Demokratie in der Defensive: Funktionelle Abnutzung - soziale Exklusion - Globalisierung. Elemente einer Verfassungstheorie VII. Hrsg. von Ralph Christensen [1 ed.] 9783428503186, 9783428103188

Die vorliegende Studie – Teil VII der analytisch ansetzenden »Elemente einer Verfassungstheorie« – stützt sich auf die B

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Demokratie in der Defensive: Funktionelle Abnutzung - soziale Exklusion - Globalisierung. Elemente einer Verfassungstheorie VII. Hrsg. von Ralph Christensen [1 ed.]
 9783428503186, 9783428103188

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FRIEDRICH MÜLLER Demokratie in der Defensive

Schriften zur Rechtstheorie Heft 197

Demokratie in der Defensive Funktionelle Abnutzung soziale Exklusion - Globalisierung Elemente einer Verfassungstheorie V I I

Von Friedrich Müller Herausgegeben von Ralph Christensen

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Müller, Friedrich: Demokratie in der Defensive : funktionelle Abnutzung - soziale Exklusion - Globalisierung / von Friedrich Müller. Hrsg. von Ralph Christensen. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Elemente einer Verfassungstheorie / von Friedrich Müller ; 7) (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 197) ISBN 3-428-10318-1

Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-10318-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Einleitung des Herausgebers Rechtsstaatliche Demokratie: Vom legalistischen zum sprachreflexiven Verständnis Dieser Band umfaßt sechs unveröffentlichte Vortragstexte, die auf einer Basis von Öffentlichem Recht und Verfassungsvergleichung, von Sprach- und Sozialwissenschaften die Verfassungstheorie von Demokratie voranbringen. Grundlegende Antriebskraft für die Strukturierende Rechtslehre ist es seit langem, ein realistisches Konzept rechtsstaatlicher Demokratie zu entwickeln. Die direkte Demokratie als Selbstherrschaft des Volkes findet, wie Friedrich Müller in seiner frühen Auseinandersetzung mit Rousseau zeigt, ihre Schranke nicht nur an der Größe heutiger Gemeinwesen, sondern vor allem daran, daß wir kein Volk von Göttern voraussetzen können.1 Die repräsentative Demokratie weist demgegenüber das Risiko auf, daß das Volk auf dem Weg zu seiner Herrschaft verloren geht, daß also die Verbindung zwischen dem Volkswillen und der schließlich im Einzelakt ausgeübten staatlichen Vollstreckung reißt. Zur Lösung dieses Problems versucht Friedrich Müller, rechtsstaatliche Form und demokratische Politik zusammen zu denken.2 Wenn Selbstherrschaft nicht als direkte Demokratie durchgängig möglich ist, muß man jedenfalls sicherstellen, daß das Volk auf dem Weg über die Gesetze sich selbst codiert. Dieser Gedanke wird aber bei Friedrich Müller nicht ikonisch verwendet zur Rechtfertigung bestehender Herrschaft, sondern es wird die Möglichkeit einer solchen Selbstcodierung konkret untersucht. Die Problematik rechtsstaatlicher Demokratie wird damit auf eine neue Ebene gehoben. Bisher wurde das Verständnis demokratischer Selbstcodierung legalistisch verkürzt: das Volk gibt sich im demokratischen Prozeß Gesetze; wenn der Richter den Inhalt dieser Gesetze ausspricht und anwendet, kommt der Volkswille zum einzelnen zurück. Man verläßt sich damit allein auf das Gesetz als Text. Das Verfahren und die dort vorgebrachten Argumente, der Richter und seine Ausbildung, die kritische Kommentierung der Praxis durch Wissenschaft und Öffentlichkeit und viele weitere Umstände spielen in diesem Modell keine prinzipielle Rolle. Es ist der objektive Inhalt des Gesetzes, der sicherstellt, daß die Selbstcodierung ι Vgl. dazu Friedrich Müller, Entfremdung, Berlin 1970, 2. Aufl. 1985; ders., Der Denkansatz der Staatsphilosophie bei Rousseau und Hegel, in: Der Staat 10 (1970) S. 215 ff. 2 So programmatisch als Titel bei Friedrich Müller, Rechtsstaatliche Form-demokratische Politik, Berlin 1977.

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des Volkes in der staatlichen Praxis einlösbar bleibt. Eine auf ihre Bedeutungsinhalte durchsichtige und problemlos beherrschbare Sprache wird damit zur Grundvoraussetzung rechtsstaatlicher Demokratie. So mündet eine legalistische Verkürzung der Demokratietheorie in eine idealistische Verkürzung der Sprachtheorie, und beide verbinden sich zur Ikone rechtsstaatlicher Demokratie, welche weit abgehoben und anschlußlos über der staatlichen Praxis schwebt. Die zur Einlösung dieses Modells nötige Grundvoraussetzung ist gerade nicht verfügbar. Sprache ist nie vollkommen transparent, und die Bedeutung von Texten verschiebt sich bei ihrer Übertragung auf neue Kontexte. Und diese sind wegen ihrer Unabschließbarkeit nie vollkommen beherrschbar. In ihrer Kritik des herkömmlichen Gesetzespositivismus und der klassischen Hermeneutik Gadamerscher Provenienz hat die Strukturierende Rechtslehre herausgearbeitet, daß die Vorstellung endlicher Kontexte, die zudem zu einer Sinnmitte des Textes zusammengefaßt werden können, einer realistischen Analyse der Rechtspraxis nicht standhält.3 Deswegen war nach der Verabschiedung idealistischer Sprachtheorien das Problem rechtsstaatlicher Demokratie neu zu denken. Wenn man mit Friedrich Müller davon ausgeht, daß der Richter Recht nicht anwendet, sondern erzeugt, scheint damit der Faden zwischen Volk und Gesetz, zwischen Rechtsstaat und Demokratie zu reißen. Das Ziel des Autors ist es, diese Verbindung in realistischer Einschätzung der tatsächlichen und sprachlichen Bedingungen neu zu knüpfen. Um das Postulat rechtsstaatlicher Demokratie einzulösen, muß man den Prozeß der Herstellung von Rechtsnormen im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion zu überprüfbaren Strukturen entwickeln. Ansatzpunkt sind dabei die in der Begründung von Gerichtsentscheidungen erkennbaren Standards der Praxis, welche im Rahmen einer Theorie der Praxis 4 zu verallgemeinerungsfähigen Arbeitselementen fortentwickelt werden. Mit diesem Ansatz eines die Rechtserzeugung im Hinblick auf die Demokratie reflektierenden Rechtsstaatsverständnisses war die Strukturierende Rechtslehre in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts zunächst noch allein. Nicht nur wurde ihr von konservativer Seite die Auflösung der festen Gewißheiten des Gesetzes zum Vorwurf gemacht, sondern auch von kritischer Seite wurde ihr unterstellt, emanzipatorische Gehalte des Rechtsstaatsgedankens ohne Not aufzugeben. War es doch gerade eine der Errungenschaften der damaligen Zeit, den bloß formalen Rechtsstaat mit seiner Exklusion großer Teile des Volkes aus dem Recht zum materialen Rechtsstaat erweitert zu haben. Heute dagegen sind die Grenzen dieser in seiner Notwendigkeit nicht zu bestreitenden Erweiterung des Rechtsstaatsgedankens klar erkennbar.

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Vgl. dazu Friedrich Müller, Juristische Methodik, seit der ersten Auflage 1971. Dazu schon Friedrich Müller, Fragen einer Theorie der Praxis, in: AöR 95 (1970), S. 154 ff., sowie ders., Juristische Methodik und politisches System, Berlin 1976, S. 33 ff. zum Stichwort Explikation; ders., Juristische Methodik, 7. Auflage 1997, Randnummern 536 ff. 4

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Die Krise 5 dieses Modells knüpft sich vor allem an zwei Momente: einmal an die verstärkte Rolle der Justiz mit dem Stichwort Richterstaat6 und dann die Überforderung des Gesetzes7 als sozialstaatliches Steuerungsinstrument. 8 Wegen eines erheblichen Vollzugsdefizits produziert die Legislative nur noch symbolische Gesetzgebung,9 wodurch eine Delegitimierung von Recht und Politik sowie eine Desintegration der betroffenen Sozialsysteme droht. 10 Das regulatorische Trilemma 11 5 Vgl. zu diesem Stichwort mit weiteren Nachweisen Ernst Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: ders./Werner Maihofer/Hans-Joachim Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Auflage 1994, Berlin, New York 1994, S. 746 ff. sowie Eberhard Schmidt-Aßmann, Rechtsstaat, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 1, Heidelberg 1987, § 24, S. 987 ff.; Ingeborg Maus, Entwicklung und Funktionswandel der Theorie des bürgerlichen Rechtsstaats, in: Mehdi Tohidipur (Hrsg.), Der bürgerliche Rechtsstaat, Band 1, Frankfurt am Main 1978, S. 13 ff.; dies., Verrechtlichung, Entrechtlichung und der Funktionswandel von Institutionen, in: dieselbe, Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, München 1986, S. 277 ff.; Klaus Günther, Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des regulativen Rechts, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben, Frankfurt am Main 1990, S. 51 ff. 6 Vgl. dazu Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt am Main 1991; Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, Kapitel VI. 7 Vgl. dazu Franz Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Demokratischer und autoritärer Staat, Wien, Frankfurt 1967, S. 31 ff. sowie Klaus Günther, Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des regulativen Rechts, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben, Frankfurt am Main 1990, S. 51 ff.; Dieter Grimm, Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention, in: KritV 1986, S. 38 ff.; Ernst-Wilhelm Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, in: ders., Recht, Freiheit, Staat, Frankfurt am Main 1991, S. 189 ff.; Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, S. 519 ff.; insbesondere zum Verlust normativer Autorität ebenda, S. 521 f. sowie Eberhard Denninger, Der Präventions-Staat, in: KJ 1988, S. 1 ff., 7 sowie die Beiträge in dem Band Gesetzesflut - Gesetzesperfektionismus, Verhandlungen des 53. Deutschen Juristentages, Band II, Sitzungsbericht Q, München 1980 sowie WDStRL Heft 40 (1982) und grundsätzlich Rainer Holtschneider, Normenflut und Rechts versagen: wie wirksam sind rechtliche Regelungen? Baden-Baden 1991. 8

Vgl. dazu Werner Schönig (Hrsg.), Sozialstaat wohin? Umbau, Abbau oder Ausbau der sozialen Sicherung, Darmstadt 1996; Alfred Zaenker, Der bankrotte Sozialstaat. Wirtschaftsstandort Deutschland im Wettbewerb, München 1994; für die amerikanische Diskussion Ulrike Wössner, Die Debatte um den amerikanischen Sozialstaat, Frankfurt am Main 1995). Zur Frage von Vollzugsdefiziten: Renate Mayntz (Hrsg.), Implementation politischer Programme. Empirische Forschungsberichte, Königstein/Taunus 1980; dies. (Hrsg.), Implementation politischer Programme II. Ansätze zur Theoriebildung, Opladen 1983; Rainer Holtschneider, Normenflut und Rechtsversagen: wie wirksam sind rechtliche Regelungen? Baden-Baden 1991. 9 Vgl. dazu Peter Noll, Symbolische Gesetzgebung, in: Zeitschrift für schweizerisches Recht 1981, S. 347 ff.; Harald Kindermann, Symbolische Gesetzgebung, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. ΧΙΠ, Opladen 1988, S. 222 ff. sowie Monika Voß, Symbolische Gesetzgebung, Fragen zur Rationalität von Gesetzgebungsakten, Ebelsbach 1989. 10

Vgl. dazu Gunther Teubner, Das regulatorische Trilemma. Zur Diskussion um postinstrumentale Rechtsmodelle, 13 Quaderni Fiorentini per la Storia del Pensiero Giuridico Moderno (1984), S. 109 ff. sowie ders., Verrechtlichung - Begriffe, Merkmale, Grenzen, Aus-

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der sozialstaatlichen Verrechtlichungsflut ist aber nur ein Faktor, der zu einem Neudurchdenken der Rechtsstaatstheorie führt. Neben die Überforderung des Gesetzes tritt noch die Überforderung der Justiz. Wenn man der Justiz die Aufgabe zuweist, soziale Probleme durch Rechtserkenntnis zu lösen, muß diese richterliche Erkenntnis mit Maßstäben unterfüttert werden, die hinter die Errungenschaften des formalen Rechtsstaatsbegriffs zurückfallen. 12 Eine solche Rematerialisierung des Rechtsstaats, wie sie etwa unter Rückgriff auf die sogenannten objektiven Werte in der Wertungsjurisprudenz vollzogen wurde, 13 führt nur dazu, eine absolutistische Entscheidungsmacht des Richters hinter der rhetorischen Fassade von Werten zu verstecken. Die Krise des Rechtsstaats liegt nun darin, daß man trotz der begrenzten Steuerungsfahigkeit des Gesetzes und trotz der fehlenden Zugriffsmöglichkeit der Gerichte auf objektive Werte nicht einfach zur altliberalen Vorstellung einer Herrschaft des Gesetzes zurückkehren kann. Vielmehr müssen die auf der materiellen Stufe des Rechtsstaats entstandenen Aufgaben von wachsender Staatstätigkeit und erhöhter Steuerungsanforderung an die Gerichte bewältigt werden, ohne hinter die technischen Standards des formalen Rechtsstaats zu regredieren. Die Lösung dieses Problems verlangt einen Neuansatz, für den verschiedene Bezeichnungen vorgeschlagen werden: prozedurales Recht, 14 mediales Recht,15 reflexives Recht 16 usw. 17 Die Rechtsprechung wird danach nicht mehr als Rechtsanwendung begriffen, sondern als Rechtsproduktion. 18 Das Rechtssystem erscheint wege, in: Friedrich Kübler (Hrsg.), Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, Vergleichende Analysen, Baden-Baden 1984, S. 289 ff. 11 Vgl. dazu auch Alexander Somek, Rechtssystem und Republik, Wien, New York 1992, S. 464 mit einem für den Verfasser typischen „Fußnotenaufsatz" in Fn. 1033. 12 Vor einer solchen Rematerialisierung des Rechtsstaats warnt schon Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Teil 2, 5. Auflage, Tübingen 1972, Kapitel VII, § 8, S. 503 ff. 13

Vgl. zur Kritik an diesem Ansatz Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, Kapitel V. 14 Vgl. dazu Rudolf Wiethölter, Entwicklung des Rechtsbegriffs, in: Volker Gessner/Gerhard Winter (Hrsg.), Rechtsformen der Verflechtung von Staat und Wirtschaft, Opladen 1982, S. 38 ff.; ders., Zum Fortbildungsrecht der (richterlichen) Rechtsfortbildung, in: KritV 1988, S. 1 ff.), prozeduralistisches Rechtsparadigma {Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, Kapitel IX). 15 Axel Görlitz, Mediales Recht als politisches Steuerungskonzept, in: ders. (Hrsg.), Politische Steuerung sozialer Systeme, Pfaffenweiler 1989, S. 13 ff. 16 Gunther Teubner, Reflexives Recht, in: ARSP 1982, S. 13 ff.; ders., Recht als autopoietisches System, Frankfurt am Main 1989, Kapitel 5; ders. /Helmut Willke, Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Selbststeuerung durch reflexives Recht, in: ZfRSoz 1984, S. 4 ff.; Helmut Willke, Ironie des Staates, Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft, Frankfurt am Main 1992. 17 Vgl. zu einem Überblick von weiteren Begriffen Axel Görlitz (Hrsg.), Postinterventionistisches Recht, in: Jahrbuch für Rechtspolitologie 1, Pfaffenweiler 1989. is Vgl. Gralf-Peter Calliess, Prozedurales Recht, Baden-Baden 1999, S. 136. - In der Diskussion seit: Friedrich Müller, Normstruktur und Normativität, 1966.

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dann nicht mehr als Gesamtheit der Normen, sondern als Gesamtheit der Handlungen, die Normen erzeugen und das heißt als Kommunikationssystem.19 Von dieser Voraussetzung aus kann man die Rechtsprechung als Rechtserzeugung in Zusammenarbeit mit dem Gesetzgeber und eben nicht mehr als bloße Rechtserkenntnis aus dem Gesetzestext begreifen. Dann stellt sich für den Rechtsstaatsgedanken ein neues Problem: das Normieren des Normierens. 20 Das war aber seit der Mitte der sechziger Jahre gerade das Ausgangsproblem der Strukturierenden Rechtslehre. Der Rechtsstaat greift zu kurz, wenn er die Anwendung des Rechts fordert, denn dieses wird vom Richter und dem Verfahren mit geschaffen. Weder das Gesetzbuch noch die Methodik können das Recht vorgeben. Erst im Prozeß gewinnt es seine Bestimmtheit. Deswegen muß dieser Vorgang der Rechtserzeugung überformt werden von den verfassungsrechtlichen Vorgaben her. Damit bleibt im Prozeß die Widerständigkeit des materiellen Rechts als Argumentationsinstanz erhalten. Das Verfahren stellt unter Ausnutzung der Konfliktperspektive der Beteiligten sicher, 21 daß die bessere Lesart des Gesetzes sich durchsetzt. Weil die Einheit der Rechtsordnung als stabiles Sinnzentrum weder methodisch noch im Verfahren verfügbar ist, bleibt der zum Verfahren relative Stand der Argumente das Beste, was erreicht werden kann. Der verfassungstheoretische Neuansatz der Strukturierenden Rechtslehre läßt sich damit als (sprach)reflexiver Rechtsstaatsbegriff kennzeichnen. Der Richter muß, linguistisch gesehen, einen Bedeutungskonflikt entscheiden, indem er eine Sprachnorm aufstellt. Fraglich ist, ob er bei dieser Sprachnormierung selbst unter normativen Anforderungen steht. Der Bedeutungskonflikt führt uns zu einem Paradox: „Entscheidungen gibt es nur, wenn etwas prinzipiell Unentscheidbares (nicht nur: Unentschiedenes!) vorliegt. Denn andernfalls wäre die Entscheidung schon entschieden und müßte nur noch ,erkannt* werden." 22 Was kann also an einer Entscheidung über einander ausschließende Lesarten normiert werden? Beide Lesarten sind verständlich und gehören damit zur Sprache. Zu entscheiden ist, welche von beiden die bessere ist. Es geht nicht um die Auffindung einer Sprachregel, sondern um eine Sprachnormierung. Welche von beiden verständlichen Lesarten des Gesetzes ist vorzuziehen? Genau hier liegt nun der Ansatzpunkt der verfahrensbezogenen Normen aus dem Umkreis des Rechtsstaatsprinzips.23 Die aus dem Rechtsstaatsprinzip und an19 Vgl. dazu übereinstimmend für die Diskurstheorie Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1981; ders., Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992 und zum anderen aus der Sicht der Systemtheorie: Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt am Main 1984; derselbe, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993 und Gunther Teubner, Recht als autopoietisches System, Frankfurt am Main 1989. 20 Vgl. dazu Gralf-Peter Calliess, Prozedurales Recht, Baden-Baden 1999, S. 149. 21 Vgl. Niklas Luhmann, Konflikt und Recht, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt am Main 1999, S. 92 ff. - Dazu schon Friedrich Müller /Ralph Christensen/Michael Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997. 22 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1993, S. 308

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deren methodenbezogenen Normen abgeleiteten Forderungen nach Kontrollierbarkeit und Nachvollziehbarkeit juristischen Handelns beziehen sich auf den mit der Formulierung von Sprachregeln verknüpften Prozeß der Sprachnormierung. Die Notwendigkeit der Sprachnormierung, welche sich aus dem Konflikt der Lesarten ergibt, setzt auch die Möglichkeit einer Sprachkritik als metakommunikative Auseinandersetzung über die Sprachnorm. Wenn Kommunikation kein durch vorgegebene Regeln automatisierter Vorgang ist, sondern Raum für sinnkonstitutive Akte enthält, dann beinhaltet sie auch die Möglichkeit einer kommunikativen Ethik, die diese gestalterischen Eingriffe kritisierbar macht. Die linguistische Diskussion kann somit jedenfalls die strukturelle Möglichkeit von Bindungen beim Prozeß der Regelerzeugung dartun, indem sie auf die Sprachreflexionen als Ermöglichungsbedingung für die Entwicklung einer kommunikativen Ethik hinweist. Das Rechtsstaatsprinzip mit seinen Anforderungen an die Begründung juristischer Entscheidungen kann insoweit als ein kodifizierter Sonderfall kommunikativer Ethik angesehen werden. Es kodifiziert eine bestimmte Kultur des Streitens, welche als Auseinandersetzung über sprachliche Normierung auch im alltäglichen Handeln vorkommt, im juristischen Bereich aber durch Rechtsprechung und Lehre eine spezifische Ausprägung erfahren hat. Zur Konkretisierung seiner Maßstäblichkeit muß der Ist-Zustand der praktischen Rechtsarbeit an seinen Soll-Maßstäben gemessen und dort, wo erforderlich, zu begrifflich verallgemeinerungsfähigen Elementen fortentwickelt werden. Wenn man also die Steuerungskraft des Gesetzes und die Rolle der Gerichte realistisch einschätzt, muß man den Rechtsstaatsgedanken von der zu einfachen Vorstellung bloßer Rechtsanwendung ablösen, das legalistische Rechtsstaatsverständnis verabschieden24 und als sprachreflexives Rechtsstaatsverständnis reformulieren. 25 Nur eine vom Rechtsstaatsprinzip her geprägte Rechtserzeugungslehre kann den Anforderungen gerecht werden, die im Rahmen einer Wissensgesellschaft an Gesetz und Gerichte gestellt werden, ohne durch vorschnelle Rematerialisierungen hinter den technischen Stand des formalen Rechtsstaatsbegriffs zurückzufallen. Im einzelnen ergeben sich aus dem Ansatz einer Rechtserzeugungsreflexion viele Einsichten, von denen hier nur einige der im vorliegenden Band bearbeiteten angesprochen werden sollen. So läßt sich ζ. B. die Rolle der Präjudizien für die Herstellung einer Entscheidung wesentlich präziser bestimmen. Präjudizien binden die Gerichte nicht wie Normtexte, aber sie sind zu beachten, d.h. sie müssen nicht 23 Als Maßstab für die Beurteilung der Frage, was Praxis zu leisten hat, sind in interner Betrachtung die Anforderungen der Verfassung heranzuziehen. Vgl. Friedrich Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997 Randnummern 289 ff., u. ö.; jetzt auch Stefan Brink, 1999:46 ff. 24 Programmatisch für eine nachpositivistische Rechtstheorie formuliert bei Alexander Somek/Nikolaus Forgó, Nachpositivistisches Rechtsdenken, Wien 1996, S. 357 ff. - Das nachpositivistische (und auch von Anfang an so genannte) Konzept wird elaboriert bei Friedrich Müller seit der ersten Auflage der »Juristischen Methodik" (1971). 2 5 Vgl. dazu auch Alexander Somek, Rechtssystem und Republik, Wien/New York 1992, S. 475 ff.

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wie Normtexte in die Argumentation integriert werden, sondern können durch bessere Argumente widerlegt werden (vom Sonderfall des § 31 BVerfGG abgesehen). Überhaupt kann die Strukturierende Rechtslehre, dort wo die herkömmliche Lehre sprachlich vorgegebene Gewißheiten postuliert, stattdessen Argumentationslasten sichtbar machen. Das genau ist auch die Aufgabe der juristischen Methodik als Selbstbeobachtung der Disziplin. Damit trifft sich die Strukturierende Rechtslehre mit Einsichten der allgemeinen philosophischen Argumentationstheorie. Auch dort begreift man, wie die Strukturierende Rechtslehre im Recht, die eigene Tätigkeit als aufstufende Selbstreflexion der jeweiligen Praxis. Daher kann auch juristische Methodik nie die Anwendung einer philosophischen Argumentationstheorie sein. Aber natürlich können beide Disziplinen voneinander lernen. Es bedarf für eine wirkliche Theorie der Praxis auch einer begleitenden Außenperspektive, wobei sich Linguistik, Rhetorik und philosophische Argumentationstheorie zur Ergänzung anbieten. Diese Möglichkeit hat die Strukturierende Rechtslehre auch im vorliegenden Band beständig wahr genommen, aber ohne daß die genannten Disziplinen die juristische Methodik ersetzen könnten. Ein zentraler Punkt, der wiederum zum Ausgangsproblem einer rechtsstaatlichen Demokratie zurückführt, ist die Entwicklung der Struktur Konstitutionalität Legalität - Legitimität, welche geeignet ist, die Formtypik einer Verfassung zu kennzeichnen. Es genügt für eine Verfassung noch nicht, positiviert zu sein, sie muß auch in praktischen Fällen lege artis angewendet werden (Legalität) und die wesentlichen Grundfragen der Gemeinschaft diskursiv offenhalten (Legitimität). In der Trias dieser Begriffe sind nun präzisere Explikationen besonders von „Konstitutionalität" und „Legitimität" möglich, als sie bisher geläufig waren. Im Horizont dieser Fragestellung wird etwas sichtbar, was bisher im Recht noch nicht thematisiert wurde: das Problem der sozialen Exklusion. Diesem Grundproblem einer alt gewordenen Moderne ist die abschließende Studie gewidmet. Heute wird schon in den Metropolen sichtbar, was man früher als ein Randphänomen der dritten Welt abqualifizieren wollte: der Mechanismus nämlich, daß der Ausschluß aus einem Funktionssystem der Gesellschaft kettenreaktiv generalisiert wird und als Ausschluß aus allen Funktionssystemen schließlich die Folge hat, daß Menschen nur noch als Körper existieren. Gegenüber diesem stetig wachsenden Problem genügt es nicht, mit Luhmann auf die Religion zu vertrauen, daß sie die Auswirkungen mildern möge. Es handelt sich um ein politisches Problem. Die Demokratie, von Friedrich Müller nicht als homogene Gemeinschaft, 26 sondern als Erschwerung real oligarchischer Herrschaft über das Volk verstanden, ist eine inklusive Gemeinschaft, die für alle Menschen offen ist wie auch für das Entstehen neuer Differenzen. Deswegen ist Exklusion im Recht ein politisches Problem, und als solches wird es von Friedrich Müller bearbeitet. 26

Volk als „eine in sich differente, gemischte, gruppierte, aber gleichheitlich und undiskriminiert organisierte Vielheit": Friedrich Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995, S. 91.

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Der vorliegende Teil V I I der ,Elemente einer Verfassungstheorie', stützt sich in seinem Beobachtungsmaterial auch auf Länder der peripheren Moderne wie Brasilien und Südafrika. Gefahren für die Demokratie werden dabei anhand konkreter Probleme, wie Wahlrecht und präsidiale Notverordnung, im einzelnen diskutiert, aber immer in grundsätzlicher Perspektive. Diese mündet dann mit dem Skandal der Exklusion in die Einschätzung einer Demokratie in der Defensive gerade dort, wo eine Offensive nötig wäre.

Inhaltsverzeichnis Α. Eine Grundfrage der Demokratie

15

B. Zur Rolle der Präjudizien im modernen kontinentaleuropäischen Recht - ein Beispiel für die Bedingungen demokratischer Steuerung der Gesellschaft durch Normtexte

19

C. Verordnungen mit Gesetzeskraft (Medidas Provisórias) in Brasilien vor dem Hintergrund der deutschen Erfahrungen

29

D. Aktuelle Legitimationsfragen des Wahlrechts in Deutschland und Brasilien

44

I. Zu den Begriffen und Legitimationsmodellen II. Aktuelle Streitfragen ΠΙ. Wahlverhalten und Legitimität

44 46 52

E. Konstitutionalität - Legalität - Legitimität in der rechtsstaatlichen Demokratie

54

F. Welcher Grad an sozialer Ausgrenzung kann von einem demokratischen System noch ertragen werden?

73

I. Exklusion und Demokratie

73

1. Einleitung

73

2. „Demokratisches System"

75

3. „Soziale Exklusion"

77

II. Globalisierung und Demokratie

84

Α. Eine Grundfrage der Demokratie* Durch welche Sprechweise im demokratischen Diskurs verrät sich, hier rühre man an eine Grundfrage? Demokratische Verfassungen und die Funktionsträger ihres Herrschaftssystems reden am liebsten und am häufigsten vom „Volk". Der Grund dafür ist einfach: sie müssen sich rechtfertigen, wie alle Machtformen, und die Berufung auf das Volk liefert die schlüssigste Legitimation. Dennoch - bei näherem Zusehen: gerade deswegen - wird die einfache Frage „Wer ist dieses Volk?" als eine analytische nie aufgeworfen. Es wird stillschweigend unterstellt, daß das doch jeder wisse - ein typischer Legitimationsdiskurs, der beschwichtigt, statt Transparenz zu schaffen. Wenn man die Frage aber stellt, und das geschieht hier, beginnen interessanterweise die größten Schwierigkeiten: faktische Inländer?, rechtliche Inländer?, Staatsangehörige?, Inhaber der bürgerlichen Ehrenrechte?, Wahlberechtigte?, nur Erwachsene?, nur Angehörige bestimmter ethnischer, bestimmter religiöser, bestimmter sozialer Gruppen? In ungezählten historischen und /oder aktuellen Staaten, die sich „demokratisch" nannten oder nennen, gibt es abgestufte Berechtigungen, gröbere oder subtilere Diskriminierungen, mehr oder weniger juridifizierte Privilegien; gibt es Exklusionen und Inklusionen, die das, was real „Volk" heißen könnte, zu einem verwirrenden Mosaikbild verschwimmen lassen. Es zeigt sich schnell, daß „Volk" kein einfacher und kein empirischer Begriff ist; es ist ein artifizieller, ein zusammengesetzter, ein wertender; ja, es ist oft genug ein Kampfbegriff und ist es immer gewesen. Historisch wird das in diesem Buch kurz von einem Rückblick auf die sumerische Polis über Athen und Rom und die christliche Urkirche bis in die Gegenwart verfolgt, wo durch Praktiken wie Vertreibung, Umsiedlung, ethnische „Säuberung" das jeweils von den Herrschenden gewünschte „Volk" manipuliert oder erzwungen wird. Solche Barbarei im Namen von „Demo"kratie ist "-kratie" im härtesten Sinn, hat aber nichts mit „Demos" zu tun: „Volk" als selektiver Ausdruck, als Zweckbegriff, als Kriegsparole. Wo dagegen im Prinzip funktionierende Verfassungsstaaten gegeben sind, fungiert „Volk" seltener als Ikone illusionärer Legitimität; es fungiert aber immer noch auf ganz verschiedene Weise: sei es als Aktivvolk, sei es als globale Rechtfertigungsinstanz, sei es als reale Bevölkerung mit dem Status, Adressat zivilisatori* Ansprache vor der Universidade de Säo Paulo zur Vorstellung des Buches Quem é ο Povo? (Säo Paulo 1998; 2. Aufl. 2000); dt. Wer ist das Volk?, 1997.

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Α. Eine Grundfrage der Demokratie

scher Staatsleistungen zu sein, wie: Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit, faire Verfahren der Staatsgewalt. All das wird analysiert mit den Mitteln der Rechtslinguistik (Gebrauchsweisen des Terminus „Volk" in der Praxis), der Verfassungsvergleichung (zwischen Brasilien und Deutschland), der Politikwissenschaft und der Soziologie (vor allem zu dem bedrückenden und entlegitimierenden Massenphänomen der Exklusion). Die Untersuchungen führen zu Ergebnissen, die sowohl theoretisch als auch positivrechtlich formulierbar sind. Wodurch wird Herrschaft eigentlich hervorgebracht? Herrschaft wird nicht durch eine Verfassung erzeugt; durch diese wird bestehende Herrschaft nur - und auch das nur zum Teil - nachträglich organisiert und, versuchsweise, legitimiert. Die immer schon bestehende Herrschaft ist ein Grundphänomen menschlicher Gruppen; sogar ganz formloser, wie ζ. B. einer Wohngemeinschaft oder einer Reisegesellschaft. Die Soziologie hat solche - auch informellen - Vorgänge beispielsweise unter dem Stichwort,»Prozesse der Machtbildung" untersucht. In Großgruppen sind es ökonomisch / soziale Machtzentren, die de facto herrschen, Eigentumsund Finanzoligarchien, aber auch Militärzentren (so etwa regionale warlords) und die ihnen zuarbeitenden Funktionseliten und Stäbe. In demokratischen Systemen wird reale Herrschaft innerhalb des Herrschaftsdiskurses textlich/prozedural - eben durch eine hinzutretende Verfassungs- und Rechtsordnung - vielfach vermittelt und verdünnt „vom Volk" abgeleitet. Real wird sie von ihm aber niemals ausgeübt. Selbst der bedingungslose Demokrat Jean-Jacques Rousseau räumte ein, zur Selbstregierung bedürfte es eines „Volkes von Göttern". Ein solches sind wir nicht. Das Volk der Menschen dient immer weiter dazu, Legitimität auch noch der Tatsache, beherrscht zu werden, verschaffen zu sollen. Diese immer bestehende Herrschaft ist oligarchisch strukturiert: auch der Diktator braucht seine Einheitspartei, der Kaiser seine Fürsten, der König seine beratende Kamarilla. Herrschaft ist grundsätzlich ein oligarchisches Phänomen - und die Bevölkerung gehört nicht zu diesen oligoi. Soll „Demokratie" mehr als ein ideologisches Argument, mehr als ein ikonisches Reden sein, so bleibt auf der einen Seite nur der bewaffnete Aufstand, den die Völker immer wieder einmal unternehmen - und der immer wieder dazu führt, daß sie oligarchisch (ggf. vorübergehend von anderen oligoi) beherrscht werden. Oder es bleibt, aussichtsreicher und vor allem gewaltlos, die Möglichkeit, beim Denken von „Demokratie" zu beginnen und die Achse der Wahrnehmung umzudrehen: in diesem Wort ist nicht zuletzt „kratein" umzuwerten. Auch durch Maßnahmen wie Ausweitung des Wahl- und Stimmrechts, Durchsetzung von Grundrechten und Verfahrensgarantien, verwirklichte Gleichheit vor dem Gesetz wird das Volk nicht in die Position gebracht, Subjekt von Herrschaft zu sein. Aber diese und an-

Α. Eine Grundfrage der Demokratie

dere demo„kratische" Maßnahmen tragen dazu bei, durch ausgebaute Rechte der Menschen im Staat die Herrschaft der Oligarchen dieses Staats zu erschweren, zu komplizieren, zu begrenzen. Durch das Volk als Aktivvolk, das Volk als Legitimationsinstanz und das Volk als Adressat staatlicher Rechtsleistungen wird diese umwertend neue Sicht auf Demokratie institutionalisiert, kann das Gemeinwesen demokratischer werden. Soweit die Hinweise darauf, wie dieser Text historisch, sozialwissenschaftlich und juristisch operiert; wie er die Analyse weitertreibt. Jetzt führe ich Sie an die Innenseite des Problems heran. Ich erlaube mir dazu einen ungewöhnlichen Weg: Ich berichte, wie es zu der Widmung kam, die Sie in diesem Buch sehen: a Claudia Leitäo e a seus alunos (für C. L. und für ihre Studenten). Claudia Leitäo, Schülerin von Paulo Bonavides in Fortaleza, von José Eduardo Faria in Säo Paulo und von Michel Maffesoli an der Pariser Sorbonne ist Professorin für Soziologie, Anthropologie und Verwaltungslehre an der Staatlichen Universität von Cearà. Im Jahre 1996 sprach ich vor ihren post-graduate-Studenten der Sozialwissenschaften. Die Studenten fragten mich, welche Rolle das deutsche Volk bei der Wiedervereinigung 1989 gespielt habe. Ich berichtete, daß die Realität gar nicht begeisternd war: Mit dem Ruf „ Wir sind das Volk!" brachte, vor allem auf den Leipziger Demonstrationen, zunächst die Bevölkerung der DDR ihr autoritäres Regime ins Wanken. Doch nach wenigen Wochen wurde diese revolutionäre Parole, unter Mithilfe der Bonner Parteizentrale des Bundeskanzlers, rhetorisch und materiell umgebogen in „Wir sind ein Volk!". Das war nun schon etwas anderes; besser hätte es jetzt geheißen: „Wir sind eine Nation! " Denn das „Volk" als der urdemokratische Souverän war da schon hinausgedrängt - durch eine Beeinflussung, die in der Zeitgeschichte inzwischen als gesichert dargestellt wird. Unter „Nation " möchte ich dabei die kollektive Imago eines Landes verstehen; sie ist einmal mehr ethnisch, historisch, machtpolitisch, in anderen Fällen eher sprachlich/kulturell, auch verfassungsgemäß („République", etc.) bestimmt - notwendig demokratisch ist sie nicht. Dagegen meine ich mit „Volk" das kollektiv-personale Substrat eines demokratischen politischen Systems, also einen notwendig demokratischen Begriff. Was nach der Volkserhebung hätte kommen müssen, war dies: eine „Vereinigung", getragen durch authentische Aktivität des Volkes und normiert durch Volksreferendum über eine neue Verfassung. Der letzte Artikel (Art. 146) des alten Grundgesetzes von 1949 hatte genau das vorgesehen. Aber all das kam nicht. Stattdessen gab es den sogenannten ,3eitritt": eine bürokratisch-juristische und vor allem finanziell-ökonomische Einverleibung ohne neue Verfassung und schon wieder - wie 1949 - ohne direkte Mitwirkungsmöglichkeit für das Volk. Deswegen hört man heute, sagte ich den Studenten, in Ostdeutschland viele gerade auch gesellschaftlich-politisch enttäuschte Deutsche mit Bitterkeit sagen: „Wir waren das Volk". 2 F. Müller

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Α. Eine Grundfrage der Demokratie

An dieser Stelle meldete sich ein Student zu Wort. Er sagte: „Unser Problem in Brasilien müßte man dann formulieren „Wir sind noch nie ein Volk gewesen". In der anschließenden Diskussion faßte ich den Gedanken, die Frage neu zu stellen, sie einmal radikal zu stellen: Wer ist das Volk? Claudia Leitäo und die Studenten drängten mich, es in einem Buch zu tun, in einem Buch für ihr Land. Ich habe es ihnen versprochen. Das war im September 1996. Nun liegt dieses Buch vor uns. Mit ihm ist eine positivrechtlich, eine rechts- und verfassungstheoretisch neue Basis formuliert - ein neuer Vorschlag auch für den politikwissenschaftlichen Demokratiediskurs. Beginnen wir jetzt gemeinsam mit der weiteren Arbeit! Denn daß ich die Geschichte dieser Widmung berichtet habe, bezieht sich, wie Sie sehen, nicht einfach auf eine private Anekdote. Eine solche hätte ich natürlich nicht erzählt. Es bezieht sich vielmehr auf eine gesellschaftlich/politisch/rechtliche Grundfrage; wir Juristen und Sozialwissenschaftler sind ihr auf eine beunruhigende Weise verpflichtetet. Denn jener Student hat nicht etwa „Volk" und „Nation" verwechselt. Brasilien ist eine Nation - eine große, eine zu Recht stolze, aus guten Gründen selbstbewußte Nation. Aber ob es - im Sinn eines avancierten demokratietheoretischen und demokratischen Anspruchs - in Brasilien ein Volk gibt, ist erst noch eine andere Frage; und nicht nur in Brasilien. In Wahrheit bleibt nämlich das Volk erst zu erschaffen. Diese Bemerkung hatte ich, vor vielen Jahren schon, bei Jean-Paul Sartre gefunden. Aber Sartre macht damit kein isoliertes Aperçu. Er steht in einer zum Teil klandestinen, meist inoffiziellen, in einer mächtigen Tradition: Sartre ist mit diesem Satz Rousseauist. Jean-Jacques Rousseau ist wohl der erste gewesen, der für die philosophische Anthropologie den Begriff des Menschen und für die politische Theorie die Normen für menschliche Gemeinschaft als geschichtliche gefaßt hat: weder „der" Mensch noch seine Gemeinschaftsformen stehen für immer fest. Sie sind nicht überzeitlich. Sie sind keine „harten" Daten, sondern veränderbar, im Werden begriffen; sie sind immer auf dem Weg und damit auch von Abirrung bedroht. Deshalb ist es sinnvoll, ist es notwendig, an sie normative und politische Anforderungen zu stellen. Auch Rousseau verwechselt dabei nichts: weder „Nation" mit „Volk" noch „Mensch" mit „Staatsbürger". Der „citoyen" wie auch das „peuple" als Souverän sind emphatische, sind materiale Begriffe. An ihnen und ihrer Realisierung muß theoretisch, legislatorisch und im juristisch-politischen Alltag hart gearbeitet werden; zukunftsträchtige Arbeit, welche die Anstrengung wert ist.

