Die Einheit der Verfassung - Kritik des juristischen Holismus: Elemente einer Verfassungstheorie III [2 ed.] 9783428524327, 9783428124329

"Die theoretische Leistung des Verfassers und der Ertrag der Arbeit für Ausbildung und Praxis lassen sich kaum hoch

155 69 47MB

German Pages 311 Year 2010

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die Einheit der Verfassung - Kritik des juristischen Holismus: Elemente einer Verfassungstheorie III [2 ed.]
 9783428524327, 9783428124329

Citation preview

FRIEDRICH M Ü L L E R

Die Einheit der Verfassung Kritik des juristischen Holismus

Schriften zur Rechtstheorie Heft 76

Die Einheit der Verfassung Kritik des juristischen Holismus Elemente einer Verfassungstheorie III

Von Friedrich Müller

Zweite, erweiterte Auflage mit einer Einleitung von Ralph Christensen

Duncker & Humblot • Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 1979

Alle Rechte vorbehalten © 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-12432-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706© Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Das Argument aus der Einheit der Verfassung begann seinen Siegeszug bald nach Inkrafttreten des Grundgesetzes. Es hat sich vielfältig, aber auch wider sprüchlich entwickelt. Es ist noch nicht näher untersucht, w o h l aber fast ausnahmslos anerkannt worden. Das Argument gilt heute weithin als die wichtigste Neuheit i n der Verfassungsauslegung der Bundesrepublik. Ich hatte dieses Thema vor mehr als einem Jahrzehnt bearbeitet, den Text aber nicht veröffentlicht. Meine damaligen Vorschläge überprüfe ich nun an der seitherigen Debatte und am reichen Material der ständigen Rechtsprechung. Daher betrifft die Studie neben zahlreichen Fragen aus Theorie und Methodik auch dogmatische Themen wie: Verfassungsgrundsätze, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, verschiedene Schutzzwecke der Grundrechte, Normenwiderspruch und Verfahren dogmatischer Konfliktlösung. Die Analyse der Judikatur zeigt, wie die Praxis das Argument verwendet. Der systematische Teil gilt der Frage, wie es verwendet werden sollte. Dafür ist zu klären, worauf die Eigenschaften dessen hindeuten, was mit dem Ausdruck „Einheit der Verfassung" bezeichnet wird: auf eine selbständige Figur der Dogmatik, ein Hilfsmittel rechtsstaatlicher Entscheidungsarbeit oder eine Fata Morgana der Verfassungslehre.

Inhaltsverzeichnis Einleitung (Ralph Christensen)

I

1 Ausgangsfrage

9

2 Analyse der Rechtsprechung

12

2.1 Grundsatzkonforme Verfassungsauslegung

12

2.2 Begründung von ungeschriebenem Verfassungsrecht u n d von Richterrecht

40

2.3 Systematische Argumentation

49

2.31 Systematische Auslegung m i t Verfassungsgrundsätzen

49

2.32 Einfache systematische Interpretation

63

2.4 Gegenseitige Begrenzung von Verfassungsrecht

70

2.5 Die L i n i e n der Rechtsprechung

80

3 Möglichkeiten für einen Einsatz des Arguments „Einheit der Verfassung"

85

3.0 Ausgangspunkte: Staatsauffassungen — Vorverständnisse von E i n heit i n verschiedenen Rechtsgebieten — strukturierende N o r m theorie — juristischer Systembegriff — Einheit und Ganzheit

85

3.1 Formale Möglichkeiten

92

3.11 Einheit als Geschlossenheit 3.111 Freiheit von Lücken 3.112 Freiheit von Widersprüchen und Lückenlosigkeit 3.12 Einheit der Verfassungsurkunde

92 92 103 114

3.121 Texteinheit des Grundgesetzes

114

3.122 Folgerungen aus der Texteinheit

121

3.13 Einheit der Rangstufe von Rechtsquellen

125

3.14 Einheit der Verfassungsstruktur

136

8

Inhaltsverzeichnis 3.2 Inhaltliche Möglichkeiten

145

3.21 Ideologische Einheit

145

3.22 Einheit des verfassungsgeschichtlichen Typus

163

3.23 Legitimierende Einheit

167

3.24 Funktionale Einheit

173

3.3 Methodologische Möglichkeiten

184

3.31 Einheit als geisteswissenschaftliches A p r i o r i

184

3.32 Einheit als Instrument der Normkonkretisierung

185

3.321 Systematische Argumente 3.321.1 Allgemeine Systematik 3.321.2 Verfassungsgrundsätze 3.321.3 Systematische Begrenzung von Grundrechten ...

188 188 191 195

3.322 Harmonisierende Verfassungsinterpretation

216

4 Einheit der Verfassung?

225

4.1 Spielarten des Arguments

225

4.2 Eine Prognose

234

Literaturverzeichnis

237

5 Einheit der Rechtsordnung

255

Personenregister

263

Sachregister

266

Entscheidungsregister

275

Einleitung Müllers „Einheit der Verfassung" und das Konzept diskursiver Gewaltenteilung

Ralph Christensen

1. Diskursive Gewaltenteilung 2. Einschließende u n d ausschließende Gewalt i n der Rechtstheorie a) Trennung: Carl Schmitt b) Verschränkung: Rudolf Smend c) Reflexion: Hans Kelsen

II III IV VIII XI

3. Der starke Holismus der herkömmlichen Lehre a) Die Formierung der Drittwirkungslehre b) Die Abwägung aus dem Ganzen c) Das Beispiel der Lüth-Entscheidung

XV XV XVIII XIX

4. Der schwache Holismus der Strukturierenden Rechtslehre a) Der Holismus funktioniert praktisch b) Der Holismus funktioniert horizontal c) Der Holismus funktioniert ohne Ganzes

XXV XXVI XXIX XXX

5. Diskursive Gewaltenteilung i m Rahmen einer holistischen Semantik

XXXII

Als 1979 Friedrich Müllers Buch „ D i e Einheit der Verfassung" erschien, wurde es zwar ein Verkaufserfolg, blieb aber zunächst ohne größere A u s w i r k u n g i n der Fachwissenschaft. Damals fehlte i h m noch der Resonanzboden. Die von i h m vollzogene nicht akademisch abstrakte, sondern konkret-praktische, seine textnah minuziöse Dekonstruktion des ganzheitlichen Rechtsbegriffs am Beispiel der Vorstellung einer Einheit der Verfassung konnte noch nicht an eine entsprechende Debatte i n Philosophie u n d Rechtstheorie anschließen; die Texte von Derrida waren nicht übersetzt, waren dem Autor i m übrigen auch noch nicht bekannt. Auch der von i h m vorgeführte, der praktisch vollzogene Übergang von einem starken (vertikalen) zu einem schwachen (horizontalen)

II

Einleitung

Holismus konnte noch nicht an die Diskussion i n der analytischen Philosophie anknüpfen, da deren pragmatische Wende gerade erst begonnen hatte. Nach fast 30 Jahren ist das Buch jetzt nicht mehr so ungleichzeitig wie damals, eine Reihe von Anschlüssen lässt sich bereits überblicken. I n dieser Einführung soll der Topos der diskursiven Gewaltenteilung hervorgehoben werden, der i m p l i z i t die Geschichte der Rechtstheorie i m 20. Jahrhundert durchzieht u n d der von Friedrich Müller hier i n einer spezifischen Wendung ausgearbeitet worden ist. 1. Diskursive Gewaltenteilung Wenn man ein Satzsystem beschreibt, kann man unter dem Aspekt der Arbeits- oder Gewaltenteilung drei Komponenten unterscheiden. 1 Die einbeziehende Gewalt stellt die Frage, wie viele Sätze i n das System aufgenommen werden sollen. 2 Die ausschließende fragt nach deren Verträglichkeit 3 u n d die reflektierende Gewalt stellt die Frage, ob sich aus der D i a l e k t i k von Einschluss u n d Ausschluss ein E n t w i c k lungsprozess ergibt. 4 I m juristischen Satzsystem dienen die Grundrechte als einschließende Gewalt, denn sie erlauben die Produktion neuer Sätze u n d Verhaltensstrategien. Der ganzheitliche Topos der „Einheit der Rechtsordnung" fungiert dagegen als ausschließende Gewalt, an der die Verträglichkeit dieser Innovationen geprüft w i r d . Während die Grundrechte diese Varianz zunächst ermöglichen, dient der Ganzheitsgesichtspunkt der nachfolgenden Selektion. Ob es eine E n t w i c k l u n g u n d damit eine reflektierende Gewalt geben w i r d , hängt davon ab, ob das Verhältnis von Einschluss u n d Ausschluss stabil ist oder ob es variiert. Wenn man die Einheit der Rechtsordnung sehr stark fasst, ist das Verhältnis von ausschließender u n d einschließender Gewalt schon vorentschieden, eine reflektierende Gewalt w i r d dann überflüssig. Das Funktionieren der diskursiven Gewaltenteilung setzt voraus, dass die Form des Ganzen nicht schon semantisch vorentschieden ist. Deswegen führt die Grundrechtskollision zum Problem der holistischen Dimension j u r i s t i scher Semantik. Hier soll nicht bestritten werden, dass eine Semantik einen Bezug zum Ganzen braucht, dass sie m i t anderen Worten holistisch zu fassen ist. Bedeutung ist keine intrinsische Eigenschaft irgendwelcher Sprach1 Vgl. dazu Bruno Latour, Das Parlament der Dinge, Frankfurt am M a i n 2001, S. 131 ff., zusammenfassend S. 302 ff. 2 Latour, ebd., S. 140 ff. 3 Latour, ebd., S. 148 ff. 4 Latour, ebd., S. 251 ff.

Einleitung

III

elemente, sondern eine relationale Eigenschaft. Einen Satz zu verstehen, heißt eine Sprache zu verstehen. Aber es stellt sich die Frage, ob dabei das Ganze der Sprache als Grammatik schon jeweils verfügbar sein muss, oder ob die Sprache nicht eher nur den Horizont für p r a k t i sche Verständigungsprozesse bildet. Das erste wäre ein starker, das zweite ein schwacher Begriff von Holismus. Die diesem Problem i n L i n g u i s t i k u n d Sprachphilosophie gewidmete Diskussion hat zu Differenzierungen i m Begriff des „Ganzen" geführt. Die S t r u k t u r eines holistischen Arguments 5 lässt sich m i t zwei Gegensatzpaaren sichtbar machen: E i n Holismus ist vertikal, wenn er dem Schema Ganzes u n d Teil folgt u n d damit die Teile als defizitär u n d einer Einordnung bedürftig begreift. Er ist horizontal, wenn er das Schema Gestalt u n d Horizont zugrunde legt u n d damit den Teil als produktiv u n d das Ganze als abhängig von dessen Sicht begreift. E i n Holismus heißt epistemisch, wenn er das Ganze für eine bestimmbare Größe hält, von der aus man deduktiv argumentieren kann. E i n Holismus heißt praktisch, wenn er das Ganze als Möglichkeit zur Öffnung des Rahmens einer konkreten Diskussion sieht.

2. Einschließende und ausschließende Gewalt in der Rechtstheorie Die A r t , wie man das Verhältnis von einschließender u n d ausschließender Gewalt ordnet, kennzeichnet die i n der deutschen Staatsrechtslehre vertretenen Positionen. Carl Schmitt glaubt nicht, das Recht könne gegenüber der einschließenden Gewalt der Grundrechte seine E i n heit selbst garantieren. Diese Aufgabe w i r d i n die Politik externalisiert. Smend dagegen w i l l den Ausschließungsmechanismus als immanenten Wertbezug i n die Grundrechte selbst verlegen. D a m i t legt er ihnen die Bürde der Integration i n den Staat als prozedurale Einheit auf. 6 Die reflektierende Gewalt fehlt bei beiden Denkern, w e i l sie die staatliche Einheit als Endzweck betrachten. Erst der Pluralismus lässt, i n der Konzeption Kelsens, jedenfalls schon einmal den Ort der reflektierenden Gewalt erkennen. 5

Vgl. Martin Seel, Für einen Holismus ohne Ganzes, in: Georg W. Bertram / Jasper Liptow (Hrsg.), Holismus i n der Philosophie. E i n zentrales Motiv der Gegenwartsphilosophie, Weilerswist 2002, S. 30 ff., 37 f.; der dafür auch auf die Sprachphilosophie W i l h e l m von Humboldts verweist. Weiter auch Michael Esfeld, E i n Argument für sozialen Holismus u n d Überzeugungs-Holismus, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 54, 2000, S. 387 ff. 6 Z u den Freiheitsrechten als Gesamtzweck u n d als neues Staatsethos vgl. schon Rudolf Smend, Bericht, AöR N.F. 13 (1927), S. 105.

IV

Einleitung

a) Trennung: Carl

Schmitt

Die Grundrechte stellten die Weimarer Staatsrechtslehre zunächst vor eine Verlegenheit. Die Leistung dieser Rechtspositionen war noch nicht diskutiert 7 , ihre auch objektive Seite noch k a u m ausgeformt. 8 Sie boten daher Anlass für den so genannten Weimarer Methodenstreit, 9 i n dem sich Positivisten u n d Antipositivisten gegenüber standen. Carl Schmitt gehörte zu den Gegnern des Positivismus. Er ging i n seiner „Verfassungslehre" von einem fundamentalen Verteilungsmechanismus innerhalb des bürgerlichen Rechtsstaats aus. Demzufolge steht eine unbegrenzte Freiheitssphäre des Individuums einer p r i n zipiell begrenzten Eingriffsmöglichkeit des Staates gegenüber. 10 Deswegen entstehe m i t der Anerkennung positivrechtlicher Grundrechte i n der Verfassung das Risiko, dass auch i m Staatsinneren das p o l i t i sche Universum durch ein Pluriversum ersetzt werden k ö n n e . 1 1 E n t gegen Smend glaubt er nicht, dass man innerhalb der Verteilungslogik des bürgerlichen Rechtsstaats die Grundrechte einer Steuerung durch Werte unterwerfen k ö n n t e . 1 2 Das Recht kann seine eigene Einheit nicht als ein bloßes System von (Rechts-)Sätzen garantieren. Diese Garantie w i r d zur Aufgabe einer politischen Grundentscheidung. 7

Vgl. als Überblick über die Grundrechtsdiskussion i n der Weimarer Zeit: Carl-Hermann Ule, Über die Auslegung der Grundrechte, in: AöR 60 (1932), S. 37 ff. 8 Die objektive Seite der Grundrechte liegt unter anderem darin, dass sie für den einfachen Gesetzgeber eine Vorgabe u n d für den Richter eine Auslegungsregel bilden. Es gab zur Entdeckung dieser objektiven Seite lediglich erste A n sätze, vgl. Hans Kelsen , Die E n t w i c k l u n g des Staatsrechts i n Osterreich seit dem Jahre 1918, in: Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 1, Tübingen 1929, S. 154 ff.; Martin Wolff, Reichsverfassung und Eigentum, in: Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm K a h l zum D o k t o r j u b i l ä u m am 19. A p r i l 1923, Tübingen 1923, S. 3 ff., 23; Carl Schmitt , Verfassungslehre (1928), 5. Aufl., Berlin 1970, S. 170 ff. 9 Diese Diskussion wurde auf der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer geführt u n d bezog sich auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 109 WRV. Als Vertreter der antipositivistischen Richtung referierte E r i c h Kaufmann, als Vertreter der positivistischen Hans Nawiasky. Vgl. dazu W D S t R L 3 (1927), S. 2 ff. (Erich Kaufmann ), S. 25 ff. (Hans Nawiasky). Vgl. dazu grundsätzlich Michael Stolleis, Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre - ein abgeschlossenes K a p i t e l der Wissenschaftsgeschichte?, Stuttgart 2001; sowie ders Geschichte des öffentlichen Rechts i n Deutschland, Band 3, München 1999, S. 153-202. Vgl. außerdem Rudolf Smend, Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehre u n d der Richtungsstreit, in: Horst Ehmke (Hrsg.), Festschrift für U l r i c h Scheuner zum 70. Geburtstag, Berlin 1973, S. 575 ff. 10 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 9. Aufl. Berlin 2003, S. 164. 11 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 9. Aufl. Berlin 2003, S. 158. 12 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 9. Aufl. Berlin 2003, S. 167.

Einleitung

V

Schmitt begründet das m i t seiner Einschätzung der Leistungsfähigkeit von Gesetz u n d juristischer Methodik. Bereits 1912 i n ,Gesetz und Urteil' hatte er darum die Auflösung der klassischen Methoden der Gesetzesauslegung beschrieben u n d ein Modell der Emanzipation der richterlichen Entscheidung von der N o r m dagegen gestellt. 1 3 E r warf dort die Frage auf, welches normative Prinzip der modernen Rechtspraxis zugrunde liegt. Aber er kann diese Frage nicht beantworten, weil i h m die dafür erforderlichen Methoden fehlen. Der Sache nach wäre es u m eine normative Pragmatik gegangen; gerade die Orientierung des Urteils am anderen Richter macht dies deutlich. I m merhin verweist Schmitt m i t dem „anderen Richter" auf die Sozialdimension des Rechtssinns. Die Dimension bleibt aber unbestimmt, w e i l er sich weigert, den Richter empirisch oder normativ teleologisch zu explizieren. 1 4 Wenn aber „der andere Richter" weder ein Ideal noch ein empirischer Durchschnitt ist, dann ist er eben nur ein leeres Blankett für die immer noch vermisste Theorie der Praxis. Deswegen findet man bei Schmitt zwar eine treffende K r i t i k der herkömmlichen Fiktionen über die Einlösung der Gesetzesbindung. Aber w e i l auch er - i m Sog des klassischen Positivismus - das Gesetz n u r als zur Subsumtion bereiten Text versteht, kann er die tatsächlichen Bindungen der Praxis nicht auffinden u n d landet so seinerseits üblichen Rechtsquellenpotpourri. Die vage Anrufung aller möglichen bildungsbürgerlichen Sozialisationsinstanzen wie „Naturrecht" oder „Rechtsidee" kann natürlich konkrete Entscheidungen i n keiner Weise erklären. Weil i h m für konkrete sprachpragmatische Untersuchungen die methodischen Instrumente fehlen, landet er i n einer Sackgasse, aus der er sich nur m i t einem Gewaltstreich befreien kann. Rechtsentscheidungen fasst er i n seiner späteren theoretischen E n t w i c k l u n g als W i l lensakte, deren Inhaltsbestimmung normativ einer creatio ex nihilo entspreche. 15 Rechtliche auctoritas verleihe nur die Dezision, entscheidend beim Entscheiden seien die Fragen „Quis judicabit?" oder 13

Thomas Vesting, Erosionen staatlicher Herrschaft. Z u m Begriff des Politischen bei Carl Schmitt, Archiv des öffentlichen Rechts 117 (1992), S. 4 ff. (31). 14 Vgl. dazu Carl Schmitt , Gesetz und Urteil, Berlin 1912, S. 79 ff. und durchgängig, auch S. 75, Fn. 1 m i t der Abgrenzung zur Soziologie. Natürlich bezieht sich Carl Schmitt eine Reihe von Vorgängern. Vgl. zu dieser von Hobbes her zu strukturierenden Traditionslinie Jakob Barion , Macht und Ethos i m Recht, Philosophisches Jahrbuch 59 (1949), S. 191 ff.; allgemein zum Argumentationsmuster dezisionistischer Theorien: Eckard Bolsinger, Was ist Dezisionismus? Rekonstruktion eines autonomen Typs politischer Theorie, Politische Vierteljahresschrift 39 (1998), S. 471 ff. Z u r Einschätzung der methodischen Seite der Argumentation von Schmitt vgl. Nikolaus Forgö, Politisch konkret: Die Pathogenese einer Methodologie, Juridikum. Zeitschrift i m Rechtsstaat 2 (1995), S. 30 ff.

VI

Einleitung

„Quis i n t e r p r e t a b i t u r ? " 1 6 A u c h wenn Schmitt noch i n ,Gesetz u n d U r teil' die F u n k t i o n der Entscheidungsbegründung darin sah, dass diese eine ,Richtigkeitsüberprüfung' des Entschiedenen vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Rechtsbestimmtheit u n d nicht lediglich des Ergebnisses ermögliche 1 7 , hebt Schmitt später deutlich die Disj u n k t i o n von Entscheiden u n d Begründen hervor. 1 8 Der Sinn einer Entscheidung sei, „ n i c h t überwältigende Argumentation, sondern eben Entscheidung durch autoritäre Beseitigung des Z w e i f e l s 1 9 . " Schmitt verschiebt so das Grundproblem des Rechts von der K o m munikation u n d den Anschlusszusammenhängen zu der rein formalen Frage nach der letzten Entscheidungsinstanz. D u r c h diesen Gewaltstreich verschwindet dann auch noch das Souveränitätsproblem, da Rechtsnormen letztlich nichts darüber auszusagen vermögen, wer das Entscheidungsmonopol i n n e h a t 2 0 . Schmitts Modell bleibt i n diesem Sinn seltsam subjektivistisch, es setzt nicht auf kommunikative Operationen, sondern auf einzelne Personen, auf Entscheider. Obwohl er an anderer Stelle zu Recht die Fragmentierung gesellschaftlicher A n schlussbereiche bemerkt u n d Wirtschaft, Recht, Politik etc. als „relativ selbständige Sachgebiete" beschreibt 2 1 , verfällt er damit i n eine isolationistische Subjekt-Text-Form; er begeht so einen voluntaristischen Grundfehler, der das zirkuläre Verhältnis von Semantik u n d Gesellschaftsstruktur vernachlässigt u n d einen vertikalen Holismus voraussetzt. Dazu fügt sich, dass er das Politische als „die Möglichkeit eindeutiger, klarer Unterscheidungen" 2 2 definiert u n d es als begriffslogisch nachfolgend i n der Codierung von Freund/Feind zu personalisieren versucht. 2 3 Schmitt glaubt, dadurch alle K o n f l i k t d y n a m i k stillstellen zu können. Erst dann sei die Grundlage für den Staat als status gegeben: 16 Carl Schmitt, Der Leviathan i n der Staatslehre des Thomas Hobbes (1938), Berlin 1982, S. 174; ders., Positionen u n d Begriffe i m Kampf m i t Weimar - Genf -Versailles, 1923-1939, 3. Aufl., Berlin 1994, S. 50 u n d S. 206. 17 Carl Schmitt, Gesetz u n d Urteil, Berlin 1912, S. 82 ff. 18 Siehe n u r Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 3. Aufl., Berlin 1979, S. 41 ff. 19 Carl Schmitt, Der H ü t e r der Verfassung (1931), 4. Aufl., Berlin 1996, S. 46. 20 Eckard Bolsinger, Was ist Dezisionismus? Rekonstruktion eines autonomen Typs politischer Theorie, Politische Vierteljahresschrift 39 (1998), S. 471 ff. (481). 21 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), 6. Aufl., Berlin 1996, S. 26. 22 Schmitt, ebd., S. 11. 23 I. d. S. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Politische Theorie u n d politische Theologie, in: Jacob Taubes (Hrsg.), Religionstheorie u n d Politische Theologie. Band 1, 2. Aufl., München 1985, S. 16 ff.

Einleitung

VII

„Dieser status bedeutet die grundlegende u n d umfassende Einheit einer substantiellen, seinsmäßigen, wesentlich öffentlichen Ordnung [ . . . ] Dadurch bleibt er immer i m Zusammenhang m i t einem [ . . . ] statischen Ordnungsbegriff. Sobald sog. dynamische Vorstellungen irgendwelcher A r t herrschend werden, verliert der Begriff seinen S i n n . " 2 4 Das Recht als neuzeitliche Erfindung zum Eindämmen t o t a l i sierender Machtusurpationen stört diese Statusbildung nur: „Erst der spezifisch liberale, rechtsstaatliche Bestandteil, der sich m i t dem demokratischen Element einer Verfassung verbindet, führt dazu, die Macht des Staates i n einem System von Kontrollen u n d Hemmungen zu mildern u n d abzuschwächen. Der Demokratie als politischer Form ist diese Tendenz nicht wesentlich, vielleicht sogar f r e m d . " 2 5 U m zu einem wahren status zu gelangen, bedarf es keiner rechtlichen Behandlung gesellschaftliche Konflikte, sondern des Hütens u n d Wahrens politischer Einheit. Von daher ist Schmitts Intervention „ D e r Hüter der Verfassung" zu verstehen, i n der er vom Reichspräsidenten verlangt, den „politischen Gesamtwillen des deutschen Volkes zu verbinden u n d eben dadurch als Hüter u n d Wahrer der verfassungsmäßigen Einheit und Ganzheit des deutschen Volkes zu h a n d e l n " . 2 6 - „ A n Stelle des positivrechtlichen Verfassungsbegriffes schiebt sich die ,Einheit' als ein naturrechtliches Wunschideal", 2 7 kritisiert Hans Kelsen diese Konzept i o n 2 8 und trifft damit den K e r n des Schmittianischen Holismus, der auf substantielle Homogenität, auf die L i q u i d a t i o n des E x k l u d i e r t e n 2 9 und eine Marginalisierung der Rolle des Rechts setzt. Schmitts Verfassung, das sind nicht, so präzisiert Kelsen seine wichtige K r i t i k , „die Organe u n d das Verfahren der Gesetzgebung sowie Stellung u n d K o m petenz der höchsten Vollzugsorgane regelnden Normen, das sind über24 Carl Schmitt, Z u Friedrich Meineckes ,Idee der Staatsräson' (1926), in: ders., Positionen und Begriffe i m Kampf m i t Weimar - Genf - Versailles, B e r l i n 1988, S. 45 ff. (51 f.). 25 Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), 5. Aufl., Berlin 1970, S. 236 f. 2ß Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung (1931), 4. Aufl., Berlin 1996, S. 159. 27 Hans Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, Berlin 1931, S. 54. 28 Zum Vergleich der Einheitskonzeptionen von Hans Kelsen, Gustav Radbruch und Carl Schmitt instruktiv: Henrique Ricardo Oetten, Der Sinn der E i n heit i m Recht, in: Andreas Göbel/Dirk van Laak / Ingeborg Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen. Grundfragen politischer Einheitsbildung seit den 20er Jahren, Berlin 1995, S. 25 ff. 29 Z u Schmitts substantieller Homogenität ausführlich: Marcus Llanque, Die Theorie politischer Einheitsbildung, in: Andreas Göbel/Dirk van Laak/Ingeborg Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen. Grundfragen politischer Einheitsbildung seit den 20er Jahren, Berlin 1995, S. 157 ff. (169); Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität - Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, Neuwied 1964, S. 140 f.

VIII

Einleitung

haupt keine Normen oder ,Gesetze'. »Verfassung': das ist ein Zustand, der Zustand der ,Einheit' des deutschen Volkes." 3 0 b) Verschränkung:

Rudolf

Smend

Auch Rudolf S m e n d 3 1 hat die Grundrechte als das neue Element der Weimarer Reichsverfassung i n den M i t t e l p u n k t seiner Theorie gestellt. Die Einheit des Rechts soll jedoch nicht i n die Politik externalisiert werden. Sie w i r d vielmehr als immanenter Wertbezug i n den Grundrechten selbst verankert. Smend w i r f t der positivistischen Lehre vor, ihre Sicht verfehle das spezifische Wesen der Grundrechte u n d lasse diese als „ A n wendungsfälle des ohnehin geltenden Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung" leer laufen. 3 2 Das Schattendasein der Grundrechte i n der Weimarer Staatsrechtsdiskussion war zwar inzwischen durch erste Untersuchungen überwunden worden, 3 3 aber noch immer blieb ihre Sicht positivistisch geprägt. 3 4 Smend wollte m i t seinem Beitrag eine über den Gesetzesvorbehalt hinausgehende Bedeutung der G r u n d rechte herausarbeiten. Ihre Aufgabe liege i n der „dauernden Erneuerung u n d Weiterbildung des staatlichen Willensverbandes." 3 5 Ebenso wie Carl Schmitt wendet er sich gegen den L i b e r a l i s m u s 3 6 und dessen defizitäres Verständnis der Grundrechte als bloße Abwehr30

Hans Kelsen , Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, Berlin 1931, S. 54. Die L i t e r a t u r zu Rudolf Smend ist umfangreich. Hier sei verwiesen auf Stefan Ruppert, Rudolf Smends Grundrechtstheorie, in: Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 327 ff., 330, Fn. 17, 18, 19, wo die wichtigsten juristischen, politikwissenschaftlichen u n d philosophischen Texte zu Smend u n d seiner Integrationslehre genannt werden. 32 Vgl. dazu Rudolf Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: W D S t R L 4 (1927), S. 44 ff., 45. 33 Vgl. dazu Wilhelm Hofacker ; Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen, Stuttgart 1926; Richard Thoma, Grundrechte u n d Polizeigewalt, in: Heinrich Triepel (Hrsg.), Festgabe zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, Berlin 1925, S. 183 ff.; Georg Jellinek , Die Erklärung der Menschen- u n d Bürgerrechte, 3. Aufl., M ü n c h e n / L e i p z i g 1919; ders., System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl., Tübingen 1919. 34 Vgl. dazu die Darstellung i n Hans Carl Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Band 1 - 3 , Berlin 1929-1930; Gerhard Anschütz , Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., Berlin 1933, S. 505 ff. 31

35 Rudolf Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: W D S t R L 4 (1927), S. 44 ff., 47. 36 Vgl. dazu Frieder Günter, Denken vom Staat her, München 2004, S. 34, der darauf hinweist, dass 1926 Schmitt und Smend noch ein gemeinsames Vorgehen auf der Staatsrechtslehretagung i n Münster planten.

Einleitung

IX

rechte des Einzelnen. Aus Smends Sicht w i l l der Grundrechtskatalog „eine sachliche Reihe von einer gewissen Geschlossenheit, d. h. ein Wert- oder Güter-, ein Kultursystem normieren, u n d er normiert es als nationales, als das System gerade der Deutschen, das allgemeinere Werte national positiviert, eben dadurch aber den Angehörigen dieser Staatsnation etwas gibt, einen materialen Status, durch den sie sachl i c h ein Volk, untereinander u n d i m Gegensatz gegen andere, sein soll e n . " 3 7 I n dieser geschlossenen Ordnung geht es vor allem u m die Hervorbringung der staatlichen Einheit u n d nur i n zweiter L i n i e u n d ausnahmsweise u m Abwehrrechte des Einzelnen. Besonders deutlich w i r d das i n Smends Vortrag „Bürger und Bourgeois i m deutschen Staatsr e c h t " , 3 8 w o r i n er dem katholischen Grundrechtsverständnis ein protestantisches entgegenstellt. Während der Katholizismus i m K a m p f gegen den preußischen Staat ein Verständnis des Glaubens als ausgrenzende Privatsphäre des Bürgers entwickelt habe, sei die protestantische Linie durch die Sicht eines den Staat annehmenden Bürgers gekennzeichnet. D a m i t w i r d die Ausübung der Freiheit dem Z i e l der Integration untergeordnet, u n d ein Abwehrrecht des Bürgers k a n n n u r angenommen werden, soweit es m i t dem grundlegenden Z i e l vereinbar ist: „ F ü r die heutigen Grundrechte gilt m i t neuem Recht, u n d stärker als für die des monarchischen Staats der Satz der Menschenrechte, dass diese Rechte nicht Schranken, sondern Verstärkungen des Staats und der Staatsgewalt sein sollen, deren Akte, w e i l i m Rahmen dieser Rechte vollzogen, darum u m so wirksamer sein s o l l e n . " 3 9 Methodisch entwickelt Smend seinen Holismus aus dem K o n t e x t von Problemen. Schon i n seiner Dissertation gelingt es i h m zu zeigen, dass wortgleiche Normtexte i n verschiedenen politischen Zusammenhängen zu einer unterschiedlichen Bedeutung führen. 4 0 Er argumentiert damit i m Rahmen einer holistischen Semantik, ohne über diesen Begriff schon verfügen zu können. Aber diese Semantik w i r d i n der Folge dann doch nicht als eine horizontale entwickelt, sondern m i t ei37

Rudolf Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen u n d andere Aufsätze, 2. Auflage, Berlin 1968, S. 119 ff. (264). 38 Berlin 1933. 39 Rudolf Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: W D S t R L 4 (1927), S. 44 ff., 48. 40 Vgl. dazu Rudolf Smend, Die preußische Verfassungsurkunde i m Vergleich m i t der belgischen, Göttingen 1904. Z u r Interpretation u n d Einordnung dieses Textes vgl. Stefan Ruppert, Geschlossene Wertordnung? Z u r Grundrechtstheorie Rudolf Smends, in: Thomas Henne /Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r teil aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 327 ff.; Stefan Korioth, Integration und Bundesstaat: E i n Beitrag zur Staats- und Verfassungslehre Rudolf Smends, Berlin 1990, S. 16 ff.

X

Einleitung

nem schnellen Sprung zum Ganzen i n die traditionelle vertikale Struktur des Staatsdenkens eingefügt. Vorbereitet w i r d dieser Sprung durch die geisteswissenschaftliche Methode, welche Smend aus der philosophischen Diskussion seiner Zeit aufnimmt. I n einem Dreischritt von Erlebnis, Verstehen u n d Erkenntnis soll demnach eine dialektische Vermittlung von I n d i v i d u u m u n d ideell geistigen Allgemeinheiten stattfinden. 4 1 Dieser Vorgang steht unter dem Leitbegriff der Integration: „ D i e Verfassung ist die Rechtsordnung des Staats, genauer des Lebens, i n dem der Staat seine Lebenswirklichkeit hat, nämlich seines Integrationsprozesses. Der Sinn dieses Prozesses ist die immer neue Herstellung der Lebenstotalität des Staates, und die Verfassung ist die gesetzliche Normierung einzelner Seiten dieses Prozesses." 42 Wenn Smend hier von Totalität redet, geschieht das nicht zufällig. Z w a r soll die Einheit des Staates nicht einfach vorausgesetzt, sondern hergestellt werden. Aber diese Einheit ist kein unbestimmter Horizont. Sie ist vielmehr als Totalität des staatlichen Lebens eine bestimmte Größe. Der Erlebnisinhalt als gefühlte Einheit der Integration ist ein Zugeständnis an den Geist der Zeit. Die Form aber, i n der das Erlebnis seinen Halt finden soll, ist die von Hegel paradigmatisch formulierte Metaphysik des Buches. Dieses Verknüpfen von Erlebnis u n d Totalität ist als Neuhegelianismus i n den 20er Jahren Zeitgeist u n d prägt zum Beispiel maßgeblich auch die Position von K a r l Larenz, der später die hermeneutische Reformulierung dieser Theorie als Wertungsjurisprudenz liefern wird. Auch bei Smend bleibt Pluralismus bis i n die 50er Jahre hinein negativ k o n n o t i e r t , 4 3 weil er alle Unterschiede dem Ziel der herzustellenden Einheit vollkommen unterordnen möchte. 41 Smend bezieht sich hier vor allem auf Theodor L i t t . Vgl. dazu Stefan Rup~ pert, Geschlossene Wertordnung? Zur Grundrechtstheorie Rudolf Smends, in: Thomas Henne / Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 337; Michael Stolleis , Juristen, München 2001, S. 585; zu L i t t vgl. Theodor Litt , I n d i v i d u u m und Gemeinschaft. Grundfragen der sozialen Theorie und E t h i k , 3. Aufl., Leipzig 1926; ders., Mensch und Welt. Grundlinien einer Philosophie des Geistes, München 1948. Die Theorie L i t t s knüpft an Hegel und Dilthey an. 1937 w i r d er auf eigenen Wunsch h i n emeritiert und kann erst i n der Bundesrepublik wieder lehren. Vgl. dazu Thomas Friedrich , Theodor L i t t s Warnung vor „ a l l zu direkten Methoden", in: Wolf gang F. Hauk (Hrsg.), Deutsche Philosophen 1933, S. 99 ff., 103. Grundsätzlich zur Theorie von L i t t : Ludwig Funderburk , Erlebnis - Verstehen - Erkenntnis. Z u Theodor Litts System der Philosophie, Bonn 1971. 42 Vgl. dazu Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Auflage, Berlin 1968, S. 119 ff. (189). 43 Vgl. dazu Rudolf Smend, Das Problem der Institutionen und der Staat. Staat als Beruf. Vortrag in der Institutionenkommission der evangelischen Studiengemeinschaft (Christopheros-Stift) 1956, in: Zeitschrift für evangelische E t h i k 6 (1962), S. 55 ff.; ders., Stellungnahme, in: W D S t R L 11 (1954), S. 240.

Einleitung

XI

Sein Ausgangspunkt war das Verstehen von Verfassungstexten aus ihrem politischen Zusammenhang. Der Begriff „Integration" erlaubt i h m den Übergang vom hermeneutischen Problem i n die hegelianische S t r u k t u r der Totalität. Der Begriff fungiert als Steuergröße u n d Maßstab für das Ganze u n d soll gleichzeitig eine bestimmbare Bedeutung haben. Diese gegensätzlichen Anforderungen kann der Begriff nicht i n sich aufheben. Er o s z i l l i e r t 4 4 u n d löst sich auf: „Smend n i m m t an, dass die Einsicht i n die Integrationsfunktion der Verfassungsnormen nicht nur die allgemeine Vermutung für ihre unmittelbare Rechtswirksamkeit begründe, sondern auch Fingerzeige für die richtige Auslegung schwieriger Sätze geben könnte. Dies ist aber ein Irrtum. Integrationsw i r k u n g hat ein Verfassungssatz gleichermaßen, ob er n u n i n diesem oder jedem Sinne auszulegen ist, es kann also m i t der Integrationswirkung keine Einzelfrage der Auslegung beantwortet w e r d e n . " 4 5 Thoma benennt hier r i c h t i g das Problem der textuellen Strategie i n den Schriften von Smend. Der Begriff der Integration w i r d überlastet u n d damit leer. Er gleitet i n die ungewollte Ironie des transzendentalen Signifikats ab, welches nachträglich bestimmt, was es von Anfang an gesteuert haben w i l l .

c) Reflexion:

Hans Kelsen

Der Dezisionismus von Schmitt hat aus der schöpferischen Rolle der Praxis gegenüber dem Gesetz abgeleitet, das Recht könne seine eigene Einheit nicht garantieren. Kelsen geht einen Schritt weiter, indem er diese schöpferische Rolle i m Rahmen einer Theorie der Rechtsnorm begreifen w i l l : „ D i e auf dem Boden des angloamerikanischen ,Common Law' erwachsene Theorie, daß nur die Gerichte Recht erzeugen, ist ebenso einseitig wie die auf dem Boden des europäisch-kontinentalen Gesetzesrechts erwachsene Theorie, daß die Gerichte überhaupt kein Recht erzeugen, sondern n u r schon geschaffenes Recht anwenden. Diese Theorie läuft darauf hinaus, daß es nur generelle, jene, daß es nur individuelle Rechtsnormen gebe. Die Wahrheit liegt i n der M i t t e [ . . . ] . Die richterliche Entscheidung ist die Fortsetzung, nicht der Beginn des Rechtserzeugungsprozesses" 46 . Aber diese klare Wahrnehmung bleibt i n der Reinen Rechtslehre ohne Folgen, weil Kelsen die Rechtserzeu44

Vgl. dazu Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, M ü n chen 1994, S. 195 ff. 45 Richard Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der Deutschen Reichsverfassung i m allgemeinen, in: Hans Carl Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte u n d Grundpflichten der Reichsverfassung, Berlin 1929, S. 9 ff., 11. 4 ® Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 260.

XII

Einleitung

gung als irrationale Dezision aus dem Bereich der Wissenschaft ausgrenzt: „Was w i r - u n d zwar m i t gutem Grunde - unter dem Titel der Rechtswissenschaft betreiben, ist i m Grunde nur eine Wissenschaft vom Gesetze. Die Wissenschaft vom Gesetze kann nicht mehr beinhalten, als das Gesetz b e i n h a l t e t " 4 7 . D a m i t w i r d die Recht-Fertigungsleistung der Rechtspraxis negiert. 4 8 Der Mittelweg zwischen der F i k t i o n einer vollständig determinierten Rechtsanwendung und einer b i n dungslosen Rechtsetzung soll dadurch gefunden werden, dass man beide Bereiche i m Weg einer äußeren, beispielsweise stufenförmigen Z u ordnung miteinander verbindet. Der von Kelsen m i t der „generellen N o r m " gleichgesetzte Normtext soll dabei eine Rahmenfunktion für die Erzeugung der so genannten „individuellen N o r m " haben: „ D i e Bestimmung des Rahmens ist nur die erste, notwendige u n d wichtige Stufe des rechts wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses; i h m müssen sich weitere Stufen anschließen, die m i t anderen sozialwissenschaftlichen Methoden diesen Prozeß fortsetzen" 4 9 . Kelsen definiert m i t juristischen M i t t e l n nur den Rahmen der Rechtserkenntnis, während die Rechtserzeugungswissenschaft der Strukturierenden Rechtslehre sich konkret den diesen Rahmen ausfüllenden (bei Kelsen so bezeichneten) „Willenselementen" widmet. I n der Reinen Rechtslehre bleibt diese Rahmenfunktion der Rechtsn o r m 5 0 aber ein bloßes Bild. Es fehlt die rechtstheoretische u n d methodische Einlösung der Metapher von der Rechtsnorm als Rahmen der Rechtserzeugung. N a t ü r l i c h hat Kelsen erkannt, dass seine Theorie weder zur Beschreibung noch zur theoretischen Anleitung der Praxis ausreicht. Aber er wollte darin sogar eine Stärke sehen: „ D a die Reine Rechtslehre nur eine Erkenntnis des gegebenen positiven Rechts, nicht aber eine Vorschrift für seine richtige Erzeugung ist, w i l l sie weder eine Anweisung dafür geben, wie man gute Gesetze macht, noch auch Ratschläge erteilen, wie man aufgrund oder i m Rahmen der Gesetze gute Entscheidungen und Verfügungen treffen k a n n " 5 1 . I n dieser Äußerung w i r d eine recht gewaltsame Trennung 47 Adolf Merkl , Das Recht i m Lichte seiner Anwendung, in: Hans Klecatsky u. a. (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Wien 1968, S. 1167 ff. (1178). 48 Zur grundlegenden K r i t i k an dieser Negation vgl. schon Josef Esser ; Grundsatz und N o r m i n der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 2. Aufl., Tübingen 1964, S. 267 ff. 49 Peter Römer, Hans Kelsen und das Problem der Verfassungsinterpretation, in: Wolfgang Abendroth u. a., Ordnungsmacht, Frankfurt am M a i n 1981, S. 180 ff. (197). Römer arbeitet das Scheitern des Positivismus an der Rechtserzeugung klar heraus, ohne allerdings bis zur Notwendigkeit eines nachpositivistischen Neuansatzes vorzudringen. so Peter Römer, ebd., S. 199.

Einleitung

XIII

zweier i n der realen Praxis m i t einander verflochtener Bereiche deutlich: einmal der wissenschaftliche bloßer „Anwendung" des scheinbar vorgegebenen Rechts, zum anderen der irrationale, wissenschaftlich nicht strukturierbare Vorgang der tatsächlichen Erzeugung oder Verw i r k l i c h u n g von Recht. Der innerhalb des positivistischen Normverständnisses nicht erfassbare schöpferische A n t e i l praktischer Rechtsarbeit w i r d damit kurzerhand aus dem Bereich der Wissenschaft h i n ausbefördert. Wenn man die Praxis erst einmal derart ausgeschlossen hat, k a n n man i n der Folge zu einer „ E i n h e i t " der Rechtsordnung gelangen, die von den w i r k l i c h e n Problemen nicht mehr berührt w i r d . Diese A r t von Einheit der Rechtsordnung verdankt sich einer formalisierenden Red u k t i o n . 5 2 Nach dieser kommt der Einheit der Rechtsordnung jene Identität stiftende Rolle zu, welche wiederum umgekehrt durch die Grundnorm als dem i n letzter Instanz einheitserzeugenden Moment gestiftet wird. „ K a n n aufgrund einer solchen Analyse eine Grundnorm ermittelt werden, auf die als letzter Bezugspunkt eine Vielzahl von Rechtsnormen zurückleitbar sind, dann erhält auch die Aussage Sinn, dass eine bestimmte Rechtsordnung eine Einheit ist. Diese Einheit der Rechtsordnung bedeutet ein A x i o m der Rechtsbearbeitung, eine A n nahme, die getroffen werden muss, u m eine Rechtsordnung identifizieren u n d sie von anderen Rechtsordnungen abgrenzen zu k ö n n e n . " 5 3 Damit ist allerdings das Konzept einer Einheit der Rechtsordnung nicht nur tautologisch i n sich selbst geschlossen. Vielmehr w i r d es zu einer Hermetik getrieben, durch die es jeglichem Gehalt gegenüber gleichgültig w i r d . Es gelingt Kelsen, die Einheit der Rechtsordnung durch Formalisierung vor einem Auflösen i n die Semantik der Teile zu retten. Dafür zahlt sein Konzept aber einen hohen Preis. Es w i r d untauglich für die Aufgabe, widersprüchliche Lesarten, wie sie die Praxis täglich bietet, wissenschaftlich überhaupt noch zu thematisieren. Kelsens Position k a n n von der Praxis nicht widerlegt werden. Aber sie kann der Praxis auch nicht helfen. Das hat schon die Weimarer Staatsrechtslehre eingewendet. 5 4 Kelsen hat darin Recht, dass man das Prob51

Hans Kelsen , Juristischer Formalismus u n d Reine Rechtslehre, in: JW 1929, S. 1723 ff. (1726). 52 Dazu Friedrich Müller, Reine Sprachlehre - Reine Rechtslehre - Aufgaben einer Theorie des Rechts. Notizen zu Kelsen und Wittgenstein, in: ders., Essais zur Theorie von Recht u n d Verfassung, Berlin 1990, S. 98 ff.;dort auch m i t B l i c k auf die zuerst Genannte als Problemhorizont für die Frage des Holismus. 53 Manfred Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung. Bedeutung einer j u r i s t i schen Formel i n Rechtstheorie, Z i v i l - u n d Staatsrechtswissenschaft des 19. u n d 20. Jahrhunderts, Berlin 1995, S. 199. 54 Zur Darstellung Baldus, ebd., S. 162 ff.

XIV

Einleitung

lern des Holismus nicht epistemisch lösen kann. Aber normtheoretisch gelingt es auf die A r t der Reinen Rechtslehre ebenfalls nicht. Eine normtheoretische A n t w o r t auf die Frage des Holismus k a n n dort nur lauten, dass „alle Rechtsnormen auf den Geltungsbefehl der Verfassung oder gar einer G r u n d n o r m zurückgeführt werden k ö n n e n . " 5 5 Gewonnen ist damit aber nicht viel. Denn wenn es zum Schwur auf die praktische Konkretisierung kommt, stellt sich schnell heraus, dass „ i m Stufenbau der Rechtsordnung dem Recht auf jeder Stufe neue Inhalte hinzugefügt werden" u n d daher „der Vielfalt des positiven Rechts aus dem Gesichtspunkt der Einheit keine Grenzen gezogen ( s i n d ) . " 5 6 Statt eine A n t w o r t auf die Frage nach der Einheit der Rechtsordnung zu bekommen, w i r d man also erneut auf deren Reformulierung zurückgeworfen. Denn welches soll der überwölbende Gesichtspunkt sein, der jene sich fortschreibenden „ I n h a l t e " zusammenhält odersie gar zu einem i n sich schlüssigen u n d geschlossen Ganzen zusammenschmiedet? Eine mögliche A n t w o r t i m Rahmen der Reinen Rechtslehre liegt n u r noch i m Hinweis auf die Notwendigkeit, Widersprüche zu vermeiden. 5 7 Aber damit ist die Erkundungsreise schlicht an den Ausgangspunkt zurückgekehrt. Nach dem vergeblichen Versuch, i n der Einheit der Rechtsordnung eine theoretische Erkenntnisgrundlage zu gewinnen, steht man n u n wieder vor der praktischen Notwendigkeit, widersprüchliche Lesarten zu diskutieren. Immerhin ist m i t der K o n s t r u k t i o n der Grundnorm ein gewisser Bewegungsspielraum gewonnen. Denn die schwierige Einordnung der Grundnorm blieb immer ein theoretischer Stachel für E n t w i c k l u n g e n innerhalb der Reinen Rechtslehre. I n diesem Begriff kreuzen sich das neukantianische M o t i v einer transzendental-logischen Bedingung für Rechtserkenntnis 5 8 u n d die an Vaihingers „Philosophie des A l s - O b " anschließende Lesart der Grundnorm als F i k t i o n . 5 9 Die G r u n d n o r m als F i k t i o n macht das Bilden einer juristischen Metapher u n d damit ein Beobachten der von den Juristen beim praktischen Beseitigen von Widersprüchen produzierten Sätze möglich. Carl Schmitt erlag deren Verführungskraft u n d setzte eine wirkliche Einheit des Rechts als notwendige Bedingung. Demgegenüber kann Kelsen von seiner Position 55

Vgl. Klaus F. Röhl , Allgemeine Rechtslehre. E i n Lehrbuch. 2., neu bearbeitete Auflage, K ö l n etc. 2001, S. 429. 56 Röhl, ebd., S. 429. Dazu auch Röhl, ebd., S. 429. 58 Vgl. dazu Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 205. 59 Vgl. dazu Hans Kelsen , Allgemeine Theorie der Normen, Wien 1979, S. 206. Z u m Fiktionsbegriff bei Vaihinger u n d zum Folgenden vgl. Alexander Somek, Der Gegenstand der Rechtserkenntnis, Baden-Baden 1996, S. 18 ff. Z u Kelsens Anschluss an Vaihinger als angewandte juristische Metaphorologie ebd., S. 23 ff.

Einleitung

XV

aus den Umschlag von Sätzen i n Ontologie beobachten. M a n gewinnt m i t Kelsen also eine A r t Aussichtspunkt. Er markiert die für jede Rechtsordnung grundlegende Notwendigkeit, das Auflösung von W i dersprüchen u n d damit das Verhältnis von einschließender u n d ausschließender Gewalt als E n t w i c k l u n g beobachten zu können. Es lässt sich von hier aus die Frage stellen, w o h i n die praktischen Entscheidungen über den Einschluss u n d Ausschluss von Sätzen führen. Schließen sie den Horizont oder öffnen sie ihn? Das wäre eine mögliche Wendung der von Kelsen geführten K r i t i k an einem epistemischen u n d vertikalen Holismus. Eine praktische Alternative für traditionellholistisches Argumentieren ist es aber noch nicht.

3. Der starke Holismus der herkömmlichen Lehre Als Beispiel diene hier zunächst die Frage nach dem Geltungsbereich der Grundrechte. Die Bedeutung der Grundrechte wurde unter der Geltung des Grundgesetzes derart verstärkt, dass die rechtstheoretischen Schulen nicht u m h i n konnten, auf dieses Problem zu reagieren. a) Die Formierung

der

Drittwirkung slehre

Heute situiert man die bundesdeutsche Staatsrechtslehre 6 0 von 1949 bis 1970 zwischen den Polen von Dezision und Integration. 6 1 Dabei blieb die Schmitt-Schule weiterhin dem traditionellen obrigkeitsstaatlichen Verständnis verhaftet, 6 2 während sich die Smend-Schule auf60 Vgl. dazu Dieter Gosewinkel, Adolf Arndt. Der Wiederbegründer des Rechtsstaats aus dem Geist der Sozialdemokratie (1945-1961), Bonn 1991, S. 531; Dirk van Laak, Gespräche i n der Sicherheit des Schweigens, Berlin 2002, S. 164, 183, 191; Stefan Korioth, Integration und Bundesstaat. E i n Beitrag zur Staats- u n d Verfassungslehre Rudolf Smends, Berlin 1990, S. 291 ff.; Dean Schefold, Geisteswissenschaften u n d Staatslehre zwischen Weimar u n d Bonn, in: Karl Achern u. a. (Hrsg.), Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste. K o n t i n u i täten und Diskontinuitäten i n den Wirtschafts-, Rechts- u n d Sozialwissenschaften zwischen den 20er u n d 50er Jahren, Stuttgart 1998, S. 567 ff.; Christoph Möllers, Staat als Argument, München 2000, S. 230 ff. 61 So der Untertitel des Buches von Frieder Günter, Denken vom Staat her, München 2004; grundlegend Michael Stolleis, Die Staatsrechtslehre der 50er Jahre, in: Thomas Renne ¡Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 393 ff. 62

Vgl. generell zur E n t w i c k l u n g der Staatsrechtswissenschaft nach 1945: Joachim Pereis, Die Restauration der Rechtslehre nach 1945, in: Kritische Justiz 17 (1984), S. 359 ff.; Helmut Fangmann, Die Restauration der herrschenden Staatsrechtswissenschaft nach 1945, in: Udo Reifner (Hrsg.), Das Recht des U n rechtstaates. Arbeitsrecht u n d Staatsrechtswissenschaften i m Faschismus,

XVI

Einleitung

grund verschiedener Faktoren aktiv an die „Westernisierung" 6 3 der Bundesrepublik anpassen k o n n t e . 6 4 Diese Faktoren liegen sicherlich auch i n der Person Smends, i n der Atmosphäre seines Göttinger Semin a r s 6 5 und dem Umstand, dass er sich der Schweizer u n d angelsächsischen Verfassungstradition öffnete. I m engeren Sinn theoretisch lag dies aber daran, dass der ungenaue Begriff der Integration e n t w i c k lungsfähig war, indem man seine Rolle als transzendentales Signifikat allmählich vergaß u n d i h n dadurch präzisierte, dass man konkrete A k teure der Integration betrachtete. Diese Justierung der Theorie Rudolf Smends an die neuen Bedingungen deutscher Staatlichkeit erfolgte i n drei Schritten: Zunächst wurde der Begriff der Integration normativ aufgeladen. D a n n rückte die Verfassung an die Stelle des Staates u n d schließlich wurde das fiktive Gesamtsubjekt der Integration durch die w i r k l i c h e n Akteure des Verfassungslebens ersetzt. Als i n den 50er Jahren „Integration" zum Modewort w u r d e 6 6 u n d jeder „Werte" i m M u n d führte, begann die Smend-Schule, sich von i h ren traditionellen Voraussetzungen zu verabschieden. Die Grundrechte erschienen wieder als Abwehrrechte u n d nicht mehr als geschlossenes Wertsystem. 6 7 Auch das wertbezogene Denken gilt der SmendFrankfurt am M a i n / N e w York 1981, S. 211 ff.; Claus-Dietrich Wieland , Personelle Kontinuitäten i n der Staatsrechtslehre, in: Bärbel Eichhoff u. a. (Hrsg.), Restauration i m Recht, Opladen 1988, S. 129 ff.; Bernd Rüters, Die Ideologie des Nationalsozialismus i n der E n t w i c k l u n g des deutschen Rechts von 1933-1945, in: Franz Jürgen Säcker (Hrsg.), Recht u n d Rechtslehre i m Nationalsozialismus, Baden-Baden 1992, S. 17 ff.; Robert Alexy , F o r t w i r k u n g nationalsozialistischer Denkweisen i n Rechtslehre und Rechtsprechung nach 1945, in: ebd., S. 219 ff. 63 Vgl. zu diesem Begriff Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung u n d Westernisierung i m 20. Jahrhundert, G ö t t i n gen 1999; ders ., Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel i n der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in: Axel Schildt u. a. (Hrsg.), Dynamische Zeiten, Hamburg 2000, S. 311 ff. 64 Die Gründe für die stärkere Anpassungsfähigkeit der Smend-Schule an die Bedingungen der neuen Bundesrepublik sind mehrfach untersucht worden. Vgl. dazu Stefan Korioth , Integration u n d Bundesstaat: E i n Beitrag zur Staatsund Verfassungslehre Rudolf Smends, Berlin 1990, S. 228 ff., besonders S. 279 f.; Oliver Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, in: Christoph Gusy, Weimars langer Schatten - Weimar als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003, S. 363 f. m. w. N. 65 Vgl. dazu u n d zum Folgenden Frieder Günter ; Denken vom Staat her, M ü n chen 2004, S. 159 ff. 66 Vgl. dazu Frieder Günter, Denken vom Staat her, München 2004, S. 188, Fn. 547 m. w. N.

67 Vgl. dazu Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts für die Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl., Heidelberg /Karlsruhe 1967, § 9 I I „ D i e G r u n d rechte normieren den Status von Bürgern, die sich nicht bloß i n einer Sphäre

Einleitung

XVII

Schule jetzt n u r noch als zeitgemäße Einkleidung für die Entdeckung der objektiven Seite der Grundrechte. 6 8 Der Smend, auf den das B u n desverfassungsgericht i n seiner Lüth-Entscheidung mittelbar Bezug nimmt, gilt i n Göttingen zu dieser Zeit schon als überholt. Trotzdem w i r d eine Alternative zum vertikal-holistischen Denken i n der Staatsrechtslehre noch nicht erkennbar. Z w a r bemüht sich die SmendSchule, von vertikalen Mustern u n d deduktiven Schemata Abstand zu nehmen, aber bis i n die 60er Jahre hinein bringt sie keine methodische Alternative hervor. Selbst die Integration der topischen Methode ins Verfassungsrecht sollimmer noch ihren letzten H a l t i m „ K o n sens aller Vernünftig- u n d Gerecht-Denkenden" 6 9 finden. D a m i t feiert das transzendentale Signifikat trotz aller Bemühungen, zu einem praktischen Holismus zu gelangen, seine Wiederkehr. A u c h wenn die Grundrechte jetzt nicht mehr als lückenloses u n d hierarchisch geordnetes System aufgefasst w e r d e n , 7 0 so w i r d die Verfassung doch immer noch als Einheit u n d widerspruchsfreies Ganzes aufgefasst. 7 1 Die Smend-Schule fordert eine „Verfassungsinterpretation, durch die W i dersprüche u n d Spannungen zwischen einzelnen A r t i k e l n nicht zugespitzt, sondern entschärft u n d zum Ausgleich gebracht wurden. Geprivater Beliebigkeit gegen den ,Staat' abschirmen, sondern die frei u n d selbstverantwortlich i h r Leben gestalten u n d an den Angelegenheiten des Gemeinwesens m i t w i r k e n sollen. Solche »positive Freiheit' ist freilich mißverstanden, wenn aus i h r die Verpflichtung zu einem bestimmten Gebrauch der Freiheit hergeleitet w i r d , m i t der Konsequenz, dass jeder andere Gebrauch nicht mehr durch die Grundrechte geschützt w i r d . Denn wenn es der Verfassung auch u m die positive Aktualisierung der Inhalte der Grundrechte geht, so geht es i h r doch ebenso u m die Freiheit dieser Aktualisierung, die nur gegeben ist, wo eine Alternative besteht." 68 Vgl. dazu Konrad Hesse, Verfassung u n d Verfassungsrecht, in: Ernst Benda u. a., Handbuch des Verfassungsrechts, B e r l i n / N e w York 1995, S. 137, Fn. 26 sowie grundlegend Helmut Goerlich, Wertordnung u n d Grundgesetz, B e r l i n 1974. 69 Vgl. dazu Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: W D S t R L 20 (1963), S. 53 ff. (71). 70 Vgl. dazu Horst Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, Berlin 1953, S. 95 f.; Ulrich Scheuner, Grundfragen des modernen Staates, in: Hermann Wandersieb (Hrsg.), Recht - Staat - Wirtschaft, Band 3, Düsseldorf 1951, S. 126 ff. (157 f.); Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg / Karlsruhe 1967, S. 118 ff. 71 Vgl. dazu Horst Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, Berlin 1953, S. 95 f.; Ulrich Scheuner, Grundfragen des modernen Staates, in: Hermann Wandersieb (Hrsg.), Recht - Staat - Wirtschaft, Band 3, Düsseldorf 1951, S. 56 f., 98; Rudolf Smend, Integrationslehre (1956), in: ders ., Staatsrechtliche Abhandlungen u n d andere Aufsätze, 3. Aufl., Berlin 1994, S. 479 f.; Konrad Hesse, Die normative K r a f t der Verfassung. Freiburger Antrittsvorlesung, Tübingen 1959, S. 18 ff.; Richard Bäumlin, Staat, Recht u n d Geschichte, Z ü r i c h 1961, S. 26 ff.

XVIII

Einleitung

mäß dem Grundsatz ,Einheit der Verfassung' war die einzelne N o r m nicht isoliert zu betrachten, sondern i n den Sinnzusammenhang der Verfassung zu s t e l l e n . " 7 2 Wie allerdings die Interpretation vom isolierten Normtext zum Ganzen der Verfassung führen soll, bleibt nach wie vor offen. U m dem vertikalen Argumentationsschema zu entkommen, w i r d es noch zwei Generationen brauchen. Erst 1979 legte der i n Freiburg habilitierte Friedrich M ü l l e r eine dekonstruktive K r i t i k des Gedankens der Einheit der Verfassung vor. 7 3 Aber das war eben nicht mehr der Kontext der Smend-Schule; M ü l l e r hatte i h n schon 1966 m i t „ N o r m struktur u n d N o r m a t i v i t ä t " hinter sich gelassen. So lange man aber i n der Nachfolge Rudolf Smends Integration als Rahmen akzeptiert, bleibt der Pluralismus vor allem nur ein Bekenntnis, bleibt die Methode monistisch.

b) Die Abwägung

aus dem Ganzen

Die i n den 50er Jahren entwickelte Lehre von der D r i t t w i r k u n g der Grundrechte i m Privatrecht setzt holistisch an, sie operationalisiert den Holismus m i t Hilfe der aus der Philosophie importierten Vorstellung der Totalität. Die Rechtsordnung wurde zur Zeit der Begründung der Drittwirkungslehre als Wertpyramide 7 4 oder Wertrangordnung 7 5 angesehen, an deren Spitze die Grundrechte u n d A r t . 1 G G stehen. 7 6 Von dieser Spitze aus ließen sich dann Konflikte zwischen einzelnen Elementen entscheiden. Das ist eine starke Form des holistischen A r guments. Die Bedeutung liegt demnach beim Ganzen u n d nicht etwa i m reflexiv erweiterten Horizont des Einzelnen. Das Konzept geht davon aus, man habe das einzelne Recht vertikal ins Ganze der Rechts72 Frieder Günter, E i n Jahrzehnt der Rückbesinnung. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision u n d Integration i n den 50er Jahren, in: Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 301 ff. (310 f.). 73 Friedrich Müller ; Die Einheit der Verfassung, Berlin 1979. 74 Wolf gang Graf Vitzthum, Zurück zum klassischen Menschenwürdebegriff!, in: Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 349 ff. (351). 75 BVerfGE (Lüth) 7, 198 ff. (204 ff.). 76 Von Menschenwürde als oberstem Wert i n der verfassungsrechtlichen Wertordnung spricht auch BVerfGE (KPD-Verbot) 5, 85 ff. (204 f.); (Elfes) 6, 32 ff. (41); (Kriegsdienstverweigerung) 12, 45 ff. (53); (Mikrozensus) 27, 1 ff. (6); Günter Dürig, Der Grundrechtsatz von der Menschenwürde. E n t w u r f eines praktikablen Wertsystems der Grundrechte aus Art. 1 Abs. I i n Verbindung m i t Art. 19 Abs. I I des Grundgesetzes, AöR 81 (1956), S. 117 ff. spricht von Art. 1 als Fundamentalnorm des Wertsystems.

Einleitung

XIX

Ordnung einzufügen. Das Ganze sei hierbei bestimmbar u n d beherrschbar u n d man könne von der Sinnmitte einer geordneten Totalität her dem einzelnen Anspruch seinen Platz zuteilen. Die D r i t t w i r k u n g der Grundrechte w i r d auf dieser Basis folgendermaßen hergeleitet: Die Grundrechte haben einen Doppelcharakter. Sie sind erstens i n ihrer ganzen Bandbreite subjektive Rechte u n d zweitens i n ihrem Kernbereich objektive Wertentscheidungen. Als subjektive Rechte gelten sie i m Zivilrecht nicht. Aber dank ihres Kerns der objektiven Wertentscheidung gelten sie auch i m Rahmen der Auslegung zivilrechtlicher Generalklauseln. A n dieser auch von den Gerichten immer wieder zitierten Formel überzeugt nichts. Denn die Grundrechte gelten nicht n u r als Werte, sondern man kann sie i m Rahmen der Verfassungsbeschwerde als positive Rechte durchsetzen. Dabei werden sie von den Gerichten nicht n u r i n ihrem Kernbereich, sondern i n ihrer ganzen Bandbreite angewendet. Diese Anwendung vollzieht sich auch nicht nur i m Rahmen der so genannten Generalklauseln, sondern u m fassender i m Rahmen der systematischen Konkretisierung des Z i v i l rechts. U n d schließlich dienen die Grundrechte i m Zivilrecht unter bestimmten Umständen sogar als Anspruchsgrundlage. Das heißt i m Ergebnis, dass diese dogmatische Selbstbeschreibung des Rechtssystems weit hinter der tatsächlichen Praxis der Gerichte zurückbleibt. Wenn man diesen Abstand verringern w i l l , muss man zunächst nach den U r sachen fragen. Dabei zeigt sich, dass die Abwägung als zentrales Theorem zur Erfassung von Grundrechtskollisionen nicht geeignet ist. Die Skalierung setzt nämlich ein homogenes Medium voraus, u m beispielsweise Presse oder Kunst m i t den Belangen eines Gewerbebetriebs vergleichen zu können. Dieses M e d i u m soll das Ganze des Rechts sein, welches die Verschiedenheit der Rechtsgüter insoweit aufhebe. Aber dieses „Ganze" verschwindet, sobald man es praktisch beansprucht.

c) Das Beispiel

der

Lüth-Entscheidung

Die Lüth-Entscheidung g i l t nicht nur als die berühmteste, 7 7 sondern auch als die bedeutendste Entscheidung der deutschen Judikatur zu den Grundrechten. 7 8 Das U r t e i l ist Anfang u n d Ende zu77

Thomas Henne, „Von 0 auf L ü t h i n 6 1 / 2 Jahren", in: ders. IArne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 199 ff. 78 Vgl. dazu Thomas Henne/Arne Riedlinger ; Z u r Historisierung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - E i n Programm u n d seine Folgen, in: dies. (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-) historischer Sicht, Berlin 2005, S. 1 ff. (2); Dieter Grimm, M i t g l i e d des 1. Senats von 1987-1999, stellt diese Entscheidung ins Zentrum seines Vortrags zum 50. Geburtstag des Bundesverfassungs-

XX

Einleitung

gleich. 7 9 Es vollendet den ausdrücklichen Bezug des Bundesverfassungsgerichts auf die zeitgenössische Wertphilosophie, indem es die Wertordnung als verfassungsimmanent auffasst. M i t der L ü t h - E n t scheidung beginnt die Ausarbeitung der objektiv-rechtlichen Seite der Grundrechte. Der Bezug auf eine Wertphilosophie, wie sie von M a x Scheler u n d Nicolai Hartmann vertreten w u r d e , 8 0 ist für eine Gerichtsentscheidung ungewöhnlich. Denn das Gericht macht sich damit, wie es scheint, von einer philosophischen Zeitströmung abhängig. U m die Tragweite dieses Rückgriffs zu erfassen, sollte man beachten, dass die entsprechende Argumentation i n der Zulässigkeitsprüfung u n d i n deren Rahmen bei der Antragsbefugnis erfolgt. 8 1 Hier ist nach der so genannten Möglichkeitstheorie darzulegen, dass eine Grundrechtsverletzung i m Privatrechtsverkehr überhaupt mögl i c h u n d nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Ausgangspunkt der Überlegung des Gerichts ist dabei die Feststellung, die Grundrechte seien primär Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. 8 2 Das w i r d m i t einem subjektiv-teleologischen Argument aus der Geschichte begründet. 8 3 Der nächste Schritt wäre jetzt, diesen Schutzzweck zu erweitern. Das müsste m i t Hilfe der Systematik geschehen oder unter Umständen auch m i t dem Argument, eine Veränderung der tatsächlichen Situation erfordere eine Erweiterung des Schutzzwecks. So w i r d das Gericht später i m Fall der Rundfunkfreiheit argumentier e n . 8 4 Diesen Weg gehen die Richter i n der Lüth-Entscheidung allerdings nicht. Sie beziehen sich vielmehr auf den Wertbegriff.

gerichts: Vgl. Dieter Grimm, Die Karriere eines Boykottaufrufs. Wie ein Drehbuchautor Rechtsgeschichte machte. Z u m 50. Geburtstag des Bundesverfassungsgerichts, in: Die Zeit, 27. 09. 2001, S. 11; Jutta L i m b a c h hält diese E n t scheidung für eine der großen Leitentscheidungen des Gerichts: Jutta Limbach, Verkehrsrecht i n guter Verfassung?, in: N Z V 2001, S. 97 ff. (98); vgl. i n diesem Sinn auch Dieter Grimm, Das Grundgesetz nach 40 Jahren, in: NJW 1989, S. 1305 ff. (1308, Fn. 17); nach Friedhelm Hufen findet man i n diesem U r t e i l die „ w o h l auswirkungsreichsten Formulierungen" i n einem Bundesverfassungsgerichts-Urteil; vgl. dazu Friedhelm Hufen, Entstehung u n d E n t w i c k l u n g der Grundrechte, in: N J W 1999, S. 1504 ff. (1507). 79 Vgl. dazu Stefan Ruppert, Geschlossene Wertordnung? Zur Grundrechtstheorie Rudolf Smends, in: Thomas Henne/Anne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h Urteil aus rechtshistorischer Sicht, Berlin 2005, S. 327 ff. (346). 80 Vgl. dazu Horst Dreier, Dimensionen der Grundrechte - Von der Wertordnungsjudikatur zu den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten, Hannover 1993, S. 18 ff. ei BVerfGE 7, 198 ff. (205). 82 BVerfGE 7, 198 ff., (204). 83 BVerfGE 7, 198 f f , (204 f.). 84 Vgl. dazu Friedrich Müller /Ralph Christensen, Juristische Methodik, Band I, 9. Aufl., B e r l i n 2004, Rn. 41.

Einleitung

XXI

Dier Bezug des Gerichts auf „Werte" w i r d i n der L i t e r a t u r häufig zur Theorie überhöht. Diese k a n n man dann darstellen, diskutieren u n d widerlegen. Es entsteht der Anschein, als werde Rechtstheorie betrieben, wobei gerade die praktische Dimension i n der Arbeit der Justiz übersehen w i r d . Dieser vorschnelle Absprung i n die Philosophie kann vermieden werden, wenn man zunächst die historische Semantik des Wertbegriffs ins Auge fasst. Die 50er Jahre waren noch Teil einer Wendesituation, die nach einer neuen geistigen Orientierung verlangt e . 8 5 Das Bundesverfassungsgericht ist insoweit Beispiel für ein Gericht, „das nach einer Wende von einem diktatorischen oder autoritären Regime zur Demokratie Motor der neuen Ordnung geworden i s t . " 8 6 Das Stichwort „Wertordnung" verspricht i n dieser Lage nicht n u r A k zeptanz, sondern auch Stabilität. Zudem signalisierte es ein Lernen aus der Geschichte, denn die freie Persönlichkeit als Höchstwert hebt sich deutlich von dem H i n t e r g r u n d der menschenverachtenden Praxis des totalitären Regimes 8 7 ab. Zudem konnte man es als eine fortschrittliche Verarbeitung der Weimarer R e p u b l i k 8 8 verstehen, dass deren Wertrelativismus jetzt durch eine Wertbejahung ersetzt w u r d e . 8 9 Vor allem die Grundrechte boten sich für einen derartigen Wertbezug an, weil einer der wesentlichen K r i t i k p u n k t e an der Weimarer Reichsverfassung das Leerlaufen dieser Garantien war. Das Verfassungsgericht

85 Vgl. dazu Rainer Wahl, L ü t h u n d die Folgen. E i n Urteil als Weichenstellung für die Rechtsentwicklung, in: Thomas Henne!Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 371 ff. (380) sowie Matthias Ruffert, Vorrang der Verfassung u n d Eigenständigkeit des Privatrechts, Tübingen 2001, S. 7. 86 Rainer Wahl, ebd., S. 384. 87 Vgl. dazu Wolfgang Graf Vitzthum, Zurück zum klassischen Menschenwürdebegriff!, in: Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 349 ff. Für Günter D ü r i g w a r die Wendung gegen die von Larenz entwickelte Lehre der konkreten Rechtsfähigkeit, welche den Rassenfremden nur eine beschränkte Rechtsfähigkeit zubilligte und sie somit aus der Rechtsordnung ausgrenzte, eines der Negativbilder, die seine Auffassung prägten. Vgl. dazu Vitzthum, ebd., S. 356. 88 Hierzu grundsätzlich Oliver Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, in: Christoph Gusy, Weimars lange Schatten - Weimar als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003, S. 395 ff. 89 Vgl. dazu Thorsten Hollstein: U m der Freiheit w i l l e n - Die Konzeption der Grundrechte bei Hans Carl Nipperdey in den 1950er Jahren, in: Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 249 ff. (259); Michael Stolleis, Die Staatsrechtslehre der 50er Jahre, in: Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 293 ff. (297). Z u m Lernen aus Weimar auch Thomas Henne, „Von 0 auf ,Lüth' i n 6 1 / 2 Jahren", in: ders. /Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 197

(208).

XXII

Einleitung

hat diesen Gedanken i n der Elfes-Entscheidung selbst aufgenomm e n . 9 0 I n der Weimarer Diskussion war es vor allem Rudolf Smend gewesen, der gegen die herrschende positivistische Lehre die Grundrechte zum Wertsystem erhoben h a t t e . 9 1 Der Name Smends ist ein w i c h t i ger Bezugspunkt i n den Schriftsätzen von A r n d t u n d Hennis während des Lüth-Verfahrens, taucht allerdings i m Text des Urteils nicht a u f . 9 2 Der Gedanke der Grundrechte als Wertordnung musste allerdings auch nicht explizit zugeordnet werden, w e i l er auf der H a n d l a g . 9 3 Z u m Teil w i r d der Bezug des L ü t h - U r t e i l s auf Smend für sehr stark gehalten: „Das Bundesverfassungsgericht übernimmt seine wertebezogene Grundrechtsinterpretation - ein Textvergleich macht es augenfällig von S m e n d " . 9 4 Z u m Teil w i r d aber genauer differenziert: „ E i n semantischer Vergleich zeigt deutlich Nähe u n d Distanz zur Grundrechtstheorie Rudolf Smends. Nähe i n der Orientierung an den Grundrechten als Werten, Distanz i n der Umkehrung der Rangfolge der Grundrechtsfunktionen." 9 5 Denn das Bundesverfassungsgericht hält die A b wehrfunktion der Grundrechte für vorrangig u n d zentral. Die angesprochene Nähe des Urteils zu Smend w i r d man i n der holistischen Öffnung der Argumentation unter dem Titel „Werte" sehen müssen. Deren konkrete Ausformulierung zeigt dagegen die Distanz zu Smend u n d erfolgt m i t Hilfe anderer Bezugspunkte. Konkret geht es u m die Frage, wie der über Werte begründete holistische Bezug des Privatrechts zu fassen ist. Hierzu findet sich i m L ü t h 90 Vgl. BVerfGE 6, 32 ff. (40). 91 Rudolf Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht (1928), in: ders , Staatsrechtliche Abhandlungen u n d andere Aufsätze, 2. Auflage, Berlin 1968, S. 119 ff. (264 f.). 92 Vgl. dazu Stefan Ruppert, Geschlossene Wertordnung? Z u r Grundrechtstheorie Rudolf Smends, in: Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 327 ff. (342) sowie Wilhelm Hennis, L ü t h - u n d anderes, in: Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 187 (193). 93 Vgl. dazu Stefan Ruppert, Geschlossene Wertordnung? Z u r Grundrechtstheorie Rudolf Smends, in: Thomas Henne / Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 327 ff. (343). 94 Vgl. dazu Ilse Staff, Das L ü t h - U r t e i l . Z u r demokratietheoretischen Problematik materialer Grundrechtstheorie, in: Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 315 ff. (318). Vgl. zur Einschätzung des Nachweises von Smend auch Oliver Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, in: Christoph Gusy, Weimars lange Schatten - Weimar als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003, S. 363 f. m. w. N. 95 Stefan Ruppert, Geschlossene Wertordnung? Z u r Grundrechtstheorie Rudolf Smends, in: Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 327 ff. (345).

Einleitung

XXIII

U r t e i l folgender Passus: „ D i e grundsätzliche Frage, ob Grundrechtsnormen auf das bürgerliche Recht einwirken und wie diese W i r k u n g i m Einzelnen gedacht werden müsse, ist umstritten [ . . . ] . Die äußersten Positionen i n diesem Streit liegen einerseits i n der These, dass die Grundrechte ausschließlich gegen den Staat gerichtet seien, andererseits i n der Auffassung, dass die Grundrechte oder doch einige, u n d jedenfalls die wichtigsten von ihnen, auch i m Privatrechtsverkehr gegen jedermann gelten. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts k a n n weder für die eine noch für die andere dieser extremen Auffassungen i n Anspruch genommen werden; die Folgerung, die das Bundesarbeitsgericht i n seinem U r t e i l vom 10. M a i 1957 - N J W 1957, S. 1688 - aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 17. u n d 23. Januar 1957 (BVerfGE 6, 55 u n d 6, 84) i n dieser Hinsicht zieht, gehen zu w e i t . " 9 6 Diese Äußerung w i r d i n der L i t e ratur häufig überinterpretiert. Das Bundesverfassungsgericht hat die von Nipperdey verfochtene These der unmittelbaren D r i t t w i r k u n g nicht einfach verworfen. 9 7 Denn es fügt hinzu: „ A u c h jetzt besteht kein Anlass, die Streitfrage der so genannten , D r i t t w i r k u n g ' der G r u n d rechte i n vollem Umfang zu erörtern." 9 8 Das Gericht lehnt zwar die Lehre von der reinen Staatsgerichtetheit der Grundrechte ab. Aber die allgemeine Frage, ob die D r i t t w i r k u n g unmittelbar oder mittelbar erfolge, kann es offen lassen, w e i l i m vorliegenden Fall eine mittelbare D r i t t w i r k u n g zur Problembewältigung ausreicht. Daraus eine „ Z w i e sprache des Gerichts m i t Günther D ü r i g " 9 9 zu machen, würde dessen Rolle überschätzen. 1 0 0 Denn D ü r i g hat eine viel spezifischere Auffassung von Wertphilosophie als das Gericht. Er geht nicht nur von einer Wertpyramide aus, an deren Spitze die Menschenwürde s t e h t , 1 0 1 son96 BVerfGE 7, 198 ff. (204). 97 Thomas Henne, „Von 0 auf L ü t h i n 6 1 / 2 Jahren", in: ders./Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 197 ff. (219). 98 BVerfGE 7, 198 ff. (204). 99 Thomas Henne, „Von 0 auf L ü t h i n 6 1 / 2 Jahren", in: ders./Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 197 ff. (214) m i t Bezug auf Walter Schmidt, Grundrechte - Theorie u n d Dogmatik seit 1946 i n Westdeutschland, in: Dieter Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft i n der Bonner Republik, Frankfurt am M a i n 1994, S. 188 ff. (196, Fn. 25). 100

Gewiss hatte Günter D ü r i g einen großen Einfluss auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, so etwa bei dessen Übernahme der Objektformel i m Rahmen des Art. 1. Vgl. dazu Thomas Henne, „Von 0 auf L ü t h i n 6 1 / 2 Jahren", in: ders./Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 197 ff. (214), m. w. N. i n Fn. 85, aber gerade das L ü t h - U r t e i l ist dafür nicht das beste Beispiel. 101

Thorsten Hollstein, U m der Freiheit w i l l e n - Die Konzeption der G r u n d rechte bei Hans Carl Nipperdey i n den 1950er Jahren, in: Thomas Henne / Arne

XXIV

Einleitung

dern vor allem von einer abstrakten Wertordnung. 1 0 2 Eine abstrakte Rangordnung der Werte wurde auch innerhalb der philosophischen Werttheorie von H a r t m a n n u n d Scheler vertreten, die jedoch unterschiedliche Wertrangfolgen entwickelt h a t t e n . 1 0 3 Von einer solchen abstrakten Rangfolge geht aber weder die Verfassung noch das Gericht aus. Zwar findet sich i m L ü t h - U r t e i l folgende Formulierung: „Innerhalb dieser Wertordnung, die zugleich eine Wertrangordnung ist, muss auch die hier erforderliche Abwägung zwischen dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 G G u n d den seine Ausübung beschränkenden Rechten u n d Rechtsgütern vorgenommen w e r d e n . " 1 0 4 Aber dieses allgemein gehaltene Bekenntnis zu einer Wertrangordnung hat keine argumentativen Konsequenzen innerhalb der Konkretisierung. Vielmehr fährt das Gericht fort: „ F ü r die Entscheidung der Frage, ob eine A u f forderung zum Boykott nach diesen Maßstäben sittenwidrig ist, sind zunächst Motive, Ziele u n d Zwecke der Äußerung zu prüfen; ferner kommt es darauf an, ob der Beschwerdeführer bei der Verfolgung seiner Ziele das Maß der nach den Umständen notwendigen u n d angemessenen Beeinträchtigung der Interessen Harlans u n d der Filmgesellschaft nicht überschritten h a t . " 1 0 5 Auch i m Folgenden w i r d die Wertrangordnung nie zum Argument, sondern es werden konkrete Umstände des Falls herangezogen. Die Entscheidung über die Gültigkeit der vorgetragenen Argumente hängt, betrachtet man das tatsächliche Vorgehen des Gerichts, gerade nicht von einer Wertrangordnung ab. M i t t lerweile konnte die Forschung denn auch nachweisen, dass sich der Senat auf diese philosophische Position i n der Tat nicht festlegen w o l l Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 249 ff. (261), m. w. N.; vgl. dazu noch den Aufsatz von Wolfgang Graf Vitzthum, Z u r ü c k zum klassischen Menschenwürdebegriff!, in: Thomas Henne! Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 349 ff., der vor allem den Bezug der Menschenwürde zu K a n t e n t w i ckelt, S. 357 ff. sowie das seiner Ansicht nach nicht beherrschende christliche Motiv, S. 363 ff. 102 Vgl. dazu Hans Heinrich Rupp, Vom Wandel der Grundrechte, in: AöR 101 (1976), S. 161 ff. (170). Diese abstrakte Rangordnung w i r d auch vertreten von Nipperdey: Vgl. dazu Hans Carl Nipperdey, Die Würde des Menschen, Kommentierung des A r t . 1 Abs. 1 GG, in: Otto Bachof (Hrsg.), Die Grundrechte. Handbuch der Theorie u n d Praxis der Grundrechte, Band 2, Berlin 1954, S. 1 ff. (23) sowie dersDie Grundprinzipien des Wirtschaftsverfassungsrechts, in: Deutsche Rechtszeitschrift 5 (1950), S. 193 ff. (196). 103 Vgl. dazu Hans-Martin Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, Heidelberg 1981, S. 64. Die Unterstellung einer abstrakten Wertrangordnung bei D ü rig w i r d relativiert von Wolfgang Graf Vitzthum, Zurück zum klassischen Menschenwürdebegriff!, in: Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r teil aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 349 ff. (353). 104 BVerfGE 7, 198 ff. (215). los BVerfGE 7, 198 ff. (216).

Einleitung

XXV

t e . 1 0 6 Bei ausführlicher Lektüre zeigt sich, dass das Gericht trotz terminologischer Anleihen bei der philosophischen Werttheorie deren Grundlagen nie ausdrücklich übernommen h a t . 1 0 7 Die „Werte" waren nur Geburtshelfer für die E n t w i c k l u n g der objektiven Dimension der Grundrechte. 1 0 8 M a n hat also die zeitbedingte Einkleidung von der i n haltlichen Argumentation des Gerichts zu unterscheiden.

4. Der schwache Holismus der Strukturierenden Rechtslehre Die Divergenz von zeitbedingter Einkleidung und praktischer A r g u mentation i n den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts war eine der theoretischen Herausforderungen für den Beginn der A r b e i t von Friedrich M ü l l e r seit „ N o r m s t r u k t u r und N o r m a t i v i t ä t " (1966). Die Analyse des dem juristischen Handeln impliziten Wissens w a r von Anfang an für den Ansatz der Strukturierenden Rechtslehre kennzeichnend. Das Vorgehen entsprach dabei der Sache nach dem der L i n guistik. Wenn man nämlich die Sprache verstehen w i l l , k a n n man nicht einfach den Sprecher fragen. Was Sprecher als reflektiertes Wissen verfügbar haben, bleibt hinter ihrem realisierten Können weit zurück. Man muss die Sprecher vielmehr bei ihrem praktischen Tun beobachten, das Tonband laufen lassen u n d protokollieren. Ebenso ist es m i t den Juristen. Wenn man einen Richter fragt, was er tut, so liefert er eine verkürzte Darstellung dessen, was er i n einer Grundlagenvorlesung einmal gehört hat. Er fügt dann noch einige, gelegentlich zynische, Distanzierungen hinzu, ohne jemals sein eigenes tatsächliches Können vollständig auszuformulieren. Auf diesem Weg erfährt man nichts. M a n muss vielmehr die Texte der Gerichte analysieren; u n d zwar nicht darauf, was sie i n ihrer Selbstbeschreibung sagen, sondern darauf, was sie praktisch i n ihren Verknüpfungen tun. E i n Stück dieser Theorie der Praxis hat Friedrich Müller i n der „Strukturierenden Rechtslehre", i n den bisher zwei Teilen der „Juristischen M e t h o d i k " und i n den inzwischen acht Bänden der „Elemente einer Verfassungstheorie" sichtbar gemacht, zu denen auch das vorliegende Buch gehört. 106 Vgl. dazu Horst Dreier, Dimensionen der Grundrechte - Von der Wertordnungsjudikatur zu den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten, Hannover 1993, S. 21 ff. Z u den mittlerweile häufig dargestellten Argumenten gegen die materielle Wertphilosophie selbst vgl. Dreier, ebd., S. 18 ff. 107 Vgl. dazu Dreier, ebd., S. 22. los v g l . dazu grundsätzlich Dreier, ebd., sowie Rainer Wahl, L ü t h u n d die Folgen. E i n Urteil als Weichenstellung für die Rechtsentwicklung, in: Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 371 ff. (381).

XXVI

Einleitung

Seine Analysen zeichnen die Konturen eines unverzichtbaren aber schwachen, eines horizontalen Holismus i n der semantischen Praxis der Gerichte. a) Der Holismus funktioniert

praktisch

Die Auseinandersetzung m i t der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts zur D r i t t w i r k u n g n i m m t die entsprechenden Urteile als „Theorie" wahr. So werden etwa an diesen Urteilen drei Schichten von Dogmatik, D r i t t w i r k u n g u n d Grundrechtstheorie unterschieden, um dann hinzuzufügen: „ F ü r die m i t t e l - u n d langfristige rechtsgeschichtliche W i r k u n g des Urteils ist aber vor allem die dritte Schicht von herausragender Bedeutung. Denn dort ist das w i r k l i c h Neue u n d Einzigartige des L ü t h - U r t e i l s u n d der Lüth-Rechtsprechung enthalten. Die beiden anderen Problemkreise sind auch nahezu allen anderen Rechtsordnungen b e k a n n t . " 1 0 9 Aus der angenommenen Entdeckung einer j u ristischen Theorie macht man dann ein Markenzeichen des deutschen Staatsrechts, eine Denkfigur m i t stärkster Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen. A m Ende muss man allerdings feststellen, dass die hier präsentierte Theorie überkomplex ist und w o h l kaum zum Export geeignet. 1 1 0 Der rechtsvergleichende Blick ins Ausland zeigt nämlich, dass die entsprechenden Konflikte i n anderen Rechtsordnungen „nahezu" genauso gelöst werden, ohne den „deutschen Sonderweg" einer hochkomplexen Theorie zu benötigen. 1 1 1 Dort w i r d die objektiv-rechtliche Seite der Grundrechte von Fall zu Fall i n Einzelentscheidungen entwickelt, die sich als ein Case-Law-System begreifen lassen. 1 1 2 Hier hätte ein Ansatzpunkt liegen können, die deutschen Entscheidungen i n ähnlicher Weise zu systematisieren. Man hätte sich dann allerdings i m Einzelnen an der argumentativen Logik der Entscheidungen 1 1 3 orientieren und m i t vorsichtigen Verallgemeinerungen die Punkte sicht109

Rainer Wahl , L ü t h und die Folgen. E i n Urteil als Weichenstellung für die Rechtsentwicklung, in: Thomas Henne / Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r teil aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 371 ff. (371 f.). ho Wahl, ebd., S. 396. i n Wahl, ebd., S. 372. 112 Rainer Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte i m i n ternationalen Vergleich, in: Detlef Merten / Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band 1, Heidelberg 2004, S. 764 ff. 113 Vgl. dazu die Analyse der Solange-II-Entscheidung aus der Sicht eines philosophischen Argumentationstheoretikers: Harald Wohlrapp, Argumente stehen in einem Text nicht wie Gänseblumen in der Wiese herum, in: Kent D. Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Band 2, Recht verhandeln, Berlin 2005, S. 549 ff.

Einleitung

XXVII

bar machen müssen, wo der Text etwas anderes sagt als er tut. Diese mühevolle Arbeit, für die Strukturierende Rechtslehre seit jeher kennzeichnend, w i r d aber als „verengter Rechtsprechungspositivismus" 1 1 4 abgetan, der den B l i c k über den Textrand hinaus verstelle. Tatsächlich k r a n k t die Analyse der Urteile i m Bereich der D r i t t w i r k u n g aber nicht an einem Zuviel, sondern an einem Zuwenig an dieser A r t von Rechtsprechungs „positivismus ". Bevor man über den Textrand hinaus blickt, sollte man besser i n den Text hinein blicken. Zunächst ist auffällig, dass der Bezug des Gerichts auf die philosophische Wertlehre, wie schon gesagt, n u r bei der A n tragsbefugnis auftaucht. I n der Prüfung der inhaltlichen Begründetheit erfolgt dann erst die eigentliche Argumentation, u n d diese ist von Werten u n d deren philosophischer Begründung ganz unabhängig. Das Gericht w i l l dahin gelangen, dass i n den Äußerungen des Beschwerdeführers L ü t h kein Verstoß gegen die Auffassung aller b i l l i g u n d gerecht denkenden Bürger zu sehen s e i . 1 1 5 Dafür muss es Argumente finden u n d sich m i t Gegenansichten auseinandersetzen. Genau das t u t der Senat. Von „Werten" ist nicht mehr die Rede. Zunächst w i r d der Gegenstand der Auslegung klargestellt. Es geht um den Begriff der „guten Sitten" i n § 826 BGB u n d u m die Frage, ob das Landgericht bei seiner Auslegung die Bedeutung u n d Tragweite der Meinungsfreiheit r i c h t i g bestimmt hat - die so genannte spezifische Verfassungsverletzung. A b strakt wurde dieses Problem vom Senat schon vor dem Abschnitt zur Begründetheit erörtert. Dort grenzte er die Rolle des Verfassungsgerichts von der des Revisionsgerichts ab. Die Literatur k n ü p f t t y p i scherweise an diese abstrakten Überlegungen an u n d muss dann nat ü r l i c h zu dem Ergebnis kommen, die Formel vom spezifischen Verfassungsrecht reiche allein nicht aus, u m die verfassungsrechtliche Problematik von der einfachgesetzlichen zu trennen: „Sie ermöglicht es dem Bundesverfassungsgericht, jede Frage des einfachen Rechts als verfassungsrechtliche Frage zu interpretieren. Das Gericht kann so alle Rechtsfragen durch seine Berührung i n Verfassungsrechtsfragen verwandeln - so wie K ö n i g Midas einst alles i n Gold verwandelte, was er berührte. Anders als Midas ist das Gericht aber i n der komfortablen Position, dass es selbst entscheiden kann, ob sich das einfache Recht durch seine Berührung i n verfassungsrechtliches Gold verwandeln soll oder n i c h t . " 1 1 6 Dieser Schuss ist jedoch zu schnell. Die L i t e r a t u r sitzt 114

Thomas Henne, „Von 0 auf L ü t h i n 6 1 / 2 Jahren", in: ders ./Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 197 ff. (197). Vgl. dazu auch Bernhard Schlink , Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Der Staat 28 (1989), S. 161 ff. (163). Iis BVerfGE 7, 198 ff. (229).

XXVIII

Einleitung

vorschnell dem B i l d der A u s s t r a h l u n g s w i r k u n g 1 1 7 auf, ohne deren methodische Operationalisierung i m Text zu beobachten - u n d gerade darauf käme es an. Was der Text über sich selbst sagt, kann man nicht für bare Münze nehmen, sondern man muss analysieren, wie er tatsächlich arbeitet. Schon bei Carl Schmitt hätte man nachlesen können, dass die Methode der Praxis zum Glück besser ist, als das, was die Praxis für ihre Methode h ä l t . 1 1 8 Wenn man ohne solche Naivität an U r teilstexte herangeht, w i r d vieles klarer. Gerade i n den Aussagen zur Begründetheit des Lüth-Urteils, und nicht i n der abstrakten Vorbemerkung, w i r d eine bestimmte textuelle Strategie sichtbar. Das Gericht überprüft an der Arbeit der Fachgerichte nicht die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts m i t Hilfe der i n der Rechtsprechung etablierten Canones. Es überprüft lediglich einen einzigen Teilaspekt der systematischen Auslegung des § 826 BGB: die Frage nämlich, ob beim Präzisieren dieses Begriffs die Meinungsfreiheit richtig bestimmt wurde. Vorher hatte es dazu, auf dem Feld des Wortlauts, beim Begriff der „guten S i t t e n " 1 1 9 den entsprechenden Spielraum herausgearbeitet. Das ist ein überprüfbarer Vorgang und damit etwas ganz anderes als die Willkür, welche uns das liebliche B i l d von König Midas suggerieren w i l l . Auch handelt es sich bei dem, was das Gericht real tut, der Sache nach nicht um Abwägung. Das sagt es nur so. I m Text erscheinen die Worte „Abwägung" oder „Vorrang" dann, wenn ein Argument, das den Weg zur angestrebten Behauptung verlegt, von Gegenargumenten integriert oder v/iderlegt wird. Auch hier ist es wieder wichtig, von dem abzusehen, was das Gericht nur sagt, u n d auf das zu achten, was es i m Text und durch i h n tatsächlich tut. Die „ m a n traartig wiederholte These einer ,ständigen Rechtsprechung seit L ü t h ' " 1 2 0 hat das theoretische Potenzial, das diese Entscheidung bietet, gerade verdrängt und stattdessen eine „Theorie" der D r i t t w i r k u n g konstruiert, die philosophisch einschüchternd sein mag, die aber h i n ter dem, was das Gericht tut, i n der Komplexität zurückbleibt. Die „ A b w ä g u n g " ist hier nur rhetorische Fassade. Wenn man sich nicht daran hält, was der Text behauptet, sondern daran, wie er ope116 Rainer Wahl, L ü t h und die Folgen. E i n Urteil als Weichenstellung für die Rechtsentwicklung, in: Thomas Henne / Arne Riedlinger (Hrsg.), Das L ü t h - U r teil aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 371 ff. (389). 117 Vgl. zu diesem B i l d Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung i m Gesetz, Tübingen 1999, S. 2. 118 Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, Berlin 1912, S. 45.

119 BVerfGE 7, 198 ff. (215). 120 Vgl. dazu Thomas Henne / Arne Riedlinger ; Zur Historisierung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: dies., Das L ü t h - U r t e i l aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 1 ff. (5).

XXIX

Einleitung

riert, sieht man etwas anderes: Es w i r d die Geltung von vorgetragenen Argumenten überprüft u n d es werden sozialtheoretische Zusammenhänge aufgenommen. Die argumentationstheoretischen u n d die sozialtheoretischen Ausführungen bleiben noch genauer zu fassen u n d auf die Canones der juristischen Methodik zu beziehen. Eben das wäre die Aufgabe der Wissenschaft. Die herkömmliche Lehre greift diese Probleme aber gar nicht erst nicht auf. Sie hält sich stattdessen an das, was der Text der Urteile über sich selbst aussagt. Deswegen macht sie aus der „ A b w ä g u n g " eine prinzipielle Theorie u n d scheitert daran. b) Der Holismus funktioniert

horizontal

Nach der Lehre des Mainstream müsste der Richter immer dann, wenn das Gesetz keine eindeutige Auskunft liefert, auf dem Weg über die Prinzipien bis zur Sinneinheit des Rechts vorstoßen. Das ist ein holistischer Ansatz, der vertikal von der Sinneinheit des Systems her jede Einzelheit beherrschen w i l l . Deswegen heißt die entsprechende Methode auch „vertikale A u s l e g u n g " 1 2 1 . Sie soll den Richter vom bloßen Text ins Innere des Rechts führen. Aber diese Reise nach innen funktioniert i n der Praxis nicht. Das Recht versammelt sich nicht zu einem inneren Wesen. M a n findet stattdessen nur eine Vielzahl weiterer Normtexte, sei es auf derselben, sei es auf einer anderen Regelungsebene. Keiner dieser Normtexte stellt die zentrale Steuerungseinheit oder den Gesamtsinn dar, sondern jeweils nur eine weitere mögliche Verknüpfung. A u f der Fahrt nach innen geht es dem p r a k tisch entscheidenden Juristen wie dem Neurowissenschaftler, der statt des gesuchten Zentral-Ichs nur eine Vielzahl von homunculi f i n d e t . 1 2 2 Auch die Einheit des Rechts löst sich i n eine Vielzahl von Beobachtungsperspektiven auf, so dass man ohne letzten H a l t wieder beim Äußeren landet. Der Weg „ i n die Tiefe" des Rechts führt also ins Nirgendwo. Deswegen bleibt den Gerichten gar nichts anderes übrig, als die Rechtssätze horizontal zu vernetzen. Der Kontext einer Bedeutung muss immer neu beschrieben werden. Die Einheit des Rechts ist kein fester Punkt, den man i n einem bestimmten Moment an einem bestimmten Ort errei121 Albert Bleckmann , Die systematische Auslegung i m europäischen Gemeinschaftsrecht, in: ders., Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1986, S. 41 ff., 44. 122 Vgl. zu dieser Bewegung der Ersetzung einer Zentralinstanz durch viele Einzelinstanzen Daniel C. Dennett, Wo b i n ich?, in: Douglas R. Hofstatter / Daniel C. Dennett (Hrsg.), Einsicht ins Ich. 5. Aufl., Stuttgart 2002, S. 209 ff. Siehe auch David H. Sanford, Wo war ich?, ebd., S. 224 ff.

XXX

Einleitung

chen könnte. Sie liegt vielmehr auf der Fluchtlinie ständig neuer Beschreibungen. Diese Fluchtlinie ist auch nicht Gegenstand einfacher Beobachtung. Sie w i r d nur dann sichtbar, wenn man die Beobachter beobachtet. Das Heranziehen des Kontextes führt damit nicht zur Sinnmitte des Rechts, sondern i n die Beobachtung zweiter Ordnung. Genau diese Konsequenz zeigt sich m i t voller Deutlichkeit i n der Praxis der Gerichte. Sie greifen oft u n d gerne auf eigene Entscheidungen zurück, wenn sie einen Fall lösen. Dieser als Tatsache gut bestätigte Vorgang n i m m t an Häufigkeit zu. Es ist mittlerweile über Inhaltsanalysen von Gerichtsurteilen empirisch nachgewiesen, dass der Bezug auf die eigene Judikatur i n der Arbeit der Gerichte eine bedeutende Rolle spielt: Der Verweis auf frühere Rechtsprechung w i r d etwa i n den Entscheidungen des E u G H i m Jahrgang 1999 insgesamt 1199-mal verwendet u n d damit zehnmal so häufig wie die Systematik des Gesetzes. 1 2 3 I n der weit überwiegenden Anzahl der Entscheidungen besteht das systematische Argument nur noch i m Verweis des Gerichts auf seine eigene Spruchpraxis. Das heißt: die Systematik w i r d als Beobachtung zweiter Ordnung vollzogen. A m Beispiel der Systematik zweiter Ordnung zeigt sich, dass w i c h t i ge Elemente der praktisch funktionierenden Gesetzesbindung i n der herkömmlichen Lehre überhaupt nicht vorkommen. Das ganze Verfahren und die d a r i n vorgebrachten Argumente spielen für den Mainstream keine Rolle. Alles w i r d auf die zwei Elemente von Richter u n d Gesetz reduziert, u n d ihre Beziehung ist als monologische Erkenntnis einer vorgegebenen Bedeutung gefasst. Die starken Prämissen des traditionellen Holismus verdecken die Notwendigkeit einer weiter getriebenen Analyse. c) Der Holismus funktioniert

ohne Ganzes

Wenn die bisher herrschende Selbstbeschreibung des Rechts zutreffend wäre, müsste die Begründung der Grundrechte u n d ihrer D r i t t w i r k u n g i n einem Hinweis auf eine vorgegebene Wertordnung des Grundgesetzes liegen. Tatsächlich aber w i r d eine solche Wertordnung i n den Rechtsverfahren nicht diskutiert. Sie bildet höchstens die A b schlussformel für eine vorhergehende Argumentationsdynamik. Real gestritten w i r d über einen möglichen Ausgleich bei der Kollision von unterschiedlichen sozialen, humanen u n d natürlichen Logiken. W i r bewegen uns dabei dogmatisch auf dem Gebiet der Verhältnismäßigkeit, und i n h a l t l i c h geht es u m die Geltung der von beiden Seiten 123 Vgl. Mariele S. 106.

Dederichs,

Die Methodik des EuGH, Baden-Baden 2004,

Einleitung

XXXI

vorgebrachten Argumente. Die Wertordnung als Entscheidungsgröße würde dagegen, entsprechend ihrer Herkunf, eine phänomenologische Wesensschau voraussetzen. Die methodische Frage wäre dann: Wie viel von der Entfaltungsdynamik eines sozialen Teilsystems k a n n man wegdenken, ohne dass das soziale Ganze i n seiner F u n k t i o n zerstört w i r d ? 1 2 4 Das Auftreten einer solchen Methode lässt sich i n den Begründungen der Gerichte aber gerade nicht nachweisen. Stattdessen werden Sachargumente vorgebracht, werden vom Gegner widerlegt u n d i n die je eigene Position integriert. Die Urteilsbegründung reagiert dann auf dieses Material, sei es durch ausdrückliche Bezugnahme oder durch Nichtbezugnahme. Die Gerichte veranstalten keine gemeinsame Wesensschau. Sie moderieren vielmehr eine soziale Interaktion, i n deren Verlauf Argumente ausgetauscht werden. Trotzdem kommt die Figur der „Einheit der Rechtsordnung" i n Urteilen häufig vor. Dies liegt, so scheint es, an der Unvermeidbarkeit des Holismus i n der juristischen Semantik. Wenn man aber untersucht, wie diese gerichtlichen Texte tatsächlich funktionieren, dann zeigt sich, dass mit der Wendung von der Einheit der Rechtsordnung nicht das gemeint ist, was uns die Wertungsjurisprudenz nahe legen w i l l . Dies liegt daran, dass Abwägung als praktische Technik nicht funktioniert und dass auch der Zugriff auf das Ganze seriös nicht möglich ist. Daher können die Gerichte das Problem der holistischen Dimension juristischen Argumentierens weder epistemisch noch vertikal handhaben. Die Justiz verwendet die „ E i n h e i t " des Rechts bzw. der Rechtsordnung eher als Legitimationstitel u n d zur Überhöhung normaler j u r i s t i scher Argumentationstechniken. Die Praxis verfolgt verständlicherweise das Ziel der Kohärenz: Die Gerichte wollen ihre Entscheidungen ins Ganze der Rechtsordnung u n d i n die Kette bisheriger Entscheidungen möglichst bruchlos einfügen. 1 2 5 Das Erreichen dieses Ziels k a n n 124 Das ist die klassische Operationalisierung der Wesensschau i n der phänomenologischen Tradition. Es geht u m eine Bedeutungsforschung, welche reale Tatsachen ausklammert, u m so zu den Essenzen zu gelangen. Vgl. dazu Michael Landmann, Erkenntnis und Erlebnis, Phänomenologische Studien, Berlin 1951; Adolf Reinach, Was ist Phänomenologie?, München 1951. Z u r A u s w i r k u n g dieser Methode i n der Jurisprudenz vgl. Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: ders. / Winfried Hassemer / Ulfrid Neumann (Hrsg.), E i n führung i n die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl., Heidelberg 2004, S. 26 ff. (84 f.), m. w. N. Z u r generellen K r i t i k dieser methodischen Figur vgl. Wolfgang Fritz Haug, K r i t i k des Absurdismus, K ö l n 1976, S. 100 ff. - I n der heutigen Phänomenologie ist man über diesen i n der Rechtswissenschaft übernommenen Stand hinaus. Vgl. dazu Bernhard Waldenfels, I n den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt am M a i n 1985, S. 15 ff. sowie speziell zum Problem Aufdecken oder Erfinden einer Ordnung: ders., Ordnung i m Zwielicht, Frankfurt am M a i n 1987, S. 137 ff. (167 ff.).

XXXII

Einleitung

aber am „Ganzen" der Rechtsordnung nicht gemessen werden, w e i l dieses Ganze nicht verfügbar ist. Die Gerichte nehmen deswegen eine praktische Entparadoxierung vor, indem sie eine relative Kohärenz feststellen. Kohärenz ist kein Urmeter außerhalb der Argumentation, keine selbständige Größe. Sie besteht vielmehr i n der Auseinandersetzung m i t den ins Verfahren eingebrachten Beispielen, Argumenten u n d Lesarten.

5. Diskursive Gewaltenteilung im Rahmen einer holistischen Semantik I m Ergebnis zeigt sich also, dass die zentralen Theoreme der herkömmlichen Lehre zur Erfassung der praktischen Arbeit der Gerichte nicht geeignet sind. Weder die methodische Figur der Abwägung noch ihre theoretische Grundlage i n der Konzeption einer Einheit der Rechtsordnung vermögen die Komplexität der praktischen A r b e i t der Gerichte aufzunehmen. „ A b w ä g u n g " ist bloß eine delegierende Metapher, w e i l die Heterogenität der i n der konfliktgeprägten juristischen Praxis zusammenstoßenden Positionen sich i n der Bestimmung des (eben nicht „einheitlichen") Ganzen'wiederholt. Weil man das Ganze als ein homogenes Medium aber bräuchte, u m beispielsweise Religion gegen Presse oder Kunst gegen Gewerbebetrieb abwägen zu können, funktioniert die angebotene Technik nicht. Daher vollzieht sich die ganze diesem Problem gewidmete praktische Arbeit der Gerichte i n einem blinden Fleck der traditionellen Theorie. Die Einheit der Rechtsordnung ist keine Deduktionsgrundlage u n d die Abwägung keine A r t der Operationalisierung, die geeignet wäre, das praktische Vorgehen beim Entscheiden juristischer Konflikte jeder A r t zu erfassen. Die j u ristische Selbstbeschreibung muss i m H i n b l i c k auf die holistische D i mension ihrer Semantik genauer konzipiert werden. Der juristische Entscheider, vor allem der Richter hat ein komplexes Verfahren zu leiten u n d die vorgetragenen Argumente zu verarbeiten. Einen Rechtssatz verstehen heißt danach, i h n m i t anderen zu vernetzen u n d i n einem Verfahren darüber zu streiten. Es handelt sich dabei u m einen horizontalen und praktischen Holismus. Horizontal heißt er, w e i l für i h n das Ganze keine abgehoben eigene Bedeutung hat, sondern durch das Beziehungsgeflecht der einzelnen Elemente hervorgebracht wird. Praktisch heißt er, w e i l er den Bezug des Einzelnen zum Ganzen nicht vorgängig „ e r k e n n t " , sondern i h n i n der Auseinandersetzung 125 Vgl. dazu grundlegend Hans-Joachim Strauch, Rechtsprechungstheorie. Richterliche Rechtsanwendung u n d Kohärenz, in: Kent D. Lerch, Die Sprache des Rechts, Band 2, Recht verhandeln, Berlin / N e w York 2005, S. 479 ff.

Einleitung

XXXIII

darum erst erprobt. Das Buch „ D i e Einheit der Verfassung" markiert dafür eine frühe Pioniertat. I m Rahmen dieses schwachen Holismus kann man das Verhältnis von einschließender und ausschließender Gew a l t dann auch realistischer auf Varianz h i n beobachten. N u r i n einem solchen schwachen Holismus ist Platz für eine reflektierende Gewalt.

1 Ausgangsfrage „Einheit der Verfassung" ist ein sprachlicher Ausdruck für drei Unbekannte. Der Begriff „Verfassung" w i r d nicht einhellig verstanden. M i t „Einheit" w i r d von formaler Summierung bis zu metaphysischem Programm vielerlei bezeichnet. „Einheit der Verfassimg" schließlich ist beispielsweise als anspruchsvollerer Name für systematisches Auslegen anzutreffen oder dient m i t ungeklärtem Inhalt als Waffe der Polemik. I n die Rechtspraxis wurde das Argument durch das Bundesverfassungsgericht eingeführt. Seit 1951 behauptet der Zweite, seit 1953 der Erste Senat 1 , das Grundgesetz bilde eine innere Einheit. Das Gericht verwendet den Gedanken teils als sprachliche Neuerung für herkömmliche Hilfsmittel, teils als Formel ohne Sachgehalt m i t suggestiver Aufgabe, teils auch widersprüchlich 2 . Widersprüchlichkeit prägt auch die wissenschaftliche Debatte. A u f der einen Seite w i r d der Ausdruck für die übliche systematische Auslegung gebraucht 3 , auf der anderen als etwas Neues aufgefaßt, das i n systematischer Interpretation nicht aufgeht 4 . Das Argument w i r d als M i t t e l textgebundener rechtsstaatlicher Entscheidungsarbeit gesehen 5 , es werden unter Rückgriff auf Vorstellungen von Einheit substanzhafte Eigenschaften von Staat und Verfassung angenommen 6 oder, von einem anderen Ausgangspunkt, formale Abstufungen und Vor1 BVerfGE 1, S. 14ff., 32f.; B V e r f G E 2, S. 380 ff., 403. — I n den Vereinigten Staaten hat das A r g u m e n t i n der Auslegung der Verfassung „as an entirety" wenn schon nicht ein Vorbild, so doch jedenfalls eine Parallele; vgl. den Nachweis bei v. Pestalozza I, S. 225, A n m . 61. 2 Vgl. n u r etwa die verschiedene, zum T e i l gegensätzliche Bedeutung des Arguments i n BVerfGE 19, S. 206, 219 u n d f. 3 So v o n Dreier, S. 43, A n m . 135; Badura I V , Sp. 2720; v. Pestalozza I I , S. 180. 4 Z. B. bei Krebs, S. 50 f., A n m . 104. — Die Unentschiedenheit zeigt sich immanent bei Tomuschat: Die Verfassung als ein Sinnganzes zu verstehen, sei ein F a l l von systematischer Interpretation u n d damit „beileibe k e i n neuentdecktes Verfahren"; zugleich aber dennoch „das herausragende Ergebnis der Bemühungen, welche die Staatsrechtslehre der jüngsten Vergangenheit auf die Bestimmung der besonderen Erfordernisse der Verfassungsauslegung verwandt hat", S. 70, 69. 5 So bei Hesse V I , z. B. S. 28 f. 6 Schmitt I V , z. B. S. 3, 4, 9, 10, 15, 21, 23, 75 f., 77.

10

1 Ausgangsfrage

zugsregeln des Verfassungstextes i n Frage gestellt 7 . Überhaupt ist der Gedanke der Einheit vom Ganzen her gefaßt. Der Autor, der mehr als jeder andere den (durch keinen Nachweis gestützten) Einsatz des Arguments i n der Rechtsprechung vorbereitet haben dürfte, fordert die „Auslegung der Verfassung als Ganzes", als eines ganzheitlichen wie einheitlichen Sinnzusammenhangs, als Totalität 8 . Die ständige Praxis ist nur vereinzelt und beiläufig kritisiert worden. Als sanfte Anmahnung erscheint der Hinweis, dieses Denken sei theologischer Hermeneutik und das Vertrauen auf eine Sinnmitte des Grundgesetzes sei der Suche nach der Mitte der Schrift und nach dem Kanon i m Kanon benachbart 9 . Die Rede von der Einheit und der einheitstiftenden Funktion des Grundgesetzes w i r d aber auch ohne Umschweife als Ideologie bezeichnet 10 oder als anspruchsvoll formuliertes, jedoch begrifflich unsicheres Schlagwort bewertet 1 1 . Sogar undelikate Vorwürfe sind zu hören: Es handele sich u m lückenfüllende Begriffsjurisprudenz, m i t deren Hilfe das Gericht, nicht zuletzt zugunsten „der Festigung des Verfassungsrechtes und natürlich der Stellung des Bundesverfassungsgerichtes" nach Ansicht des Kritikers „Beliebiges ableiten kann" 1 2 . Ähnlich war der Auslegungsgrundsatz schon zum Zaubermantel der Verfassungsinterpretation erklärt worden, der dogmatische Rechtsfragen überdecke 13 . Die K r i t i k hat aber nie das B i l d bestimmt. Der Rückgriff auf die Einheit der Verfassung w i r k t als „vornehmstes Interpretationsprinzip", wie sich das Bundesverfassungsgericht selbst bescheinigt 14 . I n den Sechziger Jahren galt er als „das vielleicht wichtigste verfassungsrechtliche Interpretationsprinzip" 1 5 , M i t te der Siebziger Jahre bereits ohne Einschränkung als „das wichtigste Ergebnis jüngerer Methodendiskussion i m Bereiche des Verfassungsrechts" 16 oder schlicht als „Gemeingut" 1 7 . Die herrschende Wertschätzung ist angesichts der inhaltlichen Unklarheiten bemerkenswert. Es besteht nicht einmal Einigkeit über die Frage, ob der Gedanke einer Einheit der Verfassung Rangunterschiede 7

So bei Häberle I I I , etwa S. 4 ff., 7 f., 61 f., 222 ff. Smend I I I , z. B. S. 233 u n d ff., 238 ff., 242. 9 Dreier, S. 43 Anm. 135 m. Nw. — Dagegen vergleicht Kelsen I I , S. 30, „diese sogenannte Wissenschaft vom Staate" i n boshaft polemischer Absicht m i t der „Wissenschaft von Gott". 10 Ridder I I , S. 97 f., 99. 11 v. Pestalozza I I , S. 180, 181. 12 Roellecke, S. 33, vgl. auch ebd., S. 32, 49. 13 Grosskreutz, S. 3, vgl. auch S. 41. 14 BVerfGE 19, S. 206, 220. 13 Ehmke V, S. 102. 16 Krebs, S. 50 m i t Anm. 101. 17 Badura V I I , S. 323. 8

1 Ausgangsfrage

zwischen einzelnen Verfassungsnormen i m Grundsatz ausschließt und verfassungswidriges Verfassungsrecht nur in unwahrscheinlichen Extremfällen wegen Verstoßes gegen überpositive Normen annehmen läßt 18 , oder ob er Rangunterschiede innerhalb der positiven Verfassung geradezu begründet 19 . Nach dem ersten Eindruck wurde die Sicht der Verfassung als einer Einheit eher unbesehen anerkannt. Die Untiefen, die sie enthalten mag, und die Widersprüche, die ihre Anwendung von Anfang an belasteten, wurden fortgeschleppt und könnten die Entscheidungsarbeit auch i n solchen Fallgruppen infiziert haben, auf die sie später ausgedehnt worden ist. U m der Normativität des Grundgesetzes und u m der Rationalität seiner Konkretisierung w i l l e n ist zu fragen, ob und wie weit es i m methodisch und dogmatisch genauen Sinn als einheitliches Ganzes behandelt werden kann. Dieses Thema ist begrenzbar, sein Umfeld ist uferlos. Da es eine konzentrierte Debatte bisher nicht gegeben hat, kommt es nicht darauf an, die i m Umfeld versprengten literarischen Äußerungen vollständig zu erfassen. Es w i r d lehrreicher sein zu untersuchen, wie das Argument von der Praxis benutzt wird. Hier fällt auf, daß von einer Einheit der Verfassung i n normativ und dogmatisch verschiedenen Zusammenhängen die Rede ist, ohne daß der Ausdruck entsprechend genauer gefaßt oder daß seine Gebrauchsweise abgestuft worden wäre. Zum andern beeindruckt die feiertägliche Sprache, m i t der man sich auf eine innere Einheit des Grundgesetzes zu berufen pflegt. Dieser Stil deutet auf ein Bedürfnis nach Harmonie oder vielleicht auf ein Interesse daran, daß an solche Harmonie geglaubt werde. Aber der erste Blick auf ein so vielschichtiges Thema ist nicht maßgebend, die bisherige Rolle des Arguments i n der Rechtspraxis bleibt i m einzelnen zu untersuchen.

18

Hierzu der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts i n BVerfGE 3, S. 225 ff., v. a. 231 ff., 247 f. 19 So die These des Zweiten Senats seit BVerfGE 1, S. 14, 32 f.

2 Analyse der Rechtsprechung Seit dem Südweststaats-Urteil 20 stützt sich der Zweite, seit dem Urteil zum nordrhein-westfälischen Beanstandungsgesetz i n Haftentschädigungssachen21 der Erste Senat i n ständiger Rechtsprechung auf die Einheitsthese. I m Südweststaats-Urteil w i r d behauptet, der Bayerische Verfassungsgerichtshof habe hier Pate gestanden. Dieser Hinweis ist jedoch ungenau. Das gehört bereits zu den Widersprüchen, die das Argument von der inneren Einheit und Harmonie des Grundgesetzes von Anfang an begleitet haben. I m folgenden geht es darum, wie der Ausdruck „Einheit der Verfassung" i n der Rechtspraxis tatsächlich verwendet wird. Welchen Funktionen soll er i m subjektiven Sinn dienen, und welche hat er im objektiven: Welche Ziele verfolgt die Rechtsprechung mit bestimmten Gebrauchsweisen des Ausdrucks und welche Wirkungen hat sein Gebrauch? Nicht nur dieser pragmatische Begriff von Funktion hat zwei unterscheidbare Schichten, sondern auch der Zusammenhang, auf den er sich bezieht. Es ist einmal zu fragen, welchen Stellenwert der tatsächliche Arbeitsvorgang, der m i t dem Rückgriff auf eine Einheit der Verfassung sprachlich abgestützt wird, für das Begründen der Entscheidungsnorm hat. Und zum andern fragt es sich, welche Rolle der Rückgriff gerade auf das Argument aus der Einheit der Verfassung für die reale dogmatische oder methodische Operation, also für das tatsächliche richterliche Tun gespielt hat. Zur ersten Frage kann es sich zum Beispiel herausstellen, daß systematisch ausgelegt wurde und daß dies normativ angebracht und für das Ergebnis tragend war; daß es aber, als A n t w o r t auf die zweite Frage, sachlich nichts hinzufügte, diesen Arbeitsvorgang m i t dem Gedanken einer Einheit der Verfassung zu verbinden.

2.1 Grundsatzkonforme Verfassungsauslegung; I m Südweststaats-Urteil war i n einem Verfassungsstreit zwischen der Badischen Landesregierung und der Bundesregierung über das Erste und das Zweite Gesetz zur Durchführung der Neugliederung i m Gebiet der damaligen Länder Baden, Württemberg-Baden und Würt20

BVerfGE 1, S. 14, 32f.; der Hinweis auf den Bayerischen Verfassungsgerichtshof findet sich ebd., S. 32. 21 BVerfGE 2, S. 380, 403.

2.1 Grundsatzkonforme Verfassungsauslegung

13

temberg-Hohenzollern zu entscheiden. Das Erste Neugliederungsgesetz hatte die Wahlperiode für die Landtage i n Baden und WürttembergHohenzollern verlängert. Beide Bundesgesetze waren aufgrund des Art. 118 Satz 2 Grundgesetz (GG) erlassen worden. Es fragte sich, ob alle ihre Vorschriften m i t dem Grundgesetz vereinbar waren oder nicht. Der Senat prüft das für das erste der beiden Gesetze an den Grundsätzen der Demokratie u n d des Bundesstaates. Diese Kontrolle leitet er mit allgemeinen Thesen zur Verfassungsinterpretation ein. Sie stützen sich darauf, das Grundgesetz bilde eine innere Einheit: „Eine einzelne Verfassungsbestimmung kann nicht isoliert betrachtet und allein aus sich heraus ausgelegt werden. Sie steht i n einem Sinnzusammenhang m i t den übrigen Vorschriften der Verfassung, die eine innere Einheit darstellt. Aus dem Gesamtinhalt der Verfassung ergeben sich gewisse verfassungsrechtliche Grundsätze und Grundentscheidungen, denen die einzelnen Verfassungsbestimmungen untergeordnet sind. Das Grundgesetz geht, wie sich insbesondere aus A r t . 79 Abs. 3 ergibt, ersichtlich von dieser Auffassung aus. Das Bundesverfassungsgericht schließt sich daher für seine Auslegung der Auffassung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs an, . . ." 2 2 . Daraus ergibt sich nach Ansicht des Senats, jede Verfassungsnorm müsse „so ausgelegt werden, daß sie mit jenen elementaren Verfassungsgrundsätzen und Grundentscheidungen des Verfassungsgesetzgebers vereinbar ist". Das gelte auch für A r t . 118 Satz 2 GG. Dieser w i r d dann i n bezug auf das Neugliederungsgesetz am demokratischen und am bundesstaatlichen Prinzip überprüft. Welche sachlichen (methodischen, dogmatischen, theoretischen) Aussagen stehen hinter dieser sprachlichen Sequenz? I m ersten Satz spricht der Senat von systematischer Auslegung. Dieses Hilfsmittel w i r d allgemein anerkannt und verwendet. Der zweite Satz behauptet einen Sinnzusammenhang m i t „den übrigen", also mit allen sonstigen Normen der Verfassung. Sollte das richtig sein, so ließe sich wohl davon sprechen, daß die Verfassung eine innere Einheit darstellt. Beides w i r d aber nur behauptet; es ist mit systematischer Interpretation weder gegeben, noch w i r d es von ihr vorausgesetzt. Das systematische Argument vergleicht die zu konkretisierende Vorschrift in verschiedenen 22 BVerfGE 1, S. 14, 32. Der Senat beruft sich hier auf B a y V f G H 2, S. 45 ff., 47 f. und B a y V f G H 3, S. 28 ff., 47 f.: „Daß eine Verfassungsbestimmung selbst nichtig ist, ist n u n nicht schon u m deswillen begrifflich ausgeschlossen, w e i l sie selbst Bestandteil der Verfassung ist. Es gibt Verfassungsgrundsätze, die so elementar und so sehr Ausdruck eines auch der Verfassung vorausliegenden Rechts sind, daß sie den Verfassungsgesetzgeber selbst binden und daß andere Verfassungsbestimmungen, denen dieser Rang nicht zukommt, wegen ihres Verstoßes gegen sie nichtig sein können." — Z u m folgenden BVerfGE 1, S. 14, 32 f.

14

2 Analyse der Rechtsprechung

Verfahren mit bestimmten anderen Normen des geltenden Rechts 23 . Es versucht, einen argumentativen Zusammenhang zu einzelnen anderen Vorschriften darzutun (partielle Interdependenz). Den allseitigen Zusammenhang (totale Interdependenz), der inhaltlich eine innere Einheit entweder der Rechtsordnung oder, wie hier, des Grundgesetzes begründen könnte, kann systematische Auslegung weder unterstellen noch hervorbringen. Eine äußere Einheit der Verfassung i m Sinn ihres formalen Zusammenhangs als Urkunde ist hier offensichtlich nicht gemeint. Der zweite Satz der These w i r d i n der Tat nur behauptet. Daß die Verfassung keinen allseitigen Sinnkontext und keine innere Einheit aufweise, w i r d nicht einmal als möglich offen gelassen. So wenig der zweite Satz aus dem ersten begründbar ist, so wenig folgt der dritte aus dem zweiten. Er beginnt m i t dem nicht einleuchtenden Schritt von der „inneren Einheit" der Verfassung zu ihrem „Gesamtinhalt" und folgert weiter, aus diesem ergebe sich eine Rangfolge der Geltungskraft i m Verfassungsrecht. A u f der einen Seite stehen bestimmte Grundsätze und Grundentscheidungen, auf der anderen „die einzelnen", also wieder alle einzelnen Verfassungsnormen. Diese sollen den Grundsätzen untergeordnet sein. Der Gesamtinhalt bildet die Quelle für grundsätzliche Normen, und diese haben Vorrang vor allen einzelnen Verfassungssätzen gleich welchen Inhalts oder welcher Stellung. Totaler Zusammenhang folgt aber nicht aus systematischer Auslegung, ein Gesamtinhalt nicht aus innerer Einheit und eine Überund Unterordnung i m Verfassungsrecht nicht aus einem Gesamtinhalt des Grundgesetzes. Jeder der zitierten Sätze aus dem SüdweststaatsUrteil bricht m i t dem vorhergehenden und behauptet etwas Neuartiges. Wäre der Senat bei seinem Ausgangspunkt geblieben, so hätte sich für das systematische Argument sagen lassen: Bestimmte Normen der Verfassung sind verfassungspolitisch besonders betont und positivrechtlich besonders abgesichert (Art. 1, A r t . 20 i. V. m. 79 Abs. 3 GG, A r t . 3 Abs. 1 GG). Diese Vorschriften zeichnen sich durch sehr umfassende Normbereiche 24 aus; teils deshalb, w e i l sie wie der allgemeine Gleichheitssatz Generalklauseln sind, teils i n ihrer Eigenschaft als Sammelbegriffe für umfangreiche Normenkomplexe i m Grundgesetz, so bei den Staatsform- und Staatszielbestimmungen des A r t . 20 Abs. 1 GG. Daher sind i n der Praxis besonders viele andere Einzelnormen mit ihnen systematisch zu vermitteln. Es entspricht ihrer hervorgehobenen Funktion wie ihrer breiten Wirkung, sie als Grundentscheidungen oder Grundsätze zu bezeichnen. Sie haben 23 24

F. Müller X , z. B. S. 162 ff. Z u Begriff und F u n k t i o n : F. Müller

X , z. B. S. 117 ff., 180 ff., 269 ff., m. Nw.

