei Jahre jeweils acht bzw. sieben Richter ernannt werden, Art. 223 Abs. 2 EGV. Das Gericht erster Instanz ist dem Gerichtshof „beigeordnet“, Art. 225 Abs. 1 S. 1 EGV. Auch die Richter des Gerichts erster Instanz werden durch einstimmigen Beschluss der Regierungen der Mitgliedstaaten ernannt, Art. 225 Abs. 3 S. 1, 2. HS. EGV. Ihre organisatorisch-personelle demokratische Legitimation erhalten die Richter und Generalanwälte an den Gerichten der Europäischen Union demnach durch die Regierungen der Mitgliedstaaten. In der Diskussion um das Demokratiedefizit in der Europäischen Union werden der EuGH und das Gericht erster Instanz („EuG“) selten und wenn nur am Rande thematisiert. Sofern an den Gerichten der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften Kritik geübt wird, setzt diese an zwei Stellen an: Zunächst wird kritisiert, dass die Richter von einem demokratisch nicht legitimierten Organ, nämlich dem Ministerrat ernannt würden.576 Dem ist entgegen zu halten, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten – denn diese und nicht der Ministerrat ernennen die Richter – ihrerseits national demokratisch legitimiert sind, weil sie sämtlich ihren nationalen Wahlvölkern gegenüber verantwortlich sind. Sie erhalten ihre demokratisch Legitimation also über die nationalen Parlamente, die Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht nur als stützende, sondern als Hauptquelle demokratischer Legitimation ansieht. Weiterhin wird gegen den Gerichtshof eingewandt, dass es ihm an der richterlichen Unabhängigkeit fehlen könnte.577 Es sei kein Verfassungssystem bekannt, in dem die Exekutive allein die Richter ernenne, was zu der Möglichkeit der Befangenheit der Richter führen könnte. 576 577

Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (1135). Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (1135).

III. Demokratische Legitimation der EU und der Gemeinschaften

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Bei dieser Kritik geht es bei genauerer Betrachtung nicht um die organisatorisch-personelle demokratische Legitimation der Gerichte, sondern um die sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation ihrer Entscheidungen, die durch die strikte Bindung der Gerichte an das Recht erfolgt.578

Auch in der Bundesrepublik Deutschland werden die Verfassungsrichter durch Bundesverfassungsorgane gewählt, nämlich durch Bundestag [Richterwahlausschuss, § 6 Abs. 2 S. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz („BVerfGG“)] und Bundesrat (§ 7 BVerfGG), Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat – wie der EuGH – über die Verfassungsmäßigkeit der Handlungen der Organe, welche die Richter wählen, zu entscheiden, Art. 93 Abs. 1 GG. Dabei handelt es sich beim Bundesrat um ein Gremium, das seine organisatorisch-personelle demokratische Legitimation nicht vom Bundesvolk, sondern über die Länderregierungen von den Ländervölkern bezieht, Art. 51 Abs. 1 S. 1 GG. Zwar können auf Ebene des Bundes die Regierungen der Bundesländer die Bundesrichter nicht alleine579 bestimmen. Jedoch ist die Struktur der Bundesrepublik Deutschland als Bundesstaat eine andere als diejenige der Europäischen Union. Während in der Bundesrepublik das Bundesvolk und die Ländervölker (als Teilvölker) Legitimationssubjekte und Träger der Staatsgewalt sind, sind in der Europäischen Union die Mitgliedstaaten Träger der Herrschaftsgewalt. Dieser Vergleich zeigt, dass die Ernennung der Richter des EuGH dem gleichen Prinzip folgt wie die Ernennung der Richter des Bundesverfassungsgerichts. Eine Gefährdung der sachlich-inhaltlichen demokratischen Legitimation der Entscheidung des EuGH bzw. ein Verstoß der Ernennung der Richter gegen Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ist daher nicht ersichtlich. Die Ernennung der Richter des EuGH durch die Regierungen der Mitgliedstaaten ist vielmehr demokratisch geboten. Die sachlich-inhaltliche 580 demokratische Legitimation der Entscheidungen des EuGH und des EuG folgt aus der strikten Bindung der Gerichte an das Recht. Da die sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation der Entscheidungen des EuGH und des EuG aus der Bindung an das Recht folgt, wäre richterliche Rechtsfortbildung, die sich vom Primärrecht „emanzipiert“ (Stichwort: governement des juges581), nicht ausreichend demokratisch legitimiert.582

Vgl. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 14, 21; Classen, S. 238 (244). Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (1135). 580 Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 14, 21; Classen, S. 238 (244). 581 Emmert, § 12, Rz. 48. 582 Zu den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung vgl. Herdegen, Rz. 153, m. w. N., und BVerfGE 89, S. 155 (188, 210). 578 579

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ff) EZB – Weitere Institutionen der EU und der Gemeinschaften (1) EZB Die Europäische Zentralbank („EZB“) ist – neben den nationalen Zentralbanken – Teil des Europäischen Systems der Zentralbanken („ESZB“), Art. 107 Abs. 1 EGV. Beschlussorgane der EZB, die auch das ESZB leiten (Art. 105 Abs. 1 S. 1 EGV), sind das Direktorium und der EZB-Rat, Art. 112 EGV. Das Direktorium wird von den Regierungen der Mitgliedstaaten einvernehmlich – nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des EZB-Rates583 – für eine Amtszeit von acht Jahren ernannt, Art. 112 Abs. 2 UAbs. 1 Buchst. b und UAbs. 2 EGV. Das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken ist, die Preisstabilität zu gewährleisten, Art. 105 Abs. 1 S. 1 EGV. Bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ist die EZB weder gegenüber Organen der Gemeinschaft noch der Mitgliedstaaten verantwortlich, Art. 108 S. 1 EGV. Bereits oben584 wurde dargestellt, dass das Bundesverfassungsgericht die Unabhängigkeit der EZB als eine zulässige Modifikation des Demokratieprinzips des Grundgesetzes ansieht, die mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar ist.585 Dieser Ansicht wird gefolgt. Zwar ist die Ausübung staatlicher (oder supranationaler) Hoheitsmacht ohne parlamentarische Verantwortlichkeit grundsätzlich unzulässig.586 Eine Modifikation des Demokratieprinzips durch die Begründung eines ministerialoder regierungsfreien Raumes kann jedoch zulässig sein, sofern eine gesetzliche oder gewohnheitsrechtliche Grundlage und zwingende Sachgründe bestehen.587 BVerfGE 84, S. 90 (120 f.): „Art. 79 Abs. 3 GG verbietet Verfassungsänderungen, durch welche die in Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden. [ . . . ] Bei alledem verlangt Art. 79 Abs. 3 GG allerdings nur, dass die genannten Grundsätze nicht berührt werden. Er hindert den verfassungsändernden Gesetzgeber dagegen nicht, die positivrechtliche Ausprägung dieser Grundsätze aus sachgerechten Gründen zu modifizieren.“ Bereits vorher, BVerfGE 30, S. 1 (24): „Art. 79 Abs. 3 GG als Schranke für den verfassungsändernden Gesetzgeber hat den Sinn, zu verhindern, dass die geltende Verfassungsordnung in ihrer Substanz, in ihren Grundlagen [ . . . ] beseitigt [ . . . ] werden kann. Die Vorschrift verbietet also eine prinzipielle Preisgabe der dort genannten Grundsätze. Grundsätze werden als ,Grundsätze‘ von vorn583 Der EZB-Rat besteht aus dem Direktorium und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken, Art. 112 Abs. 1 EGV. 584 D., III., 1., a), cc), (2), (b), (ii). 585 BVerfGE 89, S. 155 (207 ff.); ebenso: Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Art. 88, Rz. 3; vgl. zur Vereinbarkeit der Unabhängigkeit der Bundesbank gemäß § 12 BBankG mit dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes: BVerwGE 41, S. 334 (356 ff.). 586 Vgl. oben D., II., 3., f), bb), (2), (a); Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 16. 587 Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Art. 86, Rz. 3, m. w. N. Vgl. BVerfGE 30, S. 1 (24) und 84, S. 90 (121).

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herein nicht ,berührt‘, wenn ihnen im allgemeinen Rechnung getragen wird und sie nur für eine Sonderlage entsprechend deren Eigenart aus evident sachgerechten Gründen modifiziert werden. Die Formel, jene Grundsätze dürfen ,nicht berührt‘ werden, hat also keine striktere Bedeutung als die ihr verwandte Formel in Art. 19 Abs. 2 GG, wonach in keinem Fall ein Grundrecht ,in seinem Wesensgehalt angetastet‘ werden darf.“

Die gesetzliche Grundlage für die Unabhängigkeit der EZB ist Art. 88 S. 2 GG. Die Ausübung der unabhängigen Befugnisse der EZB ist klar auf den Fall begrenzt, dass die EZB den Kriterien des Maastricht-Vertrages und der Satzung des ESZB hinsichtlich der Unabhängigkeit der Zentralbank und der Priorität der Geldwertstabilität entspricht. Der zwingende sachliche Grund für die Unabhängigkeit der EZB ist die „Sicherung des in eine Währung gesetzten Einlösungsvertrauens“588. Die Unabhängigkeit der Zentralbank trägt der „– in der deutschen Rechtsordnung erprobten und, auch aus wissenschaftlicher Sicht bewährten – Besonderheit Rechnung“589, dass eine unabhängige Zentralbank den Geldwert eher sichert als Hoheitsorgane, die ihrerseits wesentlich von Geldmenge und Geldwert abhängen und auf „die kurzfristige Zustimmung politischer Kräfte“590 angewiesen sind. (2) Weitere Institutionen der EU und der Gemeinschaften Die demokratische Legitimation des Rechnungshofes591 als weiteres Organ der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften sowie der weiteren Einrichtungen der Gemeinschaft592 wird nicht erörtert. Denn der Zweck von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ist es, lediglich das Vorhandensein demokratischer Grundstrukturen in der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften zu sichern, weshalb nur auf die demokratische Legitimation der zentralen Organe der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften eingegangen wird.

b) Parlamentarische Demokratie Wurde bereits festgestellt, dass die Organe der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG hinreichend organisatorischpersonell demokratisch legitimiert sind, geht es im Folgenden um die Frage, ob es sich bei der Union und ihren Gemeinschaften im Grundsatz um eine parlamentarische Demokratie handelt. Das heißt, das Parlament muss innerhalb des institutioBVerfGE 89, S. 155 (208). BVerfGE 89, S. 155 (208). 590 BVerfGE 89, S. 155 (208). 591 Art. 7 Abs. 1 i.V. m. Art. 246 ff. EGV. 592 Art. 7 Abs. 2 EGV: Der Wirtschafts- und Sozialausschuss (Art. 257 ff. EGV), der Ausschuss der Regionen (Art. 263 ff. EGV); Art. 8 EGV: Die Europäische Zentralbank; Art. 9 EGV: Die Europäische Investitionsbank (Art. 266 f. EGV). 588 589

9 Tiedtke

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nellen Gefüges der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften über einen ausreichenden Bestand an Entscheidungs- und Steuerungsbefugnissen verfügen, darf also nicht lediglich auf unverbindliche Kontrollrechte verwiesen sein. Andererseits darf es in der Union keinen monistischen Parlamentsvorbehalt geben.593

aa) Die parlamentarischen Rechte bei der Sekundärrechtsetzung (1) Haushaltsverfahren Im Rahmen des Haushaltsverfahren sind Kommission, Rat und Europäisches Parlament beteiligt, Art. 272 EGV. Jedes Organ stellt zunächst einen Haushaltsvorschlag für seine Ausgaben auf, Art. 272 Abs. 2 S. 1 EGV. Die Kommission stellt diese Vorschläge in einem Vorentwurf zusammen, den sie dem Rat vorlegt, Art. 272 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 EGV. Der Kommission kommt im Haushaltsverfahren also kein Initiativmonopol zu, da sie die Vorschläge der anderen Organe nicht formuliert, sondern lediglich zu einem Vorentwurf zusammenfasst. Der Rat und das Parlament können primärrechtlich von dem Vorentwurf der Kommission abweichen und einen anderen Haushaltsplan feststellen. Dabei hat das Europäische Parlament das letzte Wort, was die nicht-obligatorischen Ausgaben angeht, der Rat hat in Bezug auf die obligatorischen Ausgaben die Letztentscheidungsbefugnis, Art. 272 Abs. 3 bis 6 EGV. Unter obligatorischen Ausgaben sind diejenigen Ausgaben zu verstehen, die sich zwingend aus Vertrags- oder Sekundärrecht ergeben, Art. 272 Abs. 4 UAbs. 2 EGV.594 Bei nicht-obligatorischen Ausgaben, die mittlerweile einen Anteil von etwa 40 % des Gesamthaushaltes ausmachen595, spricht der EGV von sogenannten „Abänderungen“ durch das Parlament, bei obligatorischen Ausgaben von „Änderungsvorschlägen“, Art. 272 Abs. 4 UAbs. 2 EGV. Über die Abänderungen entscheidet das Parlament letztverbindlich nach Art. 272 Abs. 6 S. 1 EGV, wobei es den Rat mit einer qualifizierten Mehrheit, bestehend aus der absoluten Mehrheit der Stimmen seiner Mitglieder und drei Fünftel der abgegebenen Stimmen, überstimmen kann. Betreffend die obligatorischen Ausgaben kann der Rat solche Änderungsvorschläge des Europäischen Parlaments, die – vereinfacht gesagt – nicht zu einer Erhöhung des Haushalts führen, mit qualifizierter Mehrheit ablehnen, Art. 272 Abs. 5 Buchst. b, 1. Spiegelstrich EGV. Haushaltserhöhende Änderungsvorschläge sind automatisch abgelehnt, sofern sie nicht mit qualifiziertem Mehrheitsbeschluss angenommen werden, Art. 272 Abs. 5 Buchst. b, 2. Spiegelstrich EGV. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Kommission im Haushaltsverfahren den kleinsten Einflussanteil hat. Der Rat entscheidet letztverbindVgl. oben D., II., 3., g). Die Unterscheidung zwischen obligatorischen und nicht-obligatorischen Mitteln sei jedoch im Einzelfall schwierig und zweifelhaft [Götz, S. 990 (993)]. 595 Götz, S. 990 (993). 593 594

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lich über die obligatorischen Ausgaben, wobei hier inhaltlich kein Gestaltungsspielraum besteht. Im Hinblick auf die nicht-obligatorischen Ausgaben ist die Position des Parlaments im Haushaltsverfahren stärker als die des Rates. Denn das Parlament kann sich betreffend die nicht-obligatorischen Ausgaben gegen den Willen des Rates durchsetzen. Allerdings ist hierfür eine qualifizierte 3 / 5-Mehrheit notwendig, weshalb sich die (einfache) Mehrheit des Europäischen Parlaments nicht gegenüber dem Rat durchsetzen kann. Die Machtfülle des Rates schrumpft zudem zunehmend: Betrugen die nicht-obligatorischen Ausgaben zu Anfang lediglich rund 3% des Gesamthaushaltes, so sind sie bis zum Vertrag von Amsterdam auf rund 40% angewachsen.596 Im Haushalt 2002 herrscht fast Parität: Der Anteil der obligatorischen Ausgaben beträgt 98,635 Mrd. Euro, der Anteil der nicht-obligatorischen Ausgaben 95,655 Mrd. Euro.597 (2) Verfahren der Mitentscheidung Im Verfahren der Mitentscheidung steht der Kommission – wie grundsätzlich nach dem EGV – das Initiativmonopol598 zu, Art. 251 Abs. 2 UAbs. 1 EGV. Der Rat entscheidet grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit599, Art. 251 Abs. 2 UAbs. 2 EGV, das Parlament entscheidet entweder mit der einfachen Mehrheit, also der Mehrheit der abgegebenen Stimmen, Art. 251 Abs. 2 UAbs. 2 i.V.m. Art. 198 Abs. 1, Art. 251 Abs. 5 S. 1 EGV, oder mit der qualifizierten absoluten Mehrheit der Mitglieder des Parlaments bzw. der Vertreter im Vermittlungsausschuss, Art. 251 Abs. 2 UAbs. 3, Buchst. b und c, Abs. 4 S. 1 EGV. Im Verfahren der Mitentscheidung kommt der Kommission auf Grund ihres Initiativmonopols eine starke Stellung zu. Denn die Kommission bestimmt schon zu Beginn des Rechtsakterlasses, auf Grund welcher Rechtsgrundlage sie mit ihrem Vorschlag ein Rechtsetzungsverfahren einleitet. Beispiel600: Eine Richtlinie zur Regelung des Einsatzes von Schädlingsbekämpfungsmitteln in der Landwirtschaft könnte theoretisch gestützt werden auf: Götz, S. 990 (993). Am 13. Dezember 2002 von der Präsidentin des Europäisches Parlaments festgestellter Haushaltsplan [Bulletin der Europäischen Union 12 / 2002, S. 164 (165)]. 598 Vgl. Emmert, § 9, Rz. 97, Herdegen, Rz. 137. 599 Eine einstimmige Entscheidung des Rates ist nur nötig, wenn das Parlament nach der Festlegung eines gemeinsamen Standpunktes des Rates Abänderungen vornimmt und die Kommission eine ablehnende Stellungnahme abgibt, Art. 251 Abs. 3 S. 1, 2. HS. EGV. Fände sich jedoch in dem Falle, dass die Kommission eine ablehnende Stellungnahme abgegeben hat, eine qualifizierte Mehrheit im Rat für die Abänderungen des Europäischen Parlaments, so kann diese qualifizierte Mehrheit das Einstimmigkeitserfordernis dadurch umgehen, dass der Rat den Vermittlungsausschuss einberuft, Art. 251 Abs. 3 S. 2 EGV. Im Vermittlungsausschuss und bei der späteren Annahme des Entwurfes des Vermittlungsausschusses durch den Rat ist nur die qualifizierte Mehrheit im Rat bzw. der Vertreter des Rates im Vermittlungsausschuss nötig. 600 Nach Emmert, § 17, Rz. 5. 596 597

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– Art. 37 Abs. 2 EGV, wenn die Maßnahme schwerpunktmäßig als landwirtschaftliche Regelung angesehen würde. In der Folge würde der Rechtsakt im Anhörungsverfahren erlassen, das Europäische Parlament hätte also keine Mitentscheidungsbefugnis, Art. 37 Abs. 2 UAbs. 3 EGV. – Art. 175 Abs. 1 EGV, wenn die Maßnahme schwerpunktmäßig als Umweltschutzmaßnahme gesehen wird, z. B. als Grundwasserschutz. In der Folge würde der Rechtsakt im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens erlassen, das Europäische Parlament hätte also Mitentscheidungsbefugnis. – Art. 95 Abs. 1 EGV, wenn die Maßnahme schwerpunktmäßig als Harmonisierungsregelung über Chemikalien gesehen wird, die sicherstellen soll, dass rechtmäßig in einem Mitgliedstaat hergestellte Schädlingsbekämpfungsmittel in allen anderen Mitgliedstaaten vertrieben und eingesetzt werden dürfen. Auch hier käme das Mitentscheidungsverfahren zur Anwendung. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist die starke Stellung, welche die Kommission durch die Wahl der Rechtsgrundlage für den Normerlass hat, jedoch begrenzt: Die Wahl der Rechtsgrundlage „muss sich auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen“ und darf nicht allein auf der subjektiven Zielsetzung von Kommission oder Rat beruhen.601 Im Zweifel ist derjenigen Rechtsgrundlage der Vorzug zu geben, welche die stärkeren Mitentscheidungsbefugnisse des Parlaments vorsieht.602 Ex ante werden Streitigkeiten über die Wahl der Rechtsgrundlage im Rechtsetzungsverfahren selbst ausgetragen.603 Ex post entscheidet der Gerichtshof gemäß Art. 230 EGV im Rahmen der Nichtigkeitsklage.604

Während des Mitentscheidungsverfahrens können Parlament und Rat den Vorschlag der Kommission zwar verändern, Art. 251 Abs. 2 ff. EGV. Jedoch bleibt es der Kommission unbenommen, ihren Vorschlag zurückzunehmen und damit dem ganzen Verfahren die Grundlage zu entziehen, Art. 250 Abs. 2 EGV.605 Nach alledem muss jedes der drei im Mitentscheidungsverfahren beteiligten Organe dem geplanten Rechtsakt zustimmen bzw. mit anderen Worten: Jedes der drei Organe hat die Möglichkeit, den Rechtsakt zu verhindern. Trotz der Tatsache, dass gegen den Willen eines der im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens beteiligten Organe ein Rechtsakt nicht erlassen werden kann, erscheint die Kommis601 Emmert, § 17, Rz. 7, mit Hinweis auf EuGH, Urteil vom 26. März 1987, Rs. 45 / 86, Kommission gegen Rat (APS), in: Slg. 1987, S. 1493, HSVE S. 195, insbes. Rdn. 12 der Entscheidungsgründe. 602 Emmert, § 17, Rz. 7, mit Hinweis auf EuGH, Urteil vom 11. Juni 1991 in der Rs. C-300 / 89, Kommission gegen Rat (Titanoxidrichtlinie), in: Slg. 1991, S. I-2867, HSVE S. 204 und Urteil vom 7. Juli 1992 in der Rs. C-295 / 90, Parlament gegen Rat (Studentenrichtlinie), Slg. 1992, S. I-4193, HSVE S. 208. 603 Emmert, § 17, Rz. 21 f. 604 Nach Emmert bringt die Kommission seit einigen Jahren systematisch jede Norm vor den Gerichtshof, bei deren Erlass der Rat von der von ihr vorgeschlagenen Rechtsgrundlage abgewichen ist. Das Parlament klagt vor allem dann, wenn von mehreren in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen eine ausgewählt wurde, die seine Beteiligungsrechte schmälert (Emmert, § 17, Rz. 6). 605 Emmert, § 17, Rz. 21 f.

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sion durch ihr Initiativmonopol als „Herrin des Verfahrens“. Mit ihrer ausschließlichen Initiativbefugnis steuert sie den Rechtsetzungsprozess (vor-) entscheidend. Zudem kann sie dem Verfahren jederzeit durch die Zurücknahme ihrer Initiative die Grundlage entziehen, Art. 250 Abs. 2 EGV.606 Negativ ist das Fehlen eines Initiativrechts des Parlaments ein „gestaltprägendes Element“607. Zwar wird das Initiativmonopol der Kommission durch Art. 192 Abs. 2 EGV „relativiert“.608 Ob die Kommission einer Aufforderung des Europäischen Parlaments nach Art. 192 Abs. 2 EGV aber Folge leistet, steht in ihrem pflichtgemäßen Ermessen.609 Und eine Ermessensreduzierung auf eine konkrete Handlungspflicht wird nur in Ausnahmefällen bestehen.610 Deshalb ist eine „Selbstgesetzgebung“ der Unionsbürger in der Europäischen Gemeinschaft wegen der fehlenden Initiativbefugnis des Europäischen Parlaments nicht möglich.611 Die Rolle des Parlaments ist damit – selbst im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens – nicht derjenigen eines mitgliedstaatlichen Parlaments im nationalen Gesetzgebungsprozess angeglichen.612 Dies ist jedoch auch nicht erforderlich: Im Mitentscheidungsverfahren „führt kein Weg vorbei“ am Europäischen Parlament. Es verfügt hier eindeutig über einen ausreichenden Bestand an Entscheidungs- und Steuerungsbefugnissen und ist keinesfalls auf lediglich „unverbindliche“ Kontroll- oder Anhörungsrechte verwiesen. (3) Verfahren der Zusammenarbeit Das Verfahren der Zusammenarbeit wird ebenfalls auf Vorschlag der Kommission eingeleitet, Art. 252 Buchst. a EGV. Der wesentliche Unterschied zum Verfahren der Mitentscheidung ist, dass der Rat einen Rechtsakt trotz abändernden oder ablehnenden Votums des Parlaments verabschieden kann, Art. 252 Buchst. c Abs. 2 EGV, dies allerdings nur einstimmig. (4) Verfahren der obligatorischen Anhörung Das Verfahren der obligatorischen Anhörung ist nicht im zweiten Kapitel des EGV geregelt, sondern in den jeweiligen Einzelermächtigungen zum Erlass von Emmert, § 9, Rz. 97. von Bogdandy, S. 149 (177). 608 So Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (581), im Hinblick auf Art. 208 EGV, der Parallelvorschrift zu Art. 192 Abs. 2 EGV. 609 Emmert, § 9, Rz. 97; vgl. auch Götz, S. 990 (991) und Hölscheidt, in: Grabitz / Hilf, Bd. II, Art. 192, Rz. 31 ff. 610 Emmert, § 9, Rz. 97. 611 Aus Gründen der politischen Unabhängigkeit der Kommission gegen ein eigenes Initiativrecht des Parlaments: Schwarze, Ein pragmatischer Verfassungsentwurf, S. 535 (550). 612 von Bogdandy, S. 149 (177), m. w. N. von Bogdandy meint, die „ganze Ausgestaltung des Europäischen Parlaments stellt es als ein Kontrollorgan dar, das die Autonomisierung eines gubernativ-bürokratischen ,Komplexes‘ verhindern soll“. 606 607

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Rechtsakten.613 Das Parlament muss zwar angehört werden, es kann in diesem Verfahren jedoch nicht bewirken, dass der Rat einstimmig entscheiden muss, sofern er einen Rechtsakt gegen den parlamentarischen Willen verabschieden will. (5) Verfahren, bei denen eine Beteiligung des Parlaments primärrechtlich nicht vorgesehen ist Eine Reihe von Vorschriften des EGV sieht keine Beteiligung des Europäischen Parlaments vor.614 Bei diesen Maßnahmen handelt es sich jedoch nicht um Rechtsakte im Sinne von Art. 249 EGV.615 Seit der Selbstverpflichtung vom 30. 5. 1973 schlägt die Kommission die Anhörung des Parlaments zumindest bei wesentlichen Rechtsakten der Gemeinschaft vor.616 Dies führt zwar nicht zu einem institutionalisierten Recht des Parlaments auf Beteiligung;617 jedoch sind die meisten Vorschriften, die keine Beteiligung des Parlaments vorsehen, mittlerweile obsolet geworden.618

bb) Die parlamentarischen Rechte bei Vertragsänderungen Bei Vertragsänderungen (EUV, EGV, EAGV) ist das Initiativmonopol der Kommission zu Gunsten der Regierungen der Mitgliedstaaten durchbrochen. Die Kommission und die Regierungen der Mitgliedstaaten können Entwürfe für Vertragsänderungen vorlegen, Art. 48 Abs. 1 EUV. Der Rat entscheidet mit einfacher Mehrheit darüber, ob auf den Vorschlag hin eine Regierungskonferenz einberufen wird, Art. 48 Abs. 1 S. 1 EUV. Vor der Abgabe dieser Stellungnahme wird das Parlament gehört, eine Mitentscheidungsbefugnis steht ihm jedoch nicht zu. In Kraft treten die Vertragsänderungen, nachdem sie von den Mitgliedstaaten ratifiziert worden sind, Art. 48 Abs. 3 EUV. Eine stärkere Rechtsstellung als bei den Änderungen der Vertragsbestimmungen selbst hat das Parlament im Hinblick auf neue Vertragspartner: Bei Aufnahme eines neuen Mitgliedstaates in die Europäische Union und ihre Gemeinschaften ist neben einem einstimmigen Beschluss des Rates (Art. 49 Abs. 1 S. 1 EUV) und der Ratifikation eines Beitrittsabkommens zwischen dem Aufnahmekandidaten und 613 Beispiel: Art. 37 Abs. 2 UAbs. 3 EGV, der den Erlass von Rechtsakten im Bereich der Landwirtschaft regelt. 614 So z. B. Art. 14 Abs. 3, Art. 26, Art 49 Abs. 2, Art. 57 Abs. 2 EGV. 615 So betrifft Art. 14 Abs. 3 EGV Leitlinien betreffend den Binnenmarkt. Diese Leitlinien erzeugen keine rechtliche Außenwirkung. Art. 26, 49 Abs. 2 und 57 Abs. 2 EGV hingegen modifizieren den EGV. Auch ohne dass diese Maßnahmen Rechtsakte i.S.v. Art. 249 EGV sind, haben sie somit rechtsaktähnliche Wirkung. 616 Vgl. Götz, S. 990 (991). 617 Es sei denn, man ginge mittlerweile von Gewohnheitsrecht aus [Götz, S. 990 (991 a.E.)]. 618 Götz, S. 990 (991).

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allen EU-Mitgliedern (Art. 49 Abs. 2 EUV) auch die Zustimmung des Parlaments mit der qualifizierten Mehrheit seiner Mitglieder vorgeschrieben (Art. 49 Abs. 1 S. 2, 2. HS. EUV). Mithin ist auf der Ebene des Vertrags- bzw. Primärrechts der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften als Beteiligungsform des Parlaments grundsätzlich nur die Anhörung vorgesehen. Die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten bildet jedoch eine Ausnahme, die nicht zu unterschätzen ist und dem Parlament ein echtes Mitentscheidungsrecht auf der Ebene des Primärrechts selbst gibt. Es bleibt dennoch bei dem Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten die Herren der Verträge sind. Denn sie könnten Art. 49 EUV im Rahmen einer Vertragsänderung abändern, sollte das Europäische Parlament sich gegen den Willen aller Mitgliedstaaten der Aufnahme eines neuen Staates widersetzen. cc) Die parlamentarischen Rechte im Hinblick auf Evolutivklauseln und vertragsimmanente Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts (1) Evolutivklauseln Hinsichtlich bestimmter Sachgebiete enthalten die europäischen Verträge Evolutivklauseln. Dabei handelt es sich um Normen, deren Regelungsgehalt noch zu konkretisieren ist. Beispiele: – Art. 22 Abs. 2 EGV, Fortentwicklung der Unionsbürgerschaft durch weitere Rechte der Unionsbürger, – Art. 190 Abs. 4 EGV, Schaffung eines einheitlichen Wahlrechts, – Art. 269 Abs. 2 EGV, Reform des Eigenmittelsystems, – Art. 42 Satz 2 mit Art. 29 EUV, Überführung bestimmter Maßnahmen der intergouvernementalen Zusammenarbeit in den Integrationsbereich der Europäischen Gemeinschaft.

Es handelt sich in diesen Fällen um eine Fortentwicklung des Primärrechts.619 An die Stelle des für völkerrechtliche Verträge üblichen Ratifikationsverfahrens tritt ein „Verfahren mit verfassungsrechtlicher Dimension“620: Bei Evolutivklauseln ist stets eine Annahme des Rechtsaktes bzw. der Vertragsergänzung durch die Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften nötig.621 Daneben ist ein einstimmiger Beschluss des Rates erforderlich. Das Vorschlagsrecht 619 Der Rang als Primärrecht ist unstreitig (Schröder, Die Parlamente im Europäischen Entscheidungsgefüge, S. 301 (303) mit Hinweis auf Kluth, in: Callies / Ruffert, Art. 22, Rz. 6 und Waldhoff, ebenda, Art. 269, Rz. 3). 620 Hilf, in: Grabitz / Hilf, Bd. I, Art. 22, Rz. 13. 621 Vgl. Art. 22 Abs. 2, Art. 190 Abs. 4, Art. 269 Abs. 2 EGV; Art. 42 Satz 2 mit Art. 29 EUV.

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liegt bei der Kommission oder den Mitgliedstaaten, das Parlament wird grundsätzlich nur angehört. Eine Ausnahme ist insofern Art. 190 Abs. 4 EGV. Hier liegt nicht nur das Vorschlagsrecht beim Parlament, es ist zudem die positive Zustimmung des Parlaments nötig. Diese Ausnahme erklärt sich jedoch von der zu behandelnden Rechtsmaterie her, denn Art. 190 Abs. 4 EGV regelt ein einheitliches Wahlverfahren für die Wahlen zum Europäischen Parlament. Es handelt sich sozusagen um eine „überschießende Beteiligung des Parlaments auf primärrechtlicher Ebene kraft Selbstbetroffenheit“. Auch Evolutivklauseln stellen Änderungen des Primärrechts der Union und ihrer Gemeinschaften dar. Die einzig echte Mitentscheidungsbefugnis hat das Parlament auf dieser Ebene im Hinblick auf das Wahlrecht seiner Abgeordneten.622 Jedoch ist das Parlament in diesem Bereich auf die einstimmige Zustimmung sowohl des Rates als auch der Mitgliedstaaten angewiesen, Art. 190 Abs. 4 UAbs. 2 EGV, so dass seine scheinbar starke Position auf dieser Ebene dadurch eingeschränkt ist. (2) Art. 308 EGV Art. 308 EGV ermöglicht eine vertragsimmanente Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts „unterhalb“ der Vertragsänderung, also ohne die Erforderlichkeit eines ergänzenden nationalen Verfahrens.623 Im Rahmen eines Rechtsakterlasses nach Art. 308 EGV wird das Europäische Parlament nur angehört. Der Rat entscheidet einstimmig, kann jedoch nur auf Initiative der Kommission hin tätig werden. Ein Rechtsakt nach Art. 308 EGV kann also weder gegen den Willen der Kommission noch gegen den Willen eines Mitgliedstaates erlassen werden.

dd) Das Verhältnis des Parlaments zur Exekutive – die Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments (1) Die Exekutive der Union und der Gemeinschaften Allgemein wird die Kommission als die „Exekutive“ der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften bezeichnet.624 Nach den Verträgen (hier: EUV und EGV) sind klassische, typische Regierungsaufgaben im Sinne der Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten jedoch sowohl der Kommission als auch dem Rat zugewiesen. 622 Die bisherigen Entwürfe des Europäischen Parlaments für ein einheitliches Wahlverfahren (der erste vom Juni 1981) wurden vom Rat jedoch nicht angenommen (vgl. Corbett / Jacobs / Shackleton, S. 27). 623 Rossi, in: Callies / Ruffert, Art. 308, Rz. 1, 4 m. w. H.; Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 77 m. w. H.; Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 23, Rz. 22; siehe oben D., I., 2., b). 624 Vgl. Emmert, § 9, Rz. 91.

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Der Rat hat beispielsweise folgende Aufgaben, die zu den klassischen Bereichen „Bestimmung der Richtlinien der Politik“, Außenvertretung und Durchführung von Rechtsakten gehören: – Ganz allgemein die Durchführungsbefugnisse bezüglich der von ihm angenommenen Rechtsakte, sofern er diese nicht der Kommission überträgt, Art. 202, Spiegelstrich 3 EGV. – Abstimmung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, Art. 145, 1. Spiegelstrich EGV, – die Vereinbarung von Abkommen mit Drittstaaten, Art. 300 EGV625, – die Festsetzung der Alimentation von Beamten, Bediensteten und sonstigen Amtsinhabern der Gemeinschaft, Art. 210 EGV, sowie der Erlass des Beamtenstatuts und die Festlegung der Beschäftigungsbedingungen für die Bediensteten der Gemeinschaft, – Vertretung der Europäischen Union nach außen in Angelegenheiten der GASP, Art. 18 Abs. 1 EUV, – Entscheidungen im Rahmen der Außen- und Sicherheitspolitik, Art. 13 Abs. 3 EUV, – Annahme von gemeinsamen Aktionen im Bereich der GASP, Art. 14 Abs. 1 EUV. Bei der Kommission wiederum ist zunächst zwischen dem Kollegium, bestehend aus den 20 Mitgliedern, also den „Kommissaren“ und dem Präsidenten der Kommission, und der Behörde Kommission, die den administrativen Unterbau des Kollegiums darstellt, zu unterscheiden.626 Die Behörde nimmt ähnliche Exekutivaufgaben wahr, wie sie in den Mitgliedstaaten von den Ministerien wahrgenommen werden.627 Klassische Regierungsbefugnisse der Kommission sind: – Ganz allgemein die Durchführung von Rechtsakten, sofern der Rat der Kommission diese übertragen hat, Art. 202, Spiegelstrich 3 EGV. – Das Initiativrecht, Art. 250 Abs. 1 EGV, – die Außenvertretung der Gemeinschaft bei internationalen Organisationen, Art. 302 EGV, – die Überwachung der Einhaltung des Gemeinschaftsrechts, Art. 226 EGV628, – der Erlass verbindlicher Durchführungsnormen oder Einzelfallentscheidungen, z. B. Art. 85, 86 Abs. 3, 88 Abs. 2, Art. 95 Abs. 6, Art. 134 EGV, – die Verwaltung des Haushalts der Gemeinschaft, Art. 274 Abs. 1 S. 1 EGV.

Wegen der geteilten Exekutivbefugnisse von Rat und Kommission wird bei der folgenden Analyse der Kontrollinstrumente des Parlaments gegenüber der Exekutive sowohl auf die Kontrollinstrumente gegenüber der Kommission als auch auf diejenigen gegenüber dem Rat eingegangen.

625 Wobei die Kommission in diesem Verfahren die Verhandlungen führt, Art. 300 Abs. 1 S. 2 EGV. 626 Emmert, § 9, Rz. 82. 627 Emmert, § 9, Rz. 82. 628 Vgl. Art. 5 S. 1 Französische Verfassung: Dort wacht der Präsident über die Einhaltung der Verfassung.

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(2) Kontrolle von Kommission und Rat durch das Parlament (a) Personelle Verantwortlichkeit der Kommission gegenüber dem Parlament Die stärksten Kontrollbefugnisse besitzt das Parlament im Hinblick auf die Kommission, da die Kommission dem Parlament gegenüber in personeller Hinsicht verantwortlich ist. Bei der Generierung der Kommission ist das positive Zustimmungsvotum des Parlaments nötig, Art. 214 EGV. Während ihrer Amtszeit bleibt die Kommission auf Grund der Möglichkeit des Parlaments, die Kommission geschlossen zur Amtsniederlegung zu zwingen, verantwortlich, Art. 201 EGV. Allerdings ist die Kommission nicht vom Vertrauen der Mehrheit des Europäischen Parlaments abhängig, da ein Misstrauensantrag mit einer qualifizierten Mehrheit von 2 / 3 der abgegebenen Stimmen und der Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlamentes angenommen werden muss, um die Mitglieder Kommission zur Niederlegung ihrer Ämter zu zwingen, Art. 201 Abs. 2 S. 1 EGV. Diese (wegen des Erfordernisses einer qualifizierten Mehrheit eingeschränkte) personelle Verantwortlichkeit der Kommission gegenüber dem Europäischen Parlament wird ergänzt bzw. ausgefüllt durch: – Das Interpellationsrecht

Die Kommission ist verpflichtet, gegenüber dem Parlament und seinen Abgeordneten Rechenschaft abzulegen, Art. 197 Abs. 3 EGV. – Die Gesamtberichtsdebatte

Die Kommission ist verpflichtet, dem Europäischen Parlament einen Gesamtbericht vorzulegen, Art. 200 EGV. Dieser Bericht wird vom Parlament in öffentlicher Debatte erörtert. – Die Entlastungsbefugnis

Das Parlament entlastet die Kommission für die Ausführung des Gesamthaushaltsplanes, Art. 276 Abs. 1 EGV. (b) Kontrollrechte gegenüber dem Rat Gegenüber dem Rat hat das Europäische Parlament grundsätzlich keine speziellen Kontrollrechte, sieht man von Angelegenheiten der GASP und der PJZS ab (dort insbesondere Art. 21 und 39 EUV). Wegen der unterschiedlichen „Schärfe“ der Kontrollinstrumente gegenüber dem Rat im Vergleich zur Kommission besteht im Hinblick auf die Kontrolleffizienz ein „erhebliches Gefälle“629.

629 Läufer, in: Grabitz / Hilf, Bd. I, Stand der Ergänzungslieferung: 1995, Art. 137 EGV, Rz. 37.

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(c) Sonstige Kontrollbefugnisse gegenüber Kommission und Rat Das Europäische Parlament kann einen nicht-ständigen Untersuchungsausschuss einsetzen, der Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht oder Missstände bei der Anwendung desselben prüft, Art. 193 EGV. Zudem kann das Europäische Parlament zur Achtung seiner Kompetenzen gegen Kommission und Rat mit der Nichtigkeitsund der Untätigkeitsklage vorgehen, Art. 230 und 232 EGV.630 (3) Zwischenergebnis In der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften sind die Exekutivbefugnisse aufgeteilt zwischen Rat und Kommission. Gegenüber dem Rat hat das Europäische Parlament keine besonderen Kontrollbefugnisse jenseits der Beteiligung an der Rechtsetzung, der Möglichkeit, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen und der Nichtigkeits- oder Untätigkeitsklage. Diese prinzipielle Nicht-Kontrollkompetenz gegenüber dem Rat folgt aus der Natur der Sache: Der Rat besteht aus Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten. Diese sind ihren nationalen Parlamenten verantwortlich (und schon deswegen ausreichend demokratisch legitimiert). Eine personelle Verantwortlichkeit der Regierungsvertreter im Rat gegenüber dem Europäischen Parlament wäre widersinnig, weil das Europäische Parlament nicht über die Zusammensetzung der nationalen Regierungen entscheiden kann. Betrachtet man die Kompetenzen des Europäischen Parlaments hinsichtlich der Einsetzung der Kommission, so ist die Stellung des Europäischen Parlaments teilweise der Stellung von nationalen Parlamenten in einem parlamentarischen Regierungssystem angenähert.631 Die französische Nationalversammlung hat beispielsweise nicht die Möglichkeit, den Premierminister einzusetzen. Dieser wird gemäß Art. 8 Abs. 1 der französischen Verfassung („CF“) vom Präsidenten ernannt. Allerdings folgt die parlamentarische Abhängigkeit des französischen Premierministers aus dem Institut des Misstrauensantrags (Art. 49 CF) in Verbindung mit der Rücktrittspflicht (Art. 50 CF). Das von Art. 201 Abs. 2 S. 1 EGV für einen Misstrauensantrag gegen die Kommission geforderte 2 / 3-Quorum ist aber zu hoch für die Begründung eines parlamentarischen Regierungsmodells, da die Kommission nur vom Vertrauen einer Minderheit des Europäischen Parlaments abhängig ist.632 Das Europäische Parlament ist andererseits – ganz abgesehen von seinen Rechtsetzungskompetenzen – aber auch nicht auf „lediglich unverbindliche Kontrollrechte“ beschränkt, sondern hat die Möglichkeit, das Exekutivorgan Kommission mit-einzusetzen und – wenn auch mit qualifizierter Mehrheit – abzuberufen. Die Kontrollrechte gegenüber der Kommission werden durch das Interpellations630 Zur Stellung des Europäischen Parlaments in den Rechtsschutzverfahren siehe unten D., III., 1., b), gg). 631 Vgl. von Bogdandy, S. 149 (177). 632 Ebenso von Bogdandy, S. 149 (177, Fn. 113 a.E.).

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recht, die Gesamtberichtsdebatte und die Entlastungsbefugnis ergänzt bzw. verstärkt. Da die Befugnisse des Parlaments insoweit denjenigen in einem parlamentarischen Regierungssystem zumindest angenähert sind, wird die Forderung von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, dass innerhalb der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften eine parlamentarische Demokratie – aber kein parlamentarisches Regierungssystem – zu etablieren ist, hinsichtlich der Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments erfüllt.

ee) Die Stellung des Parlaments in den Rechtsschutzverfahren Das Europäische Parlament hat neben der Befugnis, die Kommission (mit-)einund abzusetzen sowie der Beteiligung am Rechtsetzungsprozess die Möglichkeit, seine Kompetenzen gegenüber den weiteren Organen der Union und ihrer Gemeinschaften mit der Nichtigkeits- und der Untätigkeitsklage zu wahren, wenn auch die Rechte des Parlaments gegenüber denjenigen von Rat und Kommission, die im Rahmen der Nichtigkeitsklage privilegiert klagebefugt sind, weil sie ohne ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis Nichtigkeitsklage erheben können (Art. 230 Abs. 2 EGV), kupiert sind. ff) Zusammenfassung Sieht man die Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments am Rechtsetzungsverfahren in ihrer Gesamtheit, die Kontrolldichte, die vor allem gegenüber der Kommission besteht, sowie die Möglichkeit, die Rechte effektiv in einem rechtsstaatlichen, gerichtsförmig ausgestalteten Verfahren vor dem EuGH durchzusetzen, dann ist das Parlament nach alledem keineswegs auf unverbindliche Anhörungs-, Mitsprache- und Kontrollrechte verwiesen. Zwar fehlt ihm die typischerweise einem Parlament zustehende Initiativbefugnis.633 Trotzdem ist das Europäische Parlament in erheblichem Umfang an der Rechtsetzung beteiligt. Im Mitentscheidungsverfahren führt kein Weg an der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments vorbei. Die Kritik, das Demokratieprinzip sei durch das institutionelle Gefüge der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften dadurch verletzt, dass das Parlament nicht gleichwertig an der Rechtsetzung beteiligt sei, sondern eine untergeordnete Rolle gegenüber dem Rat einnehme und dass das Mitentscheidungsverfahren nur einen kleinen Teil derjenigen Sachbereiche abdecke, die beispielsweise nach deutschem oder französischem Recht dem Parlamentsvorbehalt unterlägen634, ist daher unzutreffend. Sie ist schon deswegen unzutreffend, weil sie sich zu sehr an den Prüfungsmaßstab anlehnt, der nach den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten an Nationalstaaten anzulegen wäre – und dieser Prüfungsmaßstab kann nicht der des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG sein. Zudem sind die Rechte des 633 634

Vgl. von Bogdandy, S. 149 (177). Vgl. statt vieler Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (55).

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Parlaments teilweise ausgeprägter als die nationaler Parlamente: Die Rechtsposition des Europäischen Parlaments ist beispielsweise im Hinblick auf die Feststellung des Haushaltsplanes betreffend die nicht-obligatorischen Ausgaben und deren Anteil am Gesamthaushalt stärker als diejenige des französischen Parlaments.635 Und niemand würde ernsthaft bestreiten, dass das französische Parlament ein echtes Parlament ist.636 Darüber hinaus macht das Mitentscheidungsverfahren keineswegs den geringsten Anteil der Rechtsetzungstätigkeit der Gemeinschaft aus. So meint etwa Bleckmann, dass auch nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam die Mitentscheidung des Parlaments zu den Rechtsakten des Rats nicht die Regel, sondern die Ausnahme sei.637 Zur Begründung seiner These knüpft er nicht daran an, bei wie vielen Rechtsakten das Parlament tatsächlich im Wege der Mitentscheidung beteiligt ist, sondern daran, in wie vielen Artikeln des EGV das Mitentscheidungsverfahren vorgesehen ist. Lediglich in 19 Artikeln sei auf das Mitentscheidungsverfahren verwiesen. In 14 Artikeln werde nur eine Anhörung des Parlaments verlangt, 15 Artikel würden das Parlament überhaupt nicht erwähnen. Dies gelte insbesondere für die besonders umfangreichen und häufig bemühten Generalklauseln der Art. 94 und 308 EGV. Tatsächlich war das Parlament beispielsweise 1997 in 70 % der Rechtsetzungsakte im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens an der Rechtsetzung beteiligt.638 Zudem kennen auch andere Mitgliedstaaten eine enumerative Aufteilung von Gesetzgebungsbefugnissen zwischen Exekutivorganen und Parlament, wie beispielsweise Portugal und Frankreich.639 Die Einsetzung der Kommission als Teil der Exekutive der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften bedarf der Zustimmung des Europäischen Parlaments. Die Kommission ist zwar während ihrer Amtszeit nicht vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit abhängig. Jedoch hat eine 2 / 3-Mehrheit des Europäischen Parlaments die Möglichkeit, die Kommission abzuberufen. Die Kritik, dass der Kommissionspräsident nicht vom Europäischen Parlament gewählt wird, berücksichtigt schon nicht ausreichend die Verfassungsrechtslage in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Nur in Deutschland und Spanien werden die Regierungschefs direkt vom Parlament gewählt; in allen anderen Ländern werden die Regierungsmitglieder von Präsident oder König ernannt.640 Vgl. Art. 34, 39 und 40 französische Verfassung. Corbett / Jacobs / Shackleton, S. 7. 637 Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip, S. 53 (55). 638 Europäisches Parlament, Institutioneller Ausschuss, Sitzungsdokument, Bericht über den Vertrag von Amsterdam, Brüssel, 5. November 1997. 639 Vgl. Art. 37 i.V. m. Art. 21 französische Verfassung; Kluth, S. 92. Auch die Schweiz weist dem Bundesrat (also der schweizerischen Bundesregierung) Rechtsetzungskompetenzen zu, Art. 182 S. 1 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Vgl. auch § 3 dänische Verfassung; Art. 26 griechische Verfassung; Art. 34 und 46 luxemburgische Verfassung; Art. 81 niederländische Verfassung. 635 636

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Hinsichtlich des Rates wäre auch bei Anlegen eines für Staatlichkeit geltenden Prüfungsmaßstabes an die demokratische Struktur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaft eine personelle Verantwortlichkeit gegenüber dem Europäischen Parlament nicht denkbar. Denn auf die Ebene eines Bundesstaates, wie z. B. der Bundesrepublik Deutschland, projiziert, würde dies bedeuten, dass die Mitglieder des Bundesrates dem deutschen Bundestag personell verantwortlich sein müssten. Dadurch aber würde die Bundesrepublik Deutschland ihre föderalistische Struktur (zumindest teilweise) einbüßen. Nach alledem haben die Europäische Union und ihre Gemeinschaften ihrer Organstruktur nach das Gepräge einer parlamentarischen Demokratie.

c) Keine Demokratie wegen intransparenten Verfahrens? Fraglich ist, ob die Europäische Union deshalb nicht (hinreichend) im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG demokratisch legitimiert ist, weil ihre Entscheidungsverfahren – verkürzt ausgedrückt – derart komplex sind, dass sie vom Bürger nicht nachvollzogen werden können. Kann die Ausübung von Hoheitsmacht also demokratisch legitimiert sein, wenn sie von den Bürgern nicht im Einzelnen – oder wenigstens grob – nachvollzogen werden kann? In der Literatur wird diese Kritik unter dem Oberbegriff „Fehlende Transparenz der Entscheidungsverfahren“ diskutiert.641 Zusammengefasst kann die Kritik dahingehend verstanden werden, dass wegen der „byzantinischen“642 Rechtsetzungsverfahren das zentrale Prinzip der Verantwortung für die jeweils eigene Entscheidung weitgehend außer Kraft gesetzt werde. Der Kritikpunkt, dass Beratungen und Abstimmungen im Rat hinter verschlossenen Türen stattfänden und deshalb die Öffentlichkeit in den jeweiligen Nationalstaaten nicht erfahre, welcher Minister unter welchen Bedingungen einer Regelung zugestimmt habe,643 hat sich zum Stand des Vertrages von Amsterdam bereits erledigt. Gemäß Art. 255 Abb. 1 EGV ist der Zugang zu Dokumenten des Rates, der Kommission und des Parlaments nunmehr prinzipiell offen. Nunmehr können die nationalen Regierungen für ihr Verhalten im Rat zur politischen Verantwortung gezogen werden, denn in den Dokumenten sind Abstimmungsergebnisse, Erklärungen zur Stimmabgabe und Protokollerklärungen im Rat nach Maßgabe des Art. 207 Abs. 3 UAbs. 2 S. 3 EGV veröffentlicht.644 Dies wurde als wichtiger Schritt bezeichnet, denn der grundsätzlich freie Zugang zu den Dokumenten versetzt nicht nur die nationalen Parlamente in die Möglichkeit, die Regierungsvertreter zur Rechen640 Kluth, S. 93, mit Hinweis auf: Art. 65 belgische Verfassung; § 14 dänische Verfassung; Art. 33, 76 und 77 luxemburgische Verfassung; Art. 43 niederländische Verfassung; Art. 8 französische Verfassung; Art. 37 und 81 griechische Verfassung; Art. 92 italienische Verfassung; Art. 190 portugiesische Verfassung; Art. 63 GG; Art. 99 spanische Verfassung. 641 Vgl. oben C., III. 642 Heitsch, S. 809 (822 f.). 643 Emmert, § 16, Rz. 12. 644 Vgl. Heitsch, S. 809 (821).

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schaft zu ziehen, sondern gibt auch der Fachöffentlichkeit, das heißt primär den organisierten Interessenvertretern645, die Möglichkeit, die für eine effektive Beteiligung notwendigen Detailkenntnisse über die Gemeinschaftsaktivitäten zu erlangen und ihre Interessen wirksam – auch öffentlich – kundzutun.646 Zudem erschwert der offene Zugang zu Dokumenten, dass „über die europäische Schiene“ Entscheidungen herbeigeführt werden, die auf nationaler Ebene wohl nicht durchsetzbar wären, während man sich im gleichen Atemzug darüber beschwert, dass Brüssel sich überall einmische.647

Die Komplexität der Entscheidungsprozesse innerhalb der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften ist Folge ihrer Supranationalität. Würde man die Komplexität vereinfachen, so wäre dies nicht möglich, ohne entweder bei der Supranationalität oder bei der demokratischen Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften Abstriche machen zu müssen. Wenn man durchgängig intergouvernementale, einstimmige Beschlüsse der Regierungen der Mitgliedstaaten forderte, dann würde dies die Entscheidungsverfahren sicherlich transparenter machen. Jedoch ginge mit den Mehrheitsentscheidungen ein großer Teil der Supranationalität verloren. Wenn man die Beteiligung des Europäischen Parlaments am Rechtsetzungsverfahren entfallen ließe, so wäre der Rechtsetzungsprozess zwar vereinfacht, jedoch nicht mehr demokratisch gestützt, wie Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG dies fordert. Die Komplexität ist demnach grundsätzlich Folge und nicht Hemmnis der demokratischen Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften. Würde man auf der anderen Seite dem Parlament die zentrale oder gar alleinige Rolle bei der Sekundärrechtsetzung zukommen lassen, dann ginge die durch den Rat vermittelte demokratische Legitimation durch die Rückkoppelung an die nationalen Parlamente verloren.648 Des Weiteren kennt man auch in Bundesstaaten komplexe Entscheidungsverfahren, die als „byzantinisch“ bezeichnet werden, wie beispielsweise die Verfahren im U.S.-Kongress oder zwischen Deutschem Bundestag und Bundesrat.649 Sie sind nicht Ursache von Supranationalität, sondern von Bundesstaatlichkeit. Gerade in der Bundesrepublik Deutschland wird oft moniert, dass das komplizierte Verfahren der Gesetzgebung kaum vom Bürger nachvollzogen werden könne. Wann ist ein Gesetz zustimmungspflichtig, wann ist der Bund und wann sind die Länder im Einzelnen für die Gesetzgebung zuständig? Jedoch hat niemand in der rechtswissenschaftlichen Literatur bislang ernsthaft in Erwägung gezogen, den U.S.A. oder der Bundesrepublik Deutschland wegen ihrer Bundesstaatlichkeit die demokratische Legitimation abzusprechen. Im Ergebnis wird auch seitens der Literaturmeinungen, welche die Intransparenz der Entscheidungsverfahren bemängeln, nicht die Schlussfolgerung gezogen, dass 645 646 647 648 649

Wie beispielsweise den Gewerkschaften, Verbänden, Lobbyisten von Unternehmen etc. Vgl. auch Heitsch, S. 809 (823). Heitsch, S. 809 (823). Ebenso: Kluth, S. 96. Vgl. Heitsch, S. 809 (823).