Β. Zur Rolle der Präjudizien im modernen kontinentaleuropäischen Recht - ein Beispiel für die Bedingungen demokratischer Steuerung der Gesellschaft durch Normtexte Ich erläutere die Ausdrücke dieses Themas. Das sind keine Vorbemerkungen, es ist bereits Teil der Bearbeitung des Problems: „Kontinentaleuropäisches Recht" profiliert sich als System, dessen Zentrum Gesetzgebung ist, gegenüber dem angelsächsischen, das auf richterlichem Gewohnheitsrecht basiert. In diesem caselaw-system regiert im Prinzip ungeschriebenes Recht. Dieses spielte schon im antiken Römischen Recht eine wichtige Rolle; als Voraussetzungen galten „opinio iuris" plus „opinio necessitatis" plus „tacitus consensus populi" - wobei in diesem „tacitus" natürlich ein großes Problem von Politik, Gewalt und Rolle des Volkes steckt. Aber das ist hier nicht Gegenstand; und das antike Rom braucht sich auch nicht vor dem heutigen Demokratiekonzept zu rechtfertigen. Dieses gründet sich auf die - außer in Großbritannien - geschriebene Verfassung; das „moderne" Recht des Kontinents Europa, wie es im Titel steht, ist also das des entwickelten rechtsstaatlich-demokratischen Verfassungsstaats. Nun hebt die Strukturierende Rechtslehre hervor, daß auch Gewohnheitsrecht, genau besehen, keineswegs „ungeschrieben" ist. Es steht nur nicht in einer verbindlichen Kodifikation; es hat keinen autoritär definierten Text. Aber es braucht Text, um zu existieren: Auch gewohnheitsrechtliche Normen sind sprachgebunden, sind (mündlich und/oder schriftlich) formuliert - in den „Rechtsbüchern", Rechtssammlungen des Mittelalters wie in heutigen Lehrbüchern, in gerichtlichen Entscheidungen; also in wechselnden Formulierungen ohne einheitliche Festlegung durch einen Akt staatlicher Gewalt. Beide Paradigmen, das des case-law-system und das des statute-law-system, nähern sich einander an - und im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer rascher. Auf der einen Seite entwickelt die angelsächsische (und die durch sie via Kolonialismus geprägte, ζ. B. Südafrika) Rechtswelt immer mehr statute law, das von den praktischen Notwendigkeiten neuer staatlicher Funktionen erzwungen wird, so vor allem der sozialstaatlichen. „Auslegung" von Gesetzen spielt also de facto neben der »Auslegung" früherer Gerichtsentscheidungen eine praktisch immer größere Rolle; die früher paradigmatisch klar scheinenden Abgrenzungen bröckeln. Und auf der anderen Seite ist davon Kenntnis zu nehmen, daß neben dem Gesetzesrecht auch Gewohnheitsrecht seinen - eingeschränkten - Platz behält (so deutlich unter dem deutschen Grundgesetz); daß aber vor allem die Normativität des positi vierten Kodifikationsrechts nicht etwa allein aus den Formeln der Gesetzbücher (aus den 2*

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Β. Zur Rolle der Präjudizien im modernen kontinentaleuropäischen Recht

„Normtexten"), „abgeleitet" werden kann. In der Realität - d. h. angesichts der Frage „Was geschieht eigentlich tatsächlich, wenn gerichtlich entschieden wird in der alltäglichen Rechtsrealität also werden Entscheidungen gewonnen durch Textarbeit auch mit den Texten von Gesetzesmaterialien (= genetische Konkretisierung mit Äußerungen aus dem Legislativvorgang ), mit den Texten von Lehrbüchern, Kommentaren und monographischer Forschung (= dogmatische und theoretische Elemente der Konkretisierung ) sowie mit Material aus früherer Rechtsprechung (das „Wie?" bleibt noch zu klären) und aus der internationalen Rechtsvergleichung. Die Strukturierende Rechtlehre unterscheidet, anders gesagt, scharf und systematisch die Sätze in der Kodifikation (die „Normtexte") von den Sätzen, mit denen das Gericht den konkreten Fall entscheidet (dem Text der eigentlichen Rechtsnorm). Fälle können nie allein und abschließend aus dem für den Fall einschlägigen Normtexten entschieden werden; sondern, wie ich soeben sagte, stets mit Hilfe zahlreicher Texte anderer Provenienz. An diesem Punkt, der sich zentral gegen den Positivismus richtet, geht dieser Ansatz einig mit den sogenannten topischen Verfahren; allerdings geht die Strukturierende Rechtslehre im übrigen weit über die Topik hinaus. Die genannte Entwicklung ist hier zentral: und zwar wegen dessen, was uns das Wort „Präjudiz" zu sagen hat - das letzte Element, das aus dem Thema zu erläutern bleibt. „Prä-Judiz" sagt „Vor-Judiz", also „Vor-Entscheidung" eines Richters oder richterlichen Gremiums. Das Abgründige liegt in dem „vor": chronologisch ist es ein simples „davor": frühere Entscheidungen in vergleichbaren Fällen, die ich als Richter zur Kenntnis nehmen und verwenden kann - oder auch nicht. Beziehungsweise ein „vor" von der Art, die in „Vor-schrift" steckt, oder auch in „Vorbedingung": Voraussetzung dafür, daß mein Urteil als „richtig", „gerecht", „korrekt" angenommen werden kann, ist, der Vorentscheidung gefolgt zu sein. Das ist das Axiom des case-law-system: die wesentlichen, die legitimierenden Vor-schriften sind nicht legislatorische, sondern sind richterliche Texte. Wer das einmal - so wie ich als Student in Londons Old Bailey in einem spektakulären Indizienprozeß („Podola-case") miterleben durfte: das Herbeischleppen, Aufstapeln und Rezitieren abgegriffener Leder- und Pergamentbände aus dem 18., 17., 16., ja 15. Jahrhundert als Basis der heute zu treffenden Entscheidung, wird es wohl nie mehr vergessen. Präjudizien sind hier nicht nur frühere („davor" ergangene), sondern vorgeordnete, für meine Entscheidungen maßgebliche Rechtssprüche - „Präjudizien" im engeren, im systematisch bedeutsamen Sinn des Wortes. Dagegen ist das Axiom des statute-law-system die „lex" als die „ratio scripta": die verbindliche Vor-Schrift ist der Text des amtlich in Kraft gesetzten Gesetzes, ist die positiviert maßgebliche, antizipierende Lösung „künftiger Fälle dieser Art" durch den berühmten „Federstrich des Gesetzgebers". Eine Vorentscheidung eines derartigen Falles durch dasselbe Gericht oder auch durch ein anderes ist nicht verbindlich; es mag interessant sein, mir Argumentationslasten erleichtern, mich bestätigen, mich anregen - auch zu Widerspruch und zu entgegengesetzter Entscheidung. Auf jeden Fall kann mich das „davor" erlassene Judiz nicht fixieren, mich nicht nach dem

Β. Zur Rolle der Präjudizien im modernen kontinentaleuropäischen Recht

Code „richtig/falsch" bzw.,/echtmäßig/rechtswidrig" sortieren. Die frühere Entscheidung gibt mir zu denken, aber sie „präjudiziell" mich nicht. Hier kommt wieder die Strukturierende Rechtslehre ins Spiel: Sie war die erste und auf Jahrzehnte die einzige Position, welche das Einbeziehen methodenbezogener und methodenrelevanter Normen, vor allem aus Demokratie und Rechtsstaat, in die unmittelbare, konkrete, in die alltägliche methodische Arbeit der Gerichte und der sonstigen juristischen Instanzen von Entscheidung vertrat. Heute ist dies, jedenfalls im deutschen Rechtsraum, nach der Beobachtung neutraler Mitglieder der scientific community wohl schon überwiegende Meinung geworden. Das heißt ganz praktisch, daß ich als Richter von einem noch so eindrucksvollen und/oder noch so hochrangigen Vor-Judiz eines anderen Gerichts unabhängig entscheide, ja zu entscheiden verpflichtet bin, sofern meine Überzeugung von der Antwort des geltenden Rechts auf die Fallfrage hiervon abweicht. Die methodenaktiven Normen sind in diesem Fall die Gewaltenteilung des modernen Verfassungsstaats und die normative Folgerung aus ihr, die das deutsche Grundgesetz für die Frage „bloße Vor-Entscheidung oder verbindliches Präjudiz?" gezogen hat. Ich zitiere Art. 97 Abs. 1 GG: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen". Und ich zitiere die Wendungen, mit denen das Bundesverfassungsgericht1 die genannten Verfassungsnormen in die konkrete Arbeit der Richter hineinwirken läßt: „Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG). Ein Gericht braucht deswegen bei der Auslegung und Anwendung von Normen einer vorherrschenden Meinung nicht zu folgen. Es ist selbst dann nicht gehindert, eine eigene Rechtsauffassung zu vertreten und seinen Entscheidungen zugrunde zu legen, wenn alle anderen Gerichte - auch die im Rechtszug übergeordneten - den gegenteiligen Standpunkt einnehmen. Die Rechtspflege ist wegen der Unabhängigkeit der Richter konstitutionell uneinheitlich" 2 . Kurz: im modernen kontinentaleuropäischen Recht des demokratischen und rechtlich durchformten Verfassungsstaates darf es keine verbindlichen Präjudizien geben. Die einzige Ausnahme folgt eben aus diesem Ansatz des Gesetzgebungsstaats: verbindliche Vorschriften stiften nicht die Richter über den Fall hinaus, sondern allein der Gesetzgeber für eine formulierte Gruppe von Fällen. Gemäß dem Vorrang der lex specialis gegenüber der lex generalis darf die Gesetzgebung aber diese Regel aus gegebenen Gründen durchbrechen. Das ist im deutschen Recht der Fall bei den, sagt das BVerfGG, 3 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die nach § 31 Abs. 1 „die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle 1 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Amtliche Sammlung Band 87, 273 ff., 278. 2 Ibid., 278. 3

Gesetz über das Bundesverfassungsgericht in der Fassung vom 11. 8. 1993 (BGBl. I S. 1473), geändert durch Gesetz vom 16. 7. 1998 (BGBl. I S. 1823) mit Maßgaben für das Gebiet der ehem. DDR (BGBl. III 1104-1).

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Β. Zur Rolle der Präjudizien im modernen kontinentaleuropäischen Recht

Gerichte (!) und Behörden" „binden". In den in § 31 Abs. 2 genannten Sonderfällen haben sie sogar „Gesetzeskraft". Das sind Ausnahmen, welche die Regel bestätigen; sie können uns für unsere grundsätzlichen Erörterungen der Rolle des Präjudizes im modern kontinentaleuropäischen Recht nicht irritieren; ich habe sie nur informandi causa erwähnt. Versuche, die Präjudizienzentriertheit des angelsächsischen case-law-system auf das hiesige Rechtssystem zu übertragen, sind im Zivilrecht (bei Esser4) über eine angesehene Minderheitenposition nicht hinausgekommen und im Verfassungs- und sonstigen öffentlichen Recht (bei Kriele 5 ) an ihrer inneren Widersprüchlichkeit gescheitert. Kriele warb dabei, etwas naiv, um ,Vertrauen' in die Richterschaft, welche die Fälle schon ,vernunftrechtlich' ins Lot bringen werde 6. „Vertrauen" als globale Haltung gegenüber Texten, nur weil sie von Gerichten stammen, hat mit der Rechtsfrage nach der Stellung der Justiz im gewaltenteilenden Verfassungsstaat nichts zu tun. Was man Vertrauen nennen mag, ist vielmehr - mangels demokratischer Legitimierung der Justiz - in jedem Entscheidungsfall durch redliches Arbeiten von neuem zu erwerben; und die Richter zeugen damit nicht von vernunftrechtlicher Generosität, sondern tun schlicht, was ihrer Amtspflicht entspricht. Im modernen Typus kontinentaleuropäischen Rechts setzen sie damit zwar nicht Präjudizien, können aber durchaus, über ihren Fall hinaus, auf andere Fälle wie auf die Diskussion einwirken: rezipiert ohne verbindlich zu sein, notfalls „gegen den Strich" gelesen, analysiert und auf Begriffe gebracht, notfalls kritisiert. Wo sie übernommen werden, dort nicht, weil dieses und jenes Gericht so entschieden und dieses oder jenes als Grund angeführt hat - sondern nach Maßgabe der rechtsstaatlich-methodisch überzeugend verarbeiteten, den geltenden Normtexten (nicht: Präjudizien!) plausibel zurechenbaren Sachargumente. Man kann diese Rolle „präskriptiv" (als: exemplarisch) nennen - im Gegensatz zu „normativ" (als: verbindlich, verpflichtend). Die Dinge scheinen also paradigmatisch klar zu liegen: dort Gewohnheits- und Richterrecht, also Präjudizien; hier Gesetzesrecht und dessen Anwendung im Einzelfall - also keine Präjudizien. Und doch hält diese beruhigend klare Fassade einer avancierten Analyse nicht stand. Ich sagte schon, daß empirisch das case-lawRecht immer stärker von statute law durchsetzt ist; und daß methodologisch die Strukturierende Rechtslehre zeigen konnte, daß die Normtexte in der Kodifikation keineswegs „logisch" bzw. „syllogistisch" einfach „angewandt" werden, wie es der klassische und auch der spätere Positivismus (seit Mitte des 19. Jahrhunderts; Aus4 Joseph Esser, Grundsatz und Norm in derrichterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen 1964 (2. Aufl.); passim. 5 Martin Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, Berlin 1976 (2. Aufl.), ζ. B. 185 ff., 195, 228 ff., 235 ff.; passim. Vgl. zu diesem Konzept F. Müller, Juristische Methodik, 1997 (7. Aufl.), 350 ff. 6

Ibid. (Kriele), passim.

Β. Zur Rolle der Präjudizien im modernen kontinentaleuropäischen Recht

läufer bis heute, vor allem in der akademischen Juristenausbildung) verzweifelt behaupten. Vielmehr handelt es sich um sehr viel komplexere und vor allem auch kreativere Vorgänge; handelt es sich nicht um Anwenden der vorgegebenen Norm, sondern um Erzeugen der konkreten Norm, die den konkreten Fall entscheidet: im Ausgang von Normtexten, die nur eine noch nicht entscheidungsfähige Vorform der vom Richter dann zu produzierenden Rechtsnorm bieten können. Der Normtext ist Eingangsdatum der Konkretisierung und (relativer) Maßstab für die Rechtmäßigkeit des Ergebnisses i.S. eines negativ funktionierenden Rahmens („Noch vereinbar mit dem gesetzlichen Normtext?") - nicht aber ist er der aktiv bestimmende Faktor, welcher das Ergebnis bereits antizipierend enthalten könnte. Dieses Konzept tut also den Schritt in ein zukünftiges Paradigma: von der Rechtfertigungslehre zur realistischen Reflexion der Rechtserzeugung. Es läßt sich nicht länger die überholten, von er alltäglichen Praxis denunzierten Fragestellungen des Positivismus aufdrängen, wie: Gesetz-Anwendung, Norm-Wirklichkeit, Sprache-außersprachliche Referenten (= Bezugsobjekte). Die Sätze im Gesetzbuch haben nur Zeichenwert. Sie liefern Sprachdaten als Elemente konkreter Arbeit im Fall. Sie sind auf ihre tatsächlichen Gebrauchsweisen zu untersuchen und methodisch offen durchzuarbeiten. Sprechen und Semantisieren werden als Handeln offengelegt, die Entscheidungsarbeit ζ. B. der Richter ist ein durch Normtexte und Methodenstandards bestimmtes Sprachspiel. Kein Normtext kann über seine spätere Verwendung in künftigen Fällen eine im vorhinein feste Regel seines Gebrauchs angeben. Auch referieren seine Zeichen nicht, wie die Tradition meint, auf „außer"-sprachliche Wirklichkeit; die Realdaten können nur dann in die Arbeit der Juristen eingefühlt werden, wenn sie selbst sprachlich vermittelt sind (primäre vs. sekundäre Sprachdaten). Die „Bedeutung" ist kein Ding, das man eindeutig „finden" könnte. Sie steht in differentiellem Verhältnis zu allen anderen Zeichen; sie ist ihrerseits (nur) Signifikant für weitere Signifikate. Dennoch stellt sich nicht etwa rechtliche Willkür ein - was die Tradition ja immer befürchtet, weshalb sie sich durch rhetorische Fassaden zu beruhigen versucht. Die Sprache selbst als „Organon der Wiederholbarkeit" 7 ist nicht willkürlich. Bedeutung und Referenz (d. h. der „Sinn des Gesetzes" und die von ihm erfaßten „Gegenstände der äußeren Welt") sind in jedem Fall neu festzusetzen. Aber nicht beliebig, sondern mit plausiblen Gründen - im Rahmen einer Argumentationskultur. Diese ist sowohl wissenschaftlich kontrollierbar als auch normativ kontrolliert (v.a. durch Gebote von Demokratie und Rechtsstaat wie Klarheit und Nachvollziehbarkeit, Verfassungskonformität, Begründungspflichten, Gesetzesbindung, Gleichheitssatz, Unbefangenheit im konkreten Fall, etc.). Ein-Eindeutigkeit im Sinn „inhaltlicher Sicherheit" der rechtlichen Begriffe, Bedeutungen und Referenzen ist nicht möglich. Was aber möglich ist und vor Willkür schützt, ist: eine relative (in der Ausdrucksweise Niklas Luhmanns8 „lokale") Rationalität. Diese gibt 7 Jacques Derrida , Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124 ff., 134 ff.

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Β. Zur Rolle der Präjudizien im modernen kontinentaleuropäischen Recht

die methodischen Einzelschritte korrekt und vollständig an, operiert mit ihnen auf verallgemeinerungsfähige Weise und nennt die Gründe für Präferenzen, wenn die einzelnen Argumente einander widersprechen sollten. Es gibt durchaus Standardfälle, die routiniert erledigt werden; und andere, bei denen Begriffe und Referenzen einfach liegen (so v.a. bei numerisch determiniertem Normtext, typisch für Form-, Frist- und bestimmte Verfahrensvorschriften). Aber jeder dieser Fälle kann problematisch werden; wenn ζ. B. Rechtshandeln und/oder Sprachhandeln von Beteiligten vom Typischen abweichen. Und die Hauptmasse der praktischen Rechtsfälle ist von Anfang an hochkomplex. Die Juristen, die sie zu lösen haben, sind keine reaktiven „Ausleger", sondern sehr aktive TextProduzenten. Die Gesetzesbindung, der die Rechtsarbeiter von der Verfassung her unterliegen, ist - endlich realistisch begriffen - nicht die der Tradition. Sie kann sich nicht auf „die Norm" als etwas vor dem Fall Existierendes, als etwas Vorgegebenes beziehen. Sie bezieht sich auf die rechtlichen und wissenschaftlichen Anforderungen an einen aktiven Vorgang der Semantisierung. Und die Arbeitsweisen bei diesem Vorgang ähneln signifikant denen im Fallrecht. Es verwundert daher nicht, daß die Strukturierende Rechtslehre in einzelnen Äußerungen aus angelsächsischer Perspektive schon früh als zukünftige Brücke zwischen beiden Paradigmen aufgefaßt wurde (so ζ. B.: „lt would certainly be a challenging task to contrast it with American legal realism and its aftermath" oder „This departure from the abstract-logical towards the empirical-pragmatical brings this method closer to that of Anglo-American common law") 9 . Worin könnte nun eine zukünftige Synthese bestehen? Ich greife hierbei der kommenden wissenschaftlichen Entwicklung vor, auch der meines eigenen Konzepts, indem ich einige Pfade auszuspähen versuche. Metier der Richter (und sonstigen Juristen, die zu Entscheidungen verpflichtet sind) ist es, sich einem zu lösenden Fall zu stellen. Dafür greifen sie auf Rechtsbehauptungen zurück und führen diese auf „geltende" (d. h. in Kodifikationen befindliche) bzw. auf anerkannte Texte zurück (d. h. Kommentare, Monographien, frühere Richtersprüche ). Die Berechtigung dafür schöpfen sie aus den Argumentformen. Durch deren einzelne Gründe fügen sie die Behauptungen in das Netz der Rechtsordnung ein, schaffen sie Kontexte - seien diese historisch (früher geltende Normtexte), genetisch (Entstehungsgeschichte des Normtexts) oder systematisch (Vergleich mit anderen geltenden Vorschriften); aber auch, wie ich schon anmerkte, über die eigene Rechtsordnung hinaus komparatistisch (Rechts- und Verfassungsvergleichung). Das erinnert an das Vorgehen der modernen Topik, und insoweit verlaufen diese und der vorliegende Ansatz ein Stück weit parallel. Im ganzen gesehen, setzt die Struktu8 In: Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 401 F., dazu F. Müller, Juristische Methodik, 1997, S. 370 ff., u.ö. 9 Christoph Engel, Juristische Methodik by Friedrich Müller, International Journal of Legal Information, vol. 18 No. 3 (1990), 266 ff., 268; Vera Bolgâr, Legal Methodology, Modern Law and Society, vol. X I No. 2 (1978), 160 ff., 161.

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rierende Rechtslehre aber wesentlich anders an und geht an vielen Punkten paradigmatisch über Topik hinaus; das ist hier aber wiederum nicht Gegenstand. Das Vorgehen, das ich soeben skizzierte, gewährleistet die relative (d. h. kontextuelle) Wahrheit der einzelnen Rechtsbehauptungen kraft ihrer Argumente allerdings nur so lange, als die Gründe nicht ihrerseits strittig werden. Mit diesem Fall hat es die Rechtspraxis aber ständig zu tun. Recht kann überhaupt nicht anders von Bedeutung sein denn in der Sprache. Rechtssprache ist (von Fachtermini durchsetzte) natürliche Sprache; und deren Bedeutung ist nicht nur permanent im Fluß, sondern auch immer wieder im Streit - zumal im Recht, das massive und meist antagonistische Konflikte zu regeln hat. Rechtliche Praxis besteht im Streit um das Recht. Dieser ist kein Problem sprachlicher Verständigung. Alle am Streit, ζ. B. im Prozeß, Beteiligten, haben bereits verstanden - ihre Interpretation wie die der Gegenseite wie auch die jeweiligen Hintergründe (Interessen) für das Präferieren der einen oder anderen Variante der Auslegung. Das Problem lautet vielmehr: wie entscheiden? Die Frage ist nicht mehr: Wie ist das Gesetz zu verstehen? Sondern: welches der sich bekämpfenden Verständnisse ist vorzuziehen? Nun ist aber in natürlicher Sprache eine Rangfolge für Verstehenspräferenzen nicht vorgesehen; so wenig wie Wörter/Ausdrücke eine feste Grenze ihrer Verwendbarkeit mit sich (i.S. einer inhärenten Eigenschaft) herumtragen. Die Funktion von Sprache ist erfüllt, wenn sie Verständigung ermöglicht; zwischen deren antagonistischen Versionen kann sie als solche dann aber nicht entscheiden. Es müssen Mechanismen einer „Ordnung des Diskurses" 10 (i.S. von Foucault) geschaffen werden, die Verstehen nicht noch mehr vermehren, sondern die es verknappen. Von den möglichen Arten, das Textstück zu lesen (v.a. das Gesetz = den Normtext; im case-law: den Text des Präjudizes), soll und darf nur noch eine einzige legal und damit auch legitim sein. Über die Aussage des geltenden Rechts für diesen Fall kann nicht durch „Finden" der im Gesetz präexistenten „Bedeutung" ausgesagt werden - so aber die positivistische Tradition; sondern es kann darüber nur entschieden werden. Ein „non liquet" im Sinn des antiken römischen Prozeßrechts gibt es nicht mehr; das moderne Recht geht vom Rechtsverweigerungsverbot ebenso aus wie von der Begründungspflicht - beides konform dem skizzierten Konzept des rechtsstaatlich-demokratischen Verfassungsstaats. In seinem Grund kann sich Recht also immer nur wieder selbst als eine Praxis erschaffen. Diese ist allerdings nicht beliebig; und für die einzelnen Entscheidungen, aus denen sie sich tagtäglich zusammensetzt, gilt kein „anything goes". Das Entscheiden wird durch die methodologischen Standards einer rechtsstaatlich-demokratischen Argumentationskultur erheblich und vielfaltig erschwert und unter spezifische Anforderungen der Anerkennbarkeit gestellt: sowie, ich sprach davon, unter die Anforderungen methodenbezogener und -relevanter Vorschriften des geltenden Rechts. Darüber, in welcher Weise konkret und operational diese Praxis des Ent-

10

sim.

Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, deutsche Ausgabe, München 1974, pas-

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scheidens nicht willkürlich ist, habe ich eine umfangreiche „Juristische Methodik" entwickelt, die hier nicht zusammengefaßt oder gar referiert werden kann. Sie enthält sogar eine durchgearbeitete Operationalisierung für Präferenzen bei Konflikten zwischen den einzelnen Argumentformen im vorliegenden Einzelfall. Die Realität des Rechts ist der Konflikt, die seiner Semantik ist der semantische Kampf. Das zeigt uns einen zweiten Pfad. Ist dies im Präjudiziensystem eigentlich anders? Die Autorität des verbindlich vor-entscheidenden Gerichts scheint dies zu gewährleisten. Allerdings nur auf den allerersten Blick. Schon auf den zweiten beunruhigt die Frage: ist der Normtext X für meinen Fall überhaupt „einschlägig" oder nicht doch (wie eine der Streitparteien und der und jener Wissenschaftler bzw. Gutachter oder wie Teile der Rechtsprechung meinen) der Normtext Y oder gar Z? So im statute law. Im case law gehen die Kontroversen seit Jahrhunderten über strukturell Analoges; nur heißt es hier: ist mein Fall tatsachlich dem Fall des Präjudizes A hinreichend ähnlich, um diesem Präjudiz folgen zu müssen? Oder entspricht er vielmehr dem Casus, der dem Präjudiz Β zugrunde lag? Und die strukturellen Ähnlichkeiten gehen weiter: hat man die genannten Fragen bejaht (was ziemlich sicher vielfach bestritten werden wird!), so folgt die nächste: Warum hat nur der frühere Gerichtshof das Präjudiz A für seinen Fall A so und nicht anders formuliert, d. h. die traditionell dornige Frage nach der „ratio decidendi". Denn wir - die heutigen Richter - müssen möglicherweise eine andere ratio wählen - was die Verbindlichkeit des „an sich passenden" Präjudizes schon wieder in Frage stellt. Und im statute law: Was ist eigentlich die „ratio legis", das telos, der Gesetzeszweck einer Vorschrift, die „an sich einschlägig" ist, aber wegen eines vorliegend nicht gegebenen Zweckzusammenhangs dann letztlich doch nicht herangezogen werden sollte? Die Autorität des (verbindlichen!) Präjudizes entbindet uns also ebenso wenig von unserer Arbeits- und Begründungslast und von unserer Verantwortung wie jene des (verbindlichen!) Gesetzes es vermag. Alles, was Richter und andere juristische Entscheider tun können, ist lesen, hören, sprechen, schreiben, unterschreiben: immer sprachliche und schriftliche Handlungen; immer Text, Text und Text; durchweg Kommunizieren. Juristen / Richter rezipieren Texte (Fallerzählung, Parteianträge, Kommentare, frühere Rechtsprechung und v.a. Normtexte - im case law auch v.a. die verbindlichen Präjudizien); sie deliberieren Texte ( Streitstand, rechtliche Optionen, Präferenzen der konfligierenden Argumente) und sie produzieren schließlich Texte: neuen Text, nämlich den ihrer Äußerungen während des Verfahrens und vor allem den der Entscheidung: Urteilsformel (Tenor) und Gründe. All dies tun sie - unausweichlich - in der konstitutionellen Polysemie und Ungesichertheit der natürlichen Sprache 11. Bestimmtheit oder Sicherheit der Rechts11

Dazu, was es unter diesen Bedingungen noch heißen kann, an Gesetze „gebunden" zu sein, grundlegend Ralph Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? 1989, s.a. F. Müller, Juristische Methodik, 1997; ders., Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts, 1997; ders. (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989; ders./Rainer Wimmer (Hrsg.), Neue Studien

Β. Zur Rolle der Präjudizien im modernen kontinentaleuropäischen Recht

begriffe und -bedeutungen, wie es der Positivismus zum Credo erhebt, überfordern natürliche Sprache; sie sind, sieht man die Praxis näher an, einfach illusionär. Was redliche Juristen/Richter stattdessen leisten können und auch müssen (sie haben einen Amtseid geleistet!), ist „Sicherheit" i.S. von Nachvollziehbarkeit der methodischen Arbeitsschûtte im Entscheidungsvorgüng; und diese Nachvollziehbarkeit für andere (die Prozeßbeteiligten, die Öffentlichkeit, andere Gerichte, die Wissenschaft) setzt Methodenehrlichkeit voraus; d. h. Aufrichtigkeit im Darstellen der Gründe für das Urteil anstelle taktisch bestimmter rhetorischer Fassaden, welche die „wahren Gründe" der Entscheidung camouflieren. Diese professionellen, rechtlichen und ethischen Anforderungen gelten aber nun wiederum für das Gesetzes- wie für das Präjudizienrecht. Was ein unvoreingenommener Beobachter der Praxis beider Systeme immer schon intuitiv ahnen konnte, wird von der Strukturierenden Rechtlehre theoretisch plausibel gemacht. In der Rechtsarbeit geht es keinesfalls nur um Verstehen, so wie wir einen philosophischen Traktat oder ein poème en prose zu „verstehen" versuchen. Richter/Juristen bringen bei ihrer Arbeit ja notwendig selbst Text hervor, den der Entscheidung; dies ist der Kern ihrer Aufgabe. Sie arbeiten dabei auch nicht nur mit Begriffen, sondern nicht zuletzt auch an Begriffen. Sie „wenden" nicht nur „an", „interpretieren" auch nicht bloß (wenn man darunter, anders als beim anfänglichen „Verstehen", das Verständlichmachen für andere faßt). Sie leisten - gebunden durch materielles Recht, Prozeßrecht, methodenrelevante Normen und die Standards der Argumentationskultur - , also vielfach gebunden, gefordert, kontrolliert, im ganzen vor allem eine Arbeit mit und an Texten in einer öffentlichen Institution, die durch Staatsgewalt abgestützt ist - ζ. B. im Rahmen eines Gerichtshofs. Sie leisten äußerst komplexe Semantisierungsarbeit, für die es keine fraglos verläßlichen Fixpunkte gibt (seien das Präjudizien oder Gesetze), wohl aber streckenweise kontrollierbare und operationale Orientierungslinien. Es gibt keine magische Sprache (im Bereich der natürlichen), in der objektiver Bedeutungsgehalt oder fraglose Propositionen aufbewahrt und abrufbar wären. Bedeutung ist selbst durch und durch sprachartig. Die Auslegung / Entscheidung gelangt nie zu der, zur reinen Bedeutung. Sie setzt stets nur neuen Text an die Stelle von vorherigem Text - mit all den sachlichen und sprachlichen Begründungslasten, die sich daraus ergeben. Diese sind immer zu tragen - auf den Trümmern des Turms von Babel. Sie und die Verantwortung für richterliches Tun sind weder abzuschütteln noch delegierbar weder an ein Werk des Gesetzgebers (Normtext) noch an eines früherer Gerichtsbarkeit (Präjudiz). Das mag uns - und die Strukturierende Rechtslehre hat mich dahin gebracht den Blick freier machen, als es den traditionellen Konzepten möglich war; freier zur Rechtslinguistik (im Erscheinen). - Zur Präjudizienproblematik auf der Basis des österreichischen Rechts jetzt: Birgit Feldner, Entschiedenes Entscheiden. Über die normative Relevanz von Präjudizien, in: B. Feldner/N. Forgó (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 224 ff.

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Β. Zur Rolle der Präjudizien im modernen kontinentaleuropäischen Recht

auch für historisches Nachfragen nach früherer Praxis, früherer Ungewißheit, früherer Kreativität von Richtern - und nicht zuletzt für den Blick auf das Präjudiz dort, wo es seinen angestammten Platz hat: in Rechtsordnungen des Fallrechts, die ihrerseits den Weg auf etwas Neues hin beginnen.

C. Verordnungen mit Gesetzeskraft (Medidas Provisórias) in Brasilien vor dem Hintergrund der deutschen Erfahrungen Die Notverordnungen der deutschen Reichspräsidenten (ab 1919) sind - in ihrem Bereich - für Deutschland fatal gewesen. Die Medidas Provisórias der brasilianischen Staatspräsidenten (ab 1988) könnten - in ihrem Bereich - zur Fatalität für Brasilien werden. I. Nach Art. 62 der Verfassung von 1988 der Föderativen Republik Brasilien kann der Staatspräsident „vorläufige Maßnahmen ergreifen". Zulässig ist das nur unter einer doppelten Voraussetzung: „Wichtigkeit und Dringlichkeit". Diese Maßnahmen sind keine Gesetze, haben aber „Gesetzeskraft". Der Präsident muß sie dem Nationalkongreß „sofort" unterbreiten; sollte dieser in Parlamentsferien sein, ist er innerhalb von fünf Tagen zu einer außerordentlichen Sitzung einzuberufen. Der einzige Paragraph fügt hinzu: Diese Maßnahmen verlieren ihre Gültigkeit, und zwar ab ihrem Erlaß, wenn sie nicht innerhalb von 30 Tagen seit ihrer Veröffentlichung in Gesetze konvertiert werden. Die sich aus dem Vorgang ergebenden Rechtsbeziehungen muß der Nationalkongreß regeln. Die historischen Vorbilder sind bekannt: so z. B. das „Dekret mit Gesetzeskraft" aus der autoritären Verfassung von 1937 einer positivrechtlich unbeschränkten präsidentiellen Exekutive (Art. 12, 13, 74 b sowie Art. 179, 180, 186 im Zusammenhang mit der Erklärung des Staatsnotstands). Ähnliches ist von den „institutionellen Akten" der Verfassung von 1964 zu sagen; aber schon die Erinnerungen an das ständige Entstellen und Verletzen der Verfassung durch die Exekutive während der Ersten Republik sind sehr ungut: Auch die Feststellung des Belagerungszustands höhlte die Verfassung aus; der normierte Präsidentialismus glitt in den so genannten Neopräsidentialismus ab1. Die abschreckenden Beispiele aus Brasiliens neuerer Verfassungsgeschichte sollten Anlaß genug sein, den Art. 62 als voll gültiges positives Verfassungsrecht sorgfältig und nüchtern zu interpretieren und anzuwenden. Dabei ergibt sich mit aller Klarheit folgendes: Die Medidas Provisórias sind keine Gesetze - weder von dem Organ her, das sie erläßt, noch in ihrer eigenen Rechtsnatur. Sie haben - nach 1

K. Loewenstein, Verfassungslehre, 3. Aufl. 1975, S. 62 ff. - Μ. Ν eves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne, 1992, S. 146 f.