2.1 Grundsatzkonforme Verfassungsauslegung

15

jedoch weder formal noch inhaltlich einen höheren Rang oder eine als allgemeine Vorzugsregel wirkende Stellung. Keine Einzelnorm des Grundgesetzes ist ihnen untergeordnet. Ihre ungewöhnliche Bedeutung beruht auf den genannten Gründen und vermittelt sich i n der Rechtspraxis stets auch durch Interpretation m i t systematischen Elementen. I n den bisherigen Schritten seiner Begründung war der Senat jeweils rasant zu etwas Neuem übergegangen, das aus dem Voranstehenden nicht folgte. I m nächsten Satz schiebt er nun eine Behauptung nach, die sein Vorgehen und dessen Ergebnisse rechtfertigen soll. Diese Theorie sei nämlich die des Grundgesetzes, das ersichtlich von ihr ausgehe. Demnach übt sich der Senat hier nur i n Verfassungstreue gegenüber offenkundigen normativen Anweisungen. Er interpretiert nicht schöpferisch, er behauptet nicht i m leeren Raum der Beliebigkeit, sondern er wendet schlicht die Auffassung des Grundgesetzes an. Dies soll sich vor allem aus Art. 79 Abs. 3 GG ergeben. Auch das w i r d nicht begründet. Der Versuch wäre auch wenig aussichtsreich. Das Grundgesetz begrenzt i n A r t . 79 Abs. 3 die Möglichkeiten, die Verfassung zu ändern. Es bindet den Gesetzgeber, nicht den Interpreten außerhalb eines Vorgangs von Verfassungsänderung. Selbst innerhalb eines solchen ist A r t . 79 Abs. 3 GG schon vom Normtext her ein Fall systematischen Auslegens, nicht aber von Gesamtinhalt oder Totalzusammenhang der Verfassung. Nach A r t . 79 Abs. 3 GG sind ungezählte zulässige Änderungen des Grundgesetzes denkbar. Diese Norm ist kein frei schwebender theoretischer Überbau der Verfassung. Sie ist i n Zusammenhang m i t Art. 79 Abs. 1 und Abs. 2 zu sehen. Sie hat auch für die Interpretation nichts m i t Überordnung und Unterordnung zu tun, sondern m i t systematischem Konkretisieren der dort genannten i n ihrer Funktion besonders grundsätzlichen und nach ihren Normbereichen besonders breit wirkenden Maßstabsnormen. Die Argumentation hat noch ein weiteres Mal dort einen Bruch, wo der Senat seine Theorie nicht nur als durch A r t . 79 Abs. 3 GG gefordert ausgibt, sondern sie auch m i t der Position des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs kurzschließt. Dabei meint das Münchener Gericht solche Grundsätze, die allgemein einen höheren Rang als andere Verfassungsnormen haben sollen. Sie seien elementar und lägen selbst der Verfassung voraus. Sie seien unabhängig von dieser und fähig, den Verfassungsgesetzgeber zu binden. Verfassungsnormen, die gegen sie verstoßen, können demnach nichtig sein und — so die letzte mutige Folgerung — von der Verfassungsjustiz unter Rückgriff auf das überpositive Recht i n einem normalen Verfahren für nichtig erklärt werden. Ob nun diese Ansicht der Nachkriegszeit von der ewigen Wiederkehr des aufgeklärten Vernunftrechts oder vielleicht von der eines unaufgeklärten Naturrechts zeugen mag, ist hier nicht wichtig. Dage-

16

2 Analyse der Rechtsprechung

gen hat sie weder mit systematischer Auslegung noch mit einer inneren Einheit der Verfassung, m i t deren Totalzusammenhang oder Gesamtinhalt i m Sinn der vom Zweiten Senat bisher entwickelten Theorie zu tun. Der Anschluß an die Kernsprüche aus Bayern findet sich i n den Leitsätzen des Südweststaats-Urteils: Eine verfassunggebende Versammlung ist ihrem Wesen nach unabhängig und kann sich nur selbst Schranken auferlegen. Gebunden ist sie allein an die „jedem geschriebenen Recht vorausliegenden überpositiven Rechtsgrundsätze". Demnach erkennt auch das Bundesverfassungsgericht „die Existenz überpositiven, auch den Verfassungsgesetzgeber bindenden Rechtes an" und ist i n bemerkenswert positivrechtlicher Folgerung denn auch „zuständig, das gesetzte Recht daran zu messen" 25 . Das klingt i n der Tat so apodiktisch wie der Glaube vergangener Zeitalter an ein von Ort, Geschichte und Kulturbewußtsein unabhängiges Recht höherer Herkunft 2 6 . Jedenfalls arbeitet der Verfassungsgerichtshof m i t überpositiver Rückendeckung, während der Zweite Senat bisher seine Theorie i m positiven Recht zu entwickeln und mit i h m zu stützen bemüht war 2 7 . Beide Spruchkörper vereinen sich nur i n dem Bekenntnis zu höherrangigem Recht auf der einen und zu generell untergeordneten, unter Umständen auch verfassungswidrigen und für nichtig erklärbaren Verfassungsnormen auf der anderen Seite. Allerdings ist auch der Zusammenhang, den beide Gerichtshöfe herzustellen versuchen, nicht derselbe: Dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof kommt es darauf an, widerstrebende Verfassungsvorschriften für nichtig zu erklären. Der Zweite Senat spricht ein quasi-normatives Gebot aus, jede Verfassungsnorm grundsatzkonform zu interpretieren. Dem Münchener Gericht geht es i m KPD-Fall i m zweiten Band seiner Entscheidungen wie auch i m Entnazifizierungs-Fall i m dritten Band wesentlich u m den Gleichheitsgrundsatz. Das Bundesverfassungsgericht wendet seine These von der Einheit der Verfassung auf das demokratische, das bundesstaatliche und das rechtsstaatliche Prinzip so an, daß diese als elementare und daher überpositiv begründete höherrangige Verfassungsgrundsätze erscheinen 28 . Einmal abgesehen von der 25

BVerfGE 1, S. 14 ff., 17 Leitsatz 21 a, 18 Leitsatz 27; ebd., S. 61. Der Erste Senat ist neun Jahre nach dem Südweststaats-Urteil vorsichtiger, w e n n er, i n bezug auf die Glaubensfreiheit, von Wertmaßstäben ausgeht, „die sich bei den heutigen K u l t u r v ö l k e r n auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen i m Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet" haben, BVerfGE 12, S. 1, 4. — A u f diesen Beschluß beruft sich der Bundesgerichtshof, wenn er dazu beizutragen versucht, daß „den i n der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft wirksamen sinn- und werteverwirklichenden Grundkräften des Daseins Raum gegeben" w i r d und daß „die gleichfalls i n i h r noch wirksamen werteverneinenden und wertezerstörenden Mächte abgewehrt werden", B G H Z 38, S. 317 ff., 320 f. 27 So auch der Leitsatz 4, BVerfGE 1, S. 14, 15. 28 Vgl. auch den Zusammenhang der Leitsätze 27 und 28 i n BVerfGE 1, S. 14,18. 26

2.1 Grundsatzkonforme Verfassungsauslegung

17

theoretischen Debatte über das Naturrecht, hat der Gleichheitssatz Aussicht darauf, weithin als inhaltlich gerechtfertigt und als grundlegend anerkannt zu werden. Demokratie und Rechtsstaat sind i h m darin benachbart. Dagegen ließe sich das Bundesverfassungsgericht wohl ungern daran festhalten, der Gedanke des Bundesstaates sei einer der — wie der Zweite Senat soeben formuliert hat — jedem geschriebenen Recht vorausliegenden überpositiven Grundsätze. Nicht nur schlichter Verfassungsvergleich, sondern nicht zuletzt auch die politische Entstehungsgeschichte des bundesstaatlichen Aufbaus des Grundgesetzes sprechen eine andere Sprache. I m ganzen bleibt die Behauptung vom positivrechtlich faßbaren Rangunterschied des Verfassungsrechts gegenüber Naturrecht wie auch die einer Ranghierarchie innerhalb des positiven Verfassungsrechts unter Rückgriff auf Gesamtinhalt, Gesamtzusammenhang und innere Einheit der Verfassung zweideutig, unklar, unbegründet. Der Hinweis auf den Bayerischen Verfassungsgerichtshof vermag weltanschaulich, nicht aber rechtswissenschaftlich zu klären. Der Zweite Senat hielt es denn auch nicht für angezeigt, die zur Leitentscheidung des Verfassungsgerichtshofs abgegebene Abweichende Ansicht zu würdigen oder auch nur zu erwähnen. Nach ihr beschränkt sich die Zuständigkeit der Verfassungsjustiz darauf, positives Verfassungsrecht zu bearbeiten. Die Grundrechte hätten ein besonderes Gewicht „nur i n dem Ausmaße, als dieses Gewicht von der Verfassung umgrenzt und bestimmt w i r d " ; nicht aber könne von verschiedenem Rang oder von Verfassungswidrigkeit einzelner Verfassungsnormen gesprochen werden 2 9 . Aber auch der Landesgerichtshof judizierte davon ungerührt und durch abweichende Voten fürderhin nicht mehr gestört auf dieser Linie weiter. So werden i n einem anderen Entnazifizierungs-Fall 30 die Würde der menschlichen Person und der materielle Gleichheitssatz als dem positiven Recht vorausliegende, vom Verfassunggeber nicht geschaffene, sondern vorgefundene Menschenrechte ins Spiel gebracht. Allgemein sollen die elementaren Grundrechte „eine besondere Gruppe von Normen höheren Ranges" innerhalb der Bayerischen Verfassung mit den nun schon geläufigen positivrechtlichen Folgerungen etwaiger Nichtigkeit und unbegrenzter Prüfungszuständigkeit der Verfassungsjustiz bilden. Auch Rechtsstaat und Sozialstaat sind auf solche A r t grundsätzlich und müssen nicht nur aus dem positiven Verfassungsrecht, „sondern aus der allgemeinen Rechtslehre und aus der Idee der Gerechtigkeit erschlossen werden" 3 1 . I n 29

B a y V f G H 2, S. 45 ff., 49. B a y V f G H 4, S. 51 ff., Leitsätze 2 und 3, S. 58 f. 31 Ebd., S. 59. — I n einem Beschluß zur Zusammensetzung des Bayerischen Senats w i r d wieder der Gleichheitssatz als gegenüber einer Organisations30

2 F. M ü l l e r

18

2 Analyse der Rechtsprechung

einer Wahlrechtsentscheidung i m elften Band begründet der Bayerische Verfassungsgerichtshof m i t Blick auf den Gleichheitssatz nochmals ausführlich seine ständige Rechtsprechung und zeigt sich von positivrechtlichen Gegenargumenten unbeeindruckt: Die Existenz übergeordneter Werte sei freilich nicht ähnlich belegbar wie positives Recht. I h r Anerkennen könne sich nur auf Uberzeugung und diese auf Weltanschauung und Religion stützen. Ein (etwas lückenhafter) „Uberblick über das neuere Schrifttum" ergebe aber, daß sich eine solche Überzeugung „nach den Erfahrungen während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur durchgesetzt hat"; auch habe der bayerische Verfassunggeber die Grundrechte als Naturrecht aufgefaßt, das nicht nur „stärker", sondern auch „älter ist als der Staat" 32 . Der Gerichtshof wendet sich ausdrücklich gegen die Position des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, die Einheit der Verfassung schließe eine Rangstruktur i m Verfassungsrecht grundsätzlich aus 33 . Er bleibt demgegenüber auf der Linie des Südweststaats-Urteils. Dieses hatte die oben dargestellte Sequenz mit dem schlichten Satz abgeschlossen, all das gelte auch für Art. 118 Satz 2 GG 34 . Diese Vorschrift gibt dem Bund die Zuständigkeit, den deutschen Südwesten durch Bundesgesetz neu zu gliedern, wenn eine Vereinbarung nach Art. 118 Satz 1 GG nicht zustande gekommen ist. Die beiden hier zu prüfenden Bundesgesetze stützen sich auf diese spezielle Kompetenznorm. Der Senat mißt die gesetzliche Regelung i m folgenden an den Grundsätzen der Demokratie, des Bundesstaats und des Rechtsstaats. Die Demokratie im Sinn von Art. 20, 28 GG lasse es nicht zu, das Wahlrecht auf einem i n der Verfassung nicht vorgesehenen Weg den Wahlberechtigten zu entziehen oder, wie hier durch Verlängern der Wahlperiode, es zu verkürzen. Das dürfe auch der Bundesgesetzgeber nicht tun. Hängt dieses Argument mit dem Rückgriff auf die Einheit der Verfassung irgendwie zusammen? Die erste Voraussetzung dafür wäre, daß Art. 118 Satz 2 GG für die anstehende Frage überhaupt etwas aussagt. Tut er das, so kann seine Aussage entweder mit der Demokratie nach Art. 20, 28 GG übereinstimmen; dann entsteht keine Frage, auf norm der Verfassung höherrangig ausgegeben, B a y V f G H 14, S. 87 ff., 98. — I n einer Entscheidung zur Verfassungstreue für den öffentlichen Dienst ist die stehende Formel durch jene einschränkende Einschätzung angereichert, die sie inzwischen i n der Spruchpraxis des Ersten Senats seit BVerfGE 3, S. 225, 232 f. gefunden hatte, B a y V f G H 17, S.94ff., 96. — V g l . ferner B a y V f G H 9, S. 1 ff., 10; 11, S. 146 ff., 153; 13, S. 27 ff., 31; die i m Text folgende Entscheidung findet sich i n 11, S. 127 ff., 132 ff. 32 Ebd., S. 135. 33 Seit BVerfGE 3, S. 225, 231 ff. 34 BVerfGE 1, S. 14, 33; zu den i m Text folgenden Ausführungen ebd., S. 33 ff.; zum Zweiten Neugliederungsgesetz: S. 40 ff.

2.1 Grundsatzkonforme Verfassungsauslegung

19

die das Argument aus der Einheit der Verfassung antworten müßte. Oder A r t . 118 Satz 2 GG weicht vom demokratischen Grundsatz ab. Dann könnte er als spezielle Norm das allgemeine Prinzip verdrängen. Für den Normbereich von A r t . 118 Satz 2 GG würde dann nur die Aussage des Normprogramms desselben Artikels gelten. A n dieser Stelle könnte dann der Grundsatz der Einheit der Verfassung i n der Richtung einsetzen, eine einzelne Verfassungsnorm dürfe von einer verfassungsrechtlichen Grundentscheidung höheren Ranges i n keinem Fall abweichen, die lex specialis habe gegenüber solchen Grundsätzen ausnahmsweise keine verdrängende Kraft. Dabei ist aber eben stets vorausgesetzt, daß A r t . 118 Satz 2 GG für die Fallfrage überhaupt etwas aussagt, das m i t dem demokratischen Prinzip übereinstimmen oder nicht übereinstimmen kann. So ist es aber nicht. Die Vorgabe der Begründung dafür, A r t . 118 Satz 2 GG müsse grundsatzkonform ausgelegt werden, stößt ins Leere. A r t . 118 Satz 2 GG ist eine Kompetenzvorschrift. Formal macht sie den Bund zuständig, i m genannten Umfang gesetzlich zu regeln. Inhaltlich setzt sie wie alle Kompetenznormen voraus, daß die Verfassung eine derartige Aufgabe für legitim hält 3 5 . A r t . 118 Satz 2 GG teilt entgegen Art. 30, 70 und ff. GG dem Bund unter den Voraussetzungen eine Kompetenz zu, die sein Normtext nennt. Damit endet die Reichweite von Normbereich und Normprogramm dieser Vorschrift. Es ist trivial, daß Gesetze, die nach A r t . 118 Satz 2 GG vom zuständigen Gesetzgeber erlassen wurden, möglicherweise im übrigen gegen das Grundgesetz verstoßen und daher an diesem zu messen sind. Als Maßstabsnormen dafür können alle Vorschriften des Grundgesetzes mit Ausnahme von Art. 118 Satz 2 GG i n Frage kommen. Dieser kann die Maßstabsnormen weder verdrängen noch ersetzen. Er selbst ist dann kein Maßstab mehr; er sagt zur Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit der Neugliederungsgesetze, abgesehen von der Zuständigkeitsfrage und der grundsätzlichen Legitimität einer Regelung durch Bundesgesetz i n dem umschriebenen Fall, nichts aus. Der Senat hat also richtig angesetzt; für diesen Ansatz aber kann das Argument aus einer Einheit der Verfassung entfallen, ohne daß sich i n der Sache etwas ändert. Es ist nicht einmal so, daß A r t . 118 Satz 2 GG m i t A r t . 20, 28 GG systematisch auszulegen gewesen wäre und das Gericht diese Operation nur unnötig mit dem Ausdruck „innere Einheit der Verfassung" benannt hätte. Vielmehr ist eine bestimmte gesetzliche Regelung an einer der hier einschlägigen Maßstabsnormen der Bundesverfassung überprüft und zutreffend als nicht haltbar 35 Dazu F.Müller I I I , z.B. S. 2051; ders. X , z.B. S. 174; so jetzt auch v. Pestalozza I I , bes. S. 169 ff., 182 ff.

2*

20

2 Analyse der Rechtsprechung

bewertet worden. Das Argument aus der Einheit der Verfassung ist i m doppelten Sinn funktionslos 36 . A u f methodisch und dogmatisch gleiche Weise überprüft dann der Senat das Gesetz am bundesstaatlichen Prinzip (Art. 20, 28, 30 GG). Er spricht dem Bund zu Recht die Kompetenz dafür ab, die Wahlperiode des Landtags zu bestimmen oder zu verlängern. Da es sich hier um objektives Verfassungsrecht i m Bundesstaat handle, könne der Bund auch nicht dadurch zuständig werden, daß das Land verzichtet oder zustimmt. Der Senat kommt zu dem Ergebnis, das Erste Neugliederungsgesetz sei nichtig, die Wahlperioden der betroffenen Landtage hätten zum landesrechtlich vorgesehenen Termin geendet, es herrsche i n Baden und Württemberg-Hohenzollern i m Augenblick der Entscheidung eine schreckliche „landtaglose Zeit". Die vom Gericht skizzierte Theorie zu Positivität und Überpositivität i m Verfassungsrecht ist i n sich widersprüchlich und gefährlich unklar. Die Dogmatik ist nicht annehmbar, hat aber massive praktische Folgerungen. E i n Gesamtinhalt des Grundgesetzes, ein totaler Sinnzusammenhang seiner Normen sind nicht nachzuweisen und i m SüdweststaatsUrteil nicht nur nicht bewiesen, sondern auch i n ihrer möglichen Funktion diskreditiert. Das Behaupten eines generellen Vorrangs bestimmter Verfassungsnormen gegenüber allen anderen ist von der zugrunde liegenden Theorie her fragwürdig. Die Kompetenz, die sich das Bundesverfassungsgericht selbst zuspricht, auf diesem unsicheren Terrain mit Bindungswirkung für Behörden und Gerichte operieren zu dürfen, hellt das B i l d umso weniger auf, als der Senat hier kein gutes Beispiel für nüchterne Selbstreflexion seiner Entscheidungsarbeit gibt. Die Methodik einer Einheit der Verfassung besteht i n dem offenbar als zwingend gemeinten Gebot grundsatzkonformer Konkretisierung von Verfassungsrecht. Noch vor den Leitentscheidungen zur verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen w i r d hier bereits die Technik konformer Interpretation ins Spiel gebracht. Eine solche setzt aber einen Rangunterschied voraus. W i r d sie auf Verfassungsnormen erstreckt, so drängt sie zum Rückgriff auf Überpositives. Dieser Griff nach den Sternen steht dem Gericht i n einem i n jeder Hinsicht normalen Fall nicht gut an. Das Erste Neugliederungsgesetz war wegen Widerspruchs m i t dem Grundgesetz für nichtig zu erklären. Der Senat konstruiert diesen Widerspruch als Übereinstimmung des Gesetzes m i t der speziellen Verfassungsnorm (Art. 118 Satz 2 GG) und als deren Unvereinbarkeit mit übergeordneten Verfassungsgrundsätzen. Die Vorstellung einer inneren Einheit des 36 v. Pestalozza I I , S. 180 sieht hier systematisch-teleologische Auslegung am Werk. Dagegen erkannte schon Bachof IV, S. 242, der sich i m übrigen von diesem U r t e i l i n seinen Thesen über verfassungswidrige Verfassungsnormen bestätigt fühlen durfte, daß das Argument die Entscheidung nicht trägt.

2.1 Grundsatzkonforme Verfassungsauslegung

21

Grundgesetzes soll die Nichtigkeit der bundesgesetzlichen Regelung auf dem Weg der Treue zur einzelnen Verfassungsvorschrift, aber des Verstoßes gegen den angeblichen Gesamtinhalt der Bundesverfassung begründen. I n Wahrheit stellte sich die Rechtsfrage anders, verlief die Prüfung durch den Senat auf andere Weise, hätte das Argument aus der Einheit der Verfassung ohne Änderung des Ergebnisses, ja sogar ohne eine solche der Begründung weggelassen werden können. Das Vorgehen des Gerichts orientierte sich tatsächlich nur an Einzelgrundsätzen, die normativ im Grundgesetz aufgespürt wurden, nirgends aber am einheitlichen Gesamtinhalt der Verfassung als solchem. Anders als es die von Behauptung zu Behauptung, von Widerspruch zu Widerspruch schreitende Präambel der Sachprüfung formulierte, ergaben sich die Prinzipien aus Normen des Grundgesetzes und nicht aus seinem als Einheit vorgestellten Totalgehalt. Wären Theorie, Dogmatik und Methodik einer Einheit der Verfassung zusammenhängend dargelegt worden, so wäre der Aufwand nur überflüssig gewesen. Angesichts der gesteigerten Fragwürdigkeit des vom Zweiten Senat formulierten programmatischen Textes fällt die Bewertung ungünstiger aus. Gegenüber dieser Rechtsprechung hielt sich der Erste Senat anderthalb Jahrzehnte lang i n Distanz. Er räumte 37 als entfernte theoretische Möglichkeit ein, verfassungswidrige Verfassungsnormen denken zu können, entschied aber i n den m i t Einheit oder Sinnzusammenhang des Grundgesetzes dekorierten Fällen betont positivrechtlich. Das Urteil zum badischen Ortskirchensteuergesetz von 1965 macht dann den Eindruck, als schwenke der Erste Senat auf die Linie des Südweststaats-Urteils ein. Zum ersten M a l setzt das Gericht dazu an, das Argument aus der Einheit der Verfassung sachlich zu umschreiben, verfassungstheoretisch zu begründen: „Vornehmstes Interpretationsprinzip" sei „die Einheit der Verfassung als eines logisch-teleologischen Sinngebildes, weil das Wesen der Verfassung darin besteht, eine einheitliche Ordnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens der staatlichen Gemeinschaft zu sein" 38 . Dieser Satz ist i n der Sprache der Ontologie, nicht i n der eines funktionalen Denkens gefaßt. Wichtiger ist, welche Rolle er für die Entscheidung spielt. Zwei Gesellschaften m i t beschränkter Haftung hatten Verfassungsbeschwerde gegen landesrechtliche Normen eingelegt, die i m Gebiet des ehemaligen Landes Baden juristische Personen zur Kirchenbausteuer heranzogen. Die Beschwerden waren erfolgreich; das Gericht stellte einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG aus Gründen fest, die nicht dem Normbereich von A r t . 4 GG entstammen und auch nicht den allgemeinen 37 38

BVerfGE 3, S. 225, 232 f. BVerfGE 19, S. 206, 220.

22

2 Analyse der Rechtsprechung

Gleichheitssatz verletzen. Diese beiden Normen wurden daher nicht mehr gesondert geprüft. Nach Ansicht des Senats verstößt A r t . 13 des Ortskirchensteuergesetzes gegen die Neutralitätspflicht des Staates. Juristische Personen können einer Religionsgesellschaft nicht angehören. Keine Norm darf den Kirchen vom Staat verliehene Hoheitsbefugnisse gegenüber Nichtmitgliedern übertragen 39 . Der Hauptteil der Entscheidung fragt, ob sich aus dem kirchlichen Besteuerungsrecht nach A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 137 Abs. 6 Weimarer Reichsverfassung (WRV) etwas anderes ergibt. Dabei kommt es «darauf an, ob die Weimarer Verfassung die Besteuerung juristischer Personen möglicherweise garantiert hat oder ob die Frage den Ländern zur Regelung überlassen sein sollte. Das w i l l der Senat offen lassen, denn A r t . 137 Abs. 6 WRV stehe auf dem Weg über A r t . 140 GG i n der Verfassung von 1949 und müsse aus deren Zusammenhang interpretiert werden. Das ist für das grammatische und das systematische Element korrekt. Der Senat möchte jedoch offenbar auch die Entstehungsgeschichte des kirchlichen Besteuerungsrechts i n der Weimarer Nationalversammlung als unerheblich ausschalten. Da nun i m Parlamentarischen Rat über die fragliche Norm nicht inhaltlich gesprochen wurde, nimmt sich das Gericht -damit die Möglichkeit, genetische Gesichtspunkte heranzuziehen. Es ist.in einer solchen Lage methodisch aber nicht einsichtig, die Entstehungsgeschichte des Weimarer Verfassungsartikels nicht zu untersuchen. I m Zusammenhang des Grundgesetzes seien die über A r t . 140 GG inkorporierten Normen normales Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland geworden. Das Grundgesetz könne nur als Einheit begriffen werden; und das heißt nach der Position des Ersten Senats, daß dadurch über Bedeutung, Gewicht und Rang einzelner Verfassungsnormen nicht entschieden ist. Der Senat knüpft hier an seine Judikatur seit dem Urteil zur Gleichberechtigung 40 an und stellt die Aufgabe, die übernommenen Kirchenartikel nicht etwa m i t dem Gesamtinhalt des Grundgesetzes oder m i t „den" (= allen) anderen Verfassungsnormen, sondern m i t einzelnen anderen systematisch zu interpretieren. Diese nüchterne Sequenz unterscheidet sich deutlich von den Aussagen des Zweiten Senats i m Südweststaats-Urteil. Das Verständnis des Grundgesetzes als einer Einheit ist kein selbständiges Argument. Es stellt nur einen sprachlich neuen Ausdruck dafür dar, daß alle Normen der Verfassung als geltendes Recht zu behandeln und, sofern thematisch aussagekräftig, miteinander zu vergleichen und zu vermitteln sind. „Einheit der Verfassung" ist nicht mehr als ein Name für eine herkömmliche und unbestrittene Position i m Rechtsstaat. 39 BVerfGE 19, S. 206, 215 ff.; zu A r t . 3 Abs. 1 und A r t . 4 GG: ebd., S. 215, 225. Z u A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 137 Abs. 6 W R V : ebd., S. 217 ff.; zum Argument aus der Einheit der Verfassung: ebd., S. 219 f. 40 BVerfGE 3, S. 225, 232.

2.1 Grundsatzkonforme Verfassungsauslegung

23

Der Senat sieht sich darin durch den Bericht aus dem Parlamentarischen Rat bestätigt, den er i m folgenden wörtlich zitiert 4 1 . Dieser Bericht enthält drei verschiedene Aussagen: Die übernommenen A r t i k e l der Weimarer Verfassung sind weder i n deren Zusammenhang noch isoliert, sondern systematisch aus der gesamten Ordnung des Grundgesetzes zu interpretieren. Ein erster Sonderfall liegt dann vor, wenn das Grundgesetz den normativen Gehalt eines der übernommenen A r t i k e l an anderer Stelle verstärkt. Schließlich gehen i m Fall eines Widerspruchs der übernommenen A r t i k e l zu anderen Normen des Grundgesetzes diese vor; die Weimarer Vorschriften sind dann nicht mehr anwendbar. Es bleibt rätselhaft, wie «dieser letzte Punkt des Berichts aus dem Parlamentarischen Rat die Ansicht des Ersten Senats soll bestätigen können. Wenn die inkorporierten A r t i k e l „voHgültiges Verfassungsrecht" geworden sind und gegenüber den anderen Normen des Grundgesetzes „nicht etwa auf einer Stufe minderen Ranges" stehen 42 , so schließt das einen allgemeinen Vorrang i n der einen wie i n der anderen Richtung aus. I n unmittelbarem Anschluß an das Zitat aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes behauptet der Erste Senat, die Vorrang-These des Parlamentarischen Rats entspreche der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts seit dem Südweststaats-Urteil. Auch das ist ungenau. Denn nach dieser sind zum einen nicht alle Verfassungsnormen, sondern nur die elementaren Grundsätze mit Vorrang ausgestattet; zum anderen folgt aus diesem nicht die Unanwendbarkeit widersprechender Verfassungsnormen, sondern das Gebot ihrer grundsatzkonformen Interpretation. Dagegen räumt der Parlamentarische Rat an der zitierten Stelle nicht nur bestimmten, sondern allen Vorschriften des Grundgesetzes (außerhalb von A r t . 140 GG) Vorrang ein und erklärt die inkorporierten A r t i k e l nicht etwa für grundgesetzkonform interpretierbar, sondern für „nicht mehr anwendbar". Ein weiterer Widerspruch liegt schließlich darin, daß weder die Ansicht des Parlamentarischen Rates noch die des Zweiten Senats seit dem Südweststaats-Urteil m i t dem positivrechtlichen Ansatz des Ersten Senats vereinbar sind, den dieser soeben am Beispiel von A r t . 140 GG als gegenseitige Ranggleichheit der Verfassungsnormen bekräftigt hatte. Drei verschiedene und jedenfalls i n dieser Form miteinander jeweils unvereinbare Thesen zu einer Einheit der Verfassung schaltet der Senat kurzerhand gleich 43 . A n 'diesen merkwürdigen Vorgang schließt sich der eingangs genannte erste Versuch, die Einheit der Verfassung sachlich zu umschreiben. Was immer unter einem „logisch-teleologischen Sinngebilde" zu verstehen sein mag, das 41

BVerfGE 19; S. 206, 219 f. BVerfGE 19, S. 206, 219. 43 BVerfGE 19, S. 206, 219: „Bestätigt w i r d dies durch . . . " ; ebd., S. 220: „Diese Auffassung e n t s p r i c h t . . 42

24

2 Analyse der Rechtsprechung

Argument der Einheit der Verfassung w i r d zugleich an die Spitze einer (bis dahin nicht bekannten) Hierarchie der Interpretationsgrundsätze gerückt; u n d diese Neuheit wird m i t dem „Wesen" der Verfassung begründet, eine „einheitliche" Ordnung nicht nur des politischen, sondern auch des „gesellschaftlichen" Lebens der „staatlichen Gemeinschaft" zu sein. Diese Worte des Gerichts sollten nicht auf die Goldwaage gelegt werden; schließlich haben sie nicht zuletzt rhetorische Aufgaben. Festzuhalten ist aber, auf welche Weise sie die Aussage über die Funktion der Verfassung m i t jener über den herausragenden Rang einer Interpretation aus der Einheit der Verfassung verknüpfen. Mindestens ebensogut könnte der gegenteilige Schluß begründet werden: Weil die vom Gericht genannte Funktion der Verfassung — ihre Vertretbarkeit unterstellt — nicht rhetorisch, sondern nur normativ und damit durch rational arbeitende Konkretisierung erfüllt werden kann, ist „Einheit der Verfassung" als pauschales Argument weder normativ noch besonders stark, sondern nicht mehr als ein diskutables verfassungspolitisches Ziel. I m Anschluß an die widersprüchliche Kernpassage der Urteibgründe lenkt der Senat dann auf die dogmatische Fallfrage zurück 44 . Das Verfassungsgebot weltanschaulich-religiöser Neutralität des Staates w i r d über den Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung i n Art. 2 Abs. 1 GG m i t dem kirchlichen Besteuerungsrecht verbunden: Art. 137 Abs. 6 WRV gehe dem A r t . 2 Abs. 1 GG nicht i n dem Sinn vor, jede A r t kirchlicher Besteuerung schlechthin als Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung zu rechtfertigen. Vielmehr müßten die auf Grund von Art. 137 Abs. 6 W R V erlassenen landesrechtlichen Vorschriften des Kirchensteuerrechts m i t den übrigen Normen und Grundsätzen der Bundesverfassung, so auch m i t dem verfassungsrechtlichen Verhältnis von Kirche und Staat i n Einklang stehen. Nur dann könnten sie vor Art. 2 Abs. 1 GG Bestand haben. Das ist zumindest mißverständlich. Daß das kirchliche Besteuerungsrecht und das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gleichen Rang hoiben, hatte der Senat zunächst als eigene Position bekräftigt. Daß Normen «des Grundgesetzes den übernommenen Weimarer Kirchenartikeln bei Widerspruch schlechthin vorgehen, hatte der Parlamentarische Rat gemeint — der Erste Senat schien sich dadurch bestätigt zu fühlen. Dasselbe zeigte sich zur Ansicht des Zweiten Senats, nach der die einzelnen Nonnen des Grundgesetzes konform dessen elementaren Grundentscheidungen zu interpretieren sein sollen. I m vorliegenden Fall scheint der Erste Senat hier Art. 137 Abs. 6 WRV 44 BVerfGE 19, S. 206, 220; i m einzelnen vgl. S. 221 ff. — Zur verfassungsmäßigen Ordnung i m Sinn des A r t . 2 Abs. 1 GG u n d i n Verbindung m i t dem Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität des Staates ebd., S. 215 ff.

2.1 Grundsatzkonforme Verfassungsauslegung

25

i. V. m. A r t . 140 GG als m i t A r t . 2 Abs. 1 GG gleichrangig zu behandeln. Die Verknüpfung liegt jedoch anders. Das kirchliche Besteuerungsrecht könne, so heißt es, dem Entfaltungsgrundrecht nicht i n dem Sinn vorgehen, daß die auf A r t . 137 Abs. 6 WRV gestützten gesetzlichen Normen des Kirchensteuerrechts nicht mehr an sonstigem Verfassungsrecht zu überprüfen wären. Der Kirchensteuerartikel geht also dem übrigen Grundgesetz nicht so unbedingt vor, daß er es als Maßstabsnorm verdrängt — von einer solchen nach der anderen Seite h i n extremen A n sicht war aber nie die Rede gewesen. Der Sache nach geht es hier nicht um das Messen des Persönlichkeitsgrundrechts oder des Grundgesetzes am Kirchensteuerartikel, sondern um -das Überprüfen von Unterverfassungsrecht (Landesgesetzen) an thematisch einschlägigen Normen des Grundgesetzes. Das Landesrecht kann sich prinzipiell auf A r t . 137 Abs. 6 WRV i. V. m. Art. 140 GG stützen; damit ist aber noch nichts dazu gesagt, ob es i m übrigen m i t dem Grundgesetz übereinstimmt oder nicht. Die Rede von der Einheit der Verfassung verdeckt hier reichlich kompliziert denselben simplen Vorgang wie i m Südweststaats-Urteil; nämlich den Vorgang, i n dem Gesetze an möglicherweise einschlägigen Verfassungsvorschriften gemessen werden. Der Kirchensteuerartikel kann für Recht, das sich auf ihn stützt, nicht die Rangdifferenz von Gesetz und Verfassung aufheben. Das Landesrecht muß hier vor allem am Neutralitätsgebot und an den Normen gemessen werden, die das Verhältnis von Staat und Kirche regeln. Es erweist sich dabei als verfassungswidrig. Dieses richtige Ergebnis hätte nicht nur einfacher, sondern auch korrekter begründet werden können. A r t . 13 des badischen Ortskirchensteuergesetzes verletzte das Neutralitätsgebot der Bundesverfassung. Der Kirchensteuerartikel des Grundgesetzes bietet i n seinem Normtext keine Ausnahme, keine entgegenstehende Spezialnorm an, da er das Besteuern juristischer Personen nicht ausdrücklich gewährleistet. Art. 137 Abs. 6 W R V wäre, da sich grammatische Anhaltspunkte nicht zeigen, vor allem genetisch und systematisch zu interpretieren gewesen. Die Entstehungsgeschichte i m Parlamentarischen Rat erwies sich als unergiebig. Jene i n der Weimarer Nationalversammlung zu untersuchen, versagte sich das Gericht m i t seiner oben besprochenen nicht schlüssigen These, diese Frage könne offen bleiben. A r t . 137 Abs. 6 WRV w i r d aber auch nicht zureichend m i t -anderen Normen des Grundgesetzes systematisch interpretiert. Das t u n zu wollen, hatte dem Senat als Vorwand dafür gedient, die genetische Auslegung dahingestellt sein zu lassen. Die in sich mehrfach gebrochenen, i m einzelnen miteinander unvereinbaren Ausführungen zur Einheit der Verfassung benennen keine bestimmte methodische Operation. Es w i r d nicht systematisch ausgelegt, sondern es w i r d die landesrechtliche Norm a n Normen des Grundgesetzes gemessen. Die Rede von

26

2 Analyse der Rechtsprechung

der Einheit der Verfassung hat nur die •begründungstaktische Aufgabe, dem Gericht einen Blick in die Entstehungsgeschichte des früheren Art. 137 Abs. 6 WRV zu ersparen. Diese auf den ersten Blick befremdliche Berührungsscheu erklärt sich aus der prozessualen Lage. Das Erzbischöfliche Ordinariat Freiburg hatte vorgetragen, juristische Personen seien schon vor 1919 zulässig besteuert worden, die Weimarer Verfassung habe das gebilligt u n d durch die vorliegende Fassung des K i r chensteuerartikels beibehalten wollen. Andere Normen des Grundgesetzes könnten nicht entgegenstehen, weil der Kirchensteuerartikel für diesen Normbereich lex specialis sei. Pikanterweise stützt sich' das Ordinariat an dieser Stelle ausdrücklich auf die Version der Einheit der Verfassung, die vom hier entscheidenden Ersten Senat seit dem Gleichberechtigungs-Urteil vertreten wurde: Aus der Einheit des Grundgesetzes folge, daß es keine ranghöheren und rangniederen Verfassungsnormen geben könne. Das genetische Argument zu A r t . 137 Abs. 6 WRV belege die Garantie der Besteuerung juristischer Personen, und dieser A r t i k e l müsse hier gerade wegen der Einheit der Verfassung das letzte Wort haben. Offenkundig strebte aber der Senat das entgegengesetzte Ergebnis an. Er scheute davor zurück, die Entstehungsgeschichte des Weimarer K i r chensteuerartikels zu erforschen und behauptete, die Frage könne dahingestellt bleiben. U m das zu begründen, verfälschte er seine eigene positivrechtliche Fassung des Gedankens einer Einheit des Grundgesetzes gleich zweimal, indem er sie sowohl mit der Ansicht des Parlamentarischen Rates als auch m i t der Judikatur des Zweiten Senats für inhaltsgleich erklärte. Der Rückgriff auf die Einheit der Verfassung hat also eine verdeckende Aufgabe. Die ausschließlich rhetorische Funktion des Arguments erklärt, warum es derart widersprüchlich entfaltet wird. Nur an der sprachlichen Oberfläche w i r d hier Verfassungsrecht grundsatzkonform interpretiert. I n Wahrheit hat das Gericht methodisch und dogmatisch ganz anders gearbeitet. Damit entfiel auch die Versuchung, die alte Behauptung des Zweiten Senats vom Vorrang bestimmter Verfassungsnormen gegenüber dem Rest 'des Grundgesetzes beim Wort zu nehmen. A r t . 137 Abs. 6 WRV w i r d nämlich der Sache nach nicht hinter ursprüngliche Normen der Verfassung von 1949 zurückgesetzt. Er bietet weder grammatisch noch systematisch, also mit den i m Konfliktfall stärksten Entscheidungselementen, eine Speziairegel für die Besteuerung juristischer Personen und damit für die umstrittene Norm des Landesrechts. Diese wird, ohne spezifische Stütze i m Kirchensteuerartikel, unmittelbar an sonstigen Vorschriften des Grundgesetzes gemessen. Der Sprache nach w i r d vor allem durch den Hinweis auf die Ansicht i m Parlamentarischen Rat angedeutet, die Ranggleichheitsthese des Ersten Senats i m Gleichberechtigungs-Urteil gelte zwar i m Normalfall,

2.1 Grundsatzkonforme Verfassungsauslegung

27

nicht aber im Verhältnis von A r t . 140 GG zum ursprünglichen Grundgesetz. Die Position des Zweiten Senats w i r d also, wenn das so verstanden werden kann, als Ausnahme i n den Regelfall der Ranggleichheit eingeblendet. Aber auch diese Deutung des vom Gericht hier zielstrebig erzeugten argumentativen Chaos stimmt mit der These der Ranggleichheit nicht überein: Ein theoretisch denkbarer Extremfall unerträglicher Ungerechtigkeit, den der Erste Senat als Ausnahme zugestehen w i l l , ist nicht gegeben. Es handelt sich u m eine normale, vor allem m i t genetischen, systematischen und dogmatischen Elementen zu bearbeitende, u m eine lösbare (und ja auch gelöste) Rechtsfrage. Ein Arbeitsvorgang, der m i t dem Ausdruck „Einheit der Verfassung" belegt werden könnte, ist nicht erkennbar. Der Sündenfall des Ersten Senats bleibt also sprachlich. I m übrigen wäre er selbst in dieser eingeschränkten Form nicht nötig gewesen. Hätte die Entstehungsgeschichte des Art. 137 Abs. 6 WRV die von den kirchlichen Stellen behauptete Garantie ergeben, so hätte sich dennoch das vom Senat offenbar gefürchtete genetische Element gegenüber dem grammatischen und systematischen aus dem Neutralitätsgebot des Grundgesetzes im Ergebnis w o h l nicht durchsetzen können 45 . Der Erste Senat hat nur i m Urteil zur Kirchenbausteuer die These des Zweiten Senats zum Rangunterschied von Verfassungsrecht sprachlich übernommen. Proklamation und Praxis dieser Behauptung blieben i n der Folgezeit wieder diesem allein vorbehalten. Der Gedanke einer so verstandenen Einheit der Verfassung wurde fünf Jahre später i m Ab45

Zur genetischen Interpretation vgl. F. Müller X , z. B. S. 160 ff., 202 f., 203 f., 204 f., 268 f.; zur eingeschränkten Rolle des genetischen Arguments auch BVerfGE 11, S. 126 ff., 129 f. u n d hierzu F. Müller, ebd., S. 27 ff., 29 ff. — I n das rhetorisch bestimmte Chaos seiner Argumentation i m U r t e ü zur badischen K i r chenbausteuer zieht der Erste Senat m i t dem Eifer des Konvertiten übrigens sein sieben Jahre älteres L ü t h - U r t e i l hinein: Auch nach diesem seien die einzelnen Verfassungsartikel grundsatzkonform i n dem Sinn auszulegen, den das Südwests taats-Urteil formuliert hatte. Das L ü t h - U r t e i l spricht aber nicht hiervon, sondern von der auch objektiv-rechtlichen F u n k t i o n der Grundrechte, v o m grundrechtlichen „Wertsystem" und seiner W i r k u n g „ f ü r alle Bereiche des Rechts". Demnach beeinflußt die „objektive Wertordnung" der Grundrechte „selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf i n Widerspruch zu i h m stehen, jede muß i n seinem Geiste ausgelegt werden", BVerfGE 7, S. 198, 205. — Das ist aber eine andere Frage. Für die verfassungs- und grundrechtskonforme Interpretation von Gesetzesrecht muß nicht eine Einheit der Verfassung bemüht werden. Auch die über Generalklauseln i n das bürgerliche Recht wirkende normative K r a f t der Grundrechte, u m die es dem L ü t h - U r t e i l als Ersatz f ü r deren sogenannte D r i t t w i r k u n g geht, steht auf einem anderen Blatt. M i t der grundsatzkonformen Auslegung v o n niederrangigem, w e i l sozusagen normalem Verfassungsrecht i m Sinn der Tradition des Zweiten Senats seit dem Südweststaats-Urteil hat das nichts zu tun. Der inneren Widersprüche i m Kirchenbausteuer-Urteil war offenbar noch nicht genug gewesen.

28

2 Analyse der Rechtsprechung

hör-Urteil und damit i n einem Judikat strapaziert, dem gegenüber wissenschaftliche K r i t i k das Wort von der „verfassungswidrigen Verfassungsrechtsprechung" 46 prägen konnte. I n diesem Verfahren wurden eine Normenkontrollklage der Hessischen Landesregierung und insgesamt sechs Verfassungsbeschwerden von Anwälten u n d Richtern gegen die Ergänzung des A r t . 10 GG und gegen einzelne Normen des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- u n d Fernmeldegeheimnisses von 1968 behandelt. Die Mehrheit des Senats geht 47 davon aus, zunächst sowohl Art. 10 Abs. 2 Satz 2 als auch A r t . 79 Abs. 3 GG auszulegen, u m die Zuläösigkeit der Verfassungsänderung feststellen zu können. Damit hat die Senatsmehrheit den Fall bereits vorentschieden. Ein verfassungsänderndes Gesetz — wie hier das 17. Änderungsgesetz zum Grundgesetz — ist ein Versuch des Gesetzgebers, neues Verfassungsrecht zu schaffen. Dieser Versuch ist inhaltlich nur dann geglückt, wenn A r t . 79 Abs. 3 GG nicht verletzt worden ist. Dagegen behandelt die Mehrheitsmeinung A r t . 10 Abs. 2 Satz 2 GG als (im Vorgriff bereits gültiges) Verfassungsrecht. Dieser Ansatz w i r d nicht begründet. Der Senat beginnt m i t Überlegungen, die er als Auslegung „aus dem Wortlaut der Vorschrift selbst" 48 bezeichnet. Der Sache nach handelt es sich dagegen u m Arbeit mit Konkretisierungselementen, die — neben Aspekten aus dem Normbereich — vor allem verfassungspolitisch (tatsächliche Bedingungen für eine wirksame Arbeit des Verfassungsschutzes) und m i t solchen, die insofern historisch zu nennen sind, als die geänderte Fassung des Artikels 10 bereits als neues Verfassungsrecht behandelt wird. Die Mehrheit sieht das Neue nicht i m Beschränken der in Art. 10 GG normierten Grundrechte, sondern i n der Möglichkeit, Beschränkungen nicht mitzuteilen, sowie i m Ausschluß des gerichtlichen Rechtswegs. Der Senat kommt bemerkenswert rasch zu folgendem Ergebnis: Zum einen seien beide Neuerungen faktisch (aus der „Natur der Sache") deshalb gerechtfertigt, weil nur so der Verfassungsschutz wirksam arbeiten könne. Zum andern seien sie „zusätzlich (!) verfassungsrechtlich legitimiert" 4 9 . W a r u m das so sein soll, begründet die Mehrheit der Richter m i t einer Sequenz, die sie zwischen dieses Ergebnis und die sogenannte Wortauslegung einschiebt. Dieser Abschnitt nun argumentiert mit der Einheit der Verfassung. Der Zweite Senat versteht sie auch hier als zureichenden Grund für eine grundsatzkonforme Auslegung aller einzelnen untergeordneten Verfassungsnormen. Allerdings ist er seit dem Kirchenbausteuer46 47 48 49

Häberle I I , S. 156. Z u r Analyse der Entscheidung auch Schiin}c I. BVerfGE 30, S. 1, 17 u n d ff. Ebd., S. 21. Ebd., S. 21; Hervorhebung nicht i m Original.

2.1 Grundsatzkonforme Verfassungsauslegung

29

Urteil i n der schmeichelhaften Lage, sich dafür auf den Parallelsenat berufen zu können. Das geschieht denn auch, die eigene Leitentscheidung (Südweststaats-Urteil) w i r d dagegen nicht erwähnt 5 0 . Für die Mehrheit der Richter ist bei der Auslegung des A r t . 10 Abs. 2 Satz 2 GG „der Kontext der Verfassung", sind damit „insbesondere Grundentscheidungen des Grundgesetzes und allgemeine Verfassungsgrundsätze" i m genannten Sinn einzuführen. Der „Sinnzusammenhang, i n dem Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG steht", ist nicht der des erst zu prüfenden Änderungsgesetzes, auch nicht der des Grundgesetzes i m Sinn systematisch vermittelter ranggleicher Normen, sondern seine Unterlegenheit gegenüber den vom Gericht ausgewählten Grundentscheidungen. Diese sind die sogenannte streitbare Demokratie, das sogenannte Menschenbild des Grundgesetzes und schließlich das Rechtsstaatsprinzip i n Gestalt des Ubermaßverbots und des Gebots einer wirksamen Rechtskontrolle hoheitlicher Eingriffe i n Freiheit oder Eigentum. Der Rechtsstaat w i r d i n diesem Abschnitt der Gründe allerdings nicht geprüft, sondern erst nach dem genannten Ergebnis einer Verfassungsmäßigkeit des Änderungsgesetzes lediglich abmildernd eingeführt. Das Menschenbild der Verfassung 51 ist aus einer orakelhaften „Gesamtsicht der A r t . 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG" darauf gerichtet, den Grundrechten „durch Rücksichten auf Gemeinwohl und zum Schutz überragender Rechtsgüter" Grenzen zu ziehen. Der als Beispiel gebrachte Hinweis auf A r t . 2 Abs. 1 GG entkräftet aber zugleich dieses Argument. Das Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit hat, wie jedes andere Grundrecht, eine eigene positivrechtliche Gestalt. Sein Vorbehalt kann, sowenig wie der eines anderen Grundrechts, nicht übertragen werden. Auch allgemeine Formeln, Gemeinschaftsklauseln oder Abwägungsbehauptungen vermögen Grundrechte nicht einzuschränken 52 . Die nicht zu bezweifelnde (wenn auch nicht höherrangige) Grundentscheidung des Rechtsstaats w i r d also aus der Begründung des Ergebnisses ausgeschaltet; die eines Menschenbildes, das positivrechtlich nicht gestützte Grundrechtsgrenzen rechtfertigen soll, ist dagegen nicht geltendes Recht. Die Hauptlast der Argumentation liegt für die Senatsmehrheit deutlich auf der „Grundentscheidung des Grundgesetzes für die streitbare 60

Ebd., S. 19; zum folgenden ebd., S. 19 bis 21. BVerfGE 4, S. 7, 15 f. 52 Das Bundesverfassungsgericht lehnt die davon abweichende ältere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts seit dem Apotheken-Urteil m i t Recht ab: BVerfGE 7, S. 377, 411; vgl. besonders auch den gleichzeitigen Mephisto-Beschluß des Ersten Senats, der ebenfalls m i t dem Menschenbild des Grundgesetzes argumentiert, aber bemerkenswerterweise ohne die positivrechtlich abgestufte Systematik der grundrechtlichen Gewährleistungen und Vorbehalte pauschal einzuebnen: BVerfGE 30, S. 173 ff., 191 ff. 51

30

2 Analyse der Rechtsprechung

Demokratie". Der Senat weist auf A r t . 9 Abs. 2, 18 und 21 Abs. 2 GG hin. U m einen der dort normierten Fälle handelt es sich hier aber nicht. Damit ist der sprachliche Ausdruck „streitbare Demokratie" i n diesem Fall normativ wertlos. Er ist korrekt als Sammelbegriff für die genannten und für einige andere streitbare Vorkehrungen i m positiven Verfassungsrecht. Nicht aber kann er es rechtfertigen, durch Taschenspielertrick eine zusätzliche, vom Grundgesetz nicht positivierte Generalklausel vorzuspiegeln. Vielmehr ist der allgemeine Gesichtspunkt einer wehrhaften Demokratie ein verfassungspolitisches Konkretisierungselement u n d als solches den normativ gestützten Elementen nachgeordnet 58 . M i t rechtlicher Wirkung ist der Gedanke der streitbaren Demokratie außer an den genannten Punkten auch i n Art. 20 Abs. 4 und nicht zuletzt i n A r t . 10 Abs. 2 GG selbst enthalten. Für die verbindliche Lösung von Rechtsfragen sind nur die Formen streitbarer Demokratie verwertbar, die verfassungsrechtlich positiviert worden sind. Nur i n rechtlich normierter und rechtsstaatlich präzisierter Form können sie Angriffe auf die Verfassungsordnimg unter Wahrung eben dieser Verfassungsordnung, also „defensiv" 54 abwehren. Nur so verteidigen sie auf der Basis des Grundgesetzes „die bestehende rechtsstaatliche Verfassungsordnung, deren integraler Bestandteil die Grundrechte sind" 5 5 . Der Senatsmehrheit muß klar gewesen sein, daß keiner der von ihr aufgezählten Fälle hier zu entscheiden war. So erklärt es sich, daß i n der sprachlichen Abfolge der Gründe nunmehr ein erneuter Hinweis auf den Verfassungsschutz zum eigentlichen Stützpfeiler der Einheit des Grundgesetzes wird 5 6 . Es kommt für die Mehrheit darauf an, den Verfassungsschutz nicht nur als Tatsache, sondern als verfassungsrechtliche Größe, ja als wesentlichen Bestandteil eines dem normalen Verfassungsrecht übergeordneten Grundsatzes einzuführen. Das Grundgesetz bietet auf diesem Feld allerdings nur zwei Organisationsnormen: eine Gesetzgebungszuständigkeit nach A r t . 73 Nr. 10 und eine Verwaltungskompetenz nach Art. 87 Abs. 1 GG. Sie belegen neben der Zuweisung von Kompetenzen auch die grundsätzliche Legitimität der Einrichtung eines Verfassungsschutzamtes, nicht aber einen normativen Vorrang gegenüber sonstigem Verfassungsrecht oder gar gegenüber den seit dem Lüth-Urteil zum Wertsystem beförderten und als vorrangige Werteordnung behandelten Grundrechten. Die Mehr58

F. Müller X , vor allem S. 194 ff., 196 ff., 201 ff. BVerfGE 5, S. 85, 141; ferner ebd., S. 139 f., 142 ff. 55 So die Abweichende Meinung i m Abhör-Urteil, BVerfGE 30, S. 33 ff., 45; ebd. die Aussage, Staatsraison sei kein unbedingt vorrangiger Wert u n d die streitbare Demokratie kehre sich gegen sich selbst — genauer: gegen das, was sie zu verteidigen hat —, w e n n der streitbare Gesetzgeber die dem G r u n d gesetz wesentlichen Schranken verkennt. 5ß BVerfGE 30, S. 1, 20. 54

2.1 Grundsatzkonforme Verfassungsauslegung

31

heit der Richter h i l f t sich aus der Verlegenheit, das vorgefaßte Ergebnis nicht einmal mehr sprachlich zusammenhängend begründen zu können, mit folgendem Kernsatz: „Es kann nicht der Sinn der Verfassung sein, zwar den verfassungsmäßigen obersten Organen i m Staat eine Aufgabe zu stellen und für diesen Zweck ein besonderes A m t vorzusehen, aber den verfassungsmäßigen Organen und dem A m t die Mittel vorzuenthalten, die zur Erfüllung ihres Verfassungsauftrags nötig sind" 5 7 . Das kann in der Tat nicht der Sinn der Verfassung sein; denn dieser besteht auch i m vorliegenden Fall darin, gegenläufige faktische Notwendigkeiten, politische Ziele und normativ überformte Entscheidungen nach rechtlichen Aspekten der obersten Rechtsquellenstufe, also nach geltendem Verfassungsrecht zu bearbeiten. Der Senatsmehrheit genau dies zu ersparen, ist der Sinn des zitierten Satzes. Diesem Satz den Anschein normativer Qualität zu geben, ist der Zweck des Aufzählens der hier nicht einschlägigen A r t i k e l 9 Abs. 2, 18, 21 Abs. 2, 73 Nr. 10, 87 Abs. 1 des Grundgesetzes. Dem nur sprachlich, nicht aber normativ wirkenden ungenauen Ausdruck „streitbare Demokratie" nicht nur den Anschein positiven Verfassungsrechts, sondern die W i r k u n g eines höherrangigen Verfassungsgrundsatzes zu verschaffen, ist die Funktion des Arguments aus der Einheit der Verfassung. Dieses ist — die Position des Zweiten Senats einmal als richtig unterstellt — nur für die grundsatzkonforme Auslegung von Verfassungsnormen verwertbar. Das hat der Senat zu Beginn der hier besprochenen Sequenz ausdrücklich festgehalten. Er hat aber dann nach diesem Grundsatz ein Änderungsgesetz behandelt, dessen Eigenschaft, Verfassungsrecht zu sein, nicht vorausgesetzt werden durfte. Sie hätte erst das Ergebnis einer Prüfung seiner Verfassungsmäßigkeit sein können 55 . Das Argument aus der Einheit der Verfassung w i r d für eine bestimmte Operation innerhalb der Begründung des Urteils durch die Senatsmehrheit verwendet. Es ist für diesen Begründungsvorgang funktional und angesichts der normativ nicht belegbaren These vom Rangunterschied zwischen Verfassungsnormen sogar unentbehrlich. I n sich ist diese Operation aber rechtlich verfehlt. Sie wäre durch eine rechtsstaatlich regelhafte Konkretisierung der für den Fall einschlägigen Verfassungsvorschriften zu ersetzen gewesen59. Die Senatsmehr57

Ebd. Das hebt die Abweichende Meinung hervor, BVerfGE 30, S. 33 ff., 34 und ff. Die drei abweichenden Richter unterstellen dabei das Argument aus der Einheit der Verfassung gleichfalls i n der Form, i n der es der Erste Senat i m Kirchenbausteuer-Urteil mehrfach widersprüchlich v o m SüdweststaatsU r t e i l übernommen hatte. 59 Vgl. die Abweichende Meinung ebd., S. 33 ff.; zur methodologischen K r i t i k F. Müller X I I , S. 22 ff. 58

32

2 Analyse der Rechtsprechung

heit wollte sich nicht nur diese Konkretisierung ersparen, sondern auch das Eingeständnis, daß auf der Grundlage ihrer eigenen Position das Argument aus der Einheit der Verfassung gerade hier nicht zulässig war. Die angeblich allgemeine normative Grundentscheidung für die streitbare Demokratie mußte den Grundsätzen des Art. 79 Abs. 3 GG gegenübergestellt und m i t diesen systematisch und dogmatisch vermittelt werden 6 0 . Rangunterschied führt zu konform anpassender, Ranggleichheit zu systematisch vermittelnder Konkretisierung. Eine grundsatzkordorme Interpretation von Verfassungsgrundsätzen als Ausdruck der Einheit der Verfassung war aber bis dahin nicht einmal vom Zweiten Senat behauptet worden. Dieser hat sich i m Abhör-Urteil in einer Weise auf die streitbare Demokratie berufen, die von den die Verfassung positivrechtlich schützenden Einzelnormen des Grundgesetzes weg und auf eine verschwommene pseudo-normative Floskel hinführt. I m Radikalen-Beschluß desselben Senats von 1975 w i r d dieser Weg weiter abgekürzt, die Methode normgelösten Argumentierens noch verschärft 61 . Das Gericht hatte dort aufgrund eines verwaltungsgerichtlichen Vorlagebeschlusses § 9 Abs. 1 Nr. 2 des schleswig-holsteinischen Landesbeamtengesetzes auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Nach dieser Vorschrift darf i n das Beamtenverhältnis unter anderem nur berufen werden, wer die Gewähr dafür bietet, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung i m Sinn des Grundgesetzes einzutreten. Der Senat zählt zu den nach A r t . 33 Abs. 5 GG hergebrachten und zu beachtenden Grundsätzen auch den, Beamte und Richter hätten für die Verfassungsordnung, auf die sie vereidigt sind, einzutreten. A r t . 21 GG stehe der Entscheidungsfreiheit des Dienstherrn auf diesem Feld nicht entgegen. Dasselbe gelte für die nach dem Grundgesetz prinzipiell auch Beamten zustehenden Grundrechte. Schwierigkeiten scheint der Senat nur bei Art. 3 Abs. 3 GG zu sehen, nach dem niemand wegen seiner politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Der Senat arbeitet heraus, Art. 3 Abs. 3 gelte nur für Gesinnungen; das Äußern und Betätigen politischer Uberzeugungen falle unter besondere Freiheitsrechte wie A r t . 4, 5, 8, 9 und unter die Generalklausel des 2 Abs. 1 GG. Das ist dogmatisch richtig gesehen; aber auch derart eingeschränkt soll das Diskriminierungsverbot des A r t . 3 Abs. 3 GG nach den Worten des Gerichts nicht absolut gelten. Begründet w i r d das mit drei Fällen eines argumentum ad absurdum* 2. Der Senat müht sich 60 I m m e r h i n hatte der Zweite Senat i m Südweststaats-Urteü, w e n n auch zu Unrecht, den A r t . 79 Abs. 3 GG als normativen Beleg für seine These des Rangunterschieds von Verfassungsrecht angeführt, BVerfGE 1, S. 14, 32. 61 BVerfGE 39, S. 334 ff. ; die i m Text besprochenen Abschnitte finden sich ebd., S. 346 ff., 357 ff., 360 ff., 366 ff.; der Rückgriff auf die Einheit der Verfassung ebd., S. 368 f.

2.1 Grundsatzkonforme Verfassungsauslegung

33

nun, diese Beispiele dogmatisch zu stützen. Ein dafür gangbarer Weg ist es, auf den tragenden Zweck abzuheben: Als mittelbare Folge einer unabhängig von politischer Gesinnung begründeten Maßnahme ist ein Nachteil oder Vorteil anders zu bewerten denn eine politisch gezielte Diskriminierung. Leider versagt es sich der Senat, diesen Ansatz dogmatisch genau zu fassen und i n den Fall einzuführen. Statt dessen verweist er kurzerhand auf die sogenannte Natur der Sache und damit auf ein weder normativ gestütztes noch dogmatisch ausgearbeitetes Argument, sowie auf die Einheit des Grundgesetzes. Das Auslegen einer einzelnen seiner Normen „aus dem Kontext der Verfassung" erscheint auch hier i n der inzwischen traditionsschweren Form der Vorrangthese. Als höherwertiger Grundsatz figuriert wie i m AbhörUrteil die „streitbare, wehrhafte Demokratie". Sie w i r d allerdings derart vage ins Spiel gebracht, daß sich die Argumentation rechtsstaatlicher Kontrolle entzieht 63 . Das Gebot, einzelne Verfassungssätze i n bezug auf bestimmte normativ belegte Grundentscheidungen wie Rechtsstaat, Demokratie, Bundesstaat konform auszulegen, schrumpft hier zu einem geballten Argumentationsverbot. Die streitbare Demokratie, korrekt verwendet als sprachlicher Sammelname für bestimmte Vorschriften des Grundgesetzes und als verfassungspolitisches Konkretisierungselement, erscheint von neuem als uferlose Uber-Norm. Ihr Vorrang ist offenbar so erdrückend, daß Art. 3 Abs. 3 GG i m konkreten Fall gar nicht mehr erst konform ausgelegt zu werden braucht, sondern daß er als ein die Rechtsfrage mitbestimmendes Diskriminierungsverbot hinweggefegt wird. Der Senat tut seinem Vorgehen zuviel Ehre an, wenn er es als Auslegung aus dem Kontext der Verfassung bezeichnet 64 . I n einer weiteren viel Aufsehen erregenden und viel kritisierten Entscheidung des Zweiten Senats, i m Beschluß zum Verhältnis von Sekundärem Gemeinschaftsrecht zu nationalen Grundrechten, erfuhr die Vorrangthese von der Einheit der Verfassung i n Gestalt einer „Identität der Verfassung" die bisher jüngste Formulierung 65 . Schwer62 Ebd., S. 368: „Es sollte auf der Hand liegen, daß es nicht unzulässig sein kann,...". 63 Ebd., S. 368 f.: „ I n diesen Zusammenhang (sc. i n den »Kontext der V e r fassung') gestellt ist es schlechterdings ausgeschlossen, daß dieselbe Verfassung, die die Bundesrepublik Deutschland aus der bitteren Erfahrung m i t dem Schicksal der Weimarer Demokratie als eine streitbare, wehrhafte Demokratie konstituiert hat, diesen Staat m i t Hilfe des A r t . 3 Abs. 3 GG seinen Feinden auszuliefern geboten hat." 64 Z u den Möglichkeiten, A r t . 3 Abs. 3 GG i m Zusammenhang der Radikalenfrage ernst zu nehmen, F. Müller X I I I , S. 95 ff., bes. 97 f., 98 ff., 105 ff. 65 BVerfGE 37, S. 271 ff.; zur Zulässigkeit ebd., S. 277 ff.; zur inhaltlichen Grundrechtsprüfung ebd., S. 288 ff. Die Abweichende Meinung, die m i t guten Gründen die Vorlage für unzulässig hält, findet sich ebd., S. 291 ff. — Zur

3 F. M ü l l e r

34

2 Analyse der Rechtsprechung

punkt wie Fragwürdigkeit der Entscheidung liegen bei der Frage nach der Zulässigkeit, nach der Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts, sich mit einem derartigen Fall zu befassen. Die Zulässigkeit der Vorlage hängt davon ab, ob Sekundäres Gemeinschaftsrecht, hier eine Kautionsregelung, als „Gesetz" i m Sinn von Art. 100 Abs. 1 GG verstanden werden kann. Statt sich dieser Frage zuzuwenden, hält die Senatsmehrheit es für vorgreiflich, das Rangverhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht allgemein zu bestimmen 66 . Die Mehrheit sieht richtig, daß beide Rechtskreise unabhängig voneinander und nebeneinander gelten. Für den Fall des Konflikts werde allerdings die rechtliche Integration nicht „ i n Frage gestellt, wenn ausnahmsweise das Gemeinschaftsrecht sich gegenüber zwingendem Verfassungsrecht nicht durchsetzen läßt". Das Gericht w i l l sich offenbar vorbehalten, über solche Fragen zu entscheiden und einen praktischen Vorrang zwingender Verfassungsnormen im gegenwärtigen Zustand der europäischen Integration durchzusetzen. Die Begründung soll aus Art. 24 GG folgen. Da dieser A r t i k e l uneingeschränkt davon spricht, Hoheitsrechte könnten durch Bundesgesetz auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen werden, schränkt die Senatsmehrheit sogleich ein: Art. 24 GG müsse „wie jede Verfassungsbestimmung ähnlich grundsätzlicher A r t i m Kontext der Gesamtverfassung verstanden und ausgelegt werden" 6 7 . I m Ansatz hatte der Zweite Senat allerdings nur ordinäre Verfassungsnormen und nicht solche „grundsätzlicher A r t " konform zu Verfassungsprinzipien ausgelegt. Die Wirkungskraft des Art. 24 Abs. 1 GG, einer i m Normtext nicht begrenzten Speziairegel, w i r d durch etwas eingeschränkt, was die Mehrheit der Richter als „die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht", als „Identität der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland", als „die sie konstituierenden Strukturen", als „die dem Grundgesetz wesentlichen Strukturen" und schließlich etwas schlichter, aber immer noch rätselhaft als die „Verfassungsstruktur des Grundgesetzes'* bezeichnet. Diese Begriffe bleiben je für sich wie in ihrem gegenseitigen Verhältnis ungeklärt 6 8 . Derart unvermittelt und unreflektiert angebotene Worthülsen wissenschaftlich untersuchen zu wollen, macht wenig Sinn. Deutlich ist jedenfalls, daß eine einzelne Verfassungsvorschrift (Art. 24 Abs. 1 GG) in ihrer normativen K r a f t durch einen unausgesprochen als vorrangig behandelten Komplex erheblich eingeschränkt wird, den die Senatsmehrheit mit den genannten bedeutungsvollen Namen bedenkt. Die Identität der Verfassung hat mit deren Einheit offenbar gemein, als Diskussion z. B. v. Pestalozza I I I ; Hilf; Klein; H.P.Ipsen Rupp I. 66 BVerfGE 37, S. 271 ff., 277 ff. 67 Ebd., S. 279; zum folgenden S. 279 ff. 68 Zu dieser Begrifflichkeit auch Badura V, S. 5.

I V ; Scheuner

XIV;

2.1 Grundsatzkonforme Verfassungsauslegung

35

i n wesentlichen Eigenschaften homogener und als normativ maßgebender Kern der Gesamtverfassung, gleichsam als der Wesensgehalt des Grundgesetzes zu wirken. Organe der Europäischen Gemeinschaft können Recht setzen, das sich an die Normen des Grundgesetzes nicht zu halten braucht. Es gilt gleichwohl unmittelbar i n der Bundesrepublik Deutschland. Vom Grundgesetz her ist das durch A r t . 24 Abs. 1 legitimiert. Diese Wirkung des A r t . 24 GG soll n u n nach Meinung der Mehrheit des Zweiten Senats durch eine Identität (oder Grundstruktur) der Verfassung begrenzt werden, die ebenso arbeitet wie die innere Einheit der Verfassung, nämlich als höherrangiger Richtpunkt für die Interpretation einzelner Verfassungsnormen. Mißverständlich ist dabei die Formulierung des Gerichts, es sei A r t . 24 GG, der die Möglichkeiten des Gemeinschaftsrechts begrenze 69 . Daran w i r d deutlich, daß A r t . 24 Abs. 1 GG nicht für sich interpretiert und m i t anderen (ranggleichen) Normen des Grundgesetzes vermittelt w i r d ; sondern daß als höherrangig behandelte Grundsätze auf der Basis einer Einheit, bzw. i m neuen sprachlichen Kleid: höherrangige Verfassungsstrukturen auf der Basis einer Identität des Grundgesetzes auf die einschlägige Norm so einwirken sollen, daß das Gericht auf deren regelhafte Auslegung durch kontrollierbare einzelne Schritte verzichten zu können meint. Die anschließende Deutung des A r t . 24 GG, er ermächtige — gegen seinen Normtext — „nicht eigentlich zur Ubertragung von Hoheitsrechten" 70 , bestätigt diesen Eindruck. Die Senatsmehrheit w i r d dann konkret und nennt als ein wesentliches Element der die Identität des Grundgesetzes schaffenden Verfassungsstruktur den Grundrechtsteil. I m gegenwärtigen Stand, i m „noch i n Fluß befindlichen fortschreitenden Integrationsprozeß der Gemeinschaft" als einer „Phase des Übergangs", setzt sich, so folgert die Mehrheit der Richter, das nationale Grundrecht gegen kollidierendes Gemeinschaftsrecht durch. Die Entscheidung ist hier nicht dogmatisch zu besprechen. Sie ist fragwürdig genug, die Abweichende Meinung der drei überstimmten Richter hat zur Unzulässigkeit der Vorlage deutliche Worte gefunden. Die sprachlich i n neuen Gewändern auftretende Einheit der Verfassung leistet dem Zweiten Senat dieselbe Arbeit wie schon immer. Sie erspart es ihm, A r t . 24 Abs. 1 GG in einzeln darlegbaren Arbeitsschritten zusammen mit allen hier thematisch aussagekräftigen Normen des Grundgesetzes zu konkretisieren. Dabei wäre der Beitrag gerade auch des Art. 24 GG zum „Sinnzusammenhang", zum „Kontext", zur „Einheit" oder „Identität" des Grundgesetzes klar geworden. A u f solche Einzelarbeit läßt sich der Senat jedoch auch hier nicht ein. Nicht ein69 70

3'

Ebd., S. 279. Ebd., S. 280.

36

2 Analyse der Rechtsprechung

m a l Art. 79 Abs. 3 GG, der demselben Senat i m Südweststaats-Urteil noch als normatives Hauptargument für die innere Einheit der Verfassung gedient hatte, kommt zur Ehre einer Interpretation. Die wissenschaftlichen Elemente juristischer Entscheidungsarbeit verschwinden, abrupte Thesen, ganzheitliche Unterstellungen und große Worte beherrschen die Szene. Die Argumentation nähert sich der Beliebigkeit. V o m Ansatz des Südweststaats-Urteils her ließe sich auch das Umgekehrte begründen: die einschlägigen Grundrechte als „einzelne Verfassungsnormen" im Rang unter der programmatischen „Grundentscheidung" des Art. 24 Abs. 1 GG! Die neuen Begriffe befriedigen vor allem geschmackliche Ansprüche ä la mode („Struktur", „Identität"). Für die sachliche Linie der Rechtsprechung des Zweiten Senats zur Einheit der Verfassung waren sie unnötig, da auch die Grundrechte i n ständiger Praxis als Werteordnung, grundlegendes Wertsystem und als Grundentscheidungen geführt werden. Folgerichtig hat die Abweichende Meinung die Rede von Grundstruktur und Identität des Grundgesetzes ohne Umschweife mit der ständigen Judikatur des Senats zur Einheit der Verfassung gleichgesetzt 71 .

Die bisher besprochene Praxis versteht das Grundgesetz als eine innere Einheit. Das soll gelten, obwohl Grundentscheidungen auf der einen Seite von sämtlichen einzelnen Verfassungsnormen auf der anderen unterschieden werden. Die innere Einheit des Grundgesetzes bestätigt sich für diese Sicht gerade dadurch. Sie w i r d jeweils i m Rechtsfall hergestellt, indem jede einzelne Verfassungsnorm konform den heranzuziehenden Grundentscheidungen interpretiert wird. Der einzige noch festgehaltene rechtliche Bezugspunkt dieser These liegt darin, die Grundentscheidungen normativ zu belegen. So hat der Zweite Senat i m Südweststaats-Urteil das demokratische Prinzip an A r t . 20 und 28 GG sowie das bundesstaatliche an A r t . 20, 28 und 30 GG festgemacht. Das Abhör-Urteil nannte dann allerdings nicht nur bestimmte Vorschriften des Grundgesetzes, die sprachlich wie verfassungspolitisch zu dem Ausdruck „streitbare Demokratie" verallgemeinert werden können, sondern unterstellte „die" streitbare Demokratie als Uber-Norm und vorrangige Grundentscheidung. Der RadikalenBeschluß machte sich nicht einmal mehr diese Mühe. Ob damit eine schiefe Ebene weg von normativ bezeichneten Verfassungsgrundsätzen und hin zu nur noch politisch gewollten Pauschalformeln mit dem Anspruch verfassungsrechtlicher Verbindlichkeit betreten worden ist, kann noch nicht gesagt werden. Es ist u m der freiheitlichen demokratischen Grundordnung willen nicht zu hoffen. Zwei Entscheidungen 71

Ebd., S. 296.

2.1 Grundsatzkonforme Verfassungsauslegung

37

anderer Gerichte von 1962 und 1967 machen deutlich, wie dieser Weg verlaufen kann. Der Bundesgerichtshof hatte 1962 zu untersuchen, unter welchen Voraussetzungen ein Wechsel der Glaubensgemeinschaft eine schwere Eheverfehlung i m Sinn des bürgerlichen Rechts darstellt 72 . Der Fall ist dadurch zu lösen, daß das Grundrecht der Religionsfreiheit i n seinem Tatbestand abgegrenzt wird. Es stellt sich dann heraus, daß vom Normbereich des Art. 4 GG her gerade auf die hier als schwere Eheverfehlung zu wertenden Handlungsformen ein Grundrecht nicht besteht. Eine Kollision zwischen Handlungen bei Gelegenheit der Grundrechtsausübung ohne tatbestandlichen Schutz durch das Grundgesetz auf der einen Seite und der genannten Wertung dieser Aktionen durch die Zivilgerichte auf der anderen konnte i m Rechtssinn nicht entstehen 78 . Der Bundesgerichtshof versäumt es aber, den Tatbestand zu prüfen. Er unterstellt das Grundrecht auf Glaubenswechsel als gegeben und bemüht sich, gleichwohl zum Ergebnis der Rechtsbeständigkeit der angegriffenen zivilgerichtlichen Urteile zu kommen. Zu diesem Zweck w i r d schwerstes Geschütz aufgefahren; i n derartigen Fällen einer scheinbaren Kollision (bei vorweggenommen erwünschtem Ergebnis) pflegt das übrigens auch i n der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts nicht anders zu sein. Wie stets beginnt die Sequenz m i t der Bemerkung, das fragliche Grundrecht dürfe nicht isoliert betrachtet werden. Das Grundgesetz erscheint als „Werteordnung" und i n dieser Eigenschaft als „eine unteilbare Einheit". I h m eingelagert zeigt sich das Grundrechtssystem, dem i m übrigen dieselben Eigenschaften zugeschrieben werden. Der holistische (ganzheitliche) Zugriff durchstimmt die Argumentation: Die Verwirklichung dieser Ordnung i m ganzen stelle ihre Realisierung i m einzelnen sicher, und umgekehrt verhalte es sich ebenso. Das Ganze der Werteordnung werde bestimmt von einem „sittlichen Grundgehalt"; von i h m her empfange „das einzelne Grundrecht eine inhaltliche Begrenzung, die jedoch nicht als eine äußere formale Einschränkung, sondern als eine Zurückführung auf seinen eigenen Kern- und Wesensgehalt zu verstehen" sei. Werteordnung des Grundgesetzes, Werteordnung des Grundrechtssystems — jeweils ein Ganzes und eine unteilbare Einheit — werden m i t der Behandlung jedes einzelnen Grundrechts kurzgeschlossen 74. Die vom 72 B G H Z 38, S. 317 ff.; die Ausführungen zur Einheit der Verfassung finden sich ebd., S. 320 f., die Lösung des konkreten Falles S. 327 ff. 73 Z u r rationalen Tatbestandsabgrenzung von Grundrechten F. Müller V I I I , z. B. S. 95 f., 98 ff., 100 ff.; ders. I X , z. B. S. 40 ff., 64 ff.; Hesse V I , z. B. S. 131 f. 74 Ebd., S. 320: „Die Verabsolutierung eines einzelnen Grundrechts i m Sinne einer schrankenlosen Ausweitung der aus i h m hergeleiteten Befugnisse müßte notwendig zur Auflösung der Gesamtordnung führen." Weitere lesenswerte Sätze finden sich, i n vergröberndem Anschluß an BVerfGE 12, S. 1 ff., auch noch ebd., S. 321.

2 Analyse der Rechtsprechung

38

Bundesgerichtshof i m folgenden ausgebreiteten abschreckenden Beispiele dafür, wohin es führen müßte, wollte man seiner A r t j u r i stischer Argumentation nicht folgen, sind sämtlich nach positivem Recht zu lösen: Menschenopfer, Witwenverbrennung und Hexenverfolgung betreffen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. A r t . 19 Abs. 2 GG, das Fernhalten dringend notwendiger ärztlicher Hilfe, ferner Polygamie und Diskriminierung religiös Andersdenkender sind ebenfalls von A r t . 2 Abs. 2 Satz 1 bzw. von Art. 6 Abs. 1 und A r t . 3 Abs. 3 GG normat i v erfaßt. Für das Gericht werden solche Entscheidungen dagegen offenbar nur durch den „sittlichen Grundgehalt der Grundsatznormen" i n die Schranken verwiesen. Gerade diese Grundsatznormen werden nun aber an keiner Stelle der Gründe bezeichnet. Die Werteordnung von Grundgesetz und Grundrechtssystem erscheint nur noch als kompaktes Ganzes; als eine „unteilbare Einheit" offenbar vor allem i n dem Sinn, daß normative Ansätze sowie methodisch kontrollierte und damit rechtsstaatlich kontrollierbare Arbeitsschritte als schlechthin unangemessen gelten müssen. N u r noch das Ganze ist das Wahre; und die unteilbare Einheit hat den Vorteil, positiven Normen, so auch einzelnen Grundrechten, verbindlich vorzugehen. Gleich unbestimmt, dabei aber von rechtlichen Fesseln gänzlich gelöst, formuliert der Bayerische Verfassungsgerichtshof i n einer Entscheidung von 1967 über Fragen der Bekenntnisschule und der christlichen Gemeinschaftsschule 75 . A r t . 8 Abs. 4 Satz 2 des bayerischen Volksschulgesetzes sieht vor, daß der Religionslehrer der Bekenntnisminderheit vollberechtigtes Mitglied der Lehrerkonferenz sein und außerdem auch Unterricht i n anderen Fächern erteilen soll. Dagegen bestimmt A r t . 135 Abs. 2 der Bayerischen Verfassung, der von konfessionell ausgerichteten Lehrern (hier: der Bekenntnismehrheit) spricht, „nur solche Lehrer" würden an Bekenntnisschulen verwendet. Der Gerichtshof stellt fest, die hier zu prüfende Norm des Volksschulgesetzes stimme m i t dem Wortlaut dieser Verfassungsbestimmung nicht überein. Eine Verfassungsnorm könne aber i n seltenen Fällen abweichend von ihrem Wortlaut ausgelegt werden. Verfassungsändernde Gesetze seien auch nach der Bayerischen Verfassung nur unter erschwerten Voraussetzungen zu erlassen. Angesichts dessen könne es nicht „der Zweck einer Verfassungsvorschrift" sein, „der Anpassung der Staatsverwaltung an die wechselnden Verhältnisse, überhaupt der organisatorischen Tätigkeit des Staates dauernd engste Fesseln anzulegen" 76 . Nicht nur einzelne Verfassungsnormen, sondern auch „die grundsätzlichen Bestimmungen einer Verfassung" dürften „nicht m i t den sonstigen, das 75

B a y V f G H 20, S. 36 ff. ; die i m folgenden besprochenen Ausführungen finden sich auf S. 44. 76 Ebd., S. 44 i m Anschluß an B a y V f G H 2, S. 181 ff., 215.

2.1 Grundsatzkonforme Verfassungsauslegung

39

Staatsleben beherrschenden Grundsätzen in Widerstreit geraten". Sie müßten eine Auslegung leiden (sie), „die ihre Vereinbarkeit mit den sonstigen Staatsgrundsätzen ermöglicht". Der Gerichtshof beruft sich für solche Spruchweisheit unmittelbar auf die der Einheit der Verfassung gewidmeten Abschnitte des Südweststaats-Urteils und der Entscheidung zur badischen Kirchenbausteuer 77 . So behandelt zu werden, hat sogar die fragwürdige Judikatur zur grundsatzkonformen Interpretation von Verfassungsrecht nicht verdient. Das bayerische Gericht dreht die Argumentation nämlich ungeniert um. Dürfen für das Bundesverfassungsgericht die einzelnen Normen der Verfassung nicht mit deren Grundsatzentscheidungen i n Widerstreit geraten und müssen sie sich entsprechend konform auslegen lassen, so werden hier selbst Verfassungsgrundsätze den Prinzipien des sogenannten Staatslebens schlicht unterworfen. Was der Gerichtshof m i t solchen Staatsgrundsätzen meint, macht er deutlich: organisatorische Vorhaben des Staates, Regungslosigkeit und Bequemlichkeit der Staatsverwaltung. Wenn dann auch noch die Änderung sperriger Verfassungsnormen zu beschwerlich erscheint, lohnt es sich i n der Tat, auf die Einheit der Verfassung zurückzugreifen. Nur ist dieses Argument vom Bundesverfassungsgericht i n dem Maß nicht zur Bemäntelung eines Verfassungsbruchs mißbraucht worden, i n dem die Verfassungsgrundsätze normativ belegt werden konnten. I n dem Umfang, i n dem das nicht geschah, und angesichts der Unhaltbarkeit der Vorrangthese bewegt sich die bisher überprüfte Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zwar objektiv außerhalb des Grundgesetzes. Subjektiv allerdings trennt sie einiges von einer regierungs- und verwaltungskonformen Interpretation selbst der Grundsatzentscheidungen der Verfassung. Ausgerechnet das Südweststaats-Urteil, auf das sich der Staatsgerichtshof hier beruft, setzt die „Rechtsschranken" des Grundgesetzes deutlich über „Gründe der Zweckmäßigkeit", „staatspolitische Notwendigkeiten" und „Rücksicht auf Schwierigkeiten" für Regierung und Bürokratie 7 8 .

77 BVerfGE 1, S. 14 ff., 32 f.; 19, S. 206 ff., 220. — Was der Bayerische V e r fassungsgerichtshof dann tatsächlich macht, ist dagegen korrekt und rechtfertigt nicht die abwegige methodologische Präambel: Das vernünftige Ergebnis w i r d n u r am Rand m i t Gesichtspunkten der P r a k t i k a b i l i t ä t begründet, i m K e r n dagegen m i t systematischer Auslegung des A r t . 135 Abs. 2 m i t A r t . 128 Abs. 1 (Ausbildungsrecht), 107 Abs. 1 (Glaubens- u n d Gewissensfreiheit), 126 Abs. 1 (Erziehungsrecht), 136 Abs. 1 u n d 131 Abs. 1 Bayerische Verfassung (Toleranzgebot) u n d vor allem m i t einengender Auslegung durch realitätsgerechtes Eingrenzen des Normbereichs, ebd., S. 45 ff. Unnötig w a r es auch, f ü r dieses Ergebnis die Glaubens- u n d Gewissensfreiheit nicht als ranggleich zu vermittelndes Grundrecht, sondern als „übergeordneten Grundsatz" zu bezeichnen, ebd., S. 46. 78

BVerfGE 1, S. 14 ff., 36.

40

2 Analyse der Rechtsprechung

2.2 Begründung von ungeschriebenem Verfassungsrecht und von Richterrecht Die Mehrzahl der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Einheit der Verfassung kommt ohne die Behauptung aus, es gebe i m Grundgesetz Normen höheren Ranges. Dennoch besteht auch außerhalb der bisher besprochenen Gruppe von Fällen ein Verhältnis der Spannung zu den einzelnen Verfassungsvorschriften. Es kann darin bestehen, daß aus dem Ganzen der Verfassung oder gar der Rechtsordnung Regeln entwickelt und zur Grundlage von Entscheidungsnormen gemacht werden, für die das geschriebene (Verfassungs)Recht keine Rechtsnorm bereithält. I n der Judikatur des Zweiten Senats taucht ein solcher Fall schon 1952 a u f 9 . Obwohl auch hier wieder wie i m Südweststaats-Urteil desselben Senats von Grundsätzen und Grundentscheidungen die Rede ist, die der Verfassung „vorausliegen", w i r d weder i n dem, was das Gericht wirklich tut, noch i m rechtfertigenden Text ein Vorrang dieser Grundsätze praktiziert oder auch nur behauptet. Das Urteil bleibt i m Rahmen der Positivität des Verfassungsrechts. Es ging dort darum, die Regelung des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein über den Verhältnisausgleich an der Landessatzung zu überprüfen. Das Verfahren war vom Südschleswigschen Wählerverband als der Partei einer nationalen Minderheit i n Gang gesetzt worden. Schwierigkeiten machte die Frage der Zulässigkeit des Verfahrens. Der Senat hält nun einen Fall von § 13 Nr. 10 Bundesverfassungsgerichtsgesetz für gegeben. Nach §73 dieses Gesetzes werden solche Beteiligte erfaßt, die i n der Landesverfassung oder i n der Geschäftsordnung eines obersten Organs des Landes m i t eigenen Rechten ausgestattet sind 80 . Das ist klar für die antragstellende Landtagsfraktion; nicht aber für den Wählerverband, der als Partei gleichfalls das Verfahren betrieb. Die Landessatzung von Schleswig-Holstein nennt die politischen Parteien nicht; die Norm über die Zuweisung eines Verfassungsstreits an das Bundesverfassungsgericht, A r t . 37 Nr. 1 Landessatzung, verlangt aber eine Nennung. Das Ergebnis, das sich so abzeichnet, erscheint dem Senat als untragbar. Er hebt daher an, die Parteifähigkeit politischer Parteien i n Verfassungsstreitigkeiten „aus ihrer allgemeinen Stellung i n der Verfassung" abzuleiten. Das geschieht durch bruchstückhafte Hinweise auf die tatsächliche Entwicklung demokratischer Parteienstaaten, ferner m i t Radbruch- und ThomaZitaten, m i t einem Hinweis auf den Reichsstaatsgerichtshof der Wei79 BVerfGE 1, S. 208 ff.; der hier wichtigste Abschnitt findet sich ebd., S. 227 f. 80 Hierzu ebd., S. 222 ff.

2.2 Begründung von ungeschriebenem Verfassungsrecht u. Richterrecht 41

marer Zeit und endlich auf A r t . 21 GG und sein Echo i m damaligen staatsrechtlichen Schrifttum. Der Senat faßt den rechtspolitisch einleuchtenden Vorsatz, i n dieser Grundsatzfrage A r t . 37 Nr. 1 Landessatzung unter allen Umständen so auszulegen, daß auch dem Südschleswigschen Wählerverband neben seiner Fraktion und einzelnen seiner Mitglieder der Weg zum Bundesverfassungsgericht eröffnet wird. Nachdem das Gericht zu A r t . 21 GG normgestützt dogmatisch und zudem verfassungstheoretisch zu den Parteien als „Faktoren des Verfassungslebens" i n dessen „innerem Bereich" argumentiert hat, rechtfertigt es sein Ergebnis nachträglich aus der Einheit der Verfassung: Zwar w i r d gegen den Wortlaut des A r t . 37 Nr. 1 Landessatzung entschieden, doch ersetzt A r t . 21 GG, der auch unmittelbar für die Länder gilt, ein Nennen der politischen Parteien durch die Landessatzung. Der Senat behandelt A r t . 21 GG also zugleich als Norm der Landesverfassung. Das wäre noch näher zu begründen gewesen. Das Gericht verlegt sich statt dessen darauf, hilfeweise für den unwahrscheinlichen Fall zu argumentieren, daß die W i r k u n g des A r t . 21 GG auf die Landessatzung abgelehnt werden sollte. Der Begriff „Landessatzung" bzw. „Landesverfassung" kann nach Meinung des Senats nicht nur i m Sinn der ausdrücklich i n der Urkunde formulierten Rechtssätze verstanden werden. Vielmehr ist eine Verfassung „eine innere Einheit" und können „aus ihrem Gesamtinhalt Grundsätze und Grundentscheidungen abgeleitet werden", die i h r „vorausliegen". Der Senat stützt sich dabei ausdrücklich auf sein Südweststaats-Urteil. Dennoch fehlt hier jeder Hinweis auf einen Vorrang solcher grundlegenden Entscheidungen. I n der Sicht des Gerichts liegt der Fall hier ja auch anders. Aus dem innerlich einheitlichen Gesamtinhalt der SchleswigHolsteinischen Landessatzung soll abgeleitet werden, auch sie sei die Verfassung eines Parteienstaates: „Sie muß die politischen Parteien als Faktoren des Verfassungslebens notwendig voraussetzen, auch wenn sie sie nicht nennt". Daß „dies der Fall ist", zeige deutlich das Landeswahlgesetz, das i n „nicht weniger als 13 der 51 Paragraphen" die politischen Parteien „zum Teil mehrfach" erwähne. Politische Parteien seien „daher" i n Schleswig-Holstein mögliche Streitteile eines Verfassungsstreits nach Art. 37 Nr. 1 der Landessatzung. Dogmatisch und methodisch w i r d hier nicht begründet, sondern behauptet. Das Ergebnis ist richtig, und gewiß geht, wie das Landeswahlgesetz zeigt, die Staatspraxis auch i n Schleswig-Holstein von der Tatsache des Wirkens politischer Parteien aus. Aber das hätte auch korrekt begründet werden können; statt dadurch, daß das Normprogramm einer i m geschriebenen Verfassungsrecht nicht vorhandenen Vorschrift durch Postulat und ihr Normbereich aus den Normbereichen von Unterverfassungsrecht konstruiert werden mußten. Eine schlichte

42

2 Analyse der Rechtsprechung

Interpretation und systematische Vermittlung von Art. 37 Nr. 1 Landessatzung i n Verbindung m i t Art. 21, 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 und 23 GG trägt dasselbe Ergebnis. Die politischen Parteien sind i n der Landessatzung nicht genannt; aber sie sind i n der Bundesverfassung auf eine Weise i n ihrem Status normiert, die positivrechtlich auch für das Land w i r k t . So hatte der Senat auch begonnen. Der Rückgriff auf Einheit und Gesamtinhalt der (Landes)Verfassung ersetzt dann aber eine genauere Interpretation der einschlägigen Normen und ihr systematisches Vermitteln dadurch, daß er ungeschriebenes Landesverfassungsrecht beschaffen soll. Der Sache nach besteht der Arbeitsvorgang i m Konkretisieren der vollständig herangezogenen aussagekräftigen Vorschriften aus Landes- und Bundesverfassung m i t grammatischen, historischen und theoretischen Elementen. Nicht etwa diese das Ergebnis tragende Argumentation w i r d m i t dem Ausdruck „Einheit der Verfassung" i n Zusammenhang gebracht; sondern sie w i r d durch den Rückgriff auf eine ganzheitlich erfaßbare Einheit der Verfassung zum Teil ersetzt. Deren Funktion liegt hier also darin, ein Stück normaler Konkretisierungsarbeit zu ersparen. Diese Arbeit hätte m i t der Vorstellung einer Einheit oder eines Gesamtinhalts der Verfassung nichts zu t u n gehabt. Sie stützt sich darauf, daß die heranzuziehenden und dabei auch systematisch zu vermittelnden Verfassungssätze positiv geltendes, gleichrangiges und für den Fall einschlägiges, also thematisch aussagekräftiges Recht sind. Wiederum haben die untersuchten Sätze der Begründung auch rhetorische Aufgaben. Es wäre kaum sinnvoll, ihre Begriffe und deren gegenseitiges Verhältnis noch genauer zu prüfen. Das heißt aber nicht, es sei überhaupt nicht sinnvoll, derartige Sequenzen zu analysieren. Es ist nicht gleichgültig, wie das i n Verfassungsfragen maßgebende Gericht der Bundesrepublik die von i h m gesetzten Entscheidungsnormen rechtfertigt. Es ist auch nicht gleichgültig, wie schwerwiegende und folgenreiche Theorien, Dogmatiken und Methodiken der Verfassungsjustiz von dieser selbst behandelt, also bestätigt, verändert oder fortentwickelt werden. Das gilt sicherlich für ein ganzheitlich arbeitendes und sich damit rationaler Kontrolle i m Ansatz entziehendes Argument wie das aus der Einheit der Verfassung 81 . Der inhaltliche (weil entscheidungstaktische) Unterschied des Arguments in diesem und i m Südweststaats-Urteil fällt auf. Der dem geschriebenen Verfassungsrecht vorausliegende Grundsatz w i r d hier als gleichrangig behandelt. Er muß nur aus dem Gesamtinhalt der Landessatzung als 81 Vgl. meine K r i t i k am ungenauen Ganzheitsdenken dieses Urteils („Gesamtgefüge der verfassungsmäßigen Ordnung", „ i m Rahmen des jeweiligen Staatsganzen", ebd., S. 244, 259) schon i n : F.Müller I I I , S. 136f. — Z u den Begriffen „Normprogramm", „Normbereich" ebd., z. B. S. 107 f., 117 f., 132 ff., 137 ff., 142 ff., 184 ff.; und bei dems. X . z. B. S. 107 ff., 109 ff., 164 ff., m. Nw.

2.2 Begründung von ungeschriebenem Verfassungsrecht u. Richterrecht 43

ungeschriebener Grundsatz rekrutiert werden. Eine so schwerwiegende Behauptung wie die des Rangunterschieds von Verfassungsnormen w i r d offenbar nach Bedarf aufgestellt oder zurückgehalten. Wäre der Senat folgerichtig geblieben, so hätte er hier anmerken müssen, der parteienstaatliche Gesamtinhalt der Landessatzung würde sich auch dann durchsetzen, wenn der Normtext ihres A r t . 37 Nr. 1 die Parteien eindeutig vom Verfassungsstreitverfahren ausnähme — ein für das Landesverfassungsrecht (sc. nach dem Ansatz des Senats hier hilfsweise ohne Einfluß des A r t . 21 GG!) ebenso wie für entsprechend gelagerte Fälle nach dem Grundgesetz nicht vertretbares Ergebnis. Die Bedenken werden nicht geringer, wenn statt aus dem Ganzen der Verfassung ungeschriebene Normen aus dem Sinnganzen der gesamten Rechtsordnung abgeleitet werden. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts sah sich 1973 genötigt, die schöpferische und womöglich gegen § 253 Bürgerliches Gesetzbuch verstoßende Rechtsprechung der Zivilgerichte verfassungsrechtlich zu überprüfen, nach der bei schweren Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Geldersatz auch für immaterielle Schäden beansprucht werden kann. Die Instanzgerichte hatten Prinzessin Soraya eine Genugtuung i n Geld für ein auf ihr Privatleben bezügliches erfundenes Interview zugesprochen. Der betroffene Verlagskonzern hatte seine Verfassungsbeschwerde m i t der Ansicht der zivilrechtlichen Mindermeinung begründet, § 847 Bürgerliches Gesetzbuch könne weder durch Auslegung noch durch Analogie als Anspruchsgrundlage herangezogen werden. § 253 Bürgerliches Gesetzbuch regle die Frage abschließend, ein Raum für richterliche Rechtsfortbildung verbleibe nicht. Der Wunsch nach einem umfassenden zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutz sei nicht rechtlicher, sondern rechtspolitischer A r t . I h m nachzukommen, sei Aufgabe des Gesetzgebers 82. Den Ausgangspunkt für das Bundesverfassungsgericht bildet die Bindung des Richters an das Gesetz. Sie ist wesentlicher Bestandteil der Gewaltentrennung und damit der Rechtsstaatlichkeit. Zutreffend nennt der Senat die Gesetzesbindung der Judikative einen unverzichtbaren Grundsatz. Für die vom Fall aufgeworfene Frage stellt sich ihm diese Bindung aber folgendermaßen dar: A r t . 20 Abs. 3 GG bindet die Rechtsprechung nicht nur an das Gesetz als die positive Satzung der Staatsgewalt, sondern auch an ungeschriebenes Recht. Das ist unbestritten, soweit damit Gewohnheitsrecht gemeint ist. Allerdings kann sich i m Rechtsstaat des Grundgesetzes ungeschriebenes Recht nur ergänzend zum geschriebenen, nicht aber gegen dessen deutliche Regeln bilden. 82 BVerfGE 34, S. 269 ff.; ein rechtshistorischer Überblick m i t Hinweis auf die zivilrechtliche Diskussion und die herrschende Lehre und Rechtsprechung ebd.; Mindermeinung und Vorbringen der Beschwerdeführerin ebd., S. 276, 278; der hier interessierende Abschnitt findet sich ebd., S. 286 ff., 289 ff.

44

2 Analyse der Rechtsprechung

Es darf nicht i n Widerspruch zu ranghöherem oder ranggleichem geschriebenen Recht treten 8 3 . Genau darum geht es hier. Der Senat w i r d i m Ergebnis die Judikatur der Zivilgerichte für unbedenklich erklären und die Verfassungsbeschwerde abweisen. Er beginnt die entscheidende Sequenz der Gründe nicht etwa damit, die geschriebene Rechtsordnung als Maßstab für ungeschriebenes (hier: Richter)Recht, sondern die Vorstellung von „der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen" als Quelle ungeschriebener Normen anzusetzen. Wie diese Normen zu erarbeiten sein sollen, w i r d widersprüchlich formuliert. Selbst das aus dem Sinnganzen herauspostulierte Recht soll „bestehen", soll vom Richter „zu finden" sein. Doch ist der Senat bei dieser Lebenslüge eines nur formalen Rechtsstaatsverständnisses nicht festzuhalten. Er räumt ein, daß dem Setzen von Richterrecht „auch willenhafte Elemente nicht fehlen" 84 . Die heutige Methodik anerkennt den eigenständigen Charakter der Setzung von Entscheidungsnormen so gut wie allgemein 85 ; und m i t Richterrecht werden immerhin nicht nur konkrete Entscheidungsnormen, sondern zugleich auch allgemeine Rechtsnormen gesetzt. Das Gericht muß nun das Sinnganze und dessen Qualität als Quelle von Richterrecht einsichtig zu machen versuchen. Die geschriebene staatliche Rechtsordnung ist i n seiner Sicht nur für rechtspolitische Wunschvorstellungen, nie aber i n ihrem tatsächlichen Zustand lückenlos. Der Senat denkt dabei offenbar nur an die allgemeinen Rechtsnormen und nicht auch an die ihnen zuzurechnenden Entscheidungsnormen. Das ist solange jedenfalls schlüssig, als das rechtsstaatliche Gebot der Gesetzesbindung der Richter vom Bundesverfassungsgericht durchgehalten wird. Als Axiom, das die Argumentation trägt und vorantreibt, folgt nun die Aussage, es sei die Funktion des geschriebenen Gesetzes, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen. Erfülle sie das positive Recht i m Einzelfall dadurch nicht, daß es ein gerechtfertigtes Bedürfnis nicht beantwortet, so schließe der Richter „dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft" und nach dem, was das Bundesverfassungsgericht i n einer früheren Entscheidung „die fundierten allgemeinen GerechtigkeitsvorStellungen der Gemeinschaft" genannt hatte 86 . Gerade mit der Eigenschaft, Rechtsfragen gerecht zu lösen, ist die positive Rechtsordnung also nie ein Ganzes. Gleichwohl soll sie ein Sinnganzes sein, das nicht etwa als Zielbegriff, sondern als Quelle von Richterrecht und damit als Ausgangs83

Hesse V I , S. 207, f ü r ungeschriebenes Verfassungsrecht ebd., S. 15. Dieses u n d die anderen Zitate i n BVerfGE 34, S. 269 ff., 287. 85 Darstellung und N w . bei: F. Müller X , S. 60, 76 f., 267 f. u. ö.; dems. X I I , durchgehend. — Z u Begriff u n d Stellenwert der Entscheidungsnorm F. Müller I I I , z.B. S. 26 ff., 116 f.; ders. X , z.B. S. 119, 132, 139 f., 219, 261, 266 f.; ders . X I I , z. B. S. 14 f., 78 ff., 81 f., 99 f. 86 BVerfGE 34, S. 269 ff., 287 m. Hinweis auf BVerfGE 9, S. 338 ff., 349. 84

2.2 Begründung von ungeschriebenem Verfassungsrecht u. Richterrecht 45

punkt für die Argumentation des Senats zu Diensten ist. Sachlich sollen „WertVorstellungen" oder „GerechtigkeitsVorstellungen" dahinter stehen, von denen ausgesagt w i r d : sie seien fundiert und allgemein, sie bräuchten i n den Texten des geschriebenen Rechts nicht oder nicht vollkommen ausgedrückt zu sein, sie seien i n jedem Fall der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent. Der Richter entnimmt aber die Gründe für seinen rechtsbildenden A k t gewiß nicht dem Sinn ganzen der Rechtsordnung. Das Ganze ist als solches nicht gegeben, es ist nicht technisch handhabbar. Er kann sich nur auf einen begrenzten Ausschnitt der Rechtsordnung stützen, der durch die Fallfrage umschrieben wird. I n i h m sucht er nach Vorstellungen darüber, wie der Fall w o h l gerecht gelöst werden könnte. Vom Sinnganzen, von Maßstäben der praktischen Vernunft und von den angeblich allgemeinen Vorstellungen über Gerechtigkeit spricht der Senat aber ersichtlich nicht i m empirischen, sondern i m normativ vorgreiflichen Sinn. Wenn das Sinnganze der Rechtsordnung etwas anderes sein soll als ihre Funktion, so ist es eine leere Formel von nur suggestivem Wert. Besteht es dagegen i n der Gerechtigkeitsfunktion der Rechtsordnung, so kann es als Ganzes, als Gesamtaufgabe gerade nicht angeben, wie dieses bestimmte einzelne Fallproblem gerecht gelöst werden soll. Das Ganze des Sinnes oder der Funktion der Rechtsordnung entpuppt sich als partiell und außerrechtlich: und zwar deshalb, weil Vorstellungen über Wert und Gerechtigkeit von so diffuser A r t rechtlich gerade nicht geformt und gesetzt sind; und partiell deswegen, w e i l „die" Gemeinschaft, auf die der Senat sich i m letzten stützt, bei näherem Zusehen gerade auf dem Feld der sozialen Normen als geschichtete, von Schicht zu Schicht i n vielem beziehungslose, als zerrissene wirkliche Gesellschaft deutlich wird 8 7 . Den Richtern bleibt nicht leicht etwas anderes übrig, als ihre persönlichen Ansichten über eine gerechte Entscheidung der vom geschriebenen Recht nicht oder i n ihrer Sicht nicht gerecht beantworteten Fallfrage einzubringen; oder i m besten Fall ihr subjektives B i l d von „den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft". Nach Meinung des Senats kann die juristische Methode, mit der die Zivilgerichte hier vorgehen, verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden. Der Bundesgerichtshof habe den § 253 Bürgerliches Gesetzbuch weder als zur Gänze unverbindlich noch als verfassungswidrig behandelt. Er habe die gesetzliche Regelung „lediglich . . . um einen Fall erweitert" 8 6 . Aber nur dieser eine Fall ist hier zu entscheiden, und es geht u m die Gesetzesbindung der Richter nur in ihm, der Rest ist Spiegel87 Z u r Abhängigkeit der Normanwender und Normadressaten von sozialer Ungleichheit u n d zum Verhältnis von rechtsstaatlicher Rationalität u n d sozialer Schichtung F. Müller X I I , bes. S. 55 ff., 57 ff., 63 ff., 75 f. 88 BVerfGE 34, S. 269 ff., 292.

46

2 Analyse der Rechtsprechung

fechten. Das Fortbilden des Rechts , für das der Senat so grundsätzliche Worte findet, ist ein täglicher und alltäglicher Vorgang über die gesamte Breite der Rechtsordnung hin. Er realisiert sich in der verantwortlichen Erzeugung von Entscheidungsnormen, aber von Entscheidungsnormen spricht der Senat an keiner Stelle. Entscheidungsnormen müssen sich i m Rechtsstaat regulär auf Rechtsnormen zurückführen lassen können, und zwar „ i n den Grenzen des möglichen Wortsinns" 8 9 . Das ist wesentlich mehr als nur ein „Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers" 90 . Genau dies ist der Punkt, an dem die rechtsstaatliche Gesetzesbindung praktisch wird. Dann gibt es aber auch ein Entscheiden gegen das positive Recht 91 . M i t der vom Fall gestellten Frage, ob es sich hier darum handelt, setzt sich der Senat nicht konkret auseinander. Warum die Zivilgerichte nicht abwarten mußten, bis der Gesetzgeber eingriff, scheint i h m durch die „weitgehende Zustimmung i n der Rechtswissenschaft", durch die „gewichtigen Stimmen des juristischen Schrifttums" und die „Mehrheit der zivilrechtlichen Autoren" quasi-normativ begründet zu sein. Dieser eindrucksvolle Chor der Affirmation bürgt dem Senat dafür, daß damit „den allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen" entsprochen worden ist 9 2 . Das ist ein waghalsiger Schluß, und auch die „Erfahrung", es stießen „gesetzgeberische Reformen gerade dann auf besondere Schwierigkeiten und Hemmnisse, wenn sie zu Änderungen eines der großen Gesetzgebungswerke führen sollen", bildet doch w o h l keine Kompetenzgrundlage für schöpferische Rechtsfindung. Deren reale Quelle ist, w i l l man dem Sprachzauber des Soraya-Beschlusses glauben, nicht richterlicher Wille, sondern ganzheitlicher Sinn, nicht individuelle Meinung, sondern objektiver Wert, sind nicht schichtgebundene, sondern allgemeine Vorstellungen von Gerechtigkeit. Auch werden die so i n die Rechtsordnung eingeführten Normen trotz des genannten Zugeständnisses an richterlichen Voluntarismus dann doch wieder nicht erzeugt, sondern gefunden. Gerade weil die Richter „keinen eigenen rechtspolitischen Willen zur Geltung gebracht" hätten, soll der „so gefundene Rechtssatz" legitim sein 93 . N u n wäre das Ergebnis des Soraya-Beschlusses auch auf andere A r t als rechtmäßig darzutun gewesen. Es erscheint inhaltlich vertretbar und rechtspolitisch zeitgerecht. Es hätte auf zwei Wegen normorientier89 Ebd., S. 287; zu der grundsätzlichen Frage: F.Müller X , S. 153 ff., 205 f., 268 u. ö.; ders. X I I , S. 77 ff., 80 ff., 82 ff.; ders. X V I , S. 273 ff. 90 BVerfGE 34, S. 269 ff., 287. 91 Z u dessen rechtstheoretischer Bewertung F. Müller X I I , z. B. S. 19 ff., 44 ff., 82 ff. 92 BVerfGE 34, S. 269 ff., 290, 291; ebd. das i m Text folgende Zitat. 93 Ebd., S. 292. — Z u r rechtstheoretischen Frage der besonderen Legitimationswirkungen der Justiz F. Müller X I I , bes. S. 84 ff.

2.2 Begründung von ungeschriebenem Verfassungsrecht u. Richterrecht 47

ten Argumentierens begründet werden können, die einander nicht ausschließen: Zum einen über einen möglichen Normwandel, der dann allerdings i m einzelnen sorgfältig hätte geprüft werden müssen 94 ; und zum andern dadurch, daß A r t . 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG nach ihren Tatbeständen auf den Fall h i n ausgelegt, m i t den fraglichen zivilrechtlichen Vorschriften vermittelt und diese, falls erforderlich, konform den ranghöheren Grundrechten konkretisiert worden wären. Beides setzt ein Argumentieren i m einzelnen voraus. Das Sinnganze der verfassungsmäßigen Rechtsordnung hätte nicht bemüht zu werden brauchen. Die Berufung auf dieses Ganze hat die Funktion, die sonst nötigen dogmatischen und methodischen Einzelschritte zu ersparen. Sie erlaubt es zudem dank ihrer Ungreifbarkeit, besonders mühelos einen besonders großen Betrag an diffuser, künftig vielseitig einsetzbarer Legitimität zu liefern. Ein Normwandel, die Meinung namhafter Vertreter der Rechtswissenschaft und das Beschaffen ungeschriebener Rechtsnormen unter Rückgriff auf Ganzheit und Einheit, diesmal wieder des Verfassungsrechts, spielen eine Rolle auch i n dem ältesten Judikat des Ersten Senats, das i n diesen Zusammenhang gehört 95 . Dort war i n einem Vorlageverfahren zu entscheiden, ob das nordrhein-westfälische Gesetz über das Beanstandungsrecht des Innenministers i n Haftentschädigungssachen mit dem Grundgesetz vereinbar war. Die Prüfung bezog sich auf die vom Gesetz eröffnete Möglichkeit, ein abgeschlossenes Verfahren allein wegen eines Wandels i n der Rechtsauffassung, so etwa beim Auslegen unbestimmter Rechtsbegriffe, wiederaufzunehmen. Verstöße gegen Art. 3 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG kann der Senat nicht feststellen. Er wendet i m folgenden seinen Blick weg von „den einzelnen Sätzen der geschriebenen Verfassung" und auf allgemeine Grundsätze und Leitideen hin. Uber diese sagt er folgendes aus: Sie sind ungeschrieben; sie haben das „vorverfassungsmäßige Gesamtbild" geprägt, von dem der Verfassungsgesetzgeber ausgegangen ist; aus diesem Grund hat er sie nicht i n besonderen Rechtssätzen positiviert; sie hängen nicht nur untereinander zusammen, sondern haben die Kraft, die (also alle) ge94 BVerfGE 34, S. 269 ff., 285 f. — „ N a t u r der Dinge" —, 288 f., 292; zu A r t . 1 Abs. 1 u n d 2 Abs. 1 GG ebd., S. 281, 292. 95 BVerfGE 2, S. 380 ff.; zum Normwandel ebd., S. 401; bei der Auslegung des Eigentumsbegriffs i n A r t . 14 Abs. 1 GG ein bemerkenswertes Beispiel für pseudo-historische u n d pseudo-systematische Auslegung nicht m i t N o r m vorbildern bzw. m i t Normen, sondern m i t früheren Lehrmeinungen und rechtspolitischen Tendenzen: ebd., S. 399 ff.; Prüfung des Beanstandungsgesetzes ebd., S. 390 ff.; der hier vor allem interessierende Abschnitt findet sich ebd., S. 403, das Ergebnis S. 405. — Vgl. ferner zum „vorverfassungsrechtlichen Gesamtbild u: BVerfGE 9, S. 89 ff., 96; 14, S. 56 ff., 75; 14, S. 197 ff., 216; 27, S. 180 ff., 184 ff; 33, S. 1 ff., 12; ferner BVerwGE 1, S. 159 ff., 161. — Ähnlich Nawiasky I I I („Auslegung aus der vorrechtlichen Idee").

2 Analyse der Rechtsprechung

48

schriebenen Einzelnormen der Verfassung miteinander zu verbinden, sie innerlich zusammenzuhalten. Von diesen Leitideen prüft das Gericht i m vorliegenden Fall das Rechtsstaatsprinzip. Auch der Zweite Senat hatte diesen Grundsatz i m Südweststaats-Urteil unter die von i h m herausgestellten Verfassungsgrundsätze gezählt. I m Gegensatz zum Zweiten Senat w i r d diesen Grundsätzen hier aber kein höherer Rang zugeschrieben. Sie liegen der Verfassung nicht i n dem Sinn voraus, daß sie überpositiver Herkunft sind und auch den Verfassunggeber binden; sondern sie haben — i n der Zeit des Ausarbeitens der Verfassung — das inhaltliche Gesamtbild des Verfassunggebers geprägt. Normativen Zusammenhalt und innere Einheit hat die Verfassung aber i n beiden Fällen. Hier sind es allerdings gerade die Grundsätze, die solche Einheit erzeugen, während diese vom Zweiten Senat als gegeben angesetzt wird. Wie i m Südweststaats-Urteil werden auch hier einzelne Normen des Grundgesetzes genannt, deren Zusammenschau (neben der sogenannten Gesamtkonzeption) das Rechtsstaatsprinzip begründen: A r t . 20 Abs. 3 GG, Art. 1 Abs. 3, 19 Abs. 4 und 28 Abs. 1 Satz 1 GG. Das ist der zutreffende Ansatz. Weitere Normen hätten aber herangezogen werden können, bevor zu einer Gesamtkonzeption die Zuflucht genommen wird. Dem Senat geht es vor allem um die Rechtssicherheit als einen Bestandteil des Rechtsstaats. Gegen sie verstößt das Beanstandungsgesetz mangels Vorhersehbarkeit der Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens 96 . So wie das Gericht hier vorgeht, bricht es eine naheliegende Einzelargumentation m i t vor allem systematisch zu vermittelnden geschriebenen Normen ab und weicht auf einen damit verglichen recht unbestimmten Zielbegriff aus. Spezialvorschriften wie Art. 103 Abs. 2 GG und systematische Interpretation der rechtsstaatlichen Maßstabs- und Kontrollregeln des Grundgesetzes wie auch die Dogmatik gewohnheitsrechtlich überkommener Normen, so des Rückwirkungsverbots, hätten zusätzliche Argumente geliefert. Die begründende Sequenz kommt dem teilweise nahe. Doch ersetzt der Rückgriff auf ungeschriebene Grundsätze, die eine innere Einheit der Verfassung erzeugen sollen, über weite Strecken die Arbeit i n rationalen Einzelschritten. So vermischt die Formel von den Grundsätzen und Leitideen, die das vorverfassungsmäßige Gesamtbild geprägt hätten, voreilig historische, genetische, systematische und Theorie-Elemente. Bei anderem Vorgehen wäre auch das Gesamtbild klarer aus der Phase des Vorverständnisses des Ver96

Funktionell hält sich das Gericht m i t Recht davor zurück, ein deutlich formuliertes Gesetz verfassungskonform umzuinterpretieren: ebd., S. 398, 405 f.: Würde der gesetzliche Tatbestand verfassungskonform neu formuliert, so wären „die Grenzen der Gerichtsbarkeit überschritten und ein A k t der Rechtssetzung vorgenommen worden, der nur dem Gesetzgeber zukommt", S. 406.

2.3 Systematische Argumentation

49

fassunggebers i n den allein maßgeblichen Bereich des geltenden Verfassungsrechts gerückt worden 9 7 . Der Sache nach geht es darum, daß alles thematisch einschlägige Verfassungsrecht, sei es geschrieben oder ungeschrieben, heranzuziehen ist. Der Senat verschafft sich m i t seinem Argument eine ungeschriebene Verfassungsnorm, die er i n der Folge etwas zu pauschal m i t der Entscheidungsnorm verbindet. Der Gedanke einer (dank verbindender ungeschriebener Grundsätze) einheitlichen Verfassung ist für dieses Vorgehen nicht nötig. Inhaltliche Grundsätze müssen rechtsstaatlich kontrollierbar und das heißt hier: m i t historischer, genetischer und systematischer Interpretation sowie m i t TheorieElementen einsichtig gemacht werden. Dieses Vorgehen bildet einen Unterfall herkömmlicher Interpretationsregeln. Der Senat hat es hier i m Ansatz richtig gehandhabt. Würde dagegen das Ganze eines die Verfassung begründenden Vorverständnisses auch ganzheitlich i n die Argumentation eingeführt, so wäre es kein rechtsstaatlich annehmbarer Ersatz, die Einheit der Verfassung zu beschwören.

2.3 Systematische Argumentation Der Fall des nordrhein-westfälischen Beanstandungsgesetzes leitet bereits von der Begründung ungeschriebenen Verfassungsrechts zu den Fällen über, i n denen das Argument „Einheit der Verfassung" für schlichte systematische Konkretisierung steht. Ein Teil dieser Fallgruppe hebt sich dadurch ab, daß die systematischen Operationen m i t Hilfe von Verfassungsgrundsätzen durchgeführt werden. Die Grundsätze werden hier allerdings nicht als höherrangig i m Sinn der Traditionskette seit dem Südweststaats-Urteil behandelt. Denn konforme Auslegung setzt Rangunterschiede, systematische setzt Ranggleichheit voraus. 2.31 Systematische Auslegung mit Verfassungsgrundsätzen Grundsätze i m hier gemeinten Sinn sind solche des Verfassungsrechts. Sie müssen also rechtliche Eigenschaften haben; es genügt nicht, sogenannte Staatsgrundsätze oder Regierungs- und Verwaltungsinteressen gegen geltendes Verfassungsrecht ins Feld zu führen 98 . Z u m andern müssen es Grundsätze von Verfassungsrsnig sein. Hierfür ist es nicht ausreichend, das Prinzip, auf das sich die Argumentation stützen soll, nur der Behauptung nach dem Gesamtsinn der Verfassung, tatsächlich aber der sozialen Wirklichkeit i n Verbindung m i t niederrangigen (Gesetzes)Normen zu entnehmen 99 . 97 Dazu F. Müller I I I , S. 136 f., Anm. 430; Hesse V I , S. 15, A n m . 40. Vgl. a. Ehmke V, S. 78. 98 Wie es i n B a y V f G H 20, S. 36 ff., 44 geschieht.

4 F. Müller

50

2 Analyse der Rechtsprechung

I n dem damit umschriebenen Sinn w i r d die Einheit der Verfassung erstmals i m Gleichberechtigungs-Urteil des Ersten Senats von 1953 ins Spiel gebracht 100 . Die Entscheidung betraf ein Vorlageverfahren des Oberlandesgerichts Frankfurt. Dort ging es i n einem Scheidungsprozeß u m einen ehelichen Güterstand, den das Gericht für mit Art. 3 Abs. 2 GG unvereinbar hielt. Nach A r t . 117 Abs. 1 GG blieb das dem Art. 3 Abs. 2 GG widersprechende Recht bis zu seiner grundgesetzkonformen Novellierung, jedoch nicht länger als bis zum 31. März 1953 in Kraft. Das Eheund Familienrecht war bis zu diesem Zeitpunkt nicht angepaßt worden. Die überwiegende Rechtsprechung behandelte es seit dem 1. A p r i l 1953 als außer K r a f t getreten und versuchte, sich m i t Methoden der Auslegung und der Lückenfüllung zu helfen. Das Oberlandesgericht wollte i m vorliegenden Fall dagegen nicht so vorgehen. Es hielt es für unzulässig, den Gerichten damit eine ihnen womöglich wesensfremde Aufgabe zu übertragen und meinte, A r t . 117 Abs. 1 (2. Halbsatz) verstoße gegen die übergeordneten Grundsätze der Rechtssicherheit und der Gewaltenteilung und sei daher eine nichtige Verfassungsnorm. Das Oberlandesgericht legte nach A r t . 100 Abs. 1 GG die Frage zur Entscheidung vor, ob Art. 117 Abs. 1 GG insoweit nichtig sei, als er das bürgerliche Recht auf dem Gebiet von Ehe und Familie m i t Ablauf des 31. März 1953 außer K r a f t setzte. Es berief sich dabei auf das Südweststaats-Urteil des Zweiten Senats. Der Erste Senat verknüpft Art. 117 Abs. 1 GG (2. Halbsatz) systematisch m i t A r t . 3 Abs. 2 und 117 Abs. 1 GG (1. Halbsatz) und ändert die Entscheidungsfrage dahin, ob der Verfassunggeber durch irgendwelche Normen gehindert gewesen sei, dem A r t . 3 Abs. 2 GG von einem bestimmten Zeitpunkt an ohne besonderes Anpassungsgesetz unmittelbar bindende Wirkung für die rechtsprechende und vollziehende Gewalt zuzuschreiben. Dogmatisch geht diese Frage dahin, ob aufgrund von Art. 1 Abs. 3 GG und über den durch Fristablauf außer Gefecht gesetzten A r t . 117 Abs. 1 GG hinweg eine Verfassungsnorm zum unmittelbaren Maßstab konkretisierender Rechtspraxis gemacht werden durfte. Das Besondere der Vorlage besteht darin, daß mit Art. 117 Abs. 1 GG (2. Halbsatz) eine Norm von Verfassungsrang überprüft werden sollte. Der Senat argumentiert wie folgt: Art. 100 Abs. 1 GG möge für einen solchen Fall nicht gedacht gewesen sein. Auch eine Norm des Grundgesetzes sei jedoch ein „Gesetz" i m Sinn seines Wortlauts. Dieser stehe daher nicht entgegen. A r t . 100 Abs. 1 GG habe den Zweck, die gesetz99 Wie i n der Entscheidung zum schleswig-holsteinischen Landeswahlgesetz, BVerfGE 1, S. 208 ff., 227 f. 100 BVerfGE 3, S. 225 ff.; die hier entscheidenden Abschnitte finden sich ebd., S. 231 f., 234, 235, 247 f. — Der Vorlage-Beschluß des Oberlandesgerichts Frankfurt ist veröffentlicht in: NJW 1953, S. 746 ff.