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D. Demokratische Legitimation der EU bis zum Vertrag von Nizza

eine demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften hieran scheitern müsste.650 Es wird festgestellt, dass die Unübersichtlichkeit der Entscheidungsverfahren ein großer „Übelstand“ sei, der Europa den Europäern 651 entfremden würde. Man müsse dies jedoch feststellen, ohne viel dagegen tun zu können. Die Europäische Union sei ein vorbildloses Gebilde, eine einmalige Zusammenballung öffentlicher Gewalt.652 Ihre verwirrende Struktur653 könne auch eine maßgebliche Bedingung dafür sein, dass eine neue Institution wachsen kann, ohne vom Korsett des bereits Erprobten erstickt zu werden. Es habe auch lange gedauert, bis die Systematik des modernen Staates, das Räderwerk der Demokratie und die Grundlinien des Verfassungsrechtes zum „Allgemeingut bürgerlichen Selbstbewusstseins und zur Matrix der öffentlichen Meinung“ wurden.654 Sicher ist es wichtig, dass die Bürger im groben nachvollziehen können, wer politische Entscheidungen trifft, um denjenigen, der die Entscheidung getroffen hat, hierfür verantwortlich machen zu können. Eine Detailkenntnis des Bürgers, wann beispielsweise ein Gesetz zustimmungspflichtig ist bzw. wann beispielsweise das Mitentscheidungsverfahren zur Anwendung kommt, ist indes nicht erforderlich. d) Ergebnis Die organisatorisch-personelle demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften besteht in einer ununterbrochenen Legitimationskette vom Legitimationssubjekt zu den mit der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben betrauten Amtswaltern.655 Das aus dem Prinzip der Volkssouveränität hervorgehende Gebot, dass alle Herrschaftsmacht – wenn auch mittelbar – durch allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen lückenlos legitimiert sein muss656, wird von der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften beachtet. Soweit Organe der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften mit Staatsund Regierungschefs bzw. Regierungsmitgliedern besetzt sind, erfolgt die organisatorisch-personelle demokratische Legitimation über die einzelstaatlichen Parlamente, denen die Regierungschefs bzw. -mitglieder verantwortlich sind bzw. direkt durch das Volk, das den Staatschef gewählt hat.657 650 Vgl. Oppermann, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 87 (88); Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (738). 651 Oppermann, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 87 (88). 652 Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (738). 653 Di Fabio spricht wörtlich von „verwirrender Offenheit“ [ders., Eine europäische Charta, S. 737 (738)]. 654 Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (738). 655 Vgl. oben D., III., 1.; Böckenförde, in: Isensee / Kirchhof, § 24, Rz. 16. 656 Vgl. oben D., II., 3., g) und III., 1. 657 Vgl. Kluth, S. 91 mit Hinweis auf Art. 90 belgische Verfassung; § 15 dänische Verfassung; Art. 67 f. GG; Art. 20, 49, 50 französische Verfassung; Art. 84 griechische Verfassung;

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Die Kommission ist in zweifacher Hinsicht demokratisch legitimiert: Zum einen durch die Ernennung per – verkürzt ausgedrückt – einstimmigem Beschluss der nationalen Regierungen. Zum anderen mittelbar durch – ebenfalls verkürzt ausgedrückt – einen Mehrheitsbeschluss des Europäischen Parlaments. Zwar ist die Kommission während ihrer Amtszeit nicht vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit abhängig (sondern – wegen des 2 / 3-Quorums – nur vom Vertrauen einer Minderheit). Und auch gegenüber den nationalen Regierungen und dem Rat ist die Kommission während ihrer Amtsperiode nicht verantwortlich. Jedoch war dem verfassungsändernden Gesetzgeber die demokratische Legitimation der Kommission bei Verabschiedung des Art. 23 GG bekannt, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass die demokratischen Mindeststandards des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG durch die konkrete demokratische Legitimation der Kommission zum Stand des Vertrages von Amsterdam unterschritten werden. Das Europäische Parlament ist organisatorisch-personell durch die Staatsvölker der Mitgliedstaaten – die in ihrer Summe identisch mit den Unionsbürgern sind – demokratisch legitimiert. Die sich ergebende Zählwert- oder Erfolgschancenungleichheit der Stimmen, wenn man die Unionsbürger im Ganzen als „Wahlvolk“ betrachtet, ist durch die Natur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften als Staatenverbund sachlich gerechtfertigt. Die Richter des EuGH und des EuG sowie die Generalanwälte werden mittelbar durch die Regierungen der Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert. Die Europäische Union und ihre Gemeinschaften haben die Struktur einer parlamentarischen Demokratie. Das Parlament verfügt innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften über einen ausreichenden Bestand an Steuerungs- und Entscheidungsbefugnissen. Es ist nicht lediglich auf unverbindliche Kontrollrechte verwiesen, sondern in erheblichem Umfang an der Rechtsetzung beteiligt. Bei der Kreation der Kommission als Exekutivorgan steht dem Europäischen Parlament ein Mitentscheidungsrecht zu, und die Kommission kann von einer 2 / 3-Mehrheit im Europäischen Parlament abberufen werden. Die – insbesondere im Verhältnis zu zentralistischen Nationalstaaten – in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften vorherrschende Komplexität und Intransparenz der Entscheidungsverfahren ist notwendige Folge ihrer supranationalen Struktur und führt nicht dazu, dass eine – wie von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG geforderte – hinreichende demokratische Legitimation durch die Wähler nicht mehr vermittelt werden könnte.

Art. 28 irische Verfassung; Art. 94 italienische Verfassung; Art. 82 luxemburgische Verfassung; Art. 42 Abs. 2 niederländische Verfassung; Art. 193, 198 portugiesische Verfassung; Art. 108 spanische Verfassung und auf LoewenStein, Staatsrecht und Staatspraxis in Großbritannien, S. 380 (423 ff.). 10 Tiedtke

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D. Demokratische Legitimation der EU bis zum Vertrag von Nizza

2. Die demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften durch die Mitgliedstaaten, insbesondere durch die nationalen Parlamente Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG verlangt nicht nur eine einer parlamentarischen Demokratie vergleichbare Binnenstruktur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften, sondern, vor allem, dass im momentanen Integrationsstadium die demokratische Legitimation der Hoheitsmacht der Union und ihrer Gemeinschaften in erster Linie („zuvörderst“658) über die Staatsvölker bzw. Parlamente der Nationalstaaten herzustellen ist. Denn die Unionsbürger sind nicht in der Lage, demokratische Legitimität in der gleichen Weise zu vermitteln, wie die Schicksalsgemeinschaft „Staatsvolk“. Innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften wird diese Rückkoppelung an die demokratischen Legitimationsstränge der Mitgliedstaaten dadurch erreicht, dass der Rat aus Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten zusammengesetzt ist. Im Folgenden wird untersucht, inwieweit die Europäische Union und ihre Gemeinschaften außerhalb ihrer Organisationsstruktur über die Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert werden. a) Vertragsänderungen Auf der Ebene des EU-, EAG- und EG-Primärrechts werden die nationalen Parlamente bzw. Staatsvölker der Mitgliedstaaten dadurch beteiligt, dass eine Ratifikation der Verträge durch die Nationalstaaten nach ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften konstitutive Geltungsvoraussetzung für das so neu geschaffene Vertragsrecht ist, Art. 48 Abs. 3 und Art. 49 Abs. 2 S. 2 EUV. Demnach geht von den nationalen Parlamenten (bzw. dem Wahlvolk, sofern die Ratifikation durch ein Referendum geschieht) die demokratische Legitimation des europäischen Primärrechts aus.659 Im Zustimmungsgesetz zu den Gründungsverträgen der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften sowie zu deren Abänderungen ruht die demokratische Legitimation dieser inter- bzw. supranationalen Organisationen.660 Wenn kritisiert wird, dass eine Ablehnung von Vertragsänderungen im Hinblick auf die Folgen – gescheiterte Vertragsrevision, Desavouierung der eigenen Regierung – kaum in Betracht käme661, so ändert dies nichts daran, dass die nationalen Parlamente primärrechtliche Vertragsänderungen verhindern können, wenn sie dazu entschlossen sind.662 Die primärrechtliche Stellung der nationalen Parlamente ist so stark, dass das Parlament eines einzelnen Mitgliedstaates eine Vertragsrevision rechtlich Vgl. BVerfGE 89, S. 155 (155, 184). Siehe oben D., II., 3., f), bb), (3), (g) und ebenda, g); vgl. BVerfGE 89, S. 155 (184). 660 BVerfGE 89, S. 155 (184). 661 Schröder, Die Parlamente im Europäischen Entscheidungsgefüge, S. 301 (303). 662 „Gefahren“ im Hinblick auf die Ablehnung von Vertragsänderungen gingen in der Vergangenheit eher von Referenden aus, denen die Vertragsänderungen nach dem Recht mancher Mitgliedstaaten unterliegen. 658 659

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unmöglich machen kann. Die Behauptung, ein einzelstaatliches Parlament würde diese Rechtsposition nie ausüben, ist lediglich hypothetischer Natur. Bei Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG handelt es sich um eine Vorschrift des deutschen Verfassungsrechts. Im Rahmen der Auslegung der Norm und der Frage, ob das Parlament, also der Deutsche Bundestag, der Gemeinschaftsgewalt ausreichende demokratische Legitimation vermittelt, sind auch weitere Vorschriften des Grundgesetzes zur Auslegung heranzuziehen. In Art. 23 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 GG ist die Beteiligung des Deutschen Bundestages im Rahmen von Vertragsrevisionen geregelt. Demnach unterrichtet die Bundesregierung den Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt, Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG. Diese wechselbezüglichen Kompetenzen von Bundestag und Bundesregierung sind im Sinne der Organtreue wahrzunehmen und werden durch die Verantwortlichkeit der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag effektiv verstärkt.663 Dass die nationalen Parlamente auf die inhaltliche Ausgestaltung bei Vertragsänderungen faktisch einen geringeren Einfluss haben, als die Regierungen der Mitgliedstaaten, hat seinen Grund in der Natur der Sache: Die Koordination einer Vertragsrevision unter der Beteiligung von 15 Parlamenten erscheint praktisch unmöglich. Dass die Parlamente bislang ein weitergehendes inhaltliches Gestaltungsrecht nicht durch die Ablehnung der Vertragsänderung einforderten, hat gute Gründe: Denn selbstverständlich ist die demokratische Legitimation einer Vertragsänderung, der aktuell 15 Staaten zustimmen müssen, „dünner“, als diejenige beispielsweise eines nationalen Gesetzes oder einer nationalen Verfassungsänderung. Die Gestaltungsmöglichkeit eines einzelnen Parlaments, das alleine über eine Sache zu entscheiden hat, ist natürlich größer, als wenn sich das einzelne Parlament mit 14 anderen ins Benehmen setzen muss. Die EU und ihre Gemeinschaften erfüllen jedoch Aufgaben, welche die Mitgliedstaaten in der modernen Welt nicht mehr alleine bewältigen können664: „Der Mitgliedstaat – und mit ihm seine Bürger – gewinnt freilich auch Einflussmöglichkeiten durch die Beteiligung an der Willensbildung der Gemeinschaft zur Verfolgung gemeinsamer Zwecke, deren Ergebnis für alle Mitgliedstaaten verbindlich ist und deshalb auch die Anerkennung der eigenen Bindung voraussetzt.“665

Zutreffend formuliert diesbezüglich auch B.-O. Bryde:666 „Demokratie droht funktionslos zu werden, wenn sie Transnationalisierungsprozesse nicht bewältigt.“ Pernice merkt hierzu an:667 „Größte Bürgernähe und die unmittelbarste demoEbenso BVerfGE 89, 155 (191). Everling, S. 936 (947). „Die Aufgaben und Probleme unserer Zeit können oft nur noch von größeren politischen Einheiten wirksam bewältigt werden.“ [Seeler, S. 721 (733).] 665 BVerfGE 89, S. 155 (182). 666 B.-O. Bryde, Auf welcher politischen Ebene sind welche Probleme vorrangig anzugehen?, in: B. Sitter-Liver (Hrsg.), Herausgeforderte Verfassung. Die Schweiz im globalen Kontext, o.O. 1999, S. 223 (224), zitiert bei Pernice, S. 866 (868, Fn. 22). 667 Pernice, S. 866 (868). 663 664

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kratische Kontrolle sind sinnlos, wenn das Handeln oder Bemühen des betreffenden Kompetenzträgers ohne Wirkung bleibt.“

Die Beteiligung des Deutschen Bundestages vermittelt der Gemeinschaftsgewalt ausreichende demokratische Legitimation im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG: Die Übertragung von Hoheitsmacht setzt ein vom Bundestag zu verabschiedendes Zustimmungsgesetz voraus (Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG), das bei Änderungen der vertraglichen Grundlagen der EU und bei vergleichbaren Regelungen, durch die das Grundgesetz inhaltlich geändert oder ergänzt wird, sogar der Zweidrittelmehrheit bedarf (Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 2 GG).

b) Legitimation der Sekundärrechtsetzung der Union und ihrer Gemeinschaften außerhalb ihres institutionellen Gefüges Bei der Legitimation des Rechtsetzungsverfahrens der Union und ihrer Gemeinschaften außerhalb ihres institutionellen Gefüges ist zunächst zwischen dem klassischen Bereich der EG-Rechtsetzung und den Rechtsakten im Rahmen der intergouvernementalen Zusammenarbeit zu unterscheiden. Im Bereich der EG-Rechtsetzung beschränkt sich die Beteiligung der nationalen Parlamente auf die Umsetzung der Richtlinien und die „Operationalisierung“668 von EG-Verordnungen, soweit nach nationalem Recht hierzu ein Parlamentsakt erforderlich ist. Hinsichtlich der Beteiligung der nationalen Parlamente bei der Umsetzung von Richtlinien wird bemängelt, dass wegen der Detailliertheit der Richtlinien kein wirklicher politischer Entscheidungsspielraum der nationalen Parlamente mehr bestünde.669 Die Richtlinien zwängen die nationalen Parlamente geradezu zur Übernahme des gegebenen Wortlautes.670 Nach dem Urteil des EuGH in der Rs. 38 / 77, Enka671 hatte der Gerichtshof keine Einwendungen gegen eine Richtlinienbestimmung, die den Nationalstaaten „keinerlei Ermessensspielraum einräumt“. In diesem Falle gehe „[ . . . ] der Wortlaut der Richtlinie [ . . . ] den Bestimmungen der Mitgliedstaaten [ . . . ]“ vor, „ [ . . . ] die mit ihr unvereinbar sind“672. Es gibt keinen Fall, in dem der EuGH eine Richtlinie wegen zu großer Detailliertheit für nichtig erklärt hätte.673 Hieraus wird gefolgert, dass Art. 249 Abs. 3 EGV den Mitgliedstaaten grundsätzlich keinen Ermessensspielraum belasse, da lediglich „die Form und die Mittel“ (z. B. Gesetz oder Verordnung, Bundes- oder Landesgesetz) von den innerstaatlichen Stellen gewählt werden könnten.674 Jedoch ist nur selten eine Schröder, Die Parlamente im Europäischen Entscheidungsgefüge, S. 301 (304). Schröder, Die Parlamente im Europäischen Entscheidungsgefüge, S. 301 (304) mit Hinweis auf Bleckmann, Die Umsetzung von Gemeinschaftsbeschlüssen, S. 572 (574). 670 Vgl. bei Emmert, § 12, Rz. 17, der jedoch selbst eine andere Ansicht vertritt. 671 Slg. 1977, S. 2203. 672 Slg. 1977, S. 2203, Rz. 15 / 17 der Entscheidungsgründe. 673 Emmert, § 12, Rz. 17. 668 669

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„ganze“ Richtlinie so detailliert, dass sie den Mitgliedstaaten an keiner Stelle ein Ausfüllungsermessen überlasse.675 Zudem impliziert auch die Art und Weise der Umsetzung von Richtlinien, die systematische und inhaltliche Verzahnung der beiden Rechtsordnungen, verantwortungsvolle Entscheidungen.676 Nimmt man den Erlass der Richtlinie und die Konkretisierung in nationales Recht als Gesamtvorgang, so kann man durchaus von einem Kooperationsverhältnis im Legislativbereich sprechen; teilweise werden die nationalen Parlamente insoweit sogar als funktional-europäische Institutionen begriffen.677 Die nationalen Parlamente als funktional-europäische Institutionen zu begreifen, geht jedoch m.E. zu weit. Inhaltlich werden Richtlinien von den Organen der Europäischen Gemeinschaft erlassen. Der Umsetzung in nationales Recht kommt ein wichtiger Stellenwert zu, der Primat der Entscheidungsmacht liegt jedoch bei der Europäischen Gemeinschaft. Die Beteiligung der nationalen Parlamente im Bereich der intergouvernementalen Zusammenarbeit (Titel V und VI EUV) ist vorgesehen, wenn die Rechtsakte der Umsetzung in nationales Recht bedürfen oder wenn ein Ratifikationsvorbehalt vereinbart ist. Letzteres ist nur ausnahmsweise der Fall, so bei Abkommen über die Zusammenarbeit in Strafsachen nach Art. 34 Abs. 2 d) EUV.678 Die Umsetzung von Rechtsakten in nationales Recht ist beispielsweise bei Rahmenbeschlüssen nach Art. 34 Abs. 2 b) EUV vorgesehen, sofern nicht nach dieser Norm schon von vornherein nur solche Rahmenbeschlüsse gefasst werden können, die dem Typus der administrativ durchsetzbaren Verwaltungsabkommen im Sinne von Art. 59 Abs. 2 S. 2 GG zuzuordnen sind, was in der Literatur umstritten ist.679

c) Sonstige Beteiligung der einzelstaatlichen Parlamente Die einzelstaatlichen Parlamente erfüllen neben den vorbenannten Aufgaben im Rahmen von Vertragsänderungen – im weitesten Sinne680 – und der Konkretisierung von Richtlinien eine weitere Aufgabe im Hinblick auf die Kontrolle der Regierungsvertreter im Rat bzw. auf die Beteiligung an der Meinungsbildung „ihrer“ 674 Emmert, § 12, Rz. 17. Emmert meint, Ipsen habe auf Grund rechtsvergleichender Studien nachgewiesen, dass ein eigenständiger Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten auf Grund von Art. 249 Abs. 3 EGV nicht bestünde [Emmert weist hin auf Ipsen, RichtlinienErgebnisse, in: Hallstein / Schlochauer (Hrsg.), Festschrift für Ophüls, o.O., 1965, S. 67 (74)]. 675 Emmert, § 12, Rz. 18. 676 Schröder, Die Parlamente im Europäischen Entscheidungsgefüge, S. 301 (304). 677 Schröder, Die Parlamente im Europäischen Entscheidungsgefüge, S. 301 (304). 678 Böse, in: Schwarze, Art. 34 EUV, Rz. 8. 679 Vgl. Schröder, Die Parlamente im Europäischen Entscheidungsgefüge, S. 301 (305); Streinz, Europarecht, Rz. 422c. 680 Also auch im Hinblick auf Ermächtigungsnormen mit Ratifikationsvorbehalt nach den nationalen verfassungsrechtlichen Vorschriften.

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D. Demokratische Legitimation der EU bis zum Vertrag von Nizza

Mitglieder des Rates.681 Das Protokoll (Nr. 9) über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäischen Union zum EUV verschafft den nationalen Parlamenten eine durch Primärrecht verbindlich gesicherte Rechtsposition auf Beteiligung an den Tätigkeiten der Europäischen Union. Nach Ziff. I. 1 und 2 des Protokolls werden den Parlamenten Konsultationsdokumente der Kommission zugeleitet, und Initiativen der Kommission für Akte der Gesetzgebung werden so rechtzeitig zur Verfügung gestellt, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten sie ihren einzelstaatlichen Parlamenten rechtzeitig zur Verfügung stellen können. Der Rat entscheidet frühestens sechs Wochen nach einem Vorschlag der Kommission, so dass den Parlamenten Zeit für Stellungnahmen verbleibt, Ziff. I. 3 des Protokolls. Auch die conférence des organes spécialisés en affaires communautaires („COSAC“), also die Konferenz der Europa-Fachausschüsse der einzelstaatlichen Parlamente, erhält durch das Protokoll (Nr. 9) einen Rechtsanspruch auf Beteiligung. Die am 16. / 17. November 1989 in Paris gegründete COSAC tritt alle sechs Monate zusammen und besteht aus 6 Vertretern je Mitgliedstaat und 6 Abgeordneten des Europäischen Parlaments, derzeit also aus 156 Mitgliedern. Sie verfügt jedoch weder über einen festen Sitz noch über ein Sekretariat oder einen eigenen Haushalt.682 Durch das Protokoll (Nr. 9) ist die COSAC berechtigt, jeden ihr zweckmäßig erscheinenden Beitrag zu Entwürfen von Rechtsakten der Organe der Europäischen Union zu leisten, Ziff. II. 6, sowie Vorschläge und Initiativen zu erarbeiten, welche die Errichtung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts betreffen, Ziff. II. 4. Die COSAC kann jedoch keine Bindung oder präjudizielle Wirkung für die einzelstaatlichen Parlamente bewirken, Ziff. II. 7. Als weitere Beteiligung der nationalen Parlamente an den Angelegenheiten der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft sind die Konferenz der Parlamentspräsidenten und die Assises zu nennen. Die Konferenz der Parlamentspräsidenten geht auf eine Initiative des Europäischen Parlaments zurück und ist seit 1973 eine regelmäßige Einrichtung.683 Sie hat vor allem Bedeutung, was den Meinungsaustausch und politische Orientierungsdebatten angeht.684 Die Assises ist eine Zusammenkunft der nationalen Parlamente unter der Leitung des Europäischen Parlaments. Eine solche Zusammenkunft hat bisher nur einmal, vom 27. bis zum 30. 11. 1990 in Rom stattgefunden, im Zuge der Vorbereitung des Vertrages von Maastricht.685

Hinsichtlich der Aufgaben betreffend die Kontrolle der Regierungsvertreter im Rat bzw. die Beteiligung an der Meinungsbildung der Mitglieder des Rates ist der konkrete Einfluss der nationalen Parlamente von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich. So bestehen in einigen Mitgliedstaaten z. B. Verhandlungsman681 682 683 684 685

Vgl. hierzu: Falkner / Nentwich, S. 227. Pöhle, S. 72 (74). Pöhle, S. 72 (74). Hölscheidt, in: Grabitz / Hilf, Bd. II, Art. 189 EGV, Rz. 29. Falkner / Nentwich, S. 227.

III. Demokratische Legitimation der EU und der Gemeinschaften

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date der Regierungsvertreter im Rat („dänisches Modell“).686 Dies bedeutet, dass die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat an ein Mandat ihres Parlaments gebunden sind. Die Ratsmitglieder unterliegen einer sogenannten „Ex-ante-Rückbindung“687. In der Bundesrepublik Deutschland regelt Art. 23 Abs. 3 S. 1 i.V. m. S. 3 GG i.V. m. dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union („EUZBBG“) vom 12. 3. 1993688 die Beteiligung des Parlaments an der Willensbildung im Rat. Nach § 5 EUZBBG gibt die Bundesregierung vor der Zustimmung zu Rechtsetzungsakten dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Bundesregierung hat die Stellungnahme des Bundestages zu berücksichtigen, Art. 23 Abs. 3 S. 2 GG, § 5 S. 3 EUZBBG. Das heißt sie muss sich mit der Stellungnahme auseinandersetzen und sie in ihre Entscheidungsbildung einbeziehen. 689 Das Einbeziehen der Stellungnahme in die Entscheidungsbildung muss bereits bei der Festlegung der Verhandlungsposition der Bundesregierung erfolgen, § 5 S. 3 EUZBG.690 Inhaltlich ist die Bundesregierung jedoch nicht an die Stellungnahme des Bundestages gebunden, es gibt in Deutschland somit kein imperatives Mandat der Minister im Rat.691 Die Bundesregierung kann sich von der parlamentarischen Vorgabe lösen. Selbst wenn die Regierung in der Stellungnahme des Bundestages eine „unverrückbare nationale Position“692 sähe, wird sie diese vielfach nicht durchsetzen können, insbesondere wenn die Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip getroffen werden.693

d) Zusammenfassung Hinsichtlich der Umsetzung von Richtlinien sind die nationalen Parlamente lediglich Transformatoren von sehr konkreten Vorgaben in das nationale Recht. Hiervon kann eine demokratische Legitimation der Gemeinschaftsgewalt nicht ausgehen. Allerdings dürfte Primärfunktion der Gesetzgebung durch Richtlinien auch nicht die Herstellung einer demokratischen Legitimation der Gemeinschaftsgewalt sein, sondern sie dient vor allem dazu, dass nationale Besonderheiten berücksichtigt werden können und dass ein Entscheidungsspielraum über die Rechtsumsetzung (z. B. in Verordnung oder Gesetz, Bundes- oder Landesgesetz) bei den sachnäheren nationalen Organen verbleibt. Falkner / Nentwich, S. 227. Falkner / Nentwich, S. 227 (228). 688 BGBl. I 1993, S. 311. 689 Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 23, Rz. 53. 690 Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 23, Rz. 53. 691 Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 23, Rz. 53. 692 Schröder, Die Parlamente im Europäischen Entscheidungsgefüge, S. 302 (312). 693 Allerdings ist ein Abweichen der Bundesregierung von der Stellungnahme des Bundestages zu begründen (Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 23, Rz. 53). 686 687

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D. Demokratische Legitimation der EU bis zum Vertrag von Nizza

Hinsichtlich der Beteiligung der nationalen Parlamente bei Abschluss der Gründungsverträge sowie bei allen weiteren Änderungen des Primärrechts, Evolutivklauseln inbegriffen, vermittelt der Zustimmungsbeschluss der nationalen Parlamente zum Vertrag bzw. zur Vertragsrevision der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften eine hinreichende demokratische Legitimation nach den Maßstäben von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG.694 Zudem erfolgt die demokratische Legitimation der Gemeinschaftsgewalt durch die Beteiligung der nationalen Parlamente an der Entscheidungsfindung der Regierungsvertreter im Rat gemäß Art. 23 Abs. 3 S. 1 i.V. m. S. 3 GG i.V. m. EUZBBG im Zusammenhang mit der personellen Verantwortlichkeit der Regierungsmitglieder gegenüber dem Parlament. Die Kritik, dass es zu einer Verminderung demokratischer Legitimation komme, wenn die verfassungsrechtliche Stellung der nationalen Parlamente geschwächt werde, indem die Gesetzgebungsaufgaben auf europäischer Ebene hauptsächlich vom Rat und damit von Regierungsvertretern wahrgenommen werden, ist zwar der Sache nach richtig.695 Der deutsche Verfassungsgeber hat sich jedoch mit Art. 23 GG ausdrücklich für diese Verschiebung demokratischer Legitimation entschieden, in dem Bewusstsein, dass die Europäische Union und ihre Gemeinschaften Aufgaben erfüllen, welche die Mitgliedstaaten in der modernen Welt nicht mehr alleine bewältigen können.696 3. Ergebnis Im Einzelnen ergibt sich zusammengefasst folgendes Ergebnis: – Innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften sind die Organe der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften sämtlich durch allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen lückenlos demokratisch legitimiert.697

Soweit Organe der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften mit Staatsund Regierungschefs bzw. Regierungsmitgliedern besetzt sind, folgt die organisatorisch-personelle demokratische Legitimation durch die einzelstaatlichen Parlamente, denen die Regierungschefs bzw. -mitglieder verantwortlich sind bzw. direkt durch das Volk, das den Staatschef gewählt hat.698 Die Kommission 694 So auch – allerdings nicht explizit zu Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG – das BVerfG in BVerfGE 89, S. 155 (184): „Im Zustimmungsbeschluss zum Beitritt zu einer Staatengemeinschaft ruht die demokratische Legitimation sowohl der Existenz der Staatengemeinschaft als auch ihrer Befugnisse zu Mehrheitsentscheidungen.“ 695 Vgl. Schröder, Die Parlamente im Europäischen Entscheidungsgefüge, S. 301 (309). 696 Vgl. Everling, S. 936 (947). 697 Vgl. oben D., II., 3., g) und III., 1. 698 Vgl. Kluth, S. 91 mit Hinweis auf Art. 90 belgische Verfassung; § 15 dänische Verfassung; Art. 67 f. GG; Art. 20, 49, 50 französische Verfassung; Art. 84 griechische Verfassung; Art. 28 irische Verfassung; Art. 94 italienische Verfassung; Art. 82 luxemburgische Verfassung; Art. 42 Abs. 2 niederländische Verfassung; Art. 193, 198 portugiesische Verfassung; Art. 108 spanische Verfassung.

III. Demokratische Legitimation der EU und der Gemeinschaften

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ist in zweifacher Hinsicht lückenlos demokratisch legitimiert: Einmal durch die Ernennung per – verkürzt ausgedrückt – einstimmigem Beschluss der nationalen Regierungen, zum anderen mittelbar durch – ebenfalls verkürzt ausgedrückt – einen Mehrheitsbeschluss des Europäischen Parlaments. Einer qualifizierten Mehrheit des Europäischen Parlaments gegenüber bleibt die Kommission auch während ihrer Amtszeit personell verantwortlich. Das Europäische Parlament ist organisatorisch-personell durch die Staatsvölker der Mitgliedstaaten – die in ihrer Summe identisch mit den Unionsbürgern sind – demokratisch legitimiert. Die sich ergebende Zählwert- oder Erfolgschancenungleichheit der Stimmen, wenn man die Unionsbürger im Ganzen als Wählerschaft betrachtet, ist durch die Natur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften als Staatenverbund sachlich gerechtfertigt. Die Richter des EuGH und des EuG sowie die Generalanwälte werden mittelbar durch die Regierungen der Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert. Die Europäische Union und ihre Gemeinschaften haben die Struktur einer parlamentarischen Demokratie. Das Parlament verfügt innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften über einen ausreichenden Bestand an Steuerungs- und Entscheidungsbefugnissen und ist nicht lediglich auf unverbindliche Kontrollrechte verwiesen, sondern in erheblichem Umfang an der Rechtsetzung beteiligt. – Außerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften erfolgt die demokratische Legitimation durch die einzelstaatlichen Parlamente. Diese vermitteln demokratische Legitimation auf zweierlei Weise: Durch den Zustimmungsbeschluss zum Primärrecht bzw. zu dessen Änderungen und durch die Rückkoppelung der Gemeinschaftsgewalt mittels der indirekten Beteiligung der einzelstaatlichen Parlamente an der Rechtsetzung des Rates, indem die Parlamente umfassend informiert werden. Effektiv wird diese Beteiligung durch die Verantwortlichkeit der einzelstaatlichen Regierungen gegenüber ihren Parlamenten.

E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation durch den Vertrag von Nizza I. Vorgaben des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG für die Weiterentwicklung der EU 1. Meinungen in Literatur und Rechtsprechung a) Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG als flexible Integrationsund Struktursicherungsnorm Die rechtlichen Anforderungen, die von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG ausgehen, hängen vom jeweiligen Entwicklungsstand der Union ab und wachsen mit jedem Integrationsfortschritt.699 Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG kann als Integrationsklausel in einem Integrationsprozess keinen statischen Inhalt haben, sondern muss flexibel auf ein mehr an Integration „reagieren“. Dabei bleibt es natürlich im Grundsatz dabei, dass bei der Auslegung von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG das Integrationsziel und die Nicht-Staatlichkeit der EU und ihrer Gemeinschaften zu beachten sind. Die oben herausgearbeiteten Mindeststandards sind unter dieser Prämisse fortzuentwickeln. Will man im Folgenden also beurteilen, ob der Vertrag von Nizza die Mindestanforderungen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG erfüllt bzw. ob die demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften durch den Vertrag von Nizza schritthaltend gestärkt wurde, so ist zunächst zu klären, ob und wie sich die Mindestanforderungen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG bei zunehmender Integration ändern. b) Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes Nach dem Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts tritt neben die demokratische Legitimation durch die nationalen Parlamente – im Maße des Zusammenwachsens der europäischen Nationen zunehmend – die Vermittlung demokratischer Legitimation innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union durch das von den Bürgern der Mitgliedstaaten gewählte Europäische Parlament.700 Die demokratischen Grundlagen der Union müssten schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden. Auf der anderen Seite müsse auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleiben. An anderer 699 700

BVerfGE 89, S. 155 (184); vgl. Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 19. BVerfGE 89, S. 155.

I. Vorgaben des Art. 23 GG für die Weiterentwicklung der EU

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Stelle führt das Bundesverfassungsgericht aus: Vermittelten – wie derzeit – die Staatsvölker über die nationalen Parlamente demokratische Legitimation, so seien der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Gemeinschaften vom demokratischen Prinzip her Grenzen gesetzt.701 Das Bundesverfassungsgericht verlangt also, dass einerseits die innerhalb der Struktur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften angelegte demokratische Legitimation durch eine Stärkung der vom Europäischen Parlament ausgehenden Legitimation gestärkt wird und andererseits, dass weiterhin „zuvörderst“ die nationalen Parlamente die Union demokratisch legitimieren:702 „Indessen wächst mit dem Ausbau der Aufgaben und Befugnisse der Gemeinschaft die Notwendigkeit, zu der über die nationalen Parlamente vermittelten demokratischen Legitimation und Einflussnahme eine Repräsentation der Staatsvölker durch ein europäisches Parlament hinzutreten zu lassen, von der ergänzend eine demokratische Abstützung der Politik der Europäischen Union ausgeht. [ . . . ] Die von den Unionsbürgern ausgehende Einflussnahme kann in dem Maße in eine demokratische Legitimation der europäischen Institutionen münden, in dem bei den Völkern der Europäischen Union die Voraussetzungen hierfür erfüllt sind: [ . . . ]“703

Im Folgenden erläutert das Bundesverfassungsgericht die notwendigen vorrechtlichen Voraussetzungen für eine „materielle Demokratie praktisch-politischer Art und Weise“704, also das Bestehen einer öffentlichen Meinung und das Vorhandensein von europäischen Parteien, Verbänden und Medien. Bereits in der jetzigen Phase des europäischen Integrationsprozesses komme dem Europäischen Parlament eine stützende Funktion zu, die sich verstärken ließe, wenn es nach einem in allen Mitgliedstaaten übereinstimmenden Wahlrecht gewählt würde und sein Einfluss auf die Politik und Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften wüchse.705 Spricht das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle von der notwendigen Stärkung der intrastrukturellen demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments sowie seiner Kompetenzen, so führt es gleich im Anschluss hieran aus, wo die Grenzen einer Kompetenzerweiterung der Europäischen Union und ihres Parlaments liegen: „Entscheidend ist, dass die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt. Ein Übergewicht von Aufgaben und Befugnissen in der Verantwortung des europäischen Staatenverbundes würde die Demokratie auf staatlicher Ebene nachhaltig schwächen, so dass die mitgliedstaatlichen Parlamente die Legitimation der von der Union wahrgenommenen Hoheitsgewalt nicht mehr ausreichend vermitteln könnten. [ . . . ] Die Wahrnehmung von Hoheitsgewalt durch einen StaatenverBVerfGE 89, S. 155 (156). BVerfGE 89, S. 155. 703 BVerfGE 89, S. 155 (184 f.). 704 Herzog, in: Maunz / Dürig, Bd. II, Art. 20, II. Die Verfassungsentscheidung für die Demokratie, Rz. 35. 705 BVerfGE 89, S. 155 (186). 701 702

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

bund [ . . . ] gründet sich auf Ermächtigungen souverän bleibender Staaten [ . . . ]. Sie ist daher primär gouvernemental bestimmt. Soll eine solche Gemeinschaftsgewalt auf der von dem je einzelnen Volk vermittelten, insofern demokratischen Willensbildung beruhen, setzt das voraus, dass sie von einem Organ ausgeübt wird, das von den mitgliedstaatlichen Regierungen beschickt wird, die ihrerseits demokratischer Kontrolle unterstehen.“706

c) (Unbedingte) Stärkung des Europäischen Parlaments Das Maastricht-Urteil wurde im Hinblick auf die Vorgaben für eine Änderung der demokratischen Strukturen innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften von der Literatur unterschiedlich aufgenommen. Nach einer Ansicht gehört es zu den „Selbstverständlichkeiten“ der aktuellen europäischen Integrationsdiskussion, dass das Europäische Parlament in seinen Entscheidungs- und Kontrollzuständigkeiten nach Möglichkeit gestärkt werden müsse.707 Die Entwicklung des Europäischen Integrationsprozesses müsse weiterhin zwar von einer „zweistufigen“ Demokratiestruktur geprägt sein, ohne dass jedoch das Übergewicht auf der einen (Europäisches Parlament) oder der anderen Seite (nationale Parlamente bzw. mittelbar: Rat) liegen müsse.708 Das in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG verankerte „Staatsziel“ zur institutionellen Stärkung des Europäischen Parlaments würde sich jeweils in dem Maße zu einer Verpflichtung verdichten, wie die Zuständigkeiten der Europäischen Union wüchsen und – parallel dazu – die demokratischen Rechte der nationalen Parlamente reduziert würden („kompensatorischer Effekt“).709

d) „Behutsame“ Stärkung des Europäischen Parlaments Eine andere Ansicht ist „vorsichtiger“ im Hinblick auf einen einseitigen Kompetenzausbau des Europäischen Parlaments als „Allheilmittel“. Nach dieser Ansicht verleiht Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG den Forderungen nach einer „behutsamen“ StärBVerfGE 89, S. 155 (186 f.). So Scholz, in: Maunz / Dürig, Bd. III, Art. 23, Rz. 57. In die gleiche Richtung argumentiert Schwarze (ders., Das Staatsrecht in Europa, S. 586 (588 f.): Gewiss bestehe die Notwendigkeit, den Ausbau der demokratischen Kontrolle in Europa weiter voranzutreiben und die Rechte des Europäischen Parlaments weiter zu stärken. Man dürfe der Gemeinschaft unter dem Gesichtspunkt der praktischen Bewährtheit parlamentarischer demokratischer Kontrolle die Entwicklungsmöglichkeiten nicht abschneiden. 708 Scholz, in: Maunz / Dürig, Bd. III, Art. 23, Rz. 57. 709 Scholz, in: Maunz / Dürig, Bd. III, Art. 23, Rz. 58. Nach der Ansicht von Tomuschat bringt BVerfGE 89, 155 ff. die Union in eine ausweglose Situation [ders., S. 489 (495)]. In der Entscheidung werde auf der einen Seite das bestehende demokratische Defizit beklagt, auf der anderen Seite versperre das Gericht den Weg zur Beseitigung dieses Defizites, der durch künftige weitere Kompetenzübertragungen auf die Organe der Union gebannt werden könnte. 706 707

I. Vorgaben des Art. 23 GG für die Weiterentwicklung der EU

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kung der Rechtsstellung des Europäischen Parlaments zusätzliches Gewicht.710 Dabei sei angesichts der vorherrschenden Exekutivstrukturen in der Willens- und Entscheidungsbildung der Union insbesondere an eine Erweiterung der Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments zu denken.711 Denn die parlamentarische Kontrolle sei ein gängiges Konzept zur Legitimation von politischer Entscheidungsmacht, das auch im Rahmen supranationaler Hoheitsträger Geltung beanspruchen könne.712 Zwar könne das „strukturelle Demokratiedefizit“ der Europäischen Union, das auf Grund des Fehlens gewisser vorrechtlicher Voraussetzungen herrsche, nicht durch eine bloße Änderung der Organisationsstruktur (also durch die Stärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments) der Union behoben werden. Die strukturellen Ursachen dieses Demokratiedefizites stünden aber einer behutsamen Stärkung des Europäischen Parlaments (innerhalb der Grenzen, die das nationale Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1 u. 2, 79 Abs. 3 GG setzt) auch nicht entgegen. Auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts habe den Weg zu einer behutsamen Stärkung etwa der Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments nicht versperrt.713 Eine Erweiterung und Systematisierung der Befugnisse des Europäischen Parlaments sei nicht ausgeschlossen.714 Eine Stellung, die über eine Gleichberichtigung mit dem Rat hinausgehe, sei jedoch nicht geboten.715 Solange die Mitgliedstaaten – anders als in einem Bundesstaat – die Herren der Verträge blieben, würde auch dies noch keine Staatlichkeit der EG begründen.716 Zudem könne nur eine solch „behutsame“ Kompetenzstärkung des Europäischen Parlaments die institutionellen Voraussetzungen für die Herausbildung einer europäischen Infrastruktur schaffen, die dafür notwendig sei, dass sich die vom Bundesverfassungsgericht in Abrede gestellten vorrechtlichen Voraussetzungen für eine Demokratie im materiell-praktischen Sinne bilden können.717

e) Eingeschränkte Stärkung des Europäischen Parlaments Kritischer und der „Gratwanderung“718, die das Bundesverfassungsgericht zwischen „Ausbau der stützenden Funktion des Europäischen Parlaments“ auf der einen Seite und „vorrangiger demokratischer Legitimation durch die RückkoppeRojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 24. Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 24, mit Hinweis auf: Hilf, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 75 (82) und Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, S. 586 (588 f.). 712 Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 24, mit Hinweis auf: Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, S. 586 (589). 713 Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 53. 714 Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 26. 715 So Classen, S. 238 (255). 716 Classen, S. 238 (255); a.A.: Tomuschat, S. 489 (494 ff.). 717 Vgl. Classen, S. 238 (255). 718 Breuer, S. 417 (425). 710 711

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

lung an die nationalen Parlamente“ auf der anderen Seite fordert, folgend, nimmt eine weitere Literaturansicht an719, das Demokratieprinzip, das in Art. 23 Abs. 1 S. 1 verankert ist, setze der weiteren Entwicklung der Europäischen Union unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen deutliche Grenzen.720 Die durch demokratische Wahl seitens des deutschen Volkes bewirkte Legitimation und Einflussnahme auf die Ausübung von Staatsgewalt dürfe nicht substantiell entleert werden. Das in Teilen der Literatur „vielbeklagte Demokratiedefizit“ greife zu kurz. Bei tieferer Betrachtung zeige sich, dass eine supranationale Demokratie in Europa durch bloße „rechtstechnische“ Organisationsformen (wie etwa die Stärkung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments) nicht geschaffen werden könne. Denn das Strukturprinzip der Demokratie stehe unter vorrechtlichen Prämissen, die auf nationaler Ebene in einem langen historischen Prozess gewachsen seien und auf supranationaler Ebene vorerst fehlten. Deswegen habe die demokratische Legitimation der Europäischen Union auch in Zukunft durch die Rückkoppelung des Handelns europäischer Organe an die nationalen Parlamente zu erfolgen. Diejenigen, die ein Demokratiedefizit in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften beklagen, ließen oft im unklaren, inwieweit sie sich der unausweichlichen Zusammenhänge zwischen der Fortentwicklung der supranationalen Demokratie und dem Bestand der nationalen Staatlichkeit sowie der nationalen Demokratien bewusst seien.721 Wenn wirklich eine europäische Demokratie durch Legitimationsverbesserungen und Kompetenzerweiterungen des Europäischen Parlaments substantiell entwickelt würde, wäre der politische Weg zu einem Bundesstaat vorgezeichnet. Zugleich wäre damit eine korrespondierende Abstufung der Mitgliedstaaten und ihrer Demokratien vorprogrammiert.722 An anderer Stelle in der Literatur wird betont, dass das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts fordere, dass die Positionen und Gewichte der europäischen Organe derart ausgestaltet sein müssten, dass ein annäherndes Mächtegleichgewicht zwischen Mitgliedstaaten und eigenständiger Gemeinschaftsgewalt erhalten bliebe:723 „Auf die europäische Ebene gewendet wird dieses übernationale Gleichgewicht durch den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts für die Organe der Gemeinschaft und der Union konkretisiert. Ein solcher Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts folgt letztlich 719 So etwa Breuer, S. 417 (425); vgl. auch Hillgruber, Das Verhältnis der EG und der EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (373) und Hilf, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 75 (81 ff.). 720 Breuer, S. 417 (424). 721 Breuer, S. 417 (425). 722 Breuer ist der Ansicht, dass es dahinstehen möge, inwieweit „ [ . . . ] diese Konsequenzen in der deutschen Diskussion über das europäische Demokratiedefizit erkannt und gewollt werden [ . . . ]. Jedenfalls drängt sich der Eindruck auf, dass eben diese Konsequenzen in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union klar gesehen und eben deshalb politisch nicht gewollt werden.“ (Ders., S. 417 (425).) Breuer verweist diesbezüglich auf die Haltung Frankreichs. Classen führt an, dass sich in Frankreich aus dem nationalen Verfassungsrecht allenfalls Kompetenzschranken für das Europäische Parlament ergeben würden [ders., S. 238 (250)]. 723 Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (742).

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aus dem Demokratieprinzip. [ . . . ] Dieses grundlegende Prinzip klassischer Verfassungsstaaten [ . . . ] bedarf [ . . . ] einer funktionalen Anpassung – dies wird von Art. 23 Abs. 1 GG vorausgesetzt. Unentbehrliche Legitimationsquellen der Gemeinschaftsgewalt bleiben [ . . . ] die Mitgliedstaaten, weil die Völker Europas in ihrem jeweiligen Verfassungsraum immer noch am verlässlichsten diejenigen Artikulations- und Kontrollmöglichkeiten finden, die eine funktionierende demokratische Willensbildung möglich machen. [ . . . ] Daraus folgt: Der Ministerrat darf im Verlauf der weiteren Vertragsentwicklung nicht wesentlich sein Gewicht einbüßen. Unangemessen in diesem Sinne wäre es, den Rat in die eher reaktive Position einer föderalen Zweiten Kammer abzustufen, weil dies eben zwar der Machtverteilung in einem Bundesstaat entspricht, nicht aber dem Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts im übernationalen Staatenverbund.“

Dies bedeutet, dass sich jede Stärkung des Europäischen Parlaments verbiete, die dazu führte, dass – spiegelbildlich – der Rat wesentlich an Macht verlöre.724 f) Gleichlauf von Mehrheitsentscheidung und Mitentscheidung Von vielen Stimmen in der Literatur und auch von der Kommission wird künftig ein Gleichlauf von Mehrheitsentscheidung im Rat und Mitentscheidung des Europäischen Parlaments gefordert, von der Kommission allerdings nur im Hinblick auf legislative Rechtsakte.725 g) Verbot der Gleichstellung des Europäischen Parlaments mit dem Rat Wieder anderer Ansicht zur Folge wird aus dem deutschen Demokratieprinzip des Art. 20 i.V.m. Art. 79 GG sogar ein Verbot abgeleitet, dem Europäischen Parlament eine „positive“ Kompetenz zuzuschreiben, also die Befugnis, Entscheidungen auch ohne bzw. gegen den Willen des Ministerrates durchzusetzen.726

2. Stellungnahme a) Stärkung der inneren demokratischen Legitimation und begrenzte Stärkung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments Letztgenannter Ansicht, dass aus dem Demokratieprinzip ein Verbot abzuleiten sei, dem Europäischen Parlament irgendeine „positive“ Kompetenz einzuräumen, ist entgegenzuhalten, dass Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zwar fordert, dass die demokra724

Vgl. Hillgruber, Das Verhältnis der EG und der EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347

(373). 725 So Maurer, S. 15 (38); Pernice, S. 866 (869); Streinz, Die demokratische Legitimation der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft, S. 73 (80); Doehring, Demokratiedefizit in der Europäischen Union?, S. 1133 (1134); Kommission (KOM) 2000, 34 endg., S. 27. 726 Vgl. Nachweis bei Classen, S. 238 (251).

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

tische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften durch den Rat über die Rückkoppelung an die nationalstaatlichen Parlamente erfolgen muss. Dies heißt jedoch nicht, dass der Ministerrat in jedem Falle das letzte Wort behalten muss.727 Ob das Parlament eine in diesem Sinne unzulässige Kompetenzfülle hat, die den Rat in eine reaktive Position setzen würde, lässt sich nicht anhand von einzelnen Befugnissen entscheiden. Vielmehr ist hierzu eine Gesamtbetrachtung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments auf der einen Seite und derjenigen des Rates auf der anderen vorzunehmen. Gegen diejenigen Meinungen, die einen erheblichen Kompetenz- und Legitimationsausbau des Europäischen Parlaments fordern, spricht, dass dies nur auf Kosten der Befugnisse des Rates geschehen könnte. Weil aber die Unionsbürger nicht einer staatlichen Schicksalsgemeinschaft entsprechend miteinander verbunden sind und die vorrechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen einer praktisch-materiellen Demokratie in der Europäischen Union fehlen, geht vom Rat über die nationalen Parlamente eine „ungleich intensivere“728 demokratische Legitimation aus als vom Europäischen Parlament.729 „Soll europäische Hoheitsgewalt auf der von den Staatsvölkern der Mitgliedstaaten vermittelten, insofern demokratischen Willensbildung beruhen, setzt das voraus, dass sie von einem Organ ausgeübt wird, das von den mitgliedstaatlichen Regierungen beschickt wird, die ihrerseits demokratischer Kontrolle unterstehen. Deshalb ist die zentrale Rolle, die dem Rat bei der Ausübung der Gemeinschafts- bzw. Unionsgewalt zukommt, demokratisch geboten; denn die demokratische Legitimation dieses europäischen Organs erfolgt durch die Rückbindung der Ratsvertreter an die nationalen Parlamente.“730

Gegen die Ansicht, dass eine Mehrheitsentscheidung des Rates demokratisch künftig immer durch eine Mitentscheidung des Europäischen Parlaments stützend zu legitimieren ist, wurde bereits eingewandt, dass eine Mehrheitsentscheidung im Rat nicht gleichzusetzen ist mit einem Wegfallen der demokratischen Legitimation der Entscheidung durch die nationalen Parlamente und dass das Europäische Parlament eine solche „Lücke“ von seiner Struktur her gar nicht schließen könnte.731 Zudem würde ein genereller Gleichlauf von Mehrheitsentscheidung und Mitentscheidungsverfahren dazu führen, dass das Europäische Parlament auch in den727 So verweist Classen mit Recht darauf, dass dieser strengen Auffassung zur Folge bereits jetzt das Haushaltsrecht der EG „möglicherweise“ schon verfassungswidrig wäre, da das Europäische Parlament hinsichtlich der nichtobligatorischen Ausgaben, die einen ständig größeren Anteil des EG-Haushaltes einnehmen, das Letztentscheidungsrecht hat (s. o.), dass also dem Europäischen Parlament bereits jetzt gerade dort, „wo tatsächlich politischer Gestaltungsspielraum besteht“ eine dem Rat vorgehende „positive“ Kompetenz zukommt (ders., S. 238 (251), m. w. N.). 728 Hilf, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 75 (81). 729 Ebenso Hillgruber, Das Verhältnis der EG und der EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (373); Breuer, S. 417 (425); Hilf, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 75 (81 ff.). 730 Hillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (5). 731 Vgl. zu diesen Argumenten im Einzelnen oben D., II., 3., f), bb), (3), (d).

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jenigen Bereichen, in welchen der Rat exekutiv tätig wird, mitentscheidet. Dies würde wiederum dazu führen, dass der Rat erheblich an Macht verlöre, was aus Gründen der demokratischen Legitimation nicht zulässig wäre.732 Zu folgen ist denjenigen Literaturmeinungen, die eine „behutsame“ bzw. „eingeschränkte“ Stärkung der Kompetenzen und der Legitimationsbasis des Europäischen Parlaments fordern.733 Die hier genannten Meinungen unterscheiden sich eher in der Diagnose als in der Therapie. Während diejenigen, die eine „behutsame“ Stärkung der Kompetenzen und der Legitimationsbasis des Europäischen Parlaments fordern, argumentativ von einem strukturellen Demokratiedefizit in der Europäischen Union ausgehen734, sieht die andere Ansicht eine ausreichende demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften durch die Rückkoppelung an die nationalen Parlamente gewährleistet.735 Danach würde es eher zu einem Demokratiedefizit kommen, wenn die demokratische Legitimation künftig einseitig innerhalb der Strukturen der Europäischen Union erfolgen sollte, da von den Unionsbürgern keine gleichwertige demokratische Legitimation ausgehen kann wie von den Mitgliedstaaten.736 Bei zunehmender Integration steigen nach ganz überwiegender Literaturmeinung und nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes die Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG an die demokratische Binnenstruktur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften. Dies bedeutet, dass die demokratische Legitimation, die vom Europäischen Parlament ausgeht, bei einer Vermehrung der Kompetenzen der Union und ihrer Gemeinschaft ebenfalls zunehmen muss, damit es nicht zu einem Demokratiedefizit in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften kommt. Die vom Europäischen Parlament ausgehende demokratische Legitimation lässt sich dabei auf zweierlei Arten stärken. Erstens durch den Ausbau der Kompetenzen, wiederum unterteilt in den Ausbau der Rechtsetzungs- und der Kontrollkompetenzen gegenüber Kommission und Rat. Und zweitens durch eine Stärkung der inneren demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments selbst. Bei einem zu starken Ausbau der Kompetenzen des Europäischen Parlaments korrespondiert hiermit ein Verlust der vom Rat und damit von den nationalen Parlamenten ausgehenden demokratischen Legitimation und eine Gefährdung des institutionellen Gleichgewichts, das – gewendet auf eine supranationale Hillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (5). So Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 24; Classen, S. 238 (250); Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz. 26; Hillgruber, Das Verhältnis der EG und der EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (373); Breuer, S. 417 (425). 734 So etwa Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 24; Classen, S. 238 (250). 735 Vgl. Hillgruber, Das Verhältnis der EG und der EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (373) sowie ders., Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 5; Hilf, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 75 (81 ff.). 736 Vgl. Hillgruber, Das Verhältnis der EG und der EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (373); Breuer, S. 417 (425); BVerfGE 89, 155; Vgl. auch Hilf, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 75 (81 ff.), der allerdings auf S. 82 ein bestehendes Demokratiedefizit diagnostiziert. 732 733

11 Tiedtke

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

Organisation – auch ein angemessenes demokratisches Legitimationsniveau sicherzustellen hat, weshalb der Rat nicht wesentlich an Gewicht „einbüßen“ darf.737

b) Ausbau der inneren demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments Sofern es um den Ausbau der inneren demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments geht, kann dieser auf zwei Weisen geschehen. Die Ursachen für die Zähl- und Erfolgswertungleichheit im Hinblick auf die Stimmen der Unionsbürger bei der Wahl zum Europäischen Parlament liegen einmal in den unterschiedlichen Wahlverfahren, die in den Mitgliedstaaten zur Anwendung kommen, und des Weiteren in der Mandatskontingentierung, wobei die Mandatskontingentierung die überwiegende Ursache für die Ungleichheit der Wählerstimmen ist. Wird durch den Vertrag von Nizza die Integration vertieft, kann eine Stärkung der inneren demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments auf zweierlei Art geschehen: Durch die Vereinheitlichung der Wahlverfahren und durch eine Mandatskontingentierung, die proportionaler zur Bevölkerung der Mitgliedstaaten ist als bisher. Eine solche Stärkung der inneren demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments korrespondiert zudem nicht unmittelbar mit einer Schwächung der demokratischen Legitimation durch die nationalen Parlamente. Das Europäische Parlament wäre allenfalls dann in der Lage, die vorherrschende Stellung der nationalen Parlamente im Hinblick auf die demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften abzulösen, wenn kumulativ drei Voraussetzungen vorliegen würden, die es einem nationalen Parlament hinsichtlich dessen demokratischer Legitimation vergleichbar machen würden: Erstens ein einheitliches Wahlverfahren, zweitens keine Mandatskontingentierung und – vor allem – drittens die notwendigen vorrechtlichen Voraussetzungen. Solange aber die Unionsbürger noch nicht durch das gleiche rechtliche und tatsächliche Band miteinander verbunden sind wie die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, solange die vorrechtlichen Bedingungen in Bezug auf europaweite Medien, Parteien usw. fehlen, solange kann eine Stärkung der inneren demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments tendenziell nicht dazu geeignet sein, es zu den nationalen Parlamenten im Hinblick auf die Qualität der demokratischen Legitimation aufschließen zu lassen. Eine Stärkung der inneren demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments allein gefährdet mithin nicht die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften. Die Forderung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nach einem Ausbau der inneren demokratischen Legitimation ist somit zwar nicht begrenzt durch den Primat der nationalen Parlamente; sie berücksichtigt jedoch weiterhin die Nicht-Staatlichkeit der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften und in der Folge die generelle 737 Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (742); ebenso Hillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (5).

I. Vorgaben des Art. 23 GG für die Weiterentwicklung der EU

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Rechtfertigung von unterschiedlichen Wahlverfahren und Mandatskontingentierung in einem Staatenverbund. Denn im Staatenverbund der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften steht das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten den Prinzipien der Zähl- und Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen gegenüber, so dass im Wege praktischer Konkordanz eine Lösung zu finden ist. Dies bedeutet im Prinzip: Je mehr staatliche Aufgaben der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften übertragen werden, je weniger ist die Mandatskontingentierung gerechtfertigt. Dies heißt jedoch auch, dass sie prinzipiell solange gerechtfertigt ist, wie die Europäische Union ihrem Wesen nach ein Staatenverbund bleibt.738 c) Begrenzter Kompetenzzuwachs für das Europäische Parlament Problematischer als eine Angleichung der inneren demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments an diejenige der nationalen Parlamente ist sein Kompetenzausbau. Denn „[ . . . ] entgegen der vielfach vertretenen Auffassung vom ,Demokratiedefizit‘ der Gemeinschaft [fordert] gerade das (den nationalen Verfassungen zu Grunde liegende) Demokratieprinzip, dass dem Rat die zentrale Rolle bei der Ausübung der Gemeinschaftsgewalt zukommt.“739

Selbst wenn die innere demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments derjenigen von nationalen Parlamenten angenähert wird: „Eine ungleich intensivere demokratische Legitimation, wie sie nur von einem einheitlichen Staatsvolk ausgehen kann, kann hiermit nicht erreicht werden.“740 Und ein Kompetenzausbau auf Seiten des Europäischen Parlaments hat notwendig einen Kompetenzrückbau auf Seiten des Rates zur Folge. Die „Übergewichtsformel“741 des Bundesverfassungsgerichtes ist also dahingehend zu konkretisieren, in welchem Umfang bei zunehmender Integration die Kompetenzen des Europäischen Parlaments verstärkt werden müssen und inwieweit sie nicht verstärkt werden dürfen, weil es ansonsten zu einer zu starken Position gegenüber dem Rat käme. aa) Primärrechtsetzung Im Rahmen der Primärrechtsetzung steht dem Europäischen Parlament grundsätzlich nur eine Anhörungsbefugnis zu.742 Diese „Nicht-Mitentscheidung“ des 738 Wobei damit nicht gesagt ist, dass die Union oder die Gemeinschaften die Überwindung der Rechtsnatur eines Staatenverbundes anstreben sollte oder dass darin das Ziel der Integration bestünde. 739 Hillgruber, Das Verhältnis der EG und der EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (373). 740 Hilf, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 75 (81 f.). 741 Hilf, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 75 (82). 742 Vgl. oben D., III., 1., b), bb). Eine Ausnahme besteht im Hinblick auf die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten. In diesem Bereich steht dem Europäischen Parlament nach den Ver-

11*

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

Europäischen Parlaments bei Vertragsänderungen ist im Hinblick auf die Rechtsnatur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften als Staatenverbund wesentlich. Die Vertragsänderungen werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten vereinbart, Art. 48 Abs. 2 S. 1 EUV, und sie sind von den einzelstaatlichen Parlamenten bzw. durch Referenden zu ratifizieren, Art. 48 Abs. 3 EUV. Im Zusammenhang mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung führt dies dazu, dass die Mitgliedstaaten die Herren der Verträge bleiben und die nationalen Parlamente somit jeden Kompetenzausbau der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften verhindern können. Eine stärkere Beteiligung des Europäischen Parlaments an der Primärrechtsetzung, etwa sogar eine Zustimmungsbefugnis, ginge zu Lasten der demokratischen Legitimation durch die Mitgliedstaaten und würde der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften eine „(Teil-)Kompetenz-Kompetenz“ einräumen und mithin ein Kondominium begründen. Hierfür wäre das Europäische Parlament jedoch nicht ausreichend demokratisch legitimiert, selbst wenn es nach seiner inneren demokratischen Legitimation den nationalen Parlamenten angeglichen wäre, da für eine umfassende europäische Demokratie mit KompetenzKompetenz bislang die vorrechtlichen Voraussetzungen fehlen. Zudem würde hierdurch die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten gefährdet, da ein mit (Teil-) Kompetenz-Kompetenz ausgestattetes Europäisches Parlament von seiner Tendenz her dazu angelegt wäre, seine Befugnisse – auf Kosten der Mitgliedstaaten – auszudehnen. Die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten ist jedoch Voraussetzung dafür, dass die einzelstaatlichen Parlamente weiterhin ihre Aufgabe der demokratischen Legitimation des Rates wahrnehmen können. Die Demokratie auf staatlicher Ebene darf durch die Europäische Union nicht nachhaltig geschwächt werden, „[ . . . ] so dass die mitgliedstaatlichen Parlamente die Legitimation der von der Union wahrgenommenen Hoheitsgewalt nicht mehr ausreichend vermitteln könnten.“743

Deshalb ist eine Beteiligung des Europäischen Parlaments an der Primärrechtsetzung aus der Perspektive der demokratischen Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften auch künftig gerade nicht geboten.

bb) Sekundärrechtsetzung Etwas anderes gilt hinsichtlich der Sekundärrechtsetzung. Die nationalen Parlamente legitimieren die Sekundärrechtsetzung nur mittelbar, über die Verantwortlichkeit der Mitglieder des Rates gegenüber den einzelstaatlichen Parlamenten. Die trägen eine Mitentscheidungsbefugnis zu, Art. 49 Abs. 1 S. 2, HS. 2 EUV. Jedoch könnten die Mitgliedstaaten letztlich auch gegen den Willen des Europäischen Parlaments neue Mitgliedstaaten aufnehmen, da es als „Herren der Verträge“ bei ihnen liegt, Art. 49 Abs. 1 S. 2, HS. 2 EUV zu ändern und das Erfordernis eines Zustimmungsvotums des Europäischen Parlaments abzuschaffen. 743 BVerfGE 89, S. 155 (186).