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C. Verordnungen mit Gesetzeskraft in Brasilien

allem, was ich bereits aus Art. 62 referiert habe - keineswegs dieselbe Rechtskraft wie Gesetze; sie sind auf keinen Fall „Gesetze, welche die Exekutive ausfertigt" 2. Wo das Gesetz den Normalweg bietet, Gegenstände zu normieren, bilden die Medidas Provisórias nur eine Ausnahmeform. Wo das Gesetz normalerweise auf unbegrenzte Zeit regelt, sind sie von kürzester Dauer, nämlich - nach dem klaren Programm von Art. 62 - maximal 30 Tage und folglich in ihrer rechtlichen Substanz bloß ephemer. Sie sind ferner prekär: von einem anderen als dem erlassenden Organ, nämlich vom Nationalkongreß statt vom Staatspräsidenten, jederzeit innerhalb der Frist von 30 Tagen ihrer Geltung zu berauben. Ist dies der Fall, so verlieren sie ihre Rechtswirkung ex tunc („perderäo eficâcia desde a ediçâo", Art. 62 § ùnico); ein wiederaufgehobenes Gesetz dagegen ex nunc. Ein Gesetz braucht selbstverständlich auch keine materiellen Voraussetzungen, um erlassen werden zu dürfen; seine Geltungskraft folgt schon daraus, daß es politisch-demokratisch geschaffen wurde. Dagegen sind der Medida Provisoria mit „Wichtigkeit" und „Dringlichkeit" die Voraussetzungen dafür von der Verfassung vorgegeben, daß sie überhaupt erlassen werden darf. Es ist allgemeine Basis des Verfassungsstaats, daß Regelungsmaterien im öffentlichen Interesse - die der staatlichen Normierung - bereits als solche „wichtig" sind. Wenn Art. 62 die „Wichtigkeit" zur Bedingung der Zulässigkeit macht, können damit nur Fälle von außergewöhnlicher Bedeutung gemeint sein; schwerwiegende in dem Sinn, daß weiterer Aufschub die Gesellschaft mit ungewöhnlichen Risiken belasten würde. Diese Interpretation wird durch die Verfassung selbst bestätigt: dadurch, daß Art. 62 zusätzlich von der Vorbedingung der „Dringlichkeit" spricht. Andrerseits ergäben sich erhebliche Schäden durch Verzug. Die Verfassung selbst bestätigt dies durch eine weitere explizite Regelung: Der Fall einer zulässigen Maßnahme nach Art. 62 muß so wichtig und vor allem dringlich sein, daß die Fristen des Art. 64 §§ 1.° bis 4.° nicht ausreichen; also Fristen, die bereits auf eine dringliche Behandlung dann abzielen, wenn eine Gesetzesinitiative der Exekutive an den Nationalkongreß geht.

II. Etwas den Medidas Provisórias strukturell und funktionell Vergleichbares kannte das Deutschland der Republik von Weimar zwischen 1919 und 1933: das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten. Dieser, vom Volk direkt auf 7 Jahre gewählt, hatte eine ausgeprägt starke Stellung - neben den traditionellen Befugnissen eines Staatsoberhaupts auch wichtige politische Aufgaben. Zu diesen gehörte 2

Dazu und zum folgenden vorbildlich klare dogmatische Argumente bei Celso Antonio Bandeira de Mello, Perfil Constitucional das Medidas Provisórias, in: Revista de Direito Publico, N.o 95, S. 28 ff.; und bei Càrmen Lucia Antunes Rocha, Constituiçâo e Medidas Provisórias no Direito Brasileiro, TVposkript (1998).

C. Verordnungen mit Gesetzeskraft in Brasilien

nach Art. 48 Abs. 1 die Reichsexekution gegen pflichtwidrig handelnde Länder der Föderation; und nach Art. 48 Abs. 2 die so genannte Diktaturgewalt. Voraussetzung für diese war es, daß „im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet" war. In solchen Fällen konnte der Präsident „die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen", was „erforderlichenfalls" ein militärisches Vorgehen einschloß. Auch durfte er „zu diesem Zweck" die in 7 Artikeln explizit enumerierten Grundrechte „vorübergehend . . . ganz oder zum Teil außer Kraft setzen" (Art. 48 Abs. 2 WRV). Nach Abs. 3 des Artikels hatte der Präsident „von allen . . . Maßnahmen" dieser Art „unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben". Auf dessen Verlangen mußten die Maßnahmen „außer Kraft" gesetzt werden. Diese - nach dem damaligen Term - „diktatorischen Maßnahmen" waren eine Ausnahmeform des Exekutivhandelns, historisch hervorgegangen aus dem „Kriegszustand" nach der alten Verfassung von 1871, vergleichbar Brasilien 3. Das ist ein zentraler Punkt: „Kriegszustand" (Estado de Defesa), „Belagerungszustand" (Estado de Sitio) sind exzeptionelle Situationen; sind (in den Worten Gerhard Anschütz', des klassischen Kommentators der Weimarer Verfassung und Heidelberger Freundes und Kollegen von Georg Jellinek) „eine abnorme Rechtslage, die nur durch ausdrückliche Erklärung, einen Formalakt, geschaffen und durch einen entsprechenden actus contrarius beendigt werden" kann. Daß Art. 48 WRV - ebenso wie Art. 62 Bras Vf. - ein Notverordnungsrecht im Normalf3lI\ zuläßt, ist „eine Deformalisierung des Ausnahmerechts, gegen die sich de lege ferenda vom Standpunkte rechtsstaatlicher Formenstrenge gewichtige Bedenken erheben". Die außerordentlichen Maßnahmen hatten Voraussetzungen, welche die Verfassung ausdrücklich nannte; ich habe sie referiert. Ob deren tatsächliches Vorliegen sowie die Notwendigkeit der Maßnahmen gerichtlich überprüfbar seien - über die genannte Kontrolle durch den Reichstag hinaus - war in der Weimarer Staatsrechtslehre umstritten. Einigkeit bestand dagegen darüber, daß die sonstige Gültigkeit der diktatorischen Handlungen „auf ihre Verfassungsmäßigkeit und sonstige Rechtsgültigkeit" hin gerichtlich voll überprüfbar war; ζ. B. auch darauf, ob die übrigen Schranken des Art. 48 Abs. 2 selbst respektiert wurden. Die Tatsache, daß hier die oberste Staatsleitung handelte, entzog ihr Tun keineswegs der rechtsstaatlichen Kontrolle durch die Justiz. Die politisch-demokratische Kontrolle lag dagegen, wie gesagt, beim Parlament. Beispiele für „Maßnahmen" waren solche faktischer Art; waren rechtliche für den Einzelfall („Verfügungen")sowie abstrakte mit allgemeinem Geltungsanspruch („Verordnungen"). Diese konnten sich an die Verwaltung oder auch an die Bürger richten; oft als Rechts Verordnungen mit Gesetzeskraft - Notverordnungen, genauso wie in Art. 62 Bras Vf. Diese Verordnungen konnten „alles vorschreiben oder 3 Insoweit zum deutschen Recht: G. Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reiches, 3.und 4. Aufl. 1926, S. 170 f.; allgemein zu Art. 48 WRV: ebd., S. 166 ff.; die im Text folgenden Zitate: ebd., S. 171.

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C. Verordnungen mit Gesetzeskraft in Brasilien

verbieten, wofür ein einfaches, nicht verfassungsänderndes Reichsgesetz erforderlich und ausreichend ist" 4 , nach damaliger Praxis sogar einschließlich der Todesstrafe. Politisch höchst bedeutsam war die zeitweilige Außerkraftsetzung von Grundrechten, das Übertragen der Exekutivgewalt auf reichseigene Kommissare und das Einsetzen außerordentlicher Gerichte. Der Reichspräsident durfte nach herrschender Meinung dabei auch gegen die normale bundesstaatliche Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Reich und Ländern handeln. Nach ganz überwiegender Lehre durften aber nur die in Art. 48 aufgezahlten sieben Grundrechte suspendiert werden; weder andere Grundrechte noch sonstige, nicht ausdrücklich genannte Verfassungsbestimmungen.

ΙΠ.

Voraussetzung der präsidialen Verordnungen war also eine erhebliche Gefährdung oder Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Ursprünglich deutete dies auf politische Gefahren und gewaltsame Umsturzversuche. Sehr bald wurde der Begriff aber weiter und weiter ausgelegt, vor allem auch für wirtschaftliche Probleme wie: Steuern senken oder erhöhen, Kapitalflucht bekämpfen, den Devisenverkehr reglementieren. Art. 48 wurde „in ausgiebigster Weise dazu benutzt, um den Weg der Gesetzgebung durch den der Verordnung zu ersetzen"5. Die erste Welle dieser Ausweitung betraf schon die Jahre nach 1919, besonders mit der ökonomischen Krise 1923/24. Schon diese Erweiterungsphase ging weit über die Absichten derer hinaus, welche die Verfassung von Weimar formuliert hatten; so erließ der erste Präsident, Friedrich Ebert, in den Jahren 1919 bis 1925 nicht weniger als 163 Notverordnungen 6. Erneuert und verschärft wurde diese Tendenz ab der Weltwirtschaftskrise von 1929. Die auf sie folgenden unpopulären Sparmaßnahmen erfolgten praktisch nur noch durch Notverordnung; man kann sagen, daß ab 1930 ein wirksames parlamentarisches Arbeiten der Ebene des Reichs aufgehört hatte und durch ein ungeniertes Präsidialregime abgelöst war. Dazu einige Beispiele: Der Reichstag verabschiedete 1930 noch 98 Gesetze, 1931 lediglich 34 und 1932 gerade noch 5. Die Zahl der Notverordnungen des Präsidenten stieg dagegen von 5 im Jahr 1930 über 44 im Lauf von 1931 auf 60 im Jahr 1932 - von Architektur und explizitem Text der Verfassung her eindeutig unvereinbar mit dem Ausnahmecharakter des Art. 48 wie mit dem Grundsatz der parlamentarischen Demokratie 7. Diese Dekadenz erwies sich nicht nur in Zahlen und 4 Ebd., S. 173. 5 Ebd., S. 172. 6 Eingehende monographische Darstellung bei: Λ. Kurz, Demokratische Diktatur? Auslegung und Handhabung des Art. 48 der Weimarer Verfassung 1919-25, 1992. 7 Zu diesem Prinzip: Art. 1 Abs. 2, Art. 54, Art. 68 Abs. 2 WRV. - Siehe die Darstellung bei: Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 1997, S. 278 ff.

C. Verordnungen mit Gesetzeskraft in Brasilien

Statistiken, auch in der Form des Vorgehens im Einzelfall. So lehnte das Parlament im Juli 1930 zwei Haushaltsvorlagen der Regierung ab. Daraufhin erließ der Präsident dieselben, demokratisch abgelehnten, Texte in Form zweier Notverordnungen nach Art. 48 Abs. 2. Diese wurden, verfassungsgemäß nach Art. 48 Abs. 3, vom Parlament außer Kraft gesetzt. Daraufhin löste Präsident Hindenburg das Parlament auf (Art. 25 Abs. 1 WRV) und erließ eine neue inhaltsgleiche Notverordnung, welche die zuvor abgelehnten Gesetze und annullierten Notverordnungen zusammenfaßte. Oder: der Regierungschef holte sich im Juli 1932 vom Reichspräsidenten blanko signierte Notverordnungstexte, die er dann beliebig - d. h. nach seinem parteiischen Interesse - datierte, als ihm der Moment psychologisch günstig schien, um verfassungswidrig gegen das Land Preußen und seine sozialdemokratisch geführte Regierung vorzugehen - nach dem Urteil der Verfassungsgeschichte eine Form von Staatsstreich. Dieser wurde - durch eine weitere Notverordnung vom selben Tag (20. 7. 1932) - durch Suspendierung von Grundrechten in Preußen, den Übergang der Exekutive auf den Reichswehrminister und durch umfangreiche „Säuberungen" in der preußischen Polizei und inneren Verwaltung verschärft 8. Der parteiische, willkürliche Terror mit dem Mittel des Art. 48 steigerte sich noch weiter: Während die Reichsregierung bereits von Hitler geführt wurde, löste eine Notverordnung vom 1. 2. 1933 den Reichstag auf, organisierte allerdings zugleich Neuwahlen. Die Notverordnung „zum Schutze des Deutschen Volkes" drei Tage später, die so genannte Schubladenverordnung, diente in diesem Zusammenhang der brutalen Behinderung der politischen Opposition; noch weiter getrieben durch die eindeutig verfassungswidrige Notverordnung vom 28. Februar („Reichstagsbrandverordnung"). Sie rief einen Ausnahmezustand aus, der übrigens bis zum Ende der Nazidiktatur im Jahr 1945 permanent blieb; sie führte bis zum Herbst 1933 zur Inhaftierung von rund 100.000 politischen Gegnern und bildete den entscheidenden Schritt zur Willkürherrschaft der Nationalsozialisten. Nach Art. 48 Abs. 2 durften durch Notmaßnahmen die sieben dort explizit genannten Grundrechte suspendiert werden. V.a. zwei Weimarer Autoren, unter ihnen Carl Schmitt9, meinten jedoch, durch Notverordnungen dürften alle einzelnen Artikel der Verfassungsurkunde verletzt, durchbrochen werden; dies sei durch den Zweck der Diktatur gerechtfertigt. Schmitt gelangte zu dieser Behauptung durch den Kunstgriff, die „Verfassungsgesetze" (i.e. alle positivrechtlichen Artikel der Konstitution) von der „Verfassung" zu trennen; diese sei eine „einmalige Entscheidung" über „das Ganze der politischen Einheit", sei die „existenzielle Totalent8 Der Staatsgerichtshof des Deutschen Reiches entzog sich einer Prüfung, ob die Tatbestandsvoraussetzungen (pressupostos de admissibilidade) des Art. 48 Abs. 2 WRV wirklich vorgelegen hatten und urteilte (vgl. RGZ 138, Anhang, S. 1 ff. ) teils politisch naiv, teils demokratie- und rechtsstaatsfeindlich. - Dazu Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 1997, S. 281 ff. 9 Zur „Durchbrechungslehre": A. Kurz, Demokratische Diktatur?, 1992, S. 174 ff. mit Hinweisen auf weitere Autoren. - Vgl. v.a. C. Schmitt, Verfassungslehre, 3. Aufl. 1954, S. 26 f., lllf.

3 F. Müller

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Scheidung des deutschen Volkes" 10 . Damit überspielt Schmitt das positive Recht, nicht zuletzt Art. 48 Abs. 2 mit seinen Schranken selbst, zugunsten eines axiomatisch behaupteten „Zwecks" der Diktatur. Das führt, wie auch sonst im Dezisionismus, in eine politisch-existenzielle Mythologie; wir behandeln hier dagegen Fragen des positiven Rechts - historisch für Deutschland, aktuell für Brasilien - mit Mitteln der Rechtswissenschaft. Das tat auch die weit überwiegende Mehrheit der Weimarer Staatsrechtslehrer sowie die Judikatur des Reichsgerichts 11: andere als die in Art. 48 Abs. 2 limitativ aufgezählten Grundrechte oder sonstigen Verfassungsartikel durften legal nicht außer Kraft gesetzt werden. Rein politische Schwierigkeiten waren keine „erhebliche Gefahr", die diktatorische Maßnahmen rechtfertigten. Art. 48 Abs. 2 erlaubte es weder, parallele Gesetze zu erlassen, noch zu regieren. Vielmehr ließ er es allein zu, durch vorläufige Maßnahmen vorübergehend einzelne Gefahren zu bekämpfen, um die Verfassung zu erhalten. Alles andere war Mißbrauch 12 .

IV. In Deutschland ist es also über Jahre hin zu desaströsem Mißbrauch gekommen. Doch schon lange vorher, schon am Anfang der Republik, lag der Ansatz dazu im Ausweiten der Voraussetzungen für Notverordnungen: vor allem auf wirtschaftliche, später dann auch auf politische und parteipolitische Schwierigkeiten. Äußerlich drückte sich das in der abwegig großen Zahl solcher Maßnahmen aus. Leider gilt dasselbe für Brasilien heute. Die Zahl der erlassenen und erneuerten Medidas Provisórias übertrifft bei weitem die der vom Nationalkongreß verabschiedeten Gesetze13. Mit der erste, der beides scharf geißelte - sowohl die Menge dieser Maßnahmen als auch ihre Ausdehnung auf (nicht nur provisorische) Wirtschaftspläne - war 1992 der damalige Senator Fernando Henrique Cardoso 14 unter 10 C. Schmitt, ebd., S. 24, 12. - Zu Schmitts (verspätetem) Versuch, die Diktatur einzuhegen: M. Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 392. 11 Argumentation und Nachweise bei G. Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reiches, 3. und 4. Aufl. 1926, S. 174 f. 12 So die maßgebende Kritik bei R. Grau, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 274 ff. - Leider wurde das materiellerichterliche Prüfungsrecht gegen Gesetze in der Weimarer Zeit nur sehr zurückhaltend und gegen präsidiale Notverordnungen überhaupt nicht genutzt; dazu: M. Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 382 mit Nachweisen. - Allg. zur Weimarer Verfassungsgeschichte: C. Gusy, Die Weimarer Verfassung, 1997. - Eingehend auch: M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 3, 1999. - s. jetzt auch P. Blomeyer, Der Notstand in den letzten Jahren von Weimar, 1999. 13 Vgl. auch Fabio Konder Comparato, Rèquiem para urna Constituiçâo, Typoskript (1998), S. 4. 14 In: Parlamentarismo no Brasil: Como, por que PSDB, Brasilia, 1992, S. 23; hier zitiert nach: Folha de Säo Paulo de 7. 6. 1990, S. 2.

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dem zutreffenden Titel „Constituiçâo ou prepotência?" (Verfassung oder Übermacht?). Er wandte sich speziell gegen den Piano Collor im Rahmen von Art. 62 und schreibt: „O Executivo abusa da paciência e da inteligência do pais" (Die Exekutive treibt mit der Geduld und der Intelligenz des Landes Mißbrauch). Diese Medida sei immer nur „remédio extremo, realmente urgente e relevante" (ein äußerstes, wirklich wichtiges und dringendes Hilfsmittel), was beim Piano Collor nicht der Fall sei, also nicht beim langfristigen Kampf gegen die Inflation. Der erste „a abastardar tal entendimento" (der dieses Verständnis entarten ließ) sei Präsident Sarney gewesen, indem er zwischen Oktober 1989 und März 1990 an den Kongreß 148 Medidas Provisórias geschickt, sie damit wie die früheren „decretos-leis" (Dekrete mit Gesetzeskraft) mißbrauchend. Nach einer Statistik, enthalten in der Proposta de Emenda à Constituiçâo N.o 13 von 1995 betrug die Häufigkeit solcher Medidas während der Amtszeit Sarney 8,4 pro Monat, bei Collor 5,07, bei Itamar 11,7 pro Monat. In der Tat sind für 1994 insgesamt 405 erlassene und wiedererlassene Akte nach Art. 62 verzeichnet. Der gegenwärtige Präsident hat diese Zahlen dann allerdings eindrucksvoll zu überbieten gewußt: 437 in 1995, 648 in 1996 und 694 im Jahr 1997. Für 1998 lag mir noch keine vollständige Übersicht vor. Doch hat Präsident Cardoso in der Woche des 16. Mai 1999 die Schallmauer seiner dreitausendsten Medida Provisoria durchbrechen können; das bedeutet 2,7 dieser Maßnahmen pro Werktag seit Beginn seiner Präsidentschaft 15. Zum Verhältnis Exekutive/Nationalkongreß ist es erhellend, daß von den 648 Medidas des Jahres 1996 nur 15 „transformadas em Lei" (in Gesetzesform umgewandelt) wurden und von den 694 des Folgejahres nur 31. Die berühmte Medida 001549-039 vom 1. Januar 1995, also vom ersten Amtstag des heutigen Präsidenten, ist bekanntlich nie in Gesetzesform transferiert worden. Bis Ende Januar 1998 - soweit geht meine Statistik - war sie bereits 38 mal wiedererlassen worden. Eine besondere Form des Mißbrauchs besteht etwa darin, eine alte Medida unter neuem Namen neu herauszugeben; eine solche wurde bereits 1992 von Cardoso als „contrafacçâo ... flagrante", als „disfarçada" und „inconstitucional" (offenkundige Fälschung, hinterhältig, verfassungswidrig) - zu Recht - gebrandmarkt. Weitere abusive Formen sind natürlich vor allem der Erlaß ohne ausreichende Sachvoraussetzungen für Art. 62; der Neuerlaß, der dem klaren Text des Art. 62 widerspricht und de facto zu einer unabsehbaren Verlängerung von Maßnahmen führt, welche die Verfassung unmißverständlich als „provisorisch" fixiert hat; oder die strategische Umgehung der beiden Kammern, etwa durch Manipulation der Abstimmung. Den Innovationen scheint keine Grenze mehr gesetzt; so soll am 28. Oktober eine Medida erlassen worden sein, die erst am folgenden 1. Dezember in Kraft treten sollte. Ein solches Vorgehen macht sich möglicherweise die in der Rechtstheorie so genannte Vorwirkung von Normen zunutze und ist dann aus dem Text von Art. 62 auch nicht mehr legitimierbar. Fügen wir noch das aktuelle Vorhaben an, eine »miniconstituinte* (Verfassunggebende Versammlung en miniature) auf der «5 Quelle: J. de Freitas, FHC 3000, in: Folha de Säo Paulo de 16. 5. 1999. 3*

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Grundlage einer Medida arbeiten zu lassen16, so haben wir ein elaboriertes Pandämonium „Medida Provisória" zusammengefügt. Nach lateinamerikanischer Tradition war der Präsidentialismus eine „temporäre Diktatur", eine „Halbdiktatur" 17 . Mit dieser Tradition will die Verfassung von 1988 auf mehrfache Weise brechen; aber die Praxis eines innerhalb der Exekutive absoluten und zugleich in der Legislative extrem tätigen Präsidenten schließt auf höchst alarmierende Weise an die vor-demokratische Geschichte an. Die Häufigkeit der Medidas nimmt ihnen den normierten Ausnahmecharakter; sie „devasta ο sistema juridico fundamental, representa perversa face de urna crise constituinte"18 (zerstört das grundlegende Rechtssystem, bietet den perversen Anblick einer Verfassungskrise). Der Präsident der Vereinigung der Bundesrichter Brasiliens bringt die Situation in den Umkreis der Begriffe „Führer" und „Duce" und überschreibt seinen Beitrag, nicht zuletzt auch wegen der Medida Provisória über die miniconstituinte, mit „à beira de uma ditadura" 19 (am Rand einer Diktatur). Derselbe Präsident, dem jetzt vorgehalten wird „conduz ο pais ao autoritarismo" (er führe das Land in den Obrigkeitsstaat), hatte 1992 noch selbst geschrieben, der Nationalkongreß, der sich das bieten lasse, „ajuda a desmoralizar a atividade politica e acaba agravando a instabilidade da sua propria base parlamentar" 20 (helfe mit, politische Mitwirkung zu demoralisieren und werde schließlich die Labilität der eigenen parlamentarischen Grundlage verschlimmern). Medidas Provisórias sind keine gleichwertige Alternative zum parlamentarischen Gesetz, keine „leis ,expedidas pelo Executivo'" 21 (von der Exekutive erlassenen Gesetze); vielmehr nur „uma medida administrativa de natureza normativa. Näo é lei" 2 2 (eine Verwaltungsmaßnahme normativer Art. Die Medida ist nicht Gesetz.). Die Medida ist nach Art. 62 Bras Vf selber prekär, vorläufig, ephemer. Sie darf auch selbst nur etwas Vorübergehendes anzielen, vorläufig zu regeln versuchen. Insofern traf Cardosos Kritik am Piano Collor 1992 durchaus zu; um wieviel mehr aber seitdem an seinem Piano Real! Art. 62 erlaubt nur dann eine Medida, wenn „a situaçâo muito grave demande providências imediatas"23 (die sehr ernste Lage sofortige Maßnahmen erfordert). In genau diesem Sinn hatte, gegen Präsident Collor, der heutige Präsident 1992 formuliert: „Quando ... elaboramos (a Consti16 Dazu F. Tourinho Neto (presidente da Associaçâo dos Juizes Federais do Brasil), A beira de uma ditadura, Folha de Säo Paulo de 13. 11. 1998. 17 Fâbio Konder Comparato , Rèquiem para uma Constituiçâo, Typoskript (1998), S. 4 f. 18 C. L. Antunes Rocha, Constituiçâo e Medida Provisória no Direito Brasileiro, Typoskript (1998), S. 4. 19 F. Tourinho Neto, A beira de uma ditadura, Folha de Säo Paulo de 13. 11. 1998; dort auch das zunächst im Text folgende Zitat. 20 Fernando Henrique Cardoso, Folha de Säo Paulo de 7. 6. 1990, S. 2. 21 Hierzu und zum folgenden die Darlegungen bei Celso Antonio Bandeira de Mello, Perfil Constitucional das Medidas Provisórias, in: Revista de Direito Publico, N.o 95, S. 28 ff. 22 C. L. Antunes Rocha, Typoskript (1998), S. 8. 23 C. A. Bandeira de Mello (wie Fn. 21), S. 29.

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tuiçâo), ο pressuposto era ο de que tais medidas seriam remédio extremo, realmente urgente e relevante" 24 (Als wir die Verfassung ausarbeiteten, war es die Absicht, solche Maßnahmen seien ein äußerstes, wirklich wichtiges und dringendes Hilfsmittel). Und derselbe Präsident, der seit 1995 hunderte von Neuerlassen (reedicöes) zu verantworten hat, schrieb 1992, daß „näo se permite - obviamente - que ο presidente reedite medida rejetada pelo Congresso" (es ist - leicht ersichtlich - nicht erlaubt, daß der Präsident eine durch den Kongreß zurückgewiesene Medida wieder erläßt). Ganz zu recht; die Verfassung nennt sie ausdrücklich „provisorisch", unterwirft sie der Entscheidung des Kongresses, stellt dafür kurze Fristen auf und läßt sie, wenn nicht vorher in Gesetze transferiert, nach maximal 30 Tagen ihre Gültigkeit verlieren - und das zudem noch „desde a ediçâo" (von Erlaß an), also ex tunc. Nach maximal 30 Tagen sind sie nach dem klaren Ausdruck der Verfassung entweder Gesetz oder nicht mehr existent, angesichts derselben Tatsachen und Situationen25. „Reedita-la corresponderia, entäo, a urna afronta ao Poder Legislativo e a um manifesto extravasamento da competência do Presidente" (Sie wieder zu erlassen, käme also einer Beleidigung der gesetzgebenden Gewalt und einer eindeutigen Kompetenzüberschreitung des Präsidenten gleich.), wie Bandeira de Mello schreibt; er fügt hinzu, es könne sich dabei um ein Verschulden des „crime de responsabilidade" (Amtsverbrechen des Staatspräsidenten) nach Art. 85 Bras Vf handeln. Grammatische, systematische und teleologische Auslegung, d. h. die hier aussagekräftigen Elemente der Konkretisierung, zeigen, daß eine Medida Provisoria in maximal 30 Tagen entweder Gesetz wird oder ungültig. Sie zu umgehen, verstößt gegen beide Dispositive und fügt einen dritten Verfassungsverstoß hinzu: indem es sie „dauernd" statt „vorläufig" machen würde. Die privatrechtliche Parallele hierzu ist seit den Tagen des Römischen Rechts das „Umgehungsgeschäft"; und die Präsentierung einer Medida vor dem Kongreß mit dem genannten Hintergedanken ein „Scheingeschäft". Beide sind im modernen Recht ungültig; im öffentlichen Recht Deutschlands spricht man bei vergleichbaren Konfigurationen von „Rechts/ormenmißbrauch". Aus all diesen Gründen muß der Wiedererlaß in Art. 62 nicht noch einmal verboten werden, er ist es bereits durch die Gesamtaussage und -architektur des Art. 62 selbst. Linguistisch gesprochen, wechselt der Verfassungstext natürlich nicht in die Metasprache, um das, was er objektsprachlich normiert hat, nocheinmal metasprachlich zu wiederholen - wenn auch es wahr ist, daß „interpretaçôes ,kafkianas' sempre aparecem quando se trata de fornecer amparo para abusos de 24

Fernando Henrique Cardoso (wie Fn. 20); ebd. das folgende Zitat. „ante os mesmos fatos e situaçôes", so C. A. Bandeira de Mello (wie Fn. 21), S. 30. Ebd. das im Text folgende Zitat. - s. ferner Tércio Sampaio Ferrai Jr. , Sobre a reediçâo de Medidas Provisórias, in: ders., Interpretaçâo e Estudos da Constituiçâo de 1988, Säo Paulo, 1990. S. 93 f. - Das im Text weiter folgende Zitat (" .. .jà que interpretaçôes kafkianas ...") bei C. A. Bandeira de Mello, ebd., S. 31. 25

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Executivo" 26 (daß ,kafkaeske' Interpretationen immer dann auftauchen, wenn es darum geht, Mißbräuche, die von der Exekutive begangen wurden, abzustützen). Noch einmal anders ausgedrückt, nämlich kompetenzrechtlich: Kein Amtsträger im Verfassungsstaat, auch nicht der Präsident, hat Rechte und Zuständigkeiten „von Gottes Gnaden", aus dem Willen der Geschichte oder aus sonstigen metaphysischen Quellen. Er hat sie allein aus der positiven Konstitution. Wenn Art. 62 nicht ausdrücklich die Kompetenz auch zum Wiedererlaß normiert, dann gibt es diese Kompetenz nicht. Dagegen gilt die Regel „Was nicht verboten ist, ist erlaubt" für einen völlig anderen Bereich: den zwischen Bürger und liberalem Staat; aber eben gerade nicht für die rechtlichen Kompetenzen dieses Staats.

V. Die historische und vergleichende Analyse ist noch in einigen Punkten weiterzutreiben. Wenn in anderen Ländern, ζ. B. Italien, Verordnungen mit Gesetzeskraft einigermaßen funktionieren mögen, so nur auf der Basis einer Abhängigkeit der Regierung von der Parlamentsmehrheit. Im brasilianischen Präsidialsystem mit der starken Tradition des Klientelismus dagegen führt dieses Instrument zu perversen Folgen. Eine mißbräuchlich ausgedehnte Praxis von Medidas Provisórias schwächt auf erschreckende Weise die Verantwortlichkeit der Volksvertretung und die Moral der politischen Parteien. Sie entdemokratisiert auf kaltem Weg, hinter den Kulissen. Indem sie die Gewichte zwischen Legislative und Exekutive dramatisch zu deren Gunsten verschiebt, versetzt sie auch der Gewaltenteilung einen vielleicht noch einmal tödlichen Stoß - und damit dem Kern der rechtsstaatlichen Architektur des Staates. Das Instrument des Art. 62, die Verteilung und Trennung der Kompetenzen und übrigens auch die Exekutivfunktion als solche werden denaturiert. Ohne den Nationalkongreß verfassungsmäßig auflösen zu müssen, kann ihn der Präsident zugleich entmachten und von Verantwortung entlasten -ein circulus vitiosus aus Entparlamentansierung und Entdemokratisierung. So führten ja auch im Deutschland der Weimarer Republik nicht etwa allein die präsidialen Notverordnungen zum Niedergang der Demokratie; sondern - als Basis für den Mißbrauch dieses formalen Instruments - die Unfähigkeit des Parlaments und des parlamentarischen Systems. Erst in diesem fatalen Zusammenspiel degenerierte dieses in den Jahren ab 1930 zu einem autoritären Präsidialregime, das die Machtergreifung der Nationalsozialisten möglich machte - aber eben ganz entscheidend auch mit dem problemlos disponiblen Mittel der Notverordnung. Hatte schon früher angesichts unpopulärer, aber notwendiger Beschlüsse - die Verantwortungsscheu der Parteien eine unheilvolle Rolle gespielt, so entzogen sich die Parlamentsfraktionen in den zwei letzten Jahren von Weimar ganz ihrer Aufgabe. Aus dem parla26 Zu: Objektsprache und Metasprache bei Gesetz und Verfassung: E Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, S. 184 - dort auch zu einem brasilianischen Beispiel (Art. 5 § 1 Bras Vf).

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mentarischen System war eine präsidiale Diktatur geworden. Wenn Ministro Marco Aurelio vom Supremo Tribunal Federal 27 hinweist auf " . . . a apatia do Congresso Nacional. Às vezes, è mais comodo näo enfrentar a matèria, muitas vezes impopular, e, ai, ao invés de termos no Brasil très Poderes, deixamos de ter um deles . . . " ( . . . die Apathie des Nationalkongresses. Manchmal ist es bequemer, sich einer oft unpopulären Problematik erst gar nicht zu stellen; und so, statt in Brasilien drei Staatsgewalten zu haben, lassen wir eine von diesen fallen), dann muß das auf gleiche Weise für die unselige deutsche Erfahrung gesagt werden. Dort wie im heutigen Brasilien vermischen sich Normal- und Notstandslage mit zunehmender Dekadenz des Art. 48 Abs. 2 WRV wie des Art. 62 Bras Vf. - ein schleichender Ausnahmezustand mit der Gefahr, chronisch zu werden. Die Analyse darf sich nicht damit zufrieden geben, die beiden Artikel würden eben mißbraucht. Mißbrauchbar ist im Prinzip alles. Aber es bleiben dann noch drei Fragen: Wie schwer oder wie leicht wird Mißbrauch gemacht? Wie häufig ist er also? Und: wie schwerwiegend sind die typischen Folgen? Notverordnungen und Medidas Provisórias sind rechtliche Institute, die sich dem Mißbrauch geradezu anbieten; die sich erfahrungsgemäß in groteskem Grad häufen und die schwerbis schwerstwiegende Folgen für das verfassungspolitische Schicksal eines demokratischen Rechtsstaats haben können. Sucht man nach der tiefsten Ursache dafür, so findet man sie in folgendem sachlichen Kern: Solche Verordnungen mit Gesetzeskraft sind hybride Formen. Sie sind außerordentliche Maßnahmen, d. h. Mittel des Ausnahmezustands. Aber sie sind es im Rahmen des Normalzustands. Die Exekutive muß den Ausnahmezustand nicht erklären und mit all seinen innen- und außenpolitischen Kosten nicht verantworten. Medidas Provisórias vermeiden, in ihrer mißbräuchlichen Version, alle Nachteile und vereinen die Vorteile von Normallage und Ausnahmelage - für wen? Für eine bedenkenlose Exekutive. Dagegen ist nicht weniger notwendig, als ein Wechsel des Paradigmas - ein Wechsel, den die maßgebende Mehrheit der brasilianischen Rechtswissenschaftler schon vollzieht: weg von der Konstitution als de facto - ius dispositivum und hin zur Verfassung als ius cogens; weg vom symbolisch-nominalistischen und hin zum normativen Verfassungsdenken. Die Verfassung muß als praktisch immer verbindlich behandelt, muß - hier am Punkt des Art. 62 Bras Vf. - als positives Recht unzweideutig beim Wort genommen werden 28.

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Supremo Tribunal Federal /Tribunal Pleno de 27. 11. 1997 (Açâo Direta de Inconstitucionalidade N. 1659-6 Uniäo Federai /Voto de Ministro Marco Aurelio, Typoskript, S. 3 f.). 28 Dazu: F. Müller, Constitucionalidade - Legalidade - Legitimidade, Säo Paulo, 2001 (Editora Max Limonad).