2.3 Systematische Argumentation

51

gebende Gewalt davor zu schützen, Gesetze kraft einer allgemeinen richterlichen Verwerfungsbefugnis für nichtig erklärt zu sehen. U m der Würde und der Autorität der verfassunggebenden Gewalt w i l l e n müsse das Monopol der Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts „erst recht" für die Überprüfung des Grundgesetzes „an welchen Normen auch immer" 1 0 1 gelten. Gelinge es einem Gericht nicht, einander möglicherweise widersprechende Verfassungsnormen mit den M i t t e l n der Auslegung zu harmonisieren, so habe es nach A r t . 100 Abs. 1 GG vorzulegen, wenn dessen Voraussetzungen gegeben sind. A r t . 100 Abs. 1 gilt also auch dann, wenn die zu prüfende Vorschrift Verfassungsrang hat. Dabei ist vorausgesetzt, daß die Maßstabsnorm, „welcher Herkunft auch immer", höheren Ranges ist. Für diese Frage w i r d nun der Gedanke entscheidend, das Grundgesetz könne nur als Einheit begriffen werden. Aus der Einheit der Verfassung folgt nämlich für den Senat, „daß auf der Ebene der Verfassung selbst ranghöhere und rangniedere Normen i n dem Sinne, daß sie aneinander gemessen werden könnten, grundsätzlich nicht denkbar sind" 1 0 2 . Die einzelnen Verfassungsnormen bedeuten zwrar verschieden viel, unterscheiden sich aber an innerem Gewicht. So können Grundrechte kraft Gesetzesvorbehalts i n gewissem Umfang durch einfaches Gesetz eingeschränkt werden, oder es können umgekehrt Verfassungsnormen durch A r t . 79 Abs. 3 GG auch gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber für unverbrüchlich erklärt werden. A l l das hat aber nichts m i t verschiedenem Rang zu tun. A r t . 117 GG widerspricht dem durch A r t . 79 Abs. 3 für unantastbar erklärten A r t . 1 Abs. 3 GG. Gleichwohl ist er gültiges Recht, denn der Verfassunggeber kann „von seinen eigenen Grundsatznormen Ausnahmen statuieren ..., die nach der Regel vom Vorrang der speziellen gegenüber der allgemeinen Norm zu beachten sind". Deutlicher konnte die Gegenthese zur Einheit der Verfassung i m Sinn des Zweiten Senats kaum formuliert werden. Der Erste Senat fügt, möglicherweise um diese Schärfe zu mildern, ein Bekenntnis gegen „die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus" an 103 . Der ursprüngliche Verfassunggeber dürfe zwar „alles nach seinem W i l len ordnen". Das gelte aber nicht ohne Ausnahme. I n Extremfällen könne nämlich auch ein Verfassunggeber äußerste Grenzen der Gerechtigkeit überschreiten. Die Zeit des nationalsozialistischen Regimes i n Deutschland habe das bewiesen. I m vorliegenden Fall bestehe jedoch 101

Ebd., S. 230 f. Ebd., S. 231; zum folgenden ebd., S. 232. — Der Senat beruft sich für sein Verständnis der Einheit der Verfassung m i t der Folge der Ranggleichheit von Verfassungsnormen auf B G H Z 1, S. 274 ff., 276. U m so mehr fällt es auf, daß die entgegengesetzte Position des Zweiten Senats u n d dessen Südweststaats-Urteil (BVerfGE 1, S. 14 ff., 32 f.) nicht erwähnt werden. 103 Ebd., S. 232 bis 234, vgl. a. S. 235, 247 f. 102

4'

52

2 Analyse der Rechtsprechung

kein Anlaß, zu entwickeln, wann solche extremen Fälle gegeben sein können. Es sei so unwahrscheinlich, daß ein freiheitlich demokratischer Verfassunggeber diese Grenzen auch nur irgendwo überschritte, „daß die theoretische Möglichkeit originärer verfassungswidriger Verfassungsnormen' einer praktischen Unmöglichkeit nahezu gleichkommt" 1 0 4 . Der Parlamentarische Rat habe seine Arbeit unter die Idee der Gerechtigkeit gestellt. Er habe äußerste Gerechtigkeitsgrenzen offenbar nicht überschritten. Vorschriften wie A r t . 1 oder Normen i n A r t . 20 GG, „die vielfach als übergesetzlich bezeichnet werden", seien i m Grundgesetz positiviert worden, ohne dadurch ihren „besonderen Charakter" verloren zu haben. Ausnahmen von ihnen durch positives Verfassungsrecht seien nicht unbegrenzt, sondern eben nur innerhalb jener letzten Grenzen „der Gerechtigkeit selbst" zulässig. Der Angriff gegen die Rechtsbeständigkeit des A r t . 117 Abs. I GG (2. Halbsatz) sei der erste dieser A r t . Nach diesem Exkurs kehrt der Senat zum F a l l zurück. Verfassungswidrige Verfassungsnormen werden unter den gegebenen Voraussetzungen des Grundgesetzes zwar nicht praktisch werden; sie sind aber, wenn auch noch so entfernt, „denkbar" und begründen insoweit die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts nach A r t . 100 Abs. 1 GG. A u f nichts anderes kommt es dem Gericht bei diesem Argument an. Es bleibt dann noch zu klären, ob nicht etwa nur der verfassungsändernde Gesetzgeber, nicht aber ein Gericht eine Frage der vorliegenden A r t prüfen darf. Der Senat nimmt das Ergebnis vorweg, das sei nicht der Fall; und er nennt offen sein rechtspolitisches Motiv: zu verhindern, daß andere Gerichte es weniger genau nehmen und eine solche Prüfung selbständig durchführen. Dieses Ergebnis w i r d m i t tönenden Argumenten aus dem Einzugsgebiet der Verfassungslehre sprachlich gerechtfertigt: Die richterliche Gewalt gründe „ j a eben doch ihre Autorität nicht nur äußerlich auf die Verfassung, sondern — dem Wesen ihrer Tätigkeit entsprechend — i n gewisser Weise auf die Idee des Rechts selbst", und das Bundesverfassungsgericht maße sich mit einer derartigen Prüfungskompetenz verfassunggebende Gewalt nicht an; es werde sich aus den genannten Gründen „schwerlich ereignen", eine ursprüngliche Norm des Grundgesetzes für nichtig erklärt zu sehen 105 . Der Senat kann jetzt prüfen, ob Art. 117 Abs. 1 GG (2. Halbsatz) i n einem „schlechthin nicht mehr erträglichen Maße" von i m Grundgesetz positivierten „eigentlichen Gerechtigkeitswerten" i m dargelegten Sinn abweicht. Das w i r d an der Gewaltenteilung und i m Anschluß an die Entscheidung zum nordrhein-westfälischen Beanstandungsgesetz 100 am 104

Ebd., S. 233; zum folgenden S. 233 f. Ebd., S. 235 f.; die Ausführungen zur Rechtssicherheit S. 237 ff., zur Gewaltenteüung S. 247 f. 105

2.3 Systematische Argumentation

53

Grundsatz der Rechtssicherheit als einem Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips geprüft. Die Rechtssicherheit sei hier i n gewissem Umfang und für gewisse Zeit eingeschränkt worden, u m inhaltliche Gerechtigkeit zu verwirklichen. Nach fruchtlosem Ablauf der Frist des Art. 117 Abs. 1 GG (2. Halbsatz) sollte, wie ein systematischer Vergleich mit Abs. 2 desselben Artikels zeige, eine etwaige Rechtsunsicherheit zugunsten des i n der Frage der Gleichberechtigung als gerecht Erkannten bewußt i n Kauf genommen werden. Eine schlechthin unerträgliche „Rechtsnot", ein „Rechtschaos" sei nicht zu befürchten. A r t . 3 Abs. 2 GG sei kein Programmsatz, sondern eine echte Rechtsnorm, zwar allgemein gefaßt, aber doch unmittelbar anwendbar. Die Gerichte seien seit jeher i n der Lage, Generalklauseln schöpferisch zu konkretisieren. Auch i m vorliegenden Fall sei m i t erprobten Hilfsmitteln der Interpretation und Lückenfüllung bereits eine umfangreiche Judikatur entstanden, eine herrschende Meinung zeichne sich deutlich ab. Da das Konkretisieren von Generalklauseln eine echt richterliche Aufgabe sei und da sie i n diesem Fall erfüllt werde, ohne den Grundsatz der Rechtssicherheit zu verletzen, könne gegen jenen der Gewaltenteilung ebenfalls nicht verstoßen worden sein. Die Funktion des Gedankens einer Einheit der Verfassung weicht hier deutlich von der Linie der bisher untersuchten Rechtsprechung ab. Es geht dem Senat darum, sich i m Vorlage verfahren nach A r t . 100 Abs. 1 GG für zuständig zu erklären. Der Normtext des Artikels hätte dafür eingehend konkretisiert werden müssen. Das ist jedoch nicht geschehen. Die normbezogenen Elemente werden nicht aufgegriffen, ein systematischer Vergleich fehlt. I n keinem prozeßrechtlichen Zusammenhang versteht das Grundgesetz sonst unter dem Begriff „Gesetz" Normen der Verfassung. Es läßt sich m i t dem Wortlaut von A r t . 100 Abs. 1 GG kaum mehr vereinbaren, eine Vorschrift des Grundgesetzes i m Vorlageverfahren zu prüfen. Da der Normtext des A r t . 100 Abs. 1 GG zwischen Gesetzesrecht und Verfassungsrecht unterscheidet, dürfte die rechtsstaatliche Grenzfunktion des Wortlauts hier überspielt worden sein. Der Senat schafft sich eigenmächtig die Voraussetzungen dafür, A r t . 100 Abs. 1 GG anwenden zu können. Er konstruiert zu diesem Zweck zwei Ebenen. Da A r t . 117 Abs. 1 GG (2. Halbsatz) Verfassungsrecht ist, müssen Normen, an denen er gemessen werden kann, u m einen Rang erhöht werden. I n A r t . 100 Abs. 1 GG ist weder von der Überprüfung von Verfassungsrecht noch von einer Prüfung am Maßstab überpositiven Rechts die Rede. Auf eine Weise, die m i t dem Normtext nicht mehr vereinbar erscheint, erzeugt sich das Gericht sowohl eine „Gesetzes"ebene als auch eine gegenüber dem Grundgesetz höherrangige Stufe von Maßstabsnormen. los BVerfGE 2, S. 380, 403 ff.

54

2 Analyse der Rechtsprechung

Es ist zu fragen, was der Senat mit seiner bedenklichen Argumentation gewinnen möchte. Hätte er A r t . 100 Abs. 1 GG korrekt ausgelegt, so hätte er sich für Vorlagefragen dieser A r t allgemein als unzuständig bezeichnen müssen. Er hat ausdrücklich befürchtet, andere Gerichte könnten es weniger genau nehmen und Verfassungsnormen an höherrangigem Recht überprüfen. Neben diesem entscheidenden Motiv wollte der Senat w o h l auch die Gelegenheit ergreifen, rechtspolitische Bemerkungen zum Grundsatz der Gleichberechtigung und zum Verhältnis von A r t . 3 Abs. 2 zu 6 Abs. 1 GG zu machen 107 . Da es sich um ein Vorlageverfahren handelte, kann der Senat auch mögliche Folgen einer methodisch korrekten Entscheidung erwogen haben. Das Oberlandesgericht hätte wahrscheinlich i m Anschluß an das Südweststaats-Urteil den umstrittenen Bestandteil des A r t . 117 Abs. 1 GG für nichtig gehalten. Weil A r t . 117 Abs. 1 GG eine doppelte Ausnahme von A r t . 3 Abs. 2 GG enthält, wäre dann der erste Halbsatz dieser Norm maßgebend gewesen und das Oberlandesgericht hätte, rechtspolitisch sicherlich nicht i m Sinn des Bundesverfassungsgerichts, das alte Eherecht angewandt. Da die damalige Rechtsprechung die Frage überwiegend anders sah als das vorlegende Oberlandesgericht, hätte das offenbar befürchtete Rechtschaos drohen können. Es war dann i n der Sicht des Senats noch besser, die Vorlage gegen den Normtext von A r t . 100 Abs. 1 GG für zulässig zu erklären und andere Möglichkeiten, so eine etwaige Verfassungsbeschwerde nach Erschöpfen des Rechtswegs, nicht erst abzuwarten. Diese Funktion also hat die untersuchte Sequenz für die Urteilsgründe. Die Funktion des Arguments aus der Einheit der Verfassung für diesen Arbeitsvorgang ist dabei konträr zur bisher untersuchten Rechtsprechung. Der Erste Senat hätte m i t der Version einer Einheit des Grundgesetzes i m Sinn des Zweiten Senats leicht sein Ziel erreichen können. Statt dessen argumentiert er so, daß er es auf mühsamere A r t trotz der Sicht des Grundgesetzes als einer Einheit erreicht. Das Verhältnis beider Positionen zueinander klärt sich durch die Frage, was das Gericht hier tatsächlich tut. Prüft es Verfassungsrecht an anderem Verfassungsrecht oder an überpositiven Normen? Folgt man der sprachlichen Gestalt der Aussagen, so bleibt das widersprüchlich. Rechtssicherheit und Gewaltenteilung erscheinen als rechtsstaatliche Grundsätze; als grundlegende Gerechtigkeitspostulate, „die zu den Grundentscheidungen dieser Verfassung selbst gehören", die der Verfassunggeber i m Grundgesetz positiviert hat 1 0 8 . Auf der anderen Seite sollen auch sonstige „Rechtsquellenbereiche" jedenfalls i m Prinzip offen bleiben und sollen Grundsätze, die wenn schon nicht vom Ersten Senat, so doch „vielfach 107 Ebd., S. 238 f., 240 ff . zur Gleichberechtigung; S. 241 f. zum Verhältnis von A r t . 3 Abs. 2 u n d 6 Abs. 1 GG. 108 Ebd., S. 237, 247, 225 Leitsatz 2, 233.

2.3 Systematische Argumentation

55

als übergesetzlich bezeichnet werden", durch Positivierung ihren „besonderen Charakter" nicht einbüßen 109 . Das Gericht prüft die Fallfrage dann so, daß Rechtssicherheit und Gewaltenteilung i m technischen Sinn als Normen des Verfassungsrechts und nicht als überpositive Vorschriften behandelt werden. Als theoretische Unterstellung 1 1 0 bleibt ihre überpositive Herkunft für den Senat aber deshalb wichtig, damit er seine positivrechtlich fragwürdige These zur Zulässigkeit des Verfahrens formal aufrechterhalten kann. Wegen seiner abweichenden Funktion erhält der Gedanke der Einheit der Verfassung i m Gleichberechtigungs-Urteil einen wesentlich anderen Inhalt als i n der Judikatur des Zweiten Senats. Grundsätzlich, das heißt außerhalb von verfassungsgeschichtlichen Extremfällen, die i m Fall des Parlamentarischen Rats und des Grundgesetzes praktisch ausgeschlossen werden können, sind Verfassungsnormen untereinander von gleichem Rang. Verschiedenes Gewicht, verschiedene Reichweite, unterschiedliche Gesetzesfestigkeit und selbst abgestufte Bestandskraft gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber stellen die Ranggleichheit nicht i n Frage. Deswegen sind i m Normalfall Verfassungsnormen auch nicht aneinander meßbar. Gegenüber der Judikatur seit dem Südweststaats-Urteil w i r d das Verhältnis von Regel und Ausnahme umgekehrt. Dort ist das Messen von Grundgesetznormen aneinander unter dem Aspekt grundsatzkonformer Verfassungsauslegung normale Pflicht, für das Gleichberechtigungs-Urteil ist es „grundsätzlich nicht denkbar" 1 1 1 . Praktisch w i r d der Gegensatz zum Zweiten Senat daran i n seiner Schärfe deutlich, daß nicht einmal die Ubergangsnorm des Art. 117 als gegenüber A r t . 1 Abs. 3 GG niederrangig bezeichnet und daß ferner m i t A r t . 79 Abs. 3 GG entgegengesetzt argumentiert wird. Das Südweststaats-Urteil folgert den Rangunterschied zwischen Verfassungsgrundsätzen und sämtlichen einzelnen Normen des Grundgesetzes gerade aus der Sicht der Verfassung als einer Einheit, das Gleichberechtigungs-Urteil kehrt diese Überlegung um. Der Erste Senat läßt dem Verfassunggeber die Befugnis, Verfassungsfragen positivrechtlich zu regeln. Alle i n K r a f t gesetzten Normen der Verfassung haben i n gleicher Weise an dieser Positivität teil. Nicht nur diejenigen sind als geltend zu behandeln, die Ausdruck überpositiver Prinzipien oder die solchen gegenüber neutral sind, sondern auch grundsatzwidrige; sie gehen als spezielle Ausnahmen der allgemeinen Norm vor. Das Einschränken dieser positivrechtlichen Position durch die genannten Überlegungen klingt wie ein Zugeständnis an die naturrechtliche Gestimmtheit der Zeit, 109 Ebd., S. 230, 233; die konkrete Prüfung am Maßstab der Rechtssicherheit und der Gewaltenteilung ebd., S. 237 ff., 247 f. 110 Vgl. dazu ebd., S. 233, 234. 111 Ebd., S. 231.

56

2 Analyse der Rechtsprechung

wie eine eher pflichtgemäße Distanzierung vom Gesetzespositivismus. I n ihrer Funktion für das U r t e i l sind diese mehr als nur Ausdruck der Courtoisie gegenüber einer damals führenden Meinung und dem unzart behandelten Parallelsenat. Sie sollen dem Gericht, abweichend vom Grundgesetz, eine erweiterte Zuständigkeit i m Vorlageverfahren aus Gründen sichern, die jedenfalls auch i n der besonderen Situation zu suchen sind, die das Schweigen des Gesetzgebers über den Endtermin des A r t . 117 Abs. 1 GG (2. Halbsatz) hinaus geschaffen hatte. Daß das Gleichberechtigungs-Urteil zwar eine frühe Entscheidung des Bundesgerichtshofs i n Zivilsachen, nicht aber das SüdweststaatsU r t e i l nennt, deutet eher auf betretenes Schweigen angesichts der Grundsätzlichkeit des Gegensatzes als auf Unkenntnis der Praxis des Parallelsenats. Sachlich wollte der Erste von der i n einer Entscheidung des anderen Senats enthaltenen Rechtsauffassung abweichen; er hätte nach § 16 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine Entscheidung des Plenums herbeiführen müssen. Diese Frage w i r d nicht aufgegriffen. Dagegen meinte der Bayerische Verfassungsgerichtshof offenbar, solche Rücksicht nicht nehmen zu brauchen. Er hat den Widerspruch zwischen beiden Positionen zum Thema gemacht und sich für den Bereich der Bayerischen Verfassung auf die Seite des Südweststaats-Urteils und ausdrücklich gegen die Konzeption des Ersten Senats gestellt 112 . Das Argument aus der Einheit der Verfassung hat sich i m Gleichberechtigungs-Urteil erheblich verändert. Gleich erscheint nur das prozessuale Ergebnis einer Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts dafür, auch Verfassungsnormen zu prüfen und unter Umständen für nichtig zu erklären. Doch spielt die Sicht des Grundgesetzes als einer Einheit für dieses Ergebnis i n beiden Fällen eine entgegengesetzte Rolle. Außerdem unterscheiden sich der theoretische und dogmatische Ansatz. Für die Frage der Denkbarkeit gegen höherrangige Grundsätze verstoßender und damit verfassungswidriger Verfassungsnormen w i r d das Verhältnis von Ausnahme und Regel umgekehrt. Das Einheitsargument w i r d gegenläufig verwertet: Anders als i m SüdweststaatsUrteil ist die theoretisch-dogmatische Position hier nicht aus der Einheit der Verfassung, sondern trotz dieser m i t verfassungspolitischen und mit damals verbreiteten rechtsphilosophischen Aspekten normunabhängig begründet. Die Einheitsthese ist damit von der Behauptung eines Rangunterschieds i m Verfassungsrecht entlastet. Sie w i r d an zwei Stellen des Urteils i n neuer Funktion entwickelt: einander scheinbar widersprechende Verfassungsnormen miteinander in Einklang zu bringen, soweit das m i t den M i t t e l n normaler Auslegung möglich ist. Das Gericht hat dies für das Verhältnis von A r t . 3 Abs. 2 zu 6 Abs. 1 GG m i t Hilfe von 112

B a y V f G H 11, S. 127 u n d ff., 132 ff., 136 f.

2.3 Systematische Argumentation

57

historischen (zu A r t . 119 Abs. 1 WRV), genetischen, allgemein systematischen und vor allem m i t Normbereichs-Elementen („Natur des jeweiligen Lebensverhältnisses") i n knappem Ansatz durchgeführt 113 . Der Erste Senat hat sich zur entfernten Denkbarkeit verfassungswidriger Verfassungsnormen eher noch zurückhaltender i m Beschluß zur situationsbedingten Gewissensentscheidung von Kriegsdienstverweigerern 114 geäußert. Es geht dort i n diesem Zusammenhang u m die Frage, ob das verfassungsändernde Gesetz vom 26. März 1954 (BGBl. I S. 45) durch Einfügen des Zusatzes über die Wehrpflicht i n A r t . 73 Nr. 1 GG eine verfassungswidrige Verfassungsnorm geschaffen habe. Der Senat referiert dazu die Rechtsansicht, die Ermächtigung, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen, verstoße gegen das Gebot der Achtung der Menschenwürde, gegen die Pflicht zur Wiedervereinigung und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns und damit gegen übergeordnetes Verfassungsrecht. Er erwähnt die Grundsatzfrage aber nicht einmal i n dem abgeschwächten Sinn des GleichberechtigungsUrteils. Vielmehr begründet er sogleich, warum die allgemeine Wehrpflicht als Institut weder gegen die Menschenwürde noch gegen die sonstigen Grundlagen des „verfassungsrechtlichen Wertsystems" verstoße. Diese Prüfung ist nicht deshalb ohne Basis, w e i l auf die Grundsatzfrage nicht mehr eingegangen wird. Der Fall des A r t . 79 Abs. 3 GG hat m i t dieser Frage nichts zu tun. W i r d ein verfassungsänderndes Gesetz inhaltlich überprüft, so nicht als unter Umständen verfassungswidrige Verfassungsnorm, sondern als vielleicht verfassungswidrige Gesetzesnorm. Das Gleichberechtigungs-Urteil hatte zu Recht das Argument des Zweiten Senats für i r r i g erklärt, die Einheit der Verfassung i m Sinn eines Rangunterschieds m i t A r t . 79 Abs. 3 zu begründen. Jenes Urteil spricht folgerichtig denn auch stets vom „originären Verfassunggeber" und nicht vom verfassungsändernden Gesetzgeber 115 . Dagegen argumentiert das Bundesverfassungsgericht i n einer Gruppe von Fällen methodisch und dogmatisch korrekt, i n denen es vor dem Hintergrund einer Einheit der Verfassung einzelne Normen des Grundgesetzes systematisch m i t Verfassungsgrundsätzen verbindet, ohne Rangunterschiede zu behaupten. Eine Leitentscheidung dieser Gruppe bildet das Apotheken-Urteil 1 1 6 . Es interpretiert den Regelungsvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG für Berufswahl und Berufsausübung i n Stufen verschiedener Intensität und beruft sich dabei — sachlich ähn113

Ebd., S. 231, 241 f.; hierzu bereits Ehmke S. 118 f. 114 BVerfGE 12, S. 45 ff., 50 u n d ff. 115 BVerfGE 3, S. 225, 232, 236, 247. Iis BVerfGE 7, S. 377 f., 402 f.

V, S.80f.; F.Müller

III,

58

2 Analyse der Rechtsprechung

lieh wie beim Werkbereich und Wirkbereich der Freiheit der Kunst 1 1 7 — auf die Grundauffassungen des Grundgesetzes und das von i h m vorausgesetzte Menschenbild . Dieses zuerst i m SRP-Urteil, i m Investitionshilfe-Urteil und i m Elfes-Urteil 1 1 8 entworfene B i l d und Gleichnis, welches sich das Bundesverfassungsgericht vom Menschen unter dem Grundgesetz macht, fungiert in ständiger Rechtsprechung als systematisch heranzuziehender und i m Einzelfall Verfassungspositionen einschränkender Grundsatz. I m Beschluß zur Transfusionsverweigerung 119 begrenzt die „vom Grundgesetz anerkannte Gemeinschaftsbindung des Individuums" auch das ohne Vorbehalt gewährleistete Grundrecht aus A r t . 4 Abs. 1 GG. Das Menschenbild als Verfassungsgrundsatz w i r d vom Ersten Senat korrekt auf die Weise ins Spiel gebracht, daß nur von der Verfassung selbst bestimmte Grenzen eingeführt, daß also Relativierungen der Glaubensfreiheit durch unbestimmte Klauseln oder durch Unterverfassungsrecht ausgeschlossen werden. Es ist die Einheit der Verfassung, die „Einheit dieses grundlegenden Wertsystems" des Grundgesetzes, die es verhindert, ein ohne Vorbehalt gewährleistetes Grundrecht rechtsstaatswidrig einzuschränken. Die Glaubensfreiheit w i r d m i t Menschenwürde und Toleranzgebot verknüpft. I m Lebach-Urteil desselben Senats 120 ist das Menschenbild des Grundgesetzes systematisch m i t der Menschenwürde (als dem „Mittelpunkt des Wertsystems der Verfassung") derart verbunden, daß i n Konflikt geratene Verfassungspositionen, hier das Persönlichkeitsrecht und die Rundfunkfreiheit, miteinander möglichst ausgleichend vermittelt werden sollen. Der Senat geht auch hier von der Positivität aller beteiligten Verfassungsnormen und davon aus, keine von ihnen habe einen grundsätzlichen Vorrang. Es w i r d systematisch interpretiert, dogmatisch werden vor allem Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit als Bestandteile des Ubermaßverbots verarbeitet. Das Menschenbild des Grundgesetzes erscheint als Rechtsquelle, als ungeschriebene Norm von Verfassungsrang. Gewonnen w i r d sie aus grundlegenden Garantien wie Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG und aus Gruppengrundrechten durch verallgemeinernde Interpretation 1 2 1 . 117 BVerfGE 30, S. 173 ff., 188 f. u. ö., i m Anschluß an F. Müller I X , z. B. S. 70 ff., 97 ff., 103 ff. 118 BVerfGE 2, S. 1 ff., 12; 4, S. 7 ff., 15 f.; 6, S. 32 ff., 40. 119 BVerfGE 32, S. 98 ff., 107 f. 120 BVerfGE 35, S. 202, 225 f. 121 Hesse V I , S.49f. m. N w . : Der Mensch als Person und zugleich als Glied v o n Gemeinschaften, von Ehe u n d Familie (Art. 6 GG), Religionsgesellschaften (Art. 140 GG), sozialen und politischen Gruppen (Art. 9, 21 GG), der Gemeinden (Art. 28 Abs. 2 GG) und allgemein des Staates; vgl. auch ebd. den Hinweis auf A r t . 1 Abs. 2 GG und damit auf die Menschenrechte „als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft". — Z u m Menschenbild des Grundgesetzes kritisch Denninger I, S. 11 ff., 19 ff., 28 ff.

2.3 Systematische Argumentation

59

Sowohl das Lebach-Urteil als auch der Beschluß zur Transfusionsverweigerung stehen i n der neueren Tradition des Ersten Senats seit der Mephisto-Entscheidung 122 . Dort war die Freiheit der Kunst als vorbehaltlos garantiertes Grundrecht m i t dem verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsbereich zu vermitteln. Der Senat interpretiert auch hier systematisch, wobei er vor allem die Menschenwürde und das Menschenbild heranzieht. Diese Entscheidung markierte eine wichtige Station i n der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts dadurch, daß die verbindlich abgestufte Systematik von Garantie und Vorbehalt i m Grundrechtsteil des Grundgesetzes dogmatisch und methodisch beim Wort genommen worden ist: Das ohne Vorbehalt gewährte Grundrecht der freien Kunst ist aus den Strukturmerkmalen seines Normbereichs, von seinem spezifischen Sachgehalt her zu bestimmen. Es ist nicht zulässig, die Schranken anderer Grundrechte, etwa die des A r t . 5 Abs. 1 auf dem Weg über A r t . 5 Abs. 2 GG oder die Schrankentrias des A r t . 2 Abs. 1 GG, zu übertragen. Ebensowenig kann das Grundrecht „durch die allgemeine Rechtsordnung" oder „durch eine unbestimmte Klausel" i m Sinn des früher vom Bundesverwaltungsgericht und von Teilen der Literatur propagierten Gemeinschaftsvorbehalts eingeschränkt werden. Es ist die Einheit des Grundgesetzes (als einer „Wertordnung"), die solche normativen Konflikte durch Verfassungsauslegung zu lösen aufträgt. Kunstfreiheit, Menschenwürde und Menschenbild des Grundgesetzes werden zusammen m i t dem konfligierenden grundrechtlichen Persönlichkeitsschutz unter Gesichtspunkten des konkreten Falles gesehen und miteinander vermittelt 1 2 3 . I m übrigen fungieren nicht nur Menschenbild, Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht als Verfassungsgrundsätze, sondern stellt auch A r t . 5 Abs. 3 Satz 1 GG „eine das Verhältnis des Bereiches Kunst zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm" dar 1 2 4 . Solche Formulierungen sind vor dem Hintergrund des Wertverständnisses des Bundesverfassungsgerichts, seiner Deutung des Grundgesetzes als einer Werteordnung und der Grundrechte als eines von Werten getragenen Systems zu sehen. I n anderer Sprache ist damit die neben ihrem subjektiven Anspruchscharakter auch objektive Funktion der Grundrechte i m Staat des Grundgesetzes getroffen 125 . Die Grundrechte werden auch als Verfassungsgrundsätze dogmatisch und methodisch normal behandelt, vor allem systematisch 122

BVerfGE 30, S. 173 ff., 193, 195. BVerfGE 30, S. 173 ff., 188 ff. zum eigenständigen Normbereich der Kunstfreiheit; S. 191 ff. zur vorbehaltlosen Garantie; S. 193 f., 195 zur Rolle der Einheit der Verfassung; S. 195 ff. zur Abwägung der widerstreitenden Positionen i m Einzelfall; die hier hervorzuhebenden Aspekte werden nicht i n Frage gestellt von den Abweichenden Meinungen: ebd., S. 200 ff. u n d 218 ff. 124 Ebd., S. 173 Leitsatz 1, 188 u n d ff. 125 Zusammenfassend Hesse V I , S. 124 ff., 127 ff. m. Nw. 123

60

2 Analyse der Rechtsprechung

miteinander vermittelt. Sie und nicht-grundrechtliche Verfassungsgrundsätze bilden zwar kein zwingendes System, können aber inhaltlich zusammenhängen und einander ebenso einschränken wie ergänzen. Die Rede von der Einheit der Verfassung als der Einheit des so umschriebenen Wertsystems meint genau das 1 2 6 . Andere „das Grundgesetz beherrschende Gedanken" oder „Grundwerte der Verfassung" sind nach dem Versteigerungsfall des Zweiten Senats 127 der allgemeine Gleichheitssatz des A r t . 3 Abs. 1 GG als Auffangtatbestand, die Schutznorm für Ehe und Familie des Art. 6 Abs. 1 und als „elementares Grundrecht" und „Wertentscheidung des Grundgesetzes von besonderer Bedeutung" das Eigentum nach A r t . 14 Abs. 1. Staatliche Stellen haben beim Auslegen und Anwenden von Gesetzen, auch i m Verfahrensrecht, die „Ausstrahlung" solcher zu wertentscheidenden Grundsatznormen erhobenen Grundrechte zu beachten. Neben Rechtsstaat, Demokratie, Bundesstaat und allgemeinem Gleichheitssatz, neben einzelnen Grundrechten wie der Eigentumsfreiheit, der Kunstfreiheit und der Schutzgarantie für Ehe und Familie erscheint auch das Sozialstaatsprinzip unter den Grundsätzen oder Wertentscheidungen der Verfassung und sieht sich m i t ihnen zusammen als Teil eines auf „innere Widerspruchsfreiheit" angelegten „Sinnganzen" 128 . Der Sache nach werden alle thematisch passenden Verfassungsnormen herangezogen und anschließend nicht zuletzt systematisch interpretiert. Das sind aber die dogmatisch wie methodisch angezeigten und rechtsstaatlich geforderten normalen Arbeitsvorgänge i n Fällen dieses Typs. Ein wie auch immer geartetes, gar ein auf innere Widerspruchsfreiheit angelegtes Sinnganzes der Verfassung kommt dabei weder technisch noch inhaltlich ins Spiel. Es hat sachlich keinen Sinn, eine solche Operation m i t den Ausdrücken für eine Einheit der Verfassung zu versehen. Der Senat beruft sich i n der zuletzt genannten Entscheidung an zentraler Stelle auf den Soraya-Beschluß des anderen Senats 129 . Dort ist aber nicht von der Verfassung, sondern von der Rechtsordnung die Rede; auch geht es dort weniger u m Widerspruchsfreiheit als u m Lückenfüllung und vor allem nicht um systematisches Auslegen geschriebener Rechtssätze, sondern u m schöpferisches Erzeugen richterrechtlicher Normen. Neben dem rhetorischen Charakter der Formeln zur Einheit 126

Dazu auch Larenz, S. 331. BVerfGE 42, S. 64 ff., 72 ff., 74 f., 76 ff. 128 Beschluß des Zweiten Senats — Familienlastenausgleich —, BVerfGE 44, S. 249 ff., 267, 273: A r t . 33 Abs. 5 GG ist i n Zusammenhang m i t den i n Art. 6 GG u n d i m Sozialstaatsprinzip enthaltenen Wertentscheidungen der Verfassung zu sehen, so auch S. 250, Leitsatz 3; auch i m Rahmen von A r t . 33 Abs. 5 GG setzt sich der soziale Rechtsstaat gegen „hergebrachte soziale Realität" norm a t i v durch, S. 273; die Verfassung als „ein auf innere Widerspruchsfreiheit angelegtes Sinnganzes" findet sich ebd., S. 273 u. f. 129 BVerfGE 34, S. 269 ff., 287. 127

2.3 Systematische Argumentation

61

der Verfassung w i r d einmal mehr ihr leichthändiger Gebrauch als austauschbare sprachliche Versatzstücke für sachlich nicht vergleichbare Fälle deutlich. I m Ansatz ist die Spruchpraxis dieser Fallgruppe korrekt. Anlaß zur K r i t i k gibt es dort, wo das Gericht ohne normative Notwendigkeit und ohne dogmatischen und methodischen Nutzen Wertordnungen behauptet, Wertsysteme unterstellt und eine Einheit der Verfassung nebst den sie regelmäßig schmückenden Beiwörtern strapaziert. Dagegen hat der Ausdruck „Einheit der Verfassung" unter Umständen eine selbständige Aufgabe dort, wo i n der Tradition des Mephisto-Beschlusses die Begrenzbarkeit von Verfassungsnormen untereinander, besonders die von vorbehaltlos garantierten Grundrechten genauer gefaßt werden soll. Die Einheit der Verfassung i n diesem Sinn w i r d neuerdings i m Beschluß des Ersten Senats zur Überlegungsfrist bei Kirchenaustritt und zur Nachbesteuerung i m Kirchensteuerrecht herausgearbeitet 1 3 0 : Die Grundrechte des A r t . 4 Abs. 1 und 2 GG können nur durch Vorschriften des Grundgesetzes beschränkt werden. Sind es gesetzliche Bestimmungen, die ihnen gegenüberstehen, so sind sie nur als nicht konstitutive Ausgestaltungen einer Grenze verfassungsmäßig, die das Grundgesetz bereits selbst normiert hat. W i r d die Einheit der Verfassung vom Zweiten Senat für höher- und niederrangiges Verfassungsrecht ins Feld geführt, so hält dagegen diese rechtsstaatlich nüchterne Judikatur die Ranggleichheit der von der Einheitsthese verarbeiteten Normen auch nach der anderen Seite hin fest: Allgemeine Rechtsgedanken und Rechtsgrundsätze — wie hier zum Beendigen von Dauerrechtsverhältnissen — können die Freiheiten des A r t . 4 GG dann nicht einschränken, wenn sie nicht nachweislich verfassungsrechtlichen Rang haben 131 . Ein deutliches Beispiel dafür, wie systematische Interpretation als Argument aus der Einheit der Verfassung oder auf eine solche h i n überbewertet wird, bietet schon i n den Fünfziger Jahren das Konkordats-Urteil 1 3 2 . Die lex Reichskonkordat des Art. 123 Abs. 2 GG w i r d dort vom Zweiten Senat, i n Perspektive auf das viel kritisierte Ergebnis des Urteils hin, von Anfang an minimalisiert. Der Senat beruft sich auf die systematische Stellung der Vorschrift und auf die Notwendigkeit, sie mit anderen Verfassungsbestimmungen i n Einklang zu bringen. Die These, der A r t i k e l ordne nicht nur die Fortgeltung des fraglichen Rechts, sondern auch eine Bindung des Landesgesetzgebers an Vertrags130 BVerfGE 44, S. 37 ff., 49 f., 53, 55. 131 BVerfGE 44, S. 37 ff., 53, 55. — Vgl. nochmals die Bemerkung am A n fang von 2.31 zu BVerfGE 1, S. 208 ff., 227 f. und zu B a y V f G H 20, S. 36 ff., 44: oben S.49. 132 BVerfGE 6, S. 309 ff., hier besonders S. 344, 346, 361, 364.

62

2 Analyse der Rechtsprechung

recht an, w i r d i m Vorgriff als Widerspruch zur sonstigen Gestaltung des Verhältnisses von Bund und Ländern durch das Grundgesetz abgewiesen. Dabei könnte doch A r t . 123 Abs. 2 GG, systematisch gesehen, eine Spezialvorschrift sein. „Der" Bundesstaat w i r d dieser Einzelnorm aber blockhaft gegenübergestellt und übergeordnet. Eine systematische Auslegung, die diesen Namen verdient, müßte den A r t . 123 Abs. 2 GG von Anfang an als gleichrangige Verfassungsnorm einbeziehen 133 . K u l turhoheit und Schulhoheit, unversehens zum „Kernstück der Eigenstaatlichkeit der Länder" befördert, werden als „Grundentscheidungen des Grundgesetzes" der genannten möglichen Auslegung des A r t . 123 Abs. 2 einseitig entgegengehalten. Nachdem der Senat das Ergebnis des Falles dahin formuliert hat, aus dem Grundgesetz lasse sich keine Pflicht der Länder gegenüber dem Bund herleiten, i n ihrer Gesetzgebung die Schulbestimmungen des Reichskonkordats einzuhalten 134 , w i r d nicht zum ersten M a l auf dem Weg einer nachgeschobenen Rechtfertigung die „innere Harmonie des Verfassungswerks" beschworen, von der beim Auslegen des Grundgesetzes ausgegangen werden müsse. Wieder erscheint die Schulhoheit als Ausdruck einer demokratisch föderalistischen Ordnung („an Stelle einer einheitsstaatlichen Diktat u r " — als ob das die einzige Alternative wäre!), als eine der „Grundentscheidungen dieses Verfassungswerks", die ein abweichendes Ergebnis schlechthin ausschließe. Weit davon entfernt, den Gedanken der Einheit der Verfassung für harmonisierende Interpretation i m Sinn der Praxis des Ersten Senats seit dem Gleichberechtigungs-Urteil einzusetzen, hat das Gericht hier nicht einmal vollständig systematisch ausgelegt. Das Verhältnis von Bund und Ländern ist nicht hinreichend erfaßt, die mögliche Funktion der fraglichen Norm, die Länder beim Ausüben ihrer Kompetenzen zu binden, nicht ernstlich untersucht worden. Nach demselben Muster verfährt der Senat auch i m folgenden. Nunmehr soll der Verfassungsgrundsatz der Bundestreue aufgestellt werden. Er kann „nur aus der Zusammenschau m i t allen anderen Verfassungsnormen", die das Verhältnis von Bund und Ländern regeln, richtig verstanden wTerden. Die hier thematisch aussagekräftigen Normen werden aber weder i m einzelnen noch auch vollständig erfaßt. Die geforderte Zusammenschau, konkret verstanden, unterbleibt. Die A n t w o r t w i r d wiederum dem „Gesamtgehalt der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland" 135 entnommen. Die Sicht des Grundgesetzes als einer Einheit ist i m Unterschied zu den bisher i n diesem Abschnitt besprochenen Judikaten i m Konkordats-Urteil 133

Z u r eingehenden methodischen K r i t i k am Konkordats-Urteil F. Müller I V , S. 84 ff. 134 BVerfGE 6, S. 309 ff., 353 u. ff. 135 BVerfGE 6, S. 309 ff., 361 und ff., 364.

2.3 Systematische Argumentation

63

nicht mehr als ein Postulat. Wäre es eingelöst worden, so hätte es sich wieder u m systematische Interpretation gehandelt. Diese m i t dem Ausdruck „Einheit der Verfassung" zu benennen, wäre überflüssig gewesen. Die großen Worte hatten aber die rhetorische Funktion, eine Schritt für Schritt vorgehende vollständige systematische Interpretation teilweise zu ersetzen. A n den Ubergang von systematischer Argumentation m i t Verfassungsgrundsätzen zu einfacher systematischer Auslegung erinnert etwa das Contergan-Urteil des Ersten Senats 135 . Das Gericht prüft dort Gesetzesnormen, die i m Sinn von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmen, nämlich die einzelnen Vorschriften des Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder" von 1971. Diese müssen das die Verfassung beherrschende Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und den allgemeinen Gleichheitssatz — also i m Sinn der Rechtsprechung zwei Verfassungsgrundsätze —, aber auch „alle übrigen Verfassungsnormen" beachten. Fälle wie dieser unterscheiden sich dadurch von systematischer Interpretation m i t Grundsätzen, daß i n ihnen Unterverfassungsrecht an Verfassungsrecht gemessen wird. Es geht also hier, eine Stufe niedriger als i n der Tradition des Südweststaats-Urteils, nur noch i m Verhältnis von A r t . 14 Abs. 1 Satz 1 GG zu anderen hier thematisch passenden Verfassungsnormen um systematische, dagegen zwischen diesen und dem zu messenden Gesetz u m konforme Interpretation. Ein derartiges Mischungsverhältnis findet sich häufig. So war es i m Urteil zur badischen Kirchenbausteuer nicht vorrangig darum gegangen, A r t . 137 Abs. 6 WRV m i t Art. 4 und dem Neutralitätsgebot des Grundgesetzes zu vermitteln, sondern darum, auf Grund des Kirchensteuerartikels erlassene landesrechtliche Normen an Glaubensfreiheit und Neutralitätsgebot zu messen. 2.32 Einfache systematische Interpretation Schon beim Beschluß des Zweiten Senats zum Familienlastenausgleich 137 war deutlich geworden, wie Bezeichnungen des Grundgesetzes als Sinnganzes oder als widerspruchsfreie Einheit i m konkreten Fall nichts anderes zu benennen hatten als den Vorgang einer systematischen Interpretation. Es war dort darum gegangen, die Norm über die Beachtung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums, Art. 33 Abs. 5 GG, m i t dem Sozialstaatsgrundsatz und der objektiv-rechtlichen Komponente von Art. 6 Abs. 1 GG zu verknüpfen. Für das Gericht waren die systematisch herangezogenen Normen in ihrer Qualität als Grundsätze („Grundwertentscheidungen") ins Spiel gekommen. iss BVerfGE 42, S. 263 ff., 305. ist BVerfGE 44, S. 249 ff., hier v. a. S. 273 f.

64

2 Analyse der Rechtsprechung

Eine Gruppe von Fällen aus der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts wie des Bundesverwaltungsgerichts zeichnet sich dadurch aus, die Sicht der Verfassung (oder der Rechtsordnung) als einer Einheit für eine mehr oder weniger genau durchgeführte systematische Interpretation ohne Grundsatznormen i n Anspruch zu nehmen. So hat sich das Bundesverwaltungsgericht i n einem Urteil von 1968136 auf die „Harmonie i n der Gesamt-Rechtsordnung" berufen, um zu begründen, daß für die Lösung des Munitionsanstalts-Falles gleichzeitig Normen verschiedener Rechtsgebiete heranzuziehen waren. Es ging dort u m die Polizeipflicht der hoheitlichen Verwaltung des Bundes (als Bundeswehr) auf Grund von Landesrecht. Die Bundesrepublik Deutschland hatte darauf geklagt, einen Verwaltungsakt aufzuheben, durch den ein ihr gehörendes Geländestück i n das Waldverzeichnis aufgenommen und der Forsthoheit des Staates unterstellt worden war. Das Gericht führt aus, nicht nur allgemein gültige Rechtsgrundsätze, sondern auch die i n verschiedenen typisierbaren Lebensbereichen geltenden „nach Rechtsmaterien aufgeteilt e ^ ) Normengruppen" seien als Teile einer Gesamtrechtsordnung anzusehen. Vorschriften der verschiedenen Rechtsmaterien stießen in der tatsächlichen Praxis vielfach zusammen, könnten auch miteinander kollidieren oder konkurrieren. Auch „fachfremdes" Recht binde die Träger öffentlicher Aufgaben und ihre Organe bei der hoheitlichen Tätigkeit. Die i m Einzelfall zusammenstoßenden öffentlichen Interessen seien gegeneinander abzuwägen 139 . Die Harmonie der Gesamtrechtsordnung hätte für dieses Argument nicht bemüht zu werden brauchen. Ist eine staatliche Stelle an Rechtsnormen gebunden, so stets ohne Rücksicht auf nicht-normative Gruppenbildung unter den Vorschriften, seien die Gesichtspunkte didaktischer, dogmatischer, bloß herkömmlicher oder auch kodifikatorischer Art. Eine Rechtsvorschrift gilt nach Maßgabe ihres Normprogramms und Normbereichs. Damit w i r k t sie über ihre Rechtsmaterie hinaus. Die Gruppierung hat keinen rechtlich ausschließenden Charakter. Die Norm gilt und bindet als Bestandteil der positiven Rechtsordnung. I m Rechtsstaat ist diese Aussage trivial. Sie ist die Grundlage dafür, daß über die Grenzen 138 B V e r w G E 29, S. 52 ff., 56 f. 139

Ebd., S. 58. Wenn das Gericht ebd. davon spricht, es spiele keine Rolle, „auf welcher Normsetzungsebene" die fraglichen Normen entstanden seien, so ist das mißverständlich: Gemeint ist nicht „Ebene" i m Sinn von Rangstufe, sondern Rechtsmaterie. — Dagegen ging es i m U r t e i l des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts zum nordrhein-westfälischen Beanstandungsgesetz i n Haftentschädigungssachen, BVerfGE 2, S. 380 ff., 403 ff., zwar auch unter dem Etikett der innerlich zusammengehaltenen Verfassungsordnung, der „allgemeinen Grundsätze und Leitideen" und des „vorverfassungsmäßigen Gesamtbilds" der Sache nach darum, alle thematisch einschlägigen Verfassungsnormen heranzuziehen, aber als Maßstab für Gesetze. Es handelte sich also auch dort u m einen N u l l - F a l l , aber nicht f ü r systematische Verfassungsauslegung, sondern für das Messen rangverschiedenen Rechts.

2.3 Systematische Argumentation

65

der Kodifikation oder des Einzelgesetzes hinweg systematisch interpretiert werden darf; und es ist weiter vorausgesetzt, daß alle einschlägigen, also alle thematisch aussagekräftigen Normen heranzuziehen sind. Dafür hat hier das Bundesverwaltungsgericht auf eine Harmonie der Rechtsordnung hinweisen zu müssen gemeint. Ob die Entscheidungsnorm sich i n ein so naiv gezeichnetes B i l d einfügen w i r d oder nicht, ist erst eine Frage der darauf folgenden Konkretisierung 1 4 0 . Die vom Bundesverwaltungsgericht gemeinte Operation gehört noch zu keinem der hauptsächlichen Typen systematischer Auslegung. Sie muß einer solchen vorhergehen und ist sozusagen ihr Null-Fall. Der Hinweis auf die Positivität der herangezogenen Vorschriften und darauf, daß A r t . 20 Abs. 3 GG seinen Normbereich nicht i m Hinblick auf einzelne Rechtsmaterien einschränkt, hätte genügt. Das Bundesverwaltungsgericht berief sich bei dieser Argumentation i m Munitionsanstalts-Fall auf ein inzwischen hundertjähriges Urteil des Preußischen Ober Verwaltungsgerichts 141. Damals war es i n einem Manöverfall darum gegangen, wie weit Ortspolizeibehörden gegen Truppenübungen einschreiten können. Das Gericht hatte mit Hilfe theoretischer Konkretisierungselemente den Gedanken der Einheit der vollziehenden Gewalt entwickelt und ausgeführt, „derartige Kollisionsfälle" seien von der Rechtsordnung i n aller Regel nicht durch absoluten Vorrang einer der beiden Positionen bereits gelöst; es komme „regelmäßig auf einen Ausgleich der kollidierenden öffentlichen Interessen" i n Richtung auf das Gemeinwohl an. Die oft auch so genannte Einheit der Verwaltung ist ein selbständiger Gesichtspunkt und mit einer Einheit der Verfassung oder der vermeintlich harmonischen Gesamtrechtsordnung nicht schon deshalb gleichzuschalten, weil in all diesen Fällen das große Wort von der Einheit auftaucht. Ein anderer Senat des Bundesverwaltungsgerichts hatte in einem etwas früheren Urteil 1 4 2 ausdrücklich auf die Einheit der Verfassung und ihren Gesamtinhalt i m Sinn der Judikatur des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, und zwar im Anschluß an dessen Urteil zum schleswig-holsteinischen Landeswahlgesetz 143 , zurückgegriffen. Es ging dort um die Frage, ob den Gemeinden durch Gesetz das Überschreiten von tariflichen Lohnsätzen für den öffentlichen Dienst untersagt werden konnte. Das Gericht hatte die fraglichen Bestimmungen am Tarifvertragsgesetz zu prüfen. Dafür war vorauszusetzen, daß dieses ein Bundesgesetz ist. Der Senat sieht zwischen Art. 74 Nr. 12 GG (Arbeitsrecht ein140 Z u den beiden Hauptfällen systematischer Interpretation F. Müller S. 163 f. Hl PrOVGE 2, S. 399 ff., 408 f. v o m 5. M a i 1877. 142 B V e r w G E 18, S. 135 ff., 137 f. 143 BVerfGE 1, S. 208 ff., 227 f.

5 F. M ü l l e r

X,

66

2 Analyse der Rechtsprechung

schließlich der Betriebsverfassung, des Arbeitsschutzes und der Arbeitsvermittlung, Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung) und A r t . 75 Nr. 1 GG (die Rechtsverhältnisse der i m öffentlichen Dienst der Länder, Gemeinden und anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts stehenden Personen) zunächst den Anschein eines Widerspruchs. Dieser „löst sich jedoch auf, wenn die Verfassung als Einheit betrachtet und nicht jeder A r t i k e l des Grundgesetzes isoliert ausgelegt wird, sondern aus dem Gesamtinhalt der Verfassung Grundsätze abgeleitet werden, die ihr vorausliegen": Die Rechtsverhältnisse der Angestellten des öffentlichen Dienstes richteten sich als privatrechtlich zustandegekommene Arbeitsverhältnisse grundsätzlich nach allgemeinem Arbeitsrecht. Der Bund habe hier die konkurrierende Zuständigkeit nach A r t . 74 Nr. 12 GG. Dagegen seien diese Dienstverhältnisse insoweit nach beamtenrechtlichen Grundsätzen geregelt, als sie durch typisch öffentlich-rechtliche Figuren ausgestaltet seien, also etwa in Fragen der Amtsverschwiegenheit, der Nebentätigkeit oder der Verfassungstreue. Diese Sequenz zeigt nicht im einzelnen, wie hier gearbeitet und wie das Ergebnis normativ festgemacht wurde. Tatsächlich interpretiert der Senat die beiden Kompetenzvorschriften systematisch mit Hilfe normgestützt dogmatischer Elemente; die Kompetenzmaterien werden dabei vor allem durch rechtserzeugte Normbereichs-Elemente abgegrenzt, wie es sich bei Normen dieses Typs anbietet 144 . Was hier in der Sache nicht geschah, war der Rückgriff auf die Verfassung als eine Einheit, auf ihren Gesamtinhalt oder auf Grundsätze, die ihr vorausliegen. Daß nicht jeder A r t i k e l des Grundgesetzes isoliert auszulegen sei, ist die schlichteste Formel für systematische Auslegung. Es ist unnötig, diese m i t der Rede von einer Einheit der Verfassung zu schmücken. Von den Formen einfacher systematischer Interpretation hätten für das Argument besonders die anfällig sein können, in denen mit Übergangsnormen aus dem X I . Abschnitt des Grundgesetzes zu arbeiten war. Hier fällt aber auf, daß sich nur der Zweite Senat im SüdweststaatsUrteil, und zwar zu A r t . 118 GG, auf das Grundgesetz als eine Einheit berief 145 . Dagegen hat der Erste Senat zu Fragen des EntnazifizierungsArtikels 139 GG 1 4 6 , zur Übergangsnorm für den öffentlichen Dienst des Art. 131 GG 1 4 7 , zu Art. 117 GG im Gleichberechtigungs-Urteil 148 und zur Aufhebung von Beamtenrechten durch Art. 132 GG 1 4 9 auf eine Einheit, 144 Z u Normbereichen von Kompetenz Vorschriften: S. 124 f., 205 f. 145 BVerfGE 1, S. 14 ff., 32 f. 146 BVerfGE 1, S. 5 ff., 7. 147 BVerfGE 1, S. 167 ff., 177. 148 BVerfGE 3, S. 225 ff., 231 f. 149 BVerfGE 4, S. 294 ff., 296.

F. Müller

III,

z. B.

2.3 Systematische Argumentation

67

einen Gesamtsinn oder Gesamtinhalt des Grundgesetzes nicht zurückgegriffen. Die genannten Fälle wurden vielmehr ohne falsches Etikett m i t systematischen Elementen bearbeitet, die Übergangsnormen als spezielle Vorschriften behandelt 150 . Und i m Gleichberechtigungs-Urteil war das Argument „Einheit der Verfassung" nicht etwa für ein Unterwerfen des Art. 117 GG unter Verfassungsgrundsätze, sondern geradezu als Gegenargument verwendet und war A r t . 117 GG als verfassungstechnisch klare und i m Grundsatz auch legitime lex specialis zu Art. 1 Abs. 3 (i. V. m. A r t . 3 Abs. 2 GG) gesehen worden. Überhaupt ist die Fallgruppe, i n der die Sicht des Grundgesetzes als einer Einheit für einfache systematische Auslegung herhalten muß, eine Domäne des Zweiten Senats; und zwar obwohl gerade dieser eine überpositiv aufgeladene Variante der Einheitsthese entwickelt und gepflegt hat. Das gilt für die besprochene Entscheidung zum Familienlastenausgleich, für den Beschluß zum Verhältnis von Grundgesetz und inhaltsgleichem Landesverfassungsrecht 151 und für die Entscheidung zum Eideszwang 152 . I m Beschluß zum Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsrecht war es zunächst u m eine Besoldungsfrage gegangen. Der Fall kam zum Niedersächsischen Staatsgerichtshof. Dieser konnte die Vorlage nur dann für zulässig halten, wenn es um die Verletzung einer Norm der Landesverfassung ging. Der fragliche Art. 46 Abs. 2 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung stimmt aber wörtlich mit A r t . 33 Abs. 5 GG überein. Der Staatsgerichtshof legte seinerseits nach A r t . 100 Abs. 3 GG dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob Art. 31 GG, außer i m Fall von Art. 142 GG, auch m i t dem Bundesrecht übereinstimmendes Landesrecht ausschalte oder nicht. Der Zweite Senat prüft das zunächst m i t allgemeinen Ausführungen zum Bundesstaat. I n diesem hätten sowohl der Gesamtstaat als auch die Glieder Staatsqualität. Die Gliedstaaten hätten vollständige Verfassungen, nicht nur Verfassungsfragmente. Dieses sowohl theoretisch als auch dogmatisch aufbereitete Konkretisierungselement führt den Senat zu dem Schluß, das Verfassungsrecht der Länder und des Bundes beanspruche unabhängig voneinander in je verschiedenen Bereichen Geltung. Art. 31 GG, der nach herrschender Ansicht auch inhaltsgleiches Landesrecht aus dem Feld schlägt, müsse also hier nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung i m Zusammenhang m i t A r t . 28 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 GG konkretisiert werden. Die Fallfrage beantworte sich nach -diesen Normen, nicht 150 Ebenso korrekt arbeitet der Zweite Senat i m 131er-Urteil BVerfGE 15, S. 167 ff., 184. — Z u m Gleichberechtigungs-Urteil i n diesem Zusammenhang: BVerfGE 3, S. 225 ff., 232. 151 BVerfGE 36, S. 342 ff. 152 BVerfGE 33, S. 23 ff.

5*

68

2 Analyse der Rechtsprechung

nach Art. 31 GG. Art. 28 Abs. 1 GG fordere nur ein Mindestmaß an Homogenität, ermächtige aber i m übrigen die Länder, sich Verfassungen i m vollen Sinn zu geben. A r t . 31 GG als eine Kollisionen lösende Norm regiere den Fall nicht, w e i l eine Kollisionslage nicht entstehe. Der Sache nach wurde hier Art. 28 Abs. 1 GG mit theoretischen, dogmatischen und grammatischen Elementen konkretisiert. Er war systematisch heranzuziehen, um die Wirkung des Art. 31 GG auf den Fall zu präzisieren. Dabei ergab sich aber, daß Art. 28 Abs. 1 und nicht Art. 31 GG den Fall regiert. Der Senat hat also systematisch gearbeitet. Für den bestimmten und partiellen Zusammenhang der dafür herangezogenen Normen ist der Ausdruck „Einheit der Verfassung" zumindest überflüssig. Auf der Linie des Zweiten Senats ist er unrichtig, da totale Interdependenz, allseitiger Sinnzusammenhang i n einer solchen Lage nicht einmal behauptet werden. Die tatsächlich durchgeführte Operation ist korrekt und trägt die Entscheidungsnorm. Sie mit „Einheit der Verfassung" zu benennen, ist entbehrlich. Eher verwirrend ist es auch, daß Art. 31 GG hier als „Grundsatznorm" auftritt. Auch wenn er keine solche sein sollte, muß er i n einem Fall wie diesem herangezogen und systematisch verarbeitet werden. Er w i r d hier denn auch vom Senat nicht als höherrangiger Verfassungsgrundsatz, sondern als normale Vorschrift des Grundgesetzes von gleichem Rang wie Art. 28 GG behandelt. I m Eideszwang-Beschluß ging es darum, ob auch eine solche Glaubensüberzeugung durch A r t . 4 Abs. 1 GG geschützt wird, die aus religiösen Gründen selbst den ohne Anrufung Gottes geleisteten Zeugeneid ablehnt. Der Beschwerdeführer war vom Landgericht nach § 70 Abs. 1 Strafprozeßordnung zu einer Ordnungsstrafe und zu den Kosten der Eidesweigerung verurteilt worden. Das Bundesverfassungsgericht fragt zunächst, ob Gesetzesnormen, die zur Leistung eines Eides ohne Anrufen Gottes verpflichten, trotz Art. 140 i. V. m. Art. 136 Abs. 4 WRV m i t dem Grundgesetz vereinbar sind. Diese aus der Weimarer Reichsverfassung übernommene Norm begrenzt anderweitig begründete Eidespflichten. So ist der Eid, den nach A r t . 56 GG der Bundespräsident und nach Art. 64 Abs. 2 GG der Bundeskanzler und die Bundesminister zu leisten haben, dann als rein weltliches Gelöbnis zu werten, wenn er ohne Anrufen Gottes gesprochen wird. Diese systematische Auslegung von Art. 140 GG i. V. m. A r t . 136 Abs. 4 WRV auf der einen und Art. 56 und 64 Abs. 2 GG auf der anderen Seite begründet der Senat damit, die Verfassung sei als eine „einheitliche Ordnung" mit dem Ziel auszulegen, Widersprüche zwischen ihren einzelnen Regelungen zu vermeiden 153 . Würde Art. 56 GG auch für den ohne religiöse Beteuerung geleisteten Eid religiös „oder 153 BVerfGE 33, S. 23 ff., 27; die i m folgenden Text besprochenen schnitte ebd., S. 29, 30 ff., 32 f., 33 f.

Ab-

2.3 Systematische Argumentation

69

i n anderer Weise transzendent" verstanden, so stünde diese Norm im Widerspruch zu A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 136 Abs. 4 WRV. Damit dieser A r t i k e l sowie das Verfassungsgebot religiöser und weltanschaulicher Neutralität des Staates nicht bindenden Eidesvorschriften des Grundgesetzes widersprächen, könnten diese Eidesformen nur rein weltliche Bedeutung haben. Der Senat argumentiert rein systematisch. Der Gedanke der Verfassung als einer Einheit liefert für diesen Vorgang und sein Ergebnis kein selbständiges Argument. Die Sequenz ist aber dennoch aufschlußreich. Der Zweite Senat schwenkt auf die Linie des Ersten ein. Die Einheit der Verfassung w i r d jedenfalls hier nicht mehr als vorgegeben, sondern als aufgegeben formuliert. Das aus ihr folgende Interpretationsprinzip ist demnach nicht die Annahme eines Rangunterschieds i m Verfassungsrecht und das Gebot konformer Auslegung von Verfassungsnormen, sondern die Pflicht zu harmonisierender Interpretation einzelner Vorschriften des Grundgesetzes, die als ranggleich behandelt werden. Diese Fassung des Arguments war vom Ersten Senat, und zwar seit dem Gleichberechtigungs-Urteil 154 , entwickelt worden. Der Zweite Senat beruft sich aber nicht hierauf, sondern auf sein eigenes SüdweststaatsUrteil und auf die Entscheidung des Parallelsenats zur badischen Kirchenbausteuer. Beide Nachweise sind nicht korrekt; in beiden Fällen soll aus der Einheit des Grundgesetzes die Pflicht zu grundsatzkonformer Verfassungsauslegung auf der Basis der Vorrangthese folgen. Von dieser ist hier nicht die Rede, obwohl sich das Gebot religiöser und weltanschaulicher Neutralität des Staates durchaus als Verfassungs„grundsatz" hätte darstellen lassen. Der Senat ist wohl bemüht, seine bisherige Rechtsprechung zur Einheit der Verfassung möglichst unauffällig zu ändern (oder mindestens zu ergänzen). Auch sprachlich drückt er sich dieses Mal bemerkenswert diskret aus. Die fallbezogene Argumentation i m weiteren Verlauf der Entscheidung zeigt, daß der Zweite Senat auf ganzer Front u m den Anschluß bemüht ist: Das Grundrecht der Glaubensfreiheit darf weder durch „eine unbestimmte Güterabwägungsklausel" noch durch die allgemeine, das heißt die unterverfassungsrechtliche Rechtsordnung beschränkt werden. Grenzen darf nur die Verfassung als einheitliche Wertordnung setzen. Die Begrenzung ist stets auch i n Verbindung m i t der Menschenwürde zu sehen. Diese Aussage setzt die Judikatur zur systematischen Argumentation m i t (ranggleichen) Verfassungsgrundsätzen fort. Der rechtsstaatlich strikte Ausspruch über die Einschränkbarkeit vorbehaltlos garantierter Grundrechte schließt sich ausdrücklich an die entsprechende Praxis des Ersten Senats im Tabakfall und i m Beschluß zur 154

BVerfGE 3, S. 225 ff., 231, 241 f.

70

2 Analyse der Rechtsprechung

Transfusionsverweigerung an; auch der Mephisto-Beschluß gehört in diese Linie 1 5 5 . I m vorliegenden Fall interpretiert der Senat A r t . 4 Abs. 1 GG systematisch mit A r t . 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 4 WRV, m i t Art. 56 und 64 Abs. 2 GG, vergleicht i h n ferner systematisch mit Eidesvorschriften i n der Strafprozeßordnung und der Zivilprozeßordnung und legt die einschlägige Gesetzesnorm anschließend grundrechtskonform aus. Die systematische Interpretation der Glaubensfreiheit w i r d dann noch im Ansatz m i t A r t . 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 und 3 Abs. 1 GG sowie mit der Grundsatznorm für die Rechtspflege durchgeführt. Auch dieser Vorgang steht unter dem Motto der „Einheit" des „Wertsystems" der Verfassung 156 . Der Unterschied zu einfacher systematischer Auslegung unter demselben Titel, wie sie für das Verhältnis von A r t . 56 und 64 Abs. 2 GG zu A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 136 Abs. 4 WRV am Anfang des Beschlusses durchgeführt worden war, liegt darin, daß jetzt auf eine Einheit des Grundgesetzes hin und zu dem Zweck argumentiert wird, gleichrangige Verfassungsnormen gegenseitig zu begrenzen. Damit leitet der Beschluß mit diesem Teil seiner Begründung zur letzten Fallgruppe über.

2.4 Gegenseitige Begrenzung von Verfassungsrecht Es handelt sich auch hier u m systematisches Auslegen, das von der Rechtspraxis m i t „Einheit der Verfassung" und verwandten Ausdrücken verknüpft wird. Die Fälle dieser Gruppe unterscheiden sich von sonstiger systematischer Konkretisierung insofern, als sich i n ihnen gleichrangige Normen, nämlich Verfassungsvorschriften, so gegenüberstehen, daß sich ihre Normbereiche i n einem für den Fall erheblichen Teil überschneiden und daß die Normprogramme mindestens teilweise gegenläufig sind. I n diesen Fällen normativer Kollision oder allgemeiner: eines Konflikts zwischen gleichrangigen Normen werden an die Konkretisierung, nicht zuletzt an systematische Interpretation besondere Anforderungen gestellt. Es ist auf den ersten Blick verständlich, daß die Praxis den Gedanken des Grundgesetzes als einer Einheit i n solchen Situationen heranzieht. I n der bisherigen Rechtsprechung lassen sich zwei Gruppen derartiger Konflikte unterscheiden: Entweder stoßen Grundrechte verschiedener Berechtigter aufeinander und sind i m Blick auf eine für die Rechtsfolgen 155 Ebd., S. 29 u n d ff.; die dort genannten Entscheidungen sind: BVerfGE 12, S. 1 ff., 4; 32, S. 98 ff., 108; die Mephisto-Entscheidung: BVerfGE 30, S. 173ff., v. a. S. 193. — Den Übergang zur Arbeitsweise des Ersten Senats w i l l die Abweichende Meinung nicht mitvollziehen. Sie spricht global v o n „der verantwortlichen durch das Grundgesetz geschaffenen Gesamtordnung" und r ä u m t dogmatisch wie methodisch undifferenziert unter Berufung auf Sinn u n d Bedeutung der Bergpredigt „dem Wohl des Gemeinwesens", der „Schutzw ü r d i g k e i t des Gemeinwesens" den Vorrang ein; ebd., S. 35 ff., 36., 42. 156 BVerfGE 33, S. 23 ff., 29.

2.4 Gegenseitige Begrenzung von Verfassungsrecht

71

klare Entscheidungsnorm gegenseitig zu begrenzen oder sonst miteinander zu vermitteln. Oder der Konflikt spielt sich zwischen Grundrechten und Nicht-Grundrechten, also Normen des organisatorischen Teils der Verfassung, ab. Hierher gehörte bereits der Eideszwang-Beschluß. I n i h m war dem Grundrecht der Glaubensfreiheit aus A r t . 4 Abs. 1 GG nicht nur die übernommene grundrechtliche Norm des Art. 140 GG i. V. m. A r t . 136 Abs. 4 WRV entgegengehalten worden. Vielmehr schloß die systematische Argumentation neben A r t . 4 Abs. 1 GG auf der einen auch Vorschriften des organisatorischen Teils wie Art. 56 und 64 Abs. 2 GG auf der anderen Seite i n der Absicht ein, der als Zielbegriff einheitlichen Ordnung des Grundgesetzes zu genügen und Widersprüche zwischen einzelnen Regelungen zu vermeiden. Eine Leitentscheidung dieses Falltyps ist der Beschluß des Ersten Senats zum Verhältnis von Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung 1 5 7 . Es ging dort u m die Frage, ob Soldaten, über deren Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer noch nicht rechtskräftig entschieden war, für das Verweigern militärischer Dienstleistungen disziplinarisch belangt werden können. Der Senat hatte nachzuprüfen, ob die Auslegung des einfachen Rechts durch die Truppendienstgerichte, die das bejahten, m i t dem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 3 GG vereinbar ist. Der Senat meint, dafür lasse sich weder der Entstehungsgeschichte des Grundrechts noch dem Vergleich mit anderen Rechtsordnungen etwas entnehmen. I m Parlamentarischen Rat habe keine einheitliche Vorstellung i n bezug auf Einzelfragen geherrscht; allerdings setzt sich das Gericht m i t den dort vertretenen Argumenten nicht auseinander. Von einer „einheitlichen, klar erkennbaren Vorstellung des Grundgesetzgebers" bezüglich später auftauchender Einzelfragen kann aber auch sonst kaum je die Rede sein, ohne daß deshalb das genetische Element unterdrückt werden dürfte. Bemerkenswert hoch schraubt der Senat auch den Anspruch an das, was auf den ersten Blick nach einem rechtsvergleichenden Element aussieht. Eine allgemeine Rechtsüberzeugung, ein „international oder wenigstens i m westlichen Kulturbereich übereinstimmend definiertes Institut der Kriegsdienstverweigerung" sei nicht zu finden. Daher geht das Gericht auf grammatische und systematische Interpretation über. Die vorbehaltlose Garantie und der enge Zusammenhang m i t Gewissensfreiheit und Menschenwürde offenbaren nach Ansicht des Senats das Gewicht des Grundrechts und geben ihm sogar gegenüber der Wehrpflicht Vorrang. Mit dieser Formel ist wenig glücklich die Spezialität des Grundrechts, seine gegenüber den Verfassungsnormen über die Wehrpflicht selbständige normative K r a f t erfaßt. 157

BVerfGE 28, S. 243 ff., 259 ff., dort auch die i m Text folgenden Zitate.

72

2 Analyse der Rechtsprechung

Es bleibt die Frage, ob das Grundrecht die Wirkung der Anerkennung auf die Zeit nach deren Rechtskraft beschränkt — das ist nach Ansicht des Gerichts nicht der Fall —, oder ob es sonst zeitlich eingeschränkt werden kann. Dafür sind, so der Senat, Verfassungsnormen erforderlich: N u r Grundrechte Dritter oder andere „Rechtswerte" von. Verfassungsrang könnten ausnahmsweise auch uneinschränkbare Grundrechte zum Teil begrenzen. Das soll sich „ m i t Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung" ergeben. Konflikte seien zu lösen, indem ermittelt wird, welche der zusammentreffenden Vorschriften für die i m Einzelfall zu entscheidende Frage höheres Gewicht habe. Die „schwächere Norm" müsse dabei aber in ihrem sachlichen „Grundwertgehalt" stets respektiert werden; sie sei nur soweit zurückzudrängen, „wie das logisch und systematisch zwingend erscheint" 158 . Entscheidend ist es nun, wie der Senat die Konfliktlage darstellt. Für ihn stehen dem Recht des Verweigerers auf Freiheit von jeglichem Gewissenszwang die Notwendigkeit eines ungestörten Dienstbetriebs der Bundeswehr, das Bedürfnis nach Aufrechterhalten der Disziplin, die Sicherung des inneren Gefüges und der militärischen Schlagkraft der Streitkräfte gegenüber. Diese Interessen hätten „für diese Abwägung" wegen der auf die Wehrpflicht bezogenen Normen der A r t i k e l 12 a Abs. 1, 73 Nr. 1 und 87 a Abs. 1 Satz 1 GG Verfassungsrang. Sie umschrieben eine „verfassungsrechtliche Grundentscheidung". A u f die umstrittene Entstehung dieser A r t i k e l und damit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht i n das Grundgesetz geht der Senat nicht ein; ganz anders hatte er aber zuvor bemängelt, über Sinn und Reichweite des Grundrechts aus A r t . 4 Abs. 3 GG hätten i m Parlamentarischen Rat „offenbar verschiedene Ansichten" geherrscht. Im. Gegensatz zu den genannten Bemerkungen über Gewicht und Vorrang des Freiheitsrechts aus A r t . 4 Abs. 3 GG ist dieses i m vorliegenden Beschluß problematisiert worden, die Grundentscheidung für die Wiederaufrüstung erscheint dagegen blockhaft geschlossen. Schon das. nächste Argument soll den bedenklichen Charakter der zu beurteilenden Dienstverweigerung belegen: Sie gefährde die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte, damit unter Umständen auch die Sicherheit des Staates. Die Truppenführung könne sich auf eigenmächtiges Verweigern aus Gewissensgründen nicht einstellen. Daher bestehe die Dienstpflicht bis zur Anerkennung fort. Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 3 GG ist somit als die „schwächere Norm" i n Fällen dieses Typus zwar nicht dogmatisch und methodisch begründet, w o h l aber behauptet, Die Entscheidung sei zumutbar und das Grundrecht bleibe i n seinem Grundwertgehalt unangetastet, w e i l es sich i n Fällen wie diesem und i m Frieden nur um 158

Ebd., S. 261; zu dem i m T e x t folgenden S. 261 ff.

2.4 Gegenseitige Begrenzung von Verfassungsrecht

73

„formale Randpositionen" der Garantie handle. Der vorläufig gegen sein Gewissen zum Waffendienst gezwungene Wehrpflichtige werde nicht veranlaßt, „entgegen seiner Gewissensüberzeugung i n einer Kriegshandlung einen anderen zu töten" 1 5 9 . Schließlich sei die Befreiung von der allgemeinen Wehrpflicht ein Ausdruck des Toleranzprinzips; dem müsse auch das Verhalten des Berechtigten dort entsprechen, wo es nur um formale Randpositionen seines Grundrechts gehe. Das Grundrecht w i r d also i n der Argumentation gegen den Berechtigten gekehrt, und die Position am Rande der Garantie ist nach der Aussage des Senats gleichzeitig eine Kernposition. Denn zwei Sätze zuvor war es „zentraler Zweck" des A r t . 4 Abs. 3 GG gewesen, nicht nur vor dem Zwang zu bewahren, töten zu müssen, sondern bereits grundsätzlich „die Gewissensposition gegen den Kriegsdienst m i t der Waffe zu schützen". Jetzt w i r d ein Verweigerer durch die Entscheidung nurmehr „nicht gezwungen, entgegen seiner Gewissensüberzeugung i n einer Kriegshandlung einen anderen zu töten". Dieser Widerspruch setzt sich i n dem weiteren fort, Krieg und Frieden als frei verfügbare Gegebenheiten zu behandeln. A u f dieser wirklichkeitsfremden Basis w i r d dem Grundrecht situationsbedingt je nachdem ein voller bzw. ein halbierter Wesensgehalt zugeteilt und w i r d ausdrücklich offen gelassen, diese nach Ansicht des Senats verfassungsrechtlichen Maßstäbe i m aktuellen Kriegsfall zu modifizieren 160 . Diese Widersprüche wären nicht entstanden, wenn das Gericht geprüft hätte, was unter Zwang zum Kriegsdienst m i t der Waffe i m Sinn des Grundrechts inhaltlich zu verstehen ist. Die von A r t . 12 a Abs. 2 S. 2 GG zwingend vorgeschriebene Möglichkeit auch eines waffenlosen Ersatzdienstes wäre i n systematischer Interpretation heranzuziehen gewesen. Statt dessen erschien von A r t . 12 a GG nur der erste Absatz i m Zusammenhang einer ganzheitlich vorgestellten verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für Verteidigung u n d Wehrpflicht, deren einzelne Normen nicht einmal ansatzweise konkretisiert wurden. Das w i r d nicht dadurch ersetzt, daß derselbe Senat i m Beschluß zur situationsbedingten Kriegsdienstverweigerung 161 vom Institut der allgemeinen Wehrpflicht und davon gesprochen hatte, die Verfassung stelle m i t der Kompetenznorm des A r t . 73 Nr. 1 GG zugleich klar, daß die gesetzliche Einführung der allgemeinen Wehrpflicht nicht das Grundgesetz verletzt. Vielmehr ähnelt dieses Vorgehen dem des Parallelsenats i m Abhör-Urteil aus demselben Jahr. Dort w i r d den Grundrechten des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses das Bedürfnis nach tatsächlich wirksamer Arbeit des Verfassungsschutzes blockhaft gegenübergestellt und ein reibungs159

Ebd., S. 262. Ebd., S. 263. ist BVerfGE 12, S. 45 Leitsatz 1, 50. 160

74

2 Analyse der Rechtsprechung

los arbeitendes Verfassungsschutzamt unter Hinweis auf die entsprechenden organisatorischen Normen des Grundgesetzes als gegenüber dem Grundrecht praktisch vorrangig behandelt 162 . Auch die hier betroffene Freiheitsgarantie hat der Senat nur zum Teil ausgelegt. Vor allem ist die Kollisionslage nicht genau untersucht und sind die Geeignetheit der angegriffenen M i t t e l sowie praktische Ausweichmöglichkeiten nach dem Grundsatz des Mindesteingriffs i m Sinn des Übermaßverbots (kein Heranziehen von Soldaten, die den Antrag auf Anerkennung gestellt haben; Einteilen zum waffenlosen Dienst bis zur Anerkennung, usw.) gegen die sonstige Praxis des Bundesverfassungsgerichts hier nicht i m einzelnen erwogen worden. Vor allem w i r d der Konflikt nicht symmetrisch untersucht. Verteidigung und Wehrpflicht auf der einen und das Grundrecht auf der anderen Seite haben ohne Zweifel Verfassungsrang. Der Senat stellt aber das Interesse des nicht anerkannten Verweigerers, der sich auf sein Grundrecht beruft, der Notwendigkeit eines ungestörten Dienstbetriebs und der Sicherung des inneren Gefüges der Streitkräfte gegenüber; er unterstellt .damit auch deren Verfassungsrang und versagt es sich, Ausweichmöglichkeiten auch nur i n die Argumentation einzubeziehen. Ferner w i r d unausgesprochen m i t einem fragwürdigen Umschlag von Quantität i n (verfassungsrechtliche?) Qualität gearbeitet: Zwischen 1966 und 1968 mußten die noch nicht anerkannten Antragsteller — also die Gruppe, um die es hier geht — keinen Waffendienst leisten; das war damals nicht als eine Gefährdung der Aufgabe der Bundeswehr gewertet worden. Der Sachverhalt deutet an, das Ansteigen der Zahl der Kriegsdienstverweigerer und der hohe Prozentsatz der Anerkennungen seien für den Bundesminister der Verteidigung Anlaß gewesen, die vorläufige Befreiung vom Waffendienst für die fragliche Gruppe zurückzunehmen 163 . Die für einen Minister i m Bereich der vollziehenden Gewalt vertretbaren Überlegungen sind aber nicht für das Bundesverfassungsgericht verbindlich, das solche Vorgänge allein am Maßstab des Grundgesetzes zu überprüfen hat. Auch dieser Unterschied wäre i n die Argumentation einzubeziehen gewesen. So aber w i r d das Grundrecht gleich doppelt zur Disposition rein faktischer Umstände gestellt: durch das Aufspalten seines Wesensgehalts je nach Kriegs- oder Friedenszu162 BVerfGE 30, S. 1 ff., 18 f., 20. — Vergleichbar auch das Bundesverwaltungsgericht i n seinem U r t e i l zur Verfassungstreuepflicht von Referendaren, B V e r w G E 47, S. 330 ff., 352 zu A r t . 3 Abs. 3, 33 Abs. 3 — 33 Abs. 2 GG (partielle Begrenzung auch uneinschränkbarer Grundrechte durch andere Verfassungswerte i m Einzelfall unter Wahrung mindestens ihres Grundwertgehalts, hier durch die I n s t i t u t i o n des Berufsbeamtentums, A r t . 33 Abs. 4 und 5 GG). — A l l g e m e i n zu den Auslegungsaspekten der Praktikabilität und der verfassungspolitischen Folgenberechnung: F.Müller X , S. 169; 93ff., 96ff, 98 f., 194 ff. 163 BVerfGE 28, S. 243 ff., 247 f.

2.4 Gegenseitige Begrenzung von Verfassungsrecht

75

stand sowie i n bezug auf die Zahl der Anträge und der Anerkennungen nach Art. 4 Abs. 3 GG. Der Konflikt der einander gegenüberstehenden Normen w i r d weder sachlich vollständig noch gleichgewichtig analysiert. Die Frage, wie weit und ob überhaupt die Normen hier einander widersprechen, ist übergangen. Das Abwägen von Verfassungspositionen, zu dem sich das Gericht i n seiner grundsätzlichen Aussage über die Einheit der Verfassung verpflichtet hatte, w i r d damit manipulierbar. Ob nicht andere Möglichkeiten „logisch und systematisch" weniger stark in das Grundrecht eingegriffen hätten, ob dessen „sachlicher Grundwertgehalt" wirklich ausreichend gewahrt worden ist 1 6 4 , hat der Senat nicht untersucht. Da die Normprogramme der beteiligten Vorschriften nicht hinreichend konkretisiert worden sind, blieb die Zuordnung faktischer Gesichtspunkte zu ihnen willkürlich, wurden mit anderen Worten die Sachbereiche der Normen von ihren Normbereichen nicht unterschieden. Das Einbeziehen von Tatsachen hat hier die Bearbeitung des Falles nicht rationaler gemacht. Es hat i m Gegenteil dazu beigetragen, die Elemente der Abwägung einander asymmetrisch gegenüberzustellen und damit die Gründe für die Entscheidungsnorm i n gesteigertem Maß vom erwünschten Ergebnis her steuerbar zu machen. Die Methodik dieses zweiten Kriegsdienstverweigerer-Beschlusses ist also i n ihren tatsächlichen Arbeitsgängen alles andere als korrekt 1 6 5 . Der Senat hätte die (etwaige) Konfliktlage i m einzelnen darstellen und dann das Grundrecht und die anderen einschlägigen Normen vollständig und Schritt für Schritt konkretisieren müssen. Es ist methodisch unnötig, einen solchen Vorgang mit dem Ausdruck „Einheit der Verfassung" zu verbinden 166 . Die Mängel des Beschlusses liegen aber nicht so sehr darin als i m unzulänglichen Durchführen dessen, was das Gericht aufgrund der Einheitsthese hier zu tun vorgeschlagen hat. Das Argument w i r d i n der Richtung angesetzt, das Gewicht der zusammentreffenden Verfassungsnormen i m Einzelfall ohne allgemeine Rangaussagen zu bestimmen. Funktional erscheint die Einheitlichkeit des Grundgesetzes als Zielbegriff i n der Tradition des Ersten Senats. Der Sache nach handelt es sich vor allem um Verfahren systematischer Interpretation mit der Besonderheit, daß die konkretisierten Normen gegenläufig sind und daß i n einem zusätzlichen Schlußabschnitt der Entscheidung durch ihr gegenseitiges Begrenzen eine widerspruchsfrei begründbare Entscheidungsnorm erarbeitet werden soll 167 . 164 Ebd., S. 261. — Formelhaft u n d ohne ausreichende Verarbeitung der sachlichen Alternativen argumentiert auch der Beschluß zum Kontaktsperregesetz vom 1. 8.1978 (2 BvR 1013/77 u. a.), Abschn. C I 3 u n d ff. iss F ü r „methodisch beispielhaft" hält sie dagegen Rüfner I I , S. 466 Anm. 75; gemeint ist aber w o h l n u r die grundsätzliche Aussage zur optimierenden Konfliktlösung; vgl. a. ebd., Anm. 69. — Z u m Unterschied von Sachbereich und Normbereich: F. Müller X , S. 92 f., 120 f., 270 ff. u. ö. 166

Insoweit auch v. Pestalozza I I , S. 181.

76

2 Analyse der Rechtsprechung

Zu der so umschriebenen Fallgruppe gehört noch eine Reihe von Judikaten des Ersten Senats zum Staatskirchenrecht. I m Beschluß zur Einführung der obligatorischen Förderstufe i n Hessen 168 w i r d A r t . 7 GG i n unnötigem Anschluß an das Südweststaats- und das Kirchenbausteuer-Urteil als „ i n einem Sinnzusammenhang mit den übrigen Vorschriften der Verfassung, die eine innere Einheit darstellt", stehend bezeichnet. Der Senat bringt ihn dann aber keineswegs i n einen Totalzusammenhang m i t dem Grundgesetz, sondern vermittelt ihn systematisch m i t dem Elternrecht des A r t . 6 Abs. 2 Satz 1 GG, behandelt ihn also zu Recht i n der Tradition des Gleichberechtigungs-Urteils. Der staatliche Erziehungsauftrag der Schule nach Art. 7 Abs. 1 GG w i r d ausdrücklich als dem elterlichen Erziehungsrecht nicht nach-, sondern gleichgeordnet ausgewiesen. Dasselbe gilt für die systematische Auslegung des A r t . 7 Abs. 1 GG m i t dem Recht, gemäß A r t . 7 Abs. 4 Satz 1 GG private Schulen zu errichten. Eine Konkretisierung mit allen anerkannten, also auch m i t systematischen Elementen, die Normen gleichen Ranges wechselseitig bestimmt (und sie dabei möglicherweise auch eingrenzt), bedarf nicht der Sicht des Grundgesetzes als einer Einheit. Sie w i r d hier außerdem zu Unrecht m i t grundsatzkonformer Verfassungsauslegung verknüpft. Das Argument „Einheit der Verfassung" erscheint i n der Spruchpraxis beider Senate des Bundesverfassungsgerichts als zum Teil beliebig auswechselbares Fertigfabrikat. Die Beschlüsse zur christlichen Gemeinschaftsschule badischer Überlieferung u n d zur christlichen Gemeinschaftsschule in Bayern 1 6 9 halten sich von solchen Fehlleistungen frei. Nach ihnen ist es dem Landesgesetzgeber aufgetragen, die angesichts einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft i n der Schule unvermeidlichen Spannungen durch die „Konkordanz" 1 7 0 der i n A r t . 7 und 4 GG geschützten Rechtsgüter auszugleichen. Der Sache nach w i r d vor allem systematisch interpretiert. A r t . 7 GG darf nach der Aussage des Senats nicht i n dem Sinn als „Spezialvorschrift" verstanden werden, daß er allein, „isoliert von allen übrigen Vorschriften des Grundgesetzes" den Landesgesetzgeber i m Schulorganisationsrecht binde. Das ist unklar gesagt. Art. 7 GG ist eine Spezialvorschrift und gerade als solche immer auch systematisch zu interpretieren. Gemeint ist offenbar, Art. 7 GG regele das Problem nicht abschließend. Das ist deshalb ebenso richtig wie trivial, weil es nicht um 167 Dazu F. Müller X , bes. S. 170 ff. iss BVerfGE 34, S. 165 ff., v. a. S. 182 f., 183 ff.; die Lösung des Falles ebd., S. 185 ff.; zu A r t . 7 Abs. 4 Satz 1 GG ebd., S. 197 f. 169 BVerfGE 41, S. 29 ff., bes. 46 f., 49 f., 5 0 1 ; 41, S.65ff., 78; ebd. die i m Text folgenden Zitate. 170 Hesse V I , z.B. S. 29 f., 134 f.; zur Herkunft des Begriffs: Bäumlin I, S. 34 (eine i n der „Situation" aufgegebene, i n topischer Argumentation anzustrebende Synthese oder „concordantia disconcordantium"); ders., I I , S. 14.

2.4 Gegenseitige Begrenzung von Verfassungsrecht

77

eine Vermittlung nur auf der Ebene des Grundgesetzes, sondern u m die Bindung des (Landes)Gesetzgebers an die Verfassung geht. Dabei sorgt schon der rechtsstaatliche Rangunterschied von Verfassungs- und Gesetzesrecht dafür, daß die Legislative an alle thematisch ergiebigen Normen der höheren Stufe gebunden und daß ihre Produkte an diesen zu messen sind. Dagegen hält sich der Senat i n den Bahnen seiner Vorstellung vom Grundgesetz als einer Einheit dort, wo Art. 4 und Art. 7 GG als gleichrangige Vorschriften gesehen und m i t Toleranznormen wie A r t . 3 Abs. 3, 33 Abs. 3 GG sowie m i t der bundesstaatlichen Konstruktion des Grundgesetzes andeutungsweise systematisch vermittelt werden 171 . Die Beschlüsse zur gesetzlichen Überlegungsfrist u n d zur Nachbesteuerung bei Austritt aus einer Kirche berufen sich für den Grundsatz der Einheit der Verfassung wiederum i m falschen Traditionsstrang auf die Entscheidungen zur hessischen Förderstufe und zur badischen K i r chenbausteuer, dagegen für die nach Auffassung des Ersten Senats aus ihm folgende Begrenzbarkeit von Verfassungsnormen nur durch anderes Verfassungsrecht zutreffend auf die Beschlüsse zur Transfusionsverweigerung und zum Eideszwang 172 . Die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit des A r t . 4 Abs. 1 GG w i r d Normen des organisatorischen Teils systematisch gegenübergestellt, nämlich dem Status der betroffenen Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts (Art. 140 GG i. V. m. A r t . 137 Abs. 5 WRV), dem Recht dieser Religionsgesellschaften darauf, Steuern zu erheben (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 6 WRV), und „der vom Grundgesetz konstituierten staatskirchenrechtlichen Ordnung" i m allgemeinen. Deren Inhalt bestimmen die Unabhängikeit der Kirchen, das Gebot religiöser und weltanschaulicher Neutralität des Staates sowie eine gegenüber älteren Systemen der Verbindung von Staat und Kirche und der Fürsorge des Staates für die Kirche nur noch punktuelle finanzielle Förderung von Religion und Religionsgesellschaften (Art. 140 GG i. V. m. A r t . 137 Abs. 3,138 Abs. 1 WRV und die Neutralitätsnormen). Das ist die normativ gebotene Arbeitsweise, die alle thematisch ergiebigen Vorschriften des geltenden Rechts heranzieht, vollständig verarbeitet und sie systematisch einzugrenzen versucht, soweit sich zwischen gleichrangigen Vorschriften widersprüchliche Ergebnisse abzeichnen. Die Rede von einer Einheit der Verfassung fügt diesem Vorgehen sachlich nichts 171 Ebd., S. 50 f.; die Lösung des Falles S. 57 ff., v. a. 59 ff. beschränkt sich dann auf Argumente aus Landesverfassung u n d Landesschulgesetz; vgl. a. BVerfGE 41, S. 65 ff., 79 ff. 172 BVerfGE 44, S. 37 ff., 49 f.; zur gegenseitigen Begrenzung von A r t . 4 Abs. 1 auf der einen, A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 137 Abs. 5, Abs. 6, 138 Abs. 1 W R V und dem allgemeinen Verhältnis von Staat und Kirchen unter dem G r u n d gesetz auf der anderen Seite: ebd., S. 52 ff., 54 ff. sowie BVerfGE 44, S. 59 ff, 66 f. Die Entscheidungen, auf die sich der Senat bezieht, sind: BVerfGE 34, S. 165 ff., 183; 19, S. 206 ff., 220; 32, S. 98 ff., 107 f.; 33, S. 23 ff., 29.

78

2 Analyse der Rechtsprechung

hinzu. Sie hält sich hier i m Rahmen der Gebrauchsweise, die der Erste Senat i n die Rechtspraxis einführte. Dasselbe gilt für vier weitere Entscheidungen desselben Senats, in denen nicht Grundrechte m i t Organisationsnormen, sondern kollidierende Grundrechte vor dem Hintergrund einer Einheit der Verfassung systematisch miteinander vereinbart werden sollen. I n dreien dieser Fälle geht es um Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht auf der einen, um Garantien der Äußerungsfreiheit auf der anderen Seite. I m Mephisto-Fall wird, ausgehend von der Gleichrangigkeit zusammenstoßender Grundrechte, vor allem m i t systematischen und Normbereichs-Elementen, m i t den dogmatischen Gesichtspunkten des Übermaßverbots und mit rechtspolitischer Folgenbewertung versucht, die Freiheit der Kunst m i t dem verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsbereich u n d im Blick auf die durch Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Würde des Menschen „unter Berücksichtigung der Einheit" des „grundlegenden Wertsystems" zu vermitteln, das die Verfassungsjustiz im Grundgesetz zu sehen meint 1 7 3 . Dabei sollen die Menschenwürde und das — persönliche Eigenverantwortung und soziale Gemeinschaftsbindung verknüpfende — sogenannte Menschenbild des Grundgesetzes auf beiden Seiten als Leitlinie des ausgleichenden Arbeitsvorgangs wirken. Nach Auffassung des Senats können diese Faktoren nur angesichts aller Umstände des Einzelfalls richtig abgewogen werden. Die Abweichenden Meinungen greifen weder diese Sicht des Grundgesetzes als einer Einheit noch die aus i h r gezogene Folgerung an. Sie sehen vielmehr, wie das auch schon zum Kriegsdienstverweigerer-Beschluß i m 28. Band anzumerken war, Fehler u n d Einseitigkeiten i m konkreten Durchspielen der hier maßgebenden Gesichtspunkte: W i r d die Art, auf die der Romancier sein Buch ausgestaltet hat, nicht — wie von der Senatsmehrheit — als neben dem Normbereich der Kunstfreiheit liegende Modalität bei Gelegenheit der Grundrechtsausübung, sondern zutreffend als deren Inhalt bewertet, so verschieben sich i m Vorgang der Abwägung entsprechend die Gewichte. I m Soraya-Beschluß w i r d das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 und 1 Abs. 1 GG) der Pressefreiheit aus A r t . 5 Abs. 1 Satz 1 GG abwägend gegenübergestellt 174 . I m Lebach-Urteil ging es ebenfalls u m na BVerfGE 30, S. 173 ff., 193, 195; zum konkreten F a l l vor allem ebd., S. 196 ff., 198 f.; die Abweichenden Meinungen finden sich ebd., S. 200 ff .. bes. 202 ff., 211 ff. u n d S. 218 ff., bes. 221 ff., 223 ff. — Die Formel hat der B u n desgerichtshof i n seinem U r t e i l v o m 3. 6.1975 (kreditgefährdendes Theaterstück — Persönlichkeitsrecht einer Aktiengesellschaft) übernommen: Soweit die Kunstfreiheit „ m i t anderen Werten, die ebenfalls grundgesetzlich geschützt sind, i n K o n f l i k t gerät, ist diese Kollision auf der Grundlage der verfassungsmäßigen Wertordnung und m i t Rücksicht auf die Einheit dieses grundlegenden Wertsystems zu lösen", i n : JZ 1975, S. 637 ff., 638. — A u f der L i n i e des Mephisto-Beschlusses jetzt auch BVerfGE 47, S. 327 ff., 368 ff. (hessisches Universitätsgesetz), u n d zwar zur Wissenschaftsfreiheit. 174 BVerfGE 34, S. 269 ff., 281 f., 282 ff.

2.4 Gegenseitige Begrenzung von Verfassungsrecht

79

diese Konstellation; nur entstand die vom Gericht so genannte Spannungslage diesmal zwischen dem durch Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG geschützten Bereich der Persönlichkeit auf der einen und der Freiheit der Berichterstattung durch den Rundfunk gemäß A r t . 5 Abs. 1 Satz 2 GG auf der anderen Seite. Auch hier w i r d der Normenkonflikt unter dem Stichwort der Güterabwägung nach Eigenschaften des Einzelfalls und Gesichtspunkten des Übermaßverbots, vor allem der Erforderlichkeit sowie der Angemessenheit von Zweck und M i t t e l bearbeitet. Art. 5 Abs. 2 GG t r i t t zu Recht als konfliktlösende Norm auf. Nicht allein die formale Ranggleichheit, sondern inhaltlich das Menschenbild des Grundgesetzes w i r d für die Aussage herangezogen, weder die Rundfunkfreiheit noch der Persönlichkeitsschutz könnten einen grundsätzlichen Vorrang beanspruchen. I m Konflikt seien beide möglichst auszugleichen. Erst wenn das nicht erreichbar sei, bleibe nach typischen und individuellen Eigenschaften des Falles zu entscheiden, welches Interesse zurückzutreten habe. Die Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG w i r k t auch hier wieder als gemeinsame Maßstabs- und Bestimmungsnorm für beide Seiten der Abwägung 1 7 5 . Als fallbezogene beziehungsweise falltypische Gesichtspunkte werden neben dogmatischen Elementen des Übermaßverbots und rechtspolitischer Folgenbewertung zu Fragen der Resozialisierung von Straftätern vor allem Normbereichs-Elemente verarbeitet: Absicht und A r t der Sendung, Sendezeit und Wirkung auf die Zuschauer (mit sozialpsychologischen Prognosen), Interesse der Öffentlichkeit an Information über schwere Straftaten und zeitliche Grenzen dieses Interesses. Die Spruchpraxis des Ersten Senats zum so verstandenen Argument aus der Einheit der Verfassung erscheint hier i n entwickelter Form; der Ausdruck selbst fehlt ausnahmsweise, und zwar m i t Recht. Dagegen w i r d i m Beschluß zur Transfusionsverweigerung neben dem Menschenbild des Grundgesetzes auch wieder die Einheit des Wertsystems der Verfassung einer vergleichbaren Sequenz zugrunde gelegt 176 . Der Beschwerdeführer war wegen eines Vergehens der unterlassenen Hilfeleistung bestraft worden, w e i l er aus gemeinsamer religiöser Überzeugung den durch ärztliche Behandlung abwendbaren Tod seiner Ehefrau hatte geschehen lassen. Der Erste Senat bezieht die Glaubensfreiheit systematisch auf die i n A r t . 1 Abs. 1 GG garantierte Würde des Menschen und untersucht die sogenannte Ausstrahlungswirkung des Grundrechts auf das Strafrecht. Als dem Gesetzesrecht übergeordnete, untereinander aber möglicherweise nicht vereinbare Maßstabsnormen werden Art. 6 Abs. 1 auf der einen, die Entfaltungsfreiheit und Glaubensfreiheit beider Ehepartner auf der anderen Seite sowie die Glau175 BVerfGE 35, S. 202 f. Leitsatz 2, 225 f.; die Prüfung des konkreten Falles ebd., S. 226 ff., 230 ff. 176 BVerfGE 32, S. 98 ff., 107 f., 109 ff.

80

2 Analyse der Rechtsprechung

bensfreiheit des Beschwerdeführers seinen aus A r t . 6 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Pflichten systematisch gegenübergestellt. Sachlich kommt auch hier weder ein ganzheitlich zu deutendes Wertsystem noch eine Einheit des Grundgesetzes ins Spiel. Die Entscheidungsnorm w i r d durch systematisches Auslegen der einschlägigen Rechtsnormen und durch dogmatisches Abgrenzen des Tatbestands der Glaubensfreiheit begründet.

2.5 Die Linien der Rechtsprechung Die folgenden Beobachtungen betreffen die beiden wichtigsten Gebrauchsweisen des Arguments aus der Einheit der Verfassung. Es bietet sich ein vielschichtiges Bild. Die Praxis spricht oft gewollt orakelhaft, noch häufiger aber ungewollt unklar von einer Einheit des Grundgesetzes. Es ist nicht möglich, die einzelnen Fallgruppen systematisch zwingend zu unterscheiden. Auch die gewählte pragmatische Einteilung erwies sich stellenweise als zu grobmaschig. Zuweilen verschwimmen die leitenden Aspekte. Die i n einer so grundlegenden Frage wie der nach der Einheit der Verfassung immer auch rhetorische Aufgabe richterlicher Begründungstexte trägt dazu bei. Das Bundesverfassungsgericht hat sich i n seiner Gründerzeit verhältnismäßig oft auf eine Einheit des Grundgesetzes berufen. Für ein Jahrzehnt trat dieser Gedanke dann stark zurück. Seit 1970 ist er wieder deutlich häufiger anzutreffen 177 . Die Einheitsthese w i r d von beiden Senaten des Bundesverfassungsgerichts verschieden, ja gegensätzlich eingeführt: auf der einen Seite der Zweite Senat seit dem Südweststaats-Urteil, auf der anderen der Erste Senat i n klarer, wenn auch nicht ausgesprochener Gegenposition seit dem Urteil zur Gleichberechtigung. Für diesen folgt aus der Einheit der Verfassung, daß deren Normen grundsätzlich denselben Rang haben. Daher hat diese Judikatur den Gedanken betont rechtsstaatlich entwickelt, und zwar vor allem als gegenseitiges systematisches Begrenzen gleichrangiger Normen, so von Grundrechten untereinander oder von Grundrechten m i t Vorschriften des organisationsrechtlichen Teils des Grundgesetzes. Dieses Verständnis war i n der Spruchpraxis des Ersten Senats durch die verfassungsimmanent und m i t Ranggleichheit arbeitenden Entscheidungen über das Verhältnis von Art. 131 GG zum Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden sowie über das nordrhein-westfälische Beanstandungsgesetz i n Haftentschädigungssachen 178 in deutlichem Un177 Das Argument taucht i n den Bänden 1 bis 10 der amtlichen Entscheidungssammlung neunmal auf, i n den Bänden 10 bis 20 zweimal, 20 bis 30 dreimal, 30 bis 40 achtmal u n d 40 bis 48 neunmal, zuletzt i m Beschluß zum Kontaktsperregesetz vom 1. 8.1978 (2 B v R 1013/77 u. a.). 178 BVerfGE 1, S. 167 ff., 177; 2, S. 380 ff., 403.

2.5 Die L i n i e n der Rechtsprechung

81

terschied zum Südweststaats-Urteil vorbereitet worden. Dagegen hatte dieses, gleichfalls aus der Einheit der Verfassung schöpfend, einerseits Grundsatznormen, andererseits alle einzelnen Vorschriften des Grundgesetzes unterschieden. Es hatte sie mit abgestuftem Rang ausgestattet und daraus die Pflicht aller rechtsgebundenen Instanzen gefolgert, die Einzelnormen des Verfassungsrechts grundsatzkonform zu interpretieren. Der Widerspruch der Leitfälle beider Senate hätte 1953 i m Zeitpunkt des Urteils zur Gleichberechtigung Anlaß sein müssen, eine Entscheidung des Plenums des Bundesverfassungsgerichts herbeizuführen. Der Widerspruch erscheint dadurch, daß dies nicht geschah u n d daß der Erste Senat das Südweststaats-Urteil nicht einmal erwähnte, eher verschärft. Dagegen fühlte sich der Bayerische Verfassungsgerichtshof, auf den sich der Zweite Senat unklar berufen hatte, später offenbar nicht veranlaßt, Rücksichten zu nehmen. Er machte 179 die Gegensätzlichkeit beider Positionen zum Thema und verwarf die rechtsstaatlich korrekte Linie des Ersten Senats. Diese argumentiert positivrechtlich. Überpositives Recht w i r d i m Gleichberechtigungs-Urteil nur für unter dem Grundgesetz so gut wie auszuschließende Extremfälle zugelassen. Der Senat macht entscheidende Vorbehalte gegenüber einem zu leichthändigen Umgang m i t übergesetzlichem Recht und deutlich Front gegen innerpositive Behauptungen von Höher- und Niederrangigkeit i m Verfassungsrecht. Allerdings folgert er wie der Bayerische Verfassungsgerichtshof und der Zweite Senat prozessual, die Verfassungsjustiz sei zuständig, Rechtsfälle auch unter solchen Aspekten zu überprüfen. Dagegen ist die Praxis des Zweiten Senats i n etwas verworrener Nachfolge des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs naturrechtlich begründet. Die Rolle des Naturrechts w i r d nicht nur als Korrektiv des positiven Rechts bei Konflikten zwischen beiden gesehen. Es soll sogar innerhalb der positiven (Verfassungs)Ordnung wirken und sie hierarchisch abstufen. Sein geglaubter allgemeiner Vorrang gegenüber dem positiven Recht w i r d i n dieses hinein verlängert: Bestimmte Verfassungsgrundsätze von überpositiver und vor-verfassungsrechtlicher Herkunft gehen den übrigen, und das heißt: allen einzelnen Verfassungsnormen vor. M i t dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof folgert der Zweite Senat daraus seine Zuständigkeit, Verfassungsrecht bei Verstoß gegen derartige Grundsätze für nichtig erklären zu können. Von der methodischen Konsequenz einer grundsatzkonformen Auslegung des Verfassungsrechts war hier schon die Rede. Noch vor der ersten Leitentscheidung zur verfassungskonformen Interpretation von Gesetzen 180 und vor dem Auftreten des Verfahrens verfassungskonformer Gesetzesauslegung i m U r t e i l des Ersten Senats zum nordrhein-westfälischen 179

B a y V f G H 11, S. 127 ff., bes. 136. 180 BVerfGE 2, S. 266 ff.

6 F. M ü l l e r

82

2 Analyse der Rechtsprechung

Beanstandungsgesetz 181 w i r d bereits hier — eine Stufe höher und deshalb positivrechtlich nicht mehr begründbar — das Verfahren vertikaler Normenkonformität eingeführt. Es soll offenbar nicht nur ein methodologischer Vorschlag sein, denn es w i r d vom Bundesverfassungsgericht als quasi-normatives Gebot richterrechtlich erzeugt. Es würde zu stark vereinfachen, die Praxis des Zweiten Senats zur Einheit der Verfassung als naturrechtlich, die des Parallelsenats als positivrechtlich zu verallgemeinern. Auch der Zweite Senat hat, etwa i n der Hälfte der Fälle, positivrechtlich argumentiert. Der Erste Senat läßt i m Urteil zur Gleichberechtigung eine kleine Luke ins Überpositive offen und maßt sich prozessual dieselben Befugnisse wie die sich ungeniert auf Naturrecht stützende Praxis an. I m Urteil zur badischen K i r chenbausteuer 182 scheint er sich gar vorübergehend dieser Linie anzuschließen. Für näheres Zusehen handelt es sich aber nicht um einen Sündenfall i n der Sache, sondern um eine abwegige sprachliche Exkursion. Konkret arbeitet der Senat auch hier mit als ranggleich behandelten Verfassungsnormen. Bis heute hat der Erste Senat als vorrangig bezeichnete Verfassungsgrundsätze noch nicht angewandt; der Zweite Senat hat das dagegen etwa in bezug auf Rechtsstaat, Demokratie und Bundesstaat verschiedentlich getan, und zwar keineswegs i n Extremlagen, sondern i n politischen und rechtlichen Normalfällen. Der Erste Senat hat das Argument „Einheit der Verfassung" doppelt so häufig verwendet und dabei, abgesehen von den genannten Schwankungen i m Gleichberechtigungs- und im Kirchenbausteuer-Urteil, nur positivrechtlich argumentiert. Die Praxis beider Senate unterscheidet sich also doch recht deutlich. Die eine Variante hält eine Einheit des Grundgesetzes für gegeben und arbeitet trotzdem auch m i t gleichsam überweltlichen, mit rangmäßig externen und zugleich an Würde und Geltungskraft überlegenen legitimierenden und dirigierenden Normen. Jedenfalls sagt das die Sprachgestalt der Argumentation. Die Analyse hat gezeigt, daß tatsächlich mit anderen, einfacheren und zum Teil trivialen M i t t e l n gearbeitet wird. Dennoch unterscheidet sich die Sicht der Verfassung als Einheit im Sinn des Ersten Senats auch davon deutlich. Für diesen zielt der Gedanke darauf, i m Fall widersprüchlicher Ergebnisse bei der Interpretation mehrerer einschlägiger Normen dem Entscheidungsvorgang ein zusätzliches Schlußstück anzufügen. I n diesem ist mit Hilfe aller Konkretisierungselemente, besonders aber mit dogmatischen (aus dem Übermaßverbot) und systematischen eine schlüssig begründbare Entscheidungsnorm zu setzen. Es hat sich gezeigt, daß Ausdrücke wie „Einheit der Verfassung", „Sinnganzes" oder „Gesamtsinn" des Grundgesetzes 181 182

BVerfGE 2, S. 380 ff., 405 f. BVerfGE 19, S. 206 ff., 220; anders dagegen ebd., S. 219.

2.5 Die L i n i e n der Rechtsprechung

83

der Sache nach für solche Arbeitsvorgänge entbehrlich sind. Davon abgesehen, arbeitet der Erste Senat auf dem hier untersuchten Feld rechtsstaatlich nüchterner, sprachlich zurückhaltender, methodisch und dogmatisch genauer 183 . Die Rechtsprechung hat das der Weimarer Zeit entstammende Denken vom Ganzen der Verfassung her und/oder auf deren Einheit hin der Diskussion unter dem Grundgesetz wirksam vermittelt. Eine andere Frage ist, als wie fruchtbar und als wie vertretbar sich dieses Argument erweisen kann; eine andere auch, ob die Rede von einer Einheit der Verfassung i n den besprochenen Fällen sachlich überhaupt eine selbständige Rolle spielt. Hierzu hat sich i n Kürze dies gezeigt: I n den Fällen einfacher systematischer Argumentation, systematischer Auslegung mit Hilfe von Verfassungsgrundsätzen und gegenseitiger systematischer Begrenzung von Verfassungsrecht handelt es sich um Arbeitsvorgänge, die für das Begründen der jeweiligen Entscheidung normativ wie methodisch unentbehrlich sind. Sie beruhen aber auf anderen, selbständig anerkannten Voraussetzungen. Sowohl der Gedanke einer Einheit des Grundgesetzes als auch der Ausdruck „Einheit der Verfassung" und die ihn gemeinhin begleitenden schmückenden Beiwörter sind dafür entbehrlich, sind also unter theoretischen, dogmatischen und methodischen Gesichtspunkten nicht-funktional. I n Fällen, i n denen das Argument ungeschriebenes Verfassungsrecht beschaffen sollte, hat es ebenfalls keine Funktion. Die Möglichkeit gewohnheitsrechtlicher Regeln ist anerkannt. Solche Normen müssen i m Einzelfall inhaltlich begründet werden; die Rede vom Grundgesetz als einer Einheit hat dazu bisher nichts beigetragen. Soweit m i t deren Hilfe Richterrecht legitimiert werden sollte, erwies sich der entsprechende Schluß als zwar funktional, aber inhaltlich fragwürdig. Richterrecht läßt sich auf andere A r t , so vor allem mit Gesichtspunkten der verfassungsrechtlichen Funktionenlehre 184 , einsichtiger und ohne zweifelhaftes Unterstellen eines Sinn183

Eine klare Ausnahme i n der Judikatur des Zweiten Senats bildet der Eideszwang-Beschluß. Hier w i r d die Einheit der Verfassung als Ziel gesehen; es fehlt die These von Rangunterschieden i m Verfassungsrecht u n d es w i r d konkret versucht, Grundrechte m i t systematischen Argumenten zu begrenzen: BVerfGE 33, S. 23 ff., 27, 29 u n d ff. — Der Wertung oben i m T e x t liegen folgende Judikate zugrunde: Vom Ersten Senat: BVerfGE 1, S. 5 ff., 7; 1, S. 167 ff., 177; 2, S. 380 ff., 403; 3, S. 225 ff., 2321; 4, S. 294 ff., 296 f.; 7, S. 198 ff., 205; 7, S. 377 ff., 402 f.; 19, S. 135 ff., 138; 19, S. 206 ff., 219 f.; 28, S. 243 ff., 260 f.; 30, S. 173 ff., 193, 195; 32, S. 98 ff., 107 f.; 34, S. 165 ff., 182 f.; 34, S. 269 ff., 286 f.; 35, S. 202 ff., 225 f.; 41, S. 29 ff., 46 f., 50 f.; 41, S. 65 ff., 77 f.; 44, S. 37 ff., 49 f., 52 ff., 55 ff.; 44, S. 59 ff., 66 f. — Für den Zweiten Senat: BVerfGE 1, S. 14 ff., 32 f.; 1, S. 208 ff., 227 f.; 6, S. 309 ff., 344, 346, 361, 364; 15, S. 167 ff., 194 f.; 30, S. l f f . , 19 und ff.; 33, S. 23 ff., 27, 29 und ff.; 36, S. 342 ff., 362 f.; 37, S. 271 ff., 279 f., 296; 39, S. 334 ff., 368 f.; 42, S. 64 ff., 72 ff., 76 ff.; 44, S. 249 ff., 267, 273 f. sowie der Kontaktsperre-Beschluß v o m 1. 8.1978 (2 B v R 1013/77 u. a.), Abschn. C I 3 und ff. (künftiger Band BVerfGE 49). — V o m Ersten Senat jetzt auch BVerfGE 47, S. 327 ff., 369 f. (hessisches Universitätsgesetz). 184 Dazu die Untersuchungen von J. Ipsen und Wank. 6*

84

2 Analyse der Rechtsprechung

ganzen der Rechtsordnung begründen. Für Postulat und Praxis der grundsatzkonformen Verfassungsauslegung schließlich ist der Gedanke einer Einheit des Grundgesetzes rhetorisch wichtig. Auch die zugrunde liegende dogmatische Operation ist eigenständig und unterscheidet sich von allen hergebrachten u n d anerkannten Entscheidungselementen. Doch erscheint dieses Vorgehen mit seiner These von Rangunterschieden auf Verfassungsebene als positivrechtlich nicht mehr vertretbar. I m Rahmen dieses Arguments ist es zudem der Rechtsprechung nicht gelungen zu begründen, wie die Vorrangthese m i t den Vorstellungen von allseitigem Sinnzusammenhang und innerer Einheit der Verfassung verknüpft sein soll.

3 Möglichkeiten für einen Einsatz des Arguments „Einheit der Verfassung" 3.0 Ausgangspunkte: Staatsauffassungen — Vorverständnisse von Einheit in verschiedenen Rechtsgebieten — strukturierende Normtheorie — juristischer Systembegriff — Einheit und Ganzheit Die Analyse der Rechtsprechung untersuchte, wie die Praxis den Gedanken einer Einheit der Verfassung tatsächlich verwendet. Der systematische Teil der Studie fragt jetzt danach, wie er verwendet werden sollte. Sind Möglichkeiten erkennbar, diese Sichtweise als selbständiges Argument dogmatischer, methodischer und theoretischer Rechtsarbeit sinnvoll zu gebrauchen? Der Ausdruck „Einheit" w i r d dort verwendet, wo getrennte Elemente des Gegebenen wissenschaftlich zusammengefaßt und geordnet werden. Er bezeichnet dann das Ergebnis solchen Tuns. Je nach dem einigenden Gesichtspunkt w i r d Einheit als räumliche und zeitliche, als kausale, formale und teleologische bestimmt 1 8 5 . Dabei kommt es vor allem auf „das Einigungsprinzip für die Willensverhältnisse" an, „deren Gesamtheit sich uns als Staat darstellt", also auf die teleologische Einheit des Staates, seine Verbandseinheit. Dieses Staatsverständnis gilt weithin als nicht mehr tragfähig. Auch sonst sind die genannten Unterscheidungen für die Frage nach der Einheit des Grundgesetzes nicht fruchtbar. I n dem von i h m konstituierten Verfassungsstaat kann diese Frage nicht außerhalb der Rechtsverfassung auf „den" Staat gezielt werden. So gesehen, ist es nicht entscheidend, wie der Staat ganz allgemein aufgefaßt wird. Der staatsrechtliche Positivismus sieht i h n als juristische Person 186 und seine Einheit i m Mittelpunkt der Ausübung staatlicher Gewalt angesiedelt. Diese Sicht ist nicht nur, aber auch nicht zuletzt durch die Entwicklung des europäischen Gemeinschaftsrechts überholt 1 8 7 . Organologische Lehren wollen i m Staat „dem wechselnden Inbegriff der Teile eine immanente Einheit des sie enthaltenden Ganzen" beige185 V o n G. Jellinek I I I , S. 177 ff.; ebd., S. 177, 179 zu den i m Text folgenden Bezeichnungen des Staates als Verbandseinheit. 186 So schon bei Albrecht, z. B. S. 4; vgl. auch die Hinweise bei v. Oertzen , S. 183 ff. 187 Kaiser I V ; Badura I I ; H.P.Ipsen I I I ; ders. I I ; Hoff mann; zum fortzuentwickelnden Verständnis von Staat u n d Verfassung auch schon: Kaiser I. Siehe ferner Hesse V I , S. 41 ff. m. w. Nw.

86

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

seilen 188 . Oder der Staat mag als Herrschaftsapparat gelten, der durch organisatorisches Zusammenordnen von Institutionen und Rollen begründet ist und nur ein Teilsystem i n einer großen funktionalen Einheit allen sozialen Verhaltens bildet 1 8 9 . Er kann mit Nachdruck als „eine i n der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit tätige Einheit" bezeichnet werden, die in der Verfassungsurkunde planmäßig geordnet erscheint und die weniger i n der Kodifikation als vor allem in Systematik und Rationalität der geschriebenen Verfassung sinnfällig ausgedrückt wird 1 9 0 . I n keinem dieser Fälle wäre es einsichtig, den Staat als körperschaftlich daseiendes Gebilde, die Einheit von Staat und Staatsgewalt, die des Volkes i n der Demokratie oder die „Einheit letztinstanzlicher Entscheidung" (Hermann Heller) jeweils als gegeben vorauszusetzen. Aber auch die Sicht von Einheit als einer aufgegebenen 191 trägt noch nichts dazu bei, die Einheit der Verfassung i m einzelnen aufzuschlüsseln. Wenn sie wie hier i m Ausgang von Positivität und Normativität der Rechtsverfassung untersucht werden soll, hilft schließlich auch der Gedanke der Einheit als Uniformität und Symmetrie i m Sinn der Allgemeinen Staatslehre 192 nicht weiter. I m Verfassungsstaat können weder Sein, Tätigkeit und hoheitliche Gewalt des Staates von seiner bestimmten Rechtsform noch seine tatsächliche Verfaßtheit von der normativen Verfassung getrennt werden 1 9 3 . Das rechtfertigt es andererseits aber nicht, die Rechtsverfassung in den Nebel eines Wertsystems oder einer objektiven Wertordnung 1 9 4 aufzulösen. 188 So v. Gierke I I , S. 31 u n d f.; ders. I, z. B. S. 13, 15, 18, 22 zu den „sozialen Lebenseinheiten"; i n diesem Sinn auch H. Preuß, S. 88, 89, 92, 99 f. — Zur geistesgeschichtlichen Stellung, philosophischen Problematik u n d politischen Bedeutung organologischer Theorien i m 19. Jahrhundert: F. Müller I, S. 86 ff., 95 ff., 115 ff. u. ö. 189 Hierzu aus der rechtswissenschaftlichen Diskussion: Drath I V , S. 50 f. zur grundlegenden „Einheit v o n Staat u n d Gesellschaft, innerhalb derer auch der staatliche Herrschaftsapparat m i t besonderen Rollen u n d I n s t i t u tionen steht u n d w i r k t " ; Hervorhebungen i m Original. 190 Hierzu H. Heller I I I , S. 182, 270 f.; ferner ebd., S. 139, 228 ff.; 238 ff.; 242 ff. u. ö. 191 Dazu etwa Bäumlin I I , S. 11 ff. 192 Siehe dazu vor allem Herbert Krüger V I , S. 98 f., 100 ff.; ferner z. B. ebd., S. 479 f.; ebd., S. 101 zum Ideal der Lückenlosigkeit von Kodifikationen. 193 F. Müller X I V , S. 221 ff., 223. 194 So aber die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, z. B. BVerfGE 2, S. 1 ff., 12; 5, S. 85 ff., 134 ff., 139; 6, S. 32 ff., 40 f.; 7, S. 198 ff., 205; 10, S. 59 ff., 81; 12, S. 45 ff., 51; 13, S. 46 ff., 51; 13, S. 97 ff., 107; 14, S. 288 ff., 301; 21, S. 362 ff., 371 f.; 28, S. 243 ff., 259; 37, S. 57 ff., 65. — Die H e r k u n f t aus und der Zusammenhang m i t dem Verständnis der Grundrechte i n dieser Judikatur w i r d deutlich z. B. i m L ü t h - U r t e i l und, diesem folgend, i n den oben unter Aspekten der Einheit der Verfassung und der Grundrechte als Grundsätze oder Grundwerte untersuchten Entscheidungen. — Z u den V o r stellungen von Wertordnung, Wertrangordnung oder Wertsystem: F. Müller I I I , z.B. S. 70, 126, 145, 209, 213; ders. X , z. .B. S. 48 f., 53 f.; Hesse V I , S. 128 f. und eingehend Goerlich I.

3.0 Ausgangspunkte

87

Wenn das Bundesverfassungsgericht i m Urteil zur badischen Kirchenbausteuer den Grundsatz der „Einheit der Verfassung als eines logischteleologischen Sinngebildes" deshalb betont, „ w e i l das Wesen der Verfassung darin besteht, eine einheitliche Ordnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens der staatlichen Gemeinschaft zu sein" 195 , so bleibt das Wesentliche i m Ungewissen: die Frage, wie dieses Axiom von Einheit zu begründen ist ebenso wie die nach der Notwendigkeit einer derartigen methodischen Verknüpfung. Die einem solchen Wesen der Verfassung entstammende Einheit kann logisch oder ideologisch, kann i m Sinn von Ltickenlosigkeit oder Freiheit von Widersprüchen, als demokratischer Konsens i m Sinn von Burkes „agreement on fundam e n t a l " oder als Aufforderung zur Einheitlichkeit politischen Meinens und Handelns, kann als Voraussetzung oder als Zielbegriff und noch auf andere Arten verstanden und mißverstanden werden. Es ist wenig damit anzufangen, wenn das Grundgesetz ein logisch-teleologisches Sinngebilde genannt wird. Über den Bereich der Verfassung hinaus ist der Ausdruck „Einheit" i n älterer Zeit vor allem auf die Rechtsordnung angewandt und zum Beispiel als Einheit des analytischen Zugriffs u n d seines Bezugspunkts, als Einheit der rechtswissenschaftlichen Erkenntnis theoretisch gefaßt worden 196 . Das Vorverständnis von einer Einheit der Rechtsordnung wechselt nicht nur nach wissenschaftlichem Standort, sondern unter Umständen auch von Fach zu Fach, wie zwischen Staats- und Völkerrecht, Internationalem Privatrecht, Strafrecht «und Zivilrecht 1 9 7 . So kann es für das Völkerrecht wie auch für Rechtsgeschichte und historische Rechtsvergleichung reizvoll sein, nach einer Einheit als der jeweiligen Gesamtgestalt von Rechtsordnungen zu forschen, die sich kennzeichnend voneinander unterscheiden und aktuell oder historisch nebeneinander stehen. Eine solche Sicht w i r d etwa auf den jeweils kennzeichnenden Zusammenhang von Sanktionsnormen und Normen des Rechtsgüterschutzes innerhalb der einzelnen Ordnung abheben 198 . Auch i n der Verfassungsgeschichte läßt sich nach einer inhaltlichen und funktionalen Einheit des verfassungsgeschichtlichen Typus fahnden. Für die Methodik des Verfassungsrechts liegt es dagegen näher, nach einer wie auch iss ß V e r f G E 19, S. 206 ff., 219, 220. 196

So bei Engisch I, S. 69: Einheit des Rechts sowohl als A x i o m wie als Postulat juristischer A r b e i t ; Beispiele dazu ebd., S. 70 ff. — Diese Sicht unterscheidet sich v o m Konzept der Einheit eines auf die positive Rechtsordnung bezogenen rechtswissenschaftlichen Systems: ebd., S. 2 i m Anschluß an Husserl y S. 227 ff. Vgl. auch Larenz, S. 155 f. m i t der Doppelsicht der inneren Einheit einer positiven Rechtsordnung einmal als vorauszusetzender Eigenschaft der normativen Querverbindungen i m geltenden Recht wie auch als Ergebnis systematisierender Jurisprudenz. 197 Wengler. 198

Wengler , S. 720, 723, 739, 743 und durchgehend.

88

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

immer 1 9 9 zu begründenden Sinn-Einheit der einzelnen Verfassungsordnung zu fragen. Auch i m Zivilrecht und i m Strafrecht gibt es vergleichbare Versuche. Dort führt rein topische Methodik ebensowenig wie das Denken der älteren Interessenjurisprudenz von kausalen gesellschaftlichen Interessen her, deren Resultanten als Rechtsnormen auftreten, zu einer Sinneinheit der Rechtsordnung, deren Nachweis das Bemühen der Wissenschaft lohnen könnte 2 0 0 . Selbst einem betont dogmatischen Arbeiten i m Zivilrecht erscheint es nicht mehr sinnvoll, ein rechtswissenschaftlich zwingendes Begriffssystem aus formallogisch geschlossenen, umfassenden Ableitungszusammenhängen zu unterstellen. Rechtsgrundsätze sind von ihrem einst so genannten Stoff nicht trennbar. Systemversuche der genannten A r t sind illusorisch, oder ihr Entwurf verkümmert zu aussagelosen Formalien von der A r t der Kategorientafel Rudolf Stammlers 201. Die leitenden Rechtsprinzipien werden nicht mehr als formallogisch, wohl aber als inhaltlich sinnvoll miteinander verbunden vorgestellt. Das führt jedoch noch nicht entscheidend über positivistischen Purismus hinaus, solange Struktur und Strukturtypen von Normen rechtstheoretisch nicht weiter aufgeschlüsselt werden. Das ist auch dem Versuch entgegenzuhalten, eine innere Einheit der Rechtsordnung i n der Einheit historischer Wertvorstellungen und i n der „natürlichen" Gliederung von Lebenszusammenhängen zu sehen, von denen die Rechtsordnung ausgeht oder auf die sie einwirkt 2 0 2 . Vielmehr hat es sich als fruchtbar erwiesen, rechtliche Normativität nach Normprogramm und Normbereich zu strukturieren und diesen als einen Bestandteil von Normativität zu fassen, der i m Vorgang praktischer Konkretisierung gleichrangig neben die textbezogenen Faktoren tritt. Erst Sprachdaten und Realdaten gemeinsam umschreiben die Menge rechtspraktischer Entscheidungselemente 203 . Werden Rechtsnormen auf diese Weise nicht als hypothetische Urteile oder sachleere Imperative, nicht als unklar bleibender Ausdruck von Werten oder nur als Ergebnisse gesellschaftlich 199 Eine Möglichkeit dieser A r t w i r d i n Rudolf Smends Integrationslehre formuliert. Schon der W o r t s i n n von „Integration" ist auf Wiederherstellen, Herstellen oder Entstehen von umgreifender u n d eigenständiger Einheit gerichtet; dazu Smend V I , S. 482. 200 Coing I, S. 484 ff. ; Larenz, S. 154 ff. 201 Engisch I V , S. 173 ff.; Coing I I I , S. 342; Larenz , z.B. S. 154 ff., 156 zum Rechtssystem als einer dogmatisch-normativen Einheit, als einem „System sinnvoll miteinander verbundener leitender Rechtsprinzipien, das sich bestimmter Begriffe u n d Einteilungsgesichtspunkte bedient, ohne f ü r diese je eine Allgemeingültigkeit oder Vollständigkeit beanspruchen zu können". Zur Rolle der Rechtswissenschaft angesichts derart eingeschränkter Einheit siehe Engisch I, z. B. S. 83, ferner ebd., S. 21 f., 23, 24. 202 Z u Coing I I I , S. 342. 203 F.Müller I I I , S. 168ff., 216ff. und durchgehend; ders. V I , S.9ff., 3 1 1 ; ders. X I , S.38ff.; ders . X , z.B. S. 116 ff., 125 ff., 180 ff., 264 ff.; ders. X I I , S. 94 ff.