I. Vorgaben des Art. 23 GG für die Weiterentwicklung der EU

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einzelstaatlichen Parlamente sind jedoch nicht in der Lage, den die Interessen aller Mitgliedstaaten einbeziehenden Prozess der Willensbildung im Rat wirksam zu steuern oder lückenlos zu kontrollieren.744 Das Europäische Parlament muss diesen Prozess der Willensbildung im Rahmen der Sekundärrechtsetzung deshalb ergänzend demokratisch legitimieren. Der mit einer Beteiligung des Europäischen Parlaments bei der Sekundärrechtsetzung verbundene Machtverlust des Rates wird durch die, wenn auch nicht gleichwertige, aber dafür unmittelbare demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments kompensiert. Zudem bleibt der Rat auch bei einem weiteren Ausbau der Sekundärrechtsetzungsbefugnisse des Europäischen Parlaments weiterhin als Doppelorgan mit Exekutiv- und Legislativbefugnissen der primus inter pares innerhalb der Organtroika Kommission, Parlament, Rat. Diese Kompetenzerweiterung des Europäischen Parlaments im Rahmen der Sekundärrechtsetzung wäre erst dann problematisch, wenn das Parlament bei einer Gesamtbetrachtung der Sekundärrechtsetzungskompetenzen das Übergewicht gegenüber dem Rat inne hätte,745 da diese Entwicklung den mitgliedstaatlichen Einfluss auf die Rechtsetzung zurückdrängen würde und im Ergebnis tendenziell eine Verschiebung der Europäischen Gemeinschaft von einem Staatenverbund hin zu einem Bundesstaat bewirken würde, was wiederum die „tragende“ demokratische Legitimation durch die einzelstaatlichen Parlamente gefährdete.746 Ein Ausbau der Sekundärrechtsetzungsbefugnisse des Europäischen Parlaments kann so zu einer stärkeren demokratischen Absicherung beim Erlass von Sekundärrecht führen747 und ist deshalb, soweit es zu weiteren „Integrationsschüben“ kommt, nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG geboten. Diese Auslegung von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG korrespondiert auch mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes im Maastricht-Urteil: „Bereits in der gegenwärtigen Phase der Entwicklung kommt der Legitimation durch das Europäische Parlament eine stützende Funktion zu, die sich verstärken ließe, wenn [ . . . ] sein Einfluss auf die Politik und Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft wüchse.“748

Eine unmittelbare Verknüpfung zwischen Mehrheitsentscheidung im Rat und Mitentscheidung des Europäischen Parlaments im Bereich der Sekundärrechtsetzung wird von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG jedoch nicht gefordert.749 Hilf, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 75 (82). Ein solches „Übergewicht“ der Kompetenzen des Europäischen Parlaments besteht derzeit lediglich im Hinblick auf den nicht-obligatorischen Haushalt der Europäischen Gemeinschaft, Art. 272 EGV. 746 Vgl. auch BVerfGE 89, S. 155 (186); Hillgruber, Das Verhältnis der EG und der EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (373); Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (742): „Der Ministerrat darf im Verlauf der weiteren Vertragsentwicklung nicht wesentlich sein Gewicht einbüßen.“ 747 Ebenso: Hilf, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 75 (82). 748 BVerfGE 89, S. 155 (186). 744 745

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

cc) Kontrollbefugnisse Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments in personeller Hinsicht sind denknotwendig nur gegenüber der Kommission möglich. Denn der Rat besteht aus Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament kann nicht über die Zusammensetzung nationaler Regierungen bestimmen. Deshalb bleibt das Europäische Parlament im Hinblick auf den Rat auf eine Beteiligung an der Sekundärrechtsetzung und somit auf eine sachliche Kontrolle der Ratstätigkeit verwiesen. Betreffend die personelle Verantwortlichkeit der Kommission fordert Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG derzeit keine Kontrolldichte, die derjenigen eines parlamentarischen Regierungssystems entspricht bzw. angeglichen ist.750 Zum Mindestgehalt des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG gehört zwar eine parlamentarische Demokratie, nicht jedoch ein parlamentarisches Regierungssystem. Würde das Europäische Parlament alleine über die Zusammensetzung der Kommission entscheiden, würde dies kein „Mehr“ an demokratischer Legitimation bedeuten, da hiermit ein Verlust der (mittelbaren) demokratischen Legitimation über die Regierungen der Mitgliedstaaten durch die nationalen Parlamente einherginge. Eine Stärkung der Verantwortlichkeit der Kommission gegenüber dem Europäischen Parlament während der Amtszeit der Kommission, etwa indem die Kommission der Mehrheit des Parlaments verantwortlich wäre, mag zwar eine Verbesserung der demokratischen Legitimation der Kommission mit sich bringen, wäre jedoch nicht unter dem Gesichtspunkt erforderlich, dass eine solche Kompetenz des Europäischen Parlaments notwendig wäre, um innerhalb der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften ein System parlamentarischer Demokratie zu etablieren. Eine Lücke betreffend die Kontrollbefugnisse des Parlaments besteht derzeit noch im Hinblick auf die Rechtsschutzmöglichkeiten des Europäischen Parlaments. Denn die Rechte des Parlaments sind kupiert gegenüber denjenigen von Rat und Kommission, die im Rahmen der Nichtigkeitsklage privilegiert klagebefugt sind, weil sie ohne ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis die Möglichkeit zur Erhebung der Nichtigkeitsklage haben, Art. 230 Abs. 2 EGV. Jedoch ist diese Lücke im Rahmen einer Gesamtbetrachtung der Befugnisse des Parlaments gegenüber Rat und Kommission nicht als derart wesentlich zu bezeichnen, als dass – auch bei künftig zunehmender Integration – dieses kupierte Klagerecht des Parlaments dazu führen könnte, dass die Mindestanforderungen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG unterschritten würden und – in der Folge – der Bundesrepublik Deutschland deswegen ein Verbleiben in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften verwehrt sein könnte.

749 Vgl. oben D., II., 3., f), bb), (3), (c) und E., I., 2., a). Ein solcher genereller „Gleichlauf“ von Mehrheits- und Mitentscheidung würde zudem dazu führen, dass das Europäische Parlament auch dann über ein Mitentscheidungsrecht verfügen würde, wenn der Rat administrativ tätig wäre (vgl. Kommission, in: KOM (2000), 34 endg., S. 27). 750 Vgl. oben D., II., 3., g.

I. Vorgaben des Art. 23 GG für die Weiterentwicklung der EU

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d) Stärkung der demokratischen Legitimation der Kommission Zum Stand des Vertrages von Amsterdam unterliegt die Kommission keiner wirksamen demokratischen Kontrolle – weder gegenüber den Parlamenten der Mitgliedstaaten noch gegenüber dem Europäischen Parlament.751 Dieses Demokratiedefizit führt aber nicht zu einem Verstoß gegen Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, weil es dem verfassungsändernden Gesetzgeber bekannt war und deshalb davon auszugehen ist, dass es insgesamt nicht derart ins Gewicht fällt, dass die Übertragung der Hoheitsrechte auf die Europäische Union und ihre Gemeinschaften hierdurch unwirksam würde. Bei einer weiteren, wesentlichen Vertiefung der Integration würde das Defizit der demokratischen Legitimation der Kommission aber zu einem unterschreiten der demokratischen Mindeststandards des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG führen: Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der hier vertretenen Meinung müssen die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden.752 Bei einem wesentlichen „Integrationsschub“ durch den Vertrag von Nizza, etwa dem Ausbau der Kommission zu einer „echten“ oder zur alleinigen Exekutive (z. B. durch Übertragung der Exekutivbefugnisse des Rates753) oder der Vergemeinschaftung neuer, wesentlicher Politikbereiche, würde die (weitgehende, vgl. Art. 201 Abs. 2 EGV) Unabhängigkeit der Kommission während ihrer Amtszeit zu einem Unterschreiten der Mindesstandards des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG führen. Die demokratische Legitimation der Kommission auf der einen Seite und die Machtbefugnisse der Kommission oder das (erhebliche) Fortschreiten der Integration auf der anderen Seite müssen sich also entsprechend einem „System kommunizierender Röhren“ verhalten: Nimmt die Machtfülle der Kommission zu, muss auch ihre demokratische Legitimation gestärkt werden. 3. Ergebnis Im Hinblick auf die innere demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments fordert Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, dass die Auswirkungen der unterschiedlichen Wahlverfahren und der Mandatskontingentierung auf die Zähl- und Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen schritthaltend mit zunehmender Integration vermindert werden; Art. 23 Abs. 1 S. 1 verlangt jedoch nicht die komplette Abschaffung solcher Auswirkungen. – Bei der Primärrechtsetzung ist ein Ausbau der Kompetenzen des Europäischen Parlaments gerade nicht demokratisch geboten, da eine damit begründete (Teil-) 751 Vgl. oben D., III., 1., a), cc); vgl. auch Hillgruber, EU-Kommission auf dem Prüfstand! (siehe Fn. 528), S. 1 (2). 752 BVerfGE 89, S. 155 (186). 753 Vgl. auch Hillgruber, EU-Kommission auf dem Prüfstand! (siehe Fn. 528), S. 1, der wegen des Demokratieprinzips für eine Beibehaltung der zentralen Rolle des Rates ist.

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

Kompetenz-Kompetenz (Kondominium) die demokratische Legitimation durch die einzelstaatlichen Parlamente gefährden würde. – Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG fordert einen schrittweisen Ausbau der Sekundärrechtsetzungsbefugnisse des Europäischen Parlaments zur ergänzenden demokratischen Absicherung des Sekundärrechtsetzungsprozesses. Die Obergrenze bildet hierbei – bei einer Gesamtbetrachtung – ein Gleichrang mit dem Rat. – Ein weiterer Ausbau der personellen Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments gegenüber der Kommission wird von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht gefordert. – Bei Zunahme der Kompetenzen der Kommission oder bei Vergemeinschaftung weiterer, wesentlicher Aufgaben der Nationalstaaten ist die demokratische Legitimation der Kommission zu stärken.

II. Zunehmende Integration durch den Vertrag von Nizza 1. Begriffsbestimmung – „zunehmende Integration“ Für „zunehmende Integration“ gibt es in Literatur und Rechtsprechung verschiedene Umschreibungen. Das Bundesverfassungsgericht spricht vom „Zusammenwachsen der europäischen Nationen“754, vom „Ausbau der Aufgaben und Befugnisse der Gemeinschaft“755 oder vom „Fortgang der Integration“756. In der Literatur wird von „Integrationsfortschritt“757 gesprochen, an anderer Stelle wird zunehmende Integration mit einem Anwachsen der Zuständigkeiten der EU und – parallel dazu – einer Reduzierung der demokratischen Rechte der nationalen Parlamente („kompensatorischer Effekt“)758 beschrieben. Fasst man die vorangehende Rechtsprechung und die Literaturmeinungen zusammen, kann zunehmende Integration im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG auf zwei Arten geschehen. Erstens materiell, dadurch, dass Aufgaben und Befugnisse von den Mitgliedstaaten auf die Europäische Union übertragen werden („materielle Vergemeinschaftung“). Eine „institutionelle Vergemeinschaftung“ erfolgt, wenn – Kompetenzen – die bereits in den europäischen Verträgen geregelt sind – von den Regierungen der Mitgliedstaaten auf Institutionen der Europäischen Union übertragen werden, 754 755 756 757 758

BVerfGE 89, S. 155. BVerfGE 89, S. 155 (184). BVerfGE 89, S. 155 (186). Rojahn, in: von Münch / Kunig, Bd. 2, Art. 23, Rz. 19. Scholz, in: Maunz / Dürig, Bd. III, Art. 23, Rz. 58.

II. Zunehmende Integration durch den Vertrag von Nizza

169

– Aufgaben und Befugnisse vom Bereich der Einstimmigkeitsentscheidung des Rates in den Bereich der Mehrheitsentscheidung überführt werden, – sich die Stimmverteilung bei Entscheidungen des Rates mit qualifizierter Mehrheit verstärkt an der Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten orientiert und – Politiken vom Konsultationsverfahren oder einem Verfahren ohne die Beteiligung des Europäischen Parlaments in den Bereich der Mitentscheidung überführt werden.

In dem unter dem ersten Spiegelstrich aufgeführten Fall sind die materiellen Aufgaben und Befugnisse bereits in den Verträgen (EUV, EGV, EAGV) geregelt. Durch die Übertragung der Entscheidungskompetenz von den Mitgliedstaaten auf den Rat759, werden die Kompetenzen formell vergemeinschaftet, indem ein Organ der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften zuständig wird. In den Fällen, die unter dem zweiten und dritten Spiegelstrich aufgeführt sind, entfernen sich die Abstimmungen im Rat weiter von dem auf dem völkerrechtlichen Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten basierenden Erfordernis einstimmiger Beschlussfassung in internationalen Organisationen.760 Und auch die Überführung einer Politik vom Konsultationsverfahren oder einem Verfahren ohne die Beteiligung des Europäischen Parlaments in den Bereich der Mitentscheidung bringt eine institutionelle Vergemeinschaftung mit sich. Denn durch den hierdurch entstehenden Kompromisszwang des Rates mit dem Europäischen Parlament büßt der Rat an politischer und rechtlicher Kompetenz zu Gunsten des Europäischen Parlaments ein. Dadurch wird der Einfluss der Mitgliedstaaten auf die jeweilige Politik der Gemeinschaft reduziert. 2. Zielsetzung des Vertrages von Nizza Das Ziel, das mit dem Vertrag von Nizza erreicht werden sollte, war, die Institutionen der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften auf die Aufnahme von bis zu 12 weiteren Mitgliedstaaten vorzubereiten.761 Der Verhandlungsauftrag basierte auf dem Protokoll (Nr. 7) des Vertrages von Amsterdam über die Erweiterung der EU und wurde am 3. und 4. Juni 1999 durch den Europäischen Rat in Köln konkret formuliert: Es sollte sichergestellt werden, dass die Organe der Union auch nach der Erweiterung „effizient arbeiten können“.762 („Treaty changes wich 759 Als Beispiel ist hier Art. 214 Abs. 2 EGV zu nennen, der die Ernennung der Kommission betrifft. Nach der neuen Fassung durch den Vertrag von Nizza sind nun nicht mehr die Regierungen der Mitgliedstaaten für die Ernennung des Kommissionspräsidenten zuständig, sondern der Rat. 760 Vgl. Hillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (2). 761 Vgl. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143; Pache / Schorkopf, S. 1377. 762 Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (146), mit Hinweis auf die Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Köln, 3. und 4. Juni 1999, Rz. 52.

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

will ensure that the Union continues to have properly functioning, efficient and legitimate institutions after enlargement.“763) Der Themenkatalog beschränkte sich zunächst auf die sogenannten Left-overs von Amsterdam, namentlich: – die Größe und Zusammensetzung der Europäischen Kommission, – die Stimmgewichtung im Rat sowie – Fragen betreffend die Ausweitung von Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit.

Der Themenkatalog wurde später erweitert, so dass in Nizza Vertragsänderungen verhandelt werden sollten, die sich „in Bezug auf die europäischen Organe im Zusammenhang mit vorgenannten Fragestellungen und im Zuge der Umsetzung des Vertrages von Amsterdam ergaben“.764 Im Hinblick auf die Erweiterung der EU „[ . . . ] bedurfte es nach allgemeiner Überzeugung vor allem einer Neugestaltung der europäischen Organe. Denn schriebe man, wie bei den bisherigen Erweiterungen, die bestehenden Institutionen weiter fort, säßen nach Abschluss der Beitrittsverhandlungen am Tisch des Rates 27 Staatsrepräsentanten mit einem erdrückenden Übergewicht der kleinen Mitgliedstaaten; an Stelle von 20 übten dann 34 Kommissare immer schmaler zugeschnittene Ämter aus, und im Europäischen Parlament stritten über 874 Abgeordnete um Beschlüsse.“765

Auf dem Gipfel von Feira am 19. / 20. Juni 2000 wurde beschlossen, auch die Vorschriften über eine verstärkte Zusammenarbeit in die Verhandlungen einzubeziehen. Frankreich legte schließlich weitere Themen vor, die auf der Konferenz von Nizza verhandelt werden sollten, wozu etwa auch die Reform der Gerichtsbarkeit, der anderen Institutionen und der Grundrechtsschutz gehörten.766 Daneben drängten sich zahlreiche weitere Themen auf die Agenda: Die Vereinfachung der Verträge, die Neuabgrenzung der Zuständigkeiten von Union und Mitgliedstaaten, die Einbeziehung der Europäischen Grundrechtscharta in die Europäischen Verträge, die Abschaffung der Kompetenzabrundungsklausel des Art. 308 EGV, zusätzliche Klagerechte für das Parlament, den Ausschuss der Regionen sowie für Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen etc.767 763 Wouters, S. 342 (344), der wiederum zitiert aus Presidency Conclusions Santa Maria da Feira, European Council, June 19 and 20, 2000, SN 200 / 00, EN, point 3. 764 Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (146), mit Hinweis auf die Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Köln, 3. und 4. Juni 1999, Rz. 53. 765 Wiedmann, Der Vertrag von Nizza, S. 185 (187). 766 Vgl. Fischer, Der Vertrag von Nizza, S. 64 ff. Während der Vertragsverhandlungen lagen sodann alle Pläne auf dem Tisch, um die Union von Grund auf umzugestalten: Europäische Grundrechte, europäische Armee, eine regierungsähnliche Kommission, ein repräsentatives Parlament, europäische Souveränitätsgewinne in der Steuer-, Sozial- und Ausländerpolitik, europäische Staatsanwaltschaft und europäische Fachgerichte [Wiedmann, Der Vertrag von Nizza, S. 185 (188)]. 767 Vgl. Wiedmann, Der Vertrag von Nizza, S. 185 (192).

II. Zunehmende Integration durch den Vertrag von Nizza

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3. Fortschreiten der Integration durch den Vertrag von Nizza a) Die Systematik des Vertrages von Nizza Der Vertrag von Nizza wurde am 26. Februar 2001 unterzeichnet und ist, nach der Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten, am 1. Februar 2003 in Kraft getreten.768 Der Vertrag von Nizza besteht aus zwei Teilen, vier Protokollen und 24 Erklärungen. Dies alles ist zusammengefasst in der Schlussakte, welche den förmlichen Beschluss über die von der Regierungskonferenz verhandelten Texte enthält. Der „Erste Teil“ des Vertrages von Nizza (Art. 1 bis 6) enthält sachliche Änderungen der Verträge. In Art. 1 des ersten Teils wird der EUV in insgesamt 15 Positionen, in Art. 2 wird der EGV in insgesamt 47 Positionen geändert. Art. 3 und 4 nehmen entsprechende Änderungen in EAG und EGKS vor. Art. 5 ändert das Protokoll über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, Art. 6 ändert das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaft. Der „Zweite Teil“ enthält die Art. 7 bis 13. Art. 7 bis 9 befassen sich mit verschiedenen, den Verträgen beigefügten Protokollen über die Satzung des Gerichtshofes. Sie werden durch ein einheitliches Protokoll für die gesamte Union ersetzt.769 Art. 11 bestimmt, dass der Vertrag auf unbestimmte Zeit geschlossen wird. Von den vier zum Vertrag von Nizza gehörenden Protokollen, die Bestandteile des völkerrechtlichen Vertrages sind und somit den gleichen rechtlichen Rang haben wie das übrige Vertragswerk, ist besonders das Protokoll über die Erweiterung der Union („ProtErwEU“) hervorzuheben. Es regelt die ab 2004 und 2005 in Kraft tretenden Änderungen betreffend die Sitzverteilung im Europäischen Parlament, die Abstimmungsmodalitäten im Rat sowie die Größe und Zusammensetzung der Kommission. Von den der Schlussakte beigefügten Erklärungen ist Erklärung Nr. 20 zur Erweiterung der Union hervorzuheben. Hier haben die Mitgliedstaaten ihren Standpunkt niedergelegt, den sie gegenüber den Beitrittskandidaten in Bezug auf Sitzverteilung, Stimmgewichtung und Größe der Institutionen vertreten. Erklärung Nr. 23 zur Zukunft der Union betrifft die geplante Regierungskonferenz 2004. In 768 Dabei stand der Vertrag von Nizza bis zum zweiten irischen Referendum am 19. 10. 2002, in welchem die Iren mit 62,89 % der abgegebenen Stimmen für den Vertrag von Nizza stimmten, kurz vor dem Scheitern (vgl. Thibaut, Iren geben grünes Licht für die Erweiterung der Union, in: Handelsblatt Nr. 202 vom 21. 12. 2002, S. 5). Im ersten Referendum hatten die Iren noch mit 54% gegen den Vertrag von Nizza gestimmt (vgl. Thibaut, ebenda), wobei bei der ersten Abstimmung die Wahlbeteiligung mit 35 % ca. 13 % unter der Wahlbeteiligung bei der zweiten Abstimmung lag. Die Iren waren diesmal der einzige Mitgliedstaat, der die erforderliche Ratifikation (Art. 48 Abs. 3 EUV) an ein Referendum koppelte. Das Ergebnis der zwei Volksabstimmungen erinnert an das Doppelvotum der Dänen zum Vertrag von Maastricht. 769 Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, S. 846.

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

Ziff. 3 und 5 wird erklärt, dass sich die Unterzeichner im Hinblick auf die Regierungskonferenz 2004 eine breit angelegte Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union wünschten, dass im Rahmen dieses Prozesses insbesondere die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Union und Mitgliedstaaten, der Status der Grundrechtscharta, die Vereinfachung der Verträge sowie die Rolle der nationalen Parlamente in der Union diskutiert werden sollen. In Ziff. 6 erklärt die Regierungskonferenz von Nizza, dass sie anerkenne, dass die demokratische Legitimation und die Transparenz in der Union verbessert und gesichert werden müssten, „um diese den Bürgern der Mitgliedstaaten näher zu bringen“.

b) Institutionelle Vergemeinschaftung aa) Übertragung von Befugnissen von den Regierungen der Mitgliedstaaten auf den Rat Bislang lag die Kompetenz, die Kommission einzusetzen, bei den Mitgliedstaaten770, Art. 214 Abs. 2 EGV, die die Entscheidung nach Art. 214 Abs. 2 EGV im Einvernehmen zu treffen hatten. Nach der neuen Regelung wird diese Kompetenz auf den Rat übertragen, der künftig mit qualifizierter Mehrheit entscheidet, Art. 2 Ziff. 22 Vertrag von Nizza, Art. 214 Abs. 2 EGV n.F.. Dies führt zu einer weiteren institutionellen Vergemeinschaftung im hier verstandenen Sinne, mit anderen Worten zu einer „Supranationalisierung“771 der Kommission, mit der Folge, dass künftig nur noch Gemeinschaftsorgane über die Ernennung der Kommission entscheiden. Dies wiederum zieht nach sich, dass die Einsetzung der Kommission in Zukunft mit der Nichtigkeitsklage anfechtbar wird.772

bb) Überführung von Entscheidungen aus dem Einstimmigkeits- in den Mehrheitsbereich Mit dem Vertrag von Nizza werden 27 Materien von insgesamt 70773, in denen derzeit noch das Einstimmigkeitsprinzip gilt, von der Einstimmigkeit in die qualifizierte Mehrheit überführt774.

Vorbehaltlich der Zustimmung durch das Europäische Parlament, Art. 214 Abs. 2 EGV. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (149). 772 Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (149). 773 Die Zahlen variieren je nach Zählweise (Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, S. 846). 774 Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (155). 775 Vgl. unten E., III., 2., a), bb). 770 771

II. Zunehmende Integration durch den Vertrag von Nizza

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cc) Neue Stimmgewichtung im Rat Die Stimmgewichtung im Rat, für den Fall, dass der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet, werden (ab 1. Januar 2005) durch den Vertrag von Nizza neu verteilt, Art. 3 ProtErwEU.775 Die Stimmenverteilung ist künftig stärker als bisher an der Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten angelehnt. Hierdurch kommt es zu einer weiteren Abweichung vom Prinzip der souveränen Staatengleichheit. dd) Ausdehnung der Mitentscheidung In sieben der 27776 Fälle, in denen Beschlüsse vom Rat in Zukunft mit qualifizierter Mehrheit statt einstimmig gefasst werden, geht der Übergang zur Mehrheitsentscheidung einher mit der Einführung des Mitentscheidungsverfahrens nach Art. 251 EGV. c) Materielle Vergemeinschaftung Ursprünglich beabsichtigten die Mitgliedstaaten, die Europäische Union und ihre Gemeinschaften durch den Vertrag von Nizza vor allem institutionell auf die Erweiterung der EU vorzubereiten. Im Ergebnis kam es jedoch auch zu materiellen Abänderungen der Verträge. Die Kompetenzen für internationale Verhandlungen und Übereinkünfte betreffend Dienstleistungen und geistiges Eigentum werden durch Art. 133 Abs. 5 UAbs. 1 EGV n.F. formal weitgehend von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übertragen.777 Betreffend die wirtschaftliche, finanzielle und technische Zusammenarbeit mit Drittländern wurde ein neuer Titel XXI in den EGV eingefügt. Die einzige Vorschrift dieses Titels, Art. 181a EGV n.F., bestimmt, dass die Gemeinschaft, ergänzend zu den Maßnahmen der Mitgliedstaaten und im Einklang mit der Entwicklungspolitik der Gemeinschaft, wirtschaftliche, finanzielle und technische Zusammenarbeit mit Drittländern durchführt.778 Zuständiges Organ ist der Rat, der mit qualifizierter Mehrheit entscheidet, Art. 181a Abs. 2 S. 1 EGV n.F. Im intergouvernementalen Bereich der 2. und 3. Säule wurden die Aufgaben des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees (PSK) in Art. 25 Abs. 2 EUV n.F. präzisiert:779 Das PSK nimmt im Rahmen des Titel V und unter Verantwortung des

776 Vgl. oben E., II., 3., b), bb); vgl. auch Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, S. 846; Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (155). 777 In der Literatur wird allerdings kritisiert, dass das Prinzip der Übertragung der Zuständigkeit auf die Gemeinschaft in den entscheidenden Punkten sogleich wieder eingeschränkt würde [Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, S. 846 (848); Pache / Schorkopf, S. 1377 (1383)]. 778 Vgl. Pache / Schorkopf, S. 1377 (1385 f.). 779 Vgl. Pache / Schorkopf, S. 1377 (1385).

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

Rates die politische Kontrolle und strategische Leitung von „Krisenbewältigungsoperationen“ wahr.780 Des Weiteren wurde die Rolle von Eurojust, einer Einrichtung, welche die Zusammenarbeit der nationalen Staatsanwaltschaften erleichtern und die Ermittlungstätigkeit in Fällen organisierter Kriminalität verbessern soll, in Art. 31 Abs. 2 EUV n.F. geregelt.781 Durch die Koordinierungsstelle fördert der Rat die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Ministerien und den Justizbehörden der Mitgliedstaaten. In diese Zusammenarbeit einbezogen ist auch das Europäische Justitielle Netz, Art. 31 Abs. 2 Buchst. c EUV n.F., um die Erledigung von Rechtshilfeersuchen zu verbessern.782 Des Weiteren führen folgende Neuregelungen zu einer „materiellen Vergemeinschaftung“ durch den Vertrag von Nizza: – Art. 137 Abs. 1 Buchst. j und k EGV n.F. Der Artikel, der die Europäische Gemeinschaft zur Ergänzung und Unterstützung der Tätigkeiten der Mitgliedstaaten auf ausgewählten Gebieten ermächtigt, wurde um die Buchstaben j und k erweitert, welche die „Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung“ und die „Modernisierung der Systeme des sozialen Schutzes“ betreffen. – Art. 175 EGV n.F. Präzisierung der umweltpolitischen Kompetenzen der Gemeinschaft.783 – Art. 10 Abs. 6 Satzung ESZB und EZB Diese Vorschrift sieht nunmehr eine Änderungsmöglichkeit der Satzungen (unter Ratifikationsvorbehalt durch die Mitgliedstaaten) vor. – Art. 266 Abs. 3 S. 2 EGV n.F. Der Rat wird ermächtigt, einige Bestimmungen der Satzung der Europäischen Investitionsbank einstimmig zu ändern.

Weiterhin bedeutet die künftige Regelung von Sanktionen schon im Vorfeld konkreter Verletzungen der Grundsätze des Art. 6 EUV (Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten) einen Kompetenzzuwachs der Europäischen Union. Denn bislang regelte Art. 7 EUV nur das Sanktionsverfahren, wenn es schon zu einer Verletzung vorgenannter Grundsätze gekommen ist, so 780 Die Einrichtung des PSK geht auf die Vereinbarung der Staats- und Regierungschefs in Helsinki (1. und 11. 12. 1999) zurück. Die Regierungen der Mitgliedstaaten einigten sich, bis zum Jahr 2003 in der Lage zu sein, innerhalb von 60 Tagen Streitkräfte im Umfang von bis zu 60.000 Mann in Krisenregionen zum Einsatz bringen zu können [vgl. Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, S. 846 (847)]. Ihre politische und strategische Leitung sollte dem Rat übertragen werden. Der Vertrag von Nizza setzt hierzu das PSK ein, das an die Stelle des bisherigen Politischen Komitees tritt, Art. 25 Abs. 2 EUV n.F. Der Rat kann dem neuen Gremium entsprechende Entscheidungsbefugnisse übertragen, Art. 25 Abs. 3 n.F. 781 Vgl. Pache / Schorkopf, S. 1377 (1385), mit Hinweis auf Mitteilung der Kommission vom 22. 11. 2000, in: KOM (2000), 746 endg. 782 Hierzu: Ziff. 2 der „Von der Konferenz angenommene(n) Erklärungen“ in der Schlussakte des Vertrages von Nizza. Vgl. auch Pache / Schorkopf, S. 1377 (1385), mit dem Hinweis, dass das Europäische Justitielle Netz auf der Grundlage der gemeinsamen Maßnahme 98 / 428 / JI vom 29. 6. 1998 eingerichtet wurde. ABIEG Nr. L 191 v. 7. 7. 1998. 783 Vgl. Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, S. 846 (850).

III. Institutionelle Reformen durch den Vertrag von Nizza

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dass im Falle Österreichs nach den Verträgen keine Handhabe gegen eine Regierungsbeteiligung der FPÖ bestand und somit außerhalb der Verträge, auf bilateralem Wege zwischen den Mitgliedstaaten reagiert wurde.784 Hierzu Wiedmann:785 „Als sich in Österreich abzeichnete, dass die FPÖ im Bund mitregierte, fürchteten seine 14 Partner, das Land könne unter seiner neuen Regierung von den gemeinsamen Wertüberzeugungen abkommen. Überraschend verständigten sie sich im Januar 2000, ihre bilateralen Kontakte zu Österreich einzuschränken, als wollten sie mit dem Land nichts mehr zu tun haben, solange es die FPÖ nicht in die Schranken weist. Die Sanktionen waren vom EUV nicht gedeckt. Offiziell galten sie daher als Vereinbarung der 14 Regierungen. Über die Rechtmäßigkeit und Legitimität der Maßnahmen entzündete sich ein monatelanger diplomatischer Streit, der auch die Regierungskonferenz belastete. Vor allem wegen der politischen Unwägbarkeiten der Sanktionen besannen sich die Mitgliedstaaten auf eine vertragliche Grundlage für präventive Reaktionen.“

III. Die institutionellen Reformen durch den Vertrag von Nizza 1. Das Europäische Parlament a) Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens In sieben der 27786 Fälle, in denen Beschlüsse vom Rat in Zukunft mit qualifizierter Mehrheit statt einstimmig gefasst werden, geht der Übergang zur Mehrheitsentscheidung einher mit der Einführung des Mitentscheidungsverfahrens nach Art. 251 EGV. In den Bereich der Mitentscheidung (Art. 251 EGV) werden überführt:787 1. Art. 13 Abs. 2 EGV n.F. Gemeinschaftliche Fördermaßnahmen – unter Ausschluss jeder Harmonisierung – zur Unterstützung der mitgliedstaatlichen Maßnahmen gegen Diskriminierungen „aus Gründen der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“. 2. Art. 63 Nr. 1 und 2a i.V.m. Art. 67 Abs. 5 EGV n.F. Bestimmte Asyl- und flüchtlingspolitische Maßnahmen. 3. Art. 157 Abs. 3 EGV n.F. Maßnahmen zur Gewährleistung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie. 784 Vgl. Pache / Schorkopf, S. 1377 (1383 f.), mit Hinweis auf Aufsätze, Hummer / Obwexer, Die Wahrung der Verfassungsgrundsätze, S. 485 – 496 und Schorkopf, Verletzt Österreich die Homogenität in der Europäischen Union?, S. 1036 – 1044. 785 Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, S. 846 (847). 786 Vgl. oben E., II., 3., b), bb); vgl. auch Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, S. 846; Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (155). 787 Vgl. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (178).

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

4. Art. 137 Abs. 1 EGV n.F. Bestimmte Maßnahmen der Sozialpolitik, sofern der Rat dies einstimmig beschließt. 5. Art. 62 Nr. 3 und Art. 63 Nr. 3 Buchst. b EGV n.F. Maßnahmen zur Reisefreiheit von Drittstaatsangehörigen sowie bei illegaler Einwanderung und illegalem Aufenthalt. 6. Art. 159 Abs. 3 EGV n.F. Spezifische Aktionen außerhalb der Fonds zur Stärkung des wirtschaftlichen Zusammenhalts. 7. Art. 65 i.V. m. Art. 67 Abs. 5 EGV n.F. Maßnahmen im Bereich der justitiellen Zusammenarbeit in Zivilsachen – mit Ausnahme der familienrechtlichen Aspekte.

b) Änderung der Mandatskontingentierung In Art. 2 ProtErwEU ist geregelt, dass ab dem 1. Januar 2004 mit Wirkung ab dem Beginn der Wahlperiode 2004 – 2009 eine abweichende Mandatskontingentierung gilt. Art. 190 Abs. 2 UAbs. 1 EGV wird geändert und erhält folgende Fassung: „Die Zahl der in jedem Mitgliedstaat gewählten Abgeordneten wird wie folgt festgesetzt: Belgien: Dänemark: Deutschland: Griechenland: Spanien: Frankreich: Irland: Italien: Luxemburg: Niederlande: Österreich: Portugal: Finnland: Schweden: Vereinigtes Königreich:

22 13 99 22 50 72 12 72 6 25 17 22 13 18 72“788

Hierzu Hatje:789 „Das Parlament selbst hatte den Vorschlag eingebracht, die Sitzverteilung grundsätzlich proportional zur Bevölkerungsgröße zu berechnen, den kleinsten Mitgliedern allerdings eine Mindestzahl an Abgeordneten zuzusichern. Ein anderer Vorschlag, der ebenfalls ohne ständigen Anpassungszwang auskommt, war der sog. ,Bottom-up-Ansatz‘. Danach sollte Wegen des Verhältnisses der Sitze zu den Einwohnerzahlen vergleiche Anhang I. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (151), mit Hinweis auf Leinen, Die Positionen und Erwartungen des EP zur Regierungskonferenz, in: Integration 2000, S. 73 f. und Giering, Die EU vor der Erweiterung – Reformbedarf der Institutionen und Verfahren nach Amsterdam, in: ÖZP 1998, S. 391 (396). 788 789

III. Institutionelle Reformen durch den Vertrag von Nizza

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die Anzahl der Abgeordneten bereits jetzt so stark gekürzt werden, dass der weitere Beitritt von mehr als 10 Ländern möglich ist. Der Vertrag von Nizza kombiniert beide Ideen in einem diffizilen Mechanismus. Danach ist die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments nicht das Ergebnis eines mathematischen Kalküls, sondern ein politischer Kompromiss [ . . . ]. Es handelt sich um eine komplizierte Lösung [ . . . ].“

Die Änderungen der Mandatskontingentierung führen nach einer Literaturmeinung prinzipiell dazu, dass die Sitze mehr als bisher mit der Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten korrelieren.790 Dies trifft insgesamt zu.791 Jedoch nimmt bei einigen Ländern eine vorhandene Unterrepräsentierung nach der Änderung durch den Vertrag von Nizza zu, bei anderen Ländern verstärkt sich eine bereits bestehende Überrepräsentierung: Vor der Änderung hatte Deutschland mit einem Bevölkerungsanteil von 21,78 % lediglich 15,81 % der Sitze im Europäischen Parlament. Nach der Änderung hat Deutschland 18,5 % der Sitze im Parlament, es kommt also zu einem Zuwachs an Sitzen von prozentual 2,69 Punkten.792 Die anderen großen Mitgliedstaaten (Italien, Frankreich und das Vereinigte Königreich) haben sich in ihrer Repräsentierung jedoch „verschlechtert“. Ihr prozentuales Mandatskontingent verringert sich um 0,44 Punkte von 13,9 % (87 von 626) auf nun 13,46 % (72 von 535). Bei 7 der 15 Mitgliedstaaten hat sich der prozentuale Sitzanteil ihrem Bevölkerungsanteil angenähert und ist damit repräsentativer geworden:793 1. Dänemark (Überrepräsentierung von 1,14 % auf 1,01 % gesunken), 2. Deutschland (Unterrepräsentierung von 5,97 % auf 3,28 % gesunken), 3. Irland (Überrepräsentierung von 1,38 % auf 1,22 % gesunken), 4. Niederlande (Überrepräsentierung von 0,72 % auf 0,44 % gesunken), 5. Österreich (Überrepräsentierung von 1,2 % auf 1,03 % gesunken), 6. Finnland (Überrepräsentierung von 1,19 % auf 1,06 % gesunken), 7. Schweden (Überrepräsentierung von 1,16 % auf 1,01 % gesunken).

Bei 8 Mitgliedstaaten, also der Mehrheit, hat sich die Repräsentierung im Europäischen Parlament jedoch weiter von einer Proportionalität zur Bevölkerung entfernt:794 1. Belgien (Überrepräsentierung von 1,27 % auf 1,39 % gestiegen), 2. Griechenland (Überrepräsentierung von 1,18 % auf 1,3 % gestiegen), 3. Spanien (Unterrepräsentierung von 0,43 % auf 1,3 % gestiegen), 4. Frankreich (Unterrepräsentierung von 1,76 % auf 2,2 % gestiegen), 5. Italien (Unterrepräsentierung von 1,27 % auf 1,71 % gestiegen), 6. Luxemburg (Überrepräsentierung von 0,84 % auf 1 % gestiegen), 790 So Pache / Schorkopf, S. 1377 (1379); vgl. auch Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, S. 846 (850) und ders., Der Vertrag von Nizza, S. 185 (211). 791 Vgl. Anhang I, letzte Spalte, letzte Zeile. 792 Vgl. Anhang I. 793 Vgl. Anhang I. 794 Vgl. Anhang I, letzte Spalte.

12 Tiedtke

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

7. Portugal (Überrepräsentierung von 1,33 % auf 1,45 % gestiegen), 8. Vereinigtes Königreich (Unterrepräsentierung von 1,98 % auf 2,42 % gestiegen).

Dass bei manchen Staaten eine bestehende Überproportionalität der Sitzanteile im Verhältnis zum Bevölkerungsanteil zunahm (z. B. bei Belgien), hängt im Übrigen nicht unmittelbar mit der neuen Stimmverteilung im Rat zusammen. Denn im Rat haben alle überproportional vertretenen Staaten Abstriche in Bezug auf ihre überproportionale Vertretung hinnehmen müssen und alle nach Stimmen unterproportional vertretenen Stimmen haben Zugewinne im Hinblick auf das Verhältnis ihres Stimmanteils zu ihrem Bevölkerungsanteil erzielen können.795 Z. B. hat Belgien seine überproportionale Repräsentierung im Europäischen Parlament um 0,12 Prozentpunkte ausbauen können, wohingegen Dänemark Abstriche hinnehmen musste. Im Rat jedoch haben beide einen Teil ihrer Überrepräsentierung bei den Stimmen im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil verloren. Saldiert man alle Annäherungen und Entfernungen des prozentualen Sitzanteiles zum prozentualen Bevölkerungsanteil, so nähert sich die Proportionalität des Sitzanteils zum Bevölkerungsanteil um insgesamt einen Prozentpunkt an.796 Dies wird vor allem durch die erhebliche Angleichung des deutschen prozentualen Sitzanteils an seinen prozentualen Bevölkerungsanteil um 2,69 Prozentpunkte erreicht. Ließe man Deutschland außer Betracht, dann würde sich ein „Proportionalitätsverlust“ (also insgesamt eine Entfernung der prozentualen Sitzzahl von der prozentualen Bevölkerungszahl) von 1,69 Prozentpunkten ergeben.797 Auch im Hinblick auf die mittlere Abweichung von Sitzanteil zu Bevölkerungsanteil eines Mitgliedstaates bringt der Vertrag von Nizza eine Verbesserung:798 Betrug die Abweichung von Sitzanteil zu Bevölkerungsanteil vor Nizza durchschnittlich 1,52 Prozentpunkte, so wird sie nach dem Wirksamwerden von Art. 190 Abs. 2 UAbs. 1 EGV n.F. durchschnittlich nur noch 1,45 Prozentpunkte betragen. Das heißt, dass sich mit dem Vertrag von Nizza durchschnittlich die Verteilung der Sitze im Europäischen Parlament auf die Mitgliedstaaten ihrem jeweiligen Bevölkerungsanteil um 0,07 Prozentpunkte angenähert hat. Nach der neuen Regelung der Sitzverteilung durch den Vertrag von Nizza ist Deutschland zwar relativ zu seiner Bevölkerung immer noch am schlechtesten vertreten. Denn Deutschland hat bei einem Bevölkerungsanteil von 21,78 % nun 18,5 % der Sitze, die Differenz beträgt also 3,28 Prozentpunkte. Beim nächstgrößeren Mitgliedstaat, dem Vereinigten Königreich, beträgt die Differenz zwischen prozentualem Bevölkerungs- und Sitzanteil lediglich 2,42 Prozentpunkte.799 Vgl. Anhang II, letzte Spalte. Vgl. Anhang I, letzte Spalte. Die Summe aller prozentualen Abweichungen des Sitzanteils vom Bevölkerungsanteil beträgt vor Nizza 22,82 Prozentpunkte, nach dem Vertrag von Nizza 21,82 Prozentpunkte (vgl. Anhang I.1, vierte und letzte Spalte). 797 Vgl. Anhang I, letzte Spalte. 798 Vgl. Anhang I.1, unten. 795 796

III. Institutionelle Reformen durch den Vertrag von Nizza

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Allerdings verliert Deutschland seine „Spitzenreiterrolle“, was das Verhältnis von Einwohnern pro Abgeordnetem (= Verhältnis von Einwohnern pro Sitz) betrifft. Vor und nach der Änderung repräsentiert ein deutscher Abgeordneter ca. 831.420 Einwohner, da die Sitzzahl unverändert blieb. Durch die Absenkung der Sitze bei den anderen Mitgliedstaaten (außer Luxemburg) hat sich bei diesen das Verhältnis von Einwohnern je Sitz „verschlechtert“. Überholt wird Deutschland in seiner Spitzenreiterrolle jedoch nur vom Vereinigten Königreich, mit ca. 833.500 Einwohnern je Abgeordnetem nach der neuen Regelung (vorher lag das Verhältnis beim Vereinigten Königreich bei ca. 689.790 Einwohnern je Abgeordnetem).800 Dass das Vereinigte Königreich zwar nach der neuen Regelung die meisten Einwohner pro Abgeordnetem hat, Deutschland jedoch weiterhin entsprechend zu seinem Anteil an der Gesamtbevölkerung am stärksten unterproportional vertreten ist, erklärt sich damit, dass die Sitze im Parlament insgesamt von 626 auf 535, also um 91, reduziert wurden, und dass – außer im Falle Deutschlands und Luxemburgs – alle Mitgliedstaaten Sitze verloren haben, so dass sich bei allen – außer Deutschland und Luxemburg – das Verhältnis von Einwohnern zu Sitzen verschlechtert hat.801 Mit anderen Worten: Wäre das Vereinigte Königreich genauso unterproportional vertreten wie Deutschland, also mit 3,28 Prozentpunkten weniger Sitzen als es seinem Bevölkerungsanteil entspricht, dürfte es in einem 535 Sitze großen Parlament nur 67 Abgeordnete entsenden. Das Verhältnis von Einwohnern je Abgeordnetem läge beim Vereinigten Königreich dann bei ca. 895.570 Einwohnern pro Sitz. Daraus folgt, dass das Verhältnis von Einwohnern je Abgeordnetem im Europäischen Parlament keine eindeutige Aussagekraft im Hinblick auf die Frage hat, ob der betreffende Mitgliedstaat entsprechend seiner Bevölkerung mit Sitzen im Parlament vertreten ist.802 Nach alledem hat sich durch die Neuregelung des Art. 190 Abs. 2 UAbs. 1 EGV durch den Vertrag von Nizza – insgesamt betrachtet – die proportionale Repräsentierung der Völker im Parlament um einen Prozentpunkt absolut und um 0,07 Prozentpunkte im Mittel „verbessert“.803 Die Aussage von Wiedmann, dass „die Verteilung der Mandate auf die einzelnen Mitgliedstaaten [ . . . ] sich von 2004 an deutlich stärker als bislang [ . . . ]“804 am Bevölkerungsanteil der Mitgliedstaaten orien799 Mit ca. 60.012.000 von 377.920.000 Einwohnern hat das Vereinigte Königreich einen Bevölkerungsanteil von 15,88 %, mit 72 von 535 Stimmen käme ihm lediglich einen Sitzanteil von 13,46 % zu. 800 Vgl. Anhang I. 801 Vgl. Anhang I. 802 In der Regel korrespondiert das Verhältnis von Einwohnern je Abgeordnetem jedoch mit der repräsentativen Vertretung der Staaten im Europäischen Parlament. Die einzige Ausnahme ist insofern das angesprochene Vereinigte Königreich. Deutschland ist, was die Differenz zwischen Bevölkerungs- und Sitzanteil angeht, auch nur um 0,86 Prozentpunkte schlechter vertreten als das Vereinigte Königreich. 803 Im Ergebnis ebenso Pache / Schorkopf, S. 1377 (1379). 804 Wiedmann, Der Vertrag von Nizza, S. 185 (211).

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

tiert, ist jedoch nicht zutreffend. Denn im Einzelnen betrachtet wird diese Verbesserung dadurch erreicht, dass bei sieben Mitgliedstaaten eine Annäherung an eine proportionale Vertretung stattfindet, bei acht Staaten – der Mehrheit also – hingegen eine weitere Entfernung. Trotz dieser Entfernung führt die starke Annäherung bei Deutschland um 2,69 Prozentpunkte, das zwar immer noch am meisten unterproportional vertreten bleibt, dazu, dass insgesamt die proportionale Repräsentierung zunimmt. Die Ansicht von Wiedmann trifft deswegen nur im Hinblick auf Deutschland zu. c) Weitere Änderungen Durch die neue Sitzverteilung wird die Zahl der Sitze von 626 auf dann 535 reduziert. Durch Art. 2 Ziff. 17 des Vertrages von Nizza wurde Art. 189 Abs. 2 EGV geändert: Die bislang – noch nicht erreichte – Höchstzahl der Abgeordneten, welche erst durch den Vertrag von Amsterdam in den EGV eingeführt wurde, wurde von 700 auf 732 erhöht.805 Durch Art. 2 Ziff. 34 des Vertrages von Nizza werden Art. 230 Abs. 2 und 3 EGV geändert. Nach Art. 230 Abs. 2 EGV n.F. zählt nun auch das Europäische Parlament zu den privilegiert Klageberechtigten im Rahmen der Nichtigkeitsklage.806 Zudem erhält Art. 300 Abs. 6 EGV durch Art. 2 Ziff. 46 Buchst. b) des Vertrages von Nizza eine neue Fassung. Nach Art. 300 Abs. 6 EGV n.F. ist das Parlament künftig – gleichberechtigt mit Rat und Kommission – befugt, ein Gutachten des EuGH über die Vereinbarkeit von internationalen Abkommen mit dem EGV einzuholen.807 Darüber hinaus wurde durch Art. 1 Ziff. 1 des Vertrages, der Art. 7 EUV ändert, die Position des Europäischen Parlaments im Sanktionsverfahren nach Art. 7 EUV n.F. im Vergleich zur vorhergehenden Fassung gestärkt. Bislang lag das Initiativrecht, ein Sanktionsverfahren einzuleiten, bei den Mitgliedstaaten oder der Kommission, Art. 7 Abs. 1 EUV; es bedurfte lediglich der Zustimmung des Europäischen Parlaments. Dies bleibt nach Art. 7 Abs. 2 EUV auch so hinsichtlich der Feststellung einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung von in Art. 6 Abs. 1 EUV genannten Grundsätzen. Jedoch steht dem Europäischen Parlament nun in dem neuen „Vorverfahren“ betreffend die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung nach Art. 7 Abs. 1 EUV n.F. ein Initiativrecht zu. Zudem kommt ihm im Verfahren nach Art. 7 Abs. 1 EUV n.F. auch ein Vetorecht zu, das heißt die Feststellung des Bestehens einer Gefahr im vorgenannten Sinne durch den Rat hängt von der Zustimmung des Parlaments ab.808 805 Nach Pache / Schorkopf wurde die Erhöhung der Mitgliederzahl im Laufe der Regierungskonferenz ohne vorherige Konsultation des Europäischen Parlaments beschlossen und sie habe den mitgliedstaatlichen Regierungen offensichtlich als Verhandlungsmasse für Kompromisse bei der Stimmgewichtung im Rat gedient [Pache / Schorkopf, S. 1377 (1379)]. 806 Vgl. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (176). 807 Vgl. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (176).

III. Institutionelle Reformen durch den Vertrag von Nizza

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Des Weiteren wird Art. 191 EGV durch Art. 2 Ziff. 19 des Vertrages von Nizza um einen Absatz 2 ergänzt. Bislang war Art. 191 EGV eine deklaratorische Bestimmung, die erklärte, dass die politischen Parteien auf europäischer Ebene ein wichtiger Faktor der Integration seien und zur Bildung eines europäischen Bewusstseins beitrügen und dass sie den politischen Willen der Bürger der Union zum Ausdruck brächten. Art. 191 Abs. 2 EGV n.F. erteilt nun dem Europäischen Parlament den Auftrag, ein „Statut der europäischen politischen Parteien“ festzulegen.809 Nach Art. 191 Abs. 2 EGV n.F. legt der Rat im Mitentscheidungsverfahren die Regelungen für die politischen Parteien auf europäischer Ebene, insbesondere die Vorschriften über ihre Finanzierung, fest. In Erklärung Nr. 11 zu Art. 191 EGV Abs. 2 zum Vertrag von Nizza wird präzisiert, dass die Finanzierung der politischen Parteien auf europäischer Ebene nicht zur unmittelbaren oder mittelbaren Finanzierung der politischen Parteien auf einzelstaatlicher Ebene verwendet werden darf. 2. Der Rat a) Änderung der Stimmgewichtung aa) Motiv Derzeit verfügt Deutschland mit einer Bevölkerung von ca. 82,3 Mio. Einwohnern im Rat bei Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit (Art. 205 Abs. 2 EGV) über zehn Stimmen, Luxemburg mit einer Bevölkerung von 441.000810 Einwohnern über zwei Stimmen. Steht demnach eine deutsche Stimme für 8,2 Mio. Bürger, so steht eine luxemburgische Stimme für 220.500 Bürger, ein Verhältnis von ca. 37:1. Und auch verglichen mit mittleren Ländern wie Belgien oder den Niederlanden, welche über jeweils 5 Stimmen verfügen, entsprechen die Bevölkerungszahlen nicht annähernd den Stimmen.811 Im Hinblick auf die Erweiterung um 12 Staaten812, die – mit Ausnahme Polens –, im Verhältnis zu den jetzigen 808 Nach Art. 7 Abs. 6 EUV n.F. bleibt es dabei (vgl. Art. 7 Abs. 5 EUV), dass das Europäische Parlament im Rahmen des Art. 7 EUV n.F. mit Zwei-Drittel-Mehrheit der abgegebenen Stimmen und der Mehrheit seiner Mitglieder beschließt. Zu dem Initiativ- und Vetorecht im Rahmen von Art. 7 Abs. 1 EUV n.F. vgl. auch Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (178). 809 Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (178). 810 Vgl. Anhang I. 811 Beispielsweise steht ein belgischer Sitz für ca. 2 Mio. Einwohner, ein deutscher für 8,2 Mio., immer noch ein Verhältnis von ca. 4:1. 812 Am 12. und 13. September hat der Europäische Rat lediglich die Aufnahme von 10 neuen Staaten beschlossen. Die Verhandlungen über einen Betritt wurden mit (1) Zypern (voraussichtlich nur griechischer Teil), der (2) Tschechischen Republik, (3) Estland, (4) Ungarn, (5) Lettland, (6) Litauen, (7) Malta, (8) Polen, der (9) Slowakischen Republik und (10) Slowenien im Dezember 2002 abgeschlossen (Presidency Conclusion for the Copenhagen European Council, December 12 and 13 2002, Annex). Hinsichtlich (11) Bulgarien und (12) Rumänien wurden die Beitrittsverhandlungen nicht zu einem Abschluss gebracht.

