Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts: Neue Aufsätze (1995 - 1997). Hrsg. von Ralph Christensen [1 ed.] 9783428492770, 9783428092772

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Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts: Neue Aufsätze (1995 - 1997). Hrsg. von Ralph Christensen [1 ed.]
 9783428492770, 9783428092772

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FRIEDRICH MÜLLER Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts

Schriften zur Rechtstheorie Heft 181

Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts Neue Aufsätze (1995-1997)

Von Friedrich Müller Herausgegeben von Ralph Christensen

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Müller, Friedrich: Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts : neue Aufsätze (1995 1997) / von Friedrich Müller. Hrsg. von Ralph Christensen. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 181) ISBN 3-428-09277-5

Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-09277-5

Vorwort des Herausgebers Die vorliegenden durchweg unveröffentlichten Texte sind aus äußeren Anlässen entstanden1. Trotzdem hat ihre Zusammenstellung nicht zu einer zufälligen Reihung gefühlt. Sie erlaubt vielmehr einen Überblick zum aktuellen Entwicklungsstand der Strukturierenden Rechtslehre. Deren Systematik wird hier nicht in der kleineren Form von Aufsatz oder Vortrag bloß repetiert sondern iteriert: das heißt, durch neue Kontexte nicht einfach nur bestätigt und entwickelt, sondern auch in nicht vorhersehbarer Weise verschoben. Die Strukturierende Rechtslehre ist kein Theorie- und Praxisprogramm, das fertig in die Welt getreten wäre und seitdem getreulich angewendet würde. Sie ist eher eine Arbeitshaltung, die durch den Zusammenstoß mit praktischen Problemen immer wieder irritiert und beeinflußt wird. Aber gerade aus der Irritation und aus der Verletzung vorher einleuchtender Annahmen, aus deren Korrektur, Verwerfung oder Fortschreibung läßt sich im nachhinein der Verlauf einer Kurve erkennen, die von der praktischen Infragestellung des Positivismus in eine nachpositivistische Theorie führt. Ausgangspunkt dieser Bewegung waren die Vorgaben des klassischen Positivismus, die zwar in Sonnntagsreden häufig kritisiert wurden, in der Praxis aber mangels Alternativen die einzigen Arbeitsinstrumente darstellten. Die Unzufriedenheit mit der Prämissen des herkömmlichen Paradigmas ergab sich für Friedrich Müller nicht zuletzt aus zwei zusätzlichen Faktoren: zunächst aus der Sensibilität für das in der Erfahrung und in der Sprache nicht Katalogisierbare. Dann aber auch aus einer kompromißlosen Ehrlichkeit, die nicht bereit ist, dort mit dem Fragen aufzuhören, wo die überlieferten Theoreme aus dem Takt geraten. Die Bewegung weg von einer praktisch unzulänglichen Theorie führte dabei nicht in der sicheren Hafen des Antipositivismus. Denn dieser hat sich der schwierigsten Probleme dadurch entledigt, daß er den vom Positivismus erhobenen Rationalitätsanspruch weitgehend fallen ließ. Vielmehr lag das Ziel hier von Anfang an bei einer Theorie, die im Weg einer endlich zulänglichen Reflexion der Praxis den Rationalitätsmaßstab des Positivismus reformuliert. Die bewegliche Systematik einer solchen nachpositivistischen Theorie der Praxis läßt sich mit drei Stichwörtern benennen: Recht, Sprache, Gewalt. Die praktische Aufgabe der Rechtserzeugung im konkreten Fall ist der Startpunkt. Sie führt zunächst in eine Analyse der Rechts(norm)theorie und der juristischen Methodik. Das Fortbewegungsmittel der Analyse ist die Sprache, weil sich 1 Die Texte Α., Β. und D. sind erweiterte Fassungen von Vorträgen. Daraus erklären sich einzelne rechtsvergleichende Bezugnahmen.

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Vorwort des Herausgebers

in ihr und nirgends sonst die Erzeugung des Rechts vollzieht. Und mitten in dieser scheinbar objektiven und neutralen Sprache wird eine Gewalt sichtbar, die sich nicht in der bloßen Anwendung vorgegebener rechtlicher oder sprachlicher Regeln erschöpft. Es ist die Notwendigkeit der Rechtfertigung und Kontrolle der richterlichen (und sonstiger mit staatlicher Autorität entscheidender) Gewalt, welche die Rechtstheorie an den Komplex des Politischen und an die Verfassungstheorie anschließt. Rechtstheorie, Sprachtheorie und politische bzw. Verfassungstheorie bilden damit nur verschiedene Zugänge zu einer von vornherein zusammenhängenden Problematik. Deren Zusammenhang zeigt sich eindringlich in den vorliegenden Texten. Auch wenn sie mit der scheinbar eng umgrenzten Fragestellung von Grundrechtsinterpretation und Verfassungskonkretisierung beginnen, erweitert sich die Untersuchung jedesmal über Rechts(norm)theorie, Sprachtheorie und Verfassungslehre zum politischen Stellenwert des positiven Rechts überhaupt. Der dritte Aufsatz wählt den Zugang von der Verfassungstheorie aus, der vierte kommt von der Seite der Sprachtheorie und der fünfte schließlich aus dem Blickwinkel der staatlichen Entscheidungsgewalt am Beispiel der richterlichen. Es ist nicht ein Feldherrnhügel vorgeblich letzter Gewißheit, von dem herab Dekrete an die Praxis ergehen könnten. Es ist vielmehr die Intensität des Problems Recht, die hier vorläufige Knoten zwischen verschiedenen Theorien knüpft. Die Strukturierende Rechtslehre ist kein feststehendes Theoriegebäude; sondern sie unternimmt es, in Bereichen, in denen die herkömmlichen Regeln zusammen mit ihrem Paradigma versagen, zu lehren, was gemacht sein wird.

Inhaltsverzeichnis

Α. Moderne Theorie und Interpretation der Grundrechte, insbesondere auf der Basis der Strukturierenden Rechtslehre (1996)

9

B. Verfassungskonkretisierung (1996)

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C. Demokratie, Rechtsarbeit, Volksgemurmel (1997)

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D. Einige Grundfragen der Rechtslinguistik (1995)

55

E.

Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre (1996, mit Ralph Christensen)

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Α. Moderne Theorie und Interpretation der Grundrechte, insbesondere auf der Basis der Strukturierenden Rechtslehre

I. Teil Für die neuen Konzepte dienen zwei traditionelle, das autoritäre und das liberale, noch immer als Hintergrund. Die machtstaatlich-autoritäre Position sieht die Grundrechte als Zugeständnisse an, die der Staatsmacht systemwidrig abgezwungen wurden. Sie sind - angeblich - Lücken im staatlichen Gewalt- und Definitionsmonopol. Die methodologische Folgerung mündet in den alten Grundsatz, „Ausnahme"vorschriften seien - hier in Gestalt der Grundrechte - „eng auszulegen": so wenig Freiheit wie möglich. (1.) legt man die Garantien im Zweifel restriktiv aus; (2.) definiert allein der Staat, wann ein „ Z w e i f e l s " f a l l vorliegt; und (3.) monopolisiert der Staat die Definitionsmacht über die Tatbestandsmerkmale. Gewiß hat jedes Recht Grenzen. Aber sie ergeben sich, abgesehen von gleichrangigen Rechten anderer, aus der als „frei" gewährleisteten Sache selbst. Diesen Ansatz aus dem Normbereich der Grundrechte hat die Strukturierende Rechtslehre 1966 und 1969 vorgeschlagen; das Bundesverfassungsgericht hat ihn 1971 für die Freiheit der Kunst in seiner berühmten „Mephisto"-Entscheidung übernommen und praktiziert ihn seitdem auch für andere Grundrechte in ständiger Judikatur. Hieran zeigt sich exemplarisch der Übergang von einem autoritären Konzept zu einem, das diesen Rechten auf modernem Theorieniveau besser gerecht werden kann. Die Grundrechte sind eben nicht ein /tesfbestand, gewonnen durch Subtraktion aller staatlichen Verbote: sie sind nicht „negatives Polizeirecht"; sondern: die normative Grundlage gesellschaftlicher und politischer Entfaltung demokratisch freier Bürger und Menschen. Sie sind materiale , durch ihre Inhalte und deren Wirkung positiv bestimmte Garantien. Diese Einsicht verfehlen auch noch die institutionelle und die wertsystemische Lehre. Für die erste kann individuelle Freiheit nur in vorgegebenen sozialen Rollen und rechtlichen Institutionen wirklich werden. Das Grundrecht wirke nicht direkt, sondern durch einen ausgestaltenden4 Normenkomplex, obwohl dieser doch im Rang unter der Verfassung steht. Philosophisch geht dieser Ansatz teils auf Hegel, zum Teil (über Maurice Hauriou) auch auf den Neothomismus zurück. Er verkürzt die subjektive Berechtigung, die doch den Kern der Grundrechte ausmacht. Er erzwingt eine angepaßte Befolgung der angeblichen „Freiheit" und pervertiert damit die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze - im grundrechtlichen Bereich - zu einer

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Α. Moderne Theorie und Interpretation der Grundrechte

Gesetzmäßigkeit der Verfassung; ebenso wie die subjektiven Freiheitsrechte zu institutions-gebundenen Privilegien. Das ist mit den Normen der liberalen Demokratien unvereinbar. Ähnlichen Einwänden setzt sich die wertsystemische Linie des Bundesverfassungsgerichts aus. Sie knüpft vor allem an die Weimarer Lehren Smends aus den 20er Jahren an; Smend hat später aber selbst eingestanden, mit seiner Integrationslehre den normativen Charakter der Verfassung nicht genügend erfaßt zu haben. Trotzdem möchte das Gericht nicht nur die einzelnen Grundrechte als regionale „Grundsatz"normen verstanden wissen, sondern den ganzen Grundrechtskatalog als „objektive Wertordnung" 1. Aber das ist irrational und verführt zur Dezision aufgrund privater Wertvorverständnisse der Richter. Es übersieht auch, daß in der heutigen pluralistischen Gesellschaft die „Werte" höchst umstritten sind. Nicht zuletzt darum sind die Grund- und Menschenrechte ja nicht „Werte", sondern Normen. Hinter ihnen stehen Wertvorstellungen von Würde und Freiheit und Gleichheit aller Wesen, die Menschenantlitz tragen. Doch sobald die Verfassung sie positiviert hat, sind sie geltendes Recht. Wer sie zu „Werten" abstempeln möchte, entwertet sie paradoxerweise gerade. Ohne „Werte" oder Institutionen arbeitet die klassisch-liberale Theorie. In den 20er Jahren hatte Carl Schmitt das „grundlegende Verteilungsprinzip des bürgerlicher Rechtsstaats" dahin zu formulieren versucht, echte Grundrechte seien „absolut". Sie gäben eine vor-staatliche Freiheit, die vom Staat nur in Einzelheiten und ausnahmsweise beschränkt werden könne2. Die historisch-gesellschaftliche Voraussetzung dieser Lehre, eine homogene Eigentümergesellschaft auch ökonomisch autonom handelnder Bürger, traf schon auf das England von John Locke nicht zu und keinesfalls auf die heutige Industriegesellschaft. Von einer „vor"-staatlichen, vom Staatshandeln unabhängigen Freiheit der einzelnen kann real nicht die Rede sein. Die Realität falsifiziert diese Grundrechtsauffassung. Juristisch ist sie ohnehin nicht tragfähig. Jedenfalls ab ihrer Positivierung haben die Rechte staatlichnormativen Charakter. Sie ernst nehmen, heißt, sie als positives Recht respektieren, bearbeiten und durchsetzen3. ι Seit BVerfGE 6, S. 55 ff., 72; E 7, S. 198 ff., 205. 2 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, z. B. S. 166. 3

In der Methodologie führt das kritisierte Konzept beim Bundesverfassungsgericht - extensiv interpretierend - zur sogenannten Grundrechtseffektivität, bei einzelnen Autoren (v.a. P. Schneider) zum Postulat „in dubio pro liberiate": Seit BVerfGE 6, S. 55 ff., 72; vgl. ferner ζ. Β. E 32, S. 54ff., 71; E 39, S. 1 ff., 37 f.; E 51, S. 97 ff., 110. - P. Schneider, in: VVDStRL 20 (1963), S. 1 ff., 31 ff. - Beide Figuren werden in der Diskussion mit guten Gründen abgelehnt. Das Gericht hat bei seinem Vorschlag eine Aussage aus den 20er Jahren mißverstanden. Damals hieß „Effektivität" in diesem Zusammenhang: die Grundrechte sind nicht bloße „Programmsätze", sondern „aktuelle Rechtssätze". - Diese Frage ist durch Art. 1 Abs. 3 GG heute beantwortet (vgl. für die Spanische Verfassung deren Artikel 53.1 in Verbindung mit 9.1). Aber wie sollen die aktuell geltenden Grundrechte konkret interpretiert werden? Dazu sagt der „Effektivitäts"-Grundsatz nichts. - Vgl. zusammenfassend: F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 105, 222; zu „in dubio pro libertate": ebd. S. 105, 211, 222

Α. Moderne Theorie und Interpretation der Grundrechte

Der liberalistischen Figur „in dubio pro libertate" fehlt ein definiertes Anwendungsfeld, da in natürlichen (Fach-)Sprachen - und das ist der Sprachtyp unserer Verfassungen - ein „Zweifels"fall prinzipiell immer zu behaupten ist. Außerdem gibt sie keine rationalen Maßstäbe für die Arbeitsmethode an. Die Garantien sind subjektive Rechte des einzelnen - aber dieser einzelne lebt und wirkt nicht allein. Das heutige multipolare Geflecht von Beziehungen zwischen staatlichen Stellen, gesellschaftlichen Bereichen und Gruppen, „dem" einzelnen und anderen betroffenen Rechtsträgern ist hochkomplex; und der demokratische Rechtsstaat muß allen gerecht zu werden bemüht sein. Dem versucht ein Ansatz zu genügen, der die menschliche Freiheit nicht liberalisolierend, sondern interaktionistisch deutet (Dieter Suhr). Die Mitmenschen treten hier nicht (nur) als Grenzen meiner Freiheit im Sinn Kants auf, sondern - und sogar vor allem - als Medium gegenseitiger Entfaltung; dieser Gedanke findet sich schon beim frühen Hegel. In den Vordergrund treten die Chancen zu gemeinsamer freier Interaktion. Das lenkt den Blick vor allem auf Fragen der Organisation und des Verfahrens bei der Verwirklichung der Grundrechte. Andere Konzepte bearbeiten besonders die über-individuellen, die sogenannten objektiv-rechtlichen Wirkungen der Garantien. Das Bundesverfassungsgericht beschäftigt sich seit langem mit ihnen. Die beiden Hauptlinien sind dabei die sozialstaatliche und die demokratisch-funktionale Lehre. Die zuletzt genannte4 ist aber mit der pluralistischen Demokratie normativ unvereinbar. Freiheit ist nicht nur Freiheit „zu", sondern immer auch Freiheit „von", nämlich von Fremdbestimmung. Es ist unhaltbar, daß der Gebrauch von Grundrechten zur funktionalen Pflicht wird, fast schon zum öffentlichen „Amt" 5 . Nach der sozialstaatlichen Auffassung 6 bieten die Grundrechte immer auch Leistungsansprüche gegen den Staat. So erfordere es ζ. B. die Pressefreiheit nicht nur, daß der Staat die Presse frei läßt; sondern auch, daß er sie durch Subventionen wirtschaftlich garantiert, etc. Das de-naturiert die Garantien auf methodisch unverantwortliche Art. Der einzelne, um dessen Freiheit von staatlicher Fremdbestimmung es dabei geht, findet sich als in den Staatshaushalt eingeplantes Objekt wieder. 4

So früher: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl. 1976, S. 162. Diese Doktrin unterscheidet ζ. B. nach der Funktion der Meinungsund der Medienfreiheit für den demokratischen Prozeß. So sollen bloße Unterhaltungsmedien weniger oder nicht geschützt werden, voll dagegen nur demokratisch oder ethisch hochstehende Beiträge. 5

Nachweise zu den einzelnen Positionen bei: Brugger, Rundfunkfreiheit und Verfassungsinterpretation, 1991, ζ. B. S. 27, 31. - Nach einer weniger rigorosen funktionalistischen Deutung der Rundfunkfreiheit ist deren Schutzzweck nicht die Freiheit des einzelnen, sondern der Vorgang der Meinungsbildung als solcher. - Das Bundesverfassungsgericht bewegt sich ein gutes Stück weit auf dieser Linie. Methodische Einsichten für die Interpretation lassen sich so kaum gewinnen. 6 So v.a. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL 30 (1972), S. 69 ff.

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Α. Moderne Theorie und Interpretation der Grundrechte

Davon abgesehen, verdient das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts noch eine analytische Bemerkung. Nach ihm sollen die Grundrechte als „objektive Grundsatznormen" 7 für alle Bereiche des Rechts gelten. Dann aber verlagert sich in allen grundrechtsrelevanten Bereichen - also in allen - das Gemeinwesen weg vom Gesetzgebungsstaat, dominiert vom demokratisch gewählten Parlament; und hin zum Jurisdiktionsstaat mit dem obersten Verfassungsgericht als dem neuen „Herrn der Verfassung" (Böckenförde). Zusätzliche Einsichten in eine rationale Auslegung der Grundrechte ergeben sich dabei aber wiederum nicht. Im Gegenteil, die Prozeduren werden irrationaler; die terminologischen Schwierigkeiten des Bundesverfassungsgerichts zeigen das unmittelbar.

II. Teil Alle diese Einwände vermeidet schon im konzeptionellen Ansatz die Strukturierende Rechtslehre. Sie wird seit Mitte der 60er Jahre, im Ausgang von der Praxis, von der Rechts(norm)theorie über die Rechtsdogmatik, besonders der Grundrechte, über die Juristische Methodik hin zur Verfassungstheorie umfassend entwickelt. Die Strukturierende Rechtslehre ist nicht nur ein neues, sondern ein neuartiges Konzept der Rechtslehre8. Es geht - erstmals - von einem nachpositivistischen Begriff der Rechtsnorm aus. Diese steht nicht im Gesetzbuch; in diesem stehen nur Vorformen, die von der Rechtsnorm grundsätzlich verschieden sind, denn sie wird im jedem einzelnen Vorgang juristischer Fallösung, rechtlicher Entscheidung erst neu hervorgebracht, produziert. Außerdem gehört konstitutiv zu ihr der Normbereich; Rechtsnorm" wird zu einem komplexen Begriff, aus Normbereich und Normprogramm zusammengesetzt. Und Norm,Konkretisierung" ist nicht das Konkretermachen einer allgemeinen Rechtsnorm, die im Gesetzbuch steht; sondern es 7 Zur Diskussion, m. Nw.en, ζ. B. Böckenförde, NJW 1974, S. 1529 ff.; ders., Der Staat 1990, 5. 1 ff.; Alexy, Der Staat 1990, S. 49 ff. In den Umkreis der genannten Bemühungen gehört auch die neuere Position staatlicher aktiver Schutzpflichten bei Gefährdung wichtiger Grundrechtsgüter (so BVerfGE ζ. B. 46, 164 ff.; 53,57 f; besonders auch E 39,42 ff. und 88,203 ff. - Fristenlösung, Abtreibungsfrage). 8 Vgl. Tesis acerca de la Estructura de las Normas Juridicas, in: Revista Espanola de Derecho Constitucional, Ano 9. Num. 27 (1989), S. I l l ff. (übersetzt von Luis Villacorta Mancebo). - Erste Folgerungen für die juristische Methodik in: Métodos de trabajo del Derecho Constitucional (übersetzt von Salvador Gómez de Arteche); (im Erscheinen). Umfassende Darstellung bei: F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994; dems., Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995; dems., Elemente einer Verfassungstheorie, Bde. I - V (1975-1995); dems., Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990; jeweils mit weiteren Nachweisen zur Darstellung und Debatte dieser Gesamtposition und mit Hinweisen auf Sekundärliteratur. - Auswirkungen der Position, besonders des Begriffs des Normbereichs („àmbito normativo") in der Judikatur des Spanischen Verfassungsgerichts vgl. etwa in STC 207/1992 und STC 28/1993; dazu Gómez de Arteche, Introducción a la Versión Castellana, in: F. Müller, Métodos de trabajo del Derecho Constitucional (im Erscheinen). - Dazu auch ders., Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 34, 149, 303; jetzt auch ebd., 7. Aufl. 1997, Rnr.n 23, 237, 544.

Α. Moderne Theorie und Interpretation der Grundrechte

ist, realistisch betrachtet und zulänglich reflektiert, Rechtsnormkonstruktion Einzelfall.

im

Die Rechtsnorm ist nicht nur der zentrale Begriff, sondern auch das zentrale praktische Dispositiv juristischer Arbeit. Daher ist es folgerichtig, daß „Strukturierende Rechtslehre" inzwischen ein juridisches Gesamtkonzept darstellt, das weit über die eigentliche Rechtslehre hinausgeht: das spezielle Ausarbeitungen in der Dogmatik umfaßt, ebenso in der Methodologie und nicht zuletzt auch in der Verfassungstheorie. Dementsprechend ist seit langem von „strukturierender" Dogmatik, Verfassungstheorie und Methodik die Rede, wobei dann „Strukturierende Rechtslehre" zugleich das umfassende Projekt bezeichnet. Dieses Konzept nimmt die Arbeit der Juristen als ein Handeln von Menschen ernst; es ist also auch handlungstheoretisch reflektiert und bezieht für seinen linguistischen und sprachphilosophischen Ansatz - alle juristische Arbeit spielt sich in Sprache ab, ja: ist eine Sonderform von Sprache, ein Sprachspiel - die pragmatische Dimension mit ein. Deshalb möchte ich, als ein erstes Beispiel, „Normprogramm" und „Normbereich" zunächst nicht definitorisch, sondern pragmatisch erläutern. Analysiert man nüchtern genug eine juristische Endaussage - ζ. B. ein richterliches Urteil oder das Ergebnis eines Rechtsgutachtens - , so sieht man, daß sie regelmäßig auf Sachargumente wie auf Sprachargumente gestützt wird. Die traditionelle Methodik und Rechtslehre will die konstitutive, und das heißt: die normative Rolle der Sachgesichtspunkte nicht zugeben. Sie versteckt sie - da sie methodisch unvermeidlich sind - hinter den bekannten Blankettformeln wie „Zweckmäßigkeit" oder „Vernünftigkeit des Ergebnisses" oder „Teleologie" und ähnlichem („Angemessenheit", „Verhältnismäßigkeit", „Einzelfallgerechtigkeit"). Diese rhetorischen Figuren sind ungenau; auch sind sie rechtsstaatlich bedenklich, weil den Wortlauten im Gesetzbuch, den Normtexten, sehr oft methodisch nicht plausibel zuzuschreiben. Dagegen sagt das neue Konzept: Zur Erarbeitung der Rechtsnorm, zu ihrer Konstruktion im Ausgang von Rechtsfall und Normtexten braucht der Jurist von Anfang an sowohl Sprachdaten als auch Realdaten; das ist die Wirklichkeit der täglichen und alltäglichen juristischen Entscheidungsarbeit. Das Ergebnis der sprachlichen Interpretation aller Sprachdaten heißt dabei ,.Normprogramm"; es ist ein vorläufiges Zwischenergebnis bei der Fallösung. Jetzt zum ,flormbereich": mit jedem Normtext (= Artikel, Paragraph, Paragraphenabsatz), den ζ. B. der Richter am Anfang für seinen Rechtsfall ins Spiel bringt - meistens sind es mehrere - bringt er (bewußt oder nicht) zugleich eine Anzahl von Fakten mit ein, die erfahrungsgemäß mit diesen Normtexten zu tun haben können: individuelle Tatsachen des Falles und generelle Tatsachen des Falltypus. Diese Fakten heißen hier der „Sachbereich" der Vorschrift. Wenn der Jurist sie in einem zweiten Schritt, aus Gründen der Arbeitsökonomie, auf die für den konkreten Fall relevanten Tatsachen einengt, so bildet er den „.Fallbereich". Den „Normbereich" konstituiert er, drittens, indem er die Fakten einer doppelten Prüfung am

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Α. Moderne Theorie und Interpretation der Grundrechte

Ergebnis der Sprachinterpretation, also am Normprogramm, unterzieht. Diese Selektion geht einmal dahin: sind diese Fakten für das Normprogramm, das ich inzwischen erarbeitet habe, immer noch relevant? Und: wenn das so ist, sind sie mit diesem Normprogramm inhaltlich vereinbar? Wenn nicht, bleiben sie bloße Fakten, facta bruta aus Fallbereich / Sachbereich und spielen im weiteren Verlauf der Entscheidung keine tragende Rolle. Sie dürfen das juristische Ergebnis inhaltlich nicht mitbestimmen. Anders gesagt: in der rechtsstaatlichen Demokratie (wie etwa unter der Spanischen Verfassung oder dem deutschen Grundgesetz) darf es keine „normative Kraft des Faktischen" geben, auch nicht auf dem Umweg über die juristische Methodik. Soweit die Tatsachen allerdings nach wie vor relevant und mit dem Normprogramm vereinbar sind, bleiben sie weiter im Spiel. Sie werden inhaltlich die Entscheidung mittragen, in diesem Umfang also mit-normativ sein. Zusammenfassend heißen diese Fakten der „Normbereich". Das war eine Explikation vom praktischen Vorgang her - vom „Benutzer" der Zeichen her gesehen, also vom Juristen - eine pragmatische Erläuterung. Ich sage dasselbe nochmals systematisch: Die Rechtsnorm setzt sich aus Normprogramm und Normbereich zusammen. Sie ist selbst wieder ein Text („Text der Rechtsnorm"), meist in Form eines Leitsatzes: „In einem Fall wie diesem ... gilt das folgende". Diese Rechtsnorm muß dann abschließend noch zur Entscheidungsnorm individualisiert werden; d. h. zum Text des Tenors der Entscheidung („Der Angeklagte wird freigesprochen"; „Die Klage ist unzulässig"; etc.). Noch einmal anders formuliert, und zwar von den Fakten, den Realdaten aus: Tatsachen dürfen eine Rechtsentscheidung nicht vage „irgendwie" mittragen, auch nicht nach Topoi wie dem persönlichen Judiz des Richters oder nach Opportunität - beziehungsweise sie nicht mittragen. Sondern das „Ja" oder „Nein" des Einbezugs der Tatsachen in den Inhalt der Entscheidung muß vom Juristen ausgewiesen werden können in einer offen dargestellten Begründungsarbeit am Maßstab des Normprogramms. Und das Normprogramm wird erarbeitet durch eine vollständige und rational nachvollziehbare Interpretation aller sprachlichen Konkretisierungselemente, aller Sprachdaten. An dieser Stelle möchte ich etwas klarstellen: In der Sache, re vera , haben Juristen, die entscheiden müssen, schon immer so gearbeitet; nur wird das von den bisherigen Dogmatiken, Methodiken, Rechts- und Verfassungslehren weder kategorial erfaßt noch systematisch ausgearbeitet. Genau das ist die Aufgabe von Theorie und Rechtslehre: das was wir tatsächlich tun, Tag für Tag, zusammenhängend und von Grund auf zu reflektieren. Die Strukturierende Rechtslehre hat sich die Aufgabe gesetzt, das auf den Begriff zu bringen, was in der Praxis des juristischen Handelns ohnehin gemacht wird (weil es unausweichlich ist); und es (weil es auf den Begriff gebracht wurde) in die Lage zu versetzen, künftig besser gemacht zu werden. Das umschließt auch eine bestimmte linguistische und sprachphilosophische Position auf der Höhe der modernen Sprachwissenschaft seit dem „pragmatic turn".

Α. Moderne Theorie und Interpretation der Grundrechte

Darüber kann ich hier nicht sprechen. Ich nenne nur einige Folgerungen für die praktische Arbeit: Die Sprache ist „Medium", besser noch „Aktionsraum" für juristisches Handeln, nicht passives Instrument. Mit den traditionellen Konzepten von „Syllogismus", „Subsumtion" oder als Eigenschaft von Begriffen aufgefaßter „Bedeutung" wird sie kategorial überfordert. Daher arbeitet die Strukturierende Rechtslehre handlungstheoretisch, d. h. induktiv und nicht deduktiv. Subjekt der Entscheidung ist nicht „das Gesetz", „die Norm", sondern der handelnde Jurist. Er ist für seine Entscheidung verantwortlich, ist rechtsstaatlich und demokratisch verpflichtet; in diesem anspruchsvollen Sinn wird er in dem Konzept als „Rechtsarbeiter" bezeichnet. Und so wie seit Wittgenstein Sprache im Zusammenhang von Sprachspielen mit Lebensformen gesehen wird, steht hier das besondere Sprachspiel „Recht" (Rechtsetzung, Rechtsdurchführung, Rechtskonkretisierung) immer in seinem tatsächlichen Umfeld gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer Vorgaben sowie im normierten Umfeld der beteiligten staatlichen Institutionen. Anders gesagt: Rechtsarbeit geht über „Verstehen" (i.S. der Hermeneutik) und „Interpretieren" (i.S. des positivistischen Paradigmas und der antipositivistischen Positionen) weit hinaus und ist in Wahrheit „Arbeit mit Texten in den staatlichen Institutionen Wie wirkt sich nun dieses neue Paradigma der Rechtslehre auf Theorie und Interpretation der Grundrechte (libertades y derechos fundamentales) aus?

I I I . Teil Menschen- und Bürgerrechte sind positivrechtliche Normen. Aber auch sie sind nicht schon im Gesetzes-, hier: im Verfassungstext inhaltlich-normativ „enthalten". Dieser bietet nur den Normtext, also eine Vorform, den Ausgangspunkt (das Eingangsdatum) der praktischen Konkretisierungsarbeit auf dem Weg über Normprogramm und Normbereich. Die Sachbereiche / Normbereiche sind nun bei den Grundrechten besonders reichhaltig, inhaltlich gesättigt - ζ. B. Gewissen und Religion, Eigentum in seinen vielfältigen Formen, politische und andere Vereinigungen, Kunst, Wissenschaft und Universität, Ehe, Familie und sie ergänzende Formen des Zusammenlebens, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften sowie ihre typischen Aktionsformen, etc. Diese ergiebigen Normbereiche weisen die Grundrechte als Normen im vollen Sinn aus. Entgegen einer verbreiteten Meinung sind sie keine Generalklauseln, und schon gar nicht bloße Programmsätze. Im deutschen Grundgesetz kann man nur den Allgemeinen Gleichheitssatz („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich") als ursprüngliche Generalklausel bezeichnen, weil er ausnahmsweise so formuliert ist. Diese Rechtslehre strukturiert (1.) die Theorie der Grundrechte nach rationalen Aspekten (ζ. B. Generalklauseln/volle Normen; Normtext/Normprogramm/ Normbereich). (2.) strukturiert sie deren Interpretation : Sprachdaten / Realdaten; Sachbereich/Normbereich; Rechtsnorm/Entscheidungsnorm (= die Formulierung des Entscheidungstenors). Dazu kommen weitere Differenzierungen, wie: Hierar-

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Α. Moderne Theorie und Interpretation der Grundrechte

chie der Konkretisierungselemente, wenn sie einander widersprechen; Rolle der Normprogramm-Grenze für die zulässige Entscheidung (traditionell und methodisch zu ungenau: „Keine Entscheidung gegen den Wortlaut"). Das Konzept erlaubt auch zusätzliche Strukturierungen für die Grundrechtsdogmatik (3.): ζ. B. keine Übertragung der Schranken eines Grundrechts auf andere; keine generellen ungeschriebenen Gesetzesvorbehalte; konkrete Bereichsdogmatik jeder Einzelgarantie; und - für die Allgemeine Grundrechtslehre - noch die wichtige Unterscheidung von: Anknüpfungspunkt am Grundrecht - Maßstäblichkeit des Grundrechts - Sanktionen im Bereich der Garantie. Das Konzept strukturiert (4.) auch für die Verfassungslehre: ζ. B.: Die Grundrechte sind Normen, nicht „Werte"; sie sind keine Privilegien, sondern gleiche Rechte; sind keine „Ausnahmen" von oder „Lücken" in der Staatsgewalt. Vielmehr bilden sie aktive Ermächtigungen der Menschen, der Bürger. Sie begründen normativ eine Gesellschaft, soweit diese freiheitlich pluralistisch, und einen Staat, soweit er demokratisch ist. Sie sind die ausgezeichneten Realisierungsmittel für die „verfassunggebende Gewalt des Volkes". Ohne praktizierte Menschen- und Bürgerrechte bleibt „das Volk" eine abstrakte Metapher von ideologischer Funktion. Durch praktizierte human rights wird es dagegen, in normativer Funktion, zum „Staatsvolk" einer legitimen Demokratie. Die Auswirkungen dieses Konzepts auf Theorie und Interpretation der Grundrechte können auch so formuliert werden: sie verstärken deren Positivität, ihre Materialität und ihre Rationalität. 1. Zur Positivität habe ich schon gesprochen. Ist eine Garantie in einer Konstitution normiert, so ist sie positives Recht und eben nicht „bloße Deklaration" oder „Programmsatz". Für den deutschsprachigen Raum ist diese Debatte - in Deutschland nach 1919 schon damals nur politisch motiviert - seit langem zu den Akten gelegt. Art. 1 III GG („Die nachfolgenden Grundrechte binden ... als unmittelbar geltendes Recht"; vergleichbar mit Art. 9.1 iVm. 53.1 Spanische Verfassung) hat allein politisch/historische Gründe; er ist aber insoweit - für Deutschland - überflüssig. 2. Die Materialität der Grundrechte steigert und bestätigt sich durch die Reichhaltigkeit ihrer Sach- und Normbereiche. Grundrechte sind ohnehin materiale Positionen - die Tatsache, wie sie historisch jeweils haben erkämpft werden müssen, und es weiterhin müssen, spricht eine deutliche Sprache. Aber das Strukturkonzept entwickelt zahlreiche neue Mittel - ich habe Beispiele genannt - , diese Materialität zu begründen und differenziert auszuarbeiten. Das Bundesverfassungsgericht hat etwa den Normbereichsansatz seit der Mephisto-Entscheidung von 1971 bis hin zum 4. Rundfunk-Urteil von 1986, der 5. Rundfunkentscheidung von 1987 oder etwa dem Konkubinats-Judikat von 1990 vielfach praktiziert - meist nur der Sache nach, zum Teil aber auch schon begrifflich explizit 9 . 9 Der anhaltende Einfluß dieses Konzepts auf die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts ist dokumentiert in: F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990, S. 103 ff.

Α. Moderne Theorie und Interpretation der Grundrechte

Daneben umfaßt dieses Konzept auch die verschiedenen Grundrechtswirkungen. Diese hat als erster Georg Jellinek in seiner Statuslehre formuliert: status negativus (Freiheit vom Staat, Abwehr); status positivus (Ansprüche und Forderungen, Leistungen und Teilhabe, Status im Verfahren). Für Jellinek war das vor allem der Anspruch auf Rechtsschutz. Andere Beispiele sind das Recht auf Rechtswege und auf den gesetzlichen Richter, auf rechtliches Gehör, auf Mutterschutz, auf den Gleichheitssatz beim Verteilen staatlicher Leistungen. Die dritte Hauptfunktion ist der status activus: staatsbürgerliche Rechte wie Wahlrecht, Wählbarkeit, Zugang zum öffentlichen Dienst. In modernisierter Form sind diese Funktionen auf der Basis der Realdaten von Sachbereich und Normbereich und - ζ. B. - der systematischen Konkretisierung (mit Demokratie- und Sozialstaatsnormen) problemlos erfaßbar - aber ohne die Vereinseitigung durch die vorhin besprochenen funktionalistischen Ansätze. 3. Die oben schon für Theorie und Interpretation skizzierte zusätzliche Rationalität zeigt sich in der Funktionenlehre ζ. B. in einer differenzierten Position zum Problem der „Leistungsgrundrechte": Leistungen können vom Staat dann verlangt werden, wenn sie - ausgehend von einer deutlichen Formulierung in der Konstitution - mit rechtsstaatlicher Methodik begründet werden können; d. h. keinesfalls generell für alle Grundrechte. Möglich ist das nach dem deutschen Grundgesetz etwa für die Menschenwürde (Art. 1 I 2 GG: „achten ... und schützen"); hier kam das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe 10 zu demselben Ergebnis wie das strukturierende Konzept. Möglich ist es auch für die Privatschulfreiheit im Sinn staatlicher Subvention: hier folgt das Bundesverfassungsgericht dem von dieser Rechtslehre entwickelten Gedanken der „Interventionsgarantie" 11. Die Verallgemeinerungen des sozialstaatlichen Funktionalismus sind dagegen verfassungsrechtlich unhaltbar, damit auch theoretisch und methodisch illegitim.