3.0 Ausgangspunkte

89

wetteifernder Kräfte und Interessen verstanden, sondern als sachgeprägte Ordnungsmodelle von verschieden gestufter Bauform, so ist der Gedanke des rechtswissenschaftlichen Systems genauer zu fassen. Er meint dann eine sachlich strukturierbare, inhaltlich verständliche Zusammenordnung je für sich zu bearbeitender Normen und Normengruppen ohne Anspruch auf eine logische oder ideologische Einheit, die als gegeben vorausgesetzt werden könnte 2 0 4 . Die Rechtspraxis berücksichtigt das zum Beispiel dadurch, daß eine unter dem Stichwort „Natur der Sache" auftauchende maßstäbliche Einheitsvorstellung auf die Rolle eines Kriteriums für die Systemkonsequenz bestimmter rechtlicher Gesamtregelungen beschränkt wird. Solche Ordnungssysteme sind sachlich vergleichsweise selbständig umschriebene Teilgebiete der Rechtsordnung, deren soziale Wirklichkeit aus der Menge ihrer Normbereiche zu begreifen ist 2 0 5 . Werden solche als sachgeprägt verstandenen Normengruppen rechtswissenschaftlich untersucht, so ist freilich der Begriff „System" dafür entbehrlich. Das, was ihre Einheit genannt werden könnte, besteht i m Inbegriff ihrer Sachprobleme, der von ihnen darauf gegebenen normativen Antworten und deren methodisch belegbarer Zusammenhänge. Die so verstandene Einheit eines Teilgebiets der Rechtsordnung kann auf diese Weise nicht nur als Zielvorstellung, sondern auch als rationalisierender Maßstab beim Überprüfen von Gesetzesrecht an Verfassungsrecht, nicht zuletzt an einer Generalklausel wie dem Gleichheitssatz, verwendet werden. Das Bundesverfassungsgericht 206 ist bei der Analyse einer spezifischen Verknüpfung von Steuerrecht und Bürgerlichem Recht so vorgegangen. Es spricht davon, die Systemkonsequenz sei von der Legislative zunächst frei zu setzen, dann aber nur noch aus überzeugenden Gründen zu sprengen. Das Gericht verbindet diesen Ausdruck für Teilbereiche der Rechtsordnung und für deren gegenseitiges Verknüpfen ausdrücklich nicht nur m i t der Klarheit und der inneren Autorität, sondern auch m i t der Einheit der Rechtsordnung. Entsprechend läßt sich vielleicht auch die Einheit der Verfassung als die eines normativ abgehobenen u n d für die Rechtsordnung grundlegenden Teilsystems gesondert untersuchen. Dabei gehe ich vom Verständnis der Rechtsnorm als eines sachgeprägten Ordnungsmodells aus. Weder werden hier die Normen des geltenden Rechts bis zum Grenzfall ihrer Unverbindlichkeit topisch problematisiert — die Vorstellung einer m i t ihnen zu verbindenden Einheit wäre 204 Vgl. am Beispiel der Grundrechte: F. Müller I I I , S. 216 ff., 219 f.; dens. V I , S. 9 ff.; dens. V I I I , durchgehend: dens. I X , z. B. S. 20 ff. 205 Beispielsweise Sozialversicherungsrecht, Steuerrecht, Dienststrafrecht, Wahlrecht, das Recht einzelner Berufsordnungen, der Arbeitslosenhilfe u. s. f. V g l dazu F. Müller I I I , S. 104 f. m. Nw. zu Rechtsprechung u n d Literatur. 206 BVerfGE 13, S. 331 ff., 340, 354; zu dem i m Text folgenden vor allem S. 340 (Gewerbesteuerpflicht personenbezogener Kapitalgesellschaften).

90

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

dann insoweit sinnlos. Noch soll ihre Einheit um jeden Preis gerettet werden — und sei es u m den eines nur formal bestimmten Systems sachentleerter und zugleich anmaßend verdinglichter Begrifflichkeit, aus dem es sich deduzieren ließe. Diesseits reinen Problemdenkens oder Systemdenkens w i r d nach der etwaigen Einheit der Verfassung i n einer Richtung gefragt, die nicht die einzelnen Normen für auseinander ableitbar, sondern die sie für miteinander verbindbar oder auch nur vereinbar hält 2 0 7 . Dabei w i r d unbeschadet des Hineinwirkens der Bundesverfassung auch i n die Verfassungen der Länder 2 0 6 und in die gesamte Rechtsordnung 2 0 9 vom Normenbestand des Grundgesetzes ausgegangen. Er ist insofern nicht m i t der Menge der Normtexte i n der Verfassungsurkunde gleichzusetzen, als er auch ungeschriebenes Verfassungsrecht umschließt. Damit sind nicht nur die vom Bundesverfassungsgericht betonten Leitideen gemeint, von denen die Verfassung „innerlich zusammengehalten" 2 1 0 werden soll. Allerdings ist das Grundgesetz eine formstrenge Verfassung. Es verbietet i n Art. 79 Abs. 1 GG Verfassungsdurchbrechungen und zielt damit auf eine bestimmte (formale) Spielart von Einheit der Verfassung. Es verlangt rechtsstaatliche Norm- und Methodenklarheit. A n die Annahme ungeschriebenen Rechts von Verfassungsrang sind daher scharfe Anforderungen zu stellen 211 . Seit sich die Rechtspraxis auf eine Einheit der Verfassung beruft, behandelt sie dabei die Verfassung als ein Ganzes: Es w i r d mit Hilfe des Gesamtinhalts des Grundgesetzes 212 oder eines der Verfassunggebung vorausliegenden Gesamtbilds 213 wenn schon nicht konkret gearbeitet, so doch an der sprachlichen Oberfläche argumentiert. Das Grundgesetz w i r d als Ganzes wenn schon nicht behandelt, so doch beansprucht. Das ist nicht zufällig so. Ganzheit und Einheit sind i n der Überlieferung des Denkens und aus dieser herkommend (als Beispiel für Nietzsches These vom abgesunkenen Kulturgut) auch i n den Gebrauchsweisen der Alltagssprache eng benachbart. Der Ausdruck „Ganzes" steht allgemein für eine Menge von Teilen und ist insofern ein Relationsbegriff. Ob die 207 Z u m rechtstheoretischen Hintergrund: F.Müller I I I , z.B. S. 56 ff., 661, 216 ff., 219 f. F ü r das Zivilrecht grundlegend Esser V, z. B. S. 7, 85, 239; ders. II. 208 Vgl. schon BVerfGE 1, S. 208 Leitsatz 3, 209, 227 f. 209 Z u m Beispiel BVerfGE 7, S. 198 ff., 205. 210 BVerfGE 2, S. 380 ff., 381 Leitsatz 4, 403: Gerade diesen Leitideen verdanke das Grundgesetz seinen inneren Zusammenhang. 211 Z u ungeschriebenem Verfassungsrecht: Hesse V I , S. 15, 30, 131; allgemein zum Gewohnheitsrecht u n d seinen Verfassungsmaßstäben ebd., S. 207. Grundsätzlich skeptisch zur Möglichkeit von Verfassungsgewohnheitsrecht: Tomuschat. 212 Seit BVerfGE 1, S. 14 ff., 32 f und E 1, S. 208 ff., 227 f. 213 Seit BVerfGE 2, S. 380 ff., 403.

3.0 Ausgangspunkte

91

einzelnen Elemente qualitativ gleich oder verschieden sind, bleibt dabei noch offen. Sie müssen jedenfalls unterscheidbar sein, das Ganze muß sie zusammenfassen. Das Ganze w i r d als solches begriffen und überhaupt erst zum Thema in dem Maß, i n dem es für sich untersucht und insofern als gegenüber den Elementen selbständig behandelt wird. Holistische Theorien übersteigern auf dem Weg einer optischen Täuschung die Selbständigkeit des Ganzen und neigen zu globalen Aussagen 214 . W i r d von der Einheit der Verfassung gesprochen, so ist diese als ein Ganzes genommen. Das kann verschiedenes bedeuten. Sie kann etwa als vollständige Menge von Verfassungsnormen auftreten. Einheit wäre dann Geschlossenheit entweder i n dem Sinn, daß keine Lücken vorhanden sind oder i m Sinn der Freiheit von inneren Widersprüchen. Oder das Ganze kann derart als einheitlich erscheinen, daß es die umfaßten Einzelelemente, hier die Verfassungsnormen, zu einem Kontinuum verbindet. Dann kann eine bestimmte A r t von formaler Einheit das Grundgesetz als Verfassungsurkunde meinen. Die Vorstellung kann auch dahin gehen, die Verfassung werde durch dieses Zusammenhalten als formal gleichförmige Grundmenge, als homogenes Ganzes konstituiert, an dem keine wesentlichen Unterscheidungen getroffen werden können. Dem entspricht die Frage nach einer Einheit der normativen Verfassung sstruktur. Das Ergebnis des Zusammenfassens und Zusammenhaltens durch die einheitliche Qualität „Verfassung" kann auch so gesehen werden, daß es auf die Teile zurückwirkt: Auch diese werden dann als formal homogen gesehen. Für die Normen heißt 'das, daß sie dieselbe Geltungsqualität, dieselbe formal bestimmte Wirkungskraft aufweisen. I n diesem Fall kann nach einer Einheit der Verfassung im Blick auf die Rangstufe von Rechtsquellen gefragt werden. Für das Ganze wiederum kann das Ergebnis des Zusammenhaltens auch qualitativ-inhaltlich bestimmt werden. Die Verfassung w i r d dann als materiell einheitlich etwa im Sinn ideologischer , legitimierender Einheit oder der Einheit des verfassungsgeschichtlichen Typus untersucht. Schließlich sind über das Ergebnis des Zusammenhaltens funktionale Aussagen denkbar: qualitative Einheitlichkeit nicht als vorgegebenes Datum, sondern als Aufgabe (funktionale Einheit). Aus dieser Bestimmung folgt die Frage, wie eine derartige Aufgabe arbeitstechnisch ausgeführt werden soll. Damit sind die methodologischen Deutungsvarianten der Einheit der Verfassung und ist diese als mögliches Instrument der Konkretisierung von Verfassungsrecht zum Thema gemacht. I m folgenden werden die soeben entwickelten Möglichkeiten für einen Einsatz des Arguments „Einheit der Verfassung" i m einzelnen geprüft. 214 Zur K r i t i k des holistischen Denkstils unter Gesichtspunkten der Wissen schaftstheorie: Popper, S. 61 ff.

92

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Sie umfassen nicht alle wissenschaftlich sinnvollen Fragestellungen, wohl aber solche, die wissenschaftlich sinnvoll sein können. Zugleich betreffen sie die für die Rechtspraxis wichtigen Fälle.

3.1 Formale Möglichkeiten 3.11 Einheit als Geschlossenheit 3.111 Freiheit von Lücken

Die Rechtsordnung kann, wie auch die Verfassung, als logisch geschlossen vorgestellt werden. Die Wissenschaft vom Verfassungsrecht ist allerdings jüngerer Herkunft; die ältere Form des Glaubens an eine Geschlossenheit des Rechts bezieht sich auf dessen Ordnung i m ganzen. Dieses Dogma ist zwar das Erbe, nicht aber das Produkt des rechtswissenschaftlichen Positivismus. Es war diesem aus der Tradition des Naturrechts überkommen. Dessen rationalistisches Denken i n der Zeit des Vernunftrechts stellte sich die gesellschaftliche Entwicklung und den geschichtlichen Ablauf als vorhersehbar und damit als i m voraus normierbar vor. Die abstrakte und generelle Norm unterstellt die grundsätzliche Vorwegnehmbarkeit von Zukunft durch Rechtsregeln. Der von Max Weber als Idealtyp beschriebene kontinentale Anstaltsstaat formalisiert die Rechtsordnung systematisch. Er zentralisiert, monopolisiert und bürokratisiert das Setzen, Ausführen und Kontrollieren von Normen. Das Formalisieren des neuzeitlichen Rechts entspricht der Denkform des gesellschaftlich herrschend gewordenen wirtschaftenden Bürgertums. Die Rechtsordnung w i r d zum Rechtsbetrieb. Die abstraktgenerelle Norm erhält die Aufgabe, unabschließbare Zukunft verbindlich zu erfassen. Das Naturrecht bleibt nicht länger übergesetzliches Korrekt i v der geltenden Gesetze. Es w i r d zum wirksamsten Motor der rationalistischen Vergesetzlichung des Rechts. Es rechtfertigt den Obrigkeitsstaat und liefert i h m die Legitimation für planende, kalkulierende Gestaltung der Gesellschaft mit den Mitteln abstrakt-genereller Normen 215 . Das so geformte und eingesetzte Recht w i r d als geschlossen vorgestellt. Wenn alles menschliche Sozialverhalten normierbar und durch Normen vorwegnehmbar ist, dann liegt die Behauptung nahe, die jeweils geltende Rechtsordnung normiere und antizipiere es tatsächlich. Die Idee der Kodifikation erscheint dann als zwingend. Ihr entspricht das Denken i m geschlossenen System. Geschlossenheit w i r d historisch zunächst als Vollständigkeit und zugleich als Freiheit von inneren Widersprüchen aufgefaßt. I n der Diskussion der Rechtswissenschaft seit der 2,5

F. Müller

X, S. 111 f. m. Nw.

3.

ale Möglichkeiten

93

zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind -diese Gesichtspunkte dann auseinandergetreten. Sie gelten heute als die beiden Fragestellungen für eine mögliche Geschlossenheit der Rechts- und Verfassungsordnung 216 . Die Idee der Geschlossenheit i m doppelten Sinn war i n der Zeit der vernunftrechtlichen Kodifikationen nicht ein rechtswissenschaftlich reflektiertes Programm. Sie lag «der Idee umfassender Gesetzgebung vor dem Hintergrund des sozialen und geschichtlichen Optimismus der vernunftrechtlichen Epoche naiv und unentfaltet zugrunde. Erst Pandektenwissenschaft, Gesetzespositivismus und Begriffsjurisprudenz beanspruchten, Rechtswissenschaft als geschlossen begriffliches System zu betreiben, Normen formallogisch aus System, Begriff und Lehrsatz abzuleiten, Rechtsfälle durch von Realität ungetrübte syllogistische Subsumtion zu lösen. Die Rechtsordnung t r i t t als i m strikten Sinn logisch gefügt und widerspruchsfrei auf. I n Gestalt der Rechtsbegriffe scheint eine geschlossene Zahl von Axiomen zur Verfügung zu stehen, die das Rechtssystem dem System i m Sinn der Mathematik vergleichbar macht. Die Naivität des aufgeklärten Vernunftrechts und seiner Kodifikationen ist der Rechtswissenschaft i m Fortgang des 19. Jahrhunderts bereits abhanden gekommen. Eine zwingende Einheit, notwendig geschlossen im Sinn von widerspruchsfrei und lückenlos, ist nun nicht länger die positive Rechtsordnung, wohl aber das begriffliche System als Erzeugnis einer puristisch arbeitenden Rechtswissenschaft. Das Allgemeine Landrecht von 1794 und das Bürgerliche Gesetzbuch von 1896 markieren den Abstand zwischen beiden wissenschaftsgeschichtlichen Positionen 217 . Die aus dem Naturrecht überkommene Idee vom Recht als einem lücken- und widerspruchsfreien, als einem geschlossenem System war durch die Historische Schule und i m weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts durch Historismus und juristisches Zweckdenken in systematisch unvermittelte historische Wirklichkeit und einander widersprechende gesellschaftliche Interessen aufgelöst worden. Der Rechtspositivismus versuchte, das verlorene Terrain durch Wissenschaft und damit auf einer der Realität scheinbar entrückten, durch Realität vermeintlich nicht mehr i n Frage zu stellenden Ebene zu retten. Objektive, geschlossene Ordnung ohne inhaltliche Lücken und innere Brüche ist nicht länger das Ergebnis vorkritischen Glaubens an eine Harmonie, die durch vernunftgesteuerten Fortschritt in der Geschichte getragen wird. Sie ist das 2.6 Vgl. etv/a nur Engisch V I , S. 139 f., 159 f. und S. 160 ff. Zu den großen Kodifikationen der europäischen Moderne und zu ihren Wurzeln i m V e r nunftrecht: Wieacker I I , S. 133 IT., 197 ff.; zur Pandektenwissenschaft und zum Gesetzespositivismus: ebd., S. 253 ff., 271 ff. Z u m Privatrecht i n der Zeit des späten Naturrechts: Thieme I. Z u r Kodifikation i n Preußen: Thieme I I . 2.7 Z u r historischen Entwicklung seit der Pandektenwissenschaft: Damm, S. 218 ff.

94

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Produkt eines -angestrengt abstrahierenden, soziale und geschichtliche Wirklichkeit mühsam und daher rigoros verdrängenden Denk Vorgangs juristischer Schreibstubengelehrter. Die politische Absicht u n d Wirkung (Funktion) dieses die Wirklichkeit als unjuristisch ausschließenden Denkens liegen auf der Hand. Der Positivismus fragt, wie die Hechtswissenschaft autonom werden, wie sie rein juristisch arbeiten kann. Rechtliche Normen dürfen m i t historischen, sozialen, politischen und überhaupt m i t gesellschaftlichen Gegebenheiten nicht mehr zusammengebracht werden. Die Zusammenhänge werden nicht abgestritten. Sie haben aber die Rechtswissenschaft nicht zu interessieren 218 . Juristische Arbeitsmethodik soll nur noch von ihrer professionellen Technizität her aufgefaßt werden dürfen. Daß die Vorgabe einer reinen, einer von allen in diesem Sinn nicht-juristischen Elementen befreiten Dogmatik und Methodik ein Politikum darstellt, wurde schon von Positivisten der Gründerjahre gesehen. Der Gesetzespositivismus w i r k t e legitimistisch, und zwar zugunsten politischer Restauration und antiliberaler Reaktion nach 1848/49. Gerber hat als den Zweck der positivistisch-konstruktiven Behandlung des Staatsrechts deutlich genug das Konservieren des Bestehenden genannt: „Die öffentlichen Rechte erhalten hierdurch die Festigkeit und Sicherheit der Privatrechte, und verlieren auf diese Weise jenen unklaren und unsicheren Bestand, bei dem sie lediglich als der launenhaften W i l l k ü r der Tagesmeinung preisgegebene Elemente erscheinen." Damit ist nicht i n erster Linie rechtsstaatliche Norm- und Methodenklarheit gemeint, sondern ein bewußt eingesetztes M i t t e l verfassungsrechtlicher Arbeitsmethodik, das vor dem Hintergrund der politischen Lage Deutschlands i n der Reaktionszeit gegen unbeschränkte „Ablösbarkeit" des Bestehenden und überhaupt gegen das „parlamentarische Staatsleben" wirken sollte. Aber auch politisch reflektierte Positivisten verdrängten i n ihrer Praxis die funktionalen Voraussetzungen und sachlichen Bedingungen ihrer eigenen Arbeit, verkürzten die Funktions- und Strukturzusammenhänge der Rechtsordnung auf deren Positivität, verkannten den Charakter ihres eigenen Tuns als gesellschaftliche Arbeit 219. I n der Kampfzeit des europäischen Liberalismus hatte die politische Funktion seiner Begriffe und Forderungen offen zutage gelegen. Für Deutschland gilt das, wenn auch kennzeichnend verspätet, i n gleicher Weise; der 218 Kelsen I V ; ders. I I I , durchgehend; hierzu F. Müller I I I , S. 24 ff. — Zur positivistischen Grundkonzeption: v. Gerber I I , S. V f . , 10, 237 u. ö.; zu Gerbers Bewußtsein von der politischen Bedeutung des Positivismus: ders. I, S. 69, 102 ff.; ebd. die i m Text folgenden Zitate. Dazu Wilhelm , S. 140 ff., 152 ff. 219 F. Müller X I , S. 16 f., 24 f., 26 ff.; ders. X I I , z. B. S. 12, 49, 68 f.; ders. I I I , z.B. S. 18 f., 21 f., 42 f., 194 f.; zum Verhältnis des Positivismus zum Naturrecht vgl. Ehmke I, S. 13 m. Nw. Allgemein zu Begriffsjurisprudenz und Positivismus i n der deutschen Entwicklung: Larenz, S. 20 ff., 74 ff.

3.

ale Möglichkeiten

95

Frühliberalismus des Vormärz hatte auch in der Wissenschaft ein klares politisches Bewußtsein von seinen Kampfpositionen 220 . Diese wurden von dem Zeitpunkt an formalistisch umgedeutet, da die politische Hauptaufgabe nicht mehr auf Verändern, sondern nunmehr auf Konservieren gerichtet war. Das politisch Etablierte w i r d nicht mehr i n Frage gestellt. Es erscheint nur noch i n Gestalt einer begrifflichen Abstraktion, der gesellschaftlicher Wandel, politische Veränderung nichts sollen anhaben können. Das geltende Recht w i r d als lückenloses System von Rechtssätzen ausgegeben, die einzelne Rechtsentscheidung als logisches Anwenden eines abstrakten Rechtssatzes auf einen zu 'subsumierenden Tatbestand. Rechtliche Relevanz verschiebt sich zu rechtslogischer Konstruierbarkeit, alles nur denkbare menschliche Gemeinschaftshandeln ist mit Anwendung und Ausführung abstrakter Rechtssätze oder mit einem Verstoß gegen solche 'gleichgesetzt 221 . Rechtsvorschriften und juristische Begriffe werden zu schlichter Vorgegebenheit verdinglicht: Eine neu geschaffene Verfassung soll nicht nur i n ihrer besonderen Eigenart erkannt, sondern auch auf vorpositive juristische Elemente zurückgeführt werden können, aus denen sie zusammengesetzt ist. Nicht nur der Verfassunggebung, sondern jeder Rechtsbildung ist „nur die tatsächliche Verwendung und Verbindung der allgemeinen Rechtsbegriffe" eigentümlich. Jedes mögliche Rechtsinstitut kann m i t absoluter Notwendigkeit „einem höheren und allgemeineren Rechtsbegriff" untergeordnet werden. Rechtliche Vorschriften werden als unmittelbare Gegebenheiten i m Sinn von Naturdingen behandelt. Was nur die Leistung wissenschaftlich abstrahierenden Denkens sein sollte, gerät so unversehens zur Seinsaussage, rutscht begrifflich ab und wissenschaftsgeschichtlich zurück in pseudo-naturrechtliche Unterstellung. Das w i r k t sich entsprechend auf den Gedanken der Rechtsordnung als System aus. Noch Savigny hatte den Ausdruck „System" auf das Entwickeln der Rechtssätze und ihrer Begriffe durch Definition und auf diese zurückführbare Unterscheidung angewandt 222 . Der Positivismus stützt sich auf das System des »geltenden Rechts als auf eine geschlossene, lückenlose Vorgegebenheit abstrakt verdinglichten Charakters. Sie hat den Vorteil, daß es sich aus ihr logisch deduzieren läßt, ohne daß sich die Sachprobleme störend einzumischen brauchen. Das System läßt sich formalistisch handhaben und ist stets zu Diensten. Da es neue Fragen, neue Erscheinungen begrifEsnotwendig soll erfassen können, ist es mit dem Gedanken an Lücken ebensowenig vereinbar wie mit dem an Widersprüche. Als Quantität vollzählig und als Qualität bruchlos, ist 220

F. Müller I, z. B. S. 282 ff., 314 ff. M. Weber V, S. 103. — Die i m Text folgenden Zitate bei Laband, S. V ff., V I ; dazu F. Müller I I I , S. 18 ff. 222 v . Savigny I I , bes. S. 37. 221

96

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

es ein Ganzes, wie man es sich nur wünschen kann. Das Recht hat keine Lücken, wie Bergbohm, Laband, Bornhak -und andere i n den Achtziger und Neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts verkündeten. Aufgrund seiner „logischen Expansionskraft" ist das Recht „etwas allemal i n lückenloser Ganzheit dastehendes". Diese Aussage betreife keine Fiktion, sondern „eine nicht wegdenkbare Thatsache" 223 . Die „notwendige Geschlossenheit des Rechtssystems" lebte auch noch im 20. Jahrhundert weiter 2 2 4 ; nachweisbare Lücken i m Gesetz beunruhigen dieses Dogma nicht. Es behauptet, zwar könne das Gesetz, niemals aber das Recht als Ganzes Lücken haben. Bergbohms These hatte nicht wie der naive Versuch der alten Kodifikationen die etwaige Vollständigkeit der Gesetzgebung im Auge, sondern die nicht zu bremsende Ausdehnung logischer Begrifflichkeit der Rechtswissenschaft. A k t u e l l als solche empfundene Lücken sollen nur Mängel der gegenwärtigen Rechtserkenntnis, nicht solche des Rechts bedeuten. Schon u m die Jahrhundertwende jedoch wurden die Möglichkeiten der Logik weniger euphorisch gesehen. Sie kann demnach Neues nicht schaffen, nur bereits Vorhandenes ordnen. Das Ganze des Rechts erscheint dann, wenn überhaupt, als ein teleologisches, nicht länger als ein logisches Ganzes. Durch logisches Ausbeuten der Rechtsregei ist i m besten Fall nur das herauszuholen, was hineingesteckt worden war. Von der logischen Expansionskraft der hinter den positiven Normen stehenden Begriffe werden nicht alle möglichen Fälle abgedeckt. A n die Stelle logischer Ableitung t r i t t teleologisches Ergänzen und Weiterbilden positiver Regeln 225 . Wie Erich Jung sprach auch Georg Jellinek schon i m Jahr des Inkrafttretens des Bürgerlichen Gesetzbuchs von dem „falschen Dogma der Geschlossenheit des Rechtssystems" 226 . Durch Freirechtsschule, Interessenjurisprudenz und den staatsrechtlichen Richtungsstreit der Zwanziger Jahre wurde das Scheitern des Gesetzespositivismus zum Thema. Er scheiterte an dem Ausmaß, i n dem er die Inhalte, mit denen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis zu t u n haben, sowie die Funktion, die sie ausführen, verdrängt hatte. Immer wieder zeigte die Arbeit der Praxis, daß objektivistische Sprachfassaden i n Dogmatik und Entscheidungsbegründung den wirklichen juristischen 223 Bergbohm I I , S. 372 ff., 384 f., 387 f.; ebd., S. 373 Anm. 6 weitere Nachweise zur zeitgenössischen Diskussion. — Z u m Systemdenken i m deutschen Privatrecht eingehend Canaris I I ; v g l auch Darstellung und Nachweise bei Engisch V I , S. 139 f., 159 f. 224 Etwa Burckhardt I, S.46, 50, 54 f. Ebenso ders. I I I , S. 122, 125 zum „Postulat der logischen Geschlossenheit des Rechts" und über Gesetz und Verfassung als „ein einheitliches Ganzes". — I n Kelsens Annahme der Grundnorm findet der Gedanke einer zwingenden Geschlossenheit und Einheit der Rechtsordnung dann eine neu formulierte Stütze. 225 So bereits Jung, vor allem S. 22 f., 25. 226 G. Jellinek I I I , S. 353, 356 ff. — Gegen dieses Dogma aufgrund seines dreifachen Rechtsbegriffs auch: Ehrlich I I , z. B. S. 14 f., 346 f., 393 ff.; ders. I I I , S. 80 ff., 170 ff.

3.

ale Möglichkeiten

97

Arbeitsvorgängen zu wenig entsprachen. Nicht so sehr abstrakte Begrifflichkeit, als vielmehr fühlbares Bestimmtsein durch wirkliche Interessen zeigte sich schon seit Jherings Wende zu einer pragmatischen Jurisprudenz als das, was die Rechtsarbeit steuert. Vom positiven Gesetz her gesehen, erschien n u n die Lücke als die Regel statt als die Ausnahme. Während mit einer solchen Ansicht das Dogma von der notwendig logischen Geschlossenheit des Rechts noch vereinbar blieb, verlor es seine W i r k u n g i n dem Maß, i n dem die juristische Methodik vom Gedanken formallogischer Subsumtion abzurücken genötigt war. Wenn die Lösungen der Fälle nicht mehr einfach abgeleitet werden konnten, die Rechtssätze auf den jeweiligen Fall keineswegs nur anzuwenden waren, so machte es auch keinen Sinn mehr, die Rechtsordnung als zwar empirisch nicht lückenfreies, wohl aber logisch notwendig einheitliches und geschlossenes System zu behaupten. Auf breiter Front schwenkte die Rechtswissenschaft zu Vorstellungen um, die dem System des Rechts bescheinigen, offen, fragmentarisch, beweglich, nicht axiomatisch, nicht deduktionsfähig zu sein 227 . Auch das öffentliche Recht hat von dieser Entwicklung inzwischen Kenntnis genommen. Die systematische Einheit der Rechtsordnung w i r d als grundsätzlicher Sachzusammenhang gesehen, der systematisches Interpretieren erlaubt, ohne logisch zwingende Qualität beanspruchen zu können. Es gibt keine logischen oder begrifflichen Axiome, die endgültig definiert oder auch nur definierbar sind. Die Probleme gehen gegenüber dem System i n Führung 2 2 8 . Das bildet sich ab am Fortgang der alten Diskussion über Lücken i n Gesetz und Recht. Als Lücke w i r d eine planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts bezeichnet, wobei die geltende Rechtsordnung i m ganzen den Maßstab abgeben soll. Der Plan, gegen den die Lücke w i r k t , w i r d i n der Teleologie der Rechtsordnung gesehen. Diese fungiert also weiterhin als ein Ganzes; nur w i r d dieses nicht 227 Hinweise und Nachweise bei Latenz, S. 156 f., 161, 226 f., 325 f., 330 f., 420, 429, 471 ff.; Esser V, S. 44, 222. Allgemein zum Begriff des Systems und zu systemtheoretischen Ansätzen i n der Rechtswissenschaft: Büllesbach. — Grundsätzlich zur Systemtheorie vgl. den klaren Uberblick bei Suhr I I . 228 Vgl. etwa Jesch, S. 64 f.; gegen axiomatisches Denken i n der Rechtswissenschaft: F.Müller I I I , S. 56 f., 58, 66, 72 f., 198; zur Diskussion u m die Topik i m öffentlichen Recht: ebd., z. B. S. 56 ff., 59 f., 65 ff., 151 ff., 158, 160, 195 ff.; ders. X , S. 77 ff. u. ö. — Das Bundesverfassungsgericht denkt i m Soraya-Beschluß einerseits an den positiven Rechtsbestand: die Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung sei „als prinzipielles Postulat der Rechtssicherheit vertretbar, aber praktisch unerreichbar"; andererseits läßt es das versunkene Dogma von der logischen Expansionskraft rechtswissenschaftlicher Begriffe und von der darum notwendigen Geschlossenheit der Rechtsordnung m i t seiner wolkigen These von der „verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen" wieder auferstehen, BVerfGE 34, S. 269 ff., 287. — Zur Lückendiskussion: Engisch V I , vor allem S. 138 ff. m. N w , 281 ff.; Latenz, S. 354 ff., 360 ff.; Canaris I ; Perclman.

7 F. M ü l l e r

98

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

länger als gegeben, sondern als aufgegeben behandelt. Das ist noch immer eine Unterstellung. Würde sie fallengelassen, so könnte zwar noch von planmäßigen Lücken i n dem Sinn gesprochen werden, daß das positive Recht durch spezielle Norm Ausnahmen von anderen positiven Regeln vorsieht. Solche Fälle sind mit systematischen Elementen zu bearbeiten, sie bedürfen weder der Vorstellung eines teleologisch bestimmten Ganzen noch der einer Einheit von Rechtsordnung oder Verfassung. Von planwidrigen Leerstellen, also von Lücken i m Sinn der herrschenden Dogmatik, könnte dann aber nicht mehr die Rede sein. Der Begriff müßte gleichwohl nicht funktionslos werden, wenn das Postulat teleologischer Einheit und Ganzheit der Rechts- und Verfassungsordnung aufgegeben würde. Zwar setzt der Begriff der Lücke voraus, daß innerhalb eines positivrechtlichen Ordnungsmodells weitere Regelungen als erforderlich und möglich bewertet werden 2 2 9 . Er verlangt aber nicht, daß die normative Ordnung, auf die er angewandt wird, als i m übrigen geschlossene zu denken ist 2 3 0 . Es handelt sich dabei um verschiedene Fragen. Die Wertung, es liege eine Lücke vor, braucht nicht an einer Rechtsordnung i m ganzen festgemacht zu werden, deren Ganzes blockhaft unterstellt w i r d und rationaler Argumentation nicht offen steht. Sie w i r d sachlich stets am Bedürfnis der wirklichen Gesellschaft danach gemessen, ein Problem überhaupt oder in einem bestimmten Sinn verbindlich geregelt zu sehen. M i t der Vorstellung von Lücken w i r d über das Dasein eines vollständigen Normensystems oder eines ebensolchen Systems rechtswissenschaftlicher Begrifflichkeit nicht vorentschieden. Zudem kann der Begriff „Lücke", wie i n aller Regel, auch auf einen Komplex von Normengruppen oder auf eine einzelne Gruppe von Normen, ja sogar nur auf das Verhältnis zwischen Einzelnormen sinnvoll angewandt werden. Hier ist daran zu erinnern, daß nicht nur die Diskussion u m Lücken, sondern auch die grundlegende Frage nach einer Einheit der geschlossenen Rechtsordnung einen praktischen Ansatz hat. Selbst dort, wo Einheit als Lückenlosigkeit nicht dogmatisch behauptet wird, gilt sie doch „bis zu einem gewissen G r a d . . . als Postulat ..., indem der Richter ja niemals wegen Fehlens einer Rechtsnorm die Entscheidung verweigern darf" 2 3 1 . Noch heute gilt das i m französischen Code civil in Art. 4 klassisch formulierte, i n unserem Recht ungeschrieben anerkannte Rechtsverweigerungsverbot als wichtiges Argument für die Geschlossenheit der Rechts- oder Verfassungsordnung. Eingeschränkt w i r d dieser Schluß nur durch die Überlegung, nicht in allen Rechtsfragen müsse ein Gericht 229 230 231

S. 159.

Esser IV, S. 176; s. a. Kriele I I , S. 196 f. So aber Damm, S. 223. Jung , S. 3; Hervorhebung i m Original. — Z u m folgenden : Engisch V I ,

3.1 Formale Möglichkeiten

99

zuständig sein; und i m übrigen sei nicht gesagt, daß i m Einzelfall stets eine echte Rechts- und nicht vielmehr eine bloße Willkürentscheidung ergehe. Sollte es auf dieses Argument wirklich ankommen, so würde — das rechtsstaatlich geforderte korrekte Entscheiden vorausgesetzt — die geschlossene Einheit von Recht und Verfassung als nicht mehr logisch, wohl aber rechtsstaatlich zwingendes Postulat endgültig Auferstehung feiern. Das geschähe aber u m den Preis eines Denkfehlers, der noch zu erörtern sein wird. Ein Versuch, die Geschlossenheit der Rechtsordnung teleologisch zu retten, ist i m Anschluß an Kants Begriff der „regulativen Idee" gemacht worden 2 3 2 . Alle Rechtsfragen sollen nach Kräften rechtlich beantwortet, alle Lücken des positiven Rechts nach Möglichkeit durch allgemeine Rechtsgedanken geschlossen werden. Das ist als rechtspolitischer Vorschlag einsichtig; nicht aber insoweit, als damit eine erkenntnistheoretische Figur auf Theorie und Methodik des Rechts übertragen wird. Es erscheint unangemessen, mit Kants Begriffsbestimmung für das Weltall eine einzelne Rechtsordnung zu belegen: Diese wäre ja ein Kosmos unter anderen. Dagegen ist das Universum, weil es alles Existierende i n sich faßt, „auch so fern keinem andern Dinge weder ähnlich noch unähnlich, w e i l es außer ihm kein anderes Ding giebt, mit dem es könnte verglichen werden" 2 3 3 . Die Welt ist kein „Ding an sich selbst"; sie existiert „gar nicht an sich (unabhängig von der regressiven Reihe meiner Vorstellungen)", ist „für sich selbst gar nicht anzutreffen". Die einzelne Rechtsordnung ist zwar auch nicht i m instrumenteilen Sinn zuhanden, ist keine handhabbare dogmatische Figur, kein rational verfügbares Argument. Ihre Rechtsnormtexte können zwar aufgelistet werden; wegen der Zugehörigkeit auch von Normbereichen und nicht zuletzt von Entscheidungsnormen zum geltenden Recht ist sie aber eine Grundmenge aus nicht abzählbaren Elementen. Gleichwohl ist sie von außen begrenzt und den anderen selbständigen Rechtsordnungen durchaus vergleichbar. Es heißt Kants Bestimmungen verbiegen, wenn sie vom „Inbegriff aller Erscheinungen", der gerade deswegen nicht „ein an sich existirendes Ganzes" ist, auf das kleine Universum einer nationalen Rechtsordnung übertragen werden sollen. Wenn bei dieser Geschlossenheit nicht real und wenn nicht „die Totalität i m Object als wirklich zu denken" ist, dann ist sie auch nicht als regulatives Prinzip von Kants Anwendung auf den Kosmos 234 herüberzuholen.

232

Von Engisch V I , S. 160. Kant, S. 345, Hervorhebungen i m Original; zum folgenden ebd., S. 346, 347, 348 und ff. 234 Der „alles was existirt, i n sich faßt" und der deshalb Totalität beanspruchen kann, ebd., S. 345, 348 u n d ff. 233

i*

100

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Die Verfassung i m besonderen w i r d nicht als geschlossene Einheit bewertet, weder i m Sinn einer Freiheit von Widersprüchen 235 noch i n dem eines vollständigen Normenbestandes. Zum einen ist die Verfassungsurkunde nicht erschöpfend, da auch ungeschriebenes Verfassungsrecht anerkannt ist 2 3 6 . Z u m andern ist das Grundgesetz auch als geschriebene Verfassung keine Kodifikation i m strengen Sinn 2 3 7 . Ein Teil der Normtexte wurde bewußt allgemein formuliert, der Zusammenhang zwischen den Vorschriften ist stellenweise lockerer als i n Gesetzeswerken anderer Rechtsgebiete. Nicht nur durch Aussparen hält das Grundgesetz Fragen offen und sich selbst vor einer normativen A n t wort zurück, sondern auch durch nichtssagende oder in sich widersprüchliche Formelkompromisse wie auch dadurch, daß vage Allgemeinbegriffe m i t Gesetzgebungsvorbehalten gekoppelt werden. I n beiden Fällen gibt die Verfassung i n Bereichen, die ihre Domäne sind, Normierungsmacht an die gegenüber einem Umschlag des politischen K l i mas nicht eben gefühllose Verfassungsjustiz und/oder an den noch mehr wetterwendischen Gesetzgeber ab. Beispiele bieten etwa die Sozialstaatsaussagen des Grundgesetzes oder das jeder sachlichen Folgerichtigkeit spottende staatskirchenrechtliche Normenkonglomerat von Weimar, das der Parlamentarische Rat unvollständig und zusätzlich verunklärend übernommen hat. Die Verfassung ist kein erschöpfendes Grundbuch von Staat und Gesellschaft, ist nicht die Ordnung der Totalität des Lebens beider Bereiche. Sie ist durch A r t . 24 Abs. 1 GG auf Gemeinschaftsrecht hin durchlässig und bietet m i t diesem sogenannten Integrationshebel einem überlagernden und vorrangigen Rechtskreis eine offene Flanke. Politisch und organisationsrechtlich geht damit nicht nur der Verfassung eine ihr ohnehin nicht zukommende Geschlossenheit, sondern auch dem Staatsapparat sein Monopol verloren, öffentliche Gewalt gerechtfertigt 235

Z. B. Grosskreutz. — Peters I I , S. 122, sieht wie viele andere Autoren aufgrund der herkömmlichen Methodik einen Widerspruch dann als gegeben, wenn durch Auslegung kein klarer „ W i l l e " erkennbar werde. — Vgl. als Beispielsfall f ü r verfassungsnormative Lagen, die gemeinhin als Widersprüche bezeichnet werden, die ausgedehnte Diskussion zum Verhältnis von A r t . 21 u n d 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Keinen Widerspruch sieht hier allerdings Peters deshalb, w e i l A r t . 21 „nach der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte" stärker sei als A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Diese parteienstaatliche D o k t r i n ist vor allem von Leibholz entwickelt worden; sie hat die Parteien rechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts sichtbar beeinflußt. Eingehende Darstellung bei Lipphardt , z. B. S. 152 ff. u. ö. 236

Vgl. oben zu 3.0 A n m . 211, S. 90. H. Heller I I I , S. 275. Aus der Diskussion unter dem Grundgesetz etwa Stern , z.B. S. 65 f., 87 u n d ff., 92; zum folgenden Drath I, S. 91; H. Huber I, S. 183; H.-P. Schneider , S. 77 f . zur strukturellen, materiellen u n d funktionellen Offenheit des Grundgesetzes; aus politikwissenschaftlicher Sicht: Hennis u n d zu diesem Hesse I V , S. 136 f. sowie Göldner I I , S. 49. Zur Verwendung unbestimmter Formeln durch das Grundgesetz: Denninger I, S. 110 ff., 116 f. 237

3.

ale Möglichkeiten

101

auszuüben 238 . Auch das Bundesverfassungsgericht behandelt das Grundgesetz nicht als notwendig vollständigen Normenbestand. Wenn es über eine „geschlossene geschriebene Verfassung i m formellen Sinn" spricht 239 , dann nicht wegen einer inhaltlich-normativen, nur wegen einer urkundlichen Einheit. Allgemein ist die Rolle der Rechtsordnung i n der Gesellschaft nicht nur dadurch eingeschränkt, daß bestimmte Fragen normativ noch nicht behandelt sind; sondern vor allem dadurch, daß sie bewußt offen gelassen werden. Das Schweigen der Verfassung ist vielfach ein beredtes Schweigen, so im Bereich der Wirtschaftsordnung. Das Grundgesetz hält sich hier innerhalb der überkommenen Funktion einer liberalen Verfassung 240 . Auf anderen Gebieten schweigt das Grundgesetz nicht planmäßig, sondern zufällig. Hier sind Probleme und Entwicklungen nicht vorhergesehen worden, die normalerweise als regelungsbedürftig gelten und deren Regelung inzwischen auch politisch als erwünscht bewertet wird. Welche Gebiete das sind, läßt sich an den Verfassungsnovellen ablesen (vgl. Normen wie die neue Fassung von Art. 73 Nr. 10 GG oder Zusatznormen wie Art. 74 Nr. I I a , 91a, 91b, 109 Abs. 3 und 4, Art. 75 Nr. 1 a oder Art. 87 a und 87 b i n Verbindung mit der Neufassung von Art. 73 Nr. 1 GG). Die wissenschaftlich entscheidenden Gründe gegen eine inhaltliche Einheit des als geschlossen vorgestellten Grundgesetzes betreffen aber weniger solche empirisch feststellbaren Lücken. Sie folgen aus dem Tatbestand, daß die Verfassung i m Rechtssinn nicht allein aus der Menge ihrer Normtexte einschließlich der Wortlaute des anerkannten Verfassungsgewohnheitsrechts besteht. Es wurde hier schon allgemein für die Rechtsordnung gesagt, daß sowohl die Normbereiche als auch die den abstrakten Vorschriften regelhaft zugerechneten Entscheidungisnormen hinzuzuzählen sind. Die Menge der normativ erheblichen Daten w i r d dadurch viel größer. Es w i r d noch weniger als gegenüber einer Sammlung von Nörmtexten möglich, von ihrer Einheit oder Geschlossenheit i n einem Sinn zu sprechen, der ein rational brauchbares Argument für rechtsstaatliches Entscheiden liefern könnte. 238

Vgl. dazu oben unter 3.0 A n m . 187, S. 85. I m 131er-Urteil BVerfGE 15, S. 167 ff., 195. — Dagegen deutet Roellecke, S. 32, 33 das Reden des Bundesverfassungsgerichts von einer Einheit der Verfassung einseitig als Postulat der Lückenlosigkeit. — Z u m Beurteilen einer sogenannten Gesetzeslücke an Verfassungsrecht, hier an A r t . 3 Abs. 1 GG, vgl. BVerfGE 22, S. 349 ff., 359 ff.: Das Gericht kann aus gesetzestechnischen G r ü n den eine Lücke nicht für nichtig erklären, w o h l aber die Gleichheitswidrigkeit des fraglichen Rechtszustands aussprechen. 240 F. Müller X I I , S. 53 u n d ff.; über verfassungsrechtliche Freisetzungen, Freistellungen, Aus- u n d Abgrenzungen unter Gesichtspunkten der f u n k t i o nalen Systemtheorie: Luhmann V, S. 1 ff., 165 ff. — Z u den formlosen u n d diffusen, aber wirksamen Bindungen der rechtsprechenden Gewalt i n einer Ordnung vom Typus des Grundgesetzes: F.Müller, ebd., S. 16 ff., 44 ff., 53 ff., 73 ff., 82 ff. 239

102

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Die tatsächlich feststellbaren Lücken der Verfassung und ihr bewußtes Schweigen, ihre aufgrund politischer Entscheidung gegenständlich begrenzte Normeigenschaft verbieten es, alle verfassungsrechtlich berührten Bereiche politisch zu funktionalisieren. I n diese Richtung geht jedoch die wichtigste nicht-positivistische Tendenz, mit der Verfassung die Idee von Einheit und Geschlossenheit zu verbinden. W i r d die Verfassung als die Rechtsordnung eines integrierenden Vorgangs gesehen, dessen Sinn „die immer neue Herstellung der Lebenstotalität des Staates" ist, so werden auf solche A r t nicht nur Einrichtungen und organisationsrechtliche Normen, sondern sogar die Vorschriften integriert, i n denen die Verfassung bestimmte gesellschaftliche Bereiche u m ihrer Eigengesetzlichkeit w i l l e n freistellt 2 4 1 . Die Grundrechte erscheinen dann nicht i n erster Linie als spezielle Garantien i m Dienst einzelner Rechtsgebiete, sondern als auf den integrierenden Gesamtzweck des Verfassungsrechts, auf das „spezifisch Andere", nämlich den „Lebensvorgang des Staates i m ganzen" bezogen. Folgerichtig wendet sich Smend gegen „eine liberalisierende Verfassungsauslegung" und deutet die Grundrechte der republikanischen Verfassung als Einheit stiftende sachliche Werte der Volksgemeinschaft, sieht i n ihnen „nicht Schranken, sondern Verstärkungen des Staates und der Staatsgewalt". Sie verkünden über ihr positives Gelten hinaus „ein bestimmtes K u l tur-, ein Wertsystem", m i t dem sie die positive Ordnung legitimieren. Nur aus „ihrem geistigen Gesamtzusammenhang" können sie „richtig angewendet werden". Der Gedanke der Verfassung wie auch der Grundrechte als einer Wertordnung , Wertrangordnung oder eines Wertsystems i n der heutigen Verfassungsrechtsprechung hat hier seine Wurzel ebenso wie die Rede von einer materialen Einheit der Verfassung 242 . Neben anderen Argumenten gegen diese Konzeption ist nicht nur auf den teils zufällig, teils bewußt lückenhaften Charakter des Verfassungsrechts hinzuweisen; sondern auch darauf, daß i n den Grundrechten geprägte Sachgebiete kraft Verfassungsrechts i n ihrer Eigengesetzlichkeit gegenüber öffentlicher Gewalt relativ abgesichert werden sollen. Der politische Prozeß ist nur ein Teilprozeß innerhalb der Gesellschaft. Auch durch grundrechtliche Freistellungen w i r d das Gemeinwesen rechtlich verfaßt; dies aber nicht i n dem Sinn, daß deshalb das Freigestellte sogleich wieder auf staatliche Totalität hin „integriert" werden dürfte. Der Gesamtbereich der Verfassung liegt nicht nur i m 241 Smend I I I , S. 189; zum folgenden ders. I I , S. 92 f.; ders. I I I , S. 265, 266 ff. Smends Rede v o m Staat als einem „geschlossenen Kreise" hat dagegen m i t dem Thema n u r mittelbar zu tun, ebd., S. 131 f ; hiergegen Kelsen I I , S. 33 ff. 242 Z u dieser i n Nachfolge Smends etwa Ehmke V, S. 77 u. ö; Haberle I I I , S 4 ff.; Nachweise zur Rechtsprechung und K r i t i k bei Hesse V I , S. 4, 11 f., 128 f. u. ö.; eingehend bei Goerlich I, z. B. S. 135 ff., 140 ff. u n d durchgehend; besonders f ü r Dogmatik und Methodik der Grundrechte: F.Müller V I I I , S. 17ff.; ders. I X , S. 21 ff.; ders. X , S. 48 ff., 52 ff. u. ö.

3.

ale Möglichkeiten

103

Vorgang der Macht- und Willensbildung. Sachgeprägte Freiheitsbereiche werden normativ ausgegliedert, und auch dadurch legitimiert sich eine freiheitliche Verfassung. Ehe, Familie, Kirche sind Gegebenheiten, die zwar traditionell rechtlich geordnet, aber als Normbereiche von Vorschriften nicht primär staatlich erzeugt sind. Glaube und Gewissen, Kunst und Wissenschaft, also die Normbereiche der A r t . 4 Abs. 1 und 5 Abs. 3 Satz 1 GG, sind noch weniger rechtserzeugt und i n ihrem schöpferischen K e r n nicht rechtlich vorgeformt. Solche Normbereiche werden aus der Reichweite der Verfassung nicht ausgeschaltet. Sie sollen aber kraft der grundrechtlichen Garantien von Staats und Rechts wegen als politisch nicht funktionalisierbar, inhaltlich nicht überfremdbar behandelt werden. Gerade i m Freigeben solcher Normbereiche konstituiert das Grundgesetz den von ihm verfaßten Verband als freiheitliche Ordnung 2 4 3 . 3.112 Freiheit von Widersprüchen und Lückenlosigkeit

Die Einheit der Rechts- und Verfassungsordnung i m Sinn von Geschlossenheit geht Hand i n Hand mit dem Zwillingsdogma ihrer Freiheit von Widersprüchen: Das Recht muß, um anwendbar werden zu können, nicht nur lückenlos, sondern auch widerspruchslos sein. Der Sinn des einzelnen Rechtssatzes kann erst dann endgültig bestimmt werden, „wenn das Ganze, i n das er sich einfügen soll, gegeben ist". Ergebnis juristischer Arbeit ist die Rechtsordnung als ein logisch geschlossenes Ganzes, „denn Widersprechendes kann nicht zugleich angewendet werden". Nicht nur das Postulat der Vollständigkeit, auch die Forderung der Widerspruchslosigkeit „steht über dem gesetzten Recht und dem Gesetzgeber" 244 . F ü r die Grundrechte w i r d von ihrer widerspruchslosen Werteinheit und insofern von einem Grundrechtssystem geredet 245 ; oder es w i r d i m Anschluß an Erich Kaufmann eine Einheit der i n der Verfassung normierten Rechtsgüter, eine „Einheitlichkeit des Wertsystems" vermutet und nicht zuletzt für die Grundrechte ein „Gebot ,ganzheitlicher' Verfassungsauslegung" aufgestellt 246 . Auch w i r d das Prinzip der Einheit der Verfassung so verstanden, daß das Grundgesetz „als i n sich geschlossenes harmonisches Ganzes zu betrachten" sein soll. Eine Kodifikation mit i n sich widersprüchlichen Geboten und 243 Ehmke I, S. 94 ff.; F. M ü l l e r I I I , S. 220 ff. m . N w . ; vgl. a. BVerfGE 12, S. 1 ff., 3 f. 244 Burckhardt I, S. 61, 88 f.; ders. I I I , S. 121 f. — I n der Lehre v o m Modernen Staat v o r dem Hintergrund des Gedankens v o m System als der „ F r e i heit von Widersprüchen": Herbert Krüger V I , S. 102 und ff.; ebd., S. 101 zum Ideal der Lückenlosigkeit. — Z u m systematischen Ansatz geschriebener V e r fassungen i n Richtung auf ein „möglichst lücken- und widerspruchsloses System von Rechtsregeln": H. Heller I I I , S. 271 f. 245 Hensel, S. 9 u. ö. 246 Häberle I I I , S. 4 ff. und durchgehend.

104

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Verboten könne nicht die Grundlage eines Ordnungssystems bilden; einem i n sich widerspruchsvollen Gesetz sei die Geltung abzusprechen 247 . Die Redeweise des Bundesverfassungsgerichts vom Grundgesetz als einer Ordnung ohne innere Widersprüche ist ihrerseits widersprüchlich. I n der Judikatur zu Einzelgebieten, etwa zum Recht der politischen Parteien, werden Widersprüche eher über Gebühr betont, so zum Verhältnis von A r t . 38 und 21 GG. Soweit das Gericht dagegen m i t dem Gedanken der Einheit der Verfassung arbeitet, schließt es mit der Behauptung einer „inneren Einheit" seit dem Südweststaats-Urteil die Freiheit von inhaltlichen Widersprüchen ein. Wo dennoch Antinomien auftauchen, sollen sie durch das Verfahren grundsatzkonformer Verfassungsauslegung beseitigt werden 2 4 8 . Dagegen spricht der Erste Senat seit dem Urteil zum nordrhein-westfälischen Beanstandungsgesetz von allgemeinen Grundsätzen und Leitideen vorverfassungsrechtlicher Herkunft. Sie sind es, die den Normenbestand des Grundgesetzes innerlich verbinden und zusammenhalten sollen 249 . Das Konkordats-Urteil beschwört eine „innere Harmonie" 2 5 0 der Verfassungsordnung, die ihr, da sie auch nicht ansatzweise begründet wird, von einer guten Fee i n die Wiege gelegt worden sein muß. Seit dem Lüth-Urteil erscheinen die Grundrechte als Wertsystem i n der Funktion, „für alle Bereiche des Rechts" harmonisierend zu wirken; demnach darf keine bürgerlichrechtliche Norm „ i n Widerspruch" zu ihnen stehen oder konkretisiert werden 2 5 1 . Neben dieser seither ständigen Praxis w i r d das Grundgesetz bis heute als ein „auf innere Widerspruchsfreiheit angelegtes Sinnganzes" 252 , immerhin also nicht als vorgegebene bruchlose Einheit bezeichnet. I m allgemeinen hält sich die Diskussion nicht mehr damit auf, Rechtsordnung und Verfassung als frei von Widersprüchen zu fingieren. Normative Antinomien sind seit langem Gegenstand wissenschaftlicher Studien 2 5 8 . Eine Einheit der Verfassung als werthierarchische oder 247

Ossenbühl, S. 654.

248 BVerfGE 1, S. 14 ff., 15 Leitsatz 4, 32 f. 249 BVerfGE 2, S. 380 ff., 381 Leitsatz 4, 403. 250 BVerfGE 6, S. 309 ff., 361. 251

BVerfGE 7, S. 198 ff., 205 u. ff., 211. 252 BVerfGE 44, S. 249 ff., 273 u n d f. Z u r Einheit des Rechts als Widerspruchsfreiheit i m Sinn eines anzustrebenden Ziels vgl. aus der Diskussion etwa Coing I I , z. B. S. 14, 18 f. 253 Z u r Typologie normativer Widersprüche vor allem Engisch V I , S. 160 ff.; i h m folgend Larenz, z.B. S. 155f. u. ö.; wie Engisch ferner Grosskreutz , z.B. S. 4 ff., 9 ff., 21 ff. — I n der Formulierung zunächst mißverständlich Engisch , ebd., S. 65: Der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung setze voraus, „daß die Rechtssätze innerhalb einer Rechtsordnung einen homogenen und harmonisch zusammenhängenden Komplex von Rechtsgedanken enthalten". Da-

3.

ale Möglichkeiten

105

systembegründete Harmonie w i r d kaum mehr behauptet, die Rede von den inneren Spannungen i m Verfassungsrecht beginnt, ein (zutreffender) Gemeinplatz zu werden 254 . Die Möglichkeit schließlich, nach einer eingeschränkten Einheit der Verfassung i n dem Sinn zu fahnden, daß i m großen und ganzen nach der Zweckmäßigkeit, der Folgerichtigkeit und dem gesetzestechnischen und systematischen Präzisionsgrad ihrer Vorschriften gefragt wird, würde i m Verfassungsvergleich zu der Aussage führen, diese Konstitution habe mehr, jene habe weniger Einheit. Für praktische Arbeit i m Verfassungsrecht wäre nichts gewonnen. Käme es nur auf die Normtexte an, so könnten die des Grundgesetzes aufgelistet, klassifiziert u n d nach Anzeichen für Widerspruch oder dessen Gegenteil durchforstet werden. Es könnten auch Schlüsse aus den Stellen versucht werden, an denen der Verfassungstext von Einheit handelt: die Präambel von der Einheit Deutschlands, territoriale V o l l ständigkeit und politische Homogenität umfassend; Einheit als Widerspruchsfreiheit inhaltlich i n Art. 28 Abs. 1 und 3; Einheitlichkeit i n Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 und so fort 2 5 5 . Nun besteht aber die Rechtsverfassung nicht nur aus den abstrakten Wortnormen, sondern auch aus den ihnen regulär zugerechneten Entscheidungsnormen. A u f diese zielen die Verfahrens Vorschriften des § 16 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz und des A r t . 95 Abs. 3 GG ab. Sie erfassen keine Totalität, sondern bestimmte Entscheidungsnormen i n bestimmten Fällen. Obwohl sie wegen der Breitenwirkung höchstrichterlicher Judikatur über die Fälle hinaus reichen, handelt es sich doch nur darum, einzelne Widersprüche zu vermeiden und nicht um eine vorgegebene oder auch nur real erreichbare Widerspruchslosigkeit „des" Ganzen. Schließlich komplizieren die Normbereiche der Rechts- wie der Entscheidungsnormen das B i l d vollends. I h r Begreifen m i t den M i t t e l n empirischer Sozialwissenschaft macht klar, was die allgemeine Ausm i t sind aber n u r „sachliche Beziehungen" gemeint u n d sind gesetzestechnische, Norm-, Wertungs-, teleologische u n d Prinzipienwidersprüche nicht ausgeschlossen, ebd., S. 65 u n d bes. S. 160 ff. — F ü r das Verfassungsrecht betonen seinen Charakter als nicht notwendig widerspruchsfreies oder folgerichtiges Kompromißrecht, als Ordnung weit eher der Sinnvielfalt als einer Sinneinheit z.B. Drath I, S. 91; Stern, S. 107; Badura I I I , S. 32, 34 f.; ders. IV, Sp. 2719 f. 254 Z . B . Ehmke V, S. 77; Herbert Krüger I I I , S. 600; Peters I I , S. 119; insoweit unmißverständlich auch Ossenbühl. S. 654; Scheuner I X , S. 52 f.; H.-P. Schneider, S. 78; Göldner I I , z.B. S. 26 ff. u n d durchgehend. Kollisionen von u n d Spannungslagen zwischen den Grundrechten werden zunehmend beachtet, vgl. Schwacke; Rüfner I I ; Bethge. 255 Z u dem nicht identischen, aber benachbarten Begriff „Ordnung" die Aufzählung bei Göldner I I , S. 4 ff.; demnach weist das Grundgesetz deutlich mehr Verfassungsspannung als Verfassungseinheit auf: ebd., S. 25, 26 ff., 53 ff., 73 ff.

106

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

sage vom Grundgesetz als einem i n sich vielfach facettierten Kompromiß für die Verfassungspraxis bedenkt. Ist die wirkliche Gesellschaft je nach Sprachgebrauch i n Klassen gespalten oder nach Schichten differenziert, ist die Rede von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft Ideologie oder bestenfalls Illusion, so hausen die Widersprüche i n den realen Verhältnissen der Normbereiche. Die Verwirklichung positiver Normen hängt auf dem Weg über die Rechtsarbeit staatlicher Funktionäre und das schichtspezifische Verhalten der Normadressaten weith i n von sozialer Ungleichheit ab 256 . I n erheblichem Umfang widersprüchlich geprägt sind nicht nur Normbereiche des Grundgesetzes, sondern aller Rechtsgebiete. Da aber Widersprüche angesichts seiner besonderen Struktur und Funktion das Verfassungsrecht 257 gesteigert bestimmen, kann das Grundgesetz nicht als Spitze einer Pyramide der Rechtsordnung dienen; kann es auch nicht die Einheit der Rechtsordnung erzeugen, wenn es schon selbst nicht «als vollständiges oder widerspruchsfreies Ganzes aufzufassen ist 2 5 8 . Die Autoren des Gesetzespositivismus umgingen diese Schwierigkeit dadurch, daß sie soziale und historische Realität und besonders die Normbereiche der vorgeblich rein logisch exekutierten Rechtsregeln verdrängt hielten. Als Beispiel kann die methodische Aussage Georg Jellineks zur juristischen Behandlung von Eigentumsnormen dienen: Es sei nicht Aufgabe der Juristen „die Vorgänge zu konstatieren, welche zu dem Rechtsinstitut des Eigentums geführt haben, sondern er kann nur die Frage beantworten: Wie muß das Eigentum gedacht werden, damit alle auf dasselbe sich beziehenden Normen zu einer widerspruchslosen Einheit zusammengefaßt werden können?" 259 . Noch ein weiterer Ansatz der Rechtstheorie spricht gegen eine Einheit des (Verfassungs)Rechts i m doppelten Sinn seiner Geschlossenheit: Die Realitätsgrundlage juristischer Arbeit ist brüchig. Das Verwirklichen von Normen ist systematischen Hindernissen schicht- und funktionsspezifischer A r t ausgesetzt. Dunkelfelder und das Nicht-Sanktionierenmüssen unentdeckt gebliebener Normverstöße stabilisieren das Politische System auf unersetzliche A r t . Schließlich enthält auch die Ordnung des Rechtsstaats eine Reihe von Vorschriften, die als primäre oder sekundäre normative Implikationen ein Lockern der Bindung von 256 F.Müller X I I , S.53ff., 55 ff., 57 ff.; zur Rolle gesellschaftlicher Schicht u n g allgemein Ciaessens¡KlönnejTschoepe, S. 301 ff.; Miliband, S. 78 ff., 93; Jaeggi I I ; Offe I I ; Rosenbaum, z.B. S. 66 ff., 198 ff.; Rottleuthner, S. 162 ff.; Lautmann/Peters; Geffken; zum Kompromißcharakter des Grundgesetzes: Abendroth , S. 17 ff., 48 ff., 53 ff.; allgemein auch Ridder I I , S. 94 ff. 257 F. Müller X , z. B. S. 101 ff., 140 ff. 258 Ebenso, von verschiedenen Fragestellungen aus, H. Huber I, S. 180 ff.; Luhmann V, S. 21. 259 G. Jellinek I I , S. 16 f.

3.

ale Möglichkeiten

107

Justiz und Bürokratie an das Recht möglich machen. Nach dieser Hypothese kann eine Geltungsstruktur der Rechtsordnung als ein Kontinuum aus Geltung und Nichtgeltung formuliert werden 260 . Eine w i r k lich gegebene oder auch nur ernsthaft und erfolgreich angestrebte Einheit der Rechts- und Verfassungsordnung i m Sinn ihrer Freiheit von inhaltlichen Widersprüchen würde sich demnach als dysfunktional, als für das Politische System destabilisierend und damit auch für die W i r kungskraft der Verfassung nicht dienlich erweisen. Anders dagegen verhält es sich beim Verfassungswandel i m methodisch genauen Sinn. Hier können i n der Tat Widersprüche gegenüber dem bisherigen Verfassungsrecht innerhalb einer einzelnen Norm oder eines Normenkomplexes auftreten und normativ verarbeitet werden; und zwar deshalb, weil nur ein Wandel i m Normbereich und nicht bereits ein solcher i m Sachbereich der Vorschrift als Verfassungswandel anerkannt werden kann, weil also das Normprogramm einschließlich der rechtsstaatlichen Grenzfunktion des Normtextes verbindlicher Maßstab für einen derartigen Vorgang ist 2 6 1 . Einheit der Rechts- oder der Verf assungsordnung konnte also zunächst Geschlossenheit in dem Sinn bedeuten, daß der positive Normenbestand keine Lücken aufweist. Ein solcher Zustand war das für erreichbar gehaltene Ziel der großen Kodifikationen des aufgeklärten Vernunftrechts gewesen. Dieses Ziel ist seit langem aufgegeben worden. Die Gegenfrage auf die Idee einer solchen Geschlossenheit lautet: vollständig in bezug worauf? Wenn nur mit Blick auf die jeweilige Grundmenge der Bestandteile der Rechts- oder Verfassungsordnung, so erscheint diese stets geschlossen. Die Aussage ist dann trivial. Die Zielvorstellung wurde aber von Anfang an i n bezug auf mögliche Rechtsprobleme der Praxis formuliert. Hier zeigt alle Erfahrung, daß nicht nur Einzelvorschriften durch Legislative oder fortbildende Rechtsprechung bei dringendem Bedarf neu erzeugt, sondern daß vom Gesetzgeber auch eigene und oft umfangreiche Rechtsmaterien (kollektives Arbeitsrecht, Planungsrecht, Mieterschutz, Verbraucherschutz, Datenrecht, zusätzliche Kompetenz- und Organisationsnormen i m Grundgesetz) nachgeschoben werden müssen. Diese Beispiele entstammen der Gegenwart. Es hatte sich aber gezeigt, daß schon die Erfahrungen des frühen 19. Jahrhunderts ausreichend waren, von dieser ersten Illusion Abschied zu nehmen. 260 F.Müller X I I , S. 52 ff. und bes. S. 98 ff. m i t Beispielen; zum Begriff der I m p l i k a t i o n i n diesem Zusammenhang: ebd., S. 28 ff., 36 f., 37 ff., 44 ff. 261 F. Müller I I I , S. 117 f., 131 ff.; F. Müllerl Pier oth, S. 82 ff.; Hesse I V , bes. S. 136 ff. — Aus der Rechtsprechung vor allem BVerfGE 2, S. 380 ff., 401; 3, S. 407 ff., 422; 7, S. 342 iL, 351. Z u r Judikatur auch Fiedler, S. 78 ff.

108

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

M i t dem Ubergang zur Pandektenwissenschaft und später zum Gesetzespositivismus hat sich das Postulat daher auf die notwendige Lückenlosigkeit nicht des Normen-, wohl aber des juristischen Begriffssystems verlagert. Wissenschaftlich einsichtige Argumente waren auch diesem Axiom, die Rechts- wie auch die Verfassungsordnung enthalte begriffsnotwendig alle nur möglichen Problemlösungen, nicht abzugewinnen. Freilich hat der Glaube an dieses Konzept, an die schlechte Metaphysik eines bürgerlichen Naturrechts der Gründerjahre, eine erstrangige politische Funktion gehabt. Einheit als Geschlossenheit ist i n neuerer Fassung ein K i n d des Gesetzespositivismus. Sie war schon zusammen mit dessen Ausstrahlungskraft verblaßt. Weitere grundsätzliche Argumente bietet die heutige rechtstheoretische Diskussion an. Für die Rechtsordnung ist allgemein die These von der Geltungsstruktur, . also vom systemstabilisierenden Einbau geltungshemmender normativer Elemente, formuliert worden. Besonders für die Verfassung w i l l der Gedanke an Geschlossenheit schon wegen ihres spezifischen Mischcharakters von normierenden, freiheitlich aussparenden und thematisch offenhaltenden Elementen nicht passen. I n dem Maß, i n dem solches Aussparen oder Offenhalten bewußt geschieht und funktional ist, verbietet sich auch das Axiom, zwar nicht die positiven Normen, wohl aber die ihnen zugrunde liegenden Rechtsbegriffe seien nach Bedarf unbegrenzt expansiv und bildeten auf diesem Weg eine geschlossene Einheit. Deshalb ist diese Ansicht schon m i t der gleichfalls vom Positivismus herkommenden Auffassung unvereinbar, die Rechts- und Verfassungsordnung sei nichts anderes als die Grundmenge der Texte ihrer Rechtsnormen. Die Unterscheidung von abstrakten Rechts- und konkreten Entscheidungsnormen und deren Einbeziehen i n den Bestand des geltenden Rechts einerseits wie auch andererseits die Hauptthesen einer strukturierenden Theorie von Rechtsnormen 262 lassen solche Einheit noch weniger vertretbar erscheinen. Der praktische Stachel gegen diese Einsichten scheint immer wieder in dem Argument zu liegen, das heutige Recht kenne kein non liquet; die moderne Rechtsordnung gehe davon aus, jede an sie gestellte Frage beantworten zu müssen. Wegen Fehlens einer Rechtsnorm dürfe der Richter die Entscheidung niemals verweigern. Da auf jede rechtliche Frage eine rechtliche A n t w o r t zu geben sei, folge hieraus die Einheit der Rechts- oder Verfassungsordnung i m Sinn ihrer Geschlossenheit 263 . 232 Hierzu F. Müller I I I , S. 114 ff., 147 ff., 168 ff., 175 ff., 184 ff.; zu E n t scheidungsnormen: ebd.. S. 26 ff., 116 f., 196 ff. u. ö.; ders. X , z.B. S. 91 ff., 117 ff., 144 ff., 269 ff.; zur Entscheidungsnorm: ebd., z.B. S. 132, 266 f., 272 f.; ders . X I I , S. 94 ff., jeweils m. Nw. 203 Dieses Argument f ü r die Geschlossenheit aus dem Rechtsverweigerungs-

3.

ale Möglichkeiten

109

Daß man aus dem Rechtsverweigerungsverbot immer noch eine grundsätzliche Geschlossenheit des Rechts folgert, zeigt sich auch dort, wo sie i m Ergebnis nur deswegen verneint wird, weil einmal nicht i n allen Rechtsfragen ein Gericht zur Lösung des Konflikts berufen sein müsse und weil zum andern ohne zureichenden rechtlichen Grund ergangene Willkürentscheidungen nicht ausgeschlossen werden könnten. Diese Folgerung geht ins Leere. Anscheinend w i r d bei ihr nur an das materielle Recht gedacht. Nur aus diesem allein könnte auf solche A r t ein Argument für die Einheit von Recht und Verfassung gewonnen werden. Doch sind die prozessualen Normen Recht i m vollen Sinn. Sie hinzugenommen, gibt die Rechtsordnung stets eine Antwort, und zwar ohne daß auf die Möglichkeit rechtloser Entscheidungen ausgewichen zu werden braucht. Durch dieses Ausweichen w i r d das A x i o m der Geschlossenheit nicht beseitigt, es verschiebt sich nur seine Begründung. Was vorher ein vernunftrechtliches, später ein gesetzespositivistisches Postulat war, würde dann wegen der Rechts- und Verfassungsbindung aller rechtsprechenden und vollziehenden Gewalt (Art. 20 Abs. 3, 1 Abs. 3, 92 GG) zu einem rechtsstaatlichen. Das Rechtsverweigerungsverbot des modernen europäischen Verfassungsstaates hat aber mit dem rechtstheoretischen Problem der Einheit und Geschlossenheit des Rechts sachlich nichts zu tun. Der kontinentale Anstaltsstaat der europäischen Moderne hat auch die Gerichtsbarkeit zentralisiert, bürokratisiert und monopolisiert. Der Monopolist darf das, was er zu bieten hat, i n diesem Bereich nicht verweigern. Wenn schon die Entscheidung sozialer Konflikte den Rechtsgenossen und ihren ständischen Volksgerichten entzogen wird, so hat der sich zunehmend als rechtlich geformt und bestimmt verstehende Verfassungsstaat die einst i m römischen Recht vertretbare Möglichkeit eines non liquet auszuschließen. Ob das wie i n Art. 4 des Code civil durch eine geschriebene Norm oder ob es ungeschrieben gewohnheitsrechtlich bestimmt wird, spielt dafür keine Rolle. I n diesem Modell von Verfassungsstaat muß der Richter entscheiden. Er darf sich also nicht enthalten, öffentliche Gewalt auszuüben, wenn i h m dies von Rechtsgenossen angetragen wird. Der anstaltsstaatliche Verband duldet keine Funktionslücken. Zum andern muß der Richter rechtmäßig entscheiden, also nicht durch persönliche Dezision, sondern nur kraft abgeleiteter Gewalt. Nach dem Anspruch des Rechtsstaats darf er die Gewalt nicht selbst setzen, sondern „nur" funktionell vermitteln. Zuverbot findet sich zu allen Zeiten der Einheits- bzw. Lückendiskussion: vgl. z.B. Jung, S. 3 und Zitelmann, S. 9 für den Beginn dieses Jahrhunderts; Hensel, S. 9 für die Endphase der Weimarer Republik; Engisch V I , S. 139 f. ? 159 f. für die Gegenwart; die i m Text wiedergegebene Überlegung zur Willkürentscheidung findet sich ebd., S. 159. — Kritisch zur Formalität des A r g u ments Ehrlich I I I , S. 80 ff., 82.

110

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

mindest i m Ansatz schiebt er dadurch, daß er die Entscheidungsnorm einer Rechtsnorm regelhaft zurechnen kann, die Verantwortung für sein tatsächliches T u n auf „das" Recht ab. Durch diesen Rückgriff gilt seine tatsächliche Verantwortlichkeit als abgeschnitten, das rechtsförmige Ingangsetzen von Gewalt w i r d zur Rechts,,anwendung" entpolitisiert. Konstitutionelle Gewalt soll aktuelle Gewalt möglichst weitgehend ersetzen 264 . Das Rechts- oder Justizverweigerungsverbot besagt, daß die entscheidungsbefugten staatlichen Stellen Rechtsfragen nach Normen geltenden Rechts zu lösen haben. Es gibt dem Rechtsuchenden keinen unbedingten Anspruch darauf, das zugesprochen zu bekommen, was er möchte. Diesen Anspruch hat er nur bedingt: und zwar durch den gegenwärtigen Bestand des materiellen Rechts. Das Verbot eines jeden non liquet gibt einen unbedingten Anspruch nur darauf, daß der Rechtsfall (und zwar nach Rechtslage) entschieden wird. Das ist aber auch dann gegeben, wenn festgestellt wird, die materielle Rechtsordnung stütze das Verlangte nicht, sei also daran gemessen lückenhaft. Diese Antwort muß legal nach geltendem Prozeßrecht erteilt werden. W i r d korrekt verfahren, so kann für die Frage nach der Geschlossenheit der Rechtsordnung eine optische Täuschung entstehen: Da immer nach Normen geltenden Rechts entschieden wird, ist dieses ohne Lücke; denn sonst kämen ja Fälle i n der Praxis vor, i n denen korrektermaßen nicht nach Rechtsnormen entschieden werden kann, eben weil da eine Lücke ist. Der Denkfehler liegt darin, daß für die Frage: Lücken oder nicht? einmal zwischen materiellem Recht und Prozeßrecht und zum andern zwischen dem tatsächlichen Normenbestand bzw. den Bedürfnissen der Praxis als Maßstab für Geschlossenheit nicht klar unterschieden wird. Der Normenbestand ist stets mit sich selbst identisch. Werden materielles Recht und Prozeßrecht zusammengenommen, so finden sich für das Begründen der Entscheidungsnorm stets Vorschriften des geltenden Rechts. Auch wenn das materielle Recht auf das Begehren schweigt und wenn die Klage als unbegründet, aber auch dann, wenn sie als unzulässig oder aus sonstigen Gründen abgewiesen w i r d — immer ist die Entscheidung, soweit korrekt verfahren wurde, rechtlich gestützt. Die Rede von Geschlossenheit ist dann richtig und zugleich trivial. I n diesem Sinn ist jede Rechtsordnung mit prozessualen Institutionen und Verfahren eine geschlossene Einheit, mag sie inhaltlich auch noch so veraltet oder fragmentarisch erscheinen; sie muß nur einander ergänzende, i m Extremfall sogar nur zwei alternative prozessuale Entscheidungsmöglichkeiten aufweisen. Ist i m Einzelfall unklar, was prozessual geschehen soll, so ist das eine Interpretationsfrage. Die 264

Dazu F. Müller

X I , S. 28 ff.; ders . X I I , S. 80 ff. u. ö.

3.

ale Möglichkeiten

111

Schwierigkeit liegt dann darin, welches der vorhandenen prozessualen Institute auf den Fall paßt und nicht darin, daß solche nicht zur Verfügung stehen. Weder gemessen an den möglichen praktischen Bedürfnissen noch an den sinnvoll denkbaren Instituten prozessualer Entscheidung braucht das Prozeßrecht inhaltlich lückenlos zu sein. Es genügt, daß die Möglichkeiten, die es bietet, komplementär sind. Der Rechtsuchende erhält bekanntlich nicht immer die Antwort, die er wünscht, und oft auch nicht die, die er von Gerechtigkeits wegen beanspruchen kann. I n diesem Sinn sind Rechts- und Verfassungsordnung nicht geschlossen, keine inhaltliche Einheit, kein Ganzes. Gemessen am gesellschaftlichen Bedarf für rechtliche Regelung hat sich noch jede Rechtsordnung als unvollständig erwiesen. Das historische Schicksal der Kodifikationen vom Typus des Allgemeinen Preußischen Landrechts oder so weit voneinander entfernte Beispiele wie die Rechtsgeschichte Roms oder die Entwicklung des modernen Richterrechts sprechen hier eine eindringliche Sprache. I m modernen Rechtsstaat muß aber nach geltendem Recht entschieden werden, und der Rechtsuchende bekommt durch korrekte Entscheidung stets eine A n t w o r t aus dem geltenden Recht. Nur insofern sind Recht und Verfassung geschlossen, und diese Feststellung ist für entwickelte Rechtsordnungen trivial. Das Rechtsverweigerungsverbot drängt also nicht zu der Annahme geschlossener Einheit. Damit entfällt der praktische Antrieb dafür, die Geschlossenheit des Rechts als Lückenlosigkeit in Form eines regulativen Prinzips, einer stets anzustrebenden Zielvorstellung zu sehen. I m Rechtsstaat darf ein methodisch ehrliches Vorgehen der zuständigen Instanz die verfassungsrechtlich normierte Zuordnung von Funktionen nicht überspielen. Weder nötigt noch ermächtigt der Rechtsstaat dazu, durch Ausfüllen von Lücken, durch schöpferisches Fortbilden des Rechts gleichsam auf Biegen oder Brechen den i m Einzelfall festgestellten Mangel einer Rechtsnorm für eine gewünschte oder erwünschte Entscheidungsnorm zu ersetzen 265 . Dasselbe gilt für ein unmittelbares Berufen auf Gerechtigkeit. Es ist nicht ausgemacht, ob das Auffüllen von Lücken mehr Gerechtigkeit und nicht vielmehr ebensogut das Gegenteil erzeugen wird: zumindest Vorteil für die einen, Nachteil für die anderen; oder auch eine Entscheidung, die sich mit Gewändern der Gerechtigkeit verhüllt, der Sache nach aber einfach dem stärkeren Druck nachgegeben hat — oft gerade weil sie nicht nur für das Setzen der Entscheidungsnorm, sondern zusätzlich auch durch Setzen einer Rechtsnorm schöpferisch ist, und das heißt: legal nicht gestützt 206 . 265

F ü r das Verfassungsrecht: F. Müller X, S. 207 ff. Z u den politischen Zusammenhängen und zum rechtstheoretischen H i n tergrund: F.Müller X I I , S. 77 ff., 79 f., 80 ff.; ebd., S. 82 ff . zu Entscheidungen 266

112

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Recht und Verfassung erscheinen nicht i n einem Sinn als lückenfreie Einheit, der über sachlich interpretierbare Zusammenhänge, über Elemente systematischer Konkretisierung hinaus ein selbständiges Argument gewinnen lassen könnte. Dasselbe hatte sich für die Vorstellung ergeben, sie seien frei von inneren Widersprüchen; und zwar schon nach der herkömmlichen Lehre, von der die Normen mit ihren Texten unbewußt gleichgesetzt zu werden pflegen: Normwidersprüche wurden als Antinomien zwischen abstrakten Wortnormen aufgespürt und diskutiert; seit den ersten Ansätzen zu einer an Interessen orientierten Jurisprudenz dann auch als solche zwischen verschiedenen sozialen und politischen Positionen, die sich i n Form von Normtexten jeweils mehr oder weniger durchgesetzt haben — oft genug innerhalb desselben Gesetzes, derselben Normengruppe und zuweilen auch derselben Einzelvorschrift. I n gesteigertem Maß baut die heutige Entstehung von Rechtsnormen auf gesellschaftlichen Widersprüchen auf. Die daraus folgenden Kompromisse können schon deshalb und zusätzlich wegen des Zustands des gegenwärtigen Parlamentarismus nicht mehr sein als buntscheckige, oft in sich gebrochene Ergebnisse gegenläufiger Gruppenmacht und Interessenstandpunkte. Noch geringere Aussicht auf etwas, das mit Freiheit von inneren Widersprüchen verwechselt werden könnte, besteht dann, wenn Normen nicht mit ihren Wortlauten gleichgesetzt, wenn Rechts- und Verfassungsordnung nicht länger als Anthologie von Normtexten behandelt werden. Zv/ar sind die Normbereiche methodisch und theoretisch von den Sachbereichen dadurch zu unterscheiden, daß sie sich innerhalb der Richtlinien der durch Sprachdaten konkretisierten Normprogramme halten und damit nicht nur den diffusen allgemeinen Sachbezug der Vorschrift meinen 267 . Doch ist Widerspruchsfreiheit dann von vornherein illusorisch, weil jetzt die tatsächlichen gesellschaftlichen Widersprüche als normativ relevant, als die Entscheidungsnormen mittragend eingestanden werden müssen. Die empirisch ermittelten und methodisch vermittelten Grundstrukturen des geregelten Realitätsausschnitts wirken in den Entscheidungsvorgang hinein und begründen als Realdaten neben den herkömmlich erfaßten Sprachdaten die Normativität gerade dort wesentlich mit, wo sie praktisch wird. Schließlich bilden nicht nur abstrakte Rechtsnormen, sondern auch die ihnen methodisch regelhaft zurechenbaren Entscheidungsnormen die Rechts- und Verfassungsordnung. Sie werden von allen dazu befugten Stellen der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt und gegen das Postulat der Ncrmbinaung; ebd., S. 84 ff. über die besonders legitimierende W i r k u n g der Justiz. 267 Zu Sachbereich und Normbereich: F.Müller I I I , z.B. S. 107 f., 117 f., 132 ff., 137 ff., 142 ff., 168 ff., 184 ff.; ders. X, S. 92 f., 117 ff., 120 und ff., 269 ff.

3.

ale Möglichkeiten

113

damit von unvergleichlich mehr Instanzen gesetzt als die abstrakten Rechtsvorschriften. Die richterlichen Spruchkörper sind von politischer und bürokratischer Anweisung grundsätzlich unabhängig. Die normkonkretisierenden Instanzen w i r k e n nicht als Anwendungsautomaten gemäß dem Optimismus der Kodifikationen des vernunftrechtlichen Zeitalters, das deswegen auch folgerichtig das Interpretieren des geltenden Rechts normativ beschränkte oder gar verbot 2 6 8 . Vielmehr setzen die zur Rechtsentscheidung berufenen Stellen unter dem Postulat der Normbindung i n eigener, durch legale Arbeit symbolisch auf „die" Rechtsordnung weiter verschobener Verantwortung konkrete Entscheidungsnormen, die abstrakten Rechtsnormen regelhaft zurechenbar sein müssen. Daran, daß so gut wie alles konkretisierende Entscheiden mit Wertungen einhergeht, ändert sich durch diesen rechtsstaatlichen Grundmechanismus nichts 269 . Alles Setzen von Entscheidungsnormen ist nicht nur von Eigenschaften des Juristenstandes und von den Merkmalen der Professionalisierung betroffen, sondern allgemein von Status, Rolle, Schichtzugehörigkeit, von sektoralen Berufs- und Standes« neben den allgemeinen Ideologien, von prägenden Faktoren sozialer Ungleichheit, von den wirklichen gesellschaftlichen Widersprüchen. Die unverbindlich gleichschaltende Leitfunktion höchstrichterlicher Rechtsprechung kann daran nichts ändern. Eine Vorkehrung wie A r t . 95 Abs. 3 GG und das zu i h m ergangene Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 19. 6.1968 (BGBl. I S. 661) setzt die Widersprüchlichkeit von Entscheidungsnormen als rechtlichen Tatbestand voraus. Aus den genannten Gründen kann die vereinheitlichende Wirkung stets nur Stückwerk sein. Das gilt auch für die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts. Sie w i r k t unmittelbar i n den Fällen des § 31 Abs. 1 und 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz und i m übrigen wie sonstige höchstrichterliche Spruchpraxis, nämlich durch rechtlich nicht verbindliche, tatsächlich aber einen starken Sog bewirkende Prägung der Instanzgerichte. Aber auch die erstrangige Bedeutung der Verfassungsjustiz macht widerspruchsfreie Einheit der Rechtsordnung nicht zu einer Realität. Eine A r t Einheit der Verfassung soll vor allem durch § 16 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz, also durch die Pflicht zur Vorlage an das Plenum bei Abweichen der Rechtsauffassungen beider Senate an268

So i n § 47 Einl. A L R , i n §§ 24 - 27 des A B G B („Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für die deutschen Erblande" v o m 1. 6.1811) oder i m Gesetz über den référé législatif i n Frankreich v o m 24. 8.1790. 269 Die neuere Methodik ist sich über diesen Sachverhalt einig; vgl. D a r stellung und Nachweise bei F. Müller I I I , z. B. S. 18 ff., 24 ff., 40 ff., 47 ff., 68 ff., 184 ff.; dems. X , S. 56 ff., 99 ff., 116 ff., 125 ff. u. ö.; zu dem i m Text folgenden: ders. X I I , bes. S. 55 ff., 86 ff., 90 ff. 8 F. M ü l l e r

114

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

gezielt werden. Ausgerechnet die Praxis zur Einheit der Verfassung zeigt eindrucksvoll, daß die Widersprüche zwischen den durch das Südweststaats- und das Gleichberechtigungs-Urteil eingeleiteten Traditionen beider Senate von einer solchen prozeßrechtlichen Möglichkeit nicht verhindert wurden. Die hier untersuchten Gründe i n bezug auf die abstrakten Rechtsnormen, die Normbereiche und die Eigenart heutiger Normentstehung und Normfunktion wirken m i t der Möglichkeit von Brüchen innerhalb der verfassungsgerichtlichen Setzung von Entscheidungsnormen nicht nur zusammen, sondern verursachen sie auch. Wir müssen lernen, mit einer Rechts- und Verfassungsordnung zu leben, die kein in sich einheitliches Ganzes ist. 3.12 Einheit der Verfassungsurkunde 3.121 Texteinheit des Grundgesetzes

Es legt sich nahe, das formstrenge Grundgesetz i m Hinblick auf seine Einheit formal zu verstehen. Der Begriff „formal" ist aber nicht eindeutig. Rein positivrechtlich als gegebener Normenbestand gesehen, gäbe eine so bestimmte Einheit nur eine begriffsrealistische Tautologie ab und für praktische Rechtsarbeit nichts her. Außerdem wäre ein solcher Ansatz deshalb verfehlt, weil er von der Vorgegebenheit rechtlicher Vorschriften i m Sinn des positivistischen Subsumtionsideals ausginge und sowohl die Normbereiche als auch die Entscheidungsnormen übersähe. Formale Einheit der Verfassung 270 kann aber auch anders untersucht werden. Dabei w i r d von der Verfassung als einer Urkunde ausgegangen. I n einem Politischen System mit geschriebenem Grundgesetz ist dessen Text ein erstrangiger Faktor für die Praxis einer Bindung der staatlichen Gewalten an die Verfassung und auf diesem Weg für die Verfassungsbestimmtheit des gesamten positiven Rechts. Auch bei nur vager Formulierung ist der Normtext erster Ansatzpunkt der Umsetzung. Seine sprachliche Form gibt meist wichtige Hinweise auf das Normprogramm und damit auf die Richtpunkte, die den Normbereich vom diffusen Sachbereich der Vorschrift unterscheiden lassen. Nur in Ausnahmefällen hat grammatische Interpretation des Wortlauts darüber hinaus Bestimmungswirkung, i m Normalfall w i r k t sie positiv als Indiz, negativ als Grenze. I n der zuletzt genannten Funktion w i r k t sie 270

Als Einheit der Verfassung im formellen Sinn: Verfassung ist dabei ein i n besonderer Form zustande gekommenes und erschwert änderbares Gesetz m i t folglich erhöhter Gewähr seines Normenbestandes. Dazu und zu anderen Verfassungsbegriffen: Maunz I I , S. 30 f.; Stern, S. 51 ff. — Zur Verfassung als einem nur durch erhöhte formelle Gesetzeskraft ausgezeichneten Normenbestand schon G. Jellinek I I I , v. a. S. 531 ff., 534.

3.1 Formale Möglichkeiten

115

i m Dienst von Rechtssicherheit, Normklarheit, Publizität und für das Respektieren der Verfassung i m demokratischen Rechtsstaat. Angesichts der Realität von Konflikten, der Gegensätzlichkeit von Interessen und damit der Gegenläufigkeit von Zielen und Wertungen besteht die Hauptfunktion der Rechtsordnung darin, bestimmte Fragen auf Zeit verbindlich zu regeln. Damit rationalisiert, stabilisiert und befriedet die Verfassung an hervorgehobener Stelle der Rechtsordnung zu ihrem Teil den gesellschaftlichen Gesamtzustand. Diese Funktion ist i m Grundgesetz als Vorrang des Rechts und der Verfassung normiert (Art. 20 Abs. 3, 1 Abs. 3 GG). Die Funktion der Verfassung, Macht zu begrenzen, politische Vorgänge jedenfalls teilweise zu rationalisieren und zum inneren Frieden beizutragen, hängt i n Politischen Systemen m i t geschriebener Verfassung erheblich auch davon ab, daß der Text der Verfassung von allen, gerade auch von den herrschenden Gruppen, respektiert wird 2 7 1 . So ergeben sich aus diesem formalen Ansatz wichtige inhaltliche Folgerungen. Sie haben aber nichts m i t der A r t zu tun, auf die das Bundesverfassungsgericht das Argument eines allseitigen Zusammenhangs, eines Sinnganzen oder einer inneren Einheit des Grundgesetzes praktisch einsetzt. Das Gericht sieht auch die Einheit der Verfassungsurkunde vor dem Hintergrund seiner oben analysierten Judikatur. Es folgert aus der „inneren Einheit", die eine Verfassung bilde, „daß alles, was i n einer Verfassungsurkunde steht, insofern auch eine äußere Einheit darstellt, als sie mit allen ihren Bestimmungen als Ganzes steht oder fällt" 2 7 2 . Demnach verlieren nicht nur die zum verfassungsrechtlichen Kernbestand zählenden Normen ihre Kraft, wenn eine Verfassung, sei es i n legalen Formen, sei es revolutionär außer K r a f t tritt. Dasselbe gilt auch für bloß technische Vorschriften, die ebensogut i n einem einfachen Gesetz hätten geregelt werden können und die nur deshalb i n die Verfassungsurkunde aufgenommen worden sind, um in ihrem Bestand stärker geschützt zu werden. Die urkundliche Einheit der Verfassung besteht also darin, durchgehend Verfassung i m formellen Sinn zu sein. M i t diesem Argument schneidet der Senat die Möglichkeit ab, A r t . 129 Abs. 1 Satz 3 WRV über die wohlerworbenen Rechte der Beamten als Maßstab für Normen heranzuziehen, die unter dem Grundgesetz erlassen worden sind. Das soll sogar für den Fall gelten, daß die Norm bis zum Erlaß des Grundgesetzes als einfaches Reichsgesetz fortbestanden hat. Sie konnte nämlich nach Ansicht des Senats wegen ihrer for271 Siehe etwa F.Müller I I I , S. 158 ff., 160 f.; dens. X , S. 16 f. u n d durchgehend; Hesse V I , S. 79 ff.; dens. I V , S. 134,139. 272 So das 131er-Urteil BVerfGE 15, S. 167 ff., 194 f. unter Hinweis auf das Südweststaats-Urteil u n d auf die Entscheidung zum schleswig-holsteinischen Landeswahlgesetz.

*

116

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

malen Zugehörigkeit zur Verfassungsurkunde von Weimar auch nicht über A r t . 125 GG als einfaches Bundesgesetz i n die Rechtsordnung der Bundesrepublik eingehen. Diese Möglichkeit ist spätestens m i t dem Inkrafttreten des Grundgesetzes entfallen. Zur Einheit der Verfassung beruft sich der Zweite Senat hier auf seine beiden ältesten Leitentscheidungen. Dort w i r d das Argument aber anders verstanden, nämlich als Rangunterschied zwischen Grundsätzen und Verfassungsnormen und als Gebot grundsatzkonformer Auslegung. Nichts deutet darauf hin, daß der Senat hier von seiner Linie abweichen w i l l . Aus dieser Sicht einer Einheit der Verfassung folgt aber nicht, daß alle Normen der Urkunde i n gleicher Weise i n K r a f t und außer Kraft treten 2 7 3 . Die äußere ist aus dieser inneren Einheit nicht einsichtig abzuleiten. Eher wäre umgekehrt zu erwarten gewesen, daß i n der Leitentscheidung, also i m Südweststaats-Urteil, eine innere aus der äußeren urkundlichen Einheit der Verfassung begründet würde. Dort aber hat es der Senat, abgesehen von einem verfehlten Hinweis auf A r t . 79 Abs. 3 GG, am Versuch einer Rechtfertigung fehlen lassen. Er hat nur gesagt, was er unter dem Ausdruck „Einheit der Verfassung" verstanden wissen w i l l , und eben diese Version steht i m 131er-Urteil beziehungslos neben dem Fallargument. Der Gesichtspunkt ist hier nicht mehr als ein Wortspiel, das Folgerichtigkeit der Rechtsprechung vorspiegeln und i h r damit Autorität zuspielen soll. Rechtlich wurde das Argument nicht gebraucht. Wenn eine neue Verfassung i n K r a f t tritt, hört die vorhergehende auf zu gelten. Das Grundgesetz spricht für sein Inkrafttreten eine klare Sprache (vergleiche die Präambel, A r t . 144 und 145 GG i n Verbindung m i t dem Bericht vor der Präambel, A r t . 23 GG). Aus der inneren Einheit i m Sinn des Zweiten Senats folgt nicht die äußere des Zugehörens zum Text der Verfassungsurkunde. Vielmehr t r i t t die Einheit der als Urkunde formal verstandenen Verfassung als selbständiger Gesichtspunkt auf. Er ist punktuell auf diese eine Frage begrenzt und kann wohl kaum als allgemeiner Grundsatz der Verfassungsinterpretation gelten 274 , als den das Gericht aber andererseits die innere Einheit der Verfassung verstanden wissen w i l l . Der Aspekt begründet weder eine logische Einheit der Verfassungsrechtsordnung i m Sinn von Bergbohm, Laband oder Kelsen 275 noch eine inhaltlich 273 v. Pestalozza I I , S. 181 schließt es dagegen nicht aus, diese Ableitung von innen nach außen „ f ü r notwendig u n d richtig" zu halten: Er kritisiert n u r die U n k l a r h e i t des Gehalts innerer Einheit. 274 So gesehen, leuchtet es ein, daß die Einheit der Verfassung als formaler Zusammenhang des Verf assungsrechts oder als Versuch seiner Zusammenfassung i n einer Urkunde bei Ehmke V, S. 77 nicht unter die (vor allem inhaltlich gefaßten) Interpretationsgrundsätze aufgenommen wird. 275 Bergbohm I I , S. 384 f.; zu i h m w i e auch zu Laband und Kelsen:

3.

ale Möglichkeiten

117

belangvolle „wissenschaftliche" 276 Einheit. Er weist auch nicht auf ein vernunftrechtlich hinter der Kodifikation stehendes Rechtssystem hin, das nur noch technisch i n eine normative Sozialsystematik übersetzt zu werden bräuchte; eine Vorstellung, die auf dem Weg einer Mathematisierung des Sozialmodells 277 den geistesgeschichtlichen Hintergrund der großen naturrechtlichen Gesetzgebungswerke gebildet hatte. So, wie ihn das Gericht verwendet, erschöpft sich der Gedanke einer äußeren Einheit der Urkunde zunächst i n jenem formalen Kennzeichen moderner Verfassungen, den Gesamtaufbau des Staates durch oberste Fundamentalsätze über die staatliche Struktur und sie konkretisierende Einzelvorschriften sowie durch Normen für den Bereich der Gesellschaft i n einem einzigen schriftlichen Dokument regeln zu wollen: i n der formellen Einheit der constitutio scripta 278 . Übrigens hat das Bundesverfassungsgericht in diesem Urteil vorschnell verallgemeinert. Eine Verfassung ist nicht notwendig i n dem Sinn eine urkundliche Einheit, daß aus dem Gedanken ein praktisches Argument zu gewinnen ist. Gerade die Weimarer Reichsverfassung hatte keine Vorsorge getroffen, i n den Jahren ihres Geltens eine äußere Einheit zu bleiben. Die Fallfrage zu Art. 129 WRV ist hier i m Ergebnis richtig gesehen, weil diese Norm i n der Verfassungsurkunde stand. Nach der anderen Seite hin war die Weimarer Verfassung dagegen keine äußere Einheit, sondern für Änderungen oder Durchbrechungen offen, die sich i n der Urkunde nicht ausdrückten. Nach herrschender Ansicht gab es keine inhaltlichen Grenzen der Verfassungsänderung. Wurden die verH. Heller I I I , S. 266 f.: Die Rechtsordnung als geschlossenes Sinngebilde ist „ein unerreichbares, n u r der kontinuierlich erneuerten Annäherung fähiges Ziel". 276 Siehe die Unterscheidung von „wissenschaftlicher Lehre" und „ p r a k tischer P o l i t i k " unter dem Aspekt einer Einheit der Verfassung bei Ermacora. 277 Die zuletzt genannte Formulierung bei Wieacker I, S. 38 f.; ferner ebd., S. 36; ders. I I , S. 197. Vgl. aber auch ebd., S. 317: H i n t e r dem Einheitsanspruch des bürgerlichen Rechts stand politisch „der Einheitsanspruch eines nationalen u n d liberalen Bürgertums . . . , das sich als den Repräsentanten der ganzen Nation empfand". — Z u r grundsätzlichen Differenz dieses zivilistisch systematischen Denkansatzes v o n den grundrechtlichen Verbürgungen: Scheuner I X , S. 44. — Z u r Begriffsvariante von „System" als Normen- u n d Begriffsschema: Savigny I I , S. 37, 39 ff. I n Savigny I bezieht sich das systematische Element der Auslegung „auf den inneren Zusammenhang, welcher alle Rechtsinstitute u n d Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft", ebd., S. 214; zu einer Einheit, die auf den Zeitpunkt der Gesetzgebung verlegt u n d i n die Vorstellung des Gesetzgebers projiziert w i r d . 278 H. Heller I I I , S. 270 f., 272, 275. — Die Unmöglichkeit logischer Geschlossenheit des (Verfassungs)Rechts w i r d noch heute zwar richtig, aber u n v o l l ständig m i t dem Hinweis begründet, rechtliche Wertung sei unausweichlich; z. B. bei Krawietz I, S. 119; methodologisch schärfer bei H. Heller I I I , S. 266 f.: Soziologische Abhängigkeiten können n u r i n juristische, nicht aber i n logische umgedeutet werden; auch die soziologischen bleiben noch näher zu untersuchen. — Z u m wertenden Charakter aller juristischen Entscheidung: F.Müller I I I , z. B. S. 71 f., 74 f u. ö.; ders. X , z. B. S. 60 ff., 133 ff. u. ö. m. Nw.

118

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

fahrensrechtlichen Formen des A r t . 76 Abs. 1 WRV beachtet, so konnten Verfassungsänderungen jeder A r t bewirkt werden, nicht nur an technischen Einzelnormen, sondern ebenso an Grundrechten oder an Fundamentalbestimmungen der Reichsverfassung 279 . Es gab verfassungsändernde Gesetze, die keine Spur i m Text der Verfassungsurkunde hinterließen. Ihre Verkündungsformeln bezogen sich allein auf die formalen Erfordernisse verfassungsändernder Gesetzgebung. Sie mußten nur m i t qualifizierter parlamentarischer Mehrheit zustande gekommen sein. So entstand eine Nebenverfassung; Vorrang und stabilisierende Wirkung der geschriebenen Verfassung, Rechtssicherheit und Normklarheit wurden durch ein verstreutes Konglomerat von Abweichungen i n Frage gestellt. Solche Verfassungsdurchbrechungen wurden von der staatlichen Praxis akzeptiert, von der überwiegenden Meinung i n der Staatsrechtslehre als zulässig behandelt 280 . Das Grundgesetz hat demgegenüber nicht nur die Mehrheitserfordernisse verschärft (Art. 79 Abs. 2 GG gegenüber Art. 76 Abs. 1 WRV) und bestimmte inhaltliche Grundsätze für unabänderlich erklärt (Art. 79 Abs. 3 GG), sondern auch die urkundliche Einheit der Verfassung gegen Durchbrechungen zu schützen gesucht: Nach A r t . 79 Abs. 1 Satz 1 GG kann die Verfassung nur durch ein solches Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt. Nach A r t . 81 Abs. 4 GG darf ein i m Gesetzgebungsnotstand gemäß Art. 81 Abs. 2 GG erlassenes Gesetz, nach A r t . 115 e Abs. 2 GG ein Gesetz des Gemeinsamen Ausschusses das Grundgesetz weder ändern noch ganz oder teilweise außer K r a f t oder außer Anwendung setzen. Speziell für das Einschränken von Grundrechten durch Vorbehaltsgesetze normiert Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG ein ausdrückliches Zitiergebot. Durch diese Normen, vor allem durch A r t . 79 Abs. 1 Satz 1 GG, sollen Verfassungsänderungen unmißverständlich gemacht und Verfassungsdurchbrechungen ausgeschlossen werden, w i r d der Grundsatz der „Urkundlichkeit und Einsichtbarkeit jeder Verfassungsänderung" 281 festgeschrieben. I m Gegensatz zur Weimarer Verfassung soll auf diese Weise der Vorrang des geschriebenen Verfassungsrechts gesichert werden und soll sich der Bestand an geltenden geschriebenen Verfassungsnormen unmittelbar aus der Urkunde ergeben. Jeder soll deutlich erkennen können, was de constitutione lata gilt 2 8 2 . 279 Kennzeichnend f ü r die herrschende Auffassung: Anschiitz I I , Anm. 3 zu A r t . 76 m. Nw. 280 Stern , S. 129 f. m. N w . ; Hesse V I , S. 274 f. 281 BVerfGE 9, S. 334 ff., 336 i n etwas altfränkischer Formulierung des Vorlagebeschlusses. 282 Dazu Ehmke I I , S. 396 f. Z u r Problematik des A r t . 79 Abs. 1 S. 2 GG ebd. m i t dem Ergebnis, eine derartige Selbstermächtigung sei verfassungswidrig, S. 401; ferner Hesse V I , S. 275 f.

3.

ale Möglichkeiten

119

Der Sache nach hatte schon Georg Jellinek das Phänomen dahin beschrieben, i n Staaten ohne verfassungsrichterliches Prüfungsrecht der Legislative gebe es keine Garantie dagegen, daß einfache Gesetze i m Widerspruch zu Verfassungsnormen und gleichwohl rechtsgültig von der Verfassung abweichen. Solche Gesetze seien inhaltlich verfassungsändernd, es könne aber nicht gewährleistet werden, dabei die Formen der Verfassungsänderung einzuhalten 283 . Der Begriff wurde erst i n der Weimarer Zeit von Jacobi geprägt und von i h m und Carl Schmitt weiter differenziert 284 : Es werden abstraktgenerelle Verfassungsdurchbrechungen von konkret-individuellen unterschieden. Die zuletzt genannten lassen die allgemeine Verfassungsregel unangetastet und setzen nur für einen oder für mehrere bestimmte Einzelfälle eine Ausnahme. I n anderer Fassung werden nur konkret-individuelle Ausnahmen vom geltenden Verfassungsrecht als Verfassungsdurchbrechungen bezeichnet. Sie unterscheiden sich danach, ob sie die Verfassung mißachten, indem sie das für Verfassungsänderungen vorgesehene Verfahren nicht durchlaufen; oder ob sie sich an das Verfahren halten bzw. sich unmittelbar auf eine Ausnahme i m geschriebenen Verfassungsrecht berufen können 285 . Die Terminologie unter dem Grundgesetz ist nicht ganz klar. Einmal w i r d allgemein dann von Verfassungsdurchbrechung gesprochen, wenn ein Gesetz „vom Text der Verfassung abweicht, ohne ihn ausdrücklich zu ändern" 2 8 6 . Z u m andern w i r d darunter nur ein nicht ausdrückliches Abweichen vom Verfassungstext i m Einzelfall verstanden. Beide Formen unterscheiden sich nur quantitativ: Die konkret-individuelle Ausnahme trifft nur für einen Fall oder für Einzelfälle zu, die abstraktgenerelle regelt eine größere und vom Tatbestand her nur bestimmbare, nicht aber bestimmte Gruppe von Fällen abweichend von der geschriebenen Verfassung 287 . I m verfassungsrechtlichen Ergebnis sind beide Arten unzulässig. I m Grunde scheitert eine gesetzliche Verfassungsdurchbrechung ohne Änderungsabsicht bereits an Art. 20 Abs. 3, 1 Abs. 3 GG. Soll eine Norm 283

G. Jellinek I I I , S. 538. Jacobi, vor allem S. 261, 2641; Schmitt I V , S. 99 f.; zur Weimarer Diskussion unter der Fragestellung, ob verschiedene A r t e n der Verfassungsdurchbrechung rechtlich verschieden behandelt werden können: Grosskreutz, S. 46 ff. m. N w . 285 Diese Eingrenzung des Begriffs bei Schmitt I V , S. 99 f. Das dort genannte Beispiel, nach dem die Legislaturperiode eines Parlaments i m Einzelfall durch einfaches Gesetz gegen die verfassungsrechtliche Regelung verlängert w i r d , trifft übrigens den i m Südweststaats-Urteil entschiedenen F a l l zum Ersten Neugliederungsgesetz, BVerfGE 1, S. 14 ff. 286 So Stern, S. 81; die i m Text folgende Umschreibung bei Hesse V I , S. 16. 287 Dazu anhand der Weimarer Diskussion: Grosskreutz, S. 49 f. 284

120

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

der Verfassung nicht geändert, sondern nur für den Einzelfall mißachtet werden, so verstößt das einfache Gesetz damit gegen die Verfassungsbindung der Legislative, mag es auch m i t qualifizierter Mehrheit zustande gekommen sein. Auf eine Verfassungsänderung zielt es weder inhaltlich noch funktional ab. Soll dagegen das Grundgesetz normativ geändert werden, soll also das positive Verfassungsrecht i n Zukunft anderes aussagen als bisher — und das kann auch, muß aber nicht auf einen oder einige Einzelfälle beschränkt sein —, so verlangt Art. 79 Abs. 1 Satz 1 neben den parlamentarischen Voraussetzungen des Absatzes 2 und den inhaltlichen Schranken des Absatzes 3 zusätzlich ein ausdrückliches Ändern der betroffenen Normtexte des Grundgesetzes. Diese Vorschrift verbietet also nicht nur konkret-individuelle, sondern auch abstrakt-generelle Durchbrechungen geschriebenen Verfassungsrechts. Die Frage, ob ein solcher Fall gegeben ist oder nicht, bedarf der Interpretation. Deren Komplexität oder Schwierigkeit schränkt die Funktion des A r t . 79 Abs. 1 Satz 1 GG als Grundsatz der Verfassungsklarheit entsprechend ein 2 8 8 . Anders als die Weimarer Verfassung, für die das Bundesverfassungsgericht i m 131er-Urteil i m 15. Band zu pauschal die äußere Einheit der Urkunde beanspruchte, kennt somit das Grundgesetz eine urkundliche Einheit der Verfassung, die Verfassungsdurchbrechungen ausschließt. Dagegen w i r d ein Verfassungswandel eingeschlossen, da dieser durch den möglichen Wortsinn, also durch den m i t allen methodischen Sprachdaten konkretisierten Normtext begrenzt wird. Die Frage, ob sich ein tatsächlicher Wandel i n der sozialen Wirklichkeit nur i m Sachbereich von Verfassungsrecht abspielt oder ob die veränderte Tatsache den Normbereich betrifft und damit die Normativität ändert, entscheidet sich an der rechtsstaatlichen Grenzfunktion des Normprogramms. Nach A r t . 79 Abs. 1 Satz 1 GG muß sich der maßgebliche Normtext aus der Verfassungsurkunde ergeben. Dieser Grundsatz ist nicht auf Verfassungsänderungen i m technischen Sinn zu beschränken. Er gilt auch für den Verfassungswandel, denn die Änderung einer Norm kann nicht nur, wie üblich, durch eine solche des Normtextes (und damit, als Ergebnis der Konkretisierung, des Normprogramms) erfolgen, sondern auch aufgrund solcher faktischer Änderungen, die den Normbereich betreffen 289 . Da andererseits Verfassungswandel nur insoweit zulässig ist, als er sich nicht i n Widerspruch zum geschriebenen Verfassungstext setzt, fällt er nicht unter die Sperre des Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG 2 9 0 . 288

F. Müller I I I , S. 155 m. Nw. F. Müller I I I , S. 117 f., 131 ff.; ders. X , S. 35, 37, 112; F. Müller/Pieroth, S. 82 ff., 84 ff. 290 Z u den Grenzen des Verfassungswandels eingehend: Hesse I V , hier bes. S. 136 ff., 139. 289

3.

ale Möglichkeiten

121

Nicht nur ein Verfassungswandel, auch Verfassungsgewohnheitsrecht ist unter dem Grundgesetz nicht ausgeschlossen. Das w i r d allgemein m i t Hinweis auf A r t . 20 Abs. 3 (Bindung an „Gesetz und Recht") begründet. Der Vorrang der geschriebenen Verfassung und ihre Einheit als Urkunde drücken sich darin aus, daß sich Verfassungsgewohnheitsrecht nur neben der Verfassung, nur i n von positivem Recht gleichen Ranges nicht besetzten Bereichen, nicht aber gegen geschriebene Verfassungsnormen bilden darf 2 9 1 . Die Frage, welche Rechtsquellen für Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz anzuerkennen sind, w i r d also von Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG nicht allein, sondern von i h m zusammen mit Art. 20 Abs. 3 GG normiert. Die formale Einheit der Verfassung besagt nicht, alles Verfassungsrecht bilde insofern eine Einheit, als es i m Text der Urkunde des Grundgesetzes enthalten sein muß. Dem entspricht es, daß A r t . 79 Abs. 1 Satz 1 GG nur für solches Verfassungsrecht formuliert ist, das der Verfassunggebung und dem Inkrafttreten des Grundgesetzes zeitlich nachfolgt. 3.122 Folgerungen aus der Texteinheit

Die formale Einheit der Verfassungsurkunde kann zunächst zweifach gedeutet werden. Die erste Verständnismöglichkeit, alles Verfassungsrecht müsse i n der Urkunde enthalten sein, w i l l wegen A r t . 20 Abs. 3 GG nicht überzeugen. I m Zeitpunkt seines Inkrafttretens war das Verfassungsrecht des Grundgesetzes auch von ungeschriebenen Regeln mitbestimmt, die den rechtswissenschaftlichen Anforderungen an Gewohnheitsrecht genügten, so vor allem von Normen aus dem Umkreis des Rechtsstaats. Diese Version einer formalen Einheit, die als Rechtsvollständigkeit bezeichnet werden kann, ist aber auch abgesehen von Verfassungsgewohnheitsrecht aus a l l jenen Gründen nicht einsichtig, die es nicht möglich erscheinen lassen, Einheit der Verfassung als ihre Geschlossenheit zu verstehen: wegen der Strukturiertheit auch von Verfassungsrecht, also wegen der Zugehörigkeit der Normbereiche zur Normativität der Verfassung 292 , wie auch wegen des Einschlusses der Entscheidungsnormen, die ebenso wie die abstrakten Rechtsnormen (Wortnormen) das geltende Verfassungsrecht ausmachen. Neben einer Rechtsvollständigkeit kann die formale Einheit der Verfassungsurkunde aber auch ihre Textvollständigkeit bezeichnen. I n 291 Hierzu etwa Hesse V I , S. 15, 30, 207. — Z u r Frage des Verfassungsgewohnheitsrechts abweichend Tornuschat. 292 Bei einigen Typen v o n Verfassungsnormen werden die Normbereiche i n den Normtexten n u r angedeutet, so bei Fundamentalnormen u n d G r u n d rechten; hierzu F.Müller I I I , z.B. S. 156, 202 u. ö.: ders. V I I I , z.B. S. 40, 41; ders. X , z. B. S. 69 f., 126; zur Typologie von Verfassungsnormen: ebd., S. 122 ff., 150 ff. Z u r Nichtidentität v o n N o r m u n d Normtext: ders. I I I , S. 147 ff. u. ö.

122

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

dieser Bedeutung gilt sie für das Grundgesetz: Alle Normtexte von Verfassungsrecht müssen i n der Verfassungsurkunde enthalten sein. Diese Aussage ist deswegen mit der Strukturiertheit der Normen, mit der Zugehörigkeit von Entscheidungsnormen zum geltenden Recht und m i t anerkanntem Verfassungsgewohnheitsrecht vereinbar, weil der Ausdruck „Normtext" hier ein technischer Begriff ist. Er bezeichnet den i m verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Verfahren erzeugten, amtlich festgestellten und veröffentlichten Wortlaut abstrakter Rechtsnormen. I m Sinn der Vollständigkeit der Normtexte gilt für das Grundgesetz kraft positiven Rechts die formale Einheit seiner Urkunde. Damit sind einige dogmatische und methodische Gebote bzw. Folgerungen des geltenden Verfassungsrechts verbunden. Für die inhaltlichen Grenzen der Verfassungsänderung ist A r t . 79 Abs. 3 GG lex specialis zu A r t . 79 Abs. 1 Satz 1, also zur formalen Einheit der Verfassung. Das bedeutet, daß geprüft werden muß, ob es dem verfassungsändernden Gesetzgeber gelungen ist, Verfassungsrecht zu schaffen oder nicht. Die Tatsache, daß die Neufassung der betreffenden A r t i k e l oder daß der Wortlaut neu hinzugefügter Verfassungsnormen bereits i n den Gesetzestexten des Grundgesetzes ausgedruckt sind, besagt rechtlich nichts. Das Bundesverfassungsgericht hat neu hinzugefügtes bzw. geändertes Verfassungsrecht i m Vorgang der Prüfung nach Art. 79 Abs. 3 GG nicht bereits als Verfassungsrecht, sondern noch als auf Verfassungsänderung zielendes Gesetzesrecht zu behandeln 293 . Die Norm zur Einheit der Verfassungsurkunde, Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG, gehört i n die Gruppe rechtsstaatlicher Klarheits - und Bestimmtheitsgebote. Diese gelten nicht nur für die vollziehende Gewalt, soweit sie belastende Akte setzt; u n d nicht nur für den Gesetzgeber, der für das Straf recht durch A r t . 103 Abs. 2 GG gebunden w i r d und der allgemein m i t unklaren, mißverständlichen oder widersprüchlichen Normen gegen das Gebot der Rechtssicherheit und damit gegen Verfassungsrecht verstoßen kann 2 9 4 . Das Gebot der Normklarheit und Tatbestandsbestimmtheit gilt auch für das Verfassungsrecht selbst. Nicht zuletzt dadurch erweist sich das Grundgesetz als formstrenge Verfassung , die möglichst genau formulieren, dadurch gleichförmige Normprogramme und Entscheidungsnormen entstehen lassen, Rechtspositionen verläßlich abgrenzen und Verfassungsrecht wie verfassungsbestimmte Rechtsordnung für die Normadressaten möglichst berechenbar machen w i l l 2 9 5 . 293 Das w i r d i m A b h ö r - U r t e i l von der Mehrheit des Senats verkannt, aber von den abweichenden Richtern k l a r ausgesprochen: BVerfGE 30, S. 1 ff., 19 ff.; dagegen ebd., S. 34 f. 294 So die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit dem Südweststaats-Urteil, BVerfGE 1, S. 14 ff., 16 Leitsatz 14, 45, allerdings auf extreme Fälle eingeschränkt. 295 Z u den Rechtsstaatsgeboten der Normklarheit, Justitiabilität, Tatbe-

3.

ale Möglichkeiten

123

Vorrang und Unverbrüchlichkeit der Verfassung, die Bindung an Gesetz und Recht, die Gebote der Normklarheit und Tatbestandsbestimmtheit, der Methodenklarheit und verfassungsrechtlich normierten Funktionsabgrenzung sind zum Teil i n einzelnen Vorschriften des Grundgesetzes spezialgesetzlich normiert (z.B. Art. 19 Abs. 1 Satz 2, 79 Abs. 1 Satz 1 m i t Art. 81 Abs. 4 und 115 e Abs. 2, 20 Abs. 2 und 3, 1 Abs. 3 GG), zum Teil gehören sie zum anerkannten ungeschriebenen Verfassungsrecht i m Umkreis des Rechtsstaatsprinzips, zu dem die Rechtssicherheit an hervorgehobener Stelle gezählt wird 2 9 6 . Hierher gehören ferner Rückwirkungsverbote, das Verbot belastender Analogie i m Recht der Eingriffsverwaltung oder strafbegründender und strafverschärfender Analogie i m Strafrecht, schließlich auch Begründungspflichten, Formvorschriften und verstreute einzelne Verfahrensnormen wie zum Beispiel die §§ 267 Strafprozeßordnung, 313 Abs. 1 Ziffer 4 Zivilprozeßordnung oder 108 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung. Die Klarheitsgebote betreffen nicht nur die normsetzenden, normumsetzenden und normkontrollierenden staatlichen Funktionen als unmittelbare Rechtspflicht. Sie gehen auch die außerhalb verbindlicher Entscheidungsprozesse argumentierende Rechtswissenschaft an. Nicht nur die Texte von Rechtsnormen und Entscheidungsnormen, sondern auch die Begründungstexte und damit die Methode der Norm(text)behandlung haben sich um Klarheit und Kontrollierbarkeit zu bemühen. Gerade weil juristische Objektivität als unpolitische, dem Zwang zu Wertung und verantwortlicher Entscheidung entrückte nicht real ist, muß Objektivität i n der zweiten Sinnvariante, als Methodenklarheit, das der Rechtswissenschaft und Rechtspraxis ohne Selbsttäuschung Mögliche zu erreichen suchen. Maximale Rationalität erhellt i h r eigenes Vorgehen möglichst redlich, optimale Methodenehrlichkeit zwingt dem instanziell oder wissenschaftlich nachprüfenden juristischen Bewußtsein möglichst keine pauschalen Wertungen und verdeckenden Wortfassaden auf. Weder soll die Entscheidungsnorm ohne Vollständigkeit der Normen und Aspekte, unmethodisch, i n sich widersprüchlich, interessenbedingt-willkürlich erzeugt, noch soll sie ungenau, pauschal oder irreführend begründet werden. Schließlich ist rechtspolitisch zu fordern, daß sich die Methoden des Erarbeitens wie des Begrün dens der Entscheidungsnorm decken. Rechtlich genügt es allerdings, daß die Entscheidungsnorm methodisch korrekt und am Maßstab methodenrelevanter Normen legal gerechtfertigt werden kann 2 9 7 . Formstrenge der Verfassung, Textstrenge standsbestimmtheit (und zur „konkretisierenden" Tätigkeit der Gerichte): BVerfGE 34, S. 238 ff. (private Tonbandaufnahmen). 296 So die ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 1, S. 14 ff., 18 Leitsatz 28, 38, 45 ff.; 2, S. 380 ff., 403; 3, S. 225 ff., 237 und ff. 297 Zu den Geboten der Normklarheit vgl. z.B. Herbert Krüger V, S. 721; F.Müller I I I , S. 156, 158 ff., 214; dens. X, S. 23, 53 125 f., 127 f., 139; ebd.,

124

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

ihrer Urkunde und rechts staatliche Klarheitsgebote beeinflussen die Methode juristischer Arbeit am deutlichsten dort, wo sie ihr Grenzen ziehen. Jedenfalls i m Verfassungsrecht begrenzt der konkretisierte Normtext die Zulässigkeit der Interpretation. Auch wenn sich das Sachproblem auf solche A r t nicht befriedigend lösen läßt, hat der an die Verfassung gebundene Richter, der Gesetzgeber oder hat die vollziehende Gewalt keine freie Wahl für normgelöste Gesichtspunkte 298 . Der Wortlaut schließt eine Entscheidungsnorm nicht schon dann aus, wenn sie sich aus i h m nicht herleiten läßt; sondern nur und erst dann, wenn der Wortlaut so jedenfalls nicht verstanden werden kann. Dieses Urteil muß insoweit eindeutig sein 299 . Das schwierige Gebot einer Normkonkretisierung i n Bindung an die zu konkretisierende Norm stellt sich i m Verfassungsrecht mit besonderem Nachdruck. Was Bindung an das Gesetz heißt und wie weit sie einhaltbar und überprüfbar ist, hängt von Funktion und Struktur der fraglichen Normen i n bezug auf die von ihnen zu regelnden Fälle ab. Verfassungsrecht begründet, rechtfertigt und begrenzt die Rechtsordnung des Gemeinwesens. Es ist durch höhere Instanzen innerstaatlichen Rechts nicht mehr abgesichert. Es sichert vielmehr seinerseits alles innerstaatliche Recht von unterverfassungsrechtlichem Rang ab. Die rechtsstaatlichen Klarheits- und Bestimmtheitsgebote werden i n dem Maß zentral wichtig, i n dem Verfassungsnormen von ihren einzigartigen Funktionen her gesteigert verbindliche Setzungen sind. Entscheidungen, die den Wortlaut einer Norm offensichtlich überspielen, sind unzulässig, und zwar obwohl Norm und Normtext nicht identisch sind. Verfassungsrechtliche Methodik fragt zwar nicht „hinter das Gesetz zurück und über es hinaus" 3 0 0 , wohl aber hinter den Normtext zurück und über ihn hinaus. Das gilt insoweit, als grammatische Auslegung die Konkretisierung inhaltlich nicht alledne trägt. Dagegen ergibt sich die Grenzfunktion nicht aus Methodik, sondern aus dem normativen Komplex von Rechtssicherheit, Publizität, Norm- und Methodenklarheit i n einer Verfassungsordnung, die den Vorrang der geschriebenen Verfassung und die Unverbrüchlichkeit ihrer normativen Maßstäbe beansprucht. Die Grenzfunktion des Wortlauts ist nicht dasselbe wie die Konkretisierungsfunktion des grammatischen Elements. Die Konkretisierung klebt nicht am Wortlaut, S. 263: Diese Forderungen richten sich auch an das Richterrecht; dens. X I I . S. 70, 78, 89, 97; Knies , S. 43 f. m. Nw. — Zu den Geboten der Methodenklarheit: F.Müller I I I , S. 54, 75, 204; ders. X , S. 16 f., 22, 51, 79, 106, 122 133 ff., 197 f., 271, 280 f.; ders. X I I , S. 49, 51, 67, 86 f., 95, 105, jeweils m. Nw.; ders. X V I , S. 285 ff. zu den drei Bedeutungen von Methodenehrlichkeit. 298 Hesse V I , S. 30 f.; für das Zivilrecht vgl z. B. Larenz, S. 309 f., 329, 332. 299 Zuletzt F.Müller X V I , S. 274 m i t Anm. 8 und Nw.; ebenso schon ders. I I I , S. 155, 158ff., 160 und f.; ebd. zu den Grenzen topischer Arbeitsweise i m Verfassungsrecht, S. 47 ff., 57 ff.; dazu ferner ders. X , z. B. S. 77 ff. 300 So aber Ehmke V, S. 54.