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

Mitgliedstaaten alle zu den kleineren Staaten zu zählen sind, hätte die bisherige Stimmenaufteilung zur Folge, dass eine Gruppe kleinerer Staaten einen Mehrheitsbeschluss blockieren könnte, obwohl sie nur knapp 11 % der Bevölkerung repräsentierten.813 Umgekehrt hätten drei große Mitgliedstaaten mit einem Bevölkerungsanteil von ca. 30 % nicht diese Möglichkeit. Zudem würde das demographische Netz, also der Anteil der Bevölkerung, der hinter denjenigen Mitgliedstaaten, die den Beschluss befürworten, stünde, deutlich unter 60 % absinken.814 bb) Die Änderungen im Einzelnen Die Änderungen betreffend die Verteilung der Stimmen im Rat bei Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit treten gemäß Art. 3 ProtErwEU ab 1. Januar 2005 in Kraft. Danach wird Art. 205 EGV und Art. 118 EAV im Hinblick auf die Stimmverteilung im Rat wie folgt geändert: Belgien: Dänemark: Deutschland: Griechenland: Spanien: Frankreich: Irland: Italien: Luxemburg: Niederlande: Österreich: Portugal: Finnland: Schweden: Vereinigtes Königreich: Summe:

12 7 29 12 27 29 7 29 4 13 10 12 7 10 29 237

(plus 7) (plus 4) (plus 19) (plus 7) (plus 19) (plus 19) (plus 4) (plus 19) (plus 2) (plus 8) (plus 6) (plus 7) (plus 4) (plus 6) (plus 19) (plus 150)815

Wie vorstehender Tabelle zu entnehmen ist, haben sich die Stimmenzahlen der großen Staaten stärker erhöht, als diejenigen der kleineren. Deshalb wird durch die neue Stimmgewichtung – insgesamt betrachtet – die Stimmenzahl der jeweiligen Bevölkerungszahl stärker angenähert, als dies bisher der Fall war.816 Eine deutsche Vgl. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (156). Vgl. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (156), mit Hinweis auf die Kommission in: KOM (2000) 34 endg., S. 31 ff. 815 Zu den Einzelheiten vgl. Anhang II. 816 Vgl. insbesondere Anhang II, letzte Spalte: Insgesamt „verbessert“ sich die proportionale Repräsentierung der Stimmen um 8,91 %. Dabei findet bei ausnahmslos jedem Land eine Annäherung des Stimmanteils an den Bevölkerungsanteil statt. 813 814

III. Institutionelle Reformen durch den Vertrag von Nizza

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Stimme repräsentiert nun ca. 2,84 Mio. Einwohner, eine Luxemburger Stimme 110.250. Das Verhältnis beträgt nunmehr ca. 26:1 statt wie vorher 37:1. Das Verhältnis zwischen Deutschland und den anderen großen Staaten ist gleich geblieben, da diese ebenso viele Stimmen hinzugewonnen haben wie Deutschland: Es beträgt im Beispiel zu Frankreich 1,4:1817, das heißt die Franzosen haben um den Faktor 1,4 mehr Stimmen in Bezug zu ihrer Bevölkerungszahl als die Deutschen. Die qualifizierte Mehrheit lag nach Art. 205 Abs. 2 UAbs. 2 Spiegelstriche 1 und 2 EGV bislang bei 62 von 87 Stimmen (71,3 %). Nach der neuen Regelung wird die qualifizierte Mehrheit nach Art. 205 Abs. 2 UAbs. 2 EGV n.F. ab dem 1. Januar 2005 bei 169 von 237 Stimmen (71,3 %) liegen und damit relativ gesehen unverändert bleiben.818 Die Sperrminorität wird bei 69 Stimmen liegen.819 Zudem müssen künftig die 169 Stimmen auch dann von der Mehrheit der Mitglieder stammen, wenn die Beschlüsse auf Vorschlag der Kommission zu fassen sind, Art. 205 Abs. 2 UAbs. 2 EGV n.F. Bislang war dies nicht nötig. In den Fällen, in denen die Beschlüsse nicht auf Vorschlag der Kommission gefasst werden (bisher: Zustimmung von zehn Mitgliedern notwendig), müssen die 169 Stimmen zudem die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder umfassen. Im gegenwärtigen System ist das Quorum einer Staatenmehrheit weitgehend überflüssig, weil die Stimmen von mindestens acht Mitgliedstaaten notwendig sind, um die 169 Stimmen zu erreichen.820 Es kann jedoch im Zuge der EU-Erweiterung Bedeutung erlangen. Neu eingefügt durch Art. 3 Ziff. 1 Buchst. a), Ziff. ii) wird ein Abs. 4 zu Art. 205 EGV. Er enthält einen sogenannten demographischen Faktor. Nach Art. 205 Abs. 4 EGV n.F. kann ein Mitglied des Rates künftig beantragen, dass „ [ . . . ] bei einer Beschlussfassung des Rates mit qualifizierter Mehrheit überprüft wird, ob die Mitgliedstaaten, die diese qualifizierte Mehrheit bilden, mindestens 62 % der Gesamtbevölkerung der Union repräsentieren. Falls sich erweist, dass diese Bedingung nicht erfüllt ist, kommt der betreffende Beschluss nicht zustande.“

Bislang repräsentierte in der „Fünfzehner-Gemeinschaft“821 die Mindeststimmenzahl von 62 Stimmen mindestens 58 % der Bevölkerung, so dass auch bisher ein „unsichtbares“ demographisches Netz hinter der qualifizierten StimmenmehrZu den Einwohnerzahlen vgl. Anhang I. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (158); genauer lag die qualifizierte Mehrheit nach dem Vertrag von Amsterdam bei 71,26 % (62 von 87) und liegt jetzt bei 71,31 % (196 von 237), so dass die qualifizierte Mehrheit geringfügig um 0,05 Prozentpunkte angehoben wurde [vgl. Pache / Schorkopf, S. 1377; Wiedmann, Der Vertrag von Nizza, S. 185 (207); ders. (mit anderer Rundung), Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, S. 846 (851)]. 819 Vgl. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (158). 820 Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (158). 821 Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, S. 846 (851). 817 818

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

heit verborgen lag.822 Die Neuerung, ein „sichtbares“ demographisches Netz bei 62 % einzufügen, bringt – im Vergleich zur alten Regelung – allein Deutschland als dem bevölkerungsreichsten Mitgliedsland einen Vorteil.823 Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit in der „Fünfzehner-Gemeinschaft“ können – nach Stimmen wie nach Bevölkerung – durch eine Sperrminorität von zwei großen und einem mittleren Staat verhindert werden; nach der neuen Regelung kann Deutschland unter Berufung auf den demographischen Faktor schon dann eine Sperrminorität erreichen, wenn es einen zweiten großen und einen kleinen Staat (außer Luxemburg) auf seiner Seite wüsste.824 Zusammengefasst kann man die im Rat bei Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit nach dem Vertrag von Nizza erforderliche Mehrheit als „dreifach qualifizierte Mehrheit“ beschreiben:825 1. Die Mehrheit muss 169 Stimmen erreichen (71,3 %). 2. Bei Kommissionsvorschlägen muss die einfache Mehrheit der Mitgliedstaaten, in den anderen Fällen eine Zweidrittelmehrheit der Mitgliedstaaten hinter dem Beschluss stehen. 3. Auf Verlangen eines Mitgliedstaates muss der Beschluss von 62 % der Gesamtbevölkerung der Mitgliedstaaten getragen sein.

b) Ausweitung der Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit Mit dem Vertrag von Nizza werden 27 Materien von insgesamt 70826, in denen derzeit noch das Einstimmigkeitsprinzip gilt, von der Einstimmigkeit in die qualifizierte Mehrheit überführt827. In weiteren zehn Fällen wird der Übergang stufenweise und teils nur unter bestimmten Bedingungen erfolgen.828 Nicht selten finden sich betreffend den Übergang von der Einstimmigkeits- zur Mehrheitsentscheidung Ausnahmen und Beschränkungen auf gewisse Teilaspekte des zu regelnden Bereiches.829 Von den überführten Materien sollen an dieser Stelle nur die Folgenden hervorgehoben werden:830 Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, S. 846 (851). Vgl. Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, S. 846 (851) und ders., Der Vertrag von Nizza, S. 185 (206). 824 Vgl. Wiedmann, Der Vertrag von Nizza, S. 185 (206). Wiedmann ist der Ansicht, dass das demographische Netz die deutsche Unterrepräsentation bei der Stimmgewichtung letztlich wieder ausgleiche, jedenfalls im (negativen) Sinne einer Sperrminorität. 825 Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (159), m. w. H. 826 Die Zahlen variieren je nach Zählweise (Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, S. 846). 827 Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (155). 828 Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (155). 829 Vgl. etwa Art. 13 Abs. 2 EGV n.F., Art. 18 Abs. 3 EGV n.F., Art. 157 Abs. 3 EGV n.F., Art. 190 Abs. 5 EGV n.F. [Aufzählung bei Wiedmann, Der Vertrag von Nizza, S. 185 (208)]. 830 Nach Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (155). 822 823

III. Institutionelle Reformen durch den Vertrag von Nizza

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– Art. 13 Abs. 2 EGV n.F. Fördermaßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen – Art. 18 Abs. 2 EGV n.F. Das Bewegungs- und Aufenthaltsrecht der Unionsbürger – Art. 67 EGV i.V. m. Protokoll zu Art. 67 n.F. Die justitielle Zusammenarbeit in Zivilsachen mit Ausnahme des Familienrechts – Art. 133 Abs. 5 EGV n.F. Die gemeinsame Handelspolitik bezüglich Dienstleistungen und geistigem Eigentum – Art. 279 Abs. 1 EGV n.F. Der Erlass der Haushaltsordnung Als wichtige Bereiche, in denen es bei der Einstimmigkeit bleibt, werden genannt:831 – Die Steuerpolitik (Art. 93, 175 Abs. 2 EGV) – Die Sozialvorschriften (Art. 137 Abs. 2 EGV) – Die Asyl- und Einwanderungspolitik (hier ist erst dann, wenn die Grundzüge einer Asyl- und Einwanderungspolitik festgelegt wurden, ein Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen vorgesehen (Art. 67 Abs. 5 EGV n.F.)832 – Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten (Art. 47 Abs. 2 EGV) – Abweichung von Vorschriften der Verkehrsordnung (Art. 71 Abs. 2, 80 EGV) – Mindestvorschriften im Bereich der Arbeitnehmervertretung (Art. 137 Abs. 1 Buchst. f EGV) – Fördermaßnahmen im Kulturbereich (Art. 151 Abs. 5 EGV) – Assoziierung überseeischer Länder und Gebiete (Art. 187 EGV)

c) Ernennung der Kommission Der Rat der Europäischen Union entscheidet zukünftig mit qualifizierter Mehrheit über die Ernennung der Kommission, Art. 2 Ziff. 22 Vertrag von Nizza, Art. 214 Abs. 2 EGV n.F.833 Bislang erfolgte die Ernennung der Kommission nicht durch ein Organ der Gemeinschaft, sondern durch die Regierungen der Mitgliedstaaten, und zwar einstimmig („im gegenseitigen Einvernehmen“), Art. 214 Abs. 2 EGV.834

831 Vgl. Pache / Schorkopf, S. 1377 (1383); Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (155 f.). 832 Vgl. Vertrag von Nizza, Schlussakte, Erklärung zu Art. 67 EGV; Wiedmann, Der Vertag von Nizza, S. 185 (208). 833 Nach Hatje sei diese Regelung „beinahe unbemerkt in den Vertrag von Nizza gelangt“ [Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (149)]. Wiedmann bezeichnet die Regelung als „überraschend“ [ders., Der Vertrag von Nizza, S. 185 (203)]. 834 Rechtlich kommt es deswegen zu einer weiteren „Supranationalisierung“ der Kommission [Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (149)].

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

3. Die Kommission Bereits durch den Vertrag von Amsterdam wurde in Art. 219 Abs. 1 EGV geregelt, dass die Kommission ihre Tätigkeit unter der politischen Führung des Kommissionspräsidenten ausübt. Durch Art. 2 Ziff. 25 des Vertrages von Nizza wird Art. 219 Abs. 1 EGV gestrichen. Die Führung der Kommission durch den Präsidenten wird gemäß Art. 2 Ziff. 24 des Vertrages von Nizza nun in Art. 217 EGV n.F. geregelt, der bislang die Ernennung der Vizepräsidenten betraf. Nach Art. 217 Abs. 1, 1. HS. EGV bleibt es bei der politischen Führung der Kommission durch den Kommissionspräsidenten. Gemäß dem 2. Halbsatz der Regelung entscheidet der Kommissionspräsident in Zukunft jedoch auch über die interne Organisation der Kommission, um „Kohärenz und Effizienz“ sicherzustellen. Zudem regelt der Präsident gemäß Art. 217 Abs. 2 S. 1 EGV n.F. die Zuständigkeit der Kommissare: Die Kommissionsmitglieder sind in den ihnen jeweils durch den Kommissionspräsidenten zugeteilten Ressorts nicht sachlich autonom, sondern sie stehen unter der Leitung des Präsidenten, Art. 217 Abs. 2 S. 3 EGV n.F. Der Vizepräsident wird künftig – nach Billigung durch die Kommission – vom Präsidenten ernannt, Art. 217 Abs. 3 EGV n.F. Als lex Prodi wird Art. 217 Abs. 4 EGV n.F. bezeichnet.835 Hiernach hat ein Kommissionsmitglied zurückzutreten, wenn der Präsident es – nach Billigung durch das Kollegium – dazu auffordert.836 Art. 4 Ziff. 1 ProtErwEU bestimmt, dass ab dem Jahr 2005 jeweils ein Staatsangehöriger aus jedem Mitgliedstaat der Kommission angehören wird. Damit verzichten die fünf großen Staaten Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und das Vereinigte Königreich auf ihren zweiten Kommissar. Gemäß Art. 4 Ziff. 2 ProtErwEU wird die Zahl der Kommissionsmitglieder unter der Zahl der Mitgliedstaaten liegen, wenn die Union 27 Mitgliedstaaten umfasst. Die Mitglieder werden dann gemäß Art. 213 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 EGV n.F. auf der Grundlage einer gleichberechtigten Rotation ausgewählt. Die Zahl der dann zu bestimmenden Kommissionsmitglieder sowie das Rotationsverfahren sind einstimmig vom Rat zu bestimmen, Art. 4 Ziff. 3 ProtErwEU.

4. Der Gerichtshof und das Gericht erster Instanz Durch Art. 2 Ziff. 26 bis 35 des Vertrages von Nizza wird die europäische Gerichtsbarkeit grundsätzlich und tiefgreifend verändert.837 Als zentrale Neuerungen 835 Vgl. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (151). Der derzeitige Präsident der Kommission, Romano Prodi, hat seinen Kollegen das Versprechen abgenommen, dass diese ihren Rücktritt erklären würden, wenn er sie dazu aufforderte. 836 Die strikte „Regelung“ Romano Prodis wurde also nicht in den Vertrag übernommen, sondern durch das Erfordernis einer vorherigen Billigung durch das Kollegium Kommission abgeschwächt [Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (151)]. 837 Vgl. Pache / Schorkopf, S. 1377 (1379 ff.).

IV. Zusammenfassende Beurteilung

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werden die organschaftliche Verselbständigung des Gerichts erster Instanz („EuG“) gegenüber dem EuGH, die Möglichkeit der Beiordnung gerichtlicher Kammern als weiterer Spruchkörper zum EuG sowie die Möglichkeit, in bestimmten Bereichen eine Zuständigkeit des EuG für Vorlagefragen zu begründen, genannt.838 Im Hinblick auf den unter dem Gesichtspunkt „demokratische Legitimation“ wesentlichen Punkt der Ernennung der Richter ergeben sich jedoch keine Änderungen.839 Auch nach Art. 2 Ziff. 29 des Vertrages von Nizza, der Art. 223 EGV abändert, werden die Richter künftig von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen ernannt, Art. 223 Abs. 1, 2. HS. EGV n.F.

IV. Zusammenfassende Beurteilung 1. Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG Im Hinblick auf die innere demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments fordert Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, dass die Auswirkungen der unterschiedlichen Wahlverfahren und der Mandatskontingentierung auf die Zählwertgleichheit der Wählerstimmen schritthaltend mit zunehmender Integration zu vermindern sind; Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG verlangt jedoch nicht die komplette Reduzierung solcher Auswirkungen.840 Zudem fordert Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG einen schrittweisen Ausbau der Sekundärrechtsetzungsbefugnisse des Europäischen Parlaments zur ergänzenden demokratischen Absicherung der Sekundärrechtsetzungsprozesse. Kommt es zu einem wesentlichen Integrationsschub oder wird die Kommission in ihren Exekutivbefugnissen erheblich gestärkt, muss ihre (weitgehende) Unabhängigkeit während der Amtsperiode einer (effektiven) demokratischen Verantwortlichkeit gegenüber dem Europäischen Parlament, dem Europäischen Rat oder dem Rat der Europäischen Union weichen.

2. Fortschreiten der Integration Durch den Vertrag von Nizza kommt es zu einer weiteren institutionellen und materiellen Vergemeinschaftung und damit zu einer weiteren Supranationalisierung der Europäischen Gemeinschaften.841

838 839 840 841

Vgl. Pache / Schorkopf, S. 1377 (1379 ff.) m. w. N. Vgl. zur Kritik oben C., I., 6. und D., III., 1., a), ee). Vgl. oben E., I., 3. Vgl. oben E., II., 3, b) bis c).

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

3. Für die demokratische Legitimation bedeutende institutionelle Änderungen In sieben der 27 Fälle, in denen der Rat in Zukunft mit qualifizierter Mehrheit anstatt einstimmig entscheidet, geht der Übergang zur Mehrheitsentscheidung einher mit der Einführung des Mitentscheidungsverfahrens nach Art. 251 EGV. Die Stellung des Europäischen Parlaments im Rechtsschutzverfahren wird gleichgesetzt mit derjenigen von Kommission und Rat. In dem neuen Art. 7-EUV-Verfahren betreffend Reaktionen der Europäischen Union schon im Vorfeld konkreter Verletzungen der Grundsätze des Art. 6 EUV erhält das Europäische Parlament ein Initiativ- und Vetorecht. Schließlich wurde die Sitzverteilung (Mandatskontingentierung) im Europäischen Parlament geändert. Durch die Neuregelung des Art. 190 Abs. 2 UAbs. 1 EGV verbessert sich insgesamt betrachtet die proportionale Repräsentierung der Völker im Parlament um einen Prozentpunkt und um 0,07 Prozentpunkte im Mittel. Die Stimmgewichtung im Rat wurde an die Bevölkerungszahlen der Mitgliedstaaten angeglichen. Der Kommissionspräsident wurde gestärkt und die Ernennung der Kommission von den Regierungen der Mitgliedstaaten auf den Rat übertragen.842

4. Subsumtion a) Europäisches Parlament Durch die Annäherung der Sitzverteilung an den Bevölkerungsanteil der Mitgliedstaaten um einen Prozentpunkt (bzw. um 0,07 Prozentpunkte im Mittelwert auf eine mittlere Abweichung von 1,45 Prozentpunkte) vermindert sich die Zählwertungleichheit der Stimmen; die Wahlen werden – betrachtet man die Unionsbürger als Legitimationssubjekt – „gleicher“.843 Hierdurch kommt es zu einer Stärkung der demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments selbst und damit der demokratischen Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften. Zwar wurde kein einheitliches Wahlverfahren für das Europäische Parlament verabschiedet.844 Jedoch wurde bereits oben845 gezeigt, dass die Auswirkungen der unproportionalen Sitzverteilung (Mandatskontingentierung) auf die Erfolgschancen (und damit den Zählwert) der Stimmen und damit auf die formale Wahlrechtsgleichheit wesentlich größer sind, als die Auswirkungen der unterschiedlichen Wahlverfahren in den Mitgliedstaaten. Somit wird die „stützende Funktion“846 des Europäischen Parlaments bei der demokratischen Legiti842 843 844 845 846

Vgl. oben E., III., 1., a) bis c). Vgl. oben D., III., 1., a), dd), (2) und (3). Vgl. BVerfGE 89, S. 155 (186). Vgl. oben C., II., 1. und 2.; D., III., 1., a), dd), (2) und (3). BVerfGE 89, S. 155 (186).

IV. Zusammenfassende Beurteilung

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mation zwar nicht auf dem vom Bundesverfassungsgericht angeführten Weg herbeigeführt, es wird jedoch das gleiche Ziel erreicht – sogar auf noch effektiverem Wege. Durch die neuen Befugnisse des Europäischen Parlaments, vor allem in den Bereichen Sekundärrechtsetzung (Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens) und Rechtsschutz, wird die Forderung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nach einem begrenzten Kompetenzausbau erfüllt.847 Zudem kommt es zu einer Stärkung des Einflusses des Europäischen Parlaments auf die Politik der Kommission. Denn durch das neue Ernennungsverfahren wächst der Einfluss des Parlaments auf die Ernennung des Kommissionspräsidenten. Nach Art. 214 Abs. 2 UAbs. 1 EGV war bislang Einvernehmen zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten erforderlich, wenn sie den Präsidenten der Kommission ernennen wollten. Nunmehr bedarf es nur noch einer qualifizierten Mehrheit des Rates, Art. 214 Abs. 2 UAbs. 1 EGV n.F. Ein hierzu entschlossenes Parlament hat es daher nun einfacher, sich eine Mehrheit im Rat für einen von ihm gewünschten Kandidaten zu suchen. Die Stärkung der Rolle des Kommissionspräsidenten wiederum bringt dem Europäischen Parlament indirekt mehr Kontrollbefugnisse, weil das Parlament auf die Benennung der übrigen Kommissionsmitglieder weniger Einfluss hat, als auf die Benennung des Kommissionspräsidenten. Über die Person des Kommissionspräsidenten entscheiden zwei Organe, nämlich Rat und Parlament, über die übrigen Kommissionsmitglieder muss Einigkeit zwischen drei Entscheidungsträgern erzielt werden, nämlich zwischen Rat, Parlament und designiertem Kommissionspräsidenten, Art. 214 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV n.F. Der Ausbau der demokratischen Legitimationsbasis des Europäischen Parlaments und seiner Kompetenzen erfolgt auch „schritthaltend“ 848 mit der fortschreitenden Integration durch den Vertrag von Nizza. Der Schwerpunkt des Vertrages von Nizza liegt im Bereich der institutionellen Änderungen zur Vorbereitung der Osterweiterung. Zwar bringen auch die institutionellen Änderungen einen Zuwachs an Supranationalität und damit eine weitere Vergemeinschaftung mit sich.849 Jedoch ist der Zugewinn an Supranationalität durch den Vertrag von Nizza – verglichen beispielsweise mit den römischen Verträgen oder dem Vertrag von Maastricht, die einen großen Integrationsschub bewirkten – als gering zu bezeichnen. Die Entscheidung darüber, ob die Verbesserungen der demokratischen Legi847 So meint Hatje, dass durch die Privilegierung des Europäischen Parlaments bei der Nichtigkeitsklage das Parlament „[ . . . ] damit nicht mehr nur Wächter über eigene Rechte, sondern ein Hüter des europäischen Rechtes insgesamt [ . . . ]“ würde [ders., Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S 143 (180)]. Nach Pache / Schorkopf bringt die prozessrechtliche Gleichstellung des Parlaments mit Kommission und Rat „[ . . . ] die gewandelte Auffassung von der Rolle des Parlaments im institutionellen System der EU deutlich zum Ausdruck und erweitert seinen politischen und rechtlichen Handlungsspielraum erheblich.“ (Pache / Schorkopf, S. 1377 (1380).) 848 BVerfGE 89, S. 155 (186). 849 Vgl. oben E., II., 3., b).

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

timation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften „schritthaltend“850, also im Verhältnis zum Integrationsfortschritt ausreichend erfolgten, kann zudem nur im Rahmen einer Abwägung getroffen werden. Denn würde Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG präzise Vorgaben hinsichtlich des schritthaltenden Ausbaus der demokratischen Legitimation machen, dann würde er zugleich seiner Zweitfunktion als Integrationsnorm nicht mehr gerecht werden können. Eine Vorgabe, dass beispielsweise bei einer Überführung dieser oder jener Rechtsmaterie in den Hoheitsbereich der Europäischen Gemeinschaft die Proportionalität der Stimmverteilung im Europäischen Parlament um so-und-so-viel Prozentpunkte zu verbessern wäre, würde dazu führen, dass eine Norm des deutschen Verfassungsrechts die Ergebnisse künftiger Regierungskonferenzen aus deutscher Sicht präjudizieren und somit die deutschen Regierungsvertreter bei den Verhandlungen mit den anderen Mitgliedstaaten quasi knebeln würde. Auch in der Literatur wird die Stärkung des Europäischen Parlaments in Kompetenzen und innerer demokratischer Legitimation grundsätzlich als eine Stärkung der demokratischen Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften gewertet.851 Jedoch gibt es auch Kritik, da der Ausbau der demokratischen Legitimation und der Kompetenzen des Europäischen Parlaments vielen nicht weit genug geht.852 Hauptkritikpunkt hierbei ist, dass das Mitentscheidungsverfahren nicht auf alle Rechtsmaterien ausgeweitet wurde, die nun vom Rat mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden:853 So stellvertretend für viele Wouters:854 „The Nice Treaty [ . . . ] creates new cases of democratic deficit when it introduces qualified majority voting in the Council in a number of cases without correspondingly introducing codecision or even a right to be consulted for the European Parliament.“ BVerfGE 89, S. 155 (186). So Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (178): „Zu den demokratischen Aktivposten gehört [ . . . ] die Ausdehnung des Mitentscheidungsverfahrens auf weitere Materien. [ . . . ] Der Vertrag von Nizza verbessert damit die vorrechtlichen Funktionsbedingungen der Demokratie auf europäischer Ebene.“ Pache / Schorkopf, S. 1377 (1379): „Diese Differenzierung [gemeint ist die neue Verteilung der Parlamentssitze, die sich stärker als bislang an den Bevölkerungsanteilen orientiert] führt zu einer Verbesserung der proportionalen Repräsentierung der europäischen Völker im Parlament, so dass ein Hauptkritikpunkt an der demokratischen Legitimation und Rolle des Europäischen Parlaments in Zukunft an Bedeutung verliert.“ Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, S. 846 (850): „Außerdem gewinnt das Parlament dadurch an demokratischer Legitimität, dass sich ab 2004 die Sitzverteilung stärker an der Bevölkerungszahl orientiert.“ Ders., Der Vertrag von Nizza, S. 185 (211): „Das Europäische Parlament erfährt einen Zuwachs an Macht und Legitimität: [ . . . ].“ 852 Vgl. Pache / Schorkopf, S. 1377 (1386); Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (179); Wouters, S. 342 (352). 853 So z. B. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (179): „Negativ schlägt zu Buche, dass dem Parlament weiterhin die Mitentscheidung in Bereichen verwehrt wird, in denen der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließt.“ 854 Wouters, S. 342 (352). 850 851

IV. Zusammenfassende Beurteilung

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Gegen diese Ansicht wurde bereits eingewandt, dass eine Mehrheitsentscheidung im Rat nicht gleichzusetzen ist mit dem Wegfallen der demokratischen Legitimation der Entscheidung durch die nationalen Parlamente855 und dass das Europäische Parlament eine solche „Lücke“ von seiner Struktur her gar nicht schließen könnte.856 Zudem würde die Parallelität von Mehrheits- und Mitentscheidung dazu führen, dass das Parlament künftig auch in Bereichen, in denen der Rat administrativ tätig ist, eine Mitentscheidungsbefugnis hätte. Auch die Kommission verlangte keine Parallelität von Mehrheits- und Mitentscheidung, sondern lediglich, „ [ . . . ] dass legislative857 Beschlüsse, die mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden, und das Mitentscheidungsverfahren zu verknüpfen [ . . . ]“ wären.858 In den meisten Fällen, in denen die Kommission davon ausging, dass Beschlüsse des Rates, die in den Bereich der qualifizierten Mehrheit überführt werden sollten, als legislativ zu bezeichnen sind, kommt nun das Mitentscheidungsverfahren zur Anwendung (siehe Übersicht auf folgender Seite). Die Übersicht zeigt, dass in den meisten Fällen, in denen die Kommission einen legislativen Rechtsakterlass durch den Rat angenommen hat, das Mitentscheidungsverfahren durch den Vertrag von Nizza eingeführt wurde. Zudem wurde noch in anderen Bereichen die Mitentscheidung des Parlaments eingeführt, in denen die Kommission dies nicht forderte. Bezüglich anderer Kompetenznormen, nach denen der Rat nun mit qualifizierter Mehrheit anstatt – wie bisher – einstimmig entscheidet, kam bereits in der Fassung des Vertrages von Amsterdam das Mitentscheidungsverfahren zur Anwendung:859 1. Art. 18 EGV Erleichterung des Rechts auf Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts 2. Art. 42 EGV Koordinierung der Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit der Arbeitnehmer 3. Art. 47 Abs. 2 EGV Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten, Änderung bestehender gesetzlicher Grundsätze

Folgende Gegenüberstellung zeigt, dass das Europäische Parlament auch in Bereichen, welche die Kommission nicht für legislativ hielt, und in Bereichen, in 855 Durch Ratifikation der Verträge und durch die demokratische Legitimation der Regierungsvertreter im Rat. 856 Vgl. zu diesen Argumenten im Einzelnen oben D., II., 3., f), bb), (3), (d). 857 Wobei eine solche Abgrenzung in der Praxis schwierig sein dürfte. Zur begrifflichen Abgrenzung zwischen legislativen und administrativen Beschlüssen führt die Kommission aus, dass unter legislativen Beschlüssen summarisch allgemeingültige Normen zu verstehen seien, die unmittelbar auf den Vertragsbestimmungen beruhen und für jegliches Handeln der Gemeinschaft die Grundsätze oder die allgemeinen Leitlinien sowie die wesentlichen Elemente bestimmten (Kommission, in: KOM (2000) 34 endg., S. 27). 858 Kommission, in: KOM (2000) 34 endg., S. 27. 859 Kommission, in: KOM (2000) 34 endg., S. 27 und Anhang 2, Buchstabe A.

192

E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

Von der Kommission vorgeschlagen860, dass das Mitentscheidungsverfahren zur Anwendung kommen soll:861

Aufgaben und Befugnisse862, in denen das Mitentscheidungsverfahren nach dem Vertrag von Nizza zur Anwendung kommt:

1. Art. 13 EGV Maßnahmen zur Bekämpfung der Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse u.s.w.

1. Art. 13 Abs. 2 EGV n.F. Gemeinschaftliche Fördermaßnahmen – unter Ausschluss jeder Harmonisierung – zur Unterstützung der mitgliedstaatlichen Maßnahmen gegen Diskriminierungen „aus Gründen der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“.

2. Art. 67 EGV Maßnahmen zur Schaffung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 67 EGV).

2. Art. 63 Nr. 1 und 2a i.V. m. Art. 67 Abs. 5 EGV n.F. Bestimmte Asyl- und flüchtlingspolitische Maßnahmen. 3. Art. 157 Abs. 3 EGV n.F. Maßnahmen zur Gewährleistung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie.

3. Art. 137 Abs. 3 und 139 Abs. 2 EGV Maßnahmen im Bereich der Sozialpolitik.

4. Art. 137 Abs. 1 EGV n.F. Bestimmte Maßnahmen der Sozialpolitik, sofern der Rat dies einstimmig beschließt. 5. Art. 62 Nr. 3 und Art. 63 Nr. 3 Buchst. b EGV n.F. Maßnahmen zur Reisefreiheit von Drittstaatsangehörigen sowie bei illegaler Einwanderung und illegalem Aufenthalt.

4. Art. 161, 159 Abs. 3 EGV Strukturfonds und Kohäsionsfonds und sonstige spezifische Aktionen für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt.

6. Art. 159 Abs. 3 EGV n.F. Spezifische Aktionen außerhalb der Fonds zur Stärkung des wirtschaftlichen Zusammenhalts.

(2.) Art. 67 EGV Maßnahmen zur Schaffung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 67 EGV).

7. Art. 65 i.V. m. Art. 67 Abs. 5 EGV n.F. Maßnahmen im Bereich der justitiellen Zusammenarbeit in Zivilsachen – mit Ausnahme der familienrechtlichen Aspekte.

5. Art. 71 Abs. 2 EGV Grundsätze der Verkehrsordnung, die die Lebenshaltung in bestimmten Gebieten sowie den Betrieb der Verkehrseinrichtungen beeinträchtigen können. 6. Art. 175 Abs. 2 EGV Bestimmte Vorschriften zur Umweltpolitik. 7. Art. 279 EGVHaushaltsordnung.

Vgl. Kommission, in: KOM (2000) 34 endg., S. 27 und Anhang 2, Buchstabe A. Hier nur soweit aufgezählt, soweit nicht schon vor dem Vertrag von Nizza das Mitentscheidungsverfahren zur Anwendung kam. 862 Die künftig mit qualifizierter Mehrheit vom Rat zu beschließen sind. 860 861

IV. Zusammenfassende Beurteilung

193

denen bislang einstimmig im Rat entschieden wurde, ein Mitentscheidungsrecht hat. Die Forderung eines Gleichlaufs von Mitentscheidung und Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit mag zwar rechtspolitisch863 wünschenswert sein. Eine Forderung des deutschen Verfassungsrechts, überall dort das Mitentscheidungsverfahren einzuführen, wo der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet, besteht indes nicht. b) Rat Die neue Stimmverteilung ändert – im Gegensatz zur neuen Stimmverteilung im Europäischen Parlament – nichts an der inneren demokratischen Legitimation des Rates. Es bleibt dabei, dass die Ratsmitglieder ihre organisatorisch-personelle demokratische Legitimation von den Völkern der Mitgliedstaaten über die einzelstaatlichen Parlamente erhalten.864 Dies wird von der Literatur teilweise anders gesehen. Demnach sei es positiv zu bewerten, dass die Stimmgewichtung im Rat künftig stärker an die Bevölkerungszahl gekoppelt wird.865 Immerhin sei dieses Organ „nach der Lesart des Bundesverfassungsgerichtes“ Hauptquelle demokratischer Legitimation des Handelns der Union und der Gemeinschaften.866 Nach der Funktion und Zusammensetzung des Rates als gemischtes Exekutivund Legislativorgan, beschickt mit Regierungsvertretern, macht Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG keine Vorgaben, wie die Stimmgewichtung im Rat bei Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit beschaffen sein muss. Denkbar wäre auch eine Abstimmung nach dem Prinzip der souveränen Gleichheit, indem jedem Staat gleichviel Stimmen zukämen.867 Und sofern noch das Einstimmigkeitsprinzip im Rat zur Anwendung kommt, steht jedem Staat, egal ob Luxemburg oder der Bundesrepublik 863 So meint Streinz ausdrücklich, dass es rechtspolitisch geboten sei, die stärkstmögliche Beteiligung des Europäischen Parlaments dort einzuführen, wo das Gemeinschaftsrecht zu Eingriffsmaßnahmen ermächtigt [ders., Demokratische Legitimation der Europäischen Gemeinschaft, S. 73 (80)]. Und auch Wouters führt nicht verfassungsrechtliche, sondern rechtspolitische Argumente an, wenn er meint: „The historically low turnout at the 1999 European Parliament elections (in the Netherlands, for example, fewer than 30 per cent, half of what it was in 1979) confirms a tendency towards apathy, if not hostility, by the electorate, vis-à-vis the European Union and its institutions. [ . . . ] It is submitted that only a reform of the institutions wich [ . . . ] enhances their democratic character [ . . . ] can safeguard the European Union’s future.“ (Ders., S. 342 (345).) 864 Vgl. oben D., III., 1., a), bb). 865 Vgl. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (177). 866 Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (177). 867 Vgl. Art. 205 Abs. 1 EGV; die Beschlussfassung mit einfacher Mehrheit ist allerdings die Ausnahme (vgl. Herdegen, Rz. 119 f.). Ein Beispiel für die Umsetzung des Prinzips der Staatengleichheit in einer Staatenkammer – in einem Bundesstaat – kann hier die 2. Kammer des US-Kongresses liefern. Obwohl die einzelnen Bundesstaaten sehr unterschiedliche Bevölkerungszahlen haben, entsendet jeder Bundesstaat zwei Senatoren, gleichgültig ob es sich um das bevölkerungsreiche Kalifornien oder das nur spärlich besiedelte Nord-Dakota handelt.

13 Tiedtke

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

Deutschland, ein Vetorecht zu, womit in diesem Bereich immer noch das Prinzip der souveränen Gleichheit gilt. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG enthält kein Gebot, dass in einem Organ, welches mit Regierungsvertretern beschickt wird, die Stimmen der jeweiligen Regierungsvertreter mit der Bevölkerungszahl des Entsendungsstaates korrelieren müssten. Dies zeigt im Hinblick auf Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG eine Auslegung der Vorschrift im Lichte von Art. 51 Abs. 2 GG. Zwar hat auch die Stimmverteilung im Deutschen Bundesrat einen Bezug zur jeweiligen Bevölkerungszahl des Landes. Jedoch ist der Stimmenanteil der einzelnen Länder weit davon entfernt, proportional zur Bevölkerungszahl zu sein. So verfügt Bremen als kleinstes Land (ca. 660.000 Einwohner868) beispielsweise über drei Stimmen im Bundesrat, während das größte Bundesland Nordrhein-Westfalen (ca. 18,1 Mio. Einwohner869) über sechs Stimmen verfügt. Damit steht eine Bremer Stimme für ca. 220.000 Bürger, eine nordrhein-westfälische Stimme aber für ca. 3,02 Mio. Einwohner, ein Verhältnis von ca. 1:13,7. In einem Organ, das mit Regierungsvertretern besetzt ist, kann die demokratische Legitimation demnach nicht an der Proportionalität des Stimmanteils zum Bevölkerungsanteil gemessen werden. Vielmehr kommen hier Modelle von der souveränen Gleichheit bis hin zur demographischen Proportionalität in Frage. Welches Modell zur Anwendung kommt, bestimmt den Charakter des Staates bzw. Staatenverbundes. So entspricht eine Stimmverteilung nach souveräner Gleichheit einer „bundesstaatlicheren“ bzw. auf internationaler Ebene „weniger supranationalen und mehr internationalen“ Ordnung, wohingegen eine Stimmverteilung nach der Bevölkerungszahl tendenziell die Gesamtstaatlichkeit bzw. auf internationaler Ebene die Supranationalität betont. Die Stimmenverteilung beeinflusst die demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften also nur indirekt, indem eine an der Bevölkerungszahl orientierte Stimmenverteilung ein „Mehr“ an Supranationalität schafft und damit ein Fortschreiten der Integration. Dies wiederum führt zu der Forderung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nach einem Ausbau der stützenden demokratischen Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften durch das Europäische Parlament. Auf die demokratische Legitimation des Organs Rat selbst hat die Stimmverteilung jedoch keinen Einfluss. Ein weiterer Kritikpunkt an der Neuregelung der Abstimmung im Rat nach dem Vertrag von Nizza betrifft das neue System der „dreifachen Mehrheit“, das künftig zur Anwendung kommt, wenn der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet. Dieses komplizierte Abstimmungsregime verschlechtere die Transparenz des Rechtsetzungsverfahrens in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften: 870 868 Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland, http: // www.destatis.de / cgi-bin / printview.pl, Stand: 16. Dezember 2002. 869 Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland, http: // www.destatis.de / cgi-bin / printview.pl, Stand: 16. Dezember 2002. 870 So Pache / Schorkopf, S. 1377 (1381, 1386); Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (178); in die gleiche Richtung: Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, S. 843 (850).

IV. Zusammenfassende Beurteilung

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Durch die unregelmäßige Beteiligung des Europäischen Parlaments an der Rechtsetzung, die nicht immer systematischen Überlegungen folge871, sowie durch das „sehr komplizierte“ System der „dreifachen Mehrheit“ im Rat sei das Transparenzgebot nicht hinlänglich beachtet worden.872 Die Stimmgewichtung im Rat folge weder konsequent übergeordneten rechtlichen Prinzipien, wie etwa den in Betracht kommenden Grundsätzen der demographischen Repräsentativität oder der souveränen Gleichheit, noch könne sie zumindest den Anspruch der Stimmigkeit erheben.873 Deshalb müsste die Transparenz in der Union verbessert werden.874

Die Forderung nach mehr Transparenz bzw. die Bemängelung einer Verschlechterung der Transparenz durch die Einführung der dreifachen Mehrheit im Rat ist rechtspolitischer Natur. Die Komplexität der Entscheidungsprozesse der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften ist Folge ihrer Supranationalität. 875 Sie ist bedingt durch die Konkordanz zwischen intergouvernementalem Handeln einerseits und supranationalem Handeln im Rahmen von Mehrheitsentscheidungen andererseits, die, wie Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG fordert, durch eine zweite „Stütze“, ein parlamentarisches System innerhalb der Europäischen Union, demokratisch legitimiert werden müssen.876 Mithin ist die vielbeklagte „Intransparenz“ Folge der von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG anerkannten Struktur der EU und nicht ein Verstoß gegen diese Norm. Die Einführung der Abstimmung mit der neuen „dreifachen Mehrheit“ führt auch nicht zu einer weiteren Verkomplizierung, die eine grundsätzlich andere Beurteilung zuließe. Den wenigsten Bundesbürgern wird beispielsweise bekannt sein, wieviele Stimmen die jeweiligen Bundesländer im Bundesrat haben oder wie eine Entscheidung im Vermittlungsausschuss zu Stande kommt. Daraus wird jedoch mit Recht nicht gefolgert, dass die Bundesstaatlichkeit ein derart komplexes System mit sich bringt, dass aus demokratischen Gesichtspunkten nur ein Gesamtstaat legitim ist.

871 EuGH Rs. 242 / 87, Slg. 1989, S. 1425, Rz. 13, Kommission / Rat: „Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die Befugnisse der Organe und die Bedingungen ihrer Ausübung im System der gemeinschaftsrechtlichen Zuständigkeiten aus den einzelnen besonderen Vertragsbestimmungen ergeben, deren Unterschiede, insbesondere hinsichtlich der Mitwirkung des Europäischen Parlaments, nicht immer auf systematischen Kriterien beruhen.“ 872 Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (178). 873 Pache / Schorkopf, S. 1377 (1381). 874 Pache / Schorkopf, S. 1377 (1386). 875 Ebenso im Ergebnis Kluth, S. 95 f., der unter der Überschrift „Offenheit für eine komplexe und gemischte Verfassung“ meint, dass die feststellbaren Abweichungen des parlamentarischen Systems der Europäischen Union von derjenigen der Mitgliedstaaten eine „notwendige Konsequenz und Forderung der bipolaren Fundierung der Union“ seien. 876 Vgl. oben D., III., 1., c).

13*

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E. Der Ausbau der demokratischen Legitimation

c) Kommission aa) Ernennung der Kommission durch den Rat Bis zum Nizza-Vertrag erfolgte die Ernennung der Kommission nicht durch ein Organ der Gemeinschaft, sondern einstimmig („im gegenseitigen Einvernehmen“, Art. 214 Abs. 2 EGV) durch die Regierungen der Mitgliedstaaten. Nach Art. 2 Ziff. 22 Vertrag von Nizza wird der Rat künftig mit qualifizierter Mehrheit über die Ernennung der Kommission entscheiden. Bislang ist die demokratische Legitimation der Einsetzung der Kommission über die Rückkoppelung der die Kommission ernennenden Regierungen der Mitgliedstaaten an die nationalen Parlamente gewährleistet. Mit Einführung der Ernennung der Kommission durch den Rat mit qualifizierter Mehrheit der Stimmen ist die Einsetzung der Kommission nicht mehr mittelbar-unmittelbar durch die Rückkoppelung an diejenigen nationalen Parlamente legitimiert, die bei der Entscheidung des Rates überstimmt werden. Mittelbar-mittelbar bleibt die demokratische Legitimation der Kommission auch durch die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten, deren Regierungen bei der Ratsentscheidung überstimmt wurden, gewährleistet: Sie folgt aus dem Zustimmungsbeschluss des jeweiligen Parlamentes zu dem Vertrag von Nizza, durch den die Entscheidung über die Ernennung der Kommission auf ein Gremium übertragen wird, das nach dem Mehrheitsprinzip entscheidet.877 Auch nach der neuen Regelung des Art. 214 EGV bleibt es bei dem Erfordernis der Zustimmung des Europäischen Parlaments zur Ernennung der Kommission, so dass ein weiterer demokratischer Legitimationsstrang vom Europäischen Parlament zur Kommission verläuft. Insgesamt betrachtet führt die Ernennung der Kommission nach dem Vertrag von Nizza somit nicht zu einem Unterschreiten der demokratischen Mindeststandards des Art. 23 Abs. 1 S. 1GG.

bb) Weiterhin unzureichende demokratische Legitimation während der Amtsperiode Wie oben dargestellt führt die Unabhängigkeit der Kommission zu einer demokratischen Legitimation, die zum Stand des Vertrages von Amsterdam mit Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG vereinbar ist.878 Bei einem wesentlichen „Integrationsschub“ oder einer wesentlichen Erweiterung der Kompetenzen der Kommission müsste die demokratische Legitimation der Kommission jedoch verstärkt werden („System kommunizierender Röhren“).879 Der Vertrag von Nizza führt aber weder zu einem wesentlichen Fortschreiten der materiellen Integration, wie beispielsweise die 877 Vgl. Kirchhof, in: Hommelhoff / Kirchhof, S. 11 (19); BVerfGE 89, S. 155 (184). Vgl. auch oben D., II., 3., f), bb), (3), (d). 878 Vgl. oben D., III., 1., a), cc). 879 Vgl. oben E., I., 2., d).

IV. Zusammenfassende Beurteilung

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Römischen Verträge oder der Maastricht-Vertrag880, noch werden die Befugnisse der Kommission wesentlich erweitert, so dass das grundsätzlich bestehende Defizit der demokratischen Legitimation der Kommission m.E. weiterhin nicht zu einem Unterschreiten der demokratischen Mindeststandards des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG führt. d) Gerichtshof Betreffend den Gerichtshof ergeben sich durch den Vertrag von Nizza keine Änderung, welche seine organisatorisch-personelle demokratische Legitimation oder die sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation seiner Entscheidungen beeinflussen würde. 5. Ergebnis

Nach alledem wurden durch den Vertrag von Nizza die innere demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments sowie seine (Mit-)Entscheidungs- und Kontrollbefugnisse erweitert und damit die demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften insgesamt schritthaltend mit dem Fortschreiten der Integration ausgebaut.881

So schon oben E., IV., 4., a). Ebenso im Ergebnis, wenn auch mit vereinzelter rechtspolitischer Kritik, wie man es hätte besser machen können: Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (178 ff.); Pache / Schorkopf, S. 1377 (1379); Wiedmann, Anmerkungen zum Vertrag von Nizza, S. 846 (850 f.); ders., Der Vertrag von Nizza, S. 185 (211). 880 881

F. Die demokratische Entwicklung im Post-Nizza-Prozess Der sogenannte „Post-Nizza-Prozess“882 wurde eingeleitet durch die gemeinsame Erklärung Nr. 23 zur Zukunft der Union. Im Post-Nizza-Prozess soll eine breit angelegte Diskussion über die Zukunft der EU in Gang gesetzt werden, an der sich alle interessierten Stellen beteiligen können, Erklärung Nr. 23 Ziff. 3 S. 1.883 Beteiligt werden sollen Vertreter der nationalen Parlamente, der „Öffentlichkeit insgesamt“, also Vertreter aus Politik, Wirtschaft, dem Hochschulbereich und der Zivilgesellschaft, sowie die Beitrittskandidaten, Erklärung Nr. 23 Ziff. 3 S. 2 und 3. Den Abschluss des Post-Nizza-Prozesses soll die Regierungskonferenz 2004 markieren, Erklärung Nr. 23 Ziff. 7. In diesem Diskussionsprozess geht es um die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten, den Status der in Nizza proklamierten Grundrechtscharta, eine Vereinfachung der Verträge – „ohne sie inhaltlich zu ändern“ – und die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas, Erklärung Nr. 23 Ziff. 5. Politisches Ziel des Post-Nizza-Prozesses und der Regierungskonferenz 2004 ist es, die demokratische Legitimation sowie die Transparenz der Europäischen Union und ihrer Organe zu verbessern und dauerhaft zu sichern, um die Union den Bürgern der Mitgliedstaaten näher zu bringen, Erklärung Nr. 23 Ziff. 6. Parallel zum Entwurf dieser neuen, einfacher verständlichen und bürgerfreundlicheren „Verfassung“ der Union vollzieht sich die Osterweiterung der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften, Erklärung Nr. 23 Ziff. 8. Dabei werden diejenigen Bewerber, mit denen die Beitrittsverhandlungen bereits abgeschlossen sind, zur Teilnahme an der Regierungskonferenz 2004 geladen, diejenigen, mit denen noch kein Abschluss der Beitrittsverhandlungen erfolgt ist, werden als Beobachter zur Teilnahme eingeladen. Im Folgenden werden unter dem Oberbegriff „Post-Nizza-Prozess“ im Hinblick auf die demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften drei Punkte näher erörtert, die in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung sind, nämlich (I.) die Osterweiterung, (II.) der Verfassungsvertragsentwurf des Konvents unter Valéry Giscard d’Estaing und (III.) die Finalität der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften. 882 Zum Begriff vgl. Hirsch, S. 2677; Schröder, Die Parlamente im Europäischen Entscheidungsgefüge, S. 301 (303); Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (181); Wouters, S. 342 (352); Pache / Schorkopf, S. 1377 (1386); Wiedmann, Der Vertrag von Nizza, S. 185 (213). 883 Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (181).

I. Osterweiterung

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I. Osterweiterung884 Der erste Bewerberstaat, der einen Antrag auf Mitgliedschaft in die EGV stellte war die Türkei, am 14. 4. 1987. Von 1990 an folgten Anträge von Zypern, Malta, Ungarn, Polen, Rumänien, der Slowakischen Republik, Lettland, Estland, Litauen, Bulgarien, der Tschechischen Republik, und Slowenien. Am 31. März 1998 wurden Beitrittsverhandlungen mit Estland, Polen, Slowenien, der Tschechischen Republik, Ungarn und Zypern aufgenommen. Am 13. Oktober 1999 empfahl die Kommission, Verhandlungen mit Bulgarien, Lettland, Litauen, Malta, der Slowakischen Republik und Rumänien zu beginnen. Am 9. Oktober 2002 regte die Kommission an, die Verhandlungen mit Zypern, der Tschechischen Republik, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Malta, Polen, der Slowakischen Republik und Slowenien abzuschließen. Am 13. Dezember 2002 hat der Europäische Rat auf dem Kopenhagener Erweiterungsgipfel schließlich einstimmig gemäß Art. 49 Abs. 1 S. 2, 2. HS. EUV beschlossen, die folgenden Staaten in die Europäische Union und ihre Gemeinschaften aufzunehmen:885 1. Zypern (Cyprus) 2. Tschechische Republik (Czech Republic) 3. Estland (Estonia) 4. Ungarn (Hungary) 5. Lettland (Lativa) 6. Litauen (Lithuania) 7. Malta (Malta) 8. Polen (Poland) 9. Slowakische Republik (Slovak Republic) 10. Slowenien (Slovenia)

Die Europäische Union der Fünfundzwanzig („EU-25“) wird künftig rund 450 Millionen Bürger umfassen. Die Kommission wurde gemäß Art. 49 Abs. 1 S. 2, 2. HS. EUV angehört und hat ihre positive Stellungnahme am 19. Februar 2003 abgegeben.886 Das Europäische Parlament hat den einzelnen Beitrittsanträgen am 9. April 2003 zugestimmt, der einstimmige Aufnahmebeschluss des Rates erfolgte am 14. April 2003, Art. 49 Abs. 1 S. 2, 2. HS. EUV. Der Beitrittsvertrag wurde am 16. April 2003 im Rahmen der Regierungskonferenz von Athen von den Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten und der Beitrittsländer unterzeichnet. In neun der zehn Beitrittsländer wurde der Beitrittsvertrag bereits per Referendum ratifiziert, in Zypern fand die Ratifikation durch das Parlament statt, Art. 49 Abs. 2 S. 2 EUV. 884 Zwar sind nicht alle Länder, deren Aufnahme in die EU geplant ist, geographisch in Osteuropa belegen (z. B. Malta). Der Schwerpunkt der künftigen EU-Erweiterung liegt jedoch – sowohl im Hinblick auf die Bevölkerungszahl als auch auf die Fläche – im osteuropäischen Raum. 885 Copenhagen European Council 12 and 13 December 2002, Presidency Conclusions, SN 400 / 02. S. 3 ff. und Anhang. 886 http: // www.auswaertiges-amt.de / www /de /eu_politik /vertiefung / erweiterung_html#6.

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F. Die demokratische Entwicklung im Post-Nizza-Prozess

Nachdem auch alle bisherigen Mitgliedstaaten den Beitrittsvertrag ratifiziert hatten, wurde der Beitritt gemäß Art. 2 Abs. 2 Beitrittsvertrag zum 1. Mai 2004 wirksam. Der Beitritt neuer Mitgliedstaaten wirkt sich auf die Zusammensetzung des Rates, der Kommission und des Europäischen Parlaments aus. Im Hinblick auf den Rat und die Kommission ändert ein Beitritt neuer Mitgliedstaaten allerdings nichts an der grundsätzlichen demokratischen Legitimation dieser Organe.887 Etwas anderes gilt jedoch für das Europäische Parlament. Denn – wie bereits oben dargestellt – ist der Sitzanteil der Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament im Verhältnis zu ihrem jeweiligen Bevölkerungsanteil entscheidend für die Zählwertgleichheit der Wählerstimmen. 888 In der Schlussakte des Vertrages von Nizza ist der gemeinsame Standpunkt des Rates zur künftigen Sitzverteilung im Europäischen Parlament niedergelegt, Erklärung Nr. 20, Tabelle Nr. 1, allerdings noch im Hinblick auf ein Europäisches Parlament der EU-27. Danach ergäbe sich folgende Sitzverteilung für die Mitgliedstaaten für das künftige Europäische Parlament für die Wahlperiode 2004 / 2009: Mitgliedstaat Deutschland Vereinigtes Königreich Frankreich Italien Spanien Polen Rumänien Niederlande Griechenland Tschechische Republik Belgien Ungarn Portugal Schweden

Sitze 99 72 72 72 50 50 33 25 22 20 22 20 22 18

Mitgliedstaat Bulgarien Österreich Slowakei Dänemark Finnland Irland Litauen Lettland Slowenien Estland Zypern Luxemburg Malta

Sitze 17 17 13 13 13 12 12 8 7 6 6 6 5

Gesamt

732

Da Rumänien und Bulgarien nun nicht zum 1. Mai 2004 Mitglieder in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften werden, ist die Zahl der in jedem Mitgliedstaat zu wählenden Abgeordneten gemäß Art. 2 Ziff. 3 ProtErwEU zu korrigieren. Die Zahl der Abgeordneten jedes Mitgliedstaates ist anteilig so zu erhöhen, dass die Gesamtzahl der Abgeordneten möglichst nahe an 732 herankommt. Als Obergrenze wurde die gegenwärtige Anzahl (für die Wahlperiode 1999 / 2004, Art. 2 Ziff. 3 ProtErwEU) von Sitzen der Mitgliedstaaten festgelegt. Gemäß Art. 2 Ziff. 3 Abs. 2 ProtErwEU hat der Rat zu diesem Zwecke einen Beschluss zu fassen. 887 888

Vgl. oben E., IV., 4., b) und c). Vgl. oben C., II., 2.; D., III., 1., a), dd); und E., III., 1., b).

I. Osterweiterung

201

Durch die Nichtaufnahme von Rumänien und Bulgarien werden demnach insgesamt 50 Sitze frei. Nach dem Bericht des Rates über die Beitrittsverhandlungen vom 11. Februar 2003889 werden diese frei gewordenen 50 Sitze grundsätzlich anteilig auf die restlichen Mitgliedstaaten verteilt, wobei der Tschechischen Republik und Ungarn jeweils drei zusätzliche Sitze zugeteilt wurden.890 Dies fördert nicht nur die Proportionalität der Sitzverteilung, sondern hebt auch eine in der Erklärung zur Erweiterung der Europäischen Union (Nr. 20), Tabelle 1, vorhandene Ungleichbehandlung auf. Denn obwohl die Tschechische Republik mehr Einwohner als Griechenland hat, wurden ihr in vorbenannter Erklärung nur 20 Sitze zugewiesen, Griechenland aber 22. Das Gleiche gilt für Ungarn, das zwar mehr Einwohner als Belgien hat, aber ebenfalls nur 20 Sitze erhalten sollte, Belgien hingegen 22. Im Einzelnen ist die Sitzverteilung in Art. 11 Beitrittsakte geregelt (die Bestimmungen der Beitrittsakte sind nach Art. 1 Abs. 2 S. 2 Beitrittsvertrag Bestandteil des Beitrittsvertrages). Nach Art. 11 Beitrittsakte wird Art. 190 Abs. 2 UAbs. 1 EGV mit Wirkung ab der Wahlperiode 2004 – 2009 folgende Sitzverteilung im Europäischen Parlament vorsehen: Mitgliedstaat Deutschland Vereinigtes Königreich Frankreich Italien Spanien Polen Niederlande Griechenland Tschechische Republik Belgien Ungarn Portugal Schweden

Sitze 99 78 78 78 54 54 27 24 24 24 24 24 19

Mitgliedstaat

Sitze

Österreich Slowakei Dänemark Finnland Irland Litauen Lettland Slowenien Estland Zypern Luxemburg Malta

18 14 14 14 13 13 9 7 6 6 6 5

Gesamt

732

Die neue, tatsächlich für die Wahlperiode 2004 / 2009 zur Anwendung kommende Sitzverteilung – vorbehaltlich der Ratifikation der Beitrittsverträge durch alle neuen und alten Mitgliedstaaten – hat folgende Auswirkungen auf die Proportionalität der Sitzanteile zu den Bevölkerungsanteilen: In Folge der „Deckelung“ durch Art. 2 Ziff. 3 Abs. 1 ProtErwEU, also durch das Festlegen der Sitzanteile in der Wahlperiode 1999 / 2004 als Obergrenze, ergibt 889 Council of the European Union, Report on the results of the negotiations on the accession, Brussels, 11 February 2003, 6241 / 03, Chapter 30, page 57. 890 Council of the European Union, Report on the results of the negotiations on the accession, Chapter 30, page 57.

202

F. Die demokratische Entwicklung im Post-Nizza-Prozess

sich, dass Deutschland von der anteiligen Aufteilung der 50 frei gewordenen Sitze nicht profitieren kann. Im Vergleich zu der Neuregelung nach Art. 2 Ziff. 1 Abs. 2 ProtErwEU, Art. 190 Abs. 2 UAbs. 1 EGV n.F. verliert Deutschland dadurch 1,37 Prozentpunkte von den 2,69 Prozentpunkten, um die sich sein Sitzanteil nach Art. 190 Abs. 2 UAbs. 2 EGV n.F. seinem Bevölkerungsanteil angenähert hätte.891 Insgesamt betrachtet nähert sich der Sitzanteil im Verhältnis zum Bevölkerungsanteil durch den Beitrittsvertrag jedoch um weitere 1,05 Prozentpunkte im Vergleich zu dem in Art. 2 Ziff. 2 Abs. 2 ProtErwEU ohne den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten vorgesehenen Verhältnis von Sitzanteil zu Bevölkerungsanteil an.892 Im Mittelwert würde der Abstand des Sitzanteiles zum Bevölkerungsanteil nach der nach Art. 2 Ziff. 2 Abs. 2 ProtErwEU vorgesehenen Regelung 1,45 Prozentpunkte betragen.893 Durch den Beitritt würde diese Abweichung im Mittel nur noch 1,14 Prozentpunkte betragen.894 Zusammen betrachtet führt der Beitrittsvertrag somit zu einer weiteren Angleichung der Sitzanteile der Mitgliedstaaten an ihren jeweiligen Bevölkerungsanteil, so dass sich die Zählwert- oder Erfolgschancengleichheit der Wählerstimmen durch den Beitrittsvertrag weiter verbessern werden. Nach alledem würde die neue Sitzaufteilung nach dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten zu einer weiteren Zunahme der „proportionalen Vertretung“ der Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament führen. Hiermit korrespondiert eine Zunahme der inneren demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments und damit ein Ausbau der demokratischen Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften.