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VI. Welche praktischen Folgen ergaben sich für Deutschland, welche können sich für Brasilien ergeben? In Deutschland wurden 1949 mit dem Grundgesetz die Notverordnungen abgeschafft - so schlecht waren die historischen Erfahrungen damit. Weder der - in seinen Rechten enorm einschränkte - Bundespräsident noch auch Bundesregierung mit Bundeskanzler haben noch diese Möglichkeit. Der sog. Gesetzgebungsnotstand betrifft Gesetze und nicht Verordnungen; außerdem muß der Bundesrat zustimmen. Auch die Rechtsverordnungen nach Art. 80 GG haben mit Notverordnungen nichts zu tun: sie stehen im Rang unter dem Gesetz und werden durch ein Gesetz ermächtigt, das zugleich „Inhalt, Zweck und Ausmaß" der Regelung („conteùdo, objectivo e extensäo da autorizaçâo") festzuschreiben hat. Auf diese Art werden Demokratie, der Vorbehalt des Gesetzes, die rechtsstaatliche Bestimmtheit und die Gewaltenteilung geschützt. Erst 1968 wurden dem Grundgesetz Notstandsartikel eingefügt. Nicht einmal im äußeren Notstand gibt es dabei ein Notverordnungsrecht der Bundesregierung; nur aus gesetzlichen Ermächtigungen ergeben sich de facto weitreichende Kompetenzen zur Sicherung des zivilen und militärischen Bedarfs. Im ganzen zeigt sich, daß Notverordnungen i.S. der Weimarer Republik oder der Medidas Provisórias in Deutschland nicht mehr existieren. Was könnte nun in Brasilien gegen die dargestellte, vor allem in Brasilien selbst kritisierte verhängnisvolle Entwicklung getan werden? Diese Frage ist komplex; es empfiehlt sich, sie nach Gesetzgebungs- Verfassungs- und Rechtsprechungsebene zu differenzieren. - Nach der Verfassung obliegt dem Kongreß die Kontrolle, aber der Kongreß erwies sich bisher als unwirksam. Es ließe sich daran denken, durch neue (so das Ausführungsgesetz zum mandado do injunçâo) Proze&ge setze, oder durch eine Ergänzung der vorhandenen, die Möglichkeiten gegen Medidas Provisórias auszuweiten. Das ist aber schon bisher möglich, z. B. im Rahmen eines Mandado de Segurança (einstweilige Verfügung) mit seinem Aspekt des „abuso do poder" (Amtsmißbrauch) (Art. 1 Lei de 31. 12.1951). Eine Gesetzesnovelle könnte nur deklaratorisch sagen, auch die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 62 seien überprüfbar. Das gilt aber auch schon bisher, direkt aus Art. 62 Bras Vf. Ähnlich unfruchtbar wäre eine Klarstellung gegen die Medidas Provisórias in einem neuen Ausführungsgesetz zum mandado do injunçâo; vor allem seit das STF dieses Instrument 1990 „getötet" 29 hat. Sonstige schon bestehende Prozeßmöglichkeiten wie die açâo direta de inconstitucionalidade (Art. 102 Abs. 1 a Bras Vf.) (direkte Klage auf Erklärung der Verfassungswidrigkeit), açoës 29 So bestimmte Äußerungen von Sr. Ministro Moreira Alves. - Zur Problematik dieser Judikatur: F. Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, S. 186 mit Fn. 418 und v.a. /. de Oliveira Rodrigues, Ο Mandado de Injunçâo nos Julgados do Supremo Tribunal Federai, Porto Alegre 1995.

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declaratórias oder açâo popular (Feststellungsklagen, Popularklage) und andere könnten ebenfalls nicht wesentlich helfen; der Vorteil, für Gesetzesänderungen oder -klarstellungen nur einfache Mehrheiten zu benötigen, wirkt sich insofern nicht aus. Besser könnte das Ergebnis bei einer neu eingeführten Verfassungsbeschwerde sein. Diese ließe sich eventuell auch durch einfaches Prozeßgesetz schaffen; so funktionierte sie auch in Deutschland von 1951 bis 1969 nur auf Gesetzesbasis (heute in Art. 93 Abs. 1 4a, 4b GG). Die anderen prozessualen Gesetzesmöglichkeiten erscheinen dagegen, wie gesagt, nicht aussichtsreich. Auf Verfassungsebene ist die brasilianische Debatte besonders lebhaft. Die einzige explizite Begrenzung der Medidas Provisórias bisher liegt in Art. 246: in Materien, die von der Legislative seit 1995 geregelt wurden, darf keine Medida erlassen werden. Das ist eine Limitierung, aber sie ist manipulierbar - über die Ausdehnung einer „Materie" kann man streiten, wie es nicht zuletzt aus Kompetenzkonflikten im Bundesstaat bekannt ist. De lege ferenda ist mir eine Reihe von Vorlagen zur Verfassungsänderung bekannt (Propostas de Emenda à Constituiçâo), sei es von Abgeordneten, sei es vom Senat. Sie im einzelnen zu kommentieren, würde ein eigenes Referat erfordern. Hier geht es aber ohnehin nicht um einen Bericht, sondern um eine analytische Untersuchung sowie eine daraus zu ziehende praktische Synthese. Auf dieser Ebene kann man zusammenfassen: Alle Vorschläge wollen die Mißbrauchbarkeit des Art. 62 beseitigen. Alle versuchen dazu, den Art. 62 redaktionell zu verändern: sei es durch die Aufzählung von Materien, die seiner Prozedur entzogen bleiben sollen; sei es durch Änderung der Gültigkeitsdauer; sei es durch Eingrenzung der Wiederholbarkeit. Ein einziger Vorschlag verlangt die Abschaffung (PEC N.o 13, de 1995, Sr. Adylson Motta e Outros). Er hat den Vorzug, die Mißbrauchbarkeit wirklich auszuschließen. Dagegen ist die Aufzählung exemter Materien vor Manipulation nicht wirksam zu schützen. Dasselbe gilt für eine schärfere Definition der Tatbestandsvoraussetzungen (pressupostos de admissibilidade), da bereits die bestehenden des Art. 62 genügen würden, wenn sie rechtsstaatlich korrekt behandelt würden. „Urgência" und „relevancia" werden nur behauptet und nicht effektiv kontrolliert. Das Übel der bisherigen Praxis liegt also nicht in Art. 62 - er ist gut und ausreichend streng formuliert - , sondern im Versagen des institutionellen Umfeldes (vom Kongreß bis zum Verfassungstribunal), welches Kontrollen vermeidet und Sanktionen scheut. Diese ungünstigen Bedingungen sind eben nicht zuletzt politische, und sie können durch eine bessere Redaktion des Art. 62 nicht beseitigt werden. Die unter diesen Voraussetzungen von mir vorgeschlagene Formulierung für die Frage der Gültigkeitsdauer würde besagen: „Die medidas provisórias verlieren rückwirkend (desde a ediçâo) endgültig ihre Wirksamkeit, wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten ab ihrer Verkündung (a partir de sua publicaçâo) in Gesetzesform konvertiert werden, wobei der Nationalkongreß die hieraus entstehenden Rechtsverhältnisse zu regeln hat. Dasselbe gilt, wenn sie innerhalb von drei Mona-

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ten ab ihrer Verkündung vom Nationalkongreß nicht behandelt wurden. Ein Wiedererlaß (reediçâo) ist während des laufenden Mandats des Staatspräsidenten in jedem Fall unzulässig, auch in modifizierter Form." Manipulierbar bleibt hier immer noch die Gleichheit/Ähnlichkeit der Medida; auch könnte die Exekutive geltend machen, die faktische Lage habe sich geändert - und in Wirklichkeit dieselbe Medida wieder erlassen. Auch dieser Vorschlag leidet also unter der Unzulänglichkeit des institutionellen Umfeldes. Will man dies vermeiden, so bleibt nur die völlige Streichung des Art. 62 (damit auch von Art. 246) Bras Vf für den Normalzustand. Die Medidas könnten dann einen Ort innerhalb der Notstandsverfassung (Art. 136 ff. Bras Vf) finden; am besten aber ebenso wie im heutigen Deutschland - nicht als generelles Notverordnungsrecht, sondern nach regelbaren bzw. hiervon ausgenommenen Gegenständen enumeriert. Auch hier ist wieder Mißbrauch möglich. Der institutionelle Schutz liegt aber darin, daß der Notstand formell erklärt (und wieder aufgehoben) werden muß; und der politische Schutz, daß eine Exekutive im Notstand mit wesentlich größeren inneren und nicht zuletzt internationalen Legitimationsproblemen zu kämpfen hat. Sie wird sich viel schwerer dazu durchringen, den Ausnahmezustand auszurufen, als - so wie bisher in Mißbrauch des Art. 62 Bras V f - fortlaufend Medidas Provisórias in die Welt zu setzen. Alle drei Vorschläge, die ich gemacht habe, brauchen parlamentarische Mehrheiten: die Abschaffung des Art. 62 für den Normalzustand bzw. die Neufassung des Art. 62 im Sinn meiner Formulierung benötigen verfassungsändernde Mehrheiten. Dagegen käme die Einführung einer Verfassungsbeschwerde für jeden Bürger ggf. auch mit einer einfachgesetzlichen Mehrheit aus - wie in Deutschland zwischen 1951 und 1969. Bei dieser Verfassungsbeschwerde wäre - der Klarheit halber - zu präzisieren, daß sie sich „gegen alle Akte der Staatsgewalt, einschließlich von Medidas Provisórias" richten kann. Ohne Änderung von Gesetz und Verfassung, ohne eventuell neue politische Mehrheiten könnte allerdings die Rechtsprechung schon jetzt Entscheidendes bewirken. Schon jetzt gibt es ausreichende prozessuale Institute dafür, so nach Art. 1021 a und 103 die açâo direta de declaraçâo de inconstitucionalidade (unmittelbare Klage auf Erklärung der Verfassungswidrigkeit); auch auf dem Weg der controle incidental (Inzidentprüfung) kann vorgegangen werden, und zwar durch alle Gerichte. An sie, und vor allem an den Supremo Tribunal Federal sollten wir appellieren. Erlauben Sie auch mir, dem Nichtbrasilianer, der sich loyal mit den Problemen Ihres großen Landes beschäftigt, diesen Appell an die Verfassungsjustiz: Wenden Sie den Art. 62 mit all seinen Kautelen als das direkt geltende positive Verfassungsrecht an, das er ist. Überprüfen und ggf. sanktionieren Sie das Handeln des Staatspräsidenten als ein positivrechtlich gebundenes (und nicht aus Natur, Geschichte oder von ,Gottes Gnaden1 legitimierbares) Handeln. Es ist legitimierbar allein aus dieser Verfassung von 1988. Annullieren Sie die dem Art. 62 von Anfang an nicht entsprechenden bzw. durch - nach Art. 62 nicht ermächtigte -

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Erneuerung (reediçâo) verfassungswidrig gewordenen Medidas Provisórias! Damit stärken Sie auf eine unersetzliche Art die Konstitutionalität, die Legalität und die Legitimität der Föderativen Republik Brasilien!

D. Aktuelle Legitimationsfragen des Wahlrechts in Deutschland und Brasilien I. Zu den Begriffen und Legitimationsmodellen Unter „Legitimität" verstehen Juristen meist eine „Richtigkeit" des Rechts, die aus „überpositiven Werten" stammen soll, beispielsweise aus der sogenannten Rechtsidee. Dadurch soll sich Legitimität von der „bloßen" Legalität abheben als der weniger anspruchsvollen Gesetzlichkeit des positiven Rechts. Ich sehe das anders; will es aber nicht durch eine Gegen„definition" beantworten, sondern im Lauf der folgenden Überlegungen eher induktiv herausarbeiten. Und „Wahlrecht" wird oft als Oberbegriff verwendet: für alle Stimmabgaben der Aktivbürger in einer Demokratie. Dagegen unterscheidet das deutsche Grundgesetz (Art. 20 Abs. 2 Satz 2) auf interessante Weise zwischen „Wahlen" und „Abstimmungen" - eleiçôes und votaçôes. Das ist kein Spiel mit Synonymen. „Wahlen" sind nur solche, in denen Personen gewählt und in Entscheidungsgremien entsandt werden, die dann dort „repräsentativ" für das (Wahl-)Volk über Sachfragen zu befinden haben - ζ. B. Wahlen zum Bundestag, zu den Landtagen, für die kommunalen Vertretungskörperschaften. Und in „Abstimmungen" befindet die Aktivbürgerschaft direkt über eine gestellte Sachfrage; nach dem Grundgesetz nur in Sachen Neugliederung des Bundesgebiets (Art. 29,118 GG). Beide Ausdrücke - „Wahlen/Abstimmungen" - sind insofern nicht nur Wörter, sondern Begriffe; sie markieren nicht weniger als den Abstand zwischen direkter und indirekter, zwischen plebiszitärer und repräsentativer Demokratie. Sowohl Brasilien als auch Deutschland folgen ganz wesentlich deren repräsentativer Spielart. Auf Art. 118 GG beruht - es war als nur einmaliger Akt vorgesehen und wurde 1951 durchgeführt - die Bildung des Landes Baden-Württemberg. Und Art. 29 GG sah generell die Neugliederung des Bundesgebiets vor - a restruturaçâo do territòrio federal. Selbst diese schwache Möglichkeit plebiszitärer Einflußnahme des Volkes wurde noch reduziert: denn 1976 hat man die Muß-Vorschrift zu einer bloßen Kann-Vorschrift abgeschwächt - von „ i s t . . . neu zu gliedern" („deve ser restrudurado") zu:„kann neu gegliedert werden" („podera ser restruturado"). Ich werde, gerade unter Aspekten der Legitimität, später noch darauf zurückkommen. Auch für Brasilien wird zwischen „sufragio universal" und „voto" unterschieden: in Art. 14, der für das „voto direto e secreto" die drei Formen von „plebiscito", ,deferendo" und „iniciativa popular" benennt. Die zuletzt genannte wird in

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Art. 61 § 2 näher normiert und damit auch eingegrenzt. Plebiscito und Referendo stehen - Art. 49 XV - allerdings rechtlich und damit gerade auch politisch völlig zur Disposition des Nationalkongresses. Dieser hat die „competencia exclusiva" auch hierüber: „autorizar referendo e convocar plebiscito". Dabei gibt es, wie in Deutschland, das besondere Plebiszit zur Neuformung von Bundesländern (und zusätzlich von Gemeinden: Art. 18, §§ 3 und 4). Zudem sah Art. 2 der Übergangsvorschriften (Ato das Disposiçôes Constitucionais Transitorias) ein Plebiszit über die Staatsform vor. Hier hat sich am 21. 4. 1993 eine große Mehrheit der Abstimmenden für (a) die Republik und (b) die Präsidialverfassung als Regierungsform, also gegen eine parlamentarische, entschieden. Nicht nur Deutschland, sondern bei näherem Zusehen auch Brasilien vertraut also im ganzen sehr wenig auf die Form von demokratischer Legitimität, die aus direkten Sachentscheidungen der Aktivbürger kommen kann. Man muß sich dabei vor Augen halten, wie stark das Demokratiekonzept im geltenden Verfassungsrecht sowieso schon verdünnt ist. Der Grundgedanke einer Selbstregierung des Volkes wird aus pragmatischen Gründen in einer ersten Reduktion fallen gelassen, er würde nach Rousseaus Wort „ein Volk von Göttern" voraussetzen. Was an die Stelle tritt, ist das Postulat der Selbsicodierung des Volkes: Bestimmung des geltenden Rechts durch die Betroffenen, d. h. durch alle. „One man one vote" heißt eben nicht nur: jeder Aktivbürger hat nur eine Stimme; sondern auch: jeder Betroffene hat eine Stimme, ist also Wahlbürger, wenn man dem zweiten Rückzugsgefecht des Demokratiekonzepts folgt; dagegen Srimmbürger, soweit man, plebiszitär, das Volk direkt durch Volksinitiativen und -entscheide bestimmen läßt. Abstimmungen sind, vom Grundgedanken her, deutlich demokratischer als Wahlen mit anschließender Entscheidung durch die Repräsentanten. Diese bilden gemäß dem „ehernen Gesetz der Oligarchisierung", in der politischen Soziologie der 20er Jahre formuliert, ein, wie heute z.T. gesagt würde, weitgehend selbstreferientelles Subsystem in concreto mehr oder weniger, meistens weniger demokratisch agierend. Das Repräsentativsystem „vermag seinen historischen Ursprung aus dem Ständewesen niemals restlos zu verleugnen"; und zwar so weit, daß theoretisch reflektiert „die Redewendung ,ein demokratisches Parlament 4" sogar „ein Paradoxon" darstellt 1. Dieses Modell stützt sich auf das „Axiom eines naturrechtlich basierten ... originären Gesamtinteresses . . . , das sich auf den Gegenstand obrigkeitlicher Hoheitstätigkeit erstreckt". Dagegen geht das plebiszitäre System aus „von dem doppelten Axiom des individuellen Wahl- und Mitbestimmungsrechts als eines Menschenrechts und der Volkssouveränität als einer prinzipiell uneingeschränkten und unantastbaren Kollektivbefugnis" 2. Das hat schon Jean-Jacques Rousseau zu dem Satz geführt, die Engländer wähnten sich zu unrecht frei, weil sie tatsächlich nur im Augenblick der Ausübung des Wahlrechts frei seien3. Er hat, gegen den in1 Ernst Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, 1958, S. 6. 2 Ebd., S. 7 f.

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soweit allzu anglophilen Montesquieu, „die einem jeden souveränen Repräsentationsorgan innewohnende Gefahr deutlich erkannt, durch Isolation, Kooptation und Korruption zu einer Clique zu erstarren" und - als postulierte »Repräsentation des Volkes* an den Klippen der sich etablierenden Oligarchie zu scheitern4. Die Autoren des deutschen Grundgesetzes scheuten vor gewissen plebiszitären Erfahrungen der Weimarer Republik zurück. Nur hat es dabei „den Anschein, als ob (sie) in das andere Extrem verfallen sind und den repräsentativen Charakter des Regierungssystems überbetont haben"5. Nach dem, was ich oben im Verfassungsvergleich zur brasilianischen Konstitution gesagt habe, gilt für das Legitimationsmuster der Föderativen Republik von Brasilien nichts anderes.

Π. Aktuelle Streitfragen Aber auch innerhalb der repräsentativen Demokratie gehen die Aspekte der Legitimierung auseinander. Die Rede ist davon, wie das Wahlrecht im einzelnen ausgestaltet werden soll. Verhältnis- bzw. Mehrheitswahl „verschaffen den Abgeordneten und damit dem Parlament demokratische Legitimation in je eigener, voneinander ganz verschiedener Weise"6. Bei der Verhältniswahl suchen sich die Wähler anhand der Kandidatenlisten und der Programme eine parteipolitische Richtung aus; bei strikter Durchführung des Modells wird das Parlament zum genauen Spiegel des Meinungsspektrums der Aktivbürgerschaft. Beim Gegenmodell schafft die Bestimmung des Wahlkreiskandidaten durch Mehrheit eine nähere Beziehung zu diesem Teil der Wählerschaft: Persönlichkeits- statt Listenwahl. Die minoritär bleibenden Stimmen fallen aus, weshalb es die Wahlgleichheit erfordert, die Wahlkreise so weit wie nur irgend möglich gleich groß zu ,schneiden4. Dagegen erfordert die Wahlgleichheit bei der Verhältniswahl den gleichen Erfolgswert jeder einzelnen Stimme. So gesehen, erscheint diese demokratischer, die Mehrheitswahl funktionalistischer, nämlich im Interesse der Bildung stabiler Regierungen. Doch zeigen die spektakuläre Abwahl konservativer Mehrheiten 1997 in Großbritannien und Frankreich, daß unter Aspekten nicht der proportionalen Statik, sondern der politischen Dynamik die Mehrheitswahl den Umschwung erleichtert, endlose politische Blockaden weniger begünstigt. Regierungsmehrheiten hängen hier weniger vom lichtscheuen Gemurmel der Koalitionsausschüsse und stärker vom - gegebenenfalls strafenden - Votum der Wähler ab. Das deutsche Wahlrecht der „personalisierten Verhältniswahl" versucht zwischen beidem einen Kompromiß: Verhältniswahlrecht mit einigen Besonderheiten

3 Du Contrat Social, 2. Buch, Kapitel 6. Ernst Fraenkel, S. 10. 5 Ebd., S. 56.

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6 Bundesverfassungsgericht, Urt. v. 10. 4. 1997-2 BvF 1/95, in: Neue Juristische Wochenschrift, S. 1553 ff., 1554.

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(5%-Klausel, gemildert durch die sog. Grundmandate; ferner Überhangmandate). Die zuletzt genannten sind Direktmandate, die über den proportionalen Anteil der Partei hinausgehen. Sie verbleiben dieser Partei ohne Proporzausgleich für die anderen Gruppierungen. Ausgerechnet über diese Überhangmandate, die die Vorteile beider Wahlrechtsmodelle zu kombinieren suchen, geht - unter anderem - der aktuelle Streit in Deutschland. Überhangmandate entstehen, neben anderen Ursachen, vor allem dann, wenn ein Bundesland zuviele Wahlkreise aufweist. Die dadurch bewirkte Verzerrung des Erfolgswerts jeder Stimme im Verhältniswahlrecht ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wegen des geschilderten positivrechtlichen Kompromisses so lange zulässig, als „die Wahlkreise im Rahmen des Möglichen annähernd gleich groß" sind7. Bei der Bundestagswahl 1994 nun erzielte die CDU zwölf Überhangmandate (die SPD nur vier); ohne diese hätte die Regierungskoalition im Bundesparlament nur noch eine Mehrheit von einer Stimme erreicht. Deswegen hatte das SPD-regierte Land Niedersachsen einen Normenkontrollantrag beim Bundesverfassungsgericht gestellt. Über diese Frage hat sich der zuständige Zweite Senat gespalten - wobei, nach dem Prozeßrecht, bei 4 zu 4 Richterstimmen der Antrag abgelehnt ist. Nach dem dissenting vote8 läßt das Gebot des gleichen Erfolgswerts jeder Stimme nur eine kleine Marge („Unschärfe") an Verzerrung zu. Darüber hinaus und besonders wegen unterbliebener Anpassung der Wahlkreise in der Wahlrechtsnovelle von 1996 seien die fraglichen Vorschriften inzwischen „verfassungswidrig geworden". Nach Meinung der vier das Urteil bestimmenden Richter muß die Begründung der früheren Judikatur, nach der Überhangmandate „in engen Grenzen" zulässig sein sollen, völlig ausgewechselt werden. Diese Mandate werden nicht mehr als Modifizierung der Verhältniswahl ausgegeben, sondern jetzt als Phänomene der Mehrheitswahl. Daher gehe es angeblich nicht mehr um die Gleichheit des faktischen Stimmerfolgs, sondern auf ,gut' neoliberal nur noch um die der Erfolgsc/iancen. Also seien die Wahlkreise gleichmäßig zu schneiden und auf die Bundesländer gleichmäßig zu verteilen. Überhangmandate sollen - als Grenze der Zulässigkeit - bis zu 5% der Gesamtsitzzahl im Parlament erlaubt bleiben. Dennoch hätte die Entscheidung „verfassungswidrig" lauten müssen, denn die Umschreibung und Verteilung der Wahlkreise ist ungleich und war, wie gesagt, 1996 immer noch nicht korrigiert worden. Auch die vier ,siegreichen4 Richter halten nämlich fest: „Die Größe der gegenwärtigen Wahlkreise ist deutlich ungleich; ihre Zahl in den einzelnen Ländern entspricht nicht mehr hinreichend deren Bevölkerungsanteil". Dennoch wird diese klare Verfassungswidrigkeit nicht sanktioniert; es genüge, daß der ι Ebd., S. 1555, vgl. auch schon BverfGE 7, S. 63 ff., 74 f.; 79, S. 169 ff., 171. s Ebd., S. 1558 ff.

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Gesetzgeber zusammen mit der Verkleinerung des Bundestags diese Fragen für die übernächste Bundestagswahl im Jahr 2002 ordentlich regeln werde 9. Vertrauen ist gut, korrekte Verfassungsjustiz ist besser. Dieser »Vertrauens'vorschuß ist umso erstaunlicher, als die Mehrheitsverhältnisse für 2002 nicht vorhersehbar sind und als für 1998/99 ein Ausscheiden von dreien der acht Richter dieses Senats vorgesehen ist. Vor lauter - politischem? - Pragmatismus kann Verfassungsjudikatur selber verfassungswidrig werden. Die - jedenfalls für die freie Diskussion - noch aktuelle Streitfrage für Brasilien steht Ihnen allen vor Augen. Oktober 1998 wurde ein Präsident wiedergewählt, der nach Art. 82 (und Art. 14 § 5) sowohl der Verfassung von 1988 als auch der Revision von 1994 nicht wieder hätte kandidieren dürfen. In sehr aufschlußreicher Weise sprechen alle von „Wiederwahl" - reeleiçâo - ; dabei kann keine Norm dem Volk verbieten, einen rechtmäßigen Kandidaten zu wählen. Alle sprechen davon, weil die Verfassungstexte selbst davon sprechen. Der Sache nach geht es aber um das Recht einer unmittelbaren Neukandidatur - das Oszillieren zwischen beiden Ausdrücken verbirgt das wohl wichtigste verfassungspolitische Argument für Art. 82 Bras Vf alter Fassung (sowie für die Verfassungstradition seit 1891). Fragen des Kandidatenstatois und des rechtlichen Zugangs zu ihm sind Wahlrechtsfragen par excellence. Vor der erneuten, durch den aktuellen Präsidenten persönlich betriebenen Verfassungsrevision hatten grammatische, historische, intern und extern systematische, sowie die genetischen Konkretisierungselemente eindeutig gezeigt, daß eine erneute Kandidatur verboten war. Es gab, um wenigstens nicht das Minimum an Legalität zu unterschreiten, nur den Weg der Änderung der störenden Verfassungstexte. Ob damit Legitimität bewahrt werden kann, ist zunächst offen; und muß in einer rechtsstaatlichen Demokratie durch Diskussion auf allen Ebenen auch offen gehalten werden dürfen. Die jetzt - wenn man von der Tatsache der Verfassungsrevision ausgeht - in den Vordergrund tretenden Elemente der Konkretisierung sind die verfassungspo/mschen. Diese sind, jedenfalls im methodologischen Konflikt, schwächer als jene, die sich auf geltende Normtexte stützen können - vor allem schwächer als die grammatischen und die systematischen. Aber unter der (bloßen) Arbeitshypothese, daß Art. 82 und 14 § 5 Bras Vf korrekt geändert wurden, haben sich grammatisches und systematisches Element zugunsten der Wieder-Kandidatur verschoben. Trotzdem bleibt die Frage offen, ob das verfassungspolitisch legitim erscheint. Dafür wurde angeführt, dies sei ein »demokratisches Gebot', die jeweilige Wiederoder Abwahl am Ende einer Legislatur sei ein ,politisches Urrecht des Volkes4. Nun muß man hier Populismus und Verfassungsauslegung auseinanderhalten: das genannte Argument ist aus der Verfassung von 1988/1994 gerade nicht herleitbar gewesen; Brasilien war eine Demokratie mit Art. 82 BrasV iVm Art. 14 § 5 sowohl 9 Ebd., S. 1557.

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aus demokratischen als auch aus rechtsstaatlichen Gründen ersten Ranges. Zum einen, um die Wahl wirklich frei und mit chancengleichen politischen Alternativen durchführen zu können - ohne die erdrückende Exekutiv- und Medienmacht eines Präsidenten, der während des Wahlkampfs ja noch amtiert. Und zum andern aus rechtsstaatlichen Aspekten, wegen einer besseren Machtbalance zwischen Exekutive und Legislative, damit die Gewaltenteilung an diesem Punkt nicht zur Farce wird. Nun wurde für die erneute Kandidatur auch gesagt, autoritäre Amtsmacht in diesem Sinn verhindern zu wollen, sei ein Anachronismus geworden. Die heutige demokratische Staatsstruktur neutralisiere das ,Risiko des starken Mannes' auf dem Präsidentenstuhl. Aber genau dieses Argument ist kontraproduktiv; denn die Neutralisierung einer Wiederkehr des Caudilhismo durch demokratische Institutionen war, nicht zuletzt, gerade den Art. 82 und 14 § 5 alter Fassung mitzuverdanken ihre Änderung macht nun die Gefahr aktuell, daß es sich bald nicht mehr um einen Anachronismus handeln könne. Schließlich wurde argumentiert, es müsse die Kontinuität erfolgreicher Regierungsarbeit gesichert werden. Nun ist genau das immer umstritten, und muß in einer Demokratie im Streit sein dürfen. Die Opposition wird das ganz anders sehen, und eben dieser Opposition muß nach einer Legislatur die faire (und nicht durch Amtsmacht eingeschränkte) Chance gegeben werden, selbst an die Macht zu kommen - sonst ist es keine Demokratie. In dieser wird langfristige Politik dadurch ermöglicht, daß andere Kandidaten aus der Partei des amtierenden Präsidenten kandidieren - das entgegenstehende Argument der Präsidentenfraktion tut so, als lebten die Länder unserer gemeinsamen Verfassungsfamilie am Ende des 20. Jahrhunderts nicht in einer (mehr oder weniger entwickelten) Parteiendemokratie. Vor der Instanz der geltenden brasilianischen Verfassung und ihrer Grundentscheidungen erscheinen die Argumente dieser politisch herrschenden Fraktion bemerkenswert schwach. Mehr noch: Was auf der Ebene der Gouverneure und Präfekten gegen Nepotismus und sonstige Formen des Amtsfeudalismus abzielte (Art. 14 § 5 Bras Vf), sollte auf Bundesebene (Art. 82 a.F.) gegen die noch gravierenderen Versuchungen zu Caudilhismo bzw. diktaturähnlichen Herrschaftskonzentrationen schützen. Das war deswegen geradezu lebenswichtig für die neue Demokratie, weil auch noch die Verfassung noch 1988 keine parlamentarische Kontrolle der Regierung (etwa durch Abwahl oder Mißtrauensvotum) vorsieht. Art. 82 a.F. hatte somit eine geradezu zentrale machtbegrenzende Funktion, die jetzt wegfällt; mit ihr entfällt weitgehend alles, was den Anspruch auf ein gewaltenteilendes system of checks and balances erheben könnte. Es entfällt, m.a.W., ein zentraler Faktor der Rechtsstaatlichkeit. Weit davon entfernt, vorbildlich zu wirken, liefern die vorhergehenden Verfassungsänderungen der 90er Jahre in Argentinien und Peru abschreckende Beispiele für einen autoritären Neopräsidentialismus. Damit geht - demokratiegefährdend - einher der Mißbrauch der Staatsmaschinerie im Wahlkampf - Praktiken der Patronage, der chancenverzerrenden Propaganda und des 4 F. Müller

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Stimmenkaufs aus öffentlichen Finanzmitteln. Diese erdrückenden Einflußmöglichkeiten eines noch amtierenden Präsidenten führen auch zu der allgemeinen semantischen Vermischung von recandidatura und reeleiçâo. Wenn es wirklich demokratisch zugeht, d. h. chancengleich, dann braucht der scheidende Präsident ja keineswegs, obwohl er wiederkandidiert, auch wiedergewählt zu werden. Die Sprache ist hier nur allzu verräterisch, zumal die Verfassung selber (Art. 82 a.F., auch in der Revision von 1994: „reeleiçâo"; Art. 14 § 5: „inelegiveis") ohne Umschweife so formuliert. Eine hieraus sprechende uneinnehmbare Zementierung von Exekutivmacht und damit einen möglichen Rückfall Brasiliens in vor-demokratische Zustände zu verhindern, war ja gerade das telo s der demokratischen Verfassung von 1988 gewesen. Die Möglichkeiten einer modernen Demokratie sind durch diese Lex Senhor Presidente institutionell entscheidend verringert worden. Der soeben gewählte - zitierte - Ausdruck ist leider nicht unangebracht. Die Initiative war in aller Öffentlichkeit von dem soeben Genannten ausgegangen. Der ad-hoc-Charakter dieser Kampagne war umso augenfälliger, als die Installierung einer Wiederkandidatur gerade erst bei der Revision von 1994 keine Mehrheit gefunden hatte. Casuismo relativ kurz vor der fraglichen Wahl ist nicht eben mustergültig demokratisch. Er tastet die rein formale Legalität nicht an, stellt dafür umso mehr die Legitimität ins Zwielicht. Und das ist nicht etwa nur eine Stilfrage. Während Einzel/a//gesetze im Staat der heutigen Industriegesellschaft notwendig sein können (z. B. Privatisierung/Nationalisierung, Gesetze im Katastrophenfall, wirtschaftslenkende ,Verwaltungsakte in Gesetzesform 4), liegt hier der Fall ganz anders. Es handelt sich de facto um ein YLmztlpersonengzseXz, noch dazu auf Verfassungsebene. Der bedeutende Verfassungsrechtler Fabio Konder Comparato hat Ende Dezember 1996 harte Worte dafür gefunden: „Acabamos de transformar a Constituiçâo em urna espécie de suprema medida provisória, livremente mutâvel segundo os interesses conjunturais dos homens no poder. E a inversäo do Estado de Direito 4' (Wir verwandeln die Verfassung schließlich in eine Art höchster Notverordnung, frei änderbar gemäß den jeweils aktuellen Interessen der Machthaber. Das ist das Gegenteil des Rechtsstaats.). Und er zögert nicht, den hier besprochenen konkreten Vorgang „o maior de todos os crimes politicos em regime democratico44 (das größte aller politischen Verbrechen in der demokratischen Herrschaftsform) zu nennen10. Ich ziehe eine schon genannte Parallele zum deutschen Grundgesetz, die zunächst überraschen mag. Art. 29 GG war - Neugliederung des Bundesgebietes von einer Muß- in eine Kann-Vorschrift geändert worden, mit 2/3-Mehrheit und also formal legalerweise. Von der Legitimität her gesehen, wurde noch ein Stück der sowieso sehr stark reduzierten direkten Demokratie beseitigt, noch eine „Abstimmung44 durch das Volk selbst. Das nimmt insoweit ein weiteres Quantum an Legitimität weg. Andererseits hat es „nur 44 mit der Gliederung des Bundesstaats zu tun, also mit einer vorwiegend pragmatisch konnotierten Frage, die außerdem nur io Folha de Säo Paulo v. 29. 12. 1996, S. 1/3.

D. Aktuelle Legitimationsfragen des Wahlrechts

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eine einmalige Abstimmung betraf. Wesentlich gravierender erscheint, in diesem Verfassungsvergleich, die Neufassung von Art. 82 (und 14 § 5) Bras Vf: hier wird die Architektur der checks and balances zwischen gesetzgebender und vollziehender Gewalt noch mehr zuungunsten des Parlaments verschoben und lautet, zusätzlich, der Spieleinsatz: „solide moderne Demokratie oder Gefahr von Rückfällen in historisch diskreditierten caudilhismo?". Art. 29 GG zeigt die nominalistische Behandlung eines verbindlichen Verfassungsauftrags durch Umformulierung. Aber weil diese Mißachtung einer Vorschrift im Rahmen eines normativen Verfassungsstils steht - des deutschen - , muß sie durch förmliche Verfassungstext-Änderung erfolgen. In einem konsequent nominalistischen System bleibt die alte Fassung stehen, da ihr ohnehin nur „symbolische Geltung" zugemessen wird, und die politische Praxis geht über sie hinweg. Insofern reiht sich Brasilien mit der ad-hoc-Revision von 1997 zum Glück wenigstens einmal mehr in die normative Verfassungsfamilie ein. Die Textoberfläche bleibt legal. Dabei ist vorausgesetzt, daß die qualifizierte Mehrheit korrekt zustandekam. Das kann ich von hier aus nicht beurteilen. Im Frühsommer 1997 war von angeblichem Stimmenkauf von Abgeordneten aus dem Bundesland Acre zu hören. Die Opposition bemühte sich um die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission, die Regierung versuchte ebendiese zu verhindern. Wie diese Affäre tatsächlich weitergegangen ist, konnte ich nicht erfahren. Ich kann nur nach dem „Wenn - dann"-Schema formulieren: Wenn Stimmenkauf in für die Abstimmung relevantem Umfang gerichtlich nachweisbar wäre, würde natürlich bereits die formale Legalität dieser Verfassungsänderung entfallen. In solchen Konstellationen legitimiert das Volk nicht als Aktivvolk (dieses hatte hier sowieso nichts zu entscheiden) und nicht als Adressatenvolk (da seine Rechtsstellung nicht konkret verbessert wurde). Es legitimiert aber auch nicht einmal als Zurechnungsvolk, da hier die Legitimationskette durch Straftatbestände (Korruption, etc.) unterbrochen wäre. Die Berufung auf Volk und Demokratie wären hier nur noch ikonisch, eine Waffe im ideologischen Krieg um Machtpositionen. Legitimieren könnte das nicht; im Gegenteil, es entlegitimiert 11. Aber auch bei gänzlicher Korrektheit wäre es bedenklich, daß mit Blick auf eine Einzelperson der Verfassungstext mit weitreichenden Folgen für das politische Gefüge geändert wurde. Die Konstitution ist die oberste staatliche Normenebene. Die gesamte Rechtsordnung ist ihr unterstellt. Verfassungsrecht soll daher möglichst stabil, situationsunabhängig sein. Hier sind nicht nur zwei isolierte Artikel geändert worden, betroffen sind zugleich die übergeordneten Verfassungsfunktionen und -ziele - hier: Rechtsstaat, Demokratie. Zudem reicht, wo es um Legitimation geht, das Faktum einer korrekten Textänderung nicht aus. Die Demokratie ist eine Staatsform nicht mit linguistischen, son11

4*

Zu den Begriffen und zum theoretischen Konzept: F. Müller, Wer ist das Volk, 1997.