3.

ale Möglichkeiten

125

beschränkt sich nicht auf Interpretation des Normtexts. Die Entscheidung muß sich nicht aus dem Wortlaut ergeben. Sie muß nur m i t den noch möglichen Verständnisvarianten des konkretisierten Normtexts (also des Normprogramms) vereinbar bleiben. Diese Grenze beruht nicht auf Methodologie, deren Regeln nicht normativ sind, sondern ebenso auf methodenrelevanten Rechtsstaatsnormen, also auf geltendem Recht 301 , wie Textvollständigkeit und Textstrenge als Ausdruck der urkundlichen Einheit des Grundgesetzes. Diese A r t von Einheit der Verfassung kann auch noch auf eine dritte und eine vierte Weise gedeutet werden: Alles Recht, dessen Normtext die Verfassungsurkunde enthält, ist i n gleicher Weise Verfassungsrecht. Das kann heißen, es seien keine formalen Rangunterschiede zwischen den von der Urkunde umfaßten Normen festzustellen; oder auch, die Struktur der Verfassung weise keine normativen Brüche auf, das Grundgesetz sondere keine Gruppe von Vorschriften m i t Rechtswirkung vom übrigen Bestand der Verfassungsurkunde ab. Beide Fragenkreise sind jetzt zu prüfen. 3.13 Einheit der Rangstufe von Rechtsquellen Haben alle Normen, deren Wortlaut i n der Urkunde des Grundgesetzes enthalten ist, gleiche Geltungsqualität? Die Einheit der Verfassung bestünde i n diesem Fall i m einheitlichen Rang ihrer geschriebenen Vorschriften. Ein Teil der Debatte der Nachkriegszeit zur Frage verfassungswidriger Verfassungsnormen wollte das bestreiten. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hatte am Beispiel des Gleichheitssatzes die elementaren Grundrechte als Gruppe aus dem Verfassungsrecht ausgesondert und ihnen folgende Eigenschaften zugeschrieben: Sie lägen als natürliche Rechte dem positiven Recht voraus, seien von überpositiver Natur, bänden auch den Verfassunggeber und seien von ihm nicht geschaffen, sondern vorgefunden und anerkannt worden. Als Verfassungsgrundsätze gingen sie dem übrigen Verfassungsrecht vor. Dieses könne von der Verfassungsjustiz i n den normalen Verfahren an ihnen überprüft und bei Verstoß für nichtig erklärt werden 3 0 2 . Dogmatisch folgert diese Rechtsprechung also materielle Rangunterschiede, Maßstäblichkeit und gerichtliche Prüfungskompetenz. I n der Entscheidung zur Zehnprozentklausel i m bayerischen Landeswahlrecht 303 hat sich der Gerichtshof, wieder am Beispiel des Gleichheitssatzes, zu dieser Spruchpraxis bekannt, sich mit Einwänden auseinandergesetzt und eine 301

F. Müller X , z. B. S. 78 ff., 153 ff.; ders. X I I , S. 77 ff.; ders. X V I , S. 274 f. Ständige Rechtsprechung seit B a y V f G H 2, S. 45 ff., 47 f.; 3, S. 28 ff., 47 f.; vgl. ferner B a y V f G H 4, S. 51 ff., 58 f.; 9, S. 1 ff., 10; 11, S. 146 ff., 153; 13, S. 27 ff., 31; 14, S. 87 ff., 98; 17, S. 94 ff., 96. 303 B a y V f G H 11, S. 127 ff., 132 ff. 302

126

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Begründung versucht. Diese ist allerdings nicht rechtswissenschaftlich: Naturrecht könne nur religiös oder weltanschaulich geglaubt werden. Nach den Erfahrungen des Dritten Reiches habe sich i m juristischen Schrifttum eine naturrechtliche Uberzeugung überwiegend durchgesetzt, der bayerische Verfassunggeber habe sich diese zu eigen gemacht. Die Gegenansicht w i r d genannt, aber nicht inhaltlich erörtert. Statt dessen w i r d ihr das Autoritäts-Argument einer überwiegenden Lehre entgegengehalten. Der Gerichtshof bestätigt die Meinung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts seit dem SüdweststaatsUrteil, das sich ja seinerseits unklar auf diese bayerische Judikatur berufen hatte. Die Linie des Ersten Senats seit dem Urteil zur Gleichberechtigung weist der Gerichtshof zurück. Die Einheit der Verfassung hindere nicht, i m Verfassungsrecht Rangunterschiede anzunehmen. Unter Hinweis auf einen einzelnen Autor w i r d bekräftigt, auch eine als Einheit begriffene Verfassung könne „ein gegliedertes Ganzes" sein 304 , und zwar m i t den genannten handfesten dogmatischen Folgerungen. Geistesgeschichtlich ist die Vorstellung eines rangverschieden gegliederten Ganzen die ältere Fassung des Organismusgedankens 305 . Aus dem Glauben an ein Ganzes der Verfassung und aus dem zweiten, dieses sei differenziert, ergibt sich weder der Schluß noch auch nur der weitere Gedanke, Verfassungsnormen hätten verschiedenen Rang. Das Grundgesetz ist i n Abschnitte gegliedert, i n grundrechtlichen und organisatorischen Teil, i n Normalverfassung u n d Notstandsregeln, i n Normengruppen unterschiedlicher Funktion, Struktur, Änderbarkeit. Aber die Behauptung höher- und niederrangiger Teile des positiven Verfassungsrechts stützt sich erst auf ein weiteres Axiom: Die Einteilung sei hierarchisch bestimmt. Sie greift damit auf die vorkritische Tradition organologischen Denkens zurück, auf den antiken Anthropomorphismus von Haupt und Gliedern. Seit dem Beginn der Entwicklung der modernen Einzelwissenschaften i m 17. Jahrhundert war dieses inhaltlich naive und methodisch unvermittelte Modell versunken. Es war dann noch einmal von der Politischen Romantik vertreten worden, die mit seiner Hilfe an Grundfragen von Staat, Gesellschaft und Recht unbefangen herumriet; und ein Jahrhundert später, i n den Zwanziger Jahren, schließlich von deren Epigonen wie O. Spann. Das ist, da hier von Wissenschaft die Rede sein soll, aber nur ein literaturgeschichtlicher Hinweis. M i t der Frage der Vertretbarkeit eines solchen Modells beschäftigt sich der bajuwarische Gerichtshof ebensowenig, wie das i n seiner etwas 304

So Wintrich I I , S. 11 f.; ders. I I I , S. 97 ff., 99. Z u m Organismusdenken i n der deutschen Politischen Romantik und sonst i m Vormärz: F.Müller I, S. 86 ff., 95 ff., 103 ff., 115 ff., 142 ff., 340 ff.; siehe auch Badura I, S. 87 ff., 115 ff. 305

3.

ale Möglichkeiten

127

zweifelhaften Nachfolge das Südweststaats-Urteil getan hatte 3 0 6 . Die Begründung dieses Urteils arbeitet m i t einer Folge von inhaltlich nicht auseinander hervorgehenden Postulaten. Die Leitsätze offenbaren, daß der Senat den sachlichen Grund i n der Existenz überpositiven, auch den Verfassunggeber bindenden Rechts erblickt und daß er gesonnen ist, dieses anzuerkennen. Das ist hier schon untersucht worden. Rangunterschiede i m Verfassungsrecht ergeben sich also je nach der Quelle: Vom Verfassunggeber erzeugte Normen stehen allgemein i m Rang unter solchen, die er zwar ebenfalls gesetzt hat, aber nicht frei, sondern gebunden durch inhaltsgleiches Naturrecht. Deren ursprüngliche Eigenschaft als Naturrecht w i r d i n die von positivem Recht umgeformt, setzt sich aber innerhalb seiner als erhöhte Rangqualität fort. M i t der inneren Einheit der Verfassung, die zugleich verkündet wird, hat das nichts zu tun; diese w i r d vom Zweiten Senat denn auch nur sprachlich, nicht sachlich m i t der Vorrangthese verknüpft. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof zieht sich m i t seiner unvollständigen Formel vom gegliederten Ganzen — das dabei unausgesprochen als hierarchisch unterstellt w i r d — reichlich mühsam aus der Affäre, Einheit der Verfassung und Rangdifferenzen i m positiven Verfassungsrecht verknüpfen zu sollen. Dagegen begründet es der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts seit dem Gleichberechtigungs-Urteil gerade m i t dem Gedanken der Verfassung als einer Einheit, „daß auf der Ebene der Verfassung selbst ranghöhere und rangniedere Normen i n dem Sinne, daß sie aneinander gemessen werden könnten, grundsätzlich nicht denkbar sind" 3 0 7 . Damit soll juristisches Argumentieren für den historischen Normalfall abgedeckt sein. Nur i n extremen Lagen, für die auch der Erste Senat die Zeit des nationalsozialistischen Regimes i n Deutschland als Beispiel nennt, werden dem ursprünglichen Verfassunggeber äußerste Grenzen inhaltlicher Gerechtigkeit übergeordnet und w i r d den i m Grundgesetz positivierten Vorschriften übergesetzlicher Herkunft eine besondere Kraft zugesprochen. Verfassungswidrige Verfassungsnormen i m ursprünglichen Rechtsbestand bezeichnet der Senat aber nur als entfernt denkbar, als für ein freiheitlich demokratisches Verfahren der Verfassunggebung so gut wie unmöglich. I m dogmatischen Ergebnis w i r d auch hier die richterliche Prüfungszuständigkeit gefolgert 308 . Es wurde schon gezeigt, wie die Linien der beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts i n ständiger Rechtsprechung fortgeführt werden, wie sie sich zwar stellenweise berühren und überschneiden, meist aber deutlich unterscheidbar bleiben. Der Zweite Senat hat mit seinem so« BVerfGE 1, S. 14 ff., 15 Leitsatz 4, 17 Leitsatz 21 a, 18 Leitsatz 27, 32 f. 307 BVerfGE 3, S. 225 ff., 231 f. 308 Ebd., S. 232 ff.; siehe auch BVerfGE 4, S. 294 ff., 296 u n d die oben i n Kapitel 2 untersuchte weitere Rechtsprechung des Ersten Senats.

128

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Beschluß zur Geltung nationaler Grundrechte gegenüber europäischem Gemeinschaftsrecht von 1974 zwar sprachlich Neuland betreten, indem er der jetzt so genannten Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruhen soll, praktisch Vorrang vor Art. 24 Abs. 1 GG eingeräumt hat 3 0 9 . Sachlich wurde damit aber nur der unklarste Teil der Judikatur zur Einheit der Verfassung fortgesetzt. I m Schrifttum ist die These der Rangabstufimg teils ebenfalls naturrechtlich 310 begründet worden, teils nach der Standfestigkeit der Verfassungssätze i m Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 und 19 Abs. 2 auf der einen sowie 79 Abs. 1 GG auf der anderen Seite 311 , teils auch für solche Fälle, i n denen der Verfassunggeber durch Ausnahmenormen von anderweitig gesetzten grundlegenden Vorschriften abweiche. Gerade dieser Gesichtspunkt wurde, wohl nicht ohne zeitverhaftete Selbstbetroffenheit, auffallend gezielt i n bezug auf Art. 131 GG benutzt 312 . I m übrigen spielte sich die Diskussion m i t einer Mischung aus diesen Argumenten unter dem Stichwort der verfassungswidrigen Verfassungsnorm ab 313 . Nicht nur die möglichen Gründe für eine Rangabstufung wurden i n dieser Debatte häufig vermengt, sondern auch die Fragen nach der Denkbarkeit von Normwidersprüchen i m Verfassungsrecht, nach einer Verschiedenheit des Ranges, nach richterlicher Prüfungszuständigkeit und gegebenenfalls nach materiellrechtlichen Folgen. I m Ergebnis wurde auch hier die These vertreten, grundsätzlich könnten Verfassungsnormen durch die Verfassungsgerichte am Maßstab des vom Grundgesetz unterstellten oder übernommenen übergesetzlichen Rechts auf ihre Geltung überprüft werden 3 1 4 . Aber auch der Urheber des Begriffs „verfassungswidrige Verfassungsnorm", der solche für möglich hält, beschränkt diese Aussage auf Verstöße gegen Normen übergesetzlichen Rechts, wobei immer wieder der allgemeine Gleichheitssatz als Willkürverbot das Beispiel bildet. Dagegen könne der Ver309

BVerfGE 37, S. 271 ff., 279 und ff.; ebd. S. 296 (Abweichende Meinung). Z. B. Wintrich I I I , S. 97 ff., 99 f. i m Anschluß an die Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs ; ebd., S. 99 m i t A n m . 28 auch Hinweis auf BVerfGE 5, S. 85 ff., 137 f. 311 Maunz I, S. 142 f.; ebd., S. 151 f. aber auch naturrechtliche Aspekte u n d überpositive Grundentscheidungen der Verfassung als „starke Normen"; zu A r t . 79 Abs. 3 und 1 Abs. 1 GG: ebd., S. 145 f., 150; ders. I I , S. 48 ff. 312 So von Herbert Krüger I ; ders . I I zum Sozialisierungsartikel i n der Hessischen Verfassung (Art. 41); zu A r t . 131 GG noch z. B. Giese. 313 Darstellung und Nachweise bei Engisch V I , S. 163, 169 f., 170 ff.; ferner die Auseinandersetzung m. Nw. bei Grosskreutz, S. 32 f., 33 ff., 38 ff.; Maunz I I , S. 295 f. 314 So Bachof I I ; ders. I V ; ders. V, S. 927 f.; zur oben genannten Frage des A r t . 131 GG vertrat Bachof übrigens den Standpunkt, er verstoße nicht gegen übergesetzliches Recht: ders. I. — Zur Kontroverse etwa Apelt I I ; ders. I I I ; Scheuner V I , S. 201 ff. — Zu Verfassungsrecht aus überpositiver Quelle: Grosskreutz, S. 50 ff., 61 ff.. 64 ff. 310

3.

ale Möglichkeiten

129

fassunggeber kraft seiner Autonomie von seinen eigenen Satzungen auch Ausnahmen machen. Es sei nicht möglich, wegen angeblicher Unvereinbarkeit m i t einem grundlegenden Verfassungsgehalt, der autonom gesetzt wurde, oder wegen größeren oder geringeren Gewichts der einzelnen Verfassungsnormen Rangunterschiede zu konstruieren 315 . Damit ist ein wichtiger Punkt festgehalten und der Sache nach eher die einschränkende Linie des Gleichberechtigungs- als die unbekümmert verallgemeinernde des Südweststaats-Urteils getroffen. Es kann hier von den Fällen abgesehen werden, i n denen das Schrifttum ohne grundsätzliche Stellungnahme u n d i n der Regel auf ein erwünschtes Ergebnis h i n die Möglichkeit von Rangunterschieden i m Verfassungsrecht okkasionell unterstellt 3 1 6 . Zum Teil werden auch Rangunterschiede der Grundrechte behauptet. Vom Gedanken der Einheit der Verfassung her seien diese zwar grundsätzlich untereinander gleichrangig; doch habe A r t . 1 Abs. 1 GG wegen A r t . 79 Abs. 3 GG „einen prinzipiellen Vorrang vor allen anderen Grundrechtsvorschriften", und „einen eindeutigen Vorrang vor anderen Grundrechten" verdiene ferner das Recht auf Leben als Voraussetzung für das Ausüben aller anderen Grundrechte 317 . Diese Sicht verwechselt die Frage nach dem Rang m i t jenen nach der inhaltlichen Tragweite und nach der Rolle des Wesensgehalts. Das Grundrecht auf Leben hat von den Gegebenheiten seines Normbereichs her — zwischen Leben und NichtLeben gibt es kein Drittes! — die dogmatische Besonderheit, überhaupt nur aus seinem Wesensgehalt zu bestehen. Kollidiert es m i t anderen Grundrechten oder Verfassungsnormen, so bietet es für das Verfahren verhältnismäßigen Ausgleichs keinen Spielraum. Es kann, anders als die übrigen Grundrechte und Verfassungspositionen, nicht „ein wenig eingeschränkt" werden, ohne zugleich i n seinem Wesensgehalt vernichtet zu sein. Die i m Normbereich begründete Starrheit dieses Grundrechts i n Kollisionsfällen hat zu der optischen Täuschung eines Vorrangs geführt. Dagegen findet sich das Argument aus A r t . 79 Abs. 3 GG häufiger als Begründung für Rangunterschiede i m Verfassungsrecht. Es werden entweder die von A r t . 79 Abs. 3 GG erfaßten Grundsätze als gegenüber dem Rest des Grundgesetzes höherrangig ausgegeben, oder es werden Verstöße gegen Art. 79 Abs. 3 GG zu verfassungswidrigen Verfassungsnormen erklärt 3 1 8 . Fragen der Verfassungsänderung 315

Bachof I I , S. 36 f.; ebd. auch zum Beispiel des A r t . 131 Satz 3 GG. Z. B. Ridder I, S. 7 zum Verhältnis von Rechtsstaatsgebot u n d Sozialstaatsgebot i n bezug auf den Schutz gegen Verfassungsänderungen. 317 Rüfner I I , S. 461 f.; i m übrigen, z. B. bezüglich verschiedenartiger Gesetzesvorbehalte, aber zurückhaltend: ebd., S. 462 f., 465 f. 318 Z . B . Badura I V , Sp. 2719; Stern, S.70, 95, 108. Z u Normwidersprüchen geänderter oder neu eingefügter Verfassungsartikel: Grosskreutz, S. 83 ff. Zur Verfassungsänderung u n d ihren materiellen Grenzen schon Schmitt I V , S. 99 ff., 101 ff., 103 ff. 316

9 F. M ü l l e r

130

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

haben aber nichts mit der Rangfrage zu tun und Art. 79 Abs. 3 GG nichts m i t dem Problem einer Einheit der Verfassung 319 . Gäbe es mit rechtlicher Wirkung Rangunterschiede i m ursprünglichen Verfassungsgesetz, so müßte es auch ursprünglich verfassungswidrige Verfassungsnormen geben 320 . Dagegen sind verfassungsändernde Gesetze, die inhaltlich gegen A r t . 79 Abs. 3 GG verstoßen, ebensowenig gültiges Verfassungsrecht geworden wie solche, die an den parlamentarischen Voraussetzungen des Art. 79 Abs. 2 GG scheitern (oder sonstige Fehler i m Gesetzgebungsverfahren aufweisen) oder die das Gebot der Textstrenge und Textvollständigkeit des Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG nicht eingehalten haben. Werden solche Verfassungsnovellen gerichtlich überprüft, so sind sie im Rahmen dieser Kontrolle als Gesetzesrecht m i t dem Ziel der Verfassungsänderung, nicht aber bereits als Verfassungsrecht zu behandeln. Anders wäre auf eine inhaltlich wie prozessual unhaltbare Weise das Ergebnis vorweggenommen 321 . Es wurde oben begründet, daß allein die Sicht der zu überprüfenden Novelle als eines Gesetzes der Einheit der Verfassungsurkunde gerecht wird, da für das Verfahren des Erlasses wie der inhaltlichen Kontrolle verfassungsändernder Normen Art. 79 Abs. 2 und 3 gegenüber A r t . 79 Abs. 1 Satz 1 GG speziell sind. Die oft so genannte Ewigkeitsgarantie bindet weder den Verfassunggeber des Grundgesetzes noch den einer vom deutschen Volk frei beschlossenen gesamtdeutschen Verfassung; A r t 146 ist gegenüber A r t . 79 Abs. 3 GG nach Normprogramm und Normbereich lex specialis. Sie bindet nur den verfassungsändernden Gesetzgeber. Dieser ist inhaltlich aber auch nur durch Art. 79 Abs. 3 GG gebunden und nicht noch durch eine ganzheitlich behauptete, eine dinglich vorausgesetzte, substantiell unterstellte Einheit der Verfassung, die durch sein Tun — oder auch durch Verfassungswandel — angeblich gestört wird. Art. 79 Abs. 3 GG ist eine Norm mit bestimmter Funktion: inhaltlicher Maßstab für die Zulässigkeit von Verfassungsnovellen. Außerhalb dieser Funktion hat er keine weitergehende normative Wirkung, erzeugt auch keinen allgemein höheren Rang für die Grundsätze, die er umfaßt.

319

So auch Ehmke V, S. 79. Dagegen p r ü f t z. B. BVerfGE 12, S. 45 ff., 50 ff. am Gebot unbedingter Achtung der Menschenwürde, an der Pflicht zur Wiedervereinigung und am Übermaßverbot, wenn auch knapp und pauschal, nach, ob der erweiterte A r t . 73 Nr. 1 GG eine verfassungswidrige Verfassungsnorm sei — nicht als Vorschrift des ursprünglichen Grundgesetzes, sondern i n bezug auf eine Einfügung durch Verfassungsnovelle. 321 So die Abweichende Meinung i m A b h ö r - U r t e i l : BVerfGE 30, S. 33 ff., 34 f.; unrichtig dagegen die Mehrheitsmeinung ebd., S. 1 ff., 19 ff. Z u dieser Frage: F. Müller X I I , S. 22 f. 320

3.1 Formale Möglichkeiten

131

Einen nochmals anderen Typus der Begründung von Rangunterschieden i m Verfassungsrecht liefern die beiden Verfassungslehren der Weimarer Zeit, die sich, bei allen Unterschieden, doch i n der Wendung gegen den formalistischen Positivismus i m Staatsrecht einig waren. Carl Schmitt entwickelte seinen Begriff der Verfassung i m positiven Sinn, die durch einen A k t der verfassunggebenden Gewalt entsteht. Dieser A k t enthält „als solcher" nicht Einzelnormen, sondern bestimmt „durch einmalige Entscheidung das Ganze der politischen Einheit hinsichtlich ihrer besonderen Existenzform". Das Bestehen der politischen Einheit w i r d vorausgesetzt, ihre Form und A r t durch Verfassunggebung begründet. Als Entscheidung ist die Verfassung eine Einheit und w i r d von den einzelnen Verfassungsgesetzen und ihrer Zusammenfassung i n der Urkunde scharf unterschieden. Ohne die „existentielle Totalentscheidung des deutschen Volkes" wäre die Weimarer Verfassung keine Verfassung geworden, sondern „eine Summe zusammenhangloser, nach A r t . 76 R V abänderbarer Einzelbestimmungen" geblieben 3 2 2 . Auch hier w i r d von Einheit gesprochen, w i r d das Ganze vorausgesetzt. Einheit und Ganzheit kommen aber nur der Verfassung i n diesem Sinn zu. Die einzelnen Verfassungsgesetze wie auch das Gesetzeswerk, das sie umschließt, sind kein Ganzes, haben keine Einheit, sind relativ und gelten erst aufgrund der Verfassung i m positiven Sinn. Diese ist die Gesamtentscheidung eines existierenden Willens; nur i h r kommt Einheit zu, dem Verfassungsgesetz dagegen Einzelheit 3 2 3 . Durch Verfassungsänderung kann die Gesamtentscheidung über A r t und Form der politischen Einheit nicht angetastet werden. Wenn auch diese Lehre von materiellen Grenzen der Verfassungsänderung heute w e i t h i n als von A r t . 79 Abs. 3 GG aufgegriffen gewertet w i r d , so läßt sich doch wegen der ebenso besonderen wie begrenzten F u n k t i o n dieser Vorschrift ein Rangunterschied zwischen Normen des Grundgesetzes nach positivem Recht nicht begründen. Auch für die Integrationslehre und Teile der sich von ihr herleitenden materialen Verfassungstheorie ergibt sich eine Rangverschiedenheit innerhalb der Verfassung je nachdem, welchen Wert die Vorschrift für das „Sinnsystem des staatlichen Integrationszusammenhangs" aufweist. Diese Rangfrage ist nach Smend 324 eine Rechtsfrage. Er unterscheidet beiläufig Verfassungsrecht ersten und zweiten Ranges und nennt als Beispiele für erstrangige Grundsätze das parlamentarische System der Reichsverfassung und A r t . 3 W R V m i t seiner Bestimmung der Reichsfarben. Schmitt hatte der Entscheidung für eine konstitutio322 Schmitt IV, S. 21 ff., 24; Folgerungen aus der Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz: ebd., S. 25 ff. 323 Ebd., S. 12; ferner S. 3 ff., 7, 9 ff., 11 ff. 324 Smend I I I , S. 240 f., ebd. zum folgenden.

9*

132

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

nelle Demokratie und für den sozialen status quo (Beibehaltung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung) Verfassungscharakter zugesprochen, der Verfassung von 1919 aber i m übrigen wegen ihrer „oft etwas w i r r e n Synthese" 325 i m Grundrechts- und Grundpflichtenteil sowie wegen einer Reihe aufschiebender Schein- und Formelkompromisse nachgesagt, fragmentarisch zu sein. Beide Lehren sind sich i n der Politisierung und Totalisierung des Verfassungsrechts, i m unterstellenden Zugriff auf das Ganze der Verfassung und auf ihre Einheit ebenso nahe wie darin, mit der Abkehr vom Positivismus auch eine solche vom Normativen unglücklich zu verbinden 3 2 6 . Nach dem positiven Recht des Grundgesetzes sind Verfassungsnormen untereinander gleichrangig. Weder der Gedanke der Einheit der Verfassung noch die sonstige Konkretisierung von Verfassungsrecht kann auf das Hilfsmittel einer Rangabstufung zurückgreifen. Das Grundgesetz gibt keinen Anhalt dafür, als i n sich gestufte Normenhierarchie behandelt werden zu können und Konflikte zwischen seinen Vorschriften nach den formalen und allgemeinen Vorzugsregeln einer Rangdifferenz auflösen zu lassen. Deshalb steht die Linie, die der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts seit dem Gleichberechtigungs-Urteil (für den historischen und politischen Normalfall) entwickelt hat, auf der Grundlage des geltenden Rechts. Diese Judikatur ist methodisch und dogmatisch klarsichtig genug, die verschiedene Reichweite von Vorschriften nicht m i t formaler Vor- und Nachordnung, also m i t einem Rangunterschied zu verwechseln. Die Gleichrangigkeit von Verfassungsnormen untereinander hat „nichts m i t Bedeutung und innerem Gewicht der einzelnen Normen" und so auch damit nichts zu tun, ob sie etwa Vorbehalten zugunsten des einfachen Gesetzgebers unterliegen oder ob sie umgekehrt durch A r t . 79 Abs. 3 GG für unverbrüchlich erklärt worden sind 327 . Trotz verschiedenen sachlichen Gewichts sind alle Normen der Verfassung i m formellen Sinn Verfassungsrecht, einander gleich für das Inkraft- wie das Außerkrafttreten 3 2 8 . Von zusammenstoßenden Vorschriften, seien sie Grundrechts- oder Organisationsnormen, Einzel325

Schmitt I V , S. 29 f., 31 ff. Siehe allgemein die Darstellung bei Kaegi, S. 66 f., 152 ff. ; Kaegi selbst v e r t r i t t einen materialen Verfassungsbegriff u n d wendet sich gegen die „Theorie von der Gleichwertigkeit allen Verfassungsrechtes", ebd., vor allem S. 59 ff. — Gegen die A n n a h m e von Rangunterschieden i m positiven V e r fassungsrecht z.B. H.P.Ipsen I, S. 486ff., 490; Arndt I, S. 299; Engelhardt , S. 129 ff.; Ehmke V, S. 78 f., 80 f.; Hesse I I I , S. 78; ders. V I , z.B. S. 28 f., 134 f ; Scheuner V I , S. 201 f.; ders. X I I , S. 509; Bernhardt , S. 20 ff.; v.Pestalozza II, S. 171 ff.; Stern , S. 108; ebd. aber mißverständlich oder mißverstehend zu A r t . 79 Abs. 3 G G ; F.Müller I I I , S. 209; ders. I X , S. 54; ders. X , S. 171 f.; Badura IV, Sp. 2719; ders. V, S. 3 f. 327 BVerfGE 3, S. 225 ff., 232. 328 BVerfGE 15, S. 167 ff., 195. 326

3.

ale Möglichkeiten

133

regeln oder hervorgehobene Garantien wie die Menschenwürde, hat keine a priori Vorrang vor der anderen. Der normative Konflikt muß konkret, und das heißt inhaltlich gelöst werden 3 2 9 . Verfassungsgrrimdsätze haben besonders unbestimmt formulierte Normtexte und besonders zahlreiche systematische Querverbindungen zu anderen Vorschriften. Sie kommen allein kraft ihrer Positivität häufiger ins Spiel, regieren mehr praktische Rechtsfälle m i t als spezielle Verfassungsnormen mit engerem Normprogramm und entsprechend begrenztem Normbereich. Diesen sind die Grundsätze deswegen aber nicht übergeordnet. Der Verfassunggeber kann auch i n bezug auf Grundsätze Ausnahmen machen, er kann Vorzugsregeln, Ubergangsnormen, von verschiedenen historischen oder politischen Konzepten herkommende Institute und Institutionen, gemischte Modelle und Kompromisse normieren, ohne dadurch etwas zu verfehlen, das als Einheit der Verfassung i m Sinn eines rechtlichen Stufenbaus gelten könnte. Allerdings hat sich gezeigt, daß jenseits dieser Aussage des geltenden Rechts weder eine dezisionistisch politisierende noch eine totalisierend materiale Verfassungslehre der Gefahr entgeht, Rangunterschiede zu behaupten; so dadurch, daß bestimmte Gehalte der Verfassung zu einem festen K e r n geballt werden, der für den Sinnzusammenhang besonders wesentlich oder als existentielle Entscheidung m i t einer höheren Würde und W i r k k r a f t denn ordinäre einzelne Verfassungsnormen ausgestattet sein soll. Wo die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts normative Antinomien löst, widerstreitende Verfassungs,, werte" einander zuordnet oder Grundrechte abwägend gegenseitig begrenzt, hat sie über weite Strecken die Gleichrangigkeit der beteiligten Verfassungsnormen als Voraussetzung des Abwägens erkannt und behandelt 330 . Beständen 329 Z. B. BVerfGE 4, S. 294 ff., 296 f.; 5, S. 85 ff., 137 (zu A r t . 21 Abs. 2 und 5 Abs. 1 GG); 41, S. 29 ff., 51 (zu A r t . 7 und 4 GG); ferner die Abweichende Meinung i n : B a y V f G H 2, S. 45 ff., 49: Grundrechte haben besonderes Gewicht, aber n u r i m Ausmaß der verfassungsrechtlichen Bestimmung u n d Begrenzung. — Als weitere Aussagen i n dieser Richtung vgl. etwa Scheuner V I , S. 201 f., 202: E i n besonderer grundlegender Rang einzelner Normen wie A r t . 1 oder 20 GG macht sich n u r beim Auslegen anderer Bestimmungen geltend; dens. X , S. 152: Die Einheit der Verfassung läßt keine Rangdifferenz zu, das Gewicht einer N o r m i m Einzelfall ist eine andere Frage; Ossenbühl, S. 655 f.: kein Unterschied des Ranges, sondern der konkreten Reichweiten von Verfassungsnormen. 330 Siehe etwa BVerfGE 19, S. 135 ff., 138; 28, S. 243 ff., 261; 34, S. 165 ff., 183; 34, S. 269 ff., 282; 35, S. 202 ff., 225 f.; 41, S. 29 ff., 50 f. Vgl. auch oben i m Text 2.3 bis 2.5 — I n BVerfGE 19, S. 206 ff., 219 werden die übernommenen Weimarer Kirchenartikel zunächst als „vollgültiges" u n d damit gleichrangiges Verfassungsrecht der Bundesrepublik bezeichnet, dann aber u n k l a r behan-

delt; dazu kritisch Scheuner XI, S. 587; Hollerbach II, S. 113 ff.; Grundmann,

S. 193, 195 f.; zu den inneren Widersprüchen des Urteils ferner oben i m Text unter 2.1. Ebenso aus der L i t e r a t u r zu Grundrechtskonflikten gegen die Scheinlösung

134

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

hier von Rechts wegen Rangunterschiede, hätten die Normen eine zwischen ihnen automatisch wirkende allgemeine Präferenz, so gäbe es schlicht anwendbare Vorzugsregeln wie zwischen Verfassungs- und Gesetzesnormen oder zwischen Gesetzen und Normen der Exekutivstufe (Rechtsverordnungen, Satzungen). Die Rechtsprechung geht aber aus gutem Grund den Weg des größeren Widerstands und müht sich u m Verfahren inhaltlicher, normativ bestimmter KonfLiktlösung. Eine solche w i r d durch das geltende Recht dann erleichtert, wenn eine Ausnahmevorschrift oder eine sonstige Spezialregelung nachweisbar ist. Sie sind kraft normaler Normsetzungsmacht zulässig, wie das Gleichberechtigungs-Urteil festgehalten hat 3 3 1 . Ebenso hatte der Bundesgerichtshof schon i m ersten Band seiner Entscheidungen die Frage nach überstaatlichem Recht, hier wieder i n bezug auf den Gleichheitssatz, anders als das Südweststaats- und selbst als das GleichberechtigungsUrteil sowie i n deutlicher Gegenstellung zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof gleichsam aufatmend offengelassen. Statt dessen argumentierte er zum Verhältnis von Art. 131 und A r t . 3 Abs. 1 GG positivrechtlich: Die Verfassungswidrigkeit einer Verfassungsnorm sei „begrifflich" ausgeschlossen; A r t . 131 GG sei Verfassungsrecht und könne selbst gegenüber den Grundrechten eine Ausnahme setzen. A u f der Basis des gleichen Rangs w i r d zu dem möglichen Normenkonflikt dann inhaltlich, und zwar m i t dem Spezialcharakter des A r t . 131 GG argumentiert 3 3 2 . I m Konkordats-Urteil werden Ausnahmenormen am Beispiel des A r t . 141 GG für i m Verfassungsbereich zulässig erklärt 3 3 3 . I m Beschluß zur situationsbedingten Kriegsdienstverweigerung stellt der Senat Art. 3 Abs. 2 und 3 und (den damaligen) A r t . 12 Abs. 3 sowie 73 Nr. 1 GG als Normen von gleichem verfassungsrechtlichen Rang einander gegenüber und befragt A r t . 12 Abs. 3 und 73 Nr. 1 GG danach, ob sie gegebenenfalls als Ausnahmeregelungen zu rechtfertigen seien 334 . Auch der Beschluß zur Ersatzdienstverweigerung sieht A r t . 4 Abs. 3 GG als Spezialregel gegenüber dem Grundrecht der Gewissensfreiheit und stellt A r t . 4 und A r t . 12 GG als gleichwertige Verfassungssätze i n dem Sinn nebeneinander, daß von formal höherem Rang des einen von ihnen nicht die durch eine behauptete Rang- oder Wertdifferenz : F. Müller V I I I , S. 56 f. zum Verhältnis von Grundrecht u n d Vorbehaltsgesetz; grundsätzlich zur Reichweite grundrechtlicher Garantien ebd., S. 87 ff. ; Schwache , S. 72, 73, 74, 76 f., 78. 331 BVerfGE 3, S. 225 ff., 232. 332 B G H Z 1 , S. 274 ff., 276. 333 BVerfGE 6, S. 309 ff., 359 f. — Z u A r t 139 GG als Sondervorschrift, die daher nicht gegen das Grundgesetz verstoßen könne (und damit auch den Gedanken einer Einheit der Verfassung nicht aufkommen läßt): BVerfGE 1, S. 5 ff., 7; sowie zu A r t . 132 Abs. 1 GG: BVerfGE 4, S. 294 ff., 296. 334 BVerfGE 12, S. 45 ff., 52 f.

3.

ale Möglichkeiten

135

Rede sein kann 3 3 5 . Die Beschlüsse zur Transfusionsverweigerung und zum Eideszwang konstruieren trotz der Aussage, die Menschenwürdegarantie des A r t . 1 Abs. 1 GG sei der oberste Wert des Grundrechtssystems, keine inhaltliche oder formale Höherrangigkeit dieser Norm. Sie behandeln die zu entscheidenden Fälle dogmatisch korrekt durch systematische Vermittlung des Tatbestands m i t dem der übrigen beteiligten Normen 3 3 6 . Die Vorschrift, die i m Rechtsfall als speziell dargetan werden kann, regiert i h n dann i m Umfang ihrer normativen Reichweite. Es hat keinen Sinn zu sagen, sie habe einen höheren Rang als die anderen. Daß und wie weit sie die Entscheidungsnorm trägt, ergibt erst die Konkretisierung am Fall. Rang und Vorrang betreffen dagegen sowohl formale als auch allgemeine Regeln, die eine nähere inhaltliche Vermittlung i m Einzelfall ersparen. Verfassungssätze m i t eher eng und technisch bestimmten Normprogrammen und Normbereichen haben etwas, das i m Ergebnis einem geringeren Gewicht ähnlich sieht, nämlich eine relativ kleine und politisch wenig dramatische Menge ihnen methodisch zurechenbarer Fälle und Entscheidungsnormen. Anders ist das bei grundsätzlichen Vorschriften mit ausgreifendem Normprogramm und umfänglichem Normbereich. M i t einer Abstufung des Rangs, m i t einem formal-allgemeinen Unterschied der Geltungskraft hat das nichts zu tun. Vorrangige Normen gehen bei Überschneidung und Konflikt eo ipso vor. Enthält eine Grundmenge von Normen solche verschiedener Stufe, so ist sie unter einem formal-allgemeinen Gesichtspunkt uneinheitlich. Nach dieser Präferenz lösen sich Fälle des Zusammenstoßes rangverschiedener Vorschriften. Ranggleichheit führt dagegen dazu, daß ein Vorzug für eine Norm nur inhaltlich und i m Einzelfall ermittelt werden kann. Das heißt übrigens nicht, die Rechtsquellenlehre könne nicht für Normen derselben Rangstufe weitere formale Vorzugsregeln aufstellen, so den Vorrang des später i n K r a f t getretenen Gesetzes, oder die Rechtsordnung könne nicht Kollisionsregeln wie den A r t . 31 GG einführen. Treffen i m Rahmen der Rechtsquellenlehre verschiedene Vorzugsaspekte aufeinander, so löst sich der Konflikt durch die i n Wissenschaft und Praxis bekannten Metaregeln. Einheit des Grundgesetzes bedeutet i n diesem Zusammenhang: gleiche Geltungsqualität aller Normen der geschriebenen Verfassung i n dem Sinn, daß es zwischen ihnen keine formal-allgemeine Vorzugsregel der Rangstufe gibt. Ihre inhaltliche Reichweite ist dagegen eine Frage der 335 BVerfGE 19, S. 135 ff., 138. 336 BVerfGE 32, S. 98 ff., 108, 109 ff.; 33, S. 23 ff., 29; vgl. auch schon E30, S. 173 ff., 195. — I n der Diskussion ist es anerkannt, daß normative Ausnahmen, Spezialvorschriften u n d Konkurrenzregeln die zunächst entstehenden Widersprüche als scheinbare auflösen u n d beseitigen; siehe z. B. Engisch V I , S. 162 f; Larenz, S. 250 ff. u. ö.; Grosskreutz, z. B. S. 22 f., 28 f.

136

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

positiven Normierung; sie erscheint, das ist trivial, alles andere als einheitlich. Auch die Spezialität einer Vorschrift gehört hierher. Die Spezialnorm verdrängt i m Einzelfall die allgemeinere Vorschrift aufgrund des Zuschnitts von Normprogramm und Normbereich aus inhaltlichen Gründen. Dagegen schlägt die höherrangige Norm die niedrigere (wie auch die spätere eine ältere) aus einem formalen Grund (Rangstufe — Zeitpunkt und zudem automatisch aus dem Feld, unabhängig von der sachlichen Konstellation des Falles. Das Besondere der Verfassungsgrundsätze besteht darin, viel häufiger einschlägig zu sein als grundgesetzliche Spezialnormen. Sie haben aber nicht die Wirkung, Einzelvorschriften kraft Rangdifferenz konform auslegen oder für nichtig erklären zu lassen. Verfassungswidrige Verfassungsnormen gibt es nicht, wohl aber verfassungswidrige Konkretisierung von Verfassungsrecht: nicht nur dann, wenn die unmittelbar beteiligten Normen unrichtig angewandt werden, sondern auch durch Verfehlen anderer, systematisch heranzuziehender weil für den Fall gleichfalls ergiebiger Normen. Grundsätze wie Demokratie, Sozialstaat, Bundesstaat und Rechtsstaat oder wie der allgemeine Gleichheitssatz treten oft i n dieser Funktion auf. Sie dürfen aber nicht i n ihrer allgemeinsten Form, als Blankettbegriffe bei den Staatszielbestimmungen der Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 GG, herangezogen werden, sondern nur zusammen m i t ihren für den Fall passenden Normenbeständen von Verfassungs- u n d gegebenenfalls auch von Gesetzesrang. Sie sind dann i n dieser Form, wenn auch oft schwierig, wie andere Normen konkretisierbar. Maßstab für die Frage, wie weit sie den Fall m i t regieren, ist wie sonst auch die argumentativ belegbare Reichweite ihres Entscheidungsgehalts i m Einzelfall. Spielraum vertretbarer Entscheidung ist der Spielraum eben dieser Aussagefähigkeit, ihre Grenze ist die Grenze der konkretisierten Normtexte. 3.14 Einheit der Verfassungsstruktur Wer Rangunterschiede i m Verfassungsrecht annimmt, behauptet einen rechtserheblichen Bruch i m Zusammenhang der Verfassungsnormen. Für i h n w i r d aus deren Grundmenge eine normativ abgehobene Gruppe (höheren Ranges) ausgesondert 337 . M i t Blick auf solche Gruppenbildung ist das Grundgesetz nach dieser Meinung nicht einheitlich 3 3 8 . Die Gegenthese hält fest, die Bauform des Grundgesetzes bilde unter diesem Aspekt eine Einheit. Für die formale Einheit der 337 So ausdrücklich der Bayerische Verfassungsgerichtshof i n : B a y V f G H 4, S. 51 Leitsatz 3, 59. — Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts i n der T r a d i t i o n des Südweststaats-Urteils sagt der Sache nach dasselbe. 338 Was der Erste Senat i n BVerfGE 3, S. 225 ff., 231 f. i m Unterschied zum Parallelsenat zutreffend festhält.

3.

ale Möglichkeiten

137

Urkunde und für die rangmäßige i m Sinn der Rechtsquellenlehre kann diese Ansicht auf das positive Recht verweisen. Es bleibt zu fragen, ob die Verfassung vielleicht nach anderen formal-allgemeinen Gesichtspunkten Gruppen von Normen m i t Rechtswirkung ausgliedert, ob sie exklusive Teilmengen bildet oder nicht. Erst wenn solche Gruppen nachweisbar wären, könnten sie einander entgegengesetzt, dogmatisch und methodisch gegeneinander ausgespielt werden. Sowenig wie bei der Rangfrage geht es dabei u m Probleme der Verfassunggebung, u m einen politischen Integrationswert oder u m die existentielle Gesamtentscheidung der verfassunggebenden Gewalt. A r t . 79 Abs. 3 GG trägt, wie gezeigt wurde, außerhalb seiner normativ umschriebenen Funktion hier nichts bei. Es handelt sich nicht u m ein Unterscheiden von Verfassung und Verfassungsgesetz, sondern u m Strukturbruch oder Struktureinheit des geschriebenen Verfassungsrechts. Die Frage, ob dieses rechtserheblich i n Gruppen gegliedert ist oder nicht, betrifft die praktische Rechtsarbeit. Eine Vorschrift ist zunächst immer dann heranzuziehen, wenn sie für das juristisch trainierte Vorverständnis i m F a l l sachlich zutreffen könnte; und sie hat i m Ergebnis immer dann die Entscheidungsnorm mitzutragen, wenn ihr diese mit den Mitteln rechtsstaatlicher Methodik zugerechnet werden kann. Das ist die oben als N u l l - F a l l der systematischen Interpretation besprochene und i m Rechtsstaat triviale Aussage, alle geltenden Normen seien i n der juristischen Entscheidungsarbeit als geltend zu behandeln. Die Bindung an die Verfassungs- und Rechtsordnung ist i n bezug auf die Menge der i m Fall ergiebigen Vorschriften eine vollständige Bindung. Normengruppen, wie sie von den herkömmlich umschriebenen Rechtsgebieten gebildet werden, w i r k e n sich darauf weder exklusiv noch normativ aus 339 . Wirken die Normengruppen dagegen rechtlich ausschließend, so sind sie nicht i n allen Fällen gleichzeitig heranzuziehen. Eine Zwischenform zeigt sich, wo — wie i n der Rechtsprechung seit dem Südweststaats-Urteil oder i n der Spruchpraxis des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs — eine Gruppe ranghöherer Normen angenommen wird. Diese ist nicht exklusiv, w o h l aber gegenüber dem Rest des Verfassungsrechts vorrangig. Sie ist, sofern ergiebig, stets heranzuziehen, aber i m Konflikt abweichend zu behandeln. Ausschließend ist dagegen die Gruppe der Notstandsnormen des Grundgesetzes. Das ergibt sich aus der Alternativität der Tatbestandsvoraussetzungen. Entweder bestehen Gesetzgebungsnotstand, Äußerer Notstand (Verteidigungsfall, Spannungsfall und die weiteren Fälle des 339 Das w a r der K e r n der Frage i m Munitionsanstalts-Fall des Bundesverwaltungsgerichts: B V e r w G E 29, S. 52 ff., 56 f. i m Anschluß an PrOVGE 2, S. 399 ff., 408 f.

138

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

A r t . 80 a Abs. 1 GG oder des A r t . 80 a Abs. 3 GG) oder Innerer Notstand (Naturkatastrophen, besonders schwere Unglücksfälle, drohende Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung) und sind sie mit Rechtswirkung festgestellt bzw. sind die fraglichen Verfahren in Gang gesetzt — oder es herrscht die Normallage und damit das Recht der Normalverfassung. Beide Normengruppen schließen einander insoweit aus. Das ist aber bereits mit der Tatsache einer Notstandsregelung gegeben; es w i r f t keine Interpretationsfragen auf, wie sie von der Rangthese gefördert werden. Funktional fallen die Notstandsvorschriften deswegen nicht aus dem Rahmen des Grundgesetzes, weil ihre Aufgabe gerade darin besteht, rasch und wirksam zur Normallage, zu den Geltungsvoraussetzungen der Normalverfassung zurückzuführen 340 . Der Stellenwert der Notstandsverfassung w i r d dann noch einmal für die Frage nach einer möglichen funktionalen Einheit des Grundgesetzes wichtig. Zu einer anderen Normengruppe (Art. 140 GG) wurde hier schon festgehalten, daß sie i n vollem Sinn (und damit auch gleichrangig) zum geschriebenen Verfassungsrecht der Bundesrepublik gehört und systematisch i m normalen Zusammenhang der grundgesetzlichen Ordnung zu behandeln ist 3 4 1 . Die Übernahme des größeren Teils der Weimarer Kirchenartikel durch A r t . 140 GG zeigt, wie unfähig der Parlamentarische Rat war, sich politisch für eines der historisch und rechtsvergleichend bekannten Modelle des Verhältnisses von Staat und K i r chen oder für eine eigene einigermaßen widerspruchsfreie rechtliche Gesamtregelung zu entscheiden. A r t . 140 GG greift aus Verlegenheit auf Weimarer Kompromisse zurück, tut aber nicht einmal das vollständig. Dennoch ist er geltendes Verfassungsrecht und verschafft den übernommenen Kirchenartikeln die Qualität gleichrangiger Normen. A r t . 140 GG steht i m elften Abschnitt des Grundgesetzes unter den Ubergangs- und Schlußbestimmungen, gehört aber als zeitlich unbefristete grundlegende Norm über das Verhältnis von Staat und Kirchen i n keine der beiden Kategorien. Dagegen ist bei echten Übergangsvorschriften die Frage aufgeworfen (und verneint) worden, ob für sie der Interpretationsgrundsatz der Einheit der Verfassung gelten könne 342 . Nun ist es zweifelhaft, ob diese Frage richtig gestellt ist. Auch steht es noch dahin, ob das Argument aus der Einheit der Verfassung überhaupt einen selbständigen Grundsatz abgibt. Sinnvoll ist aber 340 Hesse V I , z.B. S. 287, 301; Ehmke I I , S. 405 ff. m . N w , vor allem auch zur Diskussion unter der Weimarer Reichsverfassung. 341 BVerfGE 19, S. 206 ff., bes. S.219; dazu etwa Hollerbach I I , S. 114 f.; allgemein Hesse V I , S. 190 ff.; zur gleichrangigen Stellung und systematischen Zuordnung der inkorporierten A r t i k e l : Scheuner I I , S. 16f.; zur inhaltlichen Geltung der rezipierten Normen: Smend I V , S. 418 f. 342 Ehmke V , S. 80.

3.

ale Möglichkeiten

139

jedenfalls die Frage, ob die Übergangs- und Schlußvorschriften des Grundgesetzes wie seine sonstigen Normen zu behandeln sind, oder ob sie auf rechtserhebliche Weise eine Sondergruppe bilden. Auf alle Sätze des elften Abschnitts des Grundgesetzes kann sich diese Frage, wie soeben an Art. 140 GG gezeigt worden ist, nicht beziehen. Eine ganze Reihe der A r t . 116 ff. GG hat weder die Funktion von Schlußvorschriften i. S. der Art. 144, 145 GG oder die einer Aussage zur Geltungsdauer des Grundgesetzes wie Art. 146 GG, noch erklärt sie sich aus der besonderen Lage des staatlichen Neuanfangs nach 1945. Andere Regeln dieses Abschnitts normieren dagegen einen vorübergehenden Zustand oder das Abwickeln von Folgen der damaligen Situation (zum Beispiel A r t . 119 GG über Flüchtlinge und Vertriebene, A r t . 120 über Besatzungskosten und Kriegsfolgelasten, 120 a über den Lastenausgleich, A r t . 131 über frühere Angehörige des öffentlichen Dienstes und 132 über die Aufhebung von Beamtenrechten, die RechtsnachfolgeNormen der A r t . 134 ff., der Vorbehalt zugunsten von Vorschriften des Entnazifizierungsrechts i n A r t . 139 GG). M i t einigen echten Übergangsnormen hatte sich die Rechtsprechung zu befassen. So stellte sich die Frage, ob Art. 139 GG und Vorschriften, die auf seiner Grundlage erlassen worden waren, an den Zentralnormen des Grundgesetzes über den Schutz von Grundrechten (Art. 1 Abs. 3, 19 GG) gemessen werden können. Formal ist A r t . 139 GG insofern, als er in seinem Tatbestand zeitlich nicht eingeschränkt ist, keine Übergangsnorm. Er ist es aber inhaltlich und funktionell, wenn man den politischen Zusammenhang und die Bedeutung des Inkrafttretens des Grundgesetzes beachtet. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts 343 hat den A r t . 139 GG nicht als außerhalb des grundgesetzlichen Normenbestandes stehend, sondern als Spezialvorschrift behandelt: Nicht weil er ganz allgemein eine Übergangsnorm ist, sondern wegen seines bestimmten Normprogramms (Nicht-berührt-Klausel) schafft er für seinen rechtserzeugten Normbereich (die Vorschriften über die Entnazifizierung) eine Sonderstellung, die diese Regeln von der Bindung an A r t . 1 Abs. 3 und 19 GG befreit. Nicht aber steht A r t . 139 GG etwa außerhalb des Grundgesetzes oder in einer rechtlich ausschließenden Normengruppe. Auch i m Südweststaats-Urteil handelte es sich mit Art. 118 GG über die Neugliederung der badischen und württembergischen Länder um eine Übergangsvorschrift 3 1 4 . Das Gleichberechtigungs-Urteil hatte sich m i t der Ubergangsnorm für A r t . 3 Abs. 2 (Art. 117 Abs. 1 GG) auseinanderzusetzen 345 . Mehrfach beschäftigten das Bundesverfassungsgericht 343 344

BVerfGE 1, S. 5 ff., 7. BVerfGE 1, S. 14 ff. BVerfGE 3, S. 225 ff., 229 ff.

140

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Rechtsfragen des A r t . 131 GG. Ebenso wie schon der Bundesgerichtshof 3 4 6 behandelte es diesen A r t i k e l nicht als zu einer exklusiven Normengruppe gehörig, sondern auf dem Weg normaler systematischer Interpretation i n bezug auf die Grundrechte bzw. auf die Garantie kommunaler Selbstverwaltung i n Art. 28 Abs. 2 GG. Das Gericht arbeitete heraus, daß die dem Bund von Art. 131 GG gestellte gesetzgeberische Aufgabe nicht auf Dauer angelegt, sondern einmalig sei; sie bestand i n einer nachträglichen Bewältigung der Folgen des Zusammenbruchs des Deutschen Reichs für den öffentlichen Dienst 347 . Trotz einer solchen Aufgabe wurde dieser A r t i k e l zu Recht nicht als einer besonderen Normengruppe zugehörig, sondern als lex specialis angesehen. Dasselbe gilt für die Aufhebung von Beamtenrechten nach A r t . 132 GG, also für eine zeitlich begrenzte Übergangsnorm. Auch sie wurde als Spezialvorschrift i m grundgesetzlichen Gefüge durch systematische Argumente m i t A r t . 33 Abs. 5 GG (hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums) vermittelt 3 4 8 . Die Eigenschaft echter Übergangsnormen als Speziairegeln, die aus der Struktur des Grundgesetzes nicht herausfallen, ist besonders klar i m Gleichberechtigungs-Urteil ausgesprochen: A r t . 117 Abs. 1 habe die Kraft, die unmittelbare Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt nach A r t . 1 Abs. 3 GG als Ausnahme zu durchbrechen, obwohl A r t . 1 GG durch A r t . 79 Abs. 3 GG sogar gegen Verfassungsänderungen geschützt ist 3 4 9 . Sollte der Gedanke einer Einheit der Verfassung überhaupt eine selbständige Rolle spielen, so würde für Ubergangsnormen jedenfalls nicht deshalb etwas anderes gelten, w e i l sie Ubergangsnormen sind; weil sie also eine exklusive Gruppe bildeten, auf die dieser Interpretationsgrundsatz von vornherein nicht anwendbar wäre. Nichts spricht dafür, das anzunehmen. Es handelt sich vielmehr um ein für leges speciales kennzeichnendes Problem. Diese müssen keine Ubergangsvorschriften sein, so wenig wie Ubergangsnormen notwendig speziell gefaßt sind. Sie sind es allerdings üblicherweise (vgl. etwa auch Art. 142 i n bezug auf A r t . 31 GG und A r t . 141 i n bezug auf Art. 7 GG). Solange rechtsstaatlich schlüssig argumentiert werden kann, bestätigen normative Ausnahmen die Regel. Sie stören nicht eine wie auch immer zu begründende Einheit der Verfassung, sondern stellen einen systematisch deutbaren Sinnzusammenhang erst her. Soweit Ubergangsnormen zeitlich, gegenständlich, funktional begrenzte Spezialgesetze sind, löst sich eine Konfliktlage meist bereits dadurch. Die Entscheidungsarbeit gerät dann oft gar nicht erst in einen Zustand des Widerspruchs, i n 346

B G H Z 1, S. 274 ff., 276. BVerfGE 15, S. 167 ff., 184; ferner bereits BVerfGE 1, S. 167 ff., 177. 348 BVerfGE 4, S. 294 ff., 296 u n d f. 347

349

BVerfGE 3, S. 225 ff., 229, 231 f.

3.

ale Möglichkeiten

141

dem der zusätzliche Gedanke einer Einheit der Verfassung und i n seiner Folge harmonisierende Interpretation oder verhältnismäßiger Ausgleich von gegenläufigen Verfassungspositionen erforderlich werden könnten. Spezielle Ubergangsregeln bilden keine aus dem Normenbestand des Grundgesetzes rechtserheblich ausgegliederte Gruppe. Einen beliebten Ansatzpunkt für Versuche, solche Gruppenbildung zu behaupten, bieten bekanntlich die Grundrechte. Sie werden vom Bundesverfassungsgericht seit dem Lüth-Urteil 3 5 0 als objektive Wertordnung, als alle Bereiche des Rechts normativ beeinflussendes Wertsystem behandelt 351 . Daß sie wie alle Normen schon deshalb nicht „wertneutral" sind, w e i l sie bestimmte Fragen so und nicht anders regeln, versteht sich aber von selbst. Daß sie über A r t . 1 Abs. 3 GG allen Teilen der Rechtsordnung Maßstäbe und Impulse geben, geht aus dem Grundgesetz hervor. Es ist dafür nicht nötig, ein System zu unterstellen. Wenn schließlich beim Konkretisieren von Generalklauseln stets noch andere für den Fall ergiebige Normen (und übrigens sogar nichtnormative Überzeugungen, Handelsbräuche und so fort) herangezogen werden, so doch sicherlich auch Grundrechte, wenn sie zur Fallfrage thematisch etwas beizutragen haben. Auch das ist dank Art. 1 Abs. 3 GG und wegen des vom Grundgesetz stark ausgebauten Rechtsschutzes trivial. Deshalb ergeben sich aus der Rede von den Grundrechten als Wertsystem keine selbständigen dogmatischen Folgerungen. Der Gedanke kann auch nicht die Behauptung eines strukturellen Bruchs i m geschriebenen Verfassungsrecht begründen. Übrigens ist diese Argumentation des Gerichts i n der rechtswissenschaftlichen Debatte fast einhellig kritisiert worden 3 5 2 . Nichts anderes ergibt ein Ansatz der politischen Soziologie: Danach schirmen die Grundrechte verschiedene Untersysteme der Gesellschaft m i t ihren getrennten Kommunikationskreisen und unterschiedlichen Sondersprachen gegen Tendenzen ab, die Sozialordnung durchgehend zu politisieren. Dadurch verhindern sie 350 BVerfGE 7, S. 198ff., 205 u n d ff.; inhaltlich w o h l i m Anschluß Dürig I I und an dens. I V , Rdnr. 5 f. 351

an

F ü r die sonstige höchstrichterliche Rechtsprechung vgl. etwa B G H Z 38, S. 317 ff., 320 i n Nachfolge des Bundesverfassungsgerichts. 352 Z. B. Ehmke V, S. 81 f., 82 ff., 85 und f. unter Berufung auf die Einheit der Verfassung; Scheuner I X , S. 37 f. (systematische Zusammenschau statt eines Grundrechtssystems), 42 f., 46 f. (auch kein naturrechtliches Grundrechtssystem), 53 (unter Berufung auf die Einheit der Verfassung), 94 f., 178; ders. X I I , S. 507, 509; Forsthoff V, S. 190; Kaiser I I I , S. 178; Hollerbach I, S. 253 ff., 255 (gegen ein schematisch geschlossenes oder kryptonaturrechtliches W e r t system der Grundrechte); v. Pestalozza I, S. 222 ff. m i t N w . ; Knies, S. 32, 39 ff., 801, 216 f.; J.P.Müller, S. 122; Hesse V I , S. 127 ff., 174 (einzelne Sachzusammenhänge u n d systematische Verbindungen, nicht aber Grundrechtssystem und Systempluralismus); Böckenförde I I I , S. 1533 ff.; Denninger II, S. 546 ff.; H. Huber I V , S. 200 f.; F.Müller I I I , S. 144 f., 201 ff., 205 f., 216 ff., 219 f.; ders. V I I I , S. 41 ff., 43; ders. X , S . 4 8 1 ; Goerlich I, z.B. S. 131 ff. u n d durchgehend.

142

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

deren Entdifferenzierung, und darin liegt die Einheit ihrer Funktion 3 5 3 . Weder werden aber die Grundrechte dadurch zu einem System i m normativen Sinn, noch auch bilden sie, unter heutigen Bedingungen und i m Rahmen der Funktion moderner Verfassungen, sozialwissenschaftlich gesehen ein solches 354 . Sie sind nur thematisch beschreibend nach ihren Normbereichen (politische oder wirtschaftlich wichtige Grundrechte, Wissenschaft und K u l t u r , Religion und Gewissen, Familie, individuelle Persönlichkeit) zu gliedern. Eine m i t Rechtswirkung abgrenzbare Gruppe bilden sie nicht. Sie sind jeweils i n sich verständliche, durch konkrete Bereichsdogmatik auszuarbeitende, gesteigert sachhaltige Garantien. Ihre Zusammenhänge m i t anderen Grundrechten, m i t Kompetenzregeln und m i t sonstigen Vorschriften des geltenden Rechts sind systematisch zu vermitteln, nicht aber von einer unterstellten Totalität der Verfassung her zu überfremden oder gar als vorgeblich geschlossenes System zu verdinglichen. I n der Diskussion w i r d diese Einsicht dogmatisch so ausgedrückt, Grundrechte w i r k t e n auch als negative Kompetenzbestimmungen. Dies setzt einmal voraus, Kompetenzvorschriften auch inhaltlich zu verstehen; das ist hier schon entwickelt worden 3 5 5 . Soweit die Grundrechte gegen die öffentliche Gewalt schützen, ist dieser jede Zuständigkeit genommen, den gewährten Status von Freiheit und Gleichheit einzuschränken oder zu entziehen. Die Wirkung der Kompetenzvorschriften findet an den grundrechtlichen Normbereichen ihre Grenze. Diese weithin anerkannte Sicht geht zu Recht davon aus, daß weder die Grundrechte noch die Zuständigkeitsnormen oder sonst der organisatorische Teil der Verfassung als geschlossenes System, als rechtlich ausschließende Normengruppen zu behandeln sind 3 5 6 . Es können nicht etwa die Grundrechte dem Bereich der Gesellschaft, die Kompetenznormen dem des Staates zugerechnet und beide gegeneinander gesetzt werden. Der Staat des Grundgesetzes ist nicht mehr ein Obrigkeitsstaat mit originärer Exekutive, die von der Verfassung nur nachträglich begrenzt würde. Er ist kein unverfaßtes Reservat öffentlicher Gewalt, sondern durch das Grundgesetz rechtlich begründet. A n hervorragender Stelle legitimiert er sich durch die Grundrechte. Diese sind eine sach353 Luhmann I, S. 187, u. ö.; ebd., S. 12 skeptisch gegenüber Ehmkes Vorschlag, Grundrechtsteil und Kompetenznormen zu verknüpfen. 354 Luhmann V, S. 20 f. 35r ' Aus der L i t e r a t u r etwa Ehmke V, S. 89 f., 91 ff., 132; Bäumlin I, S.4, 13; Stein I, S. 1752; Knies , S. 37 f. m . N w . ; F.Müller I I I , S. 124 f., 205 ff.; v. Pestalozza I I . 356 I n diesem Sinn z.B. Ehmke V, S. 89 ff.; Scheuner V I I I , S. 125, 126; v. Pestalozza I, S. 223 f., S. 2251; ders. I I , S. 168 ff., 171 f. (keine hierarchische generelle Gruppenbildung i m Grundgesetz), 179 ff., 187 f.; Ossenbühl , S. 657; Grundmann, S. 195 f.; F.Müller I I I , S. 124 f., 205 f.; ders. X , S. 91, 174 f.; Hesse V I , S. 124 f. u. ö.; Bethge, S. 339 ff. m. Nw.

3.

ale Möglichkeiten

143

lieh und funktional beschreibbare, nicht aber eine m i t Rechtswirkung vom übrigen Grundgesetz abspaltbare Normengruppe 357 . Schon i n der Zeit von Weimar hatte Rudolf Smend den Zusammenhang von Grundrechten und organisatorischem Teil der Reichsverfassung betont 3 5 8 , wobei er die Grundrechte nicht als Einzelregelungen verstehen, sondern als das Staatsleben i m ganzen legitimierende, den Gesamtzweck des Verfassungsrechts stiftende inhaltliche Grundprinzipien einem Totalsinn eingliedern wollte. Obwohl das Bundesverfassungsgericht i n ständiger Rechtsprechung neben dem Grundgesetz auch die Grundrechte ein System nennt, behandelt es sie praktisch doch als Elemente eines normativ einheitlichen Bestands an geschriebenem Verfassungsrecht. Durch diesen positivrechtlich richtigen Ansatz schaltet es sie m i t den Normen der übrigen Abschnitte des Grundgesetzes dogmatisch zusammen und verarbeitet sie nach den Regeln systematischer Interpretation. Es genügt, als Beispiele dafür den Beschluß zum Eideszwang, das Urteil über die hessische Förderstufe, die Entscheidungen zur christlichen Gemeinschaftsschule badischer Uberlieferung und zur Gemeinschaftsschule nach dem bayerischen Volksschulgesetz sowie die Beschlüsse zur Überlegungsfrist und Nachbesteuerung i m Kirchensteuerrecht zu nennen. Dort werden die Grundrechte des Art. 4 GG mit A r t . 7, A r t . 140 GG i n Verbindung m i t A r t . 136 Abs. 1, 3, 4 WRV, 137 Abs. 1 WRV, 137 Abs. 5 und 6 WRV und w i r d das Grundrecht der Eltern aus A r t . 6 Abs. 2 m i t organisationsrechtlichen Bestimmungen des A r t . 7, vor allem m i t A r t . 7 Abs. 1 GG, i m normalen Verfahren systematisch vermittelt 3 5 9 . Eine normativ begründete, eine rechtserhebliche Gruppierung von Verfassungssätzen läßt sich nirgends belegen. Etwas anderes ist es, den Normenbestand nach seinen Hauptfunktionen einzuteilen, etwa nach elementaren Richtpunkten der Verfassung, institutioneller Verfassungsschicht, global ermächtigenden Inhalten, technisch-situationsbedingten Normen und Grundsatzregeln 360 oder nach dem ins Auge springenden Unterschied von Generalklauseln und Blankettbegriffen (wie A r t . 20 Abs. 1, 28 Abs. 1, 3 Abs. 1 GG) auf der einen und verfassungsrechtlichen Spezialgesetzen auf der anderen Seite oder auch nach anderen Aspekten 361 . Solche Unterscheidungen sind nicht normativ, 357

107 ff.

Dazu unter Aspekten der Radikalenfrage: F. Müller

X I I I , S. 96 ff., 99 ff.,

358 Smend V I I I , S. 318; die übrigen Aussagen in: I I , S. 90; I I I , S. 263 ff. — Ähnlich i n der Grundkonzeption w i e i n der Folgerung f ü r einen Zusammenhang von Grundrechten und organisatorischem Teil: Hensel, S. 3, 8 f., 11. 359 ß V e r f G E 33, S. 23 ff., 30 f.; 34, S. 165 ff., 1821; 41, S. 29 ff., 5 2 1 ; 41, S. 65 ff., 78; 44, S. 37 ff., 52 f., 55 ff. ; 44, S. 59 ff., 67 und ff. 360 361

Lerche I, S. 61 ff. Siehe z. B. Jesch, S. 67 ff., 69 ff. zur Verfassungsstruktur; ebd., S. 72 f.

144

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

sondern beschreibend. Der Formenreichtum des Verfassungsrechts bedeutet nicht dessen Zerfall i n verschiedene, rechtserheblich exklusive Teilstrukturen. W i l l man möglichst alle Normtypen des Grundgesetzes aufzählen, so kann man sie nach Kompetenznormen, Kreationsnormen, Verfahrens- und Revisionsnormen, nach Normativbestimmungen, Grundrechten einschließlich Instituts- und institutionellen Garantien, nach Staatsstruktur- und Staatszielvorschriften sowie Verfassungsaufträgen unterteilen. Es bleiben dann immer noch materiell- und organisationsrechtliche Vorschriften übrig, die (wie z.B. A r t . 34, 35, 36; wie A r t . 31, 123 ff.; wie A r t . 22, 27 GG und so weiter) nicht erfaßt sind; unter ihnen können die Regeln über das Inkrafttreten und Außerkrafttreten des Grundgesetzes und die echten Ubergangsnormen jeweils zusammen gesehen werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Vorschriften des Verfassungsrechts nicht nach ihrer Funktion, sondern nach ihrer Struktur typologisch abzustufen: von determinierten Individual- bzw. numerischen Normen oder Normelementen bis zu Generalklauseln. Als Faktoren einer Typologie verfassungsrechtlicher Normstruktur erweisen sich die Eigenart des Sachbereichs (herkömmlich gesichert oder neuartig, politisch und gesellschaftlich mehr oder weniger wichtig, mehr oder weniger rechtserzeugt oder naturwüchsig), die Zuverlässigkeit des Normtexts beim Formulieren des Normprogramms, Grad und Stand der wissenschaftlichen Bearbeitung eines Regelungsgebiets oder die normative Stellung der Vorschrift innerhalb der Verfassungsurkunde. Vor allem das Konkretisieren mit Sprachdaten und unter diesen die Formen grammatischer Auslegung hängen vom Typus der Normstruktur ab 362 . Es ist normativ begründet und praktisch sinnvoll, von einer Einheit der Verfassungsstruktur des Grundgesetzes zu sprechen. Sie besteht i n der gleichartigen und gleichrangigen Positivität aller Vorschriften der geschriebenen Verfassung. Diese können durch formal-allgemein ausschließende Vorzugsregeln weder einzeln noch in Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Keine hat eine automatisch greifende allgemeine Präferenz vor anderen. Spannungslagen und Konflikte sind nach den Regeln rechtsstaatlicher Konkretisierung (zu denen auch dogmatische, theoretische und rechtspolitische Elemente gehören 363 ) dann allerdings unkritisch i m Sinn von BVerfGE 2, S. 380 ff., 403 (vorverfassungsmäßiges Gesamtbild); Göldner I I , S. 20 ff., 73 ff., 75 f. (spannungsneutrale Formalnormen, spannungserledigende Verfassungsnormen, Spannungsrahmennormen) ; zu Normentypen der Schweizer Bundesverfassung: H. Huber I I I , S. 182 ff., 188 ff. — Z u r der i m Text folgenden Einteilung: Stern , S. 96 ff. 362 Zu diesen Fragestellungen: F. Müller X , S. 122 ff., 125 ff., 150 ff. und bereits die Ansätze bei dems. I I I , z. B. S. 124 f., 166 f., 199 f. u. ö. 363 Zu den Gruppen von Konkretisierungselementen F. Müller X , S. 146 bis 198; zu Vorzugsregeln zwischen ihnen ebd., S. 198 ff.

3.2 Inhaltliche Möglichkeiten

145

i m einzelnen zu lösen. A l l e Normen, die formal zur Verfassungsurkunde zählen und damit gleichrangig sind, gehören zugleich einer normativ einheitlichen Bauform an. Weder ist ein geschlossenes Wertsystem der Grundrechte aus dem Grundgesetz mit rechtlicher W i r k u n g auszusondern, noch dürfen Grundrechte gegen Organisationsrecht gesetzt oder staatliche Zuständigkeiten ohne Rücksicht auf Grundrechte allein kraft der Kompetenznormen ausgeübt werden. Beschreibende Einteilungen zu didaktischen, wissenschaftlich verdeutlichenden oder zu sonstigen Zwecken haben damit nichts zu tun. Ausgerechnet unter Rückgriff auf die Einheit der Verfassung spaltet aber das Bundesverfassungsgericht diese teils i n der Rangfrage, teils auch (mit seiner Figur einer Wertordnung oder eines Wertsystems der Grundrechte) i n der Strukturfrage auf. Für praktische Fälle hat es daraus allerdings nichts gegen die Einheit der Verfassungsstruktur gefolgert. Diese besteht darin, daß es das Grundgesetz nicht erlaubt, formal-allgemeine Teilmengen seiner Normen mit gegenseitig ausschließenden Eigenschaften zu bilden. Ein formal-allgemeiner Aspekt ist übrigens auch der Zeitpunkt des Inkrafttretens; die Regel von der lex posterior greift aber nicht innerhalb desselben Gesetzeswrerks. Auch eine Rangdifferenz w i r k t formal-generell; sie bildet aber keine exklusiven Gruppen, sondern ordnet Normen höheren Ranges dem Rest der Verfassungsnormen über. Auch das ist für das Grundgesetz nicht nachweisbar.

3.2 Inhaltliche Möglichkeiten 3.21 Ideologische Einheit Das Angebot an gesellschaftlich wirksamen Ideologien ist groß, und auch die Skala der Ideologiebegriffe ist reich assortiert. I m allgemeinen Sinn des gesellschaftlichen Wir-Bewußtseins oder einer auf mögliche künftige Wirklichkeit vorausnehmend gerichteten Wertung, als utopisches Bewußtsein 364 , w i r d der Ausdruck „Ideologie" hier nicht verwendet. Es geht um Aussagen zu Recht und Verfassung als Ganzheit, als Einheit und damit um (zumindest tendenziell) holistisches Argumentieren. Dieses ist dem kämpferisch und doktrinär auftretenden Typus von Ideologie benachbart, der sich auf eine geschlossene Weltanschauung beruft und eine ehrliche wissenschaftliche Debatte um seiner ausgesprochenen oder verdeckten praktischen Ziele w i l l e n abzuschneiden bemüht ist 3 6 5 . Eine i n diesem Sinn ideologische Aussage markiert beziehungsweise verbirgt den Umschlag vom Streben nach Einsicht zum Streben 364 Dazu Maihof er, S. 18 f., 22 ff.; zu den i m T e x t folgenden Varianten: Hollerbach I I I , S. 37 ff., 39, 40 f. m. N w . 365 Z u r Nähe von holistischem Denken und indoktrinierender Ideologie: Emge , S. 40 f.

10 F . M ü l l e r

146

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

nach Einfluß. Mögen Behauptungen über die Einheit eines Ganzen so motiviert sein, oder mögen sie auf eine nicht bewußte, durch die gesellschaftliche Lage des Argumentierenden bedingte Befangenheit i m Denken zurückgehen, sie können ideologisch genannt werden. I n beiden "Fällen erscheint die Aussage als der Realität unangemessen. Ein der Wirklichkeit nicht entsprechendes Denken beruht meist auf einer verschwiegenen inhaltlichen Vorentscheidung und gibt seine Aussage i m Gewand korrekter Theorie weiter. Ob die von der Realität her als falsch einzuschätzende Wertung mit oder ohne Absicht i n den Erkenntnisvorgang einging 3 6 6 , ändert nichts daran, sie ideologisch nennen zu dürfen. Umgreifende Totalaussagen werden nicht zuletzt i n der Rechtswissenschaft leicht zum gewollten oder ungewollten Mittel ideologischer Fixierung. Sie sperren sich auf kennzeichnende Weise dagegen, sich i n umgrenzte, differenziert darstellbare, besser kontrollierbare Einzelschritte zerlegen zu lassen. Solches Arbeiten sollte nicht als Sache der Wissenschaft gelten. Dagegen ist es i m einen wie i m anderen Sinn Ideologie, sich wissenschaftlicher Begriffe i n nur noch rechtfertigender Absicht zu bedienen. Nicht der Bewußtseinsstand dessen, der so argumentiert, ist das Wesentliche, sondern die Arbeitsweise, die tatsächlich angewandt wird. Auf sie bezieht sich im hier gemeinten Sinn der Ausdruck „ideologisch" 367 .

Einheit der Verfassung in einem global inhaltlichen Verständnis kann gemeint sein: als widerspruchsfreie Einheit des verfaßten gesellschaftlichen Zustands, als Einheit von Staat und Gesellschaft oder als Einheit wenigstens eines gegenüber der Gesellschaft neutralen, blockhaft geschlossenen Staates. Den dahin gehenden Ansichten ist gemeinsam das Ganze im Vorgriff zu unterstellen, Einheit vor jeder Einzeluntersuchung vorauszusetzen. Die Debatte der Weimarer Zeit zeigte sich für solches Denken nicht selten anfällig. Das gilt weniger für die Staatslehre der Wiener Schule. Für sie ist die Einheit des Staates nur normativ zu begründen. Sie ist die Einheit einer Sollordnung, da der Staat überhaupt nur i m Gelten einer Rechtsordnung real sein kann. Die Rechtsordnung ist zwar im ganzen eine Einheit, aber nur als logische; nämlich als die Fähigkeit, in Rechtssätzen beschrieben werden zu können, die einander nicht widersprechen. Es ist die Grundnorm und damit eine formale Größe, welche die Einheit in der Vielheit der Normen konstituiert 3 6 6 . Dagegen haben die antipositivistischen Verfassungslehren vom Ende der Zwanziger Jahre inhaltlich anspruchsvoller auf das Ganze gepocht. 366 367

Dazu Geiger, S. 420; F. Müller I I I , S. 96. Dazu F. Müller X, z. B. S. 86 f.; ders. X I I , z. B. S. 57 f.

3.2 Inhaltliche Möglichkeiten

147

Für Smend ist die Verfassung die gesetzliche Normierung einzelner Seiten des Vorgangs, i n dem der Staat seine Lebenstotalität ständig herstellt. Sinn der Verfassung soll es daher sein, sich nicht auf enge Paragraphentreue und auf Einzelheiten zu richten, sondern „auf die Totalität des Staates und die Totalität seines Integrationsprozesses". Dieser Sinn der Verfassung erlaube nicht nur, sondern fordere geradezu „jene elastische, ergänzende, von aller sonstigen Rechtsauslegung weit abweichende Verfassungsauslegung" 369 . Das ist mehr als nur ein i n Einzelschritten operierendes Denken auf das Ganze hin. Es ist — wenn nicht m i t Vorrang, so doch jedenfalls zugleich — ein Argumentieren vom Ganzen und seiner Einheit her, das die dogmatisch und methodisch rationale Arbeitsweise von Fall zu Fall als zweitrangig beiseite schiebt. Kelsen hat, übrigens mit scharfer politischer Wertung, das Bedenkliche dieser Bereitschaft, von juristischen Einzelheiten des geltenden Rechts abzusehen, festgehalten 370 . Noch rückhaltloser hat das von Carl Schmitt geprägte dezisionistische Denken sowohl das Ganze der Verfassung wie die Einheit des Staates an den Anfang allen Argumentierens gestellt: Angesichts des Kampfs der organisierten Interessen i n der Weimarer Gesellschaft läßt sich Einheit „nicht durch ein organisatorisches Schema" erzeugen; konnte es „nur durch Macht" gelingen, den Staat wieder i n einen Rang oberhalb der partikularen Interessen zu erheben und ließ sich erst von diesem Staat her unter Rückgriff auf „eine totale Gemeinschaftsgesinnung" das Leben der Gesellschaft „einheitlich ausrichten und organisieren" 371 . Aufschlußreich an solchen Sätzen ist die Funktion, um derentwillen der Staat als Einheit gewünscht wird. I n Erbfolge des deutschen Obrigkeitsstaates hat er politisch unpartensch, gesellschaftlich neutral zu sein; die tatsächliche Zerrissenheit der Gesellschaft, der Pluralismus 368

Kelsen I I I , z. B. S. 209 ff. u. ö.; ders . I I , S. 33 f. Smend I I I , S. 189 f. 370 Kelsen I I , S. 90 f.: ebd., S. 58 w i r d der integrale oder integrierte Staat — i m Anschluß an Smends Bemerkung über die Meisterschaft funktioneller Integration und über die Einsicht i n die Notwendigkeit allseitiger Integration als eine der „starken Seiten des Faschismus" — als der faschistische Staat bezeichnet. Dazu Smend V, S. 481; ders. V I I , Sp. 1026. — I m Anschluß an Smend und Kaufmann werden ein objektives Wertsystem der Verfassung, sein immanenter Zusammenhang sowie Totalität und Einheitlichkeit vorgreifend vorausgesetzt bei Häberle I I I , z. B. S. 5, 6, 38 (Einbettung der Verfassungsrechtsgüter i n das Ganze der Verfassung), 51 (wesensmäßige Grundrechtsgrenzen weisen dem Grundrecht den Platz zu, „den es von vornherein i m Ganzen der Verfassung einnimmt"), 61 f.; dazu Lerche IV, S. 214: gegen das Vorwissen und Vorzeichnen einer konkret nirgends „auch nur annähernd" greifbaren materialen Einheit der Verfassung. 371 Forsthoff X , S. 44 f. — Inzwischen ist der Staat „nicht mehr i n der Lage, hoheitliche Regelungen streng einseitig aus eigenem Fachwissen zu treffen", ders. V I , S. 19 f. 369

10*

148

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

der Ziele und Interessenstandpunkte von Parteien und Verbänden sind i m Staat als „ i n einer überhöhenden Einheit aufzuheben" 372 . Bleiben solche Aussagen offen politisch, so versuchte Carl Schmitt, die vorgreifliche Beschlagnahme des einheitlichen Ganzen theoretisch auf den Begriff zu bringen: Die Verfassung i m relativen Sinn, die Verfassungsgesetze und ihre Summe i n der Urkunde, löst die Einheit der Verfassung i n einzelne Normen auf. Verfassung meint dann nur nur noch „eine unsystematische Mehrheit oder Vielheit verfassungsgesetzlicher Bestimmungen". Dagegen trifft die Verfassung i m absoluten Sinn i m Normensystem ein gedachtes und i n der konkreten A r t und Form der staatlichen Existenz ein wirkliches Ganzes. Einheit ist so kein methodischer Zielbegriff, sondern eine unterstellende Voraussetzung. Der positive Verfassungsbegriff schließlich meint die Verfassung als existenzielle politische Gesamtentscheidung und damit als Ganzheit und Einheit, gesetzt von einer einheitlichen, umfassenden und unteilbaren verfassunggebenden Gewalt 3 7 3 . Verfassung ist dann also weder eine einzelne Verfassungsnorm noch der positivrechtliche Zusammenschluß der einzelnen Verfassungsgesetze. Diese vermögen keine Einheit zu bilden. Nur „die Einheit aus einem vorausgesetzten einheitlichen Willen" begründet das Ganze. Die normative Verfassung hat solche Eigenschaften nicht. A l l e i n der Wille des Volkes als etwas Existenzielles schafft Einheit der Verfassung, während die einzelnen Verfassungsgesetze heterogen bleiben. Sie sind nur „die ausführende Normierung des verfassunggebenden Willens" und beruhen, wie die positive Verfassung, auf dessen Entscheidung und Befehl. Es ist angebracht, diesen Verfassungsbegriff sachleer zu nennen. Die Entscheidung als solche, der Wille als solcher ist die legitimierende, die verfassende Instanz. Der Wille, der sich i n Entscheidung und Befehl positiviert, hebt Ungewißheit und Unordnung auf, wobei das Ungeordnete „nur dadurch i n Ordnung gebracht wird, daß, nicht wie entschieden w i r d " 3 7 4 . Dank der Leere des existierenden Willens, der nur sich selber w i l l , erschafft diese Sicht i n einem einzigen fingierten A k t und ohne inhaltliche und normative Umstände gleich beides, von dem holistisches 372

Weber I I I , S. 56. Schmitt I V , S. 3 f., 11 f., 21 ff., 77; zum folgenden ebd., S.9f., 15, 75, Hervorhebung i m Original. 374 Schmitt I I I , S. 28; Hervorhebung i m Original. Die Sachleere hinderte allerdings nicht, bei fortgeschrittener politischer Lage ins Konkrete umzuschlagen: I n der Verfassungslehre von 1928 w i r d die demokratische Gleichheit als substantielle Gleichheit bezeichnet, als „Gleichartigkeit des Volkes", als politische Identität i n Nachfolge Rousseaus I V , S. 228 ff., 234, 235. I n „Staat, Bewegung, V o l k " von 1933 hat sich die Gleichartigkeit zur „ A r t gleichheit zwischen Führer u n d Gefolgschaft" fatal verschoben, Schmitt I, S. 42, 45. Dazu auch Denninger I, S. 37 f. 873

w

3.2 Inhaltliche Möglichkeiten

149

Denken i n der Verfassungslehre nur träumen kann: „das Ganze der politischen Einheit" 3 7 5 . Schmitt erkennt das Unzulängliche einer Normauffassung, die auf den positivistisch isolierten Imperativ und auf die sprachliche Gestalt der Norm beschränkt bleibt. Doch überrollt der Vorrang des existierenden Willens jede sachgebundene Normativität ebenso, wie das Denken vom Ganzen her die Positivität der einzelnen Verfassungsgesetze und ihren Zusammenschluß i n der geschriebenen Urkunde entwertet. Das Ergebnis ähnelt dem der Reinen Rechtslehre. I n beiden Fällen werden rechtliche Sachgehalte voluntaristisch überwunden. Extremer Positivismus und extremer Antipositivismus treffen sich i n einem Niemandsland, das den Problemen praktischer Rechtsarbeit u m einiges entrückt ist 3 7 6 . Die „Entscheidung" des Dezisionismus ist weder normiert noch normativ, sie besteht i n ihrer Tatsächlichkeit und geht i n ihr auf. Zwar beruhen auf ihr die Verfassungsgesetze, aber nur bis zur nächsten Dezision. Es interessiert allein, wie sich historische Ausnahmelagen entscheiden, i n denen nach dem Schema von Freund und Feind über Sein und Nichtsein befunden wird, über die A r t der politischen Existenz eines Volkes, über die Geschichtsmächtigkeit widerstreitender Kräfte. Es ist richtig, daß das Element der Dezision notwendig zur Rechtsarbeit gehört. Aber es ist nicht mehr von der Rechtsarbeit her gedacht, sondern Dezisionismus, die auch normativ bestimmten Inhalte der Entscheidung vom A k t der Dezision aufzehren zu lassen 377 . Hier, bei den Untersuchungen zur Einheit der Verfassung, geht es aber nicht um existentialistisch getönte Geschichtstheorie, sondern um Fragen des normalen, des täglichen und alltäglichen Funktionierens der positiven Rechtsordnung. Dafür braucht die Verfassung nicht quasi-ontologisch von den Verfassungsgesetzen abgehoben und damit als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens verabschiedet zu werden. Verfassung im Sinn des positiven Rechts umschließt grundlegende Normen wie auch technische Einzelregelungen, die u m der erhöhten Bestandsgarantie willen i n die Verfassungsurkunde aufgenommen worden sind 378 . Eine strukturierende Normtheorie braucht nicht den einzelnen Normtexten und ihrer Summe, der papierenen Verfassungsurkunde, den Mythos einer sich i n sich selbst erschöpfenden Dezision gegenüberzustellen. Das Verständnis der Verfassungsordnung als eines aus abstrakten Rechtsnormen und aus den ihnen zuzurechnenden konkreten Entscheidungsnormen gebildeten Zusammenhangs sowie der Normen als sachgeprägter Ordnungsmodelle kommt nicht i n die Verlegenheit, die 375 376 377 378

Schmitt IV, S. 21. F. Müller I I I , S. 28 ff. m. Nw., 194 f. Schmitt I I , S. 42, 46 u. ö. So zu Recht BVerfGE 15, S. 167 ff., 195.

150

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Sachgehalte ins Existenzielle hinauszuverlagern. Allerdings sind auch strukturierte, ihre Normbereiche m i t umfassende Verfassungsvorschriften einzelne Normen. Sie müssen von rechtsstaatlicher Methodik zunächst als einzelne bearbeitet und dürfen nur i n dem Maß aus größeren Zusammenhängen interpretiert werden, i n dem sich solche durch rationale und kontrollierbare Rechtsarbeit nachweisen lassen. Die Normbereiche lenken den Blick auf die gesellschaftliche W i r k lichkeit. Diese ist, weil (Verfassungs)Normen strukturiert sind, ein unentbehrlicher Maßstab für Theorien über die Verfassung, auch über ihre Einheit oder Ganzheit. I m Kontinuum der Normbereiche des Grundgesetzes ist Einheit i m Sinn eines dogmatisch oder methodisch einsichtig vertretbaren Arguments nicht zu erkennen. I n einer freiheitlich verfaßten Gesellschaft darf solche Einheit gar nicht herrschen; unfreiheitlichen Herrschaftsformen mag es vorübergehend gelingen, sie annäherungsweise zu erzielen. Und daß i n der Verfassungsordnung des Grundgesetzes „die" Freiheit das einigende Band sei, das Einheit und Ganzheit erzeugt, ist gleichfalls kein Ausweg. Auch eine freiheitliche Ordnung ist eine Herrschaftsordnung, ein Kontinuum aus Freiheit und Unfreiheit 379; und die Herrschaftsordnung ist nur ein Teilsystem der Gesamtgesellschaft, das dieser keine wirkliche Einheit und Ganzheit geben kann, die sie nicht bereits hätte. Der Staat der Bundesrepublik ist nicht simples Klasseninstrument, die Struktur der Produktionsverhältnisse bildet sich nicht einfach i n Klassen- und Machtverhältnissen ab. Trotzdem ist die Machtlage i n dieser Gesellschaft wesentlich von Ungleichheit und von Polarisierung der Interessen gezeichnet. Die vom Grundgesetz verfaßte Gesellschaft ist i m wissenschaftlich vertretbaren Sinn kein Ganzes, nicht einheitlich, nicht bruchlos zu nennen 380 . Darin stimmen bürgerliche wie antibürgerliche Sozialwissenschaftler überein. So sehr ist die fortgeschrittene Industriegesellschaft durch das Fehlen eines Interessengleichgewichts geprägt, daß der Staat i n die Rolle gedrängt wird, den (stets nur vorübergehenden) Ausgleich der Gegensätze zu übernehmen. Nur ein widersprüchlicher Zustand kann den i n Wirtschaft, Gesellschaft und K u l t u r ständig intervenierenden Staat erfordert haben. Nicht mehr nur über Rahmen379

Dazu unter Gesichtspunkten der Verfassungstheorie: F. Müller XI, S. 28ff., 30f.; ders. X I I , z.B. S. 49 ff., 90 ff.; ders. X V I I (hier zum K o n t i n u u m i m Normbereich eines einzelnen Grundrechts). 380 Jaeggi I, z.B. S.25ff., 27, 29, 31 ff.; ders. I I , z.B. S. 27ff.; zur theoretischen Diskussion: ders. I I I , S. 38 ff., 116 ff.; zur Uneinheitlichkeit der („staatsfrei" nicht denkbaren) Industriegesellschaft: Drath V I I , S. 116 ff., 122 ff.; Einzelheiten zur gesellschaftlichen Ungleichheit i n der Bundesrepublik etwa bei Claessens/Klönne/Tschoepe, S. 28 ff., 203 ff., 217 ff., 230 ff., 301 ff.; gegen die Rede von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft z. B. Waterkamp , S. 46 ff.

3.2 Inhaltliche Möglichkeiten

151

bedingungen muß die Wirtschaft administrativ und politisch organisiert v/erden. Vielmehr w i r d sie von der Fähigkeit des politisch-administrativen Apparats zum wirksamen Krisenmanagement mit Mitteln wie Maßnahmegesetz, Planung, staatlicher Vorsorge, Steuerung der Transferströme zunehmend abhängig; die Legitimierbarkeit der Verfassungsordnung steht und fällt bereits mit dieser Fähigkeit. Der Staat ist nicht mehr statisch, weder einheitlich noch neutral, wenn er es je gewesen sein sollte. Er hat ökonomische Wohlfahrt und auf dem Weg über sie (und über suggestive Öffentlichkeitsarbeit) Zustimmung zu beschaffen. Gesellschaftlicher Konsens als etwas Vorgegebenes, auf das die Rede vom Gesamtwillen, vom Ganzen von Staat und Gesellschaft oder von einer Einheit der Verfassung gegründet werden könnte, ist eine rhetorisch nützliche, i n der Sache aber unwahrhaftige Fiktion. Die Konsensformeln der Rechtsprechung, ihre Berufung auf die „billig und gerecht Denkenden", die „gebildeten Durchschnittsmenschen", die „verantwortungsbewußten Hundehalter" und was dergleichen papierene Kunstfiguren mehr sind, drapieren angestrengt die subjektive Entscheidung der Richter. I m besten Fall geben sie deren Ansichten über die vorherrschenden Ansichten wieder 3 8 1 . Die gegenwärtigen Bedingungen der Industriegesellschaft haben die Aufgaben staatlicher Tätigkeit grundlegend geändert. Sie haben sie weithin auf Gebiete ausgedehnt, die einst ihrer inneren Eigengesetzlichkeit, die gesellschaftlicher Selbstregulierung überlassen geblieben waren. Staatliche Leistung, Planung und lenkende Intervention zerstören den Rest des Glaubens an einen über pluralistische Zerrissenheit hinausgehobenen, dem Widerstreit massiver Interessen entrückten Rang „des" Staates und an seine nur so fingierbare Einheit. Der Staat als vorausgesetzte Einheit kann der Gesellschaft als tatsächlicher Vielheit dann auch nicht länger unverbunden gegenübergestellt werden. Diese Sicht entsprach allenfalls der Lage einer entpolitisierten, sich selbst regelnden Wirtschafts- und Bildungsgesellschaft des frühliberalen Bürgertums auf der einen und des obrigkeitlichen, auf monarchische Regierung, Heer und Bürokratie gestützten Apparats auf der anderen Seite 382 . Die teils dem Staat, teils der Gesellschaft zugeschriebenen Felder sozialer Wirklichkeit und Interaktion haben sich ineinander geschoben und bedingen sich i n 381 Dazu F.Müller X I I , z . B . S. 55 ff., 57 ff., 73 ff. m . N w . ; zur Problematik eines vorgeblich neutralen Staates und zu gesellschaftlicher Konsensfähigkeit: Denninger I, S. 110 ff.; zu Fragen des Pluralismus ebd., S. 31 ff., 38 ff., 44 ff., 55 ff., 75 f., 82 ff., jeweils m. Nw.; Hesse V I , z. B. S. 6 f.; zu Legitimitätsfragen vgl. z. B. Habermas I I ; Offe I ; Miliband; zur Theorie sozialer Konflikte: Dahrendorf I, S. 112 ff., 197 ff.; ders. I I S. 171 ff. 382 Z u r Theorie von Staat u n d Gesellschaft i m Deutschland des Vormärz: F. Müller I, S. 314 ff. — Zu dem i m Text folgenden: Böckenförde I I ; Hesse V. - - Z u r Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Reaktion auf die Umformung des Gesellschaftsbegriffs vom Politischen ins Wirtschaftliche: Luhmann V, S. 1 ff., 4 f.

152

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

einem nach dem altliberalen Modell nicht vorstellbaren Ausmaß gegenseitig. Das obrigkeitliche B i l d vom Staat als einer inhaltlich erfüllten und über der Gesellschaft stehenden Einheit w i r d dem nicht mehr gerecht. Der Staatsapparat ist weder oberhalb der gesellschaftlichen Antagonismen angesiedelt, noch ist er das Ganze. Er ist, wie seine Hechtsordnung auch, ein ausdifferenziertes Teilsystem der Gesamtgesellschaft, m i t dieser nicht identisch und so wenig wie diese einer wissenschaftlich vertretbar zu behauptenden Totalität fähig 3 8 3 . Es ist festzuhalten, daß Staat und Gesellschaft nach wie vor unterscheidbar, daß beide Aktions- und Interaktionsbereiche nicht ineinszusetzen sind, daß das Grundgesetz weder einen totalitären Staat noch eine totalitäre Gesellschaft begründet oder zuläßt und damit auch ganzheitliche Konzepte wissenschaftlicher Aussagen nicht stützt. Die Unterscheidung beider Bereiche hatte historisch den Abschied vom umfassenden Sozialsystem der ethisch-politisch verfaßten societas civilis, von der Einheit des jetzt nach Staat und Gesellschaft differenzierten Gemeinwesens bezeichnet. Der Staat ist nun auch nicht mehr i n der Lage, das Gesamtsystem oder auch nur den Bereich der Gesellschaft kraft seiner Verfassung zu einem einheitlichen Ganzen zu machen. Der bürgerliche Verfassungsstaat arbeitet i m Blick auf die Gesellschaft vor allem durch Abgrenzung, Negation und durch die Negation von Negationen, setzt verbindliche Rahmenbedingungen und Grenzen. Seine Verfassung ist nicht als inhaltlich normativer Gesamtplan aufzufassen. Von Anfang an war es nicht möglich, Verfassungsrecht auf eine einheitliche gesellschaftlich-politische Wirklichkeit hin zu normieren. Allgemein nehmen i n der Sicht der Systemtheorie Aussagen, die für das System als Ganzes und für alle seine Teile zutreffen können, i n dem Maß ab, i n dem sich das System differenziert. Dasselbe gilt i n bezug auf Strukturen, die für das System als Ganzes und für alle seine Teile i n jeder Lage verbindlich sein können 8 8 4 . Als Teilsystem einer hochgradig differenzierten Gesamtgesellschaft kann eine Verfassung wie das Grundgesetz auch dann, wenn ihr das Streben nach politischer Einheit als Aufgabe zugeschrieben w i r d 3 8 5 , die sozialen, politischen und institutionellen Differenzierungen weder einebnen noch den Gesamtverband oder seinen gesellschaftlichen Teilbereich von Widersprüchen befreien. Zudem ist die Verfassung von ihrem wirklichen Entstehen her eine A r t Vertrag, inhaltlich ein Kompromiß. Der Ausdruck „Einheit" wäre für sie nur dann richtig, wenn es — was bisher kaum je der F a l l war — nur eine einzige homogene Gruppe von verfassunggebendem Einfluß gegeben hätte; oder wenn von den widerstreitenden constituent groups eine 383 384 385

Siehe Luhmann I I I ; dens. V I ; dens. I V , v o r allem S. 190 ff., 207 ff. Luhmann V, S. 20 ff., 165 ff., 170. Dazu Hesse V I , S. 5 f. ; ebenso H.-P. Schneider , S. 69 ff.

3.2 Inhaltliche Möglichkeiten

153

einzige die Verfassung dermaßen hätte bestimmen können, daß sie Kompromisse nicht zu schließen brauchte. Eine i n diesem Sinn einheitliche Verfassung w i r d nur durch tatsächliche Übermacht (Intervention, Okkupation, Revolution, Putsch) vorübergehend möglich. Die inhaltliche Einheit der Verfassung beruht dann auf Gewalt und steht und fällt m i t der Möglichkeit, diese i n der Zeit durchzuhalten. Vor dem Hintergrund einer widersprüchlichen gesellschaftlichen Wirklichkeit kann eine freiheitlich rechtsstaatliche Verfassung wie das Grundgesetz von 1949 nicht einheitlich sein. Der Kompromißcharakter der Verfassung ist auch durch diese Eigenschaften begründet, nicht nur als Linie des Waffenstillstands i n einem durch Verfassunggebung beschwichtigten Bürgerkrieg zu deuten 386 . Umgekehrt wäre der Grad einer inhaltlichen Einheit der Verfassung ein Maßstab für Gewaltherrschaft. Das Grundgesetz weist solche Einheit nicht auf und soll sie nicht aufweisen. Subjektive Grundrechte, rechtsstaatliche Verfahren, umschriebene Kompetenzen und Abgrenzung von Funktionen, Normen des Minderheitenschutzes, Rechte der Opposition haben die entscheidende Aufgabe, die politischen Vorgänge — i m Rahmen des Grundtypus — offen zu halten. Sie sollen es den u m Macht kämpfenden Gruppen tatsächlich möglichst schwer und auf dem Boden von Legalität und Legitimität der Verfassung sogar unmöglich machen, i n der Zukunft eine inhaltliche Einheit der Verfassung zu erzwingen 387 . Ideologisch i m hier gemeinten Sinn ist nicht ein Denken, das abstrakte Dualismen wie den von Sein und Sollen, von Staat und Gesellschaft hinter sich läßt sowie Recht und Politik wissenschaftlich zu trennen sich weigert; w o h l aber die Methode, für Gesellschaft, Staat, Rechts- und Verfassungsordnung ein blockhaft unterstelltes Ganzes zum Gegenstand der Aussage zu machen. Das Ganze w i r d seit alters von der Summe der Elemente unterschieden. Es soll mehr sein, genauer: mehr bedeuten als die Zusammenfassung seiner Teile. Das kann meinen, es weise gegenüber den Teilen eine A r t von eigenständigem Verhalten auf; oder auch nur, es könne als solches gegenständlich untersucht werden. Oft ist dieses „Mehr" aber die Schleuse, durch die sich unkontrollierbare Behauptungen freie Bahn schaffen. Das Ganze soll nicht nur in seinem Umfang größer sein als einzelne Teile, sondern ihnen und ihrer Summe an Würde und Wirkungskraft oder der Kategorie nach überlegen. Genetisch soll es dem Teil vorhergehen, der Summe der Teile vorausliegen. Dazu hat die Untersuchung Beispiele gebracht, so die dezisionistische Unterscheidung von Verfassungsgesetz und vorausliegender 386

Z u dieser Sicht vor allem Abendroth , z.B. S. 48 ff. — Allgemein zum Grundgesetz als Kompromiß etwa Denninger I, S. 116 f.; Badura IV, Sp. 2719 f. 387 Z u r Bedenklichkeit einiger Eigenschaften der Notstandsregelung des Grundgesetzes i n dieser Richtung: Hesse V I , S. 301 ff.

154

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

positiver Verfassung, die Argumente des Bundesverfassungsgerichts aus einem vorverfassungsmäßigen Gesamtbild oder die Rede von dem Grundgesetz vorausliegenden Prinzipien höheren Ranges. Die genetische Behauptung w i r d also leicht mit der eines Vorrangs vermischt. Daß das Ganze, soweit m i t ihm gearbeitet wird, als gegenüber dem Teil „früher" ausgewiesen werden kann, kennzeichnet die dabei angewandte Arbeitsmethode nachteilig: das Postulatorische, den durch normative, dogmatische und methodische Einzelschritte ungestützten ganzheitlichen Vorgriff. Er gründet sich auf das mehr oder weniger geklärte Vorverständnis 388 oder auf ein Vorwegnehmen des aus welchen Gründen auch immer erwünschten Ergebnisses, in der Regel auf beides. Einheit und Ganzheit des Gemeinwesens und seines Rechts wurden wohl am ungezwungensten von der Politischen Romantik gegen die liberal-individualistisch argumentierende Aufklärung und die Folgen der Französischen Revolution ins Feld geführt. Für ihre teils restaurativen, überwiegend reaktionären Ziele bot sich die Vorstellung des älteren Organismusdenkens vom sozialen Verband als einem hierarchisch gegliederten, auf organische Weise einheitlichen Ganzen vortrefflich an 3 8 9 . Für Hegels weit schmiegsameres dialektisches Denken ist zwar das Ganze die Wahrheit der Sache, es ist den Momenten und ihrer aufzuhebenden Wahrheit aber nicht abgrenzend entgegenzusetzen: Jeder der Teile der Philosophie bildet ein philosophisches Ganzes und das Ganze der Philosophie einen Kreis von Kreisen, ein dialektisch verwobenes Geflecht von Setzung, Negation und aufhebender Synthese. Dem entsprechend spielt das Prinzip des Ganzen unter dem Namen der Totalität oder (so vor allem bei Sartre) der Totalisierung i n der von Hegel kommenden Tradition eine wichtige Rolle. Dialektisches Denken beansprucht dabei, die Totalität nicht i m naiven Sinn der älteren und seit Hegel veralteten Organismuslehre zu sehen, die das Ganze für mehr hält als die Summe seiner Teile, sondern eben dialektisch 390 . I n systemtheoretischen Konzeptionen der Gegenwart und ihrem Begriff systemischer Stabilität findet sich Hegels Denken des Ganzen bis zur Grenze der Unkenntlichkeit zurückgenommen. Dagegen ähneln holistische Theoreme der älteren Organismuslehre. Sie verkennen, daß Aussagen etwa über „die" Gesellschaft, „die" Rechtsordnung oder „die" 388 Dazu F.Müller X , z.B. S. 133 ff., 136 f., 191 f.; ders. X I I , z.B. S. 561, 60 f., jeweils m. Nw. 389 Zu Organismuslehren i n der neueren Staatslehre: Badura I, S. 87 ff., 115 ff.; Zippelius I I , S. 24 ff.; zur politischen F u n k t i o n des ganzheitlichen Organismusdenkens und zu seiner Rolle i n der Geschichte der Grundrechte: F.Müller I, S. 87, 89, 90, 95 ff., 98ff.; zu Hegel unter diesem Aspekt ebd., S. 1461; zu dessen Konzeption des Ganzen vgl. Hegel I, S. 177; I I , S. 644; I I I , S. 61. 390 Sartre , z. B. S. 46 ff.; Habermas I, S. 155 f. — Zur Konzeption des Holismus: Haidane .

3.

h l i c h e Möglichkeiten

155

Verfassung als Ganzes oder als Einheit zwar möglich, aber wissenschaftlich nicht vertretbar sind, insofern sie nicht bei Einzelelementen ansetzen und deren Zusammenhänge Schritt für Schritt einsichtig zu machen verstehen. Sie sprechen von Einheit und Ganzheit als von vorgegebenen Größen vor allem deshalb, um abgestufte Gliederung und Vorrang behaupten zu können. Wie i n der Politischen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts tragen ganzheitliche Argumente auch i n der heutigen Praxis und Diskussion die politische Absicht auf der Stirn geschrieben. Sie scheitern vor allem daran, daß Ganzheiten — als Gesamtheit aller Eigenschaften einer Sache und aller Relationen zwischen ihren Teilen, somit als Totalität gefaßt — wissenschaftlich nicht untersuchbar sind. Wissenschaft ist darauf verwiesen, Einzelaspekte eines Ganzen herauszugreifen und zu bearbeiten. Dazu gehören auch bestimmte besondere Eigenschaften eines Ganzen, die es nicht als bloße Anhäufung, sondern als organisierte Struktur erscheinen lassen. Strukturzusammenhänge sind rationalem Denken seit jeher zugänglich. Ihr Studium unterscheidet sich vom pauschalen Vorgriff auf die Totalität nicht nur durch geringere Anfälligkeit für Ideologie, sondern vor allem durch konkretere Arbeitsmethodik 3 9 1 . Für das wissenschaftlich erforschbare Ganze i m Sinn rational entschlüsselter und begründeter Strukturzusammenhänge ist übrigens die Aussage, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile, trivial: Das Mehr besteht darin, daß bestimmte Beziehungen zwischen den Teilen bestimmte Strukturen bilden; noch genauer gesagt: daß gegebene oder — wie i m Recht — gesetzte Einzelelemente so gedeutet werden können, daß Aussagen über Zusammenhang und Struktur einsichtig erscheinen. Solche Argumente sind aber eben nur in dem Maß plausibel, i n dem sie durch rationale Einzelschritte gestützt werden können, i m Fall der Einheit der Verfassung also nur durch die Entscheidungselemente einer rechtsstaatlich arbeitenden Methodik. Das Ganze als Totalität, die Einheit der Verfassung als solche liefern dagegen kein plausibles Argument, das nicht bereits aus der Konkretisierung einzelner Normen und ihrer systematischen Zusammenhänge hervorginge. Daher auch w i r d hier die Rede von der Einheit der Verfassung nicht, wie üblich, pauschal begrüßt oder global abgewertet, sondern unter einzelnen Gesichtspunkten wie der Freiheit von Lücken oder Widersprüchen, der formalen Einheit der Urkunde, der Gleichheit der normativen Rangstufe, einer Einheitlichkeit der Verfassungsstruktur oder unter inhaltlichen Fragestellungen untersucht, jeweils mit der Möglichkeit abweichender Teilergebnisse. 391 Zur wissenschaftstheoretischen K r i t i k ganzheitlicher Argumentation: Popper , S. 15 f. i n Auseinandersetzung m i t K.Mannheim, ferner 54 f., 59 f., 61 ff., 65 f. — F ü r die Rechtswissenschaft: Engisch I I I , S. 128 ff., 131 ff., 139 ff.

156

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Anders arbeitet die Rechtspraxis dann, wenn sie das Grundgesetz als Einheit unvermittelt i n die Argumentation einführt; aber auch dort, wo etwa Verfassungsgrundsätze wie „der" Rechtsstaat oder „der" demokratische Gedanke die Konkretisierung der für den Fall ergiebigen Demokratie- und Rechtsstaatsnormen ersetzen sollen 392 . Solches Argumentieren zielt nicht auf rationale, ihr eigenes Vorgehen offenlegende Arbeit, sondern auf Uberreden, Einfluß, Autorität, deutlich ausgedrückt i m Begründungsstil. Das ist aber mehr als nur eine stilistische Frage, weil bei den Arbeitsweisen der Rechtsfunktionäre neben den allgemeinen Gegebenheiten des Politischen Systems auch die eigene Lage (Schichtzugehörigkeit und Erziehung, Status und Rolle, Berufs- und Standesideologie) erfahrungsgemäß durchschlägt — und zwar deshalb, weil es bei juristischer Entscheidungsarbeit allen positivistischen Gegenbeteuerungen zum Trotz u m unmittelbares Handeln bestimmter einzelner Menschen geht 3 9 3 . Es wurde gezeigt, daß juristisches Systemdenken verhältnismäßig früh vom axiomatisch geschlossenen System und vom Glauben an seine Vorgegebenheit abgekommen ist. Lange vor der Wende zum sogenannten offenen, beweglichen System hat (unter didaktischen Gesichtspunkten) Savigny das System „nicht als bewiesen, sondern als etwas zu Erfindendes" dargestellt, das aus normativer Einzelarbeit, „sichtbar i n jedem Augenblick aus der Interpretation" hervorzugehen habe 394 . Methodisch redliches Denken i n Einzelschritten ist für das Verfassungsrecht lebenswichtig. Die liberale Verfassung w i l l m i t Grundrecliten wie m i t Organisations- und Kompetenznormen den Mißbrauch' politischer Macht ausschalten; sie nimmt Bereiche aus, grenzt Zuständigkeiten und Funktionen ab, gewährt Rechtsschutz. Durch die genannten neuen Entwicklungen ist diese Funktion ergänzt und kompliziert, nicht aber verdrängt worden. Das Grundgesetz gehört nach seiner Anlage zum liberalen Typus, der durch geschriebenes Verfassungsrecht staatliche Macht nicht nur zu begründen, sondern auch berechenbar zu begrenzen unternimmt. Zugleich soll durch Grundrechte der Freiheitsraum der einzelnen und ihrer Gruppen abgesichert werden 3 9 5 . M i t dem freiheitlichen 392 I m bisherigen Verlauf der Untersuchung wurden genügend Beispiele solcher Arbeitsweisen genannt. Beide Arten eines „Ganzen der Verfassung" liegen auf engstem Raum zusammen bei Drath I, S. 93: Rückgriff des Verfassungsrichters auf das Ganze der Verfassung als „auf die sinnvollen Zusammenhänge von Normen und ganzen Verfassungsinstitutionen, j a der ganzen W i r k l i c h k e i t des politischen Lebens". 393 Darstellung und Nachweise bei F.Müller X I I , S. 11 f., 28ff., 55ff., 75 ff. 394 v. Savigny I I , S. 71. — Z u m Gedanken der Einheit des Staates und seiner Verfassung nicht als Vorgegebenheit, sondern als Aufgabe und des juristischen Systems als eines Ziels, nicht als einer Voraussetzung siehe H. Heller I I I , S. 266; Scheuner V I I , S. 233 ff.; dens. I X , S. 39.

3.

h l i c h e Möglichkeiten

157

Ansatz des Grundgesetzes verträgt sich ganzheitliches Argumentieren i n der täglichen Rechtspraxis schlecht. Totalität als Quelle von Argumenten neigt zur Macht und ihrer ungestörten Handhabung, nicht zum gegenläufigen Denken i n Unterscheidungen und Schranken. Hier setzen die Gebote der Normklarheit, der Tatbestandsbestimmtheit und der methodischen Ehrlichkeit juristischen Entscheidens ein. Weder für die Arbeit mit Sprachdaten noch für die Frage, wie weit Faktoren der Wirklichkeit die Entscheidungsnorm mittragen, genügt undurchsichtiges Argumentieren vom Ganzen her den Anforderungen an rechtsstaatliche Methodik 3 9 6 . Damit w i r d nicht, wie Vertreter ganzheitlichen Denkens gern unterstellen, einer atomistisch isolierenden Arbeitsweise das Wort geredet. Alle sachlichen Zusammenhänge zwischen Normen und Institutionen, alle systematisch übergreifenden Strukturen der Rechts- und Verfassungsordnung stehen juristischer Methodik offen. Aber es muß sich u m normativ darlegbare Zusammenhänge, um wissenschaftlich begriffene und einsichtig gemachte Strukturen handeln. Auch die Rede von der Einheit und vom Ganzen läßt sich vielleicht als ausgewiesenes politisches Ziel, als pragmatische Arbeitsrichtlinie m i t rechtsstaatlicher Methodik vereinbaren. Sie ist dann aber etwas anderes als verdeckendes Argumentieren vom einheitlichen Ganzen her. Dieses Verfassungsganze ist als solches nicht normativ 3 9 7 . A r t . 1 GG umfaßt mehrere Verfassungsnormen und A r t . 20 GG besteht aus einer Reihe selbständiger und untereinander nicht widerspruchsfreier Grundsätze (Republik, Rechtsstaat, Sozialstaat, Demokratie, Bundesstaat sowie einige besonders wichtige demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien). Zentralnormen der Verfassung können zusammengefaßt und summierend benannt werden, ihre je begrenzte Normativität als Einzelvorschriften verlieren sie dadurch nicht. Es wurde gezeigt, worauf die Breite der normativen Wirkung verfassungsrechtlicher Generalklauseln und Blankettnormen wie Art. 20 GG zurückgeht. Etwas anderes ist es, ohne Rücksicht auf Normprogramme und Normbereiche bestimmter Vorschriften und auf das Erarbeiten ihres etwaigen systematischen Zusammenhangs aus „dem" Ganzen der Verfassung, aus ihrer inneren Einheit als solcher zu argumentieren und beidem eine abstrakte Normativität zu unterschieben. 395 Z u m liberalen Verfassungsbegriff: C.J.Friedrich , S. 43 ff.; Schmitt I V , z. B. S. 163 ff. ; Luhmann V, S. 3 f.

S. 135, 137 f.; Kaepi,

396 Gegen ganzheitliches Vorgehen i n der Rechtsarbeit F. Müller I I I , S. 33 ff., 37 f., 73, 136 f., 213 u. ö.; ders. V I I I , S. 17, 18, 19; ders. X , S. 53 f., 86 f., 133 ff., 171, 172 ff., 203 u. ö. 397 Mißverständlich Schwache , der S. 30 ff., 33 ff., 35 ff., 72 ff., 78 ff. ebendies unterstellt, m i t seinem Ausdruck „das Allgemeine" aber die „sich nach Art. 1 und 20 qualifizierende Wertordnung" meint.

158

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Das Bundesverfassungsgericht hat dieser Versuchung nicht immer widerstanden. Das Südweststaats-Urteil begründet eine Spruchpraxis, durch welche die einzelne Verfassungsnorm allein deswegen rechtlich herabgestuft wird, w e i l sie eine einzelne ist. Entweder setzt sich, wie i n der Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Eheverfehlung durch Glaubenswechsel, das Ganze global durch, oder es verdrängen ganzheitlich pauschalierte Teile des Ganzen („der" Rechtsstaat, „der" Bundesstaat und so fort) i n Nachfolge des Südweststaats-Urteils einzelne Verfassungsvorschriften 398 . I m Konkordats-Urteil nennt das Gericht die innere Harmonie der Verfassung nicht als Ziel, sondern geht von ihr aus. I m Soraya-Beschluß dient die Behauptung offenbar einheitlicher („allgemeiner") „Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen" oder von „fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft" 399 als Grundlage für widersprüchliche Aussagen zur schöpferischen Rechtsbildung durch Richter. Quelle schöpferischen Richterrechts soll die „verfassungsmäßige Rechtsordnung als ein Sinnganzes" bilden, und die genannten werthaften Vorstellungen „der" Gemeinschaft sind es, die eine Einheitlichkeit und Ganzheit dieser Rechtsordnung fiktiv erzeugen. Die Rede von diesem Sinnganzen kann t r i v i a l sein: Die Rechtsordnung ist mit sich selbst identisch. Richter sind legitimiert, neues Recht zu erzeugen — was unterstellt w i r d —, und das von ihnen geschaffene Recht gliedert sich der Rechtsordnung ein. Diese begründet sich i n ihrem „Sinn" eben auch dadurch, sie rekrutiert ihren Normenbestand aus Gesetzes- wie aus Richterrecht. So als Trivialität gefaßt, kann das Sinnganze aber nicht die Quelle für die Zulässigkeit von Richterrecht werden. Die andere Möglichkeit ist, die Rede vom Sinnganzen als normativ nicht einlösbare Unterstellung anzusehen. Sie hat dann die rhetorische Aufgabe, für richterliche Rechtserzeugung Legitimität zu beschaffen. Dieses und verwandte Argumente werden vom Bundesverfassungsgericht i n solcher Funktion deshalb gerne verwendet, weil sie einen kaum begrenzten Spielraum für Dezisionen eröffnen, die durch sie sprachlich, aber auch nur sprachlich gerechtfertigt werden 4 0 0 . Eine vergleichbar undurchsichtige, vielseitig einsetzbare Bestimmung findet sich auf die Verfassung gemünzt i m Urteil zur badischen Kirchenbausteuer: „Die Einheit der Verfassung als eines logisch-teleologischen Sinngebildes" sei deswegen das wichtigste Interpretationsprinzip, „ w e i l das Wesen der Verfassung darin besteht, eine einheitliche Ordnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens der staatlichen Gemeinschaft 398 BVerfGE 1, S. 14 ff., 15 Leitsatz 4, 32; B G H Z 38, S. 317 ff., 320 f.; der Nachweis zum Konkordats-Urteil: BVerfGE 6, S. 309 ff., 361. 399 BVerfGE 34, S. 269 ff., 287 i m Anschluß an E 9, S. 338 ff., 349. 400 Eine ähnliche Bewertung des Arguments aus dem „Menschenbild des Grundgesetzes" bei Denninger I, S. 11 ff., bes. 25 ff.

3.

h l i c h e Möglichkeiten

159

zu sein" 401 . Als Seins-Aussage verstanden, wäre das Argument i m hier gemeinten Sinn ideologisch. Als Aussage zur Funktion muß es sich an den Eigenschaften einer liberalen Verfassung messen lassen. Das Grundgesetz arbeitet für den staatlichen Bereich zum Teil m i t mehr oder weniger ausgearbeiteten Modellen (Bundesstaat, Parlamentarismus), beim Rechtsstaat m i t einem modellähnlichen Komplex teils geschriebener, teils ungeschriebener verstreuter Normen, dagegen beim Sozialstaat m i t zwei Generalklauseln und wenigen Einzelvorschriften, also gewiß nicht modellartig. Daß dies gesteigert für den Bereich der Gesellschaft gelten muß, wurde gezeigt. Nicht zufällig spart das Grundgesetz aus, hält und läßt es offen, markiert es häufig nur Grenzpunkte. Eine freiheitliche Ordnung läßt auch und nicht zuletzt den gesellschaftlichen Widersprüchen Freiheit. Dagegen mag sich eine modellhaft illiberale Verfassung die Aufgabe stellen, nicht nur i n kommunikativer Rhetorik, sondern in wirklicher Praxis die gesellschaftlichen Verhältnisse einheitlich zu regeln. Das Argument aus der Einheit der Verfassung kann jedenfalls am Grundgesetz nicht so gerechtfertigt werden, wie es das Bundesverfassungsgericht hier versucht hat. Die von der Rechtsprechung i n der Tradition des Südweststaats-Urteils den einzelnen Verfassungsnormen übergeordneten Grundsätze treten zwar pauschal auf, sind aber wegen ihrer Zusammenfassung i n A r t . 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 GG auch i n dieser Vagheit normativ nachweisbar. Das ist dann anders, wenn Grundsätze zum positiven Normenbestand hinzuerfunden werden. Aus einem Sammelbegriff oder einer rechtspolitisch diskutablen Sicht w i r d dann unversehens eine quasi-positive und zugleich den „einzelnen Verfassungsgesetzen" (im Sinn von Carl Schmitt) überlegene Obernorm. Das ist bisher dem Gedanken der streitbaren oder wehrhaften Demokratie widerfahren 4 0 2 . Eine Ganzheit mag als Sammelname für die wichtigsten Staatsform- und Inhaltsbestimmungen des Grundgesetzes auftreten. Sie benennt dann die prägenden (auch ungeschriebenen) Normen des Verfassungsrechts und leistet nur sprachlich etwas Ganzheitliches. Auf diese unbedenkliche, normativ belegbare Weise wurde der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung i m SRP-Urteil und i m KPD-Urteil herausgearbeitet 403 . I n solchem Zusammenhang kann von einer „Gesamtinterpretation des Grundgesetzes und seiner Einordnung in die moderne Verfassungs401

BVerfGE 19, S. 206 ff., 220. I m Abhör-Urteil, BVerfGE 30, S. 1 ff., 19 f. und i m Radikalen-Beschluß, BVerfGE 39, S. 334 ff., 368 f. — I n der Entscheidung zum Verhältnis von Grundrechten und europäischem Gemeinschaftsrecht übernimmt die F u n k t i o n eines anderen Verfassungsnormen, hier dem A r t . 24 Abs. 1 GG, übergeordneten Grundsatzes eine global ins Spiel gebrachte Normengruppe: der Grundrechtsteil des Grundgesetzes, BVerfGE 37, S. 271 ff., 280 f. 403 BVerfGE 2, S. 1 ff., 12 f.; das i m T e x t folgende Zitat: BVerfGE 5, S. 85 ff., 112. 402

160

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

geschichte" gesprochen werden. Der Gebrauch von Ganzheitsurteilen ist unbedenklich, soweit der Sammelbegriff normativ, dogmatisch und methodisch zusammengetragen und begründet wird. Etwas anderes ist es, mit einem holistisch unterstellten Ganzen ohne rationale Einsehbarkeit, normative Begründbarkeit, empirische Belegbarkeit zu arbeiten. Pauschale Behauptungen dieser A r t haben nur noch die Aufgabe, Spielräume für Dezision 404 zu eröffnen, Legitimität vorzuspiegeln und auf dem Weg vorgeblich zwingender Ableitung auch Legalität zu beschaffen. So w i r d i m Radikalen-Beschluß der „Kontext der Verfassung" global eingeführt, unversehens m i t dem (unter der Hand sowohl zur Verfassungnorm als auch zum höherrangigen Verfassungsgrundsatz erhobenen) Gedanken der wehrhaften Demokratie vertauscht und vor jeder systematischen Argumentation sogleich gegen die aus A r t . 3 Abs 3 GG möglichen Argumente durchgesetzt. Wäre i m einzelnen argumentiert worden, so hätte sich gezeigt, daß auf der einen Seite das Verbot politischer Diskriminierung und auf der anderen solche Vorschriften stehen, i n denen das Grundgesetz die Erlaubtheit verfassungspolitischer Ziele selbst begrenzt. Es wäre dann zu prüfen gewesen, ob einer dieser Tatbestände vorliegt; denn sowohl Art. 9 Abs. 2 als auch A r t . 18 und 21 Abs. 2 GG haben als Spezialregeln im Umfang ihrer Normbereiche Vorrang vor dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG. Da aber keiner dieser Tatbestände hier gegeben ist, was auch dem Bundesverfassungsgericht nicht hat verborgen bleiben können, hätte es sich eingehend mit der Dogmatik des Art. 3 Abs. 3 GG und damit auseinandersetzen müssen, wie das Verbot politischer Diskriminierung mit dem vorliegenden Fall zu verbinden ist. Das Risiko, auf diesem Weg das vorweg ins Auge gefaßte Ergebnis nicht mehr schlüssig begründen zu können, wie auch die Mühe dogmatischer und methodischer Einzelarbeit ersparte sich der Senat durch die genannten Kunstgriffe. Deren Funktion ist in dem eingangs erläuterten Sinn ideologisch. Dagegen ist i m Munitionsanstalts-Fall des Bundesverwaltungsgerichts von der „Gesamtrechtsordnung" nicht ganzheitlich, sondern systematisch-positivrechtlich die Rede. Der Ausdruck meint hier die Geltung von Vorschriften über die Grenzen der einzelnen Lebens- und Rechtsgebiete hinweg. Der Gedanke kann sich auf eine alte verwaltungsrechtliche Tradition zur sogenannten Einheit der Verwaltung stützen 405 . Argumentiert w i r d nicht vom Ganzen her, vielmehr anhand bestimm404 Z u m Begriff der Dezision i m methodisch präzisierten Sinn: F.Müller X I I , S. 19 ff., 44 ff.; i m Soraya-Beschluß, BVerfGE 34, S. 269 ff., 287 handelt es sich bei der Einführung des Sinnganzen der Rechtsordnung um eine Dezision durch Rechtsunterstellung; zu dieser Form: F.Müller, ebd., S. 18ff., 24ff., 44 ff. — Das i m T e x t folgende Zitat aus dem Radikalen-Beschluß: BVerfGE 39, S. 334 ff., 368 f.; Hervorhebung nicht i m Original. 405 B V e r w G E 29, S. 52 ff., 56 f. i m Anschluß an PrOVGE 2, S. 399 ff., 408 f.