II. Der Verfassungskonvent unter Staatspräsident (a.D.) Valéry Giscard d’Estaing 1. Der Konvent a) Der Europäische Rat von Laeken Bereits beim Europäischen Rat in Nizza wurde in der „Erklärung über die Zukunft der Union“ (Nr. 23) festgelegt, dass im Jahr 2004 eine Regierungskonferenz stattfinden soll, die über umfassende Vertragsänderungen beraten soll. In der Literatur wird die „Erklärung Nr. 23“ auch als Agenda für den Post-Nizza-Prozess verstanden.895 Dabei sollte es gemäß der Erklärung Nr. 23 vor allem um vier Punkte 891 Vgl. Anhang III, letzte Spalte. Im Saldo zur Regelung für die Wahlperiode 1999 / 2004 beträgt der „Proportionalitätsgewinn“ jedoch immer noch 1,32 Prozentpunkte. 892 Vgl. Anhang III, letzte Spalte, letzte Zeile. 893 Vgl. Anhang I.1, a.E. und oben E., III., 1., b). 894 Vgl. Anhang III, a.E. 895 Vgl. Hirsch, S. 2677; Schröder, Die Parlamente im Europäischen Entscheidungsgefüge, S. 301 (303); Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (181); Wou-

II. Verfassungskonvent unter Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing

203

gehen: Erstens, um die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, zweitens, um den Status der Charta der Grundrechte, drittens, um eine Vereinfachung der Verträge, ohne diese inhaltlich zu ändern, und viertens, um die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas, Erklärung Nr. 23 Ziff. 5 Spiegelstriche 1 bis 4. Am 14. und 15. Dezember 2001 beschloss der Europäische Rat in Laeken, einen „Konvent“ einzusetzen, der für die Regierungskonferenz 2004896 Vorschläge für Vertragsänderungen erarbeiten sollte.897 In seiner Themenstellung für den Konvent ging der Europäische Rat von Laeken jedoch weit über die Erklärung Nr. 23 hinaus.898 b) Themen und Fragestellungen In der Erklärung von Laeken stellt der Europäische Rat zunächst fest, dass die Europäische Union ihre Legitimität aus den demokratischen Werten, für die sie eintritt, aus den Zielen, die sie verfolgt, und den Befugnissen und Instrumenten, über die sie verfügt, beziehe.899 Das europäische Projekt beziehe seine Legitimität jedoch auch aus demokratischen, transparenten und effizienten Organen.900 Der Europäische Rat fasst den Auftrag des Konvents denkbar weit: Er „soll die wesentlichen Fragen“ prüfen, welche die zukünftige Entwicklung der Europäischen Union aufwirft.901 Unter dem Punkt I. der Anlage I der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Laeken, die eine allgemeine Einschätzung des Europäischen Rates zur Aufgabe der Europäischen Union für Europa und in der Welt enthält, ist jedoch eine wichtige Grenzziehung vorhanden, auch wenn der Europäische Rat hier nicht für sich sondern stellvertretend für den „Bürger“ in der Europäischen Union spricht: Er (der Bürger) wolle keinen europäischen Superstaat.902 ters, S. 342 (352); Pache / Schorkopf, S. 1377 (1386); Wiedmann, Der Vertrag von Nizza, S. 185 (213). 896 Nach Oppermann habe jedoch Italien den Ehrgeiz, die Regierungskonferenz bereits unter seiner Ratspräsidentschaft bis Mitte 2003 zu beginnen und vor dem Jahresende abzuschließen [ders., Vom Nizza-Vertrag zum Verfassungskonvent, S. 1 (3)]. 897 Europäischer Rat von Laeken am 14. und 15. Dezember 2001, Schlussfolgerungen des Rates, SN 300 / 1 / 01 REV 1, S. 1 und Anlage I, S. 19 bis 26. 898 Oppermann setzt den Auftrag, die Verträge klarer und verständlicher zu machen, ohne sie inhaltlich zu ändern, gleich mit dem Auftrag einer „Quadratur des Zirkels“ [ders., Vom Nizza-Vertrag zum Verfassungskonvent, S. 1 (5)]. 899 Europäischer Rat von Laeken am 14. und 15. Dezember 2001, Schlussfolgerungen des Rates, Anlage I, S. 22 f. 900 Europäischer Rat von Laeken am 14. und 15. Dezember 2001, Schlussfolgerungen des Rates, Anlage I, S. 22 f. 901 Europäischer Rat von Laeken am 14. und 15. Dezember 2001, Schlussfolgerungen des Rates, Anlage I, S. 24. 902 Europäischer Rat von Laeken am 14. und 15. Dezember 2001, Schlussfolgerungen des Rates, Anlage I, S. 21.

204

F. Die demokratische Entwicklung im Post-Nizza-Prozess

Die allgemeine Einschätzung des Europäischen Rates zur Aufgabe der Europäischen Union für Europa und in der Welt fasst Oppermann wie folgt zusammen:903 „Die Herausforderung europäischer Verfassungsgebung ist eine doppelte. Zum einen soll die EU nach innen durch eine zeitgemäße Verfassung demokratischer, bürgernäher und effizienter werden. Auf der anderen Seite muss die EU ihre auswärtige Rolle in der sich globalisierenden Welt verbessern. Die Entwicklungen nach dem 11. 9. 2001 einschließlich des Nahostkonfliktes haben ein weiteres Mal die begrenzten weltpolitischen Einflussmöglichkeiten einer Union vor Augen geführt, die keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik kennt, die diesen Namen verdient. Ähnliches gilt für das Fehlen einer gemeinsamen Einwanderungspolitik, den ungenügenden Schutz der Außengrenzen oder für die Bekämpfung der transnationalen Kriminalität.“

Unter dem Punkt II. der Anlage I führt der Europäische Rat Fragen und Themen auf, die der Konvent behandeln soll. Unter der Überschrift „Mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz“ nennt der Europäische Rat unter anderem folgende Themen, die für die hier interessierende Frage der demokratischen Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften von besonderer Bedeutung sind:904 – „In einem allgemeineren Sinne ist zu fragen, welche Initiativen wir ergreifen können, um eine europäische Öffentlichkeit zu entwickeln.“ – „Als erstes stellt sich gleichwohl die Frage, wie wir die demokratische Legitimation und Transparenz der jetzigen Organe stärken können – eine Frage, die für die drei Organe [Anm.: Kommission, Rat und Parlament] gilt.“ – „Wie lassen sich Autorität und Effizienz der Europäischen Kommission stärken? Wie soll der Präsident der Kommission bestimmt werden: vom Europäischen Rat, vom Europäischen Parlament oder – im Wege direkter Wahlen – vom Bürger?“ – „Sollen wir das Mitentscheidungsrecht [Anm.: des Europäischen Parlaments] ausweiten oder nicht? Soll die Art und Weise, in der wir die Mitglieder des Europäischen Parlaments wählen, überprüft werden? Ist ein europäischer Wahlbezirk notwendig oder soll es weiterhin im nationalen festgelegte Wahlbezirke geben?“ – „Soll die Rolle des Rates gestärkt werden? Soll der Rat als Gesetzgeber in derselben Weise handeln wie in seiner Exekutivfunktion?“ – „Wie können [ . . . ] das Gleichgewicht und die gegenseitige Kontrolle zwischen den Organen gewährleistet werden?“ – „Sollen sie [Anm.: die nationalen Parlamente] in einem neuen Organ – neben dem Rat und dem Europäischen Parlament – vertreten sein? Sollen sie eine Rolle in den Bereichen des europäischen Handelns spielen, in denen das Europäische Parlament keine Zuständigkeit besitzt? Sollen sie sich auf die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten konzentrieren, indem sie beispielsweise vorab die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips kontrollieren?“ – „Wie lässt sich das Mitentscheidungsverfahren zwischen Rat und Europäischem Parlament vereinfachen und beschleunigen? [ . . . ] Welches ist die künftige Rolle des Europäischen Parlaments?“ Oppermann,Vom Nizza-Vertrag zum Verfassungskonvent, S. 1 (5). Europäischer Rat von Laeken am 14. und 15. Dezember 2001, Schlussfolgerungen des Rates, Anlage I, S. 22 f. 903 904

II. Verfassungskonvent unter Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing

205

Schließlich wirft der Europäische Rat Themen und Fragen auf, die sich mit dem „Weg zu einer Verfassung für die europäischen Bürger“ befassen:905 – „Für die Europäische Union gelten zurzeit vier Verträge. Die Ziele, Zuständigkeiten und Politikinstrumente der Union sind in diesen Verträgen verstreut. Im Interesse einer größeren Transparenz ist eine Vereinfachung unerlässlich.“906 – Es sei deshalb über eine mögliche Neuordnung der Verträge nachzudenken. „Soll zwischen einem Basisvertrag und den übrigen Vertragsbestimmungen unterschieden werden? Soll sich diese Unterscheidung in einer Aufspaltung der Texte niederschlagen? Kann dies zu einer Unterscheidung zwischen den Änderungs- und Ratifikationsverfahren für den Basisvertrag und für die anderen Vertragsbestimmungen führen?“ – „Schließlich stellt sich die Frage, ob diese Vereinfachung und Neuordnung nicht letztlich dazu führen sollte, dass in der Union ein Verfassungstext angenommen wird.“

c) Die Zusammensetzung und Arbeitsweise des Konvents Zu dem Zwecke, sich mit den vorbenannten und weiteren Themen und Fragestellungen des Europäischen Rates von Laeken auseinanderzusetzen und ein Abschlussdokument zu erstellen, berief der Europäische Rat einen Konvent ein, der aus insgesamt 105 Mitgliedern besteht.907 Der Konvent setzt sich zusammen aus je einem Vertreter der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten (15), je zwei Vertretern der nationalen Parlamente (30), Vertretern des Europäischen Parlaments (16) und Vertretern der Kommission (2). Hinzu kommen je ein Regierungsvertreter (13) und zwei Parlamentsvertreter (26) aus den Beitrittsländern, die nach den Ausführungen des Europäischen Rates von Laeken einen sich abzeichnenden Konsens jedoch nicht verhindern können.908 Zudem sind noch Beobachter geladen (Mitglie905 Europäischer Rat von Laeken am 14. und 15. Dezember 2001, Schlussfolgerungen des Rates, Anlage I, S. 23 f. 906 Oppermann meint, dass die EU / EG derzeit eine „ganz fürchterliche Grundordnung“ habe. Die vielgestaltige Entwicklung des Primärrechts „mit all ihren Verträgen, Protokollen, Erklärungen usf.“ sei heute selbst für Spezialisten nicht mehr überschaubar. Derzeit habe man die „schlechteste Art von Verfassung, nämlich eine lange und dunkle“. Der Unionsbürger würde sich „mit Grausen“ von diesem Konglomerat abwenden [Oppermann, Vom NizzaVertrag zum Verfassungskonvent, S. 1 (5)]. 907 Europäischer Rat von Laeken am 14. und 15. Dezember 2001, Schlussfolgerungen des Rates, Anlage I, S. 24 ff. 908 Europäischer Rat von Laeken am 14. und 15. Dezember 2001, Schlussfolgerungen des Rates, Anlage I, S. 24. Dies erscheint unter dem Gesichtspunkt problematisch, dass zehn der 13 Beitrittskandidaten am 16. April bereits einen Beitrittsvertrag unterzeichnen sollen, der sie – vorbehaltlich der Ratifikation – zum 1. Mai 2004 zu Mitgliedern der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften machen soll. Die Zustimmung dieser Länder zu einem künftigen „Verfassungsvertrag“ wäre demnach ebenso erforderlich, wie die Zustimmung der gegenwärtigen Mitgliedstaaten. Der Hinweis, dass die Beitrittskandidaten einen sich abzeichnenden Konsens nicht verhindern können sollen, ist demnach zwar im Hinblick auf die drei Bewerberstaaten, deren Aufnahme nicht beschlossen wurde (Rumänien, Bulgarien und die Türkei), verständlich, jedoch nur eingeschränkt verständlich, was die zehn „neuen Mitglied-

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F. Die demokratische Entwicklung im Post-Nizza-Prozess

der des Wirtschafts- und Sozialausschusses, der europäischen Sozialpartner, des Ausschusses der Regionen und der Europäische Bürgerbeauftragte). Die Möglichkeit der Beteiligung am Konvent wurde von den Regierungsvertretern im Ministerrang auch bereits wahrgenommen: Der deutsche Außenminister Josef Fischer und sein französischer Amtskollege Dominique de Villepin reisten sogar vom Sicherheitsrat in New York über Nacht nach Brüssel, um am Konvent teilzunehmen. In der Presse wurde angesichts des großen Interesses der nationalen Regierungen von einer „heimlichen Invasion der Honoratioren“909 der Mitgliedstaaten gesprochen.

Zum Präsidenten des Konvents ernannte der Europäische Rat den französischen Staatspräsidenten (a.D.) Giscard d’Estaing. Seine Vizepräsidenten sind die früheren Regierungschefs von Belgien und Italien, Jean-Luc Dehaene und Giuliano Amato. Des Weiteren gehörten dem Präsidium neun Mitglieder des Konvents an (die Vertreter aller Regierungen, die während des Konvents den Ratsvorsitz innehatten, zwei Vertreter der nationalen Parlamente, zwei Vertreter der Mitglieder des Europäischen Parlaments und die zwei Vertreter der Kommission sowie als „Gast“ mit beratender Funktion ein Vertreter der nationalen Parlamente der Beitrittsländer).910 Der Konvent nahm seine Arbeit am 28. 2. 2002 auf.911 Am Ende seiner Arbeit sollte der Konvent ein Abschlussdokument erstellen, das entweder verschiedene Optionen mit der Angabe, inwieweit diese Optionen im Konvent Unterstützung erhalten haben, oder – im Falle eines Konsenses – Empfehlungen enthalten sollte.912 Der Konvent selbst hat keine „verfassunggebende“ Gewalt, sondern er bereitet lediglich eine Änderung der völkerrechtlichen Verträge, insbesondere von EUV, EGV und EAGV, vor, die nach dem bisherigen Verfahren von den Mitgliedstaaten zu ratifizieren ist, Art. 48 EUV. Dabei sind die Regierungen der Mitgliedstaaten inhaltlich nicht an die Vorschläge des Konvents gebunden.913 Die Vorbereitung einer solchen umfassenden Vertragsänderung durch einen Konvent, der mehrheitlich mit Parlamentariern besetzt ist, stellt eine Neuerung gegenüber den „traditionellen“ Änderungsverfahren völkerrechtlicher Verträge dar, staaten“ angeht, die zur Übernahme des zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens ihres Beitritts geltenden acquis communautaire verpflichtet sind (vgl. auch Riedl, Norbert K., Der Konvent zur Zukunft Europas – Die Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union, in: ZRP 2002, S. 241 (243), mit Hinweis auf Meng, in: G / T / E, Art. O, Rz. 68 und EuGH, Slg. 1982, 593). 909 N.N., Verfassung für Europa – Invasion der Honoratioren, in: DIE ZEIT Nr. 5 vom 23. Januar 2003, S. 6. 910 Riedl, S. 241 (243). 911 Hoenig / Wilke, Giscard führt EU in neues Abenteuer, in: Handelsblatt Nr. 041 vom 27. 2. 2002, S. 2. 912 Europäischer Rat von Laeken am 14. und 15. Dezember 2001, Schlussfolgerungen des Rates, Anlage I, S. 25. Vgl. auch Riedl, S. 241 (243). 913 Epping, S. 821 (822).

II. Verfassungskonvent unter Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing

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die auf den Konvent zur Erarbeitung der Grundrechtscharta zurückgeht.914 Diese Konventsmethode wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Während sie zum Teil als „sinnvoll und bewährt“915 oder als demokratische Verbesserung916 beurteilt wird, wenden sich andere Stimmen gegen einen Konvent, der als „Gremium ,unabhängiger‘ Experten“917 prinzipiell demokratisch nicht verantwortlich sei, weshalb die Einsetzung eines Konvents zur Vorbereitung von Vertragsänderungen grundsätzlich „– demokratisch betrachtet – einen Rückschritt“ bedeute. Zwar wären die Vorschläge eines solchen Konvents rechtlich nicht bindend, jedoch setze er eine Regierungskonferenz im Falle inhaltlicher Abweichungen unter einen politisch „problematischen Rechtfertigungszwang“918. Die Entstehungsgeschichte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bestätige diese Befürchtung. Sie wurde ohne jegliche inhaltliche Diskussion auf dem EU-Gipfel in Nizza in einem Gesamtakt des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission angenommen und feierlich proklamiert. Eine solch Prozedur würde die demokratische Legitimation und Rückbindung grundlegender Entscheidungen über die Fortsetzung und Fortentwicklung der europäischen Integration an die EU-Bürger nicht stärken, sondern schwächen. Als „demokratische Verbesserung“ kann der Konvent m.E. nicht angesehen werden. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern „Alibi-Veranstaltungen“919 für die „Zivilgesellschaft“ und Internetforen, bei denen nicht zu erkennen ist, ob und inwieweit sie die Arbeit des Konvents überhaupt beeinflusst haben, einen demokratischen Fortschritt bedeuten sollen. Andererseits kann von dem von der Regierungskonferenz von Laeken eingesetzten Konvent kein großer politischer Druck ausgehen. Dies gilt insbesondere wegen des besonderen Entscheidungsverfahrens im Konvent: Der Konvent hat seine Arbeiten am 13. 6. / 10. 7. 2003 nicht durch eine Abstimmung über den Verfassungsvertragsentwurf beendet, sondern mit einem „förmlichen Konsens der sehr großen Mehrheit der Mitglieder“ beendet.920 Diese „sehr große Mehrheit wurde“ durch „zahlreiche positive Abschlussreden“ und den Verzicht auf Einsprüche oder abweichende Stellungnahmen sowie die Unterzeichnung 914 In diesem Sinne auch Oppermann, Vom Nizza-Vertrag zum Verfassungskonvent, S. 1 (3). 915 Schwarze, Ein pragmatischer Verfassungsentwurf, S. 535 (567 f.). 916 Meyer bemerkt, dass das Verfahren, mit welchem eine Verfassung erarbeitet werde, für ihre Legitimation ähnlich wichtig sei wie der Inhalt. Das Konventsverfahren sei öffentlich, im Konvent arbeite eine Mehrheit von Parlamentariern und der Konvent beziehe in seine Arbeit das Forum der Zivilgesellschaft ein, was eine völlig neue Qualität von Europapolitik darstelle, die sich mit dem Satz „mehr Demokratie wagen“ beschreiben ließe (Meyer, Von der Wirtschaftsgemeinschaft zur Werteordnung, S. 272). 917 Hillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (14 f.). 918 Hillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (14). 919 Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574. 920 Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 1. Teil, S. 1165 (1166). Die Abstimmung wurde „durch das Abspielen der Europahymne ersetzt“ (Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574).

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F. Die demokratische Entwicklung im Post-Nizza-Prozess

des Entwurfs „signalisiert“, ohne dass jedes Mitglied damit sein Einverständnis mit jeder Regelung im Text bekundete.921 Einige „Euroskeptiker“ legten einen Gegenbericht vor, der der Regierungskonferenz zusammen mit dem Verfassungsvertragsentwurf übermittelt wurde.922 Zudem waren im Konvent Regierungsvertreter der Mitgliedstaaten vertreten. Selbst wenn nur einige von ihnen einen „förmlichen Konsens einer sehr großen Mehrheit“ womöglich nicht verhindern hätten können, musste der Konvent, wenn er ein erfolgreiches Verfassungsprojekt auf den Weg bringen wollte, den (mutmaßlichen) Willen der Mitgliedstaaten in Rechnung stellen. Diese Ansicht wurde durch die tatsächliche Praxis bestätigt: Schon im Vorfeld der Regierungskonferenz von Brüssel am 12. / 13. Dezember 2003 wurde deutlich, dass einige Mitgliedstaaten (Spanien, Polen und einige der „kleineren“ Mitgliedstaaten) den Verfassungsvertrag nicht unverändert annehmen wollten.923 Und auch die Kommission verlangte noch Änderungen.924 Schließlich ging die Brüsseler Regierungskonferenz auseinander, ohne dass sich die Mitgliedstaaten auf die Annahme des Verfassungsvertragsentwurfes oder konkrete Änderungen geeinigt hatten.

2. Der EU-Verfassungsvertrag – Entwurf i.d.F. von Thessaloniki a) Zum Stand des Verfassungsvertrages Teil I und II des Verfassungsvertragsentwurfes wurden auf der Plenartagung des Konvents am 13. Juni 2003 „angenommen“925 und dem Europäischen Rat auf seiner Tagung in Thessaloniki am 20. Juni 2003 vom Konventspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing übergeben. Die Teile III und IV926 wurden am 10. Juli 2003 vom Konvent angenommen927 und dem Präsidenten des Europäischen Rates am 18. Juli 2003 in Rom überreicht. Nach den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rats in Thessaloniki soll der Vertrag über die Verfassung von den Mitgliedstaaten „so bald wie möglich nach dem 1. Mai 2004 unterzeichnet werOppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 1. Teil, S. 1165 (1166 f.). Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 1. Teil, S. 1165 (1166, Fn. 8); Gegenbericht „Europa der Demokratien“ (= Anlage III zu CONV 851 / 03). 923 Siehe hierzu unten F., II., 2., a). 924 Siehe unten F., II., 2., a). 925 Zur Verabschiedung durch „förmlichen Konsens“ siehe oben F., II., 1., b); CONV 820 / 03, abgedruckt in: EuGRZ 2003, S. 357. Enthält noch nicht Teil III und IV des Verfassungsvertrages. 926 Im Dokument des Konvents CONV 850 / 03 (Brüssel, 18. Juli 2003), das den endgültigen Wortlaut des Verfassungsvertrages und der Protokolle wiedergibt, sind Teil III und IV enthalten. 927 Zum „förmlichen Konsens“ siehe oben F., II., 1., b). 921 922

II. Verfassungskonvent unter Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing

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den“.928 Ob der Verfassungsvertrag allerdings in der Fassung des Konventsentwurfes von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet und von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden wird, ist offen. Der Entwurf wurde im Rahmen der ab dem 4. Oktober 2003 in Rom stattfindenden Regierungskonferenz beraten.929 Die italienische Regierung hatte ein besonderes Interesse, dass die Regierungskonferenz während ihrer Präsidentschaft erfolgreich mit der Unterzeichnung des Verfassungsvertrages abgeschlossen würde, um symbolisch „eine Brücke zu den historischen Römischen Verträgen zu schlagen“.930 Da die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten bis zum Abschluss der Regierungskonferenz in Brüssel am 12. / 13. Dezember 2003 keine Einigung über den Verfassungsvertragsentwurf erzielen konnten931, bleibt abzuwarten, ob und unter Vornahme welcher Abänderungen die Mitgliedstaaten 2004 unter der irischen oder der niederländischen Ratspräsidentschaft eine Einigung über den Verfassungsvertrag erzielen werden.932 Während sich der deutsche Außenminister Josef Fischer dafür ausspricht, keine (wesentlichen) Änderungen an dem Entwurf mehr vorzunehmen, gibt es verschiedene Stimmen, die den Verfassungsvertragsentwurf nicht unverändert akzeptieren wollen.933 Vertreter kleinerer und mittlerer Mitglieds- und Beitrittsstaaten forderten bei zwei Treffen in Prag und New York im September 2003, dass das Prinzip „Ein Land, ein Kommissar“ und das Rotationsprinzip im EU-Vorsitz beibehalten werde.934 Nach einer Aussage des britischen Außenministers Jack Straw will 928 Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Thessaloniki, 19. und 20. Juni 2003, abgedruckt in EuGRZ 2003, S. 376 ff. 929 Prodi fordert grundsätzliche Änderungen am Konventsentwurf, in: FAZ Nr. 217 v. 18. September 2003, S. 6. 930 Bacia, Horst, Erstes Scharmützel, in: FAZ Nr. 208 v. 8. September 2003, S. 1. 931 Die EU vor einer ungewissen Zukunft, in: FAZ Nr. 291 v. 15. Dezember 2003, S. 1 u. 2. 932 Nach Bundeskanzler Schröder soll es bis Ende 2004 zu einer Einigung über den Verfassungsvertragsentwurf kommen (Schröder: Bis Ende 2004 EU-Verfassung, in: FAZ Nr. 3 v. 5. Januar 2004, S. 2). Dabei gehen Schröder und der niederländische Ministerpräsident Balkenende davon aus, dass auch die niederländische Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2004 noch mit dem Verfassungsprojekt beschäftigt sein werde (Nach dem gescheiterten Verfassungsgipfel in Brüssel, in: FAZ Nr. 291 v. 15. Dezember 2003, S. 2). 933 Außenminister Fischer meinte, dass das Ergebnis des Konvents „nicht wieder aufgeschnürt“ werden dürfe. Es liege „ein vernünftiger Kompromiss zwischen den großen und den kleinen Staaten“ vor (Die „Kleinen“ beraten in Prag über die EU-Regierungskonferenz, in: FAZ Nr. 201 v. 30. August 2003, S. 6). Auch der stellvertretende italienische Regierungschef Gianfranco Fini und der Außenminister Franco Frattini sprachen sich dagegen aus, das Konventsergebnis zu „zerpflücken“ („Konventsvorschläge nicht zerpflücken“, in: FAZ Nr. 205 v. 4. September 2003, S. 4). Die weiteren Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft Frankreich und die BeNeLux-Staaten wollen den Verfassungsvertragsentwurf des Konvents nicht mehr grundsätzlich in Frage stellen, sondern „allenfalls kleinere, vorwiegend technische oder juristische Nachbesserungen“ vornehmen [Bacia, (siehe Fn 930)]. 934 Das erste Treffen war von Österreich und Tschechien angeregt worden. Dänemark, Estland, Finnland, Griechenland, Irland, Lettland, Litauen, Polen, Portugal, die Slowakei, Slowenien, Schweden und Ungarn hatten Vertreter nach Prag geschickt. Die BeNeLux-Staaten haben ihre Teilnahme abgesagt (vgl.: Kleine EU-Staaten fordern Nachverhandlungen, in:

14 Tiedtke

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Großbritannien „bei der bevorstehenden Endrunde der Verhandlungen darauf bestehen, dass eine Reihe von Entscheidungen weiterhin einstimmig gefasst werden muss.“935 Spanien und Polen wollen insbesondere die im Konventsentwurf vorgesehene Gewichtung der Stimmen bei Mehrheitsentscheidungen im Rat nicht akzeptieren, weil die Neuregelung für sie eine Verschlechterung gegenüber dem in Nizza ausgehandelten Ergebnis bedeuten würde.936 Vor allem Deutschland und Frankreich sind in dieser Frage jedoch nicht zu einem Abweichen von der im Verfassungsvertragsentwurf vorgesehenen Regelung bereit. An dieser Frage scheiterte schließlich auch die am 12. / 13. Dezember 2003 stattfindende Regierungskonferenz in Brüssel, die über die Annahme des Verfassungsvertragsentwurfes entscheiden sollte.937 Die Kommission kritisiert, dass Vertragsänderungen (auch künftig) nur einstimmig möglich sein sollen und dass es nach dem Verfassungsvertragsentwurf zwei verschiedene Gruppen von Kommissaren geben soll.938 Sie fordert, dass Änderungen des Verfassungsvertrages künftig auch mit einer Fünf-Sechstel-Mehrheit möglich sein sollen.939 Die Unterzeichnung des endgültigen Textes des Verfassungsvertrages ist nach dem 1. 5. 2004 vorgesehen, wenn die 10 Beitrittsstaaten der Athener Verträge vom 16. 4. 2003 Mitglieder der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften geworden sind.940 Für den anschließenden Prozess der Ratifikation durch die Mitgliedstaaten werden mindesten zwei Jahren veranschlagt. Bei problemlosem Verlauf könnte der Verfassungsvertrag ungefähr Mitte 2006 in Kraft treten.941

b) Die Struktur des Verfassungsvertrages Der Verfassungsvertragsentwurf ist in vier Teile aufgeteilt.942 Teil I enthält grundlegende Bestimmungen über die Beziehung zu den Mitgliedstaaten, die OrFAZ Nr. 203 v. 2. September 2003, S. 2 und Weiteres Treffen der kleinen EU-Staaten, in: FAZ Nr. 219 v. 20. September 2003, S. 2). 935 EU-Verfassungsentwurf begrüßt, in: FAZ Nr. 210 v. 10. September 2003, S. 5. 936 Prodi fordert grundsätzliche Änderungen am Konventsentwurf (siehe Fn. 929). 937 Die EU vor einer ungewissen Zukunft, in: FAZ Nr. 291 v. 15. Dezember 2003, S. 1 (2). 938 EU-Kommission bemängelt Verfassungsentwurf, in: FAZ Nr. 199 v. 28. August 2003, S. 2. 939 Prodi fordert grundsätzliche Änderungen am Konventsentwurf (siehe Fn. 929). 940 Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 2. Teil, S. 1234 (1245 f.). 941 Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 2. Teil, S. 1234 (1245). 942 Besprechungen und Bewertungen des Verfassungsvertragsentwurfes finden sich bei Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 1. Teil, S. 1165 – 1176; ders., Eine Verfassung für die Europäische Union, 2. Teil, S. 1234 – 1247; Schwarze, S. 535 – 573; Obwexer, Der Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa, S. 208 – 218; Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 – 599; Epping, S. 821 – 831.

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gane der Union sowie die Rechtsakte. Teil II enthält die Charta der Grundrechte, Teil III die Politikbereiche und die Arbeitsweise der Union und Teil IV allgemeine und Schlussbestimmungen. Seiner Struktur nach soll der Verfassungsvertrag nach dem Entwurf des Konvents im Einzelnen wie folgt gestaltet sein:943 Präambel Teil I Titel I: Definitionen und Ziele Art. 1 Gründung der Union Art. 2 Die Werte der Union Art. 5 Beziehungen zwischen der Union und den Mitgliedstaaten Titel II: Grundrechte und Unionsbürgerschaft Art. 8 Unionsbürgerschaft Titel III: Die Zuständigkeiten der Union Art. 9 Grundprinzipien [Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung] Art. 10 Das Unionsrecht [Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten] Art. 17 Flexibilitätsklausel Titel IV: Die Organe der Union Kapitel I: Institutioneller Rahmen Art. 16 Das Europäische Parlament Art. 21 Der Präsident des Europäischen Rates Art. 24 Die qualifizierte Mehrheit Art. 25 Die Europäische Kommission Art. 26 Der Präsident der Europäischen Kommission Art. 27 Der Außenminister der Union Titel V: Ausübung der Zuständigkeiten der Union Kapitel I: Gemeinsame Bestimmungen Art. 32 Die Rechtsakte der Union Art. 33 Gesetzgebungsakte Titel VI: Das demokratische Leben der Union Art. 44 Grundsatz der demokratischen Gleichheit Art. 45 Grundsatz der repräsentativen Demokratie Art. 46 Grundsatz der partizipativen Demokratie [Europäisches Bürgerbegehren] Titel VII: Die Finanzen der Union Art. 55 Der Haushaltsplan Titel IX: Zugehörigkeit zur Union Art. 57 Kriterien und Verfahren für den Beitritt zur Union Art. 59 Austritt aus der Union Teil II: Die Charta der Grundrechte der Union 943 Darstellung unter besonderer Hervorhebung der für die demokratische Legitimation bedeutsamen Artikel. Vgl. zum Aufbau des Verfassungsvertrages: Obwexer, Der Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa, S. 208 (209).

14*

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Teil III: Die Politikbereiche und die Arbeitsweise der Union Titel VI: Arbeitsweise der Union Kapitel I: Vorschriften über die Organe Abschnitt 1: Die Organe Unterabschnitt 1: Das Europäische Parlament Art. III-232 [Zusammensetzung und Wahl des Europäischen Parlaments] Art. III-234 [Aufforderung der Kommission zur Rechtsakt-Initiative] Art. III-243 [Misstrauensantrag gegen die Kommission] Unterabschnitt 4: Die Kommission Abschnitt 4: Gemeinsame Vorschriften für die Organe, Einrichtungen, Ämter und Agenturen der Union Art. III-302 [Gesetzgebungsverfahren] Kapitel II: Finanzvorschriften Abschnitt 2: Der Jahreshaushaltsplan der Union Art. III-310 [Feststellung des Jahreshaushaltsplanes] Teil IV: Allgemeine und Schlussbestimmungen Art. IV-7 Verfahren zur Änderung des Vertrags über die Verfassung – Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union („PRP“) – Protokoll über die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit („PSV“) – Protokoll über die Vertretung der Bürgerinnen und Bürger im Europäischen Parlament und die Stimmgewichtung im Europäischen Rat und im Ministerrat („PVS“) – Dem Protokoll über die Vertretung der Bürgerinnen und Bürger im Europäischen Parlament und die Stimmgewichtung im Europäischen Rat und im Ministerrat beigefügte Erklärung

3. Verbesserung der demokratischen Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften durch den Verfassungsvertragsentwurf des Konvents? a) Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG und die „neue Union“ nach dem Verfassungsvertragsentwurf Es wurde bereits festgestellt944, dass die demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften bei fortschreitender Integration schritthaltend ausgebaut werden muss. Im Folgenden wird untersucht, ob die „neue Union“ nach dem Entwurf des Verfassungsvertrages des Konvents den demokratischen Mindeststandards des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG gerecht würde.

944

Vgl. oben E., I., 2., c) und E., I., 3.

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b) Die „Verfassung“ der Union Hinsichtlich der Begriffe „Verfassung“ oder „Verfassungsvertrag“ für die künftigen Unions- bzw. Gemeinschaftsverträge werden sowohl rechtlich als auch politisch unterschiedliche Meinungen vertreten.945 Der Entwurf des Verfassungsvertrages verwendet nun den Begriff „Verfassung“ für den angedachten völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten über die neue „Union“, nachdem sich ein politischer Konsens hierüber abgezeichnet hat.946 Es bleibt jedoch bis zur Ratifikation offen, ob dieser oder beispielsweise Begriffe wie „Grundvertrag“, „Grundlagenvertrag“, „Unionsvertrag“ oder andere über dem neuen Vertragstext stehen werden. Marhold beschreibt den sich abzeichnenden Konsens betreffend den Begriff „Verfassung“ wie folgt:947 „Im Falle des Begriffs ,Verfassung‘ lässt sich einigermaßen deutlich ein Weg zu einem vorläufigen Konsens zurückverfolgen. Ein entscheidender Schritt auf diesem Weg [ . . . ] war das erstmalige Bekenntnis des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac zum Begriff einer europäischen Verfassung bei seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Juni 2000 [ . . . ]. Und schließlich ist mit einem weitgehenden Konsens – wenn auch vielleicht nicht mit Zustimmung aller Konventsmitglieder – zu rechnen, seitdem die britische Regierung den Verfassungsbegriff selbst verwendet. Diese Schwelle hat der britische Außenminister Jack Straw mit seiner Rede vor der Edingburgher Handelskammer am 27. August 2002 endgültig überschritten, indem er ausdrücklich eine europäische Verfassung nicht nur akzeptierte, sondern aktiv forderte.“

Der Begriff „Verfassung“ für sich betrachtet hat nichts mit einer etwaigen Staatlichkeit der Union und ihrer Gemeinschaften zu tun.948 Der Name „Verfassung“ oder „Verfassungsvertrag“ für den mehrseitigen völkerrechtlichen Vertragsentwurf des Verfassungskonvents verschafft der Union noch keine „Verfassungsautonomie“ wie sie die Mitgliedstaaten für sich und – als Herren der Verträge – in ihrer gesamt945 So sprechen sich beispielsweise Ex-Kanzlerkandidat und bayerischer Ministerpräsident Edmund Stoiber sowie Bundeskanzler (a.D.) Helmut Schmidt in der ZEIT gegen die Verwendung des Begriffes Verfassung aus, weil er Assoziationen zur Staatlichkeit erwecke (in: DIE ZEIT 07 / 2001, o.S., abgedruckt unter http: // www.zeit.de / 2001 / 07 / Politik / 200107_stoiber. html). Im Bereich der juristischen Literatur beispielsweise für den Begriff Verfassung: Oppermann,Vom Nizza-Vertrag zum Verfassungskonvent, S. 1. 946 Vgl. Marhold, S. 251 (252). 947 Marhold, S. 251 (252). 948 In der Literatur wird der Begriff der „Verfassung“ für die Europäische Union jedoch auch im Sinne einer teilweisen Verfassungsautonomie der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften verwendet. So meint etwa Pernice, dass die europäischen Verträge die Komplementärverfassung der supranationalen Union gegenüber den einzelstaatlichen Verfassungen darstellten und dass nicht die nationalen Zustimmungsgesetze einen innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl für das europäische Recht begründeten, sondern die Annahme des vereinbarten Vertragsinhaltes Ausdruck des gemeinsamen Willens der Unionsbürger zur originären Konstituierung europäischer öffentlicher Gewalt seien [ders., S. 866 (867 f., 870)]. Dagegen oben D., I., 2.

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händerischen Verbundenheit für die Europäische Union und ihre Gemeinschaften inne haben. Durch den Begriff Verfassung kommt es auch nicht zu einem „Zusammenwachsen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht“949. Vielmehr ist Verfassung respektive Verfassungsvertrag im hier verstandenen Sinne als „Grundordnung“ zu verstehen.950 So haben auch ein Verein oder eine Kapitalgesellschaft in ihrer Satzung eine Verfassung, ohne dass sie dadurch in die Nähe der Staatlichkeit rückten.951 Der Präsident des Bundesgerichtshofes (und ehemalige Richter am EuGH) Prof. Dr. Günter Hirsch952 hält die Diskussion um den Begriff „Verfassung“ für die Europäische Union und ihre Gemeinschaften für eine „(typisch?) deutsche Diskussion“. Durch eine Ersetzung des Begriffes „Verfassung“ durch den Begriff „Verfassungsvertrag“ könne diese Diskussion zudem leicht erledigt werden. „In den anderen Mitgliedstaaten und Kandidatenländern mag man an das Aperçu von jenem deutschen Professor denken, der sein wissenschaftliches Lebenswerk dem Nachweis widmete, dass die Odyssee und die Ilias nicht von Homer stammten, sondern von einem Zeitgenossen Homers, der zufällig auch Homer hieß.“953 Bereits heute wird von weiten Teilen der Literatur und vom Bundesverfassungsgericht für die Primärverträge der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften der Begriff Verfassung verwandt.954 Der durch den Verfassungsvertragsentwurf neu eingeführte Begriff Verfassung ändert demnach nichts an der Rechtsnatur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften als internationale bzw. supranationale Organisationen. Diese „Verfassung“ bleibt trotz ihres Titels ihrer Rechtsnatur nach ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten. Ein Übergang der Kompetenz-Kompetenz von den Mitgliedstaaten auf die Europäische Union und ihre Gemeinschaften ist damit nicht verbunden. Art. I-9 Verfassungsvertragsentwurf („EV-E“) betont weiterhin das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Nach Art. IV-7 Abs. 3 EV-E müssen Vertragsänderungen weiterhin von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden.

949 Schwarze, Europäische Verfassungsperspektiven nach Nizza, S. 993 (997). Schwarze meint, durch den Begriff „Verfassung“ werde die „materielle Tragweite künftiger europäischer Reformschritte gekennzeichnet“ [ders., Europäische Verfassungsperspektiven nach Nizza, S. 993 (997)]. 950 Ebenso Oppermann,Vom Nizza-Vertrag zum Verfassungskonvent, S. 1. 951 Vgl. Hillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (13): „Selbstverständlich kann man, solange man sich dabei des Unterschieds zur Verfassung eines Staates bewusst bleibt, – ebenso wie die Satzung eines privaten Vereins – auch die Satzung einer internationalen oder supranationalen Organisation wie der Europäischen Gemeinschaft oder Europäischen Union als deren Verfassung bezeichnen. Doch ist damit kein wirklicher Erkenntnisgewinn verbunden [ . . . ].“ 952 Hirsch, S. 2677 (2678). 953 Hirsch, S. 2677 (2678). 954 Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (739), m. w. N. Das Bundesverfassungsgericht hat 1967 unter Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH ausgeführt, der EWGV stelle „gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft dar“ [BVerfGE 22, 293 (296)].

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c) Schritthaltender Ausbau demokratischer Legitimation? Der EV-E erwähnt das Demokratieprinzip an vielen Stellen. Die Präambel des EV-E beginnt mit einem Zitat des griechischen Geschichtsschreibers Thukydides, der als Begründer der politischen Geschichtsschreibung gilt:955 „Die Verfassung, die wir haben . . . heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist.“

In Abs. 4 der Präambel wird die Stärkung der Demokratie angestrebt. Art. I-2 EV-E bestimmt, dass sich die Union auf dem Wert der Demokratie gründet. Nach Art. I-44 EV-E achtet die Union den Grundsatz der (demokratischen) Gleichheit ihrer Bürger und gemäß Art. I-45 Abs. 1 EV-E beruht die Union auf der repräsentativen Demokratie. Im Folgenden wird untersucht, wie das in der Präambel und in Art. 1 – 2 EV-E festgelegte Demokratieprinzip sowie die demokratische Gleichheit der Bürger und der Grundsatz der repräsentativen Demokratie durch die einzelnen Bestimmungen des EV-E konkret umgesetzt wird, also ob es durch den EV-E tatsächlich zu einem schritthaltenden Ausbau der demokratischen Legitimation der Europäischen Union (und ihrer – im EV-E begrifflich nicht mehr vorhandenen – Gemeinschaften) kommt. aa) Fortschreiten der Integration Institutionelle Fragen und die Regelung von Entscheidungsverfahren sind das „Herzstück“ des EV-E. Eine wesentliche „materielle Vergemeinschaftung“, also eine Neu-Übertragung von Aufgaben und Befugnissen auf die Union, erfolgt durch den EV-E nicht.956 Zu einer fortschreitenden „institutionellen Vergemeinschaftung“ käme es durch mehrere Bestimmungen des EV-E. Die wesentlichen Neuerungen, die der EV-E vorsieht und durch die es zu einer weiteren Supranationalisierung der Union kommen würde, werden nachfolgend dargestellt. Ca. 460 – 400 v. Chr. (Strzysch / Weiß, Der Brockhaus in 15 Bänden, Band 14, S. 104). Die Verankerung der Grundrechte im EV-E führt nicht zu einer materiellen Vergemeinschaftung. Zwar waren Grundrechte nicht Bestandteil von EU- oder EG-Vertrag. Nach der Rechtsprechung des EuGH enthält die Gemeinschaftsrechtsordnung jedoch bereits gegenwärtig eigene Grund- und Menschenrechte, die durch eine vergleichende Betrachtung der Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten und aus der EMRK gewonnen werden (Emmert, § 23, Rz. 19 ff., mit Hinweis auf EuGH Urt. V. 12. November 1969 in der Rs. 29 / 69, Stauder, Slg. 1969, S. 419, HSVE S. 343; Rz. 7 der Entscheidungsgründe und Urt. v. 14. Mai 1974 in der Rs. 4 / 73, Nold, Slg. 1974, S. 491, HSVE S. 345). In Art. II-51 Abs. 2 EV-E ist ausdrücklich bestimmt, dass die Charta den Geltungsbereich des Unionsrecht nicht ausdehnt und dass die Charta weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union begründet (ebenso der Staatsminister im auswärtigen Amt, Hans Martin Bury, „Europa wagt mehr Demokratie“, erscheint im Oktober in Heft 3 / 2003 in der Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, im Internet unter: http: // www.auswaertiges-amt.de / www / de / eu-politik / aktuelles / zukunft / konvent / mehr_demokratie_html, Ziff. 1). 955 956

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(1) Europäisches Parlament Nach dem EV-E wird das Mitentscheidungsverfahren zum „Regelgesetzgebungsverfahren“957, Art. I-19 Abs. 1 EV-E, und auch bei Rechtsakten, die aufgrund der neuen „Flexibilitätsklausel“ Art. I-17 Abs. 1 EV-E (vgl. Art. 308 EGV) erlassen würden, hätte das Europäische Parlament eine Mitentscheidungsbefugnis. Die Möglichkeit, den Ministerrat bei der Feststellung des Jahreshaushaltsplanes mit einer 3 / 5-Mehrheit zu überstimmen, bestünde nach Art. III-310 EV-E hinsichtlich des Gesamthaushaltes, also nicht mehr beschränkt auf die nicht-obligatorischen Ausgaben. Dem Europäischen Parlament soll für die Mandatskontingentierung ab der Wahlperiode 2009 – 2014 ein Initiativ- und Mitentscheidungsrecht zustehen, Art. I-19 Abs. 2 UAbs. 2 EV-E. Bei Vertragsänderungen hätte das Europäische Parlament künftig gemäß Art. IV-7 Abs. 1 EV-E eine Initiativbefugnis und Mitglieder des Europäischen Parlaments wären gemäß Art. IV-7 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EV-E über den Konvent an der Erstellung der Empfehlung für die Konferenz der Vertreter der Mitgliedstaaten beteiligt. Falls der Europäische Rat – bei Änderungen des Verfassungsvertrages, die die Einberufung eines Konvents nicht rechtfertigen – beschließt, keinen Konvent einzuberufen, wäre die Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderlich, Art. VI-7 Abs. 2 UAbs. 1 S. 3 EV-E. Des Weiteren würden die Mitwirkungsrechte des Parlaments beim Abschluss von Abkommen mit Drittstaaten und Internationalen Organisationen ausgeweitet, Art. III-222 Abs. 7 und 11, Art. III-223 Abs. 1 und Art. III-212 Abs. 3 UAbs. 2 EV-E.958 Ein eigenes Initiativrecht bei der Gesetzgebung erhielte das Europäische Parlament nach dem EV-E nicht.959 (2) Präsident des Europäischen Rates und Außenminister der Union Neue Ämter nach dem EV-E wären der Präsident des Europäischen Rates und der Außenminister der Union, Art. I-21 und I-27 EV-E. Nach gegenwärtiger Rechtslage (Art. 4 Abs. 2 S. 3 EUV) führt der Staats- oder Regierungschef desjenigen Mitgliedstaats, der nach Art. 203 Abs. 2 EGV den Vorsitz im Rat innehat, den Vorsitz im Europäischen Rat. Nach Art. I-21 Abs. 1 EV-E soll sich der Vorsitz im 957 Bury (siehe Fn. 956), Ziff. 2; vgl. auch Bericht des Vorsitzes des Konvents an den Präsidenten des Europäischen Rates, Brüssel, 18. Juli 2003 (CONV 851 / 03), Ziff. 8. 958 Vgl. Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (586). 959 Art. III-234 S. 1 EV-E entspricht insoweit Art. 192 Abs. 2 EV-E. Huber ist dagegen der Ansicht, dass durch Art. III-234 EV-E das „Initiativrecht des Parlaments gestärkt“ werde. Dies trifft m.E. nur insofern zu, als die Kommission nunmehr nach Art. III-234 S. 2 EV-E verpflichtet wäre, dem Europäischen Parlament die Gründe darzulegen, wenn sie keinen Rechtsakt initiiert.

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Europäischen Rat nicht mehr aus dem Rotationsprinzip des Art. 203 Abs. 2 EGV ergeben, sondern der Präsident des Europäischen Rates soll vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit (Art. I-24 Abs. 1 EV-E bzw. Art. 2 Abs. 1 PVS) gewählt werden. Nach Art. I-21 Abs. 3 EV-E dürfte der Präsident des Europäischen Rats kein einzelstaatliches Amt innehaben.960 Deshalb käme es zu einer weiteren Supranationalisierung des Vorsitzes im Europäischen Rat, weil der Präsident des Europäischen Rates nicht wie bislang der Vorsitz im Europäischen Rat ein Staatsoder Regierungschef eines Mitgliedstaates wäre. Der Außenminister der Union soll vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit mit Zustimmung des Präsidenten der Kommission ernannt werden, Art. I-27 Abs. 1 EV-E. Als Mitglied des Kollegiums Kommission müsste er sich zudem, gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Kommission, einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments stellen, Art. I-26 Abs. 2 S. 3 EV-E. Er soll als Vizepräsident Mitglied der Kommission (Art. I-25 Abs. 3 EV-E) sein und den Vorsitz im Ministerrat „Auswärtige Angelegenheiten“ führen961, Art. I-23 Abs. 4 S. 1, III-197 Abs. 1 EV-E („kleiner Doppelhut“962). Gegenwärtig wird die Vertretung der Union im Bereich der GASP vom Vorsitz des Rates, also von einem Vertreter eines Mitgliedstaates, wahrgenommen, Art. 18 Abs. 1 EUV. Zu einer Supranationalisierung käme es nach Art. III-197 Abs. 2 EV-E dadurch, dass die Union im Bereich der GASP künftig vom Außenminister der Union vertreten würde, der durch Vorschläge zur Festlegung der GASP beiträgt und sicherstellt, dass die vom Europäischen Rat und vom Ministerrat erlassenen Europäischen Beschlüsse963 im Bereich der GASP durchgeführt werden, Art. III-197 Abs. 1 EV-E.964 Bei seiner Tätigkeit soll der Außenminister der Union durch einen Europäischen Auswärtigen Dienst unterstützt werden, Art. III-197 Abs. 3 S. 1 EV-E.

960 Eine Personalunion hinsichtlich der Ämter Präsident der Kommission und Präsident des Europäischen Rates („großer Doppelhut“) ist daher nicht ausgeschlossen, vgl. Obwexer, Der Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa, S. 208 (215) und Das große Europa – das neue Europa, in: FAZ Nr. 139 v. 18. Juni 2003, S. 6. 961 Der Außenminister soll zwar nach Art. I-23 Abs. 2 den Vorsitz im Ministerrat Auswärtige Angelegenheiten führen. Er soll aber nicht Mitglied des Ministerrats sein, wie sich aus Art. I-22 Abs. 2 EV-E ergibt. Deshalb bedarf es keiner Parlallel-Bestimmung zu Art. I-24 Abs. 5 EV-E, der festlegt, dass die Präsidenten der Kommission und des Europäischen Rates im Europäischen Rat kein Stimmrecht haben. 962 Das große Europa – das neue Europa, in: FAZ Nr. 139 v. 18. Juni 2003, S. 7. 963 Hinsichtlich der GASP soll es nach dem EV-E grundsätzlich dabei bleiben, dass der Rat und der Europäische Rat einstimmig beschließen, Art. III-201 Abs. 1, III-194 Abs. 1 UAbs. 3 S. 1 EV-E. 964 Außerhalb der GASP soll die Union grundsätzlich von der Kommission nach außen vertreten werden. Hierzu: Obwexer, Der Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa, S. 208 (211).

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(3) Europäischer Rat Durch den EV-E käme es zu einer Supranationalisierung des Europäischen Rates. Der EGV nennt den Europäischen Rat nicht als Organ.965 Herdegen weist darauf hin, dass der Europäische Rat auch nicht als Organ der Europäischen Union bezeichnet werden könne, da der Begriff „Organ“ in der völkerrechtlichen Terminologie grundsätzlich nur auf Organisationen mit eigener Rechtspersönlichkeit bezogen sei.966 Der Europäische Rat bilde deshalb „letztlich nur die Bündelung des politischen Willens der Mitgliedstaaten durch die Bereitstellung eines gemeinsamen Forums“.967 Nach dem EV-E soll der Union Rechtspersönlichkeit zukommen, weshalb der Europäische Rat künftig „echtes“ Organ der Union wäre, Art. I-6, I-18 Abs. 2, I-20 EV-E. Zudem soll die Regelung der qualifizierten Mehrheit für den Rat (vgl. Art. 205 Abs. 2 EGV), künftig auch für den Europäischen Rat gelten, Art I-24 EV-E, und zwar schon vor dem 1. November 2009, Art. 2 PVS. Beispiele: Nach Art. I-26 Abs. 1 S. 1 soll künftig der Europäische Rat mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vorschlagen. Nach dem Vertrag von Nizza liegt diese Befugnis beim Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs, der ebenfalls mit qualifizierter Mehrheit entscheidet, Art. 214 Abs. 2 EGV n.F.968 Ein weiteres Beispiel dafür, dass der Europäische Rat an die Stelle des Rates in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs treten soll, ist Art. I-58 Abs. 2 EV-E. Nach dieser Bestimmung soll der Europäische Rat künftig einstimmig eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Grundwerte der Union nach Art. I-2 EV-E durch einen Mitgliedstaat feststellen. Nach dem Vertrag von Nizza liegt die Parallelbefugnis des EUV (Art. 7 Abs. 2 EUV n.F.) beim Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs, der ebenfalls einstimmig entscheidet.

965 Nach Kapitel 1, Titel 1 des fünften Teils des EGV sind die Organe der Gemeinschaft das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission, der Gerichtshof und der Rechnungshof. 966 Herdegen, Rz. 66. 967 Herdegen, Rz. 66. 968 Personell gesehen sind der Europäische Rat und der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs identisch. Nach Emmert ist die Zuordnung von Beschlüssen, die auf einem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten getroffen werden, nicht immer eindeutig (ders., § 9, Rz. 78 f.): Die Staats- und Regierungschefs können nicht nur als Europäischer Rat, sondern – ohne den Kommissionspräsidenten – auch als Rat der EU Beschlüsse fassen. Zudem können sie im Namen der Mitgliedstaaten völkerrechtliche Vereinbarungen außerhalb der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften treffen, da sie völkerrechtlich kraft Art. 7 Abs. 2 WVRK legitimiert sind, im Namen ihrer Staaten Verträge abzuschließen.

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(4) Kommission Hinsichtlich der Kommission käme es durch die Stärkung der Position des Europäischen Parlaments und des Kommissionspräsidenten innerhalb des Ernennungsverfahrens und – spiegelbildlich – die Reduktion der Befugnisse des Rates zu einer weiteren Supranationalisierung. Nach dem EV-E soll die Kommission mit Wirkung ab dem 1. November 2009 (Art. I-25 Abs. 3 UAbs. 3 EV-E) aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten (Außenminister der Union) und dreizehn weiteren Europäischen Kommissaren bestehen, Art. I-25 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EV-E. Bislang gilt, dass die Mitglieder der Kommission vom Rat mit qualifizierter Mehrheit und im Einvernehmen mit dem Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten gemäß den Vorschlägen der einzelnen Mitgliedstaaten ernannt werden, Art. 214 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV n.F. Nach Art. I-26 Abs. 2 S. 2 EV-E hätte der Rat keinen Einfluss mehr auf die übrigen Kommissare; sie würden vom Kommissionspräsidenten ernannt. Und auch der Einfluss der Mitgliedstaaten auf ihren jeweiligen Europäischen Kommissar ginge zurück, da der Kommissionspräsident aus Vorschlagslisten der Mitgliedstaaten, mittels welcher jeder Mitgliedstaat dem Kommissionspräsidenten drei Kandidaten zur Auswahl stellt, wählen kann, welchen der von den Mitgliedstaaten vorgeschlagenen Kommissaren er für den geeignetsten hält. Im Anschluss an die Benennung der 13 übrigen Kommissare müsste sich die Kommission als Kollegium dem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments stellen, Art. I-26 Abs. 2 S. 3 EV-E. Einen das Ernennungsverfahren abschließenden Beschluss des Rates mit qualifizierter Mehrheit, wie nach Art. 214 Abs. 2 UAbs. 2 S. 2 EGV n.F. erforderlich, sieht der EV-E nicht vor. Auch Art. I-26 Abs. 1 EV-E könnte zu einer weiteren Supranationalisierung führen. Nach dieser Vorschrift soll der Europäische Rat969 „unter Berücksichtigung der Wahlen zum Europäischen Parlament“ und „im Anschluss an entsprechende Konsultationen“ mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vorschlagen. Lehnt das Parlament den Vorschlag ab, hat der Europäische Rat einen weiteren Kandidaten zu benennen. Zwar kann der Ministerrat bereits nach aktueller Rechtslage keinen Kommissionspräsidenten gegen eine Mehrheit des Europäischen Parlaments durchsetzen, Art. 214 Abs. 2 EGV n.F., so dass allein unter diesem Gesichtspunkt keine Zunahme der Kompetenzen des Europäischen Parlaments hinsichtlich der Ernennung des Kommissionspräsidenten vorliegt. Offen ist auch, wie der Europäische Rat die Wahlen zum Europäischen Parlament konkret bei seinem Vorschlag zu berücksichtigen hätte und mit wem er sich im Einzelnen nach den Wahlen zum Europäischen Parlament zu konsultieren hätte. Andererseits schafft die Vorschrift die Möglichkeit, dass sich die Wahlen (bzw. der Wahlkampf) zum Europäischen Parlament den nationalen Parlamentswahlen annähern. Die im Europäischen Parlament vertretenen Parteien 969 Nach Art. 214 Abs. 2 EGV n.F. ist aktuell der Ministerrat das Organ, das im Ernennungsverfahren der Kommission als „Organ der Mitgliedstaaten“ beteiligt ist.