Eine Schlußbemerkung: Die Strukturierende Rechtslehre ist - aus Rechtsprechungsanalysen entwickelt eine Theorie der Praxis. Sie nimmt die Grundrechte als historisch erkämpfte und zwingend normierte Garantien ernst. Sie klärt so rational wie möglich ihre Inhalte, Funktionen und Grenzen. Der materiale, gesellschaftlich entscheidende Gehalt dieser Rechte, ihr Normbereich, prägt dieses Konzept ihrer Theorie und Konkretisierung. Ohne Grundrechte gibt es kein zivilisiertes Politisches System. Sie sind nicht 10 BVerfGE 45, S. 187 ff., 227 ff., 229 ff. - Zum Vergleich: F. Müller, Thesen zur Grundrechtdogmatik, in: ders., Rechtsstaatliche Form - Demokratische Politik, 1977, S. 48 ff., 57 f.; dazu auch: ders., Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990, S. 105. 11

Seit BVerfGE 75, S. 40ff.; im sachlichen, zum Teil auch expliziten Anschluß an: F. Müller, Das Recht der Freien Schule nach dem Grundgesetz. 2. Aufl. 1982; F. Müller/ Pieroth/Fohmann, Leistungsrechte im Normbereich einer Freiheitsgarantie, 1982. 2 F. Müller

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Α. Moderne Theorie und Interpretation der Grundrechte

der einzige Verfassungsinhalt, aber der Katalysator für die anspruchsvollsten Staatsformen und Staatsziele: für inneren und äußeren Frieden, sozialen Rechtsstaat, lebendige Demokratie. Die Debatte über ihre Verwirklichung führt uns unausweichlich auf unser Ethos als Juristen zurück: auf das nüchterne Ethos, das mit ihrer Erkämpfung verbunden war und das mit ihrer Praktizierung verbunden bleibt.

Literatur Alexy, R.: Theorie der Grundrechte, 1985 - Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, in: Der Staat 29 (1990), S. 49 ff. Böckenförde, E.-W.: Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Neue Juristische Wochenschrift 1974, S. 1529 ff. - Grundrechte als Grundsatznormen, in: Der Staat 29 (1990), S. 1 ff. Bonavides, P.: „Teoria Estrutural Do Direito" de Friedrich Müller, in: Revista de Direito Constitucional e Ciência Politica 1984, S. 249 ff. Brugger, W.: Rundfunkfreiheit und Verfassungsinterpretation, 1992 Christensen, R.: Artikel „Strukturierende Rechtslehre", in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, hrsg. von N. Achterberg, 1987, 2/560 Dreier, H.: Dimensionen der Grundrechte, 1993 Goerlich, H.: Wertordnung und Grundgesetz, 1973 Häberle, P.: Grundrechte im Leistungsstaat, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 30 (1972), S. 43 ff. - Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983 Hesse, K.: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl. 1993 Luhmann, N.: Grundrechte als Institution, 3. Aufl. 1986 Müller, F.: Normstruktur und Normativität, 1966 - Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, 1969 - Die Positivität der Grundrechte, 1969; 2. Aufl. 1990 - Juristische Methodik, 1971; 6. Aufl. 1995 (7. Aufl. 1997) - Elemente einer Verfassungstheorie, Bde. 1 - 5 (1975 -1995) - Thesen zur Grundrechtsdogmatik, in: ders., Rechtsstaatliche Form - Demokratische Politik, 1977, S. 48 ff. - Das Recht der Freien Schule nach dem Grundgesetz, 2. Aufl. 1982 - Strukturierende Rechtslehre, 1984; 2. Aufl. 1994 - Tesis acerca de la Estructura de las Normas Juridicas, in: Revista Espanola de Derecho Constitucional (1989), S. 111 ff. (übersetzt von Luis Villacorta Mancebo)

Α. Moderne Theorie und Interpretation der Grundrechte - Métodos de trabajo del Derecho Constitucional (übersetzt von Salvador Gómez de Arteche); (im Erscheinen) Müller, Έ./Pieroth, rantie, 1982

B./ F ohmann, L.H.: Leistungsrechte im Normbereich einer Freiheitsga-

Schmitt, C : Verfassungslehre, 1928; 4. Aufl. 1965 Suhr, D.: Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 1976 - Freiheit durch Geselligkeit, in: Europäische Grundrechtezeitschrift 1984, S. 529 ff.

Β. Verfassungskonkretisierung 1.0 Was soll hier „Verfassung" heißen? Das ist keine Vorfrage; es betrifft schon den Kern dessen, was „Konkretisierung" meinen soll. Mit dem ersten wird vorentschieden, was das zweite bedeuten und damit zugleich, wie die tatsächliche Verfassung tatsächlich behandelt werden wird - ob das nun „konkretisieren" oder anders genannt werde. Aber dabei ist wieder vorausgesetzt, was wir unter „tatsächlicher Verfassung" verstehen wollen. Ich habe das Grundsatzreferat übernommen. Ich füge mich dem Gesamtprogramm ein; es wird zu vielen einzelnen Fragen später Stellung nehmen. Das ist zu respektieren: dadurch, sich hier auf die Basisfragen zu beschränken. Was wir als Juristen „Verfassung" nennen, ist - wie immer wir diesen Begriff formulieren - ein sprachliches Datum; und was „Konkretisierung" in verschiedenen Varianten heißen kann, ist immer ein sprachlicher Vorgang. Das wird, seit einiger Zeit, an der avancierten Front der Rechts- und der Methodentheorie zunehmend ausgesprochen, bearbeitet: die unausweichliche Sprachlichkeit, die durchgehende Textualität von (Verfassungs-)Konkretisierung. 1.1 Der Verfassungsbegriff steht nicht fest; und es gibt keinen, der auch nur überwiegend anerkannt wäre. Im deutschsprachigen Raum findet sich davon ein Dutzend: neben den formalen die materialen, neben dem „absoluten" der „relative", bei Carl Schmitt noch schärfer „die Verfassung" gegen „das Verfassungsgesetz"; also politische versus juristische beziehungsweise sozialwissenschaftliche versus rechtliche Begriffskreationen. Im politischen Alltag, und somit nicht ganz frei von Hintergedanken, findet sich immer wieder „die Verfassungswirklichkeit" gegen „die Verfassung" (scheinbar gleichrangig) in Stellung gebracht. Die inhaltlichen Auffassungen changieren etwa zwischen der Verfassung als der „rechtlichen Grundordnung des Gemeinwesens"; als der rechtlichen Ordnung des Vorgangs staatlicher Integration; als Prozeß bewußten, planmäßigen, organisierten Zusammenwirkens; als eines stabilisierenden „Verhaltensentwurfs unter der Idee des ,Richtigen4" oder als Beschränkung und Rationalisierung der Macht und Gewährleistung eines freien politischen Lebensprozesses1. Für einen Politikwissenschaftler (W. Hennis ) ist die Verfassung nicht das thematisch reichhaltige „Grundbuch" 1

K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 10 und ff.; R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 189; H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 228 ff.; R. Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, z. B. S. 17, 24: H. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 88 f.

Β. Verfassungskonkretisierung

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der Nation, sondern bloßes „instrument of government"; und ein Altpositivist wie E. Forsthoff belehrt uns2, die Verfassung sei (im Schmittschen Sinn) nur Verfassungsgesetz, allerdings ein „politisches"; daher könne sie nicht ausgelegt werden „wie ein Gesetz über Fieberthermometer". Dem Eingeständnis, die „eigentlichen Probleme" begännen erst mit dieser Einsicht, folgt dann allerdings kein konstruktiver Hinweis, wie sie zu lösen seien. In Brasilien wird das „formale Konzept" dem „materialen Konzept" gegenübergestellt und anschließend dieses nachdrücklich elaboriert 3; oder es wird die Verfassung als „Gesamtheit der Normen" vorgestellt, welche „die konstitutiven Elemente des Staates organisiert" 4. 1.2 Was tun angesichts dieser Fülle? Einen der vertretenen Begriffe bevorzugen - mit welcher Begründung? Oder einen weiteren hinzuformulieren - aus welchen Gründen? Sie alle sind vage; bei weitem nicht so trennscharf, wie sie wohl vorgeben möchten. Sie alle geben sich als Definitionen: also autoritär und dem Gedanken nicht abgeneigt, zu Deduktionen anzustiften. Sie setzen schließlich - außer der Schmittschen „Verfassung", die als Mythos nicht zum Thema der Rechtsverfassung gehört - das zu Erläuternde durchweg als Normenmenge voraus. 1.3 Das zuletzt Gesagte erscheint selbstverständlich; so sehr, daß es keiner Frage mehr wert sei. Das jedenfalls meinte das positivistische Paradigma. Nach diesem wäre hier zunächst „Verfassung" zu definieren, sodann „Konkretisierung"; anschließend ließen sich beide, mit Erkenntnisgewinn, additiv zusammenstellen. Dagegen werden sie hier beide, von Anfang an, integrativ verbunden. In der Realität der Rechtswelt sind die Arbeitsabläufe integriert, bilden sie einen informellen Kreislauf. Beim Setzen einer Kodifikation wird notwendig an ihre spätere Konkretisierung „gedacht", auch an deren einzelne Aspekte - genau darauf läuft die Funktion des Gesetzeswerks hinaus. Und beim Konkretisieren mischen sich Argumente von der Art notwendig ein, wie zulänglich oder unzulänglich der Normtext angesichts des Rechtsfalls erscheint. Keine Vorschrift ist der (rechts-)politischen Debatte entzogen: sie wird revidiert, aufgehoben, verändert - und dies wieder mit Blick auf künftiges Konkretisieren. Die traditionelle Aufspaltung des Verfassungsbegriffs folgt aus der Schieflage des überholten Paradigmas, aus seinem ganz unzureichenden Gesetzesbegriff. Seit drei Jahrzehnten haben die Untersuchungen der nachpositivistischen Rechtslehre gezeigt5, daß Normativität keine (statische, gegebene, „substantielle") Eigenschaft 2

In: Zur Problematik der Verfassungsauslegung, 1961, S. 35 ff., 37. 3 Bei Paulo Bonavides, Curso de Direito Constitucional, 6. a Ed. 1996, S. 63 ff.

4 Bei José Afonso Da Silva, Curso de Direito Constitucional Positivo, 10.a Ed. 1995, S. 40f.; 41: „a constituiçâo é ο conjunto de normas que organiza os elementos constitutivos de Estado". 5 Seit F. Müller, Normstruktur und Normativität, 1966; dems., Juristische Methodik, 1971, 7. Aufl. 1997; dems., Strukturierende Rechtslehre, 1984, 2. Aufl. 1994.

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von Normtexten ist. Sie ist ein auf rechtsstaatlich und demokratisch verpflichteter Arbeit beruhender Vorgang. Dieser nimmt von den Normtexten (und den Rechtsfällen) seinen Ausgang und findet an ihnen, auf noch zu besprechende Art und Weise, seine Grenze. Der Gesetzes- (auch der Verfassungs-)begriff scheitert an den Ungereimtheiten des positivistischen Ansatzes. Was auch immer die in Schulmeinungen aufgesplitterten Varianten als ihre Differenz zu unterstreichen versuchen, jedenfalls ist „Verfassung" der korrekt in Geltung gesetzte und noch nicht legal außer Kraft getretene Text der als ranghöchste innerstaatliche Kodifikation auftretenden Urkunde. So wird der Begriff hier verwendet, ohne vorab nach anderen Definitionen zu fahnden. Darin liegt eine weitere Folgerung aus der Wittgensteinschen Wende, nach der „die Bedeutung eines Wortes" zumeist „sein Gebrauch in der Sprache" ist 6 Das würde hier zu rund einem Dutzend Bedeutungen führen. Nun ist der Grundgedanke der Sprechakttheorie (seit Austin und Searle) und der ihr folgenden linguistischen Pragmatik, jede sprachliche Äußerung könne als ein Handeln nach Regeln beschrieben werden - und dies im Gefolge Wittgensteins und seiner Gebrauchstheorie der Bedeutung. Die Bedeutung des sprachlichen Zeichens „Verfassung" kennen heißt demnach: wissen, welche Regeln für seinen Gebrauch gelten und wissen, wie man mit dem Zeichen handeln kann. Hier geht es noch einen Schritt weiter: „Verfassung" wird nicht als Definition eingeführt und nicht als tatsächlich gebrauchte Bedeutung (dann wären es über zehn gleichzeitig), sondern als Arbeitselement, als bloße Explikation. Und zwar, um erst einmal zu beobachten, welche Erfahrungen man damit macht; um herauszufinden, wie man damit handeln kann. Es ist dieser induktive Ansatz, der - unter anderem - die Strukturierende Rechtslehre und die innerhalb der heutigen Linguistik als Praktische Semantik bezeichnete Richtung verbindet. 1.4 Wenn die Strukturierende Rechtslehre induktiv und nicht deduktiv arbeitet, so optiert sie handlungstheoretisch. Subjekt der Rechtsentscheidung ist nicht „das Gesetz", „die Norm", sondern der tatsächlich agierende Jurist. Er ist für seinen verbindlichen Beschluß verantwortlich, ist zudem für seine Arbeitsmethodik rechtsstaatlich und demokratisch verpflichtet. In diesem anspruchsvollen Sinn ist der Ausdruck „Rechtsarbeiter" gemeint. Dabei ist die Sprache nicht passives Werkzeug für dieses juristische Handeln, sondern Medium, besser noch Aktionsraum. Mit den herkömmlichen Konzepten von „Syllogismus", logischer „Subsumtion" oder einer den Texten innewohnenden „Bedeutung", die Eigenschaft der Tatbestandsbegriffe sein soll, wird sie als natürliche Fachsprache kategorial überfordert. 6 L. Wittgenstein. Philosophische Untersuchungen, 1971, § 43: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes „Bedeutung" - wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung - dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache" (Hervorhebungen im Original).

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Und so wie seit Wittgenstein Sprache im Zusammenhang von Sprachspielen mit Lebensformen gesehen wird, steht hier das besondere Sprachspiel „Recht" (Rechtsetzung, Rechtsdurchführung, Rechtskonkretisierung, erneute Rechtsetzung) immer in seinem tatsächlichen Umfeld gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer Bedingungen und im normierten Umfeld der beteiligten staatlichen Institutionen. Anders gesagt: Rechtsarbeit geht über „Verstehen" (im Sinn der Hermeneutik) und „Interpretieren" (im Sinn des positivistischen Paradigmas und der antipositivistischen Positionen) hinaus. Rechtsarbeit ist Arbeit mit Texten in den staatlichen Institutionen oder (als Vorbereitung, als Kommentar) im Blick auf diese. 1.5 Herkömmlich ging es um „Anwendung" von Gesetzen. Diese sollen einen Inhalt haben, der vom Willen ihres (legislatorischen) Autors bestimmt ist. Es spricht - entscheidet, verantwortet - also der Gesetzgeber (durch den Mund des Richters), nicht etwa der Richter. Nicht ein menschliches Subjekt spricht, sondern ein Text: der Richter als „bouche de la loi"; das Modell geht bekanntlich auf Montesquieu zurück. Dieses vertraute Paradigma macht grobschlächtige Voraussetzungen: Möglichkeit einer jeweils einzig richtigen Deutung, eines inhaltlich klaren Sinnzentrums, einer objektiven Sinneinheit der Rechtstexte. Solches vorauszusetzen, erscheint vor dem Forum einer inzwischen seit rund drei Jahrzehnten entfalteten neueren Sprachphilosophie und heutiger linguistischer Texttheorie als illusionär 7. Der Richter, oder der sonst entscheidende Jurist, „subsumiert" gemäß dem Montesquieu-Paradigma. Er tut es „syllogistisch": und zwar den Rechtsfall unter die Begriffe einer als solchen vorgegebenen Rechtsnorm, die eben identisch mit dem Text im Gesetzbuch sein soll. Das Gesetz ist lex ante casum, „anzuwenden" durch den Justizsyllogismus. Dabei wird die Rechtsordnung als ein ohne grundsätzliche Schwierigkeit handhabbares System unterstellt: „Es geht ( . . . ) um drei Grundannahmen von Geschlossenheit, zumindest von logischer Schließbarkeit: der Rechtsordnung als der Gesamtheit positiver Normen, der einzelnen Rechtsnorm als einem 7

Zur Aufnahme und Diskussion dieser neuen Anstöße in der Rechtswissenschaft vgl. Nachweise und Darstellung etwa bei D. Busse, Juristische Semantik, 1993; dems., Recht als Text, 1992; dems., Zum Regelcharakter von Normtextbedeutungen und Rechtsnormen, in: Rechtstheorie 19 (1988), S. 305 ff.; dems., Semantische Regeln und Rechtsnormen, in: Mellinghoff/Trute (Hrsg.), Die Leistungsfähigkeit des Rechts, 1988, S. 23 ff.; B. Jeand'Heur, Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989; dems., Gemeinsame Probleme der Sprach- und Rechtswissenschaft aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 17 ff.; R. Christensen. Was heißt Gesetzesbindung?, 1989; dems., Gesetzesbindung oder Bindung an das Gesetzbuch der praktischen Vernunft, in: Meilinghoff / Trute (Hrsg.), Die Leistungsfähigkeit des Rechts, 1988 S. 95 ff.; R. WimmerlR. Christensen, Praktisch-semantische Probleme zwischen Linguistik und Rechtstheorie, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 27 ff.; F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994, v.a. S. 374 ff.; dems., Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995; sowie dems. (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, durchgehend.

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einheitlichen Kontinuum allein von Sprachdaten, der einzelnen Fallösung als einem durch Syllogismus beherrschbaren, durchweg primär sprachlichen Vorgang" 8. Rechtslinguistisch besteht der Mythos darin, für jeden Rechtsfall liege die eine, nämlich die richtige Lösung schon in den Gesetzen, die Texte sind, bereit. Demgegenüber hat die Strukturierende Rechtslehre seit Mitte der 60er Jahre ein neuartiges, nachpositivistisches Konzept der Rechtslehre entwickelt: Die Rechtsnorm steht nicht schon im Gesetzbuch. In diesem stehen nur Vorformen, die Normtexte. Sie sind von der Rechtsnorm systematisch verschieden; diese muß in jedem einzelnen juristischen Entscheidungsvorgang erst hervorgebracht, erst produziert werden. Außerdem gehört konstitutiv zu ihr der Normbereich. „Rechtsnorm" wird zu einem komplexen Begriff, aus Normprogramm und Normbereich zusammengesetzt. Und „Konkretisieren" ist nicht länger das Konkretermachen einer allgemeinen Rechtsnorm, die schon im Gesetzbuch stünde: sondern es ist, realistisch betrachtet und reflektiert, RzcYtisnormkonstruktion im einzelnen Entscheidungsfall, wobei die textuellen Arbeitselemente von Stufe zu Stufe immer „konkreter" werden. Damit ist zugleich die Arbeit der Juristen auf der Achse Norm - Fall dynamisiert, realistisch als ein auch zeitlicher Vorgang erfaßt: Text der Fallerzählung, Text des professionell umformulierten „Sachverhalts" und Normtexte in der Kodifikation, Texte von Normprogramm und Normbereich, Text der Rechtsnorm und der Entscheidungsnorm (Tenor der Entscheidung). Die wirklichkeitsnahe Dynamisierung erfaßt aber auch die Achse Norm - Wirklichkeit: der Normbereich konstituiert die Rechtsnorm mit. Er wird aus Sachbereich und Fallbereich entwickelt, also differenziert und operationalisiert. Zudem werden die Arbeitselemente hierarchisiert: im Konfliktfall zwischen ihnen setzen sich aus demokratisch / rechtsstaatlichen Gründen die Sprachdaten durch; es darf keine „normative Kraft des Faktischen" (G. Jellinek) geben. In Fällen des methodologischen Konflikts zwischen den einzelnen Konkretisierungselementen gibt es einen Katalog von Präferenzregeln. Grob gesprochen, haben dabei die jeweils normtextnäheren Argumente den Vorrang. Die Rechtsnorm ist, paradigmatisch neu gefaßt, nicht nur primärer Sprachtext, sondern ein sachgeprägtes Ordnungsmodell. Und Normativität ist keine substantielle Eigenschaft der Texte im Gesetzbuch; sondern ein wissenschaftlich strukturierbarer tatsächlicher, zeitlich gestreckter Vorgang: nämlich die dynamische Wirkung der Rechtsnorm, die ihr zuzuordnende Wirklichkeit zu beeinflussen (konkrete Normativität), und dabei durch diese Wirklichkeit ihrerseits beeinflußt zu werden (sachbestimmte Normativität). 1.6 Führt diese anscheinend „materiale" Konzeption hier nun aber nicht zu einem formalen Begriff von Verfassung? Meint diese hier nicht einfach das, was Carl Schmitt (abwertend) das „Verfassungsgesetz" genannt hat? Schmitt kam zu diesem abfälligen Ausdruck nur, weil er - gegen seine erklärte Absicht - wissenschaftlich im Bann des positivistischen Normbegriffs geblieben war 9. Diesen juristisch zu s F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994, S. 438. 9 Dazu ebd. S. 28 ff., u.ö.

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überwinden mißlang ihm. Er mußte ausweichen in die „Politische Theologie", in eine auf das Ideologem von „Freund und Feind" prekär gestützte Geschichtsmythologie flüchten. Diese Mystifikation ist rechtswissenschaftlich - und bei „Verfassungskonkretisierung" geht es um Rechtswissenschaft - unannehmbar. Man gerät in sie gar nicht erst, wenn man tiefer ansetzt und das positivistische Paradigma, schon zu Schmitts Zeiten als unvertretbar geahnt, überschreitet. Hier wurde kein Verfassungs„begriff' verkündet, sondern, durch Explikation, ein anfängliches Arbeitselement vorgeschlagen. Ebenso induktiv, nämlich aus Aberhunderten von Analysen der höchstrichterlichen Rechtsprechung, war das genannte nachpositivistische Konzept „von unten" her, von den Alltagsschwierigkeiten der Rechtsarbeit aus entwickelt worden. Schon deshalb handelt es sich hier nicht um den alten „formalen Verfassungsbegriff'. „Formal" wäre diese Explikation zudem nur dann, wenn man beim überholten positivistischen Verständnis von der „Rechtsnorm" als einem nur primär sprachlichen Textphänomen im Gesetzbuch bliebe. Schließlich sagt, was hier explikativ umschrieben wurde, nicht etwa „Gesamtmenge von Normen auf dem höchsten Niveau der Normenhierarchie", sondern: „Gesamtheit der Texte der als innerstaatlich ranghöchste Rechtsquelle auftretenden Kodifikation". Diese Erläuterung bezieht sich auf eine bestimmte Teilmenge von Zeichen, sie ist semiotisch; und nicht (pseudo-)„normativ" nach Art des Positivismus. Über „formal" oder „material" ist nicht vorentschieden. 1.7 „Konkretisieren" heißt hier also nicht altpositivistisch: auslegen, anwenden, syllogistisch subsumieren und schließen. Und auch nicht, wie in Kelsens systematisiertem Spätpositivismus: „Individualisieren" einer kodifizierten allgemeinen Rechtsnorm auf den „engeren" Einzelfall hin. Es heißt vielmehr: angesichts der Provokation durch den gesellschaftlichen Konfliktfall, der eine rechtliche Lösung erfordert, die für ihn demokratisch und rechtsstaatlich vertretbare Rechtsnorm produzieren. Dafür gibt es Eingangsdaten - den Fall und die für ihn „einschlägigen" Normtexte - und Arbeitsmittel; über diese wird nun zu sprechen sein. Dazu noch kurze Bemerkungen: So haben praktische Juristen - unausweichlich schon immer gearbeitet. Aber herkömmliche Methoden- und Rechtslehre haben diese Realität nicht angemessen reflektiert. Das strukturierende Ablaufmodell gilt nicht nur für den klassischen Fall des Richters; sondern für alle Funktionäre des Rechtssystems, die Entscheidungskompetenz nach rechtlichen Vorschriften - hier: nach solchen der Verfassung - übertragen bekommen haben. Es gilt strukturell auch für den Gutachter, der eine Rechtsfrage anhand der Normtexte entscheidungsreif zu beurteilen hat. Die traditionellen Konzepte pflegen die mit-konstitutiven Sachargumente hinter bekannten Blankettformeln wie „Zweckmäßigkeit", „Vernünftigkeit", „Angemessenheit" global zu verstecken. Wirksam sind die Realdaten trotzdem. Im nachpositivistischen Konzept werden sie offen benannt, den anderen Elementen zugeordnet, offen verarbeitet. Damit wird, nicht zuletzt, auch Willkür professionell erschwert, faktisch vermindert. Tatsachen dürfen die Entscheidung nicht „irgendwie" mittragen, auch nicht nach Opportunität oder dem sogenann-

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ten persönlichen Rechtsgefühl („Judiz"). Sie müssen sich dafür ausweisen können: in einer offen darzustellenden Begründungsarbeit am Maßstab des Normprogramms. Und dieses wird durch vollständige und rational nachvollziehbare Interpretation aller primär sprachlichen Elemente der (Verfassungs-)Konkretisierung gewonnen. 2.1 Der Jurist, der einen Fall aus dem Verfassungsrecht zu lösen hat, geht, ganz wie auf anderen Rechtsgebieten auch, vom Sachverhalt aus, den er professionell formuliert. Mit dessen Merkmalen bildet er aus der Textmenge der Verfassung Normtexthypothesen, die er nach seinem Fachwissen für „wahrscheinlich zutreffend" halten darf. Von diesen kommt er zu den erfahrungsgemäß mit ihnen verbundenen generellen Fakten (neben den individuellen Tatsachen des Falles). Deren Menge, den Sachbereich, verengt er aus Gründen der Arbeitsökonomie in der Regel zum Fallbereich. Mit Hilfe aller primär sprachlichen Arbeitselemente, der Sprachdaten, erarbeitet er das Normprogramm. Soweit die Realdaten aus dem Sach- beziehungsweise dem Fallbereich angesichts des Normprogramms (noch) erheblich und mit ihm vereinbar sind, bilden sie den Normbereich. Normprogramm und Normbereich verbindet er zu der allgemein formulierten Rechtsnorm („in einem Fall wie diesem..." - normalerweise in sogenannten Leitsätzen in den Urteilsgründen ausgedrückt). Diese individualisiert er in einem letzten Schritt zur Entscheidungsnorm (dem Tenor: ζ. B. „Das Gesetz ist verfassungswidrig"; „Die Maßnahme verletzt nicht das Grundrecht x"; „Die Beschwerde ist unzulässig")10. 2.2 Die primär sprachlichen Elemente betreffen die Normtextauslegung. Zu ihnen gehören die „methodologischen" im engeren Sinn: grammatische, genetische, historische und systematische Auslegung; ferner besondere Figuren der Interpretation, die für das Verfassungsrecht charakteristisch sind; und auch die „teleologische" Argumentation, die allerdings Probleme aufwirft. Im weiteren Sinn zählen zu den Sprachdaten die dogmatischen, die lösungstechnischen, die verfassungspolitischen und die Theorie-Elemente 11. Ihnen allen stehen, systematisch gesehen, die Normbereichselemente gegenüber, von denen ich schon gesprochen habe. Ein Teil der dogmatischen und der Theorieelemente sowie diejenigen aus der Lösungstechnik professionell geschulter Juristen und die verfassungspolitischen können sich nicht auf Normtexte stützen. Sie sind auf Hilfsfunktionen innerhalb der Konkretisierung beschränkt. Solange sie nicht mit den stärkeren, normtextbezogenen Faktoren kollidieren, können sie wertvolle Gesichtspunkte beitragen und die Entscheidung reichhaltiger begründen. Im Fall des methodologischen Konflikts treten sie aber zurück. Dasselbe gilt, wie schon gesagt, für die Fakten aus Sachbereich und Fallbereich; sie müssen einem entgegenstehenden Normprogramm weichen. Ich erlaube mir ein aktuelles Beispiel: Darf der brasilianische Staatspräsident 10

Zum Ablauf der Konkretisierung vgl. F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994, S. 433 f.; dens., Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 166 ff., 170 ff. 11 Zur Gesamtheit der Konkretisierungselemente eingehend: F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 183 ff., 270 ff.

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unmittelbar nach dem Ende seiner Amtszeit wieder kandidieren? Art. 82 der Verfassung von 1988 (in der Fassung der Revision ECR-5/94) verbietet dies nach grammatischer Auslegung klar. Das historische Argument - Vergleich mit Normvorläufern - bestätigt das anhand des Textes von 1988 und früherer Konstitutionen 12 . Da eine Kandidatur und Wiederwahl für spätere Mandatsperioden statthaft sind, muß das Verbot für die sich unmittelbar anschließende strikt genommen werden (intern-systematischer Gesichtspunkt); andere Ausnahmen als die im Verfassungstext selbst, durch Extrapolation, sind ausgeschlossen - argumentum e contrario. Genetisches, das heißt entstehungsgeschichtliches Element: Bei der Revision von 1994 - hier: des Art. 82 BrasV mit der Reduktion des Mandats von 5 Jahren auf 4 Jahre - wurde die Möglichkeit unmittelbarer Wiederwahl erörtert; der dahin gehende Revisionsvorschlag setzte sich jedoch nicht durch 13 . Auch dies bestätigt die bisherigen Zwischenergebnisse. Damit stimmt überein, daß es sich bei Art. 82 BrasV um eine Form- und (in weiterem Sinn) Fristvorschrift handelt: in Jahren und zeitlicher Abfolge ausgedrückte, numerisch determinierte Tatbestandsaussage; solche Normtexte sind besonders strikt auszulegen. Dasselbe ergibt sich ferner daraus, daß es sich um eine Organisationsfrage handelt, um den Umfang des Mandats eines obersten Staatsorgans und die quantifizierbaren Bedingungen seiner Erneuerung - also um einen durch keinen „Verfassungssymbolismus" oder „konstitutionellen Nominalismus" in Frage zu stellenden ,hard case4 mit strenger Textbindung. Ein starkes extern-systematisches Element wird ferner dadurch geliefert, daß auch die Verfassung von 1988 eine parlamentarische Kontrolle der Regierung durch Mißtrauensvotum oder sonstige Abwahl nicht vorsieht: daß also die machtbegrenzende Funktion des Art. 82 bestärkt werden muß. Schließlich zeigt das ganz rezente Scheitern einer Revision in diesem Punkt (1994), daß verfassungspolitisch die Frage aktuell zur Entscheidung stand; daß, anders gesagt, ein erneutes Aufgreifen genau die Konfiguration der ad-hoc-Revision in Form eines (verdeckten) Einzelpersonengesetzes darstellen würde. Notabene: das ist nicht verboten, daher ist es, wie gesagt, nur ein verfassungspolitisches Element. Andere verfassungspolitische Argumente wenden sich dagegen: Die sofortige Wiederwahlmöglichkeit sei jetzt ein „demokratisches Gebot" - obwohl es aus den Demokratievorschriften der positiven Verfassung nicht herleitbar ist; die Demokratie in der Version dieses Grundgesetzes von 1988 ist eine Demokratie mit Art. 82 BrasV. Oder: Das Verhüten autoritärer Amtsmacht sei ein verfassungspolitischer Anachronismus - obwohl das genannte systematische Argument mangelnder parlamentarischer Kontrolle der Regierung dagegen spricht. Oder: Es müsse die Kontinuität erfolgreicher Regierungsarbeit gesichert werden. Nun ist genau das im Streit - eben ein nur rechtspolitisches Argument. Unterstellen wir aber aus Gründen methodologischer Klarheit, als Gedankenexperiment, daß allgemein anerkannte Fakten ökonomischer, sozialer, außenpolitischer Art vorliegen, die einen unbestreitba12

Alle Verfassungen Brasiliens ab 1891 stimmen in diesem Punkt überein. 13 Vgl. J.A. Da Silva, Curso de Direito Constitucional Positivo, 10a Ed. 1995, S. 513.

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ren Erfolg des laufenden Mandats anzeigen. Das sind dann Realdaten, und zwar solche des Sach(Fall-)bereichs. Sie müssen nun, wie ich schon sagte, am Normprogramm doppelt gemessen werden: Sind sie für dieses relevant? Nein, weil Art. 82, auch in interpretierter Form, hierfür keinen Raum gibt. Und sind sie mit dem Normprogramm vereinbar, das ich oben entwickelt habe? Nein, es verbietet die unmittelbare Wiederwahl. Argumente und versuchte Gegenargumente ergaben sich nur unter den verfassungspolitischen-, und diese sind allgemein schwächer als die normtextgestützten, vor allem als die grammatischen und systematischen. Zugleich ergab sich ein Beispiel für den Unterschied von Sach- und Normbereich. Im demokratischen Rechtsstaat gibt es - auch für ein wissenschaftlich innovierendes Konzept keine normative Kraft des Faktischen. Nur normprogrammrelevante und normprogr&mmJconforme Tatsachen dürfen den Inhalt der Entscheidung mitbestimmen. Sie werden verstehen, daß ich nicht ausführlicher auf Details eingehen kann; dies würde ein anderes, ein methodologisches Referat statt eines Textes über die Grundlagen der Verfassungskonkretisierung. Ich mache nur noch zwei Bemerkungen: Die einzelnen Elemente sind nicht voneinander unabhängige, quasi-naturwissenschaftlich objektive „Methoden", sondern wirklich Elemente, als textuelle vielfach miteinander verflochten und aufeinander verweisend. Das hat schon F.K. von Savigny vor eineinhalb Jahrhunderten klar gesehen, aber die spätere positivistische Tradition hat es verdunkelt. - Und, gleichfalls in Übereinstimmung mit Savigny und gegen die seitherige Tradition: das „teleologische" Argument ist nicht eigenständig14. Aspekte von „Sinn und Zweck" der zu bearbeitenden Vorschrift dürfen nur insoweit eingeführt werden, als sie mit Hilfe der anderen Elemente belegt werden können. Sonst sind sie normtext-gelöste, insoweit nicht abstützbare (verfassungs-)politische Wertungen, die zwar inhaltliche Hilfsaspekte beitragen, sich aber gegenüber den Normtexten zurechenbaren stärkeren Elementen nicht durchsetzen können. 3.1 In der Kürze, die hier nicht vermieden werden kann, nenne ich noch einige Besonderheiten, welche die Verfassungskonkretisierung vor der - im Prinzip gleich angelegten - konkretisierenden Rechtsarbeit auf anderen Gebieten auszeichnen. Das Auffallendste ist dabei, was man „Prinzipien der Verfassungsinterpretation" zu nennen pflegt; aus dem Rechtssystem der USA kennt man beispielsweise die Figuren des „judicial self-restraint", der „political question"-Doktrin oder der „preferred freedoms"-Doktrin. Ich möchte diese Prinzipien hier in der Form einführen, wie sie in den deutschsprachigen Ländern mit ihrem - dem brasilianischen strukturell näher verwandten - Kodifikationssystem diskutiert werden. Auch sie sind, zum größeren Teil, nur Unterfälle anderer Elemente der Konkretisierung. Selbständig ist einerseits das Gebot verfassungskonformer Auslegung, entwickelt vom deutschen Bundesverfassungsgericht 15. Nach ihm ist eine gesetzliche Vör14 Dazu F. Mittler, Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, z. B. S. 204 ff., 208. ι 5 Dazu ebd., S. 86 ff., u. ö., mit Nachweisen. Zu den funktionell-rechtlichen Grenzen verfassungskonformer Gesetzesauslegung vgl. ζ. B. BVerfGE 32, 165 ff., 199 f.