3.2 Inhaltliche Möglichkeiten

161

ter einzelner Normen. Die Formel von der Gesamtrechtsordnung w i r d nicht holistisch, sondern als sprachlicher Sammelbegriff, also summierend eingesetzt. Ebenso hatte das Bundesverfassungsgericht i n den beiden Parteiverbotsurteilen gearbeitet, als es den sachlichen Kern des Grundgesetzes, ausgehend von A r t . 79 Abs. 3, 1 Abs. 1 und 20 GG, unter dem von diesem selbst gegebenen Stichwort der freiheitlichen demokratischen Grundordnung summierend und verbindend zusammenstellte. Eine unbedenkliche Sammelbezeichnung und nicht ein ganzheitlicher Begriff mit ideologischer Absicht ist auch „die Rechtsordnung i n ihrer Gesamtheit" i n der Entscheidung zum Familienlastenausgleich: Dort werden Normengruppen aus dem fraglichen Rechtsgebiet aufgezählt und wichtige Fakten der betreffenden Normbereiche (Statistik) zumindest angedeutet 406 . Das Ganze i n diesem Sinn ist für rechtsstaatliche Methodik nicht tabu. Die Bedenklichkeit oder Unbedenklichkeit seines Gebrauchs hängt nicht am Begriff, sondern steht und fällt mit der tatsächlich geübten Arbeitsmethodik 4 0 7 . Betont nicht ganzheitlich, sondern rechtsstaatlich rational arbeitet das Bundesverfassungsgericht i n dem Teil seiner Spruchpraxis, i n dem es seit dem Apotheken-Urteil über den Mephisto-Beschluß, die Fälle der Transfusionsverweigerung und des Eideszwangs bis zu den Beschlüssen über Nachbesteuerung und Uberlegungsfrist i m Kirchensteuerrecht 408 sich weigert, die Grundrechte durch verschwommene Gemeinwohlgesichtspunkte, durch die allgemeine Rechtsordnung oder „durch eine unbestimmte Güterabwägungsklausel" 409 relativieren und einschränken zu lassen. 406 ß V e r f G E 44, S. 249 ff., 274. 407 Siehe als Parallele aus der Psychologie die Aussage von Jaspers: „ U n sere wissenschaftliche Arbeit k o m m t nur voran, wenn sie analysiert, Einzelnes auf Einzelnes bezieht. . . . Sie muß i m m e r getragen sein von den Ideen jener Ganzheiten, ohne der Verführung zu erliegen, durch billige A n t i z i pationen diese Ganzheiten direkt ergreifen zu wollen . . . " ; I I , S. 26. 408 BVerfGE 7, S. 377 ff., 411 (gegen die Gemeinschaftsklausel des Bundesverwaltungsgerichts); E 30, S. 173 ff., 193; 32, S. 98 ff., 108; 33, S.23ff., 29; 44, S. 37 ff., 49; 44, S. 59 ff., 67. 409 BVerfGE 33, S. 23 ff., 29. Abgesehen von dieser Entscheidung, ist die rechtsstaatlich klare Tradition i n diesem Teilbereich das Werk des Ersten Senats. — U n v e r h ü l l t ganzheitlich dagegen die Abweichende Meinung i m Beschluß über den Eideszwang: Prüfung der Frage, „ob A r t . 4 GG eingreift, auch unter dem Gesichtspunkt der verantwortlichen durch das Grundgesetz geschaffenen Gesamtordnung"; die Grenze der Grundrechte des A r t . 4 GG liege dort, „ w o die Notwendigkeit beginnt, dem Wohl des Gemeinwesens den Vorzug einzuräumen", denn kein A r t i k e l des Grundgesetzes gebe „dem Staatsbürger das Recht der Narrenfreiheit"; die „Schutzwürdigkeit des Gemeinwesens" habe i m vorliegenden Fall Vorrang, BVerfGE 33. S. 35 ff., 36, 42. Auch hier ist es nicht die Begrifflichkeit als solche, die rechtsstaatlich unzulässig erscheint und den Verdacht auf ideologisches Arbeiten begründet, sondern die S t r u k t u r dieses Argumentierens, das sich einzelner dogmatischer und methodischer Schritte normorientierten Begründens asketisch enthält. i i F. M ü l l e r

162

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Nicht nur der Dezisionismus , sondern auch normlogistischer Positivismus und normblinder Soziologismus verfehlen aus verschiedenen Gründen wichtige Eigenschaften rechtlicher Normativität und damit auch die Eigenart wissenschaftlicher wie praktischer Rechtsarbeit. Der Soziologismus läßt das eigenwertige Normprogramm, der positivistische Normlogismus den eigenwertigen Normbereich zu kurz kommen. Beide neigen jedoch kaum zu ganzheitlichen Vorgriffen und zu globalen Behauptungen von Einheit der Verfassung. Dieser Gefahr erliegt dagegen der Dezisionismus, der Normprogramm wie Normbereich i n der Existentialität der souveränen Entscheidung verschwinden läßt. Soll der Ausdruck „Einheit" für die Verfassung etwas Selbständiges bedeuten, so kann er nicht mit ihrem Inhalt als der Summe positiver Einzelnormen, mit dem Zusammenschluß der einzelnen Verfassungsgesetze i m Sinn von Carl Schmitt gleichgesetzt werden. I n einem mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladenen Sinn meint „Einheit der Verfassung" vielmehr eine inhaltliche Ganzheit, die sich von ihren normativen Elementen, von deren Zusammenhängen und deren Summe frei gemacht hat und die kurzerhand als eigenes, die normierten Einzelheiten nach Bedarf verdrängendes Argument einzusetzen ist. W i r d mit „Einheit" nicht nur der redlich aufgelistete Gesamtbestand an Normen und damit eine positivrechtliche Tautologie gemeint, so verschiebt sich Einheit zur Totalität. Diese t r i t t als ein rational nicht faßbares und normativ nicht verbindliches Ganzes auf, aus dem inhaltliche Einzelergebnisse trickreich abgeleitet werden. Ein so eindrucksvolles Ganzes hätte das Herz organologischer Verbandsdenker und politischer Romantiker höher schlagen lassen, es scheint aber auch noch i m ausgehenden Zwanzigsten Jahrhundert für bestimmte Praktiken nützlich zu sein. Einer rechtswissenschaftlichen Analyse des Grundgesetzes entstammt es nicht. Weder als Kurzformel der Verfassungstheorie noch als zusammenfassendes B i l d aus der Staats- und Rechtsmetaphysik noch auch als praktisches Argument mit ideologischer Aufgabe erscheint eine inhaltlich verstandene Einheit der Verfassung vertretbar. Soll sie dagegen als Arbeitshypothese für rationalen Umgang mit der V e r f a s s u n g eingesetzt v / e r d e n k ö n n e n , so e n t f a l l e n auch T e ü k o n z e p t e

inhaltlicher Einheit. Damit sind Ansätze gemeint, die bestimmte Verfassungsnormen erhöhen und zugleich isolieren möchten oder die i m Verfassungsrecht nicht enthaltene politische Leitbilder heranziehen, um sie i n beiden Fällen zum eigentlichen, zum vorrangigen Maßstab der auf den Fall passenden einzelnen Verfassungsgesetze zu erklären. Beide Arbeitweisen lassen rechtsstaatliche Interpretation hinter sich, unterstellen zusätzliche Normen. Behauptungen wie die, eine idealtypische Gewaltenteilung, eine kapitalistische oder parteienstaatliche Verfassung sei i m Grundgesetz einheitlich, also inhaltlich widerspruchslos durch-

3.2 Inhaltliche Möglichkeiten

163

geführt, gehören ebenso wie das Unterstellen einer streitbaren Demokratie außerhalb der positiv geregelten Fälle von Schutz der Verfassung zu dieser hier nicht empfohlenen A r t des Umgangs mit dem Grundgesetz. Jeder ideologisch gefaßte Einheitsgedanke führt die Arbeit am Verfassungsrecht auf viel begangene, aber um so gefährlichere Abwege. I m Kampf mit dem Methodendualismus der Jellinekschen ZweiSeiten-Theorie (doppelter Rechtsbegriff, doppelter Staatsbegriff, Dualismus von Allgemeiner und Besonderer Staatslehre) spaltete sich die Systematik der deutschen Staats- und Verfassungslehre i n einseitige Sichtweisen. Kelsen setzte um der Reinheit des Rechts w i l l e n Rechtsordnung und Staat gleich, Schmitt löste den zugespitzten Dualismus von Norm und Faktum zugunsten politischer Existentialität in reine Entscheidung auf. Ebenso wie diese sind andere Entwürfe staats- und verfassungstheoretischen Vorverständnisses, so der Gedanke des Staates als einer organisierten Entscheidungs- und Wirkungseinheit (.Her mann Heller), Smends B i l d vom Staat als Integrationszusammenhang oder idealistische, sozialwissenschaftliche und politökonomische Konzepte, für die Methodik vor allem nach ihrem Auflösungsvermögen zu beurteilen: also danach, wie viel oder wie wenig Raum sie für ideologisches Argumentieren geben, wie weit sie eine normorientierte Begründung praktischer Entscheidungs arbeit fordern, zulassen oder behindern. Je nachdem haben sie Wert eher für verfassungspolitischen Interessenkampf und wissenschaftspolitische Schulenbildung auf der einen oder mehr für offen argumentierende Rechtspraxis und für rational kontrollierbare wissenschaftliche Debatte auf der anderen Seite 410 . Inhaltliche Redeweisen vom Verfassungsganzen und von einer Einheit der Verfassung sind nicht i n diesem, sondern nur i n jenem Sinn von Nutzen. 3.22 Einheit des verfassungsgeschichtlichen Typus Verfassungsrecht kann ohne seinen geschichtlichen, auch ohne den sogenannten ideengeschichtlichen Hintergrund nicht verstanden werden; aber für die Rechtsarbeit ist maßgeblich, wie ein Gedanke oder ein Programm durch positives Verfassungsrecht ausgestaltet ist und nicht, wie sein Idealtypus umschrieben werden mag. Auch insofern verfährt das Bundesverfassungsgericht i m KPD-Urteil korrekt, wenn es sein Verständnis von Demokratie an Hand einer „Gesamtinterpretation des Grundgesetzes und seiner Einordnung i n die moderne Verfassungsgeschichte" 411 entwickelt. Der Senat arbeitet hier nicht mit einem globalen, seiner Richtung nach ideologischen Zugriff, sondern i n Einzelschritten, und er konstruiert das Verständnis einer freiheitlichen 4:0 411

Ii'

F. Müller I I I , z. B. S. 47 ff., 54, 76,194 f.; ders . X ; S. 190 f. u. ö. BVerfGE 5, S. 85 ff., 112.

164

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Demokratie nach dem Grundgesetz nicht losgelöst vom Bestand an positiven demokratiebezogenen Vorschriften. Die verfassungsgeschichtliche Typisierung w i r d nicht eingesetzt, u m positive Normen argumentierend zu überrollen 4 1 2 . Die Verfassung als Rechtsverfassung ist inhaltlich weder allumfassend noch lückenlos, das wurde hier schon untersucht. Ob daneben „Verfassung" als geschichtlich festzumachender Gesamtzustand, als das Ganze historischer Gegebenheiten i m weitesten Sinn (wirtschaftliche, soziale, geistige, kulturelle, politische und rechtliche Daten) 413 jemals eine wissenschaftlich einsichtig zu machende Einheit aufweisen kann, bleibt hier offen. Ich bin nicht i n der Lage, das für Geschichtswissenschaft und Sozialwissenschaften zu überprüfen. Jedenfalls findet sich bei Max Weber, dem die Soziologie zu einem wesentlichen Teil eine historische Wissenschaft war, der Idealtypus zwar als methodisches Hilfsmittel dafür, historisch einmalige Vorgänge oder Zustände zu erfassen; aber er leistet das nicht durch Summieren empirischer Daten zu einer mit all ihren Lücken und Widersprüchlichkeiten so und nicht anders begründeten Individualität, sondern als „logischer Idealtypus". Dieser ist mehr ein Erzeugnis des Denkens als ein Zusammenfassen von Realität. Er ist nicht Abbild, sondern Vorbild oder U r b i l d w i r k licher Zustände. Er verfolgt Grundlinien gegebener Mischformen i n Richtung auf ein in sich zusammenhängendes „Gedankengebilde", das einzelne Elemente einseitig steigert und das vor deren steuernder und auswählender Instanz eine Fülle „hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht vorhandener Einzelerscheinungen" zusammenschließt 414 . Ist von Einheit die Rede, so kann sie nur die Einheit eines mit Wirklichkeitspartikeln künstlich erzeugten Idealtypus sein. Er kann sich beim Formulieren von Theorie-Elementen methodisch als nützlich erweisen; nicht aber darf er die zum Teil auch lückenhaft oder widersprüchlich positivierten Regeln der Verfassung mit seinem außerpositiven Modell überspielen. Sehr allgemeine sozialwissenschaftliche Typisierungen von Gesellschaften werden schon wegen des historischen Abstands für heutige Rechtsarbeit nur wenig beitragen können 415 . I n dem Maß ihrer Annäherung an den Typus des modernen europäischen Verfassungsstaates steigt ihre Ergiebigkeit für die Arbeit einer normorientierten Staats- und Rechtslehre 416 . A m fruchtbarsten für Verfassungslehre und 412 Z u r Bedeutung u n d zum Stellenwert von Theorie-Elementen i n der Normkonkretisierung: F. Müller X , bes. S. 189 ff., 200 und ff. 413 Z u diesem weitesten Begriff von Verfassung: E. R. Huber I I , S. V I I . 414 M.Weber I, z.B. S. 191; ders. I I I , z.B. S. 9 ff.; zu V/ebers Position: v. Schelting , Loos. 415 Siehe Parsons I I (primitive und archaische Gesellschaften, intermediäre „historische" Imperien, ,,Saatbett"-Gesellschaften). 416 Parsons I, v o r allem S. 68 ff., 93 ff., 110 ff., 156 ff.; zum „Verfassungs-

3.

h l i c h e Möglichkeiten

165

Rechtsmethodik ist immer noch Max Webers idealtypisierende Umschreibung des „rationalen Staates" als des für den modernen Kapitalismus funktionalen anstaltlichen Verbandes mit bürokratischer Organisation, zentralisiertem und formalisiertem Recht und mit berechenbarem Rechtsbetrieb 417 . Die Rationalität des Anstaltsstaates ist allerdings zweideutig. Rechtsstaatliche Strukturen, Funktionen und Arbeitsweisen sollen die bürgerliche Wirtschafts- und Verkehrsgesellschaft berechenbar, regelhaft machen. Insofern "wirken sie instrumenten. Zum andern wirken sie legitimierend, indem sie die Entscheidungsvorgänge oder zumindest deren bekanntgegebene Gründe durchsichtig zu machen und sie damit für K r i t i k und Kontrolle zu öffnen bestimmt sind. Sowohl der status quo als auch seine Veränderung sollen i m demokratisierten Rechtsstaat auf Zustimmung, Kompromiß und Mehrheitsmeinung gestützt werden können; darin liegen die Grenzen der Instrumentalität rechtsstaatlicher Regeln. Die technische Seite dieser Rationalität soll durch formale Garantien gesichert sein. Dadurch werden aber die Herrschafts- und Steuerungsfunktionen der Rechtsordnung (Entscheidung, Stabilisierung, Differenzierung, Legitimierung) nicht beseitigt. I n ihrem Rahmen hat rationale Methodik eine anti-machtstaatliche, eine i m verfassungsgeschichtlichen Sinn liberalisierende Wirkung. Nach historischer Erfahrung ist jede Entwicklung zu autoritären oder totalitären Herrschaftsformen m i t einem Abbau formaler Garantien, rationaler Verfahren, m i t einem Einschränken der Offenlegungspflichten und Kontrollmöglichkeiten verbunden. Solche typisierbaren Zusammenhänge können Argumente für wissenschaftliche und praktische Rechtsarbeit liefern 4 1 8 . Eine Einheit des verfassungsgeschichtlichen Typus, der damit getroffen ist, schaffen sie nicht. Diesseits der Einheit des Idealtypus w i r d Typusdenken in der Rechtswissenschaft durch die rechtsstaatliche Pflicht zu rationaler Interpretation des so und nicht anders und damit weder lückenlos noch notwendig widerspruchsfrei gesetzten positiven staat der Neuzeit": C. J. Friedrich , der (tendenziell) totalitäre Staaten nicht als konstitutionell auffaßt; ebd., S. 26, 125, 137 f. zum liberalen Begriff von Verfassung. Friedrichs enzyklopädisch historisierende Darstellung ergibt nur wenige Anhaltspunkte f ü r eine normativ orientierte Staatslehre. Vgl. ferner die Typisierung des Modernen Staates durch Herbert Krüger V I . Eine marxistisch orientierte Deutung der Formen des liberalen u n d nachliberalen bürgerlichen Staates bei Kühnl. 417 M.Weber I V , S. 289 ff., 292 f., siehe auch S. 238 ff.; ders. I I , S. 17 ff., 27 ff., 32 ff. und durchgehend (Ausbildung der rationalen Bürokratie, Monopol legitimer Gewaltsamkeit, Monopolisierung des Eigentums an den V e r w a l tungsmitteln und der Rechtsschöpfung sowie Verstaatlichung aller Rechtsnormen). 415 F. Müller X I , S. 30 f.; ders. X I I , bes. S. 49 ff. u. ö.

166

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Rechts begrenzt 419 . Daher sind historisch wie soziologisch brauchbare Typisierungen („der" aufgeklärte Absolutismus, „der" liberal-frühkonstitutionelle Staat) für methodische und dogmatische Arbeit solange nur beschränkt nützlich, als sie global formuliert werden. Sie verführen i n dieser Form zu ganzheitlichen oder zu Einheits-Argumenten von ideologischem Zuschnitt. Anders ist es dort, wo Gegebenheiten des heutigen Verfassungstypus i n ihrer positiven Normierung und ihrem rechtlichen Schicksal aufgegriffen werden. So hat der „Staat der Industriegesellschaft" 420 als i n Gesellschaft und Wirtschaft intervenierender und auf breiter Front sozial umverteilender Leistungsstaat, als Staat der „Daseinsvorsorge" 421 wichtige Fortschritte der verwaltungsrechtlichen Dogmatik angeregt. Dagegen ist globale Verfassungstypologie nicht einmal für den Bereich des geschriebenen Verfassungsrechts 422 stimmig. Der Grundgedanke der modernen Verfassungsurkunden seit dem Beginn des Frühkonstitutionalismus i m 19. Jahrhundert, die Kompetenzen der Staatsorgane abschließend zu normieren und sie streng zu begrenzen, bürgerliche Freiheit durch klare Grundrechtsgarantien zu sichern, Gewaltengleichgewicht und Teilung der Gewalten, Rechtssicherheit und Rechtsschutz wirklich werden zu lassen, erfordert perfekte Positivierung, eine Kodifikation auf höchster Rechtsquellenstufe ohne Lücken und innere Widersprüche. Daß dies nicht eine normative Tatsache, sondern eine idealtypische Unterstellung ist, hat sich hier schon gezeigt. Neben die feststellbaren Lücken und Widersprüche treten als weitere Gründe für diesen Befund die Zugehörigkeit der Normbereiche zur Normstruktur und die der Entscheidungsnormen zum Bestand des geltenden Rechts. I m übrigen hieße es auch die rechtsstaatliche Verteilung 419 Z u r Doppeldeutigkeit v o n Rationalität, zu Funktionen und zur methodischen Bedeutung typischer Eigenschaften des modernen Verfassungsstaats: F.Müller X I , S. 20 f., 26 ff., 28 ff.; ders. X I I , z.B. S.49ff., 86 ff., 90 ff. Z u m Typusdenken i n der Rechtswissenschaft allgemein: Larenz , z.B. S. 194ff., 200 ff., 443 ff., 447 ff.; Leenen; Kuhlen. 420 Diese einprägsame Formel findet sich 1966 bei Drath, vgl. jetzt i n : ders. V I I , S. 116 ff. Desselben Titels bedient sich Forsthoff f ü r seine Schrift von 1971 (VI). 421 Z u r Daseinsvorsorge: Forsthoff V I I I ; zur technischen Realisation: ders. V I , S. 30 ff., 42 ff. — Forsthoff hat damit für das Verwaltungsrecht Pionierarbeit geleistet, die Begriffe aber auch hier nicht als erster geprägt. Die „Vorsorge f ü r das Dasein" als Wort und als Sache ist ein Grundbegriff der Staatslehre Hegels und Lorenz v. Steins, siehe dazu die Studie von E. R. Huber I V , S. 139 ff. I n Jaspers ' Schrift „Die geistige Situation der Zeit" von 1931 treten f ü r den Bereich des modernen Massenstaates die „Daseinsfürsorge" und die „technische V e r w i r k l i c h u n g " als zentrale Begriffe auf: Jaspers I, S. 29, 30 ff., 108, 183 u n d ff. u. ö. 422 das f ü r die Verfassungsgeschichte n u r „Spiegel und Maßstab des Verfassungsgeschehens" ist, so E. R. Huber I I , S. V I I ; zum Streben der modernen Verfassungsurkunde nach Lückenlosigkeit: ders. I I I , S. 338 ff., 339.

3.

h l i c h e Möglichkeiten

167

der Staatsfunktionen und die Wirkung der gesetzgebenden und der rechtsprechenden Gewalt verkennen, wollte man den verfassunggebenden und verfassungsändernden Gesetzgeber als Monopolisten ansehen. Umfassend ist die Verfassung nur i m negativen Sinn als Grenzen ziehender Maßstab, weil ihre Normen der ranghöchsten Stufe positiven Rechts angehören. Eine inhaltliche Einheit des verfassungsgeschichtlichen Typus w i r d so nicht erreicht. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht i m KPD-Urteil keine nicht-normative Einheit unterstellt. Der verfassungsgeschichtliche Typus kann wesentlich zur Arbeit m i t theoretischen Konkretisierungselementen beitragen. Nicht aber darf er idealtypisierend gegen geltendes Recht ausgespielt werden, sei es i m Widerspruch zu positiven Normen, sei es auf dem Weg ihres Ersatzes durch theoretisch entschuldigte Normanmaßungen. Das Einordnen verfassungsrechtlicher Kernbestimmungen des Grundgesetzes i n die moderne Verfassungsgeschichte bleibt i m KPD-Urteil zu Recht zweitrangig; dagegen trägt das die Entscheidung, was der Senat „Gesamtinterpretation des Grundgesetzes" nennt. Diese ist i n der Sache keine ganzheitliche Interpretation „des" Grundgesetzes, sondern eine über Art. 79 Abs. 3 GG gesteuerte Konkretisierung je einzelner für diese Verfassungsordnung zentraler Normen. 3.23 Legitimierende Einheit

Es ist dieses Vorgehen, das die Formulierung des legitimierenden Kerns der Verfassung vom normgelöst holistischen Unterstellen eines Verfassungsganzen und seiner Einheit unterscheidet. Die Grundsätze der A r t . 79 Abs. 3, Art. 1 und 20 GG, ferner Grundrechte, Minderheitenschutz und Rechte der Opposition legitimieren inhaltlich das vom Grundgesetz verfaßte Gemeinwesen 423 . Es ist aber aus den genannten Gründen fragwürdig, vom legitimierenden Kernbestand auf wissenschaftlich plausible inhaltliche Einheit zu schließen. Dieses Ergebnis entspringt nüchterner Prüfung; es steht mit einem auf Einheit zielenden, i n seiner Arbeitsweise bei aller Verschiedenheit der Einzelpositionen eher idealistischen Traditionsstrang der Staats- und Verfassungslehre i n Widerspruch 424 . Auch unter dem Gesichtspunkt der Legitima423 Z u den normativen u n d verfassungstheoretischen Zusammenhängen der Grundprinzipien der Bundesverfassung: Hesse V I , S. 49 ff., 54 ff., 77 ff., 90 ff., 110 ff., 117 ff., 194 ff. Ebd., S. 5 ff. zur Aufgabe, politische Einheit zu bilden, u n d zu den Bedingungen der Legitimation durch Verfassung. 424 Siehe unter diesem Aspekt die Darstellung zu Georg Jellinek, Hans Kelsen, Carl Schmitt, Rudolf Smend und Hermann Heller sowie, unter dem Grundgesetz, zu Konrad Hesse u n d Günter Dürig bei: Göldner I I , S. 6 ff., 15 ff. Z u r K r i t i k am allzu harmonisierenden Integrationsbild Smends dessen Selbstkritik V, S. 480, sowie Kelsen I I , z. B. S. 22, 46, 58, 89 ff. u n d hierzu w i e derum Smend V, S. 481

168

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

tion ist eine inhaltliche Einheit der Verfassungsordnung ebensowenig dinglich vorzufinden oder als gegeben vorauszusetzen wie die politische Einheit des Staates. Eine pluralistische Verfassung ist mit der Vorstellung vom Staat als einheitlicher Substanz oder als blockhaft formalisierter juristischer Person nicht vereinbar. Sie läßt sich nicht als wie auch immer begründete substantielle Einheit deuten 425 . Dagegen kann eine Einheit der Verfassung nicht so i n Frage gestellt werden, wie es einige geläufige Widerspruchsthesen der staatsrechtlichen Dogmatik versuchen. Sie scheitern daran, bestimmte Spannungslagen i m Grundgesetz idealtypisierend zu übersteigern und damit Widersprüche zu behaupten, die bei rechtsstaatlich korrektem Konkretisieren der fraglichen Normen nicht entstehen. So sind Rechtsstaat und Sozialstaat als auf Verfassungsebene unvereinbar aufgefaßt worden 426 . Das Grundgesetz gibt aber keinen normativen Anhaltspunkt dafür, den sozialen Rechtsstaat i n einen Sozialstaat und einen Rechtsstaat zu zerlegen, die einander antinomisch entgegengesetzt werden könnten. Vielmehr sind an den Staat des Grundgesetzes durch die Verfassung beide Forderungen gleichrangig gestellt. Ihre Erfüllung ist i n den verschiedenen staatlichen Funktionen an den Maßstäben beider wechselseitig zu orientieren 427 . Die von der Wirklichkeit des fortschreitenden Zwanzigsten Jahrhunderts gegebenen Aufgaben gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Steuerung, Intervention und Planung, der Garantie eines Mindeststandards für alle Staatsbürger und einer sozial orientierten Umverteilung werden unter die Gebote des Rechtsstaats gestellt. Das Grundgesetz fordert einen demokratisch organisierten freiheitlichen Sozialstaat, der die für ihn typisch gewordenen Aufgaben gleichheitlich und i n rechtsstaatlichen Formen zu erfüllen hat. Ebensowenig würde die Annahme einer legitimierenden Einheit des Grundgesetzes daran scheitern, daß von seiner sonstigen Ordnung eine sogenannte Wirtschaftsverfassung abgespalten werden könnte. Es hat die private Wirtschaft nicht i m Sinn eines zwingenden Systems oder Modells geordnet und die gesetzgebende Gewalt nicht durch spezifische Verfassungsnorm an feste wirtschaftspolitische Richtlinien gebunden. Insofern ist es wirtschaftspolitisch neutral 4 2 8 . 425 Z. B. Ehmke IV, S. 42 ff., 44, 46 f. u. ö.; Scheuner X V , S. 33 ff.; Göldner I I , S. 25, 26 ff., 78 ff. m. Nw.: Spannungen prägen die Ordnung des Grundgesetzes als die eines pluralistischen Rechtsstaats stärker als Elemente von Einheit. 426 Vor allem Forsthoff I X , S. 19 u. ö. 427 Siehe etwa Hesse I I I , S.78ff.; dens. V I , S.84ff.; Bäumlin I, S.5; Peters I I , S. 123. — Der Begriff „sozialer Rechtsstaat" ist schon am Ende des Ersten Weltkrieges aufgetaucht und vor allem über seine Formulierung bei H.Heller I I , S. 9, 10, 18, 26 w i r k s a m geworden; zur Begriffsgeschichte: Contiades, S. 93 f. A n m . 76. 428 Siehe das Investitionshilfe-Urteil und das Apotheken-Urteü: BVerfGE

3.

h l i c h e Möglichkeiten

169

Schließlich ist es verfassungsrechtlich auch nicht begründet, dem Grundgesetz einen unauflösbaren Widerspruch zwischen den Idealtypen eines klassisch liberalen Parlamentarismus u n d moderner Parteienstaatlichkeit zu unterstellen 429 . Das Bundesverfassungsgericht läßt zwischen A r t . 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 21 GG jedenfalls i m Ansatz „prinzipielle Unvereinbarkeit" walten, die aber gegenseitige Vermittlung nicht ausschließen muß 4 3 0 . Das Grundgesetz hat sowohl den Parteien einen wichtigen Stellenwert i m Verfassungsrecht eingeräumt als auch das freie Mandat der Abgeordneten normiert. Damit stellt es klar, daß weder das eine noch das andere als verfassungsgeschichtlicher Idealtypus übernommen wurde. Vielmehr ist ein keineswegs modellhaft geschlossenes Konzept von Demokratie positiviert worden, das beide Normen als nebeneinander geltendes Verfassungsrecht zu achten gebietet. Die Aufgabe systematischer Interpretation w i r d also durch die Gleichzeitigkeit und Gleichrangigkeit der beiden Vorschriften und durch i h r gegenseitig einschränkendes Verhältnis geprägt. Das freie Mandat schließt jede Rechtswirkung von Sanktionen der Fraktion oder Partei gegen Abgeordnete aus und gibt diesen eine selbständigere Stellung gegenüber beiden als i n Systemen m i t speziell-imperativem oder generell-imperativem Mandat. Ein nicht nur geistesgeschichtlichidealtypischer Widerspruch ohne Rechtswirkung, sondern eine normative Antinomie läge nur dann vor, wenn die Normtexte beider Vorschriften eine solche zum Ausdruck brächten: wenn also etwa A r t . 21 GG m i t deutlichem Wortlaut normieren würde, die Parteien und Fraktionen seien befugt, ihren Abgeordneten Weisungen und Aufträge zu erteilen. Einen solchen Normtext enthält das Grundgesetz aber nicht. Das, wie meistens i n der Realität, gemischte B i l d w i r d nur dadurch zum angeblichen normativen Widerspruch, daß der Parteienstaat und der klassisch liberale Parlamentarismus u m der Reinheit der Lehre 4, S. 7 ff.; 7, S. 377 ff., 400; ferner z.B. BVerfGE 14, S. 19 ff., 23; 30, S. 292 ff., 315. Z u r Diskussion u m die Wirtschaftsverfassung grundlegend Ehmke I I I , 5. 7 ff., 18 ff., 41 ff. u. ö. m. N w . ; ders. I V , S. 45 f. m. N w . sowie bereits E. R. Huber I, S. 23 ff.; ferner Scheuner X I I I , S. 21 ff.; Badura V I , S. 205 ff., 208; zuletzt Saladin , S. 7 ff., z. B. 10 ff. m. Nw. u n d Papier S. 55 ff., v o r allem S. 71 ff. m. N w . 429 So aber vor allem Leibholz I I I , S. 112 ff. Ebenso beispielsweise Grosskreutz, S. 10 ff., 15 f.; allerdings auch ebd., S. 17: Der Widerspruch schränke die beteiligten Normen n u r faktisch ein, nicht i n der Geltung, wie auch immer das zu verstehen sein mag; vgl. ferner ebd., S. 18 f., 107; i m Sinn von Engisch V I , S. 165 ff., 167 ff. dürfte es sich bei dem von dieser Auffassung behaupteten Widerspruch zwischen A r t . 21 und 38 Abs. 1 Satz 2 GG u m einen Prinzipienwiderspruch handeln. 430 BVerfGE 2, S. 1 ff., 72 f.; siehe auch das K P D - U r t e i l , das ein gewisses Spannungsverhältnis u n d die Notwendigkeit einer freiheitlich demokratischen Lösung m i t veriassungspolitischen M i t t e l n annimmt: BVerfGE 5, S. 85 ff., 233 f. — Die Gegenposition zur idealtypisierenden Behandlung der Frage findet sich besonders k l a r bei Ehmke V, S. 80 f. ; sowie bei Hesse V I , S. 241 ff.

170

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

willen je für sich zum scharfkantigen, das andere Prinzip ausschließenden Idealtypus zugeschliffen werden. Das freie Mandat und die Stellung der Parteien nach dem Grundgesetz entstammen verschiedenen verfassungshistorischen Schichten unserer Rechtsentwicklung; das für praktische Rechtsarbeit Entscheidende liegt aber nicht i n dieser Tatsache, sondern darin, daß A r t . 21 und Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nebeneinander normiert sind. Keine der beiden Vorschriften darf so behandelt werden, daß sie gegenüber der anderen allein den Vorrang erhält. Je nach dogmatischem Problem und je nach der Lage des Rechtsfalls sind sie — und i m Zusammenhang m i t ihnen die anderen für den Fall ergiebigen Normen — methodisch zu konkretisieren. Die genannten Paradefälle verfassungsrechtlicher Antinomien unter dem Grundgesetz sind bei nüchterner Prüfung weniger dramatisch, als es zunächst den Anschein hat. Sie sind keine Widersprüche i m Verfassungsrecht. Dennoch w i r d aus anderen Gründen eine inhaltliche Einheit der Verfassung auch nicht i n Gestalt eines legitimierenden Gesamtgehalts erkennbar: Das Grundgesetz schweigt auch über solche Themen, die für Legitimation erstrangig geworden sind. Es hält auch solche Fragen offen, die eine Entscheidung verlangt hätten. Es läßt auch solche Kompromisse zu, die Legitimität mindern können. Es verwendet Blankettbegriffe, die auch illegitime Praktiken und selbst verfassungsrechtlich illegale Entscheidungsnormen sprachlich zu decken vermögen 431 . Das Grundgesetz als bürgerlich-liberale Verfassung hat bei den Grundrechten deutliche Wirkungsgrenzen, wie die Schwierigkeiten einer leistungsrechtlichen Deutung von Freiheitsgarantien zeigen. Auch die Interpretation einzelner Freiheitsrechte i n Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip 432 greift gegenüber real entstandenen Ansprüchen auf legitimierende A n t w o r t des Staates oft notwendig zu kurz. Alle Subjekte der Grundrechtsausübung, alle Objekte von Grundrechtsbegrenzung unterliegen gesellschaftlicher Ungleichheit. Die Grundrechte wiederholen nicht nur Ungleichheit i n bezug auf die soziale Realität; sie verstärken sie auch, soweit die Möglichkeit, Grundrechte einzulösen, von der gesellschaftlichen Stellung der Berechtigten wesentlich abhängt. So ist es kein Zufall, daß es i n der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts schon mehrere Ansätze gegeben hat, die liberalen Grundrechte für alle wirksam zu machen: in der Debatte u m die D r i t t w i r k u n g der Grundrechte gegen eine soziale Uber431 Z u Leerformel-Begriffen: Denninger I, S. 1161; sowie ebd., S. 25 ff. am Beispiel des Menschenbildes u n d der Menschenwürde. — Allerdings ist das sogenannte Menschenbild k e i n Begriff des Grundgesetzes, auch erscheint die Rede v o n der Unantastbarkeit der Menschenwürde i n A r t . 1 Abs. 1 GG nicht n u r als manipulierbare Leerformel. 432 BVerfGE 33, S. 303 ff., 330 ff. (Numerus-clausus-Urteil). Aus der Diskussion: Scheuner X I I ; Martens } S. 7 ff. und vor allem Häberle IV.

3.

h l i c h e Möglichkeiten

171

macht, die m i t gesellschaftlichem, vor allem wirtschaftlichem Druck stärker wirken kann als Eingriffe des Staatsapparats; ferner durch solche Maßnahme der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt, durch die grundrechtliche Freiheiten unter heutigen Bedingungen vielfach erst zu gesellschaftlich wirksamer Freiheit werden können; und schließlich durch das genannte Vorhaben, Grundrechte jedenfalls stückweise i n Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und einem nicht nur negativ verstandenen allgemeinen Gleichheitssatz i n Teilhaberechte umzudeuten 433 . Aber auch dieser Versuch stößt auf enge verfassungsrechtliche Grenzen. Unmittelbare Leistungsrechte können so nicht geschaffen werden. Individuelle Teilhaberechte als Ansprüche auf staatliche Leistung lassen sich verfassungsrechtlich nicht begründen 434 . Es wäre zudem m i t der Abgrenzung der Funktionen durch das Grundgesetz nicht vereinbar, inhaltliche Ansprüche auf staatliche Leistung unter Umgehung des Gesetzgebers allein durch die Gerichte einzuführen. Gerade dort also, wo sich i n der jüngeren Entwicklung immer stärker die Frage nach der Legitimität staatlicher Herrschaft entscheidet, steht die Verfassungsordnung des Grundgesetzes unter einem für bürgerlich-liberale Verfassungen typischen Funktionsvorbehalt. Sie steht ferner unter dem Vorbehalt ihrer Vereinbarkeit mit der tatsächlichen Sozialstruktur und unter dem der Finanzierbarkeit von Maßnahmen der öffentlichen Hand. Beide Grenzen sind als der Verfassungsordnung immanente, ihre Wirksamkeit hemmende Faktoren, als Elemente der Geltungsstruktur des positiven Rechts formuliert worden 4 3 5 . Schließlich kann es das Grundgesetz nicht verhindern, daß sich gesellschaftliche Realität mit ihren Widersprüchen als systemnotwendige Grenze legislatorischer, exekutivischer und judizieller Entscheidungsalternativen auswirkt, daß sich gesellschaftliche Implikationen der Verwirklichung verfassungsrechtlicher Ordnungsgebote entgegenstellen. Und es kann ebensowenig ausschließen, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit Dezisionen an die Stelle korrekter Konkretisierung setzt, indem sie geltendes Recht verbiegt oder nicht-normative Vorstellungen und Wünsche als geltendes Recht unterstellt 4 3 6 . Die Ordnung des Grundgesetzes kennt also eine Reihe besonders legitimierender Normen und Einrichtungen, nicht aber eine vorgegebene legitimierende Einheit. Allerdings ist damit nur eine Illusion 433

Hesse V I , z. B. S. 87, 123 f., 129 ff.; F. Müller X I I , S. 63 ff. u. ö. Dazu Friesenhahn , S. G 29 ff. ; Hesse V I , z. B. S. 123 f. 435 Zu systemtypischen Brechungen und Vorbehalten beim Verwirklichen des geltenden Rechts und zur Geltungsstruktur als einem Ansatz der Rechtstheorie: F. Müller X I I , S. 98 ff., 100 ff. 430 Dazu unter grundsätzlichen Aspekten der Rechts- und Verfassungstheorie: F. Müller X I I , S. 19 ff., 24 ff., 28 ff., 36 ff., 44 ff. 434

172

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

verloren, nicht aber die Frage als unfruchtbar erwiesen. Als Forderung muß eine solche Einheit u m des demokratischen Rechtsstaats w i l l e n festgehalten werden. Sie formuliert verfassungstheoretisch die legitimierende Grundlage dieser Ordnung, die eine Rechtsordnung für alle sein w i l l , nicht ein Teilrechtssystem der herrschenden zur Niederhaltung der beherrschten Klasse. Institutionelle Garantien für diese i n Anspruch genommene Einheit von Recht und Verfassung sind die demokratische Erzeugung von Recht und die Bindung der dieses Recht konkretisierenden anderen Staatsfunktionen an die positive Norm. Ist das eine oder das andere nicht mehr gewährleistet, so zerfällt die Rechtsordnung unter dem ideologischen Schein ihrer gleichheitlichen Einheit: i n ein demokratisch erzeugtes Volksrecht und ein sich von i h m abkoppelndes Amtsrecht, das i m Konfliktsfail jenes überspielt. Dies geschähe durch die Praxis einer Justiz und Exekutive ohne methodisch korrekt und gleichheitlich kontrollierbare, also ohne normativ gebundene Praktiken der Normumsetzung. Unter dem Grundgesetz dürfen vollziehende und rechtsprechende Gewalt einschließlich des Bundesverfassungsgerichts nicht Prätor spielen. Figur und Funktion des römischen Prätors setzten einen nicht nur tatsächlichen, sondern auch rechtlich abgesicherten Systemdualismus voraus. Ein institutioneller Dualismus ist aber mit den Legitimitätsansprüchen einer Ordnung wie der des Grundgesetzes nicht vereinbar. Recht und Verfassung würden sonst i n der Tat als Waffenstillstandslinie i m latenten Bürgerkrieg, als ein mit methodisch doppelter Moral geführtes Instrument i n einer Auseinandersetzung ohne Waffengleichheit mißbraucht. Art. 20 Abs. 2 und 3, Art. 1 Abs. 3, 79 Abs 3, 19 GG sowie die Gleichheitsgebote und Diskriminierungsverbote des Grundgesetzes sprechen, wie die sonstigen Legitimität begründenden Normen auch, eine andere Sprache. Sie dürfen nicht auf eine A r t konkretisiert werden, die sich als quasi-prätorisches Amtsrecht über demokratisch erzeugtes Volksrecht und über Direktiven der Verfassungsstufe hinwegsetzt 437 . Für die tägliche Rechtsarbeit der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt folgt daraus die Forderung, die methodenrelevanten Rechtsstaatsnormen und sonstige methodenbezogene Regeln des positiven Rechts i n jedem Konkretisierungsvorgang vollständig heranzuziehen und sie ernst zu nehmen. Sie sind unter Stichworten wie Normklarheit und Methodenehrlichkeit hier schon besprochen worden. Die Gleichheitssätze und Diskriminierungsverbote des Grundgesetzes ver437 Siehe aber etwa, u m hier nur ein Beispiel zu nennen, die alarmierende A r t , auf welche die Mehrheit des Zweiten Senats A r t 79 Abs. 3 GG i m A b h ö r U r t e i l verstanden wissen w i l l : BVerfGE 30, S. 1 ff., 2 Leitsatz 5, 24; dagegen die Abweichende Meinung, ebd., S. 33 ff., 41.

3.

h l i c h e Möglichkeiten

173

pflichten über Art. 1 Abs. 3 GG die staatlich bestellten Rechtsfunktionäre i n Gesetzgebung, Vollziehung und Justiz auf gleichheitliches methodisches Arbeiten . Jeder Betroffene hat einen Anspruch von Verfassungsrang darauf, daß das ihn betreffende Recht durch korrekte und offene Methodik gleichheitlich verwirklicht werde. „ A l l e Menschen" i m Sinn von Art. 3 Abs. 1 GG sind nicht i n erster Linie vor dem abstrakten Gesetz, vor dem Normtext der Rechtsnorm „gleich", sondern vor dem angewandten Gesetz, vor der Entscheidungsnorm. Diese muß der Rechtsnorm auf eine methodische Weise zurechenbar sein, die nicht nur den nicht-normativen Kunstregeln und den methodenrelevanten positiven Vorschriften gerecht wird, sondern auch allen auf den Fall passenden verfassungsrechtlichen Gleichheitsgeboten und Verboten von Diskriminierung 4 3 8 . So w i r d die Forderung nach legitimierender Einheit des Rechts durch Praxis als Anspruch bewußt gehalten. I m übrigen hat sich eine Einheit der Verf assung i n diesem Sinn nicht als etwas herausgestellt, das inhaltlich voraussetzbar wäre, aus dem es sich deduzieren ließe, und auch nicht als rational handhabbares selbständiges Argument praktischer Rechtsanwendung. 3.24 Funktionale Einheit

Die Aussagen zu einer funktionalen Einheit von Verfassung oder Rechtsordnung haben gemeinsam, diese Einheit nicht als gegeben, wohl aber als erstrebenswert und aufgegeben anzusehen. W i r d zum Beispiel aus sachlich nicht zwingenden, aber historisch angebbaren Gründen die Gesamtrechtsordnung i n die beiden einander ausschließenden komplementären Rechtskreise des öffentlichen Rechts und des Privatrechts gespalten 439 , so kann demgegenüber die Einheit von privatem und öffentlichem Recht i m Sinn des übergreifenden Normenbestandes beider Bereiche oder i m Sinn eines funktionell verstandenen Ganzen der Gesamtrechtsordnung gefordert werden. Das Ganze erscheint hier nur als Negation der Aufspaltung oder als Summierung der abgespaltenen Teilbereiche. Es ist als solches ohne Aussagekraft und macht nur die Trivialität geltend, mit sich selbst identisch zu sein. I m Bereich der Verfassung stellt sich diese Frage nicht. Daher w i r d deren Einheit als aufgegebener Zustand, als anzustrebendes Ziel stets vor dem Hintergrund der hier untersuchten Argumente postuliert, die eine solche Einheit gerade als nicht gegeben erweisen. 438 Dieser Ansatz ist unter dem Stichwort eines Grundrechts auf Methodengleichheit formuliert bei F. Müller X I I , S. 65 ff. 439 Dazu eingehend Bullinger , S. 13 ff.; zu Sinn u n d Funktionen der U n t e r scheidung i n der gegenwärtigen Rechtsordnung ebd., S. 75 ff.; zur Sicht der Rechtsordnung als eines funktionalen Ganzen, das nicht i n Privatrecht u n d öffentliches Recht aufgeteilt werden sollte, ebd., S. 112 ff.; zur Einheit von privatem und öffentlichem Recht schon Engisch I, S. 36 u. ff., 76 f. m. Nw.

174

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

I n zwei Fällen ist die Rede von einer einheitstiftenden Funktion positivrechtlich gestützt: für die Verfassung als ranghöchsten Normenkomplex der Rechtsordnung und für das Verhältnis des Grundgesetzes zu seinen Notstandsnormen. Das Bundesverfassungsgericht spricht beispielsweise i n der Entscheidung zur situationsbedingten Kriegsdienstverweigerung beim Auslegen des Begriffs „Gewissen" für Art. 4 Abs. 3 Satz 1 und 4 Abs. 1 GG davon, die Verfassungsgrundlagen seien für alle Staatsbürger einheitlich zu sehen und die Verfassungsorgane müßten die Einheitlichkeit der Rechtsordnung für alle Staatsbürger gewährleisten. Der Grund dafür liege i n der Aufgabe der Verfassung, das Zusammenleben i m politischen Gemeinwesen möglich zu machen 440 . Die Verfassung ist normative Grundlage für alle Gebiete des positiven Rechts. Sie kann nicht dessen inhaltliche Einheit herstellen oder die Rechtsordnung zu einem materialen Ganzen machen. Wohl aber steuert sie dadurch, daß sie für einzelne Gebiete Rechtsgrundsätze formuliert und daß sie durchweg als Maßstab für Unterverfassungsrecht dient. Ihre Aufgabe ist also i m genauen Sinn nicht die, Einheit zu erzeugen, wohl aber Abweichungen von ihren Maßstäben zu verhindern. Sie vermittelt Legitimität für diejenigen Vorschriften des Unterverfassungsrechts, die — an ihr gemessen — korrekt, also legal gesetzt worden sind und für solche Entscheidungsnormen, die jedenfalls ohne Verstoß gegen spezifisches Verfassungsrecht erzeugt wurden. Durch ihre Maßstabsfunktion vermindert sie auch die Entscheidungslast des Gesetzgebers 441 . Sie gibt Funktionen, Kompetenzen und Verfahren an, die Regeln für Entscheidungsprozesse und für politisches Handeln aussprechen und nach denen offen gelassene Fragen zu entscheiden sind. Sie strukturiert und begrenzt die Form des Austragens und Entscheidens von Konflikten und setzt der öffentlichen Gewalt, beispielsweise durch Zuständigkeitsnormen und Verfassungsaufträge, inhaltliche Ziele. Sie versucht, einen offenen demokratischen Prozeß auf Dauer möglich zu machen und die rechtlich gegründete Freiheit von einzelnen und Gruppen gegen Mißbrauch von Macht formal zu sichern. I n all diesen Fällen w i r k t sie — besonders nachhaltig durch das unmittelbare Gelten der Grundrechte und die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde (Art. 1 Abs. 3, 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG) — auf die Gebiete der Rechtsordnung ein. Auch ohne Postulate einer materialen Einheit, einer Wertordnung oder eines Wertsystems läßt sich eine Verfassung als mehr verstehen denn als ein sachleeres, nur formalistisch bestimmtes Gerüst von Normtexten. Geschichtliche und politische Funktion einer Verfassung ist es, bestimmende Grundordnung eines bestimmten Ge440 BVerfGE 12, S. 45 ff., 54 f. Aus der L i t e r a t u r z. B. H. Heller I I I , S. 271 f.; siehe auch ebd., S. 182 ff.; Herbert Krüger I V , S. 689; Badura I I I , S. 32, 34 f.; Hesse V I , S. 5 f., 9, 13 f. 441 Z u diesem Punkt Grimm, S. 498.

3.

h l i c h e Möglichkeiten

175

meinwesens mit seinen unterschiedlichen und gegeneinander gerichteten Kräften zu sein. Wie alle positiven Normen ist auch Verfassungsrecht Entscheidung. Das Grundgesetz hält sich aus den Auseinandersetzungen seiner Gesellschaft nicht neutral heraus. M i t den Mitteln des Rechts bezieht es i n Grundfragen positiv Stellung, schafft es Markierungen und errichtet negativ Grenzen, und zwar mit strukturell und funktionell wechselnden Graden normativer Dichte 442 . Selbst eine nur funktionale Einheit der von i h m verfaßten Gesellschaft kann das Grundgesetz aber auch i n dieser Deutung nicht erreichen. Gute Vorsätze des Verfassungstextes und auf Einheit zielende Bemühungen der Rechtslehre verstärken, wenn überhaupt, dann nur geringfügig die Möglichkeiten der Verfassung, gesellschaftliche Realität tatsächlich zu beeinflussen. Was eine Verfassung in der wirklichen Gesellschaft zu sagen hat und was ihre feststellbare Funktion ist, kann aus dem Studium von Verfassungsurkunden und wissenschaftlicher Lehre noch weniger zuverlässig bestimmt werden als aus Begründungstexten praktischer Rechtsentscheidung. Zudem unterliegt auch Verfassungsrecht den allgemein formulierbaren Bedingungen der Geltungsstruktur positiven Rechts. Es enthält nicht nur Leistungsgrenzen, sondern auch Funktionsvorbehalte und Geltungshemmungen, deren Wirkung nicht zuletzt von den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen und ihrer weiteren Entwicklung bestimmt wird. Die brauchbarste Handhabe der Aktualisierung von Verfassungsrecht, die Verfassungsgerichtsbarkeit, unterliegt ihrerseits dem Druck des gesellschaftlichen Umfelds. Sie w i r d kaum je über den Schatten der politischen Gesamtlage zu springen bereit sein. Sie kann sich gesellschaftlichen Implikationen i n ihrer täglichen Arbeit nicht entziehen. H i n und wieder, oft i n besonders konfliktgeladener Lage, greift sie zum Mittel der Dezision 443 . Festzuhalten bleibt, daß Verfassungsrecht das Gemeinwesen und seine Rechtsordnung normativ tragen soll. Seine Vorschriften sind durch ranghöhere Vorschriften nicht abgesichert. Legalität und Legitimität der Teilrechtsgebiete gelten als durch die Verfassung aufrechterhalten, 442

Vgl. auch die soziologische Sicht der F u n k t i o n einer modernen Verfassung als abstrahierender, ausdifferenzierender, ausgrenzender u n d insgesamt „selektive(r) Selbstfestlegung der Identität des politischen Systems i m Rahmen gesellschaftlicher Möglichkeiten" bei Luhmann V, z.B. S. 21 (Verfassung k a n n die Totalität der Gesellschaft nicht planen u n d normieren), 165 ff. (Verfassen durch Negationen), 172. — F ü r Verfassungsrecht u n d Verfassungslehre wenig ergiebig sind ganzheitliche Aussagen über die Gesellschaft, so bei Schindler, S. 9 über das soziale Leben als „strukturierte Ganzheit" oder bei H. Heller I I I , S. 187 f. über den Zusammenhang einer Rechtsnorm „ m i t der Totalität der gesellschaftlichen Wirklichkeit, innerhalb welcher die N o r m g i l t " ; vgl. a. ebd., S. 254 f. — Z u r Auseinandersetzung m i t abstrakt dialektischen, abstrakt polaren oder abstrakt korrelativen Theorien einer V e r m i t t lung von Norm u n d W i r k l i c h k e i t : F. Müller I I I , S. 24 ff. u. durchgehend. 443 Dazu F. Müller X I I , S. 18 ff., 28 ff., 44 ff., 55 ff., 58 ff. u. ö.

176

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Legalität und Legitimität der Verfassungsordnung kann diese nur selbst zu gewährleisten suchen. I n genau diesem Zusammenhang ist es zu sehen, wenn sich das Grundgesetz wie i n der Präambel oder in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG auf „das" Volk beruft. Neben den auf normativ höchster Ebene gesetzten Verfahren und Maßstäben, die Legalität sichern sollen, steht der Anspruch, auch Legitimität als das inhaltlich zu akzeptierende Richtige des Sozialverbandes zu erzeugen und zu erhalten. Sie soll in täglicher Praxis auf eine Weise konkretisiert werden, die für „das" Volk annehmbar bleibt; und das heißt: nicht nur für die herrschenden Gruppen, sondern auch für die loyalen Massen 444 . Einen Zustand von Einheit schafft all dies freilich nicht, und es fragt sich, ob es überhaupt Einheit ist, die funktionell angezielt werden soll. Die Wirklichkeit, auch die so verfaßte, weist keine Einheit auf, es sei denn für ein metaphysisches Credo, eine politische Ideologie oder ein tautologisches Mißverständnis. Die Aussagen der Rechtsprechung schwanken zwischen diesen Möglichkeiten eher unbestimmt h i n und her. I n der Sprache der Ontologie formuliert das Bundesverfassungsgericht i m Urteil zur badischen Kirchenbausteuer, es sei das Wesen der Verfassung, eine einheitliche Ordnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens der staatlichen Gemeinschaft zu sein. Diese massive Formel schreibt der rechtlichen wie der gesellschaftlichen Verfassung Einheit zu (Einheit der Verfassung als eines logisch-teleologischen Sinngebildes — Einheit der Ordnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens) und ist nahe daran, beide ineinszusetzen. Bloß formal in dem Sinn, daß die Verfassung als höchstrangiges Normensystem die ganze Rechtsordnung zu fundieren hat, ist die Aussage offenbar nicht gemeint, denn sie w i r d mit dem Gebot grundsatzkonformer Verfassungsauslegung und mit der Annahme einer materialen Werteordnung der Verfassung verknüpft 4 4 5 . I n vielen Fällen geht auch sonst die Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts davon aus, die Einheit des Grundgesetzes könne als gegeben behandelt werden. Nur i n der gelegentlich aufgefrischten Tradition des Ersten Senats seit dem GleichberechtigungsUrteil 4 4 6 handelt es sich darum, vermeintliche Normwidersprüche des Verfassungsrechts i m Einzelfall mit normalen Mitteln der Interpre444 Dazu F.Müller X , z.B. S. 141 ff.; zur verfassunggebenden Gewalt ebd., S. 143 f. 445 BVerfGE 19, S. 206 ff., 219 f. — I n der Rechtsprechung seit BVerfGE 2, S. 380 ff., 381 Leitsatz 4, 403 sollen es die dem vorverfassungsmäßigen Gesamtbild entstammenden allgemeinen Grundsätze und Leitideen sein, die den Normenbestand der Verfassung verbinden und innerlich zusammenhalten. — I n der Rechtsprechung seit dem Südweststaats-Urteil (BVerfGE 1, S. 14 ff., 32) w i r d die „innere Einheit", i n der Formulierung des Konkordats-Urteils (BVerfGE 6, S. 309 ff., 361) w i r d die „innere Harmonie" des Verfassungswerks schlicht unterstellt. 446 BVerfGE 3, S. 225 ff., 231, 241 f.

3.2 Inhaltliche Möglichkeiten

177

tation durch „richtige Zusammenschau" auszuräumen. Eine Begründung dafür, Einheit zu unterstellen, w i r d nicht geliefert. Eine Ausnahme macht eben allein das Urteil zur badischen Kirchenbausteuer, i n dem die Einheit der Verfassung als „logisch" wie auch „teleologisch" bezeichnet und ihr Grund i m „Wesen" der Verfassung gesehen wird, einheitliche Ordnung der Gesellschaft „zu sein". Eine wohlwollende Auslegung w i r d das als Aussage zur Funktion der Verfassung und die „einheitliche Ordnung" nicht als Gegebenheit, sondern als Zielbegriff auffassen. Aber auch so ist, wie gezeigt wurde, diese Rechtfertigung einer Einheit des Grundgesetzes nicht zu halten. Als liberale Verfassung normiert das Grundgesetz Organe, Funktionen, Kompetenzen und Verfahren, versucht es sie einander zuzuordnen, gibt es Maßstäbe, Rechte und einzelne verbindliche Aufträge und regelt es i m übrigen die gesellschaftlichen Aktionen und Interaktionen außerhalb des Staatsapparats durch allgemeine Grundsätze sowie typisch durch Aussparen, durch negatives Aus- und Abgrenzen. Das ist keine inhaltlich einheitliche Wirkungsweise. Es ergibt auch keine „logische" Einheit als „Sinngebilde", nur ein typologisches Muster liberaler Verfassungsfunktion. Und schon gar nicht w i l l ein liberales Grundgesetz eine „einheitliche" Gesellschaft erzeugen. Aber selbst wenn noch wohlwollender interpretiert und auch diese Aussage nicht auf die Goldwaage gelegt werden soll, überzeugt die bisher einzige richterliche Begründung der Figur einer Einheit der Verfassung nicht. Der Nexus zwischen der Verfassung als einem einheitlichen Sinngebilde und ihrer Funktion (ihrem „Wesen"), die Gemeinschaft i m ganzen einheitlich zu ordnen, unterschlägt das Wichtigste: wie denn die Verfassung und ihre Interpreten dieser Aufgabe genügen können. Das Gericht unterstellt offenbar: durch Rechtsgrundsätze und Generalklauseln, durch postulative Argumente, die unvollständig bleiben, verdeckt arbeiten und sich der Kontrolle durch andere entziehen dürfen. Wäre etwas anderes gemeint, so hätte der Senat mit dieser seiner Begründung nämlich das Gegenteil zu rechtfertigen gehabt: Weil es Aufgabe der Verfassung ist, das Gemeinwesen einheitlich zu ordnen — was i m Augenblick unterstellt werden soll — und weil diese Aufgabe nicht nur rhetorisch, sondern durch vollständige, offene, dogmatisch und methodisch rational arbeitende Normkonkretisierung zu erfüllen ist, darum ist das Argument aus der Einheit der Verfassung weder normativ, noch ein besonders starker Auslegungsgrundsatz, sondern nur ein diskutables verfassungspolitisches Element — und nicht „vornehmstes Interpretationsprinzip". Eine Sonderstellung haben die Notstandsartikel. Von ihren Voraussetzungen her gelten sie nicht für die Normallage. Damit bilden sie eine rechtlich abgegrenzte Teilmenge von Verfassungsvorschriften, die es nicht zuläßt, von einer durchweg einheitlichen Struktur des Grund12 F. M ü l l e r

178

3 Systematische Möglichkeiten einer

Einheit der Verfassung"

gesetzes zu sprechen. Die Notstandsregeln färben nicht auf Dogmatik und Interpretation der Normalverfassung ab. Sie sollen es möglich machen, die von ihren Tatbeständen erfaßten Fälle mit Ausnahmemitteln zu bewältigen, falls die Normalverfassung dazu nicht in der Lage ist. Ähnlich wie die wehrhaften Vorkehrungen des Grundgesetzes gegen einen Mißbrauch verfassungspolitischer Freiheit (z. B. Art. 9 Abs. 2, 18, 21 Abs. 2 GG) rechtfertigt sich die Regelung des Notstands aus der Absicht, die Verfassung zu schützen. Normative Grundordnung des Staates und maßstäbliche Basis der Rechtsordnung ist das Grundgesetz. Die Notstandsregeln sind nicht in diesem selben Sinn fundamental. Sie sind nur instrumenten zu sehen: als Mittel in der Ausnahmelage mit dem Ziel, die für die Anwendung des Grundgesetzes als Normalverfassung erforderlichen äußeren Bedingungen wiederherzustellen. Daher ist weder die Frage nach einer Einheit der Notstandsverfassung noch die nach einer das Grundgesetz und die Notstandsnormen umschließenden Einheit dringlich. Die Notstandsnormen sind instrumenteil auf die Normalverfassung bezogen. Während ihrer aktuellen Geltung sind die Regeln des Grundgesetzes vorübergehend verdrängt, soweit besondere Notstandsvorschriften anwendbar sind und tatsächlich angewandt werden 447 . Ihre Verbindung zur Normalverfassung besteht in dieser Funktion und darin, daß sie den zu schützenden Kernbestand des Grundgesetzes um der Identität des Wiederherzustellenden mit der ursprünglichen Normalverfassung willen selbst respektieren. So ist Art. 79 Abs. 3 GG auf diesem Weg nicht auszuschalten. Auch bestimmen Art. 81 Abs. 4 und 115 e Abs. 2 GG, daß nach Ausnahmerecht erlassene Gesetze das Grundgesetz weder ändern noch außer Kraft oder Anwendung setzen dürfen. Die eng begrenzte, an spezielle Tatbestände gebundene Funktion der Notstandsnormen verbietet es, Gesichtspunkte, die aus ihnen gewonnen wurden, auf die Interpretation von Vorschriften der Normalverfassung übergreifen, Notstandsrecht i n das Recht der Normallage hineinwuchern zu lassen. Umgekehrt ist aber die Verfassung Maßstab und Ziel für die praktische Konkretisierung des Notstandsrechts. Kein Postulat einer Einheit der Verfassung darf dieses normativ begründete funktionale Regel-Ausnahme-Verhältnis verfälschen oder umkehren. Das Grundgesetz ist nicht von den Notstandsnormen her, diese sind vielmehr auf das Grundgesetz hin zu interpretieren. Beide Normengruppen bilden nicht zwei Teilverfassungen, die in beide Richtungen gegeneinander ausgespielt werden oder durch ganzheitlichen Vorgriff auf eine Einheit 447 Zur F u n k t i o n der Notstandsregelung des Grundgesetzes Hesse V I , S. 286 f.: Die Zielsetzung bestimmt Inhalt, M i t t e l und Grenzen der Notstandsmaßnahmen; vgl. ebd., S. 301 ff. zu Bedenken und Gefahren des geltenden Notstandsrechts.

3.

h l i c h e Möglichkeiten

179

der Verfassung unterschiedslos eingeebnet werden dürften. Notstandsnormen stehen nicht beziehungslos neben, über, unter oder sonst außerhalb des Geltungszusammenhangs der Normalverfassung; sie sind aber auch nicht einfach deren Teil wie andere Artikel. Die Regelung des Notstands gilt nicht unmittelbar und immer, sondern erst dann, wenn sie ausdrücklich i n Gang gesetzt worden ist. Notstandsnormen haben Sinn und Berechtigung nur von der Normalverfassung her und auf sie hin. Sie sind außergewöhnliche Mittel, eine A r t Notstromgenerator; nicht aber Regeln, die umstandslos neben die Regeln für die Normallage zu stellen und mit diesen systematisch zu vermitteln wären. Die rechtswirksame Feststellung des Notstands ist konstitutiv nicht nur dafür, daß Notstandsnormen angewandt werden dürfen, sondern auch dafür, mit ihrer Hilfe Argumente der Interpretation zu gewinnen. Das funktionelle Bezogensein von Normalverfassung und Notstandsregelung ist also nicht wechselseitig, sondern einseitig. Es zeugt nicht für eine einheitstiftende Funktion der Verfassung; i m Gegenteil w i r d hier eine Normengruppe m i t Rechtswirkung funktionell abgespalten. Sondern es zeugt für die auf Rückkehr zur Normallage und auf den Schutz des verfassungsrechtlichen Kernbestandes gerichtete Funktion des Notstandsrechts . Die Möglichkeit, wenigstens i m funktionalen Sinn eine inhaltliche Einheit der Verfassung anzunehmen, scheint unter den besprochenen Gesichtspunkten nicht gegeben. Viel optimistischer, allerdings auch entsprechend ganzheitlicher w i r d die funktionale Einheit der Verfassung von der materialen Verfassungsdoktrin der Integrationslehre eingeschätzt. Für Smend sind Staat und Verfassung eine geschichtlich, national und kulturell konkrete und individuelle Wirklichkeit, sind Staat und Recht selbstzweckhaft und eigengesetzlich real. Die Verfassung regelt den „Lebensvorgang des Staates i m ganzen", die „dauernde Erneuerung und Weiterbildung des staatlichen Willensverbandes als wirklicher Lebenseinheit" und damit „seine eigentliche Substanz selbst" als „fließendes ... Leben" 4 4 8 . Die Verfassung ist die Rechtsordnung einzelner Seiten dieser Lebenstotalität des Staates, seiner Integration; und ihr Sinn richtet sich „nicht auf Einzelheiten, sondern auf die Totalität des Staates und die Totalität seines Integrationsprozesses". Verfassung ist das Ganze aller Momente, die den prozeduralen Ablauf von Integration stabilisieren. Das Verfassungsrecht hat für den Vorgang der Integration die „funktionelle Bedeutung", einzelne seiner Seiten gesetzlich zu normieren und als „Anregung und Schranke" die Richtung 448 Smend I I , S. 91 f. Z u den i m Text folgenden Zitaten: ders. I I I , S. 187 ff., 189 f.; zur Verfassungsauslegung ebd., S. 190, 234, 239, 242 u n d ders. V, S. 476 sowie ders. V I , S. 484. Zur F u n k t i o n der Verfassung bei Smend vgl. v. a. Mols I, z. B. S. 199 ff.; dens. I I , S. 520 ff.

1

180

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

seiner Dynamik zu bestimmen. Die institutionellen Bedingungen der Stabilität des Integrationsvorgangs heißen „Verfassung"; das Verfassungsrecht hat diesen Vorgang i n Einzelheiten anzuregen, abzugrenzen und damit zu rationalisieren und zu stabilisieren 449 . Für die Auslegung der Verfassung folgt daraus, sie müsse ergänzenden Charakter haben, elastisch sein, von aller sonstigen Interpretation geltenden Rechts weit abweichen; die Einzelheiten des geltenden Staatsrechts seien auf die Sinntotalität h i n und „ n u r als Momente des durch sie zu verwirklichenden Sinnzusammenhanges, der funktionellen Totalität der Integration" auszulegen. Demgemäß forderte die Integrationslehre in der zunehmend kritischen Lage der Weimarer Verfassung deren einheitsstiftendes Verständnis: „Auch i n der Einzelheit" des geltenden Staatsrechts sei „aus dem geistigen Sinnzusammenhang des Verfassungsrechts i m ganzen" zu arbeiten 450 . Unter dem Einfluß dieser Lehre hat man dann die Verfassung als funktionale Einheit verstanden, die auf dem inhaltlichen Gesamtzusammenhang der konkreten politischen Ordnung eines Gemeinwesens beruhen soll; als einen „immer auf die Einheit des politischen Gemeinwesens gerichteten Ordnungszusammenhang" 451 ; als materiale Totalität, von der aus die Einzelheiten von Dogmatik und Methodik zu sehen seien und dynamisch beeinflußt würden 4 5 2 . Die Verfassung soll, wie es schon von Autoren wie Rudolf Smend und Carl Schmitt vertreten worden war, nicht nur die Summe aneinander gereihter Rechtssätze bilden. Sie sei von einer einheitlichen Konzeption getragen und unternehme es, „ein geschlossenes Ganzes der Ordnung des Staats- und Gemeinschaftslebens zu sein". Der Verfassunggeber erstrebe dieses Ganze; die Rechtssätze der Verfassung seien Ausdruck dieses Willens, sie müßten daher „ i m Lichte dieses Einheitsstrebens interpretiert werden" 4 5 3 . Die K r i t i k an dieser Sicht hat von Anfang an die Ungenauigkeit des Verfassungsbegriffs und die Tatsache hervorgehoben, daß der Gehalt der Verfassungsnormen von einem Gesamtsinn und einer funktionalen Wirklichkeit der Verfassung her bestimmt wird, die außerhalb ihrer liegen. Die Normativität geltenden Verfassungsrechts w i r d dadurch entscheidend eingeschränkt. Smend räumte in seiner Selbstkritik ein, die Eigenart des (Verfassungs)Rechts komme i n seinem Entwurf zu kurz, der zu sehr harmonisiere und für den Totalität sich beinahe 449

Die Zitate bei Smend I X , S. 61 f.; ferner ders. I I I , S. 189 f., 195. Smend I I I , S. 234, 239, 242; ders . V, S. 479. 451 Ehmke V , S. 77 u n d f. 452 Z . B . Bäumlin I ; Häberle I I I ; Scheuner I X , S. 53 u. ö.; zurückhaltender Hesse V I , S. 4 f., 5 ff.; Ehmke I, vor allem S. 88 f.; ders. V, S. 61 ff. Allgemein über die Funktionen der Verfassung: Stern, S. 61 ff.; speziell zu ihrer integrierenden Aufgabe ebd., S. 70 ff. m. Nw. 453 Stern, S. 107. 430

3.

h l i c h e Möglichkeiten

181

automatisch herstelle 454 . Materiale Verfassungstheorie darf nicht heißen: inhaltliche Gesamtaussagen, die über das positive Verfassungsrecht hinwegzugehen erlauben. Sie darf nicht zu globalen Theoremen verführen, die nicht hinreichend deutlich normativ abstützbar sind. Verfassungstheorie sollte nicht am Anfang der Rechtsarbeit mit einzelnen Normen und Fragen des Verfassungsrechts stehen. Sie kann sich erst im Verlauf solcher Arbeit von Praxis und Wissenschaft und i m Bemühen Vieler um verallgemeinerungsfähige Aussagen allmählich herauskristallisieren. „Einheit der Verfassung" kann bei korrektem Vorgehen dann wohl nicht mehr meinen als die Vereinbarkeit der positiven Verfassungsnormen miteinander, nicht aber eine Einheit neben- oder überpositiver Gehalte und ebensowenig das Arbeiten mit Trojanischen Pferden von Werten, Wertsystemen oder Vorrangthesen. Smend hat die Integrationslehre bis zuletzt als eine im Zusammenhang des Methodenstreits zu sehende juristische Theorie bezeichnet 455 . Es ist darum nicht unfair, sie auch als solche zu behandeln und mit Smend auf ihre Zeitbedingtheit hinzuweisen. Sie erblickt auf der einen Seite die Verfassung als „Lebensordnung", „die ein bestimmtes B i l d einer politischen Lebenswirklichkeit und Lebenstotalität zu verwirklichen sucht", auf der anderen „ein positivistisches und formalistisches Verständnis der Verfassung", das sich „auf die Feststellung der positiven Einzelbestimmungen beschränkt und diese mit den Mitteln formaler Logik verknüpft" 4 5 6 . Heute sind Verfassungsinterpretation und Verfassungstheorie auf die Wahl zwischen den beiden Möglichkeiten dieser Alternative aber nicht länger eingeengt. Die Einheit des Staates ist ebensowenig gegeben wie die der Gesellschaft; zudem ist der Staat nur ein gesellschaftliches Teilsystem. Seine Einheit und die der Verfassung können nur als verfassungspolitische Wunschvorstellungen vertretbar formuliert werden. Aber auch i n dieser Form ergeben sie kaum ein rechtsstaatlich rationalisierendes Instrument, keine selbständig handhabbare dogmatische Figur. Das Argumentieren mit der Einheit der Verfassung als einer inhaltlichen Totalität ist nicht nur dort grundlos, wo sie als vorgegebenes Datum behandelt w i r d ; sondern auch dort, wo sie, scheinbar bescheidener, als aufgegebenes Ziel erscheint 457 . 454 Smend V, S. 480 f. m i t der Erklärung, angesichts „des Chaos des k r a n ken Verfassungsstaates der 1920er Jahre" sei es das Anliegen der Integrationslehre gewesen, „den aufgegebenen gesunden Lebenssinn der Verfassung zu entwickeln", ebd. Z u r K r i t i k ferner Kelsen I I ; F.Müller I I I , S. 33f. u.ö.; Böckenförde I V , S. 2095; Mols I, z . B . S. 199 f.; Göldner I I , z.B. S. 63, 65, 78 und ff. 455 Smend V I I , Sp. 1025, 1026: „eine juristische Theorie richtiger u n d v o l l ständiger Auslegung der Verfassung". 456 Smend V I , S. 485. 457 I n einem Teilbereich der Verfassung ist das Bedenkliche des Ansatzes der Integrationslehre gesteigert deutlich geworden: beim durchgehenden politischen Funktionalisieren der Grundrechte und bei ihrem Verständnis als

182

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Ist es wissenschaftlich nicht sinnvoll, die Verfassung Einheit stiften oder sie für eine inhaltliche Ganzheit stehen zu lassen, so hat sie doch eine andere Funktion, die wohl nicht selten hinter der unglücklichen Rede von Einheit und Ganzheit steht. Es ist eine zentrale Aufgabe von Recht und Verfassung, zwischen gesellschaftlichen Gruppen und zwischen einzelnen den Frieden zu bewahren. Auch der innere Friede bedarf haltbarer Strukturen, und die vielleicht wichtigsten kann eine entwickelte Rechtsordnung liefern. Diese Funktion setzt gesellschaftliche Widersprüche, Uneinheitlichkeit und gegensätzliche Interessen geradezu voraus. Sie ist auch mit der sektoralen Natur von Staat und Verfassungsrecht sowie m i t der Lückenhaftigkeit und dem Kompromißcharakter positiver Normen vereinbar. Die Rede von Einheit und Totalität behält dagegen auch in eingeschränktester Form immer noch einen falschen Zungenschlag. Der Appell an einen aktiven Willen zur Verfassung und deren Sicht als kompromißhafte Ordnung und Spielregel unter dem Anspruch grundsätzlicher Gewaltlosigkeit fügen sich jedoch der friedenstiftenden Funktion von Verfassungsrecht sinnvoll ein 4 5 8 . Dieser Wille zur Verfassung ist allerdings nicht durch Aufrufe zu erzeugen. Er w i r d vor allem durch tatsächlichen Erfolg staatlicher Krisenbewältigung i n wirtschaftlichen und sozialen Fragen auf der Grundlage breiter Massenloyalität möglich, also durch Wirksamkeit des demokratischen Rechtsstaats in seiner historisch letzten Chance als sozialer Rechtsstaat 459 . Der Wille zur Verfassung ist ein Wille zum Beachten beziehungsweise zum richtigen Konkretisieren und Aktualisieren des Verfassungsrechts. Soll dieses normative Kraft entfalten, so kann dieser Wille nicht auf die Funktionsträger des Staatsapparats beschränkt bleiben. Nicht nur sie, sondern auch die Rechtswissenschaft, die (rechts)politische Diskussion und alle von Rechts- und Verfassungsnormen betroffenen Teilnehmer am gesellschaftlichen Leben sind, vielfältig verflochten, am Konkretisieren von Verfassungsrecht beteiligt. Sie alle haben die Chance und tragen das Risiko, dessen normative Kraft zu stärken oder zu schwächen 460 . Die Wünsche nach Einheit und Ganzheit scheitern am Werte u n d ihres Zusammenhangs als einer Werteordnung oder eines W e r t systems; dazu Smend I I , S. 91 ff.; ders. I I I , S. 265 f. Kritisch F.Müller III, S. 220 ff.; ders. V I I I , S. 17 ff.; ders . I X , S.21ff.; ders. X , S. 40 ff.; Goerlich I, S. 136 ff.; Hesse V I , z. B. S. 127. Gegen die totale politische Funktionalisierung der Grundrechte: F. Müller I I I , S. 220 ff.; ders. V I I I , S. 43. 458 E t w a BVerfGE 3, S. 225 ff., 237, 239; Hesse V I , S. 5 ff.; ders. V, S.441; F. Müller X , S. 16 f., 104 f. Z u Konventionalregeln i m Dienst des inneren Friedens: Kriele I, z.B. S. 13 f., 193 f.; allgemein Stern , S. 70 ff. (nationale Einheit, politischer Konsens); Badura I V , Sp. 2709. 459 Z u den politischen Funktionen des bürgerlichen Rechtsstaats u n d über seine historische Wende zum sozialen Verfassungsstaat: F. Müller XII, S. 90 ff. 460 F. Müller X , S. 104 f.; zu weitgehend jetzt Häberle V, S. 297 ff.

3.

h l i c h e Möglichkeiten

183

widerspruchsvollen und stets zeitlich begrenzten Charakter der Inhalte von Recht und Verfassung. Doch sind Bürgerkrieg oder Anarchie dadurch in den Zustand bloßer Möglichkeit zurückgedrängt, daß Recht und Verfassung jeweils partiell und auf Zeit die strittigen Fragen verbindlich regeln. Auf dieser Grundlage werden i n täglicher Praxis Entscheidungsnormen gesetzt, die für die Betroffenen und i m Fall der Verfassungsjustiz für alle verbindlich wirken. Einheit und Ganzheit haben Merkmale der Illusion an sich. Das Streben von Recht und Verfassung nach innerem Frieden geht dagegen von einer Einheit der i n Interessen und Widersprüche gespaltenen zu verfassenden Realität gerade nicht aus. Dafür, daß Herrschaft als Sicherung des inneren Friedens wirksam ist, gibt es zwei Bedingungen: mit Sanktionen versehene und von einem staatlichen Erzwingungsstab durchgesetzte Rechtsnormen und zweitens die Vorstellung der Legitimität dieser Ordnung. Rechtsstaatliche Legalität herrscht m i t konstitutioneller Gewalt. Sie versucht, mit ihr möglichst weitgehend auszukommen, ohne zu häufig und zu massiv unmittelbare und insofern entlegitimierende Gewalt einsetzen zu müssen. Wie jeder Staatsverband ist auch der Rechtsstaat eine Form der Regulierung , Anwendung und Rechtfertigung von Gewalt und damit auch ihrer Begründung: nicht als Gewalt i n ihrer Tatsächlichkeit, sondern eben als regulierter und gerechtfertigter „Macht". Das Besondere an der rechtsstaatlichen Form von Gewalt liegt darin, sie so weit wie möglich zu entpersonalisieren und auf verallgemeinerungsfähige Weise sprachlich zu umschreiben, sie damit der Tendenz nach rational vorhersehbar zu machen; und ferner darin, Gewalt m i t Hilfe rechtsstaatlich formalisierter Kontrollgewalt zu begrenzen 461 . Legitimität ist nicht; was real an ihrer Stelle steht, ist die Vorstellung von Legitimität. Gewalt ist dagegen als wirklich zu erfahren. Sie w i r d in zwischenmenschlicher Kommunikation durch zum Teil symbolfreies unmittelbares Handeln ausgeübt; wo Symbole hinzutreten, haben sie stützende, erleichternde, rechtfertigende Bedeutung. Dagegen ist Legitimität unbedingt auf Sprache, auf Kommunikation durch i n der Regel verbale, aber auch non-verbale Symbole angewiesen. Es ist nicht die Funktion der Verfassung, das und jenes zu tun, was von ihr vor allem durch Vertreter einer materialen Verfassungslehre behauptet wird. Vielmehr legitimiert die Verfassung auf dem Weg über die Vorstellung , es sei ihre Funktion, das und jenes zu bewirken. Bei den Adressaten der durch staatliche Entscheidung i n Gang gesetzten Kommunikation (etwa der Amtlichen Begründung für ein Gesetz, der Gründe einer Gerichtsentscheidung und so weiter) wird, wenn die 461

Dazu F. Müller

X I , S. 29 f.; ders. X I I , S. 86 ff., 90 ff. u. ö.

184

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Rechtsordnung planmäßig funktioniert, die Vorstellung erweckt, die Entscheidung sei legitim, weil sie zum Beispiel der befriedenden, Rechtssicherheit schaffenden Funktion des Rechts entspricht. Es ist also nicht die Verfassung, sondern der handelnde und sich auf sie berufende Rechtspraktiker, der befriedet. Und auch so w i r d noch nicht real befriedet, sondern erst über das Erwecken der Vorstellung, die Entscheidung sei als legal und damit als legitim hinzunehmen. Es ist kein Zufall, sondern eine notwendige Folge aus diesem Ansatz des verfaßten Rechtsstaates, daß die Rechtstexte als anordnende und rechtfertigende Texte strukturiert sind 462 . Die Geltungsfähigkeit der Normen beruht wesentlich auf Anerkennung i n dem Sinn, daß ihr gewaltsames Durchsetzen jedenfalls die Ausnahme bleiben und daß der Regelfall i n einer Verwirklichung der Norm durch verschiedene Arten des Akzeptierens bestehen soll 4 6 3 .

3.3 Methodologische Möglichkeiten 3.31 Einheit als geisteswissenschaftliches Apriori Seit Schleiermacher w i r d i n der geisteswissenschaftlichen Hermeneut i k sinnhaften Gebilden eine apriorische Einheit zugeschrieben: Der auszulegende Gegenstand ist als Einheit zu verstehen, der einzelne Satz des Textes i m Blick auf das Ganze, die Gesamtheit aus der Interpretation der einzelnen Sätze zu begreifen. Der hermeneutische Zirkel zwischen Teil und Ganzem i m Vorgang des Verstehens muß unterstellen, daß es dieses Ganze als eine i m Vorgriff wirkende Einheit gibt 4 6 4 . Schleiermachers Idee einer universalen Hermeneutik als Wissenschaft hat aber die Frage nach dem Zugang zum sachlichen Problem und zu seiner Lösung weitgehend durch die Frage nach dem Wie ersetzt, hat das Gewicht des Verfahrens und das Ziel des Verstehens vom Gegenstand auf das Subjekt der Erkenntnis verschoben. Es geht ihr allein um Rekonstruktion der ursprünglichen Bestimmung eines Werks und seines damaligen Zustands; reproduziert werden soll die ursprüngliche Produktion des individuellen Verfassers. Ein Kanon grammatischer und vor allem psychologischer Auslegungsregeln kann neben Wortlaut und Sinn vor allem auch die Individualität des Verfassers zum Verständnis bringen. Was am Text und durch ihn verstanden werden soll, ist nicht sein sachlicher Inhalt und nicht das Verhältnis seiner Textform zur 462

F. Müller X I I , S. 95 ff. Siehe die rechtstheoretische Formulierung dieses Zusammenhangs als Textstruktur des Rechtsstaats i n : F. Müller X I I , ebd. 464 Going I I , S. 14, 18 f.; Ehmke V, S. 60 f., 77; zu Schleiermachers Thesen i n der Sicht einer heutigen philosophischen Hermeneutik: Gadamer, S. 158 f., 166 ff., 172 ff. 463

3.3 Methodologische Möglichkeiten

185

Sache (bei Schleiermacher „das Sein" genannt), sondern die ästhetische Qualität des Textes. Schleiermacher meint das Verstehen von Kunstwerken, und die Ausweitung seiner hermeneutischen Regeln auf eine allgemeine Methodologie „der" Geisteswissenschaften geht an den Problemen juristischer Rechts- und Verfassungskonkretisierung schon i m Ansatz vorbei. Nicht ein individueller Autor, nicht eine als geschichtsmächtig existierender Wille faßbare verfassunggebende Gewalt, sondern die ehrenwerte Versammlung des aus Christen und Laizisten, aus Konservativen, Liberalen, Sozialisten und Kommunisten bestehenden Parlamentarischen Rats hat den Text des Grundgesetzes formuliert; und angesichts des Stellenwerts der Normbereiche und der Zugehörigkeit der Entscheidungsnormen zum geltenden Recht w i r d deutlich, daß konkretisierende (statt nur „verstehende") Rechtsarbeit einen anderen Gegenstand hat als geisteswissenschaftliche Hermeneutik. Zwar w i r d die Jurisprudenz noch immer als Geistes- oder Kulturwissenschaft den Naturwissenschaften gegenübergestellt, doch ist diese Sicht von der neueren Diskussion i n Rechtstheorie und Methodik überholt 4 6 5 . Diesseits geisteswissenschaftlicher Allgemeinplätze waren die Voraussetzungen und Bedingungen konkretisierender Rechts arbeit immanent zu untersuchen; war als Grundlage einer nachpositivistischen Methodik eine Normtheorie zu entwickeln, die alle entscheidungserheblichen Sprachdaten und Realdaten strukturierend und typisierend erfaßt und die ihre Zwischenergebnisse an den Erfahrungen der Rechtspraxis kontrollieren läßt. Für diese Arbeitsaufgaben einer i m Feld der sie umgebenden anderen Sozialwissenschaften relativ eigenständigen Jurisprudenz ist das Postulat einer apriorischen Einheit geisteswissenschaftlicher (ästhetischer) Gebilde nicht tragfähig. 3.32 Einheit als Instrument der Normkonkretisierung

Einheit der Verfassung als methodisches Argument gehört i n den Umkreis systematischer Arbeit. Es wurde schon gesagt, daß „System" hier weder voll axiomatisierte autonom-dogmatische Systeme der Mathematik noch das Verständnis der Systemtheorie i n den Sozialwissenschaften 466 meint, sondern i m engeren Sinn juristische Interpretations 465 F ü r eine sozialwissenschaftliche Methodik i n der Staatslehre u n d f ü r die A b k e h r von geisteswissenschaftlichen Fragestellungen schon H.Heller I I I , vor allem S. 37 ff., 41, 43 f. u.ö.; für die Rechtstheorie: F.Müller III, S. 13 ff., 18 ff., 24 ff. u.ö. m. N w . ; ders. X I , S. 11 ff., 14 ff., 32 ff.; ders. X , z.B. S. 104 ff., 108 f. 406

Unter einem sozialen System w i r d „ein Sinnzusammenhang von sozialen Handlungen" verstanden, „die aufeinander verweisen u n d sich von einer U m w e l t nicht dazugehöriger Handlungen abgrenzen lassen"; die D i f ferenz von Innen u n d Außen konstituiert diesen Systembegriff, dazu Lühmann I I , S. 615 ff., 617; siehe auch Suhr I I , Sp. 2598: „System" als „ K o m p l e x aus Einheiten (einer Menge von Elementen), zwischen denen wenigstens

186

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

systeme. Diese enthalten keine definierten oder definierbaren Prämissen (Axiome); auch sind sie weder widerspruchsfrei noch geschlossen und endgültig. Neue Rechtsnormen wie auch die den abstrakten Rechtsnormen täglich zugerechneten Entscheidungsnormen liefern ständig neue Prämissen (im untechnischen Sinn). I n der älteren Begriffsjurisprudenz war „System" nicht als Eigenschaft wirklicher Rechtsordnungen, sondern als Leistung wissenschaftlichen Denkens gefaßt: Durch abstrahierendes Denken soll eine Hierarchie der Begriffe entstehen, die zwingende Deduktionen vorgeblich formaler A r t erlaubt 4 6 7 . Der Gesetzespositivismus behauptete die Einheit der Rechtsordnung i m Sinn ihrer systematischen Freiheit von Widersprüchen als Grundlage jeder juristischen Interpretation 4 6 8 . I n dieser Allgemeinheit findet die These immer noch weithin Anklang. Sie wird auch von Autoren, die nicht für gesetzespositivistische Arbeitsweisen stehen, eher unbefragt übernommen 469 . Einheit, Ganzheit und Geschlossenheit werden dabei allerdings mit der Positivität und Gleichrangigkeit der Normen einer Kodifikation und mit der Identität des Normenbestandes mit sich selbst verwechselt. Systematische Interpretation kann harmonische Totalität weder erzeugen, noch muß sie sie voraussetzen. Es sind nicht logische, sondern sachliche Beziehungen, die zwischen den Normen einer weder widerspruchsfreien noch geschlossenen Rechtsordnung durch Argumentation zu erstellen und zu erproben sind. Demgemäß w i r d das rechtswissenschaftliche System als inneres System, als offen und fragmentarisch eingestanden 470 : Der systematische Zusammenhang beansprucht nicht, allgemeingültig, volleinige Verhältnisse bestimmt sind (eine Menge von Relationen), so daß von einigen Systemzuständen oder -eigenschaften auf andere (abstrakte oder konkrete, insbesondere vergangene, gleichzeitige oder zukünftige) Systemzustände oder -eigenschaften geschlossen werden kann"; zu sozialen Syste-

467 Z. B. Jerusalem men ebd., Sp. 2602 ff. , S. 312 f. u. ö. 468 Siehe oben i m T e x t unter 3.112. 469 Eine theoretisch geschärfte positivistische Position bei Kelsen I, S. 27 f.; dems. I I I , S. 209 ff.; Nawiasky I I I , S. 719: jede (Verfassungs)Rechtsordnung als „konkrete sachliche Einheit" u n d als System; zur Präsenz des Arguments noch i n der heutigen Diskussion etwa Badura I V , Sp. 2719: Der Grundsatz der systematischen Auslegung beruhe darauf, „daß die m i t dem Verfassungsgesetz geschaffene rechtliche Grundordnung als einheitliches Ganzes gesetzt ist"; Engisch V I , z.B. S. 65: Aufbau juristischer Obersätze v o r dem H i n t e r grund der Einheit der Rechtsordnung als eines homogenen u n d harmonisch zusammenhängenden Komplexes von Rechtsgedanken; vgl. aber dagegen ebd., S. 68, 159 f., 160 ff.; Arndt / v. Olshausen, S. 488; Ossenbühl, S. 654 m i t Hinweis auf die allerdings streng gesetzespositivistische Position von Burckhardt. — Dagegen hat H. Hellers Aussage, die Einheit der staatlichen Organisation sei bedingt durch den systematischen Aufbau der Rechtsordnung, nichts m i t gesetzespositivistischen Vorgriffen zu tun, I I I , S. 271 f. 470 Engisch I ; Larenz , S. 154 ff., 311 ff., 458 ff., 471 ff.; Esser V, S.44, 239; ders. I V , S. 94 ff.

3.3 Methodologische Möglichkeiten

187

ständig oder zwingend zu sein. Er bildet nicht notwendig eine Einheit. Er läßt es nicht zu, Entscheidungen aus angeblich höheren Begriffen oder Werten zu deduzieren. Er kann inhaltliche Richtigkeit nicht verbürgen, wohl aber Hilfsmittel vergleichender Argumentation innerhalb einzelner dogmatischer Verknüpfungen bieten. M i t Hilfe systematischer Konkretisierung macht er die einzelnen Entscheidungen besser überprüfbar. Formaler Kontext und sachlich ergiebige Zusammenhänge zwischen verschiedenen Vorschriften geben m i t einer je nach Normprogramm, Normbereich und Fall wechselnden Deutlichkeit wertvolle Hinweise für eine mögliche konsistente Begründung. Das von der früheren Begriffsjurisprudenz hintersinnig überschätzte System rechts wissenschaftlicher Ausdrücke w i r d nur noch pragmatisch gesehen. Es kann es erleichtern, sachliche und funktionelle Verflechtungen eines Normengefüges darzustellen und i n die sprachliche Begründung von Entscheidungsvorgängen einzuführen. Auch i m Verfassungsrecht w i r d der Systemgedanke nur i m uneigentlichen Sinn eines rechtlich und über die Normbereiche auch sachlich begründeten, sinnvoll deutbaren Zusammenhangs selbständiger Regeln verstanden. So sind die Grundrechte nicht nur eine aus historischen Gründen zufällig entstandene Mehrheit positiver Vorschriften. Sie bilden eine funktionell zusammengehörige Gruppe eigengeprägter Garantien, die je nach Normprogramm, Normbereich und Fall inhaltlich aufeinander mehr oder weniger plausibel bezogen werden können. Dagegen ist die Rede von einer logisch oder durch Werte gegründeten Systematik nicht das Ergebnis normorientierter Einzelarbeit, sondern eine vorgreifliche Unterstellung. Für den Gedanken der Einheit als methodologisches Argument ist das Ganze der Verfassung nicht deren Gesamtinhalt. Es ist weder vorgegeben noch als solches normativ. Das Ganze, dessen Einheit durch harmonisierende Interpretation erreicht werden soll, ist eben nicht „das" Ganze. Es ist entweder der nur partielle Zusammenhang einer bestimmten Menge für den Fall einschlägiger Vorschriften oder der Kontext einer sachlich und funktionell umschreibbaren Normengruppe innerhalb des Verfassungsrechts. Einheitlichkeit eines begrenzten Zusammenhangs einzelner Vorschriften kann der Argumentation insoweit als Zielbegriff dienen, als nicht einander deutlich widersprechende Entscheidungsnormen oder als nicht Entscheidungsnormen, die bestimmten einzelnen Rechtsnormen deutlich zuwiderlaufen, gesetzt werden sollen. M i t dem Ganzen „der" Verfassung und seiner Einheit haben diese vom Fall her präzisierten Fragestellungen und Arbeitsgänge aber nichts zu tun. Auch in diesem eingegrenzten Sinn geht es ferner nicht um die Einheitlichkeit von Normtexten, das heißt der Wortlaute von abstrakten Rechtsnormen, vielmehr von aktualisierten Rechtsregeln. Diese üben ihre Wirkung

188

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

nicht auf dem Papier aus, sondern in einem rational zu strukturierenden und darzustellenden Geflecht verantwortlicher Entscheidungsakte der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt und methodischer 'Zurechnungsakte. 3.321 Systematische Argumente

3.321.1 Allgemeine

Systematik

Die Durchsicht der Rechtsprechung hat gezeigt, daß das B i l d vom Grundgesetz als einer Einheit auch für systematische Interpretation einzelner seiner Vorschriften oder für ihre systematische Vermittlung mit Verfassungsgrundsätzen benützt wird. Der Unterschied liegt nicht i n der A r t des Vorgehens. I n beiden Fällen geht es nur u m begrenzte Zusammenhänge zwischen Normen des geltenden Rechts. Stets werden auch die verglichenen, wechselseitig abgestützten und geklärten oder auch einander entgegenzusetzenden Sachgehalte auf dem Weg über die Normbereiche ins Spiel gebracht. Die Frage w i r d also dahin gehen, ob vielleicht die Natur der Verfassungsgrundsätze die systematische Auslegung verändert und sie zu einem Fall selbständigen Argumentierens aus der Einheit der Verfassung macht. Voraussetzung für systematisches Auslegen i m Gegensatz zu konformer Interpretation ist, daß die miteinander vermittelten Normen auf derselben Rangstufe stehen. Das Bundesverfassungsgericht hat das für unterrangige Vorschriften klargestellt: Rechtsgrundsätze aus der allgemeinen Rechtsordnung sind nicht imstande, Normen von Verfassungsrang systematisch einzuschränken, auch nicht unter dem Stichwort einer Einheit der Verfassung 471 . Nach oben hin hatte eine widersprüchliche Praxis i n der Tradition des Südweststaats-Urteils die Frage nach dem Vorrang bestimmter Verfassungsgrundsätze von überpositiver Herkunft aufgeworfen. Insoweit folgerichtig wollte dieser Teil der Judikatur nicht auf systematische, sondern auf konforme Interpretation hinaus. Der Sache nach verbargen sich allerdings, wie sich zeigte, oft ganz andere Arbeitsvorgänge hinter den Wortfassaden. So hatte das Südweststaats-Urteil mit seiner These vom allseitigen Sinnzusammenhang einen von systematischem Auslegen deutlich verschiedenen Ansatz gewählt, dann aber weder die Einheit des Grundgesetzes für konforme Verfassungsauslegung eingesetzt, noch Verfassungsnormen systematisch interpretiert. I m praktischen Vorgehen ähnlich, i m theoretischen Überbau noch verworrener hatte das Urteil zur badischen Kirchenbausteuer argumentiert. I m Konkordats-Urteil wurde die Einheit des Grundgesetzes als Worthülse für eine einfache systematische Inter171

BVerfGE 44, S. 37 ff., 49 f., 53, 55.

3.3 Methodologische Möglichkeiten

189

pretation verwendet, die dann aber doch nicht stattfand. Dagegen hatte das Bundesverwaltungsgericht i m Urteil über Gemeindeautonomie und Tarifvertragsgesetz Kompetenzvorschriften gegenseitig sowie mit Hilfe unterverfassungrechtlicher Normenkomplexe systematisch ausgelegt und dieses Vorgehen unnötig mit dem Argument aus der Einheit der Verfassung garniert 4 7 2 . Diese Fälle sind aus der oben unter 2.31 und 2.32 analysierten Judikatur herausgegriffen; sie sollen nur an die eine oder andere A r t des Mißbrauchs der Einheitsthese für die Arbeit mit systematischen Elementen erinnern. I n der Literatur wird, was nur an einigen Beispielen festgehalten werden soll, systematische Interpretation zuweilen korrekt vor dem Hintergrund der Verfassung als einer Summe einzelner ineinanderwirkender Normen und nicht vor dem eines ganzheitlichen Systems gesehen 473 . Zum Teil w i r d sie aber unkritisch mit der Rechtsprechung zum vorverfassungsmäßigen Gesamtbild verknüpft 4 7 4 oder unter dem Stichwort der Einheit der Verfassung i n holistischem Uberschwang auf die „Verfassung als Ganzes" gezielt und als Auslegung von Verfassungssätzen aus der „Gesamtverfassung" für möglich gehalten 473 . Es ist eines, wenn beim Vergleich ähnlicher oder gleicher A r t i k e l i n verschiedenen Verfassungen der jeweilige Kontext des einen wie des andern als Argument dafür dient, die (konkretisierte) Vorschrift könne i m Ergebnis nicht zweimal dasselbe besagen. Das hat Smend für die Sätze der Belgischen Verfassung von 1831 betont, die i n die Preußische Verfassungsurkunde von 1850 wörtlich übernommen worden waren. Er hat das Argument auf die äußerliche Einteilung der Materien ausgedehnt und voreilige Schlüsse auf eine Gleichheit der inneren Struktur beider Verfassungsordnungen zurückgewiesen. Fast ein halbes Jahrhundert später hat derselbe Autor denselben Gedanken, wiederum zu Recht, für die vom Grundgesetz in Art. 140 wörtlich übernommenen Weimarer Kirchenartikel ins Feld geführt 476 . Es ist jedoch ein anderes, ohne Verfassungsvergleich eine Auslegung „der Verfassung als Ganzes" zu fordern und sich mit der Rede von der Verfassung als Lebenstotalität gegen formal verknüpfendes Argumentieren anhand positiver staatsrechtlicher Normen zu wenden 477 . Nicht das Einordnen einzelner 472

B V e r w G E 18, S. 135 ff., 138. Z. B. bei Lerche V, S. 33. 474 So bei Jesch, S. 72 f. 475 So unter dem Stichwort einer integrierenden Interpretation: Erbel, S. 41 f.; nüchterner Hesse, der allerdings auch vom „Gesamtzusammenhang" und nicht n u r von normativ belegbaren und methodisch begründbaren T e i l zusammenhängen spricht, V I , S. 28. 476 Smend, I, S. 3; ders. IV, S. 418. 477 So aber ebenfalls Smend I I I , S. 233 ff. und ders. V I , S. 485. Zu der folgenden K r i t i k an Smends Ansatz i n „Verfassung und Verfassungsrecht" auch 473

190

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Vorschriften i n einen (normativ begründeten und methodisch darlegbaren) Sinnzusammenhang ist illusionär, wohl aber die naiv holistische oder die politisch hintersinnige Unterstellung, die Totalität dieses Sinnzusammenhangs für rechtsstaatliche Interpretation nutzen zu können. Das Vergleichen, Verbinden, Konstruieren m i t Hilfe sprachlicher Daten i n dem Feld, das durch die Fallfrage, durch einschlägige Rechtsund Entscheidungsnormen und durch die von beiden Gruppen gelieferten Konkretisierungselemente umschrieben wird, ist ein Arbeiten an Sachproblemen 478 . Das ist bei systematischer Interpretation i m Verfassungsrecht offenkundig. Dessen Regelungsbereiche sind nicht nur grundlegend und entsprechend weitmaschig, sondern auch politisch und damit geschichtlicher Veränderung gesteigert ausgesetzt. Sie sind in Deutschland relativ wenig durch frühere demokratische Traditionen, stärker durch rechtsstaatliche vorgeprägt. Ranghöchstes Recht ist strukturell besonders offen. Es hat die Aufgabe, das Gemeinwesen zu verfassen und der ganzen Rechtsordnung als Maßstab zu dienen. Diese Eigenschaften erklären einige der bekannten Schwierigkeiten rationalen Argumentierens i m Verfassungsrecht. Neben dem meist allein dargestellten Kontext der Wortlaute umfaßt systematische Interpretation immer auch schon den der sachlichen Strukturen. Diese sind als Normbereiche empirisch zu ermitteln und systematisch miteinander sowie mit den primär sprachlichen Entscheidungselementen zu vermitteln 4 7 9 . Systematisches Arbeiten i m Verfassungsrecht setzt nicht voraus, das Grundgesetz als Einheit zu sehen, da nicht jeweils alle seiner Normen oder gar sein angeblicher Gesamtinhalt für systematische Argumente gebraucht werden oder auch nur brauchbar sein könnten. Die Möglichkeit sachlicher Zusammenhänge, bestimmter einzelner Ableitungsketten reicht dafür aus. Sie ist allgemein mit der gleichzeitigen und gleichrangigen Rechtsgeltung positiver Verfassungsartikel und i m Einzelfall mit ihrer Aussagefähigkeit für das zu entscheidende Rechtsproblem gegeben. Partielle Ableitungsketten, die eine bestimmte Entscheidungsnorm begründen, verselbständigen sich nicht gegenüber dem Rechtsfall. Sie können nur i m nicht-normativen Sinn als einigermaßen stabile Muster zusammenhängender Argumentation für andere Fälle nützlich sein; und zwar in dem Maß, in dem sie zu verallgemeinerungsfähigen Forsthoff I I I , S. 37 f. Forsthoffs K r i t i k geht allerdings insoweit fehl, als er Smend vorhält, den entscheidenden Orientierungspunkt f ü r die Auslegung von Verfassungsrecht „außerhalb der Normen und der m i t den M i t t e l n der Exegese zugänglichen Gehalte" anzusiedeln. Dem liegt die positivistische, allerdings auch nicht von Smend und seiner Schule überwundene Gleichsetzung von Norm und N o r m t e x t zugrunde. 478 Für das Zivilrecht: Esser V, z. B. S. 233. 479 F.Müller I I I , S. 186 u.ö.; ders. X , z.B. S. 140 ff., 162 ff.; s. a. Scheuner I I , S. 15, 17; Ehmke V, S. 77 f.

3.3 Methodologische Möglichkeiten

191

Figuren verfassungsrechtlicher Dogmatik taugen. Es ist unnötig und irreführend, für solch systematisches Arbeiten ein Verfassungsganzes, eine Sinntotalität des Grundgesetzes zu beschwören oder die einzelnen Operationen mit dem Ausdruck „Einheit der Verfassung" zu benennen. 3.321.2 Verfassungsgrundsätze Diese Verwendungsweise des Ausdrucks wurde denn auch erst i n der späteren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei zunehmend beliebigem Gebrauch auf schlichte systematische Auslegung ausgedehnt. Wie gezeigt wurde, begann sie i n Fällen, i n denen es dem Bundesverfassungsgericht geraten schien, auf Verfassungsgrundsätze zurückzugreifen. Der Einsatz des Arguments wurde auf die oben analysierte A r t mit der Vorrangthese belastet und mit überpositiven Gesichtspunkten vermengt 4 8 0 . I m folgenden geht es nicht mehr um konformes, sondern um systematisches Auslegen; um Verfassungsgrundsätze als Normen, die weder überpositiv hergeleitet noch mit höherem Rang ausgestattet werden. Von Rechtsgrundsätzen oder Rechtsprinzipien spricht die Jurisprudenz seit langem. Sie sind vor allem i m Zivilrecht i m Anschluß an Generalklauseln (z. B. der Grundsatz von „Treu und Glauben" auf der Grundlage der §§ 157, 242 Bürgerliches Gesetzbuch) oder als Verallgemeinerungen einzelner Rechtssätze, als Zusammenfassung der einer Teilmenge von Einzelnormen gemeinsamen Gedanken entwickelt worden 481 . Die Analyse der Judikatur hatte gezeigt, daß zu diesen Verfassungsgrundsätzen der soziale Rechtsstaat, die Demokratie, der Bundesstaat, das Menschenbild des Grundgesetzes, die Parteienstaatlichkeit, seit dem L ü t h - U r t e i l allgemein der Grundrechtsteil und als einzelne Grundrechte A r t . 3 Abs. 1, 6 Abs. 1, 14 GG sowie zum Beispiel die Kunstfreiheit als sogenannte wertentscheidende Grundsatznorm gezählt wer460 Siehe als knappen Überblick über die Judikatur zur Bindung des V e r fassunggesetzgebers an überpositive Normen oder an vorpositive Grundsätze der Gerechtigkeit u n d zu Verfassungsgrundsätzen von überpositiver H e r k u n f t : Badura V, S. 3 f 7 f., 9 f. m. Nw.; zur Diskussion i n der L i t e r a t u r ferner die Hinweise bei Kirchhof, S. 59 f., 61 ff. 481 Siehe den Überblick bei Jerusalem, S. 313 ff., unter den Aspekten von System u n d Begriffsjurisprudenz. Z u den Prinzipien i m modernen Zivilrecht grundlegend: Esser V. Zu Verfassungsprinzipien i m Zusammenhang verfassungskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung: Göldner I ; Larenz, S. 330 ff. u. ö. Z u den verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien eingehend: Stern, S. 411 ff., 414 ff., 429 ff., 439 ff., 484 ff., 602 ff., 682 ff. („verfassungsrechtliche Leitgrundsätze", „verfassungsgestaltende Grundentscheidungen", „Staatszielbestimmungen", „verfassungsgesetzliche Staatsstrukturbestimmungen", „ B a u gesetze" u n d ähnliche T e r m i n i sind für diese Gruppe grundsätzlicher Normen i n Gebrauch. Soweit es allerdings nur u m Interessen effektiver Regierung und V e r w a l t u n g unter dem Stichwort der „Staatsgrundsätze" geht — so i n B a y V f G H 20, S. 36 ff., 44 —, sind diese mangels Rechtsqualität hier nicht beachtlich.)

192

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

den, schließlich auch der verf assungspolitische Grundsatz der streitbaren Demokratie. Das Ensemble dieser Grundsätze ist aber nicht mit dem hier ebenfalls schon untersuchten zusammenfassenden Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gleichzusetzen 482 . Diese ist liberal-repräsentativ ausgerichtet und v/eniger umfangreich als die Verfassungsgrundsätze, zu denen auch Sozialstaat und Bundesstaat zählen. Verfassungsprinzipien sind i n ihren Normtexten unbestimmt gefaßt. Sie haben entsprechend weite Normbereiche. Daß sie nicht subsumtionsfähig sind, unterscheidet sie aber nicht vom Regelfall normaler Rechtsvorschriften. Sie stehen nur auf einer abstrakteren Reduktionsstufe, sind aber normativ, also geltendes Recht. Sie wenden sich vor allem an die Gesetzgebung, i n zweiter Linie auch an konkretisierende Rechtsarbeit der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt. Auch sie können i n der Sicht der Systemtheorie Entscheidungslast vermindern. I n ihrer Wirkung für systematische Interpretation — i n Zusammenhang mit beliebigen Verfassungsnormen, besonders aber mit Grundrechten — werden sie bevorzugt mit der These einer Einheit der Verfassung verbunden 483 . Wie die Untersuchung der Judikatur gezeigt hat, hängt die Rede von Grundentscheidungen, die das Verfassungsrecht wesentlich gestalten, die Staatsform wie Staatsziel festlegen, mit Auffassungen zusammen, die den Verfassunggeber anthropomorphistisch oder existentialistisch als entscheidenden Willen bestimmen möchten. Gleichwohl sollen sie Normen sein; und zwar auch dort, wo sie i n den geschriebenen Urkunden nicht ausdrücklich enthalten sind. So hat sowohl der Zweite Senat im Südweststaats-Urteil als auch der Erste i m Urteil über das nord482 Z u m Rechtsstaat: BVerfGE 2, S. 380 ff., 403; 3, S. 225 ff., 237 ff.; 30, S. 1 ff., 20 ff.; zu Demokratie u n d Bundesstaat: BVerfGE 1, S. 14 ff., 33 ff.; zur streitbaren Demokratie: BVerfGE 30, S. 1 ff., 19 f.; 39, S. 334 ff., 368 f.; zum Grundrechtsteil: B V e r f G E 7, S. 198 ff., 204 ff.; 37, S. 271 ff., 280 f.; zu A r t . 3 Abs. 1, 6 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG: BVerfGE 42, S. 64 ff., 72 ff.; zu A r t . 6 Abs. 1 GG und zum Sozialstaatsprinzip: BVerfGE 44, S. 249 ff., 273 f.; zu A r t . 5 Abs. 3 S. 1 GG: BVerfGE 30, S. 173 ff., 188; zur Parteienstaatlichkeit: BVerfGE 1, S. 208 ff., 227 f.; zum Menschenbild des Grundgesetzes: BVerfGE 7, S. 377 ff., 402 f.; 30, S. 1 ff., 20; 32, S. 98 ff., 107 f.; 35, S. 202 ff., 225; zum Toleranzprinzip: BVerfGE 33, S. 23 ff., 32. 483 Ehmke V, z. B. S. 73; H. Huber I I I , S. 182 ff.; für die Grundrechte schon i n der Weimarer Zeit: Smend I I I , S. 265 (die Grundrechte als Auslegungsregeln für das spezielle Recht); unter dem Grundgesetz z. B. Friesenhahn , S. G 11, 20 f. (systematische Interpretation der Grundrechte m i t Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat u n d zum Gleichheitssatz als allgemeinem Verfassungsgrundsatz). — Die systemtheoretische Überlegung zur Entlastungsfunktion von Normen bei Luhmann V I I , S. 42, 143 ff., 195 ff.; i h m folgend: Grimm . Kritisch zur W i r k u n g leerformelhafter Verfassungsgrundsätze unter dem Gesichtspunkt eines Rationalitäts- und Normativitätsverlusts der Verfassung: Denninger I, S. 115 ff.

3.3 Methodologische Möglichkeiten

193

rhein-westfälische Beanstandungsgesetz gearbeitet 484 . Den Verfassungsgrundsätzen, wie sie i n A r t . 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 Satz 1 GG formelhaft zusammengefaßt sind, w i r d bescheinigt, Blankettbegriffe zu sein. Dabei werden allerdings die Normen m i t ihren Wortlauten verwechselt. Außerdem w i r d der Verfassungsgrundsatz als formelhafter Normtext, als hervorgehobener sprachlich geraffter Sammelbegriff zu Unrecht von den Normengruppen getrennt, die das Grundgesetz i m Dienst von Rechtsstaat, Sozialstaat, Demokratie und Bundesstaat an anderer Stelle konkret formuliert hat. W i l l systematische Interpretation Schritt für Schritt arbeiten, statt ganzheitliche Wertungen zu proklamieren, so muß sie sich aber dieser Verbindung bewußt bleiben. Die Prinzipien verhalten sich zu einzelnen Vorschriften wie Generalklauseln zu Spezialregeln. Grundsätze bilden i m Normenbestand der Verfassung keine rechtlich ausgesonderte Gruppe. Sie werfen für systematische Interpretation keine andersartigen Fragen auf 4 8 5 . W i r d der Grundsatz von den i h m zugeordneten, ihn sachlich begründenden einzelnen Verfassungsnormen abgespalten und verselbständigt, so führt das leicht zu rechtlich nicht mehr abgestützten Dezisionen. I m Begründungsstil erzeugt es ganzheitliche Behauptungen ohne ehrliche Methodik und Überprüfbarkeit („das" Rechtsstaatsprinzip, „der" demokratische Gedanke, „die" streitbare Demokratie als nur noch pseudo-normative Worthülsen). Norm- und Methodenklarheit, Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit als geschriebene und ungeschriebene Gebote unter dem Grundgesetz 486 erlauben es nicht, Prinzipien pauschal ins Spiel zu bringen, wobei der Hinweis auf eine Einheit der Verfassung nichts besser macht. Allgemein formulierte Verfassungsgrundsätze haben eigene Funktionen. Sie leisten gegenüber den rechtsstaatlichen, sozialstaatlichen, den demokratischen und bundesstaatlichen Einzelsätzen der Verfassung dadurch „ein Zusätzliches" 487 , daß sie die ihnen thematisch verwandten 484 BVerfGE 1, S. 14 ff., 32 f. (die „Grundsätze u n d Grundentscheidungen" ergeben sich n u r „aus dem Gesamtinhalt der Verfassung"); BVerfGE 2, S. 380 ff., 403 (die „allgemeinen Grundsätze u n d Leitideen" haben das „ v o r verfassungsmäßige Gesamtbild geprägt" u n d w u r d e n v o m Verfassunggeber daher „nicht i n einem besonderen Rechtssatz konkretisiert") ; stärker positivrechtlich orientiert dagegen das Gleichberechtigungs-Urteil, BVerfGE 3, S. 225 ff., 233, 237 (die Gerechtigkeitswerte überpositiven Ursprungs sind i m Grundgesetz positiviert). — Aus der L i t e r a t u r vor allem Wolff, S. 48 f.; ferner Achterberg , m. N w . ; Kirchhof, S. 61 ff. Verfassungsgrundsätze als „ B l a n kettbegriffe" vor allem bei Achterberg, S. 160 ff. 485 M i t allgemeineren Erwägungen argumentierend k a n n auch Herbert Krüger V I I , S. 196 ff., 207 ff. keine besondere Struktur, auch keinen spezifischen I n h a l t von Verfassungsgrundsätzen entdecken, der sie von Verfassungssätzen zu unterscheiden erlauben würde. 486 Vorhersehbarkeit u n d Rechtssicherheit (wie auch der Rechtsfriede) werden v o m Bundesverfassungsgericht seit dem U r t e i l zum nordrhein-westfälischen Beanstandungsgesetz selbst zu den „allgemeinen Grundsätzen u n d Leitideen" gezählt: BVerfGE 2, S. 380 ff., 403 ff. 1

F. M ü l l e r

3 Systematisch

Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

geschriebenen und ungeschriebenen Normen sprachlich zusammenfassen. Dabei können sie durch die Weite ihrer Normprogramme und Normbereiche zuweilen sachliche Aspekte über die der Einzelvorschriften hinaus beisteuern. Für die unmittelbar normbezogenen Konkretisierungselemente, die i m methodologischen Konflikt aus rechtsstaatlichen Gründen den Vorrang haben 488 , kommt es aber auf die einschlägigen Sondernormen an, so z. B. auf Art. 20 Abs. 3, 1 Abs. 3, 19 Abs. 1, 2 und 4, 79 Abs. 1, 103 Abs. 2 GG als einzelne Hegeln aus dem Komplex „des" Hechtsstaats. Von den Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes bildet der Bundesstaat noch am ehesten ein abgerundetes Teilmodell. Nach ihm folgt die rechtsstaatliche Gruppe, die allerdings auch viel ungeschriebenes Recht enthält. Die demokratische Ordnung bietet kein vollständiges Modell. Der Sozialstaat ist in zwei Generalklauseln i n Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 Satz 1 GG und i m übrigen durch verstreute Einzelnormen wie etwa A r t . 72 Abs. 2 Nr. 3, 91a, 109 Abs. 2 - 4 GG und eine Reihe von Kompetenzvorschriften vertreten. Soweit sie näher positiviert sind, dürfen die Grundsätze nicht allein i n Gestalt von Generalklauseln der Entscheidungsnorm zugrunde gelegt werden. Sind konkretisierende Normen des (un)geschriebenen Verfassungsrechts nicht vorhanden bzw. i m Fall nicht ergiebig, so kann die Arbeit etwa mit „dem" Bundesstaat, mit „der" demokratischen Ordnung außerhalb einzelner bundesstaatlicher oder demokratischer Vorschriften theoretische und nicht-normbezogen dogmatische Entscheidungselemente liefern. I m übrigen hat sie verfassungspolitischen Charakter 489 . Auch die Behauptung, die globalen Verfassungsgrundsätze könnten eine Einheit der Verfassung erzeugen, ist nicht normativ gestützt, sondern eine Aussage in verfassungspolitischer Absicht. Das geltende Recht weist in die andere Richtung. Jeweils für sich zu Ende gedacht, würden Rechtsstaat, Sozialstaat, Demokratie, Bundesstaat das Gefüge der Verfassung eher sprengen als zusammenschließen. Und auch die systematische Auslegung der Grundprinzipien kann sie nur in ihrem einander eingrenzenden Zusammenwirken erfassen. Sie kann nicht die Vielfalt verfassungsrechtlicher Zusammenhänge zu einheitlich durchstimmter Homogenität oder Harmonie bringen 490 . Das Ganze der Verfassung ist 487 So B a y V f G H 4, S. 51 ff., 59, allerdings sehr ungenau über „allgemein anerkannte" Vorstellungen und die „allgemeine Rechtslehre" als Quelle von Argumenten. 488 Dazu F. Müller X , S. 198 ff. 489 Zu der i m K o n f l i k t f a l l eingeschränkten Rolle theoretischer, nichtnormbezogen dogmatischer und rechts- bzw. verfassungspolitischer Konkretisierungselemente: F. Müller X , S. 184 ff., 189 ff., 194 ff., 201 ff. 490 Siehe auch Badura IV, Sp. 2720. Zu dem im Text folgenden Gedanken: F. Müller X , S. 172 und f.

3.3 Methodologische Möglichkeiten

195

summierbar, nicht aber zu einem bestimmbaren Einzelinhalt komprimierbar. Was an der Verfassung normativ ist, ihre Normen, läßt sich wegen der relativen Eigenständigkeit von deren Funktionen und Aussagen nicht über einen einzigen Leisten schlagen. Wo von einer Einheit der Verfassung her argumentiert werden soll, w i r d von bestimmten einzelnen, auch von einzelnen grundlegenden Verfassungsnormen wie A r t . 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1, 79 Abs. 3 GG her gedacht. Für dieses Verfahren systematischer Interpretation ist der Ausdruck „Einheit der Verfassung" irreführend. 3.321.3 Systematische Begrenzung von Grundrechten Ein großer Teil der Argumente aus der Einheit der Verfassung betrifft Fälle, in denen Grundrechte unter Berufung auf sie stärker eingeschränkt werden sollen, als es sonst zulässig ist. Diese Fallgruppe kann unter drei Gesichtspunkten gegliedert werden: danach, ob die betroffenen Grundrechte m i t Grundrechten anderer Berechtigter vermittelt werden sollen 491 , ob sie mit Verfassungsgrundsätzen systematisch zu interpretieren sind 4 9 2 oder ob Grundrechte mit objektiv-rechtlichen Normen des organisatorischen Teils des Grundgesetzes zusammenstoßen 493 . Ob diese Gruppen rechtlich verschieden zu behandeln und unter dem Aspekt der Einheit der Verfassung abweichend zu bewerten sind, kann zunächst offen bleiben. A n Begriffen, mit denen man solche Lagen bezeichnet, und an Zielvorstellungen bzw. Verfahren, mit deren Hilfe sie aufgelöst werden sollen, herrscht kein Mangel. „Kollision" w i r d seit alters 494 ein Zusammentreffen von Normen dann genannt, wenn sich diese nach erfolgter Interpretation oder schon auf den ersten Blick (zum Teil aber auch nur scheinbar) gegenseitig ausschließen. Der Begriff „Konflikt" ist allge491 Z. B. i n BVerfGE 32, S. 98 ff. (Art. 1 Abs. 1 und 4 Abs. 1, 6 Abs. 1 u n d 2 Abs. 1, 6 Abs. 1 und 4 Abs. 1 sowie 4 Abs. 1 u n d Rechte der Kinder aus 6 Abs. 2 GG). 492 Z u diesem Fall: Friesenhahn , S. G 11 f. (Auslegung der Grundrechte auch anhand der Grundsätze von Demokratie, Rechtsstaat u n d Sozialstaat). 493 Z u r ersten Gruppe vgl. etwa BVerfGE 30, S. 173 ff. (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 und 1 Abs. 1 GG); 32, S. 98 ff. (Art. 1 Abs. 1 - 4 Abs. 1; 6 Abs. 1 - 2 Abs. 1 u n d Menschenbild des Grundgesetzes; 6 Abs. 1 - 4 Abs. 1; 4 Abs. 1 - 6 Abs. 2 GG); 34, S. 269 ff. (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 - 5 Abs. 1 S a t z l G G ) ; 35, S. 202 ff. (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 - 5 Abs. 1 Satz 2 GG). Die dritte Fallgruppe ist gegeben i n BVerfGE 33, S. 23 if. (Art. 4 Abs. 1 - 56, 64 Abs. 2, 92 sowie A r t . 140 GG i. V. m. 136 Abs. 4 WRV); 28, S. 243 if. (Art. 4 Abs. 3 GG — militärische Verteidigung und Wehrpflicht) u n d i n diesem Sinn schon 12, S. 45 ff. (Art. 73 Nr. 1 GG als „ I n s t i t u t " ) sowie 30, S. 1 ff. (Argumentation m i t Kompetenz- und Organisationsnormen über den Verfassungsschutz); ferner BVerfGE 34, S. 165 ff. (Art. 6 Abs. 2 - 7 GG); 41, S. 29 ff. u n d 41, S. 65 ff. (Art. 4 - 7 GG); 44, S. 37 ff. u n d 44, S. 59 ff. (Art. 4 Abs. 1 — A r t . 140 GG allgemein sowie A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 137 Abs. 5 u n d 6 WRV). 494

1

So schon PrOVGE 2, S. 399 ff., 408.

196

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

meiner und entsprechend weniger als der Ausdruck „Kollision" i n Gefahr, unrichtig verwendet zu werden; dieser Gesichtspunkt ist deswegen zu beachten, weil es schon i m ersten Stadium der Konkretisierung sinnvoll sein kann, die Lage vorläufig zu kennzeichnen. Der Begriff „Konkurrenz" meint Situationen, die hier nur am Rand eine Rolle spielen. Sollen tiefer liegende, sogenannte innere normative Widersprüche bezeichnet werden, so w i r d gern von „Antinomien" geredet. I m Anschluß an die Wortwahl des Bundesverfassungsgerichts ist schließlich die Rede von „Spannung" und „Spannungslagen" beliebt geworden 495 . A u f die Wörter sollte es nicht ankommen, wenn nur ihr Gebrauch deutlich genug umschrieben ist. Aus dem genannten Grund w i r d hier für die eingangs bezeichneten Fallgruppen von Grundrechtskonfiikten (und allgemein von Normenkonflikten) gesprochen. Beim Versuch, diese rechtsstaatlich zu bewältigen, kann es dann statt u m Harmonisierung oder, noch euphorischer, um Optimierung oder um die ehrwürdige Vorstellung einer Konkordanz 4 9 6 u m Verfahren der Konfliktlösung gehen. Rechtstheoretisch handelt es sich darum, daß sich die Normbereiche der beteiligten Vorschriften in bezug auf die vom Fall aufgeworfene Frage zumindest teilweise überschneiden und daß die konkretisierten Normprogramme einander mindestens i m Uberschneidungsbereich widersprechen. Das Bundesverfassungsgericht hat das, unter dem Stichwort der Kollision, anhand von Art. 31 GG dahin formuliert, beide Normen müßten auf denselben Sachverhalt anwendbar sein und bei ihrer A n wendung zu verschiedenen Ergebnissen führen können 497 . Bei der Konfliktlösung geht es weder u m einen Vorgriff auf das Sinnganze der Verfassung noch u m die Berufung auf deren „Sinntotal i t ä t " 4 9 8 noch auch darum, i m einzelnen das Ganze bestätigt zu finden 499. Vielmehr sind die widerstreitenden Normen als positives Recht ernst zu nehmen. Darum meint die Frage nach einer etwaigen Einheit der 495 Schwacke, z.B. S. 12f., 89 u n d durchgehend; Göldner I I , durchgehend. — Etwas anderes als Konflikte zwischen Normen meint der Begriff des methodologischen Konflikts zwischen einzelnen Entscheidungselementen; dazu F. Müller X , S. 200 f. 498 Der Begriff der praktischen Konkordanz ist von Hesse V I , z. B. S. 28 f., 134f., 138f. i m Anschluß an Bäumlin I, z.B. S. 30 („praktische Konkordanz"), 34 („concordantia disconcordantium") i n die Debatte eingeführt worden. Er findet sich inzwischen i n Begründungstexten des Bundesverfassungsgerichts wieder, z.B. i n BVerfGE 41, S. 29 ff., 51; 41, S. 65 ff., 78. — Bethge, S. 315 hält f ü r die Optimierungs- und Konkordanzziele Ausdrücke wie „theologische Leerformeln", „lyrische Nichtigkeiten" u n d „Ersatzbefriedigungsmittel" für passend. 497 BVerfGE 36, S. 342 ff., 363. 498 So aber Smend I I I , S. 234; siehe auch v. Pestalozza I, S. 224 f. zur „Auslegung der Einzelnorm aus der Totalnorm". 499 So Häberle I I I , S. 6 f.; Ossenbühl, S. 655.

3.3 Methodologische Möglichkeiten

197

Verfassung hier nicht theoretisierende Gedanken über Grundrechtskollisionen 5 0 0 , sondern den Versuch, den positivrechtlichen Mindestbestand konfliktlösender Verfahren zu ermitteln. So gesehen, empfiehlt es sich nicht, überschießende Grundrechtseingriffe unter Hinweis auf das „Bezugssystem des Verfassungsganzen", auf die „materiale Allgemeinheit der Verfassung", auf die „Totalität des verfassungsrechtlichen Wertsystems" zu rechtfertigen oder i n diesem Zusammenhang m i t rechtsstaatlich nicht begründeter Höherwertigkeit zu operieren 501 . Es empfiehlt sich auch nicht, „das Verfassungsganze" unter dem Stichwort der Abwägung polemisch gegen rechtsstaatliche Verfahren der Konfliktlösung ins Feld zu führen 5 0 2 . Das Allgemeine der Verfassungsordnung besteht aus einer Reihe von Verfassungsgrundsätzen und diese sind, wie gezeigt wurde, ihrerseits durch Einzelnormen und Normengruppen des positiven Verfassungsrechts abgestützt, inhaltlich genauer bestimmt. Fragwürdig ist nicht ein dogmatisch summierendes oder sprachlich zusammenfassendes Benennen, wohl aber jedes holistische Argumentieren m i t „dem" Ganzen als solchem. W i r d nicht orakelhaft argumentiert, sondern rechtsstaatlich gearbeitet, so kann das nicht aus einer kompakten Totalität geschehen. Vielmehr wird, wenn auch nicht selten unter falschem Namen, mit Elementen aus Normprogramm und Normbereich der widerstreitenden Vorschriften, mit Gesichtspunkten des Ubermaßverbots und mit einer Folgendiskussion i n bezug auf die Maßstäblichkeit bestimmter Normen, darunter der konfligierenden Vorschriften selbst, der Konflikt zu lösen versucht. Dagegen ist das Ganze der Verfassung als solches arbeitstechnisch nicht handhabbar. Auch die Rede vom Wertsystem, von einer Wertrangordnung und Wertverhältnisordnung bleibt normative Aussagen schuldig, und das Prinzip der Güterabwägung als Technik der Bestimmung von Grundrechtsgrenzen hat es nicht vermocht, eigenständige Verfahren anzubieten, die dem Gebot der Methodenklarheit genügen und die nach500 W i e w e i t h i n bei Bethge; ebd., S. 323: Rückgriff auf allenfalls typologisch gebremste Einzelfallgerechtigkeit u n d Resignation bezüglich eines a l l gemeinen „Schlichtungsrezepts". 501 So vor allem Häberle I I I , S. 5 u n d ff., 32 u n d ff., 51 u. ö. Bei E. v. Hippel w i r d dieser Ansatz zu einer globalen und vorgeblich naturrechtlichen Klausel von Interessenabwägung verallgemeinert, z. B. S. 19, 26, 29, 31 u. ö. Gegen solche Konzepte unter dem Gesichtspunkt der Positivität der Grundrechte: F. Müller V I I I , z.B. S. 17 f., 18 f., 23 ff . u n d durchgehend; ders. I X , S.20f. u. ö., unter Gesichtspunkten einer Einheit der Verfassung ebd., S. 21 f. 502 Wie es Schwache, vor allem S. 72 ff., 78 ff. t u t ; ebd., S. 30 ff., 33 ff., 35 ff. zu A r t . 1 u n d 20 GG unter der Bezeichnung „Das Allgemeine" der Verfassungsordnung. Schwache verwendet den häufig m i t dem Gedanken einer Wertordnung verbundenen und auf Wertdifferenz der beteiligten Elemente hindeutenden Begriff „ A b w ä g u n g " nur deshalb, w e i l er sich eingebürgert habe, vgl. z. B. S. 73 m i t A n m . 672, ohne Abwägung i n diesem Sinn sachlich zu meinen. Insoweit ist seine Polemik ebd., S. 78 ff. i n bezug auf das V e r fahren überflüssig.