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könnten im Wahlkampf jeweils mit einem Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten antreten. In diesem Sinne ist wohl auch der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Hans Martin Bury, zu verstehen, wenn er den EV-E wie folgt kommentiert:970 „Die Bürger entscheiden in den Europawahlen unmittelbar über die Zusammensetzung des Mitgesetzgebers Europäisches Parlament – und haben so künftig auch Einfluss auf die personelle Besetzung der Spitze der Unionsexekutive Kommission.“ Obwexer meint, die Regelung eröffne den politischen Parteien auf europäischer Ebene die Möglichkeit, im Wahlkampf mit Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten anzutreten.971

Der Europäische Rat wäre an den Kandidaten der späteren Mehrheitsfraktion bzw. -koalition zwar primärrechtlich nicht gebunden („unter Berücksichtigung der Wahlen zum Europäischen Parlament“, Art. I-26 Abs. 1 S. 1 EV-E). Von einem Vorschlag, hinter dem die Mehrheit der gewählten Abgeordneten des Europäischen Parlaments – und damit (grundsätzlich972) auch die Mehrheit der Unionsbürger – stünden, ginge jedoch ein erheblicher politischer Druck aus. Würde der Europäische Rat diesem Druck nicht nachgeben, käme es zu einer Patt-Situation, wenn das Europäische Parlament andere vorgeschlagene Kandidaten mehrheitlich nach Art. I-26 Abs. 1 S. 3 EV-E ablehnen würde. Diese Patt-Situation stünde im Widerspruch zu dem in den Europawahlen geäußerten Wählerwillen. Oppermann meint, mit der Neuregelung der Ernennung der Kommission würde ein bemerkenswerter Schritt in Richtung auf die Einführung des parlamentarischen Prinzips im Verhältnis zur Kommission getan.973 Erhofft sei eine Politisierung und Belebung der Europawahlen durch die Präsentation konkurrierender Spitzenkandidaten und damit eine Stärkung des Kommissionspräsidenten gegenüber dem Europäischen Rat und dem Ministerrat. Huber ist der Ansicht, dass es durch die Regelung der Ernennung des Kommissionspräsidenten nach dem EV-E zu einer „Parlamentarisierung“ des Regierungssystems der EU komme.974

Eine weitere Supranationalisierung würde sich daraus ergeben, dass der Kommissionspräsident einen Europäischen Kommissar nach Art. I-26 Abs. 3 UAbs. 2 EV-E ohne die bislang erforderliche Billigung durch das Kollegium (Art. 217 Abs. 4 EGV n.F.) entlassen können soll. Dadurch stiege die Verantwortlichkeit der Kommissionsmitglieder gegenüber dem Präsidenten der Kommission während ihrer Amtszeit. Zugleich würde dadurch mittelbar der Einfluss der Mitgliedstaaten auf die Zusammensetzung der Kommission vermindert, da die von den Mitgliedstaaten vorgeschlagenen Europäischen Kommissare bei der Entscheidung über die Entlassung eines Kommissionsmitglieds nicht mitentscheidungsberechtigt wären. Bury (siehe Fn. 956), Ziff. 1. Obwexer, Der Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa, S. 208 (217). 972 Durch die unterschiedlichen Wahlsysteme und die Mandatskontingentierung kann es auch – wie bereits oben (C., II.) ausgeführt – zu einem „Bias“ (Sieg der zweitstärksten Partei) kommen. 973 Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 2. Teil, S. 1234 (1235). 974 Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (586). 970 971

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(5) Sonstige In insgesamt 37 von 84 politischen Feldern, die bislang der Einstimmigkeit vorbehalten waren, soll der Ministerrat nach dem EV-E mit qualifizierter Mehrheit entscheiden können.975 Bei den Eigenmitteln soll die Entscheidung des Rates über die Modalitäten der Finanzmittel nach Art. I-53 Abs. 4 EV-E künftig in die qualifizierte Mehrheit überführt werden (vgl. Art. 269 Abs. 2 EGV). Der Bereich der PJZS wird durch die Auflösung der Säulenstruktur vergemeinschaftet und weitgehend in das Regelgesetzgebungsverfahren überführt, Art. III-158 bis III-178 EV-E („Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“). „Damit wird die Integration in einem Politikbereich vertieft, in dem nationale Souveräntitätsvorbehalte traditionell besonders stark ausgeprägt sind.“976 Die Einwanderungspolitik wird in die Mehrheitsentscheidung überführt, Art. III-168 Abs. 2, 4 EV-E, wobei „den aus der Zuwanderungsdebatte resultierenden deutschen Anliegen“ durch Art. III-168 Abs. 5 EV-E insofern Rechnung getragen wird, als für die Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen zum Arbeitsmarkt die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ausdrücklich bestimmt wird.977 Die Jurisdiktionsgewalt des EuGH soll ausgeweitet werden. Die Klagebefugnis von natürlichen und juristischen Personen soll erweitert werden, soweit sie durch Rechtsakte mit Verordnungscharakter unmittelbar betroffen sind, Art. III-270 Abs. 4 EV-E (vgl. Art. 230 Abs. 4 EGV). Im Bereich der PJZS sollen die Zuständigkeiten des EuGH erweitert werden, Art. III-283 – Umkehrschluss – EV-E. Im Bereich der GASP soll eine Zuständigkeit des EuGH neu eingeführt werden: Natürliche und juristische Personen sollen die Möglichkeit haben, gegen sie betreffende restriktive Maßnahmen unter den Voraussetzungen des III-270 Abs. 4 EV-E vorzugehen, Art. III-282 Abs. 2 EV-E.978 Neu eingeführt werden soll schließlich ein europäisches Bürgerbegehren nach Art. I-46 Abs. 4 EV-E. Gemäß dieser Vorschrift sollen künftig mindestens eine Million Bürger aus „einer erheblichen Zahl von Mitgliedstaaten“ die Kommission auffordern können, „geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht der Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verfassung umzusetzen“. Die Einzelheiten soll ein Europäisches Gesetz regeln, Art. I-46 Abs. 4 S. 2 EV-E.

975 976 977 978

Schwarze, Ein pragmatischer Verfassungsentwurf, S. 535 (565). Bury (siehe Fn. 956), Ziff. 8. Bury (siehe Fn. 956), Ziff. 8. Vgl. Bury (siehe Fn. 956), Ziff. 8.

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F. Die demokratische Entwicklung im Post-Nizza-Prozess

bb) Weiterhin nur abgeleitete Hoheitsmacht der Union Zentral ist, dass die Union auch in Zukunft keine originären, sondern weiterhin von den Mitgliedstaaten abgeleitete Kompetenzen besitzen soll (keine Kompetenz-Kompetenz).979 „[Die Union] bleibt gestützt auf die Mitgliedstaaten, die auch weiterhin ,Herren der Verträge‘ sind: die Verfassung hat die Rechtsform eines primärrechtlichen Vertrages, der – wie bisher – nur mittels Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten geändert werden kann (Art. IV-7). Es gibt weiterhin keine Kompetenz-Kompetenz der Union und keinen europäischen Bundesstaat.“980 Unklar und m.E. nicht weiterführend ist die Formulierung von Schwarze, dass nach dem EV-E neben den Mitgliedstaaten „auch der Bürger Träger der europäischen Integration“ geworden sei.981 Wenn Art. I-1 Abs. 1 EV-E vom Willen der „Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas“ spricht, ist dies de constitutione lata wie ferenda nicht so zu verstehen, als würden die Bürgerinnen und Bürger Europas bei der Verabschiedung dieser Verfassung jenseits ihrer Staaten als Handlungseinheit tätig.982

Dass die EU weiterhin keine originären, sondern von den Mitgliedstaaten abgeleitete Kompetenzen besitzen soll (keine Kompetenz-Kompetenz), geht aus folgenden Artikeln des EV-E hervor: Art. I-1 EV-E

Die Zuständigkeiten der Union zur Verwirklichung gemeinsamer Ziele der Mitgliedstaaten sind von den Mitgliedstaaten übertragen.

Art. I-5 EV-E

Die Union achtet die nationale Identität der Mitgliedstaaten.

Art. I-9 EV-E

Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung

Art. I-59 EV-E

Austritt aus der Union

Art. IV-7 EV-E Ratifikation von Vertragsänderungen durch alle Mitgliedstaaten

(1) Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und Subsidiaritätsprinzip Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist in Art. I-9 EV-E verankert. Die Union soll also auch nach dem Verfassungsvertragsentwurf nicht staatlichen Charakter annehmen, sondern in ihrer Grundstruktur Staatenverbund bzw. supranationale Organisation bleiben.983 Die „Flexibilitätsklausel“ (Art. 308 EGV) würde durch die Neufassung nach Art. I-17 EV-E präziser gefasst und von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig gemacht.984 Das Prinzip der begrenzten Einzelermäch979 Bury (siehe Fn. 956), Ziff. 1; Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (575 f.); Obwexer, Der Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa, S. 208 (210); Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 1. Teil, S. 1165 (1171); Epping, S. 821 (825). 980 Bury (siehe Fn. 956), Ziff. 1. 981 Schwarze, Ein pragmatischer Verfassungsentwurf, S. 535 (539). 982 Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (594). Huber meint, es läge insofern eine unbeachtliche falsa demonstratio vor. Vgl. auch Obwexer, Der Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa, S. 208 (210). 983 Vgl. Schwarze, Ein pragmatischer Verfassungsentwurf, S. 535 (542). 984 Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 1. Teil, S. 1165 (1169).

II. Verfassungskonvent unter Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing

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tigung soll weiterhin durch das Subsidiaritätsprinzip verstärkt werden985. Die geplante „verdichtete“ Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips nach dem Protokoll über die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit durch die nationalen Parlamente brächte eine Verbesserung der demokratischen Legitimation im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG mit sich. Denn sowohl das Grundgesetz im Allgemeinen als auch das Demokratieprinzip des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG im Besonderen fordern die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland und zugleich die NichtStaatlichkeit der Europäischen Union.986 Da die Überwachung des Subsidiaritätsprinzips durch die nationalen Parlamente die Einhaltung der begrenzten Einzelermächtigung fördert, wird hierdurch zusätzlich sichergestellt, dass die künftige „Union“ ihre begrenzten Einzelermächtigungen nicht überschreitet. (2) Austritt aus der Union Art. I-59 EV-E regelt den Austritt aus der Union. Die „Kündigungsfrist“ soll grundsätzlich zwei Jahre betragen, Art. I-59 Abs. 3 EV-E. Hierdurch würde nicht nur die in der Literatur kontrovers diskutierte Frage obsolet, ob die Mitgliedstaaten die europäischen Verträge – außer durch einen einvernehmlichen actus contrarius – aus wichtigem Grund als ultima ratio kündigen dürften.987 Art. I-59 EV-E bestimmt, dass sich ein Mitgliedstaat auch ohne Grund (oder gar wichtigen Grund) von der Union lösen können soll.988 Huber meint, das Kündigungsrecht bzw. die Austrittsmöglichkeit seien „eines der wesentlichen Kriterien für die Abgrenzung zwischen Staatenverbund und Bundesstaat“.989 Nur mit einem Kündigungs- bzw. Austrittsrecht sei ein Staat noch in der Lage, über seine Zukunft, die seiner Bevölkerung und die seines Territoriums selbst- und letztverantwortlich zu entscheiden.

(3) Vertragsänderungen (a) Regelung nach dem EV-E Nach Art. IV-7 Abs. 3 EV-E sollen Vertragsänderungen (weiterhin) von einer Regierungskonferenz unterzeichnet wurden und der Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten bedürfen. Die Bedeutung der Ratifikation durch die Mitgliedstaaten ist für das Demokratieprinzip und die Geltung des Gemeinschaftsrechts wesentVgl. oben D., I., 3. Vgl. oben D., II., 3., f), bb), (3), (f): Verfassungsrechtliches Verbot der Entäußerung deutscher Staatsgewalt. 987 Vgl. Hillgruber, Das Verhältnis der EG und der EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (369 f.). Siehe oben D., II., 3., f), bb) (3) (e). 988 Kritisch zum Austrittsrecht: Schwarze, Ein pragmatischer Verfassungsentwurf, S. 535 (558 f.). Vgl. zum Austrittsrecht auch Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 2. Teil, S. 1234 (1242). 989 Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (591). 985 986

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F. Die demokratische Entwicklung im Post-Nizza-Prozess

lich: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und der hier vertretenen Meinung erfolgt die demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften im Ausgangspunkt durch den Zustimmungsbeschluss des Deutschen Bundestages zu den Verträgen über die Gründung der Union und der Gemeinschaften.990 Darüber hinaus gilt sowohl Primär- (self executing law) als auch Sekundärrecht der Europäischen Gemeinschaft in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften nur aufgrund der Transformation des europäischen Rechtes, also wegen des innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehles, der hinsichtlich der Bundesrepublik Deutschland im Zustimmungsgesetz zu den Verträgen liegt.991 Art. IV-7 Abs. 3 UAbs. 2 EV-E „[ . . . ] enthält die insoweit notwendigen Sicherungen zugunsten der Mitgliedstaaten. Er orientiert sich weitgehend an der Regelung des Art. 48 EUV und vermeidet damit von vornherein Konflikte mit dem nationalen Europaverfassungsrecht.“992 „Sie [die völkerrechtlich geprägte Vertragsänderung] erfährt allerdings eine ,Parlamentarisierung‘ im Sinne der Konventsmethode.“993

Nach Art. IV-7 Abs. 2 UAbs. 1 EV-E wäre – je nach Umfang der geplanten Vertragsänderungen, Art. IV-7 Abs. 2 UAbs. 1 S. 3 EV-E – ein Konvent994 einzuberufen, der die Änderungsentwürfe der Initiativbefugten (Art. IV-7 Abs. 1 EV-E) prüft und im „Konsensverfahren“995 eine Empfehlung für die Regierungskonferenz annimmt.996 Diese Empfehlung des Konvents wäre für die Vertragsänderungen beschließende Regierungskonferenz ebenso unverbindlich, wie der vom Verfassungskonvent vorgeschlagene EV-E.997 (b) „Quorums“-Vorschlag der Kommission Die Forderung der Kommission, dass Änderungen des Verfassungsvertrages künftig auch mit einer Fünf-Sechstel-Mehrheit möglich sein sollen998, stößt auf Bedenken. Dieser „Quorums-Vorschlag“ wurde bereits während des Verfassungskonvents von Konventsmitgliedern in verschiedenen Variationen befürwortet:999 BVerfGE 89, S. 155 (184). Hillgruber, Das Verhältnis der EU und EG zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (359); vgl. oben D., I., 2. 992 Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (592). 993 Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 2. Teil, S. 1234 (1244). 994 Zur Beurteilung der „Konventsmethode“ siehe oben F., II., 1., b). 995 Zum Konsensverfahren vgl. Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 2. Teil, S. 1165 (1166 f.); Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 und oben F., II., 1. b). 996 Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 2. Teil, S: 1234 (1244). 997 Vgl. Epping, S. 821 (822). 998 Prodi fordert grundsätzliche Änderungen am Konventsentwurf (siehe Fn. 929). 999 Vgl. Göler, S. 17 (26, Fn. 53). 990 991

II. Verfassungskonvent unter Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing

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Teilweise wurde ein Vier-Fünftel-, teilweise ein Fünf-Sechstel-Quorum gefordert. Des Weiteren wurde eine Beschränkung auf den Teil III des Verfassungsvertragsentwurfes vorgeschlagen. Um die Stellung der Mitgliedstaaten als Herren der Verträge nicht anzutasten, wurde vertreten, dass die vereinfachten Verfassungsvertragsänderungen nach Ratifikation durch ein Quorum der Mitgliedstaaten der Annahme durch den Rat per einstimmigen Beschluss bedürfen sollten. Bereits vor dem Verfassungskonvent befürworteten die sogenannten „Drei Weisen“ eine Teilung der Verträge in einen grundlegenden, weiter dem Ratifikationsvorbehalt unterliegenden, und einen „operativen“, von Rat und Europäischem Parlament mehrheitlich abänderbaren Teil.1000 Gegen diese „Quorums-Vorschläge“ gibt es erhebliche Widerstände, weil dies Änderungen des Primärrechts und damit auch der Kompetenzordnung gegen den Widerspruch einzelner Staaten ermöglichte, was die Union in einem ihrer Grundprinzipien verändern würde.1001 (c) Literaturmeinungen Oppermann lehnt eine Änderung eines Teils des Primärrechts ohne die Legitimation durch die Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten ab: Es müsse der Gefahr begegnet werden, dass mittels vereinfachter Vertragsänderungen wesentliche Kompetenzerweiterungen der Union ohne Legitimation seitens der Mitgliedstaaten stattfänden.1002 Bei Vertragsänderungen, welche die Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten berührten, sei die Zustimmung der nationalen Parlamente unverzichtbar.1003 Göler ist der Ansicht, dass auch eine Austrittsklausel (Art. I-59 EV-E) keinen wirksamen Schutz gegen von einer Mehrheit der Mitgliedstaaten „erzwungene“ Verfassungsvertragsänderungen bieten würde, weil mit einem Austritt aus der Union erhebliche Kosten verbunden seien – insbesondere für Mitglieder der EuroGruppe.1004 Nach der Ansicht von Huber würde durch eine Zweiteilung der Verträge in einen dem Ratifikationsvorbehalt unterliegenden und einen mehrheitlich abänderbaren Teil die Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten „ein Stück weit“ beseitigt und die Kompetenz-Kompetenz in die Hände der EG-Organe gelegt.1005 Damit würde 1000 Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, S. 195 (235, insbes. Fn. 314), mit Hinweis auf den Bericht von v. Weizsäcker, Dehaene und Lord Simon, Die institutionellen Auswirkungen der Erweiterung, Ziff. 3.2, vom 18. 10. 1999, im Internet unter http: // europa.eu.int / igc2000 / repoct99_de.pdf. 1001 Göler, S. 17 (26). 1002 Oppermann,Vom Nizza-Vertrag zum Verfassungskonvent, S. 1 (6). 1003 Oppermann,Vom Nizza-Vertrag zum Verfassungskonvent, S. 1 (6, Fn. 29). 1004 Göler, S. 17 (26). 1005 Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, S. 195 (235).

15 Tiedtke

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die Ebene des Staatenverbundes verlassen, was in den meisten Mitgliedstaaten eine Gesamtrevision der Verfassung bzw. eine Verfassungsneuschöpfung voraussetzte.1006 (d) Stellungnahme Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegt die demokratische Legitimation der Mehrheitsentscheidungen von Europäischer Union und Gemeinschaft unter anderem im Zustimmungsgesetz zu den Gründungsverträgen.1007 Würde der Deutsche Bundestag einem Verfassungsvertrag zustimmen, der bestimmt, dass Vertragsänderung (nur) der Zustimmung von 4 / 5 der Mitgliedstaaten bedürften, könnte im Zustimmungsbeschluss zum Verfassungsvertrag die demokratische Legitimation zu Vertragsänderungen im Wege der Mehrheitsentscheidung liegen. Beispielsweise lässt auch die Charta der Vereinten Nationen zu, Änderungen ohne die Zustimmung aller Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen vorzunehmen. Artikel 108 Charta der Vereinten Nationen: „Änderungen dieser Charta treten für alle Mitglieder der Vereinten Nationen in Kraft, wenn sie mit Zweidrittelmehrheit der Mitglieder der Generalversammlung angenommen und von zwei Dritteln der Mitglieder der Vereinten Nationen einschließlich aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats nach Maßgabe ihres Verfassungsrechts ratifiziert worden sind.“

Den überstimmten Mitgliedern bliebe als letztes Mittel der Austritt aus den Vereinten Nationen.1008 Auch den Mitgliedstaaten der Europäischen Union bliebe nach Art. I-59 EV-E die Möglichkeit, aus der Union auszutreten, falls sie eine Kompetenzerweiterung gegen ihren Willen nicht hinnehmen wollten. Die Beurteilung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von völkerrechtlichen Gründungsverträgen internationaler Organisationen, die zu einer Vertragsänderung aufgrund eines Mehrheitsbeschlusses ermächtigen, muss jedoch hinsichtlich der jeweiligen internationalen Organisation unterschiedlich ausfallen. Die Besonderheit der Europäischen Gemeinschaft gegenüber anderen internationalen Organisationen – wie 1006 Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, S. 195 (235, Fn. 315), mit Hinweis auf BVerfGE 89, S. 155 (194) und weiteren Hinweisen auf Vorschriften einzelstaatlicher Verfassungen. 1007 BVerfGE 89, 155 (184). 1008 Die UNO-Charta enthält kein ausdrückliches Kündigungsrecht der Mitglieder. Zu einem Kündigungsrecht aus Art. 60 WÜV und zu einem Kündigungsrecht entsprechend dem Grundsatz clausula rebus sic stantibus vgl. Fink, S. 862 f. Im Falle einer Ergänzung der Charta entsprechend Art. 108 f. UN-Charta gegen den Willen eines Mitgliedstaates oder wenn eine von ihm mitgetragene Ergänzung nicht die innerstaatlichen Ratifikationsvoraussetzungen erfüllt, soll der Staat aus der UNO austreten können (Fink, S. 863. Vgl. auch Fink, Udo, Das Recht der Internationalen Organisationen, http: // radbruch.jura.uni-mainz.de / ~fink / lehrveranst / Internationale%20Organisationen% 20I.pdf, S. 16 und Hillgruber, Das Verhältnis der EG und der EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (369), Fn. 67, m. w. N.).

II. Verfassungskonvent unter Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing

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z. B. den Vereinten Nationen – ist ihre Supranationalität. Der Gemeinschaft ist von den Mitgliedstaaten die Befugnis eingeräumt, nicht nur gegenüber den Mitgliedstaaten, sondern auch unmittelbar in jedem Mitgliedstaat geltendes Recht zu setzen, d. h., unmittelbar auf die Rechte und Pflichten der Bürger der Mitgliedstaaten einzuwirken (Art. 249 Abs. 2 EGV).1009 Zudem verfügen die Gemeinschaften über ein lückenloses Rechtsschutzsystem, das über die Einhaltung der Verpflichtung aus den Verträgen wacht (Art. 226 f., Art. 234 EGV). Durch die Integrationsdichte innerhalb der Europäischen Gemeinschaft – insbesondere innerhalb der EuroGruppe – und die erheblichen mit einem Austritt verbundenen Kosten ist die Austrittsoption für diejenigen Mitgliedstaaten, die einer Verfassungsvertragsänderung nicht zugestimmt haben, eher hypothetischer Natur.1010 Wegen dieser die Supranationalität der Europäischen Gemeinschaft kennzeichnenden Integrationsdichte sind an die demokratische Legitimation der Ausübung der Hoheitsrechte durch die Europäische Gemeinschaft andere Anforderungen zu stellen, als z. B. an die UNO, Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG: Im Schwerpunkt müssen die nationalen Parlamente der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften demokratische Legitimation vermitteln1011, und zwar durch die parlamentarische Kontrolle der Regierungsvertreter im Rat und durch das Zustimmungsgesetz zu den Gründungsverträgen bzw. deren Abänderungen.1012 Das in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG für die Europäische Union und ihre Gemeinschaften verbindlich erklärte Demokratieprinzip verlangt, dass sich die Ausübung von Hoheitsgewalt auf den Willen der Staatsvölker der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften zurückführen lässt und ihnen gegenüber verantwortet wird.1013 Eine Entscheidung des Deutschen Bundestages ist aber nur dann parlamentarisch verantwortbar und kann deswegen nur dann demokratische Legitimation vermitteln, wenn sie bestimmt genug ist.1014 Deswegen müssen die der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften eingeräumten Hoheitsrechte hinreichend bestimmt sein. Dieses Erfordernis hinreichender Bestimmtheit der eingeräumten Hoheitsrechte und damit die parlamentarische Verantwortbarkeit der Einräumung von Hoheitsrechten wäre verletzt, wenn die Europäische Union oder ihre Gemeinschaften eine eigene Kompetenz-Kompetenz besäßen.1015 Deshalb müssen die Gründungsverträge und deren Abänderungen die Aufgaben und Befugnisse der Organe der Union und ihrer Gemeinschaften gegenständlich umgrenzen.1016

1009 1010 1011 1012 1013 1014 1015 1016

15*

Hillgruber, Das Verhältnis der EG und EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (355). Göler, S. 17 (26). Siehe oben D., II., 3., f), bb), (3), (g) und ebenda, g). Vgl. BVerfGE 89, S. 155 (184), siehe oben D., III., 2., a), und ebenda, 3. Vgl. Hillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (17). Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 20, Rz. 55. Vgl. BVerfGE 89, S. 155 (194). Vgl. BVerfGE 89, S. 155 (209).

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F. Die demokratische Entwicklung im Post-Nizza-Prozess

In seinem Maastricht-Urteil entschied das Bundesverfassungsgericht: „Der Vertrag [von Maastricht] räumt rechtlich bestimmbare Hoheitsrechte ein; dies konnte parlamentarisch verantwortet werden und ist infolgedessen demokratisch legitimiert.“1017

Ein Zustimmungsgesetz des Deutschen Bundestages zu einem Verfassungsvertragsentwurf, der eine Kompetenzerweiterung der Europäischen Union unabhängig von einer Ratifikation durch die Bundesrepublik Deutschland vorsieht, könnte demnach wegen der fehlenden Bestimmbarkeit hinsichtlich der übertragenen Hoheitsrechte parlamentarisch nicht verantwortet werden. Infolgedessen könnte das Zustimmungsgesetz keine hinreichende demokratische Legitimation vermitteln. Zudem müssen dem Deutschen Bundestag bei Kompetenzübertragungen auf die Europäische Union Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben.1018 Hieraus folgt, dass das Demokratieprinzip eine Generalermächtigung der Europäischen Gemeinschaft zur Rechtsetzung nicht erlaubt, da dies einer Entäußerung der deutschen Staatsgewalt gleichkäme.1019 Zwar wäre die Umsetzung eines „Quorums-Vorschlags“ nicht einer Generalermächtigung zur Rechtsetzung gleichzusetzen, und darüber hinaus würde das Austrittsrecht – sofern dies nicht auch mit „superqualifizierter“1020 Mehrheit abbedungen werden könnte – die Herabstufung der Mitgliedstaaten zu einem Gliedstaat verhindern. Eine Verfassungsvertragsänderung mit „superqualifizierter“ Mehrheit der Mitgliedstaaten würde jedoch dazu führen, dass die Grundentscheidungen über die Gemeinschaft nicht mehr zur gesamten Hand bei den Mitgliedstaaten lägen, wo sie demokratisch kontrolliert und verantwortet werden können.1021 Eine Änderungsmöglichkeit des Primärrechts ohne die Zustimmung aller Mitgliedstaaten würde dazu führen, dass die Kompetenzverteilungs-Kompetenz beim Verfassunggeber der Union, also z. B. der Fünf-Sechstel-Mehrheit der Mitgliedstaaten, läge. Dies würde das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung durchbrechen, die Mitgliedstaaten wären nicht mehr die Herren der Verträge, sondern Teil eines Verfassunggebungsorgans der sich selbst bestimmenden Union.1022 Die Nationen könnten ihre Aufgabe der demokratischen Legitimation sowohl der Nationalstaaten als auch der supranationalen Ebene nicht mehr erfüllen, wenn sie ihre Souveränität durch die Umsetzung eines „Quorums-Vorschlags“ zumindest teilweise einbüßen würden. BVerfGE 89, S. 155 (213). BVerfGE 89, S. 155 (186), siehe oben D., II., 3., f), bb), (3), (g). 1019 Hillgruber, Das Verhältnis der EG und der EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (367); vgl. auch Kirchner / Haas, S. 760 (762) und Di Fabio, Eine Europäische Charta, S. 737 (742). 1020 Oppermann,Vom Nizza-Vertrag zum Verfassungskonvent, S. 1 (6, Fn. 29). 1021 Vgl. Grimm, S. 581 (591). 1022 Vgl. Grimm, S. 581 (590). 1017 1018

II. Verfassungskonvent unter Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing

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Die nationalstaatlichen „Verfassungskulturen [ . . . ] und die in ihnen lebendige demokratische Willensbildung“ sind jedoch „auf heute noch unabsehbare Zeit unverzichtbar. Der Nationalstaat gibt dem Demokratieprinzip ,Grund, Form und Halt‘.“1023 Sofern ein vereinfachtes Revisionsverfahren für den Teil III weiterhin zusätzlich die einstimmige Zustimmung des Rates vorsehen würde1024 – und damit die Stellung der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ unangetastet bliebe –, ist fraglich, ob die Einführung eines „Quorums“ für Verfassungsvertragsänderungen daneben sinnvoll wäre. Denn wieso sollte ein Mitgliedstaat, der bei der Regierungskonferenz nicht zur Zustimmung bereit ist und dessen Parlament (bzw. Volk) die Ratifikation der Vertragsänderung ablehnt, im Rat seine Zustimmung erteilen.

Nach alledem wäre eine Befugnis einer Mehrheit von Mitgliedstaaten, (bestimmte) Vertragsänderungen zu beschließen, mit dem Demokratieprinzip des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht vereinbar. Diese Bestimmung setzt einen Zustimmungsakt des deutschen Staatsvolkes zwingend voraus. (4) Die „Passerelle“-Klausel Art. I-24 Abs. 4 EV-E Nach Art. 24 Abs. 4 S. 1 EV-E soll der Europäische Rat nach einem Prüfungszeitraum von mindestens sechs Monaten einstimmig einen Europäischen Beschluss erlassen können, um Europäische Gesetze und Rahmengesetze, die nach Teil III des EV-E vom Ministerrat nach einem besonderen Rechtsetzungsverfahren angenommen werden müssen, in das Regelgesetzgebungsverfahren – und damit in den Bereich der qualifizierten Mehrheit – zu überführen. Der Beschluss würde nach Anhörung des Europäischen Parlaments und nach Unterrichtung der nationalen Parlamente gefasst, Art. 24 Abs. 4 S. 2 EV-E. Nach der Ansicht von Huber wäre durch diese „Passerelle“-Klausel die Rolle der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ empfindlich eingeschränkt, weil eine Überführung in die Mehrheitsentscheidung ohne die Ratifizierung durch die nationalen Parlamente geschehen könnte.1025 Die Reichweite des „Integrationsprogramms“ wäre für Bundestag und Bundesrat kaum abschätzbar. Nach der Auffassung von Huber könnte nach Art. I-24 EV-E etwa die Bestimmung der Obergrenze der Finanzmittel (Art. I-53 Abs. 3 EV-E) oder die Weiterentwicklung der Unionsbürgerschaft (Art. III-10 Abs. 1 EV-E) in die qualifizierte Mehrheit überführt werden. Dies bedeute in der Sache nichts anderes, als dass die EU unter diesen Voraussetzungen gegen den Willen einzelner Mitgliedstaaten nicht nur den Umfang ihrer Einnahmen erhöhen, sondern den Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten auch das Wahlrecht zu den Landtagen oder zum Bundestag zuerkennen könnte. Nach Huber ist Art. I-24 Abs. 4 EV-E deshalb mit den durch Art. 23 Abs. 1 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG gezogenen Grenzen „kaum zu verein1023 1024 1025

Di Fabio, der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, S. 97. Vgl. Göler, S. 17 (26). Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (584 f.).

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baren“.1026 Auch Oppermann hält Art. I-24 Abs. 4 EV-E für „verfassungsrechtlich nicht unbedenklich“.1027 Die Grundentscheidungen über die Europäische Union müssen zur gesamten Hand bei den Mitgliedstaaten liegen, damit diese als Herren der Verträge gelten können.1028 M. E. würde Art. I-24 Abs. 4 EV-E nicht zu einer Einschränkung der Rolle der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ führen. Der Europäische Rat müsste nach Art. I-24 Abs. 4 EV-E einstimmig entscheiden, so dass die Entscheidung der Überführung eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens in die qualifizierte Mehrheit von der Zustimmung jedes einzelnen Mitgliedstaates abhinge. Dafür spricht auch, dass bereits nach dem EGV die Möglichkeit besteht, Rechtsetzungskompetenzen durch einstimmigen Ratsbeschluss von der Einstimmigkeit in die qualifizierte Mehrheit zu überführen1029, ohne dass dies bislang dazu geführt hätte, dass die Stellung der Mitgliedstaaten als Herren der Verträge deswegen als gefährdet gelten würde. Die Reichweite des Integrationsprogramms würde durch Art. I-24 Abs. 4 EV-E auch nicht uneinschätzbar. Die Bestimmung der Obergrenze der Finanzmittel könnte nach Art. I-24 Abs. 4 EV-E nicht in die qualifizierte Mehrheit überführt werden. Denn Art. I-24 Abs. 4 S. 1 EV-E ist nach seinem Wortlaut auf die Fälle begrenzt, in denen gemäß Teil III Europäische Gesetze und Rahmengesetze nach einem besonderen Rechtsetzungsverfahren angenommen werden müssen. Der Einstimmigkeitszwang bei der Festlegung der Obergrenze für die Finanzmittel der Union ist aber in Art. I-53 Abs. 3 S. 3 EV-E und damit im Teil I des EV-E geregelt. Und die Ermächtigung zur Regelung des Wahlrechts im Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft ist gemäß Art. III-10 Abs. 1 S. 1 EV-E auf Wahlen zum Europäischen Parlament und zu den Kommunalwahlen beschränkt. Das Zustimmungsgesetz zum EV-E würde m.E. auch nicht gegen das verfassungsrechtliche, im Demokratieprinzip begründete Gebot der ausreichenden gegenständlichen Umgrenzung der übertragenen Hoheitsrechte oder gegen das Verbot der Generalermächtigung (Übertragung der Kompetenz-Kompetenz) verstoßen.1030 Maßgeblich für die Frage, ob die übertragenen Hoheitsrechte ausreichend gegenständlich umgrenzt sind, ist, ob das Tätigwerden der Union aufgrund der übertragenen Hoheitsrechte für den deutschen verfassungsändernden Gesetzgeber vorhersehbar – und deshalb auch demokratisch verantwortbar – ist. Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (599). Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 1. Teil, S. 1165 (1175). 1028 Vgl. Grimm, S. 581 (591). 1029 Art. 175 Abs. 2 UAbs. 2 EGV (Maßnahmen der Umweltpolitik), Art. 137 Abs. 2 UAbs. 2 S. 2 EGV (Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses, Kollektive Arbeitnehmervertretung, Beschäftigung von Drittstaatsangehörigen), Art. 133 Abs. 5 EGV (Internationale Übereinkünfte über Dienstleistungen und Rechte des geistigen Eigentums). 1030 BVerfGE 89, S. 155 (194, 209 und 213). Vgl. oben F., II., 3., c), bb), (3), (d). 1026 1027

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Bereits oben1031 wurde festgestellt, dass eine Bestimmung, die für Vertragsänderungen nicht mehr die Zustimmung aller Mitgliedstaaten, sondern nur noch die Annahme durch eine „superqualifzierte Mehrheit“ („Quorum“) verlangen würde, nicht mit Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG vereinbar wäre. Denn bei Verabschiedung einer solchen Klausel kann der deutsche Gesetzgeber die Übertragung der Hoheitsrechte nicht demokratisch verantworten, weil es für ihn im Zeitpunkt der Zustimmung zu einer derartigen Bestimmung nicht voraussehbar wäre, welche Hoheitsrechte künftig von der EU – u.U. gegen seinen Willen, wenn er bei einer Vertragsänderung überstimmt würde – wahrgenommen werden. Im Unterschied hierzu ist im Teil III des EV-E für den deutschen Gesetzgeber voraussehbar festgelegt, welche Regelungsbereiche in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren verabschiedet werden und daher – mit Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland (Art. I-24 Abs. 4 EV-E) – in die qualifizierte Mehrheit überführt werden könnten.1032 Art. I-24 Abs. 4 EV-E würde deshalb keinen Verstoß gegen die Verfassungsbestandsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG oder die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG begründen. Dies gilt m.E. unabhängig davon, ob in Deutschland vor einer Stimmabgabe des Bundeskanzlers im Europäischen Rat die Zustimmung von Bundestag1033 und Bundesrat erforderlich wäre.1034 (5) Vorrang des Unionsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten Nach Art. I-10 Abs. 1 EV-E soll künftig primärrechtlich geregelt sein, dass der Verfassungsvertrag und das von der Union gesetzte Recht Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben. Diese „Neuerung“ führt nicht dazu, dass der Union eine Kompetenz-Kompetenz zustünde bzw. dass ein innerstaatlicher Geltungsvorrang des Unionsrechts nach der Ratifizierung des EV-E durch die Mitgliedstaaten aus einer autonomen, von den Mitgliedstaaten unabgeleiteten Rechtsordnung hervorF., II., 3., c), bb), (3), (d). Zudem wäre auch ein Zustimmungsbeschluss des deutschen Gesetzgebers zu einem EV-E, der vorsehen würde, dass sämtliche Europäischen Gesetze und Rahmengesetze im Teil III mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet werden, m.E. grundsätzlich demokratisch verantwortbar. 1033 Die CDU sprach sich für das Erfordernis der Zustimmung durch den Bundestag aus (Gottesbezug und unabhängige EZB, in: FAZ Nr. 80 v. 3. April 2004, S. 2). 1034 Für ein Zustimmungserfordernis wohl auch Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 1. Teil, S. 1165 (1175, Fn. 57). Offen ist zudem, ob die Zustimmung nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 oder S. 3 GG zu erfolgen hätte, also mit einfacher oder mit verfassungsändernder Mehrheit. Vgl. hierzu Jarass, in: Jarass / Pieroth, Art. 23, Rz. 20, 23 und Scholz, in: Maunz / Dürig, Bd. III, Art. 23, Rz. 84 f. Nach Jarass (ders., Rz. 20) werden von Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG auch Änderungen des primären Organisationsrechts, die die Stellung und das Gewicht Deutschlands in der EU reduzieren, erfasst. Sofern diese Änderung für die Stellung Deutschlands „grundlegend“ ist, soll das Gesetz der Mehrheit nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 2 GG bedürfen (ders., Rz. 23). 1031 1032

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ginge.1035 Denn die Mitgliedstaaten sind bereits nach geltendem Recht verpflichtet, dem Gemeinschaftsrecht innerstaatlich Geltung – und damit gegebenenfalls auch Vorrang vor Verfassungsrecht – zukommen zu lassen.1036 Innerstaatlicher Geltungsgrund für das Unionsrecht bliebe auch nach der ausdrücklichen Aufnahme dieser Verpflichtung in den Gründungsvertrag weiterhin der in der nationalen Verfassung oder im Zustimmungsgesetz zum EV-E enthaltene Rechtsanwendungsbefehl.1037 Gegen eine Auslegung, Art. I-10 Abs. 1 EV-E bestimme einen unmittelbareren und unbeschränkten Geltungsvorrang des Unionsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten – auch dem Verfassungsrecht –, spricht, dass weder das Grundgesetz (Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG) noch die spanische, polnische oder (ungeschriebene) britische Verfassung ein höherrangiges Recht über sich anerkennen.1038

cc) Ausbau der Kompetenzen des Europäischen Parlaments (1) Kompetenzausbau nach Integrationsfortschritt Die Kompetenzen des Europäischen Parlaments sind schritthaltend mit dem Fortschreiten der Integration auszubauen, Art. 23 Abs. 1 S 1 GG.1039 Bei der Primärrechtsetzung ist ein Ausbau der Kompetenzen des Europäischen Parlaments gerade nicht demokratisch geboten, da ein damit begründetes Kondominium des Europäischen Parlaments die demokratische Legitimation durch die einzelstaatlichen Parlamente schwächen würde. Hinsichtlich der Sekundärrechtsetzungsbefugnisse fordert Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG einen schrittweisen Ausbau der Kompetenzen des Europäischen Parlaments zur ergänzenden demokratischen Absicherung des Sekundärrechtsetzungsprozesses. Die Obergrenze bildet hierbei – bei einer Gesamtbetrachtung – ein Gleichrang mit dem Rat. Ein weiterer Ausbau der personellen Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments gegenüber der Kommission wird von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG insofern nicht gefordert, als zum Kernbestand der Demokratie i.S.v. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zwar die parlamentarische Demokratie, nicht aber ein parlamentarisches Regierungssystem gehört.1040 1035 Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 1. Teil, S. 1165 (1172); Epping, S. 821 (826). 1036 Vgl. Hillgruber, Das Verhältnis der EG und EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (365). 1037 Ebenso: Obwexer, Der Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa, S. 208 (214) und wohl auch Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (590) sowie Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 1. Teil, S. 1165 (1172). Vgl. auch Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, S. 194 (214). Siehe oben D., I., 2. 1038 Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (590, 599); Obwexer, Der Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa, S. 208 (214). 1039 Vgl. oben E., I., 2., a) bis c) und E., I., 3. 1040 Eine andere Frage ist, ob die demokratische Legitimation der Kommission bei einer wesentlichen Zunahme ihrer Kompetenzen ausgebaut werden muss. Jedoch kommt grund-

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(2) Beteiligung bei Primärrechtsetzung Die Beteiligung des Europäischen Parlaments bei Änderungen des Primärrechts würde durch den EV-E erweitert: Bei Vertragsänderungen hätte das Europäische Parlament künftig gemäß Art. IV-7 Abs. 1 EV-E eine Initiativbefugnis und Mitglieder des Europäischen Parlaments wären gemäß Art. IV-7 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EV-E über den Konvent an der Erstellung der Empfehlung für die Konferenz der Vertreter der Mitgliedstaaten beteiligt. Falls der Europäische Rat – bei Änderungen des Verfassungsvertrages, die die Einberufung eines Konvents nicht rechtfertigen – beschließt, keinen Konvent einzuberufen, wäre die Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderlich, Art. VI-7 Abs. 2 UAbs. 1 S. 3 EV-E. Die erweiterte Beteiligung des Europäischen Parlaments auf der Ebene der Primärrechtsetzung nach dem EV-E würde nicht zu einem Kondominium führen: Dem Europäischen Parlament stünde bei Vertragsänderungen kein Initiativmonopol, sondern nur eine Initiativbefugnis neben den Regierungen der Mitgliedstaaten, der Kommission und dem Ministerrat zu. Zwar könnte das Europäische Parlament Vertragsänderungsverfahren einleiten. Es wäre im Konvent auch an der inhaltlichen Gestaltung einer Empfehlung für die Vertragsänderung beteiligt. Es käme daher zu einer Erweiterung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments im Vergleich zur Regelung der Vertragsänderung nach dem Vertrag von Nizza (Art. 48 EU). Die Entscheidung, ob es überhaupt zu der Einberufung eines Konvents kommt, läge aber beim Europäischen Rat (Art. IV-7 Abs. 2 S. 1 EV-E). Zudem wäre die Empfehlung eines Konvents nach Art. IV-7 Abs. 2 UAbs. 1 EV-E für die Vertragsänderungen beschließende Regierungskonferenz (rechtlich gesehen) ebenso unverbindlich, wie der vom Verfassungskonvent vorgeschlagene EV-E. Darüber hinaus stünde jede von einer Regierungskonferenz beschlossene Vertragsänderung weiterhin unter einem Ratifikationsvorbehalt, Art. IV-7 Abs. 3 UAbs. 2 EV-E. Insgesamt betrachtet würden die Kompetenzen des Europäischen Parlaments auf primärrechtlicher Ebene zwar ausgeweitet, es käme jedoch zu keiner echten Mitentscheidungsbefugnis des Europäischen Parlaments über die vertraglichen Grundlagen der Union und damit auch zu keinem Kondominium. (3) Beteiligung bei vertragsimmanenter Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts Bei Art. I-19 Abs. 2 UAbs. 2 EV-E, der die Beteiligung des Europäischen Parlaments bei der Festlegung der Mandatskontingentierung für die Wahlperioden 2009 – 20141041 folgende regelt, handelt es sich um eine Klausel, die unterhalb der sätzlich nicht nur das Europäische Parlament, sondern z. B. auch der Rat als Quelle demokratischer Legitimation der Kommission in Betracht. 1041 Für die Wahlperiode 2004 bis 2009 soll sich die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments nach Art. 1 PVS bestimmen, Art. III-232 Abs. 3 EV-E. Vgl. Obwexer, Der Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa, S. 208 (215). Danach bleiben die Mandatskon-

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Schwelle von Vertragsänderungen bzw. von Evolutivklauseln eine vertragsimmanente Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts ermöglicht.1042 Das Initiativrecht hinsichtlich der künftigen Mandatskontingentierung soll nach Art. I-19 Abs. 2 UAbs. 2 EV-E beim Parlament liegen, zudem bedarf die einstimmige Entscheidung des Europäischen Rates der Zustimmung des Parlaments. Diese starke Position des Europäischen Parlaments bei einer vertragsimmanenten Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts erklärt sich – ebenso wie bei Art. 190 Abs. 4 EGV1043 – von der zu behandelnden Rechtsmaterie her: Es handelt sich auch hier um eine „überschießende Beteiligung des Parlaments auf primärrechtlicher Ebene kraft Selbstbetroffenheit“. Eine Ratifikation der neuen Mandatskontingentierung durch die Mitgliedstaaten ist – im Gegensatz zu Art. 190 Abs. 4 EGV oder Art. III-232 Abs. 1 UAbs. 2 EV-E, die die Einführung eines einheitlichen Wahlverfahrens regeln – nicht vorgesehen. Dies mag seinen Grund darin haben, dass Art. I-19 Abs. 1 UAbs. 1 die Höchstzahl der Mitglieder (736), die grundsätzlich degressiv-proportionale Vertretung und die Mindestvertretung (4) bereits vorgibt.1044 (4) Gleichberechtigter Mitgesetzgeber im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Nach dem EV-E würde das Mitentscheidungsverfahren zum „Regelgesetzgebungsverfahren“1045, Art. I-19 Abs. 1 EV-E. Der Anwendungsbereich des Mitentscheidungsverfahrens1046 würde „verdoppelt“1047 bzw. „in rund 40 Fällen ausgeweitet“1048. Und auch bei Rechtsakten, die aufgrund der neuen „Flexibilitätsklausel“ Art. I-17 Abs. 1 EV-E (vgl. Art. 308 EGV) erlassen würden, hätte das Europäische Parlament eine Mitentscheidungsbefugnis. Die Möglichkeit, den Ministerrat bei der Feststellung des Jahreshaushaltsplanes mit einer 3 / 5-Mehrheit tingente der Mitgliedstaaten gegenüber Art. 11 der Beitrittsakte unverändert [vgl. unten F., II., 3., c), dd), (1), (a)]. 1042 Vgl. Rossi, in: Callies / Ruffert, Art. 308, Rz. 1. Bei Evolutivklauseln ist stets eine Annahme des Rechtsaktes bzw. der Vertragsergänzung durch die Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften nötig. 1043 Vgl. oben D., III., 1, b), cc), (1). 1044 Trotz der Vorgabe eines Rahmens durch Art. I-19 Abs. 1 UAbs. 1 EV-E ist es bemerkenswert, dass Art. I-19 Abs. 1 UAbs. 2 EV-E im Gegensatz zu Art. III-232 Abs. 1 UAbs. 2 EV-E keine Ratifikation durch die Mitgliedstaaten vorsieht, da der Einfluss der Mandatskontingentierung auf die Zähl- und Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen – und damit auf die Machtverteilung zwischen den Mitgliedstaaten – größer ist, als derjenige der Wahlverfahren [vgl. oben C., II., 2. und D., III., 1., a), dd)]. 1045 Bury (siehe Fn. 956), Ziff. 2; vgl. auch Bericht des Vorsitzes des Konvents an den Präsidenten des Europäischen Rates, Ziff. 8. 1046 Das derzeit bei rund 70 % bzw. etwa 3 / 4 aller Gesetzgebungsakte zur Anwendung kommt, vgl. oben B., V., m. w. N. 1047 Bericht des Vorsitzes des Konvents an den Präsidenten des Europäischen Rates, Ziff. 8. 1048 Das große Europa – das neue Europa, in: FAZ Nr. 139 v. 18. Juni 2003, S. 6.

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zu überstimmen, bestünde nach Art. III-310 EV-E hinsichtlich des Gesamthaushaltes, also nicht mehr beschränkt auf die nicht-obligatorischen Ausgaben. Allerdings bleibt es hinsichtlich der Einnahmenseite bei der „Herrschaft der Mitgliedstaaten“, Art. I-53 Abs. 3 EV-E: Der Rat soll über die Finanzmittel der Union per Europäischem Gesetz entscheiden, und es ist die Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten erforderlich.1049 Für die Finanzordnung nach dem EV-E „gilt die Faustformel: Herr der Einnahmen ist der Ministerrat, Herr der Ausgaben (in den Grenzen des mehrjährigen Finanzrahmens) ist das Parlament.“1050

Zusammenfassend würde das Europäische Parlament im „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“1051 nach dem EV-E zum gleichberechtigten Mitgesetzgeber neben dem Rat.1052 (5) Wahl des Kommissionspräsidenten Eine weitere Kompetenzerweiterung des Europäischen Parlaments wäre die Wahl des Kommissionspräsidenten nach Art. I-26 Abs. 1 EV-E. Diese Regelung würde die Mehrheitsfraktion bzw. -koalition im Europäischen Parlament stärken, wenn es darum ginge, ihren Wunschkandidaten gegenüber demjenigen des Europäischen Rats durchzusetzen.1053 Trotz dieser Stärkung des Einflusses des Europäischen Parlaments auf die Besetzung des Amts des Kommissionspräsidenten, hätte das Europäische Parlament nicht die Befugnisse eines Parlaments in einem nationalen parlamentarischen Regierungssystem. Denn während ihrer Amtszeit soll die Kommission weiterhin nur vom Vertrauen einer Minderheit des Europäischen Parlaments abhängig bleiben: Art. III-243 Abs. 2 EV-E entspricht Art. 201 Abs. 2 EGV und bestimmt, dass ein Misstrauensantrag gegen die Kommission vom Europäischen Parlament mit Zweidrittelmehrheit angenommen werden muss.

Vgl. hierzu auch Schwarze, Ein pragmatischer Verfassungsentwurf, S. 535 (557 f.). Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 2. Teil, S. 1234 (1241). 1051 Ordentliches Gesetzgebungsverfahren: Art. I-33 Abs. 1 mit Art. III-302 EV-E. Soweit der Ministerrat nicht innerhalb des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens Rechtsakte verabschiedet, ist die Beteiligung des Europäischen Parlaments unterschiedlich: Teilweise wird es nur angehört (z. B. Art. III-9 Abs. 2, III-10 Abs. 1, III-11 Abs. 2, III-46 Abs. 3, III-62 Abs. 1, III-64 Abs. 1, III-104 Abs. 3 UAbs. 1, III-176 Abs. 3 EV-E), teilweise ist trotz Einstimmigkeitserfordernis im Rat die Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderlich (z. B. Art. III-8 Abs. 1, III-171 Abs. 2 UAbs. 1 Buchst. d), III-175 Abs. 1 EV-E). 1052 Ebenso Göler, S. 17 (23) und Bury (siehe Fn. 956), Ziff. 2. 1053 Vgl. oben F., II., 3., c), aa), (4); Bury (siehe Fn. 956), Ziff. 2, der meint, dass die Bürger dadurch im Rahmen der Europawahlen „auch Einfluss auf die personelle Besetzung der Spitze der Unionsexekutive Kommission“ bekämen. 1049 1050

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(6) Zusammenfassung Der Kompetenzzuwachs des Europäischen Parlaments bei der Primärrechtsetzung (und bei der vertragsimmanenten Fortentwicklung des Primärrechts nach Art. I-19 Abs. 2 UAbs. 2 EV-E) durch den EV-E würde die durch das Demokratieprinzip vorgegebenen Grenzen beachten. Die Kompetenzen des Europäischen Parlaments auf primärrechtlicher Ebene würden zwar ausgeweitet, es käme jedoch zu keiner durchgängigen Mitentscheidungsbefugnis des Europäischen Parlaments und damit auch zu keinem Kondominium. Durch den Kompetenzzuwachs des Europäischen Parlaments bei der Sekundärrechtsetzung käme es zu einer Stärkung der demokratischen Legitimation der von der Union erlassenen Gesetzgebungsakte (Art. I-32 Abs. 1 EV-E: Europäisches Gesetz und Europäisches Rahmengesetz). Dieser Kompetenzzuwachs würde sich unter Beachtung der vom Demokratieprinzip vorgegebenen Grenzen vollziehen.1054 Ein europäischer Gesetzgebungsakt könnte weiterhin nicht ohne die Zustimmung des Rates zustande kommen, Art. I-33 Abs. 1 S. 2 EV-E. Zudem käme es durch den erweiterten Einfluss des Europäischen Parlaments auf die Besetzung des Amts des Kommissionspräsidenten zu einer Kompetenzerweiterung. Insgesamt betrachtet würde der Kompetenzzuwachs für das Europäische Parlament durch den EV-E nicht dazu führen, dass das Parlament eine dominante Stellung gegenüber dem Ministerrat oder dem Europäischen Rat erhielte1055, welche die „tragende“ demokratische Legitimation durch die einzelstaatlichen Parlamente gefährdete.1056 Zwar würden die Mitgliedstaaten nach dem EV-E an Einfluss auf die Besetzung des Amts des Kommissionspräsidenten verlieren. Der Europäische Rat bliebe aber auch nach dem EV-E das politische Leitorgan der Union (vgl. Art. I-20 Abs. 1 EV-E), der Ministerrat wäre gleichberechtigter Mitgesetzgeber (Art. I-22 Abs. 1, 1. HS. und Art. I-33 Abs. 1 S. 2 EV-E) und behielte daneben seine Exekutivfunktionen1057 (vgl. z. B. Art. I-22, 2. HS., I-23 Abs. 2, I-34 Abs. 1 S. 1, I-36 Abs. 2, III-196 Abs. 2, III-198 Abs. 1, III-306 EV-E) als Teil der „Doppelexekutive Rat als Vertreter der Staateninteressen und Kommission als Vertreter des Gemeininteresses“1058.

Vgl. oben E., I., 2., a) bis c) und E., I., 3. Vgl. oben E., I., 2., a); c), bb); 3. 1056 Vgl. Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (742): „Der Ministerrat darf im Verlauf der weiteren Vertragsentwicklung nicht wesentlich sein Gewicht einbüßen.“ 1057 Vgl. auch Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 2. Teil, S. 1234 (1238). 1058 Bury (siehe Fn. 956), Ziff. 2. 1054 1055

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dd) Stärkung der demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG fordert mit dem Fortschreiten der europäischen Integration nicht nur einen äußeren Kompetenzzuwachs des Europäischen Parlaments, sondern auch eine Verbesserung der für die demokratische Legitimation relevanten „Verfassung“ des Parlaments selbst.1059 (1) Mandatskontingentierung (a) Mandatsverteilung bis 2009 Nach Art. III-232 Abs. 3 EV-E i.V. m. Art. 1 PVS bleiben die Mandatskontingente der Mitgliedstaaten für die Wahlperiode 2004 bis 2009 gegenüber Art. 11 der Beitrittsakte unverändert, so dass hinsichtlich der Verbesserung der Zählwertgleichheit der Wählerstimmen und der daraus folgenden Stärkung der demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments auf oben1060 verwiesen werden kann. Die Mandatskontingentierung bliebe auch nach dem EV-E grundsätzlich eine sachlich gerechtfertigte Durchbrechung des Grundsatzes der Zählwertgleichheit bzw. der gleichen Erfolgschancen der Wählerstimmen. 1061 Denn Träger der Herrschaftsmacht der Union wären nach dem EV-E nicht die Unionsbürger, sondern blieben weiterhin die Mitgliedstaaten, Art. I-1 Abs. 1, Art. IV-7 EV-E (vgl. Art. 1 Abs. 1 EU, Art. 1 EGV).1062 Die Formulierungen, dass die Verfassung nach Art. I-1 Abs. 1 S. 1 EV-E „von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas“ geleitet und dass das Europäische Parlament nach Art. I-19 Abs. 2 S. 1 EV-E „von den Bürgerinnen und Bürgern“ gewählt wird (vgl. Art. 189 Abs. 1 EGV: danach besteht das EP aus Vertretern der Völker der Mitgliedstaaten), ändern hieran nichts.1063 Denn der EV-E bliebe ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten, dessen Bestimmungen zur gesamten Hand zur Disposition der Mitgliedstaaten stünden. Und Art. I-19 Abs. 2 S. 2 EV-E stellt klar, dass die Bürgerinnen und Bürger im Europäischen Parlament „degressiv proportional“ vertreVgl. oben E., I., 2., a). F., I. 1061 Vgl. oben D., III., 1., a), dd), (2). 1062 Bury (siehe Fn. 956), Ziff. 1; Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (575 f.); Obwexer, Der Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa, S. 208 (210); Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 2. Teil, S. 1165 (1171); Epping, S. 821 (825). Selbst bei anderer Ansicht, also der demokratischen Legitimation durch ein Unionsvolk, bliebe die Mandatskontingentierung nach Schmitz als eine Lösung des Spannungsverhältnisses zwischen Gleichheit der Bürger bei der Wahl und der formalen Gleichheit der Staaten grundsätzlich gerechtfertigt [ders., S. 217 (227)]. 1063 Für eine sprachliche Neuformulierung, damit fortan ein Verständnis des Europäischen Parlaments als Vertretung eines europäischen Volkes zumindest möglich ist: Schmitz, S. 217 (228). 1059 1060

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ten sein sollen. Das Wahlrecht stünde ihnen also weiterhin unter Berücksichtigung ihrer Zugehörigkeit zu einem Staatsvolk und der Bevölkerungszahl ihres Mitgliedstaates zu. (b) Degressiv proportionale Vertretung Hatje kritisierte den Vertragsentwurf von Nizza hinsichtlich der Neuregelung der Sitzverteilung nach Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament dahingehend, dass die gefundene Lösung nicht das Ergebnis mathematischen Kalküls, sondern ein politischer Kompromiss sei.1064 Nach Art. I-19 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EV-E sollen die europäischen Bürgerinnen und Bürger1065 „degressiv proportional“ im Europäischen Parlament vertreten sein.1066 Das bedeutet m.E. grundsätzlich, dass die kleineren Mitgliedstaaten überrepräsentiert und die größeren unterrepräsentiert sein sollen, wobei die Überrepräsentierung der kleinen Staaten mit zunehmender Bevölkerungszahl abnehmen und die Unterrepräsentierung der mittelgroßen und großen Mitgliedstaaten mit zunehmender Bevölkerungszahl zunehmen soll. Fraglich ist, ob Art. I-19 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EV-E auch bedeuten kann, dass die Mitgliedstaaten nur „grundsätzlich“ oder „regelmäßig“ degressiv proportional im Europäischen Parlament vertreten sein müssen, dass es also auch zu einzelnen Abweichungen von der degressiv proportionalen Vertretung kommen kann, wie dies zum Stand des Beitrittsvertrages der Fall ist. (Gemäß Art. 11 Beitrittsakte sind die mittelgroßen und großen Mitgliedstaaten1067 zwar unterproportional und alle kleineren Mitgliedstaaten überproportional im Europäischen Parlament vertreten. Die Mitgliedstaaten sind jedoch nicht (durchgehend) degressiv proportional vertreten: Schweden beispielsweise wird in der erweiterten EU über einen Bevölkerungsanteil von 1,96 % und über einen Sitzanteil von 2,6 % verfügen.1068 Es ist demnach um 0,64 Prozentpunkte überrepräsentiert. Das größere Portugal, dass über einen Bevölkerungsanteil von 2,22 % und über einen Sitzanteil von 3,28 % verfügen wird, ist um 1,06 Prozentpunkte überrepräsentiert, also trotz größerem Bevölkerungsanteil überproportionaler vertreten als Schweden.) Für diese Auslegung spricht, dass, wie aus Art. I-19 Abs. 2 UAbs. 2 EV-E hervorgeht, ein Entscheidungsspielraum für Europäischen Rat und Europäisches Parlament bestehen soll. Dagegen spricht m.E. jedoch der eindeutige Wortlaut der Vorschrift und der durch sie zum Ausdruck kommende „Gerechtigkeitsgedanke“: Ein kleiner Staat soll gegenüber einem größeren Staat überrepräsentiert sein. 1064 Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union, S. 143 (151). Vgl. oben E., III., 1., b). 1065 „Bürgerinnen und Bürger“ meint im Sachzusammenhang die in den jeweiligen Mitgliedstaaten ansässigen Unionsbürger, da die Vorschrift die Verteilung von Mandatskontingenten auf Mitgliedstaaten regelt. 1066 Huber hält die „degressiv proportionale“ Vertretung im Europäischen Parlament – zusammen mit der neuen qualifizierten Mehrheit im Rat nach Art. I-24 Abs. 1 und 2 EV-E – für einen „substantiellen Schritt“ in Richtung auf eine „Verwirklichung der Wahlrechtsgleichheit“ [Ders., Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (593 f.)]. 1067 Das heißt Polen, Spanien, Italien, Frankreich, das Vereinigte Königreich und Deutschland, vgl. Anhang III.1 und III.2. 1068 Siehe Anhang III.1 und Schaubild in Anhang III.2.