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schrift immer so auszulegen, daß sie mit den Grundsätzen der Verfassung in Einklang steht. Bei mehreren Möglichkeiten vertretbarer Interpretation soll diejenige maßgeblich sein, bei der die Regelung des Gesetzes mit der Verfassung konform geht; der Grundsatz verbindet somit Normtextauslegung mit Normenkontrolle. Das zweite eigenständige Prinzip ist das der „funktionellen Richtigkeit" 16 ; ihm zufolge darf die entscheidende Stelle weder durch die Art und Weise der Konkretisierung noch durch deren Ergebnis die konstitutionell normierte Verteilung der Funktionen verändern. Das folgt zwar direkt aus geltendem (Verfassungs-)Recht. Es bietet aber ein wichtiges Beispiel dafür, daß (Verfassungs-)Konkretisierung durchweg von demokratischen und vor allem rechtsstaatlichen methodenrelevanten Vorschriften betroffen wird: wie etwa Entscheidungspflichten, Begründungspflichten, Gesetzesbindung, Gebote der Methodenklarheit und der Vollständigkeit des heranzuziehenden geltenden Rechts17. Dagegen sind die sogenannten Prinzipien der Praktikabilität, der Interpretation aus dem geistesgeschichtlichen Zusammenhang, der integrierenden Wirkung, der Einheit der Verfassung, des vorverfassungsrechtlichen Gesamtbildes, des Zusammenhangs von Grundrechts- und Kompetenznormen, der praktischen Konkordanz und der normativen Kraft der Verfassung 18 ohne selbständige Konkretisierungsleistung. Sie sind, sachlich analysiert, nur andere Bezeichnungen für Sach- und Normbereichselemente, für historische und systematische, für genetische und verfassungspolitische Faktoren der Konkretisierung. Dem ist hinzuzufügen, daß Verfassungsrecht typischerweise besonders weitgespannte und reichhaltige Sachbereiche - beziehungsweise, je nach Normprogramm - Normbereiche aufweist. Das folgt aus seiner Funktion als ranghöchster Kodifikation des innerstaatlichen Rechtssystems, die Gebote und Verbote, die Impulse, Grenzen und verbindliche Maßstäbe nicht nur für den gesamten Staatsapparat und sein Handeln, sondern auch für das ganze der Rechtsordnung bereithält. Besonders deutlich wird das an den intensiven Beiträgen der Sach- und Normbereichselemente beim Konkretisieren von Grundrechts- und von Kompetenzvorschriften. Die Strukturierende Methodik hat hier - beispielsweise für eine rationale Bereichsdogmatik der Grundrechte oder für eine Typologie von Normstrukturen - ein fruchtbares Feld für differenzierte Arbeit 19 , die für Konkretisierung auch außerhalb der Verfassung exemplarisch sein kann.

16 Dazu ebd., S. 214 und v.a. 89ff.. 92ff. 17 Zu diesem wichtigen Gesichtspunkt vgl. ebd., ζ. B. S. 79, 112, 138, 186, 261, 305 ff., 310 ff. 18

Hierzu im ganzen ebd., S. 214 ff. Zu Sach-/ Normbereichen von Kompetenzvorschriften vgl. F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl.1994, ζ. B. S. 205 ff., 402 f.; dens., Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 46 ff., 60 ff. zu Normbereichen von Grundrechten sowie hierzu dens., Strukturierende Rechtslehre, S. 210 ff., 403 ff. u.ö. - Zur Typologie von Normstrukturen: Juristische Methodik, S. 85, 150, 152, 201 f; zur Entwicklung grundrechtlicher Bereichsdogmatik vgl. dens., Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, 1969; Die Positivität der Grundrechte, 2. Aufl. 1990. 19

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3.2 Verfassungsrecht soll den politischen Prozeß normieren. Verfassungskonkretisierung steht daher unter gesteigertem Druck von Interessen, von Macht und Gewalt. Das macht die Frage nach den noch erlaubten Grenzen solcher Konkretisierung besonders prekär. Demokratie verlangt, daß mittelbar oder unmittelbar auf Entscheidungen des (Wahl-)Volks zurückführbare Normtexte respektiert werden, vor allem von den Staatsorganen und den staatlichen Gewalten selbst. Und die Maßstäbe und Gebote des Rechtsstaats sind das unverzichtbare Mittel, diese demokratische Legitimation etwas anderes sein zu lassen als nur eine Chimäre. Aus beiden Gründen stellt sich die Frage, was Verfassungskonkretisierung noch darf und was sie nicht mehr darf, noch dringlicher als in den anderen Rechtsgebieten. Die herkömmliche Methodenlehre versucht, darauf mit der Vorstellung von einer „Wortlautgrenze" zu antworten. Diese soll überschritten sein, wenn die Interpretation über den „möglichen Wortsinn" hinausgeht. Doch zeigt heutige Linguistik, und ich habe das angedeutet, daß solche wortsemantischen Fixierungen illusionär sind. Wenn etwa das deutsche Bundesverfassungsgericht als „äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation" etwas „in erster Linie" formuliert, was es mit dem Ausdruck „der für den Adressaten erkennbare und verstehbare Wortlaut" bezeichnet20, só verwirrt es nur, statt zu klären. Weder „Wortlaut" noch „erkennbar" noch „verstehbar" sind Gegebenheiten, von denen man ausgehen und mit deren Hilfe man eine Grenze ziehen könnte. Die Grenze ist als „möglicher, erkennbarer Wortsinn" 21 falsch lokalisiert. Kein Normtext ,als solcher4 kann eine derartige Begründungslast tragen, keine Wortsemantik hierfür zureichende Gründe liefern. Es ist nicht ein lexikalisch autoritativ formulierbarer und aus dem Wörterbuch für den konkreten Rechtsfall ablesbarer „möglicher Wortsinn", der diese Funktion übernehmen könnte, sondern allein das durchgearbeitete Normprogramm. Keine semantische Grenze kann gegenständlich vorausgesetzt werden. Vielmehr liegt die Begründung für demokratisch/rechtsstaatlich noch zulässige Konkretisierung in dem gesamten, vollständigen und ehrlich dargestellten Arbeitsvorgang, der „Konkretisierung" heißt. Auch an dem oben genannten Beispiel einer unmittelbaren Neuwahl des brasilianischen Staatspräsidenten ließ sich das zeigen. Obwohl Art. 82 BrasV als Organisations- und Formvorschrift besonders deutlich formuliert ist, und man versucht sein könnte, hier den unvermittelten Wortlaut ausreichen zu lassen, kann doch erst der ganze Set von Konkretisierungselementen, die außerdem untereinander in ihrem methodologischen Status zu gewichten sind, kann also erst die Normprogrammgrenze ein überzeugendes Ergebnis stützen. Das gilt sogar bei den relativ einfachsten, bei numerisch determinierten Normtexten 22.

20 BVerfGE 85, 69 ff., 73; BVerfGE 87, 209 ff., 224. - Zum Problem: F. Mittler, Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, z. B., S. 187, 192 ff., 296; zur Normprogrammgrenze: ebd., S. 188, 257 f., 273, 293 ff., 296 f. 21

So das Bundesverfassungsgericht in E 85, 69 ff., 73 ff., 77 ff. (übrigens kontrovers zwischen Mehrheitsmeinung und Abweichender Meinung). 22 Dazu mit Beispielen: F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 183 f., 201 f., u.ö.

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4.1 Was geschieht tatsächlich, wenn Juristen konkretisieren? Das Credo des alten Paradigmas war: es werden logische Schlüsse auf der Grundlage fester Haltepunkte gezogen. Diese sollten sein: die Norm; die Normativität des (Verfassungs-)Gesetzes; die Canones, die wir gelernt haben und die wir professionell als zuverlässige „Methoden" einsetzen; Bedeutung, Begriffskern, Sinnzentrum der gesetzlichen Termini; die Wortlautgrenze; die rechtskräftige Entscheidung; insgesamt die uns bekannte natürliche Fachsprache, „das Werkzeug des Juristen", die wir zielsicher beherrschen. Nichts davon hielt einem realistischen Blick stand. Der Normtext, der noch nicht die Rechtsnorm sein kann, ist im besten Fall eine ernst,gemeinte' Momentaufnahme im politisch-juristischen Stellungskrieg der Gesellschaft. Er ist kein verläßlicher „Ursprung", nur Eingangsdatum des produktiven Vorgangs der Normerzeugung im Fall, der Konkretisierung. Die Normativität ist dem Gesetz (Normtext) nicht inhärent; sie ist prozeßhaft, muß durch Rechtsarbeit hervorgebracht werden. Die Canones sind nicht distinkte Methoden, nur aufeinander verweisende Teilaspekte. Sie sind Elemente unserer Arbeit, in Konstituierung und Handhabung durchweg von uns abhängig, auch von uns zu verantworten. Wir können uns hinter ihnen sowenig verstecken wie hinter „dem Gesetz" oder „der Bedeutung des Gesetzes". Denn die Bedeutung, der Begriffskern, das Sinnzentrum sind Illusionen, fromme Wünsche23. Denn schon wort- und merkmalssemantisch ist „die" (als die eine, richtige) Bedeutung des (Verfassungs-)Normtexts eine Überforderung der natürlichen Sprache - Rechtssprache ist von fachsprachlichen Elementen durchsetzte natürliche Sprache; noch mehr gilt das satz- und kontextsemantisch. Dem schriftlichen Text sind, wie es am eindringlichsten Derrida entwickelt hat, weder Sinneinheit noch Sinnzentrum (und noch weniger sein eigener Sinn) unterzuschieben. Er wird durch andere (schriftliche) Texte in unausweichliche, nicht abbrechbare SemantisierungsVorgänge hineingezogen; in praktische Sprachkämpfe, die diskursiv nicht beendbar sind. Im juristischen Diskurs ist das wegen seiner erstrangigen Bedeutung für Macht noch deutlicher als auf den anderen Gebieten; das ist die Realität der Rechtsarbeit. Die Wortlautgrenze ist hilflos, ist keine Gegebenheit; auch sie muß, im vorhinein ungesichert und stets zu verantworten, durch Rechtsarbeit als Normprogrammgrenze produziert werden. Und die verbindliche Entscheidung? Wenn es schon nicht die notwendig aus dem Gesetz ableitbare ,»richtige" sein kann, dann doch die ohne weiteres Rechtsmittel verpflichtende? Aber auch über sie hinaus gehen die Diskurse weiter: Kritik, 23 Dazu grundsätzlich ebd., S. 287 ff., u.ö.

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Debatte, rechtspolitische Vorhaben, das „unendliche Gewimmel der Kommentare" CFoucault ), Änderung der Normtexte und manchmal sogar der höchstrichterlichen Rechtsprechung selbst. Durch sein Entscheiden, das auf Gewalt gestützt ist, kann der Staat zwar allenfalls Herrschaft über die sozialen Verhältnisse aufrechterhalten, nie aber Herrschaft über den Diskurs. Ursprung (Gesetz als „ratio scripta"), Mitte („der" zutreffende „Normsinn") und Ziel (die „eine richtige" Entscheidung) als die drei Grundpfeiler des positivistischen Glaubens sind zur wissenschaftshistorischen Erinnerung geworden. Das um so mehr, als die Sprache nicht etwa uns ausgeliefert ist, sondern - im Licht der heutigen avancierten Sprachphilosophie und Linguistik - wir der Sprache. Normtext und „Wortlaut"grenze mögen als Pfeiler im Strom des Diskurses angesehen werden; aber sie sind aus demselben Wasser geformt. Was wir allerdings können, und wozu wir als Juristen im demokratischen Rechtsstaat verpflichtet sind, das ist, mit diesen fragilen Elementen offen, vollständig und konsistent zu arbeiten und unser Ergebnis zu verantworten. 4.2 Was geschieht also tatsächlich in der Rechtsarbeit? Nicht Objektivität garantierende logische Schlußverfahren; sondern - „im Chaos" - strukturierbare, kommunizierbare und dadurch kontrollierbare Semantisierungsarbeit. Es gibt keine Fixpunkte, sondern Vorgänge: der Rechtsarbeit allgemein, der in dieser herzustellenden Normativität, der Bedeutungs- und Referenzfixierungsakte, der Begrenzungsarbeit. An den Stationen, die zum Teil durch prozeßrechtliche Vorschriften markiert sind, gibt es folglich nur jeweils Zwischenergebnisse: von den ersten Normtext- und Sachbereichshypothesen bis zur rechtskräftigen Endentscheidung. Diese ist dann nicht mehr dem Prozeßrecht ausgeliefert, wohl aber dem weitergehenden Diskurs. Es gibt, anders gesagt, nur Texte, Texte und Texte; und, als Pflicht der Juristen, Textarbeit 24. Nämlich zum einen die Texte, die wir rezipieren: Fallerzählung; Normtexte; Texte über die - solche hypothetisch herangezogenen Normtexte typischerweise begleitenden - Sachbereiche; dogmatische, theoretische, historische (Normtextvorläufer), genetische (Texte aus der Entstehungsgeschichte), Texte früherer Rechts- und Entscheidungsnormen. Sodann die Texte, mit denen („in" denen) wir - mündlich und / oder schriftlich - die Arbeit am Fall deliberieren, diskutieren, mit denen wir Argumente entwerfen und erproben und Rechts- und Entscheidungsnorm vorbereiten. Schließlich die Texte, durch die wir das Ergebnis unserer Konkretisierungsarbeit darstellen (Rechtsnorm, Entscheidungsnorm, Urteilsgründe), also die wir produzieren. 24 So auch O. Jouanjan, Présentation du Traducteur, in: F. Müller, Discours de la Méthode Juridique, 1996, S. 5 ff., 20: die Strukturierende Methodik sei eine „Methode der Arbeit mit Texten" (travail avec des textes), also nicht nur über Texte (travail sur des textes), sondern auch unmittelbare Textarbeit (travail de textes). - Ebd., S. 21 spricht ders. von einem von diesem Konzept unternommenen tournant pragmatique parallel zur „pragmatischen Wende" in der modernen Linguistik nach Wittgenstein. - Vgl. jetzt grundsätzlich F. Müllerl R. Christensen/M. Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997.

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Das zeugt von einer durchgehenden radikalen Textualität der Rechtswelt und in deren Rahmen des Handelns der Juristen. „Durchgehend" dabei auch noch in diesem Sinn: die Textualität (genauer: die Signifikantenketten im Sinn einerseits von de Saussure, andererseits von Lacan) laufen auch „durch" uns, die Rechtsfälle bearbeitenden Juristen, „hindurch". Die Hermeneutik war schon im Ansatz unzulänglich; es handelt sich nicht im wesentlichen um „Verstehen" - das nur im allerersten Anfangsstadium, beim Umformulieren der Fallerzählung zum Sachverhalt und beim Bilden der Normtextund in ihrem Gefolge der ersten Sachbereichshypothesen. Normtexte werden nicht erlassen, um „verstanden", sondern um von dazu bestellten Juristen benutzt, bearbeitet zu werden. Und es handelt sich auch nicht nur um interpretieren", also um Verständlich-Machen, vor allem im Formulieren der Entscheidungsgründe ,nach außen'. Sondern es handelt sich durchgehend um Arbeit mit Texten im Rahmen normierter Institutionen des Staates und normierter Verfahren 25, um aktive integrative Semantisierung, um gesteigert komplexe Textarbeit. Seitdem Staaten sich Legitimität zuschreiben und dafür um Anerkennung werben, waren sie schon immer gigantische Umwälzanlagen für Textualität; empirisch gesprochen: für Texte. In den modernen Verfassungsstaaten ist das aber spezifischer strukturiert: als Textstruktur der Demokratie und des Rechtsstaats26. Und innerhalb dieser strukturierten Textmasse ist „Verfassung" ebenso „zuhöchst" ausgezeichnet wie „Verfassungskonkretisierung" „zuhöchst" praxisrelevant. Diese Sicht - „Was geschieht tatsächlich?", und die daraus gegebene Antwort erscheint als die einzig realistische im Rahmen der Rechtswissenschaft. Einmal wegen des handlungstheoretischen Ansatzes für die juristische Arbeit im gesamten Kreislauf der Rechtsfunktionen - eines Ansatzes, der die Beziehung zwischen den Zeichen und ihren Benutzern unterstreicht. Und dann noch im dem Sinn, in dem Sätze in gewisser Beziehung das einzige sind, das uns unbezweifelbar vorliegt 27 . Dagegen läßt sich einwenden: warum gerade „Sätze"? Und: Ist die Rechtswissenschaft denn nicht eine Aformwissenschaft? Sicherlich läßt sich das von ihr sagen - nur bleibt dabei zu klären, was unter „Norm" verstanden werden soll. Es hat sich nahegelegt, daß diese „Norm" nicht schon der kodifizierte Normtext ist. Dieser tritt vielmehr nur als Eingangsgröße des Vorgangs „Konkretisierung" auf, der wiederum unter Entscheidungsdruck steht und im Dienst einer geforderten Rechtsentscheidung durchgeführt werden muß. Rechtswissenschaft läßt sich zumindest

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Beziehungsweise um wissenschaftliche / gutachterliche Vorbereitung oder Nachbereitung formeller Verfahren; nur im weiteren Sinn gehören neben Forschungs-, Kommentar- und Gutachtentexten auch Lehrtexte in ihrer Funktion, die Ausbildung künftiger Fachleute der Rechtsarbeit zu gewährleisten, hierher. 26

Zur Textstruktur der Rechtsordnung: F. Müller. Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 136 ff., 156, 289 ff., 295 f., mit Nachweisen. Zur Legitimierungsstruktur: ebd., S. 178 m.Nw. 27 Dazu, von anderer Richtung her, J.-F. Lyotard , Der Widerstreit, 1987. 3 F. Müller

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ebenso gut als „Entscheidungswissenschaft" kennzeichnen28. Und wie ist diese gehalten zu arbeiten? Mit den Mitteln einer - recht besonderen - Textwissenschaft. In deren Rahmen können wir uns, einen Beitrag zur Erkenntnistheorie nicht beanspruchend, darauf einigen, daß das einzig Gegebene für Rechtsarbeiter jedenfalls Sätze sind: angefangen mit der laienhaften Fallerzählung, die sie zum „Sachverhalt" umformulieren, mit den Normtexten und mit den sekundär sprachlich zu fassenden Tatsachen des Sachbereichs am Beginn der Konkretisierung 29. Sprachdaten sind die primär sprachlich begründeten, Realdaten primär nicht-sprachliche empirische Arbeitselemente, die aber, damit juristisch mit ihnen operiert werden kann, sekundär in Sprache vermittelt sein müssen. Die semiotischen Gegebenheiten der Rechtsarbeit ließen sich auch „Ausdrücke", „Wörter", „ Z e i c h e n ( k e t t e n ) " nennen. Aber für (Verfassungs-)Konkretisierung reicht, angesichts ihrer immensen Komplexität, eine merkmalssemantische Wortsemantik ebenso wenig aus wie eine logisch-positivistische; gebraucht werden Kontext-, Satz- und Textsemantik30. „Bedeutung" ist die aktuelle Wirksamkeit eines sprachlichen Ausdrucks, in der „Aktion" als im tatsächlich vor sich gehenden Kommunikations Vorgang. Diese Bedeutung hängt, im Gegensatz zur (wenn schon nicht mehr „Substanzen" unterstellenden, so doch immer noch „Merkmale" anklebenden) herkömmlichen juristischen Wortsemantik „immer entscheidend von der sprachlichen Umgebung sowie von zahlreichen Kontext- und Situationsfaktoren ab ( . . . ), die in den Produktionsund Verstehensprozeß von Äußerungen immer schon mit einbezogen sind". Doch warum sollen die Textarbeit der praktischen Juristen und die demokratisch/rechtsstaatliche Textstruktur so besonders komplex sein? Einmal quantitativ und strukturell: wegen der delirierenden Zahl von Vorschriften in der heutigen entwickelten Industriegesellschaft, einschließlich - so für Brasilien und Deutschland - bundesstaatlicher Komplikationen und - so für die Europäische Union - supranationaler Interferenzen. Das ist bei den Textkorpora anderer Wissenschaften vielleicht nicht so stark verzweigt und überschnitten, aber im Grundsatz nicht anders. Einzigartig wird die Komplexität juristischer Textualität dann auf der Problemachse „Norm(text) - Wirklichkeit", also zwischen Zeichen und ,referiertem" Realitätssegment: weil Rechtskonkretisierung, zusammen mit den anderen Etappen des rechtlichen Kreislaufs, die Aufgabe hat, die Gesamtgesellschaft (ja, ansatzweise die sich - auch rechtlich - allmählich globalisierende Weltgesellschaft) durch Texte und Textarbeit zu verfassen und in (möglichst friedlicher und sogar in „gerechter") Funktion zu halten. Und eine nochmals einzigartige Steigerung der Komplexität folgt daraus, daß Konkretisierung als Arbeit mit Texten, als unmittel-

28 Dazu F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, v.a. S. 123 ff., 313 ff. 29 Zu Sprachdaten/Realdaten vgl. ebd., S. 30, 75, 142 f., 276, 304 ff., u.ö. 30 Vgl. D. Busse, Textinterpretation. Sprachtheoretische Grundlagen einer explikativen Semantik,1992, v.a. S. 62 ff., 78 ff., 107 ff., 167 ff.; und dens., Juristische Semantik. Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht, 1993, bes. S. 189 ff., 228 ff., 253 ff., 282 ff. - Das im Text folgende Zitat bei dems. (1992), S. 50.

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bare Textarbeit institutionell eingebunden ist: in Ämter, Zuständigkeiten, Amtspflichten, Metacodes (Dienst-, Disziplinarrecht, etc.), Verfahrensrecht, Instanzenzüge, methodenrelevante Verfassungsgebote; und in die normierte Verbindung zum Erzwingungsstab, dessen Tätigkeit dann beginnt, wenn der Entscheidungsstab „rechtskräftig", genauer gesagt: mit rechtlichen Mitteln nicht mehr angreifbar agiert hat. Das führt zu einem letzten spezifischen Komplexitätsgrund: die vorhersehbaren und als (rechts- bzw. verfassungspolitische Konkretisierungslemente) integral zur Rechtsarbeit gehörenden, zu verantwortenden Folgen der Entscheidung für einzelne, für Gruppen, teilweise auch für das, was man etwas unbeholfen „Gesamtgesellschaft" zu nennen gewöhnt ist. 4.3 Das Gesagte trifft zwar auf die ganze Rechtsordnung und jede Funktion von Rechtsarbeit zu, für keinen Teilbereich aber so zugespitzt wie für die Verfassung und ihre praktische Konkretisierung. All das macht diese nicht eben einfach. Nicht so sehr, weil die Einsichten heutiger Sprachwissenschaft zum Chaos führten. Sprache ist - als Sprache in Kommunikation - nicht willkürlich; und Voraussetzungen, Aufgaben und Mittel der Rechtsarbeit lassen sich strukturieren. Wohl aber, weil Sprache nicht unschuldig und Sprechen eine Form von Handeln ist. Sprache ist schon immer von sozialer Gewalt und deren Spuren markiert, die Sprache des Rechts zusätzlich durch Staatsgewalt verhärtet und durch Druck und Konflikte der beteiligten Gruppen verformt. Aus dem semantischen Kampf gibt es kein Entrinnen, am wenigsten für Verfassungskonkretisierung. Die eingangs vorgeschlagene Erläuterung, was mit „Verfassung" gemeint sein soll, war also nicht „formal", betrifft nicht das „bloße Verfässungsgesetz". Der so gesehene Verfassungstext als Eingangsdatum eines so, einschließlich der rechtsstaatlich kontrollierbaren Normbereiche, zu konkretisierenden Ensembles ranghöchster Vor-schriften ist Verfassung in dem operationalen Sinn, den Wissenschaft begründet und elaboriert und den die tatsächliche Rechtsarbeit braucht. Im Ozean dieses Themas waren keine Felseninseln zu entdecken; wohl aber deutlich sichtbare Lichtkegel von Leuchttürmen zu lokalisieren, die eine Orientierung der Rechtsarbeit - damit auch demokratische Kommunikation über sie möglich machen.

C. Demokratie, Rechtsarbeit, Volksgemurmel* I.

Der Titel verknüpft Ungewohntes. Die Theoretiker des praktischen Diskurses verlassen sich in ihrem soliden Regelplatonismus auf ein Gesetzbuch der praktischen Vernunft, das begründet werden möge wie es wolle - das aber jedenfalls oberhalb der bloß positiven Verfassung wirken soll. Die antikisch beflügelten Topiker werden methodenrelevante Vorschriften des Grundgesetzes als zusätzliche Stilelemente in ihrem rhetorischen Universum willkommen heißen. Die Merkmalssemantiker schlagen lieber als im Text der Konstitution in einer Einführung in die Linguistik nach. Das bildungsbürgerlich verinnerlichte Subjekt der Hermeneutik fühlt sich in seinem gepflegten Verstehenszusammenhang im Zweifel wohler als bei sozialstaatlichen Vorgaben seines Tuns. Und sobald ein avanciertes Konzept methodenbezogene Vorschriften der rechtsstaatlichen Demokratie endlich einzuarbeiten beginnt, wird ihm 1 vorgehalten, damit das juristische Sprachspiel zu überfremden. Dabei ist es kein Geheimnis, daß solche Vorschriften eben auch nur positi vierte Normtexte sein können: ihrerseits der Interpretation fähig, der Konkretisierung bedürftig, in einem Staat wie dem des deutschen Grundgesetzes juristisch immer einschlägige zusätzliche Eingangsdaten einer legitimierbaren Rechtsarbeit2. Die Tradition juristischer Methodik und des Redens über sie spart die Direktiven der Verfassung, die grundlegenden Regeln für das Politische System, immer noch aus. Das mag auch daher kommen, daß sie, wiederum nur herkömmlich, so stark in der Methodik des Zivilrechts verwurzelt ist. Der in der Mitte des vorigen Jahrhunderts bewußt einsetzende Gesetzespositivismus hat die verfassungsrechtlichen Vor* Eine kürzere, thematisch anders gewichtete Version des folgenden Textes ist vorgesehen für: Peter Niesen/Hauke Brunkhorst (Hrsg.), Das Recht der Republik. Festschrift für Ingeborg Maus, Frankfurt am Main (in Vorbereitung). 1 Alexander Somek, Der Gegenstand der Rechtserkenntnis. Epitaph eines juristischen Problems, Baden-Baden 1996, z. B. S. 59 ff. gegen Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, 19942; Juristische Methodik, 19977; in beiden Arbeiten Argumente und Nachweise zu dem im Text vorstehend Bemerkten. - Zur Theorie des praktischen Diskurses im vorliegenden Zusammenhang ferner Ralph Christensen, Gesetzesbindung oder Bindung an das Gesetzbuch der praktischen Vernunft - eine skeptische Widerrede zur Vorstellung des sprechenden Textes, in: Mellinghoff/Trute (Hrsg.), Die Leistungsfähigkeit des Rechts, Heidelberg 1988, S. 95 ff. 2 Dazu näher Friedrich Müller, Juristische Methodik (Anm. 1), Abschn. 622.1 in Diskussion der Abschweifungen „auf moralischer Ebene" bei W. Enderlein, Abwägung in Recht und Moral, Freiburg / München 1992.

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gaben seines Tuns auch im öffentlichen Recht diskret behandelt. Immerhin hat sein Gründervater, Carl Friedrich von Gerber, der von der Zivilrechts- zur Staatsrechtswissenschaft übergewechselt war, hervorgehoben, daß die positivistische Behandlungsweise der praktischen Rechtsfragen, dieses neue Naturrecht der Bourgeoisie, durchweg dazu angetan war, die herrschenden Verhältnisse zu befestigen. Seit Max Weber leuchtet der Gedanke ein, die Betriebsförmigkeit der bürgerlichen Rechtsordnung sei von der internen Rationalität des wahren Betriebs, des kapitalistischen, geborgt. Das übliche Schlag wort dafür, in der kleinen Münze des juristisch Alltäglichen, lautet „Rechtssicherheit". So springt denn, wo überhaupt auf Verfassungsfragen in diesem Bereich reflektiert wird, die Wichtigkeit einer elaborierten juristischen Methodik nur für den Rechtsstaat ins Auge. Auch wo (verfassungs-)politischer Status und Stellenwert juristischer Arbeitsweisen konzentriert untersucht wurden 3, war zunächst viel vom Rechtsstaat zu handeln: vom positiven Recht her beurteilt, bestimmt er durchweg den Komplex „Bundesstaat", operationalisiert und begrenzt die Zielbestimmung „Sozialstaat" und prozeduralisiert „Demokratie". Sogar der Code „rechtmäßig/rechtswidrig" wird, als seien die geltenden Vorschriften nicht in demokratischen Verfahren erzeugt worden, nur in dieser Richtung eingeführt. Auch traditionskritische Methodiken setzen allein auf so gemeinte Rationalität: gesetzliche Tatbestände erscheinen als Formalisierung von Politik. In der widerrechtlichen Dezision schlägt die Politikbestimmtheit positiven Rechts sozusagen ohne Rücksicht auf solche Formalisierung durch; punktuell erzwingt sie die Verbiegung der vorhandenen oder (beim ,Richterrecht 4) die Unterstellung einer nicht gegebenen rechtsstaatlich-formalen Vorgabe. Juristische Methodik hat dagegen zu arbeiten: indem sie Suggestivargumente, rhetorische Floskeln, allzu vage oder zu Vagheit verführende Topoi („Abwägung", „teleologische Auslegung", usw.) vermeidet und an ihrer Stelle möglichst strikte, technisch rationale, zu maximal offener Begründung veranlassende Regeln ausarbeitet. Das alles ist so wichtig wie richtig, aber nicht in erster Linie oder gar nur für den Rechtsstaat. Rechtsbruch, verbiegend oder unterstellend, hat weniger eine Formqualität verletzt als vielmehr das Ergebnis demokratischer Vorgänge, in der Regel langer und mühsamer politischer wie semantischer Kämpfe. Genaue Methodik hilft entscheidend, ihn wissenschaftlich zu kritisieren und, soweit das Verfahrensrecht das erlaubt, zu überprüfen, zu beseitigen. Aber wenn die Fehlentscheidung so nachweisbar wird, bedeutet das viel für die weitere, die außerinstitutionelle Debatte, für politische Reaktionen vom rechtmäßigen Protest bis zum rechtspolitischen Bemühen um eine etwaige Änderung der betroffenen Normtexte - viel also für das Fortsetzen der „kreis"förmigen Textstruktur dieser Rechtsordnung, des Rechts,Jcreislaufs", mit nunmehr wieder primär demokratischen Mitteln. Das Strukturmodell, das diesen Ordnungstypus kennzeichnet, folgt aus der Verfassungsgebundenheit der Gesetzgebung, aus der Rechts- und Verfassungsbindung aller sonstigen Staatstätigkeit und allgemeiner aus der Rechtsbestimmtheit legiti3

Bei Friedrich Müller, Juristische Methodik und Politisches System, Berlin 1976.

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men staatlichen Verhaltens. Für einzelne Funktionen, Verfahren, Entscheidungsarten sind diese Grundsätze positivrechtlich verschieden ausgeprägt; ein Beispiel bilden Begründungspflichten 4. Legislatorische sind durch Verfassung und durch parlamentarisches Geschäftsordnungsrecht begründet, erklären sich demokratisch; administrative und die besonders sorgfältig ausgestalteten richterlichen haben für die Gegenwehr der Betroffenen im fraglichen Verfahren vor allem rechtsstaatliche, über dieses hinaus aber, wie soeben gesagt, (rechts-)politische und damit sogleich wieder demokratische Bedeutung. So jedenfalls sieht es das Methodenkonzept der Strukturierenden Rechtslehre. Nun ist gerade dieses5 unter Gesichtspunkten der Demokratietheorie kritisiert worden. Ein Modell der Rechtsnorm, das „den Regelungsbereich der Norm unter spezifischen Aspekten in die Norm hineinverlagert", sei ungeeignet, „dem Gesetzgeber ein Stück des unter justizstaatlichen Entwicklungen verlorenen Terrains zurückzugewinnen". Demokratische Legitimität rechtsstaatlicher Legalität werde nur noch an juristischer Methodik festgemacht, die als Demokratieersatz erscheine6. Solcher Soziologismus nehme dem Gesetzgeber die Chance, Realität normativ zu steuern; die Justiz, sekundiert von der Rechtswissenschaft, mache den Gesetzgeber sprachlos. Sollte dies wirklich die Gefahr sein, so wird sie nicht durch Rückkehr zu Gesetzespositivismus und geisteswissenschaftlicher Hermeneutik gebannt werden können. Dagegen unterwirft die kritisierte Position den Einbezug der Realdaten in die praktische Entscheidung, der unumgänglich ist, dem Prüfungsmaßstab des Normprogramms; in dieses sind - als dem Ergebnis der Interpretation aller Sprachdaten des Rechtsfalls - noch keine Realdaten eingegangen. Die von der Kritik befürchtete Zirkularität setzt nicht ein; die Gesamtheit der Konkretisierungselemente ist zugunsten derjenigen Daten hierarchisiert, die demokratisch erzeugt wurden 7. Der nachpositivistische, der strukturierende Neuansatz von Rechts(norm)theorie und Methodik schwächt nicht, sondern stärkt die demokratischen Impulse, weil er 4

Nachweise zu deren Normierung im positiven Recht bei Friedrich Müller, Juristische Methodik und Politisches System (Anm. 3), S. 96f.; ebd., S. 95 ff., zu „Textstruktur". Zu diesem Konzept ferner ders., Juristische Methodik (Anm. 1), Abschn. 312.7. 5 Von Ingeborg Maus, Zur Problematik des Rationalitäts- und Rechtsstaatspostulats in der gegenwärtigen juristischen Methodik am Beispiel Friedrich Müllers, in: Abendroth/Blanke/ Preuß u. a.(Hrsg.), Ordnungsmacht?, Frankfurt a.M. 1981, S. 153 ff.; vgl. auch dies., Plädoyer für eine rechtsgebietsspezifische Methodologie oder: wider den Imperialismus in der juristischen Methodendiskussion, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1991, S. 107 ff. 6

Ingeborg Maus, Zur Problematik (Anm. 5), S. 172. - Zur Diskussion vgl. Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre (Anm. 1), S. 293 f., u.ö.; dens., Juristische Methodik (Anm. 1), ζ. B. Abschn. 312.5: 621.; Frank Laudenklos, Rechtsarbeit ist Textarbeit. Einige Bemerkungen zur Arbeitsweise der „Strukturierenden Rechtslehre", in: Kritische Justiz 1997, S. 142 ff., 153 ff.; ebd. das im Text folgende Zitat (S. 155). 7 Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre (Anm. 1), z. B. S. 437 f., und durchgehend; ders., Juristische Methodik (Anm. 1), ζ. B. Abschn. 323; 33, und durchgehend.