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D. Aktuelle Legitimationsfragen des Wahlrechts

dem mit politischen Perspektiven. Das erfordert ehrliche Kommunikation und plausible Begründung. Sonst würde es ja reichen, Gesetze(sänderungen) ohne Diskussion stumm „durchzuziehen": reine Textproduktion ohne republikanische Öffentlichkeit. So sieht die Textproduktion autoritärer Systeme aus; für sie gibt es das nicht sehr scherzhafte Wortspiel „Demokratur". Doch in der authentischen Demokratie, die auch die Brasilianische Verfassung von 1988 begründen will, kann sich die Legitimität dieses Vorgangs nur aus plausiblen, überwiegenden, ja dringenden Gründen ergeben. Diese fehlen hier; ich habe das in einzelnen ausgeführt. Legitim ist der Vorgang nicht; denn als „Legitimität" hat sich hier die Bewertung herausgestellt, daß die Ergebnisse formal legalen Handelns von den zentralen positivrechtlichen Prinzipien (Normtexten) der Verfassung her konsistent begründet werden können. Dagegen heißt „Legalität" die Feststellung, daß den vorgeschriebenen Formen und Verfahren ohne Manipulation bzw. Straftaten genügt worden ist. Der hier diskutierte Vorgang ist also allenfalls legal - im besten Fall. ΙΠ. Wahlverhalten und Legitimität Jetzt noch in Kürze etwas zu einem vielen vergleichbaren Ländern gemeinsamen Grundproblem. Es liegt außerhalb der dogmatischen Verfassungskonkretisierung, es ist durch Revision einzelner Artikel der Konstitution sehr viel schwerer beeinflußbar. Es geht um die abnehmende Repräsentativität unserer demokratisch gewählten Vertreter oder Staatenlenker; und dies ist ein politisch zu verantwortendes soziales Problem. In peripheren Ländern spricht man von Exklusion, in zentrischen euphemistisch von „Zweidrittelgesellschaft". Aber Exklusion als Tatsache wie als Ausdruck hat inzwischen längst auch schon die reichsten Industriestaaten, die G-7-Länder eingeholt. Die USA sind dafür nur das alarmierendste, aber nicht das einzige Beispiel. Und ökonomischer Abstieg, kulturelle Depravation und politische Apathie bilden, von konservativen Regierungen gelegentlich ohne sonderlichen Widerstand in Kauf genommen, eine „Kettenreaktion der Exklusion", die sich im Bereich demokratischer Aktivität als „politische Armut" darstellt 12. Unmittelbar drückt sich das in tendenziell weiter sinkender Wahlbeteiligung aus: Für Reagan hatten bei seiner ersten Wahl weniger als 30%, für Clinton bei seiner zweiten gerade noch 25% der Wahlberechtigten gestimmt; und die Wahlbeteiligung bei den Wahlen zum USKongreß im Herbst 1998 betrug 36%. Das Wahlrecht besteht „normativ" voll weiter, d. h. als law on the books; als law in action dagegen immer weniger, weil für immer mehr Menschen die sozialen Voraussetzungen für ein wirksames Ausüben ihrer Rechte und Ansprüche des status activus fehlen: Indikatoren für eine passiv die Dinge so lassende oder gar aktiv betreibende Segmentierung der Gesellschaft zugunsten bestimmter und zuungun12

Nachweise und Diskussion zu „Exklusion" bei: F. Müller, S. 47 ff.

D. Aktuelle Legitimationsfragen des Wahlrechts

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sten der restlichen Gruppen; für eine Politik, die bei aller legalen Korrektheit (im besten Fall) die inhaltliche demokratische Legitimation für alle, für das Adressatenvolk, mißachtet. Die Frage wird dringend, ab welchem Grad der Nichtbeteiligung Quantität in Qualität umschlägt. Die Wahlrechts-Dispositive stoßen zunehmend an ihre Grenzen; versagen als notwendig nur formale Dispositive mehr und mehr als Garanten für demokratische Legitimation.

E. Konstitutionalität - Legalität Legitimität in der rechtsstaatlichen Demokratie* Was heißt eigentlich „verfassungsgemäß? „Verfassungsgemäßheit" ist uns gut bekannt: als prozessualer Begriff. Der außerordentliche Ani aß, der uns zusammenführt, wird sie aber auch unter weniger geläufigen Aspekten beleuchten müssen. Der Verfassungsvergleich Brasilien Deutschland ist dabei nicht mißzuverstehen. Deutschland ist zwischen 1945 und 1949 schrittweise - auf dem Weg über die Bundesländer - aus der nationalsozialistischen Barbarei aufgetaucht. Es hat sich mit dem Grundgesetz von 1949 dann eine demokratisch-rechtsstaatliche Konstitution gegeben; sie wurde nach der Vereinigung, bedauerlicherweise ohne neue Verfassunggebung, auf das ganze Land ausgedehnt. Brasilien tat einen vergleichbar entscheidenden Schritt mit der Verfassung von 1988, die wir hier feiern, um sie zu befestigen und in ihrer realen Wirkung zu verstärken. Es gibt also gar keinen Grund, etwa Lektionen zu erteilen. Was man aber tun sollte, ist, Erfahrungen weiterzugeben; mein Land hat dem Ihren in der Demokratisierung, chronologisch gesehen, einfach vier Jahrzehnte an Erfahrung voraus. In diesem Sinn spreche ich zu Ihnen als deutscher Jurist. Das heißt auch: nicht politisch als Politiker. Das bin ich nicht, ich habe dazu kein Mandat. Ich spreche also nicht zu den bedrückenden sozialen und ökologischen Tatbeständen, von denen sonst gesprochen werden müßte. Ich handle als Jurist von der Verfassung. Diese ist allerdings die rechtliche Ordnung des Politischen und der ranghöchste nationale Rechtscode der Gesellschaft. Nichts, was über ihn zu sagen ist, entbehrt der politischen Bedeutung. Verfassungsanalysen im internationalen Rahmen sollte man nicht unternehmen, um Material anzuhäufen; nicht um die beiderseitigen Archive zu füllen. Sondern es geht darum, hic et nunc zu lernen - das ist die Berechtigung vergleichender Jurisprudenz als einer synchronen Arbeit. Darin ist sie der diachronen Bemühung der Geschichtswissenschaft vergleichbar. Die Historik ist materialreich; aber das Ziel ist Rekonstruktion und zugleich Re-Dekonstruktion einer Vergangenheit, die damals gerade so nicht formulierbar gewesen wäre, von heute aus. Wir brauchen Historik; wir brauchen sie dringend, um in der immer schon vergehenden Gegenwart für die immer schon anfangende Zukunft zu lernen. * Festvortrag (Brasilia, 21. 10. 1998) zum 10jährigen Bestehen der Brasilianischen Verfassung von 1988.

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I.

Voneinander gelernt haben die konstitutionellen Codes der Moderne schon in bezug auf ihre auffälligste formale Eigenschaft: im nationalen Rahmen zuhöchst zu sein, allen anderen Äußerungen staatlicher Entscheidung rangüberlegen. „Verfassungsgemäßheit" gilt nicht nur für das Verhalten der Verfassungsorgane, nicht nur für die Rechtmäßigkeit des Staates; sondern für die ganze Ordnung des Zusammenlebens, soweit die Gesamtgesellschaft juridifiziert ist - und das ist sie in den entwickelten Gemeinwesen sehr weitgehend. Der demokratische Rechtsstaat gründet sich also auf eine Normenhierarchie; und diese bestimmt die Funktion der Verfassung: die Rechtsgestalt einer Nation zu begründen, zu tragen, zu limitieren. „Verfassungsgemäßheit" ist daher am einfachsten als Dispositiv der Kontrolle erfaßbar; denn dieses betrifft Institutionen, Kompetenzen, Verfahren: also staatliches Organisations- und Prozeßrecht. Der Zentralbegriff, den wir hier analysieren, gilt aus diesem Grund herkömmlich so gut wie immer als primär prozeßrechtlich feststellbare, realisierbare Kategorie. Staatliches Handeln und staatliche Vorschriften müssen sich durchgehend dem Code „verfassungsmäßig/verfassungswidrig" beugen. Diese Bewertung kann - und im demokratischen Rechtsstaat: muß - prozessual kontrolliert und sanktioniert werden können. Dafür sind Instanzen mit Zuständigkeiten und mit regulären Prozeduren zu normieren, mit anderen Worten Amtsrecht, Kompetenzrecht, Verfahrensrecht. Für das brasilianische Recht sind Ihnen diese bekannt; im deutschen kann das Bundesverfassungsgericht, unter anderem, Grundrechte schützen, abstrakte (auf Antrag politischer Quoren bzw. von Landesregierungen und Bundesregierung) und konkrete Normenkontrollen durchführen (die zuletzt genannten in laufenden Verfahren auf Antrag des Gerichts). Es fungiert daneben auch als Staatsgerichtshof; denn es schlichtet Kompetenzstreitigkeiten zwischen staatlichen Organen, überwacht die Gewaltenteilung und -kontrolle zwischen Legislative und Exekutive und entscheidet in Konflikten zwischen Bund und Ländern. Das sind nicht alle seiner Befugnisse; aber Sie sehen schon, seine Machtfülle ist bemerkenswert. Das Gericht ist in der Tat als spezialisiertes Verfassungsgericht, sogar als Verfassungsorgan, ausgestaltet. Das finden wir typischerweise in Ländern, die Diktaturen erlitten oder die sonst mit ihrer Legislative schlechte Erfahrungen gemacht haben; nicht zufallig ist auch der Oberste Bundesgerichtshof Brasiliens (Supremo Tribunal Federai) nach der Formel des Art. 102 „in erster Linie zur Wahrung der Verfassung berufen" („compete ..., precipuamente, a guarda da Constituiçâo") und mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet. Das interessante Rechtsinstitut des mandado do injunçâo kennt das deutsche Grundgesetz übrigens nicht. Da es sinnvolle Aufgaben erfüllen kann, versucht es die deutsche Judikatur zum Teil funktionell zu ersetzen: einerseits mit Mitteln der Organklage, zum andern durch verschiedene Figurationen dessen, was man Appellentscheidungen nennen kann. Aus Gründen der Gewaltenteilung kann das Gericht die Legislative nicht direkt verpflichten; so wird z. B. eine nur noch begrenzt zu duldende Verfassungswidrigkeit als „objektiver" Tatbestand „festgestellt" und mit

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E. Konstitutionalität - Legalität - Legitimität

Klauseln versehen wie „ist ... nur noch bis ... hinzunehmen" oder „ist bis längstens zum Ende der laufenden Legislaturperiode verfassungsgemäß zu ändern". Dieses klassisch hoheitliche Dispositiv - Staatshandeln einerseits, Kontrolle durch die Verfassungsjustiz andererseits - wird in Deutschland, gegen die Tradition, noch erheblich erweitert - und zwar durchweg im Bereich der Grundrechte. Ähnlich dem Art. 5 § 1 BrasV („têm aplicaçâo imediata") binden die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht". Das heißt, daß nicht nur die Verfassungsrichter, sondern alle Richter (in Zivil-, Straf-, Verwaltungs-, Finanz-, Arbeits-, Sozialjustiz) und auch sämtliche Exekutivbeamte und -funktionäre in ihrer alltäglichen Arbeit die Grundrechte beachten und respektieren müssen. Dem entspricht das Recht der in ihren Grundrechten eingeschränkten Betroffenen, dies durch das neue Institut der Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht nachprüfen zu können - normalerweise erst, wenn „der Rechtsweg erschöpft" ist, d. h. wenn auch die rechtskräftige Entscheidung in oberster möglicher Instanz sie nach ihrer Auffassung in ihrer Grundrechtsstellung verletzt. Dieser umfassende, zusätzlich durch die Erfahrungen des Totalitarismus 19331945 motivierte Schutz wird noch einmal ausgeweitet durch Rechtsprechung und Lehre zur „Drittwirkung der Grundrechte". Nach diesem interessanten Ansatz sind die Grundrechte Basisentscheidungen für alle Teile der Rechtsordnung; und wirken sie auf dem Weg über Generalklauseln (z. B. „Treu und Glauben", „gute Sitten", „fairer Wettbewerb") auch in das Zivilrecht; sind sie also etwa auch für Verträge zwischen sozial und wirtschaftlich ungleich starken Partnern gerichtlich durchsetzbar. Neben diese umfassenden formalen Kontrollen der formal verstandenen „Verfassungsgemäßheit" treten, für den sozial- und sprachwissenschaftlich geschärften Blick, den moderne Jurisprudenz zunehmend brauchen wird, noch die informellen durch die verschiedenen Textsorten der Wissenschaft sowie die des allgemein gesellschaftlichen Diskurses und der demokratisch erforderlichen rechts- und verfassungspolitischen Debatte. Sehr aufschlußreich kann nun sein, was gegen dieses System formaler Verfassungsmäßigkeit als Kritik auftritt: das Bundesverfassungsgericht sei zu politisch, trete immer mehr an die Stelle der Politik („Obersetzgeber", z. B. in den Urteilen zur Abtreibung, zur paritätischen Mitbestimmung in Großbetrieben, zum Maastricht· Vertrag oder zum internationalen Einsatz der Bundeswehr); es regiere zu stark in die Fachjustiz hinein („Superrevisionsinstanz"); es fälle im einzelnen willkürliche Urteile, indem es sich an den Platz der Legislative setze; es trage durch all das noch selbst zu seiner notorischen Überlastung und damit zur Verzögerung der Verfahren bei. In der Logik des formalen Dispositivs liegt es, solche Mißstände durch Verfahrensrecht, das man revidiert, zu beseitigen: Änderung der Richterwahl, Einführung des dissenting vote (das sich in Deutschland sehr bewährt ), Einschränkung

E. Konstitutionalität - Legalität - Legitimität

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der Prüfungskompetenzen; gegen die Überlastung eine Vergrößerung der Zahl der Richter, Einführung eines filternden Vorverfahrens bei Verfassungsbeschwerden und sonstige Reduktionen des Rechtsschutzes. Mit solchen im Prinzip technokratischen Reformen stößt man aber bald auf Grenzen; nicht zuletzt nimmt man zum Teil wieder zurück, was doch die Legitimierung des ganzen sein soll: umfassend gewährleistete Verfassungsgemäßheit, auch für den einzelnen Rechtsträger. Die genannten Kritikpunkte lassen sich auf Dauer besser durch eine rationale, systematische, moderne Arbeitsmethodik mildern; eine Methodik, die neben der Sprache der Normen (wie traditionell) auch die Sachinhalte kontrolliert einbezieht; die Verfahrens-, Kompetenz- und damit Gewaltenteilungsvorschriften so klar wie nur möglich für die Zukunft formuliert, statt durch zuweilen gewollte Unklarheit sich „die Hände freizuhalten". Das multipliziert aber nur künftige casus perplexi und damit den Grad der Überlastung. Die Freiheit der Richter entfällt damit nicht; sie kommt sowieso von den neuen Elementen der künftigen Fälle; aber die methodische und dogmatische Grundstruktur eines Rechtsproblems sollte die Verfassungsjustiz verbindlich gerade für spätere Streitigkeiten festlegen. Das sprengt zwangsläufig die Grenzen eines nur formalen Dispositivs. Und das ist gut so - auch für den Vorwurf der „Politisierung". Rein prozessual könnte man daran denken, nach nordamerikanischem Vorbild eine Abweisung a limine wegen „political question" gesetzlich einzuführen. Aber auch dies hängt wieder von der Bearbeitung durch die Richter ab, Fehlurteile sind auch so nicht auszuschließen. Die deutsche Erfahrung zeigt, daß rechtlich klare, insofern „unpolitische" Entscheidungen (wie die zum Wahlrecht der „Überhangmandate" 1997) vom Gericht parteiisch politisiert werden können; dagegen Aoc/ipolitische Fragen wie der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag Anfang der 70er Jahre oder der Vertrag von Maastricht korrekt und strikt juristisch behandelt wurden. Prozessuale Maßnahmen sind allenfalls Hilfsmittel; funktionell richtig kontrollierte Verfassungsgemäßheit hat mehr mit verfassungstreuer Haltung zu tun, ist ein zutiefst materiales Problem. Im Materialen liegt ja der eigentliche Grund für den Vorrang der Verfassung und für die Existenz einer Verfassungsjustiz - Brasilien und Deutschland bieten dafür sehr sprechende Beispiele. Ihre besonderen historischen Erfahrungen koinzidieren mit dem tiefsten Grund des Rechts: Recht ist material, soll inhaltlichen Zielen, Zwecken, Projekten dienen - sonst würde es unter uns Menschen nicht existieren. Recht muß sich zugleich Formen und Verfahren geben; sonst würden seine Inhalte auf die Weise des Rechts nicht wirksam. Diese sachliche Dialektik mit Schwerpunkt im Inhaltlichen gilt vor allem für die Verfassung: diese ist funktionell Politik in Rechtsform, ist Recht des Politischen. Als ranghöchster Code ist sie gesteigert eine spezielle Klasse politischer Sprachspiele. Der „political self-restraint" führt als abstrakter Appell nicht weit; er muß sich im konkreten Streitfall aus präziser, rational nachvollziehbarer und vor allem auch generalisierbarer Formulierung der zu produzierenden Rechtsnorm plausibel ergeben.

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E. Konstitutionalität - Legalität - Legitimität Π.

Die Rede von „Verfassungsgemäßheit" setzt zunächst das Dasein eines Verfassungsstaats voraus. In ihm ist die Organisation des zentralen Machtapparats in einem umfassenden Statut konzentriert, in der Moderne als geschriebene Charte, als Kodifikation auf der höchsten Rangstufe nationalen Rechts. Die entscheidende Wichtigkeit von „Verfassungsgemäßheit" als Code für „verfassungsmäßig / verfassungswidrig" setzt ferner einen Rechtsstaat voraus. Dessen Grundanspruch ist es, für alle relevanten Bereiche des Öffentlichen und für alle Aktivitäten des Staatsapparats sich der Herrschaft des Rechts zu unterstellen - in Montesquieus emphatischer Formel: „Wer herrscht über dem Herrscher? Das Gesetz, der König der Sterblichen und der Unsterblichen". Im demokratischen Rechtsstaat schließlich wird „Verfassungsgemäßheit" als bloß binärer Code überschritten. Hier ist „Rechtsstaat" nicht mehr nur „ein System technischer Kunstgriffe" 1. „Verfassungsgemäßheit" muß jetzt material analysiert werden und material wirken. Denn hier ist - jenseits bloß ikonischer und damit ideologischer Beschwörung von „Volk" 2 - alles Recht und alles Verhalten des Staates in seiner tatsächlichen Auswirkung auf das gesamte Volk zu befragen, ist nur so zu rechtfertigen: vor den realen Menschen, deren Lebensumstände unentrinnbar „material" sind. Wie wirkt sich diese avancierte Position auf den Verfassungs&egnjffaus? Scheinbar paradox - denn die Konstitution als „die Gesamtheit der ranghöchsten Normen" ist gerade nicht material. Sie ist das ungute Erbe des formalen Gesetzespositivismus seit der Mitte der 19. Jahrhunderts, der systematisch die Normtexte in der Kodifikation mit den Rechtsnormen verwechselte, das „law on the books" mit dem „law in action". Zusammen mit dem positivistischen Paradigma ist die alte Form des Streites um „formale oder materiale Verfassung" überholt. Die wissenschaftliche Entwicklung hat zugleich über Carl Schmitt und über Kelsen hinausgeführt: über eine Verfassungstheorie ohne wirksame Rechtsverfassung und mit dem Mythos des autoritär-existentiellen „Willens", gipfelnd im Nationalsozialismus und in sonstigen autoritären Monstren, bei Schmitt; und über eine Rechtslehre ohne Recht und eine Interpretationslehre ohne konkrete Direktiven bei Kelsen. Beide Autoren werden damit nicht etwa verfassungspolitisch auf eine Stufe gestellt; hier ist Kelsen ohne jeden Zweifel bei weitem vorzuziehen. Aber für das Rechtsdenken haben beide in Sackgassen geführt. Die Konfrontation in der alten Form, innerhalb desselben Paradigmas „Positivismus", das Kelsen bis zum bitteren Ende führte und das Schmitt nicht zu überwinden vermochte, hat sich überlebt. So wie der alte Verfassungsbegriff „Gesamtheit der Normen" nur zum Schein material war, ist der neue als der „Gesamtheit der 1

Nach der Formulierung des konservativen deutschen Öffentlichrechtlers Ernst Forsthoff. Zum ganzen eingehend: Friedrich Müller, Quem é ο Povo? A questäo fundamental da Democracia, Säo Paulo 1998; 2. Aufl. 2000. - Deutsche Ausgabe 1997. 2

E. Konstitutionalität - Legalität - Legitimität

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ranghöchsten Normtexte also der semiotische, nur zum Schein formal. Tatsächlich ist er ein konkret operationales nac/ipositivistisches Konzept. Es ist im Kern material - aber nicht aufgrund der illusorischen, der zwanghaften Trennung von „Sein und Sollen" des Positivismus; sondern aufgrund präzisierbarer rechts- und verfassungstheoretischer Voraussetzungen und methodologischer Instrumentarien. „Recht und Wirklichkeit" erscheinen nicht mehr als abstrakte Kategorien; sie wirken jetzt als in konkreter Rechtsarbeit von Fall zu Fall synthetisierbare Elemente juristischen Handelns. Der Verfassungsbegriff des neuen Paradigmas ist ein materialer, der die formalen Faktoren in ihrem ebenfalls unverzichtbaren Stellenwert einbezieht und integriert 3. Das deutsche Bundesverfassungsgericht zeigt sich in den progressiven - wohlgemerkt: rechtswissenschaftlich fortschrittlichen - Linien seiner Judikatur jedenfalls der Sache nach4 auf der Höhe des nachpositivistischen Ansatzes; in neuerer Zeit 5 zum Teil auch schon explizit und begrifflich. Die mit den im Fall einschlägigen Normtexten typisch verbundenen sozialen Sachverhalte (z. B. wirtschaftlicher, sozialer, technischer und auch gesetzlich erzeugter Art) werden sorgfältig ermittelt und in den Entscheidungsgründen diskutiert. Dieser sogenannte „Sachbereich" der Norm darf allerdings nicht in eine „normative Kraft des Faktischen" (i.S. von Georg Jellinek) abdriften. Daher dürfen nur die Sachelemente am Ende die Entscheidung normativ mittragen, die am Maßstab des „Normprogramms" sich als relevant und zulässig erweisen. Dieses ist das Ergebnis aller primär sprachlichen Konkretisierungselemente (von der grammatischen und systematischen Auslegung bis etwa zum Aspekt der funktionellen Richtigkeit oder zur verfassungspolitischen Folgeneinschätzung). Die mit Hilfe des Normprogramms selektierten Sachfaktoren bilden den „Normbereich"; und dieser, zusammen mit dem Normprogramm, die im konkreten Fall stets erst synthetisch und kreativ zu produzierende Rechtsnorm. Sie ist der materiale Ausspruch der Verfassungs- (und Rechts-)ordnung im Streitfall; der prozessuale Ausspruch, der Tenor, heißt „Entscheidungsnorm". Die praktische Judikatur folgt also weder der gescheiterten neukantianischen Kategorientrennung „Sein versus Sollen" noch einem - im demokratischen Rechtsstaat unzulässigen - normlosen Soziologismus. Seine berühmte Formel, die ich soeben zitierte, hat Georg Jellinek ja nicht über den Verfassungsstaat der Moderne geprägt, sondern über das römische Recht der Antike. Der kontrollierte Einbezug 3 Dazu Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994; ders., Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997; dass, französisch als: Discours de la Méthode Juridique, Paris 1996. Vgl. auf Portugiesisch v.a. dens., Direito - Linguagem - Violência, Porto Alegre 1995; und umfassend dens., Ο Novo Paradigma do Direito. Introduçâo à Teoria e à Metòdica Estruturantes do Direito, Säo Paulo 2001. 4

Dazu zahlreiche Nachweise und Analysen bei: Friedrich Müller, Juristische Methodik (Anm. 3), z. B. S. 41 ff.; dems., Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990, durchgehend. 5 Vgl. BVerfGE 74, S. 297 ff., 350 ff.; E 82, 6 ff.,13. - Analysen in: Juristische Methodik, S. 176 ff., u.ö.

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E. Konstitutionalität - Legalität - Legitimität

der Sachstrukturen des Falles ermöglicht vielmehr eine material wie formal, sachlich wie normativ begründete pragmatische Synthese. Durch sie kommt die Praxis - in ihren geglückten Sequenzen - zum kleineren Teil begrifflich explizit, zum größeren Teil der Sache nach - auf die Höhe avancierter Theorie. Aber diese Theorie stützt sich ihrerseits auf Analysen dieser modernen Praxis; so daß zwischen beiden ein Geben und Nehmen vor sich geht, keinesfalls eine Präponderanz der einen Seite über die andere. Speziell für die Grund- und Menschenrechte hat sich gezeigt, daß ihre Normbereiche besonders dicht, differenziert und für die Praxis ergiebig sind. Die Verfassungsjustiz6 hat seit der historischen „Mephisto"-Entscheidung von 1971 zu Recht beides zur Richtschnur der Entscheidungen gemacht: daß die Grundrechtsgarantien formstreng in ihrer systematischen Vertextung und gleichzeitig aus der sachlichen Fülle ihrer Normbereiche zu konkretisieren sind. Diese gemeinsame Praxis von Rechtsprechung und Theorie hilft, regionale Bereichsdogmatiken zu entwickeln: sachbestimmte, formtreue aber gerade nicht-formalistische und insoweit undogmatische, für die gesellschaftliche Entwicklung offene Dogmatikkonzepte. Diese, zusammen mit nachpositivistischer Methodik, erlauben ein genaueres Arbeiten, das generalisierbar ist und „politisierende" Urteile ebenso wie Übergriffe in den Bereich der Legislative und der Fachjustiz reduziert. Natürlich gibt es in der umfangreichen, rund 100-bändigen Judikatur des Gerichts Verdikte, die mißbräuchlich erscheinen oder jedenfalls nicht plausibel, die normativ-dogmatisch gescheitert sind7. So wird in der schon genannten Entscheidung von 1997 zu den „Überhangmandaten" ein - auch vom Gericht eingestandener offen verfassungswidriger Zustand nicht etwa für verfassungswidrig erklärt, sondern dem wfornächsten Bundestag (ab 2002 ) „vertrauensvoll" überlassen8. Oder es werden die Grundrechte statt als Normen als ein vages „Wertsystem" aufgefaßt oder der Konkretisierungsaspekt der „Einheit der Verfassung" zu einer irrationalen, sogar widersprüchlichen Fata Morgana denaturiert 9. Oder es werden Sachbereich und Normbereich funktionell verwechselt und, in der Folge, in der Tat Eingriffe in die Zuständigkeiten von Gesetzgebung bzw. Fachgerichten riskiert. Diese „dunkle Seite des Mondes" in der verfassungsgerichtlichen Arbeit läßt sich, abseits jeder Polemik und nüchtern analysiert, auf eine konsistente Figuration zurückführen: stets wird dabei die Verfassung - mit ihren den Fall regierenden ein-

6 Die „Mephisto"-Entscheidung findet sich in BVerfGE 30, S. 173 ff., hier bes. S. 193 ff. Zu diesem judiziellen Durchbruch vgl. etwa Friedrich Müller, Juristische Methodik (Anm. 3), S. 52 f., 69 f., 109 ff.; sowie dens., Die Positivität der Grundrechte (Anm. 3), z. B. S. 103 f., 113 f., 116 f. 7 Nachweise und Diskussion hierzu bei dems., Juristische Methodik (Anm. 3), durchgehend; sowie Juristische Methodik und Politisches System, 1976, durchgehend. » Neue Juristische Wochenschrift 1997, S. 1553 ff., 1557; dagegen sehr zu Recht das dissenting vote, ebd., S. 1558 ff. 9 Dazu eingehend: Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979.

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zelnen Vorschriften - als normatives Datum nicht ernst genug genommen; wird sie im unguten Sinn als „nur nominalistisches" Phänomen behandelt. Anders gesagt: gebraucht das Gericht sie nicht als verbindlich „geltende" Normtexte, welche die Konkretisierung initiieren, alimentieren und limitieren; sondern als nur „symbolisch" aufzufassende Sprachformeln.

ΙΠ.

Bevor das weitere Grundproblem des Symbolismus bearbeitet wird, formuliere ich ein theoretisches Zwischenergebnis. Die bisherige Analyse erlaubt eine neue Konzeptualisierung; und diese führt zu einem doppelten Begriff von „ VerfassungsgemäßheitEs ergibt sich ein dreistufiges Modell: zunächst nach der Verfassungsform in „Verfassungsstaat", „Rechtsstaat" und „rechtsstaatliche Demokratie" strukturiert. Sodann nach der Haltung zur Verfassung: normatives Denken, formal rechtsstaatliches und material rechtsstaatliches Denken. Auch das formal rechtsstaatliche der zweiten Stufe ist dabei keine vage ,,Rechtstaats/ifee sondern die konkrete Normierung rechtsstaatlicher Figuren in einer bestimmten Verfassung so und nicht anders, hier: für Brasilien und für Deutschland. Die geschriebenen Normtexte der Konstitution „gelten". Sie müssen, in den einschlägigen Fällen, vollständig herangezogen und korrekt verarbeitet werden. Das dritte Register nach „Verfassungsform" und „Verfassungsdenken", auf dem das Dreistufenmodell abgebildet werden kann, ist das der Theoriekonzepte. Hier folgen aufeinander: Verfassungsgemäßheit für die erste, Legalität für die zweite, Legitimität für die dritte Stufe. Auf der ersten ist die Verfassungsordnung positiv, auf der folgenden legal, auf der abschließenden legitim. Die drei bauen aufeinander auf und implizieren einander fortlaufend. Legalität setzt Positivität der Verfassung voraus, Legitimität diese plus Legalität. Wo, umgekehrt, die Positivität der Verfassung (die „Verfassungsgemäßheit" im analytischen Sinn) unterminiert wird - und das wird sie durch Nominalismus und Symbolismus im Verfassungsdenken - , dort geht es weder legal noch legitim zu. Dieses neu vorgeschlagene Konzept erlaubt es, „Legalität", „Legitimität" und „Verfassungsgemäßheit" begrifflich genauer zu fassen. Legalität wird oft leicht pejorativ mit der „bloßen" Gesetzmäßigkeit des Rechts gleichgesetzt; hier soll sie die durchaus emphatische Feststellung resümieren, daß den positiv vorgeschriebenen Formen und Verfahren auf redliche Weise Genüge getan ist. Legitimität wird traditionell mit überpositiven „Werten", wie beispielsweise „der Rechtsidee" in Verbindung gebracht, um sie von Legalität abzugrenzen. Das ist für den Verfassungsstaat der Moderne aber erstaunlich obsolet. Hier ist „Legitimität" dagegen ein Begriff des positiven Rechts. Er drückt die Bewertung aus, die Ergebnisse legalen Handelns auf der Basis der positiven Konstitution stimmten mit deren Zentralnormtex-

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ten und Strukturprinzipien überein und erlaubten weiterhin eine offene, rechtlich legale, freie Debatte über die Legitimitätsgründe und -argumente; blieben also auch nach Gesetzeskraft von Normtexten, Bestandskraft von Verwaltungsakten und Rechtskraft von Urteilen weiter positiv plus legal plus legitim umstreitbar. Das ist „Verfassungsgemäßheit" im vollen Sinn. Daneben bleibt natürlich die bisherige Gebrauchsweise dieses Ausdrucks weiterhin vertretbar; je nach tatsächlichem Kontext sollte „constitutionalidade" ,im engeren Sinn' bzw. ,im weiteren Sinn ' hinzugefügt werden. Im engeren Sinn heißt: die Verfassung wird als positiv „geltend" anerkannt; alles (staatliche) Rechtshandeln ist an ihr zu messen. Konstitutionell allein in diesem engen Sinn kann auch eine Diktatur sein; moderne Potentaten lassen sich bekanntlich komplette Kodifikationen „auf den Leib schneidern" (z. B. in afrikanischen Ländern nach der Entkolonialisierung). Und rein legal im Sinn eines formalen Rechtstaats kann auch ein nicht-demokratisches, ein im Kern autoritäres System sein (denken Sie an den Typus Singapur). Zur Konstitutionalität der demokratischen Staaten tritt eben noch die Legitimität im neu definierten Verständnis hinzu; und das ist dann „konstitutionell" im weiteren Sinn. Diese extensionale Differenz wird in der Wissenschaft, gerade in der unseren, oft benützt. Ich nenne noch eine Analogie aus einer anderen Disziplin. „Semiotics" ist im angelsächsischen Raum, vor allem im Anschluß an Morris, ein umfassender Begriff; unter ihn fallen Syntaktik, Semantik und Pragmatik. Und ein Unterfall der Syntaktik ist eben die „Semiotik im engeren Sinn" (die Lehre von den Zeichen und von der Gestalt der Zeichenketten). Ich wähle dieses Beispiel, weil der Unterschied zu unserem lehrreich ist. Die Varianten von „Semiotik" stehen nebeneinander, sind parataktisch, nur nach ihrer Reichweite verschieden. „Konstitutionalität" im weiteren Sinn verhält sich dagegen zu jener im engeren Sinn hypotaktisch, hierarchisch, als qualitative Forderung. Konstitutionell im anspruchsvollen Sinn der rechtsstaatlichen Demokratie ist staatliches Handeln nur, wenn Positivität, Legalität und Legitimität kumulativ gegeben sind. Das ist verständlich; die Linguistik ist eine (analytisch) deskriptive Geisteswissenschaft, die Jurisprudenz eine präskriptive Entscheidungswissenschaft.

IV. Der rechtliche Sinn einer Verfassung - wie jeder Kodifikation - ist es, normativ zu wirken. Rechts soziologisch ist dagegen die Frage, wieweit ihr dies gelingt. Es ist in diesem Sinn, daß die Verfassungslehre seit Loewenstein10 neben den „seman10 Karl Loewenstein, Verfassungslehre, 3. Aufl. 1975, S. 151 ff. - Zum ganzen und zu dem im folgenden zu „symbolischer" Verfassunggebung bzw. -änderung und Verfassungskonkretisierung Referierten sehr differenziert: Marcelo Neves, Symbolische Konstitutionalisierung und faktische Entkonstitutionalisierung: Wechsel von bzw. Änderungen in Verfassungstexten und Fortbestand der realen Machtverhältnisse, in: Verfassung und Recht in Übersee - Law

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tischen" (Instrument der Machthaber) und den „nominalistischen" (praktisch unzureichend konkretisiert) auch „normative" Verfassungen unterscheidet: sie steuern die Machtverhältnisse in ausreichendem Maß; Machtakteure und Öffentlichkeit orientieren sich hinreichend an ihren Vorgaben. Dazu gehört ein gewisses Maß an allgemeinem Konsens in der Gesellschaft. Dagegen beeinflußt die „symbolische" Verfassung die realen Machtverhältnisse nicht relevant; von ihrem Text weicht die (auch in Deutschland so genannte ) Verfassungswirklichkeit signifikant ab. Gerade im Vorgang seiner Konkretisierung wird der Text semantisch entwertet; das Recht vermag sich nicht autonom zu setzen, sein Code bleibt mit denen anderer Bereiche (Wirtschaft, Politik, Klientelbeziehungen) kraftlos vermischt. Eine wirksame Konkretisierung müßte - gerade in den betroffenen Ländern der Weltperipherie - die Gesellschaft tiefgreifend umstrukturieren. Die Umstrukturierung soll sich nur auf der Textoberfläche abspielen, wirkt also als Alibi, funktioniert rhetorisch und hyperthroph symbolisch. Die Umsetzung der Staatszielprogramme (die, wenn nicht ernst gemeint, keine „Programme", sondern Symbole sind) wird nicht nur durch Unterlassen, sondern oft auch durch die Art des positiven Tuns der staatlichen Gewalten verhindert - der gleichzeitige Hinweis auf die Texte macht die Alibifunktion aus. Diese Strategie hat aber erfahrungsgemäß ihre Grenzen, wenn die Kluft zwischen rhetorischem Diskurs und gesellschaftlicher Realität allzu schreiend wird. Entweder bleiben dann die Herrschenden zynisch und die Beherrschten resigniert; oder der Herrschaftsdiskurs verliert seine Kraft, illusionär auf „später" zu vertrösten, und es bricht sich eine radikale Veränderung der Machtverhältnisse Bahn, die - wenn „radikal" - eine soziale Umwälzung voraussetzt. In diesem Fall wirkt ohnehin nicht die „constitucionalidade" im weiteren Sinn, aber nicht einmal mehr die im engeren einer normativen Positivität der Verfassungsurkunde. Unsere Untersuchungen zur „Konstitutionalität" sollten hier nicht desillusioniert abbrechen, sondern innerhalb dieser einen Weg bahnen. Dieser braucht zunächst richtig formulierte Ziele. Es geht einmal darum, in einem peripheren Land (wie Brasilien) nach und nach eine durch die Verfassung nicht länger teils exkludierte, teils überintegrierte, sondern eine im ganzen egalitär integrierte pluralistische Öffentlichkeit zu fördern. Dieses Projekt bezeichnet glücklicherweise kein reines „Entweder-oder". Auch in den zentrischen Ländern (wie Deutschland) gibt es nicht „die" allgemeine Öffentlichkeit, sondern eine fragmentierte - kirchliche wie profane Vereinigungen aller Art, wie Interessenverbände, politische Parteien, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, Rechtsschutz- und Bürgerrechtsgruppen. Sie stützen sich auf Grund- und Menschenrechte wie Vereinigungs-, Koalitions-, Parteien-, Meinungs-, Wissenschafts- und Medienfreiheit, deren soziale Funktion durch energische legale Initiativen „von unten" mit Leben zu and Politics in Africa, Asia and Latin America, 1996, S. 309 ff. Ferner schon ders., A Constitucionalizaçâo Simbolica, Sao Paulo 1994; sowie ders., Symbolische Konstitutionalisierung, 1998.