198

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

weisen können, rechtlich abgestützt zu sein 503 . Dagegen ist es wohl nur mißverständlich ausgedrückt, wenn i n bezug auf das Prinzip der Einheit der Verfassung und die Optimierung konfligierender „Güter" nicht von bestimmten Zusammenhängen zwischen Verfassungsnormen, sondern vom „Gesamtzusammenhang" der einzelnen Vorschrift die Rede ist 5 0 4 . Zum Verfahren einer solchen Optimierung werden nur wenige Angaben gemacht: Beide Güter müßten dadurch zu optimaler Wirksamkeit kommen, daß beiden Grenzen gezogen werden; die Verhältnismäßigkeit als Relation zweier variabler Größen sei zu beachten, und jedenfalls dürfe nicht durch abstrakte Wertabwägung oder vorschnelle Güterabwägung eines der beteiligten Güter auf Kosten des anderen gegen den Grundsatz der Einheit der Verfassung verwirklicht werden 505 . Der Ruf nach Optimierung durch Interpretation i m Einzelfall 5 0 6 bleibt i m Umkreis der Konkordanzformel. Der Gedanke der Konkordanz ist dem der Güterabwägung insoweit überlegen, als er i m Ansatz an der gleichrangigen Positivität der gegenläufigen Vorschriften festhält. Einzelne beteiligte Normen dürfen nicht einseitig zu Gunsten der anderen mißachtet, auch nicht unverhältnismäßig stark zurückgedrängt werden. Ein Verfahren ist damit aber noch nicht angegeben; es ist nur das Problem gesehen und ein Ziel abstrakt benannt. Weder praktische Konkordanz noch das Pochen auf die Einheit der Verfassung leisten als eigenständige Argumente mehr denn 503

Dazu die Darstellung, Auseinandersetzung u n d Nachweise bei F. Müller V I I I , S. 17 ff., 21 ff. u. ö. 504 Bei Hesse V I , S. 28 u n d f. — Nicht durchweg stimmig erscheinen die Vorschläge von Blaesing, S. 98 ff.: Jedes der zusammenstoßenden Grundrechte sei wegen seiner ausdrücklichen Positivierung gleichzeitig anwendbar und daher durch wechselseitiges systematisches Begrenzen zu optimieren. Dafür müsse sich jedoch „das Verständnis jeder einzelnen Grundrechtsnorm am Gesamtinhalt der Verfassung" orientieren. Andererseits w i r d eingeräumt, der Gedanke einer Einheit der Verfassung sei nur als Aufgabe faßbar, allenfalls als Interpretationsrichtlinie, nicht aber als unmittelbare Entscheidungsregel. Auch w i r d A r t . 79 Abs. 3 GG u n d über i h n das Eingreifen von Verfassungsgrundsätzen unter dem Stichwort von „Höchstwerten" u n d m i t einer unausgesprochenen Vorrangthese in bezug auf A r t . 1 Abs. 1 GG ins Spiel gebracht. — Soweit A r t . 1 Abs. 1 GG m i t seinem Tatbestand i m Einzelfall aussagekräftig ist, muß er als geltendes Recht beachtet u n d i n den Versuch einer Konfliktlösung einbezogen werden. M i t der Rolle eines Höchstwerts hat das nichts zu tun. r 05 ' So Hesse V I , S. 28 f.; ferner ebd., S. 134 f. Z u m Verfahren praktischer Konkordanz und seinem Zusammenhang m i t dem Argument aus der Einheit der Verfassung: F. Müller X , bes. S. 175 f.; zu den ähnlichen Maßstäben integrierender Wirkung, funktioneller Richtigkeit und der normativen K r a f t der Verfassung: ebd., S. 170, 168 f., 176 f. 506 So Blaesing, S. 98 ff., 99 i m Anschluß an Hesse u n d an Lepa, S. 167. Skeptisch gegenüber dem Anspruch des Verfahrens praktischer Konkordanz, die Fehler einer Güterabwägung zu vermeiden: P. Schneider I I , S. 112 f. m i t A n m . 249.

3.3 Methodologische Möglichkeiten

199

eine negative Abgrenzung 507 . Die Frage ist, ob diese Grenze nicht schon aus Gründen des positiven Rechts festgehalten werden muß, ob nicht beide Prinzipien funktionslos sind. Die wissenschaftlich vor allem auf Smend 508 zurückgehende, bei Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht 509 beliebte Praxis der Güterabwägung ruft noch stärkere Bedenken hervor. Sie verringert die Rechtssicherheit. Noch mehr als die genannten Verfahren verführt sie zu subjektiven Werturteilen einer Einzelfallgerechtigkeit, die kaum noch rechtsstaatlich verallgemeinert werden kann, die sich allenfalls auf dem Weg über den informellen Konformismus der Instanzgerichte gegenüber höchstrichterlicher Rechtsprechung nach typischen Fallgruppen ordnen läßt. Abwägung bietet ein bequemes sprachliches Muster an, das über die beteiligten Normtexte und die sie konkretisierenden Sprachdaten wie auch über ein regelhaftes Berücksichtigen der fraglichen Normbereiche allzu rasch hinwegzugehen pflegt. Das Abwägen einzelner Gesichtspunkte aus dem Konkretisierungsvorgang darf aber die Anstrengung einer vollständigen Interpretation nicht ersetzen. Sie setzt sie i m Gegenteil voraus. Steht jedoch, wie i n der Regel, Abwägung an der Stelle einer sorgfältigen Konkretisierung, so w i r d mit einer Mischung aus Sachaspekten, sprachlicher Suggestion und unerklärtem Vorverständnis sowie i m rechtspolitischen Vorgriff auf das aus welchem Grund auch immer erwünschte Ergebnis die angebliche Höherwertigkeit einer oder einiger der beteiligten Normen mehr behauptet als einsichtig gemacht. Oft w i r d nur ein i n seinem Begriffs- und Assoziationsfeld ungeklärt belassenes Wort gegen ein anderes gehalten, w i r d das Ubergewicht des einen über das andere affirmativ versichert. Damit verschiebt sich Güterabwägung von einem Problem rechtsstaatlicher Methodik weitgehend auf die Kompetenz- und Verfahrensseite; auf die Frage, welche staatlichen Instanzen den so weit eröffneten Spielraum von Beurteilung und Kontrolle für sich i n Anspruch nehmen dürfen. Von der demokratischen Legitimation her verlagert sich das Schwergewicht der Verantwortung für Güterabwägungen auf den Gesetzgeber. Dementsprechend hat die wissenschaftliche Debatte zur A b wägung auch zumeist optiert 5 1 0 . Durch Analyse der Normbereiche und 307 Z u dem formalen u n d negativ ausgrenzenden Charakter u n d zur Eigenschaft des Grundsatzes einer Einheit der Verfassung u n d des V o r schlags praktischer Konkordanz als verfassungspolitischer Elemente der Konkretisierung: F.Müller X , vor allem S. 170 ff., 175f.; ferner v. Pestalozza I I , S. 182 „zu zirkelhaften u n d leerformelartigen Orientierungshilfen" i n bezug auf systematische Harmonisierung; Grabitz , S. 577 f.; ähnlich unter Gesichtspunkten des Ubermaßverbots schon Lerche I, z. B. S. 152. 508 Smend I I , z. B. S. 97 f. 509 Siehe die Nachweise bei F. Müller I I I , S. 208 m i t Anm. 597. 510 So schon Lerche I u n d zuletzt Schlink I I . — Z u r Güterabwägung unter rechtstheoretischen u n d methodologischen Gesichtspunkten siehe die A u s -

200

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

d a r a u f gestütztes A b g r e n z e n der T a t b e s t ä n d e lassen sich G r u n d r e c h t s k o n f l i k t e aber o f t d o g m a t i s c h lösen. D i e Frage w i r d d a n n überflüssig, ob die b e t e i l i g t e n G r u n d r e c h t e u n t e r a n d e r e n G e s i c h t s p u n k t e n einzus c h r ä n k e n seien oder welches v o n i h n e n einer G ü t e r a b w ä g u n g geopfert w e r d e n solle. S o w e i t schon die A r b e i t a m T a t b e s t a n d K o n f l i k t e löst, w e r d e n diese p o s i t i v r e c h t l i c h k o n t r o l l i e r b a r e r b e w ä l t i g t . A u c h w e r d e n so die G r u n d r e c h t e besser gegen verfassungsrechtlich unzulässige V e r k ü r z u n g u n d gegen eine ideologische Ü b e r f r e m d u n g geschützt, die sich sonst m a n g e l s g e n a u e r e r A n h a l t s p u n k t e l e i c h t u n t e r suggestiv abw ä g e n d e A r g u m e n t e m i s c h t 5 1 1 . D i e Rechtsprechung s t ü t z t sich, w i e sich zeigte, u n t e r B e r u f u n g a u f die E i n h e i t der V e r f a s s u n g z u m einen auf den Gedanken einer zuordnenden Konkordanz. Z u m andern bemüht sie sich d a r u m , die T a t b e s t ä n d e der a m K o n f l i k t b e t e i l i g t e n V o r s c h r i f t e n m i t d o g m a t i s c h e n M i t t e l n zu umschreiben. W e g e n der U n g e n a u i g k e i t des G e d a n k e n s e i n e r E i n h e i t d e r V e r f a s s u n g u n d seines Gebrauchs gehen E l e m e n t e der e i n e n w i e die der anderen A r g u m e n t a t i o n auch ineinander über 512. einandersetzung bei F. Müller I I I , bes. S. 208 ff. m. N w . ; vor allem unter Gesichtspunkten der Grundrechtsdogmatik: ders. V I I I , z. B. S. 21 ff., 23 ff., 25 ff., 34 f.; ders. I X , S. 22 ff., 24 f., 50 ff., 103 ff.; ebd., S. 25 gegen pauschales A b wägen als holistisches A r g u m e n t ; ders. X , S. 52 ff., 55 ff. u. ö. 511 Beispiele zur Kunstfreiheit bei F. Müller I X , z. B. S. 31 ff. Wie hier zur Rolle einer durch Normbereichsanalyse abgestützten rationalen Tatbestandsabgrenzung bereits ders. I I I , z.B. S. 208, 212; ders. V I I I , z.B. S. 28 f., 34 f., 46 ff., 76 ff., 87 ff. sowie Hesse V I , S. 131 f. — Z u m Tatbestandsausschluß unter Beachtung von Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit und m i t der irreführenden Bezeichnung als „ A b w ä g u n g " auch Schwache , S. 72 ff., 74 ff., 81, 88; ebd., S. 79: Normbereichsanalyse auch als Hilfe f ü r die Folgendiskussion. 512 Z u m Verfahren zuordnender Konkordanz vor allem BVerfGE 41, S. 29 ff.; 41, S. 65 ff.; u n d auch BVerfGE 44, S. 37 ff. u n d 44, S. 59 ff. — I m Beschluß zur Kriegsdienstverweigerung (BVerfGE 23, S. 243 ff.) werden Grundrechte u n d nicht-grundrechtliche Verfassungspositionen — der Sache nach allerdings unrichtig — nach Aspekten der Verhältnismäßigkeit u n d der Wahrung des sachlichen Grundwertgehalts der „schwächeren N o r m " abgewogen, ebd., S. 261 u n d ff. Dabei ist zunächst festzustellen, ob überhaupt ein Konflikt zwischen Verfassungsnormen besteht u n d w i e sich der KonfliktsSachverhalt darstellt. Anschließend soll die Abwägung zeigen, welche der anwendbaren Vorschriften i n casu die gewichtigere ist und w i e w e i t die schwächere zu weichen hat. Die Fehler dieser Entscheidung liegen, wie gezeigt wurde, vor allem i n den Mängeln der Situationsanalyse. — I m Mephisto-Beschluß (BVerfGE 30, S. 173 ff.) w i r d die „Spannungslage" (ebd., S. 195) gleichfalls durch „ A b w ä g u n g aller Umstände des Einzelfalles" zu lösen versucht, ebd., S. 195 u n d ff. — I m Lebach-Urteil (BVerfGE 35, S. 202 ff.) w i r d , soweit ein beiderseits optimaler Ausgleich nicht möglich erscheint, gleichfalls eine Güterabwägung i m Einzelfall m i t der Folge des „Zurücktretens" einer der beiden konfligierenden Positionen (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 - 5 Abs. 1 Satz 2 GG) befürwortet. F ü r das Verfahren spielt die entscheidende dogmatische Rolle das Ubermaßverbot m i t seinen Elementen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit i m engeren Sinn des Einzelfalls („Intensität"). Unter dem E t i k e t t einer alternativ arbeitenden „Abwägung" geht es der Sache nach vor allem u m eine Analyse der Folgen verschiedener möglicher Entscheidungsnormen, u n d zwar zu Recht m i t Hilfe von Ansätzen zu eingehender

3.3 Methodologische Möglichkeiten

201

Der Rückgriff auf die Einheit der Verfassung i n Praxis und wissenschaftlicher Diskussion hat es bisher nicht vermocht, für das gesteckte Ziel einer harmonisierenden bzw. optimierenden Konkordanz oder allgemein: für Konfliktlösung i n Fällen widerstreitender grundrechtlicher Positionen ein Verfahren anzugeben, nach dem gearbeitet werden soll 5 1 3 . I m folgenden werden hierzu nur die Punkte genannt, die sich ohne Einheitsthese bereits aus geltendem Recht ergeben. (1) I n einem juristischen Entscheidungsvorgang kann als (Zwischen)Ergebnis einer Normkonkretisierung der Eindruck entstehen, die für den Rechtsfall herangezogenen Vorschriften widersprächen einander. Der normative Konflikt unterscheidet sich vom methodologischen 511 dadurch, daß bei diesem verschiedene Entscheidungselemente bezüglich derselben Vorschrift zu verschiedenen Ergebnissen führen. Beim normativen harmonieren dagegen die Konkretisierungselemente bezüglich der einzelnen Vorschriften; aber ihre Ergebnisse, also die insoweit schon konkretisierten Entscheidungsnormen, widerstreiten einander. Methodologischer und normativer Konflikt können i n demselben Rechtsfall auch zusammenkommen. Dann ist zunächst die Auflösung für die einzelnen Normen und — sollte der normative Konflikt noch fortbestehen — zuletzt für ihr Verhältnis zueinander zu versuchen. Die Normen wurden also i m Verlauf des Entscheidungsvorgangs (teilweise) konkretisiert, für die Konfliktlage zwischen ihnen hat sich Normbereichsanalyse: ebd., S. 226 ff., 229 f., 230 ff., 233 ff. u n d 235 ff. ( W i r kungsweise einer derartigen Sendung — Resozialisier ungsint er esse). Neben dem Mephisto-Beschluß, den beiden Beschlüssen zum Schulverfassungsrecht i m 41. Band u n d denen zu Fragen des Kirchensteuerrechts i m 44. Band arbeiten unter den hier untersuchten Gesichtspunkten betont dogmatisch beispielsweise der Beschluß zur Transfusionsverweigerung (BVerfGE 32, S. 98 ff. i n der Nachfolge des Mephisto-Beschlusses) u n d i m Anschluß an diesen die Entscheidung zum Eideszwang (BVerfGE 33, S. 23 ff.), die sich zusätzlich auf den Tabakfall (BVerfGE 12, S. 1 ff.) beruft. Z u r Abwägung zwischen prinzipiell gleichrangigen u n d gleichgewichtigen grundrechtlichen Positionen vgl. ferner etwa den Soraya-Beschluß (BVerfGE 34, S. 269 ff.). U n t e r der Schirmherrschaft des Prinzips der Einheit der Verfassung werden die Gleichrangigkeit miteinander zu vermittelnder Grundrechte u n d die Rolle der Normbereichsuntersuchung f ü r eine gegenseitig begrenzende u n d insow e i t harmonisierende systematische Interpretation schon i m Gleichberechtigungs-Urteil zum Verhältnis von A r t . 3 Abs. 2 u n d 6 Abs. 1 GG gut deutlich: BVerfGE 3, S. 225 ff., 241 f. Der Hinv/eis auf die „ N a t u r des jeweiligen Lebensverhältnisses" liegt bei Gleichheitsnormen auch besonders nahe. — Die Vereinbarkeit von A r t . 3 Abs. 2 u n d Abs. 3 m i t A r t . 6 Abs. 1 u n d Abs. 2 GG w i r d i n Nachfolge des Gleichberechtigungs-Urteils m i t W i r k u n g auch f ü r den Gesetzgeber festgehalten i n BVerfGE 6, S. 55 ff., 82 u n d BVerfGE 10, S. 59 ff., 66, 67 ff. Dogmatische Tatbestandsbearbeitung u n d gegenseitige Abgrenzung der Normbereiche beteiligter Grundrechte hätten dagegen dem Bundesgerichtshof seine sprachlichen Exzesse i n B G H Z 38, S. 317 ff., 320 f. ersparen können. 5.3 Dazu F. Müller X , vor allem S. 170 ff. 5.4 Z u diesem F. Müller X , S. 198 ff., 200; zur Konfliktlösung ebd., S. 200 ff.

202

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

ein Eindruck prima vista ergeben. Dieser ist nun zu überprüfen. Dasselbe gilt natürlich dann, wenn das trainierte Vorverständnis den Juristen von Anfang an auf eine Konfliktlage hinweist, wie sie etwa i n der Dogmatik zwischen Rechtsstaat und Sozialstaat oder zwischen Art. 21 und Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG angenommen worden ist. (2) Die erste Frage lautet, ob die gegenläufigen Normen für den Fall tatsächlich aussagekräftig sind; und das heißt: ob sie, an rechtsstaatlichen Maßstäben gemessen, hinreichend bestimmt einschlägig genannt werden können. So hat das Bundesverfassungsgericht i n den Beschlüssen zu Mephisto, zur Transfusionsverweigerung und zum Eideszwang 513 mit Recht festgehalten, Grundrechte könnten durch Generalklauseln oder durch ungenaue Formeln von Güterabwägung nicht eingeschränkt werden. Das ist deshalb so, weil die Grundrechte spezielle Normen sind. Es verstößt gegen die Gebote der Tatbestandsbestimmtheit und Normklarheit, sie durch allgemeine Phrasen oder normativ nicht belegte Generalklauseln zu begrenzen. Die Partner des Konflikts würden insoweit unter Verletzung rechtsstaatlicher Regeln bestimmt. Ein abschreckendes Beispiel für solches Vorgehen bietet die Abweichende Meinung i m Eideszwang-Beschluß, die der Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG nichts Geringeres gegenüberstellen w i l l als die „durch das Grundgesetz geschaffene Gesamtordnung", als das „Wohl des Gemeinwesens" und die „Schutzwürdigkeit des Gemeinwesens" 516 . W i r d der normative Konflikt so angesetzt, dann nimmt es nicht mehr wunder, daß diese wohlfeilen Floskeln i m Ergebnis „höher" stehen sollen als das bestimmte einzelne Grundrecht. Es ist also auch hier nicht ganzheitlich, sondern i m einzelnen zu arbeiten. Der erste Eindruck von einer Konfliktlage darf nicht das weitere Verfahren voreilig festlegen. Zuerst muß sich erhärten lassen, daß tatsächlich ein Widerspruch zwischen Normen vorliegt, deren Aussagekraft für die konkrete Fallfrage hinreichend klar dargetan werden kann. (3) Nun w i r d die Konfliktlage inhaltlich untersucht. Es ist zu prüfen, i n welchem Umfang und m i t welchen ihrer sachlichen Modalitäten sich die Normbereiche der zusammenstoßenden Vorschriften überschneiden und für welche Einzelgestaltungen des Falles i m Umfang dieser Uberschneidung die Normprogramme gegenläufig sind. Dabei sind die allgemeinen sachlichen Alternativen innerhalb der Normbereiche und besonders sorgfältig die vom Rechtsfall aufgeworfenen Fragen i n bezug auf diese Alternativen zu prüfen. So hat i n der Entscheidung zur Kriegsdienstverweigerung 517 das Gericht die Konfliktlage 515 516 517

BVerfGE 30, S. 173 ff., 193; 32, S. 98 ff., 108; 33, S. 23 ff., 29. BVerfGE 33, S. 35 ff., 36, 42. BVerfGE 28, S. 243 ff.; s. dazu oben S. 71 ff.

3.3 Methodologische Möglichkeiten

203

unzulänglich und einseitig untersucht und seine mangelhafte Skizze zur Grundlage des weiteren Vorgehens gemacht. Die wichtigsten Mittel für diese Prüfung sind methodisch die Normbereichsanalyse, dogmatisch Tatbestandsabgrenzung und gegebenenfalls Tatbestandsausschluß. Beim Abstecken der Grenzen von Grundrechtsgarantien ist die sachliche Reichweite des vom Wortlaut der Vorschrift angedeuteten („Kunst", „Wissenschaft", „Ehe und Familie" usw.) oder vorausgesetzten Normbereichs zu umschreiben. Die Bestimmung von Inhalt und Grenze läuft auf dasselbe hinaus. Es w i r d deutlich, daß jedem Grundrecht, auch dem ohne Vorbehalt garantierten, durch seine Sachstruktur Schranken gezogen sind, wo der Normbereich endet. Von dort an erfolgen Handlungen nur noch bei Gelegenheit einer Grundrechtsausübung, w e i l sie m i t dieser dann lediglich faktisch zusammenhängen. Werden allerdings die Vorschriften m i t ihren Wortlauten gleichgesetzt, so macht die Praxis bei einer die normative Kraft des Rechts verkürzenden Harmonisierung von Normtexten halt. Das tertium comparationis einer Konkordanz von Verbalnormen bildet dann oft nur noch die sprachliche Dehnbarkeit der Wortlaute. So erhöht sich das Risiko, normative Widersprüche anzunehmen und wie auch immer begründete Verfahren ihrer Auflösung durchzuführen, wo bei genauerem Zusehen eine Konfliktlage gar nicht gegeben ist. Ein Blick i n die Praxis zeigt, daß diese oft vorschnell einen Widerspruch annimmt und ohne Not abwägt 5 1 8 . W i r d dagegen durch Untersuchen der Normbereiche und durch A b - und gegebenenfalls Ausgrenzen der grundrechtlichen Tatbestände die Konfliktlage bestätigt, so gehen i n deren Lösung auch die Gesichtspunkte aus den Normbereichen i n methodisch reflektierter Form ein. Es w i r d dann möglich, einen Ausgleich der widerstreitenden Normen und nicht nur ihrer Normtexte zu erzielen 519 . Ein Beispiel bietet B G H Z 38, S. 317 ff. Dort wäre A r t . 4 Abs. 1 m i t A r t . 1 Abs. 1 GG zu konfrontieren, zuvor aber zu prüfen gewesen, ob überhaupt der Normbereich von A r t . 4 Abs. 1 GG u n d damit ein F a l l dieses Grundrechts und nicht vielmehr n u r Aktionen bei Gelegenheit der G r u n d rechtsausübung i m Spiel waren. Die Prüfung des Tatbestandes hätte gezeigt, daß auf die Handlungsweisen, die von den Instanzgerichten als Eheverfehlungen gewertet worden waren, kein grundrechtlicher Anspruch bestand; folglich lag kein normativer Konflikt zwischen Grundrechten vor. Ä h n l i c h verhält es sich i m Tabakfall des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 12, S. 1 ff.). 519 Dazu F.Müller I I I , S. 212 ff.; ders. V I I I , S. 23 u n d ff., 25, 32 f., 46 f., 47 ff., 51 ff., 63 ff., 98 ff. m i t Beispielen; zum Tatbestandsausschluß ebd., z.B. S. 25 ff., 28 f., 95 ff.; ders. I X , S. 55, 56 f. Ebenso Hesse V I , S. 131 f.; Scheuner X I I , S. 509 (systematische Auslegung und Tatbestandsausgrenzung, u m K o l l i sionsfälle auszuschließen). Dagegen w i r d die alternativ ansetzende M e thode der Güterabwägung i n der Rechtspraxis referiert bei Larenz, S. 392 ff., 401 f. Für eine Einzelinterpretation der betroffenen Normen vor einer syste-

204

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

(4) Bevor der Konflikt weiter bearbeitet wird, ist zu prüfen, ob die beteiligten Vorschriften von gleichem Rang sind oder nicht. Es ist rechtsstaatlich nicht erlaubt, verschiedene Geltungsebenen zu vermischen. Das gilt auch für die Ansicht, zwischen Grundrechten und dem sie einschränkenden Unterverfassungsrecht herrsche eine Wechselwirkung, die sich über formale Abstufungen hinwegsetzen könne. Abstriche an den beteiligten Rechtspositionen m i t dem Ziel, sie zu optimieren oder, realistischer, sie ohne Verstoß gegen das Übermaßverbot zu begrenzen, sind i n zwei Fällen zulässig: zwischen Verfassungsnormen untereinander und ferner insoweit, als einem Grundrecht m i t Vorbehalt ein ihm zugeordnetes, formal und inhaltlich gedecktes und auch sonst verfassungsmäßiges Vorbehaltsgesetz gegenübersteht. Eine Lösung des normativen Konflikts ist nur dann i n Angriff zu nehmen, wenn die i m Uberschneidungsgebiet ihrer Normbereiche gegenläufigen Normprogramme zu Vorschriften gehören, die gleichen Ranges oder jedenfalls hier als ranggleich zu behandeln sind 520 . Ein Beispiel für korrektes Vorgehen bietet der Beschluß zu Uberlegungsfrist und Nachbesteuerung i m Kirchensteuerrecht: Dort w i r d vor einem Versuch, Konkordanz der widerstreitenden Normen herzustellen, zuerst deren Rang geprüft; und zwar mit dem Ergebnis, nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung könne eine vorbehaltlos gewährte Garantie weder durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes noch durch allgemeine Rechtsgrundsätze ohne Verfassungsrang eingeschränkt werden. Daß Grundrechte i m Verhältnis zueinander gleichrangig sind, sollte positivrechtlich nicht zweifelhaft sein. Was die dogmatische Seite dieser Frage betrifft, so verfährt die Verfassungsjustiz denn auch i n aller Regel korrekt 5 2 1 . Daneben hat aber das unklare Reden der Praxis von Einheit der Verfassung und Güterabwägung zuweilen den Anschein erweckt, bestimmte Grundrechte seien gewichtiger, von höherem Wert als andere. I n dieser Ausdrucksweise ist der thematische Geltungsumfang bestimmter Normen m i t generellen Rangfragen vermischt oder solchen doch gefühlsmäßig angenähert. Dem liegen zwei Denkfehler zugrunde: Einmal w i r d eine allgemeine Aussage zur Geltungskraft einer Vorschrift m i t der A r t verwechselt, auf die sie einen bestimmten Einzelfall regiert. Zum andern w i r d eine Aussage über die Breite des Normbereichs und damit der Häufigkeit inhaltlicher Anwendbarkeit einer Vorschrift m i t einem formalen Rangurteil vermischt. Diese ungenaue matischen „Zusammenschau" plädiert zu Recht v. Pestalozza I I , S. 182 ff. am Beispiel der A r t . 105 ff. GG. Siehe ferner Rüfncr I I , S. 455 ff., 477 ff., 479. 520 F. Müller V I I I , z. B. S. 53, 89. — Die i m Text folgende Entscheidung ist: BVerfGE 44, S. 37 ff., 49 f., 53, 55; siehe auch BVerfGE 44, S. 59 ff., 66 f. 521 Aus der neueren Rechtsprechung vgl. etwa BVerfGE 32, S. 98 ff., 107 f.; 33, S. 23 ff., 27 ff., 29; 34, S. 165 ff., 182 f.; 35, S. 202 ff., 225; 41, S. 29 ff., 51; 41, S. 65 ff., 77 f.; 44, S. 37 ff., 49, 53, 55; 44, S. 59 ff., 66 f.

3.3 Methodologische Möglichkeiten

205

Sprechweise hat gelegentlich v e r w i r r t und zum Beispiel dazu geführt, i m Zusammenhang m i t A r t . 79 Abs. 3 GG dem Grundsatz und Grundrecht der Menschenwürde die Qualität eines „Höchstwerts" 522 zuzuschreiben. Es gab auch den Vorschlag, die Grundrechte auf eine A r t systematisch zu ordnen, der Maßstäbe für Wertabwägung, gegenseitige Begrenzung und Rangfolge zu entnehmen sind. So sollen die Grundrechte danach eingeteilt werden, ob sie politische oder private Freiheit sichern, ob sie privatnützig oder öffentlichkeitsbezogen gebraucht werden 528 . Rangunterschiede sind generell und formal, unabhängig vom Inhalt des Einzelfalls zu beachten. Sie kommen unter Verfassungsnormen nicht vor. Darum ist es auch nicht sinnvoll, hier von inhaltlicher Höherwertigkeit oder Höherrangigkeit zu sprechen. Sachen und Ziele, die moralisch oder verfassungspolitisch gegenüber anderen als höherwertig beurteilt werden, können mit formalen Mitteln i m positiven Recht eine Vorzugsstellung und gesteigerten Schutz eingeräumt erhalten. Eine deutliche normative Abstufung ist verbindlich; der moralischen oder politischen Bewertung der fraglichen Normbereiche als höherrangig geschieht damit Genüge. Nicht aber setzen sich außerrechtliche Bewertungen i n dem Sinn von selbst fort, daß Normen desselben Ranges einander über- oder untergeordnet werden dürften. Freie Kunst ist gegenüber dem Eigentum oder der Berufsfreiheit verfassungsrechtlich nicht höherwertig, obwohl A r t . 5 Abs. 3 Satz 1 GG stärker abgesichert ist als Art. 14 Abs. 1 und A r t . 12 Abs. 1 GG. Dasselbe gilt für die Abstufung anderer Gesetzes vorbehalte. Sie führt zu verschiedenen Graden rechtlicher Sicherung. Aber aus ihr können keine Schlüsse auf eine Werthierarchie unter den geschützten Normbereichen gezogen werden. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat das m i t Blick auf die unterschiedlich starke Sicherung grundrechtlicher Garantien wie auch auf die Rolle des A r t . 79 Abs. 3 GG klar herausgearbeitet 5 2 4 . Formeln, in denen von einem (wenn auch nur i m Einzelfall) höheren Gewicht, höheren Wert oder höheren Rang konfligierender 522

Blaesing , S. 101 f. Repräsentativ Friesenhahn , S. G 19 f.; zurückhaltender Rüfner II, S. 461 ff. Anders F. M ü l l e r V I I I , S. 47, 51 ff., 53, 94 f. u.ö. Gegen die Annahme von Rangdifferenzen unter den Grundrechten z. B. auch Schwache , S. 72, 76 f., 78; trotz dieses zutreffenden Ansatzes verwendet Schwache den auf eine Wertdifferenz hindeutenden u n d daher unpassenden Terminus „Abwägung", vgl. ebd., S. 72 m i t A n m . 672. — Gegen die Verwechslung des gegebenenfalls besonders großen sachlichen Gewichts nach positivem Verfassungsrecht m i t einem formalen Vorrang schon zu Recht die Abweichende Meinung i n B a y V f G H 2, S. 45 ff., 49. — Z u dieser Frage am Beispiel des Verhältnisses von A r t . 4 zum (damaligen) A r t . 12 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 GG u n d i m Anschluß an die zutreffende Behandlung i n BVerfGE 19, S. 135 ff., 138: F.Müller IX, S. 54 m i t A n m . 9. >24 BVerfGE 3, S. 225 ff., 232. C23

206

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Grundrechte und sonstiger Verfassungsnormen die Rede ist, sind unglückliche Metaphern. Sie führen zu optischen Täuschungen i n Dogmatik und Methodik. (5) Die überprüfte und bestätigte Konfliktlage kann durch positives Verfassungsrecht aufgelöst sein. Das betrifft nicht die Fälle, in denen schon der Normtext von Grundrechten ihren Normbereich beschränkt: so die Informationsfreiheit aus A r t . 5 Abs. 1 Satz 1 GG auf eine Information aus allgemein zugänglichen Quellen oder die Versammlungsfreiheit i n A r t . 8 Abs. 1 GG auf friedliche Versammlungen. I n diesen Fällen hätte bereits die bisherige Prüfung zu dem Ergebnis geführt, eine Konfliktlage sei nicht gegeben. Gemeint sind vielmehr konfliktlösende Vorschriften des positiven Rechts : etwa den Grundrechten hinzugefügte einfache (z. B. A r t . 2 Abs. 2 Satz 3, 8 Abs. 2 GG) oder qualifizierte (z. B. Art. 11 Abs. 2, 13 Abs. 3 GG) Gesetzesvorbehalte oder partiell gegenläufige Freiheitsgarantien, die typische Konfliktlagen unmittelbar auflösen. Beispiele bieten A r t . 7 Abs. 2 GG (Recht der Erziehungsberechtigten, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen) und 7 Abs. 3 Satz 3 GG (Recht des Lehrers, das Erteilen von Religionsunterricht abzulehnen). Beide Grundrechte ziehen die konfliktlösende Konsequenz aus dem Verhältnis von Art. 4 Abs. 1 (Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des Bekenntnisses) zu A r t . 7 Abs. 1 und seinem Normbereich einer weltanschaulich gespaltenen Schule i m pluralistischen Gemeinwesen. Die Rechtsprechung hat ferner i n den qualifizierten Gesetzesvorbehalten des A r t . 5 Abs. 2 GG zu Recht eine Konfliktregel des Grundgesetzes für die Grundrechte des A r t . 5 Abs. 1 GG gesehen und darauf hingewiesen, daß den vorbehaltlos gewährten Rechten aus A r t . 5 Abs. 3 Satz 1 GG bewußt keine Lösung dieser A r t hinzugefügt worden ist 5 2 5 . Für eine Konfliktregelung kann es auch von Bedeutung sein, ob mehrere Grundrechte desselben Berechtigten nebeneinander aktualisiert werden und ob sich deren Schutzwirkung dadurch verstärkt 5 2 6 . Konkurrieren verschieden stark einschränkbare Grundrechte miteinander, so sind die 525

So B V e r f G E 30, S. 173 ff., 223 zu A r t . 5 Abs. 1, 5 Abs. 2 i m Vergleich m i t A r t . 5 Abs. 3 GG (Abweichende Meinung); BVerfGE 35, S. 202 ff., 223 zu A r t . 5 Abs. 1 (Rundfunkfreiheit), 5 Abs. 2 GG. Z u speziellen Verfassungsregeln, die normative Konflikte innerhalb des Grundgesetzes von vornherein verhindern, vgl. auch schon BVerfGE 3, S. 225 ff., 232 f. u n d aus der i n diese T r a d i t i o n gehörigen Rechtsprechung etwa BVerfGE 4, S. 294 ff., 296 f. 526 Dazu Rüfner I, bes. S. 47 f., 52, 53 f., 61; jetzt auch ders. I I , S. 476 f. Zu der Möglichkeit, mehrere durch eine Handlung gleichzeitig erfaßte G r u n d rechte dann uneingeschränkt nebeneinander zu verwirklichen, w e n n sie ohne sachlich-systematischen Zusammenhang sind: B V e r w G E 25, S. 318 ff., 328 f. (zu A r t . 5 Abs. 3 und Abs. 1 bei Spielfilmen, unter Aufgabe der Rechtsprechung von B V e r w G E 1, S. 303 ff., 305). Z u r Anwendbarkeit n u r der weniger eingreifenden Schranken schon Lerche I, S. 128; gegen bloßes Addieren u n d Subtrahieren von Schranken der beteiligten Grundrechte aber ders. V, S. 103.

3.3 Methodologische Möglichkeiten

207

weitergehenden Grenzen auf die weniger beschränkbare oder vorbehaltlose Garantie nicht anzuwenden. Das gilt aber nicht, w e i l i n solchen Fällen „die freiheitlichere Bestimmung gegenüber der eingeschränkteren den Vorrang" 5 2 7 hat; sondern deshalb, w e i l aus rechtsstaatlichen Gründen die Grenzen des einen Grundrechts auf andere Garantien nicht übertragbar sind 5 2 8 . Spezialität zwischen widersprüchlichen Grundrechten schränkt die Möglichkeit von Konfiiktlagen weitgehend ein. Das w i r d nur vereinzelt unter Hinweis auf einen angeblich wohlfundierten Grundsatz des Bundesverfassungsgerichts bestritten. Nach i h m ist die Auslegung zu bevorzugen, die den juristischen Wirkungsgrad der Norm am stärksten entfaltet. Die einzelne grundrechtliche Setzung soll daher innerhalb ihres gegenständlichen Bereichs „für sich umfassende Bedeutung" 5 2 9 haben. Dieses Argument geht davon aus, Spezialität unter Grundrechten müsse stets darauf beruhen, ein Grundrecht zugunsten eines anderen einschränkend auszulegen. Wie gezeigt wurde, gibt es aber Fälle, i n denen schon das Grundgesetz SpezialVerhältnisse setzt. Das einschränkende Auslegen eines Grundrechts zugunsten eines anderen gehört i n ein späteres Stadium der Konfliktlösung, das bei Spezialität nicht erreicht wird. I m übrigen ist das Prinzip der Grundrechtseffektivität nicht gerade wohlfundiert. Das Gericht meint, Grundrechte seien weit auszulegen, i m Zweifel sei ihnen ein extensiver Geltungsbereich zuzuerkennen 530 . Die Aussage w i r d nicht begründet. Sie erscheint u m so abwegiger, als der Senat dort eine Stelle aus der wissenschaftlichen Debatte der Weimarer Zeit offensichtlich mißverstanden hat. Diese bezog sich ausdrücklich nicht auf die Inhaltsbestimmung von Grundrechten, sondern auf die Alternative „Programmsatz oder aktueller Rechtssatz" — also auf eine Frage, die seit 1949 durch A r t . 1 Abs. 3 GG entschieden ist 5 8 1 . 527 So Berg , S. 80 f., 82, 85 f., 92, 96 f., 167 f., der diese Sicht auf eine „ v o m Grundgesetz beabsichtigte Wertrangordnung" (S. 92) und auf ein durch die Abstufung der Gesetzesvorbehalte ausgedrücktes Wertsystem zurückführen möchte. Z u r K r i t i k daran u n d zu den Beispielen anhand von A r t . 4 Abs. 2, 5 Abs. 3 Satz 1 und 12 Abs. 1 Satz 2 GG: F. Müller V I I I , S. 52 f. m i t A n m . 29. Siehe ferner dens. I X , S. 55 i m Anschluß an BVerfGE 19, S. 135 ff., 138 u n d BVerfG JZ 1968, S. 521 ( = E 27, S. 127 ff., 132). 528 Siehe dazu n u r BVerfGE 30, S. 173 ff., 191 ff.; F.Müller V I I I , S. 41 ff., 46 ff., 87 ff. u. ö. Jetzt auch BVerfGE 47, S. 327 ff., 368. 329 So Schwache , S. 88. 530 BVerfGE 6, S. 55 ff., 72. 531 Z u diesem Mißverständnis des Gerichts: Ehmhe V, S. 87 f.; F.Müller X , S. 177 f. Ebd. zum Interpretationsprinzip „ i n dubio pro übertäte". — A n entscheidender Stelle i m Mehrheitsvotum des Abtreibungs-Urteils ist das Mißverständnis zur sogenannten Grundrechtseffektivität i n fragwürdigem Zusammenhang aufrechterhalten: Das grammatische Element aus Umgangs-

208

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

(6) Hat sich die Konfliktlage durch die bisherigen Überlegungen weder vermeiden noch lösen lassen, so kommt es für ihre weitere Bearbeitung darauf an, die einschlägigen Normen vollständig zu berücksichtigen und alle von der juristischen Methodik angebotenen Entscheidungselemente daraufhin zu prüfen, wie weit sie für die zu entscheidende Frage aussagekräftig sind. Falls zusätzlich methodologische Widersprüche auftreten, sind die für sie passenden Konfliktlösungsregeln zu erörtern. Dabei kann zwischen unmittelbar normbezogenen Elementen auf der einen und nicht normbezogen-dogmatischen, lösungstechnischen, theoretischen und rechtspolitischen auf der anderen Seite unterschieden werden 5 3 2 . Das Gebot vollständiger Verarbeitung der für den Fall ergiebigen Vorschriften ist inhaltsgleich mit der Bindung der staatlichen Instanzen an das geltende (Verfassungs)Recht. Alle geltenden Normen binden, sofern sie auf den Einzelfall passen — vorausgesetzt, sie bilden nicht (wie die Notstandsregeln außerhalb eines Falles von Notstand) m i t Rechtswirkung eine exklusive Gruppe. Informelle (z. B. konventionelle, didaktische) Einteilung nach Rechtsgebieten ist keine Grenze für Bindung und Geltung. Das Bundesverwaltungsgericht hat das i m Munitionsanstalts-Fall herausgearbeitet, allerdings unter unnötigem Rückgriff auf eine „Harmonie i n der Gesamtrechtsordnung". Die Positivität der Rechtsordnung reicht dafür aus. Umgekehrt argumentiert das Bundesverfassungsgericht i m Südweststaats-Urteil zu eng: Wo es um die Vereinbarkeit eines Bundesgesetzes mit dem Grundgesetz geht — sei es bei abstrakter Normenkontrolle, sei es i m Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr.n2 und 3 GG, § 13 Nr.n6 und 7 Bundesverfassungsgerichtsgesetz) —, müsse wegen § 78 Bundesverfassungsgerichtsgesetz die Gültigkeit des ganzen Gesetzes und jeder einzelnen seiner Bestimmungen unter allen rechtlichen Gesichtspunkten geprüft werden. § 78 Bundesverfassungsgerichtsgesetz ist aber insoweit nicht konstitutiv, als er nur einen Ausschnitt aus den hier wirksamen Rechtsstaatsgeboten erfaßt. (7) Grundrechte sind positives Recht. Sie sind nicht als überpositiv substantielle Gewährleistungen, sondern als rechtlich geschaffene und und Fachsprache w i r d durch eine pauschale Behauptung zu „Sinn u n d Zweck" sowie durch den Denkfehler zur „juristischen Wirkungskraft der Grundrechtsnorm" unter Hinweis auf BVerfGE 6, S. 55 ff., 72 und BVerfGE 32, S. 54 ff., 71 beiseite geschoben: BVerfGE 39, S. 1 ff., 37 f. 532 Dazu F. Müller X , S. 198 ff. — Z u r Notwendigkeit, einschlägige normative Aspekte vollständig f ü r die Konfliktlösung heranzuziehen u n d sie ausnahmslos korrekt zu verwenden, bieten ein schönes Beispiel die Abweichenden Meinungen i m Mephisto-Beschluß: BVerfGE 30, S. 200 ff., bes. 202 ff., 204 ff., 211; u n d vor allem ebd., S. 218 ff., bes. 221 ff. — Die i m folgenden T e x t genannte Aussage i m Südweststaats-Urteil findet sich BVerfGE 1, S. 14 ff., 41; die des Bundesverwaltungsgerichts i m Munitionsanstalts-Fall B V e r w G E 29, S. 52 ff., 56 f.

3.3 Methodologische Möglichkeiten

209

begrenzte Normen zu behandeln. Damit ist nichts gegen die Möglichkeit gesagt, sie auch naturrechtlich zu sehen. Aber vom positiven Recht her ist das Setzen eines Grundrechts als eines eigengeprägten, nach Maßgabe der Verfassung zu schützenden und zu fördernden Komplexes sachlicher Gegebenheit und menschlichen Tuns konstitutiv und nicht etwa nur deklaratorisches Bestätigen eines natürlichen Rechts. Die Grundrechte sind ohne Abstrich, ohne metapositive Ergänzung oder Umdeutung beim Wort zu nehmen und weder naturrechtlicher noch ganzheitlich-materialer Spekulation zu überlassen. Ihre normativen Wirkungen ergeben sich aus einer Bereichsdogmatik, die für jedes einzelne Grundrecht und seine Zusammenhänge m i t anderem Verfassungsrecht und mit verfassungsgemäß einschränkenden oder ausgestaltenden Gesetzen zu entwickeln ist. Sie stützt sich auch auf Normbereichsanalysen 533 . Ein solches Vorgehen hat zeigen können, daß die Grundrechte nicht etwa Generalklauseln, sondern sachhaltige und für die Dogmatik sogar gesteigert ergiebige Rechtspositionen darstellen 534 . Da sie positive Normen sind, darf kein auf den Fall passendes Grundrecht einer alternativ ansetzenden Abwägung zum Opfer fallen, zugunsten eines oder mehrerer widerstreitender Grundrechte ganz zurücktreten. Es muß mit anderen Worten jedem der konfligierenden Grundrechte eine sachliche Mindestposition erhalten bleiben, die wenigstens den Wesensgehalt wahrt 5 3 5 . Der Wesensgehalt w i r d hier nicht dahingehend relativiert, er sei m i t dem Gebot der Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns gleichzusetzen. Vielmehr haben Normbereichsanalysen und Bereichsdogmatik des einzelnen Grundrechts herauszuarbeiten, welche Aktions-, Organisations- oder Sachgegebenheiten des Normbereichs für das Normprogramm so entscheidend, welche so wenig ersetzbar, faktisch gleichwertig austauschbar sind, daß bei ihrer Verletzung durch Auflösen des Normenkonflikts i m Einzelfall die Sache, um derentwillen die Garantie vom Grundgesetz gegeben wird, beseitigt wäre. Das Übermaßverbot gilt als anerkannte ungeschriebene Rechtsstaatsnorm auch außerhalb der Wesensgehaltssperre des einzelnen Grundrechts. A r t . 19 Abs. 2 GG darf nicht so gehandhabt werden, daß er nur das wiederholt, 533 F.Müller I I I , z.B. S. 178 ff., 201 ff., 216 ff. m . N w . ; ders. V I I I , S.40f., 41 ff., 50 u. ö. 534 Siehe F. Müller V I I I , S. 40 ff., 76 ff., 87 ff.; dens. X , S. 38 ff., 45 ff., 51 ff., 63 ff., 81, 183, 273 u.ö. 535 F. Müller I I I , S. 208 ff., 212 (gegen alternative S t r u k t u r der Abwägung, für Wahrung eines Mindeststandards), ebenso S. 213 u.ö.; ders. V I I I , z.B. S. 18 f., 87 ff.; ders. I X , z.B. S. 55. Ebenso Hesse V I , S. 28 f., 134 f.; Rüfner I I , S. 465 ff., 467; zu verschiedenen A r t e n der Aktualisierung von Grundrechten und zum etwaigen Einschränken von Sanktionen als Ergebnis einer K o n f l i k t lösung: ebd., S. 470 f. — Eingehend gegen alternative Abwägungsmodelle u n d für das Gebot, die sachliche Mindestposition zu halten: Schlink I I , S. 76 ff., 80 ff., 90 ff., 117 ff., 120 ff. und bes. für die Grundrechte: S. 193 ff.

14 F. M ü l l e r

210

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

was als unbestrittenes Gewohnheitsrecht ohnehin gilt. Die systematisch spezielle und inhaltlich besonders betonte Vorschrift des A r t . 19 Abs. 2 GG ist als selbständige Norm zu behandeln. Der Wesensgehalt eines Grundrechts ist demnach der unverzichtbar sachliche Kern, der für jede Garantie gesondert zu entwickeln ist. Er bezeichnet auch für Konfliktlösungen die Linie, hinter die das Ergebnis nicht zurückgehen darf. Dagegen kann die zu wahrende Mindestposition i m Einzelfall stärkeren Schutz gewähren als der Wesensgehalt; außerhalb von Art. 19 Abs. 2 GG ist dies eine Frage der Verhältnismäßigkeit der Konfliktlösung 5 3 6 . Eine Möglichkeit, das Wahren der Mindestposition dogmatisch aufzuschlüsseln, bietet bereits die Unterscheidung von Schutzzonen innerhalb der Garantie, also eine i m gröberen Sinn verräumlichende Metaphorik. Wesentlicher ist es aber, verschiedene Schutzrichtungen herauszuarbeiten, denen gemäß Grundrechte wirken: Ist die betreffende Handlungsweise, der fragliche Sach- oder Organisationskomplex vom Schutzgedanken des Grundrechts her entbehrlich oder unentbehrlich, ist er faktisch ersetzbar, austauschbar oder nicht? (Frage nach der Funktion.) Ferner: Welche Sach-, Organisations- und Aktionsgarantien i m geschützten Normbereich sind durch Konkretisierung des Grundrechts nicht hinreichend plausibel zu machen, sind aber durch den ausgestaltenden Gesetzgeber hinzugefügt und damit von unterverfassungsrechtlichem Rang? Andere Fragestellungen lauten: Darf das spezifisch Geschützte zum Anknüpfungspunkt für belastende Rechtsfolgen gemacht werden? Wie w i r k t es, falls das zulässig ist, normativ auf die an das Handeln des Staates anzulegenden Maßstäbe? Welche Sanktionen läßt es zu und welche jedenfalls nicht? Das Schema: Anknüpfungspunkt — Maßstäblichkeit — Sanktion erleichtert es, die Frage nach dem Mindestbestand durch genauere Analyse der Konfliktlage und durch differenzierte Folgenbewertung rationaler zu fassen 537 . Diese Möglichkeiten gehen über die i n Praxis und Lehre nach dem Muster „Kernposition — Randposition" üblichen hinaus. Sie erlauben eine dogmatisch korrekte Arbeit. Denn die Kernpositionen sind, soll das Wort nicht rechtlich unverbindlich bleiben, als Wesensgehalt i m Sinn des Art. 19 Abs. 2 GG zu fassen; und mit Randpositionen sind teils Handlungen gemeint, die nur äußerlich mit einer Grundrechtsausübung zusammenhängen und rechtlich von der Schutzgarantie nicht erfaßt werden 5 3 3 , teils handelt es sich zwar um grundrechtlich geschützte, 536 Z u dieser Auffassung des Wesensgehalts: F.Müller I I I , S. 137 f., 144, 184 f., 204, 207 m. Nw.; ders. I X , S. 55; ders. X V I I I , S. 57 f. 537 Vgl. dagegen die zu pauschale, sachlich unvollständige u n d außerdem asymmetrische Darlegung der Konfliktsituation i n BVerfGE 28, S. 243 ff., 258 ff. — Zu den verschiedenen Schutzrichtungen der Grundrechte i m Sinn der genannten Fragestellungen: F. Müller X V I I I , S. 48 f.; ders. V I I I , S. 49.

3.3 Methodologische Möglichkeiten

211

z u m N o r m b e r e i c h der G a r a n t i e gehörende P o s i t i o n e n , welche die P r a x i s aber auf f r a g w ü r d i g e A r t als r a n d s t ä n d i g u n d d a m i t i m E r g e b n i s als n i c h t beachtlich b e h a n d e l t 5 3 9 . (8) Das V e r f a h r e n der K o n f l i k t l ö s u n g i s t gebunden, i s t n o r m o r i e n t i e r t e Rechtsarbeit. Diese h a t — w i e i m m e r , so auch h i e r — n e b e n u n v e r b i n d l i c h e n m e t h o d i s c h e n H i l f s m i t t e l n , die n u r P l a u s i b i l i t ä t erstreb e n k ö n n e n , zugleich auch v e r p f l i c h t e n d e methodenbezogene N o r m e n , v o r a l l e m aus d e m G e b i e t des Rechtsstaats, z u r e s p e k t i e r e n . F ü r die K l a r h e i t s - u n d B e s t i m m t h e i t s g e b o t e ist das schon gezeigt w o r d e n . D i e i n K o n f l i k t l a g e n i n h a l t l i c h w i c h t i g s t e N o r m i s t das Übermaßverbot. Es f r a g t nach der Geeignetheit der z u b e u r t e i l e n d e n s t a a t l i c h e n M a ß n a h m e (hier: der wechselseitigen E i n g r e n z u n g v o n Verfassungsp o s i t i o n e n ) f ü r einen v o n der V e r f a s s u n g e r l a u b t e n Z w e c k , nach i h r e r Erforderlichkeit i m S i n n des d e n Z w e c k e r r e i c h e n d e n M i n d e s t e i n g r i f f s u n d schließlich nach der f a l l b e z o g e n e n Verhältnismäßigkeit i m engeren S i n n . Diese s o l l Z w e c k u n d M i t t e l v o r a l l e m a n d e n v o r h e r s e h b a r e n F o l g e n u n d i h r e r B e w e r t u n g messen. A l s N o r m v o n V e r f a s s u n g s r a n g ist das Ü b e r m a ß v e r b o t stets zu beachten 5 4 0 . 538 So i m Tabakfall, BVerfGE 12, S. 1 ff. oder beim Problem Glaubenswechsel/Eheverfehlung i n B G H Z 38, S. 317 ff. 539 So widersprüchlich der Beschluß zur Kriegsdienstverweigerung, BVerfGE 28, S. 243 ff., 262 („formale Randpositionen" i m Gegensatz zum „ K e r n der Kriegsdienstverweigerung"); vgl. den Unterschied zur Aussage ebd., S. 260. — Die hier vorgeschlagene Differenzierung läßt dagegen nicht geschützte A k t i v i t ä t e n bei Gelegenheit einer Grundrechtsausübung auf der einen u n d den Kernbestand (den Wesensgehalt) auf der anderen Seite als eigene Gruppen bestehen. Sie unterscheidet innerhalb des nicht von A r t . 19 Abs. 2 GG erfaßten, des gleichsam normalen Geltungsbereichs des G r u n d rechts. Das Verfahren der Konfliktlösung w i r d dadurch nicht n u r besser durchsichtig, sondern unter Umständen auch beweglicher dadurch, daß bei einer je nach Sachverhalt oder je nach Alternative der Folgenbewertung geänderten Schutzrichtung des Grundrechts auch das Konkordanzziel verändert w i r d , bzw. daß mehrere rechtlich gleichwertige Möglichkeiten der Konfliktlösung erarbeitet werden können. 540 Siehe BVerfGE 19, S. 342 ff., 348 f.; 30, S. 173 ff., 199. Einzelbeispiele aus der Rechtsprechung: BVerfGE 2, S. 266 ff., 280: Die Beschränkung eines Grundrechts muß der damit bekämpften Gefahr angepaßt sein; BVerfGE 16, S. 194 ff., 201 f.: Eingriffe i n die körperliche Unversehrtheit des A r t . 2 Abs. 2 Satz 1 GG müssen i m Rahmen eines Strafverfahrens i n angemessenem V e r hältnis zur Schwere zur Tat stehen (Liquorentnahme) ; vergleichbar sind BVerfGE 17, S. 108 ff., 117 f. u n d 27, S. 211 ff., 219; — s. ferner z. B. BVerfGE 7, S. 377 ff., 407; 9, S. 338 ff., 346; 17, S. 306 f f , 313 f.; 20, S. 45 ff., 49 f.; 23, S. 127 f f , 133; 32, S. 373 f f , 3791; 34, S. 369 f f , 380 ff.; 36, S. 264 f f , 269 f.; 40, S. 371 f f , 382 f. — Z u dieser ständigen Rechtsprechung: Grabitz. — Speziell f ü r die Frage von Grundrechtskonflikten: Rüfner I I , S. 465 ff. (Geeignetheit, Minimaleingriff) u n d S. 468 ff. (Verhältnismäßigkeit i m engeren Sinn), allerdings m i t dem Vorschlag der Abwägung u n d m i t der Rede von „Einbußen i n Randbereichen". F ü r nicht-alternativ ansetzende Abwägungsmodelle eingehend Schlink I I , S. 143 ff. (Zweckanalyse — Prüfung der Geeignetheit — Prüfung der Notwendigkeit — Beachtung der Mindestposition), S. 192 ff. — Z u den Möglichkeiten formaler Methoden f ü r die Aufbereitung u n d Lösung

14*

212

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Die verhältnismäßige Lösung eines Normenkonflikts macht nicht die Normprogramme „der" Verfassung (oder gar „der" Rechtsordnung) miteinander verträglich; sie entzerrt vielmehr nur die der am vorliegenden Fall beteiligten Rechtsnormen i m Blick auf die i h n regelnde bestimmte Entscheidungsnorm. Die Entzerrung ist außerdem nur für den Bereich der Uberschneidung zu leisten und innerhalb seiner auch nur insoweit, als (in der Schnittmenge von Konkretisierungselementen der betreffenden Rechtsnormen) die Normprogramme gegenläufig sind. Es handelt sich um Feinarbeit von abgegrenztem Umfang und nicht u m Operationen, die mit ganzheitlicher Geste auf Rechtsordnung und Verfassung verweisen lassen. Maßstab für die Lösung des Widerspruchs (nach anderen Konzepten: für die Optimierung oder Harmonisierung) sind weder sie noch auch nur der allgemeine Wirkungsumfang der beteiligten abstrakten Regeln. Das gilt auch negativ: Keine einschlägige Rechtsnorm darf i m Konfliktbereich des Falles beim Bestimmen der Entscheidungsnorm ganz ausgeschaltet werden. Dabei hilft nicht die Überlegung, die Vorschrift werde hier zwar abwägend zur Gänze verdrängt; das sei aber unbedenklich, da sie ja i m übrigen, außerhalb dieses Falles, noch gilt. Normdurchbrechung ist vielmehr i m Einzelfall (wo auch sonst?) rechtsstaatlich unzulässig. Die entscheidungserheblichen Realdaten sind aus dem Uberschneidungsbereich zu gewinnen. Wegen der dargelegten Individualität des Konflikts werden direkt normbezogene (z.B. systematische, normbezogen-dogmatische) Konkretisierungselemente oft wenig oder nichts zu seiner Auflösung beitragen können. I n solchen Fällen kommt es verstärkt auf verfassungspolitisch argumentierende Folgenvoraussagen und Folgenbewertungen an. Sie nehmen ihre Sachgesichtspunkte aus den beteiligten Normbereichen und müssen sich i m Spielraum der jedenfalls noch möglichen Verständnisvarianten der beteiligten Normtexte halten. Innerhalb des Spielraums können sie i n Fällen dieser A r t die Konfliktlösung maßgeblich tragen. (9) Rechtserhebliche Unterschiede für die eingangs genannten Fallgruppen ergeben sich nicht. Je nach Falltyp mag es nützlich sein, die Akzente zuweilen anders zu setzen. Für die Frage der normativen Begründetheit der Entscheidungsnorm spielt es aber keine Rolle, ob Grundrechte m i t anderen Grundrechten oder mit Normen des organisatorischen Teils i n Konflikt liegen bzw. ob es die konfliktlösende Interpretation auch m i t einschlägigen Verfassungsgrundsätzen zu t u n hat. normativer Konflikte i m Verfassungsrecht grundlegend Fohmann. — A l l g e mein zur Verhältnismäßigkeit i n der Methodik: Latenz, S. 464 ff. ; zur Rolle der Normbereichsanalyse f ü r Verhältnismäßigkeitsurteile: F. Müller I X , S. 55.

3.3 Methodologische Möglichkeiten

213

(10) Offenes Arbeiten i m Sinn von Methodenklarheit und Methodenehrlichkeit ist bei Normenkonflikten und für das Verfahren ihrer Lösung besonders nötig. Noch mehr als i n einlinig verlaufenden Entscheidungsvorgängen kommt es hier darauf an, unvollständige, widersprüchliche, voreilig vom erwünschten Ergebnis geprägte Arbeitsweisen zu vermeiden, und darauf, die Begründung nicht durch anmaßenden Zugriff auf Wertsystem und Verfassungstotalität, nicht m i t alternativ angesetzten pauschalen Abwägungen oder m i t sachlich haltlosen Autoritäts-, Suggestiv- und Absurditäts-Argumenten zu stützen. Wie immer ist es rechtsstaatlich angezeigt, den Vorgang des Entscheidens und die Sprachgestalt der Gründe für die wesentlichen, die Entscheidungsnorm tragenden Teile deckungsgleich zu halten. Zwei gelegentlich genannte Gesichtspunkte sind nicht geeignet, die Schwierigkeit verfassungsrechtlicher Konfliktlösung zu vermindern: die Trennung zwischen Grundrecht und Grundrechtsausübung sowie der Hinweis auf den konfliktlösenden Gesetzgeber. I n der Entscheidung zur christlichen Gemeinschaftsschule badischer Prägung sagt das Bundesverfassungsgericht 541 , da es in einer pluralistischen Gesellschaft tatsächlich unmöglich sei, i n der öffentlichen Pflichtschule allen weltanschaulichen Wünschen der Eltern voll Rechnung zu tragen, könne sich der einzelne auf das Grundrecht aus A r t . 4 GG nur eingeschränkt berufen. Durch „die kollidierenden Grundrechte andersdenkender Personen" werde er folglich „ i n der Ausübung seines Grundrechts" begrenzt. Der einzelne hat aber von dem i h m zustehenden Grundrecht herzlich wenig, soweit er es nicht ausüben kann. I n einer anderen Richtung ist die Unterscheidung jedoch nicht nur akademisch. Sie deutet an, daß es nicht u m Abwägung oder um zuordnende Konkordanz abstrakter Rechtsnormen geht — mit der bekannten Unterstellung, die eine oder andere von ihnen habe (als abstrakte Regel!) höheres Gewicht. Es geht der Sache nach überhaupt nicht u m ein alternatives Entscheidungsmodell m i t Blick auf Rechtsnormen. Die Konfliktlage setzt, wie dargestellt, voraus, daß die beteiligten Vorschriften rechtsstaatlich hinreichend bestimmt auf den Fall zutreffen. Bei ranggleicher Geltung regieren sie den Fall also gemeinsam. Wegen der Rechtsbindung der staatlichen Instanz müssen sie auch die Entscheidungsnorm gemeinsam tragen. Ohne inhaltliche Änderung der Entscheidungsnorm darf keine von ihnen hinweggedacht werden können. Beim Aufbereiten und Lösen eines Normenkonflikts handelt es sich i n diesem veränderten Sinn i n der Tat um „einzelne sachliche Aspekte" 5 4 2 . Denn es geht u m das Vermitteln von konkretisierenden Sprachdaten, Normbereichselementen und Faktoren des Fallbereichs i n einer sonst nicht nötigen 541 542

BVerfGE 41, S. 29 ff., 50. BVerfGE 41, S. 29 ff., 51.

214

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Schlußphase des Entscheidungsvorgangs, in der demgemäß Maßstäbe wie das Ubermaßverbot und die Folgenbewertung eine verstärkte Rolle spielen 543 . Wegen verschiedener Schutzzonen i n den beteiligten Grundrechten und vor allem wegen der oft von Grundrecht zu Grundrecht wechselnden Schutzrichtung gemäß der oben skizzierten Dogmatik kann die Lösung des Konflikts häufig nicht i n einem Sinn gleichsam abzählbar sein, der die beteiligten Positionen „gleich stark" erscheinen läßt oder sie mit ausgewogener Balance „gleich stark" beschneidet. Die gern geforderte Optimierung aller beteiligten Normen und Schutzgüter ist nur negativ als Interpretationsziel formulierbar: Die Lösung darf nicht nach einem alternativ abwägenden Modell der einen Norm ganz den Vorrang einräumen, die andere ganz zurücktreten lassen. Sie darf nicht nur die eine auf Kosten der anderen durchsetzen. Als Maßstab für den Umfang der Realisierung sind die genannten Stufen des Übermaßverbots i n jeder Phase durchzuprüfen 544 . Die widerstreitenden Vorschriften werden i m Ergebnis nicht etwa allgemein i n Einklang gebracht. Sie können in späteren Entscheidungsvorgängen wieder zusammenstoßen. Die juristische Lösung eines Rechtsfalls bereinigt die Situation, beseitigt den i m einzelnen Entscheidungsprozeß bemerkbar gewordenen Zusammenstoß 545 . Dadurch werden aber die konfligierendenVorschriften als abstrakte Rechtsnormen nicht i n den schönen Zustand der Harmonie versetzt. Durch verbindliche, von latenter aktueller Gewalt gestützte Entscheidung werden vielmehr nur bestimmte Rechtspositionen für eine einzelne Entscheidungsnorm verträglich gemacht. Die Rechtsordnung gesteht diese Positionen weiterhin einzelnen Berechtigten zu, ohne durch Rangabstufung oder konfliktlösende Regel (wie dagegen bei A r t . 31 GG, bei 4 Abs. 1, 4 Abs. 3 und 12 a GG oder i m Fall von A r t . 7 Abs. 1, 7 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 3 GG) gegenläufige Normprogramme i m Uberschneidungsbereich ihrer Normbereiche generell miteinander zu versöhnen. Auch die Berufung auf die Legislative erleichtert die Aufgabe der Entzerrung nicht entscheidend. Das Verschieben der Mühe, normative Konflikte zu lösen, auf den demokratisch berufenen Gesetzgeber bringt 543

Z u dieser sachlichen S t r u k t u r einer Argumentation m i t der Einheit der Verfassung oder i n Richtung auf praktische Konkordanz: F.Müller X, S. 170 ff., 175 f. Die i m T e x t folgenden Hinweise zum Versuch einer Optimier u n g finden sich bei dems. V I I I , S. 89. 544 Über die Pareto-Optimalität u n d ihre Nachbarschaft zu den G r u n d sätzen der Verhältnismäßigkeit: Schlink I I , S. 171 ff., 177 ff., 181 u n d ff., 188 ff. 545 Dieser k a n n auf gute alte A r t durchaus als „Kollision" bezeichnet w e r den, da es ohne methodisch-dogmatische Lösung „nicht weitergeht", da es ohne Konfliktlösung bei einem „Zusammenstoß" bliebe; zu diesen T e r m i n i u n d zu den m i t ihnen verbundenen Bedenken: Suhr I I I , S. 130.

3.3 Methodologische Möglichkeiten

215

jedenfalls für den Verfassungsrechtler nur einen Aufschub. Die Gerichte haben allerdings oft Anlaß, dieses Argument aufzugreifen; und zwar i n all den Fällen, i n denen nicht nur Verfassungsnormen wechselseitig zu konkretisieren, sondern Gesetze an gegenläufigen Verfassungsmaßstäben zu überprüfen sind 5 4 6 . Die Rechtsfrage w i r d durch das Einschalten des Gesetzgebers inhaltlich aber nicht geändert. Das Problem ist dann eben, wie sich die Legislative an der Verfassung zu „orientieren" 5 4 7 hat. Der hier entwickelte Mindestbestand des Verfahrens ausgleichender Konfliktlösung beruht auf der Positivität der Verfassung, nicht auf ihrer geglaubten, vermuteten oder angestrebten Einheit. Das hat hier auch eine Analyse der Rechtsprechung erwiesen, die nicht bei ungenauen und blumigen Selbstaussagen der Gerichte Halt machte, sondern die tatsächlichen Arbeitsschritte gegen den Strich der Begründung aufzuklären suchte. Liegt ein Konflikt zwischen Grundrechten vor, so sind die widerstreitenden Normen von gleicher Positivität (im Sinn der formalen Einheit der Verfassungsurkunde, s.o. 3.12), von gleichem Rang (im Sinn der Einheit der Rangstufe verfassungsrechtlicher Rechtsquellen, s. o. 3.13) und von gleicher Geltungsqualität , da die Verfassung hier keine normativen Strukturbrüche aufweist (s. o. 3.14). Ferner ist vorauszusetzen, daß die Garantien als rechtsstaatlich hinreichend bestimmt einschlägig, das heißt als für den Fall aussagekräftig erwiesen werden können. Sind diese Abschnitte der Prüfung durchlaufen und hat es sich bestätigt, daß ein Konflikt vorliegt, so erfolgt die Lösung „durch Verfassungsauslegung" 548 . Nach dem hier gemachten Vorschlag verläuft dieses Verfahren allerdings ohne Pochen auf eine „grundgesetzliche Wertordnung" und ohne Vorgriff auf eine „Einheit dieses grundlegenden Wertsystems". Der Glaube an die Einheit der Verfassung hat sich als entbehrlich herausgestellt. Der Verweis auf Interpretation ist übrigens keine Ausflucht der i m Entscheidungszwang stehenden Praxis. Er bezeichnet zutreffend das den Juristen i m Rechtsstaat aufgetragene Geschäft — gleich, ob sie i m Rahmen gebundener Staatsfunktionen Entscheidungsnormen setzen, oder ob sie praktische Rechtsarbeit durch Diskussion und K r i t i k vorbereiten und kontrollieren helfen. Eine ehr546 Z . B . i n BVerfGE 41, S. 29 ff., 50: Landesrecht von Verfassungs- u n d Gesetzesrang auf der einen, Bundesverfassungsrecht i n einer Spannungslage (Art. 7 — 4 Abs. 1 GG) auf der anderen Seite. — Der Ruf nach dem Gesetzgeber findet sich schon bei Lerche I, z. B. S. 98 ff. u n d durchgehend; F. Müller I I I , z. B. S. 211; neuerdings bei Schlink I I , S. 211, 217; Rüfner I I , S. 471 ff. 547 So i n diesem Zusammenhang BVerfGE 41, S. 29 f f , 50. 348 So die Mehrheit der Richter i m Mephisto-Beschluß: BVerfGE 30, S. 173 f f , 193; e b d , auch die beiden i m T e x t folgenden Zitate. Z u r Notwendigkeit, alle Konkretisierungselemente aller einschlägigen Normen korrekt durchzuspielen, äußert sich zu Recht die Abweichende Meinung: ebd, S. 218 f f , bes. 221, 222. — Wie der Mephisto-Beschluß jetzt auch BVerfGE 47, S. 327 f f , 368 ff. (hessisches Universitätsgesetz).

216

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

lieh betriebene juristische Methodik hält weder hier noch je sonst mundgerechte Patentrezepte bereit 5 4 9 . 3.322 Harmonisierende Verfassungsinterpretation Der Mindestbestand für Grundrechtskonflikte stützt sich auf positives Recht. A r t . 1 Abs. 3 GG w i r k t für i h n als zusammenfassende Bindungsregel. Der Normbereich des A r t . 1 Abs. 3 ist ein Ausschnitt aus dem des A r t . 20 Abs. 3 GG. Über diese Vorschrift gilt der verbindliche Standard allgemein für Verfassungsrecht; der so zu bearbeitende Normenkonflikt braucht also kein Grundrechtskonflikt zu sein. Das hat die Durchsicht der Judikatur bestätigt. Wenn zum Beispiel der Erste Senat i m Lebach-Urteil ausführt 5 5 0 , die Lösung habe davon auszugehen, daß sowohl die Anerkennung der eigenständigen individuellen Persönlichkeit als auch die Sicherung eines freiheitlichen Lebensklimas durch freie Kommunikation (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. A r t . 1 Abs. 1 — A r t . 5 Abs. 1 Satz 2 GG, Rundfunkfreiheit) wesentliche Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Ordnung des Grundgesetzes bilden und daß keine dieser Positionen „einen grundsätzlichen Vorrang beanspruchen kann", so ist das normativ begründet: i n der sachlichen Einschlägigkeit und ranggleichen Geltung der Vorschriften, i m Fehlen einer besonderen verfassungsrechtlichen Vorzugsregel und i n der insoweit einheitlichen Struktur des Grundgesetzes. Die beteiligten Normen sind vollständig heranzuziehen und als für das Erarbeiten der Entscheidungsnorm wesentlich- zu behandeln. Nicht deswegen müssen sie „ i m Konfliktsfall nach Möglichkeit zum Ausgleich gebracht werden", weil es „das Menschenbild des Grundgesetzes und die i h m entsprechende Gestaltung der staatlichen Gemeinschaft verlangen" 5 5 1 . Der Grund liegt i n ihrer Positivdtät und daran, daß keine von ihnen m i t einem generell-formal wirkenden Vorrang ausgestattet ist. Nur scheinbar, nur wegen der mißverständlichen A r t der Verwendung des sogenannten Menschenbildes unterscheiden sich Grundrechtskonflikte von Normenkonflikten i m sonstigen Verfassungsrecht. I n Wahrheit ist „das" Menschenbild des Grundgesetzes die verfassungspolitische Summe einer Reihe von A r t i keln m i t teils individuellen, teils gruppenbezogenen Freiheitsgarantien. I n diesen liegt die normative Grundlage, nicht dagegen i n der abkürzenden Formel vom Menschenbild. Diese darf nicht gegenüber ihrer Grundlage verselbständigt werden; Entsprechendes erbrachte die Analyse des Begriffs „streitbare Demokratie". I m Ergebnis arbeitet das Lebach-Urteil also richtig; die Begründung vertauscht aber sprachliche 549

Das von m i r entwickelte Rahmenmodell juristischer Methodik n i m m t diese ernüchternde Feststellung zum Ausgangspunkt: F.Müller X , S. 22 u.ö. 550 BVerfGE 35, S. 202 ff., 225 und f. 551 So das Lebach-Urteil, ebd.

217

3.3 Methodologische Möglichkeiten

Folge u n d normative Ursache. A u f widerstreitende sonstige Verfassungsnormen würde die Rede vom Menschenbild ja auch nicht passen. Sie sind aber positives Recht des Grundgesetzes wie konfligierende Grundrechte auch u n d daher ebenso zu bearbeiten 5 5 2 . Die Untersuchung der Fallgruppen hat belegt, daß oft zu Unrecht auf eine Einheit des Grundgesetzes zurückgegriffen oder daß der Ausdruck „Einheit der Verfassung" unnötig und meist auch mißverständlich eingesetzt zu werden pflegt. Das Argument hat sich als zumindest überflüssig herausgestellt. Was es liefern soll, ergibt sich bereits aus unbestrittenen Eigenschaften des positiven Verfassungsrechts. I n einer einzigen Gebrauchsweise erweckte die Einheitsthese den Anschein eines selbständigen Arguments: für eine harmonisierende Interpretation konfligierender Vorschriften. Ohne den Ausdruck zu verwenden, hatte sich schon das Preußische Oberverwaltungsgericht i n dem besprochenen Manöverfall von 1877 dahin eingelassen, Kollisionen verschiedener Rechtsgebiete der vollziehenden Gewalt seien nicht durch absoluten Vorrang der einen oder anderen Position alternativ zu lösen, sondern durch mehrseitigen Ausgleich 5 5 3 . Z u Anfang der Fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts formulierte dann der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts i m Gleichberechtigungs-Urteil einen verallgemeinerten Grundsatz: Verfassungsnormen, „die einander zu widersprechen scheinen", seien durch jedes zur Interpretation von Verfassungsrecht berufene Gericht „miteinander i n Einklang zu setzen, soweit dies m i t den M i t t e l n der Auslegung möglich ist" 5 5 4 . I n der wissenschaftlichen Debatte w i r d v o n einer Einheit der Verfassung wo nicht auf die untersuchten Arten, so doch i m Sinn der Harmonisierung gesprochen. W i r d eine Begründung gegeben, so besteht sie teils i n formalen, meist aber i n inhaltlichen Postulaten von Ganzheit und Einheit der Verfassungs552 Allerdings nicht so, wie es das Lebach-Urteil, ebd., mißverständlich formuliert: Lasse sich ein Ausgleich nicht erreichen, so sei „unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung und der besonderen Umstände des Einzelfalles zu entscheiden, welches Interesse zurückzutreten hat". Ein volles Zurücktreten der einen Position auf Kosten der anderen ist gerade nicht zulässig. Das Bundesverfassungsgericht wägt hier aber nur scheinbar nach einem alternativ wirkenden Entscheidungsmodell ab. Der Sache nach geht

es nach dem komplexeren Modell der rechtsstaatlich

geforderten

Konflikt-

lösung vor. Das zeigt sich an seinen Ausführungen zum Normbereich der beteiligten Vorschriften, zur Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit i m Rahmen des Ubermaßverbots u n d zur zeitlichen Grenze eines Informationsbedürfnisses, ebd., S. 225 f. und für den konkreten Fall: S. 226 f f , 230 f f , 233 f f , 238 ff. Die angeblich zurücktretende Position behält ihre Wirkung gerade auf dem Weg über diese Gesichtspunkte bei (vgl. auch die Zusammenfassung i n Leitsatz 3, ebd., S. 203).

553 p r o V G E 2, S. 399 ff, 408.

554 BVerfGE 3, S. 225 f f , 231; zum praktischen Beispiel ebd, S. 241 f. Ein Hinweis auf die M i t t e l der Verfassungsauslegung findet sich etwa auch i m Mephisto-Beschluß: BVerfGE 30, S. 173 f f , 193 und i n BVerfGE 47, S. 327 f f , 369.

218

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Ordnung. Dort, wo nicht global unterstellt wird, erscheint das Argument einer einigenden, zusammenfügenden, Widersprüche jedenfalls als Zielvorstellung ausschließenden Aufgabe der Verfassung. Wie unpassend, ja m i t dem liberalen Grundgesetz unvereinbar die Rede von einer vereinheitlichenden Gesamtfunktion der Verfassung aber leicht werden kann, wurde bei der Analyse des Urteils zur badischen Kirchenbausteuer deutlich. Die Begründungen i n der Literatur sind denn auch aus verschiedenartigen, miteinander schwer vereinbaren Quellen bzw. Schichten der Argumentation gemischt 555 . Die Einheitsthese w i r d besonders oft m i t systematischer Interpretation verwechselt oder vermengt. Der Funktion nach hebt sie sich von dieser aber deutlich ab: Hat eine vollständige, somit auch systematische Konkretisierung einen Normenkonflikt ergeben, so richtet sich der Blick auf eine (wenn auch nicht begründete) Einheit des Grundgesetzes. Vor diesem Maßstab w i r d nun dem Entscheidungsvorgang ein sonst nicht notwendiges Schlußstück angefügt. Dieses besteht jedenfalls aus den dargelegten rechtlich gebotenen Prüfungsschritten. Zu den Hilfsmitteln zählen wiederum systematische Gesichtspunkte. Der Versuch, eine Einheit der Verfassung herzustellen, hat also auch m i t systematischer Auslegung zu tun; aber eben nicht nur mit dieser, sondern mit allen Elementen der Konkretisierung. Das liegt daran, daß die Sicht des Grundgesetzes als Einheit keine eigenen Hinweise auf das einzuschlagende Verfahren liefern kann 5 5 6 . 555 BVerfGE 19, S. 206 ff.; s. dazu oben S. 21 ff. — Z u m Grundsatz der E i n heit der Verfassung teils als Prinzip, teils als Gebot harmonisierender I n t e r pretation i n der L i t e r a t u r vgl. z.B. Hesse I I I , v o r allem S. 95; dens. V I , S. 11 f., 28, 110 ff., 132; Ehmke V, S. 77 ff., 81 ff.; v.Pestalozza I, S.224f.; Leibholz I I , S. 1191; Ossenbühl, S.654f.; F.Müller I I I , S. 115, 124f., 136, 213, 220; dens. I X , S. 21 f.; dens. V I I , S. 53 f.: Das Prinzip der Einheit der Verfassung legt dem Interpreten die allseitige normative Durchdringung komplexer Hechtsprobleme auf dem Boden des geltenden Verfassungsrechts u n d seiner vollständig u n d ranggleich herangezogenen u n d nicht zuletzt systematisch zu interpretierenden Normen auf; dens. X , S. 170 ff., 174 f., 177 f. u. ö.; Knies , S. 37 f.; Heckel , S. 66; Grabitz, S. 577 f.; Krebs, S . 4 9 f t ; Stern, S. 107 f. m i t i n sich heterogener Begründung; zu Harmonisierung u n d p r a k tischer Konkordanz: ebd., S. 109; die ebd., S. 108, 110 genannten Beispiele (Art. 21-38 GG, A r t . 21-33 GG, Bundestreue, Organtreue) sind durch die positivrechtlich gebotene Konfliktlösung zwischen gleichrangigen u n d i m F a l l gleich einschlägigen Verfassungsnormen zu bearbeiten. Allgemeiner zur Einheit als Zielvorstellung juristischer Interpretation: H. Heller I I I , S. 254 f. (zum inhaltlichen Ganzen der politischen Gesamtverfassung), 266 ff. (Einheit als Ziel und Postulat); Nawiasky I I I , S. 719 (Überw i n d u n g von Widersprüchen, Einheitlichkeit als Ziel); Engisch V I , S. 138 ff.; Coing I I , S. 18 f., Bäumlin I, z. B. S. 27; ders. I I , S. 11, 15; Lerche I, S. 125 ff.; Scheuner V I I I , S. 125; ders. I X , S. 237 ff., 52 f.; ebd., S. 95, 178 allerdings i n Verbindung m i t einem Wert„system" der Grundrechte; dagegen z.B. Obermayer; Forsthoff V, S. 190; unter Gesichtspunkten normativer Antinomien: Grosskreutz , z. B. S. 22, 40 f., 107 u. ö. 556 Das ist schon verschiedentlich bemerkt worden, z.B. bei Esser I V ,

3.3 Methodologische Möglichkeiten

219

Das Verhältnis der Einheitsthese zu dem angeblichen Interpretationsgrundsatz „ i m Zweifel für die Freiheit" w i r d so gesehen, daß dieser eine die differenzierte Positivität des Verfassungsrechts verfehlende einseitige Konfliktlösungsregel formuliert, die auch mit dem Argument aus der Einheit der Verfassung — dessen Vertretbarkeit einmal unterstellt — nicht zusammenpaßt 557 . Der Gedanke einer Einheit des Grundgesetzes ist den Vorschlägen optimierender, harmonisierender oder konkordierender Lösungen für Konfliktlagen benachbart. Das Einheitsargument nennt ein Ziel, indem es postuliert, was zu überwinden sei, nämlich Widersprüche. Die genannten Vorschläge bemühen sich daher, zusätzliche Hinweise zum Verfahren zu finden. Das gelingt ihnen kaum, es kann auch kaum gelingen. Die Elemente, die für das Schlußstück der durch einen Konflikt komplizierten Arbeit heranzuziehen sind, erweisen sich als dieselben wie sonst auch. Nur treten bestimmte Hilfsmittel jetzt i n den Vordergrund. Zu einem beträchtlichen Teil sind sie, wie z. B. das normbezogendogmatische Übermaßverbot oder wie das Verbot, eine der widerstreitenden Vorschriften durch alternatives Abwägen hinauszudrängen, positives Recht. Die Literatur faßt Harmonisierung und Konkordanz teils als Mittel dafür auf, i n einem Normenkonflikt Einheit zu stiften; teils werden das Einheits- und das Harmonisierungsargument aber auch gleichgesetzt oder es w i r d ihr Verhältnis unklar gelassen558. Einheit der Verfassung und praktische Konkordanz können allerdings nicht dahin unterschieden werden, daß diese schon entstandene Konflikte auszugleichen habe, jene dagegen Widersprüche von vorherein zu vermeiden suche. Beides läßt sich bei Schritt für Schritt vorgehender Arbeitsweise nicht trennen; und eine ganzheitliche Vorwegnahme des erwünschten Ergebnisses, die das Risiko des Auftretens von Konfliktlagen a priori ausschalten w i l l , ist eben rechtsstaatlich fragwürdig. Die Einheitsthese ist wie das Prinzip der normativen Kraft der Verfassung, der Grundsatz praktischer Konkordanz und der Maßstab integrierender Wirkung ohne eigenen methodischen und dogmatischen Gehalt. Sie alle sind formale Zielmarken und rechtspolitische Appelle. S. 97 f.; Ossenbühl , S. 655; Goerlich I, S. 87 m . A n m . 329; Stern , S. 107 f.; Arndt/v. Olshausen, S. 488; i m Zusammenhang m i t den normalen K o n k r e tisierungselementen: F. Müller X , S. 170 ff., bes. 172 f., u. ö. 557 Dazu F. Müller X , S. 177 f.; Keller, S. 278; Ehmke V, S. 86 f.; Ossenbühl , S. 657 f.; Stern , S. 109 f. 538 Siehe etwa Bäumlin I, z. B. S. 27; dens. I I , S. 11, 15 f.; Hesse V I , S. 28 f.; Achterberg, S. 175 ff.; Grabitz, S. 577 f. Z u m Zusammenhang des Einheitsarguments m i t dem Maßstab integrierender Wirkung, dem Gedanken des vorverfassungsrechtlichen Gesamtbildes, dem Grundsatz der normativen K r a f t der Verfassung und dem Vorschlag praktischer Konkordanz als w e i teren Prinzipien der Verfassungsinterpretation: F.Müller X , S. 170 u n d ff., 173 f., 175 f., 176 f.

220

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Soweit etwas Inhaltliches ausgesagt w i r d — und zwar vom Konkordanzgedanken das Verbot, einschlägige Normen zu mißachten —, beruht es bereits auf anderen, und zwar auf positivrechtlichen Gründen. Einheit der Verfassung ist i m Gegensatz zu den Mindestgeboten rechtsstaatlicher Konfliktlösung keine Norm. Sie ist weder der vornehmste noch der stärkste Interpretationsgrundsatz. Sie zählt vielmehr zu den verfassungspolitischen Elementen. Diese stehen zwar beim Auflösen von Normenkonflikten gleichberechtigt neben den anderen, haben aber in einem methodologischen Konflikt (der sich zu einem normativen gesellen kann) gegenüber den unmittelbar normbezogenen Elementen zurückzutreten 559 . Wie die anderen Konkretisierungselemente muß sich auch die Einheitsthese i m Spielraum des Normprogramms als äußerster rechtsstaatlicher Grenze halten. Die Rede von der Einheit der Verfassung als höchstem Auslegungsgrundsatz verführt aber, von allem, anderen einmal abgesehen, leicht dazu, Entscheidung und Begründung laxer zu handhaben, die rechtsstaatlichen Klarheits- und Offenheitsgebote neben den leuchtkräftigen Metaphern von materialer Ganzheit oder harmonischer Einheit der Verfassung verblassen zu sehen. Der Rückgriff auf Einheit oder Ganzheit rechtfertigt es jedoch i n keinem Fall, ein normativ gestütztes durch ein rechtlich nicht mehr gestütztes, ein methodisch belegbares durch ein nur noch rhetorisch begründbares Ergebnis zu ersetzen.

Es kann nicht „die Verfassung als Ganzes" ausgelegt werden, denn dann müßte die ganze Verfassung ausgelegt werden, und das heißt: alle ihre Normen m i t sämtlichen Zusammenhängen zwischen ihnen, einschließlich der Normbereichs-Elemente und der zum abstrakten Verfassungsrecht korrekt entwickelten Entscheidungsnormen. Konkretisieren ist notwendig an den Rechtsfall geknüpft, ist funktionell i n die Entscheidungssituation eingebunden 560 . Konkretisieren ist kein Hochreck für schöne Sprachübungen. Es ist auf Ehrlichkeit verpflichtete Rechtsarbeit i n kompetenz- und funktionsgebundenen Entscheidungsvorgängen oder i n wissenschaftlichem Argumentieren. Ein Rechtsfall, der i m genannten Sinn ein Auslegen der ganzen Verfassung verlangte oder auch nur zuließe, ist noch keinem Juristen zu Ohren gekommen. Die Fälle, i n denen bisher die Einheit der Verfassung beschworen wurde, betrafen 539 Dazu F.Müller X , S. 194 ff., 196 ff., 198 ff. u. ö. Z u m konkretisierten W o r t l a u t als Grenze rechtsstaatlich zulässiger Entscheidung: ebd., z. B. S. 153 ff., 207 u. ö.; ders. X I I , z. B. S. 77 ff., 80 ff., 82 ff.; ders. X V I , S. 274 f. und i n demselben Sinn (Rechtswidrigkeit „ n u r bei eindeutigem Widerspruch zu den möglichen Textgehalten; also n u r dann, wenn so der Wortlaut jedenfalls nicht verstanden werden kann") schon ders. I I I , S. 160. 560 Dazu F. Müller X , z. B. S. 104 ff. u n d durchgehend.

3.3 Methodologische Möglichkeiten

221

stets nur die Vermittlung mehrerer, i n der Kegel nicht einmal besonders vieler Normen. Soll zwar nicht real die ganze Verfassung ins Spiel gebracht werden, wohl aber holistisch das Grundgesetz als ein Ganzes, das sich vom positiven Verfassungsrecht abgespalten, das sich isoliert und zu kompakter Wucht verhärtet hat, so verkommt das Argument zu einer Totalaussage, die m i t vertretbarer Rechtsarbeit nichts mehr zu t u n hat. Es w i r d dafür benutzt, eine bestimmte Auslegung der betroffenen Einzel normen zu rechtfertigen. Es soll jedes genauere Nachfragen durch tönenden Hinweis auf nichts Geringeres als die Einheit der Verfassung, auf ihr Sinnganzes oder ihre Sinnmitte m i t einiger Aussicht auf Erfolg abschneiden. I n dieser ideologischen Funktion ist „Einheit der Verfassung" kein Mittel rationaler Arbeit. Sie ist ein Argument, das rationale Arbeitsvorgänge überhöhen oder ersetzen soll. Sie eignet sich auch dafür, ein politisch erwünschtes oder aus subjektivem Rechtsgefühl geschöpftes Ergebnis m i t sprachlich wohldrapierter Autorität zu umkleiden. Zuweilen arbeitet sie bis zum Schlußstück der Entscheidung „aus der Einzelheit" und gewinnt sodann „die etwa nötige Ergänzung dieser Methode aus politischen Erwägungen" 5 6 1 . Eine ganzheitliche Verfassungstheorie des „Als ob" führt zu einer Methodik des „Als ob" und zu Dezisionen i m Einzelfall, die rechtsstaatlichen Maßstäben widersprechen. Anders ist es, wenn sich die Einheitsthese darauf beschränkt, i m Endstadium eines Arbeitsvorgangs, der zu Normenkonflikten geführt hat, das Ziel einer schließlich widerspruchsfreien Entscheidung zu bezeichnen. Nur so läßt sich dem Argument eine eigene Funktion abgewinnen. Doch liefert es auch hier weder selbständige Hinweise auf das einzuschlagende Verfahren, noch kann es begründen, warum das Ergebnis der Auslegung keine Widersprüche enthalten darf. Alle i n Praxis und Literatur dafür ins Feld geführten und darüber hinaus alle hier systematisch untersuchten Begründungsansätze sind entweder wissenschaftlich widerlegt oder jedenfalls für juristische Arbeit unergiebig 562 . Dagegen erwiesen sich die urkundliche Einheit der Verfassung, die Einheit der Rangstufe von Rechtsquellen und die Einheit der Verfassungsstruktur als sinnvolle Konzepte. Gerade diese drei formalen 561 I n allgemeinem Zusammenhang findet sich diese gegen eine verbreitete Tradition deutscher Verfassungspraxis zu Recht kritische Formulierung bei Smend I I I , S. 242. 562 Z u r ersten Gruppe gehören die Varianten der Einheit als Lückenlosigkeit, als Freiheit von Widersprüchen (Abschnitt 3.11 dieses Buches) u n d die ideologische Einheit (3.21); zur zweiten die Einheit als geisteswissenschaftliches A p r i o r i (3.31), die Einheit des verfassungsgeschichtlichen Typus (3.22), die legitimierende (3.23), die funktionale Einheit (3.24) u n d die verschiedenen Spielarten einer Einheit der Verfassung als M i t t e l der Normkonkretisierung (3.321, 3.321.1 u n d 3.322). — Z u den i m T e x t folgenden drei Varianten vgl. oben die Abschnitte 3.12, 3.13 u n d 3.14.

222

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

Möglichkeiten sind aber als Begründung für eine einheitliche Sicht des Grundgesetzes nirgends anzutreffen. I m übrigen beschaffen auch sie kein selbständiges Argument, das die globale Rede von einer Einheit der Verfassung rechtfertigen könnte. Sie bezeichnen nur verschiedene positivrechtliche Eigenschaften des Grundgesetzes. Von den inhaltlichen Gesichtspunkten, die zwar nicht die Ganzheit, wohl aber vielleicht die Einheit der Verfassung stützen könnten, stellte sich hier nur der des inneren Friedens als haltbar heraus. Es ist eine entscheidende Funktion der modernen Verfassung, gegen die latente Möglichkeit von Anarchie und Bürgerkrieg den inneren Frieden zu wahren; und es mag zunächst wie ein verkleinertes Spiegelbild erscheinen, wenn das rechtspolitische Konkretisierungselement der Einheit der Verfassung als harmonisierende Formel das Ziel setzt, bei Normenkonflikten Gegensätze auszugleichen. Doch überzeugt das nur auf den ersten Blick. Eine solche Widerspiegelungs-These läßt sich aus dem positiven Recht nicht ableiten. Politischer und sozialer Konflikt auf der einen, normativer und methodologischer auf der anderen Seite müssen sachlich nichts miteinander zu t u n haben. Diese Formen des Auftauchens von Widersprüchen sind selbständig, nicht unterschiedslos dem Ausdruck „Konflikt" zu unterstellen. Normenkonflikte werden nicht notwendig durch methodologische weiter kompliziert und methodologische müssen nicht auf einem normativen aufruhen. Beide zusammen sind mögliche Bestandteile entweder funktionsgebundener praktischer oder auf Praxis h i n orientierter wissenschaftlicher Rechtsarbeit. Beiden stehen politische und soziale Widersprüche gegenüber, und diese Realität läßt sich m i t den normativen und methodologischen Begriffen von Konflikt nicht unmittelbar erfassen. Hat etwa das Bundesverfasfungsgericht einen Fall zu entscheiden, der (wie die Einschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, die Reform des Abtreibungsparagraphen 218 Strafgesetzbuch, die Vertragspolitik gegenüber der DDR oder wie die Verfassungsmäßigkeit der Mitbestimmung) auf gesellschaftliche, politische oder soziale Konflikte zurückgeht, so ist nicht gesagt, eine methodisch harmonisierende Lösung sei notwendig am ehesten i n der Lage, die soziale und politische Lage dauerhaft zu befrieden. Auch eine Entscheidung, die sich auf die Einheit der Verfassung beruft, kann geeignet sein, Konflikte weiter zu schüren, Gräben zu vertiefen. Aus der friedenstiftenden politischen Gesamtfunktion des Grundgesetzes auf ein methodologisches Gebot harmonisierender Auslegung unter dem Motto der Einheit der Verfassung zu schließen, wäre zum einen naiv. Der zweite Grund gegen einen solchen Schluß liegt, wie gezeigt wurde, darin, daß jedenfalls i n liberal verfaßten Gesellschaften innerer Friede etwas anderes ist als Einheit der Gesellschaft, des Staates oder der Verfassungsordnung.

3.3 Methodologische Möglichkeiten

223

Das Argument aus der Einheit der Verfassung ist allenfalls eine Zielbehauptung. Es kann weder auf inhaltliche Einheit zurückgreifen, noch eine solche stiften; auch vermag es kein Verfahren zu entwickeln. Was hier als Mindestbestand für Konfliktlösungen genannt wurde — die Diskussion mag dem noch weitere Punkte anfügen —, ergibt sich aus der Positivität und nicht aus einer Einheit der Verfassung. Auch für die Begründung dieser Zielvorgabe bietet nicht eine Einheit, sondern die Positivität des Grundgesetzes die tragfähige Antwort. Warum eigentlich müssen gegenläufige Verfassungsnormen einander ausgleichend zugeordnet werden, w a r u m sind sie nach den Regeln der Verhältnismäßigkeit wechselseitig zu begrenzen? Darauf antwortet die Einheitsthese: wegen der Einheit der Verfassung. Eine solche formal, inhaltlich oder funktionell einleuchtend zu begründen, ist dieser Lehre und Praxis aber offenbar nicht möglich. Dennoch w i r d das Argument als Interpretationsgrundsatz und zum Teil sogar wie ein Gebot, als QuasiNorm behandelt. Die Untersuchung hat dagegen etwas anderes deutlich gemacht: Nicht wegen der Einheit „der" Verfassung als eines Ganzen, als einer Totalität, eines allseitigen Zusammenhangs sind Normenkonflikte ausgleichend zu lösen. Der Grund liegt vielmehr i n der Positivität all der Vorschriften, die auf den Rechtsfall passen und wegen der Verfassungsbindung der entscheidenden Instanz bei seiner Lösung nicht übergangen werden dürfen. Rechtlicher Grund für Ziel und Verfahren ausgleichender Konfliktlösung ist die Positivität der Verfassung. Sie verlangt die Vollständigkeit der normativen Elemente des Arbeitsvorgangs. Ein zweites rechtsstaatliches Erfordernis kommt hinzu. Es ist die Pflicht zu konsistenter Entscheidung. Sie geht dahin, eine Entscheidungsnorm zu erzeugen, die auf der Basis aller einschlägigen Rechtsnormen und methodenbezogenen Rechtsstaatsgebote schlüssig begründet ist. Wegen der Möglichkeit (und der verbreiteten Praxis) des Auseinanderfallens von realem Entscheiden und anschließendem sprachlichen Begründen 563 ist genauer zu sagen: Die Entscheidungsnorm muß, wenn sie schon nicht tatsächlich konsistent begründet worden sein sollte, jedenfalls konsistent begründbar sein. Der Rechtsstaat beansprucht, daß das Ergebnis methodisch korrekt und auch am Maßstab methodenbezogener Normen legal gerechtfertigt werden kann. Sachliches Erarbeiten und sprachliches Begründen der Entscheidungsnorm müssen spätestens i n dieser zusammenlaufen. Gerechtfertigt ist eine korrekt rechtfertigungsfähige Entscheidung. Genau sie und nicht i r 563 Dazu u n d zur Differenzierung der Frage nach rechtsstaatlicher Methodenehrlichkeit angesichts der tatsächlichen Praxis: F.Müller X V I , bes. S. 285 ff. — Vgl. ferner die Aussagen dieses Buches zur N o r m - und Methodenklarheit.

224

3 Systematische Möglichkeiten einer „Einheit der Verfassung"

gendeine ist i m Rechtsstaat gefordert; und nicht die Pflicht zu irgendeiner, sondern zu einer ehrlichen Begründung auferlegt der Rechtsstaat der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt. Vom Juristen w i r d verlangt, den Fall und die den Fall betreffenden Rechts- und Entscheidungsnormen nach allen Seiten hin durchzuprüfen und zu einem korrekt begründbaren Ergebnis zu verarbeiten. Ausgangspunkt, Verfahren und Ziel der Konfliktlösung gibt die Positivität des Grundgesetzes an. Das Feld, das sie umschreibt, ist ein anderes als das einer Einheit oder Ganzheit der Verfassung. Für die herrschende Lehre zur Einheit des Grundgesetzes „erweist" das Auflösen normativer Konflikte „die innere Harmonie des Gesetzeswerkes" 5 6 4 . Das hat sich hier nicht bestätigt. Es geht nicht um ein Erweisen i m Sinn des Findens von etwas Vorgegebenem. I m besten Fall kann ein geglücktes konfliktlösendes Verfahren Widersprüche vermeiden und insoweit Harmonie erzeugen. Es geht dann aber um einen Ausgleich nur an diesem bestimmten Punkt des Rechts. Die gern beschworene innere Harmonie ist nicht eine des Grundgesetzes oder gar der ganzen Rechtsordnung. Sie besteht i n der widerspruchsfreien Begründbarkeit der konkreten Entscheidungsnorm . Diese ist re vera das „Ganze", und ihre Begründbarkeit ist das, was man als „einheitlich" bezeichnen mag. Es macht ebensowenig einen Sinn, die Einheit „der" Verfassung als Leitgedanken anzuzielen, wie es möglich ist, von einer vorgegebenen Einheit „der" Verfassung auszugehen. Der gelöste Fall und nicht die Verfassung w i r d durch ein geglücktes Verfahren des Konfliktausgleichs frei von normativen Widersprüchen. Das gilt nicht nur als Zustands-, sondern auch als Maßstabsaussage: Es w i r d vermieden, die Entscheidungsnorm dergestalt mehreren Rechtsnormen zuzurechnen, daß die Zurechnungsakte einander ausschließen.

504

So Scheuner I X , S. 53; i h m folgend z. B. Schwacke , S. 89.

4 Einheit der Verfassung? 4.1 Spielarten des Arguments Der Ausdruck „Einheit der Verfassung" w i r d i n so vielen Zusammenhängen herangezogen, für so unterschiedliche Fragen bemüht, daß ein i n sich schlüssiges, ein sachlich selbständiges Argument nicht zu erkennen ist. Seine Gebrauchsweisen wurden hier unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht: so etwa danach, ob sie begrifflich klären und der Praxis nützen, ob das Gemeinte rechtsstaatlich vertretbar und methodisch einsichtig erscheint, ob es tatsächlich aus einer Einheit der Verfassung oder auf eine solche hin begründet werden kann, oder ob nicht der Ausdruck „Einheit der Verfassung" und die ihn umschreibenden Wendungen überflüssig sind. Die Studie ist m i t nicht-formalen Mitteln gearbeitet, sie greift einer formalisierten Analyse nicht vor. Sehr wahrscheinlich ist es nicht, daß eine solche zu wesentlich anderen Ergebnissen führen würde 5 6 5 . Auch eine sprachwissenschaftliche Studie könnte reizvoll sein. Sie hätte zum Beispiel die von der Praxis der Gerichte i n Sachen Einheit der Verfassung erbrachte rhetorische Dauerleistung hervorzuheben. Der Befund „rhetorisch" ist hier zwar als Grenze methodologischen und dogmatischen Weiterfragens, nicht aber einseitig abwertend aufgefaßt worden. Wo Rhetorik Kommunikation schafft, arbeitet sie an einer Grundfunktion des Verfassungsstaats mit: durch die verfaßte Regelhaftigkeit sprachlicher Interaktion aktuelle Gewalt möglichst weitgehend durch konstitutionelle zu ersetzen. Gewalt w i r d so ein Stück entpersonalisiert, i n ihren Voraussetzungen verallgemeinerungsfähig umschrieben, durch rechtsstaatliche Methodik streckenweise berechenbar gemacht. Aber auch für die als Leistung begriffene juristische Rhetorik ist die Wahrheit konkret, kommt alles auf die Vertretbarkeit des Gebrauchs i m Einzelfall an. Unter dem Grundgesetz steht auch Rhetorik objektises F ü r einen Teilbereich (Konkurrenzen u n d Kollisionen i m Verfassungsrecht) u n d unter einer anderen, nämlich dogmatischen Fragestellung spielt die A r b e i t von Fohmann eine breite Skala formaler Methoden eindrucksvoll durch. — Z u dem i m T e x t folgenden: F. Müller X I , S. 28 ff.; ders. X I I , S. 49 ff., 90 ff. u. ö. — Z u r „Verfassung als Grammatik des gesellschaftlichen Prozesses": Suhr I, S. 280 ff.; s.a. ebd., S. 274 ff.; zum Begriff des Polylogs: ebd., S. 252 ff., 280 f. u. ö. 15 F. M ü l l e r

226

4 Einheit der Verfassung?

vierbaren Anforderungen gegenüber, hat auch sie ihr Tun zu verantworten. Sie stiftet nicht nur Kommunikation, sondern schneidet sie auch ab; sie trägt nicht nur, sondern zerstört auch Dialog und Polylog. Der Verfassungsstaat bindet sich an das Recht. Uberschreiten seine Funktionäre dessen Spielräume, so fällt konstitutionelle Gewalt insoweit in aktuelle zurück. Legitimation nur oder überwiegend durch kommunikative Rhetorik trifft nicht die Legitimität dieser Verfassungsordnung. Das Bundesverfassungsgericht hat die Sicht des Grundgesetzes als einer Einheit i n die Praxis eingeführt, seine Judikatur prägt sie bis heute. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichtshofs haben auf diesem Feld keine eigenen Konzepte entwickelt. Die hier unternommene Analyse der Spruchpraxis prüfte immer auch die Aufgabe des Einheitsarguments i m konkreten Fall. Diese Frage weist zwei Schichten auf: Welche Funktion hat der tatsächliche Arbeitsvorgang , der m i t dem Ausdruck „Einheit der Verfassung" teils nur benannt, teils begründet wird, für das Erstellen und/ oder das Darstellen der Entscheidungsnorm? Und welche Funktion hat zweitens der Rückgriff auf diesen Ausdruck für diesen Arbeitsvorgang? Nach dem Vorbild des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts zuerst i m SüdweststaatsUrteil die Einheitsthese schon im Ansatz m i t dem Bekenntnis zu einem den Verfassunggeber bindenden Naturrecht und ferner mit der dogmatischen Aussage vermengt, es gebe i m positiven Verfassungsrecht allgemeine Rangunterschiede. Daraus leitete er das quasi-normative Gebot ab, alle einzelnen Verfassungsnormen seien, u m nicht gegebenenfalls für nichtig erklärt werden zu müssen, konform den Verfassungsgrundsätzen überpositiver Herkunft zu interpretieren. Dagegen folgt für den Ersten Senat seit dem Gleichberechtigungs-Urteil gerade aus der Einheit der Verfassung, daß die Normen des Grundgesetzes prinzipiell denselben Rang haben. Dieser Traditionsstrang verwendet den Einheitsgedanken betont rechtsstaatlich, und zwar für gegenseitiges systematisches Begrenzen von Grundrechten oder von Grundrechten und organisatorischen Normen. Ferner ziehen beide Senate das Argument gelegentlich heran, um ungeschriebenes Verfassungsrecht oder die Produktion richterrechtlicher Sätze zu rechtfertigen. Oft w i r d es schließlich teils mit einfacher systematischer Interpretation, teils mit systematischen Argumenten aus (gleichrangigen) Verfassungsgrundsätzen verwechselt oder vermischt. Die Praxis beider Senate unterscheidet sich deutlich voneinander, wenn sich die Linien auch stellenweise annähern oder überschneiden. Die Fülle der durch diese Rechtsprechung aufgeworfenen dogmatischen, methodischen und theoretischen Fragen läßt sich nicht kurz

4.1 Spielarten des Arguments

227

zusammenfassen. Ihre Analyse ergibt folgendes: Bei einfacher systematischer Interpretation, systematischer Auslegung mit Verfassungsgrundsätzen und beim gegenseitigen Begrenzen von Verfassungsrecht handelt es sich u m Arbeitsvorgänge, die zwar für die Entscheidungsnorm jeweils tragend, die aber auf andere A r t selbständig begründet sind. Die Sicht des Grundgesetzes als einer Einheit ist für die betreifenden Aussageketten nicht-funktional. Dasselbe gilt für das Begründen von ungeschriebenem Verfassungsrecht. Soweit Richterrecht durch die Metapher der Einheit der verfassungsmäßigen Rechtsordnung legitimiert werden sollte, erwies sich diese Operation als zwar funktional, aber inhaltlich widerspruchsvoll und fragwürdig. Eine grundsatzkonforme Verfassungsauslegung schließlich ist m i t ihrem Ansatz von Rangunterschieden auf Verfassungsebene rechtsstaatlich nicht mehr vertretbar. Auch ist es dem Zweiten Senat nicht gelungen, die Vorrangthese m i t seinem Gedanken eines allseitigen Sinnzusammenhangs, einer inneren Einheit der Verfassung zu verknüpfen. Daß dieses Argument i n vielen Fällen rhetorisch dafür unentbehrlich ist, von der sachlichen Widersprüchlichkeit des Judikats abzulenken, ist i n einem Rechtsstaat kein Trost. Kraft des Glaubens an Einheit und Ganzheit haben sich i n Lehre und Praxis ehrfurchtgebietende Ausdrücke 566 eingebürgert. Es wäre einfältig, richterliche Begründungen nicht auch als kommunikatives Handeln von rhetorischer Bedeutung zu begreifen, sich allzu sehr an Worte und Wörter zu klammern, solche und ähnliche Prägungen für bare Münze und die hinter ihnen stehenden Theoreme für etwas zu nehmen, das durch Unterscheiden, Vergleich und Ordnen der Begriffe ernsthaft erforscht werden könnte. Schließlich handelt es sich u m praktische Prosa, nicht u m exakte Texte. Solches Klappern gehört zum juristischen Handwerk und solche Formulierungskunst zu dem Schauspiel, ohne das eine entwickelte Rechtsordnung offenbar nicht auskommt. Das ist allerdings nur die eine Seite. Ausdrücke i n Texten, die j u r i stische Entscheidungen rechtfertigen sollen 567 , bezeichnen keine unvermittelten Tatsachen. Vermittelt können sie aber dazu beitragen, Tatsachen zu schaffen: Sie legitimieren nicht zuletzt auch dadurch, daß sie Affekte frei und sozialen wie politischen Druck i n Gang setzen; sie 568 Z u m Beispiel „Geschlossenheit", „Widerspruchsfreiheit", „innere H a r monie", „Sinnmitte", „Sinnganzes", „Verfassungstotalität" u n d so weiter. Eine „unteilbare Einheit", ein „Ganzes der Werteordnung", ein „sittlicher G r u n d gehalt der Grundsatznormen", „sinn- u n d werteverwirklichende Grundkräfte des Daseins" u n d ähnlich schöne Dinge finden sich i n B G H Z 38, S. 317 ff., 320 f. 567 Dazu unter rechtstheoretischen Gesichtspunkten grundsätzlich: F. Müller X I I , z. B. S. 95 ff.

15*

228

4 Einheit der Verfassung?

schneiden mögliche und nötige genauere Argumentation suggestiv ab; sie erleichtern das Entscheiden durch Verdrängen komplexerer Begründungen; sie mimen — oft m i t Erfolg — Autorität und schleifen sich bei Urhebern wie Adressaten m i t der Zeit ein. Sie erzeugen Erwartungshaltungen, führen zu Resignation oder auch zu Uberzeugung. Macht w i r d i n Kommunikationsvorgängen wirklich, und Sprache ist das Mittel, m i t dem konstitutionelle Gewalt i m Verfassungsstaat arbeitet 568 . Darum ist eine Kritik der juristischen Sprache nicht sinnlos. Sie kann Normanmaßungen aufdecken, Verluste an Rationalität und Normativität verringern helfen. I m Rechtsstaat des Grundgesetzes ist solche K r i t i k Pflicht. Uber die Gesichtspunkte der Rechtsprechung hinaus gibt es weitere Möglichkeiten, nach einer Einheit der Verfassung zu fahnden. Die ältere wissenschaftliche Debatte hatte sich m i t der sogenannten Einheit der Rechtsordnung abgemüht. Das Problem geht der Sache nach bis auf den Systemgedanken des Vernunftrechts und der durch i h n geprägten Kodifikationen der Aufklärung zurück. Durch Pandektenwissenschaft, Begriffsjurisprudenz und Gesetzespositivismus wurde er aufschlußreich umgeformt. Die Rede von einer Einheit der Verfassung entstammt dagegen erst der Grundsatzdebatte der Weimarer Zeit. Sie trat damals bei antipositivistischen Autoren von i m übrigen verschiedener Haltung auf. Das m i t ihr teils begründete, teils aber nur unterstellte Argument kann unter formalen, inhaltlichen und methodologischen Aspekten befragt werden. A u f diese Fragen gibt es klare Antworten: Das Recht des Grundgesetzes ist weder notwendig lückenlos noch notwendig frei von Widersprüchen. Das zweite folgt aus dem unmittelbaren Befund des geltenden Verfassungsrechts und aus einigen Ergebnissen der Rechtstheorie, hinter welche die künftige Debatte kaum mehr zurückfallen wird. Die Lückenhaftigkeit ergibt sich aus dem Vergleich mit externen Maßstäben, vor allem mit dem tatsächlichen gesellschaftlichen Regelungsbedarf. Das geltende Rechtsverweigerungsverbot steht dieser Einsicht nicht entgegen; es mit der Frage nach der Geschlossenheit der Rechtsordnung zu vermischen, beruht auf einem doppelten Denkfehler. Die Aussage schließlich, immanent an sich selbst gemessen sei das Grundgesetz lückenlos und daher eine Einheit, kann nicht mehr als eine leere Identitätsformalie liefern 5 6 9 . Unter anderen Aspekten erbringt die Einheitsthese dagegen einen Sinn. Das Grundgesetz ordnet Textvollständigkeit und Textstrenge und 568 Dazu F.Müller X I , S. 18 ff., 21 ff., 26 ff., 28 ff.; ders. X I I , z.B. S. 79 f., 81 f., 87 ff. 569 Vergleichbar der ständigen Reduktion an Maßstäblichkeit i n der Aussage über die Gestalt der Erde: als „ K u g e l " , als „Rotationsellipsoid" u n d schließlich als „Geoid".

4.1 Spielarten des Arguments

229

insofern eine formale Einheit der Verfassungsurkunde an. Es weist weder verschiedene Rangstufen auf, noch sondert es als Normalverfassung einzelne Normengruppen rechtlich von den anderen ab. Es kennt also zweitens eine Einheit der Rangstufe von Rechtsquellen und drittens — abgesehen von seinen Notstandsregelungen — eine Einheit seiner normativen Struktur. I n diesen Fällen kann der Ausdruck „Einheit der Verfassung" sinnvoll gebraucht werden. Er wurde jedoch bisher nicht so verwendet 5 7 0 , und es erscheint auch nicht nötig, i h n so einzusetzen. Das Gemeinte ergibt sich bereits aus allgemeinen Eigenschaften der geschriebenen Verfassung wie auch durch besondere grundgesetzliche Normen. Es läßt sich ohne eine Einheit der Verfassung begründen und ausdrücken. Inhaltlich hat diese Vorstellung schon für vielerlei stehen müssen: für das Postulat einer materialen Einheit des Gemeinwesens, des Staates, der verfaßten Gesellschaft oder auch nur des Verfassungsrechts; für das Vorhaben, alle gesellschaftlichen Lebensbereiche durchgängig politisch zu funktionalisieren; dafür, der Verfassungsordnung inhaltliche Grundsätze oder Vorbehalte (z.B. Gemeinwohl) allgemein zu unterstellen; für ein Abdanken des positiven Rechts zugunsten der Rechtsund Staatsphilosophie oder zumindest einer materialen Verfassungslehre; für das Einfügen angeblich über- oder vorpositiver Grundlinien und Modelle dort, wo die Verfassung solche nicht oder nicht deutlich genug normiert hat; für das Uberbetonen einzelner Normen oder Prinzipien, z.B. inhaltlicher Regeln auf Kosten formaler und verfahrensrechtlicher Sicherungen; oder für das Behaupten einer gleichmäßig dichten und zuverlässigen oder widerspruchsfreien Materieregelung kraft normativ nicht ausgewiesener Theoreme. I n derartigen argumentativen Funktionen stellte sich die Rede von einer Einheit der Verfassung als fragwürdig heraus. Die Einheit des verfassungsgeschichtlichen Typus ist für Geschichts- und Sozialwissenschaften möglicherweise ergiebig, für die Fragen normorientierter Verfassungslehre und praktischer Rechtsarbeit aber zu grobmaschig. Iiolistisches Argumentieren m i t einer (einheitlichen) Totalität der Verfassung erwies sich als eine Sicht, die i n objektiv ideologischer Funktion und nicht selten auch m i t entsprechender subjektiver Absicht benutzt wird. Eine Einheit unter dem Gesichtspunkt des die Gesamtordnung legitimierenden Kernbestandes muß sich auf bestimmte Normen stützen, 570 N u r d a s Bundesverfassungsgericht spricht — i m 131er-Urteil BVerfGE 15, S. 167 f f , 194 f. — v o n der äußeren (urkundlichen) Einheit einer geschriebenen Verfassung am Beispiel der Reichsverfassung von 1919. Es m e i n t dam i t aber n u r das gemeinsame Inkrafttreten und Außerkrafttreten aller geschriebenen Normen der Verfassungsurkunde u n d trifft nicht den i m Text genannten Gesichtspunkt. Dieser ist dem Grundgesetz wegen der Weimarer Erfahrungen u n d gerade i m Gegensatz zur Reichsverfassung eigentümlich.

230

4 Einheit der Verfassung?

die i h n umschreiben, und ist durch Rückgriffe auf Einheit oder Ganzheit eher mißverständlich bezeichnet. Das Grundgesetz wurde nicht vom Weltgeist ersonnen und ist nicht einmal in stringenter Formalsprache gefaßt. Es ist nicht schon deshalb ein voraussetzbares Ganzes oder von innerer Einheit geprägt, w e i l es m i t sich selbst identisch ist. Schmükkende Beiwörter auf diesem Gebiet täuschen. Und für die apriorische Einheit, die philosophische und geisteswissenschaftliche Hermeneutik seit Schleiermacher ästhetischen Texten und Gebilden zuschreibt, fehlt es dem Grundgesetz an der rekonstruktiv verstehbaren Subjektivität eines bestimmten Verfassers. Die A r t seines Entstehens, die Widersprüchlichkeit der von i h m zu verfassenden Gesellschaft, der Kompromißcharakter vieler seiner Normen und nicht zuletzt sein beredtes Schweigen i n wichtigen Fragen stellen andersartige Probleme. Funktionale Fragestellungen leiteten zu den methodologischen Versuchen über, die Einheit der Verfassung anzuzielen. Unter den heute erkennbaren Bedingungen stößt man dabei bald auf die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Grundgesetzes. Selbst i n deren engem Rahmen erschien eine funktional verstandene Einheit als Ziel ebensowenig überzeugend wie der Glaube an vorgegebene Einheit. Dieses ernüchternde Ergebnis folgt aus der Aufgabe rationaler Wissenschaft, das Mögliche zu ermöglichen und das Unmögliche zu umgrenzen, nicht aber gesellschaftlich wichtige Ideologien oder liebgewordene Illusionen fortzuschreiben. Methodisch t r i t t „Einheit der Verfassung" teils als unnötiger Name für allgemeine oder m i t Verfassungsgrundsätzen verbundene systematische Argumente auf, teils benennt sie i n Normenkonflikten das Ziel harmonisierender wechselseitiger Begrenzung. Nur hier scheint die Einheitsthese einen selbständigen Sinn zu haben, aber auch hier sagt sie nichts über das einzuschlagende Verfahren. Ferner ist das Ziel der Konfliktlösung m i t „Einheit der Verfassung" nicht richtig angegeben. Auch die herrschende Praxis und Lehre muß einräumen, die Verfassung sei so wenig eine Einheit wie die verfaßte Gesellschaft. Das ist nicht zufällig so; wäre es Zufall, dann gäbe es Verfassungen vom Typus des Grundgesetzes m i t und ohne Einheit. Ist diese aber nicht real, dann kann sie auch nicht i n realistischer Weise erstrebt werden. Normorientierte Theorie, Dogmatik und Methodik sollten die verschiedenen bisher unnötig m i t „Einheit der Verfassung" bezeichneten Sachfragen darum anders anpacken. Sie sind positivrechtlich lösbar und sie lauten: Warum müssen widerstreitende (Verfassungs)Normen ausgleichend interpretiert werden, und wie soll das geschehen? Das Erstellen des positivrechtlichen Mindeststandards für Verfahren der Konfliktlösung hat hier gezeigt, daß das Einheitsargument aufgegeben werden sollte. Das angezielte einheitliche Ganze ist nicht das des geltenden

4.1 Spielarten des Arguments

231

(Verfassungs)Rechts; es ist die zu setzende einzelne Entscheidungsnorm, und den Grund wie die Richtlinien dafür liefert nicht eine Einheit, sondern die Positivität der Verfassung. Die Positivität der Verfassung bewältigt zum einen die Fälle, i n denen die Rede von der Einheit der Verfassung am Grundgesetz scheitert (Lückenlosigkeit, Freiheit von Widersprüchen, ideologische Einheit); und ferner die, i n denen die Einheitsthese durch positives Verfassungsrecht ersetzbar ist (legitimierende Einheit, funktionale Einheit, Einheit als M i t t e l systematischer und harmonisierender Verfassungsauslegung). Schließlich genügt sie auch dort, wo eine Einheit des Grundgesetzes positivrechtlich belegt werden kann (urkundliche Einheit, Einheit der Rangstufe von Rechtsquellen und der normativen Verfassungsstruktur). Alle Fragen nach einer Einheit der Verfassung werden jedenfalls für das Grundgesetz durch die Eigenschaften seiner Positivität beantwortet. Der Ausdruck „Einheit der Verfassung" kann also auch dort aufgegeben werden, wo er sinnvoll verwendbar ist. Er sollte vor allem nicht länger dazu dienen, die Grenze zwischen normorientierten und normgelöst rechtspolitischen Argumenten zu verdecken. Ein nur noch durch sprachliche Suggestion legitimierendes Etikett ist das Letzte, wofür die Einheit der Verfassung beschworen werden sollte. Deren Formeln wurden von der Praxis i n so verschiedenartigen Fällen, so wenig begründet, so unklar abgegrenzt und meist auch so sehr ohne Rücksicht auf den realen Arbeitsvorgang verwendet, daß sie inzwischen als verfügbare Wortfassaden, als rhetorische Versatzstücke wirken. Damit ist nicht nur der Gegensatz zwischen dem Ersten und dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts gemeint, sondern auch der fast bis zur Beliebigkeit verschwommene Gebrauch i m übrigen. Die These einer inneren Einheit der Verfassung t r i t t schon bei ihrer zweiten ausdrücklichen Anwendung durch denselben Senat 571 als je nach Bedarf einsetzbare Mehrzweckwaffe auf. I h r Anwendungsfeld hat sich i m Lauf der Zeit ständig verbreitert. Inzwischen segelt unter den Billigen Flaggen einer Einheit des Grundgesetzes allzu verschiedenartige Fracht. Da das Argument weder rechtlich begründet noch sprachlich klärt, kann es in den meisten Problemgruppen m i t deutlichem Nutzen für die Sache und i n den wenigen Fällen eines vertretbaren Gebrauchs ohne Schaden entfallen. Es ist klar geworden, daß die Einheit von Verfassung und verfaßtem Gemeinwesen kein Datum, keine voraussetzbare Tatsache ist. Demgemäß betonen nicht wenige Autoren vor allem i n Anschluß an Smend, Einheit sei zwar nicht gegeben, wohl aber aufgegeben. Diese Wendung 571

32 f.

I n BVerfGE 1, S. 208 f f , 227 f.; i m Vergleich zu: BVerfGE 1, S. 14 f f ,

232

4 Einheit der Verfassung?

vor dem Hintergrund einer material (und das heißt nicht zuletzt: politisch) ansetzenden Verfassungslehre ist nur scheinbar ein Anfang der Bescheidenheit. Formuliere ich Einheit als eine zu leistende Aufgabe, so nehme ich i n Anspruch, sie i m Grundsatz einlösen zu können. Soweit das über die M i t t e l rechtsstaatlicher Methodik hinausgeht, stellen sich an eine angezielte Einheit dieselben Fragen wie an jene Einheit, aus der es sich gerade nicht deduzieren läßt. Nicht zufällig wurde daher das Argument auch i n dieser Form zur verbalen Hülse; die höchstrichterliche Spruchpraxis zeigt das deutlich genug. Ist Einheit als Datum nicht einsichtig zu machen, so auch nicht als Vorhaben. Sie kann auch als Ziel nicht bieten, was real nicht möglich ist. Sonst w i r d i n beiden Fällen nur eine Illusion m i t einem klingenden Wort bedacht. „Illusion" ist der psychologisch genaue Name: nicht dasselbe wie ein I r r t u m und auch nicht notwendig ein Irrtum, i n jedem Fall aber eine Wunschvorstellung 5 7 2 . Das hinter dem Konzept einer Einheit der Verfassung stehende Bestreben ist verständlich. Es ist der Wunsch bürgerlicher Staatslehrer, die bürgerliche Verfassung möge weiterhin imstande sein, auf dem Feld der Legitimation Einheit zu erzeugen; sie möge die Kraft behalten, durch konstitutionelle Gewalt ausreichend zu wirken, um offene Konflikte zu vermeiden, aktuelle Gewalt damit möglichst zurückzudrängen und so das Gesetz einzuhalten, nach dem der liberale Verfassungsstaat angetreten ist 5 7 3 . Das Hauptmittel dazu ist für diesen Staat Kommunikation durch Sprache, die Legitimität einfordert: am konfliktlosesten durch Erwecken des Glaubens an Einheit und innere Harmonie des Ganzen der Gesellschaft; wenn dies nicht erfolgreich ist, dann an deren Harmonisierung als Ziel; wenn auch das i n der Wirklichkeit zu wenig Stütze findet, dann an die Einheit der normativen Verfassung; und soweit eine solche rechtsstaatlich nicht belegt wird, dann wenigstens an ihre Einheit als Ziel einzelner Entscheidungsvorgänge der Träger staatlicher Funktionen. Die Verfassungslehre des Als ob hat zu einer Methodik des Als ob geführt. Dagegen geht es für den nüchternen Blick rechtsstaatlicher Arbeit u m die konsistente Begründbarkeit der Entscheidungsnorm. Die für den Fall ergiebigen abstrakten Rechtsnormen sind stets nur Einzelteile der 57 2

Freud, S. 110 f. Beachte z . B . bei Smend die Einschätzung der Grundrechte als Legitimitätskern der Weimarer Verfassung u n d der Verfassungsartikel über Vertragsfreiheit, Eigentum, Ehe u n d Erbrecht als „die f ü r das bürgerliche Zeitalter bezeichnendste u n d wichtigste Legitimitätsquelle", abgehoben vom politischen Instrument des Wahlrechtsartikels 22 der Reichsverfassung als Vehikel des „Wahlrechts der proletarischen Revolution", I I I , S. 265 f. — Z u m Zusammenhang v o n Recht u n d Sprache i m Spannungsfeld von aktueller und konstitutioneller Gewalt u n d zum spezifischen Ansatz des liberalen Verfassungsstaates: F. Müller X I , S. 29 f.; ders. X I I , S. 86 ff., 90 ff. 573

4.1 Spielarten des Arguments

233

Rechtsordnung. Die staatliche Instanz w i r k t nicht durch Anwenden „des" (Verfassungs)Rechts — dieses ist als Ganzes weder normativ noch wissenschaftlich handhabbar —, sondern durch Konkretisieren einzelner Regeln der positiven Ordnung. Das gilt für das Recht des Grundgesetzes als Bestimmungs- wie als Maßstabs- oder Anknüpfungsregel; i n keinem dieser Fälle kann das Ganze der positiven Verfassung (zusätzlich m i t der Eigenschaft der Einheitlichkeit) als Norm fungieren. Es gilt ferner für das Verhältnis zwischen den einzelnen Vorschriften. Sogar deren Beziehungen zur umfassend vorgestellten (Verfassungs)Rechtsordnung sind, genau genommen, stets Einzelrelationen zu anderen Elementen des poisitiven Rechts und nicht total bestimmte Beziehungen zu dessen Totalität. Die untersuchte Rechtsprechung hat zum Teil konkret und korrekt gearbeitet, ihre Operationen aber m i t Ausdrücken wie „Einheit der Verfassung" verdeckt. Sie hat dort i n der Sprachgestalt der Begründung ein totum pro parte gegeben. Solche Redeweise ist nicht etwa unschädlich, w e i l nur metaphorisch. Die Metapher stimmt nicht, sie ist dem tatsächlichen Vorgang nicht angemessen und verleitet zu dem dafür üblich gewordenen ganzheitlichen Denken, das die mögliche Argumentation m i t einzelnen Normen und ihren Beziehungen verdrängt. Das zeigt sich auch bei anderen Fallgruppen, i n denen die Praxis ganzheitlich begründet (und wegen der damit verbundenen Arbeitsersparnis w o h l auch entschieden) hat: auf unvollständiger normativer Grundlage, dogmatisch bruchstückhaft, methodisch kurzschlüssig, unnötig irrational i m Begründungsstil. Es ist nicht herauszufinden, w a r u m und wie beim Lösen eines Rechtsfalls zugleich die Einheit der Verfassung gewahrt oder hergestellt werden soll; wohl aber, wie und warum eine i n sich bruchlose Lösung zu erzeugen ist. Aus der Bindung an das geltende (Verfassungs)Recht, aus Zuständigkeiten und Verfahren, aus Funktionen und Funktionsgrenzen, aus Rechtsverweigerungsverbot und Begründungspflichten, aus Gleichheitssätzen und Geboten der Methoden- und Normklarheit (die auch die Klarheit der Entscheidungsnormen umfaßt) ergibt sich die Pflicht zu konsistenter bzw. mindestens konsistent begründbarer Entscheidung. Es ist deren Einheitlichkeit, die m i t Mitteln der Konfliktlösung erstrebt w i r d : politisch durch den Gesetzgeber, juristisch durch dogmatische und methodische Rechtsarbeit von normumsetzender und normkontrollierender Funktion i n der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt. Diese haben i m Rechtsstaat ihre Arbeit i n überprüfbaren Einzelschritten darzulegen. Ganzheitliches Argumentieren aus der Einheit der Verfassung oder auf eine solche h i n bietet ein wenig anziehendes, wenn auch eindrucksvolles Beispiel für einen Holismus in Rechtspraxis und Rechtswissenschaft, der u m der Ehrlichkeit der Me-

234

4 Einheit der Verfassung?

thode willen aufgegeben werden sollte. Das ist keine allgemeine Aussage zu holistischem Denken i n den Wissenschaften. Über Ganzheitsdenken sollten seine K r i t i k e r nicht ganzheitlich den Stab brechen 574 . Die hier formulierten Ergebnisse sind immanent rechtswissenschaftlich erarbeitet worden; nicht m i t dem Anspruch, über Wissenschaft zu reden, sondern m i t Fragestellungen und Mitteln der Jurisprudenz 575 , mit Vorschlägen für praktische und theoretische Rechtsarbeit.