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Strukturen, Funktionen und Arbeitsweisen im Rechtssystem gemeinsam analysiert, die hergebrachten Illusionen über den Normtexten bereits innewohnende „Bedeutungen" abarbeitet und dazu übergeht, die Bedingungen, unter denen juristisches Handeln täglich stattfindet, realistisch handhabbar zu machen. Damit ist dem Gesetzgeber mehr an Möglichkeiten eröffnet als unter dem positivistischen Paradigma; denn „verlorenes Terrain kann er sich nur selbst zurückerobern, indem er die Bedingungen praktischer Rechtsarbeit ständig im Blick behält und bei der Produktion von Normtexten deren technische Umsetzung im Justizalltag berücksichtigt und die Normtextproduktion darauf abstimmt". Das unter den Struktur- und Funktionsvorgaben dieses Typs von Rechtsordnung an Demokratie Mögliche wird so praktisch freigelegt. Das Bemühen, demokratische Impulse optimal umzusetzen, ist leitend dafür gewesen, die Architektur und den Begriffsapparat dieses Konzepts bis in die Einzelheiten zu formen; die Priorität dieser verfassungspolitischen Intentionen ist gerade auch technisch entfaltet und durchgehalten. Daß der Bruch nicht nur mit Einzelheiten, sondern mit Grundlagen der Tradition zunächst irritiert, ist nicht zu vermeiden. Wenn aber das Urvertrauen der hergebrachten Lehren in „das" Wort und „die" Schrift, in „den" Sinn und „die" Bedeutung, in grammatische „Wortlautgrenze", in „Sein versus Sollen" und schlichte Bindung des Richters an „das Gesetz", wie es im Gesetzbuch zu erblättern ist, sich als haltlos herausstellt, dann muß demokratische Rechtslehre eben um der Realisierbarkeit von Demokratie willen - das diagnostizieren; muß sie neuartige Wege einschlagen, um demokratische Entscheidungen - in der Vorform von Normtexten im Gesetzblatt - in wirksame Impulse für rechtsverbindliche Entscheidung des Einzelfalls zu transformieren. Nicht nur Sartre sehe „Freiheit", auch demokratische „Normativität" gibt es nur in der Situation; und die „Situation" der Rechtsarbeit heißt Sprachlichkeit 8. Wenn diese Einsicht nicht in die Grundlagen und von daher folgerichtig in die Einzelheiten des Tuns der Juristen eingriffe, wäre alles Berufen auf Interdisziplinarität, auf eine Reflexion juristischer Theorie und Methodik ,im Feld von Sozial Wissenschaft und Sprachwissenschaft 4 wieder einmal nur Appell gewesen, die übliche Stukkatur. Daher waren, im genauen Sinn des „Strukturierungs"-Vorhabens 9, die das Tun praktischer Juristen aufschlüsselnden Arbeitsbegriffe nicht nur zu differenzieren und zu operationalisieren, sondern auch in eine insoweit nicht verfügbare Rangfolge zu bringen: Die Menge der Realdaten des zu entscheidenden Falles (Sachbereich / Fallbereich) kann beim Versuch, als Normbereich konstituiert zu werden, in doppelter Weise am Normprogramm (der Synthese aus den schon verarbeiteten 8

Friedrich Müller, Recht - Sprache - Gewalt, Berlin 1975, S. 37 dazu, daß „das spezifisch Rechtliche an Herrschaftszusammenhängen und an der die Rechtsentscheidung letztlich sanktionierenden Gewaltanwendung ... an Sprache gebunden (ist) und damit an deren allgemeine Bedingungen". - Eingehend dazu ders., Juristische Methodik (Anm. 1), Abschn. 591, u.ö.; ders. (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, Berlin 1989; ders./Ralph Christensen /Michael Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, Berlin 1997. 9 Vgl. Friedrich Müller, Juristische Methodik (Anm. 1), ζ. B. Abschn. 613.

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Sprachdaten) scheitern, sei es aus Mangel an Relevanz für dieses, sei es wegen Unvereinbarkeit mit ihm. Ferner waren für die Fälle, in denen es zu methodologischen Widersprüchen zwischen einzelnen Konkretisierungsfaktoren kommt, Vorzugsregeln zu entwickeln. Diese folgen, nach Konfliktgruppen unterschieden und abgestuft, der allgemeinen Linie, den je normtextnäheren Elementen - also denen, die Ergebnis demokratischer Auseinandersetzung sind - Priorität einzuräumen; dabei handelt es sich nie mehr um den „bloßen", den unvermittelten, sondern immer schon um den interpretierend durchgearbeiteten Gesetzeswortlaut. Solche Strukturierungen sind nicht diskursintern, nicht methodologisch begründet, sondern diskurs-äußerlich durch geltendes Recht: durch die Demokratienormen dieser vertexteten Verfassungsordnung und durch ihre sie stützenden Rechtsstaatsgebote. Außerhalb der im engeren Sinn parlamentarischen Vorschriften ist überhaupt das wirksamste Mittel, ein gewisses Maß an demokratischer Bestimmung der gesellschaftlichen Verhältnisse durchzusetzen, eben die Normtextgruppe, die man die rechtsstaatliche nennt. Das Setzen von Normtexten rechtfertigt sich allgemein dadurch, daß die vorgesehenen Verfahren durch die zuständigen Organe eingehalten werden und daß die Textergebnisse dieser Verfahren nicht Texten des Grundgesetzes widersprechen. Das Setzen solcher Texte ist in aller Regel jahrelang, an besonders umstrittenen Punkten wie bei der strafrechtlichen Regelung des Abbruchs von Schwangerschaften auch jahrzehntelang umkämpft, bis in kleinste Nuancen der Formulierung und ihrer Systematik umstritten. Die so fixierten Impulse wirken sich aber nur dann tatsächlich aus, wenn sich die damit befaßten Juristen in Exekutive und Justiz, aus Respekt vor ihrer demokratischen Erzeugung, in strikt rechtsstaatlicher Arbeitsmethodik auf sie verpflichtet sehen. Soweit Gesellschaft überhaupt durch Recht gesteuert, beeinflußt wird, liegt in ehrlich rechtsstaatlichem methodischen Handeln der Rechtsarbeiter die einzige Chance demokratischer Mitbestimmung dessen, was vor sich geht. Ein besonders instabiler Punkt in solchem Bestimmungs-Transfer, ausgehend von Normtexten, ist das, was herkömmlich „Wortlautgrenze" genannt wird. Richtern und sonstigen Rechts„anwendern" werden nicht wenige Lizenzen bei ihrem Tun eingeräumt, aber die genannte Grenze dürfe nicht überschritten werden: nämlich der „mögliche Wortsinn", der „den Bereich bildet und die Grenzen absteckt, innerhalb deren ein vom Gesetz verwendeter Begriff überhaupt ausgelegt werden kann" 10 . Nun ist, ganz abgesehen von der Unterschiedlichkeit der Methodenlehren, Methodik überfordert, wenn sie dem Handeln der Juristen eine verbindliche Grenze vorgeben soll. Weder der „Wille des Gesetzgebers" noch der oft so genannte „Wille des Gesetzes" taugen als stabile, mit sich selber identische Basis dafür, derartige Grenzen zu ziehen. Es kann, in der Sprache des Bundesgerichtshofs, ein ge10

Insoweit repräsentativ für das alte Paradigma: BGHZ 46, 74 ff., 76 m.w.Nw. - Diskussion bei Friedrich Müller, Juristische Methodik (Anm. 1), ζ. B. Abschn. 320; 59; dems./Ralph Christensen/Michael Sokolowski (Anm. 8).

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setzlicher Begriff durchaus auch außerhalb solcher „Grenzen" verwendet werden wie werden sie denn bestimmt und, vor allem, wer darf sie ziehen? Das Angeben einer Linie rund um den „möglichen Wortsinn" hat wenig mit Methodik zu tun, um so mehr dagegen mit dem staatlichen Kompetenzaufbau, dem gerichtlichen Instanzenzug und den prozeßrechtlichen Möglichkeiten noch weiterer Rechtsbehelfe. Noch weniger zu tun hat es mit Sprache und mit der Wissenschaft von ihr. In der Sprache führen Wörter und Sätze keine Grenzen mit sich, soweit Verständlichkeit gegeben und damit die Funktion von Sprache gewahrt ist. Im Recht ist das aber nicht trennscharf, denn verständlich im Sinn von verstehbar sind Gegenpositionen oder konkurrierende Auslegungen durchaus. Doch kann „die" Wortlautgrenze wenn auch gegenständlich weder voraussetzbar noch sprachlich / linguistisch begründbar - bedeuten, ein bestimmtes Arbeitsergebnis sei sprachlich und methodisch zwar möglich, im institutionellen Kontext „demokratischer Rechtsstaat" aber nicht mehr vertretbar 11. Dieses Problem ist aber - „möglicher Wortsinn" - keineswegs schon in der Sprache gelöst, also nicht dank lexikalisch mit Autorität formulierbarer und für die Einzelentscheidung ablesbarer Eigenschaften der Normtexte und ihrer einzelnen Ausdrücke. Es ist vielmehr eines, das der juristischen Praxis immer wieder mit jedem neuen Entscheidungsfall aufgegeben wird. Die sich aus dem normierten Zusammenhang des Politischen Systems ergebenden Schranken der Rechtsarbeit sind nur in deren Verlauf bestimmbar, im Vorgang der fallbezogenen Argumentation. Die Arbeitsprozesse der Juristen sind demokratisch verpflichtet und eben aus diesem Grund rechtsstaatlich durchgeformt. Die vertretbare, sie mitsamt der von ihnen ins Spiel gebrachten staatlichen Gewalt rechtfertigende Begründung liegt in dem gesamten Arbeitsvorgang; und nicht in einer dem Normtextausdruck χ aufpfropfbaren „Eigenschaft" (sei es von „Bedeutung", sei es von „Bedeutungsgrenze"). Nur so bleiben die Normtexte des geltenden Rechts „verschont von Forderungen, die in der Sprache nicht einzulösen sind und sich an anderen objektiven oder subjektiven Größen des Rechtsfindungsprozesses abzuarbeiten hätten" 12 . Demokratische Gesetzgebung und Regierung sind politische Kernfunktionen, Exekutive und Justiz sind mittelbar politisch. Die Vermittlung ihrer Bindung an demokratische Politik besteht in dem - durch Normtexte des Grundgesetzes formulierten - Postulat, das sie an die geltenden Vorschriften bindet. Demokratie fordert einen ehrlichen Transfer der von ihr so und nicht anders gegebenen Entscheidungsimpulse in die konkreten Entscheidungen einzelner Fälle. Aber alles an dieser Aussage - das „so und nicht anders", die „Impulse", der „Transfer" und der verbindliche Entscheid im Rechtsfall - ist nicht nur „sprachlich ausgedrückt", so als gebe es ein Etwas, das sich der Sprache als Werkzeug bedienen könne; es ist ganz einfach Sprache. Ein Bemühen um demokratische Legitimität kraft rechtsnormativer Bin11

Eingehend mit Nw. Friedrich Müller, Juristische Methodik (Anm. 1), ζ. B. Abschn. 320; 59; ebd., 592 näher zu „Normprogrammgrenze". 12 So Wolfgang Gast, Besprechung von F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, in: ARSP 1991, S. 556.

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dung kann nicht ehrlich sein, solange es sich (ζ. B. gesetzespositivistische, logisch· semantische, merkmalssemantische) Wunschbilder macht. Nicht der Wortlaut kann das gewährleisten, vorgeben; nur das Arbeitsergebnis aller Sprachdaten, das Normprogramm, kann als im Fall produzierte Größe für dieses Bemühen einstehen. Seine Grenzfunktion markiert eine letzte Auffanglinie zulässiger Konkretisierung, also für das zentrale demokratisch-rechtstaatliche Postulat der Verfassungs- und Gesetzesbindung (mit allen daraus sich ergebenden Vorrang-, Vorbehalts-, Kollisions-, Maßstabs- und Kontrollvorschriften, wie z. B. Art. 19 Abs. 1 und 2, 20 Abs. 3, Art. 31, 79 Abs. 1 und 3, 93 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Art 100 GG). Jenseits dieser Linie sollen rechtliche Vorschriften nicht mehr durch positivrechtlich bestellte Setzer von Rechts- und Entscheidungsnormen geändert werden können (Richter, Exekutivfunktionäre), sondern nur noch von kraft Verfassung ermächtigten Setzern von Normtexten, also von Instanzen der Legislative. Das ist der Kern der Einwirkung des Gewaltenteilungsprinzips auf die Grenzen juristischer Arbeitsmethodik in der rechtsstaatlichen Demokratie. Um so bemerkenswerter ist es, daß die eklatanteste Mißachtung der traditionellen „Wortlautgrenze", nämlich das Richterrecht, in diesem Zusammenhang nicht genannt, ja von eben dieser Tradition hochgeschätzt und gegen kritische Analysen13 aufgeregt verteidigt wird. Demokratie, Rechtsstaat und spezielle Verfassungsartikel (so Art. 20 Abs. 3, 92, 97 Abs. 1 GG) verlangen, daß Richter und sonstige entscheidungsbefugte Stellen von geltenden Normtexten ausgehen und diese vertretbar verarbeiten. So schafft etwa der Richter die konkreten Anordnungstexte in Auseinandersetzung mit dem Fall, allgemein formuliert als Rechtsnorm, fallspezifisch als Entscheidungsnorm. Beim Ausüben seiner richterlichen Gewalt ist er aber Zwängen ausgesetzt. Die Begründungspflichten des positiven Rechts veranlassen ihn zu einem Rechtfertigungstext, der hinreichend plausibel sein muß, soll er nicht angegriffen und in höheren Instanzen aufgehoben werden. Der Richter muß vor allem darlegen können, daß die von ihm formulierten Texte (der Rechtsund der Entscheidungsnorm) den legislatorisch erlassenen „geltenden" Zeichenketten, den Normtexten der Gesetzbücher, methodisch zurechenbar sind. Solchen Verpflichtungen und Erschwernissen weichen richterrechtliche Entscheidungen aus. Sie schreiben sich von Anfang an nicht in die demokratisch-rechtsstaatliche Textstruktur ein. Sie erarbeiten nicht nur die geforderten Anordnungstexte im Fall, sondern produzieren die der Legislative vorbehaltenen Zurechnungstexte, also die Normtexte, gleich selbst mit. Eine unzureichende Selbstreflexion der Methodenlehre, noch befangen in Metaphern des 19. Jahrhunderts, im positivistischen Paradigma, erleichtert solche Usurpation der Rolle des demokratischen Gesetzgebers.

13 Friedrich Müller, ,Richterrecht', Berlin 1986. - Zur Debatte vgl. nur einerseits H. Sendler, Richterrecht - rechtstheoretisch und rechtspraktisch, in: NJW 1987. S. 3240 ff., andererseits Ralph Christensen, Richterrecht - rechtsstaatlich oder pragmatisch?, in: NJW 1989, S. 3194 ff.

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II. Dagegen sichert, im Sinn des bisher Gesagten, rechtsstaatliche Arbeitsweise der professionellen Juristen die Ausführung dessen, was in demokratischen Verfahren angeordnet wird. Und die dunkle Seite des Mondes? Über die oben angedeuteten Abstriche hinaus sind noch viele weitere zu machen. Real ist der Radius des Handelns der Rechtsstäbe eingeschränkter als bislang unterstellt. (Noch) nicht alles an individuellem und gesellschaftlichem Verhalten ist normiert. Soweit es normiert ist, wird es nur im Ausnahmefall an Juristen herangetragen: diese bekommen nur die „geplatzten" Konflikte zu Gesicht, die nicht mehr intersubjektiv unter den Beteiligten haben gelöst werden können und sich daher jetzt auf die Legitimität hin orientieren, die von der Gesamtgruppe angeboten wird, auf deren geltende Rechtsordnung. Das quantitativ Normale bleibt, auch in einer Nation von Rechthabern, doch die Regelung von Streit außerhalb förmlicher Verfahren. Ferner wird Recht nicht nur im Konflikt verwirklicht, sondern gleichrangig im Befolgen, im Sich-fügen, durch Kompromiß und Arrangement - typischerweise unter Nichtjuristen und damit ohne Einfluß juristischer Methodenhaltung und des in der Demokratie geforderten Ethos der Rechtsarbeiter. Geltendes Recht wird also weithin informell ausgestaltet und ausgehandelt (die Rechtsordnung bietet dafür Formen an, vor allem vertragliche), aber auch durch politische, soziale, auch durch nicht-öffentliche Prozeduren kontrolliert, verändert, obsolet gemacht. Andere Grenzen zeigen sich innerhalb der förmlichen Verfahren. Nicht nur die Normadressaten, auch die Norm„anwender" unterliegen den verformenden Kräften sozialer Ungleichheit. Soweit ein gesellschaftliches Ensemble auf Ungleichheit beruht, sie bestehen läßt oder noch weiter verschärft, wirken deren Kraftfelder bereits über kennzeichnend vage, kompromißhafte oder sogar unredlich formulierte Normtexte in die Rechtsarbeit hinein; zusammen mit der Abhängigkeit von normierten Strukturen und Funktionen (Verfahren, Kompetenzen, Kontrollen, Behörden- und Gerichtsverfassung, rechtlich verfestigten Hierarchien), von normierten Rollen (Statusvorschriften, Disziplinarrecht, Regeln über Ausbildung, Prüfung, Zugang, Karriere) und ohnehin, bei allen weisungsgebundenen Funktionen - so bei Regierung, Verwaltung, Staatsanwaltschaft - von Einzelweisungen. Auch für die Arbeit der Richter, die graduell am wenigsten fremdbestimmt ist, summieren sich die formellen Abhängigkeiten, auf der Basis inhaltlicher Bindung an mehrheitlich durchgesetztes positives Recht, zu so gut wie unausweichlicher Fixierung an den Status quo. Weiter verstärkt wird dies durch informelle Determinanten, die unter Stichwörtern wie: Schichtgebundenheit von „Haltungen", „Standes"überformung, Professionalisierung und „Vorverständnis" bekannt sind 14 . 14 Eingehende Untersuchung der „Realitätsgrundlage der juristischen Methodik", zu ,Rechtsstaatliche Rationalität und soziale Schichtung" und zu dem hieraus begründbaren

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Die nicht normativ-präskriptive, sondern de facto vorbildhafte Wirkung einer ausgearbeiteten rechtsstaatlichen Methodik wird durch solche Gegebenheiten real eingeschränkt, auch wenn die sie tragenden Vorschriften der rechtsstaatlichen Demokratie ohne textuelle Einschränkung verpflichten. Gemäß dem Konzept einer entwickelte Rechtsordnungen allgemein kennzeichnenden Geltungsstruktur ist aber auch in Demokratien das wirksame Gelten der als „verbindlich", „vorrangig", „unverbrüchlich" normierten Regeln vom System nicht etwa durchgängig und gleichheitlich „gewollt" 15 . Das Verwirklichen des geltenden Rechts ist systemischen Hindernissen Schicht- und nicht zuletzt funktionsspezifischer Art ausgesetzt. Neben der Sanktion für aufgedeckte Normbrüche hat das Nicht-Sanktionierenmüssen der unentdeckt bleibenden - die Chancen dafür sind bekanntlich weitestgehend schichtabhängig - für das Ganze eine unersetzliche Stabilisierungswirkung. Schließlich enthält das geltende Recht, auf die einzelnen Regelungsbereiche verstreut, nicht wenige Ausnahmen vom Legalitätsgrundsatz, vom Rigorismus der Unverbrüchlichkeit der Normordnung; sie machen - als primäre oder sekundäre normative Implikationen - es möglich, feste Rechtsbindung zu lockern und in diesem Rahmen „geltende" Regeln sogar parteilich anzuwenden. Zur Klarstellung: nicht die Normbrüche als solche stützen das Politische System, auch nicht die in den diversen Dunkelfeldern begangenen; wohl aber die Tatsache, daß sie, obwohl sie begangen wurden, im Dunkelfeld verbleiben und also nicht sanktioniert werden müssen. Es versteht sich, daß dieses mit „Geltungsstruktur" bezeichnete Kontinuum aus Geltung und Nichtgeltung von allen Verfassungsgrundlagen besonders die Demokratie schwächt; und daß die Gegenstrategie einer ehrlichen Arbeitsmethodik der sich auf Demokratie verpflichtenden Rechtsarbeiter hier gegen eine besonders starke Strömung anzukämpfen hat. Wenn möglich noch grundsätzlicher sind die Hindernisse, die sich einer „unverbrüchlichen" Bindung praktischer Rechtsarbeit an demokratische Vorgaben in der Sprache selbst entgegenstellen. Alles, was nicht im unmittelbaren Vollzug besteht (Räumen der Fahrbahn, Pfänden einer Summe, Wegschließen von Gefangenen), ist durch und durch sprachlich. Der populären Standesmeinung, „die Sprache" sei eben nun einmal „das Werkzeug des Juristen", macht das allerdings kein Kopfzerbrechen. Nach dem positivistischen Paradigma und seinen zahlreichen „anti"positivistischen Derivaten können Normtexte zuverlässig binden, sind die üblichen Rechtsbegriffe durchaus bestimmt. Jeder Rechtsfall kennt eine richtige Entscheidung, nämlich die „Anwendung" des inhaltlich objektiven, textlich objektivierten „Willens des Gesetzgebers", in anderer Version: „des Gesetzes" auf die Fallfrage. Die Entscheidung wird durch Text kognitiv verläßlich vermittelt, vom Richter kognitiv ermittelt und durch seinen Beschluß umgesetzt. Postulat eines „Grundrechts auf Methodengleichheit" bei: Friedrich Müller, Juristische Methodik und Politisches System (Anm. 3), S. 52 ff., 57 ff., 65 ff. 15 Vgl. Friedrich Müller, Juristische Methodik und Politisches System (Anm. 3). S. 98 ff., 103 f.

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Willensgeleitete Faktoren werden bei Randphänomenen eingeräumt: bei Ermessensvorschriften, Generalklauseln, „unbestimmten Rechtsbegriffen", in Fällen offensichtlichen Bedeutungswandels oder dann, wenn „Begriffskern" und „Begriffshof 4 abgeschichtet werden sollen 16 . Aber an der grundsätzlich stabilen Semantik der Rechtssprache soll all das nichts ändern. Auch solche „Rand"fälle seien nach dem Code „richtig / falsch" entscheidbar, und dasselbe gelte von der Relation sprachlicher Zeichen auf „außersprachliche Realität. Auch hier sind sich die Juristen der Sprache als ihres Werkzeugs sicher: das (Schrift-)Zeichen ist „repräsentierender" Träger von Merkmalen eines Segments, das „außerhalb" der Sprache liegt, weil nämlich „in" der Wirklichkeit. Der Jurist findet demnach die richtige Wirklichkeitsreferenz aus den Texten, indem er die wesentlichen Eigenschaften des Referenten (= des bezeichneten Realgegenstands) ermittelt und aus diesen verallgemeinerten Eigenschaften den Begriff als Sprachzeichen im Gesetzestext zusammensetzt. Sowohl „Auslegen" von Normtexten (traditionell verwechselt mit „Normen") als auch das Referenzhandeln der Juristen muß man im noch herrschenden Schema „als Puzzlespiel bezeichnen: Der Rechtsanwender muß die wesensmäßigen Eigenschaften der im Sachverhalt strittigen Gegenstände, Abstrakta, etc. herausfinden; aus dem Baukasten der Sprache gilt es sodann die diese Merkmale bezeichnenden Ausdrücke herauszugreifen und sie zu dem gesuchten Begriff zusammenzusetzen, unter den sich schließlich der Sachverhalt subsumieren läßt" 17 . Linguistisch besteht die Mythologie also darin, für jeden Rechtsfall liege „die", nämlich die richtige Lösung bereits in den Gesetzen, sie sei nur noch „individualisierend" herauszulegen. Dieses vertraute Modell macht gewaltsame Voraussetzungen: jeweils einzig richtige Deutung, inhaltlich eindeutig bestimmbares Sinnzentrum, objektive Sinneinheit der Texte. Der entscheidende Jurist subsumiert demnach, mehr oder manchmal auch weniger syllogistisch, den Fall kognitiv unter die Begriffe einer als lex ante casum vorgegebenen Rechtsnorm. Vor der Instanz einer sich seit langem stärker an der Realität sprachlicher Vorgänge orientierenden Sprachphilosophie und Linguistik erscheinen die Voraussetzungen, die das hergebrachte Paradigma machen muß, als illusionär 18 .

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Grundsätzlich dazu Ralph Christensen, Artikel „Begriff, Begriffsbildung", in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Darmstadt/Neuwied 1986, 2/60. 17 Bernd Jeand'Heur, Gemeinsame Probleme der Sprach- und Rechtswissenschaft aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, Berlin 1989. S. 17 ff., 22. - Bahnbrechend ders., Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, Berlin 1989. 18 Vgl. die Nachweise und eingehenden Auseinandersetzungen ζ. B. bei Bernd Jeand'Heur (Anm. 17); Ralph Christensen (Anm. 1); demsWas heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische Untersuchung, Berlin 1989; Dietrich Busse, Textinterpretation, Opladen 1992; dems., Recht als Text, Tübingen 1992; dems., Juristische Semantik, Berlin 1993, Friedrich Müller (Hrsg.). Untersuchungen zur Rechtslinguistik, Berlin 1989; dems., Juristische Methodik (Anm. 1).

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Damit endet nicht die Wichtigkeit demokratischer Vorgaben für die Rechtsarbeit; aber da auch diese Vorgaben Normtexte sind und weiter nichts, gilt es auch hier von einigen Illusionen Abschied zu nehmen. Die juristische Auslegungstätigkeit stößt durchgehend auf Fragen, die nicht schon in der Sprache vor-beantwortet sind. „Verstehen" und „Interpretation" sind nur in der ersten Eingangsphase eines Rechtsstreits aktuell; der förmlich gewordene Rechtsfall ist nur noch mit der erheblich komplexeren Kategorie der „Arbeit mit Texten" im Rahmen staatlicher Institutionen und ihrer institutionellen Gewalt begreifbar. Dieser angemessen sind nicht bloß additive Modelle beispielsweise einer „logischen Semantik 19 , sondern erst ein integrierendes Modell der juristischen Argumentation als semantischer Praxis 20. Der Weg vom Normtext (im Gesetzbuch) zum Text der Rechtsnorm (dem Leitsatz der Entscheidung) ist nicht verstehbar als Anwendung objektiver semantischer Regeln, sondern nur als aktiver Semantisierungsvorgang. Das macht demokratische Bestimmung juristischen Handelns nicht unmöglich, aber voraussetzungsvoller. Sprache stellt Verständigung her, kann aber keine verbindlichen Hierarchien aufrichten. Rangfolgen entstehen überhaupt erst durch Mechanismen einer „Ordnung des Diskurses" (Foucault), die Verstehen nicht vermehren, sondern es verknappen. Von den möglichen Arten, einen Text zu lesen, ist kraft selektiv symbolischer Gewalt 21 dann nur eine legitim. Dabei ist nicht nur der Zwang juristischer Instanzen, überhaupt zwischen möglichen Lesarten autoritativ entscheiden zu müssen, gewaltgeprägt, sondern auch die Art und Weise, wie das geschieht. So kann sich etwa die grammatische Auslegung weder in der Fach- noch gar in der Alltagssprache auf einen einheitlich stabilen Sprachgebrauch stützen; oder eröffnet die systematische Interpretation nicht etwa den Kontext des fraglichen Gesetzes Wortlauts; sondern Kontext auf Kontext, die begrenzt, ausgewählt und abgeschnitten werden müssen. Das alte Paradigma scheitert - auch - an der Sprache. Diese müßte zu einem System stabiler Oppositionen eingefroren werden, um der Auslegung eine verläßliche Basis zu liefern: durch Angabe eines dem Spiel sprachlicher Differenzen entzogenen Archimedischen Punkts, von dem aus man über Sprache urteilt. Wie immer man ihn bestimmt - als „Gerechtigkeit", als „die Rechtsidee" oder positivrechtlich als den demokratischen Gesetzgeber - , dieser Punkt ist, sobald er benannt und in die tatsächliche Rechtsarbeit eingeführt wird, immer schon innerhalb des Spiels, nicht oberhalb seiner. Das System beherrschbarer sprachlicher Oppositionen bleibt eine Chimäre. Es gibt keine Natur des Erkenntnisgegenstandes Text, die dem Verstehen und „Anwenden" eine bestimmte Grenze vorgeben könnte. Auch diese „Natur", wie auch immer zu umschreiben, 19 Dazu Friedrich Müller, Juristische Methodik (Anm. 1), Abschn. 314.1; Dietrich Busse, Juristische Semantik (Anm. 18); Ralph Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (Anm. 18). 20 Am Beispiel des gerichtlichen Streitverfahrens eingehend: Friedrich Müllerl Ralph Christensen / Michael Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit (Anm. 8). 21 Zu diesem Begriff: Bourdieu/ Passeron, Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, Frankfurt am Main, 1973.

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steht uns nur als Text zur Verfügung; ist den Vorgängen der Semantisierung, welche die Rechtsarbeit ausmachen, nicht vorgeordnet, sondern selbst unterworfen 22. Die juristische Zuständigkeit, zu entscheiden, gibt den Juristen nicht auch eine linguistische Kompetenz, Sprache zu fixieren. Der Sprache gegenüber sind die Rechtsarbeiter kompetent-ohnmächtige Sprecher wie alle anderen Sprecher auch. Mächtig sind sie allein im Rechtssystem - ihrer Rechts-, nicht etwa einer überlegenen Sprachkompetenz wegen. So hat selbst die rechtskräftige Entscheidung nur begrenzte Reichweite: Ende der Rechtsbehelfe und Umsetzung des Tenors der Entscheidung, des Textes der Entscheidungsnorm, auf den Wegen der Vollstreckung. Für Sprache und Sprechen ändert die Rechtkraft nichts. Das Sprechen über den Fall und über (auch gegen) das formal unangreifbare Verdikt bleibt nach diesem so legitim wie zuvor. Das gilt nicht nur für diesen Endpunkt des Rechtskreislaufs, sondern auch für den „Aufgangs"punkt geltender gesetzlicher Normtexte: auch über das nach politischen und semantischen Auseinandersetzungen gültig in Kraft gesetzte Parlamentsgesetz kann sprachlich mit gleicher Legitimität weiter gestritten werden wie vor seinem Erlaß, und nicht selten mit erheblicher Auswirkung. Nur innerhalb des Rechtsdiskurses hat der Normtext Geltung, so wie die nicht mehr angreifbare Entscheidung nur innerhalb seiner Rechtskraft haben kann. Rechtsarbeit ist angesichts dessen genauso ernsthaft und verantwortlich auf ihre demokratische Rolle verwiesen, als entspräche das alte Paradigma der Realität; aber sie muß sich dabei klarmachen, wie das Terrain beschaffen ist, auf dem sie agiert. Rechtsarbeit ist nicht autonom „rechtliches" Handeln, das eine Kategorie in sich bildete, das sich von hier aus der Sprache erst sekundär für seine Zwecke bedienen könnte. Sie ist selber durch und durch Sprache, Handeln in Sprache. In der Trias Recht - Sprache - Gewalt sind die zweite und die dritte ursprüngliche Phänomene; das Recht ist die Arena ihres Zusammentreffens, und im Rechtsstaat: ihrer methodischen Bearbeitung. Eine realistische Rechtslehre richtet sich darauf ein und widersetzt sich darin dem historischen Positivismus. Nicht Normen lösen eine Rechtsfrage, nicht ihre Wortlaute noch methodische Anweisungen. Die handelnden Juristen sind es, die in demokratischem Auftrag und nach rechtsstaatlichen Regeln durcharbeiten, entscheiden, begründen, mitteilen und gegebenenfalls die Vollstrekkung anordnen müssen. Sie sind es, die eine Rechtsnorm erzeugen; und die den Fall durch eine Entscheidungsnorm lösen, die aus der (im Ausgang von Sachverhalt, Normtexthypothese und Sachbereich) konstitutiv erarbeiteten Rechtsnorm folgen muß. Sie bleiben dabei in Sprache, geben ihre Arbeitsergebnisse als Text. Daher können sie nicht der Montesquieusche „Mund des Gesetzes" sein, nicht „das Gesetz" (wenn auch angeblich in Form von „dessen Bedeutung im Entscheidungsfall") verlautbaren. Was sie verlautbaren, ist selber Text, und zwar ein anderer als der Normtext; was sie hinschreiben, ist schon wieder nichts als Schrift, und zwar eine 22 Zur Differenzstruktur von Text und Diskurs m. Nw.: Friedrich Müller, Juristische Methodik (Anm. 1), Abschn. 591.

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andere als die gesetzliche Vor-Schrift. Insoweit kommt dem Normtext als Eingangsdatum der Konkretisierung noch nicht „Normativität" als die im vorliegenden Fall verbindliche Bedeutung zu, sondern erst Bedeutsamkeit, „Geltung": die Dienstpflicht des zuständigen Rechtsarbeiters, die Rechtsnorm so zu erzeugen, daß sie dem amtlichen Normtext des Gesetzes offen und nachvollziehbar zugerechnet werden kann. Sowohl ein Abweichen von dieser Anforderung ist ihm untersagt als auch die Operation, in ,richterrechtlicher' Manier zunächst einmal selbst einen Normtext als Zurechnungsgröße zu produzieren. Für die demokratische Vertretbarkeit, Legitimation seines Tuns, für dessen (wiederum textliche) Rechtfertigung an den „geltenden" Wortlauten der Kodifikation gibt es wissenschaftliche Kriterien. Sie werden von rechtsstaatlicher juristischer Methodik ausgearbeitet. Das Erzeugen der Rechtsnorm ist also weder rechtsfrei noch willkürlich. Der Richter, oder der sonst verbindlich Entscheidende, ist unvermeidlich Herr über den Normtext - denn er fällt das Urteil, nicht der Normtext und auch nicht das angeblich „vom Richter lediglich fallbezogen interpretierte Gesetz". Aber er ist - in den Zeiten nach dem Clanvater und nach König Salomo und außerhalb diktatorischer Regime - ein Herr, der präzise Rechenschaft ablegen muß. Die Wendung gegen die lex ante casum der alten Schule propagiert nicht Freiheit von Bindung. Die im Fall zu erstellende Rechtsnorm unterliegt vielfachen Bedingungen methodologischer und rechtsstaatlicher Standards, um als demokratisch vertretbar gelten zu können. Es geht weder um Regelskeptizismus noch um Soziologismus. Es ist nicht so, als gebe es keine verbindlichen Normen; aber sie stehen an anderen Orten als im Gesetzbuch (nämlich an den Kernstellen der Begründung, in den Leitsätzen), werden von anderen produziert als vom parlamentarischen „Legislator und treten zu einem anderen, späteren Zeitpunkt auf als bei der Verkündung im Gesetzblatt. Angesichts des Legitimierungscodes „rechtsstaatliche Demokratie" kommen die Entscheidungen, die den Juristen täglich abverlangt werden, anders als die Carl Schmittsche ,Dezision4, normativ keineswegs aus einem Nichts.