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erfüllen ist. Das erfordert zum zweiten von Seiten des Juristenstandes, diese die konkreten Konflikte betreffenden Grundrechte sowie die gesetzlichen Rechtspositionen der beteiligten Menschen redlich und unzweideutig im Einzelfall durchzusetzen. Der Text der Verfassung darf nicht länger „eine entfernte Bezugsgröße für die staatlichen Akteure und für die Bürger" bleiben; die Entscheidungen müssen den Texten konsistent zurechenbar sein; die „entkonstitutionalisierende Konkretisierung" 11 muß in Lehre und Diskussion der Fachjuristen ihren traditionellen Nimbus (unter sich zulächelnden Auguren) verlieren, muß aus der praktischen Tätigkeit verbannt werden. Kasuistische ,Kadijustiz4 (wie man in Deutschland sagt - auch hier gibt es natürlich dieses Problem!) darf nicht mehr als standesgemäß gelten; die Entscheidungen und ihre Begründungstexte erfordern ausschließlich nachprüfbare und generalisierbare Argumente. Partikularistische Normativität gibt es nicht; wo sie usurpiert wird, fehlt es nicht nur an Legitimität und Legalität, sondern bereits an der ersten Stufe unseres Zentralbegriffs, an der Konstitutionalität im engeren Sinn. Aus dem die gesamte Verfassungsordnung als Postulat, als regulative Idee und als Normtext tragenden Gleichheitssatz ist ein Grundrecht auf Methodengleichheit begründbar, wie dies für Deutschland schon geschehen ist 1 2 . Das ist ein nicht einfach zu realisierendes Ziel, aber es ist realisierbar; und die Juristen Brasiliens können sich dabei auf den unzweideutigen Text der Verfassung berufen, zu deren Bekräftigung wir hier zusammengekommen sind. Die Verfassungsurkunde von 1988 ist „umfassend genug"; es geht jetzt darum, ihre „in der Sachdimension beschränkte und in der Sozialdimension exkludierende" Art der Konkretisierung gegen traditionelle politische Praktiken und im Widerstand gegen die Schwerkraft herkömmlicher Sozialstrukturen zu beenden. In dem Ausmaß, in dem dies geschieht, kann sich - zunächst punktuell - die Weise ändern, auf welche die Menschen die Verfassung erleben; können sie sich - ebenfalls zunächst nur punktuell mit ihrem Sinn identifizieren lernen. Abgesehen von dem Mut, den die Rechtsarbeiter in Praxis und Wissenschaft dafür aufwenden müssen, findet dieses auf längere Sicht angelegte Projekt seine Mittel in einer modernen Methodik. Diese läßt die Illusionen des alten positivistischen Paradigmas hinter sich; mit ihnen aber auch die Neigung zu verschleiernden Formeln wie „Zweckmäßigkeit", „Teleologie", „Abwägung", „Einzelfallgerechtigkeit" und vergleichbaren Topoi, die irrational wirken und auch wirken sollen. Die nachpositivistische Methodik bezieht - jenseits vager Kriterien wie „Natur der Sache" oder „soziales Ambiente" - die Sachelemente des Rechtsfalls und des Falltypus präzise und methodisch kontrollierbar mit ein - macht damit das juristische Entscheiden konkret zu verantworten. Solche Methodik ist dann die Basis einer präzisierten Dogmatik, durch welche die normativen Verhaltenserwartungen der Betroffenen stabilisiert werden. Rational nachvollziehbares Entscheiden und Be11 Marcelo Neves, Symbolische Konstitutionalisierung und faktische Entkonstitutionalisierung (Anm. 10), S. 314; ebd., S. 309 ff. das im Text noch folgende Zitat. 12 Bei Friedrich Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 65 ff.; dems., Juristische Methodik (Anm. 3), S. 371 ff., u.ö.

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gründen ist dann auch besser im einzelnen kritisierbar; stagnierende Kommunikation kann in Gang gesetzt werden, die rechtspolitische Debatte liefert unersetzliche Beiträge zum Entwickeln einer pluralistischen Öffentlichkeit. Solche Vorgänge setzen eine - nicht Hegeische oder linkshegelianische, nicht-metaphysische - Realdialektik in Bewegung: Die Texte der Verfassung, symbolisch „gemeint", können in ihrer Wirkung vom Kopf auf die Füße gestellt, können in ihrer aufklärenden, real-programmatischen, öffentliches Bewußtsein bildenden Funktion festgehalten werden. Ich sprach davon, daß der legitimistische Diskurs sich verschleißt, daß die Ideologie des Alibi an ihre Grenzen stößt: genau dort, wo vor ihrem Hintergrund kontrafaktisch Infragestellen und Kritik beginnen, wo sich Selbsthilfe- und Bürgerrechtsgruppen bilden, wo, grundrechtlich gestützt, organisiert das vom Text der Verfassung Verbürgte eingefordert wird. Die wissenschaftliche Beschreibung des Symbolismus und Nominalismus13 ist unerläßlich: um zu wissen, womit man es zu tun hat. Aber sie ist nur ein erster Schritt. Der nächste besteht darin, diese Haltung der Tradition mit dem normativen Denken von Recht und Verfassung verändernd zu konfrontieren. Geschieht das, so zeigt sich rasch, daß die massive Praxis symbolisierender Verzerrung geltender Rechtstexte auf keine sachliche Idee zurückgeht - das fatalistische „so ist es bei uns nun einmal" kann sich nicht in die Gestalt eines Konzepts hüllen. Der Symbolismus tritt, einschüchternd, einfach als Schicksal auf. Aber was ist „Schicksal"? Wenn wir uns der kollektiven Regression in animistische Weltbilder und Schwarze-Verfassungs-Magie widersetzen, sehen wir: Schicksal ist Text. Und mit Text können wir arbeiten. Hier geht es um Rechtstexte und um die Textarbeit der Juristen. Eben diese versetzt die Juristen eines Landes der peripheren Moderne objektiv in die Rolle einer auch gesellschaftlichen Avantgarde: von institutionell überlegen piazierten Vorkämpfern bei der globalen Entwicklung eines breiteren öffentlichen Bewußtseins von Normativität, Legalität, Legitimität - also von „Konstitutionalität im weiteren Sinn". Sie haben die Mittel, fortschrittliche Mutationen der Sozietät friedlich zu provozieren. Exklusion entlegitimiert. Legitimieren kann nur das Abstützen auf das reale Volk, auf das sich der Text der Verfassung beruft. Die Juristen können die juristische Exklusion, z. B. durch wirksamen Kampf gegen Straflosigkeit (impunidade) punktuell und exemplarisch durchbrechen - auf längere Sicht mit positiver Rückwirkung gegen soziale Exklusion. Solcher legaler Widerstand von Juristen für die rechtsstaatliche Demokratie setzt die nachhaltigsten Signale, die friedlich denkbar sind. Die Verfassung von 1988 erlaubt nicht nur nicht Exklusion, sie widerspricht ihr. Die symbolische Behandlung dieser Texte ist „nur" in den Köpfen verankert - als das, was in der Rechtstheorie das „Vorverständnis" (im Anschluß 13 Ausgehend von Loewenstein und anderen v.a. bei Ν eves ( Anm.en 10, 11 ); ebd. auch zahlreiche weitere Nachweise.

5 F. Müller

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an Heidegger und Gadamer) genannt wird. Sie ist aber kein Naturgesetz; gegen sie kann - normativ, verfassungsstaatlich, „konstitutionell im engeren Sinn" - die Verfassung beim Wort genommen werden. Bei diesem Projekt wird jeder einzelne Schritt erkämpft werden müssen; auch kann es die globale Entwicklung der civil society nicht ersetzen. Aber es muß diese begleiten und wird sie, von Fall zu Fall, exemplarisch beschleunigen.

V. Dieses Ergebnis ist unzweideutig klar. Ich behandle es trotzdem, für den Augenblick, noch als Zwischenergebnis. Denn ich überprüfe es weiter anhand einiger heute zentral diskutierter Gesichtspunkte aus Teildisziplinen unserer Wissenschaft: der Verfassungslehre, der Rechtstheorie, der Rechtslinguistik und der Verfassungspolitik. Verfassungstheoretisch kann, auf dem heutigen Standard der Diskussion, nicht mehr hinter das moderne Verfassungsverständnis zurückgegangen werden: Die Konstitution ist positives Recht. Das heißt einmal, sie ist es nur; ist also nichts Höheres auf die Art des Mythos (wie in den Delirien Carl Schmitts) oder auch als Naturrecht (was schon Kant ad absurdum geführt hatte). Aber sie ist, zum andern, eben auch positives Recht, also „geltend"; für die mit ihr amtlich und fachlich befaßten Akteure verbindlich und als „normativ" durchzusetzen. Nachdem die Unterscheidung von mandatory und directory, also von obligatorischen und nur richtungsweisenden Verfassungsklauseln (aus dem nordamerikanischen Rechtswesen des 19. Jahrhunderts) überwunden ist, hat sich auch in Brasilien das Konzept der juristischen Verbindlichkeit aller Verfassungsnormen durchgesetzt 14. Anders ausgedrückt, alle Texte in der eigentlichen Urkunde sind Normtexte; es kann unter ihnen keine „nur symbolisch" oder „nur im Prinzip" oder „nur je nach Art des Falles" geltenden geben. Wohlgemerkt; die Konstitution kann per lex specialis positi vrechtliche Ausnahmen von ihren eigenen Regelungen treffen; sie kann, beispielsweise, in Abweichung von Art. 5 § 1 in Art. 5, XXVIII und XXIX die Anwendbarkeit bestimmter einzelner Grundrechtsgarantien von einer späteren Gesetzgebung abhängig machen. In solchen Fällen ist die Ausnahme explizit, positiv und legal, ohne weitere Grundsatzdiskussion. Die Juristen arbeiten rational mit der lex-specialis-Regel seit der Antike. Hier ist das Thema, daß ausnahms/os und bedingungsto formulierte Normtexte nicht durch ein vor-demokratisch traditionelles „Vorverständnis" von Praxis und Lehre ins „bloß Symbolische" umgebogen werden dürfen. Die moderne Konstitution kennt eine legitimierende Einheit, funktionale Einheit, Einheit als Basis systematischer und ausgleichender Interpretation. 14 J. A. da Silva, Aplicabilidade das normas constitucionais, 2. Aufl. 1982, S. 61 ff., 141 ff.; jetzt dass., 3. Aufl. 1998; M. Neves, Teoria da inconstitucionalidade das leis, 1988; ders., Symbolische Konstitutionalisierung, 1998, S. 96 ff. mit Nachweisen: Ghigliani, Campos, Pontes de Miranda, Bittencourt, Buzaid, Mello und Mendes.

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Vor allem ist „Einheit der Verfassung" als wichtiger Spezialgrundsatz der Verfassungskonkretisierung anerkannt für die Aspekte der urkundlichen Einheit, jener der normativen Verfassungsstruktur und der Einheit der Rangstufe von Rechtsquellen 15 . In der Gesamtmenge der Normtexte einer Konstitution gibt es nicht zum einen „normative" (z. B. die des Organisationsteils) und andrerseits „nur nominalistische, symbolische" (z. B. Staatsziele, Gleichheitssätze und die sonstigen Grundund Menschenrechte). Die ältere Unterscheidung zwischen Grundrechtsteil und organisatorischem und Kompetenzteil einer Verfassung ist längst überwunden. Dies ist nur noch eine deskriptive Oberflächenbeschreibung ohne dogmatische Folgen. Die dogmatische Einheit beider Teile hat sich zu Recht in Praxis und Lehre durchgesetzt; die Grundrechte sind sogar als „negative Kompetenzbestimmungen" erkannt 16 . Diese „Negativität" ist nicht etwa leer (das behauptete die überwundene, gleichfalls vor-demokratische polizeistaatliche Sicht der Menschenrechte). Dank der Grundrechtsinhalte ist sie im Gegenteil material. Die Garantien formen dank der jeweiligen „Sache", die sie gewährleisten, als realisierte den Staat und die Gesellschaft nicht weniger als die organisatorisch-institutionellen Vorschriften der Verfassung. Diese sind implementiert; es gibt die Organe, ihre Zuständigkeiten, ihre Verfahren; der gesamte Staatsapparat ist in Funktion. Hier wäre es nie jemandem in den Sinn gekommen, von einer „bloß symbolischen" Vertextung zu sprechen. Die Anordnungen dieser Normtexte werden energisch verwirklicht. Dasselbe gilt dann aber auch für die normierten Staats- und Gesellschaftsziele, für die Beseitigung der Ungleichheiten und der Exklusion, für alle Garantien der Grundrechte und des Rechtsschutzes. Der positive Verfassungsstaat, der legale Rechtsstaat und die demokratische Republik (um ihrer inneren und äußeren Legitimierung willen) erzwingen das Umdenken zum normativen Verfassungsstil. Das, was ich hier sage, mag in einem Land wie dem Ihren mit einer von lange vor der Demokratie herkommenden Tradition von „Symbolismus" wie ein moralischer Appell klingen. Das ist es aber nicht in erster Linie, so unverzichtbar Ethik für unsere Arbeit ist. Es ist viel mehr als das. Es handelt sich vor allem darum, den Anschluß zu finden an den avancierten Theorie- und Methodenstandard der Sozial- und Humanwissenschaften. Diese Standards koinzidieren dann in der Tat mit professioneller Ethik, wo uns folgendes gezeigt wird: Wenn Falsches geschieht, liegt es nicht an transpersonalen Strukturen; es wird falsch gemacht. Und wenn wir die Handelnden sind, in deren Zuständigkeitsbereich das Falsche „vor sich geht", dann wird es von uns falsch gemacht. Rechtstheoretisch zeigt sich also durch das bisher Gesagte, daß die Achse vom „Objektiven" zum Subjektiven gedreht wird, vom (wie durch Fatalität vorgegebenen) System zur konkreten alltäglichen Arbeit. Das entspricht dem großen wissenschaftsgeschichtlichen Umschwung, der das letzte Drittel des 20. Jahr-

15 Zu alldem grundsätzlich Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979; kurz in: ders., Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, S. 257 ff. 16 Vgl. dazu z. B. Friedrich Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 142 f., 145.

4*

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hunderts und den Übergang zum kommenden prägt - den Umschwung von statisch-strukturalistischen zu dynamisch handlungstheoretischen Konzepten: nach dem älteren Umschwung des „linguistic turn" in der Philosophie seit Frege, Russell, Wittgenstein jetzt durch den „pragmatic turn" in der Sprachwissenschaft im Gefolge von Wittgenstein „II" und Austin. Dem entspricht in der Jurisprudenz der begonnene Paradigmenwechsel von den Konzepten des Positivismus zu den strukturierenden Konzepten der nachpositivistischen Rechtslehre, Methodik, Dogmatik, Linguistik und Verfassungstheorie 17. Auch diese sind handlungstheoretisch begründet und für die Praxis handlungsorientiert. Es ist in der internationalen Debatte bereits gesagt worden 18 , daß dieser Umschwung des juristischen Paradigmas vom positivistischen zum strukturierenden der Pragmatischen Wende in Philosophie und Sprachwissenschaft seit Wittgenstein entspricht. Subjekt der normativen Konkretisierung, der legalen Entscheidung, der täglichen Rechtsarbeit ist der reale Jurist - und nicht etwa ein ferner Gesetz- oder Verfassunggeber oder gar die unpersönliche Instanz der formalen Logik. Der Rechtsarbeiter ist verantwortlich für seine Fallentscheidung und ihre Folgen; und er ist verpflichtet, über den Fall hinaus mit rational generalisierbaren, kommunizierbaren, damit auch demokratisch diskutierbaren Mitteln zu arbeiten 19. Denn es geht nicht darum, die Gesetze passiv „nachzuvollziehen"; er produziert die Rechtsnorm kreativ für seinen Konfliktfall. Die Rede vom „Nominalismus" und „Symbolismus" der Verfassungs- und Gesetzestexte ist mit dem alten Positivismus verbunden. Ihr Konzept, ihre Praxis sind nicht nur rechts- und demokratiegeschichtlich, sie sind auch wissenschaftsgeschichtlich überholt, abgelebt, nicht mehr zu rechtfertigen. Dieses Ergebnis wird schließlich durch die Position der neuen Rechtslinguistik bestätigt. Nach dieser haben die Juristen keine Herrschaft über Diskurs und Sprache. Die juristische Entscheidungskompetenz gibt ihnen nicht gleichzeitig eine linguistische Definitionsmacht. Das Recht ist auch nur ein Sprachspiel; es ist ein Sprachspiel unter anderen und steht nicht „höher" als diese. Auch über ein „in Kraft gesetztes" Gesetz, einen „bestandskräftigen" Verwaltungsakt, auch über ein „rechtskräftiges" Urteil hinaus geht der Diskurs weiter: Kritik durch die Betroffenen, Kommentierung durch die Wissenschaft, Änderungsvorschläge durch die (Rechts-)Politik. Nichts steht geschichtlich fest, auch nicht ein massiv traditionel17

In Brasilien eingeführt für die Verfassungstheorie durch Friedrich Müller, Direito - Linguagem - Violência, Porto Alegre 1995 sowie durch dens., Quem é ο Povo? A Questäo fundamental da Democracia, Säo Paulo, 2. Aufl. 2000; für Rechtstheorie, Methodik, Dogmatik und erste Fragen der Rechtslinguistik durch dens., Das neue Paradigma des Rechts. Introduçâo à Teoria e à Metòdica Estruturantes do Direito, Säo Paulo, 2001 (alle übersetzt von Peter Naumann). - Sorgfältige und eingehende Rezeption für die Dogmatik bei Paulo Bonavides, Curso de Direito Constitucional, 7. a Ediçâo, Säo Paulo 1997, S. 247 f., 455 ff., u.ö. 18

Von Olivier Jouanjan, in: F. Müller, Discours de la Méthode Juridique, Paris 1996, S. 21 zur Strukturierenden Rechtslehre und Strukturierenden Methodik. 19 Zum Subjekt der rechtliche Konkretisierung: Friedrich Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, S. 199 ff., 204 f., 205 ff., u.ö. Vgl. auch dens./Ralph Christensen/Michael Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997.

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les „Vorverständnis" von der hier analysierten Art des „Nominalismus/Symbolismus". Stellt die Rechtslinguistik schon Sprechen und Schreiben, d. h. juristisches Handeln ins Zentrum der Jurisprudenz, so kann sie noch weniger das Sprechen und Schreiben außerhalb der formalen juristischen Verfahren ausblenden: Gesetze werden abgeschafft, revidiert, geändert; Verwaltungspraxis wird in Frage gestellt; Gerichte, manchmal auch höchstrichterliche, ändern auf längere Sicht ihre Judikatur unter dem Eindruck der wissenschaftlichen Debatte und des politischen Diskurses. Der normative Diskurs ist nicht prinzipiell schwächer als der symbolische; und er ist sachlich stärker, weil er die besseren Argumente und weil er die Verfassung von 1988 auf seiner Seite hat. Die Frage stellen wir uns: Welche Art Sprachspiel (i.S. von Wittgenstein), welche Art „genre de discours" (i.S. von Lyotard) wollen wir mit dem Text verbinden, den wir „Verfassung" nennen? Das entscheidet sich nicht durch ein „auf-denKnopf-Drücken", sondern in einem mühsamen Prozeß. Den Archimedischen Punkt, an den der Positivismus noch glaubte, gibt es für uns nicht. Es gibt einen semantisch umkämpften Raum - und der ihn durchziehende Diskurs übersteht auch Putsche und Diktaturen. Unsere beiden Länder beweisen das. Wir haben in Brasilien wie in Deutschland die verdammte Pflicht, den unter der Tyrannis klandestinen und defensiven Diskurs für Rechtsstaat, Demokratie und reale Gleichheit der Menschen jetzt als offenen und offensiven zu führen.

VL

Kann von einem zentrischen Land aus an ein peripheres, kann von einer normativen Tradition her an eine symbolische eine derartige Forderung überhaupt formuliert werden? Gerät man damit nicht in den Universalismusstreit? Herrschen in der aktuellen Diskussion nicht eher Relativismus und Partikularismus vor; so vor dem Hintergrund der Systemtheorie, die universalistische Konzepte dysfunktional nennt? Verabschiedet sich nicht vollends die Postmoderne von allem, was über „regionale" Geltungsansprüche hinausgeht? Nun, „die" Postmoderne ist selber schon „post"; es ist nicht schwer, ihr gerade in dieser Frage Idealismus nachzuweisen genauso wie der Systemtheorie eine metaphysische Unterstellung vorgeworfen wird 2 0 Das muß uns nicht beeindrucken. Unsere Frage geht nach dem Verfassungsverständnis, und damit stehen wir auf soliderem Boden. Ohnehin ist die Frage erkenntnistheoretisch nicht lösbar, beide Positionen erfordern eine Bevorzugung, eine Wahl: hier für die allgemeine Rechtsgleichheit aller Menschen, weil sie den größtmöglichen Spielraum gerade für Differenz läßt; für die Gesellschaftsform der Demokratie, für die Freiheit einräumende Universalität eines liberalen Rechts20 Eingehende Diskussion bei Sibylle Tònnies, Der Westliche Universalismus. Eine Verteidigung klassischer Positionen, 1995.

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staats. Erst unter dem Dach des Universalismus kann sich die Partikularität friedlich entfalten. Kein metaphysisches Apriori nimmt uns die Verantwortung ab: Universalismus als Praxis in unserem eigenen Handlungsbereich. Meist gilt der Streit nur der Geltung der Menschenrechte, und der Vorwurf des Kulturimperialismus ist oft zu hören. Aber die Funktion dieser Rechte ist universal: Schutz vor dem „Recht des Stärkeren", das kein Recht ist. Man muß die Opfer fragen, nicht die Apparate; die Verfolgten, nicht die Verfolger: „Es gibt keine kulturell gerechtfertigte' Unterdrückung und keinen »kulturell gerechtfertigten 1 Mord. Es gibt nur Unterdrückung und Mord, und beide sollten als solche behandelt werden" 21 . Das stimmt aber nicht nur für die Grundrechte. Für viele Menschen in der oder am Rand der Exklusion ist das grundsätzliche Ernstnehmen der Verfassung als normativer oft ganz praktisch eine Frage von Leben und Tod; für die Ordnung der rechtsstaatlichen Demokratie kann es zu einer solchen Frage werden. Unsere beiden Konstitutionen haben die Entscheidung, die gebraucht wird, getroffen: für normative Verfassungsgeltung und für direkte Anwendbarkeit der Grundrechte die brasilianische z. B. in Art. 1 bis 3 und Art. 5 § 1, die deutsche z. B. in Art. 1 Abs. 3 und in Art. 20. Deutlichster, abschließender Ausdruck für die Stellung beider Verfassungen zur Frage ihrer ausnahmslosen Normativität ist die Tatsache, eine Verfassungsgerichtsbarkeit eingerichtet zu haben, welche diese Normativität zu kontrollieren hat 22 . Ein Hauptbeispiel für den neuen normativen Verfassungsstil bildet die Emenda Constitucional N. 16 vom 4. Juni 1997. Hier ist gegen den Text der alten Fassung der Art. 82 und 14 § 5 nicht verstoßen worden. Man hätte z. B. argumentieren können, aus „ungeschriebenen Prinzipien" oder aus „Abwägung von Werten" seien diese Artikel kein Hindernis gegen eine erneute Kandidatur des Staatspräsidenten, der Gouverneure und Präfekten. Solche Argumente kennt man aus der Tradition, auch in Deutschland. Daß nicht so vorgegangen wurde, zeigt, daß der juristische Diskurs Brasiliens auf dem Niveau rechtsstaatlicher Argumentationskultur steht. Es war also die Verfassung zu ändern - und zwar nicht durch einfaches Gesetz (sog. Verfassungsdurchbrechung, wie häufig im Deutschland der Weimarer Republik), sondern durch formelle Änderung des Verfassungstextes (in Deutschland heute Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG). Damit ist die Voraussetzung erster Stufe für Legi21

Paul Feyerabend in seiner Autobiografie „Zeitverschwendung", 2. Aufl. 1995, S. 205. Dasselbe klare Ergebnis zum normativen Stil der brasilianischen Verfassung von 1988 bei: Wolf Paul, Das Fortschrittsprofil der neuen Verfassung, in: ders. (Hrsg.), Die Brasilianische Verfassung von 1988, 1989, S. 113 ff., Zitate ebd., 114 f.: über „den Grad der Verbindlichkeit" seien Zweifel „bei genauem Hinsehen nicht begründet". Das erhelle „aus einer Vielzahl konkreter und unzweideutiger Regelungen sowohl im System von Regierung, staatlicher Organisation und Kompetenzverteilung als auch im System der Freiheitsrechte und -garantien, der sozialen Gewährleistungen und des Rechtsschutzes. ... Es sind Regelungen, die die demokratische und rechtsstaatliche Grundentscheidung und den sozialen Entwicklungsaspekt im Detail ausführen und insoweit den wirklich fortschrittlichen Gehalt der neuen Verfassung ausmachen". Es gelinge diesen Regelungen, „den traditionellen status quo brasilianischer Verfassungsgewohnheiten nicht unerheblich (zu) korrigieren". 22

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timität erfüllt. Deren Problematik bleibt in der Tradition zweideutig: der Dezisionismus umgeht sie anti-formalistisch, Positivismus und Reine Rechtslehre umgehen sie formalistisch. Das hier entwickelte Konzept elaboriert sie in jeweils drei Stationen sowohl normativ-formal als auch normativ-material. Auf der ersten Stufe beweist die Emenda Ν. 16, daß von „symbolischem" Verfassungsstil nicht mehr die Rede ist, daß Brasilien sich als Verfassungsstaat verhält, „konstitutionell im engeren Sinn": weder Verfassungsdurchbrechung noch interpretatio contra legem (constitutionalem). - Die zweite Stufe (rechtsstaatliche Legalität) erfordert zusätzlich die korrekte Einhaltung der geltenden Vorschriften über Zuständigkeiten, Verfahren und Abstimmungen23. - Die Anforderungen der dritten Kategorie (rechtsstaatlich-demokratische Legitimität) sind erfüllt, wenn - wiederum zusätzlich die Entscheidung (hier also die Maßnahmen der Emenda Ν. 16) zum einen mit den Zentralinhalten der Verfassung vereinbar sind und zum zweiten im weiterlaufenden gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskurs offen und rechtlich gestützt umstreitbar bleiben dürfen. Aspekte hierfür sind einmal, ob nicht tatsächlich die anschließende Wieder- oder Abwahl ein demokratisches „Urrecht des Volkes" sein kann - im Gegensatz dazu aber wiederum, ob dies nicht der Akklamation und damit im Sinn der Typologie Max Webers dem Stil charismatischer Herrschaft näher kommt als dem der modernen parlamentarisch-bürokratischen. Oder: ob nicht durch die sofortige Wiederkandidatur eine langfristige Politik möglich wird - dagegen aber, ob durch Wegfall von Art. 82 alter Fassung nicht (mangels einer parlamentarischen Abhängigkeit der Regierung) die Gewaltteilung zugunsten der Exekutive verschoben und die Gewaltenbalance erschüttert wird. Die Festlegung Brasiliens jedenfalls auf Konstitutionalität im engeren Sinn normativer Ansatz der ersten Stufe - am Beispiel der Emenda Ν. 16 ist unwiderruflich festzuhalten. Im übrigen bilden „normative" und „symbolische" Elemente in allen Verfassungsstaaten nicht etwa ein ausschließendes „Entweder - Oder", sondern ein Kontinuum mit gleitenden Übergängen. Anhand der mißglückten bzw. funktionell unrichtigen Teile der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts habe ich das schon für mein Land angezeigt. Als gleitende Skala ist das Kontinuum in beide Richtungen offen: Auch eine klar normative Verfassung ist keine „politische Lebensversicherung", Deutschland hat im 20.Jahrhundert diese katastrophale Erfahrung gemacht. Andrerseits kann man, gegen die Schwerkraft der Tradition, die schiefe Ebene auch „hochklettern" - dafür steht in Brasilien der neue Aufbruch von 1988. „Symbolismus" und „Normativismus" sind, anders gesagt, keine statischen Eigenschaften, sondern Verhaltensmuster; kein Naturgesetz, sondern menschliches Handeln; keine je universellen, sondern gewählte Strategien. Die bewußt gewählte normative - für inhaltliches Recht und materiale Verfassung - ar23 Hierzu (v.a. zu Art. 60 § 2 und Art. 14 § 6 BrasV) eingehend Wolf Paul, Die Wiederwahl des Präsidenten der Republik. Aus der Chronik einer angekündigten Verfassungsänderung (1998, Typoskript).

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beitet schrittweise gegen überkommene Machtverhältnisse und massiv etablierte soziale Strukturen: durch wachsame Verstärkung der Tendenz, Legitimierung nicht mehr durch Symbole hinzunehmen - der Mentalität nach feudal/paternalistisch und kasuistisch - , sondern nur noch durch generalisierbar textkonformes staatliches Verhalten. Durch kraftvolles Verstärken der Tendenz weg vom Nominalismus der Textoberfläche einer Urkunde hin zur demokratischen Verfaßtheit der Gesellschaft. In dem Maß, in dem das geschieht, schreibt sich Ihr außerordentliches Land der normativen Verfassungsfamilie 24 ein. Die Juristen dieser Verfassungsfamilie haben für die demokratisch-rechtsstaatlichen Standards in deren ganzem Bereich eine kognitive und ethische Mitverantwortung. Denn der Anspruch dieser Standards ist so hoch, daß die Bedingungen ihres Gelingens hochgradig störanfällig bleiben. Doch verbietet sich die Versuchung des Fatalismus: weil die Freiheitlichkeit einer rechtsstaatlichen Demokratie der Grund- und Menschenrechte einen so essentiellen Schritt auf dem Weg einer Humanisierung der Weltgesellschaft darstellt. Auf dem Weg dorthin geht es auch um gesellschaftliche Umwälzungen. Die schwere Aufgabe der Juristen ist, diese in friedlichem Rahmen zu halten. Die entscheidende Grundlage dafür haben Sie: die Urkunde vom 5. Oktober 1988. Nehmen Sie sie ohne Zögern beim Wort! Ihre subtil elaborierte, Ihre moderne, Ihre generöse Verfassung fordert nichts geringeres und hat nichts geringeres verdient!

24 Begriff und Konzept der Verfassungsfamilie seit: Friedrich Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995, z. B. S. 75 ff; brasilianische Ausgabe: Säo Paulo 2001.

F. Welcher Grad an sozialer Ausgrenzung kann von einem demokratischen System noch ertragen werden? I. Exklusion und Demokratie 1. Einleitung „Demokratie" gehört zu den unbestimmtesten Ausdrücken; will sagen: zu denen, die am unterschiedlichsten, und oft gegensätzlich, verwendet werden. Die Wortgeschichte bietet uns immerhin „Herrschaft" und „Volk" an; aber ob daraus so etwas wie „Volksherrschaft" werde, fragt sich gerade: besser, ist schon gar nicht mehr die Frage. „Daraus wird nichts, wird nichts", soll ein braver deutscher Monarch angesichts verzweifelt rebellierender Armeleutegestalten ausgestoßen haben. Und wo es das gibt, worüber wir hier sprechen - ein demokratisches System (und nicht im Sinn der Systemtheorie) - , fragt sich zwischen Herrschaft ,des' Volkes, ,durch4 das Volk, ,für' das Volk und ,im Namen* des Volkes vor allem, wo bei soviel Herrschaft das Volk bleiben soll. Die Referenz auf das Volk ist den verschiedenen Konzepten aber notwendig; sie müssen sich legitimieren. Das System muß sich so darstellen können, auf der Grundlage von Volkssouveränität und Selbstbestimmung des Volkes zu funktionieren; auf der Basis freier Entfaltung eines jeden und der Gleichheit aller, der Chancengleichheit für politische Parteien und des Rechts auf legale Opposition, kraft jeweiliger Mehrheit zu entscheiden. Wie amtliches Handeln, staatliche Machtausübung allerdings im einzelnen ,auf das Volk' sollen zurückgeführt werden können, wird in der herkömmlichen Demokratielehre nicht klar. Beanspruchte Legitimität ist aber jedenfalls daran gebunden, der politische Prozeß, der zu Mehrheiten führt, sei einer des ganzen Volkes und nicht nur der einer (majoritären oder minoritären) »staatstragenden4 politischen Richtung, Volksgruppe, Religionsgemeinschaft oder sozialen Schicht. Politisch sollen alle gleichberechtigt sein - sonst ist der Wechsel von Mehrheit und Minderheit kein realer Mechanismus mehr. Minderheiten dürfen nicht als Pappkameraden fungieren, die ohnehin wieder überstimmt werden; sie müssen in einer pluralistisch aufgeteilten Gesellschaft eine nachweisbare Chance haben, zur Mehrheit zu werden. Das setzt voraus, das ganze Volk könne sich auch tatsächlich am politischen Prozeß beteiligen. Dem steht, schon auf den ersten Blick, soziale Exklusion entgegen: massenhafte „Marginalisierung" und Diskriminierung erheblicher Gruppen des Volks. Die

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grundsätzlich benachteiligten Menschen sind mit dem täglichen Überleben zu stark beschäftigt, um sich im genannten Sinn politisch engagieren zu können oder um mit einiger Aussicht in den etablierten politischen Organisationen Einfluß zu nehmen. Es fehlt die soziale Grundlage dafür, ihre - auf dem Papier der Verfassungen und Gesetze formulierten - politischen Rechte auszuüben. „Sozial" wird dabei zunächst, im Sinn des Themas, als Gegenbegriff zum „politischen" Charakter eines demokratischen Systems gefaßt: also in dem speziellen Verständnis wirtschaftlich fundierter Ausschließung, die hinter Begriffen wie „Sozialversicherung, „Sozial,,fall, „Sozialpolitik steht, kurz hinter der reformistischen europäischen Tradition sozialdemokratischer Konzepte. Auf die gestellte Frage nach dem Wieviel, nach dem Grad des demokratisch noch Erträglichen läßt sich auf diesem Weg allerdings nichts quantifizieren. Stattdessen tauchen demokratie-ethische Stoßseufzer an: „eigentlich gar nichts", „möglichst wenig" an sozialer Ausgrenzung. Anders steht es mit der organisatorischen Seite der (Formal-)Demokratie: hier erscheint plötzlich erstaunlich viel als tolerierbar, die USA, Großbritannien à la Thatcher, Indien (als die „größte [!] Demokratie der Welt" stereotyp gerühmt), Südafrika oder Brasilien liefern eindrucksvolle Beispiele. Diese unvollständige Liste von Fällen stellt nicht um Demokratie kämpfende ,auftauchende' (emerging, émergants) Gesellschaften auf eine Stufe mit „alten" Demokratien, in denen der sich verschärfende Widerspruch zwischen normiertem System und sozialer Wirklichkeit nicht zuletzt das Ergebnis zynisch marktliberaler Politik ist - aber das ist schon wieder ein ethischer Aspekt. Wie gut - in den Augen der mainstreams - , daß man so jedenfalls nicht quantifizieren kann - undenkbar, daß wissenschaftliche Parameter etwa England in den schwärzesten Thatcher-Jahren oder daß, chronifizierend, die USA als der Sache nach nicht mehr demokratische Systeme erscheinen könnten. Da ist es doch besser, selbst habituell lächerlich geringe Wahlbeteiligung wegen der begrifflichen Vagheit des Ansatzes hinnehmen zu können - mainstream-Autoren haben dann freies Feld, zu beschwichtigen und abzulenken, Kommentare aus der kritischen Ecke können ungestört lamentieren und moralisieren. Deshalb versuche ich, die Frage besser operational zu machen. Es wäre gut, die Begriffe ein Stück weit aufschlüsseln, die Bezugsbegriffe näher aufeinander beziehen und den „Grad", nach dem gefragt wird, im Ansatz quantifizieren zu können. Demokratie ist eine der Staatsformen, die auf der Ebene politischer Ethik mit Exklusion nicht kompatibel sind; das gereicht ihr zur Ehre. Fragen wir aber weiter, ob sie nicht vor allem die (eine) sein sollte, die von bestimmbaren Schwellenwerten an im technischen, im organisatorischen Sinn ihrer Formen und Prozeduren von Exklusion de facto beseitigt wird. Das würde ihr noch mehr zur Ehre gereichen. Das schließt ein, nicht nur den statischen Bauplan eines Konzepts zu untersuchen, sondern die von ihm möglich gemachten sozialen und politischen Vorgänge in der Zeit. Demokratie kann nur als ständig weitergehende Demokratisierung bestehen, d. h. lebendig bleiben.