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Dann darf ein größerer Staat aber nicht – auch nicht im Einzelfall – gegenüber einem kleineren Staat überrepräsentiert sein.

Damit würde sich die Sitzverteilung künftig prinzipiell an mathematischem Kalkül ausrichten. Es bestünde aber auch weiterhin ein Spielraum für politische Entscheidungen innerhalb der Grenzen, die Art. I-19 Abs. 2 UAbs. 1 EV-E festlegt. Die Frage, „wie degressiv“ die Proportionalität bei steigendem Bevölkerungsanteil eines Mitgliedstaates abnehmen soll, wäre eine politische Entscheidung, die Europäisches Parlament und Europäischer Rat nach Art. I-19 Abs. 2 UAbs. 2 EV-E gemeinsam zu treffen hätten. Eine konkrete Antwort auf die Frage, ob sich die Mandatskontingente ab 2009 stärker an den Bevölkerungsanteilen der Mitgliedstaaten orientieren werden und damit die demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments verbessert wird, kann deshalb nicht gegeben werden. Nach alledem muss eine „degressiv proportionale“ Vertretung nicht unbedingt zu einer Verbesserung hinsichtlich der Zählwertgleichheit der Stimmen der Unionsbürger in den jeweiligen Mitgliedstaaten führen. Auch eine „Verschlechterung“ wäre möglich. Gemäß dem bereits oben gefundenen Ergebnis macht Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG keine konkreten Vorgaben für die Mandatskontingentierung.1069 Vielmehr ist im Wege praktischer Konkordanz ein Ausgleich zwischen dem Prinzip der Zählwertgleichheit und dem Prinzip der formalen Staatengleichheit zu finden und hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung besteht ein weiter Spielraum für die Mitgliedstaaten. Bei fortschreitender Integration gilt nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zwar prinzipiell, dass die Zählwertungleichheit der Stimmen verringert werden muss.1070 Andererseits ist die Mandatskontingentierung grundsätzlich solange gerechtfertigt, wie die Europäische Union ihrem Wesen nach ein Staatenverbund bleibt.1071 Eine konkrete Forderung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, die Mandatskontingentierung ab 2009 über Art. 11 Beitrittsakte hinaus bevölkerungsproportionaler zu gestalten, besteht m.E. deshalb nicht. Auch würde m.E. nicht jede, noch so geringe „Verschlechterung“ des Verhältnisses der Stimmenanteile zu den Bevölkerungsanteilen verglichen mit der Mandatskontingentierung nach Art. 11 Beitrittsakte „automatisch“ zu einem Unterschreiten der Mindeststandards des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG führen.

(2) Einheitliches Wahlverfahren Nach Art. III-232 Abs. 1 EV-E soll im Rahmen eines Europäischen Gesetzes oder Rahmengesetzes ein einheitliches Wahlverfahren auf Vorschlag des Europäischen Parlaments und mit dessen Zustimmung durch einstimmigen Beschluss Siehe oben D., III., 1., a), dd), (2), (a). Siehe oben E., I., 2., b). 1071 Wobei nicht gesagt ist, dass die Union oder die Gemeinschaften die Überwindung ihrer Rechtsnatur als Staatenverbund anstreben sollte oder dass darin das Ziel der Integration bestünde. 1069 1070

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des Ministerrates und nach Ratifikation durch die Mitgliedstaaten verabschiedet werden. Diese Regelung entspricht Art. 190 Abs. 4 EGV. Eine Frist, bis wann ein einheitliches Wahlverfahren eingeführt werden muss, enthält Art. III-232 Abs. 1 EV-E nicht. Das Bundesverfassungsgericht ist der Ansicht, dass insbesondere durch die Einführung eines einheitlichen Wahlverfahrens die stützende Funktion des Europäischen Parlaments hinsichtlich der demokratischen Legitimation der Europäischen Union verstärkt würde.1072 Bereits oben wurde aber gezeigt, dass weniger die unterschiedlichen Wahlverfahren, als vielmehr die bevölkerungsunproportionale Mandatskontingentierung für die Ungleichheit von Erfolgs- und Zählwert der Wählerstimmen ursächlich sind.1073 Zudem spielen die Wahlsysteme national eine große Rolle im Hinblick auf die Verfassungstradition des jeweiligen Landes und die Akzeptanz der durch die Wahl gefundenen Mehrheit durch die Wähler. Die Einführung einheitlicher Wahlverfahren ist deshalb nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG keine unabdingbare Voraussetzung für eine weitere Vertiefung der Integration. Vielmehr lässt sich eine Stärkung der demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments auch – und vor allem – über eine bevölkerungsproportionalere Mandatskontingentierung erreichen.

ee) Stärkung der demokratischen Legitimation durch die nationalen Parlamente Gemäß Ziff. 8 des Berichts des Vorsitzes des Konvents an den Präsidenten des Europäischen Rates1074 würden durch den EV-E „neue Mechanismen zur Gewährleistung eines besseren Informationsflusses zu den nationalen Parlamenten und ihrer stärkeren Einbeziehung in die Arbeit der Union, insbesondere im Bereich der Gesetzgebung,“ geschaffen. Diese verstärkte Einbindung der nationalen Parlamente wird im Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union (PRP) und im Protokoll über die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (PSV) geregelt. Durch diese Protokolle soll sichergestellt werden, dass eine bessere Anwendung des Grundsatzes der Subsidiarität gewährleistet wird.1075 Hierzu soll ein Frühwarnmechanismus („early warning system“) installiert werden. Eine bessere Beachtung des Subsidiaritätsprinzips soll durch umfassende Informationen (insbesondere Ziff. I.1 und I.7 PRP) und Konsultationen (Ziff. 2 PSV), gleichzeitige Zuleitung von Gesetzgebungsvorschlägen an die EU-Organe und die nationalen Parlamente (Ziff. I.2 und I.5 PRP) und durch Beschwerde- (Ziff. BVerfGE 89, S. 155 (186). Siehe oben D., III., 1., a), dd), (2), (b). 1074 Bericht des Vorsitzes des Konvents an den Präsidenten des Europäischen Rates, Ziff. 8. 1075 Europäischer Konvent, Entwurf von Protokollen über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit und die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäischen Union, Brüssel, 26. Februar 2003, CONV 571 / 03, S. 2. 1072 1073

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5 PSV) und Klagerechte für die Mitgliedstaaten bzw. die nationalen Parlamente (Ziff. 7 PSV) sichergestellt werden. Insgesamt betrachtet würden die einzelstaatlichen Parlamente durch PSV und PRP stärker in den Rechtsetzungsprozess der Union eingebunden, als sie es nach dem Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit und nach dem Protokoll (Nr. 9) über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäischen Union bereits waren.1076 Im Schwerpunkt müssen die nationalen Parlamente der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften demokratische Legitimation vermitteln1077, und zwar durch das Zustimmungsgesetz zu den Gründungsverträgen bzw. deren Abänderungen und durch die parlamentarische Kontrolle der Regierungsvertreter im Rat.1078 Aus einer verstärkten Einbeziehung der nationalen Parlamente in den Integrationsprozess würde folgen, dass der Europäischen Union „das demokratische Legitimationspotenzial der Nationen zugeführt“1079 wird. Das Recht der einzelstaatlichen Parlamente auf rechtzeitige und umfassende Information würde daher zu einer Verbesserung der demokratischen Legitimation der Union führen. Und auch die Möglichkeit einer besseren Überwachung des Subsidiaritätsprinzips, welches das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung „verstärkt“1080, würde zu einer Stärkung der demokratischen Legitimation der Europäischen Union führen. Denn das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist sowohl für die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten als auch für die demokratische Verantwortbarkeit des Zustimmungsgesetzes zur Übertragung von Hoheitsrechten durch die nationalen Parlamente und damit für die Geltung des Demokratieprinzips in der Europäischen Union wesentlich. ff) Die demokratische Legitimation der neuen Ämter „Präsident des Europäischen Rates“ und „Außenminister der Union“ Der Präsident des Europäischen Rates soll vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit (Art. I-24 Abs. 1 EV-E bzw. Art. 2 Abs. 1 PVS) gewählt werden, Art. I-21 Abs. 1 EV-E. Nach Art. I-21 Abs. 1 S. 2 EV-E kann er während seiner Amtsperiode von zweieinhalb Jahren nur aus wichtigem Grund abberufen werden. Seine organisatorisch-personelle demokratische Legitimation1081 erhält der Präsident des Europäischen Rates also mittelbar von den Staatsvölkern. Die im Europäischen Rat vertretenen Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union werden sämtlich entweder direkt vom jeweiligen Staatsvolk Siehe oben D., I., 3. und ebenda III., 2., b) und c). Siehe oben D., II., 3., f), bb), (3), (g) und ebenda, g). 1078 Vgl. BVerfGE 89, S. 155 (184); ebenso: Hillgruber, Das Verhältnis der EG und EU zu ihren Mitgliedstaaten, S. 347 (373); siehe oben D., III., 2., a), und ebenda, 3. 1079 Hillgruber, EU-Kommission auf dem Prüfstand! (siehe Fn. 528), S. 1 (3). 1080 Siehe oben D., I., 3. 1081 Vgl. oben D., III., 1., a), aa). 1076 1077

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gewählt oder sie sind mittelbar legitimiert, indem sie ihrem – unmittelbar gewählten – Parlament verantwortlich sind.1082 Dass der Präsident des Europäischen Rates während seiner Amtszeit von einer qualifizierten Mehrheit des Europäischen Rates nur aus wichtigem Grund abberufen werden kann, führt m.E. wegen der kurzen Amtsdauer und der vergleichsweise geringen Befugnisse1083 („Grüßaugust“ der Union1084) des Präsidenten (er verfügt im Europäischen Rat über kein Stimmrecht, Art. I-24 Abs. 5 EV-E) nicht zu einem signifikanten Defizit hinsichtlich seiner demokratischen Legitimation, wie es etwa – wenn auch von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG toleriert – bei der Kommission besteht.1085 Der Außenminister der Union soll vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit mit Zustimmung des Präsidenten der Kommission ernannt werden, Art. I-27 Abs. 1 EV-E. Als Mitglied des Kollegiums Kommission müsste er sich zudem, gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Kommission, einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments stellen, Art. I-26 Abs. 2 S. 3 EV-E. Nach Art. 27 Abs. 1 S. 3 EV-E könnte er während seiner Amtsperiode durch actus contrarius abberufen werden. Der Außenminister soll seine organisatorisch-personelle demokratische Legitimation bei seiner Einsetzung somit vom Europäischen Rat (und damit mittelbar von den Staatsvölkern bzw. den nationalen Parlamenten, denen die Staats- und Regierungschefs verantwortlich sind), dem Kommissionspräsidenten und dem Europäische Parlament erhalten. Während seiner Amtszeit bliebe er dem Europäischen Rat und dem Kommissionspräsidenten gegenüber verantwortlich. Soweit der Außenminister Vizepräsident der Kommission wäre, soll er als stimmberechtigtes Mitglied dieses Organs an den Befugnissen der Kommission teilhaben. Soweit er im Bereich der GASP handeln würde, stünde ihm ein Vorschlagsrecht zu (Art. III-197 Abs. 1 EV-E) und er würde die Außenvertretung der Union wahrnehmen (Art. III-197 Abs. 2 S. 1 EV-E). Bei der Durchführung der Außenpolitik wäre er an die Beschlüsse des Europäischen Rates und des Minister1082 Vgl. Kluth, S. 91, mit Hinweis auf Art. 90 belgische Verfassung; § 15 dänische Verfassung; Art. 67 f. GG; Art. 20, 49, 50 französische Verfassung; Art. 84 griechische Verfassung; Art. 28 irische Verfassung; Art. 94 italienische Verfassung; Art. 82 luxemburgische Verfassung; Art. 42 Abs. 2 niederländische Verfassung; Art. 193, 198 portugiesische Verfassung; Art. 108 spanische Verfassung. 1083 Bury meint, der neue Präsident des Europäischen Rats würde über nicht mehr Kompetenzen als der bisherige rotierende Vorsitzende verfügen (ders. (siehe Fn. 956), Ziff. 2). M.E. würde er über weniger Kompetenzen verfügen. Denn erstens könnte er gemäß Art. I-21 Abs. 3 EV-E nicht zugleich nationaler Regierungschef sein (deswegen auch kein Stimmrecht, Art. I-24 Abs. 5 EV-E). Und zweitens soll der Vorsitz im Ministerrat nicht vom Präsidenten des Europäischen Rats, sondern weiterhin gemäß Art. I-23 Abs. 4 S. 1 EV-E nach dem Rotationsprinzip (mind. ein Jahr) von einem Vertreter eines Mitgliedstaats wahrgenommen werden, vgl. Art. 4 Abs. 2 S. 3 EUV und Art. 203 Abs. 2 EGV. 1084 Epping, S. 821 (829); Obwexer, Der Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa, S. 208 (216). 1085 Siehe oben D., III., 1., a), cc), (2), (c).

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rats (die im Bereich der GASP grundsätzlich weiterhin einstimmig entscheiden sollen, Art. III-201 Abs. 1 EV-E bzw. Art. I-20 Abs. 4 EV-E) gebunden, Art. III-197 Abs. 1 EV-E. Aufgrund der Miternennung durch den Präsidenten der Kommission und der Mitverantwortlichkeit ihm gegenüber verlängert sich die „Schwäche“ der organisatorisch-personellen demokratischen Legitimation des Kommissionspräsidenten während seiner Amtsperiode. Aber auch diese „Legitimationsschwäche“ führt m.E. im Hinblick auf die Befugnisse des Außenministers nicht zu einem im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG erheblichen demokratischen Defizit. Im Bereich der GASP ist er an die Beschlüsse des Europäischen Rates und des Ministerrates gebunden, als Mitglied der Kommission stehen ihm grundsätzlich (bis auf die Position des Vizepräsidenten) nicht mehr Rechte zu als anderen Organmitgliedern.

gg) Die demokratische Legitimation der Kommission Es wurde bereits festgestellt, dass die demokratische Legitimation der Europäischen Kommission die vergleichsweise „am wenigsten ausgeprägte“ der Organe der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften ist.1086 Wenn es durch den Verfassungsvertrag zu einem wesentlichen „Integrationsschub“ (etwa verglichen mit den „Integrationssprüngen“ durch die Römischen Verträge oder den Vertrag von Maastricht) oder zu einem erheblichen Ausbau der primärrechtlichen Kompetenzen der Kommission kommt, gebietet Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG eine wirksamere demokratische Kontrolle der Kommission durch die Mitgliedstaaten (bzw. den Rat) oder das Europäische Parlament („System kommunizierender Röhren“).1087 Was die Vergemeinschaftung neuer Politikbereiche betrifft, käme es durch den EV-E zu keinem erheblichen, etwa mit der Vertiefung der Integration durch die Römischen Verträge oder den Vertrag von Maastricht vergleichbaren „Integrationsschub“.1088 Zwar würde durch die Auflösung der Säulenstruktur der Politikbereich 1086 Siehe oben D., III., 1., a), cc), (2), (c). Ebenso Hillgruber, EU-Kommission auf dem Prüfstand! (siehe Fn. 528), S. 1 (2). 1087 Siehe oben E., I., 2., d). Vgl. hierzu auch Hillgruber, Kommission auf dem Prüfstand! (siehe Fn. 528), S. 1 (2). Vgl. auch Anhang III Ziff. 10 zum Bericht des Vorsitzes des Konvents an den Präsidenten des Europäischen Rates, S. 24: Dort verlangen die Verfasser des Gegenberichts „Europa der Demokraten“ die Wahl der Kommissionsmitglieder durch die nationalen Parlamente sowie eine Abberufungsmöglichkeit während der Amtszeit. 1088 Ebenso der britische Außenminister Jack Straw in seiner Unterhausrede vom 9. September 2003 (FAZ Nr. 210 v. 10. 9. 2003, S. 5): Durch den Verfassungsvertragsentwurf werde weniger verändert als durch den Vertrag von Maastricht. Die grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Beziehungen zwischen der Union und den Nationalstaaten würden nicht verändert, die führende Rolle der Einzelstaaten und ihrer Parlamente werde sogar untermauert. Epping meint sogar, der Konventsentwurf könne „nüchtern betrachtet“ im Wesentlichen auf redaktionelle Begradigungen der rechtlichen Grundlagen der Union, ergänzt durch einige terminologische Korrekturen, reduziert werden [ders., S. 821 (830)].

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der PJZS vergemeinschaftet und weitgehend in das Regelgesetzgebungsverfahren überführt. Auch würden zahlreiche Politikbereiche in das ordentliche Gesetzgebungsverfahren überführt. Mit dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem Außenminister der Union würden neue Ämter geschaffen. Andererseits bliebe es in einem Kernbereich nationaler Souveränität, nämlich im Bereich der Außenund Sicherheitspolitik, bei der Einstimmigkeit.1089 Im Bereich der GASP wären Europäische Gesetze und Rahmengesetze grundsätzlich ebenso ausgeschlossen wie eine Kontrolle des Gerichtshofes.1090 Des Weiteren verblieben auch nach dem EV-E wichtige Politikbereiche 1091 (bzw. Teile hiervon) im Bereich der Einstimmigkeit.1092 Und auch durch den EV-E würde keine durchgängige Mitentscheidung des Europäischen Parlaments bei allen Gesetzgebungsakten eingeführt.1093 Das Europäische Parlament würde also auch nach dem EV-E nicht zum gleichberechtigten Mitgesetzgeber. Über seine Gesetzgebungsfunktion hinaus behielte der Rat auch nach dem EV-E seine Exekutivfunktionen.1094 Er bliebe also, was das institutionelle „Gleichgewicht“ im Verhältnis zum Europäischen Parlament angeht, weiterhin der primus inter pares.1095 „Große konstitutionelle Schritte“, wie etwa das allgemeine Wahlrecht für alle Unionsbürger an ihrem jeweiligen Wohnsitz, die Direktwahl des Kommissionspräsidenten, das ausnahmslose Mehrheitsprinzip, die Änderung der Verfassung ohne die Zustimmung der Mitgliedstaaten, wird es nach dem EV-E nicht geben.1096 Die Machtfülle der Kommission nimmt durch den Art. III-201 Abs. 1, III-194 Abs. 1 UAbs. 3 S. 1 EV-E. Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, 2. Teil, S. 1234 (1238). 1091 Sozialpolitik (Art. III-104 Abs. 3 UAbs. 1 EV-E), Handelspolitik (III-217 Abs. 4 EV-E), Nichtdiskriminierung (III-8 Abs. 1 EV-E), Freizügigkeit (Art. III-9 Abs. 2 EV-E), indirekte Steuern (III-62 Abs. 1 EV-E); oder z. B. Bereiche der Umweltpolitik (Art. III-130 Abs. 2 EV-E), Bereiche der PJZS (Art. III-170 Abs. 3, III-171 Abs. 2 UAbs. 2 Buchst. d, III-175 Abs. 1, III-176 Abs. 3 EV-E), Wahlrecht Unionsbürger (Art. III-10 Abs. 1 EV-E), Angleichung Rechts- und Verwaltungsvorschriften Binnenmarkt (Art. III-64 EV-E). 1092 Ebenso: Schwarze, Ein pragmatischer Verfassungsentwurf, S. 535 (541). 1093 Beim Erlass von Europäischen Gesetzen oder Rahmengesetzen nach Art. III-9 Abs. 2, III-10 Abs. 1, III-11 Abs. 2, III-46 Abs. 3, III-62 Abs. 1, III-64 Abs. 1, III-104 Abs. 3 UAbs. 1, III-176 Abs. 3 EV-E soll das Europäische Parlament nur angehört werden. Es kommt auch nicht durchgehend zu einem Gleichlauf von Mehrheitsentscheidung im Rat und Mitentscheidung des Europäischen Parlaments. Beispiel: Nach Art. III-11 Abs. 2 EV-E (diplomatischer und konsularischer Schutz der Unionsbürger) erlässt der Ministerrat nach vorheriger Anhörung des Europäischen Parlaments mit qualifizierter Mehrheit (Art. I-22 Abs. 3 EV-E) ein Europäisches Gesetz. 1094 Bsp.: Art. I-22 Abs. 1 EV-E: Politikfestlegung und Koordinierung; Art. I-36 Abs. 2 EV-E: Europäische Durchführungsbeschlüsse (im Bereich der GASP und z. B. Art. III-14 Abs. 3, III-39, III-49 Abs. 2, III-306 EV-E). 1095 Ebenso: Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (598): Der EV-E „verzichtet auch weiterhin auf Mehrheitsentscheidungen in so zentralen Bereichen wie der Inanspruchnahme der Flexibilitätsklausel, der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik oder beim Zugang von Drittstaatsangehörigen zum Arbeitsmarkt und bewahrt dem (Europäischen- bzw. Minister-) Rat damit das notwendige Übergewicht im institutionellen Gefüge der EU“. 1096 Epping, S. 821 (830). 1089 1090

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EV-E nicht wesentlich zu.1097 Die Kommission soll nach dem EV-E nicht zu der Unionsexekutive werden, sondern weiterhin Mitexekutive neben dem Rat sein.1098 Und auch die Befugnis der Kommission, künftig mittels delegierter Verordnungen unmittelbar in den Mitgliedstaaten geltendes Recht zu setzen (Art. I-35 Abs. 1 UAbs. 1 EV-E), wäre sachlich und formell begrenzt, so dass ihr eine erhebliche eigene Rechtsetzungskompetenz insofern nicht zukäme. Voraussetzung eines Tätigwerdens nach Art. I-35 Abs. 1 UAbs. 1 EV-E wäre eine Übertragung durch ein Europäisches Gesetz oder Rahmengesetz, also durch Parlament und Rat. Nach Art. I-35 Abs. 1 UAbs. 2 EV-E würde das Wesentlichkeitsprinzip gelten, das heißt für wesentliche Vorschriften bestünde ein Gesetzesvorbehalt und – spiegelbildlich – ein Übertragungsverbot. Die Übertragung wäre zudem widerrufbar und vorbehaltlich der Nicht-Geltendmachung eines Einwandes seitens des Parlaments oder des Rates, Art. I-35 Abs. 2 EV-E. Nach alledem bliebe das bestehende Defizit der demokratischen Legitimation der Kommission nach dem EV-E zwar erhalten, da die Kommission nach Art. III-243 Abs. 2 EV-E1099 weiterhin nur einer Minderheit des Europäischen Parlaments gegenüber verantwortlich wäre. Es käme durch den EV-E aber weder zu einer erheblichen Vertiefung der Integration noch zu einer wesentlichen Zunahme der Kompetenzen der Kommission. Deshalb kann hinsichtlich Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nichts anderes gelten als zum Stand der Verträge von Amsterdam und Nizza: Dem verfassungsändernden Gesetzgeber war die konkrete demokratische Legitimation der Kommission bei Verabschiedung von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG bekannt, weswegen insgesamt ein Unterschreiten der demokratischen Mindeststandards trotz des Bestehens eines Demokratiedefizites im Einzelfall nicht angenommen werden kann. Dass der Kommissionspräsident künftig vom Europäischen Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder gewählt werden soll (Art. I-26 Abs. 1 S. 2 EV-E), lässt m.E. keine andere Beurteilung zu. Zwar könnte durch den Vorschlag eines Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten von einer Mehrheitsfraktion / -koalition im Europäischen Parlament ein erheblicher politischer Druck auf den Europäischen Rat ausgeübt werden. Nach Art. I-26 Abs. 1 EV-E bliebe es aber dabei, dass die Organe Europäischer Rat und Europäisches Parlament hinsichtlich der Person des Kommissionspräsidenten eine Einigung erzielen müssten (vgl. Art. 214 Abs. 2 EGV n.F.), so dass es nicht zu einer Entkoppelung der Kommission von der demokratischen Legitimation durch die nationalen Parlamente käme.

1097 „Die Europäische Kommission hat nach dem Verfassungsvertrag im Wesentlichen jene Aufgaben zu erfüllen, die ihr bereits derzeit (Art. 211 EGV) obliegen.“ [Obwexer, Der Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa, S. 208 (217)]. 1098 Bury (siehe Fn. 956), Ziff. 3. Vgl. hinsichtlich der Exekutivkompetenzen des Rates nach dem EV-E Art. I-22 Abs. 1, I-36 Abs. 2, III-49 Abs. 2, III-14 Abs. 3, III-39, III-306, Art. III-201 Abs. 1 und III-194 Abs. 1 UAbs. 3 S. 1 EV-E. 1099 Vgl. Art. 201 Abs. 2 EGV.

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d) Ergebnis Der EV-E brächte keine fundamentale Änderung der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften hinsichtlich ihrer Rechtsnatur bzw. ihrer Beziehungen zu den Mitgliedstaaten.1100 Ihrer Rechtsnatur nach bliebe die künftige Europäische Union, die wie vor ihr die Europäische Gemeinschaft Rechtspersönlichkeit besitzen soll und die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Union in sich vereinen würde, ein Staatenverbund.1101 Die durch den EV-E neu eingeführten Begriffe „Verfassung“ und „Verfassungsvertrag“ würden nichts an der Rechtsnatur der „neuen Union“ ändern, sie bliebe Staatenverbund bzw. supranationale Organisation. Diese „Verfassung“ bliebe trotz ihres Namens ihrer Rechtsnatur nach ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten. Ein Übergang der Kompetenz-Kompetenz von den Mitgliedstaaten auf die Europäische Union wäre damit nicht verbunden. Daraus folgt zugleich, dass die Nationalstaaten auch in Zukunft souverän bleiben sollen und damit der Europäischen Union weiterhin demokratische Legitimation vermitteln können. Durch den EV-E käme es zu einer Vertiefung der institutionellen Vergemeinschaftung: Neue Ämter (Präsident des Europäischen Rates, Außenminister der Union) würden eingeführt, weitere Politikbereiche in die Mehrheitsentscheidung überführt und die Beteiligung des Europäischen Parlaments bei Primär- und Sekundärrechtsetzung wüchse. Dieses Fortschreiten der Integration ginge insgesamt gesehen einher mit einem Ausbau der demokratischen Legitimation der Union.1102 Zwar bliebe es hinsichtlich der demokratischen Legitimation der Kommission bei dem schon vor dem EV-E bestehenden Defizit. Die demokratische Legitimation der Union würde jedoch durch die Übernahme der nach dem Beitrittsvertrag vereinbarten Mandatskontingentierung (die zu einer Verbesserung der Zählwertgleichheit der Wählerstimmen führt) und die erhebliche Erweiterung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments im Bereich der Gesetzgebung gestärkt. Die mit der Stärkung des Europäischen Parlaments einhergehende Schwächung des Rates hält sich in Grenzen. Der Rat übertrifft das Parlament insgesamt betrachtet weiterhin 1100 In Bezug auf bestimmte Vorschriften jedoch kritisch: Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (598 f.): Die Regelungen über die Ernennung und die personelle Zusammensetzung der Kommission besäßen „bundesstaatliche Züge“ und testeten die Grenzen, die das nationale Verfassungsrecht ziehe. Die Vorrangklausel des Art. I-10 EV-E sei nur auf Grundlage einer reduzierenden Auslegung verfassungsrechtlich hinnehmbar. Die Regelung des Art. I-24 Abs. 4 UAbs. 1 EV-E (Passerelle) sei mit Art. 23 Abs. 1 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG „kaum vereinbar“. 1101 Nach Huber sichert der EV-E nicht nur die fortdauernde Herrschaft der Mitgliedstaaten über die Verträge durch die Beibehaltung des Ratifikationsvorbehalts und durch die sog. Evolutivklauseln (Eigenmittel, Unionsbürgerschaft, Wahlrecht zum Europäischen Parlament), sondern auch die dominante Rolle des (Europäischen) Rates in diesen Verfahren [ders., Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (598)]. 1102 Ebenso: Schwarze, Ein pragmatischer Verfassungsentwurf, S. 535 (549): „Das Demokratieprinzip wird nach dem Entwurf eindeutig gestärkt.“

III. Finalität der EU – Staatenbund oder Bundesstaat?

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an Kompetenzfülle und behält seine zentrale Stellung.1103 Zudem wird die Schwächung des Rates durch die verstärkte Einbeziehung der nationalen Parlamente in das institutionelle Gefüge der EU kompensiert.1104

III. Finalität der Europäischen Union – Staatenbund oder Bundesstaat? – Begrenzung durch das Demokratieprinzip 1. Der aktuelle Meinungsstand der Mitgliedstaaten Vereinigtes Königreich, Frankreich und Deutschland sowie der Beitrittsstaaten Im Folgenden können nicht sämtliche Meinungen der Regierungen der Mitgliedstaaten und der Beitrittsländer zur Finalität1105 der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften wiedergegeben werden. Die Auswahl beschränkt sich auf das Vereinigte Königreich, welches üblicherweise zum Lager der „Euroskeptiker“1106 gezählt wird, und auf Deutschland und Frankreich („deutsch-französische Kooperation“1107), einen „Motor“ der bisherigen europäischen Integration. Die jüngeren Ausführungen der Staats- und Regierungschefs zielen dabei stets auch auf den Verfassungskonvent. a) Die Position des Vereinigten Königreichs Tony Blair, der britische Premierminister, bestimmte in seiner Rede „A clear course for Europe“ am 28. 11. 2002 in Cardiff1108 die Position des Vereinigten Königreichs im Hinblick auf die europäische Integration: Die Briten würden die Zukunft Europas nicht in einem „wie auch immer gearteten föderalen Superstaat“1109 sehen, sondern in einem „Europa souveräner Nationen, ein[em] Europa von Ländern, die stolz auf ihre eigene, unverwechselbare Identität sind, die aber zum gegenseitigen Nutzen zusammenarbeiten.“ 1110. Blair befürchtet, dass „die Ebenso: Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (598). Huber, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 574 (598). 1105 Der Ausdruck „Finalität“ wurde von Bundesaußenminister Josef Fischer in seiner „Humboldt-Rede“ am 12. 5. 2000, als Privatmann, geprägt (Fischer, Josef, Gedanken über die Finalität der Europäischen Union, Humboldt-Rede, in: Internationale Politik 2000, S. 100 (gekürzte Version); im Internet: http: // www.auswaertiges-amt.de / www / de / infoservice / download / pdf / reden / 2000 / r000512a.pdf). 1106 Oppermann,Vom Nizza-Vertrag zum Verfassungskonvent, S. 1 (4). 1107 Oppermann,Vom Nizza-Vertrag zum Verfassungskonvent, S. 1 (4). 1108 Tony Blair, A clear course for Europe, in deutscher Sprache im Internet unter: http: // europa.eu.int / futurum / documents / speech / sp281102_de.pdf, S. 1 – 12. 1109 Tony Blair, A clear course for Europe (siehe Fn. 1108), S. 4. 1110 Tony Blair, A clear course for Europe (siehe Fn. 1108), S. 3. 1103 1104

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Ideologie, die die Europäische Union vorantreibt“, auf einen solchen europäischen Superstaat zuliefe. Und mit der ablehnenden britischen Haltung gegen einen solchen europäischen Staat, sieht sich Blair auf der Seite der meisten Mitgliedstaaten der EU und, „was noch wichtiger ist, ihrer Menschen“.1111 Europa sei ein Bündnis europäischer nationaler Regierungen und solle dies auch bleiben. Die Macht in Europa werde weiterhin vom Willen der souveränen Nationen ausgehen. Und der Preis für eine stärkere, unverzichtbare Integration sei größere Klarheit über das Fundament und die Herkunft Europas.1112 Die Briten würden keine vertragliche Verankerung unterstützen, welche die EU-Zuständigkeit erweitern und über das nationale Recht stellen würde.1113 Aus dieser Vorstellung von Europa als einem „Zusammenschluss souveräner Nationen“ leitet Blair strukturelle und institutionelle Reformen für die EU mit Blick auf den Verfassungskonvent ab. Für Großbritannien sei Ziel des Konvents die Schaffung eines Europas, das stark, effektiv und demokratisch sei.1114 Daraus folge das Ziel, Europa auf jeder Ebene zu stärken, auf der des Rates, der Kommission, des Parlaments und des Gerichtshofes. Der Sinn des Rates besteht nach Blair darin, „der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Europa letztlich den Willen souveräner Staaten vertritt.“1115 Der Rat müsse in Zukunft stärker und effektiver werden. Deshalb spricht sich Blair für einen Vorsitz des Rates aus, der auf Dauer benannt wird – im Gegensatz zur bisherigen „Reise nach Jerusalem“ betreffend den Ratsvorsitz. Zudem fordert er größere Transparenz, wenn er verlangt, dass die Räte im Bereich der Gesetzgebung künftig offen abstimmen und dass nicht so viele Räte wie bisher tagen.1116 Die nationalen Parlamente müssten stärker in die europäischen Entscheidungsprozesse eingebunden werden. In diesem Zusammenhang begrüßte Blair den Vorschlag des Konvents zu einer „radikalen“ Stärkung des Subsidiaritätsprinzips.1117 Blair fordert einerseits ein starkes Europäisches Parlament, andererseits aber gleichzeitig eine Beschränkung des Europäischen Parlaments auf das, was es am Besten könne, nämlich die Gesetzgebung.1118 Auch im Hinblick auf die Kommission fordert Blair eine Stärkung. Die Kommission beziehe ihre Autorität bei den Mitgliedstaaten aus ihrer Unparteilichkeit, weshalb diese in jedem Falle zu erhalten sei. Die Kommission dürfe nicht „zum Gefangenen parlamentarischer Mehrheiten“ werden. Auf der anderen Seite sieht 1111 1112 1113 1114 1115 1116 1117 1118

Tony Blair, A clear course for Europe (siehe Fn. 1108), S. 4. Tony Blair, A clear course for Europe (siehe Fn. 1108), S. 5. Tony Blair, A clear course for Europe (siehe Fn. 1108), S. 6. Tony Blair, A clear course for Europe (siehe Fn. 1108), S. 5. Tony Blair, A clear course for Europe (siehe Fn. 1108), S. 4. Tony Blair, A clear course for Europe (siehe Fn. 1108), S. 2, 7. Tony Blair, A clear course for Europe (siehe Fn. 1108), S. 6. Tony Blair, A clear course for Europe (siehe Fn. 1108), S. 10.

III. Finalität der EU – Staatenbund oder Bundesstaat?

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Blair die Partnerschaft zwischen Kommission und Rat als entscheidend an.1119 Die Kommission habe eine doppelte Funktion: „detaillierte Vorschläge innerhalb der vom Europäischen Rat vorgegebenen strategischen Prioritäten zu initiieren und politische Entscheidungen durchzusetzen“.1120 Des Weiteren sollte der Hohe Vertreter künftig den Vorsitz im Außenministerrat führen und ein unabhängiges Initiativrecht haben. Die Überschneidungen, die dadurch entstünden, dass es ein Kommissionsmitglied für Außenbeziehungen und den Hohen Vertreter gebe, dürfte man nicht durch eine Zusammenlegung dieser Ämter lösen. „Der Doppelhut darf kein Weg sein, die GASP durch die Hintertür zu vergemeinschaften.“ Die Rechenschaftspflicht des Hohen Vertreters gegenüber den Mitgliedstaaten und deren Verantwortung für die Außenpolitik müssten weiterhin klar abgegrenzt werden.1121 Auch Jack Straw, der britische Außenminister, hat sich im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg 2003 gegen eine weitere Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik der EU ausgesprochen:1122 „Ich kann mir keinen Leser dieses Artikels vorstellen, der glaubt, es wäre besser gewesen, wenn Deutschland durch die Mehrheit der Mitgliedstaaten einer erweiterten Europäischen Union zur Unterstützung einer Militäroperation im Irak [ . . . ] gezwungen worden wäre.“ Zwar teile er die Meinung, dass noch viel Spielraum für die Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorhanden sei. „Ich glaube aber, das sollte nicht so sehr über ein ,mehr‘ an Aufgaben oder ,mehr‘ Institutionen zu deren Verwirklichung geschehen.“ Für Straw kann „mehr Europa“ auch ganz praktisch dadurch geschehen, dass die Mitgliedstaaten künftig mehr Geld in ihr eigenes „militärisches Potential investieren [ . . . ], damit die ESVP auch Wirkung erzielen kann“.

Die Position der Briten kann wie folgt zusammengefasst werden: Das Vereinigte Königreich zeichnet sich weiter durch ein „sehr pragmatisches“ Verhältnis zu Europa aus.1123 Großbritannien lehnt einen europäischen Bundesstaat ab. Die Vorschläge aus den Reihen des Konvents, die in die Richtung gehen, Vertragsänderungen des „zweiten Teils“ einer künftigen Verfassung, der die Politiken der Gemeinschaft enthalten soll, durch eine qualifizierte Mehrheit von Mitgliedstaaten zu beschließen – also auch gegen den Willen einiger Mitgliedstaaten – dürften nicht das Einverständnis der Briten finden. Im Hinblick auf das Europäische Parlament fordert das Vereinigte Königreich eine Konzentration auf die Gesetzgebung und gleichzeitig, dass die Kommission nicht von parlamentarischen Mehrheiten abhängig sein dürfe. Dies bedeutet einerseits einen Kompetenzausbau des Europäischen Parlaments im Hinblick auf solche Gesetzgebungsakte, bei denen es bislang keine Mitentscheidungsbefugnis hat. Andererseits bedeutet es eine Begrenzung oder gar 1119 1120 1121 1122 1123

Tony Blair, A clear course for Europe (siehe Fn. 1108), S. 11. Tony Blair, A clear course for Europe (siehe Fn. 1108), S. 8. Tony Blair, A clear course for Europe (siehe Fn. 1108), S. 10. Jack Straw, Für ein besseres Europa, in: FAZ Nr. 79 vom 3. April 2003, S. 12. Hillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (7).

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einen Rückbau der Kompetenzen des Europäischen Parlaments im Hinblick auf die Verantwortlichkeit der Kommission gegenüber dem Parlament. Das zentrale Organ der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften ist für Blair der Rat, welcher der Supranationalität und Nicht-Staatlichkeit der Union Rechnung trägt. Eine mögliche Stärkung des Rates besteht für die Briten darin, dass dieser einen länger amtierenden Vorsitz erhält und der Prozess der Gesetzgebung transparenter wird. Die britische Position zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik macht klar, dass diese Politiken, die dem Kernbereich der nationalen Souveränität zuzuordnen sind, aus der Perspektive des Vereinigten Königreichs auch künftig im intergouvernementalen Bereich bleiben und nicht vergemeinschaftet werden sollen. Ein weiterer Aspekt, der die nur supranationale Rechtsnatur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften für die Briten bekräftigt, da ein Bundesstaat, dessen Gliedstaaten unterschiedliche Außen- und Sicherheitspolitiken verfolgen, wohl nicht vorstellbar ist. b) Die Position Frankreichs Die französische Meinung zur künftigen Rechtsnatur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften stimmt mit der britischen überein. Der französische Präsident Jacques Chirac meinte in seiner Straßburger Rede vom 6. März 2002, dass er ein Europa, welches „zu einem Superstaat wird oder sich für seine Institutionen diejenigen der Vereinigten Staaten zum Vorbild nimmt“, nicht dulden werde.1124 Chirac sieht die Nation als unumstößliche Realität, die lebendiger sei denn je und auch in Zukunft der wichtigste „Motor der Geschichte bleiben“ würde. Die Vision von Chiracs Europa ist eine „Föderation von Nationalstaaten“, in der es weiterhin eine nationale und eine europäische Ebene geben wird. Premierminister JeanPierre Raffarin beschreibt seine Vorstellung von Europa als eine von einem „Frankreich auf drei Ebenen“, der regionalen, der Ebene der Republik und schließlich der europäischen Ebene.1125 Chirac benutzt für die künftige „Grundordnung“ der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften den Begriff „Verfassung“ und meint zugleich, dass sie vor allem eine Vereinfachung der Vertragstexte mit sich bringen werde, sieht die Verfassung also unzweifelhaft weiterhin als multilateralen völkerrechtlichen Vertrag.1126 1124 Jacques Chirac, Straßburger Rede vom 6. März 2002, in deutscher Sprache im Internet unter http: // europa.eu.int / futurum / documents / speech / sp060302_de.pdf, S. 1 – 15. 1125 Jean-Pierre Raffarin, Rede auf der Eröffnungsveranstaltung zum ersten „Forum Europe“ in Orléans, vom 6. 12. 2002, in deutscher Sprache im Internet unter http: // europa. eu.int /futurum / documents / speech / sp061202_de.pdf, S. 1 – 8. 1126 Jacques Chirac, Straßburger Rede (siehe Fn. 1124), S. 14. Auch Jean-Pierre Raffarin sieht in dem künftigen Verfassungsvertrag vor allem eine „Möglichkeit, damit die Dinge ein wenig klarer werden“ und nicht etwa eine Verfassung im nationalen Sinne (ders. (siehe Fn. 1125), S. 4).

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Und während die Briten weiterhin insbesondere die Selbständigkeit ihrer Außenpolitik betonen und hier eine Vergemeinschaftung des bisher intergouvernemental ausgestalteten Bereichs der GASP hinaus auch längerfristig nicht anstreben, betont Jean-Pierre Raffarin, dass die Sozialpolitik ein „bedeutendes Element“ des französischen „Paktes für die Republik“ sei und nicht ohne Weiteres auf die europäische Ebene übertragen werden könne, wenn „Frankreich Frankreich“ bleiben solle.1127 Auf der Basis dieses Europaverständnisses fordert Chirac – wie Blair – eine Stärkung der demokratischen Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften und eine Verbesserung von Transparenz und Verständlichkeit, damit sich die Franzosen „im europäischen Projekt wiedererkennen“.1128 Diese Forderung konkretisiert er, indem er eine stärkere Einbindung der einzelstaatlichen Parlamente in den europäischen Integrationsprozess verlangt; er fordert ein Organ, welches die einzelstaatlichen Parlamente vertritt und das – beispielsweise – die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips überwachen sollte.1129 Für das Europäische Parlament will Chirac eine allgemeine Beteiligung an der Gesetzgebung der Gemeinschaft. Dabei sieht er das Problem der demokratischen Legitimation durch das Europäische Parlament, wenn er bemängelt, dass die Franzosen „ihre Volksvertreter kaum kennen“. Zwischen den europäischen Parlamentariern und den Franzosen müsse die „Kette der Verantwortlichkeiten“, die das Kernstück der Demokratie darstelle, wiederhergestellt werden.1130 Auch Raffarin bemängelt ein solches „vorrechtliches“ Demokratiedefizit, wenn er fordert, dass man die Europaabgeordneten für die Bürger besser identifizierbar machen müsse.1131 Hinsichtlich der Kommission plädiert Chirac für eine Unabhängigkeit von Staaten „und politischen Parteien“. Als künftigen „Präsidenten der Europäischen Union“ sieht Chirac nicht den Kommissionspräsidenten oder einen von den Bürgern gewählten Repräsentanten, sondern eine Persönlichkeit des Europäischen Rates, „die von seinen Mitgliedern für eine ausreichend lange Dauer gewählt wird“.1132 Diese Stärkung des Vorsitzes des Europäischen Rates soll nach Raffarin der institutionellen Stabilität und der Identität dienen, wobei er das „Wie“ der Wahl des künftigen Präsidenten ausdrücklich offen lässt.1133 Im Hinblick auf den Ministerrat spricht sich Chirac für eine generelle Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit aus. Den Vorsitz im Ministerrat sieht er bei einem „Generalsekretär“, der unter der politischen Aufsicht des Präsidenten stehen Jean-Pierre Raffarin (siehe Fn. 1125), S. 6. Jacques Chriac, Straßburger Rede (siehe Fn. 1124), S. 11. 1129 Auch Raffarin fordert eine verstärkte Einbindung der nationalen Parlamente, wobei er die Idee eines Kongresses als „interessante Idee“ bezeichnete (ders., ebenda, S. 5). 1130 Jacques Chriac, Straßburger Rede (siehe Fn. 1124), S. 12. 1131 Jean-Pierre Raffarin (siehe Fn. 1125), S. 5. 1132 Jacques Chriac, Straßburger Rede (siehe Fn. 1124), S. 13. 1133 Jean-Pierre Raffarin (siehe Fn. 1125), S. 4. 1127 1128

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soll, oder bei einem Kollegialorgan, das mit Vertretern der Mitgliedstaaten beschickt würde. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Frankreich im Hinblick auf die finale Gestalt der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften an der de Gaulle’schen Formel eines „Europa der Vaterländer“ festhält; die französische Administration will ein „Vereinigtes Europa der Staaten“ und keine „Vereinigten Staaten von Europa“.1134 c) Die Position Deutschlands In Deutschland sind die Positionen zur Finalität der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften, verglichen mit den französischen, „unpräziser“, und zwar insofern, als sich Bundeskanzler Gerhard Schröder zunächst nur als „SPD-Parteivorsitzender“ und Außenminister Fischer gar nur als „Privatmann“ maßgeblich zur Finalität der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften geäußert haben.1135 Im Leitantrag der SPD vom 1. Mai 2001, der auch von Bundeskanzler Gerhard Schröder – als Parteivorsitzender – unterfertigt wurde, heißt es, die Transparenz der Entscheidungswege in der Europäischen Union müsse „durch den Ausbau der Kommission zu einer starken europäischen Exekutive, durch eine weitere Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments mittels Ausweitung der Mitentscheidung und voller Budgethoheit sowie durch den Ausbau des Rates zu einer europäischen Staatenkammer gestärkt werden“.1136 Die Forderung, den Ministerrat zu einer zweiten Kammer „auszubauen“, wurde seitens der französischen und britischen Regierung kritisiert, weil sie sich zu stark an das deutsche Föderalismus-Modell anlehne.1137 Daraufhin erklärte Bundeskanzler Schröder, dass diese Forderung nicht auf die nähere Zukunft bezogen sei.1138 Man werde über die europäischen Institutionen reden, Entscheidungen über ihre definitive Form stünden aber auch 2004 noch nicht an. In der in seiner Eigenschaft als Bundeskanzler abgegebenen 1134 Vgl. Hillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (6), mit Hinweis auf die Rede Jacques Chiracs im Deutschen Bundestag am 27. Juni 2000, in: FAZ Nr. 147 vom 28. 6. 2000, S. 1, 10 f., im Internet unter http: // www.botschaft-frankreich.de. 1135 Fischer (siehe Fn. 1105), S. 100 ff.; Fritz-Vannahme, Joachim, Ärger garantiert – Schröder verblüfft mit einer Europavision, in: DIE ZEIT Nr. 19 / 2001, im Internet unter: http: // www.zeit.de / 2001 / 19 / Politik / 200119_2._leiter.html; Hofmann, Gunter, mehr Schröder, weniger Fischer – Schon wieder eine Chefsache: Der Kanzler mutiert vom populistischen Europamuffel zum Avantgardisten, in: DIE ZEIT Nr. 20 / 2001, im Internet unter: http: // www.zeit.de / 2001 / 19 / Politik / 200120_europa.html; Gowers, Andrew / Hanke, Thomas, Schröder kappt sein EU-Modell, in: Financial Times Deutschland vom 15. 6. 2001, S. 1. 1136 Hofmann, Mehr Schröder, weniger Fischer (siehe Fn. 1135). 1137 Gowers / Hanke, Schröder kappt sein EU-Modell (siehe Fn. 1135), S. 1. 1138 Schröder wird in der Financial Times Deutschland zitiert: „Das wird doch noch nicht 2004 anstehen.“ (Gowers / Hanke, Schröder kappt sein EU-Modell (siehe Fn. 1135), S. 1).

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Erklärung Schröders vom 14. Juni 20011139 ist die Forderung nach dem Ausbau des Ministerrates zu einer Staatenkammer dahingehend konkretisiert, dass der Rat dort, wo er als Gesetzgeber tätig sei, zu einer europäischen Staatenkammer werden solle. Weiterhin stellt Schröder klar, dass das Recht, der Europäischen Union Kompetenzen zu übertragen, bei den Mitgliedstaaten verbleiben müsse. Auch in seiner Regierungserklärung zu den Ergebnissen des Europäischen Rates von Kopenhagen vom 19. Dezember 2002 beteuerte der Bundeskanzler, dass das neue Europa kein Superstaat werden wolle (solle).1140 Bundesaußenminister Josef Fischer erklärte sich in seiner berühmten HumboldtRede1141 zur Finalität der europäischen Integration. Sie befasst sich ausdrücklich mit dem Endzustand, also der „Finalität“ der europäischen Integration, und beinhaltet Perspektiven „weit über das nächste Jahrzehnt [ . . . ] hinaus“.1142 Fischer sieht die Antwort auf die Finalität der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften in dem „Übergang vom Staatenverbund der Union hin zur vollen Parlamentarisierung in einer Europäischen Föderation“, die sich auf einen Verfassungsvertrag gründen solle.1143 Eine solche Föderation soll jedoch nicht die Abschaffung der Nationalstaaten bedeuten. Die „bisherige Vorstellung eines europäischen Bundesstaates, der als neuer Souverän die alten Nationalstaaten und ihre Demokratien ablöst, erweist sich als ein synthetisches Konstrukt jenseits der gewachsenen europäischen Realitäten“. Fischer stellt sich eine „Souveränitätsteilung von Europa und Nationalstaat“ vor, welche einen Verfassungsvertrag voraussetze, der festlege, was europäisch und was weiterhin national geregelt werden solle.1144 Dabei solle die Europäische Föderation „voll souverän“ sein und doch auf selbstbewussten Nationalstaaten aufbauen, die auf europäischer Ebene eine wesentlich stärkere Rolle behielten als die Bundesländer innerhalb der Bundesrepublik Deutschland. Geschaffen werden solle eine solche Europäische Föderation durch eine „konstitutionelle Neugründung Europas“, wobei die „Hauptachse“ einer solchen europäischen Verfassung das Verhältnis zwischen Föderation und Nationalstaat sein werde. Hinsichtlich der Institutionen und der demokratischen Legitimation der Europäischen Föderation führt Fischer aus, dass ein Faktum der europäischen Realität 1139 Bundeskanzler Gerhard Schröder, Bürger und Parlamente umfassend einbeziehen, Erklärung vom 14. 6. 2001, im Internet unter: http: // europa.eu.int / futurum / contrib / contjuin2001 _de.htm. 1140 Bundeskanzler Gerhard Schröder, Regierungserklärung zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Kopenhagen vom 19. Dezember 2002, im Internet: http: / / www.bundeskanzler. de / Weitere-Meldungen-.8106.455571 / a.htm?printView=y, S. 1 – 6 (3). 1141 Fischer, Josef, Gedanken über die Finalität der Europäischen Union, Humboldt-Rede, www.gruene-ger.de / themen / bund / fischer.htm, S. 1 – 8. Ausführlich behandelt Hillgruber die Fischer-Rede in: Ders., Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (9 ff.). 1142 Fischer, (siehe Fn. 1141), S. 1 – 8 (1). 1143 Fischer (siehe Fn. 1141), S. 1 – 8 (5). 1144 Fischer (siehe Fn. 1141), S. 1 – 8 (6).

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die unterschiedlichen politischen Nationalkulturen und die allfälligen Sprachgrenzen seien.1145 Deshalb müsse ein europäisches Parlament immer ein Doppeltes repräsentieren: „ein Europa der Nationalstaaten und ein Europa der Bürger“. Dies werde sich nur realisieren lassen, wenn dieses europäische Parlament die unterschiedlichen nationalen politischen Eliten und dann auch die unterschiedlichen nationalen Öffentlichkeiten tatsächlich zusammenführe. Fischer schlägt ein ZweiKammer-Modell vor, in dem dies bewerkstelligt werden könnte: Eine Kammer solle durch gewählte Abgeordnete besetzt werden, die zugleich Mitglieder der nationalen Parlamenten sind. So werde es keinen Gegensatz zwischen nationalen Parlamenten und Europäischem Parlament mehr geben. Die zweite Kammer solle eine Staatenkammer sein, analog zu dem amerikanischen Senatsmodell oder dem Deutschen Bundesrat. Der Europäische Rat solle zu einer europäischen Regierung werden, die aus den nationalen Regierungen heraus gebildet würde, oder es könne – von der heutigen Kommissionsstruktur ausgehend – zu der Direktwahl des Kommissionspräsidenten kommen.1146 Bundespräsident Johannes Rau hat sich anlässlich des VII. Europaforums Berlin der Herbert Quandt-Stiftung am 16. November 2001 im Hotel Adlon in Berlin zur künftigen politischen Gestalt Europas geäußert.1147 Der Bundespräsident plädiert für ein Europa als „Föderation von Nationalstaaten“ und umschreibt Föderation als „Gegenteil eines Einheitsstaates“. Institutionell schlägt er ein Europaparlament vor, dass zu einer echten Bürgerkammer ausgebaut werden solle und in der das Prinzip „one man one vote“ gelte, wobei die kleineren Staaten „freilich wegen der großen Bevölkerungsunterschiede stärker begünstigt werden“ müssten.1148 Der Ministerrat würde nach der Vorstellung des Bundespräsidenten zu einer Staatenkammer als Zweite Kammer des Europäischen Parlaments. Die Kommission müsse gestärkt und besser demokratisch legitimiert werden, wozu die Wahl des Kommissionspräsidenten durch die beiden Kammern des Parlaments beitragen könnte.1149 Auch wenn die maßgeblichen Äußerungen von Schröder und Fischer nicht in staatsamtlicher Funktion, sondern in den Rollen als SPD-Parteivorsitzender bzw. als Privatmann getätigt wurden, kann man sie „in ihrem Kern [ . . . ] als die maßgebliche Konzeption der gegenwärtigen Bundesregierung“1150 betrachten, da diese grundsätzlichen Überlegungen auch in Brüssel, London und anderenorts in amtFischer (siehe Fn. 1141), S. 1 – 8 (5). Fischer (siehe Fn. 1141), S. 1 – 8 (6). 1147 Bundespräsident Johannes Rau, Einheit in Vielfalt: Welche politische Gestaltung braucht Europa, Rede im Hotel Adlon beim VII. Europaforum Berlin der Herbert QuandtStiftung vom 16. November 2001, im Internet: http: // europa.eu.int / futurum / documents / speech / sp161101_de.pdf, S. 1 – 7. 1148 Rau (siehe Fn. 1147), S. 1 – 7 (5 f.). 1149 Rau (siehe Fn. 1147), S. 1 – 7 (7). Nach der Neuregelung der Ernennung der Kommission durch den Vertrag von Nizza ist dies bereits jetzt der Fall, Art. 214 Abs. 2 EGV n.F. 1150 Hillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (9). 1145 1146

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licher Funktion wiederholt worden sind. Die Positionen von Außenminister und Bundeskanzler zeigen dabei Gemeinsamkeiten – aber auch Unterschiede. Einigkeit besteht darin, dass man keinen europäischen Superstaat möchte. Nach Schröder soll das Recht, Kompetenzen zu übertragen (Kompetenz-Kompetenz), bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Fischers Begriff von der „Föderation“, den auch Rau verwendet, meint ebenfalls keinen Bundesstaat. Es soll vielmehr mittels eines Verfassungsvertrages zu einer Souveränitätsteilung zwischen Europa und den Nationalstaaten kommen, wobei die Föderation – ebenso wie die Nationalstaaten – „voll souverän“ sein soll. Versteht man hierunter eine volle Souveränität innerhalb der der Föderation zugewiesenen Kompetenzen und unter Verfassungsvertrag einen Vertrag zwischen den Nationalstaaten über die Föderation und die Kompetenzaufteilung, so besteht ein solches System der Kompetenzaufteilung „der Sache nach allerdings bereits im gegenwärtigen Staatenverbund der Europäischen Union“.1151 Auch in ihrer Finalität soll die europäische Föderation also keine eigene Verfassungsautonomie haben, sondern ihre Legitimität aus einem völkerrechtlichen Verfassungsvertrag beziehen. Unterschiede in der deutschen Position bestehen jedoch im Hinblick auf die demokratische Legitimation der künftigen Union oder Föderation. Während Schröder für einen Ausbau der Kommission zu einer starken europäischen Regierung1152 eintritt und die Funktion des Rates, soweit er als Gesetzgeber tätig ist, als Staatenkammer im Gesetzgebungsverfahren sieht, neben einem Parlament mit voller Budgethoheit, spricht sich Fischer für eine Version eines Europäischen Parlaments in Form der früheren „Versammlung“ aus, also ein Organ, das aus nationalen Parlamentariern besteht. Daneben soll es auch nach Fischers Vorstellung eine Staatenkammer geben, jedoch lässt er offen, ob dies der Rat sein solle. Als Regierungsorgan der künftigen Föderation sieht Fischer den Europäischen Rat, wobei er eine Kommission unter Leitung eines – von einem europäischen Demos (?) – gewählten Kommissionspräsidenten ebenfalls in Erwägung zieht.

d) Die gemeinsame Position Frankreichs und Deutschlands Am 15. Januar 2003 haben der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder und der französische Staatspräsident Jacques Chirac einen gemeinsamen deutschfranzösischen Beitrag zum Europäischen Konvent über die institutionelle Architektur der Union bekannt gegeben.1153 Ziel ist demnach weiterhin ein Europa als eine Hillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (10). Wobei sich Bundespräsident Rau, wenn auch ohne politische Leitungsmacht, so doch völkerrechtlicher Vertreter der Bundesrepublik Deutschland (Art. 59 Abs. 1 S. 1 GG) für eine Wahl des Kommissionspräsidenten durch die zwei Kammern des Parlaments ausspricht. 1153 Gerhard Schröder / Jacques Chirac, Deutsch-französischer Beitrag zur institutionellen Architektur der Europäischen Union, Berlin und Paris, vom 15. Januar 2003, im Internet: http: // www.bundeskanzler.de / Kanzler-News-.7698.459668 / a.htm?printView=y, S. 1 – 5. 1151 1152

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Union der Staaten, wobei die Erklärung den Begriff „Föderation der Nationalstaaten“ benutzt, ohne dass jedoch von der Grundlage völkerrechtlicher Verträge als Basis der Europäischen Union abgewichen werden soll.1154 Im Bereich der GASP soll es nach der Erklärung zu einer weiteren Vergemeinschaftung kommen, indem Beschlüsse grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit zu fassen sind, außer solche mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen.1155 Im Bereich der GASP-Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit soll den Mitgliedstaaten jedoch ein suspensives Vetorecht zustehen, wenn ein Staat ein nationales Interesse gegen die Beschlussfassung geltend macht, das heißt ein eingelegtes Veto kann – nach Vermittlungsbemühungen – durch einen erneuten Beschluss mit qualifizierter Mehrheit zurückgewiesen werden. Für den Bereich der ESVP soll künftig das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit genutzt werden können. Institutionell sieht man den Europäischen Rat als Organ mit der politischen Richtlinienkompetenz, der diese Richtlinien der Politik jedoch in Verbindung mit der Kommission festlegen soll. Im Bereich der GASP soll der Europäische Rat allerdings ohne die Kommission politisch agieren können.1156 Der Europäische Rat soll einen dauerhaften Vorsitz erhalten, ein Amt, das entweder für einen Zeitraum von fünf Jahren oder von zweieinhalb Jahren, mit der Möglichkeit der Wiederwahl, bekleidet werden soll. Der Vorsitzende – die Stellungnahme lässt offen, ob er aus der Reihe der Staats- und Regierungschefs zu wählen ist (mit der Folge, dass er dann sein nationales Amt aufgeben müsste) – soll hauptamtlich tätig sein und den Vorsitz des Europäischen Rates führen, die Umsetzung der Beschlüsse des Europäischen Rates überwachen und die Union – unbeschadet der Kompetenzen der Kommission – auf internationaler Ebene vertreten, in dem Sinne, dass die operative Außen- und Sicherheitspolitik durch den europäischen Außenminister wahrgenommen würde. Die Kommission und ihr Präsident sollten künftig im Anschluss an die Europawahlen ernannt werden.1157 Nach der Wahl des Präsidenten der Kommission durch das Europäische Parlament mit qualifizierter Mehrheit, sollte er vom Europäischen Rat, der mit qualifizierter Mehrheit beschließt, bestätigt werden. Das Europäische Parlament soll gemeinsam mit dem Rat die legislative Gewalt ausüben, jede Ausweitung der Mehrheitsentscheidung automatisch mit der Mitentscheidung des Europäischen Parlaments verbunden werden. Zudem soll die Budgethoheit des Parlaments ausgeweitet werden. 1154 Schröder / Chirac, S. 1 – 5 (1). 1155 Schröder / Chirac, S. 1 – 5 (5). 1156 Schröder / Chirac, S. 1 – 5 (2). 1157 Schröder / Chirac, S. 1 – 5 (3).