III. Die dem gewohnten Blick abgewandte Seite des Gegenstands erweist sich als ziemlich verschattet. Dies bleibt aber nicht das letzte Wort. Allerdings ist dabei, zumindest dem ersten Anschein nach, über das Thema hinauszugehen. Hinauszugehen ist nämlich, so dieser Vorschlag, über die Grundlinie bisheriger Demokratietheorie. Dieser Schritt besteht zunächst darin, nachzufragen, was in dem geläufigen Term für Volksherrschaft denn eigentlich „Volk" und was - wenn nun gerade das Volk herrschen soll - „Herrschaft" bedeuten solle. Empirisch läßt sich das so ansetzen, daß den verschiedenen sprachlichen Gebrauchsweisen des Ausdrucks „Volk" in Normtexten des geltenden Rechts, besonders in Verfassungsurkunden, und in den ihnen gewidmeten Kommentaren nachgespürt wird. Dabei er-

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gibt sich, verfassungstheoretisch konzeptualisiert 23, eine Mehrzahl von Verwendungsweisen. Die erste von ihnen ist zugleich die einzige, die bisher auch in avancierten Äußerungen der Rechtswissenschaft 24 als juristischer Volksbegriff geführt wird: die Wahlberechtigten. Das greift aber schon für das Handeln von Exekutive und Rechtsprechung zu kurz. Das Aktivvolk handelt nur, wenn es seine Vertreter wählt (oder, wo das vorgesehen ist, gelegentlich durch Referendum). Diese wirken, wie auch immer, beim Erlaß von Normtexten mit, die in den verschiedenen Funktionen des Staatsapparats umgesetzt werden sollen. Unterstellt, dies geschehe rechtsstaatlich vertretbar, ist es dennoch nicht dasselbe, zu sagen, die Rechtsarbeiter seien demokratisch gebunden, und: hier sei, wenn auch nur „mittelbar", das Aktivvolk am Werk. Jedenfalls dort, wo es wie in Deutschland keine Volkswahl von Beamten und Richtern gibt, ist dieses Legitimationsband denn doch zu ätherisch. Zwar läßt sich die Menge demokratisch gesetzter Normtexte und die der ihnen plausibel zurechenbaren Rechts- und Entscheidungsnormen als legitimes Volksrecht auffassen; der entscheidende Jurist bleibt im volksrechtlichen Diskurs, läßt sein Tun nicht in davon abgelöstes Amtsrecht abgleiten. Der Kreislauf der Legitimierung 25 ist zwar nicht undemokratisch unterbrochen, aber er ist unterbrochen. Die Rolle des Volkes stellt sich hier anders dar, als globale Instanz der Zurechnung demokratischer Legitimität; einer Zurechnung, die - wie gezeigt wurde - mit den Mitteln rechtsstaatlicher Methodik erfolgt. Es ist in diesem Sinn, daß gerichtliche Entscheide „Im Namen des Volkes" verkündet werden, des Zurechnungsvolks. Dieses geht seinem Umfang nach über das Aktivvolk hinaus, umfaßt alle Staatsangehörigen. Schließlich beeinflussen aber die von Gesetzgebung, Exekutive und Justiz gewaltgestützt gesetzten und umgesetzten Beschlüsse alle in ihnen genannten Adressaten, alle tatbestandlich Betroffenen, „alle, die es angeht": das „Volk" als Bevölkerung. Eine Demokratie rechtfertigt sich nicht zuletzt dadurch, wie sie die auf ihrem Territorium tatsächlich lebenden Menschen behandelt, gleichgültig ob diese wahlberechtigt oder ob sie einheimische Staatsbürger sind oder nicht. Das nähert sich endlich wieder dem alten demokratischen Kerngedanken: da es mangels eines Rousseauschtn „Volks von Göttern" schon keine unmittelbare Selbstregierung geben kann, so doch eine Selbstcodierung der gesellschaftlichen und individuellen Verhältnisse mit den Mitteln des neuzeitlich positiven Rechts, und zwar durch alle vom Code Betroffenen - one man, one vote. Die Darlegungs- und Beweislast kehrt sich um: Abweichungen von diesem Dispositiv bedürfen einer besonders anspruchsvollen und im übrigen mit der Verfassung kompatiblen Begründung. Zum Volk in diesem breitesten Sinn zählen alle, unabhängig von Staatsbürgerschaft und Wahl-/ Stimmrecht, auch von Alter, mentalem Zustand oder Status der „bürgerli23 Bei Friedrich Müller, Wer ist das Volk?, Berlin 1997; für die Verbindungen zur Frage der verfassunggebenden Gewalt vgl. dens., Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, Berlin 1995. 24

Vgl. etwa Erhard Denninger, Staatsrecht 1, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 56. Dazu Friedrich Müller, seit: ders. (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik (Anm. 8), S. 204 ff. („Textstruktur der Legitimität"). 25

4 F. Müller

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chen Ehrenrechte". Es ist das Volk als Adressat zivilisatorischer Staatsleistungen, das - wenn es in seinen gesetzlichen Rechtsstellungen recte behandelt wird - eben nicht nur (wie es bisher gesagt wird) rechtsstaatlich bzw. sozialstaatlich, sondern gerade auch und in erster Linie demokratisch legitimiert: das Adressatenvolk. Damit ist der herkömmliche Herrschaftsdiskurs überschritten. „Kratein" heißt dann nicht mehr nur „Subjekt legitimer Gewaltausübung sein", sondern auch, sogar vorrangig: als der für Legitimation staatlichen Verhaltens maßgebliche Faktor ernst genommen und entsprechend behandelt werden. Abgesehen von Referenda, die es in einer Rechtsordnung wie der deutschen nennenswert nicht gibt, erläßt kein Volk Normtexte, auch nicht das Aktivvolk. Dieses wählt nur Vertreter. Auch für das gesamte Tun der ausführenden wie der rechtsprechenden Gewalt ist es nicht aktive Handlungsinstanz, sondern passive Zurechnungsgröße - und zwar zu Recht, solange es dabei mit rechten Dingen zugeht. Und neben Aktiv- und Zurechnungsvolk (Jm Namen des ..." ist präzise formuliert) legitimiert das Adressaten volk demokratisch von der Seite der von Normtexten, Verwaltungsakten und Gerichtssprüchen Betroffenen her. Stehen in diesem Sinn juristische Methodik und Demokratie noch in irgendeinem Zusammenhang? Die methodische Bindung juristischen Tuns an das Zurechnungsvolk konstitutionalisiert die Gewalt. Rohe, nur im Akt bestehende („aktuelle") 26 Gewalt ist nicht zu rechtfertigen. Nun hat der Verfassungsstaat das Monopol nur der legitimen Gewaltausübung; nicht einer illegitimen, zu dieser hätte er nicht einmal ein Recht. Die Rechtfertigung erfolgt in der rechtsstaatlichen Demokratie dadurch, daß das Ausüben von Gewalt durch aufteilende, verlangsamende und kontrollierende Zwänge zur sprachlichen Offenlegung und Begründung erschwert wird. Auf dem Weg über die Normtexte, also die Bindung an das Zurechnungsvolk, wird physische Gewalt in die Sprache „gefaltet" und in dieser Form einem zur Entscheidung befugten Dritten - im Fall der Justiz sogar einem zur Neutralität Verpflichteten übertragen. Die Bindung an das Zurechnungsvolk bindet Gewalt in die Textstruktur des Politischen Systems ein. Ein Gericht beispielsweise, dessen Urteil an den demokratisch in Kraft gesetzten Texten im Netzwerk der staatlichen Textstruktur nicht mehr methodisch überzeugend ausgewiesen werden kann, übt aktuelle Gewalt aus; nicht mehr von Stufe zu Stufe plausibel zurechenbare, nicht mehr legitime. Die damit verwirklichte Gewalt ist „wild", „überschießend"; tritt zusätzlich zu jener hinzu, die ein legitimer Entscheid einer staatlichen Stelle ohnehin schon als solcher, d. h. als konstitutioneller mit sich bringt. Der von Juristen verschwommen verwendete, anders offensichtlich auch gar nicht gewollte 27 Begriff der Gerechtigkeit taugt nicht als zentraler Bezugspunkt ju26 Zu dem Begriffspaar „aktuelle - konstitutionelle Gewalt" s. Friedrich Müller, seit: Recht - Sprache - Gewalt, Berlin 1975, S. 28 ff. 27 S. dazu seine Verwendung ζ. B. in der Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs: BGHZ 3, S. 308 ff., 315.

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ristischer Praxis, als trennscharfe Anforderung; als Code, aus dem Entscheidungen abgeleitet werden könnten. Gegen entlegitimierende bloße Gewalt helfen nur demokratisches Setzen von Normtexten und rechtsstaatliche Ehrlichkeit in der Rechtsarbeit, deren Ergebnisse den Normtexten methodisch zurechenbar bleiben müssen. Das nicht zu beseitigende „natürliche" Problem gesellschaftlicher Gewalt ist das des („Rechts" des) Stärkeren. Im Verfassungsstaat wird es in das Problem der sprachförmigen Gewaltausübung transformiert, an der Textoberfläche nunmehr im Namen einer Rhetorik des Stärkeren. Die alltägliche Praktikermethode weiß sich deren zu bedienen. Will man Gewalt legitim kultivieren, also hemmen und erschweren - soll, anders gesagt, der demokratische Rechtsstaat nicht nur auf dem Papier stehen - , muß man die Kultivierung herrschaftlicher Rhetorik in Frage stellen, indem man es ihr schwerer macht, sich tatsächlich auszuwirken: institutionell (durch Gewaltenteilung auf verschiedenen Ebenen - Instanzen, Zuständigkeiten, Kontrollen, Öffentlichkeits- und Begründungspflichten) und wissenschaftlich (Standards einer dem demokratischen Rechtsstaat angemessenen Methodik). Rechtsstaatliche Methodik betrifft das Aktivvolk nur dann, wenn die Ergebnisse von Volksentscheiden umzusetzen sind; in allen anderen Fällen referiert sie allein auf das Zurechnungsvolk. Entgleist solche Zurechnung, beugt oder verbiegt die Gerichtsentscheidung das geltende Recht, ist der Verwaltungsakt rechtswidrig, wurde das parlamentarische Verfahren verfälscht - in solchen wie in vergleichbaren Fällen wird das Reklamieren von Legitimität ikonisch, bleibt nur noch das fantomatische Volk als Ikone stehen. Es kann nicht mehr demokratisch legitimieren: weder im Herrschaftsdiskurs als Aktiv- oder als Zurechnungsvolk, noch - gemäß der Umwertung von „kratein" - als Adressatenvolk außerhalb seiner. Ähnliche Kontexte bestehen zur Verfassunggebung. Die von den Präambeln unserer Verfassungen beschworene einschlägige Volksgewalt kann durch drei Bedingungen, die zusammenwirken müssen, operationalisiert werden: Vertextung in der Konstitution, demokratisches Verfahren der Erarbeitung des Verfassungstextes und /oder seiner Inkraftsetzung, Bewahren des normativen Verfassungskerns in zeitlicher Dauer durch das ständige Tun und Unterlassen des Staatsapparats. Die Vertextung des Parameters „verfassunggebende Gewalt des Volkes" bezieht sich dabei auf das Zurechnungsvolk, das Verfahren auf das Aktivvolk, die den normativen Kernbestand gewährleistende Staatspraxis auf das Adressatenvolk. In Deutschland hat es weder zu Beginn der westlichen Bundesrepublik noch nach der Vereinigung ein demokratisches Verfahren in diesem Sinn gegeben. Das beseitigt nicht, mindert aber demokratische Legitimität; die Berufung auf „das deutsche Volk" ist und bleibt insoweit ikonisch. Juristen, die im Respekt vor demokratischen Normtexten arbeiten, verhindern, daß das Zurechnungsvolk in den Status der Ikone abgleitet. Unmittelbar sind Justiz und Exekutive nicht demokratisch; legitimiert werden sie, von Entscheidungsfall 4*

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zu Entscheidungsfall, durch möglichst genaue und gleichheitliche Rechtsarbeit. Das gilt nicht erst für das Endergebnis, sondern für alle Stadien; der Raster generalisierbarer Arbeitselemente ist so dicht auszuarbeiten, daß alle Teilentscheidungen, durch die eine Konkretisierung vorangeht, konsistent argumentierte und unzweideutig darstellbare sein können. Von der Aufnahme des Sachverhalts und dem ersten Heranziehen von Normtexten bis zur Entscheidungsnorm ist jede Einzelheit Handeln; nichts tut sich von selbst („die Norm" entscheidet eben nicht), nichts zwingt sich auf („Klarheit", „Evidenz", „Eindeutigkeit" sind in natürlichen [Fach-]Sprachen wie der Rechtssprache nie vorgegeben). Die letztlich demokratische Legitimationskette muß entsprechend verallgemeinerungsfähig und nachprüfbar elaboriert werden; das gilt gerade auch für die Gründe von Weitungen, Abwägungen, auswählenden Bedeutungs- bzw. Referenzsetzungen, die niemals vermeidbar sind. Nicht nur Kadijustiz, auch Kadimethodik oder -dogmatik passen nicht in die Demokratie. Diese ist keine Verfassungsordnung mit linguistischen, sondern eine mit politischen Zielen; es geht in ihr nicht darum, bedrucktes Papier auf komplizierteren Wegen als in autoritären Regimen hervorzubringen; sondern Entscheidungen im Alltag der Gesellschaft, die nachprüfbar und nachvollziehbar an demokratisch vermittelte Beschlüsse rückgekoppelt sind 28 . Dieses Politische System weist sich dadurch aus, einen demokratischen Rechtsund Sozialstaat wirklich zu machen. Dann müssen seine (Verfassungs-)Normtexte auch dafür beim Wort genommen werden; und es gehört, außerhalb der unmittelbaren Entscheidungspraxis, auch zu den Aufgaben der Rechtswissenschaft, das handhabbar zu machen. Die zentralen Grundsätze dieser Verfassung verdienen nichts Geringeres. Wenn der bürgerliche Rechtsstaat überhaupt überleben kann, dann als sozialer; und wenn parlamentarische Textproduktion überhaupt in die Gesellschaft soll eingreifen können, dann nur auf dem Weg über ehrliche Semantisierungsprozeduren der praktischen Juristen - wie begrenzt auch immer die reale Reichweite und wie komplex auch immer die sprachlichen Voraussetzungen der Rechtsarbeit sein mögen. Das Adressatenvolk ist als demokratisch legitimierendes nur indirekt auf juristische Methodik zu beziehen. Alle Mitglieder der Bevölkerung sind geborene Sprecher. An den informellen Vorgängen, von denen oben die Rede war, nehmen sie ständig Anteil. Die Betroffenen, auch wenn offiziell davon allenfalls in der fragwürdigen Form von Meinungsumfragen Kenntnis genommen wird, lassen nicht nach, staatliche Entscheidungen auf den verschiedenen Ebenen vor-zubesprechen, begleitend zu kommentieren, nachzukarten, zu bekämpfen. Das geschieht individuell und kollektiv; was sich in politischen Parteien, in Initiativen, in Verbänden abspielt, erfaßt davon nur einen Teil. Auch über rechtskräftige, nicht mehr förmlich angreifbare (Gerichts-)Entscheidungen hinweg geht der Diskurs weiter. Die Staats28 Zum Konzept der „Methodenehrlichkeit" vgl. Friedrich Müller, (Anm. 1), ζ. B. Abschn. 611, 63.

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gewalt konnte ihn nur unter den formalen Vorgaben des normierten Verfahrens gewaltsam anhalten (ζ. B. Inkraftsetzen eines Normtexts, Bestandskraft eines Verwaltungsakts, Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung), diskursiv anhalten kann sie ihn nicht. Entscheidungstenor und -gründe werden, wie vorher im Instanzenzug, ab jetzt ohne Rechtswirkung in Frage gestellt; werden innerhalb wie außerhalb der Wissenschaft diskutiert, verteidigt, kritisiert, werden „abweichend" interpretiert (d. h.: überhaupt interpretiert), werden zu Ausgangspunkten grundsätzlich unbeendbarer weiterer Diskurse gemacht29. Noch so energisch verknappende Eingriffe in den Diskurs des Rechts haben noch nie das in diesem besonders eindrucksvolle „unendliche Gewimmel der Kommentare" beeinträchtigen können. In manchen Fällen hat ein Staat das nicht überstanden. Wo es soweit nicht kommt, können der Diskurs der Fachwissenschaft(en) wie der allgemeine der Betroffenen durchaus Rückwirkungen haben, die zu neuer rechtlicher Formalisierung und damit, je nach positivrechtlicher Lage, zu neuer „Geltung" führen: betreffende Normtexte werden nach (rechts-)politischer Diskussion geändert, (höchstrichterliche) Judikatur entschließt sich zu einem späteren „Wechsel der Rechtsprechung" - für das erste gibt es ungezählte, für das zweite weniger, aber spektakuläre Beispiele. Auch wird angesichts der Unaufhaltsamkeit sowohl des allgemeinen wie auch des wissenschaftlichen Diskurses deutlich, eine wie große politische (hier im engeren Sinn: demokratische) Rolle die Grundrechte in ihrer Funktion als Menschenrechte und Freiheitsrechte spielen (beim Aktivvolk handelt es sich um Bürgerrechte: Wahl- und Stimmrecht), so die Freiheit der Wissenschaft und die institutionelle der Hochschulen und vor allem die Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Parteienfreiheit. Sie spielen diese Rolle weniger dafür, daß die Diskurse überhaupt weitergehen; das tun sie ohnehin, der Staat kann durch sein gewaltgestütztes Entscheiden zwar mehr oder weniger die Herrschaft über die gesellschaftlichen Verhältnisse erlangen, nicht aber über den Diskurs. Aber dafür, daß die Diskurse als zulässig gelten und nicht autoritär sanktioniert werden. In dem Maß, in dem er sie zuläßt und damit das Sprechen des Adressatenvolks aushält, legitimiert sich ein Staat als demokratischer. Hierher nun reicht die Wirkung ehrlicher juristischer Methodik nur noch mehrfach vermittelt. Indem diese selbst möglichst nachvollziehbar arbeitet, kann sie im29

Eingehend dazu: Friedrich Müller, Juristische Methodik (Anm. 1), v.a. Abschn. 591. Das Zitat bei Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, München 1974, S. 18. Foucault nennt die Figuren der Ausschließungssysteme, der Verknappung, der internen Kontrollverfahren. - Die „Sprachgewalt" des Volkes ist bei allem Engagement für Demokratie nicht zu euphorisch zu nehmen, wie Dietrich Busse in seiner Rezension von: Uwe Wesel, Fast alles, was Recht ist. Frankfurt am Main 1992, festhält. In einer komplexen Gesellschaft ist eine komplexe Fachsprache der Juristen unvermeidlich; dasselbe gilt für die Rechtsdogmatik wie für die Setzungsakte, die zu jeder Interpretation und Umsetzung von Norm- und sonstigen Rechtstexten gehören (in: Muttersprache 1994, S. 277 ff.). - Ein weiteres Problem liegt darin, daß sich Normtexte unausweichlich an Adressaten mit sehr verschieden entwickeltem juristischem Horizont wenden müssen; dazu Friedrich Müller, Juristische Methodik (Anm. 1), Abschn. 12; 311.1, u.ö.

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merhin mit verhindern, daß die (rechts-)politischen Debatten auf Nebenkriegsschauplätze abgedrängt oder auf falsche Fährten gelockt werden. Sie kann durch präzises Argumentieren Fälle ikonischer Legitimierung kritisch aufdecken, sie unter Umständen in höherer Instanz wieder aufrollen bzw. in Zukunft jedenfalls erschweren helfen. Sie kann durch redliche Genauigkeit dazu beitragen, Interessen, Konfliktlinien, praktische Folgen und allgemein Fragestellungen / Alternativen klarer zu machen. Im „freien", d. h. grundrechtlich gestützten und unprofessionellen Diskutieren des Adressatenvolks kann, wie partiell auch immer rezipiert, das methodisch-professionelle der Juristen immerhin dabei helfen, zu versachlichen, zu entzerren, Kommunikation nicht noch zusätzlich zu blockieren. Demokratische Rechtsarbeit kann ein Faktor bei dem Vorhaben sein, im Gesamtzusammenhang des gesellschaftlichen Gewalttransfers wenigstens ein Stück weit Gewalt reversibel zu machen, sie also in verfassungsmäßig legale Macht rückzuverwandeln. Die Mittel der juristischen Methodik reichen, wie auch die der Dogmatik, der Rechtslehre und Verfassungstheorie, im Ganzen sozialer Realität nicht besonders weit; aber so weit sie reichen, muß das demokratische Projekt unzweideutig sein 30 . Und umgekehrt bliebe bei jeder Rückentwicklung des demokratischen und sozialen Rechtsstaats zum autoritären auf Dauer - via die alltäglichen Arbeitsmethoden der Juristen - auch viel von der Rechtsstaatlichkeit auf der Strecke. In demselben Maß würden dann die Wahlrituale des Aktivvolks und die Berufungen auf das Zurechnungsvolk ikonisch sowie die realen Reaktionen des Adressatenvolks unterdrückt werden. Es befördert die Sache der Demokratie nicht, sich über unangenehme Sachverhalte - hier bezüglich der Grenzen der Leistungsfähigkeit natürlicher (Fachsprachen und jener der Reichweite fachjuristischer Arbeitsweisen - hinwegsetzen zu wollen. Niemandem würde es nützen, außer der harmonisierenden Ideologie des Betriebs, der sich dann auch noch auf seine dissidenten, die Ränder der scientific „Community" bewohnenden Elemente berufen könnte. Über das erkennbar Unmögliche sollte man sich keine Illusionen machen, sich für das Mögliche um so bewußter anstrengen. Da gibt es noch viel zu elaborieren; die Rede ist von den Juristen. Auch die juristische Methodik zählt zu den lebenswichtig notwendigen, aber nicht zureichenden Bedingungen dafür, daß Demokratie glücken könnte.

30 Zur rechtspolitischen Stellung der Strukturierenden Rechtslehre in verschiedener Hinsicht: Friedrich Müller, Juristische Methodik (Anm. 1), Kap. 6.

D. Einige Grundfragen der Rechtslinguistik I. Was ist mit „Rechtslinguistik" gemeint? Das ist keine Vorfrage; sie führt direkt in die Sache. Ich meine damit, zunächst, nicht eine zwei Abstrakta durch guten Willen verknüpfende, keine nur additive Bindestrich-Disziplin, sondern etwas praktisch Interdisziplinäres: Juristen sollten sich für die Grundlagen ihrer Arbeit mit heutiger Linguistik unvoreingenommen beschäftigen, befreit vom Prokrustesbett ihrer Tradition. Linguisten sollten nicht länger juristische Dogmen hin und her wälzen; sondern lieber die alltägliche Praxis der Rechtswelt als Feld für die Erprobung, gegebenenfalls auch die Revision ihrer Annahmen aufgreifen. Und wie ist hier der Ausdruck „Text" verwendet? Nicht mehr nur als „grammatisch verknüpfte Satzfolge"; sondern - pragmatisch - „als (komplexe) sprachliche Handlung, mit der der Sprecher oder Schreiber eine bestimmte kommunikative Beziehung ... herzustellen versucht" 1. Text ist eine strukturierte Kette sprachlicher Handlungen, die in einer Situation stehen, in einem „Sprachspiel", die stets auch sozial bestimmt und in bestimmte kommunikative Funktionen eingespannt sind.

II. Nach der noch herrschenden Haltung der Juristen zu Sprache und Recht geht es um „Anwendung" von Gesetzen. Diese sollen einen Inhalt haben, der vom Willen ihres (legislatorischen) Autors bestimmt ist. Dieser „objektive Wille des Gesetzgebers" 2 sei durch die Kodifizierung, also durch den Vorgang schriftlichen Inkraftsetzens, „objektiviert" worden, in die Gesetzeswortlaute hineingelegt. Daher könne er von Richtern und anderen entscheidungsbefugten Funktionären des Staatsapparats mit Hilfe des herkömmlichen Auslegungskanons inhaltlich zutreffend wieder herausgeholt, aus-gelegt werden. Für „die Auslegung einer Gesetzesvorschrift" ist demnach „der in dieser zum Ausdruck kommende obiektivierte Wille des Gesetz1 Dazu Brinker, Linguistische Textanalyse, S. 15; s.a. Busse, Textinterpretation, S. 19, 63 ff., 79, u.ö. 2 So das Bundesverfassungsgericht: BVerfGE 1, S. 299, 312; E 10, S. 234, 244; E 11, S. 126,130 f. und seither ständige Rechtsprechung. - Ebd. auch die folgenden Zitate.

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gebers maßgebend ( . . . ) , so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt". Es spricht - entscheidet, verantwortet - also der Gesetzgeber (durch den Mund des Richters), nicht etwa der Richter. Was spricht, ist nicht ein tatsächliches Subjekt, sondern ein Text. Das Modell geht theoriegeschichtlich bekanntlich bis auf Montesquieu zurück: der Richter als „bouche de la loi" - als könnte ein Normtext außerhalb seines legislatorischen Verfahrens und in künftigen, kontingenten Fällen (authentisch, wie ein Subjekt) in eine durch ihn antizipierbare Situation hinein „sprechen". Und: die richterliche Gewalt als „en quelque façon nulle" - so als füge der Richterspruch inhaltlich nichts hinzu, als sei er kein verantwortliches Handeln, keine Äußerung von Gewalt. Ungereimtheiten dieses Schemas werden bei - systematisch betrachtet - Randerscheinungen diskutiert, so bei Generalklauseln, Ermessenstatbeständen, sogenannten unbestimmten Rechtsbegriffen - als gäben „normale" Gesetzesklauseln festen Boden unter den Füßen; als könnten Normtexte bei „gebundenen" Entscheidungen zuverlässig binden; als seien die anderen, die üblichen Rechtsbegriffe etwa „bestimmt". Bei diesen Randphänomen werden dann auch willensgeleitete, volitive Faktoren richterlichen Handelns eingeräumt. Im Grundsatz aber wird das Modell nicht angezweifelt: Der Rechtsfall kennt eine richtige Entscheidung (nämlich die „Anwendung" des inhaltlich objektiven, textlich objektivierten „Willens" des Gesetzgebers auf den Fall); diese wird durch den Text kognitiv zuverlässig vermittelt, vom Richter kognitiv ermittelt und durch Urteilsspruch ausgeführt. Dieses vertraute Modell macht grobschlächtige Voraussetzungen: jeweils einzige richtige Deutung, inhaltlich eindeutiges Sinnzentrum, objektive Sinneinheit der Texte. Sie erscheinen vor dem Forum einer inzwischen seit Jahrzehnten entfalteten neueren Sprachphilosophie und heutiger linguistischer Texttheorie als illusionär 3. Das alte Schema unterstellt, die Sprache sei „das Werkzeug des Juristen": ein natürliches System zuverlässiger Zeichen und klar bestimmter Bedeutungen. Zwischen Bedeutung und Zeichen besteht demnach eine eins-zu-eins-Relation, auch wenn Störfaktoren wie Bedeutungsänderung oder ein Abschichten von „Begriffskern" und „Begriffshof 4 eingeräumt werden.4 Auch Ermessensfälle, Generalklauseln und „unbestimmte Rechtsbegriffe" sind nach dem Code „richtig / falsch" hier: „rechtmäßig/rechtswidrig" - entscheidbar. An der grundsätzlich zuverlässigen Semantik der Rechtssprache ändern sie nichts. Dasselbe soll für Referenzfra3 Zur Aufnahme und Diskussion dieser neueren Anstöße in der Rechtswissenschaft vgl. Darstellung und Nachweise etwa bei Busse, Juristische Semantik; dems., Recht als Text; dems., Regel-Charakter; dems., Semantische Regeln; Jeand'Heur, Sprachliches Referenzverhalten; dems., Sprach- und Rechtswissenschaft; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?; dems., Gesetzesbindung; Wimmer/Christensen, Linguistik und Rechtstheorie; F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, v.a. S. 374 ff.; dems., Juristische Methodik; sowie die Beiträge in dems., Untersuchungen zur Rechtslinguistik. 4 Vgl. Christensen, Begriff, Begriffsbildung.

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gen gelten, für die Relation sprachlicher Zeichen auf „außersprachliche Wirklichkeit im Recht. Auch hier bemächtigen sich die Juristen der Sprache als eines Werkzeugs: das (Schrift-)Zeichen ist Träger von Vorstellungen, von Bedeutungen; seine Funktion besteht darin, Realität zu „repräsentieren", für sie zu stehen. Das Zeichen bildet Merkmale eines Segments ab, das „außerhalb" der Sprache, weil „in" der Wirklichkeit liegt. Der Rechtsfall ist von der gesetzlichen Formel begrifflich erfaßt, vorweggenommen. Daher kann der Jurist - wie beim „Aus"legen der „Bedeutung des Gesetzes" - kognitiv vorgehen. Er findet die richtige Wirklichkeitsreferenz aus den Texten, indem er die wesentlichen Merkmale des Referenten (= des bezeichneten Realgegenstands) ermittelt. Aus diesen verallgemeinerten Eigenschaften wird der Begriff des Sprachzeichens im Gesetzestext zusammengesetzt, er bildet jetzt die Brücke: „Die Wirklichkeit muß angemessen in den Begriffen abgebildet werden, und die verwandten Begriffe müssen zur Umsetzung in die Wirklichkeit als Teil einer Norm geeignet sein"5. Der Begriff wird „definiert (und gebildet) durch die Summe seiner Merkmale" 6, wobei diese nicht nur aus Realdaten des Entscheidungsfalls zu gewinnen sind, sondern auch aus traditionellen Figuren von der Vagheit einer „Natur der Sache" oder „der Rechtsidee" - aus rätselhaften geistigen Entitäten des menschlichen Bewußtseins „zwischen" Referent und Sprachzeichen7. Sowohl das „Auslegen" von Normtexten (traditionell verwechselt: von „Normen") als auch das juristische Referenzhandeln muß man im noch herrschenden Schema „als Puzzlespiel bezeichnen: Der Rechtsanwender muß die wesensmäßigen Eigenschaften der im Sachverhalt strittigen Gegenstände, Abstrakta, etc. herausfinden; aus dem Baukasten der Sprache gilt es sodann die diese Merkmale bezeichnenden Ausdrücke herauszugreifen und sie zu dem gesuchten Begriff zusammenzusetzen, unter den sich schließlich der Sachverhalt subsumieren läßt" 8 . Der Richter subsumiert also - mehr oder manchmal auch weniger syllogistisch - den Fall kognitiv unter die Begriffe einer als solchen (lex ante casum) vorgegebenen Rechtsnorm (Justizsyllogismus). Dabei wird die Rechtsordnung als konstruktiv handhabbares System unterstellt: „Es geht ( . . . ) um drei Grundannahmen von Geschlossenheit, zumindest von logischer Schließbarkeit: der Rechtsordnung als der Gesamtheit positiver Normen, der einzelnen Rechtsnorm als einem einheitlichen Kontinuum allein von Sprachdaten, der einzelnen Fallösung als einem durch Syllogismus beherrschbaren, durchweg primär sprachlichen Vorgang"9.

5 Wank, Begriffsbildung, 1985, S. 151. - Die avancierte Position zur Bildung juristischer Begriffe bei Christensen, Begriff, Begriffsbildung. 6 Hätz, Rechtssprache, S. 59. 7 Schiffauer, Wortbedeutung, S. 73, - Kritische grundlegende Diskussion bei Jeand'Heur, Sprachliches Referenz verhalten; dems., Sprach- und Rechtswissenschaft; dems., Der Normtext. 8 Jeand'Heur, Sprach- und Rechtswissenschaft, S. 22. 9 F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, S. 438.

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Rechtslinguistisch besteht der Mythos darin, für jeden Rechtsfall liege die eine Lösung schon in den Gesetzen bereit. Die Realität zeigt aber, daß in ein und derselben Rechtsfrage in der Regel die Positionen der beteiligten Anwälte, Gutachter, Gerichtsinstanzen differieren; daß sie oft auch bei scheinbar „klaren" Texten unvereinbar auseinanderdriften. Die Realität erweist, daß es praktisch darauf ankommt, „sein" Ergebnis erfolgreich durchzusetzen. Antworten auf die Frage, wann und durch wen die betreffenden Texte „richtig ausgelegt" worden seien, füllen Lehrbücher, Kollegskripts, Aktenordner, füllen Monographien, Zeitschriften und Entscheidungssammlungen bis zum Rand. Das gesamte Juristenuniversum rotiert unablässig kraft dieses Differenzcharakters juristischer Textarbeit - Michel Foucaults „unendliches Gewimmel der Kommentare" 10 wird durch die Rechts weit glänzend illustriert. Den Vertretern des Montesquieu-Paradigmas, seien es Neooder Antipositivisten, muß die Vielzahl kontroverser Urteile, mühsam durch höchstrichterliche Sprüche autoritär gebändigt, als Chaos erscheinen und die Vielfalt der wissenschaftlichen Stellungnahmen als Kakophonie. Sie retten sich in den Code: juristisch nach „rechtmäßig/rechtswidrig" ebenso unerschütterlich den Knoten durchschlagend wie linguistisch nach (lexikalisch, merkmalssemantisch) „richtigem / falschem" Bedeutungs- bzw. Referenzverstehen. Die Expertisen der anderen sind irrig, abwegig, unvertretbar; entscheidend ist, wer am längeren Hebel sitzt: sozial (oft genug) für die Aufbereitung der laienhaften Fallerzählung zum professionellen Sachverhalt („Was ist überhaupt geschehen?") durch Zeugen, Versicherungen, Polizei, Staatsanwälte; ökonomisch („Wer kann das bessere Anwaltsbüro bezahlen?"); formaljuristisch („Wer überzeugt die abschließende Instanz?"). Auch wo alles korrekt zugeht, „siegt" allein die Interpretationsvariante, die Referenzauffassung des institutionell Stärkeren, meist des prozeßrechtlich höchstplazierten Gerichts. Dieses übt kompakte Macht aus, wenn auch rechtlich gestützt aber eben nach seiner Rechtsversion. Der Diskurs der Tradition, die noch herrscht, ist ein Machtdiskurs, der sich als kognitiven Diskurs ausgibt: teils sich selbst mißverstehend, teils sich bewußt als solchen verkaufend. Beides ist nicht einfach Unwahrheit, sondern Lebenslüge; das heißt, beides erfüllt für das Machtsystem vitale Aufgaben. Die Selbsttäuschung entlastet den oft höchst invasiv agierenden Juristen von der Verantwortung. Nicht er handelt, sondern „das Gesetz"; nicht er ist schuld, sondern „die demokratisch legitimierte Legislative". Sein Tun, auch sein sprachliches, wird als Handeln nicht sichtbar. Und als Strategie stützt die alte Illusion die Behauptung von Legitimität: der einzelne Jurist tue notwendig etwas „demokratisch Gewolltes" und die demokratisch beschlossenen Texte prägten, umgekehrt, tatsächlich die soziale Realität.

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Die Ordnung des Diskurses, S. 18.

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III. Für die nach wie vor im Rechtsalltag herrschende traditionelle Haltung der Juristen ist das Montesquieu-Paradigma noch nicht überschritten. Es führt zu ungezählten Ungereimtheiten, die spätestens um die Wende zum 20. Jahrhundert offen aufgebrochen sind. Antipositivistische Bewegungen haben sie zu überwinden versucht: so etwa die Freirechtsschule, die soziologische und die Interessenjurisprudenz, die Integrationslehre, eine „geisteswissenschaftlich" orientierte Hermeneutik, ökonomische Analyse, jetzt auch „dekonstruktivistische" oder „narrative" Ansätze. Solche Antithesen teilen mit dem Positivismus noch immer einige seiner Grundirrtümer; so den Glauben an „Norm"setzung im Gesetzbuch und anschließende „Anwendung" durch Richter und Behörden. Normen werden, anders gesagt, durchweg mit ihren legislatorischen Vorformen verwechselt, mit den Normtexten. Methodik soll daher auch nur die Art und Weise der Auslegung von Sprachformeln in den Kodifikationen sein. Das Montesquieu-Modell pflegt die Illusion einer lex ante casum: Die Norm ist im Codex geschrieben, ist damit schon vorhanden. Es ist von den Anti-Positivismen nur scheinbar überwunden worden. Diese sind zudem nicht selten hinter den vom Positivismus erreichten Standard an professioneller Technizität zurückgefallen. Das traditionelle Schema feiert in seiner diskreten, seiner fast klandestinen Beständigkeit in den es bekämpfenden Schulen des Jahrhunderts erstaunliche - und recht bedenkliche - Triumphe. Es verursacht nicht nur weiterhin zahlreiche Scheinprobleme und Sackgassen, die von den Antipositivismen nicht beseitigt, eher nach der Art der spät-ptolemäischen Epizykeln symbolisch wegerklärt wurden („degenerative Problemverschiebung" im Sinn von Lakatos 11). Es ist wegen seiner kaum durchschauten Permanenz selbst zu dem Problem geworden, das in der überholten Gegenüberstellung „Positivismus / Antipositivismen" den Schritt hin zu einer unverstellten Sicht des Dispositivs „geltendes Recht" nachhaltig blockiert.

IV. Das Konzept, das paradigmatisch neu ansetzt, versteht sich denn auch nicht als anti-, sondern in einem genauen Sinn als nachpositivistisch12. Damit ist der Schritt von einer Rechtfertigungskunde zur Rechtserzeugungsrefiexion gemeint; der Ansatz, sich vom traditionellen Schema nicht länger überholte Fragestellungen (SeinSollen, Norm-Wirklichkeit, Gesetz-Anwendung, Sprache-außersprachliche Referenten, etc.) aufdrängen zu lassen, nicht mehr innerhalb dieser gegen den Positivismus zu argumentieren. Dessen unausgesprochen unterstellte Normsicht wird durch eine elaborierte Normtheorie überholt, die sich an der Realität von Rechtsarbeit n Ders., Falsifikation, S. 113 ff. 12 Seit F. Müller, Juristische Methodik, 1971: ebd. (1993), etwa S. 18, 279; s.a. dens., Strukturierende Rechtslehre, S. 245, 258 f., 331 f.. 437.; ferner Christensen, Richterrecht.