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2. „Demokratisches System" Wie schon angemerkt, bezieht sich die Rede vom „System" hier nicht auf die Axiome der Systemtheorie. Der Ausdruck meint, auf der Linie der gestellten Frage, die Gesamtheit der normierten Strukturen, Funktionen und Zielvorgaben eines Staats, der sich als demokratischen darstellt. „Die" Demokratie gibt es nicht; wohl aber recht unterschiedliche Versuche, ein Gemeinwesen „demokratisch" zu institutionalisieren - gruppiert um den Grundgedanken, den ich vorhin formuliert habe. Es gibt also, wenn man es so nennen will, verschiedene demokratische „Systeme", die jeweils konkret zu untersuchen und zu bewerten sind. Was näher zu operationalisieren bleibt, ist „demokratisch", also „demos", „kratein" und ihre Beziehung. Empirisch läßt sich das so ansetzen, die sprachlichen Gebrauchsweisen des Ausdrucks „Volk" in Normtexten des geltenden Rechts zu überprüfen, vor allem in Verfassungsurkunden. Dabei ergeben sich1 mehrere Weisen der Verwendung. Die erste unter ihnen ist zugleich die einzige, die bisher in der rechtswissenschaftlichen Literatur als juristischer Begriff von „Volk" geführt wurde: die Wahlberechtigten. Ich nenne ihn Aktivvolk. Das genügt für die Legislative, soweit man, wie üblich, dank des Gedankens der Repräsentation „das Volk" indirekt als Quelle der Gesetzgebung faßt. Es versagt aber bereits für die Tätigkeit von Exekutive und Rechtsprechung, die doch auch „demo„kratisch gerechtfertigt sein sollen. Das Aktivvolk stimmt, wo das normativ ermöglicht wird, beim Referendum ab; oder es wählt seine Vertreter. Diese wirken, im Prinzip, beim Beschluß über gesetzliche Normtexte mit; und diese sind dann durch Regierung, Verwaltung und Justiz umzusetzen. Soweit das rechtsstaatlich korrekt erfolgt, zeigt sich aber ein Widerspruch im Demokratiediskurs: es ist zwar sinnvoll, zu sagen, die Richter oder Beamten seien dabei demokratisch gebunden; nicht aber, hier sei „mittelbar" noch immer das Aktivvolk tätig. Wo es keine Volkswahl von Beamten und Richtern gibt, reicht das Konkretisieren von Gesetzen dafür nicht aus. Der Kreislauf der Legitimierung ist zwar nicht undemokratisch unterbrochen, aber er ist unterbrochen. t/ndemokratisch zerschnitten ist das Band dort, wo die exekutivische oder judizielle Entscheidung ungesetzlich ist; hier wirkt das Volk, auf das sich der Amtsträger beruft („Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil" ... ), nur noch als Ikone, nur noch als ideologisches Versatzstück. Bei rechtsstaatlich vertretbarer Entscheidung, im ersten Falltypus, stellt sich die Rolle des Volkes anders dar: als Instanz einer globalen Zurechnung von Legitimität. Dieses Zurechnungsvolk geht in seinem Umfang über das Aktivvolk hinaus, es umfaßt alle Staatsangehörigen. Darüber noch hinaus betreffen die Beschlüsse der normsetzenden, normkonkretisierenden und normkontrollierenden Organe alle in ihnen genannten Adressaten, alle „die es angeht": das „Volk" als tatsächliche Bevölkerung. Eine Demokratie 1 Die Untersuchung ist durchgeführt bei F. Müller, Wer ist das Volk?, 1997; brasilianische Originalausgabe: Quem é ο Povo?, Säo Paulo 1998 (Editora Max Limonad); 2. Aufl. 2000.

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wird nicht zuletzt dadurch legitimiert, wie sie die auf ihrem Gebiet lebenden Menschen behandelt - gleichgültig ob sie Staatsbürger bzw. wahlberechtigt sind oder nicht. Das nähert sich endlich dem urdemokratischen Kerngedanken: Selbstcodierung im positiven Recht durch alle vom normativen Code Betroffenen. Der (anders gemeinte) Grundsatz „one man, one vote" kann auch so verstanden werden, nicht schichtspezifisch, sondern nach der Menschqualität eines jeden Betroffenen. Zu diesem Adressatenvolk, dem die zivilisatorischen Leistungen des demokratischen Rechtsstaats gelten, zählen einfach alle, unabhängig auch vom Alter, vom mentalen Zustand und vom Status der „bürgerlichen Ehrenrechte". Das überschreitet den traditionellen Herrschaftsdiskurs. Dieser ist nicht nur veraltet. In Verbindung mit „demos" war er von Anfang an fragwürdig. Das uralte Schema von Oben und Unten, der strikt autoritäre Rahmen, die autoritäre Deformation bleiben auch dann bestehen, wenn nur das „Herrschafts„subjekt ausgewechselt und nunmehr das Volk zuoberst gesetzt wird. Dieses alte Bild gesellschaftlicher Beziehungen ist vordemokratisch. Nach dem neuen Vorschlag heißt „kratein" in „Demokratie" nicht mehr nur „Subjekt legitimer Gewaltausübung sein"; sondern auch und vorrangig, „als legitimierender Faktor staatlichen Verhaltens ernst genommen und als maßgeblich behandelt werden". Mit anderen Worten geht es in erster Linie darum, nicht nur den wissenschaftlichen Volks„begriff ' neu zu bearbeiten; sondern auf dieser neuen Basis darum, das tatsächliche Volk als eine Wirklichkeit ernst zu nehmen. Deshalb sollte „kratein" nicht mehr, wie bis heute, nur herrschaftsrechtlich gefaßt, sollte „Demokratie" nicht länger nur nach den Techniken von Repräsentation traktiert werden. Das entspricht in etwa dem „government for the people" in der Lincolnschen Formel; dagegen ist jenes „by the people" schon wieder repräsentativ gebrochen und bleibt „of the people" unklar zwischen ikonischer und Zurechnungsfunktion von „Volk" in der Schwebe. Etwas genauer läßt sich das neue Konzept in den Begriffen von Georg Jellineks Statuslehre2 abbilden. Für das Zurechnungsvolk reicht sein Ansatz nicht aus; dagegen läßt sich das Aktivvolk mit dem status activus verbinden und erhält das Adressatenvolk zivilisatorische Leistungen des Staates sowohl über den status negativus (Freiheits- und Abwehrrechte) als auch über den status positivus (Rechtsschutz, Gleichheit bei staatlicher Verteilung, usw.). Avancierte Demokratie ist also nicht mehr nur demokratischer status activus; nicht mehr nur ein rechtstechnisches Dispositiv dafür, wie Normtexte in Kraft gesetzt (wie „Gesetze erlassen") werden. Sie ist jetzt vor allem auch ein Anforderungsniveau, das nicht unterschritten werden darf, solange es sich noch um eine Form von Demokratie handeln soll: im Hinblick darauf, wie die Menschen auf diesem Territorium konkret behandelt werden - weder als Untertanen noch als Untermenschen, sondern jeder einzelne von ihnen als Mitglied des souveränen Volkes, des Adressatenvolks, welches das Ganze der organisierten Staatsgewalt legitimie2 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. / 7.Neudruck, 1960, S. 406 ff. zu „Volk". Die Statuslehre bei dems., System der subjektiv-öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905.

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ren kann - zusammen mit Aktivvolk und Zurechnungsvolk. Demokratie ist positives Recht eines jeden Menschen im Bereich ihrer "-kratie". Für wen soziale Exklusion hierbei keine Rolle spielt, der verwendet „Volk" bloß ikonisch; er ist kein Demokrat, kein Teilnehmer am demokratischen Diskurs. Für unseren Diskurs hat sich dagegen bisher in einem ersten Ansatz folgende Operationalisierung ergeben: Wir können jetzt fragen, wie sich soziale Exklusion auswirkt - auf die Gruppe und die Funktionen des Aktivvolks, - auf Gruppe und Status des Zurechnungsvolks sowie - auf das gesamte Adressatenvolk und sein Legitimierungspotential.

3. „Soziale Exklusion" Der nächste Schritt besteht darin, „soziale Exklusion" operational zu machen. Das bedeutet vor allem, den Ausdruck besser aufzuschlüsseln, Wirkungen und Ursachen von Exklusion zu unterscheiden und nicht zuletzt die begriffliche Reichweite von „sozial" realistisch zu erweitern. Dieser Ausdruck läßt sich nicht eng halten, Exklusion entfaltet eine fatale Dynamik. 1821 hielt bereits Hegel, die frühkapitalistische Gesellschaft analysierend, in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts" fest, mit wirtschaftlicher Verelendung seien vor allem auch verheerende Nachteile der Bildung und Ausbildung verbunden, der Kultur, des Informationsgrads, des Rechts- und des Selbstwertgefühls 3. Dessen Schwächung, der Mangel an „Anerkennung", bleibt hinzuzufügen, führt zur Lähmung der betroffenen Menschen als politischer Wesen: zu niedriger Lebensstandard, familiäre Verarmung, das Stigma des falschen Wohnviertels, das Aufkündigen des Kontos durch die Bank, zunehmender Ausschluß vom sozialen, kulturellen und politischen Leben, sich verschärfende Chancenlosigkeit. Ökonomischer Abstieg führt rasch zu soziokultureller Depravation und zu - den herrschenden Kreisen meist gut ins Konzept passender - politischer Apathie. „Benachteiligung in auch nur einem Teilbereich" treibt eine „Kettenreaktion der Exklusion" hervor, endend nicht zuletzt in „politischer Armut" 4 . Das Gefährlichste in diesem strukturellen Skandal liegt wohl darin, daß das politökonomische und politische Schlachtfeld auch noch durch ein juristisches ergänzt werden; zu wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ungerechtigkeit tritt noch die juristische: ausgegrenzte Menschen, Wehrlose, Arme, Marginale können typischerweise nicht mehr auf Rechtsschutz zählen, werden zu Freiwild - Gewalt in der Stadt (meninos da rua, favelados, und andere), Gewalt auf dem Land 3 Ebd., über die „Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Fähigkeiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft", § 243; vgl. dazu auch §§ 244, 245. - Zur Abhängigkeit der Bildungs- und Ausbildungschancen von der Kapitalgrundlage ebd., §§ 200, 237. 4 A. Schräder, Brasilien: Soziale Fragen, soziale Strukturen, in: W. Paul (Hrsg.), Verfassungsreform in Brasilien und Deutschland, 1995, S. 17 ff., 30 ff., 31.

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(posseiros, semterra, indios, padres, und andere) und Gewalt gegen Gruppen und Minderheiten (crianças - adolescentes, mulheres, populaçâo negra, comunidades indigenas, migrantes nordestinos) als für die Situation der Menschenrechtskonflikte in Brasilien kennzeichnende Befunde 5. Abgestützt wird dieser de facto institutionalisierte Horror im Strafrecht durch systematische Straffreiheit für die staatlichen und unternehmerischen Täter, in Politik und Bürokratie durch Korruption. Nicht nur die Menschen bleiben auf der Strecke; mit ihnen auch Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat, auch Abwehrrechte gleichermaßen wie Teilhaberechte, vor allem die zentrale „Gleichheit vor dem Gesetz". Exklusion in diesem starken Sinn geht über Nichtzugehörigkeit und Nichtintegration hinaus, wenn man darunter nur „Marginalität" oder „strukturelle Heterogenität" verstehen will. Moderne Gesellschaften erzeugen Inklusion und Ausschluß als funktionale Differenz. Es gibt dann Klassen- oder Schichtunterschiede im Rahmen einer allgemeinen, wenn auch mehr oder weniger ungleichmäßigen Inklusion (Wohlfahrtsstaatlichkeit). Mit der hier untersuchten Exklusion im starken Sinn des Begriffs wird die Industriegesellschaft dagegen zum Teil dysfunktional, gerät sie in eine schwerwiegende Regression; läßt sie es zu, daß sich Gesellschafts- und Rechtsordnung segmentär aufspalten. Große Teile der Bevölkerung sind dann zwar von den lebenswichtigen Funktionssystemen abhängig, haben aber zugleich zu deren Leistungen a priori keinen (im Fall der primären) bzw. keinen Zugang mehr (im Fall der sekundären Exklusion, der Verarmung, des massenhaften sozialen Abstiegs, so deutlich in den G 7-Ländern) 6. Brasilien ist weithin von primärer Exklusion gezeichnet. Auch die Verfassung steht unter dieser Superstruktur, unter diesem Metacode. Die staatliche, parastaatliche und ökonomische Praxis aberkennt den Ausgeschlossenen die Menschenwürde, ja im Handeln des Repressionsapparats die Menschqualität: Verweigern der Rechts- und Verfahrensgarantien, physische Verfolgung, „Exekution" ohne Anklage und Prozeß, Straflosigkeit der Unterdrückungs- und Tötungsagenten. Als Verpflichtete werden die Menschen von Fall zu Fall durchaus in Anspruch genommen, als Berechtigte aber, wo sie es nötig haben, nicht zugelassen. (Verfassungs-)Normen treten ihnen fast nur noch „in ihren freiheitsbeschränkenden Wirkungen" entgegen; Zugang zu Rechtsschutz und Rechtsweg stehen aber, wie die politischen Mitwirkungsrechte, praktisch für sie nur auf dem Papier. Die Verfassung integriert Ökonomie und Gesellschaft, Politik und Recht nicht mehr wirksam; sie dient nur noch den Überintegrierten. Sie setzt den Code Recht/Unrecht gegenüber dem Metacode Inklusion / Exklusion nicht mehr 5

Nach der instruktiven Übersicht bei W. Paul, Situation der Menschenrechte in Brasilien - Sozialstruktur aktueller Menschenrechtskonflikte (Typoskript, 1999 ): ebd. auch zu „Impunidade" und „Corrupçâo". 6 Zur Unterscheidung von „primärer" und „sekundärer" Exklusion: F. Müller, Wer ist das Volk? 1997, S. 50 ff. - Zum ganzen: ebd., S. 47 ff. mit Nachweisen zu T. H. Marshall, Class, Citizenship and Social Development, 1976; Ν. Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, 1981; dems., Das Recht der Gesellschaft, 1993; M. Neves, Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne, 1992. - Sozialtheoretisch: N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1998, S. 618 ff. (Inklusion und Exklusion).

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durch, der Staat untersteht der Wirtschaft, das Recht deren Imperativen. Der Gipfel des objektiven Zynismus besteht dann darin, daß es „stetig mit Subversion identifiziert" wird 7 , wenn subintegrierte, wenn ausgeschlossene (Unter-)Bürger, (Unter-) Menschen die ihnen nach dem Text von Gesetz und Verfassung zustehenden Bürgerrechte beanspruchen wollen. Das ist noch nicht oder nicht mehr „Verfassungsstaat"; die Konstitution exkludiert sich selbst, nämlich aus dem Zusammenhang demokratischer Legitimität. Wo eine konstitutionelle Demokratie, ein „demokratisches System" im Sinn des Themas vorhanden ist oder ernsthaft angestrebt wird, kann es sich nicht allein vor dem Aktivvolk (den Wahlberechtigten und nach ihrer tatsächlichen Lage auch Wahlfähigen) rechtfertigen und auch nicht nur vor dem Volk als Instanz globaler Zurechnung der Gesetzgebungs-, Exekutiv- und Justizakte. Dies muß zugleich plausibel erscheinen vor dem gesamten demos als dem Adressaten all der verbürgten wirtschaftlichen und sozialen, kulturellen und rechtlichen Leistungen, die normativ verbrieft sind und auf die sich die verfaßte Gesellschaft beruft. In dem Maß, in dem - wie in Brasilien primär und wie etwa in den USA sekundär - die Metastruktur Überintegration/ Subintegration die Gesellschaft beherrscht, entlegitimiert sie das Gemeinwesen nicht erst auf dem Feld der Rechtsstaatlichkeit, sondern entscheidend schon von seiner demokratischen Basis her. Kettenreaktionen von Exklusion werden typischerweise durch primäre Armut bzw. wirtschaftlichen Abstieg ausgelöst. Damit, im Sinn der gestellten Frage, später versucht werden kann, auch zu quantifizieren, ist für einige Länder der Umfang von Armut und Massenelend zu skizzieren, also das Ausmaß der Basis der Exklusionssymptome. Zuvor, bei einer kurzen Überlegung im Weltmaßstab, läßt sich allerdings der Hinweis auf Eiendszahlen von einem anderen auf die Ursachen, jedenfalls soweit sie global sind, nicht trennen. Zwei Milliarden Menschen sind arbeitslos oder unterbeschäftigt, mehr als eine Milliarde lebt in Armut 8 , über 800 Millionen hungern akut. Die Zahl der Analphabeten erreicht die Milliardengrenze, der Heer der Obdachlosen wächst in so gut wie allen Ländern. Im nationalen Durchschnitt ausgedrückt, leben in Ländern mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von unter 1500 $ knapp vier Milliarden Menschen; 3 Milliarden unter 1000 $ US. Diese Misere fällt nicht vom Himmel; und aus traditioneller sogenannter Unterentwicklung erklärt sie sich nur zu einem abnehmenden Teil. Die als „Globalisierung" semantisch verharmloste weltweite Deregulierung hebt z. B. Zölle auf, die bis dahin lokale und regionale Hersteller und Märkte schützen sollten. Sie unterwirft die Produzenten kleiner Länder einem internationalen Wettbewerb, dem sie oft nicht gewachsen sind. Die Möglichkeit der einheimischen Regierungen, ihre Wirtschaft zu schützen und ihre Finanz7

G. Velho, Violência e Cidadania, in: dados. Revista de Ciências Sociais, 1980, S. 361 ff.,

364. 8 Maßstab für diese Zahl: weniger als 1$ US pro Mensch und Tag. Setzt man 2$ US als Grenze, erreicht die Armutszahl 2,6 Milliarden.

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systeme selbst zu steuern, wird tendenziell untergraben. Das prinzipielle Ausweiten des Arbeitsmarkts höhlt den Einfluß der Gewerkschaften aus und überspielt die Wirkung normativer Standards zum Schutz der Arbeit. Bauern in der sogenannten Dritten Welt werden in die Produktion für den Weltmarkt eingebunden, gleichzeitig geraten ihre eigenen Länder in Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten. Der internationale Wettbewerb zerstört örtliches Handwerk; mehr Arbeitsplätze gehen verloren, als durch Investitionen von außen entstehen. Nationale Ressourcen werden in alarmierendem Ausmaß geplündert. Viele rechtliche Regeln in den betroffenen Ländern entstanden, in langen Kämpfen der Arbeiterbewegung und anderer Formen von Notwehr, um den zügellosen Mißbrauch durch Ausbeutungs- und Kolonialsysteme des 19. und des 20. Jahrhunderts zu begrenzen. Solche Regeln werden jetzt dereguliert, einschließlich der neueren über den Schutz der Umwelt und der elementaren Lebensgrundlagen aller - ein revolutionärer Wandel (von den USA ausgehend) der internationalen Finanz- und Handelsmärkte, eine neue Form von verschärftem Kolonialismus. Der Einbruch wichtiger asiatischer Volkswirtschaften - wie in gewisser Weise vorher der mexikanischen, danach der südafrikanischen und jetzt der brasilianischen - zeigt, wie labil, wie verwundbar die globale Monetarisierung einzelne Volkswirtschaften, indirekt auch den ganzen Zusammenhang, macht: durch gewaltsame Anpassung der einzelnen Länder der Welt an eine ausschließlich von maximalem Profit motivierte westliche wirtschaftliche Monokultur. Positive Folgen dieser beispiellosen Liberalisierungspolitik sind vor allem makroökonomisch: Wachstum von Welthandel, Produktivität und Investitionen, auch zusätzliche Arbeit und gehobener Lebensstandard. Nur sieht es so aus, als überwögen die Globalisierungsverlierer die Zahl der Gewinner bei weitem: verschärftes individuelles Elend und ganze Regionen, ganze Länder (etwa in Afrika), die vom Weltmarkt gleichsam vergessen werden. Die Früchte der Globalisierung werden dann nicht einmal verteilt, geschweige denn angemessen verteilt. Globaler Wettbewerb führt bereits zu globalem Dumping; zu einem Wettrennen, Bestimmungen über Arbeitsschutz, Umweltschutz und Lohnmindestgrenzen zu unterbieten. Die Attacken auf demokratisches Potential, durch Krisen zu steuern, kommen von allen Seiten: die Souveränität nationaler Parlamente und Regierungen schrumpft, und im Weltmaßstab fehlt es an politisch-demokratischen Mitteln, das labile marktliberale System zu stabilisieren. Das System des so avancierten Kapitalismus erscheint als absolut destruktiv 9: Hunger und Elend nehmen zu; das Ausmaß an Ressourcenverbrauch und Umweltvernichtung bewirkt, quantitativ fortgeschrieben, den planetaren Kollaps. Wachsende Exklusion bedeutet, in den Worten Niklas Luhmanns in bezug etwa auf Indien, Afrika, Brasilien, aber auch auf Teile der USA, die „Produktion" von Millionen menschlicher Körper, die aus allen gesellschaftlich notwendigen Kommunikationen fallen: „Während im Inklusionsbereich Menschen als 9 Vgl. R. Kiihnl, Gesellschaft im Umbruch , in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1994, S. 747 ff. Das unmittelbar im Text folgende Zitat bei N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1998, S. 632 f.

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Personen zählen, scheint es im Exklusionsbereich fast nur auf ihre Körper anzukommen". Das Massenelend schlägt aber zunehmend auch auf die reichen Länder zurück: als Massenflucht und weltweit steigende Migration, als Terrorismus, als Rück-Import „exportierten" Giftmülls auf dem Weg über die ökologischen Kreisläufe, als Näherkommen allgemeiner Klimakatastrophen, als Bildung von Armutsghettos in Ballungsgebieten der Industrieländer, als kaum mehr sanktionierbares Anwachsen organisierter Kriminalität - legal agierendes und kriminell agierendes Kapital „gehen ineinander über" 10 . In Europa leben, laut offiziellem Bericht der Europäischen Union vom Juli 1997, im Durchschnitt 12% der Bevölkerung unter der amtlichen Armutsgrenze, mit Spitzenwerten von jeweils 17,7% in Griechenland und Portugal, sowie in Großbritannien mit 20% der Menschen; in Frankreich sind es 15% (1999). Die amtliche Definition von „Armut" lautet dabei auf „weniger als 50% des nationalen Durchschnittseinkommens". Soweit die Statistik sich auf die Kinder konzentriert, wachsen in Großbritannien 32% von ihnen in „offizieller Armut" auf, in Frankreich 15 und in Deutschland etwas über 14% n . Großbritannien leidet spektakulär noch immer unter den radikalliberal deregulierenden Thatcher-Jahren; aber auch in Frankreich ist, auf etwas niedrigerem Elendsniveau, die Exklusion seit längerem zu einem beherrschenden gesellschaftspolitischen Thema geworden. In Deutschland wurde die Lage von der früheren Bundesregierung (bis Herbst 1998) so eingeschätzt, daß sie sich weigerte, einen nationalen Armutsbericht zu veröffentlichen; zu diesem hatte sie sich jedoch auf dem Weltsozialgipfel in Kopenhagen (im März 1995) verpflichtet. Bisher gibt es daher nur Schätzungen durch die deutschen Wohlfahrtsverbände; sie bewegen sich um die 20% der Bevölkerung im Armutsstatus, sind aber nicht wie Statistiken verwertbar. Die Zahl der NichtWähler bei politischen Entscheidungen - erfahrungsgemäß in gewissen Grenzen mit sozialer Exklusion korreliert - beträgt im langfristigen Durchschnitt in etwa ein knappes Drittel. Für Brasilien steht die Frage der Wahlenthaltung unter besonderen Bedingungen: hier herrscht Wahlpflicht. Wird sie nicht erfüllt, drohen Sanktionen im Bereich der Ausreise außer Landes (der Paß wird nicht ausgestellt bzw. erneuert) oder im Bereich der bürgerlichen Ehrenrechte (ζ. B. kein passives Wahlrecht mehr). Trotz dieses erheblichen rechtlichen Drucks ergaben sich bei den letzten brasilianischen Wahlen (Oktober 1998), die zugleich dem Staatspräsidentenamt, dem Senat, dem Abgeordnetenhaus und den Parlamenten der Einzelstaaten galten, folgende Werte: 78,5% abgegebene Stimmen, von diesen 6,3% leere Stimmzettel und 10 R. Kühnl, ebd., S. 749. - Vgl. den umfassenderen Überblick bei: H. See/E. Spoo (Hrsg.), Wirtschaftskriminalität - kriminelle Wirtschaft, 1997. 11

Die (nicht-staatliche) Arbeiterwohlfahrt legte im Oktober 2000 erstmals eine umfassende Erhebung vor. Demnach leben in der Bundesrepublik 2 Millionen Kinder (rund 14,3 %) in „offizieller Armut". 6 F. Müller

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8,38% ungültige Stimmabgaben - im ganzen also eine Wahlenthaltung von 36,17% (davon 21,49% NichtWähler) 12. Ökonomisch ist die sogenannte Einkommensschere in keiner Weltregion so weit gespannt wie in den Schwellenländern Lateinamerikas: zwischen „sechsmal" (Costa Rica) und „fünfzehnmal" (Brasilien); das soll heißen: die 10 Prozent der reichsten Bürger Brasiliens haben fünfzehnmal mehr Einkommen als die 40 Prozent der ärmsten. Man kann lesen, diese Disproportion sei von sämtlichen (statistisch erfaßten) Ländern der Welt in Brasilien am größten. Die offiziellen Armutszahlen (nach dem Relatório Nacional Brasileiro, Brasilia 1996) betragen nach dem brasilianischen amtlichen Begriff der „pobreza absoluta" für das Jahr 1990 - das letzte, das mir vorliegt - im städtischen Bereich 17,7%, im ländlichen 53,4% und im Landesdurchschnitt insgesamt 27% der Bevölkerung 13. In den Vereinigten Staaten liegt die Armutsrate zur Zeit bei 13,7%, die unter den Kindern bei knapp einem Fünftel. Das Land zählt vier Millionen Dollar-Millionäre; das reichste halbe Prozent, der Bevölkerung besitzt Wertpapiere für 865 Milliarden $ und ein Grundvermögen im Wert von 2,4 Billionen $. Dagegen sind die Durchschnittslöhne heute niedriger als 1973. Die unteren 20% der US-Einkommenspyramide verdienten 1969 7,5 mal weniger als die obersten 20%, heute schon elfmal weniger. Zum Vergleich beträgt im westlichen Deutschland die Proportion das sechsfache. Seit dem Ende der 70er Jahre deregulieren die USA nach dem Grundsatz von „trial and error" - unsoziale Folgen werden aber in einem Staat, der sich im Gegensatz zu Westeuropa nicht als Hüter einer „gerechten" Gesellschaft begreift, nicht als error behandelt. Wie Sie wissen, sind es gerade amerikanische Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, die ihr System besonders bissig kritisieren; in der Tat geht es nicht für oder gegen „Antiamerikanismus", sondern darum, die Konsequenzen des Amerikanismus nüchtern zu erfassen: „Darwinismus in Reinkultur", nennt es William Lewis, der Chef des McKinsey-Forschungsinstituts in Washington14: der Stärkere gewinnt, der Schwächere wird ausgemerzt und gerät rasch in den Sog der beschriebenen Kettenreaktion von Exklusion. Einerseits kennt die amerikanische Volkswirtschaft durch die 90er Jahre hohe Wachstumsraten und hat netto 28 Millionen neuer Arbeitsplätze geschaffen; andrerseits sind diese für 20% der Arbeitnehmer - oft unfreiwillig - nur Teilzeitbeschäftigungen; und im Gesamtdurchschnitt bringt die neue Arbeit 14% weniger an Einkommen. Zugleich gingen die Massenentlassungen weiter; gerade auch in den USA selbst hat die von dort ausgehende Globalisierung mit ihrem tendenziell weltweiten Kampf um Arbeitsplätze viele sichere und gut bezahlte Jobs in der Industrie zerstört. Und wenn 12 In absoluten Zahlen: 106.101.060 Wahlberechtigte, 83.296.067 abgegebene Stimmen, 22.798.922 NichtWähler, 6.688.610 weiße und 8.884.430 als ungültig gewertete Stimmzettel. 13 Wiedergegeben nach: Tolosa e Rocha, Politicas de Combate à Pobreza: Experiências e Equivocos, Säo Paulo, INAE. Forum Nacional, maio 1993. 14 Dazu Chr. Tenbrock, DIE ZEIT v. 26. 11. 1998, S. 27 f.

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es dann oft heißt, das System der USA halte für solche Fälle, anders als die wohlfahrtsstaatliche Tradition in Europa, kein „soziales Netz" bereit, so ist dies naiv. Sozialwissenschaftlich ist es ein offenes Geheimnis, daß die USA durchaus ein solches „soziales" Netz bereithalten, es ist nur teurer (und daher inzwischen auch zum Teil privatisiert) als das europäische: die Strafanstalten. Die Zahl der Gefängnisinsassen liegt bei rund 1,6 Millionen; und das heißt im Verhältnis, pro Kopf der Bevölkerung, zwischen sechs- und siebenmal höher als in den Ländern Europas (und über zehnmal so hoch wie in Deutschland). Eloquent ist, gerade für unser Thema, als weiterer Indikator das Wahlverhalten: Präsidenten, die mit weniger als 40%, mit unter 30% oder, so bei Clintons Wiederwahl im November 1996, mit knapp 25% „Mehrheit" der Wahlberechtigten gewählt werden, Wahlbeteiligungen von 38% (US-Kongreß im Herbst 1994) oder von 36% (US-Kongreß im Herbst 1998). Wieviel an Exklusion und ihren bisher genannten Folgen ein demokratisches System noch tolerieren könne, ist eine Frage nach relativ statischen (Zwischenergebnissen gesellschaftlicher Ausgrenzung. Nun ist, abgesehen von punktuellen Verfassungsumbrüchen, nicht nur Demokratisierung ein dynamischer Vorgang, sondern auch Entdemokratisierung. Es genügt nicht, soziale Exklusion nach der Art eines fait accompli feststellen und danach ihre (Un-)Verträglichkeit mit dem demokratischen System messen zu wollen. Das wäre nur die eine Seite. Die andere besteht darin, im Fluß befindliche externe Ursachen, hier die aktuelle Globalisierung, zu beschreiben und auch deren Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit mit funktionierender Demokratie zu benennen. Im Rahmen eben dieses Untersuchungsfeldes treten die (v.a. makroökonomisch/statistischen) Wohltaten weltweiter Deregulation hinter ihre nachteiligen, ja grausamen Wirkungen zurück: sie hat unbestreitbar überall die Schere zwischen Reich und Arm dramatisch vergrößert, hat Exklusion verschärft und ausgeweitet15. Das gilt, wie schon gesagt, nicht nur für „unentwickelte" oder auf der „Schwelle" stehende periphere, sondern auch für die reichen, die zentrischen (G-7 / 8-)Länder. Elend und Ausgrenzung weltweit wirken als gesellschaftliche Importe oder Re-Importe zunehmend auf diese zurück. Zu den Aspekten, über die ich bereits sprach, treten auch immanente Krisenerscheinungen der führenden Industriestaaten wie Massenarbeitslosigkeit, Schwächung der Mittelschichten, Stärkung von Bewegungen mit faschistoidem Habitus, zunehmende Anomie (Jugendkriminalität, Organisiertes Verbrechen, Drogenwelle). Dazu kommt mit dem Diktat der Werbung, mit der Herrschaft von Bestsellerei und Einschaltquote und mit rasanter Konzentration im Verlags- und Pressewesen eine Schwächung kultureller Vielfalt und Eigenwilligkeit, die für unser Thema „demokratisches System" ein schlechtes Omen darstellt.

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Umfassend zur weltweiten Verelendung: P. Bourdieu u. a., Das Elend der Welt, 1997.

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Π. Globalisierung und Demokratie Im weiteren folgen jetzt einige für das Thema wichtige Einzelpunkte: der operative Kern der „Globalisierung", Besonderheiten in Lateinamerika und besonders in Brasilien, der historische Status globalisierender Politik, die Rolle des Staates hierbei und Auswirkungen auf die Demokratie. 1. Wenn man von „Globalisierung sprechen kann, so ist es eine solche unter das Gesetz des Kapitals. Die Mondialisierung ist eine Monetarisierung 16. Marktradikale Ökonomen und Politiker standen in den 80er und 90er Jahren besonders in den USA und in Großbritannien (mit einem schändlichen Außenposten in Pinochets Chile) an vorderster Front, um Angebotspolitik, Sozialabbau und Deregulierung durchzusetzen: „weniger" oder den „schlanken" Staat, Privatisierung, niedrige Steuern, geringe Sozialausgaben, sogenannte Flexibilität für die Lohnabhängigen, freie Wechselkurse und auf dem Arbeitsmarkt ohnehin hire and fire .Die dadurch aufgerissenen sozialen Massenschäden wurden und werden damit wegerklärt, es gebe eben noch zu wenig Liberalisierung. Das ganze Experiment mit neuer Armut in den Industrienationen sowie Finanz- und Wirtschaftschaos in den Schwellenländern, exekutiert durch Internationalen Währungsfonds, Weltbank, Welthandelsorganisation und die Beratungspolitik amerikanischer Investmentbanken, sucht Profitmaximierung für wenige durch Entfesselung der internationalen Finanzmärkte durchzusetzen. Reagans, Thatchers oder ihrer damaligen oder heutigen Epigonen Kampf gegen historisch erkämpfte Schutzvorschriften des Sozialstaats und ihr Krieg gegen die Gewerkschaften dienten letztlich dem Zweck, der selbstbezüglichen Logik der Finanzmärkte zum Durchbruch zu verhelfen. Die zeitlich und räumlich unbegrenzten Bewegungen von Kapitalströmen haben sich von den grundlegenden Wirtschafts- und Konjunkturdaten längst selbständig gemacht. Gemäß der Regelung des globalen Finanzverkehrs nach dem System von Bretton Woods (1944) wurden Devisen nur getauscht, um damit Handel und Investitionen zu finanzieren. Heute bewegen sich die Währungen weitgehend ungebunden; die Spekulation hat das Volumen des Devisenhandels auf das Fünfzigfache des Warenverkehrs getrieben, zu diesem also jede rationale, jede im Sinn des Begriffs ökonomische Beziehung abgestreift. 2. Nach den Desastern der südostasiatischen Volkswirtschaften, nach Rußland und Südafrika (und mit China als Gefahrenpotential im Hintergrund) hat der Fall der brasilianischen Währung im Januar 1999 - der Real verlor allein zwischen dem 12. und dem 19. Januar gegenüber dem US $ 37 Punkte - als neuer Schock gewirkt. Als nächster unsicherer Dominostein galt Argentinien - das mit dem Rückhalt des IWF seine Währung noch viel enger an den Dollar gekettet hat als Brasilien. In Lateinamerika hat der Kapitalismus wesentlich dünnere Wurzeln als in den asiatischen Industriestaaten; daher hat man hier mit seinen Krisen, besonders im Sinn von „Hinein!" und „Heraus!" internationaler Investoren schon mehr Erfah16

Vgl. die bedeutsame Analyse bei C. Furtado , Ο Capitalismo Global, Säo Paulo 1998.