Deutsch-französischer Beitrag zur EU-Reform (siehe Fn. 1153), Deutsch-französischer Beitrag zur EU-Reform (siehe Fn. 1153), Deutsch-französischer Beitrag zur EU-Reform (siehe Fn. 1153), Deutsch-französischer Beitrag zur EU-Reform (siehe Fn. 1153),

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Der Rat soll gemeinsam mit dem Europäischen Parlament Gesetzgeber sein und zudem größere exekutive Verantwortung erhalten, insbesondere in den Bereichen PJZS und GASP, was eine dauerhafte Vorsitzregelung bedinge. Die Modalitäten des Vorsitzes im Rat variieren je nach betroffenem Sachgebiet. Zudem soll es künftig einen europäischen Außenminister geben. Dieser würde das Amt des Hohen Vertreters und des Kommissars für Außenbeziehungen in einer Person wahrnehmen. Weiterhin soll dem europäischen Außenminister ein formelles Initiativrecht in Fragen der GASP zukommen und der Vorsitz im Rat für Außenbeziehungen und Verteidigung zustehen.1158 Ernannt werden würde der europäische Außenminister vom Europäischen Rat, mit der Zustimmung des Präsidenten der Europäischen Kommission, mit qualifizierter Mehrheit. Die nationalen Parlamente würden künftig das Subsidiaritätsprinzip anhand eines Frühwarnmechanismus überwachen und an Vertragsreformen im Rahmen eines Europäischen Konvents teilnehmen. Ohne eine neue Institution zu schaffen, soll ein Dialog zwischen europäischen und nationalen Parlamentariern im Rahmen eines jährlichen Kongresses in Straßburg unter der Leitung des Präsidenten des Europäischen Parlaments stattfinden. Die Eckpunkte der gemeinsamen deutsch-französischen Position können wie folgt zusammengefasst werden: – Die Rechtsform der Union bleibt unverändert (völkerrechtliche Verträge als Basis), – Vergemeinschaftung der GASP, – Europäischer Rat als politisches Führungsorgan (zum Teil zusammen mit der Kommission), – Verantwortlichkeit der Kommission gegenüber Europäischem Rat und Parlament, – Rat und Parlament als Gesetzgeber, – Stärkung der Exekutivbefugnisse des Rates, – Schaffung der Institution des europäischen Außenministers, – Verstärkte Beteiligung der nationalen Parlamente durch „Frühwarnmechanismus“ und „Kongress“.

e) Die Position der Beitrittsländer Zusammenfassend wird die Position der Beitrittsländer von Hillgruber wie folgt dargestellt:1159 Die kleineren mittel- und osteuropäischen Staaten wollten als künf1158 Schröder / Chirac, Deutsch-französischer Beitrag zur EU-Reform (siehe Fn. 1153), S. 1 – 5 (4). 1159 Hillgruber, Zukunftsperspektiven des vereinten Europa, S. 1 (9).

17 Tiedtke

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tige Mitglieder ihre erst nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums errungene nationale Souveränität nicht in einer Europäischen Union aufgehen sehen. „Zurück nach Europa“, so habe es Václav Klaus, der frühere tschechische Ministerpräsident und jetzige tschechische Staatspräsident formuliert, „stand für die Rückkehr vom Eisernen Vorhang zu normalen Grenzen, die keine unüberschreitbare Scheidewand darstellen, sondern lediglich die Besitzstände einzelner Gemeinschaften voneinander abgrenzen.“ In diesem Sinne blieben – durchlässige – Grenzen ein zur Selbstbehauptung „wichtiges Definitionselement“ 1160. Die mittel- und osteuropäischen Staaten wollten den „abgeschüttelten ,sozialistischen Internationalismus‘ nicht durch eine neue Form des ,europäischen Internationalismus‘ eintauschen“ und wendeten sich deshalb gegen „überzogene Vereinheitlichungstendenzen in der Europäischen Union“.1161 Die Position der Beitrittsländer ist im Hinblick auf die künftige Rechtsform der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften demnach identisch mit den Positionen der drei größten Mitgliedstaaten. Die Nationalstaaten sollen volle völkerrechtliche Souveränität behalten und die Union und die Gemeinschaften weiterhin interbzw. supranationale Organisationen sein.

f) Zusammenfassung der verschiedenen Positionen aa) Unterschiede Neben vieler Gemeinsamkeiten weisen vorbenannte Positionen zur Finalität bzw. zum Zustand der Europäischen Union nach dem Verfassungskonvent auch Unterschiede in wesentlichen Bereichen auf. Während die deutsch-französische Position eine Vergemeinschaftung der GASP fordert, indem der Rat im Bereich der GASP generell mit qualifizierter Mehrheit entscheiden soll, wehrt sich das Vereinigte Königreich gegen eine Überführung der GASP vom intergouvernementalen in den supranationalen Bereich. Das Vereinigte Königreich sieht hier einen Schwerpunkt seiner nationalen Souveränität. Frankreich nimmt seinerseits die Sozialpolitik als ein wesentliches Element des „Pakts für die Republik“ von der weiteren Vergemeinschaftung aus. Diese differenzierte Einstellung zur GASP drückt sich auch in den unterschiedlichen Positionen Frankreichs und Deutschlands auf der einen Seite und des Vereinigten Königreichs auf der anderen Seite zum europäischen Außenminister aus. Das Vereinigte Königreich sieht als europäischen Außenminister den Hohen Vertreter, um die Kompetenz des Vorsitzes im Rat für Außenbeziehungen erweitert. Dagegen vertreten Deutschland und Frankreich, dass der europäische Außenminister einen „Doppelhut“ tragen sollte, also dass er zugleich Hoher Vertreter und 1160 1161

Hort, Die alten Bindungen lockern sich, in: FAZ Nr. 290 v. 13. 12. 2000, S. 16. Hillgruber, Zukunftsperspektiven des vereinten Europa, S. 1 (9).

III. Finalität der EU – Staatenbund oder Bundesstaat?

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Kommissionsmitglied für Außenbeziehungen sein sollte. Darin erblickt das Vereinigte Königreich eine institutionelle Vergemeinschaftung der GASP durch die Hintertür. Im Hinblick auf die einzelnen Institutionen ist zum Teil offen, welche Positionen die Nationen im Detail vertreten. Ein bedeutender Unterschied ist die Kommission betreffend auszumachen. Während nach der deutsch-französischen Position die Kommission gegenüber dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament verantwortlich sein soll, spricht sich das Vereinigte Königreich ausdrücklich gegen eine Abhängigkeit der Kommission vom Europäischen Parlament aus und fordert eine Verantwortlichkeit der Kommission nur gegenüber dem Europäischen Rat. Nicht konsensfähig dürfte auch der französische Vorschlag sein, den Rat generell mit qualifizierter Mehrheit entscheiden zu lassen, insbesondere unter dem Blickwinkel des Art. 23 EUV, wonach der Rat im Bereich der GASP grundsätzlich einstimmig entscheidet.1162 Bezogen auf das Europäische Parlament besteht eine Divergenz zwischen den Vorschlägen des deutschen Außenministers Fischer und den Vorstellungen der anderen Nationen. Allein Fischer vertritt, dass das Europäische Parlament künftig aus nationalen Parlamentariern bestehen soll. Dies könnte zwar mit den Forderungen Frankreichs in Einklang zu bringen sein, die „Kette der Verantwortlichkeiten zu den Abgeordneten“ zu stärken, findet jedoch in den jüngeren Vorschlägen von Frankreich – wie auch in denen des Vereinigten Königreichs – keine Entsprechung.1163 Unterschiede bestehen des Weiteren hinsichtlich der detaillierten Ausgestaltung eines dauerhaften Vorsitzes des Europäischen Rates und des Rates, wobei die Unterschiede in diesem Bereich mehr das „Wie“ der Umsetzung der dauerhaften, einheitlichen Leitungsmacht vorbenannter Organe betreffen und nicht das „Ob“. Dass es zu einer solchen verstetigten Organspitze kommen soll, ist vielmehr einhellige Meinung. bb) Der „kleinste gemeinsame Nenner“ Es wäre Spekulation, prognostizieren zu wollen, welche der vorbenannten Auffassungen der drei größten Mitgliedstaaten der Europäischen Union sich schließlich durchsetzen werden. In den verschiedenen Positionen lassen sich jedoch neben den Unterschieden auch Gemeinsamkeiten finden. Aus diesen Gemeinsamkeiten lässt sich sozusagen der „kleinste gemeinsame Nenner“ der Zukunftsvorstellungen der Mitgliedstaaten betreffend die Finalität der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften vom heutigen Standpunkt aus ermitteln. 1162 Nach dem EV-E bliebe es im Bereich der GASP weiterhin bei der Einstimmigkeit, Art. III-201 Abs. 1 EV-E. 1163 Wobei zu berücksichtigen ist, dass sich Fischers Vorschläge ausdrücklich auf einen längeren Zeitraum, über dieses Jahrzehnt hinaus, beziehen, wohingegen die jüngeren, konkreteren Äußerungen Frankreichs und des Vereinigten Königreichs bereits in Richtung auf den anstehenden bzw. schon tagenden Verfassungskonvent getan wurden.

17*

260

F. Die demokratische Entwicklung im Post-Nizza-Prozess

Im Hinblick auf die künftige Rechtsform des vereinten Europa besteht schon heute Einigkeit zwischen dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Deutschland sowie den Auffassungen, die bei den Beitrittskandidaten vorherrschen. Alle vorbenannten Regierungen betonen, dass die Nationen auch in Zukunft nicht aus Europa wegzudenken sind, dass die „Föderation“, die sie sich vorstellen, eine Föderation souveräner Nationalstaaten sein wird, dass die Kompetenz, Aufgaben auf diese Föderation zu übertragen (Kompetenz-Kompetenz), bei den Mitgliedstaaten verbleiben soll. Diesen „Endzustand“ betreffend die Rechtsform haben die Europäische Union und ihre Gemeinschaften bereits heute erreicht. Bereits heute basieren die Europäische Union und ihre Gemeinschaften auf Übereinkünften zwischen den Mitgliedstaaten, also auf völkerrechtlichen Verträgen.1164 Die Rechtsform der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften soll sich demnach auch in Zukunft nicht ändern. Fusioniert werden die Europäische Union und ihre Gemeinschaften zwar insgesamt eine neue Qualität eines supranationalen Staatenverbundes sein, jedoch weiterhin auf völkerrechtlicher Grundlage. Auch inhaltlich soll es nicht zu einer Entleerung der Kompetenzen der Mitgliedstaaten kommen. Wesentliche Kernbereiche nationaler Souveränität im klassischen Sinne sollen weiterhin bei den Mitgliedstaaten verbleiben. So betonen die Briten, dass die GASP auch künftig grundsätzlich intergouvernemental organisiert bleiben soll, dass das Vereinigte Königreich sie nicht einer Mehrheitsentscheidung des Rates oder des Europäischen Rates überlassen wird. Die Franzosen wiederum betonen, dass sie die Sozialpolitik weiterhin grundsätzlich französisch – und nicht europäisch – regeln wollen. Die Mitgliedstaaten bleiben damit – um im Bild der gesamthänderischen Herrschaft über die Primärverträge zu bleiben – weiterhin die Gesellschafterversammlung, welche die Geschäftsführung überwacht und die Satzung bestimmt. Sie verbinden sich im Hinblick auf bestimmte Politiken zu einem joint venture, ohne ihre eigenen Gesellschaften gänzlich in diesem „joint venture“ aufgehen zu lassen.1165 Diese Gestalt des künftigen vereinten Europas spiegelt sich auch in den gemeinsamen Vorstellungen der vorbenannten Mitgliedstaaten von den künftigen Institutionen wieder. Der Europäische Rat, also das Forum, in dem die Staats- und Regierungschefs zusammenkommen, soll auch künftig über die „Richtlinien der Politik“ des vereinten Europa bestimmen (vgl. Art. 4 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 EUV). Dies unterstreicht den Charakter des vereinten Europa als Staatenverbund auf völkervertraglicher Grundlage. Zudem sollen die Exekutivbefugnisse des Rates, ebenfalls ein Organ, das mit Vertretern der Nationalstaaten im Kabinettsrang besetzt ist, weiter gestärkt werden. Des Weiteren sollen die nationalen Parlamente die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips, also desjenigen Prinzips, welches das Prinzip der beVgl. Hillgruber, Zukunftsperspektiven des vereinten Europa, S. 1 (10). Vgl. zu diesem „gesellschaftsrechtlichen Modell“: Hillgruber, Die Völkerrechtsfähigkeit der Europäische Union, S. 347 (366; Herrschaft „zur gesamten Hand“). 1164 1165

III. Finalität der EU – Staatenbund oder Bundesstaat?

261

grenzten Einzelermächtigung „verstärkt“, künftig – entweder institutionell oder ohne die Kreation einer neuen europäischen Institution – überwachen. Bei der „Gesetzgebung“ soll künftig die Kompetenz des Europäischen Parlaments zur gleichberechtigten Mitwirkung erweitert werden. Das Parlament und der Rat sollen gleichberechtigte „Kammern“ im Gesetzgebungsprozess werden. Die demokratische Legitimation soll also auch künftig über zwei Stränge verfügen, das Europäische Parlament und – mittelbar – die nationalen Parlamente, die ihrerseits die Regierungsvertreter im Rat demokratisch legitimieren und die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips überwachen.

2. Stellungnahme Ziel dieser Arbeit ist es nicht, die Vorschläge der – oben dargestellten – Mitgliedstaaten (rechts-)politisch zu kommentieren, sondern sie unter dem Aspekt der demokratischen Legitimation zu untersuchen. Dabei kommt es hier nicht darauf an, ob ein rechtspolitisch konstatiertes und beklagtes Demokratiedefizit bei der Umsetzung der vorbenannten Vorschläge vertieft oder vermindert werden würde, sondern ob die als „kleinster gemeinsamer Nenner“ bezeichnete gemeinsame Vorstellung der vorbenannten Mitgliedstaaten von der Finalität der Europäischen Union und der Gemeinschaften, insbesondere ihre institutionellen Ausprägungen, mit dem Demokratieprinzip des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG vereinbar ist. Wenn man die hier dargestellten Vorstellungen vorgenannter Mitgliedstaaten von der Finalität zusammenfasst, dann sind sie vom aktuellen Stand der Integration nicht so weit entfernt, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Vielleicht wird das vereinte Europa schon durch die geplante Regierungskonferenz 2004 die Struktur erhalten, die sie dauerhaft über einen längeren Zeitraum behalten wird und auf die sich Außenminister Fischers Vorstellung von der Finalität der Europäischen Union bezog.1166 So meinte Udo Di Fabio bereits, dass die „Europäische Union [womöglich] bereits heute diejenige Form gefunden [hat], die es lediglich ideell zu durchdringen, zu komplettieren, mit praktikablen Handlungsinstrumenten zu versehen und rechtlich klarer zu verfassen gilt“1167. Das vereinte Europa soll nach dem Willen der Mitgliedstaaten ein supranationaler Staatenverbund auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge bleiben. Sicherlich kommt es bei einer Stärkung des Europäischen Rates oder auch des Rates, wie dies insbesondere durch einen dauerhaften Vorsitz geplant ist, zu einem Fortschrei1166 Oppermann meint, indem im Verfassungsvertragsentwurf des Konvents Reizworte wie „föderal“ oder „immer engere Union“ vermieden wurden, sei die Frage offen gelassen worden, ob der Entwurf sich als endgültige Rechtsgestalt der EU verstehe oder künftig eine weitergehende Finalität angestrebt werde [ders., Eine Verfassung für die Europäische Union, 1. Teil, S. 1165 (1168)]. 1167 Di Fabio, Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, S. 94.

262

F. Die demokratische Entwicklung im Post-Nizza-Prozess

ten der Integration. Des Weiteren schreitet die Integration dadurch stetig fort, dass die Organe der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften von ihren Befugnissen, insbesondere denjenigen zur Rechtsetzung, Gebrauch machen und damit ein immer umfangreicheres europäisches Normenwerk schaffen. Mit der geplanten Stärkung der Überwachung des Subsidiaritätsprinzips durch die nationalen Parlamente würde jedoch zugleich ein wesentliches, den Integrationsprozess rechtlich steuerndes und einhegendes Element der Supranationalität und Nicht-Staatlichkeit der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften, nämlich das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, gestärkt werden. Und auch der erklärte Wille des Vereinigten Königreichs und Frankreichs, die GASP bzw. die Sozialpolitik im Grundsatz national zu belassen, setzt der Integration Grenzen. Mithin ist die Zielvorstellung der Mitgliedstaaten von der Rechtsform des künftigen vereinten Europa konform mit Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG. Die Nationalstaaten bleiben als Quellen demokratischer Legitimation erhalten. Die demokratische Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften soll auch künftig mittelbar durch die nationalen Parlamente und unmittelbar (und stützend) durch das Europäische Parlament erfolgen. Die Gleichstellung des Europäischen Parlaments mit dem Rat bei der Gesetzgebung führt zu einem Ausbau der (stützenden) demokratischen Legitimation durch das Parlament. Auf der anderen Seite soll es aber nicht zu einer „Abstufung“ des Rates zu einer Zweiten Kammer kommen1168, die mit der demokratischen Legitimation, die weiterhin „zuvörderst“ durch die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten erfolgen soll, nicht vereinbar wäre.1169 Der Vorschlag des Bundesaußenministers Fischer, künftig das Europäische Parlament mit Abgeordneten zu besetzen, die zugleich Mitglieder der nationalen Parlamente sind1170, wäre im Übrigen ebenfalls mit Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG vereinbar. Denn das vielbeklagte Fehlen der Aufmerksamkeit der Wähler bei Wahlen zum Europäischen Parlament und das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit sowie die fehlende Aktivität von Verbänden und Interessengruppen bei europäischen Wahlen, sind vorrechtliche „Schwächen“ betreffend die demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments, die bei den Wahlen zu den nationalen Parlamenten so nicht vorhanden sind. Hillgruber bezeichnete diesen Vorschlag Fischers deshalb zu Recht als wirklich weiterführend zur „Lösung des Demokratieproblems“.1171 Nicht mit Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG vereinbar dürfte der – mittlerweile relativierte – Vorschlag des Bundeskanzlers Gerhard Schröder sein, dass dem Parlament künftig die volle Budgethoheit zustehen solle. Dies würde im Hinblick auf haushaltsbelastende Maßnahmen der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften zu einem generellen Parlamentsvorbehalt führen. Eine solche „Parlamentarisierung der Europäischen Union nach dem Muster Vgl. Di Fabio, Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, S. 98. Ebenso im Ergebnis Di Fabio, Eine europäische Charta, S. 737 (742); Zuleeg, S. 1069 (1073); Grimm, S. 581 (590). 1170 Fischer (siehe Fn. 1141), S. 1 – 8 (5 f.). 1171 Hillgruber, Zukunftsperspektiven zur Rechtsform des vereinten Europa, S. 1 (10). 1168 1169

III. Finalität der EU – Staatenbund oder Bundesstaat?

263

des nationalen Verfassungsstaats“ würde „das europäische Demokratieproblem“ eher verschärfen, als lösen.1172 Denn das Europäische Parlament hätte somit indirekt über den Hauhalt auch die Hoheit über die ihm nicht zugewiesenen Teile der Herrschaftsgewalt und ein dazu entschlossenes Parlament könnte dies zu einer Parlamentarisierung der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften nutzen.1173 In die Richtung einer „Überdehnung“ der Parlamentarisierung der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften gehen auch die Vorschläge, die eine Wahl der Kommission alleine durch das Europäische Parlament fordern – wogegen sich das Vereinigte Königreich stellt. Die demokratische Legitimation der Kommission muss vielmehr weiterhin auch über den Rat oder den Europäischen Rat erfolgen, da es ansonsten zu einer Entkoppelung der Kommission von der demokratischen Legitimation durch die nationalen Parlamente käme, die mit Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG wohl nicht vereinbar wäre.

Nach alledem werden die Europäische Union und ihre Gemeinschaften auch in dem von vorbenannten Mitgliedstaaten angestrebten (vorläufigen) Endzustand ihrer Struktur nach den demokratischen Grundsätzen, wie in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG gefordert, entsprechen. Davon losgelöst ist selbstverständlich die Frage, ob die geplanten Reformen die „tiefe Akzeptanzkrise bei den Bürgern der Gemeinschaft“ und ein rechtspolitisches „Defizit an demokratischer Legitimation und Transparenz“1174 überwinden werden.

Vgl. Grimm, S 581 (589) m. w. N. Vgl. hierzu, vor dem Hintergrund des preußischen Heeres- und Verfassungskonflikts, Hillgruber, in: von Mangoldt / Klein / Strack, Bd. III, Art. 110, Rz. 13 ff. 1174 Hirsch, S. 2677 (2678). 1172 1173

G. Schlussbetrachtung Ein juristisches Demokratiedefizit in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften gibt es – auch nach dem Vertrag von Nizza – nicht. Aus dem Völkerrecht und dem Europarecht selbst folgen keine Vorgaben für die demokratische Struktur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften. Jedoch folgt aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, dass die Europäische Union über demokratische Strukturen verfügen muss, wobei diese Vorschrift nicht die Europäische Union und ihre Gemeinschaften selbst verpflichtet, sondern die deutschen Verfassungsorgane. Die demokratischen Mindeststandards des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG werden von der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften erreicht. Die „Union“ wird – mittelbar – durch die einzelstaatlichen Parlamente und – stützend – unmittelbar durch das Europäische Parlament demokratisch legitimiert. Ob ein rechtspolitisches Demokratiedefizit in der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften existiert, ob und wie die Gemeinschaft von den Bürgern „angenommen“ wird und ob die demokratische Legitimation der Union „optimal“ ist, war nicht Gegenstand dieser Untersuchung – und hängt darüber hinaus von der politischen Einstellung des Betrachtenden ab –, wobei in der rechtswissenschaftlichen Literatur oftmals juristische und rechtspolitische Argumentation miteinander vermengt werden. Durch den Vertrag von Nizza wurden die Europäische Union und ihre Gemeinschaften nicht wesentlich verändert, sie bleiben internationale bzw. supranationale Organisationen ohne eigene Souveränität oder Verfassungsautonomie. Der von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG geforderte schrittweise Ausbau der stützenden demokratischen Legitimation der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften durch das Europäische Parlament wurde durch einen begrenzten Kompetenzausbau und die Verbesserung der demokratischen Legitimation des Parlaments selbst – infolge der Reduktion der Zählwertungleichheit der Wählerstimmen – erreicht. Auch nach Nizza bleibt die demokratische Legitimation der Union und der Gemeinschaften durch das Parlament jedoch bloß eine „stützende“. Zudem wird es im Zuge der Osterweiterung der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften durch eine weitere Angleichung der Sitzanteile der Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament an ihren jeweiligen Bevölkerungsanteil voraussichtlich zu einer weiteren Verbesserung der inneren demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments kommen. Die geplanten Änderungen der Verträge durch den Verfassungsvertrag, der vom Konvent vorbereitet worden ist und der – nach dem vorläufigen Scheitern der Regierungskonferenz von Brüssel am 12. / 13. Dezember 20031175 – voraussicht1175

Die EU vor einer ungewissen Zukunft, in: FAZ Nr. 291 v. 15. Dezember 2003, S. 1 f.

G. Schlussbetrachtung

265

lich 2004 von den Mitgliedstaaten unterzeichnet werden soll, aber auch die Vorstellungen der Mitgliedstaaten über die Finalität der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften, sind inhaltlich gesehen kein „revolutionärer Akt“. Viele der Finalitätsvorstellungen der Repräsentanten der Mitgliedstaaten haben bereits Eingang in den Verfassungsvertragsentwurf gefunden. Das Wesen der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften als internationale bzw. supranationale Organisationen auf der Basis völkerrechtlicher Verträge soll weder nach dem Verfassungsvertragsentwurf noch nach den Fernzielen der Mitgliedstaaten verändert werden. Ein Ausbau des „vereinten Europa“ oder einer künftigen „europäischen Föderation“ zu einem Bundesstaat ist nicht geplant. Dementsprechend werden die Nationalstaaten als unentbehrliche Quelle demokratischer Legitimation des vereinten Europa und als voll souveräne Staaten erhalten und weiterhin die „Herren der Verträge“ bleiben. Und auch die beabsichtigten institutionellen Veränderungen innerhalb dieses „neuen“ vereinten Europa werden das institutionelle Gefüge nicht grundsätzlich verändern. Europäischer Rat und Ministerrat sollen einen dauerhafteren Vorsitz erhalten, die Mitentscheidungsbefugnisse des Europäischen Parlaments, die bereits beim status quo des Vertrages von Nizza den größten Teil der Rechtsetzungsmaterien umfassen, bei welchen der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet – und darüber hinaus auch solche, bei denen der Rat einstimmig entscheidet –, sollen bis zur gleichberechtigten Mitentscheidung mit dem Rat bei der künftigen „Gesetzgebung“ ausgebaut werden. Demnach wird es bei der Umsetzung der beabsichtigten Reformen ein Demokratiedefizit im Sinne des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, welches der Bundesrepublik Deutschland ein weiteres Mitwirken an der europäischen Integration versagen würde, auch im künftigen vereinten Europa nicht geben. Das Ziel eines souveränen europäischen Bundesstaates wird – zumindest von den Mitgliedstaaten – weiterhin nicht angestrebt. Eine künftige „Europäische Verfassung“ oder ein künftiger „Europäische Verfassungsvertrag“ soll nach dem Willen der Mitgliedstaaten keine revolutionäre Änderung der Legitimationsgrundlagen der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften bewirken, sondern das vereinte Europa „komplettieren, mit praktikablen Handlungsinstrumenten versehen und rechtlich klarer verfassen“1176. Der Verfassungsvertrag wird womöglich das Ergebnis einer Debatte sein, welche die Mitgliedstaaten über den vorläufigen Endzustand der europäischen Integration führen mussten, nachdem sich die Methode Monnet selbst überholt hatte und die Akzeptanz des vereinten Europa seitens der Bürger – erkennbar an Wahlbeteiligung und dem Ausgang von Ratifikations-Referenden – zunehmend zurückging.

1176

Vgl. Di Fabio, Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, S. 94.

Thesen 1. In der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften gibt es juristisch gesehen kein Demokratiedefizit [siehe D., III., 3., g)]. 2. Ein Demokratiegebot für die Europäische Union und ihre Gemeinschaften folgt weder aus dem Völkerrecht noch aus dem Europarecht [siehe D., II., 1., d); D., II., 2., d)]. 3. Aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ergibt sich ein Demokratiegebot für die Europäische Union und ihre Gemeinschaften. Adressat dieses Demokratiegebotes sind allerdings nicht die Europäische Union und ihre Gemeinschaften, sondern die Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland [siehe D., II., 3., g)]. 4. Aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG folgen demokratische Mindestanforderungen an die Europäische Union und ihre Gemeinschaften [siehe D., II., 3., f), bb)]. 5. Die demokratischen Mindeststandards des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG werden von der Europäischen Union und ihren Gemeinschaften erreicht [siehe D., III., 3.]. 6. Die Mindeststandards des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG sind dynamisch. Im Fortgang der Integration fordert Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG einen schrittweisen Ausbau der demokratischen Legitimation der Union und ihrer Gemeinschaften [siehe E., I., 3.]. 7. Durch den Vertrag von Nizza werden die Europäische Union und ihre Gemeinschaften nicht wesentlich verändert. Sie bleiben internationale respektive supranationale Organisationen ohne eigene Souveränität oder Verfassungsautonomie. Der von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG geforderte schrittweise Ausbau der stützenden demokratischen Legitimation durch das Europäische Parlament wurde durch einen begrenzten Kompetenzausbau und die Verbesserung der demokratischen Legitimation des Parlaments selbst erreicht [siehe E., IV., 5.]. 8. Im Zuge der Osterweiterung der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften kommt es durch eine weitere Angleichung der Sitzanteile der Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament an ihre jeweiligen Bevölkerungsanteile zu einer weiteren Verbesserung der demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments [siehe F., I.]. 9. Der Verfassungsvertragsentwurf des vom Europäischen Rat von Laeken eingesetzten Konvents brächte keine fundamentale Änderung der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften hinsichtlich ihrer Rechtsnatur bzw. ihrer Beziehungen zu den Mitgliedstaaten. Die „Verfassung“ bliebe trotz ihres Namens ein völkerrechtlicher Vertrag. Nach dem Verfassungsvertragsentwurf käme es

Thesen

267

zu einer Vertiefung der Vergemeinschaftung. Das Fortschreiten der Integration ginge insgesamt gesehen einher mit einem Ausbau der demokratischen Legitimation der Union durch die Verbesserung der Zählwertgleichheit der Wählerstimmen und die erhebliche Erweiterung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments im Bereich der Gesetzgebung sowie die verstärkte Einbeziehung der nationalen Parlamente in das institutionelle Gefüge der EU [siehe F., II., 3., d)]. 10. Auch eine Europäische Union in der Gestalt, die sie nach den Vorstellungen der Mitgliedstaaten Vereinigtes Königreich, Frankreich und Deutschland sowie nach der bei den Beitrittsstaaten vorherrschenden Auffassung von der Finalität der EU und der EG hätte, würde den Mindestanforderungen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG genügen. Nach den Vorstellungen vorgenannter Mitgliedstaaten soll die Europäische Union auch künftig eine „Föderation“ souveräner Nationalstaaten auf völkerrechtlicher Grundlage sein. Die KompetenzKompetenz sowie wesentliche Kernbereiche nationaler Souveränität sollen bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Die demokratische Legitimation soll auch künftig durch die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament erfolgen. Die Gleichstellung des Europäischen Parlaments mit dem Rat bei der Gesetzgebung würde zu einem Ausbau der (stützenden) demokratischen Legitimation durch das Europäische Parlament führen. Auf der anderen Seite soll es nicht zu einer „Abstufung“ des Rates zu einer Zweiten Kammer kommen [siehe F., III., 2.].

Anhang

15,88

60.012

377.920

Gesamt 626

87

25 16 99 25 64 87 15 87 6 31 21 25 16 22

Sitze (alt)

100,00

13,90

3,99 2,56 15,81 3,99 10,22 13,90 2,40 13,90 0,96 4,95 3,35 3,99 2,56 3,51

Sitze (in %, alt)

7023,96

689,79

410,52 334,94 831,42 424,92 629,16 680,36 255,93 659,17 73,50 515,71 387,05 402,44 324,69 404,36

535

72

22 13 99 22 50 72 12 72 6 25 17 22 13 18

100,00

13,46

4,11 2,43 18,50 4,11 9,35 13,46 2,24 13,46 1,12 4,67 3,18 4,11 2,43 3,36

8312,61

833,50

466,50 412,23 831,42 482,86 805,32 822,10 319,92 796,50 73,50 639,48 478,12 457,32 399,62 494,22

1,00

–0,44

–0,12 0,13 2,69 –0,12 –0,87 –0,44 0,16 –0,44 –0,16 0,28 0,17 –0,12 0,13 0,15

Einwohner Sitze (neu) Einwohner Sitze Proporpro Sitz (in %, neu) pro Sitz tionalitäts(in 1.000, alt) (in 1.000, neu) gewinn

Mit Hinweis auf Quelle: OECD, Labour Force Statistics.-1) Inkl. Ostdeutschland.

* Quelle für Bevölkerungszahlen: Bundesanstalt „Statistik Österreich“ (Bundesanstalt öffentlichen Rechts), Bevölkerung im Jahresdurchschnitt 2001, www.statistik.at / statistische_uebersichten / deutsch / pdf / k16t10.pdf.

100,00

2,72 1,42 21,78 2,81 10,65 15,66 1,02 15,17 0,12 4,23 2,15 2,66 1,37 2,35

10.263 5.359 82.311 10.623 40.266 59.191 3.839 57.348 441 15.987 8.128 10.061 5.195 8.896

Bevölkerung Bevölkerung (in %) (in 1.000)*

Belgien Dänemark Deutschland Griechenland Spanien Frankreich Irland Italien Luxemburg Niederlande Österreich Portugal Finnland Schweden Vereinigtes Königreich

Mitgliedstaat

Anhang I

Sitzverteilung im Europäischen Parlament nach dem Vertrag von Nizza

Anhang 271

*) Mittelwert Differenz (alt): 1,52. **) Mittelwert Differenz (neu): 1,45.

1,00

21,82**) 100,00 22,82*)

100,00

100,00

Gesamt

–0,12 0,13 2,69 –0,12 –0,87 –0,44 0,16 –0,44 –0,16 0,28 0,17 –0,12 0,13 0,15 –0,44 1,39 1,01 3,28 1,30 1,30 2,20 1,22 1,71 1,00 0,44 1,03 1,45 1,06 1,01 2,42 4,11 2,43 18,50 4,11 9,35 13,46 2,24 13,46 1,12 4,67 3,18 4,11 2,43 3,36 13,46

1,27 1,14 5,97 1,18 0,43 1,76 1,38 1,27 0,84 0,72 1,20 1,33 1,19 1,16 1,98

3,99 2,56 15,81 3,99 10,22 13,90 2,40 13,90 0,96 4,95 3,35 3,99 2,56 3,51 13,90

2,72 1,42 21,78 2,81 10,65 15,66 1,02 15,17 0,12 4,23 2,15 2,66 1,37 2,35 15,88

Belgien Dänemark Deutschland Griechenland Spanien Frankreich Irland Italien Luxemburg Niederlande Österreich Portugal Finnland Schweden Vereinigtes Königreich

Proportionalitätsgewinn

Differenz (neu)

Sitze (in %, neu)

Differenz (alt)

Sitze (in %, alt)

Bevölkerung (in %)

Mitgliedstaat

Unterschied zwischen Sitzanteil und Bevölkerungsanteil nach dem Vertrag von Nizza

Anhang I.1

272 Anhang

18 Tiedtke

25,00

l Be

g

elgien änemark 20,00 eutschland riechenland panien 15,00 ankreich and lien 10,00 xemburg ederlande sterreich 5,00 ortugal nnland chweden 0,00 ereinigtes önigreichien

k ar m e än D

(in %)

D

eu

ch ts

15,88 nd la

2,72 1,42 21,78 2,81 10,65 15,66 1,02 15,17 0,12 4,23 2,15 2,66 1,37 2,35

en ch ir e G

nd la

a Sp

n

n 13,90 ie

3,99 2,56 15,81 3,99 10,22 13,90 2,40 13,90 0,96 4,95 3,35 3,99 2,56 3,51

F

i re nk ra

ch

d an Irl ie

n bu em x Lu

Mitgliedstaat

l Ita

rg N

ie

rla de

e nd

h ic rre e st Ö

ga rtu Po

Sitzverteilung im Europäischen Parlament vor dem Vertrag von Nizza Graphische Übersicht: Verhältnis Bevölkerungsanteil / Sitzanteil (in %)

Anhang I.2

l n Fi

a nl

nd

e ed

n

es gt ni i re Ve

hw Sc

ch ei gr i n Kö

Anhang 273

l Be

g

n ie

k ar em n ä D

e D

hl sc ut

25,00 g (in %) elgien 2,72 änemark 1,42 eutschland 21,78 20,00 riechenland 2,81 panien 10,65 rankreich 15,66 15,00 and 1,02 alien 15,17 uxemburg 0,12 10,00 iederlande 4,23 sterreich 2,15 ortugal 2,66 5,00 nnland 1,37 chweden 2,35 reinigtes 0,00 nigreich 15,88

d an

ri e G

ch

l en

an

13,46

4,11 2,43 18,50 4,11 9,35 13,46 2,24 13,46 1,12 4,67 3,18 4,11 2,43 3,36

d

i an Sp

en Fr

e kr an

h ic Irl

an

d ie

n L

bu em x u

Mitgliedstaat

l Ita

rg ie N

d

la er

e nd

h ic re er t s Ö

rtu Po

Sitzverteilung im Europäischen Parlament nach dem Vertrag von Nizza Graphische Übersicht: Verhältnis Bevölkerungsanteil / Sitzanteil (in %)

Anhang I.3

ga

l n Fi

nl

an

d

en es gt ni i re Ve

ed hw c S

h ic re ig n Kö

274 Anhang

18*

15,88

60.012

377.920

Gesamt 87

10

5 3 10 5 8 10 3 10 2 5 4 5 3 4

100,00

11,49

5,75 3,45 11,49 5,75 9,20 11,49 3,45 11,49 2,30 5,75 4,60 5,75 3,45 4,60

49580,42

6001,20

2052,60 1786,33 8231,10 2124,60 5033,25 5919,10 1279,67 5734,80 220,50 3197,40 2032,00 2012,20 1731,67 2224,00

Stimmen Stimmen Einwohner (alt) (in %, alt) pro Stimme (in 1.000, alt)

237

29

12 7 29 12 27 29 7 29 4 13 10 12 7 10

Stimmen (neu)

100,00

12,24

5,06 2,95 12,24 5,06 11,39 12,24 2,95 12,24 1,69 5,49 4,22 5,06 2,95 4,22

Stimmen (in %, neu)

18095,09

2069,38

855,25 765,57 2838,31 885,25 1491,33 2041,07 548,43 1977,52 110,25 1229,77 812,80 838,42 742,14 889,60

8,91

0,75

0,69 0,50 0,75 0,69 0,71 0,75 0,50 0,75 0,61 0,26 0,38 0,69 0,50 0,38

Einwohner Proporpro Stimme tionalitäts(in 1.000, neu) gewinn

Mit Hinweis auf Quelle: OECD, Labour Force Statistics.-1) Inkl. Ostdeutschland.

* Quelle für Bevölkerungszahlen: Bundesanstalt „Statistik Österreich“ (Bundesanstalt öffentlichen Rechts), Bevölkerung im Jahresdurchschnitt 2001, www.statistik.at /statistische_uebersichten / deutsch / pdf / k16t10.pdf.

100,00

2,72 1,42 21,78 2,81 10,65 15,66 1,02 15,17 0,12 4,23 2,15 2,66 1,37 2,35

10.263 5.359 82.311 10.623 40.266 59.191 3.839 57.348 441 15.987 8.128 10.061 5.195 8.896

Bevölkerung Bevölkerung (in 1.000)* (in %)

Belgien Dänemark Deutschland Griechenland Spanien Frankreich Irland Italien Luxemburg Niederlande Österreich Portugal Finnland Schweden Vereinigtes Königreich

Mitgliedstaat

Anhang II

Stimmverteilung im Rat nach dem Vertrag von Nizza

Anhang 275

82.311 60.012 59.191 57.348 40.266 38.667 15.987 10.623 10.290 10.263 10.092 10.061 8.896 8.128 5.393 5.359 5.195 3.839 3.701 2.439 1.978 1.446 752 441 377 453.055

Deutschland Vereinigtes Königreich Frankreich Italien Spanien Polen Niederlande Griechenland Tschechische Republik Belgien Ungarn Portugal Schweden Österreich Slowakei Dänemark Finnland Irland Litauen Lettland Slowenien Estland Zypern Luxemburg Malta Gesamt 4,11 4,11 3,36 3,18

22 22 18 17 13 13 12

6 535

2,72 2,67 2,66 2,35 2,15

1,42 1,37 1,02

0,12

100 100

1,12

2,43 2,43 2,24

4,67 4,11

25 22

4,23 2,81

18,50 13,46 13,46 13,46 9,35

Sitze (in %)

99 72 72 72 50

Sitze

21,78 15,88 15,66 15,17 10,65

Bevölkerung (in %, alt)

8.313

73,50

412,23 399,62 319,92

457,32 494,22 478,12

466,50

639,48 482,86

Einwohner pro Sitz (in 1.000, alt) 831,42 833,50 822,10 796,50 805,32 18,17 13,25 13,06 12,66 8,89 8,53 3,53 2,34 2,27 2,27 2,23 2,22 1,96 1,79 1,19 1,18 1,15 0,85 0,82 0,54 0,44 0,32 0,17 0,10 0,08 100

Bevölkerung (in %, neu) 99 78 78 78 54 54 27 24 24 24 24 24 19 18 14 14 14 13 13 9 7 6 6 6 5 732

Sitze (neu) Sitze (in %, neu) 13,52 10,66 10,66 10,66 7,38 7,38 3,69 3,28 3,28 3,28 3,28 3,28 2,60 2,46 1,91 1,91 1,91 1,78 1,78 1,23 0,96 0,82 0,82 0,82 0,68 100 Einwohner pro Sitz (in 1.000, neu) 831,42 769,38 758,86 735,23 745,67 716,06 592,11 442,63 428,75 427,63 420,50 419,21 468,21 451,56 385,21 382,79 371,07 295,31 284,69 271,00 282,57 241,00 125,33 73,50 75,40 10.995 1,05

0,28

0,28 0,30 0,29

0,39 0,37 0,36

0,38

0,28 0,36

Proportionalitätsgewinn –1,37 –0,17 –0,20 –0,29 –0,21

Quelle für Bevölkerungszahlen der neuen Mitgliedstaaten: KOM (2000) 34 endg., Anhang III.

Mit Hinweis auf Quelle: OECD, Labour Force Statistics.-1) Inkl. Ostdeutschland.

* Quelle für Bevölkerungszahlen alte Mitgliedstaaten: Bundesanstalt „Statistik Österreich“ (Bundesanstalt öffentlichen Rechts), Bevölkerung im Jahresdurchschnitt 2001,www.statistik.at / statistische_uebersichten / deutsch / pdf / k16t10.pdf.

Bevölkerung (in 1.000)*

Mitgliedstaat

Sitzverteilung im Europäischen Parlament nach der Osterweiterung

Anhang III 276 Anhang

Differenz (alt) 3,28 2,42 2,20 1,71 1,30 8,53 0,44 1,30 2,27 1,39 2,23 1,45 1,01 1,03 1,19 1,01 1,06 1,22 0,82 0,54 0,44 0,32 0,17 1,00 21,82*)

Sitze (in %, alt) 18,50 13,46 13,46 13,46 9,35 4,67 4,11 4,11 4,11 3,36 3,18 2,43 2,43 2,24

1,12 100

Bevölkerung (in %, alt) 21,78 15,88 15,66 15,17 10,65

4,23 2,81

2,72

2,66 2,35 2,15

1,42 1,37 1,02

0,12

100

*) Mittelwert Differenz (alt): 1,45. **) Mittelwert Differenz (neu): 1,14.

Deutschland Vereinigtes Königreich Frankreich Italien Spanien Polen Niederlande Griechenland Tschechische Republik Belgien Ungarn Portugal Schweden Österreich Slowakei Dänemark Finnland Irland Litauen Lettland Slowenien Estland Zypern Luxemburg Malta Gesamt

Mitgliedstaat Bevölkerung (in %, neu) 18,17 13,25 13,06 12,66 8,89 7,38 3,53 2,34 3,28 2,27 3,28 2,22 1,96 1,79 1,91 1,18 1,15 0,85 1,78 1,23 0,96 0,82 0,82 0,10 0,08 100

Sitze (in %, neu) 13,52 10,66 10,66 10,66 7,38 1,15 3,69 3,28 1,01 3,28 1,05 3,28 2,60 2,46 0,72 1,91 1,91 1,78 0,96 0,69 0,52 0,50 0,65 0,82 0,68 100 0,72 0,60 28,62**)

0,73 0,76 0,93

1,06 0,64 0,67

1,01

0,16 0,94

Differenz (neu) 4,65 2,59 2,40 2,00 1,51

1,05

0,28

0,28 0,30 0,29

0,39 0,37 0,36

0,38

0,28 0,36

Proportionalitätsgewinn –1,37 –0,17 –0,20 –0,29 –0,21

Unterschied zwischen Sitzanteil im Europäischen Parlament und Bevölkerungsanteil nach der Osterweiterung

Anhang III.1

Anhang 277

(in %, neu)

(in %, neu) 13,52

10,66 10,66 10,66 7,38 7,38 3,69 3,28

18,17

13,25 13,06 12,66 8,89 8,53 3,53 2,34

2,27 3,28 2,27 3,28 2,23 3,28 2,22 3,28 1,96 2,60 1,79 2,46 1,19 1,91 1,18 1,91 1,15 1,91 nd 0,85 1,78 n n d h e n n k n d n d d n n h ei ta al ik rg ch c nd c nd n en e e ie er ar ar lie al bl an rlan aue tlan de nd 1,78 ak ei ei la la ei gi ug ol ni 0,82 bu g a l u r r t a e r uen chla m t M en nl l t n yp r a I r w n P I st e k p it r g m e w n i e e p e Z o o w i n e L U t l e E B e n h n L S o ts P a F s x ä S land 0,54 ied ch 1,23R Sl Ö D Sc Fr Kö e eu Lu rie 0,96 D wenien 0,44N ch G es t s i andinig 0,32 ch 0,82 he 0,82 re c e ern 0,17 V Ts emburg 0,10 0,82 Mitgliedstaat ta 0,08 0,68

tschland 18,00 einigtes igreich 16,00 nkreich en 14,00 nien en 12,00 derlande echenland 10,00 hechische ublik 8,00 gien 6,00 arn tugal 4,00 weden erreich 2,00 wakei emark 0,00 nland

20,00

Sitzverteilung im Europäischen Parlament nach der Osterweiterung Graphische Übersicht: Verhältnis Bevölkerungsanteil / Sitzanteil (in %)

Anhang III.2

278 Anhang

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Personen- und Sachverzeichnis Amtswalter 85, 109, 114, 144 Außenminister der Union 211, 216, 217, 219, 241, 242, 244, 246 Äußeres Demokratiedefizit 29, 31, 33 Austritt aus der Union 211, 222, 223, 225 Beitrittsländer 199, 206, 247, 257, 258 Besonderer Ministerrat 23, 24 Blair, Tony 247, 248, 249 Bundesstaat 39, 46, 73, 94, 106, 119, 127, 157, 158, 159, 165, 193, 222, 223, 247, 249, 250, 255, 265 Chirac, Jacques 213, 250, 252, 255 COSAC 150 Demokratiedefizit 21, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 42, 56, 57, 58, 60, 61, 85, 101, 103, 111, 112, 119, 126, 127, 157, 158, 159, 161, 163, 167, 251, 261, 264, 265 Die Generalermächtigung Art. 308 EGV 48, 49, 50, 51, 136, 170, 216, 222, 234 Doppelhut 217, 249, 258 Einheitliche Europäische Akte 27, 50, 51 Einheitliches Wahlverfahren 239 EMRK 49, 59, 60, 64, 68, 215 Entlastungsbefugnis 138, 140 Euro-Gruppe 225, 227 Eurojust 174 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl 23, 24, 25, 46, 171 Europäischer Gerichtshof 126 Evolutivklauseln 48, 135, 136, 152, 234, 246 EZB 128, 129, 174, 231 Finalität der Europäischen Union 22, 198, 247, 252, 253, 255, 258, 259, 261, 265 Fischer, Josef (Joschka) 206, 209, 247 Fusion der Organe 25

GASP 47, 110, 137, 138, 217, 221, 242, 243, 244, 249, 251, 256, 257, 258, 259, 260, 262 Generalermächtigung Art. 308 EGV 49, 50, 51, 136, 170, 216, 222, 234 Gericht 1. Instanz 126 Gerichtshof 23, 24, 25, 26, 50, 126, 132, 148, 186, 197, 218 Gesamtberichtsdebatte 138, 140 Gewaltenteilungsprinzip 29, 33, 71, 90, 91 Giscard d’Estaing, Valéry 7, 198, 202, 208 Hohe Behörde 23, 24 Homogenität der Wertvorstellungen 70 Initiativbefugnis 133, 140, 216, 233 Initiativmonopol 30, 31, 55, 116, 130, 131, 133, 134, 233 Initiativrecht 31, 133, 137, 180, 216, 234, 249, 257 Inneres Demokratiedefizit 35, 119 Institutionelle Reformen 42, 248 Institutionelle Vergemeinschaftung 168, 169, 172, 215, 246, 259 Institutionelles Gleichgewicht 31, 67, 91 Integrationsfortschritt 117, 154, 168, 190, 232 Interpellationsrecht 90, 92, 138, 140 IPbpR 58, 59, 60 Kommissionspräsident 28, 31, 77, 110, 113, 141, 169, 186, 188, 189, 218, 219, 220, 235, 236, 242, 243, 244, 245, 251, 254, 255 Kompetenz-Kompetenz 48, 49, 50, 51, 53, 54, 60, 76, 104, 106, 164, 168, 213, 214, 222, 225, 227, 230, 231, 246, 255, 260, 264 Kontrollbefugnisse 136, 138, 139, 140, 157, 166, 168, 189, 197, 232

Personen- und Sachverzeichnis Legitimationssubjekt 73, 74, 84, 93, 94, 95, 97, 98, 100, 102, 108, 109, 120, 127, 144, 188 Maastricht-Urteil 35, 50, 154, 156, 165, 228 Majoritätsprinzip 33 Mandatskontingente 34, 36, 37, 38, 42, 66, 119, 121, 122, 23, 124, 125, 162, 163, 167, 176, 177, 187, 188, 216, 220, 233, 234, 237, 239, 240, 246 Mehrheitsprinzip 33, 61, 86, 87, 102, 114, 125, 151, 196, 244 Mehrheitswahlrecht 118, 124, 125 Mittelbar-repräsentative Demokratie 88, 89, 91 Monnet, Jean 23, 24, 265 Nicht-Staatlichkeit der Europäischen Union 74, 75, 81, 93, 104, 154, 162, 223, 250, 262 Organisatorisch-personelle demokratische Legitimation 84, 85, 92, 111, 117, 126, 127, 144, 152, 193, 197, 241, 242 Parlamentarische Demokratie 33, 89, 90, 91, 92, 94, 96, 97, 104, 105, 108, 129, 140, 142, 145, 146, 153, 166, 232 Parlamentarische Versammlung 26 Parlamentarisches Regierungssystem 66, 73, 74, 89, 90, 107, 139, 140, 166, 232, 235 Parlamentsvorbehalt 29, 32, 91, 92, 100, 101, 107, 108, 130, 140, 262 PJZS 47, 138, 221, 244, 257 Post-Nizza-Prozess 22, 198, 202 Präsident des Europäischen Rates 211, 216, 217, 241, 246 Primärrechtsetzung 163, 164, 167, 232, 233, 236 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 48, 51, 54, 164, 214, 222, 228, 241, 261, 262 Raffarin, Jean-Pierre 250, 251 Rechtsnatur der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften 45, 164, 214, 250 19 Tiedtke

289

Schröder, Gerhard 252, 253, 255, 262 Sekundärrechtsetzung 130, 148, 164, 165, 166, 189, 236, 246 Selbstgesetzgebung 133 Souveränität 106, 228, 244, 250, 255, 258, 260, 264 Souveränitätsteilung 51, 253, 255 Staatenbund 247 Stimmgewichtung im Rat 39, 170, 173, 180, 188, 193, 195 Straw, Jack 209, 213, 243, 249 Stützende demokratische Legitimation durch das Europäische Parlament 97, 100, 101, 113, 116 Subsidiaritätsprinzip 54, 55, 104, 204, 222, 223, 240, 241, 248, 251, 257, 260, 262 Supranationalisierung 172, 185, 187, 215, 217, 218, 219, 220 Supranationalität 46, 143, 189, 194, 195, 227, 250, 262 Transnationalisierung 147 Transparenz 142 Transparenz der Entscheidungsverfahren 39, 40, 41, 142, 172, 194, 195, 198, 204, 205, 248, 251, 252, 263 UNO 61, 226, 227 Vereinte Nationen 61, 226, 227 Verfahren der Mitentscheidung 28, 29, 31, 32, 101, 132, 140, 141, 144, 160, 181, 190, 191, 192, 193, 204, 216, 234 Verfahren der obligatorischen Anhörung 133 Verfahren der Zusammenarbeit 133 Verfassungsautonomie 48, 49, 50, 51, 53, 54, 60, 76, 104, 106, 164, 168, 213, 214, 222, 225, 227, 230, 231, 246, 255, 260, 264 Verfassungskonvent 22, 198, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 211, 212, 213, 214, 216, 224, 225, 228, 233, 234, 240, 243, 247, 248, 249, 255, 257, 258, 259, 261, 264 Verfassungsvertrag 205, 208, 209, 210, 211, 213, 214, 226, 231, 243, 245, 246, 250, 253, 255, 264, 265

290

Personen- und Sachverzeichnis

Verhältniswahlrecht 35, 118, 124, 125 Vertrag von Amsterdam 28, 29, 31, 36, 62, 65, 101, 118, 120, 131, 141, 142, 145, 167, 169, 170, 180, 183, 186, 191, 196 Vertrag von Maastricht 27, 74, 93, 99, 117, 171, 189, 243 Vertrag von Nizza 21, 23, 34, 45, 154, 162, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 177, 178, 179, 180, 181, 183, 184, 185, 186, 187, 189, 190, 191, 192, 194, 196, 197, 198, 200, 203, 218, 233, 254, 264, 265

Vertragsänderungen 27, 69, 75, 76, 102, 134, 146, 147, 149, 164, 170, 202, 207, 210, 214, 216, 222, 223, 224, 225, 226, 229, 231, 233, 234, 249 Völkerrechtliches Demokratiegebot 56, 60 Vorrechtliche Voraussetzungen für Demokratie 41, 43 Wahlsysteme, unterschiedliche 35, 36, 124, 125, 220, 240 Zunehmende Integration 168