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und Spracharbeit orientiert. Nach ihr ist die Rechtsnorm ein sachgeprägtes Ordnungsmodell; ist Normativität ein strukturierbarer tatsächlicher Vorgang - nämlich die dynamische Eigenschaft der Rechtsnorm, die ihr zuzuordnende Wirklichkeit zu beeinflussen (konkrete Normativität) und dabei durch diese ihrerseits beeinflußt zu werden (sachbestimmte Normativität). Begriffsbestandteile der Rechtsnorm sind das Normprogramm (d. h. das Ergebnis aller primär sprachlichen Interpretationshandlungen) und der Normbereich (d. h. die Synthese aus den fallrelevanten und mit dem Normprogramm vereinbaren Fakten). Dieses Modell der Normstruktur wird durch das Konzept von Konkretisierung dynamisiert: Normativität nicht als innewohnende Eigenschaft, sondern als ein durchzuarbeitender Vorgang. Vorgegeben sind nur Normtext und Fall; beide sind nicht normativ. Sie bilden die Eingangsdaten einer Operation, die nacheinander Sachverhalt und Normtexthypothesen, Sachbereich und Fallbereich, Normprogramm und Normbereich und damit die Rechtsnorm hervorbringt. Aus dieser ist in einem letzten Schritt die Entscheidungsnorm abzuleiten (d. h. der Tenor des Zivil-, Straf-, Verwaltungsrechtsurteils, etc.). Die demokratisch und rechtsstaatlich geforderten Standards an Nachvollziehbarkeit und „lokaler" 13 Rationalität gelten für alle tragenden Wirkfaktoren der Entscheidung, für Realdaten wie für Sprachdaten14. All das entspricht einer ihrerseits geänderten linguistischen Auffassung. Der Normtext ist nicht die Norm. Er hat Zeichenwert, seine Begriffe sind nicht verdinglicht. Die Sprachdaten, die er liefert, sind auf ihre Gebrauchsweisen hin zu untersuchen und methodisch nachvollziehbar im Fall durchzuarbeiten. Der aktiv semantisierende Jurist tritt an die Stelle des vorgeblich kognitiv findenden alten Rechts„anwenders". Vor dem Hintergrund einer Theorie juristischen Handelns wird die Entscheidungsarbeit als Sprachspiel beschreibbar, erscheinen Sprechen und Semantisieren als Handeln. Die Spiel- und Bedeutungsregeln auch des rechtlichen Sprachgebrauchs sind nicht vorweg fixiert. Der Normtext kann keine schon im vorhinein feste Regel seiner Verwendung angeben. Auch referieren seine Zeichen nicht auf „außersprachliche Wirklichkeit; die Realdaten sind nur als sprachvermittelte Zeichen formuliert in die Rechtsarbeit einführbar 15. „Bedeutung" ist nur eine Seite des Sprachzeichens (Sinn-Seite, signifié, Signifikat). Signifikat und 13 Dazu etwa F. Müller, Juristische Methodik (1995), S. 312ff., 322f., u.ö.; seit dems Normstruktur und Normativität, z. B. S. 68 ff., u.ö. 14

Zur Grundlegung und Entfaltung des Konzepts: ders., Normstruktur und Normativität; Strukturierende Rechtslehre; Juristische Methodik, jeweils m.zahlr. Nw.en. - Aus der Sekundärliteratur vgl. etwa nur Christensen, Strukturierende Rechts lehre; dens., Problem des Richterrechts; Bonavides, Teoria Estrutural de Direito; Jeand'Heur, Sprach- und Rechtswissenschaft; dens., Sprachliches Referenzverhalten, S. 122ff., 128 ff.; Passavant, Norm, Normativismus; Busse, Juristische Semantik, S. 228 ff.; Jouanjan, Introduction; sowie die jeweils weiter genannten Referenzen. - Zu der diesem Konzept entstammenden Juristischen Methodik vgl. z. B. die Besprechung von Di Giovanni. 15

Deshalb werden Sprachdaten genauer als „primär sprachlich konstituierte" und Realdaten als sekundär sprachlich vermittelte Elemente gefaßt; dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, S. 238, u.ö.

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Signifikant, also die Ausdruckseite, sind gleichrangige Bestandteile des Zeichens. Dieses kann nicht „aus sich" Bedeutung gewinnen; vielmehr aus seiner nicht abschließbaren, durch die Sprecher stets verschiebbaren Differenz zu den anderen Zeichen im System der langue. Damit ist Bedeutung kein Ding, nicht durch „notwendige Merkmale" gegenständlich habhaft zu machen. Sie ist ihrerseits Signifikant für weitere Signifikate, steht in differentiellem Verhältnis zu allen anderen Zeichen 16 . Ebenso gibt es für Referenzfragen keine fixe Zuordnung, das Repräsentationsmodell, die Abbildtheorie zu „Sprache - Realität" (hier: juristischer Begriff - erfaßte soziale Wirklichkeit) ist verabschiedet. Der Normtext enthält nur eine Referenzanweisung, auf den vom Fall betroffenen Teil der Realität Bezug zu nehmen und ihn - im Sinn der aus den Sprachdaten zu entwickelnden Konsequenzanweisung - neu zu gestalten. Dennoch stellt sich nicht rechtliche Willkür ein; Sprache selbst als „Organon der Wiederholbarkeit" 17 ist nicht willkürlich. Bedeutung und Referenz sind im Fall, unausweichlich, je neu festzusetzen; aber nicht beliebig, sondern begründet - im Rahmen einer wissenschaftlich kontrollierten und zudem, (verfassungs-)rechtlich, vor allem durch Rechtsstaat und Demokratie, verpflichteten Argumentationskultur. Klarheitsgebote, Begründungspflichten, Verfassungskonformität und andere normative Postulate können nicht erzwingen, was die natürliche Sprache überfordern muß: Ein-Eindeutigkeit oder „inhaltliche" Sicherheit der Begriffe, Bedeutungen und Referenzen. Aber sie fordern eine relative, methodisch ehrlich realisierbare, dem Nachvollzug und damit der Kontrolle durch andere zugängliche Rationalität. Diese verlangt, die methodischen Einzelschritte anzugeben und mit ihnen verallgemeinerungsfähig zu operieren. Sie bietet keine vorgängige - bis zum Fluchtpunkt verlängert: metaphysische - Sicherheit. Sie ist selber Signifikant, sprachlicher Ausdruck; sie ist differentiell zu erarbeiten und nicht etwa deduktiv ableitungsfähig, „anwendbar" 18. Dabei gibt es durchaus Fälle, in denen Begriffe und Referenzen einfach liegen, typisch bei numerisch determinierten Normtexten (von Form-, Frist- und Verfahrens Vorschriften); auch gibt es Fälle, die dank ihrer Standardsachverhalte routiniert erledigt werden. Aber jeder dieser Fälle kann aufgrund etwas abweichender Elemente bzw. aufgrund abweichenden Rechts- und Sprachhandelns problematisch werden; und die Hauptmasse der typischen Rechtsfälle ist von Anfang an hochkomplex. Die mit ihnen befaßten Juristen arbeiten nicht einfach mit Begriffen, son16

Derrida , Positionen, S. 56 f. Derrida , Signatur, Ereignis, Kontext, S. 134 ff. 18 Vgl. aus der juristischen Debatte hierzu, jeweils m.w.Nw.en, etwa F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, S. 372 ff.; dens., Juristische Methodik; dens. (Hrsg.) Untersuchungen zur Rechtslinguistik. - Grundlegend zum juristischen Referenzhandeln: Jeand'Heur, Sprachliches Referenz verhalten; ebenso zur juristischen Semantik beim richterlichen Entscheiden: Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? - Grundlegend von der Linguistik her: Heringer, Regelbegriff; Wimmer, Referenzsemantik; v. Polenz, Satzsemantik; Busse, Recht als Text; ders., Juristische Semantik, jeweils m.zahlr.Nw.en. 17

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dem nicht zuletzt an Begriffen. Ihr Tun ist nicht nur eines über Texte (travail sur des textes), sondern auch unmittelbare Textarbeit (travail de textes); juristische Methodik nicht mehr als „Aus"legungslehre, sondern als Strukturierung des Hervorbringens von Rechtsnormen, und das heißt: einer besonderen, einer institutionell eingebundenen Textproduktion 19 begreifbar. Die Gesetzesbindung der so operierenden Juristen („Rechtsarbeiter") kann sich nicht länger auf „die Norm" als ein Vorgegebenes beziehen. Sie bezieht sich auf die Anforderungen an einen aktiven Semantisierungsvorgang. Das schwierige Zusammenspiel von empirischem und semantischem Wissen, von Sachverstehen und Textverstehen bei der Rechtsarbeit läßt sich im Rahmen der herkömmlichen juristischen Wort- und Merkmalssemantik - abgesehen von einfachen Ausnahmefällen - nicht zureichend erfassen. Die Rolle, die legislatorisch gesetzte Zeichen beim Entscheiden eines bestimmten künftigen Falles tatsächlich spielen werden, ist nicht als „ihre Bedeutung" schlicht aus dem Wörterbuch ablesbar. Der Jurist geht vom Normtext als einer Zeichenkette aus (in aller Regel handelt es sich um mehrere „einschlägige" Normtexte gleichzeitig). Mit deren Hilfe kommt er zu ersten Assoziationen und Einschließungs- / Ausschließungsurteilen über Realitätspartikel (Sachbereich/Fallbereich). Die Analyse der Normtexte - grammatische, systematische, genetische, historische, dogmatische und andere Konkretisierungselemente - führt zum Normprogramm. Das zuvor erstellte vorläufige Wirklichkeitsmodell wird an ihm korrigiert. Das so den Normbereich einschließende Modell einer komplexen Rechtsnorm bedarf einer Textlinguistik, die auch die pragmatische Dimension umfaßt. Gesellschaftliche Aufgabe der Rechtsarbeit - extern - wie ihre professionelle Vorgehensweise - intern - fordern den Schritt von bloßer Wortsemantik zur Satzsemantik, zu Text- und Kontextsemantik 20. Die Realität der alltäglichen juristischen Arbeit führt ferner über ein (auch intuitives) Textverstehen und ein bewußtes, systematisches Textinterpretieren (Verständlichmachen von Texten) hinaus. Nur das Konzept einer „Arbeit mit Texten" erfaßt die Praxis der Rechtswelt: Arbeit mit institutionellen (Norm-)Texten im Rahmen staatlicher Einrichtungen und ihrer vorrangigen Funktionsimperative. Juristisches Handeln hat vielfältige, oft sehr weit reichende Folgen (Grundsatzentscheidungen, Urteile der Verfassungsjustiz, etc.). Dieser Form von Arbeit mit Texten geht es schon oft nicht mehr um Verstehen und nicht nur um Interpretieren; sondern immer auch, in verschiedenen Formen, um Macht. Ziel dieser Textarbeit, Textproduktion - die als Kompetenz wie als Institution selber auf (Norm-)Texte gestützt bleibt - ist es, die herangezogenen Normtexte funktionsgerecht aufzubereiten; also etwa um „Rechtmäßigkeit" zu bejahen bzw. zu verneinen oder um „Verfassungskonformität" zu bekräftigen. Schärfer gesagt, werden Normtexte (Ge19

Dazu etwa Jouanjan, Présentation; von der Linguistik her: Busse, Recht als Text. Zu diesen im Rahmen der Linguistik: Busse, Textinterpretation; ebd., zu den folgenden (aus der Kognitionswissenschaft stammenden) Begriffen. 20

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setze) nicht in die Welt gesetzt, um verstanden zu werden, sondern um zu funktionieren: um die Institutionen, in deren Rahmen sie von den entscheidenden Juristen benützt werden, ihrerseits in Funktion zu halten 21 . Die beiden Richtungen, die sprach- wie rechtswissenschaftlich die früheren Paradigmata so weitgehend verabschieden, sind die Praktische Semantik22 sowie die Strukturierende Rechtslehre und Methodik. Die zuletzt genannten sind seit der ersten Hälfte der 60er Jahre ohne Kontakt mit der neueren linguistischen Debatte, auch ohne Berührung mit der „pragmatischen Wende" entwickelt worden. Aber auch ohne genetische Verwandtschaft fallen zwischen ihnen und der Praktischen Semantik wichtige inhaltliche und methodische Parallelen als Grundlage für eine Zusammenarbeit ins Auge 23 . Zu ihnen gehören: hier wie dort induktive statt deduktiver Arbeitsweise; also hier der Ansatz bei Sprachhandlung und Sprecher und die Sicht der Sprache in Handlungszusammenhängen, dort der Ansatz bei den alltäglichen Einzelfragen und -schritten der Fallentscheidung. Dann die handlungstheoretische Perspektive: hier „der" (d. h. alle) Sprecher als Subjekt des Sprachhandelns, dort der unter rechtlichen und gesellschaftlichen Vorgaben verantwortlich entscheidende Jurist als Subjekt des Urteilsspruchs und nicht mehr, wie herkömmlich, das („sprechende") Gesetz. Analog ist weiter einmal hier die Einsicht, daß sprachliche Regeln nicht vorgefunden und anschließend angewandt, sondern daß sie in der Praxis des Sprechens erzeugt werden - und dort die Differenz von Normtext und Norm und das Konzept der durch Konkretisierung nicht etwa „ausgelegten", sondern durch Konstruktion jeweils erst hervorgebrachten Rechtsnorm. Der rechtstheoretischen Differenz von Norm und Normtext entspricht übrigens die von Regel und Regelformulierung, in etwa auch die von Text und Textformular. Kurz: Sprechen wie auch juristisches Entscheiden sind durch Arbeit konstituierte Vorgänge und nicht länger nur „Anwendung", „Deduktion", „Aktualisierung" vorgegebener Sprachregeln bzw. Rechtsnormen 24. Beide Forschungsrichtungen arbeiten 25 in Richtung „einer Sichtweise, welche die enge Verknüpfung von Sprache und Handeln in einer umfassenden gesellschaftlichen Praxis herausstellt". Eine solche Zusammenarbeit trennt sich von einer als unzulänglich erkannten hergebrachten Se21 Dazu F. Müller, Juristische Methodik (1995), z. B. S. 15, 29. 294. - Ausführliche Beispielsuntersuchungen bei Busse, Recht als Text. 22 Zu dieser: Heringer (Hrsg.), Regelbegriff; Wimmer, Referenzsemantik: sowie die schon genannten Arbeiten von Wimmer, Busse, Christensen und Jeand'Heur, jeweils mit ausführlichen Nachweisen. - Kurze Zusammenfassung bei Wimmer/Christensen, Linguistik und Rechtstheorie, v.a. s. 30 ff. 23

Als Ergebnisse einer solchen Zusammenarbeit vgl. F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, sowie die genannten Titel von Busse, Christensen und Jeand'Heur. Ferner etwa: Busse, Regelcharakter; ders., Semantische Regeln; ders., Verständlichkeit von Gesetzestexten: Christensen, Problem des Richterrechts; ders., Gesetzesbindung. 24 Vgl. etwa F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, S. 378 f.; dens. (Hrsg.) Untersuchungen zur Rechtslinguistik, S. 221 f.; ferner Jeand'Heur, ebd.. S. 17 ff. und Wimmer/ Christensen, ebd., v.a. S. 36 ff. 25 Formulierung bei Busse, Juristische Semantik, S. 239.

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mantik, auch wenn diese durch Ausbildungsmaßnahmen und kraft interner Konventionen des Juristenstandes noch immer tradiert wird. Nach dem Gesagten ist „Rechtslinguistik" nicht additiv gemeint. Die Linguistik wird nicht als Hilfswissenschaft herangezogen. Üblicherweise wird noch immer so verfahren: „sprachtheoretische Überlegungen werden zu Alliierten in rechtsinternen Auseinandersetzungen gemacht, aber nicht wirklich auf ihre Konsequenzen hin für die Sprachlichkeit des Rechts und auch für die damit verbundene Auslegungsproblematik hinterfragt" 26. Einem additiven Verständnis - Sozio-Linguistik, Psycho-Linguistik, etc. - liegt „ein durchaus verkürztes Verhältnis von Sprache zu ihrer Verwendung zugrunde; nämlich einerseits ein Sprachsystem, das sich neutral gegenüber allem verhält, was man ( . . . ) mit ihm machen kann; auf der anderen Seite eben die Verwendung von Sprache, die dann zu jeweiligen Zwecken ( . . . ) nur noch eine Art Umsetzung, technischer Vollzug ist" 2 7 . Strukturierende Rechtslehre und Praktische Semantik setzen dagegen integrativ an. Sprache ist kein vorgängiges System, sie vollzieht sich: im Gebrauch, als Gebrauch. Auch Recht wird vollzogen: die tatsächlich dirigierende Norm ist nicht präexistent, sondern muß im Fall geschaffen werden. Rechtliches Tun ist sprachlich, eine Sonderform von kommunikativem Handeln. Der Gegensatz zwischen diesem integrativen und dem althergebrachten additiven Ansatz geht bis in die praktischen Einzelheiten. Denn zwischen Text und Bedeutung wie zwischen Normtext und Rechtsnorm besteht keine zwingende Verknüpfung. Die positivistischen Schulen addieren Semantik (Wort-, Merkmals-, logische Semantik) und juristisches Argument äußerlich, als Verbindung kraft vorgegebener objektiver Regeln. Die wirkliche Textarbeit der Juristen ist aber weit komplizierter, ist ein aktiver Semantisierungsvorgang. Die Tradition beruft sich auf die (alte, vor dem pragmatic turn verbleibende) Linguistik wie auf einen Hilfssheriff, der ihr liebgewordenes Denken in den statischen Dualismen des 19. Jahrhunderts abzuschirmen hat. Dagegen stellt sich die Rechtslinguistik die Aufgabe einer „integrale(n) Analyse der juristischen Argumentation als semantischer Pra-

V. Bleibt es bei einer bloßen Antithetik zwischen dem Montesquieu- und dem nachpositivistischen Paradigma? Wer beim Profilieren von Grundpositionen nicht stehenbleiben, sondern konkreter nachschauen will, stößt sogleich auf das Phänomen der Gewalt - im Staatsapparat, aber auch in der Sprache. Das führt auf ein neues Feld, die Verfassungstheorie; die Problematik überschreitet unser Thema, ich deute sie nur an. Die Rolle der Sprache „zwischen" Gewalt und Recht, die 26

Busse, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, S. 195. Sokolowski, ebd., S. 189 f.; ebd.. S. 193 f. m.Nw.en zum folgenden. 2 « F. Müller, Juristische Methodik, S. 156 f. 27

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Sprachlichkeit, Textualität der Rechtsordnung läßt sich zur Grundlage eines neuen Ansatzes, nämlich der Strukturierenden Verfassungslehre 29 machen. Sprache trägt Spuren von Gewalt an sich und übt selbst Gewalt aus. Recht wird gewaltsam gesetzt und setzt seinerseits Formen von (struktureller, institutioneller, prozeduraler) Gewalt; zugleich ist es unausweichlich auf Sprache angewiesen. Das Projekt der Gerechtigkeit in einer realen Gesellschaft spielt in diesem mehrfach gespannten, mehrfach widersprüchlichen Bereich. Es konnte gezeigt werden, daß der moderne Verfassungsstaat, im Grund, Sprache nicht so sehr als „Instrument" nötig hat. Diese Sicht bleibt, wie gesagt, oberflächlich, kann als überholt betrachtet werden. Auf ein Wort reduziert, ist Sprache nicht Werkzeug, sondern (aktives) Medium, etwa im Sinn eines Magnetfelds. Der Verfassungsstaat braucht sie als die zentrale Instanz seiner demokratisch-rechtsstaatlichen Legitimation. Diese besteht darin, „möglichst weitgehend mit formalisierter, kontrollierbarer, sprachlich vermittelter konstitutioneller Gewalt auszukommen und möglichst wenig die deswegen entlegitimierende ,bloße4, d. h. die aktuelle Gewalt einsetzen zu müssen"30. Das Thema ,Sprache und Recht4, nicht wie in der Verfassungslehre auf jene Art verschränkt, sondern auf eine andere für das vorliegende Thema der Rechtslinguistik, führt dagegen auf die wichtigsten Stützpfeiler des alten Paradigmas zurück: nämlich darauf, ein Text habe Ursprung, (Bedeutungs-)Mitte und Ziel; hier: „Gesetz", Gesetzes„inhalt" und „richtige" Entscheidung. Nichts von diesem Dispositiv erweist sich als der Realität gewachsen. Schon wort- und merkmalssemantisch ist „die" (als die eine, die richtige) Bedeutung eines (Gesetzes-)Texts eine Überforderung der natürlichen Sprache Rechtssprache ist von fachsprachlichen Elementen durchsetzte natürliche Sprache; und noch viel mehr gilt das satz- und kontextsemantisch. Ebensowenig ist „die" zutreffende Wirklichkeitsreferenz vor allen anderen Möglichkeiten zu privilegieren. Das Irreale eines festen Sinnzentrums, die Unbeherrschbarkeit „meines" Sinns (den ich als den „des Gesetzgebers" in den Text legen will), sind nicht eine Randerscheinung; sie sind das - von der Tradition verdrängte - Grundphänomen der Vertextung wie der Verschriftung. Dem schriftlichen Text ist, wie es am eindringlichsten Derrida entwickelt hat, weder Sinneinheit noch Sinnzentrum (und noch weniger sein eigener Sinn) unterschiebbar. Er wird durch andere (schriftliche) Texte in unausweichliche, nicht abbrechbare Semantisierungsvorgänge hineingezogen, in diskursiv nicht beendbare praktische Sprachkämpfe. Im juristischen Diskurs ist das wegen seiner erstrangigen Machtrelevanz noch deutlicher als auf ande29 Vgl., jeweils mit zahlreichen weiterführenden Nachweisen: F. Müller, Recht - Sprache - Gewalt, 1975; ders., Juristische Methodik und Politisches System, 1976; Die Einheit der Verfassung, 1979; ,Richterrecht', 1986; Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, hrsg. von Christensen, 1990; Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, hrsg. von Rohrbacher, 1995; Wer ist das Volk?, hrsg. von Christensen, 1997. 30 F. Müller, Recht - Sprache - Gewalt, S. 31.

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ren Gebieten31. Das ist die Realität der Rechtsarbeit; und nicht ein kognitives Auffinden „des" Normsinns, nicht das treue „Anwenden" des objektiven/objektivierten „Willens" des Gesetzgebers. Nichts am Text ist dem Spiel der Differenzen entzogen; kein Gewaltakt seines Autors kann ihn auf eine Stufe oberhalb des Diskurses stellen, ihn vor den anderen Texten privilegieren. Und doch ist der Normtext die Gesetzesformel in der Kodifikation - als solcher institutionell gestützt, „geltend", mit Gewaltpotential verbunden. Sollte nicht wenigstens der erste der drei Stützpfeiler, der Ursprung, solide sein? Der wirkliche Normtext ist nur Glied in einer Kette, ist bereits Reaktion, Antwort, Differenz unter Differenzen, ist vielfach bedingt: rechtsgeschichtlich (durch frühere Regelungen in derselben Rechtsordnung), rechts vergleichend (Einfluß aus anderen Rechtssystemen). Die Entstehungsgeschichte - der „genetische" Konkretisierungsfaktor - enthüllt sehr oft die sachliche Inkonsistenz, Zufälligkeit, ja zum Teil Unaufrichtigkeit legislatorischer (Kompromiß-)Formeln. Der Normtext ist manchmal nicht ernst gemeint; ist nicht selten im Moment seines Inkrafttretens schon obsolet; soll schon wieder geändert, aufgehoben oder gerichtlich annulliert werden - ganz abgesehen von den unabschließbaren „Interpretations-" oder „Anwendungs"diskursen, die ihn meist schon seit seinen Entwurfsstadien begleiten. Im besten Fall ist der Normtext eine ernst „gemeinte" Momentaufnahme im politischjuristischen Stellungskrieg der Gesellschaft. Er ist weder ein verläßlicher noch jemals ein „ursprünglicher" Ursprung. Die alte Fiktion, er sei bereits die Norm, wird ihm nicht gerecht; anders der neue Vorschlag, ihn als (noch nicht normatives) Eingangsdatum eines notwendig produktiven Vorgangs der Normerzeugung im Fall aufzufassen. Und das Ziel, die eine richtige Entscheidung als dritter Pfeiler des alten Paradigmas? Wenn es schon nicht „die richtige" sein kann, dann doch die verpflichtende, die - bei prozeßrechtlich nicht mehr angreifbaren Aussprüchen - den Diskurs abschneidet; die es verbietet, rechtsverbindlich weiter zu sprechen? Aber sogar dieses letzte Refugium der Tradition ist illusionär. Das „Hintergrundrauschen" läßt sich durch institutionellen Gewalteingriff nicht abstellen. Auch über die unangreifbare Entscheidung hinaus gehen die Diskurse weiter: der Tenor und seine Gründe werden debattiert, kritisiert, verteidigt, werden „abweichend" interpretiert. Sie werden zum Ausgangspunkt neuer Erörterungen, und diese dann wiederum. Das unendliche Gewimmel der Kommentare macht vor - dank der Staatsgewalt - „endgültigen" Entscheidungen nicht halt, es wird von diesen sogar gesteigert animiert. Neue 31

Zum Konzept semantischer Kampf ' vgl. F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, S. 40 f. m.Nw.en.; sowie durchgehend F. Müller IR. Christensen / M. Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997. - Zum Konzept der Textstruktur (d. h. der den demokratischen Rechtsstaat kennzeichnenden Form des Zirkulierens von anordnenden und rechtfertigenden juristischen Texten) als einem Teilkonzept der Strukturierenden Verfassungslehre dens., Juristische Methodik, v.a. S. 138 ff.; Juristische Methodik und Politisches System, S. 80 ff., 95 ff.; dens, in: (Hrsg.) Untersuchungen zur Rechtslinguistik, S. 205 f., 215. - Hierzu näher: Jouanjan, Présentation.

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(rechts-)politische Kämpfe können sich an sie schließen; aus ihnen folgende Normtextrevisionen (Gesetzesänderungen) und sogar gelegentliche Fälle einer „Änderung der Judikatur" durch denselben Gerichtshof mögen ihnen bevorstehen 32. Der formal unverbindliche, nicht gewaltsam „geltende" Diskurs kann auf die verbindliche, gewaltsam durchgesetzte Rechtsarbeit in der staatlichen Institution verschiebend, umwertend, umstürzend zurückwirken. Durch gewaltgestütztes Entscheiden kann der Staat zwar Herrschaft über die sozialen Verhältnisse erlangen, nicht aber über den Diskurs. Nicht mehr Ursprung (Gesetz als „ratio scripta"), Mitte („der" zutreffende Normsinn) und Ziel (die „eine richtige" Entscheidung) sind den Problemen heutiger Rechtsarbeit gewachsen. Sie werden zur wissenschaftshistorischen Erinnerung. Die Rolle von Gewalt und Diskurs im Recht war neu anzupacken. Dabei fällt auch noch die letzte vom Montesquieu-Paradigma unterstellte Fiktion: die der intellektuell instrumentalisierbaren, die der den kognitiven Findungsversuchen „rein" zur Verfügung stehenden Sprache. Sprache ist nicht rein kognitiv, ist kein lichtes Reich der Gewaltlosigkeit. Sie ist nicht einmal unschuldig. Sprechen ist eine Form von Handeln. Sprache als parole (im Sinn von Saussure) ist von unseren Handlungszielen, Strategien, Taktiken, Verantwortlichkeiten kontaminiert. Und Sprache als langue 33 ist vor-geschriebenes System und als solches, auf ihre Art, immer schon von massiver sozialer Gewalt durchwirkt. Über die Ablichtung, die Dressur, die beim Spracherwerb der Kinder stattfindet, äußert sich Wittgenstein eindringlich in den „Philosophischen Untersuchungen"; viel weiter gehen Formulierungen von Roland Barthes. Gerade die Sprache des Rechts ist noch zusätzlich verhärtet, durch kompakten Gruppendruck und fast allgegenwärtige Staatsgewalt überformt. Auch sie, die Sprache, ist kein Refugium, keine dem Spiel der Differenzen, vor allem aber auch nicht dem „brutalen" 3 4 semantischen Kampf entzogene Sphäre.

32 Dafür bietet jetzt ein spektakuläres Beispiel die - im Ergebnis gegenüber den Vorentscheidungen (BVerfGE 73, 206 ff.; E 76, 211, 217) entgegengesetzte - Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit von Sitzdemonstrationen/Sitzblockaden: 1 BvR 718/ 19/22/23 aus 1989, vom 10. 1. 1995. - Sorgfältig begründet das Gericht unter Rückgriff auf Prozeßrecht (§15 Abs. 3 Satz 3 BVerfGG), es handele sich nicht um eine inhaltliche Änderung, sondern nur um die klärende Entscheidung einer bis dahin im Gericht selbst strengen Frage (a. a. O. Abschn. Β I 3, am Anfang). - Natürlich handelt es sich genau um das, was dementiert wird: Im Gegensatz zu früher beurteilt jetzt eine Mehrheit der Richter die uferlese „Vergeistigung" (d. h. Ausdehnung) des gesetzlichen Gewaltbegriffs durch die Fachgerichte als verfassungswidrig. - In diesem Sinn schon: F. Müller, Juristische Methodik, S. 192 ff. Besonders bemerkenswert erscheint, daß ein so plastisches Beispiel für das Spiel zwischen Gewalt und Diskurs ausgerechnet den juristischen Begriff „Gewalt" betrifft. 33 Im Sinn von de Saussure, Grundfragen, S. 27 (im Original S. 43): „La langue est un système qui ne connaît que son ordre propre". 34 Das Adjektiv „brutal" verwendet Arthur Rimbaud für den „combat spirituel": Une saison en enfer (1873), in: Œuvres Complètes (Pléiade 1963), S. 244.

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Wenn die alten Sicherheiten, selbst die der (sprachvermittelten, ja: der sprachlichen) Gewalt nicht mehr beruhigen können, bricht i m Recht dann nicht endgültig das Chaos aus; muß man die neuen Vorschläge nicht schon deshalb als destruktiv ablehnen? Das Geschrei vom Chaos nützt nichts, wo es gegen das Chaos - also außerhalb seiner - kein Mittel gibt; die Mittel gutgläubiger Tradition waren schon immer fiktiv. Aber es gibt neu zu entwickelnde Mittel, im Chaos eine Strecke weit einsichtig zu arbeiten - einsichtig in der Methode und ihrem Bezug zum Sachproblem; und einsichtig für die anderen.

Literatur Bonavides, R: Teoria Estrutural do Direito in: Revista de Direito Constitucional e Ciência Politica 1984, S. 249 ff. (zit.: Teoria Estrutural do Direito) Brinker , Κ.: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, 1985 (zit.: Linguistische Textanalyse) Busse, D.: Semantische Regeln und Rechtsnormen, in: Meilinghoff/Trute stungsfähigkeit des Rechts, 1988, S. 23 ff. (zit.: Semantische Regeln)

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D. Einige Grundfragen der Rechtslinguistik Derrida , J.: Grammatologie, 1974 (zit.: Grammatologie) - Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124 ff. (zit.: Signatur, Ereignis, Kontext) - Positionen, 1986 (zit.: Positionen) Di Giovanni , Α.: Besprechung von F. Müller, Juristische Methodik, 5. Aufl. 1993, in: Diritto e Cultura 1993 (2. Heft) (zit.: Besprechung) Foucault , M.: Die Ordnung des Diskurses, 1974 (zit.: Ordnung des Diskurses) Hätz, H. : Rechtssprache und juristischer Begriff, 1963 (zit.: Rechtssprache) Heringer, begriff)

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Jeand'Heur, B.: Der Normtext: Schwer von Begriff oder über das Suchen und Finden von Begriffsmerkmalen. Einige Bemerkungen zum Referenzverhältnis von Normtext und Sachverhalt, in: F. Müller (Hrsg.): Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 149 ff. (zit.: Der Normtext) - Gemeinsame Probleme der Sprach- und Rechtswissenschaft aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, in: F. Müller (Hrsg.): Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 17 ff. (zit.: Sprach- und Rechtswissenschaft) - Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989 (zit.: Sprachliches Referenzverhalten) Jouanjan, O.: Présentation, in: F. Müller, Discours de la Methode juridique, 1996, S. 5 ff. (zit.: Présentation) Lakatos , I.: Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme, in: ders./A. Musgrave (Hrsg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt, 1974, S. 89ff. (zit.: Falsifikation) Müller, F.: Normstruktur und Normativität, 1966 (zit.: Normstruktur) - Recht - Sprache - Gewalt. Elemente einer Verfassungstheorie I, 1975 (zit.: Recht - Sprache - Gewalt) - (Hrsg.) Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989 (mit Beiträgen von Busse, Christensen, Jeand'Heur, Müller, Sokolowski, Wimmer) (zit.: Untersuchungen zur Rechtslinguistik) - Juristische Methodik, 5. Aufl. 1993 (7. Aufl. 1997) (zit.: Juristische Methodik) - Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994 (zit.: Strukturierende Rechtslehre) Passavant, O.: Artikel Norm, Normativismus, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts 1986, 2/ 380 (zit.: Norm, Normativismus) Saussure, F. de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 1967 (zit.: Grundfragen) Schiffauer, P.: Wortbedeutung und Rechtserkenntnis. Entwickelt an Hand einer Studie zum Verhältnis von verfassungskonformer Auslegung und Analogie, 1979 (zit.: Wortbedeutung) v. Polenz, P.: Deutsche Satzsemantik, 1985 (zit.: Satzsemantik) Wank, R.: Die juristische Begriffsbildung, 1985 (zit.: Begriffsbildung)

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D. Einige Grundfragen der Rechtslinguistik

Wimmer, R.: Referenzsemantik, 1979 (zit.: Referenzsemantik) Wimmer, R. / Christensen, R.: Praktisch-semantische Probleme zwischen Linguistik und Rechtstheorie, in: F. Müller (Hrsg.): Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 27 ff. (zit.: Linguistik und Rechtstheorie)

E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre* Die Strukturierende Rechtslehre ist keine der Praxis vorgeordnete Theorie. Sie will daher nicht aus fixen Voraussetzungen deduktiv ableiten, was ein Rechtstext seinem Wesen nach ist und wie eine darauf bezogene Tätigkeit juristischer Funktionsträger beschaffen sein müßte. Ihr Anfang liegt vielmehr inmitten juristischer Texte. Denn sie weiß, daß auch die von ihr produzierte Zeichenkette die vorgefundene Vielfalt nicht auf den einzigen Text hin reduzieren kann, sondern sie nur unabschließbar vermehren. Ihre Arbeitsweise ist folglich eine „induktive" 1 . Die Strukturierende Rechtslehre versteht sich als begleitende Reflexion einer Praxis des Rechts, in der die entscheidenden Maßstäbe juristischer Rationalität als verstreute bereits vorhanden sind. Ihre Aufgabe sieht sie in der Bündelung dieser Momente zu einem vorläufigen und für neue Entwicklungen offenen Modell. Damit sind theoretische Annahmen nicht Voraussetzung, sondern Folge einer Analyse der Praxis. Ebenso ist der angelegte Rationalitätsmaßstab kein aus der Philosophie importierter und nachträglich auf das Recht angewendeter.2 Vielmehr ist er ein sprachspielimmanenter. Es ist daher im folgenden keine auf das sogenannte Wesen bezogene Doppelpunktdefinition von Rechtstext und Textarbeit zu erwarten, sondern eine Analyse des praktischen Funktionierens dieser Größen. Diese Analyse kann und braucht nicht bei Null zu beginnen. Es gibt schon immer Reflexion über die praktische Tätigkeit der Juristen3, allerdings belastet mit politischen Legitimationsproblemen von großem Gewicht. Denn Textarbeit und Interpretationsfragen haben in der Jurisprudenz eine besondere Dramatik. Es geht dabei um Entscheidungen, die den Betroffenen auch gegen ihren Willen aufgezwungen werden können. Deswegen spricht Art. 92 der deutschen Verfassung von der „rechtsprechenden Gewalt", die er den Richtern anvertraut. Das Problem der Legitimation richterlicher Gewalt untersucht die Strukturierende Rechtslehre ausgehend von drei Fragen: - Welche Vorgaben liefert der Gesetzestext für juristische Entscheidungen? * Mit Ralph Christensen. ι F. Mittler, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 10. 2 Vgl. zur Kritik solcher Ansätze: ebenda, S. 309 ff. 3 Deswegen wird eine Systematisierung erst nach extensiver Diskussion des gegenwärtigen Standes der Methodik in der Rechtsprechung und in der Literatur entwickelt. Vgl. ebenda, S. 34 ff.