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rangen sammeln müssen. Bis zur Mexikokrise und in geringerem Maß auch wieder nach ihr galt der Subkontinent als guter Investitionstipp. Zur Zeit ist das Kapital wieder im Rückzug begriffen - mit, wie zu befürchten ist, besonders großen Turbulenzen. Das erklärt sich aus der Politik- und Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas. Die Kolonialmächte hatten den Merkantilismus gepflegt, die Regierungen der endlich unabhängig gewordenen Staaten setzten ihn fort. Die Eliten wurden weiterhin für den Staatsdienst statt für freie Wirtschaft und Industrie ausgebildet; die Industrialisierung seit den 30er Jahren, angestoßen durch populistische Politiker, geschah gegen die Eliten. Die Industrialisierung galt als Sache des Staates, Vater Staat in der industriellen Produktion trat neben den Patron auf dem Landgut; immer wieder auch wurden ausländische Unternehmen annektiert, und die wenigen großen Privatunternehmen hingen vom Wohlwollen der Regierungen ab. Korruption, Inflation und technischer Rückstand waren ein hoher Preis für die fortbestehende Symbiose von Politik und Geschäft. Nach dem Ende des Kalten Krieges öffnete sich der Kontinent dem Weltmarkt, ausländisches Kapital überschwemmte die einheimischen Volkswirtschaften, Staatsunternehmen wurden verkauft. Vater Staat übergab die Rolle des Patrons an multinationale Gesellschaften. Der so entstehende Kapitalismus ist weitgehend fremdgesteuert, aus Konzernzentralen wie Detroit, Ludwigshafen, Wolfsburg und vielen anderen; seine einheimische Basis ist hauchdünn. Die Kapitalbeschaffung einheimischer Unternehmen an der Börse ist schwach ausgeprägt, das Institut der Volksaktie ist unbekannt. Unter den 500 weltweit größten Unternehmen finden sich sechs lateinamerikanische. Unternehmer sind ungewöhnlich häufig Politiker oder Anwälte, die ihren Betrieb eher als Geldanlage auffassen. Unternehmerische Forschung, Entwicklung, längerfristige Investitionspolitik werden klein geschrieben; unternehmerische Initiative wirkt sich eher im informellen Sektor aus, der nach häufiger zu lesenden Schätzungen etwa so groß ist wie die statistisch erfaßte Volkswirtschaft Lateinamerikas. 3. Die Protagonisten des beschriebenen neuen Modells, der rabiaten globalen Deregulierung im Dienst der Profitmaximierung und -konzentration, fühlen sich sicher, feiern überheblich den in ihren Augen endgültigen Sieg dessen, was sie mehr als euphemistisch „Leistungsgesellschaft" nennen. Vom Doktrinarismus der Chicago-Schule um Milton Friedman bis zur Naivität eines „Endes der Geschichte" bei Francis Fukuyama reicht die Behauptung, das, was in Realität die Durchsetzung der Interessen des Finanzkapitals ist, sei ein Korpus von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ideen mit universellem Geltungsansprach: vom (angeblich) freien Wettbewerb über Rückzug des Staats und Privatisierung, die sogenannte Flexibilität (auch) der Lohnabhängigen und den Sozialabbau bis zum Vorrang der Capricen der Finanzmärkte vor den Ergebnissen allgemeiner demokratischer Wahlen. Bei näherem Zusehen ist aber an der angeblich „einzig möglichen Politik" in dieser Richtung nichts wissenschaftlich Zwingendes zu entdecken - und das gilt auch für die Anfänge dieser Doktrin seit den 40er Jahren bei F. A. von Hayek und Richard Weaver, zusammen mit Friedman. Das ganze läßt sich mit gleicher Plausibilität als

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Aneinanderreihung von Glaubenssätzen sehen; so bei dem Basisaxiom, Deregulierung bringe auf längere Sicht zwangsläufig Vorteile für alle mit sich. Empirisch eben keineswegs für alle; nur für solche Handelspartner, deren wirtschaftlich / industrielles Niveau fortgeschritten und, zusammen mit dem Standard des sozialen Schutzes und der Rechtsordnung im ganzen, auf etwa gleicher Höhe ist. Ähnlich verhält es sich mit der Behauptung, der Staat habe in der Wirtschaft nichts zu suchen und nur die Aufsicht über einen fairen Wettbewerb und die „grundsätzlich" gleichen Startchancen aller zu führen; auf diese Weise habe ja auch der Marktkapitalismus den Kommunismus historisch besiegt. Davon abgesehen, daß es sich nicht um einen immanent ökonomischen Sieg handelte, sondern - auf dem kalten Weg des Kalten Krieges um einen militärökonomischen („totrüsten"), hat nicht der heutige marktradikale Kapitalismus den Realsozialismus in die Knie gezwungen. Es war vielmehr die Politik gewesen, die traditionell die Bedingungen für die Märkte setzte; es waren - von Land zu Land und auch zu historisch verschiedenen Zeitpunkten - in wechselnden Mischungsverhältnissen der Sozialstaat und ein System der gemischten Wirtschaft („Ordoliberalismus", „soziale Marktwirtschaft", „New Deal", „Great Society" und andere Terme erinnern daran). Und wenn der Staat auf real gleiche Startchancen aller achten soll, ist er dementsprechend sehr stark impliziert. Über seine unbewiesenen Axiome hinaus, ist der Marktradikalismus und Monetarismus eine bestreitbare und umstrittene Wirtschaftslehre mit vielleicht vorschnell triumphalistischer Ideologie. Seine Vertreter dementieren sich übrigens permanent selbst: ihre Finanz- und Konzernzentralen pflegen den Staat keineswegs in seine Schranken zu verweisen, wenn es darum geht, von ihm Subventionen entgegenzunehmen. 4. Gegen den Ultraliberalismus sprechen ernsthafte Gründe dafür, daß eine bestimmte Klasse von Problemen, allgemein gesprochen die der Verteilungspolitik, den Staat nach wie vor braucht. Gerade die Demokratie erfordert es, wirtschaftliche Prozesse in soziale einzubetten - in der heutigen Lage auch mit internationalen Regelwerken, soweit der Nationalstaat nicht mehr allein den verbindlichen Rahmen vorgeben kann 17 . Sonst machen staatsfreie Marktvorgänge die Souveränität der Verfassungsstaaten und nicht zuletzt ihre demokratische Legitimierbarkeit allmählich zur Farce. Die sogenannten Marktkräfte sind weder natürlich noch historische Gesetze von höherer Dignität, denen sich die Politik unterzuordnen hätte 18 . Die ultraliberale Polemik droht vergessen zu machen, daß Korruption und Nepotismus der Großwirtschaft selber nicht fremd sind, daß weite Teile der Privatwirtschaft ihrerseits überdimensioniert und bürokratisiert erscheinen: „Die zwanghafte Staatskritik der Marktideologen spiegelt die Furcht wider, daß der Staat das öffentliche Interesse zu effizient vertreten könnte" 19 . Die Spieltheorie zeigt, daß nur dort 17 Vgl. F. W. Scharpf, Games Real Actors Play, Oxford 1997; W. Streeck/C. tical Economy of Modern Capitalism, London 1997.

Crouch, Poli-

18 Dazu eingehend Ν. Birnbaum, After Progress, Oxford 1998; und dazu C. Noè, DIE ZEIT v. 19. 11. 1998, S. 31. 19 So Ν. Birnbaum, Mehr Demokratie wagen, DIE ΖΕΓΓ v. 24. 10. 1997, S. 3.

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ein Plussummenspiel von Wohlstand und Freiheit, von Eigennutz und Gemeinwohl möglich ist, wo sich der individuelle Nutzen an für alle verbindliche Regeln zu halten hat. Andernfalls lassen sich Regierungen, die ihrem Aktivvolk, Zurechnungsvolk und Adressatenvolk verantwortlich sind, von den von jedem „Volk" gelösten Marktkräften im Rahmen der „Standort„ideologie widerstandslos erpressen; nach Angaben der Weltbank 20 wären zwei Drittel aller tatsächlich getätigten ausländischen Direktinvestitionen in einem anderen Land realisiert worden, wenn sich die fraglichen Regierungen nicht zu den geforderten Subventionen und sonstigen Vergünstigungen hätten drängen lassen. Die neuerlich ungebremste Herrschaft der Märkte führt keinesfalls zu freiheitlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen Gesellschaften, auch wenn die von Wirtschaftskonzernen aufgekauften Medien dies unermüdlich predigen. Umgekehrt muß ein Verfassungsstaat sich politisch und rechtlich mühsam als freiheitlichen konstituieren und behaupten; und er muß die Märkte so weit regeln und beeinflussen, daß die Gesellschaft einigermaßen frei und gerecht bleiben kann. So braucht der Pakt der Vereinten Nationen über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte von 1966 (WSK-Rechte) zu seiner tatsächlichen Umsetzung die Staaten und ihre Vertragstreue Politik 21 : Transformation in nationales Recht mit Klagemöglichkeiten, Absicherung des Zugangs zu staatlichen Leistungen auch für benachteiligte Gruppen (wie ζ. B. Frauen oder Kleinlandwirte), Streik- und Demonstrationsrecht, Arbeitsschutzbestimmungen, Maßnahmen gegen Korruption, Agrarreformen, Kampagnen zur Alphabetisierung. Nicht zuletzt wird der Staat für eine Bildungs- und Wissenschaftspolitik gebraucht, die sich nicht sklavisch den sogenannten Sachzwängen der „Effizienz" im weltweiten Konkurrenzkampf unterordnet. Die Konzentration privater Wirtschaftsmacht ist inzwischen weithin „so tyrannisch und so totalitär" geworden (Noam Chomsky), daß dringend staatliche Politiken gebraucht werden, die mehr und anderes sind als Erfüllungsgehilfe privater Kapitalinteressen 22. 5. Es hat sich gezeigt, auf welchen Wegen globale Monetarisierung die Demokratie bedroht. Die am tiefsten eingreifende Attacke in dieser Richtung läuft aber über Exklusion; und es ist inzwischen ein Erfahrungswert, daß Globalisierung gesellschaftliche Ausgrenzung verbreitert und verschärft. Sie geht eindeutig zu Lasten des demokratischen Rechts- und Sozialstaats. Exklusion entlegitimiert, läßt

20 Zitiert bei Noè (Fn. 18). 21 Die beiden Pakte von 1966, darunter der WSK-Vertrag, traten 1976 in Kraft und sind inzwischen von knapp Dreiviertel aller UN-Mitglieder (135 Staaten) ratifiziert worden; nicht aber z. B. von den USA. 22 Umfangreiche Untersuchungen z. B. bei N. Chomsky, Haben und Nichthaben, 1998; J. Saul, Der Markt frißt seine Kinder, 1997. Vgl. ferner einschlägige Arbeiten von J. K. Galbraith, P. Bourdieu, A. Gorz, R. Heilbroner, J. Rifkin, E. Luttwak („Turbokapitalismus"), P. Druk ker, femer die Autoren der „Gruppe von Lissabon", und andere. - Zu den tiefgreifenden Auswirkungen des Marktdogmas und seiner Managementideologien innerhalb der Unternehmen: R. Sennett, Der flexible Mensch, 1998.

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Aktiv-, Zurechnungs- und Adressatenvolk zum „Volk" als Ikone entarten. Im Ausmaß ihrer Zunahme entstaatlicht sie sogar; jedenfalls den anspruchsvollen Verfassungsstaat, der nur als allgemeiner und nicht als von Inklusion/Exklusion tyrannisch überlagerter gerechtfertigt werden kann 23 . Und in dem Grad, in dem die globalen Märkte die Politik diktieren und die Steuerungschancen der Regierungen ins Leere laufen lassen, wird Demokratie zu einem noch leereren Wort als oft ohnehin schon. Speziell für den Fall Brasiliens hat etwa Celso Furtado die zunehmende Unregierbarkeit aufgrund makroökonomischer Abhängigkeiten festgehalten; die Unterworfenheit unter ausländisches Kapital verursache ein „risco crescente de ingobernabilidade do pais" 24 (wachsendes Risiko der Unregierbarkeit des Landes). Mobiles Kapital auf einem staat(en)losen Markt überspielt gewählte Parlamente und Regierungen und damit deren Verpflichtung auf Rechtsstaat und Sozialstaat, auf Umweltschutz und verantwortbare Verteilung knapper Güter. Die Drohung mit dem Argument „Standortwechsel" hängt nur vom Nutzenkalkül des jeweiligen Konzerns ab; aber sie schlägt die (etwaigen) Gemeinwohlmotivationen der Regierung, die damit erpreßt wird, aus dem Feld. Und damit wird, an der Basis der Legitimität demokratischer Systeme, eben den demokratischen Methoden der Boden entzogen, auf dem Weg über die alle diese Errungenschaften (wie die Menschenrechte) und Politikziele (wie Umweltschutz) zu behandeln und zu sichern wären. Die Herrschaft der „Märkte" ist so despotisch geworden, daß sich ihre Vertreter nicht mehr die Mühe machen, diesen skandalösen Tatbestand zu verschleiern. So schreibt der außenpolitische Sprecher der deutschen Christdemokraten in Le Monde, die Politik müsse „auf eine supranationale Realität ausgerichtet werden. Die Internationalen Finanzmärkte sind ein Ausdruck dafür"; oder der bisherige französische Kommissar bei der Europäischen Union, Yves-Thibault de Silguy erklärte, die Politiker müßten endlich begreifen, daß „die Märkte regieren" 25. Speziell in Europa ist seit dem Vertrag von Amsterdam in der Tat die wahre Regierung jedes Landes der Union in zentralen Fragen nicht mehr diejenige, die man gewählt hat; sondern die Europäische Zentralbank, die niemandem politisch-demokratisch Rechenschaft schuldig ist. Die Bürger können weiterhin frei sagen und in Wahlen ausdrücken, was sie denken, außer in den für ihre Gegenwart und Zukunft entscheidenden Fragen. Was die wenig entwickelten Länder und die Schwellenländer betrifft, so wächst dort die Erfahrung, daß global angekurbeltes, bloß monetär und statistisch ausgewiesenes Wirtschaftswachstum ohne rechtsstaatliche Standards und eine Machtausübung, die sich konkret legitimieren kann, also ohne good governance, die Gesellschaften nicht etwa befriedet, sondern mit Konfliktpotential anfüllt und destabilisiert. 23 Dazu F. Müller, Wer ist das Volk?, 1997, S. 47 ff., 57 ff. 24 In: Ο Capitalismo Global, 1998, S. 73 f. 25 Beide zitiert in: DIE ΖΕΓΓ v. 12. 9. 1997, S. 39. - Analytisch benennt N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1998, S. 808 " . . . die Zentren der Weltgesellschaft (vor allem natürlich (!) die internationalen Finanzmärkte)...". - Ausrufezeichen nicht bei Luhmann.

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Und für die USA sagt der Doyen der linksliberalen Ökonomie, J. K. Galbraith, das Zerbrechen der Gesellschaft voraus, wenn der ungehemmte Markt weiter das Land in drei Teile reißen könne, die Reichen, die degenerierende Mittelschicht und die anschwellende Zahl der Exkludierten. Auch Autoren wie William Lewis und Lester Thurow sehen in den USA und den übrigen Industrieländern die soziale Infrastruktur auf längere Sicht in Stücke reißen: „Der Kapitalismus kann damit fertig werden, die Demokratie aber nicht", schreibt der Professor am Massachusetts Institute of Technology26. 6. Ein Spezialthema, das in diesem Rahmen nur angedeutet werden kann, besteht in den Auswirkungen von Exklusion auf Demokratisierung, auf die überaus komplexen Vorgänge der Transformation in Systeme, die dann „demokratisch" zu nennen wären 27 . Von dem Bündel an Faktoren, die vorliegend im Zentrum stehen, kommt es dabei auf die Nachwirkung prädemokratischer Institutionen, aber auch auf „die Erinnerungskraft vorautoritärer Traditionen" an, vor allem auf frühere demokratische Phasen in der Geschichte eines Landes; nicht zuletzt auch auf Stärke und Entwicklungsstand des Handlungspotentials der Eliten und des allgemeinen Mobilisierungsgrads der Gesellschaft, kurz auf „die jeweilige Stärke der civil society". Eine solche bremst vielfältig die Dominanz eines herkömmlich zu „starken" Staates; beziehungsweise eines Staates, der - wie aktuell in Brasilien - tendenziell wieder immer autoritärer wird. Durchaus nicht alle zivilgesellschaftlichen Gegenkräfte sind intern demokratisch, viele sind ihrerseits autoritär oder klientelistisch verfaßt; ihre Aktivitäten tragen aber wenigstens zum Pluralismus des ganzen bei. Was Brasilien angeht, so mußte es sich von einem vorhergehenden Militärregime absetzen, und trug seine Verfassunggebung noch durchaus die Spuren eines paktierten (nicht-revolutionären) Übergangs an sich. Das fast schon wieder erdrükkend gewordene Gewicht seines Präsidialregimes führt bei einer traditionell noch zu schwach demokratisierten Zivilgesellschaft zu dem, was in der Transformationsforschung eine „defekte" Demokratie genannt wird - zumal die praktische Durchsetzbarkeit demokratischer Politik am Mangel rechtsstaatlicher Strukturen leidet. In Brasilien fehlt es weder - leider - an Erfahrung noch auch - glücklicherweise - an Reflexion über diese Zwischenformen zwischen Demokratie und mehr oder weniger autoritärer Herrschaft; Termini wie dictablanda oder democradura zeugen davon. Eine noch fatal starke Basis für solch defekte Hybridformen bildet in Brasilien die weithin archaische politische Struktur: mit der Herrschaft einer klientelistisch agierenden Kaste von Landesfürsten, von „Kaziken", in den Einzelstaaten sowie - in diesen wie auch auf der Ebene der Föderation - mit von den Wählern praktisch nicht kontrollierbaren Volksvertretern, die ihrerseits regionalem und präsidentialem Klientelismus sich fügen.

26 L Thurow, nach: DIE ZEIT v. 26. 11. 1998, S. 27 f., 28. 27 Dazu und zum folgenden: H.-J. Puhle, Demokratisierungsprobleme in Europa und Amerika, in: H. Brunkhorst/P. Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik, 1999, S. 317 ff.; das im Text folgend Zitierte: ebd., S. 322; zu Lateinamerika, einschließlich Brasilien, S. 334 ff.

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Um so wichtiger ist es, daß auch im Bereich der mehr oder minder organisierten / organisierbaren „Massen" ein realer Faktor gelingender Demokratisierung liegt, jedenfalls auf längere Sicht: ohne Kommunikation und Zusammenarbeit mit diesen kann sich auch eine Elite nicht unbegrenzt halten. Demokratisierung, aussichtsreicher „von unten" als „von oben" kommend, vollzieht sich eben auch aus einer Vielzahl von Selbsthilfe-, Selbstschutz-, Bürgerrechts- und sonstigen Widerstandsinitiativen. Aber genau hier ist nun wiederum soziale Exklusion etwas ungemein Hinderliches, das mit allen Kräften, um der (künftigen) Realität eines demokratischen Systems willen, bekämpft und zurückgedrängt werden muß 28 . 7. Die Frage, die das Thema stellt, sollte nicht nur ethisch behandelt werden; das sagte ich eingangs. Zentrale Begriffe waren besser zu operationalisieren; und das wiederum führt auf quantitative Aussagen. So gesehen, ist Demokratie im genaueren Sinn die Staatsform, die gerade auch in ihren organisatorischen Abläufen, von bestimmten Schwellenwerten von Exklusion an, nicht mehr in Funktion ist. Hier bleibt noch Bedarf an Forschung für eine die Statistik und präzisere Evaluierungen einbeziehende Politikwissenschaft. Was ich hier mache, ist ein erster Vorschlag, der in meiner Sicht eine sinnvolle Richtung angibt. Ein derartiger Ansatz exponiert sich geradezu der Kritik. Er sollte im Interesse von Demokratie aber versucht werden, um aus der traditionellen Unverbindlichkeit der Kritiken am status quo endlich herauszukommen. Soll eine Demokratie lebendig sein, so darf die Verwendungsweise von „Volk" in der Praxis - nicht ikonisch bleiben. Zum „Volk" im nicht-ideologischen Verständnis gehören somit alle drei hier herausgearbeiteten Funktionsschichten. Damit sind auch alle Beeinträchtigungen des Aktivvolks, des Zurechnungsvolks und des Adressatenvolks durch soziale Exklusion zusammenzufassen. Die drei Grundvarianten „demo„kratischer Rechtfertigung dienen also weiterhin als besser auflösender Raster, und zwar um jetzt den Gesamtschaden am demokratischen System benennen zu können. Primär wirtschaftliches Massenelend betrifft in dieser Perspektive das Adressatenvolk; das soziokulturelle, in politische Wirkungslosigkeit und Apathie mündende das Aktivvolk, im engeren Verstand rechtliche Exklusion (ungesetzliche Gewalt, verfassungswidrige Ungleichheit, Verweigerung von Rechtsschutz, Straflosigkeit der Unterdrückungsstäbe) besteht in Verstößen gegen den Status des Zurechnungsvolks.

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Wichtige Literatur zur Transformationsforschung liegt ζ. B. vor bei: S. M. Lipset, Some Social Requisites of Democracy, in: American Political Science Review 53 (1959), S. 69 ff.; D. Share /S. Mainwaring, Transition Through Transaction: Democratization in Brazil and Spain, in: W. Selcher (Hrsg.) Political Liberalization in Brazil, Boulder 1986, S. 175 ff.; A. Przeworski, Democracy and the Market, Cambridge 1991; J. J. Linz/A. Valenzuala (Hrsg.), The Failure of Presidential Democracy. Comparative Perspectives. Bd. 1, Baltimore 1994; ders. /A. Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation: Southern Europe, South America, and Post Communist Europa, Baltimore 1996.

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Für eine Quantifizierung stellt der Verfassungsstaat zwei Parameter zur Verfügung: als erste Grenze die absolute Mehrheit ab 50% (beim Aktivvolk der Wahlberechtigten, beim Zurechnungsvolk der Staatsangehörigen, beim Adressatenvolk aller Einwohner). Diese Grenze symbolisiert auch in unserem - abweichenden Zusammenhang die Funktionsbasis eines demokratischen Systems. Das Mehrheitsprinzip ist für ein solches zentral. Ist die Mehrheit der Menschen/Staatsbürger/ Wahlberechtigten für die Demokratie verloren, dann ist es die Demokratie selber. Soweit es im einzelnen um den Anteil der NichtWähler am Aktivvolk geht, sollten bei wünschenswerten statistisch präziseren Untersuchungen beispielsweise Durchschnittswerte aus drei aufeinanderfolgenden und unter unauffälligen („normalen") Bedingungen verlaufenen allgemeinen Wahlen bestimmt werden. Die zweite Grenze, die das System anbietet, ist die der verfassungsändernden Mehrheit: in Deutschland 2 / 3 (Art. 79), ebenso in den USA (Art. V); dagegen sowohl in Frankreich (Art. 89) als auch in Brasilien (Art. 60) eine Mehrheit von 3/5. Es geht hier nicht um Einzelheiten des Verfahrens der Verfassungsänderung in den einzelnen Ländern; sondern allein um die bezifferte Grenzlinie, welche die Verfassung ziehen will. Besser, als einen etwaigen Durchschnittswert der demokratischen Verfassungsfamilie ermitteln zu wollen - ein allzu mechanistisches Verfahren - , ist es hier, die qualifizierte Mehrheit der in Rede stehenden Verfassung zu nehmen; denn sie allein legt fest, was in ihrem Geltungsbereich „Demokratie" sein soll. Eine Ungereimtheit liegt trotzdem darin, daß etwa Deutschland oder die USA „mehr" an Demokratie verlangen, um die Verfassung zu ändern; aber, wenn man dem Vorschlag folgen würde, „weniger" an Demokratie hinnehmen, weil die Schwelle der Exklusionsindikatoren dabei höher angesetzt ist. Hier liegt eine Detailfrage, die ich noch für offen halte. Man kann sie aber mit einer weniger quantitativen, mit einer stärker wertenden Überlegung wohl doch lösen. Diese besteht im Gedanken der Kompensation: Länder wie Frankreich und Brasilien geben sich, um die Konstitution zu ändern, mit „weniger an Demokratie" zufrieden; eine Verfassungsänderung weist also eine geringere (60% gegenüber 66,67%) demokratische Legitimation auf. Als „Kompensation" für dieses geringere Gewicht der Demokratie in Verfassungsfragen verläßt man dann auch entsprechend früher den Rahmen der Demokratie und ihrer Legitimität - nämlich indem 60% ent-demokratisierender Exklusionsparameter früher erreicht sind als 66,67%. Für alles ist ein Preis zu zahlen; und dies ist hier der Preis dafür, zum Ändern der Verfassung weniger als andere Verfassungssysteme an demokratischem Potential mobilisieren zu müssen. Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Überschneidung verschiedener Parameter. Ich habe begründet, warum sie grundsätzlich zu addieren sind - und zwar gerade mit Blick auf Demokratie. Aufgrund der nur allzu gut bekannten Kettenreaktion sind dabei ökonomische, soziale, soziokulturelle und juristische Exklusionsphänomene, zusammengenommen, nicht problematisch; sie ergänzen einander ja in der alltäglichen Wirklichkeit auf fatale Weise: als dem Adressatemolk und dem

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Zurechnungsvolk angetane Depravierungen. Betreffen sie zusammen die Mehrheit der Bevölkerung, so muß sich der Staat eine formalistische Staatsapparatur nennen lassen, die - soweit es noch der Fall ist - konstitutionell legal sein mag, aber nicht mehr demokratisch legitim. Komplizierter liegt es beim Wahlverhalten des Aktivvolks. Wenn man nicht gewählt hat, ist die Wahrscheinlichkeit, exkludiert zu sein, nur mittelhoch; es kann auch an Wahlenthaltung aus Protest, aus Faulheit oder generell unpolitischer Haltung durchaus integrierter, vielleicht sogar überintegrierter (privilegierter) Berechtigter liegen. Ist man dagegen exkludiert, so muß die Wahrscheinlichkeit, nicht zur Wahl zu gehen, als sehr hoch angesetzt werden. Der Überschneidungsbereich der Parameter führt mich zu dem Vorschlag, als Gesamtgrenze nicht die der absoluten, sondern erst die der verfassungsändernden Mehrheit vorzusehen. Jedenfalls dann sind die Folgen der Exklusion für ein demokratisches System nicht mehr hinnehmbar; jedenfalls dann hat sich - de facto - die Verfassung geändert - nicht semiotisch die Zeichen der Urkunde der Konstitution, wohl aber verfassungspolitisch die Bewertung; von einer legitimen Demokratie zu einem demokratisch nicht mehr zu rechtfertigenden Staatsapparat. Auf die vorgeschlagene Weise zusammengezählt, ergeben die Zahlen für Europa (12% exkludierender Armut im Durchschnitt der EU, ein Drittel ständiger Nichtwähler als grober Richtwert) zwar ein alarmierendes Niveau, nicht aber die genannte Schwelle schleichenden Verfassungswandels 29. Diese wird dagegen in den USA überschritten. Dem liegt einmal die genannte offizielle Armutszahl von 13,7% zugrunde, zum andern der Durchschnitt der Wahlenthaltung bei den Kongreßwählen 1994 (62%), bei der Präsidentenwahl 1996 (51%) und bei den Kongreßwahlen 1998 (64%) 30 - im Schnitt 59% an Nichtwählern. Das liegt deutlich über der Zweidrittelmehrheit des Art. V der US-Bundesverfassung. Für Brasilien liegt der Sonderfall der Wahlpflicht vor, von der hier schon die Rede war. Im Ergebnis stellt das kein Problem dar. Auf der einen Seite können die Sanktionen für Wahlenthaltung den tatsächlichen Status derer, die in Exklusion abgestürzt sind oder in sie schon hineingeboren worden waren, gar nicht mehr verschlechtern (bürgerliche Ehrenrechte, Auslandsreisen). Andrerseits betrug, wie ausgeführt, trotz Wahlpflicht die Gesamtenthaltung (Nichtwahl, leere bzw. ungültige Stimmzettel) nicht weniger als 36,17% bei den letzten integrierten Präsidenten·, Parlaments- und Landtagswahlen. Diese Zahl, addiert zur offiziellen Gesamtarmutszahl von 27 % 3 1 , überschreitet mit gut 63% die nationale Schwelle für Ver29 Das ist hier - im Unterschied zur formellen Verfassungsänderung" - der verfassungstheoretisch genauere Begriff. Zu diesem Thema vgl. F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994, S. 309 f., 363 ff., 369 ff. 30 Vgl. die politische Analyse von S. Halimi, Les élections américaines n'ont pas eu lieu, in: LE MONDE DIPLOMATIQUE v. 10. 12. 1998, S. 10. 31 Angegeben nach: Relatório Nacional Brasileiro, Brasilia 1996, für das Jahr 1990. - Eine rezentere offizielle Statistik stand mir nicht zur Verfügung.

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fassungsänderung (60%); deijenigen etwa der USA oder Deutschlands (66,67%) würde sie sich „nur" gefährlich nähern. Wird die Grenze passiert, so verliert das demokratische System seinen inhaltlichen Legitimationsstatus, so hat ein fataler Verfassungswandel stattgefunden. Die Bezeichnung „Demokratie" ist dann, wie auch „Volk" als demos, insoweit nur noch ideologisch im praktischen Gebrauch. Es gibt keine demokratische Verfassungswirklichkeit ohne eine tragende (hier: im Sinn von nicht verfassungsändernde", "wandelnde") qualifizierte Mehrheit von Demokraten. Demokraten „sind" nun aber nicht solche kraft eines ontologischen Titels oder eines ontischen So-seins. Sie sind einfach Menschen; aber solche, die sich demokratisch verhalten. Dafür müssen sie es aber können, statt mit täglich unsicherem Überleben und mit täglich prekärer Notwehr beschäftigt, überfordert zu sein. Ist das der Fall, so verschränken sich die Perspektive dessen, was der Demokratie von Seiten all dieser Menschen fehlt (Diskurs, öffentliche Meinung, individuelle und Gruppenaktivitäten, Wahlverhalten) und die andere, was die (dann nur noch formale, Potemkinsche) Praxis des einst demokratischen Systems an diesen Menschen fehlt: durch den Skandal aller Erscheinungsformen kettenreaktiver Ausschließung von den gesellschaftlichen Leistungssystemen. Es ist dies eine schiefe Ebene: leicht hinabzurutschen, sehr schwer wieder hochzuklettern. Die Frage, wie dieses Hochklettern praktisch aussehen kann, würde Untersuchungen in anderen Disziplinen erfordern und gehört nicht hierher; ich gebe daher nur sehr knappe Stichwörter an. National ginge es, gemäß europäischer Tradition, um eine pointiert sozialstaatliche Verteilungspolitik des Ausgleichs. Sie müßte mit langem Atem durchgeführt werden und brauchte in einem Land wie Brasilien zunächst einen so entschiedenen Schritt wie die (seit jeher versprochene) Landreform, die diesen Namen wirklich verdienen müßte. Andere Maßnahmen wären z. B. systematische Steuerkredite für die working poor, um deren Abgabenlast mittelfristig zu senken, sowie dramatisch höhere Staats- und Unternehmensinvestitionen in Bildung und Ausbildung (Zuschüsse, Steuererleichterungen, stabile Erhöhung der Fachbudgets), um größerer Chancengleichheit den Weg zu öffnen. Im Bereich des Wahlrechts könnten Sanktionen erwogen werden; aber nicht gegen Bürger, die ihre Stimme verweigern, sondern gegen politische Parteien und ihre Kandidaten: etwa durch verbindliche Quoren mit der Folge der Annullierung oder, aussichtsreicher, mit der Beschränkung der dann tatsächlich verteilten Parlamentssitze lediglich in der Proportion der gültigen Stimmen zur Zahl der Wahlberechtigten. Die politischen Parteien hätten dann endlich wieder ein (Eigen-)Interesse, sich um die Wählerschaft inhaltlich-politisch zu kümmern. Im engeren Bereich des Rechtswesens muß gerade in einem Land wie Brasilien die ungute symbolistisch-nominalistische Sicht der Verfassung durch ein normatives Herangehen ersetzt werden; die Traditions- und Funktionseliten dürfen nicht länger darin bestärkt werden, die Verfassung je nach eigener Interessenlage auch als nur dispositives Recht zu traktieren. Denken Sie an das antike Hellas, in dem

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nach einem Vers von Pindar die Bürger einer Polis für ihren Nomos wie für die Stadtmauer kämpften! Die brasilianische Bundesverfassung von 1988 widerspricht der Diskriminierung wie der Exklusion (z. B. Art. 5, Art. 231, 232) und muß darin energisch beim Wort genommen werden. Die Entwicklung der Zivilgesellschaft ist nicht nur geduldig abzuwarten, sondern durch legale Aktivitäten wie Bürgerinitiativen, Rechts- und Selbstschutzgruppen und durch legale Einzelaktionen wie Pilotverfahren und Musterprozesse - so gegen Versuche, die Straflosigkeit (impunidade) aufrechtzuerhalten - in der richtigen Direktion zu provozieren. Die dazu befugten und kompetenten Juristen befinden sich dabei objektiv in der Rolle einer gesellschaftlichen Avantgarde 32 und sollten diese Rolle mit Mut übernehmen; dies umso mehr, als gerade in Brasilien die Juristen, speziell die Anwaltschaft seit dem 19. Jahrhundert, progressiv gewirkt haben. Sie sind zugleich Vorkämpfer für ein breiteres öffentliches Bewußtsein für die Verbindlichkeit von Verfassung und Gesetzen; und es fällt ihnen an hervorragender Stelle zu, für verbesserte Kommunikation in Wissenschaft, Praxis und Rechtspolitik zu wirken, national und auch außerhalb der Grenzen. Unter dem Aspekt des notwendigen Maßes an Kooperation zwischen Eliten und „Massen" sprach ich bereits davon. Die aktuellen Ursachen für zunehmende Exklusion, die sogenannte Globalisierung, braucht Maßnahmen der zwischen- und (wo möglich) überstaatlichen Rechts- und Wirtschaftspolitik. Es gibt dazu bereits eine zunehmende Menge an Einzel Vorschlägen, wie: Spekulationsbesteuerung, höhere Steuern für Auslandsinvestoren, gewisse Kapitalkontrollen, regional und (tendenziell) global verbindliche Sozial- und Umweltstandards; auch innerhalb der Industrieländer wäre durch spürbare Steuern auf Kapitaleinkünfte zugunsten der Arbeitseinkommen umzuverteilen. Besonders wichtig wäre es, neue Institutionen für den Umgang mit der globalen Monetarisierung zu schaffen, so eine erneuerte Bretton-Woods-Übereinkunft auf der Höhe der heutigen Probleme oder eine weltweit agierende Sicherungsstelle für Kreditvergabe; sie hätte jeweils die Kreditlage eines Landes zu bewerten und bei nicht mehr vertretbar angehäuften Risiken weitere Kredite zu verhindern. Das setzt, wie schon angedeutet, neue Formen einer Kontrolle des internationalen Geldhandels voraus. Schließlich wäre es eine dringliche Aufgabe der Genfer Welthandelsorganisation, Ansätze für eine Weltkartellbehörde zu entwickeln 33 . Nicht zu vergessen: ein großzügigerer Schuldenerlaß als bisher geplant. 8. Ich ziehe aus dem Gesagten noch einige Folgerungen: (1) Die Globalisierung ist keine Sackgasse, sondern eine Schnellstraße. Sie wird weitergehen. 32 Dazu F. Müller, Wer ist das Volk?, 1997, S. 52 ff. 33

Aus der Literatur hierzu vgl. v.a. R. Heilbroner, Kapitalismus im 21. Jahrhundert, 1994; H.-P. Martin/H. Schumann, Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand, 1996; L. C. Thurow; Die Zukunft des Kapitalismus, 1996; R. Kuttner, Everything for Sale. The Virtues and Limits of Markets, New York 1997; sowie bereits W. Streeck/E. Matzner, Beyond Keynesianism, London 1991 und: ders. /J. R. Hollingsworth/ Ph. Schmitter, Governing Capitalist Economies, New York 1994.

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(2) Sie hat sehr komplexe Auswirkungen - negative und positive. Allerdings muß immer dazu gefragt werden: für wen? (3) Sie ist nicht manichäisch zu verdammen oder zu bejubeln. Sie ist zu studieren und in ihren Folgen einzuschätzen. (4) In ihren Folgen für Demokratie und Demokratisierung ist sie allerdings alarmierend negativ - und das ist hier das Thema (nicht etwa allgemein „Die Globalisierung"). (5) Die desaströsen Folgen sind mit sehr verschiedenen Mitteln abzuschwächen, um die Globalisierung wenn schon nicht zu humanisieren (das wäre zu wünschen), so doch zu zivilisieren (das erscheint möglich). (6) Die Maßnahmen, die ich nannte, lassen sich systematisieren nach: - staatlichnationalen; - inter- und supranationalen (dazu gehören ζ. B. auch das Projekt „Soziales Europa" oder die Bildung von Regionen wie Katalonien, Saar-LorLux, Mercosur) und die Zusammenarbeit regionaler Systeme, so v.a. Mercosur und EU. Die Globalisierung selbst ist transnational. (7) Zu den Maßnahmen gehören nicht zuletzt auch die, an die das Wort „zivilisieren" erinnert: solche innerhalb der Zivilgesellschaft: durch zahlreiche - sowohl spontane als auch organisierte und vernetzte - Aktionen „von unten" (punktuell u./o. „Wurzelwerke" („Rhizome" i.S. von Gilles Deleuze)): Selbsthilfegruppen jeder Art - ziviler Widerstand - non-governmental- organizations - Formen zunehmender partizipativer Demokratie, so auch auf dem Weg des orçamento participativo. Diese Maßnahmen im Rahmen der civil society haben also eine andere Funktion als die zuvor genannten: nicht Abschwächung des Gifts, sondern Gegengift; nicht Abschwächung der Globalisierung, sondern Stärkung der Demokratie durch Mobilisieren der Demokraten. 9. Die Frage, die das Thema stellt, kann jetzt beantwortet werden. Aus Bericht und Analyse wurden vorstehend bereits die Elemente der Bewertung schrittweise entwickelt. Deshalb genügt eine kurze Zusammenfassung. „Demokratisches System" und „soziale Exklusion" wurden weitergehend operational gemacht. Bei dem zweiten Begriff erwies sich die Unterscheidung von primärer und sekundärer Exklusion als für die gestellte Frage neutral; beide Formen schaden der Demokratie. Die Differenz ist dagegen für die Geltungskraft der Menschenrechte vielsagend, die im Fall primären Ausschlusses einer großen Zahl von Menschen real einfach entzogen werden sollen. Wichtig wurde die Unterscheidung von relativ statischen Effekten der Exklusion - ihren einander auslösenden Symptomen - und den aktuell im Vordergrund stehenden dynamischen Ursachen; beide boten sich für eine getrennte Untersuchung an und sind auch verschieden zu bewerten: Demokratische Systeme können - auf dem Feld der Ursachen - weder ein „mehr" der bisherigen Art von deregulierter weltweiter Monetarisierung noch

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überhaupt deren bisher erreichten Grad tolerieren. Die Demokratisierungsvorgänge in wenig entwickelten und in Schwellenländern nehmen dadurch - vielleicht irreparablen - Schaden; die Demokratie in den zentrischen Ländern ist ihrerseits bereits dabei, deutlichen Schaden zu nehmen. Und zu den statischen (d. h. schwer wieder zu beseitigenden Wirkungen von Exklusion in den einzelnen Ländern, zu ihren alltäglichen Symptomen: alle Indikatoren innerhalb der beschriebenen „Kette" zusammengezählt, einschließlich der politischen Apathie, die sich auch im Wahlverhalten ausdrückt, ist die Grenze des äusserstenfalls noch Hinnehmbaren die qualifizierte verfassungsändernde Mehrheit des betreffenden Politischen Systems. Wird sie erreicht oder überschritten, so steht die Demokratie dieses Landes, zeitweise oder auf Dauer, nur noch auf dem Papier; ist das demokratische System nur noch law on the books, nicht mehr law in action. Das ist dann ein Zustand, den kein Demokrat tolerieren darf.