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E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

- Wie funktioniert die auf Texte bezogene Arbeit juristischer Entscheidungsträger? - Gibt es dabei eine Definitionskompetenz der Gerichte, welche als Gewaltausübung der Teilung, Kontrolle und Rechtfertigung bedarf? I. Der Text gibt nicht die Rechtsnorm, sondern eine geltende Zeichenkette vor Die Frage, welche Vorgaben der Gesetzestext für eine juristische Entscheidung macht, wird vom klassischen Positivismus eindeutig beantwortet: Der Gesetzestext bedeutet die hinter ihm stehende Rechtsnorm, und Geltung des Gesetzes heißt, daß man genau diese in der Textbedeutung objektiv vorgegebene Rechtsnorm auf den Fall anwendet. Damit sind für den klassischen Positivismus die Probleme gelöst. Die Fragen nach den Vorgaben des Textes für die Entscheidung, nach der Struktur juristischer Textarbeit und nach deren Rechtfertigung werden zu einem einzigen Zusammenhang kurzgeschlossen: Dem Normtext ist objektiv und ein-eindeutig die sprachliche Bedeutung zugeordnet, welche gleich einem Behälter die auf den Fall anzuwendende Rechtsnorm enthält. Wenn der Rechtsanwender über die Brücke der Bedeutung zu der hinter dem Text liegenden Rechtsnorm gelangt ist, hat er die Vorgaben des Textes ausgeschöpft, als Arbeitsleistung eine Bedeutungserkenntnis erbracht und ist genau insoweit legitimiert. Die Geltung des Normtextes verlangt eine Beachtung seiner objektiv vorgegebenen Bedeutung; und soweit dies geschieht, reicht auch die Rechtfertigung richterlichen Sprechens. Geltung, Bedeutung und Rechtfertigung werden zu einer einzigen Struktur verbunden. Zentrum dieser Struktur ist eine dem richterlichen Sprechen von der Sprache objektiv vorgegebene Bedeutung. Sie wirkt als Brücke zwischen Normtext und repräsentierter Rechtsnorm. Diese Brücke besteht und funktioniert unabhängig von den normativen Anforderungen und Regeln des juristischen Handelns als objektiver sprachlicher Artefakt. Wenn man „normativ" all die Umstände nennt, die der anstehenden Entscheidung ihre Richtung geben, so ist diese Normativität sowohl vom Subjekt als auch vom Argumentationsprozeß vollkommen abgelöst und in die Sprache projiziert. Die Sprache wird zum Subjekt des Rechts und zur Quelle der Normativität. Allerdings nur um den Preis, daß die Dynamik wirklicher Rede verdrängt wird und die Sprache einfriert zur statischen Ordnung eines Sprachgesetzbuches. Der fromme Wunsch der Juristen nach der objektiven und stabilen Bedeutung findet aber in der Sprache keine Grundlage. Selbst die klassische Rechtstheorie hatte in den riskanten Momenten ihrer Reflexion schon deutlich erkannt, daß jeder Sinn nur in einem unendlichen Sinnzusammenhang existiert und in diesem Sinnzusammenhang unübersehbare Wirkungen hervorruft 4. Die Unbeherrschbarkeit 4 Vgl. dazu G. RadbrucK Rechtsphilosophie, 1973, S. 213.

E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

„meines" Sinns, die des Sinnzentrums, das ich in den Text legen will, ist nicht eine Randerscheinung. Sie ist das Grundphänomen der Vertextung und wird noch kategorial verschärft durch die Verschriftung. Am schriftlichen Text ist ein Sinnzentrum, und erst recht sein einziger Sinn nicht festzumachen. Er wird durch andere Texte in einen ebenso unvermeidlichen wie unabbrechbaren Semantisierungsvorgang und in fortdauernde semantische Kämpfe hineingezogen. Diese Vorgänge und diese Kämpfe sind es, welche die Realität der Rechtsarbeit ausmachen, und nicht das kognitive Auffinden des einen richtigen „Normsinns", nicht das getreue Anwenden des gesetzgeberischen „Willens". Die Ordnung des juristischen Sprachspiels wird nicht in der Sprache vorgefunden, sondern sie stellt sich im Sprechen der Juristen erst her 5. Diese Herstellung läßt sich jedoch auch nicht in die freie Entscheidung einzelner Individuen auflösen. Denn das Einhalten bestimmter Maximen wird im kommunikativen Handeln der Juristen nicht nur über die Rückmeldung von Erfolg und Mißerfolg, sondern zum Teil sogar explizit in Form verfassungsrechtlicher Anbindung der Methodenkultur vorgeschrieben. Deswegen sind die spezifisch juristischen Maßstäbe der methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts und der Entwicklung der Rechts- und Argumentationskultur im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion zu untersuchen. Eine unterstellte objektive Ordnung der Sprache kann diese Reflexion nicht ersetzen. Der Rückzug auf die sprachliche Ordnung erfüllt nicht die Anforderungen, die an eine Rechtfertigung juristischen Handelns zu stellen wären, sondern verkürzt lediglich deren Einlösung zugunsten einer Scheinbegründung. Aus diesem Scheitern läßt sich lernen, daß die Herangehensweise der herkömmlichen Lehre an die Frage nach den sprachlichen Bedingungen praktischer Rechtsarbeit umgekehrt werden muß: Man kann nicht eine apriorische Theorie der Rechtstexte zu einer normativen Sprachtheorie erweitern und diese dann als deduktives Modell auf die juristische Textarbeit „anwenden". Vielmehr muß man zunächst bei der unvoreingenommenen Analyse der juristischen Textarbeit selbst ansetzen, um so die sprachlichen Bedingungen überhaupt erst zu bestimmen, innerhalb derer juristische Texte verwendet werden. Mit diesem Ansatz läßt sich endlich genauer erklären, was unter dem oft beschworenen schöpferischen Anteil richterlicher Tätigkeit zu verstehen ist: Unveränderlich vorgegeben ist der Konkretisierung nur der Normtext als Zeichenkette. Die Rechtsnorm als tragender Leitsatz der Entscheidung muß demgegenüber in einem von rechtsstaatlichen Anforderungen her strukturierten Vorgang erst erzeugt werden. Diese Neuformulierung des Problems führt in der Strukturierenden Rechtslehre zur Unterscheidung von Geltung und Bedeutung eines Normtextes. 5

Vgl. zu dieser Wendung zur Praxis in der amerikanischen Rechtstheorie: D. Patterson , Conscience and the Constitution, in: Columbia Law Review 93 (1993), S. 270 ff., 294: „Law is not a theory, it is a practice (...)." Patterson nimmt dabei in fruchtbarer Weise den Begriff Sprachspiel und Grammatik bei Wittgenstein auf. Vgl. auch Ph. Bobbitt, Constitutional Interpretation, 1991, S. 172; ders.\ Is Law Politics? in: Stanford Law Review 41 (1989) S. 1233 ff., 1244.

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E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

Wir wissen am Beginn der Konkretisierung, daß der Normtext etwas bedeutet. Darin liegt seine Geltung.6 Wir wissen aber vor seiner methodengerechten Verarbeitung nicht, was er bedeutet. Denn diese Bedeutung des Normtextes wird als Rechtsnorm erst von den Gerichten und gerade nicht vom Gesetzgeber erzeugt. Die Rechtsnorm ist in dem Zeitpunkt, da ein Jurist mit der Prüfung eines Sachverhalts beginnt, nicht nur deshalb und insoweit unfertig, als sich „ihr Sinn" dann jeweils erst „in der Konkretisierung vollendet". Das ist die unzulängliche Problemformulierung der Hermeneutik. Sie ist vielmehr, genau gesagt, in bezug auf diesen Fall und in dieser Phase der Entscheidung noch nicht vorhanden. Denn der Normgeber hat, realistisch gesehen, nicht Normen gegeben, sondern nur Eingangsdaten; der Gesetzgeber nur Normtexte, nicht bereits selbst normativ wirkende Größen. Der Normtext als Textformular kann die Textbedeutung nicht vorgeben. Die vom Gesetzgeber geschaffene Zeichenkette definiert keinen Ort stabiler Sprache, welcher als punktuelle Größe von der Auslegung nur verfehlt oder getroffen werden könnte. Eher legt sie ein Durchzugsgebiet fest mit Raum für konkurrierende Interpretationen, welche nur topographisch verortet werden können. In diesem Rahmen gibt es keine notwendige Verknüpfung zwischen Normtext und vom Rechtsarbeiter hergestellter Rechtsnorm, zwischen Textformular und Text, sondern nur im Rahmen einer gegebenen Argumentationskultur miteinander vergleichbare Plausibilitäten. Die Texte in den Gesetzbüchern sind aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre somit Vor-schriften: Schriften, schriftliche Texte vor dem Stadium, in dem die Texte der Rechtsnormen geschrieben werden können. Die Rechtsnormen als tragende Leitsätze der Entscheidungen können erst im Fall nach eingehender Entscheidungs- und Semantisierungsarbeit erzeugt werden. Die „Vorschriften" sind Vorformen der Gesetzesschriften. Sie heißen in der Strukturierenden Rechtslehre Normtexte. Die Vorgabe des Rechtstextes für die Entscheidung ist damit nicht ein fertiger und anwendungsbereiter Obersatz, sondern nur ein Textstück als Zeichenkette, die als Ausgangs- und Zurechnungspunkt der Entscheidungen fungiert. Vom klassischen Positivismus bleibt damit nur die Komponente des Rechtsgeltungspositivismus übrig 7. Dieser optiert in der Frage des sogenannten Geltungsgrundes, also in der Frage, warum diese und jene rechtliche Norm überhaupt gilt, gegen das Natur6 Das übersieht die Kritik von A. Somek, Der Gegenstand der Rechtserkenntnis, 1996, S. 60: Die Trennung von Zeichenkette und Bedeutung mache das semiotische Grundproblem unsichtbar, ob überhaupt ein Zeichen vorliege. Durch entsprechende Veröffentlichung in Gesetzesblättern usw. ist die Erkennbarkeit eines Normtextes als Zeichen sichergestellt. Es gibt also auch Grundprobleme, die sich den Juristen nicht stellen und die sie den Archäologen usw. überlassen dürfen. 7 Vgl. dazu F. Müller, Gespräch über Strukturierende Rechtslehre und Praktische Semantik, in ders. (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 189 ff., 204. - Zur Entfaltung der Begriffe von „Positivismus": ders., Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, 1990, S. 15 ff.

E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

recht, gegen alle auch pseudonaturrechtlichen Argumente und für die feststellbare, nachprüfbare Tatsache einer verfassungsrechtlich korrekten Setzung. In diesem besonderen Sinn sind heute so gut wie alle Rechtswissenschaftler und Rechtspraktiker Positivisten. Sie gehen davon aus, daß sie als praktische Entscheidungsträger bei der Produktion von Entscheidungs- oder Begründungstexten an die Zeichenketten sich halten müssen, die ihnen der demokratisch legitimierte Gesetzgeber geliefert hat; das heißt, technisch gesagt, an die Normtexte. Alles „höhere", insbesondere Moral- oder Naturrecht, darf dabei nicht in Erscheinung treten. Der Richter hat die Dienstpflicht, bei dem schöpferischen Prozeß, der zu Herstellung der Rechtsnorm führt, von den Normtexten auszugehen, die der Gesetzgeber hervorgebracht hat. Die Verknüpfung zwischen Gesetzgeber und Richter darf dabei weder zu stark noch zu schwach gefaßt werden. Zu stark wäre sie gefaßt, wenn man vom Gesetzgeber verlangte, daß er alle künftigen Lesarten und damit die Bedeutung seiner Texte determinieren solle. Diese Forderung des Positivismus scheitert an den sprachlichen Realitäten. Zu schwach gefaßt wäre diese Verknüpfung, wenn die Wahl des Ausgangspunktes für die Rechtsnormsetzung ins freie Belieben des Richters gestellt wäre. Denn der Gesetzgeber kann durch die Vorgabe des Ausgangstextes den schöpferischen Prozeß der Rechtsnormsetzung immerhin „irritieren". 8 Ein Textstück kann im Rahmen einer bestimmten methodischen Kultur zur Formierung von Lesarten nicht jede beliebige Bedeutung annehmen. Die vom Bundesverfassungsgericht immer wieder verwendete Formel vom Verbot richterlicher Normgebung9 muß also präzisiert werden: Die Rechtsnorm als Bedeutung des geltenden Rechts für den Fall setzt notwendig der Richter. Hier ist der Gesetzgeber mit der Determination überfordert. Den Ausgangspunkt dieses Prozesses als Normtext und die methodischen Maßstäbe muß sich der Richter aber von außen vorgeben lassen. Sonst wäre die „Irritation" durch den Gesetzgeber als rationaler Kern von Gewaltenteilung und richterlicher Bindung aufgehoben.

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Wenn man auf diese Verknüpfung Wert legt, könnte man das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Richter als strukturelle Kopplung bezeichnen. Zu den Dienstpflichten des Richters, den Normtext als Ausgangspunkt zu nehmen, müssen noch die methodenbezogenen Normen der Verfassung und ihre Präzisierung durch die Wissenschaft hinzutreten. Dadurch entsteht eine dreigliedrige Kette zwischen Gesetzgeber, Wissenschaft und Richter. Einzelheiten dazu unten in III. Die über die methodenbezogenen Normen der Verfassung vermittelte Bedeutung der Wissenschaft übersieht N. Schulte, Zur Lage und Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: DVB1, (1996), S. 1009 ff. u. 1012 Zum Begriff „strukturelle Kopplung" vgl. N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 440 ff., insbes. zur Irritation S. 442; ders., Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, in: Rechtshistorisches Journal 9, (1990), S. 176 ff. mit dem gelungenen Bild zweier Billardkugeln, die sich gezielt anstoßen, aber dann in verschiedene Richtungen rollen. 9 Vgl. dazu BVerfGE, 57, 220 ff., 248; 59, 330 ff., 334; 63, 266ff., 289; 65, 182 ff., 199; 69, 188 ff., 203; 69, 315 ff., 371 f.; 71, 108 ff., 115. - Dazu auch J. Berkemann, Das Bundesverfassungsgericht und „seine" Fachgerichtsbarkeiten. Auf der Suche nach Funktion und Methodik, in: DVB1, (1996), S. 1028 ff. u. 1035.

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E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

II. Die juristische Textarbeit steht nicht vor einem Erkenntnis- oder Verstehensproblem, sondern vor einem Entscheidungsproblem 1. Juristische Textarbeit zwingt die Gewalt des Konflikts

in die Sprache

Nehmen wir für einen Augenblick noch einmal die Perspektive des klassischen Positivismus ein. Was ist von hier aus von der Praxis und dem Gerichtsverfahren zu erkennen? Zunächst sehen wir nichts, wir hören etwas 10 : das Gemurmel eines Gesprächs. In seinem An- und Abschwellen, skandiert von Hammerschlägen, sind jetzt schon einzelne Stimmen zu unterscheiden. Einige sind laut, klar und schneidend, andere sind leise, unsicher stockend und werden häufig unterbrochen. Aus unserer Perspektive hat das Gespräch einen Gegenstand und ein Ziel: Es dreht sich um die Nacherzählung eines Vorgangs, der von den Beteiligten in unterschiedlicher Weise geschildert wird, und um verschiedene Sichtweisen des Gesetzes. Ziel des Gesprächs ist es, das Recht zu finden, das heißt seine Aussage für diesen Fall zu erkennen. Konversation also, wenn auch themenzentriert. Von Gewalt dagegen keine Rede11. Der Hammer des Richters trifft lediglich den Tisch, und die Verschiedenheit der Gesprächsrollen kommt je nach Verteilung der Temperamente auch im Alltag vor. Gespräch und Erkenntnis sind schließlich etwas grundlegend anderes als Schlagen, Treten, Fesseln, Töten und ähnliche Gewaltakte. Diese kommen nur als Gegenstand des Gesprächs vor, das Sprechen selbst dagegen ist gewaltfrei. Das soll sogar für das Ende des Gesprächs gelten: dann, wenn nur noch einer spricht, der Richter. Das Recht ist jetzt durch die gemeinsame Bemühung aller erkannt. Der Richter ist dazu berufen, das Ergebnis vor uns hinzustellen, es auszusprechen. Auch dabei übt er aus positivistischer Perspektive keine Gewalt aus, er entscheidet nicht, er faßt nur das Ergebnis der Erkenntnis zusammen. Es entscheidet und verantwortet allein das durch den Mund des Richters sprechende Gesetz, nicht etwa der Richter als wirkliches Subjekt. Mit dem Ausspruch des Urteils sind wir am guten Ende der Rechtsfindung angekommen und überlassen den Rest dem Vollstreckungsbeamten. Die im Ausgangs10 Damit entgeht uns vieles von dem, was man sehen könnte. Ganz naheliegend und deswegen oft übersehen: die Architektur der Gerichtsgebäude und ihrer Innenräume. Vgl. dazu die erhellende Analyse bei Th.-M. Seibert, Zeichen, Prozesse, 1996, S. 155; ders., Orte der Wahrheit. Zur Semantik der Räume von Hauptverhandlung und Psychoanalyse, in: Rotter (Hrsg.), Psychiatrie, Psychotherapie und Recht. Diskurse und vergleichende Perspektiven, 1994, S. 157 ff. 11 Vgl. dazu die Formulierung der juristischen Normalperspektive bei R. Dworkin , Law's Empire, 1986, S. 13 f. Die dort sogenannte „internal perspective" läßt nur das Rechtsgespräch zu und schließt jede Möglichkeit einer Wahrnehmung der damit verbundenen Gewalt aus. Vgl. dazu kritisch P. Schlag, Normativity and the Politics of Form, in: UPaLRev, 139, S. 801 ff.; ders., Cannibal Moves. An Essay on the Metamorphosis of the Legal Distinction, in: Stanford Law Review 40, (1988), S. 929 ff.

E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

punkt des Konflikts vorhandene Gewalt wurde aufgehoben in die Erkenntnis des Rechts. Es ist die vom Richter verlautbarte Sprache des Rechts, die diese Leistung vollbracht hat. Ist es aber wirklich eine Aufhebung und nicht vielmehr eine Metamorphose der Gewalt, die sich in der Sprache des Rechts vollzieht? Die Gewalt des Richters haben wir bisher nicht untersucht, noch nicht einmal bemerkt. Das liegt an unserer Perspektive: Wir sehen vom Richtertisch herab auf das Gewimmel der Rechtsfragen. Die richterliche Gewalt ist damit der Punkt, von dem aus wir wahrgenommen haben, ohne diesen Standpunkt selbst wahrzunehmen. Wenn wir umgekehrt von unten nach oben dem Richter ins Auge blicken, nehmen wir die Gewalt wahr. Genau diese Gewalt des Richters bildet den blinden Fleck in der juristischen Selbstwahrnehmung. Wenn wir die richterliche Gewalt und ihr Verhältnis zur Sprache verstehen wollen, müssen wir also die Perspektive wechseln. Gewalt und Sprache sind dann, anders als die herkömmlichen Auffassungen nahelegen wollen, gerade nicht klar geschieden. Es handelt sich nicht um zwei Welten, die sich allein an der Pforte des Justizpalastes berühren. Vielmehr bilden Sprache und Gewalt im Rechtssystem ein inniges Mischungsverhältnis, das genauer Analyse bedarf. Am Anfang des Rechtsstreits liegt die aktuelle oder potentielle Gewalt eines gesellschaftlichen Konflikts. Das Recht reagiert auf sie, indem es sie auf seine spezifische Weise aufnimmt, lenkt, verändert und suspendiert. Was „vorgegeben" ist, vor allem Gesetz nämlich, das ist der Konflikt im Freilauf seines unmittelbar feindseligen Antagonismus, in dem die Kontrahenten einander ihren Willen aufzuzwingen, einander ihren Interessen zu unterwerfen und sich so gegenseitig „das Gesetz zu geben" suchen. Es ist der Konflikt, in dem die Kontrahenten einander das Gesetz des Handelns aufoktroyieren wollen. 12 Die Furcht vor dieser praxeologisch unerbittlichen Konsequenz mag es denn auch sein, die die Kontrahenten dazu bewegt, einen Ausweg aus dem Selbstlauf des wildwüchsigen Konflikts im Rechtsgang zu suchen. Wenn der Richter den Normtext zur Hand nimmt und zur Bedeutungs"findung" ansetzt, ist es schon zu spät. Die Parteien haben die Bedeutung längst gefunden. Sie haben den vom Normtext als Zeichenkette definierten Raum bereits für sich als Arena ihres Kampfes, als „Kriegstheater" ihrer bürgerlichen Bataille, als Marsfeld eingenommen. Um die Bedeutung des Normtextes für den Konflikt ist es schon geschehen. In ihren Erklärungen dazu haben ihn sich die Parteien angeeignet, zu eigen gemacht als Einsatz im Konflikt. Diese Aneignung stellt zugleich den entscheidenden „Angriffspunkt" dafür dar, die ursprüngliche Brachialität des Konflikts in die Sprache zu wenden. Denn hier hat sie sich eben zugleich „zur Sprache" 12 Grundsätzlich zur Praxeologie des „reinen Konflikts" begrifflich anhand der Idealgestalt des Krieges C. v. Clausewitz , Vom Kriege, 1991, S. 17 ff. Clausewitz definiert: „Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen." Und fährt im übrigen auch für das Recht überaus treffend fort: „Die Gewalt rüstet sich mit den Erfindungen der Künste und Wissenschaften aus, um der Gewalt zu begegnen." S. 17.

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E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

gebracht und hier bietet sie sich zur Thematisierung und Behandlung wiederum mit den „Mitteln der Sprache" dar. Bei ihrer Sprache ist sie zu „packen" und zu „ergreifen", „dingfest" zu machen.

2. Der Konflikt

wird zum Kampf ums Recht gewendet

Das Recht kultiviert den Konflikt, indem es den drohenden körperlichen Zwang suspendiert, die Beteiligten zum Reden zwingt und vor die Entscheidung ein Verfahren und sprachliche Anschlußzwänge setzt. Es faltet die Brachialität des ursprünglichen Konflikts in die Sprache. Faltung heißt zunächst, daß das Äußere im Inneren wieder auftaucht 13. Die äußere auf den Körper bezogene Gewalt muß damit im Inneren des Rechtssystems als auf Sprache bezogene Gewalt wieder erscheinen. Das durch den Konflikt eröffnete Gewaltpotential wird vom Recht aufgenommen und vom Körper auf die Sprache umgebogen. Ist mit dieser ersten Faltung des Konflikts vom Körper auf die Sprache die Gewalt aber schon bewältigt ? Mit der Transponierung der ursprünglichen Gewalt des Konflikts in die Sprache wird deutlich, daß die Frage nach der Bedeutung die Rede in eine Krise stürzt. Aus dieser Krise vermag die Rede nicht mehr mit rein sprachlichen Mitteln herauszufinden. Genau darin liegt die der Bedeutung eigene Gewalt. Ausgetragen wird diese Gewalt als Kampf um eben diese Bedeutung. Die Rechtserzeugung muß die zwischen den Parteien streitige Bedeutung des Normtextes für den Fall entscheiden und nimmt dazu die Gewalt in sich auf. Sie arbeitet damit zwangsläufig auch als Sprachgewalt über den Konflikt. Semantisch wird die Gewalt der Bedeutung eingesetzt, um den aggressiv verzehrenden Kampf der Kontrahenten gegeneinander in einen produktiv agonalen Kampf umzubiegen. Der „Krieg der Bürger" wird mittels Sprache in die Tonart des Rechts gesetzt. Dieses Recht haben die Gegner sich längst genommen, wenn es zum Rechtsstreit kommt. Sie haben dafür auch schon den Normtextför sich eingenommen. Und sie sind damit auch bereits auf ihre Weise jener Verpflichtung zum Gesetz nachgekommen, die ihnen dafür abverlangt wird, mit ihrem Anliegen auch rechtlich Gehör zu finden und sich in ihrem Verlangen nach dem Ganzen des ihnen mit dem Gesetz in Aussicht gestellten Rechts vernehmlich zu machen. Wenn sie zum Rechtsgang antreten, haben die Streitparteien in dem zur Lösung anstehenden Konflikt sich immer schon den Text angeeignet, der in ihrer Sicht für solches Recht steht. Mit ihren Einlassungen und Erklärungen zu Sache und Person, mit ihren kontroversen und einander konterkarierenden Fallerzählungen 14, seien sie nun professio13

Vgl. zum Einschluß des Äußeren im Inneren der Falte: G. Deleuze , Die Falte: Leibniz und der Barock, 1995, S. 41 f., 46 ff. 14 Dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl., 1984, S. 254f. ders., Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 30 f.

E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

nell beraten in Form gebracht oder seien sie unbeholfen laienhaft; selbst noch mit der schlichten Unschuldsbeteuerung des Angeklagten, mit dem inkriminierenden Schrei und Fingerzeig, aber auch mit dem reumütigen Eingeständnis haben die Parteien dem Gesetz längst schon die Bedeutung ihres Interesses an einer Entscheidung des Konflikts gegeben. Mit ihren Schriftsätzen haben sie sich den Text des Rechts in ihrer Bedeutung des Gesetzes verfaßt und mit Blick auf den Richter ausdrücklich festgeschrieben. Mit der Klageerhebung und der Klageerwiderung machen die Kontrahenten diesen Text unüberhörbar geltend und setzen ihn als Feldzeichen der Auseinandersetzung, des Kampfes ums Recht vor die Schranken des Gerichts. Mit ihren Anträgen und Vorträgen im Prozeß setzen sie diesen Kampf in eigener Sache mit den Mitteln juristischer Textarbeit in das Verfahren hinein fort. 15 Und mit den Plädoyers schließlich suchen sie ihren Text als den alleinigen zu setzen; sie suchen so die Entscheidung, indem sie im Vorgriff des Urteils versuchen, ihren Widerpart in seinem Recht unter den Text des je eigenen zu beugen und damit aus dem Feld zu schlagen. Juristische Textarbeit wirkt so als eine Entscheidungstätigkeit in einem Gewaltverhältnis. Gewalt wirkt mit dem Eintritt in das Verfahren ohnehin schon auf der Seite des Gesetzes. Kläger und Beklagter wollen nicht etwa das Recht finden, sondern sie glauben im Gegenteil, das Recht schon zu haben. Wir haben verschiedene Versionen dessen, was Recht ist, die einander widersprechen und von denen höchstens eine sich durchsetzen kann. Das Interpretieren des Gesetzes ist alles andere als ein geisteswissenschaftliches Verstehen, das nur noch des hermeneutischen Feinschliffs bedürfte 16. Es ist vielmehr strategisches Handeln zur Durchsetzung der Rechtsversion, die den eigenen Zielen entspricht. Das Vorhaben der Parteien besteht darin, ein bestimmtes Verständnis der Textbedeutung gegen andere Verständnisweisen mittels spezifischer Argumente durchzusetzen. Der Streit dreht sich im Kern um sprachliche Gebrauchsweisen, um unterschiedliche Bedeutungserklärungen. Das Gesetz eröffnet diesem Konflikt seinen Raum. Die Untersuchung einzelner Entscheidungen ergibt, daß die Subsumtion unter Rechtsbegriffe nur der unproblematische Endpunkt einer sehr viel komplexeren Struktur ist, die sich in jedem wirklich problematischen Fall nicht in der Arbeit mit Begriffen erschöpft, sondern eine Arbeit am Begriff umfaßt. Während im Normalfall gelingender Kommunikation die Sprachregeln blind befolgt werden und nicht 15

In Wendung von Clausewitz' berühmter Formel vom Krieg als der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Vgl. zur authentischen Formulierung C. v. Clausewitz , Vom Kriege, 1991, S. 34. Und zur Interpretation der „Formel" R. Aron , Clausewitz. Den Krieg denken, 1980, S. 154 ff. 16 Vgl. zu dem Fortwirken des aufklärenden Moments der Hermeneutik in der Strukturierenden Rechtslehre F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 28. - Zum Konzept der Rechtsarbeit als nicht nur einem „Verstehen" oder „Interpretieren", sondern als einer Arbeit mit Texten in staatlichen Institutionen: ders., Juristische Methodik. 6. Aufl., 1995, S. 29 ff., 306 f., 313 f.

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E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

selbst Gegenstand der Kommunikation sind, liegt die Schwierigkeit für praktische Rechtsarbeit anders. Eine wesentliche Schicht des zur Entscheidung vorgelegten Falls bildet der „Streit um Worte", etwa um die Formulierung eines Vertrags oder die Bedeutung eines gesetzlichen Ausdrucks. Die Aufgabe praktischer Juristen liegt also im Formulieren einer Regel, die diesen Streit entscheidet. Nun zeigt aber die linguistische Diskussion17, daß keine Regelformulierung in die bloße Erkenntnis des vorhandenen Systems der Sprachregeln aufgelöst werden kann. Weil das System der Sprachregeln kein geschlossenes in der Weise ist, daß es unvorhersehbare Transformationen seiner Regeln ausschließen könnte, enthält jede Regelformulierung die strukturelle Möglichkeit einer solchen Transformation. Eine Regelformulierung ist deshalb kein bloßer Erkenntnisakt als Übergang vom Zeichen zur vorgegebenen und feststehenden Bedeutung, sondern ein Gestaltungsakt, der eine Zeichenkette durch eine andere ersetzt. Wenn diese Sprachgestaltung, wie im Fall praktischer Rechtsarbeit, mit einem Verbindlichkeitsanspruch gekoppelt ist, handelt es sich um eine Sprachnormierung. 18 Damit ist die Rechtserzeugung in der juristischen Textarbeit von allen Zügen symbolischer Gewalt gezeichnet. Nach der Definition von Bourdieu und Passeron ist symbolische Gewalt genau jene „Macht", „der es gelingt, Bedeutungen durchzusetzen und sie als legitim durchzusetzen, indem sie die Kräfteverhältnisse verschleiert, die ihrer Kraft zugrunde liegen" und die damit „diesen Kräfteverhältnissen ihre eigene, d. h. eigentlich symbolische Kraft hinzufügt". 19 Genau dies macht denn auch den ganzen „Witz" des semantischen Kampfes aus, so wie er in der semantischen Praxis der Normtextkonkretisierung stattfindet. Subjekt des Textes in seiner Bedeutung für den Konflikt und damit „Sitz" der Gewalt über die Bedeutung des Normtextes ist der Rechtsarbeiter als Herr über den Normtext. Er „verkörpert" die Regel und führt das Wort in der Frage, was an Bedeutung der Einlassungen für die Bedeutung als Recht zählt, was als „Erklärung der Bedeutung" gelten und ausschlaggebend sein soll. Das Gesetz bietet den Rahmen für den Kampf um das Recht in der Sprache, der durch das Durchsetzen einer Bedeutung des Gesetzestextes für den verhandelten Konflikt vom Richter entschieden wird.

17 Vgl. dazu R. Keller, Zur Epistemologie der Semantik, in: L. Jäger (Hrsg.), Erkenntnistheoretische Grundfragen der Linguistik, 1979, S. 22 ff., insbes. S. 34 ff. 18 Vgl. zum Begriff der Sprachnorm R. Wimmer, Sprachliche Normen, in: H.-J. Heringer u. a., Einführung in die praktische Semantik, 1977, S. 40 ff.: „Normen sind Regeln, die vorgeschrieben werden. Sie haben - vorschreibenden Charakter (...), - eine Tendenz zur Ausweitung ihres Geltungsbereichs, - und sie zielen auf die Herstellung von Übereinstimmungen zwischen verschiedenen Regeln ab." S. 45. 19

S. 12.

P. Bourdieu! J.-C. Passeron, Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, 1974,

E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

3. Entschieden wird der Kampf mit richterlicher

Gewalt

Ein „Wille zur Macht" braucht dem Richter dabei gar nicht erst unterstellt zu werden. 20 Er kann gar nicht anders, als ihn aufzubringen. Er hat ihn zu haben, damit er um des Rechts willen des Normtextes Herr wird. Er kann nicht einfach „die Bedeutung" des Normtextes „für den vorliegenden Fall" aussprechen oder hinschreiben, weil nämlich ohne sein eigenes konstitutives Handeln der Text überhaupt keine Bedeutung „hat" und von keinerlei Bedeutung für den Fall ist. Der Richter kann das Gesetz nicht bloß verlautbaren, weil nämlich das Gesetz nichts laut werden läßt als nur Worte über Worte. Und der Richter kann vor allem eben nicht „unschuldig" aussprechen, was das Gesetz für den vorliegenden Fall angeblich schon angeordnet habe. Was er statt dessen tut, ist etwas zu produzieren, und zwar seinen Text, seine schriftliche Anordnung. Um Herr des Verfahrens in dem anstehenden Fall und in der Entscheidung über ihn sein zu können, muß der Richter Herr über den Normtext werden, ihn als sein Metier und als Materie des Rechts beherrschen. Und er kann auch nicht anders denn sich den Normtext anzueignen und Herr über ihn zu werden; denn er ist es und nicht etwa das von ihm angeblich nur interpretierte Gesetz, der den Fall verbindlich, normativ entscheidet. Anders ausgedrückt: Damit im Fall Recht wird, hat der Richter ihm das Gesetz zu geben. So gilt der systematisch erste Gewaltstreich des Richters dem Text. Er legt Hand an ihn. Und er muß dies tun, um dem Fall zu geben, was durch den Fall in eine Bringschuld gebracht ist, Recht. Um das Gesetz in dem zur Entscheidung anstehenden Fall zur Geltung und zum Tragen zu bringen, muß der Richter den Gesetzestext als zunächst bloßen Normtext, als bloßes Textformular in Arbeit nehmen. Ohne diese Arbeit bliebe das Gesetz nur ein Stück Papier, bedeckt mit Druckerschwärze. Der Richter produziert das Gesetz, indem er es zu seinem Text einer Norm fortschreibt und aktuell in diesem „Moment von Bedeutung" vor den Fall setzt. Eben als leitenden Satz, als „Schiene", auf die der Fall zu setzen und in seine Entscheidung durch den Urteilsspruch überzuleiten ist. Damit rekapituliert der Richter nicht etwa das Gesetz und er aktualisiert es auch nicht nur. Der Richter „wendet" in keinem Sinn das Gesetz lediglich „an". Er wendet es in die entscheidende Norm für den Fall um. Er gibt ihm diese Wendung. Der Richter lauscht und liest nicht. Sondern der Richter schreibt und spricht. Zu meinen, der Rechtsarbeiter stelle lediglich interpretativ eine Bedeutung fest, die der Gesetzestext schon irgendwie bei sich „hat"; oder zu meinen, der Richter erkenne nur, was „hinter" den Worten des Gesetzes steckt und zwischen seinen Zeilen „verborgen" ist, heißt nicht nur die Semantik der Rechtserzeugung auf den Kopf zu stellen.21 Sondern es heißt vor allem, 20

Vgl. auch F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 173 f. Entsprechend vermerkt dann umgekehrt L. Wittgenstein, Das Blaue Buch, Werkausgabe 5, 1984, S. 15: „Wenn du zuerst fragst „Was ist eine Erklärung der Bedeutung?", so hat das zwei Vorteile. Du holst die Frage „Was ist Bedeutung?" gewissermaßen auf die Erde her21

6 F. Müller

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E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

die Gewalt zu verkennen, die praktisch darin liegt, daß der Rechtsarbeiter durch die Festlegung des Textes auf eine Bedeutung bilateral ineins 22 den Text auf einen Ausdruck verlegt, einen Ausdruck von Recht. Jeder Hauch einer versöhnlichen Ontologie der reinen Bedeutung verflüchtigt sich in der rauhen Luft semantischer Praxis. 23 Die Polarität 24 des beiderseitigen Anspruchs der Parteien auf das ungeteilt und unangefochten Ganze des Rechts macht eine Entscheidung zugleich auch unausweichlich und zwingend. Damit der Richter sie indes zu seiner Entscheidung über das Recht im Konflikt machen kann, das die Parteien meinen längst auf ihre Seite gebracht zu haben, hat er das „Gesetz des Handelns" an sich zu ziehen, das ihm so erst einmal zudiktiert ist. Er hat die Parteien aus dem Sinnzentrum des Normtextes zu verbannen, um Raum zu schaffen für seinen Text einer Norm als dem alles an Recht in dem zur Lösung anstehenden Konflikt entscheidenden. Und der Richter hat dafür vor allem die Gewalt der Bedeutung an sich zu bringen und sie gegen die Parteien mit ihrer faktisch angeeigneten Gesetzgebung zu wenden, die sie sich unter der Ordnung des Rechts zunächst einmal eher angemaßt als zugemessen haben. Der Gewaltakt des Urteils, der Sprung von der Regel ins Dunkel der Anwendung, vollzieht sich in der Abgeschlossenheit des Beratungszimmers. Der Richter erscheint wieder in der Robe als Signum seiner Amtsgewalt und verkündet die Wahrheit des Rechts im Urteilsspruch. Wie aber ist es um diese Wahrheit bestellt? Kann sich die Entscheidung des Konflikts überhaupt schon in dem Moment, in dem das Urteil gefällt ist, mit einer solchen Wahrheit des Rechts schmücken? Oder eilt nicht der Richter mit seinem Anspruch darauf einer Legitimierung heillos voraus?

unter." Der andere ist die Heilung von der „Versuchung", „dich nach einem Gegenstand umzusehen, den du „Bedeutung" nennst." 22 Im Sinne des Saussureschen Blattmetapher. Vgl. F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 2. Aufl., 1967, S. 43. Zum internen Zusammenhang von Ausdruck und Bedeutung auch L. Hjelmslev, Prolegomena zu einer Sprachtheorie, 1974, S. 54 im übrigen mit kritischem Verweis auf Saussure. Eingehend zeichentheoretisch zu einem aktivisch produktiven Zeichenbegriff gegenüber einem passivisch reproduktiven, repräsentationalistischen R. Keller, Zeichentheorie, 1995, S. 22 ff. 23 Siehe auch die Aufforderung bei L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe 1, 1984, Philosophische Untersuchungen, § 107: „Zurück auf den rauhen Boden!" 24 Zum „Prinzip der Polarität" in der Praxeologie der reinen Kombattanz, das im übrigen genau auch den spieltheoretischen Nullsummencharakter rein kompetitiver Spiele wiedergibt, C. v. Clausewitz , Vom Kriege, 1991, S. 28 f.

E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

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I I I . Erst die Einschreibung in die Textstruktur des Rechtsstaats macht die Ausübung richterlicher Gewalt legitim Die vom Richter ausgeübte Gewalt legt die Frage nach deren Legitimität nahe25. Gibt es eine Möglichkeit, diese Gewalt in Recht zu transformieren?

1. Die Erschwerung der Gewalt durch die Sprache begründet die Hoffnung auf das Recht Recht und Gewalt können nicht abstrakt einander gegenübergestellt werden. Dadurch wäre entweder der Blick dafür verstellt, in der Praxis des Rechts die Gewalt zu erkennen oder umgekehrt in der Praxis der Gewalt das Recht. Es würde also die Möglichkeit verspielt, Recht zu begreifen. Erst mit Blick auf die interne Verknüpfung von rechtsförmiger Gewalt und gewaltförmigem Recht wird eine Unterscheidung von legitimer und illegitimer Gewalt möglich. Es geht eben nicht einfach darum, wie es der Positivismus suggeriert und wie es ihm der Dezisionismus allzu bereitwillig bestätigt, Recht von Gewalt zu unterscheiden. Es geht vielmehr darum, die Kontaminierung beider zu begreifen. Wenn wir vom Recht verlangen, daß es in der Lage sein muß, wirkliche Konflikte legitim zu entscheiden, dann sind es gerade die Verunreinigungen, aus denen die Hoffnung auf das Recht erwächst: - Es ist die Unreinheit des Rechts, die uns überhaupt in die Lage versetzt, mit normativen Konzepten auf die Wirklichkeit einzuwirken. Denn das reine „Sollen" könnte das „Sein" nicht erreichen. - Es ist die Unreinheit der Sprache, die es uns überhaupt möglich macht, Konflikte zu entscheiden, denn die Vielfalt der reinen Sprache liefert keine Maßstäbe für die Selektion. - Es ist die Unreinheit der Gewalt, die es uns überhaupt ermöglicht, legitime Entscheidungen zu treffen. Denn die reine, von keinen äußeren Zwecken gebundene und kontrollierte Gewalt würde uns schwerlich als gerechtfertigt erscheinen. Gerade nicht eine Reine Rechtslehre, sondern erst eine Theorie, welche die Unreinheit der Scheidungen zwischen Recht, Sprache und Gewalt begreift, hat die Chance, eine Theorie des wirklichen Rechts zu erarbeiten. 26 Das Verhältnis zwischen den drei genannten Größen ist dabei nicht von einer Überordnung des Rechts geprägt, nicht einmal von einer Gleichordnung. Das Recht ist vielmehr das Medium, in welchem sich Sprache und Gewalt begegnen und bearbeiten. 27 25 Grundsätzlich zu den hier angesprochenen Fragen vgl. schon F. Müller, Recht - Sprache -Gewalt, 1975. 26 Vgl. F. Müller, Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, 1990, S. 98 ff.; dens., Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 287 ff., 292.

5=

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E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

Wollte man alle drei Glieder der Trias Recht - Sprache - Gewalt als ursprüngliche Phänomene ansehen, so wäre darin das Recht ein nichtiges, blieben nur Sprache und Gewalt übrig. Ein Mensch ist nicht ein Leib und eine Seele, sondern ein Körper und eine Sprache; eine Sprache, die seinen Körper von Anfang an überschreitet, ja traumatisiert; 28 die selber von Gewalt kontaminiert ist und Gewalt ausübt; die aus dem Körper, aus der Gewalt aber nicht abgeleitet werden kann. Dagegen ist Recht nur ein Sprachspiel; ein Sprachspiel unter anderen. Unter anderem ein gewaltbewehrtes Sprachspiel, unter diesen aber das einzige mit riesig angehäufter allgemeiner Gewalt versehene, das Sprachspiel des Staates. Alles, was am Staat und seinen Institutionen und deren Handeln aber nicht direkte Gewalt ist, violence , ist Sprache, ist mündlicher oder schriftlicher Text, so eben nicht zuletzt seine als „Recht" bezeichneten Handlungsformen: Sie sind Text und führen auf violence bzw. deren funktionelle Ersetzung im staatlich angeregten Vergleich hin. „Recht" hat neben „Gewalt" und „Sprache" keinen vergleichbar ursprünglichen Status. Anders gesagt: Die einzige Möglichkeit, die im Staat angehäufte Violence-Gzwalt zu disziplinieren, zu kultivieren, einzugrenzen, zu teilen, zu falten, ist Sprache, ist Textualität und sind die in dieser anfallenden Komplikationen, Hemmnisse, Selbstverpflichtungen, Selbstbindungen, Brechungen, Faltungen; und ist nicht etwa ein „Recht", das als etwas anderes als eben diese Sprache eigene zusätzliche Möglichkeiten böte. Die Gewaltenteilung durch Sprache geschieht institutionell und kompetenziell als Aufteilung der Gewalt in Portionen. Die quantitative Verminderung erfolgt nicht global, wohl aber für den je einzelnen Kontext. Und sie erfolgt zweitens durch In-Frage-stellen von Gewalt im Spiel der checks and balances. Gewaltenteilung braucht Sprache, denn sie ist vor allem eine Text-Teilung für die Institutionen nebeneinander. Sie ist eine Text-Verteilung für die Auffächerung der Kompetenzen und eine Text-Kontrolle wiederum durch Texte, eben in den checks and balances. Wie immer hat auch diese „Gewaltenteilung durch Textteilung" eine tatsächliche Violence- Basis in der Staatsgewalt. Die Teilung der Gewalten auf symbolischer Ebene als Textteilung ist eine Teilung der Gewaltbefugnis, - unter den und den Voraussetzungen - Texte der und der Art von sich zu geben - mit den und den Wirkungen und Relationen zu anderen Texten. 27 Am konkreten Beispiel werden die institutionell-pragmatischen Faktoren des semantischen Wandels untersucht bei D. Busse, Bedeutungswandel des Begriffs „Gewalt" im Strafrecht, in: ders. (Hrsg.), Diachrone Semantik und Pragmatik, 1991, S. 259 ff. 2 8 Das hat, in der Nachfolge Sigmund Freuds, besonders Jacques Lacan herausgearbeitet. - Die hier ausgeklammerten Konsequenzen für den hergebrachten Begriff des Subjekts werden weiter diskutiert bei K.-H. Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, Berlin, 1992, S. 19 ff.

E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

Gewaltenteilung als Teilung der Textkompetenz in Bezug auf violence führt die Gewalt in den Zusammenhang der rechtsstaatlichen Textstruktur ein. Dabei ist darauf zu achten, daß der Rechtsstaat nicht eine Textstruktur „hat", sondern daß er eine Textstruktur „ist". Die spezifische Textstruktur ist das, was den Rechtsstaat von anderen Typen der Staatsorganisation und Staatsrechtfertigung unterscheidet. Der Rest ist allen Typen gemeinsam: persönliche und sächliche Mittel im Sinn des Verwaltungsrechts. Den Gebäuden, deren Möblierung, den Papierstapeln und den in Amtskleidung gesteckten Personen ist nicht anzusehen, ob sie einen Rechts- oder einen Nichtrechtsstaat am Funktionieren halten. Nur die Strukturierungsart und die Semantik der staatsproduzierten Textmasse distinguieren ein rechtsstaatliches System von anderen Staatssystemen. Wenn es Aufgabe einer Theorie ist, das, was tatsächlich geschieht, adäquat aufzunehmen und es möglichst angemessen in Sprache zu erklären, dann muß die Rechtstheorie dieser Besonderheit der rechtsstaatlichen Textstruktur Rechnung tragen. Sie muß die spezielle Art, wie der Rechtsstaat Gewalt durch Sprache hemmt, in einer angemessenen Fragestellung erfassen. Nicht mehr Rechtsfindung", sondern Rechtsarbeit ist dabei das Stichwort. Nicht mehr passive Haltung des Juristen und Verantwortung beim legislatorischen Normgeber - sondern aktive Haltung des Rechtsarbeiters und die Verantwortung bei ihm. Nicht mehr: „Wie verstehe ich das Gesetz richtig, damit ich es dementsprechend richtig anwenden kann?"; und nicht (nur): „Wie interpretiere ich das Gesetz, damit ich meine der Interpretation mehr oder weniger folgende Entscheidung nach außen möglichst plausibel begründen kann?"; sondern: „Wie arbeite ich in normativer (und institutioneller) Verpflichtung mit dem Normtext, damit ich ihn rechtsstaatlich und demokratisch verantwortbar funktionieren lassen kann?".

2. Die richterliche

Gewalt wird der Teilung und Kontrolle unterworfen

Es geht also um eine zweite Faltung der Gewalt. Bisher wurde gezeigt, daß das Recht die Möglichkeit physischer Gewalt suspendiert und in die Sprache faltet. Zudem wird die Gewalt einem neutralen Dritten übertragen und in die rechtsstaatliche Textstruktur eingebunden. Was ist damit erreicht? Zunächst nur, daß dem Bürger die Möglichkeit unmittelbarer Gewaltanwendung genommen ist und daß diese monopolisiert wird bei einem Leitwolf, der allein zur Konfliktentscheidung und Gewaltausübung berechtigt bleibt. Allerdings wird diese Rolle nicht mehr wie bei Hobbes vom Monarchen wahrgenommen, sondern laut Carl Schmitt vom Richter. 29 Die Frage ist, ob es bei realistischer Einschätzung der von der Sprachlichkeit 29

„Eine gesetzmäßige Entscheidung ist heute dann richtig, wenn anzunehmen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte." C. Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl., 1969, S. 71, ebenso S. 79. Der Richter als Funktionärs-Maske tritt hier an die Stelle der Gesetzesbindung und die Einheitlichkeit wird später hergestellt über die Objektivität der Rassenzugehörigkeit als Grundlage für die Gleichschaltung der Richter. Vgl. C. Schmitt, Staat, Bewe-

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E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

des Rechts zu erwartenden Leistungen noch einen Schritt über den Dezisionismus hinaus geben kann. Kann man den Leitwolf in seiner schwarzen Robe nur verstekken, oder ist er domestizierbar? Kann also die vom Richter ausgeübte Gewalt noch einmal auf sich selbst gefaltet werden, indem sie teilenden und kontrollierenden Mechanismen unterworfen wird? Dazu müßte es eine Grenze richterlicher Gewalt geben, deren Überschreitung legitime und illegitime Ausübung dieser Gewalt trennt. Die Sprache ist allerdings mit der Rolle überfordert, dem juristischen Handeln objektive Grenzen vorzugeben. In der Sprache tragen Wörter und Sätze keine Grenzen mit sich herum. Die einzige elementare Schranke für das Sprechen ist die der Verständlichkeit. Das nützt den Juristen aber nichts. Denn verstehbar ist die Gegenposition immer. Die Wortlautgrenze 30 soll demgegenüber kenntlich machen, wann der Anwendungsspielraum des Gesetzes überschritten wird. Dies ist aber kein Problem, das in der Sprache immer schon gelöst wäre, sondern eines, das der juristischen Praxis immer wieder aufgegeben ist. Eine feste Grundlage könnte man der Auslegung nur verschaffen, wenn es gelänge, die Sprache des Gesetzes zu einem System stabiler Oppositionen einzufrieren. Dazu müßte man einen dem Spiel sprachlicher Differenzen entzogenen Punkt angeben können, von dem aus man über die Sprache urteilt. Dieser Punkt, ob Wille des Gesetzgebers oder Idee der Gerechtigkeit, ist aber, sobald er benannt wird, schon im Spiel. Es gibt keine Natur des Erkenntnisgegenstandes Text, die das Verstehen bestimmen und ihm eine Grenze vorgeben könnte. Auch die Natur des Textes ist uns nur als Text gegeben und der Auslegung unterworfen, statt ihr vorgeordnet zu sein. Vor diesem Hintergrund der Unbegrenztheit des methodisch Möglichen hat die Normprogrammgrenze, in der Tradition: Wortlaut grenze, als Grenze etwas Gewaltsames. Warum soll das „rein" methodisch, soll das anhand der Texte und in Gestalt von Texten ins Unbegrenzte fortführbare Spiel von Argument und Gegengesichtspunkt, von Kommentartext und Gegenkommentar an einer bestimmten Stelle abgebrochen werden? Diese Stelle ergibt sich in der Tat nicht aus dem Flechtwerk der behandelten sozialen Konflikte, diese Grenze nicht aus den „Methoden". Das Konzept der Strukturierenden Rechtslehre hat von Anfang an klargestellt, daß es nicht um Grenzziehung in dem Sinn gehen könne, als beginne jenseits der Grenze die Unmöglichkeit weiteren Argumentierens; vielmehr gehe es um Eingrenzung gemäß dem normativen, dem demokratisch-rechtsstaatlichen Code, „noch erlaubt/ nicht mehr erlaubt". Und vor der Ausarbeitung der ihr zugehörigen Methodik wurde schon bei der Erstbegründung der Strukturierenden Rechtslehre hervorgehoben, gung, Volk, 1933, S. 48. Kritisch zu diesem Ansatz N. Forgó , Die Pathogenese einer Methodologie, in: Juridikum Nr. 2 (1995), S. 30 ff. 30 Vgl. zu dieser Problematik auch D. Busse, Juristische Semantik, 1993, S. 206 f., S. 259 f. u. S. 269. - Zu: Normprogrammgrenze statt „Wortlautgrenze": F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 272 f., 293 ff., 296 f.

E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

bei der „äußerste(n) Grenze möglicher Konkretisierung" gehe es um die „Grenze zulässiger ( . . . ) " , um „den Bereich legitimer Konkretisierungsergebnisse". Das methodisch Mögliche ist unbegrenzt; das Postulat der Legitimität, hier an die durch Entscheidung praktisch handelnden Juristen gerichtet, setzt Grenzen. Die Grenzen, um die es hier geht, werden nicht von irgendwelchen intrinsischen Eigenschaften des Textes vorgegeben 31, von seiner inneren Natur. Weder der Wille des Gesetzgebers noch der Wille des Gesetzes bilden eine Grenze. Denkbar ist nur die Praxis einer Grenze, ein Wille zum Gesetz. Diese Grenze ist nicht von der Sprache vorgegeben, sondern in der Sprache als Praxis einzuhalten. Der Ort, an dem die Frage nach der Grenze richterlicher Gewalt gestellt werden muß, ist damit nicht eine von den Anforderungen des Positivismus diktierte Theorie sprachlicher Bedeutung, sondern die praktische semantische Tätigkeit der Juristen. An die Stelle illusionärer Bindungen, die das richterliche Sprechen determinieren sollen, treten praktische Anschlußnotwendigkeiten, die in den Prozessen der Bedeutungszuweisung und Aushandlung den Sprachkampf um die Satzverknüpfung kontrollierbar und diskutierbar machen. Das Rechtsstaatsprinzip als verfassungsrechtliche Vorgabe ist eine solche Entscheidung für die Praxis einer Grenze: es verlangt vom Rechtsanwender, dem engeren, dem spezifischeren Kontext für die Bedeutungsbestimmung den Vorrang einzuräumen. Der Widerstreit um die Durchsetzung von Wirklichkeits- und Textinterpretationen ist damit im Rahmen des juristischen Sprachspiels besonderen Anforderungen unterworfen. Diese Anforderungen, die unter den Streitenden eine gewisse „Waffengleichheit" herstellen sollen, sind verfassungsrechtlich und einfachgesetzlich festgeschrieben und werden als methodische Standards von der Wissenschaft präzisiert. Unter der Vorgabe des mit dem Normtext gesetzten Textformulars und der an die methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts rückgebundenen Standards methodischer Zurechnung sind die Möglichkeiten zur Durchsetzung einer bestimmten Interpretationsweise schon viel stärker eingeschränkt als etwa in einem auf das politische Sprachspiel bezogenen semantischen Kampf. So wird sich unter den Voraussetzungen eines demokratischen und gewaltenteilenden Rechtsstaats die Interpretation am besten durchsetzen lassen, die das von den textuellen Vorgaben bestimmte Gelände am besten zu nutzen weiß. Aber alle diese die Durchsetzung einer bestimmten Interpretationsweise erschwerenden Bedingungen sind nicht durch die Sprache, sondern in der Sprache vorgegeben. Sie sind legitimatorische Standards eines bestimmten Sprachspiels und keine Vorgaben, die schon mit der Sprache selbst gesetzt wären.

31 Vgl. dazu aus der Sicht der Sprachphilosophie: R. Rorty, Der Fortschritt des Pragmatisten, in: U. Eco, Zwischen Autor und Text, 1994, S. 99 ff., insbes. S. 104 ff. - Das oben im Text vorausgehende Zitat bei F. Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, S. 157, 160; ferner ebendort, S. 147 ff., 155 ff.

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E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

Es ergibt sich damit eine Grenze juristischer Textarbeit als Relation zwischen drei Größen: Der vom Gesetzgeber verabschiedete Normtext als Zeichenkette muß Zurechnungsgröße der Entscheidung sein. Die von der Wissenschaft bereitgestellten methodischen Instrumentarien eröffnen für die Bedeutungsbestimmung Kontexte. Ausgehend von methodenbezogenen Normen der Verfassung können diese Kontexte in eine Rangfolge gebracht werden, und gleichzeitig sorgt der Rahmen des Gerichtsverfahrens für ihre Verendlichung. Die Strukturierende Rechtslehre trifft sich damit im Ergebnis mit Debatten, die sich ganz unabhängig von ihr in anderen Textwissenschaften entwickelt haben.32 So faßt etwa Eco seine Position zu den Grenzen der Interpretation folgendermaßen zusammen: „Ich stimme zu, daß Eigenschaften, die wir (dem Text) beilegen, nicht intrinsisch, sondern relational sind. Doch wenn schon ein Naturwissenschaftler verstehen muß, daß selbst die Gravitation dreifach relational auf die Erde, die Sonne und einen Beobachter des Sonnensystems bezogen ist, dann schließt auch jede Textinterpretation drei Pole ein: (1) die lineare Textentwicklung; (2) den Leser mit seinem spezifischen Erwartungshorizont; (3) die kulturelle Enzyklopädie der jeweiligen Sprache mit den früheren Interpretationen desselben Textes. Dieser dritte Aspekt ist ganz im Sinne des verantwortlichen und konsensfähigen Urteils einer Lesergemeinschaft - oder Kultur - aufzufassen." 33 Ob diese Position für andere Textwissenschaften haltbar ist, kann hier nicht entschieden werden. 34 Die Standards der jeweiligen Lesergemeinschaft oder die Kunstregeln der Interpretation in der betreffenden Wissenschaft neuen Lesarten normativ entgegenzuhalten, ist tatsächlich eine schwierige Vorstellung. Aber diesen Problemen ist die Jurisprudenz dann enthoben, wenn in dem methodenbezogenen Rahmen des Verfassungsrechts eine derartige Entscheidung vorliegt. Unter dem Bonner Grundgesetz ergeben sich solche Anforderungen aus den methodenrelevanten Normen im Umkreis des Rechtsstaatsprinzips, vor allem im Hinblick auf Norm- und Methodenklarheit als Klarheit von Normtexten und von Normtextbehandlung. Dieser Komplex rechtsstaatlicher Anordnungen ist beispielsweise in Art. 19 Abs. 1 Satz 2, in Art. 79 Abs. 1 Satz 1 und in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG (jeweils in verschiedenen funktionalen Zusammenhängen) einzeln ausgeformt. Wenn der Wortlaut des Gesetzes besonders bedeutsam ist, so ist das eine Folge einerseits des geltenden Verfassungsrechts (auch des ungeschriebenen allgemeinen rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebots), andrerseits bereits der Option für eine geschriebene Verfassung. Aus der methodischen Eigenart grammatischer Auslegung allein ließe sich eine herausgehobene Stellung des Wortlauts dagegen schon darum nicht begründen, weil methodologische Verfahren als rechtspraktische und rechtswissenschaftliche Kunstregeln nicht normativ sind.

32 Vgl. dazu die Diskussion zwischen U. Eco und Vertretern der dekonstruktiven und pragmatistischen Ansätze in: U. Eco , Zwischen Autor und Text, 1994. 33 U. Eco , Erwiderung, in: ebenda, S. 150 ff., 154. 34 Vgl. dazu Culler, Ein Plädoyer für die Überinterpretation, in: ebenda, S. 120 ff., 132.

E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

Die Wortlautgrenze ist keine Grenze, die man vor der Argumentation bestimmen könnte, etwa durch Nachschlagen von Bedeutungsbeispielen in einem Wörterbuch. Sie entfaltet sich erst im Vorgang der praktischen Auseinandersetzung. Sie ist auch keine innere Eigenschaft des Textes etwa als anwesende Bedeutungssubstanz, sondern eine relationale Größe, welche die zu bearbeitende Zeichenkette in Beziehung zur betreffenden juristischen Argumentationskultur und zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an deren Standards setzt.

3. Der Rechtsstaat bildet eine Textstruktur Recht ist einerseits sprachliches Mittel von Herrschaft und andererseits, indem es rechtsförmige Herrschaft einer spezifischen Formalisierung unterwirft, auch Mittel zur Begrenzung von Herrschaft. Zentral für die Formalisierung von Herrschaft durch Recht ist die Sprache. Sie öffnet Herrschaftsvorgänge der Kommunikation und damit der Möglichkeit sprachlicher Kritik und Rechtfertigung. Im demokratischen Rechtsstaat nach dem Modell des Grundgesetzes sollen rechtsstaatliche Form und demokratische Politik im Sinn eines „materialen Rechtsstaats" zusammenkommen. Nicht dem formalistisch-autoritären Rechtsstaat mit Zügen des Obrigkeitsstaates, wohl aber dem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat entsprechen zusätzliche verfassungsrechtliche, sowie überhaupt rechtliche Sicherungen der Konsensfunktion seiner Rechtstexte: auf der Seite der Normtexte Forderungen wie Tatbestandsbestimmtheit, Rückwirkungsverbote, rechtliches Gehör, usw.; auf der Seite der rechtfertigenden Texte das Gebot der Methodenehrlichkeit (d. h. des Übereinstimmens von Finden und Begründen der Entscheidung), die verschiedenen Begründungspflichten, Einzelinstitute wie das der Abweichenden Meinung bei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, usw. Jenseits solcher einzelnen Beispiele läßt sich die Textstruktur dieser Rechtsordnung, von den Textsorten her, zunächst in anordnende und in rechtfertigende Texte einteilen. Normtexte (die „Gesetze" der Kodifikationen) treten als die Anordnungstexte par excellence auf; rechtfertigende Texte sind vor allem die Begründungssequenzen, die „Gründe" judizieller und exekutivischer Entscheidungen. Während diese der ihnen zugedachten Rolle von ihrer Textualität her gewachsen sind, haben sich die Normtexte in den Analysen der Strukturierenden Rechtslehre der letzten dreißig Jahre, inzwischen auch schon außerhalb ihrer 35 , als von der Rolle überfordert erwiesen, die ihnen, als anwendungsbereite „Normen", das herkömmliche Paradigma anweisen möchte. Normtexte können noch nicht „normativ" wirken; was ihnen zukommt, ist nur „Geltung" im oben genannten Sinn. Sie sind Vorformen der späteren Rechtsnormtexte, Eingangsdaten der Konkretisierungsarbeit. Dagegen spielen sie in dieser ihre entscheidende Rolle als Zurechnungstexte; die Anordnungstexte der Entscheidungen (Rechtsnorm, Entschei35 Vgl. die Bemerkung bei Th.-M. Seibert, Zeichen, Prozesse, 1996, S. 120.

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E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

dungsnorm) müssen ihnen methodisch plausibel zurechenbar sein. Der Text der Rechtsnorm, vorangestellter oder nur in den „Gründen" enthaltener Leitsatz der Entscheidung, ordnet typologisch an („in einem Fall wie diesem ...") und fungiert zugleich als Zurechnungstext für den Tenor. Dieser, der Text der Entscheidungsnorm, ist die Anordnung für diesen vorliegenden Einzelfall und gleichzeitig Zurechnungstext für die Vollstreckungsakte, die sich anschließen, sobald er mit Rechtsbehelfen nicht mehr angreifbar ist. In einem Gemeinwesen mit weitgehend kodifiziertem Verfassungsrecht ist vorentschieden, daß die Normtexte im Geschäft der Konkretisierung herausgehobene Funktionen innehaben. Sie fungieren als Zurechnungstexte. Die Ausübung richterlicher und der sonstigen staatlich rechtsentscheidenden Gewalt ist nur legitim, wenn sie auf diese legislatorischen Texte in methodisch korrekter Weise zurückgeführt werden kann. Weil aber Regelverfehlung kein dem Sprechen äußerlicher, klar abgegrenzter Bereich ist, sondern als strukturelle Möglichkeit der Verschiebung konstitutiv für jede Wiederholung einer Regel, hat die Strukturierende Rechtslehre das apriorische Textmodell einer notwendigen Verknüpfung zwischen Normtext und Rechtsnorm bzw. Entscheidungsnorm nicht aufgenommen. Der Rechtfertigungstext muß nicht die einzige und notwendige Verknüpfung zwischen Geltung und Bedeutung des Normtextes darlegen, sondern die im jeweiligen Verfahren tatsächlich durchgeführte. Dies ist die Anforderung der Methodenehrlichkeit. Es müssen die Maßstäbe der Zurechnung offengelegt werden, damit sie an den verfassungsrechtlichen Vorgaben gemessen werden können. Dieser Rechtfertigungszwang kann zwar nicht die eine und einzige Entscheidung garantieren. Aber er erschwert die Ausübung richterlicher Gewalt, indem er sie kontrollierbar macht. Der von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte Gedanke der Textstruktur gliedert also das Kontinuum juristischer Texte. Innerhalb dieser Textstruktur der Legalität, die eine durchgehende ist, geht ein Rechtsarbeiter, beispielsweise ein Richter oder ein mit Entscheidungsbefugnis betrauter Funktionär der Exekutive, vom vorgelegten Sachverhalt aus. Anhand von dessen Eigenschaften wählt er aus der Gesamtmenge des sogenannten geltenden Rechts, das heißt aus der Gesamtmenge aller Normtexte, die ihm als einschlägig, als für den Fall passend erscheinenden Normtexthypothesen aus. Die Interpretation der Sprachdaten liefert ihm als Zwischenergebnis das Normprogramm. Mit dessen Hilfe wählt er aus dem Sachbzw. Fallbereich, das heißt aus den im Fall aktuellen Realdaten, den Normbereich aus.36 Der Normbereich wird also konstituiert als die Teilmenge der für die Entscheidung als normativ mitwirkenden Tatsachen. Normprogramm und Normbereich bilden zusammen die vom Rechtsarbeiter auf diesem Weg erzeugte, generell formulierte Rechtsnorm. In einem letzten Schritt individualisiert er diese zur Entscheidungsnorm. 36 Vgl. dazu unter Einschluß der Rechtslinguistik B. Jeand'Heur, Sprachliches Referenzverhalten in der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 128 ff.

E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

Daraus geht in unserem Zusammenhang folgendes hervor: Sämtliche Stufen seines Arbeitsprogramms, soweit es sich dabei nicht um illegale und illegitime Überlegungen handelt, sind rechtsstaatlich vertextet, bzw. müssen von ihm im Fortschreiten der Konkretisierungsarbeit vertextet werden. Normtext, Normprogramm, der Normbereich der sekundär-sprachlichen Elemente, Rechtsnorm und Entscheidungsnorm ergeben, vereinfachend gesprochen, fünf Textstufen. Diese betreffen zum einen die genannten Strukturbegriffe des Normmodells, zum anderen die hauptsächlichen Stationen der Konkretisierung, eines Vorgangs tatsächlichen Handelns. Die Strukturierende Rechtslehre gewinnt mit diesem Ansatz die Möglichkeit, die von der Rechtsprechung ausgeübte Gewalt, ausgehend von den Maßstäben des Verfassungsrechts 37, zu reflektieren und zu kritisieren. Dabei treten im Rahmen einer RechtserzewgMHg.sreflektion die drei vom Positivismus kurzgeschlossenen Probleme von Geltung, Bedeutung und Rechtfertigung wieder auseinander. Das von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte Konzept der Legitimationsstruktur reformuliert die Rechtfertigungsfrage im kategorialen Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion. Die Sprachtheorie wird in diesem Zusammenhang nicht in der Weise auf die Erzeugung von Legitimationswissen festgelegt, daß sie die Notwendigkeit der vom Richter hergestellten Verknüpfung zwischen Normtext als Zeichenkette und Rechtsnorm als Bedeutung nachträglich mit Hilfe einer semantischen Theorie begründen soll. Vielmehr wird die Sprachtheorie hier mit dem Interesse an Produktionsv/issen aufgenommen und soll durch Hinweis auf sprachliche Alternativen die spezifisch juristischen Begründungslasten sichtbar machen. Es wird dann deutlich, daß die schöpferische Komponente der Rechtsarbeit kein besonders zu erklärender Ausnahmefall außerhalb der Reichweite der Gesetzesbindung ist, sondern der im Diesseits rechtsstaatlicher Gesetzesbindung zu begreifende Regelfall. 38 Im Rahmen des von der Strukturierenden Rechtslehre erarbeiteten Konzepts der Textstruktur kann die Rolle des Normtextes für die Rechtsentscheidung realistisch eingeschätzt werden. Der Gesetzgeber setzt keine Rechtsnormen, worin die Entscheidung der künftigen Fälle schon vorvollzogen wäre. Er bringt vielmehr Normtexte hervor, deren aus der Entstehungsgeschichte mitgebrachte Verwendungsweisen die Bedeutungskonstitution zwar beeinflussen, aber nicht festlegen können. Insoweit kommt dem Normtext als Eingangsdatum der Konkretisierung nur „Geltung" und nicht schon „Normativität" als verbindliche Bedeutung zu. Indem das

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Eine Rückbindung methodischer Maßstäbe jedenfalls an die rechtsstaatliche Forderung der Rechtssicherheit bejaht auch J. Berkemann, Das Bundesverfassungsgericht und „seine" Fachgerichtsbarkeiten - Auf der Suche nach Funktion und Methodik, in: DVB1, (1996), S. 1028 ff., 1034. 38 Vgl. dazu grundsätzlich F. Müller, ,Richterrecht\ 1986. - Grundsätzlich zum Konzept der Textstruktur: ders., Juristische Methodik, 6. Aufl., 1995, S. 136ff., 156, 289ff., 295 f., mit Nachweisen.

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E. Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre

Konzept der Textstruktur das herkömmliche Verständnis einer notwendigen Verknüpfung von Normtext und Rechtsnorm aufgibt, wird der diese Verknüpfung aktiv herstellende Rechtsarbeiter als Adressat der Geltungsanforderung erkennbar. Für ihn besteht eine gesetzlich festgelegte Dienstpflicht, die Rechtsnorm so zu erzeugen, daß er sie dem amtlichen Normtext korrekt zurechnen kann, und nicht etwa in „richterrechtlicher" Manier selbst einen Normtext als Zurechnungspunkt zu produzieren. Mit Hilfe dieses Konzepts können die methodischen Bindungen richterlichen Sprechens innerhalb des Vorgangs der Bedeutungskonstitution genauer bestimmt werden. Aus der Verbindung verfassungsrechtlicher Vorgaben mit der Analyse der Normstruktur läßt sich die Folgerung ziehen, daß der Richter bei einem methodologischen Konflikt um die weitere Verknüpfung dem normtextnäheren Argument den Vorrang einzuräumen hat. Mittels einer rechtsnormtheoretisch rückgebundenen Methodik lassen sich präziser kontrollierende Standards für die juristische Interpretationstätigkeit entwickeln. Im ganzen handelt es sich um ein diesen Typus von Rechtsordnung kennzeichnendes Strukturprinzip, das aus der Verfassungsgebundenheit der Gesetzgebung, aus der Rechts- und Verfassungsgebundenheit aller sonstigen Staatstätigkeit und allgemein aus der Rechtsbestimmtheit staatlichen Verhaltens folgt. Das Vorstehende macht auch klar, warum die richterlichen Begründungspflichten im positiven Recht sorgfältig ausgeformt sind. In methodisch nachweisbarer Bindung erlassene Entscheidungsnormen der Justiz sind im genannten Sinn „konstitutionell"; diese Bindung mißachtende sind nicht nur nicht legal, sondern auch nicht systematisch gerechtfertigt, nicht legitim. Der Sache nach ist ein rechtswidriges Urteil bloße Gewalt; es ist Herrschaft eines Menschen oder eines Gremiums über andere Menschen, nicht mehr Herrschaft „des" Rechts als einer den Rechtsstaat systematisch legitimierenden Instanz. In diesem Modell von Verfassungsstaat muß der Richter zum einen nach dem Rechtsverweigerungsverbot überhaupt entscheiden,; d. h. er darf sich nicht enthalten, Gewalt auszuüben. Und er muß zum andern rechtmäßig entscheiden; nicht aus Dezision, nicht aus eigener, sondern nur kraft „abgeleiteter" Gewalt. Er darf - so der Anspruch des Rechtsstaats - die Gewalt nicht schaffen, er darf sie „nur" funktionell vermitteln.