4.2 Eine Prognose Ohne die Rede von der Einheit der Verfassung gewänne das Argumentieren i m Staatsrecht ein Stück Echtheit. Es käme dem näher, was von einer ehrlichen Arbeitsweise verlangt werden darf. Die Fragwürdigkeit der Einheitsthese i n den meisten Fällen wie ihre Ersetzbarkeit i n den übrigen waren schon immer zu erkennen, haben aber Praxis und Lehre offenbar nicht beeindruckt. V o n der Einheit der Verfassung war auf höchster Ebene unseres Justizsystems schon kurz nach Inkrafttreten des Grundgesetzes und seither immer nachdrücklicher und thematisch ausgreifender zu hören. Die Aufnahme des Arguments i n der Rechtswissenschaft war bemerkenswert bereitwillig, K r i t i k blieb beiläufig und selten. Das jedenfalls von der Lehre gemachte Zugeständnis, der Ausdruck „Einheit der Verfassung" könne natürlich nicht eine vorgegebene Einheit (Geschlossenheit, Widerspruchslosigkeit, Harmonie) meinen, diente und dient unversehens als Eintrittsbillet i n die Wandelhallen des vornehmsten Interpretationsprinzips. Gerade weil Einheit nicht gegeben ist, so w i r d beteuert, müsse sie durch geeignete Auslegungskunst u m so dringlicher erstrebt werden. Daß sie, soweit real nicht möglich, auch kein sinnvolles Ziel bezeichnet, w i r d dabei verdrängt. Die salvatorische Klausel salviert aber nicht. Sie entzieht i m Gegenteil der Rede vom Streben der Verfassungsinterpreten nach Einheit und von der einheitstiftenden Funktion der Verfassung den Boden. Der Erfolg des Konzepts erklärt sich nicht aus wissenschaftlicher Überzeugungskraft und nicht daraus, daß es normativ, dogmatisch oder methodisch erforderlich wäre. Es setzt am höchsten Punkt einer unterstellten Normenpyramide an; nicht nur bei der Verfassung, sondern bei ihrem Allerheiligsten: ihrer Einheit und Ganzheit, ihrer Wirkungs574 Der Wissenschaftstheoretiker hat es da möglicherweise einfacher; siehe Poppers einleuchtende, aber doch auch leichthändige, sich bei den Arbeitsproblemen einzelner Wissenschaften nicht erst aufhaltende K r i t i k , S. 61 ff. 575 Zur Stellung von Rechtstheorie und rechtsstaatlicher Methodik gegenüber der Wissenschaftslehre habe ich meine Ansicht formuliert i n : F.Müller X V I , S. 278 ff. — Z u m Begriff der Rechtsarbeit: ders. X I , S. 14 ff., 16 f., 18 ff.; ders. X I I , S. 14 f., 16 f., 33 ff., 55 ff., 68 ff.

4.2 Eine Prognose

235

totalität und Sinnmitte. Wer so argumentiert, hat keine schlechte Aussicht darauf, bei den stärkeren Bataillonen zu sein. „Einheit der Verfassung" wurde ferner zu einer Leerformel für so viele Falltypen, daß das Pochen auf sie fühlbar Arbeit erspart. Das ist i n der Diskussion zwischen Praxis und Wissenschaft ein empfindlicher Punkt. Genauigkeit ist nicht alles, ist nicht unbegrenzt erreichbar und auch kein Patentrezept. Aber sie ist i m Rechtsstaat geboten und es verbietet sich, auf mögliche Genauigkeit voreilig oder zugunsten diskreter Dezision zu verzichten. Schlüssige Fallösungen werden den Rechtsstudenten schon i n der Anfängerübung abverlangt. Eine widerspruchsfreie Begründung der Entscheidungsnorm ist i n allen Rechtsgebieten, nicht nur i m Staatsrecht, gefordert; und zwar ohne daß m i t der „Einheit des Bürgerlichen Gesetzbuchs" oder einer „Einheit der Strafprozeßordnung" als m i t selbständigen Argumenten operiert zu werden bräuchte. Es wäre aber unrealistisch zu übersehen, wie sehr der von allerlei Nöten geplagte Praktiker Vorschlägen zu zeitaufwendiger mühseliger Genauigkeit abgeneigt ist 5 7 6 . Der oft überlastete und gegen akademisches Besserwissen i n der Regel empfindliche Rechtsfunktionär hört gewiß lieber: er solle ungeniert abwägen; er sei i n der Lage, bei Bedarf umstandslos auf die Gerechtigkeit durchzugreifen; er brauche seine wirklichen Entscheidungsgründe nicht offenzulegen und dürfe sich auf die Routine einer scheinrationalen nachträglichen Rechtfertigung seiner Entscheidungsnorm verlassen. Aber der Rechtsstaat ist für die Herrschenden nicht bequem und auch nicht für jene, die i n seinem Dienst nach dem Maßstab geltenden Rechts zu entscheiden haben. Für die Beherrschten ist er eine große historische Chance und alles andere als selbstverständlich. Der Rechtsstaat hat es verdient, beim Wort genommen zu werden. Wo erfüllbaren rechtsstaatlichen Geboten i n der täglichen Praxis nur zum Teil nachgekommen wird, kann dieser Befund den Ansatz einer normorientierten Methodik und Dogmatik nicht widerlegen. Der Grad der (Nicht)Erfüllung ist vielmehr ein wissenschaftlich aufschlußreicher Maßstab für den Ist-Zustand der Rechtsarbeit auf bestimmten Gebieten. Er dient als rechts- und sozialwissenschaftlicher Indikator dafür, wie weit die Abgrenzung der staatlichen Funktionen (Gesetzgebung — vollziehende und rechtsprechende Gewalt), wie weit also demokratische Inhaltsbestimmung und rechtsstaatliche Arbeitsweise glaubwürdig erscheinen. Ein vor allem rhetorischer oder vorwiegend rechtspolitischer Ansatz greift unter anderem für den Soll-Zustand zu kurz. Zu belegbar differenzierten Aussagen kann dagegen ein Versuch gelangen, der 576 Z u r Praktikermethode und ihrer Widerständigkeit gegen die V o r schläge einer juristischen Methodik, die den Rechtsstaat beim Wort n i m m t : F. Müller X , S. 100.

236

4 Einheit der Verfassung?

nicht den Ist-Zustand zur Quasi-Norm stempelt und damit, statt es zu lösen, das Problem umgeht; sondern der sich die Mühe macht, den erfüllbaren Soll-Zustand ausgearbeitet i n die Debatte einzubringen 577 . Die Formel von der Einheit der Verfassung ist knapp, sprachlich griffig, spricht literarisch an. Ihre Obertöne sind geeignet, den Wohlklang von Legitimität zu liefern — und zwar zusätzlich zur Legalität der Fallösung, die normativ, dogmatisch und methodisch i m einzelnen zu begründen man sich m i t Hilfe dieser Formel soeben erspart hat. Es genügt aber nicht, den Ausdruck „Einheit der Verfassung" nur als ideologisches Instrument zu sehen, das praktische Rechtsarbeiter wider besseres fachliches Wissen verwenden: u m zu integrieren, wo die Gesellschaft auf nicht integrierte Weise ungleich ist; u m wirkliche Widersprüche zu übertünchen; u m die Einheit eines Ganzen vorzutäuschen. Vielmehr hat es dieser Gedanke nach der A r t seines Zustandekommens an sich, die Juristen, die i h n benutzen, i n gutem Glauben an seine Richtigkeit und an ihre Ehrlichkeit zu wiegen: Einheit ist real nicht der Fall, also muß sie angestrebt werden. Die Erkenntnis der rechtswissenschaftlichen Sünde w i r d beantwortet von rechtspolitisch gutem Vorsatz. Aus der schlechten Dialektik seiner Begründung zieht das Argument emotionale Kraft. Wer einräumt, natürlich sei Einheit nicht verdinglicht vorgegeben, beweist damit, nicht naiv und nicht von gestern zu sein. Das Eingeständnis zeugt für historische und sozial wissenschaftliche Einsicht i n die wirklichen Verhältnisse und für womöglich immun machende Selbstkritik. Wer allerdings i m nächsten Schritt folgert, also sei dem Phantom nicht länger nachzujagen und seien die Sachprobleme m i t besser vertretbaren M i t t e l n anzupacken, ist ein Spielverderber. K o m m t es doch gerade darauf an, das zu erstreben, was man als unmöglich hat eingestehen müssen. Was nicht vorgegeben ist, weil es dies nicht geben kann, übernehme ich als m i r aufgegeben. Wer so argumentiert, löst sich ein Stück von Wirklichkeit und Plausibilität, von seiner Einsicht i n den Sachverhalt. Wer immer strebend sich bemüht, ist jedenfalls für seine Person gerechtfertigt. Das Ergebnis ist, mehr noch als ein I r r t u m i n der Sache, eine von Wunschdenken getragene Illusion. Sie hat für den einzelnen Rechtsarbeiter intrasubjektiv etwas m i t angewandter Theologie zu t u n und für Rechtspraxis und Lehre intersubjektiv m i t dem Urnschlag von Wahrheit i n Macht. Das Argument aus der Einheit der Verfassung kann seinen Siegeszug fortsetzen.

577 Dazu F. Müller X , S. 16 ff. u. ö.; ders. X I , S. 16 f., 26 ff., 28 ff.; ders. X I I , S. 86 ff. u. ö.; ders. X V I , S.271 ff., 285 ff.

Literaturverzeichnis * Abendroth , W.: Antagonistische Gesellschaft u n d politische Demokratie. A u f sätze zur politischen Soziologie, 1967. Achterberg , N.: A n t i n o m i e n verfassungsgestaltender i n : Der Staat 8 (1969), S. 159 ff.

Grundentscheidungen,

Adorno , Th. W.: Negative Dialektik, 1966. Albert , H.: Theorie u n d Realität, 1964. Albrecht , E.: Rezension über Maurenbrechers Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, 1962 (Neudruck). Anschütz, G.: (I) Lücken i n den Verfassungs- u n d Verwaltungsgesetzen, i n : VerwArch. 14 (1906), S. 315 ff. — (II) Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. 1933 (Neudruck 1960). Apelt , W.: (I) Gesetzgebungstechnik, 1951. — (II) Erstreckt sich das richterliche Prüfungsrecht auf Verfassungsnormen?, i n : N J W 1952, S. 1 ff. — (III) Verfassung u n d richterliches Prüfungsrecht, i n : JZ 1954, S. 401 ff. Arndt , A.: (I) Das Verfassungsgericht, i n : DVB1. 1951, S. 297 ff. — (II) Gesetzesrecht u n d Richterrecht, i n : N J W 1963, S. 1273 ff. — (III) Die Kunst i m Recht, i n : N J W 1966, S. 26 ff. Arndt , H.-W./Olshausen, H. v.: Verfassungsrechtliche Fragen zur inneren Pressefreiheit, i n : JuS 1975, S. 485 ff. Eachof, O.: (I) Geltung u n d Tragweite des A r t . 131 des Bonner GG, i n : Deutsche Rechtszeitschrift 1949, S. 553 ff. — (II) Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, 1951. — (III) Über die Geltung des A r t . 104 des Grundgesetzes oder von der A u f gabe des Richters zur Ausfüllung von Gesetzeslücken, i n : JZ 1951, S. 737 ff. — (IV) Z u m richterlichen Prüfungsrecht gegenüber Verfassungsnormen, i n : N J W 1952, S. 242 ff. — (V) Bemerkungen zur „verfassungswidrigen Verfassungsnorm", i n : DÖV 1961, S. 927 ff. — (VI) Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrensrecht i n der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 2. Aufl. 1964. Badura, P.: (I) Die Methoden der neueren Allgemeinen Staatslehre, 1959. — (II) Bewahrung u n d Veränderung demokratischer u n d rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur i n den internationalen Gemeinschaften, in: V V D S t R L 23 (1966), S. 34 ff. * Für die Abkürzungen von Zeitschriftentiteln vgl. H. Kirchner , Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 2. Aufl. 1968.

238

Literaturverzeichnis

Badura, P. ( I I I ) Verfassung u n d Verfassungsgesetz, i n : Festschrift f ü r U. Scheuner zum 70. Geburtstag, hrsg. von H. Ehmke, J. H. Kaiser, W. A . Kewenig, K . M . Meessen, W. Rüfner, 1973, S. 19 ff. — (IV) A r t i k e l Verfassung, i n : Evangelisches Staatslexikon. Begründet von H. Kunst u n d S. Grundmann f. Hrsg. von H. Kunst, R. Herzog, W. Schneemelcher, 2. A u f l . 1975, Sp. 2708 ff. — (V) Verfassung, Staat u n d Gesellschaft i n der Sicht des Bundesverfassungsgerichts, i n : Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz. Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, hrsg. v o n Chr. Starck, 2. Band: Verfassungsauslegung, 1976, S. 1 ff. — (VI) Grundprobleme S. 205 ff.

des

Wirtschaftsverfassungsrechts,

in:

JuS

1976,

— (VII) Staat, Recht u n d Verfassung i n der Integrationslehre. Z u m Tode von Rudolf Smend, i n : Der Staat 16 (1977), S. 305 ff. Bäumlin, R.: (I) Staat, Recht u n d Geschichte. Eine Studie zum Wesen des geschichtlichen Rechts, entwickelt an den Grundproblemen von Verfassung u n d Verwaltung, 1961. — (II) Staatslehre u n d Kirchenrechtslehre, über gemeinsame Fragen ihrer Grundproblematik, i n : Staatsverfassung u n d Kirchenordnung. Festgabe f ü r R. Smend zum 80. Geburtstag am 15. Jan. 1962, hrsg. von K . Hesse (u. a.), 1962, S. 3 ff. — (III) Der schweizerische Rechtsstaatsgedanke, i n : Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins, Bd. 101 (1965), S. 81 ff. Barth, H.: Wahrheit u n d Ideologie, 2. A u f l . 1961. Bartholomeyczik, Baumgarten,

H.: Die K u n s t der Gesetzesauslegung, 1951.

A . : Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 1939.

Berg, W.: Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte i m rechtsabschnitt des Grundgesetzes, 1968. Bergbohm, K . : (I) Das Naturrecht der Gegenwart, 1892. — (II) Jurisprudenz u n d Rechtsphilosophie, 1892 (unveränderter 1973). Bernhardt,

Grund-

Neudruck

R.: Wandlungen der Grundrechte, 1971.

Bethge, H.: Z u r Problematik v o n Grundrechtskollisionen, 1977. Betti, E.: Ergänzende Rechtsfortbildung als Aufgabe der richterlichen Gesetzesauslegung. Festschrift f ü r L. Raape, 1948, S. 379 ff. Bilfinger, C.: Verfassungsumgehung. Betrachtungen zur Auslegung der Weimarer Verfassung, i n : AöR 50 (1926), S. 163 ff. Blaesing, H.: Grundrechtskollisionen, Diss. jur. Bochum, 1974. Böckenförde, E.-W.: (I) Religionsfreiheit und öffentliches Schulgebet, in: DÖV 1966, S. 30 ff. — (II) Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat u n d Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973. — ( I I I ) Grundrechtstheorie u n d Grundrechtsinterpretation, i n : N J W 1974, S.1529 ff. — (IV) Die Methoden der Verfassungsinterpretation — Bestandsaufnahme und K r i t i k , i n : N J W 1976, S. 2089 ff.

Literaturverzeichnis Boehmer, G.: Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung, 2. Buch: 2. A b teilung: Praxis der richterlichen Rechtsschöpfung, 1952. Brüggemann, J.: Die richterliche Begründungspflicht. Verfassungsrechtliche Mindestanforderungen an die Begründung gerichtlicher Entscheidungen, 1971. Büllesbach, A.: Systemtheoretische Ansätze u n d ihre K r i t i k , i n : A . K a u f mann/W. Hassemer: E i n f ü h r u n g i n Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 1977, S. 235 ff. Bullinger,

M.: öffentliches Recht u n d Privatrecht, 1968.

Bundesverfassungsgericht: Bemerkungen des Bundesverfassungsgerichts zu dem Rechtsgutachten von Prof. Dr. Richard Thoma betreffend die Stellung des Bundesverfassungsgerichts, i n : JöR N. F. Bd. 6 (1957), S. 194 ff. Burckhardt,

W.: (I) Die Lücken des Gesetzes u n d die Gesetzesauslegung, 1925.

— (II) Organisation der Rechtsgemeinschaft, 1927. — (III) Methode u n d System des Rechts, 1936. Canaris, C. W.: (I) Die Feststellung von Lücken i m Gesetz. Eine methodologische Studie über die Voraussetzungen u n d Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem, 1964. — (II) Systemdenken u n d Systembegriff i n der Jurisprudenz, entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 1969. Ciaessens, D.fKlönne, A./Tschoepe, Deutschland, 6. A u f l . 1973.

A:

Sozialkunde

der

Bundesrepublik

Coing, H.: (I) System, Geschichte u n d Interesse i n der Privatrechtswissenschaft, i n : JZ 1951, S. 482 ff. — (II) Die juristischen Auslegungsmethoden u n d die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, 1959. — (III) Grundzüge der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1976. Contiades, J.: Verfassungsgesetzliche Staatsstrukturbestimmungen, 1967. Dahrendorf,

R.: (I) Gesellschaft u n d Freiheit, 1961.

— (II) Gesellschaft u n d Demokratie i n Deutschland, 1965. Damm, R.: N o r m u n d F a k t u m i n der historischen Entwicklung der j u r i s t i schen Methodenlehre, in: Rechtstheorie 7 (1976), S. 213 ff. Denninger, E.: (I) Staatsrecht. Einführung i n die Grundprobleme des V e r fassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 1973. — (II) Freiheitsordnung — Wertcrdnung — Pflichtordnung. Z u r E n t w i c k lung der Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, i n : JZ 1975, S. 545 ff. Drath, M.: (I) Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: V V D S t R L 9 (1952), S. 17 ff. — (II) Z u r Soziallehre und Rechtslehre v o m Staat, ihren Gebieten und Methoden, i n : Rechtsprobleme i n Staat und Kirche. Festschrift für R. Smend zum 70. Geburtstag am 15.1.1952, 1952, S. 41 ff. — (III) Prinzipien der Verfassungsinterpretation V V D S t R L 20 (1963), S. 106 ff., 109 f., 127 ff.

(Diskussionsbeitrag),

in:

240

Literaturverzeichnis

Drath, M.: (IV) Über eine kohärente sozio-kulturelle Theorie des Staats und des Rechts, i n : Die moderne Demokratie und i h r Recht. Modern constitutionalism and democracy. Festschrift f ü r G. Leibholz zum 65. Geburtstag, 1. Grundlagen, 1966, S. 35 ff. — (V) Der Staat der Industriegesellschaft. E n t w u r f einer sozialwissenschaftlichen Staatstheorie, i n : Der Staat 5 (1966), S. 273 ff. — (VI) A r t i k e l Staat, I. Teil, i n : Evangelisches Staatslexikon. Begründet von H. K u n s t u n d S. Grundmann f. Hrsg. von H. Kunst, R. Herzog, W. Schneemelcher, 2. A u f l . 1975, Sp. 2432 ff. — (VII) Rechts- u n d Staatslehre als Sozialwissenschaft. Gesammelte Schriften über eine sozio-kulturelle Theorie des Staats u n d des Rechts, hrsg. v o n E. E. Hirsch, 1977. Dreier, R.: Z u r Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, i n : R. Dreier/F. Schwegmann (Hrsg.): Probleme der Verfassungsinterpretation. Dokumentation einer Kontroverse, 1976, S. 13 ff. Dürig, G.: (I) Die V e r w i r k u n g von Grundrechten nach A r t . 18 des Grundgesetzes, i n : J Z 1952, S. 513 ff. — (II) A r t i k e l 2 des Grundgesetzes u n d die Generalermächtigung zu allgemeinpolizeilichen Maßnahmen, in: AöR 79 (1953/1954), S. 57 ff. — (III) Pressefreiheit (Diskussionsbeitrag), i n : W D S t R L 22 (1965), S. 195 ff. — (IV) Kommentierung zu A r t i k e l 1, i n : Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz. Kommentar, 5. A u f l . 1978. Ehmke, H.: (I) Grenzen der Verfassungsänderung, 1953. — (II) Verfassungsänderung und Verfassungsdurchbrechung, (1953/1954), S. 385 ff.

in: AöR 79

— (III) Wirtschaft u n d Verfassung. Die Verfassungsrechtsprechung des Supreme Court zur Wirtschaftsregulierung, 1961. — (IV) „Staat" u n d „Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung. Festgabe für R. Smend zum 80. Geburtstag am 15. Jan. 1962, hrsg. von K . Hesse (u. a.), 1962, S. 23 ff. — (V) Prinzipien der Verfassungsinterpretation, S. 53 ff., 115 f., 130 ff.

in: W D S t R L

20 (1963),

Ehrlich, E.: (I) Juristische Logik, 1925. — (II) Grundlegung der Soziologie des Rechts, 3. Aufl. 1967. — (III) Recht u n d Leben. Gesammelte Schriften zur schung und zur Freirechtslehre, 1967.

Rechtstatsachenfor-

Elze, H.: Lücken i m Gesetz, 1916. Emge, C. A.: Das Wesen der Ideologie, 1961. Engelhardt, D.: Das richterliche Prüfungsrecht i m modernen Verfassungsstaat, in: JöR N. F. Bd. 8 (1959), S. 101 ff. Engisch, K.: (I) Die Einheit der Rechtsordnung, 1935. — (II) Der rechtsfreie Raum, in: ZStW 108 (1952), S. 385 ff. — (III) Die Idee der Konkretisierung i n Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953. — (IV) Sinn u n d Tragweite juristischer Systematik, i n : Studium Generale 1957, S. 173 ff.

Literaturverzeichnis

241

Engisch, K . : (V) Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. erg. Aufl. 1963. — (VI) Einführung i n das juristische Denken, 7. Aufl. 1977. Erbel, G.: I n h a l t u n d A u s w i r k u n g e n der verfassungsrechtlichen heitsgarantie, 1966. Ermacora, F.: Prinzipien der Verfassungsinterpretation i n : V V D S t R L 20 (1963), S. 111.

Kunstfrei-

(Diskussionsbeitrag),

Esser, J.: (I) Die Interpretation i m Recht, i n : Studium Generale 1954, S. 372 ff. — (II) Z u r Methodenlehre des Zivilrechts, i n : Studium Generale 1959, S. 97 ff. — (III) Wertung, K o n s t r u k t i o n u n d Argument i m Z i v i l u r t e i l , 1965. — (IV) Vorverständnis u n d Methodenwahl i n der Rechtsfindung, 2. A u f l . 1972. — (V) Grundsatz u n d N o r m m der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 3. Aufl. 1974. Evers, H. U.: Der Richter u n d das unsittliche Gesetz, 1956. Fiedler, W.: Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, 1972. Fohmann, L.: Konkurrenzen u n d Kollisionen i m Verfassungsrecht. Studie zur Operationalisierung spezifischer Rechtsanwendungsmethoden u n d zur Konstruktion einer rechtsorientierten Argumentationstheorie (im Erscheinen). Forsthoff, E.: (I) Recht u n d Sprache. Prolegomena zu einer richterlichen H e r meneutik, 1940. — (II) Gutachten, i n : Der K a m p f u m den Wehrbeitrag I I , 1953, S. 312 ff. — (III) Die U m b i l d u n g des Verfassungsgesetzes, i n : Festschrift f ü r C. Schmitt, hrsg. von H. Barion, E. Forsthoff, W. Weber, 1959, S. 35 ff. — (IV) Z u r Problematik der Verfassungsauslegung, 1961. — (V) Pressefreiheit (Diskussionsbeitrag), i n : V V D S t R L 22 (1965), S. 189 f. — (VI) Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt a m Beispiel der B u n desrepublik Deutschland, 1971. — (VII) Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band I, Allgemeiner Teil, 10. A u f l . 1973. — ( V I I I ) Die V e r w a l t u n g als Leistungsträger, 1938. — (IX) Begriff u n d Wesen des sozialen Rechtsstaates, i n : V V D S t R L 12 (1954), S. 8 ff. — (X) Der totale Staat, 1933. Freud, S.: Massenpsychologie u n d Ich-Analyse. Die Z u k u n f t einer Illusion, 1967. Friedrich,

C. J.: Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953.

Friedrich, M.: Der Methoden- u n d Richtungsstreit. Z u r Grundlagendiskussion der Weimarer Staatsrechtslehre, i n : AöR 102 (1977), S. 161 ff. Friesenhahn, E.: Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, i n : Verhandlungen des fünfzigsten Deutschen Juristentages, Band I I , 1974, S. G 1 ff. Gadamer, H.-G.: Wahrheit u n d Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 4. A u f l . 1975. Geffken, R.: Klassenjustiz, 1972. 16 F . M ü l l e r

242

Literaturverzeichnis

Geiger, Th.: Kritische Bemerkungen zum Begriff der Ideologie, i n : Arbeiten zur Soziologie, 1962. Gerber, C. F. v.: (I) Über öffentliche Rechte, 1852. — (II) Grundzüge des deutschen Staatsrechts, 3. A u f l . 1880. Gierke, O. v.: (I) Das Wesen der menschlichen Verbände, 1954 (Neudruck). — (II) Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, 1961 (Neudruck). Giese, F.: Z u r Klagbarkeit der Versorgungsansprüche der Flüchtlingsbeamten u n d ehemaligen Berufssoldaten, i n : DVB1. 1950, S. 458 f. Göldner, D.: (I) Verfassungsprinzip u n d Privatrechtsnorm i n der verfassungskonformen Auslegung u n d Rechtsfortbildung, 1969. — (II) Integration u n d Pluralismus i m demokratischen Rechtsstaat. Bemerkungen zur Doppelfunktion von Einheit u n d Gegensatz i m System des Bonner Grundgesetzes, 1977. Goerlich, H.: (I) Wertordnung und Grundgesetz. K r i t i k einer Argumentationsfigur des Bundesverfassungsgerichts, 1973. — (II) Optimierungsaufgaben der Verfassungsinterpretation, i n : Rechtstheorie 8 (1977), S. 231 ff. Grabitz, E.: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, i n : AöR 98 (1973), S. 568 ff. Grimm, D.: Verfassungsfunktion u n d Grundgesetzreform, i n : AöR 97 (1972), S.489 ff. Grosskreutz,

P.: Normwidersprüche i m Verfassungsrecht, 1966.

Grundmann, S.: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts i n K i r chensteuersachen u n d das Staatskirchenrecht, i n : JZ 1967, S. 193 ff. Habermas, J.: (I) Analytische Wissenschaftstheorie u n d Dialektik. E i n Nachtrag zur Kontroverse zwischen Popper u n d Adorno, i n : Th. W. Adorno u . a . : Der Positivismusstreit i n der deutschen Soziologie, 3.Aufl. 1971, S. 155 ff. — (II) Legitimationsprobleme i m Spätkapitalismus, 1973. Häberle, P.: (I) A n m e r k u n g zu BVerfG DVB1. 1966, S. 215 f. (Beschl. d. Ersten Senats vom 4. 10. 1965 — 1 B v R 498/62 —), i n : DVB1. 1966, S. 216 ff. — (II) Die Abhörentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. 12. 1970, i n : JZ 1971, S. 145 ff. — (III) Die Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 Abs. 2 GG. Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte u n d zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt, 2. A u f l . 1972. — (IV) Grundrechte i m Leistungsstaat, i n : V V D S t R L 30 (1972), S. 43 ff. — (V) Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. E i n Beitrag zur pluralistischen und „prozessualen" Verfassungsinterpretation, i n : JZ 1975, S. 297 ff. Haidane, J. S.: Mechanism, life and personality, 2. Aufl. 1921. Haug, H.: Die Schranken der Verfassungsrevision, 1947. Heck, Ph.: (I) Das Problem der Rechtsgewinnung, 1912. — (II) Gesetzesauslegung u n d lnteressenjurisprudenz, i n : AcP 112 (1914), S.lff.

Literaturverzeichnis

243

Heck, Ph.: (III) Begriffsbildung u n d lnteressenjurisprudenz, 1932. Heckel, M.: Staat — Kirche — Kunst. Rechtsfragen kirchlicher K u l t u r d e n k mäler, 1968. Hegel, G . W . F . : (I) Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe i n 20 Bänden, hrsg. von H. Glockner. D r i t t e r Band: Philosophische Propädeutik, Gymnasialreden u n d Gutachten über den Philosophie-Unterricht, 3. Aufl. 1949. — (II) Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe i n 20 Bänden, hrsg. v o n H. Glockner. Vierter Band: Wissenschaft u n d Logik. Erster Teil. Die objektive Logik, 3. Aufl. d. J A , 1958. — (III) Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe i n 20 Bänden, hrsg. von H. Glockner. Achter Band: System der Philosophie. Erster Teil. Die Logik, 3. A u f l . d. J A , 1955. Heller, H.: (I) Bemerkungen zur staats- u n d rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, i n : AöR 55 (1929), S. 321 ff. — (II) Rechtsstaat oder Diktatur?, 1930. — (III) Staatslehre, hrsg. von G. Niemeyer, 1934. Heller, Th.: Logik u n d Axiologie der analogen Rechtsanwendung, 1961. Hennis, W.: Verfassung u n d Verfassungswirklichkeit. E i n deutsches Problem, 1968. Hensel, A.: Grundrechte u n d politische Weltanschauung, 1931. Herrfahrdt,

H.: Lücken i m Recht, 1915.

Hesse, K . : (I) Die normative K r a f t der Verfassung, 1959. — (II) Der unitarische Bundesstaat, 1962. — (III) Der Rechtsstaat i m Verfassungssystem des Grundgesetzes, i n : Staatsverfassung u n d Kirchenordnung. Festgabe für R. Smend zum 80. Geburtstag am 15. Jan. 1962, hrsg. v o n K . Hesse (u. a.), 1962, S. 71 ff. — (IV) Grenzen der Verfassungswandlung, i n : Festschrift f ü r U. Scheuner zum 70. Geburtstag, hrsg. von H. Ehmke, J. H. Kaiser, W. A. Kewenig, K . M. Meessen, W. Rüfner, 1973, S. 123 ff. — (V) Bemerkungen zur heutigen Problematik u n d Tragweite der U n t e r scheidung von Staat u n d Gesellschaft, i n : DÖV 1975, S. 437 ff. — (VI) Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10. A u f l . 1977. Hilf, M.: Sekundäres Gemeinschaftsrecht u n d deutsche Grundrechte. A u s w i r kungen auf die Gemeinschaftsrechtsordnung, i n : Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht u n d Völkerrecht 35 (1975), S. 51 ff. Hippel, Eike v.: Grenzen u n d Wesensgehalt der Grundrechte, 1965. Hippel, F. v.: (I) Z u r Gesetzmäßigkeit juristischer Systembildung, 1930. — (II) Formalismus u n d Rechtsdogmatik, 1935. — (III) Richtlinie u n d Kasuistik i m Aufbau von Rechtsordnungen, 1942. Hoff mann, G.: Das Verhältnis des Rechts der Europäischen Gemeinschaften zum Recht der Mitgliedstaaten, i n : DÖV 1967, S. 433 ff. Hollerbach, A.: (I) Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung? Z u Ernst Forsthoffs Abhandlung „Die U m b i l d u n g des Verfassungsgesetzes" i n der Festschrift für C a r l Schmitt, i n : AöR 85 (1960), S. 241 ff. 16*

244

Literaturverzeichnis

Hollerbach, A.: (II) Das Staatskirchenrecht i n der Rechtsprechung des B u n desverfassungsgerichts, i n : AöR 92 (1967), S. 99 ff. — (III) Ideologie u n d Verfassung, i n : W. Maihof er (Hrsg.): Ideologie u n d Recht, 1969, S. 37 ff. Huber, E.: Recht u n d Rechtsverwirklichung, 1921. Huber, E. R.: (I) Wirtschaftsverwaltungsrecht, Band 1, 2. Aufl. 1953. — (II) Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, B a n d I : Reform u n d Restauration 1789 bis 1830, 1957. — (III) Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, B a n d I I I : Bismarck und das Reich, 1963. — (IV) Vorsorge für das Dasein. E i n Grundbegriff der Staatslehre Hegels u n d Lorenz v. Steins, i n : Festschrift f ü r E. Forsthoff zum 70. Geburtstag, hrsg. von R. Schnur, 1972, S. 139 ff. Huber, H.: (I) Probleme des ungeschriebenen Verfassungsrechts, i n : Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins, Band 91 (1955), S. 95 ff. — (II) Prinzipien der Verfassungsinterpretation (Diskussionsbeitrag), i n : W D S t R L 20 (1963), S. 116 f. — (III) Der Formenreichtum der Verfassung u n d seine Bedeutung für ihre Auslegung, i n : Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins 107 (1971), S. 169 ff. — (IV) Über die Konkretisierung der Grundrechte, i n : Der Staat als A u f gabe. Gedenkschrift f ü r M. Imboden, 1972, S. 191 ff. Husserl, E.: Logische Untersuchungen I, 1928. Ipsen, H. P.: (I) Grundgesetz u n d richterliche Prüfungszuständigkeit, Deutsche V e r w a l t u n g 1949, S. 486 ff.

in:

— (II) Das Verhältnis des Rechts der europäischen Gemeinschaften zum nationalen Recht, i n : A k t u e l l e Fragen des europäischen Gemeinschaftsrechts, 1965, S. 1 ff. — (III) Verfassungsstruktur i n den internationalen Gemeinschaften (Diskussionsbeitrag), i n : W D S t R L 23 (1966), S. 128 ff. — (IV) B V e r f G versus E u G H re „Grundrechte". Z u m Beschluß des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. M a i 1974 (BVerfGE Bd. 37, S. 271), i n : Europarecht, 10. Jahrgang 1975, S. 1 ff. Ipsen, J.: Richterrecht u n d Verfassung, 1975. Isay, H.: Rechtsnorm u n d Entscheidung, 1929. Jacobi, E.: Reichsverfassungsänderung, i n : Die Reichsgerichtspraxis i m deutschen Rechtsleben, Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts, hrsg. von O. Schreiber, Band 1, 1929, S. 233 ff. Jaeggi, U.: (I) Macht u n d Herrschaft i n der Bundesrepublik, 1969. — (II) K a p i t a l u n d A r b e i t i n der Bundesrepublik. Elemente einer gesamtgesellschaftlichen Analyse, 1973. — (III) (Hrsg.) Sozialstruktur u n d politische Systeme, 1976. Jahrreiss, H.: Berechenbarkeit und Recht, 1927. Jaspers, K . : (I) Die geistige Situation der Zeit, 1931. — (II) Allgemeine Psychopathologie, 6. Aufl. 1953.

Literaturverzeichnis Jellinek, G.: (I) Verfassungsänderung u n d Verfassungswandlung, 1906. — (II) System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1919. — (III) Allgemeine Staatslehre, 1960 (3. Auflage, 7. Neuauflage). Jellinek, 1913.

W.: Gesetz, Gesetzesanwendung u n d

Zweckmäßigkeitserwägung,

Jerusalem, F. W.: System u n d Begriffsjurisprudenz, i n : W. K r a w i e t z (Hrsg.): Theorie u n d Technik der Begriffsjurisprudenz, 1976, S. 300 ff. Jesch, D.: Gesetz u n d Verwaltung. Eine Problemstudie zum Wandel des Gesetzmäßigkeitsprinzipes, 1961. Jung, E.: Von der „logischen Geschlossenheit" des Rechts, 1900. Kaegx, W.: Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates. U n t e r suchungen über die Entwicklungstendenzen i m modernen Verfassungsrecht, 1945. Kaiser, J. H.: (I) Z u r gegenwärtigen Differenzierung von Recht u n d Staat. Staatstheoretische Lehren der Integration, i n : österreichische Zeitschrift f ü r öffentliches Recht X (1959/60), S. 413 ff. — (II) Prinzipien der Verfassungsinterpretation (Diskussionsbeitrag), i n : W D S t R L 20 (1963), S. 126 f. — (III) Pressefreiheit (Diskussionsbeitrag), i n : W D S t R L 22 (1965), S. 178. — (IV) Bewahrung u n d Veränderung demokratischer u n d rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur i n den internationalen Gemeinschaften, i n : W D S t R L 23 (1966), S. 1 ff. Kant, I.: K r i t i k der reinen Vernunft. Zweite Auflage 1787, i n : Kants Werke, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1. A b teilung Band I I I , 1911. Kaufmann, E.: (I) Auswärtige Gewalt und Kolonialgewalt i n den Vereinigten Staaten von Amerika, 1908. — (II) Z u r Problematik des Volkswillens, 1931. Keller, A.: Die K r i t i k , K o r r e k t u r u n d Interpretation des Gesetzeswortlautes, 1960. Kelsen, H.: (I) Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre, 1928. — (II) Der Staat als Integration. Eine prinzipielle Auseinandersetzung, 1930. — (III) Reine Rechtslehre, m i t einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2. Aufl. 1960. — (IV) Was ist juristischer Positivismus?, i n : JZ 1965, S. 465 ff. Kirchhof, P.: Rechtsquellen u n d Grundgesetz, i n : Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz. Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des B u n desverfassungsgerichts, hrsg. von Chr. Starck, 2. Band: Verfassungsauslegung, 1976, S. 50 ff. Klein, E.: Sekundäres Gemeinschaftsrecht u n d deutsche Grundrechte. Stellungnahme aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts, i n : Zeitschrift f ü r ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 35 (1975), S. 67 ff. Klug, W.: Juristische Logik, 3. Aufl. 1966. Knies, W.: Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967.

246

Literaturverzeichnis

Krawietz, W.: Das positive Recht u n d seine Funktion. Kategoriale und methodologische Überlegungen zu einer funktionalen Rechtstheorie, 1967. Krebs , W.: Vorbehalt des Gesetzes u n d Grundrechte. Vergleich des traditionellen Eingriffsvorbehalts m i t den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes, 1975. Kriele, M.: (I) Einführung i n die Staatslehre. Die geschichtlichen L e g i t i m i tätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 1975. — (II) Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 2. A u f l . 1976. Krüger , Herbert: (I) Zur Auslegung des A r t . 131 des Bonner Grundgesetzes, i n : N J W 1950, S. 161 ff. — (II) Rechtsfragen der Sozialisierung i n Hessen, i n : AöR 77 (1951/1952), S. 46 ff. — (III) Der Wesensgehalt der Grundrechte i. S. des A r t . 19 GG, i n : DÖV 1955, S. 597 ff. — (IV) Verfassungsauslegung aus dem W i l l e n des Verfassungsgebers, i n : DVB1. 1961, S. 685 ff. — (V) Verfassungsänderung u n d Verfassungsauslegung, i n : DÖV 1961, S.721 ff. — (VI) Allgemeine Staatslehre, 2. A u f l . 1966. — (VII) Der Verfassungsgrundsatz, i n : Festschrift f ü r E. Forsthoff zum 70. Geburtstag, hrsg. von R. Schnur, 1972, S. 187 ff. Krüger , Hildegard: Die verfassungsrechtliche Bedeutung des A r t . 117 GG, in: N J W 1953, S. 964 ff. Kühnl, R.: Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus — Faschismus, 1971. Kuhlen , L.: Typuskonzeptionen i n der Rechtstheorie, 1977. Laband y P.: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl. 1911 - 1914. LarenZy K . : Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1975. Lautmann , R.¡Peters, D.: Ungleichheit vor dem Gesetz. Straf justiz u n d soziale Schichten, i n : Vorgänge 12 (1973), S. 45 ff. Leenen, D.: Typus u n d Rechtsfindung, 1971. LeibholZy G.: (I) Das Wesen der Repräsentation u n d der Gestaltwandel der Demokratie i m 20. Jahrhundert, 2. A u f l . 1960. — (II) Prinzipien der Verfassungsinterpretation W D S t R L 20 (1963), S. 117 ff.

(Diskussionsbeitrag),

in:

— (III) Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967. Leisner , W.: (I) Grundrechte u n d Privatrecht, 1960. — (II) Betrachtungen zur Verfassungsauslegung, i n : DÖV 1961, S. 641 ff. — ( I I I ) V o n der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964. Lenk, K . : (Hrsg.) Ideologie. Ideologiekritik u n d Wissenssoziologie, 2. Aufl. 1964. Lepa, M.: Grundrechtskonflikte, i n : DVB1. 1972, S. 161 ff.

Literaturverzeichnis Lerche, P.: (I) Übermaß u n d Verfassungsrecht. Z u r B i n d u n g des Gesetzgebers an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit u n d der Erforderlichkeit, 1961. — (II) Stil, Methode, Ansicht. Polemische Bemerkungen zum Methodenproblem, i n : DVB1. 1961, S. 690 ff. — (III) Z u m „Anspruch auf rechtliches Gehör", i n : Z Z P 78 (1965), S. 1 ff. — (IV) Besprechung von: Peter Häberle: Die Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 Abs. 2 Grundgesetz, i n : DÖV 1965, S. 212 ff. — (V) Werbung u n d Verfassung, 1967. Lipphardt, H.-R.: Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt. Kritische Studie zur W a h l - u n d Parteienrechtsjudikatur des B u n desverfassungsgerichts, 1975. Litt, Th.: I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 2. A u f l . 1924. Loewenstein,

K . : Erscheinungsformen der Verfassungsänderung, 1931.

Loos, F.: Z u r W e r t - u n d Rechtslehre M a x Webers, 1970. Luhmann, N.: (I) Grundrechte als Institution. E i n Beitrag zur politischen Soziologie, 1965. — (II) Soziologie als Theorie sozialer Systeme, i n : Kölner Zeitschrift f ü r Soziologie u n d Sozialpsychologie 19 (1967), S. 615 ff. — (III) Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, i n : Jahrbuch f ü r Rechtssoziologie u n d Rechtstheorie, B a n d 1, 1970, S. 175 ff. — (IV) Rechtssoziologie, Band 1 u n d 2, 1972. — (V) Politische Verfassungen i m K o n t e x t des Gesellschaftssystems, i n : Der Staat 12 (1973), S. 1 ff., 165 ff. — (VI) Ausdifferenzierung des Rechtssystems, i n : Rechtstheorie 7 (1976), S.121 ff. — (VII) Legitimation durch Verfahren, 2. A u f l . 1975. Maihof er, W.: Ideologie u n d Recht. Juristische Vorbemerkungen zum Thema, i n : ders. (Hrsg.): Ideologie u n d Recht, 1969, S. 1 ff. Mannheim, Martens,

K . : Mensch u n d Gesellschaft i m Zeitalter des Umbaus, 1958.

W.: Grundrechte i m Leistungsstaat, i n : W D S t R L 30 (1972), S. 7 ff.

Maunz, Th.: (I) Starke u n d schwache Normen i n der Verfassung, i n : Verfassung u n d V e r w a l t u n g i n Theorie u n d Wirklichkeit. Festschrift f ü r W. Laforet anläßlich seines 75. Geburtstages, 1952, S. 141 ff. — (II) Deutsches Staatsrecht, 21. Aufl. 1977. Miliband, R.: Der Staat i n der kapitalistischen Gesellschaft. Eine Analyse des westlichen Machtsystems, 1972. Mols, M.: (I) Integrationslehre u n d politische Theorie, i n : AöR 94 (1969), S. 513 ff. — (II) Allgemeine Staatslehre oder politische Theorie? Interpretationen zu i h r e m Verhältnis am Beispiel der Integrationslehre Rudolf Smends, 1969. Müller, F.: (I) Korporation u n d Assoziation. Eine Problemgeschichte der V e r einigungsfreiheit i m deutschen Vormärz, 1965. — (II) Landesverfassung u n d Reichskonkordat, Fragen der Schulform i n Baden-Württemberg, i n : B a W ü V B l . 1965, S. 177 ff.

248

Literaturverzeichnis

Müller, F.: (III) N o r m s t r u k t u r u n d Normativität. Z u m Verhältnis von Hecht u n d W i r k l i c h k e i t i n der juristischen Hermeneutik, entwickelt an Fragen der Verfassungsinterpretation, 1966. — (IV) Schulgesetzgebung u n d Reichskonkordat, 1966. — (V) Z u r christlichen Gemeinschaftsschule i n Baden-Württemberg. Fragen der Rechtsgültigkeit des verfassungsändernden Gesetzes v o m 8. Februar 1967, i n : DVB1. 1968, S. 98 ff. — (VI) Normbereiche v o n Einzelgrundrechten i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1968. — (VII) Neue Verfassungsprobleme i m Schulrecht Baden-Württembergs. Vorfragen zur Auslegung des A r t . 15 Abs. 1 der Landesverfassung, i n : B a W ü V B l . 1969, S. 49 ff. — (VIII) Die Positivität der Grundrechte. Fragen einer praktischen Grundrechtsdogmatik, 1969. — (IX) Freiheit der K u n s t als Problem der Grundrechtsdogmatik, 1969. — (X) Juristische Methodik, 2. A u f l . 1976. — (XI) Recht — Sprache — Gewalt. Elemente einer Verfassungstheorie I, 1975. — ( X I I ) Juristische Methodik u n d Politisches System. Elemente einer V e r fassungstheorie I I , 1976. — ( X I I I ) Zugang zu öffentlichen Ä m t e r n u n d verfassungsrechtliche D i s k r i minierungsverbote, i n : ders.: Rechtsstaatliche F o r m — Demokratische Politik. Beiträge zu öffentlichem Recht, Methodik, Rechts- u n d Staatstheorie, 1977, S. 95 ff. — (XIV) Z u einer Allgemeinen Staatslehre (II) (1967), i n : ders.: Rechtsstaatliche F o r m — Demokratische Politik. Beiträge zu öffentlichem Recht, Methodik, Rechts- u n d Staatstheorie, 1977, S. 221 ff. — (XV) Thesen zur S t r u k t u r von Rechtsnormen (1970), i n : ders.: Rechtsstaatliche F o r m — Demokratische Politik. Beiträge zu öffentlichem Recht, Methodik, Rechts- u n d Staatstheorie, 1977, S. 257 ff. — (XVI) Rechtsstaatliche Methodik u n d Politische Rechtstheorie (1977), i n : ders.: Rechtsstaatliche F o r m — Demokratische Politik. Beiträge zu öffentlichem Recht, Methodik, Rechts- u n d Staatstheorie, 1977, S. 271 ff. — ( X V I I ) Nachschrift zur Freiheit der Kunst sowie zu Normbereichsanalyse u n d Rechtspolitik (1977), i n : ders.: Rechtsstaatliche Form — Demokratische Politik. Beiträge zu öffentlichem Recht, Methodik, Rechts- und Staatstheorie, 1977, S. 90 ff. — ( X V I I I ) Thesen zur Grundrechtsdogmatik (1968), i n : ders.: Rechtsstaatliche F o r m — Demokratische Politik. Beiträge zu öffentlichem Recht, Methodik, Rechts- u n d Staatstheorie, 1977, S. 48 ff. — /Pieroth, B.: Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach. Eine Fallstudie zu den Verfassungsfragen seiner Versetzungserheblichkeit, 1974. Müller, J. P.: Die Grundrechte der Verfassung u n d der Persönlichkeitsschutz des Privatrechts, 1964. Nawiasky, H.: (I) Allgemeine Rechtslehre als System der rechtlichen Grundbegriffe, 2. A u f l . 1948.

Literaturverzeichnis Nawiasky, H.: (II) Ungeschriebenes Verfassungsrecht (Diskussionsbeitrag), i n : W D S t R L 10 (1952), S. 54 f. —• (III) Positives u n d überpositives Recht, i n : JZ 1954, S. 717 ff. Noll, P.: Gesetzgebungslehre, 1973. Obermayer, S. 185 f.

K . : Pressefreiheit (Diskussionsbeitrag), i n : W D S t R L 22 (1965),

Oertzen, P. v.: Die Bedeutung C. F. von Gerbers f ü r die deutsche Staatsrechtslehre, i n : Staatsverfassung u n d Kirchenordnung. Festgabe f ü r R. Smend zum 80. Geburtstag am 15. Jan. 1962, hrsg. v o n K . Hesse (u. a.), 1962, S. 183 ff. Offe, C.: (I) Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur Politischen Soziologie, 1972. — (II) Die Herrschaftsfunktionen des Staatsapparates, i n : M . Jänicke (Hrsg.): Politische Systemkrisen, 1973, S. 236 ff. Ossenbühly F.: Probleme u n d Wege der Verfassungsauslegung, i n : DÖV 1965, S. 649 ff. Papier, H.-J.: Unternehmen u n d Unternehmer i n der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, i n : W D S t R L 35 (1977), S. 55 ff., 165 ff. Parsons, T.: (I) Das System moderner Gesellschaften, 1972. — (II) Gesellschaften. Evolutionäre u n d komparative Perspektiven, 1975. Perelman, Ch. (Hrsg.): Etudes de Logique Juridique, Vol. I I Droit et Logique. Les Lacunes en Droit, 1967. Pestalozza, Chr. v.: (I) Kritische Bemerkungen zu Methoden u n d Prinzipien der Grundrechtsauslegung i n der Bundesrepublik Deutschland (1963), i n : R. Dreier/F. Schwegmann (Hrsg.): Probleme der Verfassungsinterpretation. Dokumentation einer Kontroverse, 1976, S. 211 ff. — (II) Der Garantiegehalt der Kompetenznorm. Erläutert am Beispiel der A r t i k e l 105 ff. GG, i n : Der Staat 11 (1972), S. 161 ff. — (III) Sekundäres Gemeinschaftsrecht u n d nationale Grundrechte, i n : DVB1. 1974, S. 716 ff. Peters, H.: (I) Auslegung der Grundrechtsbestimmungen aus der Geschichte, i n : Historisches Jahrbuch 72 (1953), S. 457 ff. — (II) Kombination verschiedener Verfassungsgrundsätze als M i t t e l der Verfassungsauslegung, i n : Festschrift der Arbeitsgemeinschaft f ü r Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen zu Ehren des H e r r n Ministerpräsidenten K . A r n o l d anläßlich des fünfjährigen Bestehens der Arbeitsgemeinschaft f ü r Forschung am 4. M a i 1955, 1955, S. 117 ff. — (III) Diskussionsbeitrag, i n : H. Coing: Die juristischen Auslegungsmethoden u n d die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, 1959, S. 34 ff. Popper, K . R.: Das Elend des Historizismus, 3. A u f l . 1971. Preuß, H.: Die Persönlichkeit des Staates organisch u n d individualistisch betrachtet, i n : AöR 4 (1889), S. 62 ff. Preuß, U . K . : Legalität u n d Pluralismus. Beiträge zum Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1973. Ridder, H.: (I) Z u r verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften, 1960. — (II) Die soziale Ordnung des Grundgesetzes. Leitfaden zu den Grundrechten einer demokratischen Verfassung, 1975.

250

Literaturverzeichnis

Roellecke, G.: Prinzipien der Verfassungsinterpretation i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, i n : Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, hrsg. von Chr. Starck, 2. Band: Verfassungsauslegung, 1976, S. 22 ff. Rosenbaum, W.: Naturrecht u n d positives Recht. Rechtssoziologische U n t e r suchungen z u m Einfluß der Naturrechtslehre auf die Rechtspraxis i n Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, 1972. Rottleuthner, t i k , 1973.

H.: Richterliches Handeln. Z u r K r i t i k der juristischen Dogma-

Rüfner, W.: (I) Überschneidungen u n d gegenseitige Ergänzungen der Grundrechte, i n : Der Staat 7 (1968), S. 41 ff. — (II) Grundrechtskonflikte, i n : Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz. Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, hrsg. von Chr. Starck, 2. Band: Verfassungsauslegung, 1976, S. 453 ff. Rupp, H . H . : (I) Z u r bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle des Gemeinschaftsrechts am Maßstab der Grundrechte, i n : N J W 1974, S. 2153 ff. — (II) V o m Wandel der Grundrechte, i n : AöR 101 (1976), S. 161 ff. Saladin, P.: Unternehmen u n d Unternehmer i n der verfassungsgerichtlichen Ordnung der Wirtschaft, i n : W D S t R L 35 (1977), S. 7 ff., 167 ff. Sartre, J.-P.: K r i t i k der dialektischen Vernunft, deutsch 1967. Sävigny,

F. C. v.: (I) System des heutigen Römischen Rechts, B a n d I , 1840.

— (II) Juristische Methodenlehre, hrsg. von G. Wesenberg, 1951. Schelting, A . v.: M a x Webers Wissenschaftslehre, 1934. Scheuerle, W.: Rechtsanwendung, 1952. Scheuner, U.: (I) Ungeschriebenes Verfassungsrecht (Diskussionsbeitrag), i n : W D S t R L 10 (1952), S. 46 ff. — (II) Die Auslegung verfassungsrechtlicher Rechtsgutachten i m M a n u s k r i p t gedruckt).

Leitgrundsätze,

1952

(als

— (III) Die staatliche Intervention i m Bereich der Wirtschaft. Rechtsformen u n d Rechtsschutz, i n : W D S t R L 11 (1954), S. 1 ff. — (IV) Das Grundrecht der Berufsfreiheit, i n : DVB1. 1958, S. 845 ff. — (V) Das repräsentative Prinzip i n der modernen Demokratie, i n : Verfassungsrecht u n d Verfassungswirklichkeit. Festschrift f ü r H. Huber zum 60. Geburtstag, 1961, S. 222 ff. — (VI) Der Schutz der Gewissensfreiheit i m Recht der Kriegsdienstverweigerer, i n : DÖV 1961, S. 201 ff. — (VII) Das Wesen des Staates u n d der Begriff des Politischen i n der neueren Staatslehre, i n : Staatsverfassung und Kirchenordnung. Festgabe für R. Smend zum 80. Geburtstag am 15. Jan. 1962, hrsg. von K . Hesse (u. a.), 1962, S. 225 ff. — ( V I I I ) Prinzipien der Verfassungsinterpretation (Diskussionsbeitrag), i n : W D S t R L 20 (1963), S. 125 f. — (IX) Pressefreiheit, i n : W D S t R L 22 (1965), S. 1 ff., 178 ff.

Literaturverzeichnis Scheuner, U.: (X) Auseinandersetzungen u n d Tendenzen i m deutschen Staatskirchenrecht. Kirchenverträge u n d Gesetz, Kirchensteuern, Gemeinschaftsschule, Religionsfreiheit, i n : D Ö V 1966, S. 145 ff. — (XI) Die Religionsfreiheit i m Grundgesetz, i n : DÖV 1967, S. 585 ff. — ( X I I ) Die F u n k t i o n der Grundrechte i m Sozialstaat. Die Grundrechte als Richtlinie u n d Rahmen der Staatstätigkeit, i n : DÖV 1971, S. 505 ff. — ( X I I I ) Die staatliche E i n w i r k u n g auf die Wirtschaft, 1971. — (XIV) Der Grundrechtsschutz i n der Europäischen Gemeinschaft u n d die Verfassungsrechtsprechung. Z u m Beschluß des Bundesverfassungsgerichts v o m 29. M a i 1974, i n : AöR 100 (1975), S. 30 ff. — (XV) Konsens u n d Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, i n : Rechtsgeltung u n d Konsens, 1976, S. 33 ff. Schindler, D.: Verfassungsrecht u n d soziale Struktur, 3. A u f l . 1950. Schlink, B.: (I) Das A b h ö r - U r t e i l des Bundesverfassungsgerichts, i n : Der Staat 12 (1973), S. 85 ff. — (II) Abwägung i m Verfassungsrecht, 1976. Schmidt-Aßmann, E.: Der Verfassungsbegriff i n der deutschen Staatslehre der A u f k l ä r u n g u n d des Historismus. Untersuchungen zu den Vorstufen eines hermeneutischen Verfassungsdenkens, 1967. Schmitt, C.: (I) Staat, Bewegung, Volk, 1933. — (II) Politische Theologie. V i e r K a p i t e l zur Lehre v o n der Souveränität, 2. Ausgabe 1934. — (III) Uber die drei A r t e n des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934. — (IV) Verfassungslehre, 4. A u f l . 1965. Schneider, H.-P.: Die Verfassung. Aufgabe u n d Struktur, i n : AöR Beiheft 1, 1974, S. 64 ff. Schneider, P.: (I) Prinzipien der Verfassungsinterpretation, i n : W D S t R L 20 (1963), S. 1 ff., 108, 114 f., 133 f. — (II) Pressefreiheit u n d Staatssicherheit, 1968. Schönfeld, W.: Die logische S t r u k t u r der Rechtsordnung, 1927. Schumann, E.: Das Rechtsverweigerungsverbot. Historische und methodologische Bemerkungen zur richterlichen Pflicht, das Recht auszulegen, zu ergänzen u n d fortzubilden, i n : Z Z P 81 (1968), S. 79 ff. Schwache, P.: Grundrechtliche Spannungslagen, 1975. Schwinge, E.: Der Methodenstreit i n der heutigen Rechtswissenschaft, 1930. Seifert,

H.: Einführung i n die Wissenschaftstheorie, Band 1, 2, 3. A u f l . 1971.

Siebert, W.: Die Methode der Gesetzesauslegung, 1958. Smend, R.: (I) Die Preußische Verfassungsurkunde i m Vergleich m i t der Belgischen, 1904. — (II) Das Recht der freien Meinungsäußerung (1928), i n : ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen u n d andere Aufsätze, 2. Aufl. 1968, S. 89 ff. — (III) Verfassung u n d Verfassungsrecht (1928), i n : ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen u n d andere Aufsätze, 2. Aufl. 1968, S. 119 ff. — (IV) Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz (1951), i n : ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen u n d andere Aufsätze, 2. Aufl. 1968, S. 411 ff.

252

Literaturverzeichnis

Smend, R.: (V) A r t i k e l Integrationslehre (1956), i n : ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen u n d andere Aufsätze, 2. Aufl. 1968, S. 475 ff. — (VI) A r t i k e l Integration (1966), i n : ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen u n d andere Aufsätze, 2. A u f l . 1968, S. 482 ff. — (VII) A r t i k e l Integration, i n : Evangelisches Staatslexikon. Begründet von H. Kunst u n d S. G r u n d m a n n t- Hrsg. von H. Kunst, R. Herzog, W. Schneemelcher, 2. A u f l . 1975, Sp. 1024 ff. — ( V I I I ) Bürger u n d Bourgeois i m deutschen Staatsrecht (1933), i n : ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen u n d andere Aufsätze, 2. Aufl. 1968, S. 309 ff. — (IX) Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl (1919), i n : ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen u n d andere A u f sätze, 2. A u f l . 1968, S. 60 ff. Somlö, F.: Juristische Grundlehre, 2. A u f l . 1927. Stammler, R.: (I) Theorie der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1923. — (II) Die Lehre von dem richtigen Rechte, 2. Aufl. 1926. — (III) Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1928. Stein, E.: (I) Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Rechtsfortbildung durch die Rechtsprechung, i n : N J W 1964, S. 1745 ff. — (II) Z u r staatskirchenrechtlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, i n : Juristen]ahrbuch 8 (1967/1968), S. 120 ff. Stern, K . : Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1: Grundbegriffe u n d Grundlagen des Staatsrechts, Strukturprinzipien der Verfassung, 1977. Stratenwerth, 1957.

G.: Das rechtstheoretische Problem der „ N a t u r der Sache",

Suhr, D.: (I) Bewußtseinsverfassung u n d Gesellschaftsverfassung. Uber Hegel u n d M a r x zu einer dialektischen Verfassungstheorie, 1975. — (II) A r t i k e l Systemtheorie, in: Evangelisches Staatslexikon. Begründet von H. K u n s t u n d S. Grundmann f. Hrsg. von H. Kunst, R. Herzog, W. Schneemelcher, 2. A u f l . 1975, Sp. 2598 ff. — (III) Entfaltung der Menschen durch die Menschen. Zur Grundrechtsdogmatik der Persönlichkeitsentfaltung, der Ausübungsgemeinschaften u n d des Eigentums, 1976. — (IV) Die kognitiv-praktische Situation. Fundamentierungsprobleme i n praktischer Philosophie, Sozialtechnik u n d Jurisprudenz, 1977. Thieme, H.: (I) Die Zeit des späten Naturrechts, i n : Zeitschrift der SavignyStiftung f ü r Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, Bd. 56 (1936), S.202 ff. — (II) Die preußische Kodifikation, i n : Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, Bd. 57 (1937), S. 355 ff. Tomuschat, Chr.: Verfassungsgewohnheitsrecht? Eine Untersuchung Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1972.

zum

Topitsch, E.: Begriff u n d F u n k t i o n der Ideologie, i n : Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, 1961, S. 15 ff. Triepel, H.: Staatsrecht u n d Politik, 1927. Tsatsos, Th.: Z u r Problematik des Rechtspositivismus, 1964.

Literaturverzeichnis Viehweg , Th.: (I) T o p i k u n d Jurisprudenz, 3. A u f l . 1965. — (II) Systemprobleme i n Rechtsdogmatik u n d Rechtsforschung, i n : A . Diemer (Hrsg.): System u n d Klassifikation i n Wissenschaft u n d Dokumentation, 1968, S. 96 ff. Wank, R.: Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978. Waterkamp, R.: Herrschaftssysteme DDR, 1972.

u n d Industriegesellschaft.

BRD

und

Weber, M.: (I) Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, J. Winckelmann, 2. A u f l . 1951.

hrsg.

von

— (II) Staatssoziologie, hrsg. v o n J. Winckelmann, 1956. — (III) Wirtschaft u n d Gesellschaft, 5., revidierte A u f l . 1972. — (IV) Wirtschaftsgeschichte. A b r i ß der universalen Sozial- u n d Wirtschaftsgeschichte, hrsg. v o n S. H e l l m a n n u n d M. Palyi, 3. A u f l . 1958. — (V) Rechtssoziologie, hrsg. v o n J. Winckelmann, 1960. Weber, W.: (I) Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem, i n : Festschrift f ü r C. Schmitt zum 70. Geburtstag, 1959, S. 283 ff. — (II) Gewaltenteilung, i n : Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 4 (1965), S. 497 ff. — (III) Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem, 3. A u f l . 1970. Welzel, H.: Naturrecht u n d Rechtspositivismus, i n : Festschrift f ü r H. Niedermeyer. Dargebracht von der Rechts- u. Staatswiss. Fakultät zu Göttingen, 1953, S. 279 ff. Wengler, W.: Betrachtungen über den Zusammenhang der Rechtsnorm i n der Rechtsordnung u n d die Verschiedenheit der Rechtsordnungen, i n : Gegenwartsprobleme des internationalen Rechtes u n d der Rechtsphilosophie. Festschrift für R. L a u n zu seinem siebzigsten Geburtstag, hrsg. von D. S. Constantopoulos u n d H. Wehberg, 1973, S. 719 ff. Wieacker, F.: (I) Aufstieg, Blüte u n d Krisis der Kodifikationsidee, i n : Festschrift f ü r G. Boehmer, 1954, S. 34 ff. — (II) Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. A u f l . 1967. Wilhelm, W.: Z u r juristischen Methodenlehre i m 19. Jahrhundert. Die H e r k u n f t der Methode Paul Labands aus der Privatrechtswissenschaft, 1958. Wintrich, J. M.: (I) Über Eigenart u n d Methode verfassungsrechtlicher Rechtsprechung, i n : Verfassung u n d Verwaltung i n Theorie u n d W i r k lichkeit. Festschrift für W. Laforet anläßlich seines 75. Geburtstages, 1952, S. 227 ff. — (II) Z u r Problematik der Grundrechte, 1957. — (III) Grundfragen des Verfassungsrechts i n der Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs. Z u r Problematik der Auslegungsmethode, des Wesens des Rechts, der elementaren Grundrechte, des Rechtsstaatsprinzips, in: B a y V B l . 1958, S. 97 ff. Wolf, H. J.: Rechtsgrundsätze u n d verfassungsgestaltende Grundentscheidungen als Rechtsquellen, i n : Forschung u n d Berichte aus dem öffentlichen Recht. Gedächtnisschrift f ü r W. Jellinek, hrsg. von O. Bachof, M. Drath, O. Gönnewein, E. Walz, 1955, S. 33 ff.

254 Zippelius,

Literaturverzeichnis R.: (I) Wertungsprobleme i m System der Grundrechte, 1962.

— (II) Allgemeine Staatslehre (Politikwissenschaft), 5. Aufl. 1975. Zitelmann,

E.: Lücken i m Recht, 1903.

5 Einheit der Rechtsordnung Das Ausgreifen auf die Rechtsordnung als Ganzes erweitert den vertikalen Holismus sozusagen i n die Breite. Einschließlich der Verfassung u n d unter ihrer Dominanz, die von der rechtsstaatlichen Normenhierarchie b e w i r k t w i r d , soll die Gesamtheit des geltenden Rechts „einheitlich" erfassbar werden. Solches Erfassen spiegelt metaphorisch ein Stück solides Herrschaftswissen vor; bei näherem Zusehen zerfasert dieses beruhigende Bild. So w i r d unter einer „ E i n h e i t " der Rechtsordnung zum Beispiel eine innewohnende Eigenschaft des auf das positive Recht bezogenen wissenschaftlichen Systems verstanden; daneben aber auch eine solche des analytischen Zugriffs u n d seines Bezugspunkts, also eine Einheit der wissenschaftlichen Erkenntnis. „ E i n h e i t " des Rechts k a n n als A x i o m wie als Postulat juristischer Arbeit eingeführt werden. Sie changiert aber nicht n u r nach dem Standort, sondern auch von Fach zu Fach, so vor allem zwischen Staats- u n d Völkerrecht, Internationalem Privatrecht, Strafrecht u n d Zivilrecht. I n Mischung m i t weiteren Bedeutungsvarianten leidet das Argument insgesamt unter einem recht unsicheren Gebrauch. Es ist ein althergebrachtes Argument. Die vieldeutige Redeweise von der Einheit der Rechtsordnung ist ein K i n d des rationalistischen Vernunftrechts. Sie wurde i n der Folge vom klassischen Positivismus seit der vorletzten Jahrhundertmitte übernommen. Neu-europäisches Naturrecht u n d der spätere Positivismus sind axiomatisch. Sie wollen ein strenges System exakter Erkenntnis erzielen u n d benötigen kodifikatorisches Denken: Der Gesetzgeber hat demnach i n autoritärem Z u griff alles Regeinswerte schon i m Vorhinein geregelt; außerhalb seiner Anordnungen ist n u r noch der „rechtsleere Raum" vorstellbar. Das vom kontinentalen Anstaltsstaat des modernen Europa (gemäß der Analyse M a x Webers) systematisierte u n d formalisierte, das monopolisierte u n d bürokratisierte Recht w i r d als „geschlossen" angesehen. A l les menschliche Sozialverhalten soll normierbar, i m Sinn von: durch Normen antizipierbar sein. Diesem Typ von Rechtsordnung als Rechtsbetrieb entspricht das B i l d der „ E i n h e i t " des Normenbestands. Geschlossenheit als Vollständigkeit wie auch als Freiheit von inneren W i dersprüchen lag der Idee umfassender Gesetzgebung, lag dem sozialen Optimismus der vernunftrechtlichen Epoche so naiv wie herrschafts-

256

5 Einheit der Rechtsordnung

funktional zu Grunde, ohne schon reflektiertes Programm der Jurisprudenz zu sein. Die Reflexion entsteht erst bei der Vorbereitung des u n d beim Übergang zum Positivismus. Erst Pandektenwissenschaft u n d Gesetzespositivismus spitzten diesen Ansatz zu dem Anspruch zu, Rechtswissenschaft als begrifflich geschlossenes System betreiben, Entscheidungen logisch aus System, Begriff u n d Lehrsatz ableiten u n d damit die praktischen Rechtsfälle durch syllogistische Subsumtion lösen zu können. Die durch Theoretisierung von Dogmatik ersonnenen abstrakten Rechtsbegriffe bieten demzufolge einen Numerus clausus von Axiomen an. Nicht mehr i n erster L i n i e die Rechtsordnung selbst, w o h l aber das Begriffssystem einer puristischen Rechtswissenschaft soll notwendig durch „ E i n h e i t " geprägt sein. Die W i r k l i c h k e i t w i r d aus dem Einzugsgebiet juristischer Arbeit energisch verdrängt. Der Positivismus fragt nun, wie die Jurisprudenz autonom werden, wie sie „rein juristisch" vorgehen könne. Dass diese allgemeine Vorgabe ein massives P o l i t i k u m darstellt, wurde schon von Positivisten der Gründerjahre gesehen (v. Gerber). Die Behauptung einer Geschlossenheit u n d Widerspruchslosigkeit des dogmatisch formalisierten Rechts, seiner ,,logische[n] E x pansionskraft" (Bergbohm) u n d der Fähigkeit juristischer Begriffe, „sich paaren" u n d „neue zeugen" zu können (so der frühe Jhering), verraten nicht nur mannhaften Glauben an die Unanfechtbarkeit j u ristischer Logik, sondern auch ausgeprägte Wissenschaftspolitik. U m die Wende zum 20. Jahrhundert wurde diese i m Bismackreich der Gründerjahre herrschende Lehre angezweifelt, wurde vom „falschen Dogma der Geschlossenheit des Rechtssystems" (Georg Jellinek, ähnlich E r i c h Jung) gesprochen. Durch Freirechtslehre, Interessenjurisprudenz u n d den staatsrechtlichen Richtungsstreit der 20er Jahre wurde offensichtlich, dass die krypto-naturrechtliche Einheitsthese gescheitert war. Auf breiter Front schwenkten die juristischen Autoren zu Metaphern von offenen, fragmentarischen, nicht axiomatischen, nicht deduktionsfähigen, von so genannten beweglichen „Systemen" des Rechts über. Die alltäglich erkennbaren Probleme der Rechtsarbeit gingen gegenüber dem Glauben an System u n d Einheit nach u n d nach i n Führung. Das neuzeitliche Rechtsverweigerungsverbot hatte, als Teil des positiven Rechts, i n den Kulissen der alten Lehre eine gewisse, oft nicht reflektierte Rolle gespielt. Für den Positivismus muss das Recht, u m logisch „anwendbar" zu sein, nicht nur als widerspruchsfrei, sondern auch als lückenlos unterstellt werden. E i n solcher Zustand war das Ziel der vernunftrechtlichen Kodifikationen gewesen; es ist unter den realen Bedingungen der modernen pluralistisch demokratischen Regierungssysteme seit langem aufgegeben worden. D u r c h Pandekten-

5 Einheit der Rechtsordnung

Wissenschaft u n d Positivismus verlagerte sich das Postulat dann auf die Lückenlosigkeit nicht des Normen-, w o h l aber des Begriffssystems. Auch diese zweifelhafte Metaphysik eines bürgerlichen Naturrechts der Gründer jähre hatte eine unbestreitbar politische Funktion. Die Debatte u m das so genannte Richterrecht hat hier seit der Freirechtsschule ihren Standort gesucht. Dabei ist festzuhalten, dass das Rechtsverweigerungsverbot der modernen Staaten nicht, wie behauptet w u r de, Lückenlosigkeit als notwendiges Korrelat braucht. Es ist nämlich zum einen zwischen dem Normenbestand u n d den tatsächlichen Bedürfnissen der Praxis, zum anderen zwischen materiellem Recht u n d Prozessrecht zu unterscheiden. Gemessen am gesellschaftlichen Normierungsbedarf, hat sich noch jede Rechtsordnung als unvollständig erwiesen erhält i m Rechtsstaat eine Prozesspartei auch durch eine für sie i n h a l t l i c h abschlägige, aber prozessual korrekte Entscheidung die A n t w o r t aus dem geltenden Recht , auf die ein Anspruch besteht. Das Rechtsverweigerungsverbot drängt unter keinem Gesichtspunkt zur Annahme geschlossener Einheit. I m Wesentlichen hat sich die K r i t i k an der Einheitslehre als K r i t i k des Positivismus entfaltet. Der herkömmliche E i n w a n d gegen ihre Dogmen lief seit Freirechtsschule, Interessenjurisprudenz u n d soziologischer Rechtswissenschaft darauf hinaus, die Vollständigkeit der Rechtsordnung sei nur ein Postulat, denn der Richter stehe immer wieder vor der Notwendigkeit, „Gesetzeslücken durch einen rechtsschöpferischen A k t zu schließen" (Arthur Kaufmann). Solche K r i t i k geht aber nicht weit genug. Sie weist zutreffend auf die alltägliche j u r i s t i sche Erfahrung des Ungenügens einer formalen L o g i k hin, auf das Scheitern der Wunschvorstellungen von „Syllogismus" u n d „Subsumt i o n " . Doch werden dabei der grundlegende Begriff der Rechtsnorm u n d die Eigenschaften dessen, was er bezeichnen soll, nicht durchdacht. I n der Tat hing u n d hängt der Positivismus m i t seinem B i l d des Rechts als einer Einheit, der Entscheidung als einer logischen Subsumtion, m i t seinem Ausschalten aller nicht i m Normtext dogmatisierten Elemente der sozialen Ordnung einer F i k t i o n nach. Doch haben die Lehren vom Freien Recht, vom interessenbestimmten Recht, vom Richterrecht, haben Topik, geisteswissenschaftliche Hermeneutik, Dezisionismus, Integrationslehre u n d sonstige Antipositivismen lieber i m E i n zelnen noch so zutreffende D e t a i l k r i t i k vorgetragen, als beim p r a k tisch-theoretischen Zentralbegriff der Rechtsnorm anzusetzen. Werden dagegen (von der Strukturierenden Rechtslehre) sowohl Rechtsnorm u n d Normtext als auch Rechtsnorm u n d Entscheidungsnorm systematisch auseinander gehalten, so klärt sich die Vorstellung vom „geltenden Recht": Das, was gewöhnlich so bezeichnet w i r d , ist die Menge der Normtexte, die erst im Fall nach methodischen Regeln

258

5 Einheit der Rechtsordnung

zu Rechtsnormen, diese ihrerseits zu Entscheidungsnormen fortentwickelt werden müssen. Ferner w i r d klar, dass „ E i n h e i t " , „Ganzheit" u n d „Geschlossenheit" m i t der Positivität u n d Gleichrangigkeit der Normtexte einer K o d i f i k a t i o n sowie m i t der bloßen Identität des Normtextbestands m i t sich selbst verwechselt wurden. Dieser Ansatz erlaubt es, auch die Gebrauchsweisen des Ausdrucks „Einheit der Verfassung" genauer zu beschreiben, wie es i n diesem Buch mittels einer sorgfältigen Dekonstruktion der Verfassungsrechtsprechung geschehen ist. Die strukturierende Verfassungslehre hat an diesem Beispiel einige Typen formaler Einheitskonzepte (Lückenlosigkeit - Widerspruchsfreiheit - Texteinheit - Einheit der Rangstufe von Rechtsquellen - Einheit der Verfassungsstruktur) u n d mehrere inhaltliche Einheitstheorien herausgearbeitet, nämlich ideologische, verfassungsgeschichtliche, legitimierende, funktionale u n d methodologische Arten des Rückgriffs auf eine Einheit der Verfassung. Historisch ist dieses Argument wesentlich jünger als jenes der E i n heit der Rechtsordnung. Die Rede von der Einheit der Verfassung entstammt der Weimarer Zeit. Für Rudolf Smend ist eine Verfassung die Normierung einzelner Seiten des Vorgangs, i n dem der Staat seinen Lebensvorgang ständig herstellt; sie soll sich daher nicht auf Einzelheiten richten, sondern „auf die Totalität des Staates u n d die Totalität seines Integrationsprozesses". Das ist ein Denken nicht n u r auf das Ganze hin, sondern auch vom Ganzen u n d seiner Einheit her. Hans Kelsen hat das Bedenkliche dieses Holismus festgehalten. Für i h n ist die Einheit des Staats nur normativ zu begründen, ist die Rechtsordnung nur als logische eine Einheit: m i t der Eigenschaft, i n Rechtssätzen beschrieben werden zu können, die einander nicht widersprechen. Die formale (und - selbst nach Kelsens spätem Eingeständnis - fiktive Größe „ G r u n d n o r m " soll die Einheit i n der Vielheit der Normen konstituieren können. Demgegenüber wies Carl Schmitt zutreffend auf das Unzulängliche einer Auffassung hin, die sich auf den positivistisch isolierten Imperativ beschränkten w i l l . Der entscheidende Schritt blieb jedoch noch zu tun, nämlich hinzuzufügen: die sich vor allem auf die sprachliche Gestalt der Norm, den Normtext beschränkt. Die solcherart noch halbierte Einsicht konnte nicht weiterhelfen; der dezisionistisch existierende Wille, der nur sich selber w i l l , überrollt jede sachgebundene Normativität: „das Ganze der politischen E i n h e i t " (Schmitt) bietet ein extremes Beispiel für unstrukturierten Holismus. Totalität als Quelle von Argumenten neigt zur Macht u n d ihrer (durch demokratische u n d rechtsstaatliche Verfahren, durch eine pluralistisch freie Zivilgesellschaft) ungestörten Handhabung. Dagegen stehen i m Rechtsstaat die Gebote der Rechts- u n d Verfassungsbindung, der Tatbestandsbestimmtheit, Methodenklarheit u n d der argumentativ ratio-

5 Einheit der Rechtsordnung

nalen, der rechtlich vertretbaren Begründung. E i n Schlussfolgern vom Ganzen u n d seiner Einheit her genügt nicht den Anforderungen an demokratisch gebundene, rechtsstaatlich geformte Methoden. I n der Gerichtspraxis der Obersten Gerichtshöfe des Bundes versucht vor allem das Bundesverfassungsgericht seit dem SüdweststaatsU r t e i l (BVerfGE 1, 14 ff.), die Sicht des Grundgesetzes als einer Einheit durchzusetzen - nach Äußerungen von Verfassungsrichtern der ersten Stunde ohne Zweifel i m Anschluss an Smend. Der Bundesgerichtshof folgt dieser Redeweise gelegentlich m i t Formeln wie „unteilbare E i n heit" oder „Ganzes der Werteordnung". Diese Rechtsprechung hat ein Chaos von Gebrauchsweisen des Arguments erzeugt. So behauptet der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts beim Versuch, seine E i n heitsthese zu begründen, es gebe i m positiven Verfassungsrecht generelle Rangunterschiede; dagegen folgt für den Ersten Senat seit dem Gleichberechtigungs-Urteil (BVerfGE 3, 225 ff.) gerade aus der Annahme einer Einheit der Verfassung, dass die Normen des Grundgesetzes prinzipiell denselben Rang haben müssen. Die nicht verfassungstreue, sondern grundsatzkonforme Verfassungsinterpretation des Zweiten Senats ist rechtsstaatlich nicht vertretbar. A u f der Grundlage der Strukturierenden Rechtslehre wurden i n der hier vorgelegten Studie die vertikal holistischen Konzepte von „ E i n heit" einer folgerichtigen K r i t i k zugänglich gemacht. Die Untersuchung führte unter formalen, inhaltlichen u n d methodologischen Gesichtspunkten zu klaren Ergebnissen: Das Grundgesetz ist weder notwendig lückenlos noch von Haus aus frei von Widersprüchen. Es ordnet aber Textvollständigkeit u n d Textstrenge an - u n d damit etwas, das sich i n sinnvoller Weise als formale Einheit der Verfassungsurkunde bezeichnen lässt. Ferner weist es keine verschiedenen Rangstufen auf, noch sondert es einzelne Normengruppen m i t der Folge verschiedener rechtlicher Geltungsqualität von den anderen ab. Das Grundgesetz kennt also, so gesehen, eine Einheit der Rangstufe von Rechtsquellen und, abgesehen von den Notstandsvorschriften, eine Einheit seiner normativen Struktur. Für a l l diese Fälle könnte der Ausdruck „Einheit der Verfassung" zwar gebraucht werden, ist jedoch überflüssig. Das dabei Gemeinte ergibt sich bereits aus allgemeinen Eigenschaften der geschriebenen Konstitution bzw. aus einzelnen grundgesetzlichen Normen. M i t anderen Worten werden alle Fragen nach einer Einheit der Verfassung - jedenfalls für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland - schon durch die Eigenschaften seiner Positivität beantwortet. Die Positivität der Verfassung bewältigt sowohl die Fälle, i n denen die Rede von der Einheit der Verfassung am Grundgesetz scheitert (Lückenlosigkeit,

260

5 Einheit der Rechtsordnung

Freiheit von Widersprüchen, ideologische Einheit), als auch jene, i n denen die Einheitsthese bereits durch positives Recht begründet ist (legitimierende Einheit, funktionale Einheit, Einheit als M i t t e l systematischer u n d harmonisierender Verfassungsinterpretation). Dasselbe gilt für die noch einmal abschließend genannten Typen (urkundliche E i n heit, Einheit der Rangstufe von Rechtsquellen sowie der normativen Verfassungsstruktur) . Der Ausdruck „Einheit der Verfassung" k a n n folglich ohne E i n bußen für Praxis u n d Wissenschaft auch dort aufgegeben werden, wo er i n vertretbarer Weise verwendbar ist. Er darf vor allem nicht länger dazu dienen, auf der L i n i e der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Grenze zwischen normorientierten u n d normgelöst rechtspolitischen Argumenten zu verwischen. Auch der seit Smend beliebt gewordene Rettungsversuch, Einheit als zwar nicht gegeben, w o h l aber als „aufgegeben" zu behandeln (eine hübsche Mehrdeutigkeit - bei Smend offenkundig als „pflichtgemäß anzustreben" gemeint), führt nicht weiter. Das macht die höchstrichterliche Praxis ungewollt deutlich. Ist E i n heit als D a t u m weder vorhanden noch vor allem einsichtig zu machen, so i n der Folge dann auch nicht mehr als praktisch anzustrebendes Ziel. Sonst w i r d nur die eine Illusion durch eine andere ersetzt, die positivistische durch eine antipositivistische. Was dagegen weiterführt, ist eine nachpositivistische Strukturierung des Problemfelds. Die schillernden Argumente von „ E i n h e i t " , sei es der Rechtsordnung i m Ganzen, sei es der Verfassung, haben i n die Irre geführt. Sie sind Beispiele für einen irrationalen vertikalen Holismus der Rechtsarbeit, der ohne Schaden für deren Sache aufgegeben werden k a n n u n d der i m Interesse rechtsstaatlichen Handelns der Juristen aufgegeben werden sollte.

Literatur

Baldus , Die Einheit der Rechtsordnung. Bedeutung einer j u r i s t i schen Formel i n Rechtstheorie, Z i v i l - u n d Staatsrechtswissenschaft des 19. u n d 20. Jahrhunderts, Berlin 1995; Bergbohm , Jurisprudenz u n d Rechtsphilosophie, 1892, 1. Bd.; W. Burckhardt , Die Lücken des Gesetzes u n d die Gesetzesauslegung, 1925; Engisch , Die Einheit der Rechtsordnung, 1935; ders., Der rechtsfreie Raum, ZStW 108 (1952), 385 ff.; v. Gerber, Grundzüge des Deutschen Staatsrechts, 3. Aufl. 1880; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1960; E. Jung, Von der „ l o gischen Geschlossenheit" des Rechts, 1900; Arthur Kaufmann, Gedanken zu einer ontologischen Grundlegung der juristischen Hermeneutik, in: N. H o r n (Hrsg.), Europäisches Rechtsdenken i n Geschichte u n d Ge-

5 Einheit der Rechtsordnung

genwart, PS für H. Coing, 1982, 1. Bd., 537 ff.; Kelsen , Heine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960; Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl. 1911, 1. Bd.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983 (Larenz/Canaris, 3. Aufl. 1995); Luhmann, Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14 (1983), 129 ff.; F. Müller ; Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976 (Müller/Christensen, 9. Aufl. 2004); ders Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994; C. Schmitt , Verfassungslehre, 4. Aufl. 1965; Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, 1928.

Personenregister Abendroth, Wolfgang 106, 153 Achterberg, Norbert 193, 219 Albrecht, Eduard 85 Anschütz, Gerhard 118 Apelt, W i l l i b a l t 128 A r n d t , Adolf 132 A r n d t , Hans-Wolfgang 186, 219

Engisch, K a r l 87, 93, 96, 97, 98, 104, 109, 128, 135, 155, 169, 173, 186, 218 Erbel, Guenter 189 Ermacora, Felix 117 Esser, Josef 90, 97, 98, 186, 190, 191, 218

Bachof, Otto 20, 128, 129 Badura, Peter 9, 10, 34, 85, 105, 126, 129, 132, 153, 154, 169, 174, 182, 186, 191,194 Bäumlin, Richard 76, 86, 142, 168, 180, 196,218,219 Berg, Wilfried 207 Bergbohm, K a r l 96, 116, 256 Bernhardt, Rudolf 132 Bethge, Herbert 105, 142, 196, 197 Blaesing, Heiner 198, 205 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 141, 151, 181 Bornhak, Conrad 96 Büllesbach, Alfred 97 Bullinger, M a r t i n 173 Burckhardt, Walter 96, 103, 186 Burke, E d m u n d 87

Fiedler, Wilfried 107 Fohmann, Lothar 212, 225 Forsthoff, Ernst 141, 147, 166, 168, 190,218 Freud, Sigmund 232 Friedrich, Carl Joachim 157, 165 Friesenhahn, Ernst 171, 192, 195, 205

Canaris, Claus-Wilhelm 96, 97 Christensen, Ralph I ff. Ciaessens, Dieter 106, 150 Coing, Helmut 88, 104, 184, 218 Contiades, Ion 168 Dahrendorf, Ralf 151 Damm, Reinhard 93, 98 Denninger, Erhard 58, 100, 141, 148, 151, 153, 158, 170, 192 Drath, M a r t i n 86, 100, 105, 150, 156, 166 Dreier, Ralf 9,10 Dürig, Günter 141, 167 Ehmke, Horst 10, 49, 57, 94, 102, 103, 105, 116, 118, 124, 130, 132, 138, 141, 142, 168, 169, 180, 184, 190, 192,207,218,219 Ehrlich, Eugen 96, 109 Emge, Carl August 145 Engelhardt, Dieter 132

Gadamer, Hans-Georg 184 Geffken, Rolf 106 Geiger, Theodor 146 Gerber, Carl Friedrich von 94, 256 Gierke, Otto von 86 Giese, Friedrich 128 Göldner, Detlef Christoph 100, 105, 144, 167, 168, 181, 191, 196 Goerlich, Helmut 86, 102, 141, 182, 219 Grabitz, Eberhard 199, 211, 218, 219 Grimm, Dieter 174, 192 Grosskreutz, Peter 10, 100, 104, 119, 128, 129, 135, 169,218 Grundmann, Siegfried 133,142 Habermas, Jürgen 151, 154 Häberle, Peter 10, 28, 102, 103, 170, 180, 182, 196, 197 Haidane, J. S. 154 Heckel, M a r t i n 218 Hegel, Georg W i l h e l m Friedrich 166 Heller, Hermann 86, 100, 103, 156, 163, 167, 168, 174, 175,

186,218

147,

154, 117, 185,

Hennis, Wilhelm 100 Hensel, Albert 103, 109, 143 Hesse, Konrad 9, 37, 44, 49, 58, 59, 76, 85, 86, 90, 100, 102, 107, 115, 118, 119, 120, 124, 132, 138, 141, 142, 151, 152, 153, 167, 168, 169, 171, 174, 178, 180, 182, 189, 196, 198, 200,203,209,218,219

264

Personenregister

H i l f , Meinhard 34 Hippel, Eike von 197 Hoff mann, Gerhard 85 Hollerbach, Alexander 133, 138, 141, 145 Huber, Ernst Rudolf 164,166, 169 Huber, Hans 100, 106,141, 144,192 Husserl, E d m u n d 87 Ipsen, Hans Peter 34, 85, 132 Ipsen, Jörn 83 Jacobi, E r w i n 119 Jaeggi, Urs 106, 150 Jaspers, K a r l 161, 166 Jellinek, Georg 85, 96, 106, 114, 119, 163, 167,256 Jerusalem, Franz W. 186, 191 Jesch, Dietrich 97, 143, 189 Jhering, Rudolf von 97, 256 Jung, E r i c h 96, 98, 109, 256 Kaegi, Werner 132, 157 Kaiser, Joseph H. 85, 141 Kant, Immanuel 99 Kaufmann, A r t h u r 257 Kaufmann, E r i c h 103,147 Keller, Adolf 219 Kelsen, Hans X I I ff., 10, 94, 96, 102, 116, 147, 163, 167, 181, 186,258 Kirchhof, Paul 191, 193 Klein, Eckart 34 Klönne, Arno 106,150 Knies, Wolfgang 124, 141, 142, 218 Krawietz, Werner 117 Krebs, Walter 9, 10,218 Kriele, M a r t i n 182 Krüger, Herbert 86, 103, 105, 123, 128, 165, 174, 193 K ü h n l , Reinhard 165 Kuhlen, Lothar 166 Laband, Paul 95,116 Larenz, K a r l 60, 87, 94, 97, 104, 124, 135, 166, 186, 191,203,212 Lautmann, Rüdiger 106 Leenen, Detlef 166 Leibholz, Gerhard 100, 169, 213 Lepa, Manfred 198 Lerche, Peter 143, 147, 189, 199, 206, 215,218 Lipphardt, Hanns-Rudolf 100 Loos, Fritz 164 Luhmann, Niklas 101, 106, 142, 151, 152, 157, 175, 185, 192 Maihof er, Werner 145 Mannheim, K a r l 155 Martens, Wolf gang 170

Maunz, Theodor 114, 128 M i l i b a n d , Ralph 106, 151 Mols, Manfred 179, 181 Müller, Joerg Paul 141 Nawiasky, Hans 47, 186, 218 Nietzsche, Friedrich 90 Obermayer, Klaus 218 Oertzen, Peter von 85 Offe, Claus 106,151 Olshausen, Henning von 186, 219 Ossenbühl, Fritz 104, 105, 133, 142, 186, 196,218,219 Papier, Hans-Jürgen 169 Parsons, Talcott 164 Perelman, Chaim 97 Pestalozza, Christian Graf von 9, 10, 19, 20, 34, 75, 116, 132, 141, 142, 196, 199, 204,218 Peters, Dorothee 106 Peters, Hans 100, 105,168 Pieroth, Bodo 107, 120 Popper, K a r l R. 91, 155, 234 Preuß, Hugo 86 Ridder, Helmut 10,106, 129 Roellecke, Gerd 10,101 Rottleuthner, Hubert 106 Rousseau, Jean-Jacques 148 Rüfner, Wolfgang 75, 105, 129, 204, 205,206, 209,211,215 Rupp, Hans Heinrich 34 Saladin, Peter 169 Sartre, Jean-Paul 154 Savigny, Friedrich Carl von 95, 117, 156 Schelting, Alexander von 164 Scheuner, U l r i c h 34, 105, 117, 128, 132, 133, 138, 141, 142, 156, 168, 169, 170, 180, 190, 203, 218, 224 Schindler, D i e t r i c h 175 Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel 184 f., 230 Schlink, Bernhard 28, 199, 209, 211, 214 215 Schmitt, Carl I V ff., 9, 119, 129, 131 f , 147 ff., 157, 159, 162, 163, 167, 180, 258 Schneider, Hans-Peter 100, 105, 152 Schneider, Peter 198 Schwacke, Peter 105, 134, 196, 197, 200,205,207,224 Smend, Rudolf V I I I ff., 10, 88, 102, 131 f., 138, 143, 147, 163, 167, 179 ff., 189 f., 192, 196, 199, 221, 231,232,258,260

Personenregister Spann, Othmar 126 Stammler, Rudolf 88 Stein, E r w i n 142 Stein, Lorenz von 166 Stern, Klaus 100, 105, 114, 118, 119, 129, 132,180, 182,218,219 Suhr, Dieter 97, 185, 214, 225 Thieme, Hans 93 Tomuschat, Christian 9, 90,121 Tschoepe, A r m i n 106, 150

Wank, Rolf 83 Waterkamp, Rainer 150 Weber, M a x 92, 95,164 f. Weber, Werner 148 Wengler, Wilhelm 87 Wieacker, Franz 93,117 Wilhelm, Walter 94 Wintrich, Josef M. 126, 128 Wolff, Hans J. 193 Zippelius, Reinhold 154 Zitelmann, Ernst 109

Sachregister A b h ö r - U r t e i l s. BVerfGE 30, S. 1 Absurditäts-Argument 32 f., 213 Abtreibungs-Urteil s. BVerfGE 39, S. 1 Abwägung -Kritik X I X ff., X X X I I , 197 ff., 204 f., 209, 213 - i n der Rechtsprechung 64, 75, 78, 79, 133, 161, 199, 200 f , 202, 203 - i m Schrifttum 197, 199 f., 203 Allgemeine Staatslehre 86,163 Analogie verböte 123 Anstaltsstaat 92, 109,165 Anthropomorphismus 126, 192 Antinomien, normative 104 ff., 112, 133 f f , 169 f , 196,218 - s. a. K o n f l i k t , normativer Apotheken-Urteil s. BVerfGE 7, S. 377 Auslegung s. grundsatzkonforme Verfassungsauslegung; Konkretisierungselemente; systematische Interpretation; verfassungskonforme I n terpretation Ausnahmeregelung s. Spezialnorm Autoritäts-Argument 126, 213, 221, 228 A x i o m a t i k 97,156, 185 f. Begriffsjurisprudenz 93 f f , 186 f , 228 Begründungspflichten 123, 165, 233 - s. a. Entscheidungsbegründung Bestimmtheitsgebote 122 ff. - s. a. Tatbestandsbestimmtheit Bindung s. N o r m b i n d u n g Blankettbegriff 136, 143, 157, 170, 193 - s. a. Generalklausel, Staatsformu n d Staatszielbestimmung Bürgerkrieg 153, 172, 222 Bürgertum 92, 117, 132, 151 f , 232 Bundesstaatsprinzip - u n d Einzelnormen 36, 193 f. - u n d systematische Interpretation 67 f , 77, 191 ff. - als Verfassungsgrundsatz 16 f , 20, 60, 61 f., 136, 157, 159, 191 ff. Bundestreue 62 f. Bundeswehr 64, 72 ff.

christliche Gemeinschaftsschule, Beschlüsse zur ~ s. BVerfGE 41, S. 29 u n d 65 Contergan-Urteil s. BVerfGE 42, S. 263 Daseins Vorsorge 166 Dekonstruktion der Verfassungsjudik a t u r l , X V I I I , 258 D emokratieprinzip - u n d Einzelnormen 36, 156, 163 f , 193 f. - u n d Legitimität der Rechtsordnung 165,172,182, 199 - u n d Parteienstaatlichkeit 169 - als Verfassungsgrundsatz 16 f f , 60, 132, 136, 156, 191 ff. - s. a. Grundordnung, freiheitliche demokratische; streitbare Demokratie; Verfassungsstaat, moderner europäischer Dezision 158, 160, 171, 175, 193 Dezisionismus I V f f , 131 f , 133, 147 f f , 153, 162, 163,258 D i a l e k t i k 154 Diskriminierungsverbote 32 f , 160, 172 f. - s. a. Gleichheitssatz Drittwirkungslehre X V I ff. Dunkelfeld 106 Eideszwang-Beschluß s. BVerfGE 33, S. 23 Einheit der Verfassung - Dogmatik 20 f , 56, 83 f , 258 ff. - formale 14, 41, 90 f , 114 f f , 121 f f , 125 f f , 136 f f , 155, 221 f , 228 f , 231 - funktionale 24, 86, 91, 157, 173 f f , 179 f f , 221, 223 f , 230 f f , 234 - Funktionen des Arguments 12, 19 f , 26, 31, 35 f , 42, 53 f f , 56 f , 60 f , 62 f , 68, 75, 83 f , 147 f , 156, 160, 215 f , 217 f , 220 f f , 226 ff. - als geisteswissenschaftliches A p r i o r i 184 f , 221,230 - als Geschlossenheit 91, 92 f f , 103 f f , 107 f f , 121,228 - u n d gesellschaftliche W i r k l i c h k e i t 150 ff.

Sachregister - i d e o l o g i s c h e 91, 145 ff., 153 ff., 162 f., 221, 229, 231, 236 - als integrierender Vorgang 102 f., 131 f., 179 ff. - als Konkretisierungsinstrument 91, 185 ff., 216 ff., 221, 230 f. -legitimierende 91, 167 ff., 221, 229 f , 231 - u n d Lückendiskussion 98 ff., 110 ff., 155 - Methodik 20 f., 83 f , 155 -und Normengruppen 64 f., 89, 137 f f , 177 f f , 187, 193,229 - i m Normtext 105 - u n d Rangabstufung s. Rangverhältnis - u n d Rechtsarbeit 220 ff. - i n der Rechtsprechung 9, 10 f , 12 f f , 80 f f , 86 f , 104, 115 f f , 125 f f , 133 f f , 139 f f , 158 f f , 176 f , 188 f , 199 f f , 226 f. - i m Schrifttum 9 f , 86, 102 f f , 146 f f , 179 f f , 217 f f , 228 ff. - u n d Staatsauffassungen 85 ff. - a l s Struktureinheit 136 f f , 144 f , 155, 215, 221 f , 229, 231 - u n d Systemkonsequenz 89 - als Texteinheit s. urkundliche Theorie 20 f , 56, 83 f. - u r k u n d l i c h e 14; 91, 101, 114 f f , 121 f f , 215, 221 f , 229, 231 - als Z i e l s. funktionale - s. a. systematische Interpretation, Verfassung, Verfassungsrecht Einheit der Verwaltung 65, 160 Einheitlichkeit der Rechtsprechung 105,113 Elfes-Urteil s. BVerfGE 6, S. 32 Entnazifizierungsrecht, Beschluß zum - s. BVerfGE 1, S. 5 Entscheidungsbegründung - F u n k t i o n 12, 42, 80, 226, 227 - u n d Gesetzespositivismus 96 f. - u n d rechtsstaatliche Methodik 123, 235, 163, 213, 223 f , 227 f , 232 f , 235 - s. a. Begründungspflichten Entscheidungselemente s. Konkretisierungselemente Entscheidungsnorm - Begriff 44 - als Bestandteil des Rechts 99, 101, 105, 108, 112 f , 121, 166, 185, 186, 220 - Legitimität 160, 223 f. - u n d Normenkonflikt 201 f f , 212 f f , 224, 230 f. - u n d Normklarheit 233 - u n d Normtext 124 f , 187 f.

267

- u n d Rechtsnorm 44, 46, 137, 149, 173, 187 f , 212, 213, 224, 232 f , 257 f. - s. a. Entscheidungsbegründung Entstehungsgeschichte s. K o n k r e t i sierungselemente, genetische; Parlamentarischer Rat Ersatzdienstverweigerung, Beschluß zur ~ s. BVerfGE 19, S. 135 europäische Integration 34 f , 85, 100 f. europäisches Gemeinschaftsrecht, Beschluß zum ~ s. BVerfGE 37, S. 271 Familienlastenausgleichs-Beschluß s. BVerfGE 44, S. 249 Faschismus 147,148 Förderstufen-Urteil s. BVerfGE 34, S. 165 Folgenbewertung - als Konkretisierungselement 74, 78, 79,200,212,214 - u n d Schutzrichtungen von Grundrechten 210 - u n d Übermaßverbot 211 - s. a. Rechtspolitik; Verfassungspolitik Formelkompromiß 100, 132 Form Vorschriften 123 Freiheit 150 ff. - s. a. Grundrechte; Machtbegrenzung Freirechtsschule 96 Fundamentalnorm s. Staatsform- u n d Staatszielbestimmung Funktion, pragmatischer Begriff 12, 226 Funktionsabgrenzung, verfassungsrechtliche - als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips 123, 233, 235 - u n d Offenheit der Verfassung 153, 156 - u n d Richterrecht 83 - u n d Teilhaberechte 171 - s. a. Gewaltenteilung G 13ler-Entscheidungen s. BVerfGE 1,S. 167 u n d 15, S. 167 Ganzheit - Begriff 90 f , 153 f. - s . a . Einheit der Verfassung; Rechtsordnung als Ganzes; Totalität; Verfassung als Ganzes Geeignetheit s. Übermaß verbot Geisteswissenschaften 184 f. Gemeinschafts vorbehält 29, 59, 161, 202

268

Sachregister

Genauigkeit, rechtsstaatliche 235 - s. a. Methodenehrlichkeit Generalklausel - u n d Einschränkung von Grundrechten 202 - u n d Entscheidungsnorm 194 - Normbereich 14 f , 157 - u n d Normengruppen 143 f. - u n d Rechtsprechung 53 - s. a. Blankettbegriff Gerechtigkeit 44 f f , 51 f f , 111 Gesamtbild, vorverfassungsmäßiges 44 f f , 90, 104, 154, 176, 189, 219 Gesellschaft s. Wirklichkeit, gesellschaftliche; Staat u n d Gesellschaft Gesetz - Begriff i m Sinn des Art. 100 Abs. 1 GG 34 f , 50 ff. - s. a. Rangverhältnis Gesetzespositivismus s. Positivismus, rechtswissenschaftlicher Gesetzesvorbehalt 29, 51, 57 f f , 118, 132,204 ff. Gesetzgebungsnotstand 118,137 Gewalt - aktuelle 110, 183, 225 f , 232 - k o n s t i t u t i o n e l l e 110, 183 f , 225 f , 228,232 - u n d Verfassunggebung 153 - s. a. Machtbegrenzung Gewaltenteilung 43, 50 f f , 162, 166 f. - diskursive I I f f , X X X I I I ff. - s. a. Funktionsabgrenzung, verfassungsrechtliche Gewohnheitsrecht 43 f , 83, 90, 101, 121, 193 f. Gleichberechtigungs-Urteil s. BVerfGE 3, S. 225 Gleichheitssatz - als Generalklausel 14, 89 - u n d Legitimität der Rechtsordnung 172 - u n d Leistungsrechte 170 f. - u n d Normbereichsanalyse 201 - u n d politische Identität 148 - u n d Systemkonsequenz 89 - als Verfassungsgrundsatz 14, 16 f f , 60,63, 125, 128, 134, 136 - s. a. Diskriminierungsverbote, Methodengleichheit Grundentscheidungen s. Verfassungsgrundsätze Grundgesetz s. Verfassung Grundnorm X I I f f , 96, 146, 258 Grundordnung, freiheitliche demokratische 32 f , 159, 161, 192 Grundrechte - Begrenzung 29, 37, 51, 59, 61, 69 f , 72, 118, 133 f , 161, 195 f f , 202 f f , 226

- D r i t t w i r k u n g 27,170 f. - Effektivität 207 - F u n k t i o n 27, 59, 102 f , 141 f , 153, 156, 166, 167,210 - u n d Grundrechtsausübung 213 f. - u n d Integrationslehre 102, 143 - K o n f l i k t 70 f f , 78 f f , 105, 129, 133 f f , 195 f f , 201 ff. - Konkurrenz 206 f. - als Leistungsrechte 170 f. - als negative Kompetenzbestimmungen 142 f , 145 - Normbereich 103, 121, 129, 142, 199 f , 202 f f , 209 ff. - Positivität 208 ff. - Rangunterschiede 129 f , 132 f. - Schutzrichtungen 210 f , 214 - u n d Sekundäres Gemeinschaftsrecht 33 ff. - Spezialität s. Spezialnorm - u n d Systemdenken 117,187 - Tatbestandsabgrenzung 37, 80, 200 f , 203 - als Verfassungsgrundsätze 59 f , 63, 125 f , 159, 191 f. - vorbehaltlos gewährleistete 58 f f , 69 f , 711,203,204, 206 f. - Wertordnung 27, 30, 36, 37 f , 59 f f , 102, 103 f f , 141 f f , 181 f. - Wesensgehalt 129, 209 ff. - Wirkungsgrenzen 170 f. Grundsätze s. Verfassungsgrundsätze grundsatzkonforme Verfassungsauslegung 12 f f , 36 f f , 84, 226 - s. a. Rangverhältnis Güterabwägung s. Abwägung Hermeneutik 184 f , 230 Herrschaft 150 f f , 165, 183 f. - s. a. Gewalt hessisches Universitätsgesetz, Beschluß zum ~ s. BVerfGE 47, S. 327 Historische Schule 93 Historismus 93 Holismus - i m Denken 90 f , 145 f , 153 f f , 234 - horizontaler I f , X X V I I f f , X X X f f , X X X I I ff. - i n der Rechtsprechung 37, 233 f. - i n der Verfassungslehre 148 f , 167, 189 f., 229, 233 f. - vertikaler I f , X V I f f , X I X f f , 255, 258,260 - s. a. Rechtsordnung als Ganzes, Totalität, Verfassung als Ganzes Idealtypus 164 f f , 169 f. Ideologie 145 f , 153 Illusion 232, 236

Sachregister Implikationen - gesellschaftliche 171, 175 - normative 106 f. i n dubio pro libertate 207, 219 innerer Friede 182 f f , 222 - s. a. Rechtssicherheit Integrationslehre 88, 102 f , 131 f , 133, 137, 143, 147, 163, 179 ff. Interdependenz 14, 68 Interessenjurisprudenz 88, 96,112 Interpretation s. grundsatzkonforme Verfassungsauslegung; Konkretisierungselemente; systematische Interpretation; verfassungskonforme I n terpretation Interpretations verbot 113 Intervention, staatliche 150 f , 166, 168 Investitionshilfe-Urteil s. BVerfGE 4, S. 7 juristische Sprache s.Rechtssprache Justitiabilität 122 f. Justizverweigerungsverbot s. Rechtsverweigerungsverbot Kapitalismus 162, 165 Kirchenaustritts-Beschlüsse s. BVerfGE 44, S. 37 u n d 59 Kirchenbausteuer-Urteil s. BVerfGE 19,S. 206 Klassen, soziale 45,106, 150 f , 172 - s. a. Ungleichheit, soziale Kodifikationsgedanke 92 f , 96, 100, 107,111,113,117,166,228 Kollision 195 f , 214 - s. a. K o n f l i k t K o m m u n i k a t i o n 183 f , 225 f , 228, 232 Kompetenznormen - u n d F u n k t i o n der Verfassung 153, 156, 166, 174,233 - Grundrechte als negative 142 f , 145 - Normbereich 19, 66 - als Normtyp 144 - u n d Sozialstaat 194 - systematische Interpretation 66, 73, 142 - s. a. Organisationsnormen, Verfahrensrecht Konflikt - methodologischer 194, 196, 201,

208,220,222

- n o r m a t i v e r 70 f f , 132 f f , 144 f , 195 f f , 201 f f , 214 f , 216 f f , 222, 230 f. - sozialer 106, 113, 115, 151, 153, 171, 174 f , 222,236 - Verfahren zur Lösung 197 f f , 201 f f , 223 f , 230 f. - s. a. Antinomien, normative

269

Konkordanz 76, 196, 198 f f , 203, 213 f. 219 f Konkordat s - U r t e i l s. BVerfGE 6, S. 309 Konkretisierungselemente - dogmatische 41, 66, 67 f , 78, 82, 144, 190 f , 194,208,212,219 - genetische 22, 25 f f , 48 f , 56 f , 71 - grammatische 25 f f , 28, 42, 67 f , 71, 114, 124 f , 144, 207 f. - historische 28, 42, 48 f , 56 f. - lösungstechnische 208 - rechtspolitische s. Rechtspolitik systematisches; systematische Interpretation - verfassungspolitische s. Verfassungspolitik - verfassungstheoretische 41 f , 48 f , 65, 67 f , 144, 164, 167, 172, 194, 208 - s. a. Normbereich; Rechtsvergleichung Konsens 151, 165 Konstitutionalismus 166 K P D - U r t e i l s. BVerfGE 5, S. 85 Kriegsdienstverweigerer-Beschluß I s. BVerfGE 12, S. 45 Kriegsdienstverweigerer-Beschluß I I s. BVerfGE 28, S. 243 Kulturhoheit 62 Landesverfassungsrecht 40 f f , 67 f , 90 Lebach-Urteil s. BVerfGE 35, S. 202 Leitideen s. Verfassungsgrundsätze lex posterior-Regel 135 f , 145 lex specialis s. Spezialnorm Liberalismus 94 f , 165 - s. a. Verfassungsstaat, moderner europäischer Lückenfüllung 44 f , 50, 53, 60, 111 L ü t h - U r t e i l s. BVerfGE 7, S. 198 Machtbegrenzung 115, 156 f , 165, 174,183 Massenloyalität 176, 182 Menschenwürde - u n d Abwägung 78,79 - u n d Menschenbild des Grundgesetzes 58, 59, 170 . - als Verfassungsgrundsatz 17, 59, 69, 129, 133, 135, 198,205 - u n d Wehrpflicht 57, 71, 130 Mephisto-Beschluß s. BVerfGE 30, S. 173 Methodendualismus 163 Methodenehrlichkeit 111, 123 f , 156 f , 172, 193, 213, 223 f , 233 f. - s. a. Genauigkeit, rechtsstaatliche Methodengleichheit, Grundrecht auf ~ 172 f , 233

270

Sachregister

Methodenklarheit 90, 94, 123 f., 193, 197,213,233 Methodik, rechtsstaatliche 87 f f , 123 f f , 149 f , 157, 161, 172 f , 183 f , 215 f , 223 f , 225 f , 232 ff. Minderheitenschutz 153, 167 Mindeststandard, sozialer 168 Minimaleingriff s. Übermaß verbot N a t u r der Sache 33, 89 Naturrecht 15 f f , 81 f , 92 f f , 108, 126 f , 208 f , 226 - s. a. überpositives Recht nordrhein-westfälisches Beanstandungsgesetz in Haftentschädigungssachen, U r t e i l zum ~ s. BVerfGE 2, S. 380 Normalverfassung 138,177 f f , 229 Normativität - Begriff 88 f , 112, 121 - u n d Dezisionismus 149, 162 - u n d Integrationslehre 162,180 f. - u n d K r i t i k der Rechtssprache 228 - der Rechtsverfassung 11, 86 - der Verfassungsgrundsätze 157 - u n d Verfassungswandel 120 - u n d Wille zur Verfassung 182 - s. a. Rechtsnormtheorie, strukturierende Normbereich - Begriff 88 f , 122 - u n d Geschlossenheit der Rechtsordnung 99, 101, 166 - als Konkretisierungselement 28, 39, 41, 57, 59, 66, 78, 79, 161, 185, 188, 190, 199 f f , 203, 209 f , 212,220 - u n d Normenkonflikt 72 f f , 133 f , 196 f , 202 f f , 212 ff. - u n d Normtext 121 - u n d soziale Ungleichheit 106, 150 f. - u n d Verfassungswandel 107, 120 Normbereichsanalyse 199 f f , 203, 209 - s. a. Normbereich als Konkretisierungselement Normbindung - u n d Mengen von Rechtsnormen 137, 208 - u n d Methodengleichheit 173 - u n d normative Implikationen 106 f. u n d N o r m s t r u k t u r 114, 124 - u n d Rangabstufung 77 - der Rechtsprechung 43 f f , 50 - und Rechtsverweigerungsverbot 109 u n d Systemdualismus 172 - und Verfassungsdurchbrechung 119 f. - u n d Verfassungsgewohnheitsrecht 121 - s. a. Rechtsstaatsprinzip

Normdurchbrechung 212 - s. a. Verfassungsdurchbrechung Normenhierarchie s. Rangverhältnis Normenkonflikt s. K o n f l i k t Normenkonformität, vertikale 82 - s. a. verfassungskonforme Interpretation Normklarheit 90, 94, 115, 118, 120, 122 f f , 157, 172, 193,202,233 Normprogramm - Grenzfunktion 120, 125, 220 - u n d Normbereich 75, 88, 112, 133, 135, 139, 209 - u n d Normenkonflikt 75, 133, 135, 139, 196 f , 202 f f , 212 ff. - u n d Normtext 114, 144 Normtext s. Wortlaut Normwandel 47 - s. a. Verfassungswandel Notstandsnormen 137 f , 153, 177 f f , 208,229 Objektivität 123 - s. a. Methodik, rechtsstaatliche Obrigkeitsstaat 92, 142, 151 f. öffentliches Recht u n d Privatrecht 173 Opposition 153, 167 Organisationsnormen - u n d F u n k t i o n der Verfassung 156 - als Grundlage eines Verfassungsgrundsatzes 30 f , 74 - und Grundrechtsnormen 17 f , 71 f f , 77 f , 132, 145 - s. a. Kompetenznormen, Verfahrensrecht Organismusdenken 85 f , 126, 154, 162 Pandektenwissenschaft 93,108, 228 Parlamentarischer Rat - u n d Kriegsdienstverweigerung 71 f. - u n d Staatskirchenrecht 22 f f , 100, 138 - u n d verfassungswidrige Verfassungsnormen 52 - s. a. Konkretisierungselemente, genetische; Verfassunggebung Parlamentarismus 94, 112, 131, 159, 169 f. Parteienstaatlichkeit 100, 104, 162, 169 f , 191 f. Plenarentscheidung 56, 81, 113 f. Pluralismus 147 f , 150 f f , 168 Politische Romantik 126,154 f , 162 Politisches System 106 f. - s. a. Rechtsordnung; Verfassung Polizeipflicht von Hoheitsträgern 64 f.

Sachregister Positivismus - Gegenbewegung zum ~ 51, 55 f , 131 f., 149, 162,228 - u n d Geschlossenheit der Rechtsordnung 92 f f , 108, 109, 186,228 - u n d Normlogismus s. Reine Rechtslehre - rechtswissenschaftlicher ~ - u n d soziale W i r k l i c h k e i t 94, 106, 114 - Staatsauffassung 82 Positivität des Rechts - u n d Dezisionismus 149 - u n d Einheit der Verfassungsstrukt u r 136 f f , 144 f , 215, 231 - u n d formale Einheit der Verfassungsurkunde 114 f f , 121 f f , 215, 231 - u n d Gesetzespositivismus 186 u n d Güterabwägung 198 f. - u n d Konfliktlösung 201 f f , 208 f f , 215, 216 f , 223 f , 230 f. - i n der Rechtsprechung 17, 19 f , 21, 42,54 f , 64 f., 81 f. - u n d Sammelbegriffe 30 f , 216 f. - s. a. Normbindung; Rangverhältnis; Rechtsnormtheorie, strukturierende Prätor 172 P r a k t i k a b i l i t ä t 39, 74 Praktikermethode 235 Privatrecht - u n d öffentliches Recht 173 - s. a. Zivilrecht Prozeßrecht s. Verfahrensrecht Psychologie 161, 184 Publizität 115, 124 Radikalen-Beschluß s. BVerfGE 39, S. 334 Rangdifferenz i m Verfassungsrecht 10 f , 13 f f , 55 f , 81 f , 84, 91, 125 f f , 226 f. Ranggleichheit i m Verfassungsrecht 10 f , 42 f , 48, 49 f f , 69, 80, 125 f f , 132 f f , 144 f , 186, 204 f f , 215, 221 f , 226 f , 229, 231 Rangverhältnis - von Gemeinschaftsrecht u n d Verfassungsrecht 34 f , 100 - von Gesetzesrecht u n d Recht der Exekutivstufe 134 - von Gesetzesrecht u n d Verfassungsrecht 25, 49, 57, 61, 64, 77, 89, 122, 124, 130, 134, 174, 188,204 Rationalität - des Anstaltsstaates 165 - als F u n k t i o n der Verfassung 115 - der Rechtsarbeit 11, 123, 228 - der Wissenschaft 230 - s. a. Methodik, rechtsstaatliche

271

Realdaten 88, 112,185, 212 - s. a. Normbereich Rechtsarbeit - Begriff 234 - u n d Dezision 149 f. - Ist-Zustand 235 f. - politische F u n k t i o n 94 f , 108 - Realitätsgrundlage 106 f , 156 - Soll-Zustand 235 f. Rechtsfortbildung s. Richterrecht Rechtsgeschichte 87 - s. a. Verfassungsgeschichte Rechtsgrundsätze 188, 191 - s. a. Verfassungsgrundsätze Rechtsnorm - Begriff 88 f f , 149 f , 257 f. - s. a. Entscheidungsnorm; N o r m bereich; Normprogramm Rechtsnormtheorie , strukturierende 88 f , 108, 149 f , 185 Rechtsordnung - Einheit I I f f , X X I X f f , 87 f f , 92 f f , 103 f f , 107 f f , 146 f f , 154 f f , 228, 255 ff. - Funktionen 115, 165, 182 f f , 192 - als Ganzes X X X f f , 40, 43 f f , 83 f , 96 f , 103 f f , 111, 114, 145 f f , 154 f f , 160 f , 173 - Geltungsstruktur 106 f , 108,171,175 - Geschlossenheit 92 f f , 107 f f , 186 f , 228 - Harmonie 64 f , 93, 104 f , 224 - L e g i t i m i t ä t 151, 174 f f , 183 f. - Lückenlosigkeit 92 f f , 107 ff. - als Rechtsbetrieb 92, 165 - u n d Teilgebiete 89, 175 - Textstruktur 184 - W i d e r s p r u c h s f r e i h e i t 92 f f , 103 f f , 186 f , 228 - s. a. Einheit der Verfassung; Rangverhältnis; Verfassung Rechtspolitik - u n d Abwägung 199 - als Aufgabe des Gesetzgebers 43, 46,235 - u n d Entscheidungsbegründung 123 - u n d Geschlossenheit der Rechtsordnung 99 - als Konkretisierungselement 52, 144, 2 0 8 , 2 1 9 1 , 2 2 2 , 2 3 1 - u n d Normativität 182 - durch Rechtsprechung 43, 46, 52, 54 - u n d Rechtswissenschaft 235 f. - s. a. Folgenbewertung; Verfassungspolitik Rechtsschutz 28, 109 f f , 156, 166 Rechtssicherheit - u n d Güterabwägung 199

272

Sachregister

- als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips 48, 52 f., 55, 122 f., 193 - u n d Texteinheit der Verfassung 114 f , 118, 122 f , 166 - u n d verfassungswidrige Verfassungsnorm 50, 52 f. - s. a. innerer Friede Rechtssprache, K r i t i k 42, 228 Rechtsstaatsprinzip - u n d Einzelnormen 48, 123, 136, 156, 159, 193 f , 211 - u n d Grenzfunktion des Wortlauts 114 f , 124 f. - und konsistente Entscheidung 223 f , 233, 258 f. - u n d Normbindung 43 f , 109, 113, 115, 123, 172,208 - politische F u n k t i o n 165 f , 182 ff. - u n d Rechtsarbeit 109 f , 111, 113, 172,183 f , 223 f , 233, 235 - u n d Sozialstaatsprinzip 168, 182 - als Verfassungsgrundsatz 16 f , 29, 48,60, 63,136, 156, 157, 191 ff. - s. a. Methodik, rechtsstaatliche; Rechtssicherheit; Verfassungsstaat, moderner europäischer Rechtsvergleichung 71, 87,105,189 Rechtsverweigerungsverbot 98 f , 108 f f , 228, 233 Reine Rechtslehre X I I f f , 146, 149, 163,258 Rhetorik - u n d Dezision 158 - i n der Entscheidungsbegründung 24, 26, 42, 60, 63, 80, 84, 158, 220, 227 f , 231 - u n d F u n k t i o n der Verfassung 225 f , 227 - u n d Rechtswissenschaft 235 f. u n d Sprachwissenschaft 225 - s. a. Absurditäts-Argument; A u t o ritäts-Argument; Kommunikation; suggestives Argument Richterrecht - u n d Funktionenlehre 83 f. - u n d Geschlossenheit der Rechtsordnung 107,111 - u n d methodenrelevante Normen 123 f. - Problematik 43 f f , 83, 158, 226 f. - u n d vertikale Normenkonformität 82 Rückwirkungs verböte 48,123 Sachbereich 75,107,112,114,120,144 Schichtung s. Klassen, soziale schleswig-holsteinisches Landeswahlgesetz, Beschluß zum ~ s. BVerfGE 1, S. 208

Semantik, holistische X X X I I f. Smend-Schule X V ff. Soraya-Beschluß s. BVerfGE 34, S. 269 Sozialstaatsprinzip - u n d Einzelnormen 136, 159, 193 f. u n d Leistungsrechte 170 f. - u n d Offenheit der Verfassung 100 - u n d Rechtsstaatsprinzip 168,182 - als Verfassungsgrundsatz 17, 60, 136,191 ff. Soziologie - empirische 105 f. - historische 164 - politische 141 f. - theoretische 185 f. Soziologismus 162 Spezialnorm - Art. 4 Abs. 3 GG als - 134 - Art. 7 G G als - 76 - Art. 9 Abs. 2 G G als - 160 - Art. 12 Abs. 3 GG als - 134 - Art. 18 GG a l s - 1 6 0 - Art. 21 Abs. 2 G G als - 160 - Art. 79 Abs. 2 u n d 3 G G als - 122, 130 - Art. 117 G G a l s - 5 1 , 67, 140 - Art. 118 Satz 2 G G als - 19, 20 - Art. 123 Abs. 2 G G als - 62 - Art. 131 GG a l s - 1 3 4 , 140 - Art. 132 GG a l s - 1 3 4 , 140 - Art. 137 Abs. 6 WRVals - 25, 26 - Art. 139 G G a l s - 1 3 4 , 139 - Art. 141 GG a l s - 1 3 4 - Art. 146 GG als - 130 - Grundrechte als ~ 71, 207 - u n d Lückendiskussion 98 - Normbereich 136 - u n d Rangverhältnis 134 ff. - Übergangsnorm als ~ 139 ff. - u n d Verfassungsgrundsätze 55, 133, 135 f. 143 193 Sprachdaten 88, 112,144, 185, 213 - s. a. Konkretisierungselemente SRP-Urteil s. BVerfGE 2, S. 1 Staat u n d Gesellschaft 146 f f , 150 f f , 159, 166, 181,222 Staatsform- u n d Staatszielbestimmungen - Normbereich 121 - als Normtyp 144 -als Verfassungsgrundsätze 14 f , 136, 159 f , 191 ff. - i n der Verfassungsurkunde 117 f. - s. a. Blankettbegriff; Verfassungsgrundsätze Staatskirchenrecht 22 f f , 76 f f , 100, 103,138 f , 189 Staatsraison 30 Staatsverständnis 85 f. Strafrecht 79, 87 f , 122, 123

Sachregister streitbare Demokratie 29 f f , 33, 36, 159,160, 163,192,216 Streitkräfte s. Bundeswehr Strukturierende Hechtslehre X X V f f , X X V I I f f , X X X I I f , 257 f , 259 Subsumtion 93, 95, 97 Südweststaats-Urteil s. BVerfGE 1, S. 14 suggestives Argument 45, 199 f , 213, 228,231 Symbole 183 System, soziales 101, 185 f. systematische Interpretation von Grundrechten m i t Organisationsrecht 71 f f , 142 f , 212,226 - i n der L i t e r a t u r 189 f. - u n d Lücken 98,112 - u n d Normenkonflikt 70 f f , 135 f , 206 f f , 212, 218 - m i t Notstandsnormen 178 f. - N u l l - t o l l 64 f , 137 - i n der Rechtsprechung 13 f f , 22, 25 f f , 41 f , 48 f , 49 f f , 63 f f , 70 f f , 188 f , 226 f. - u n d Strukturzusammenhänge 155 ff. - m i t Verfassungsgrundsätzen 49 f f , 191 f f , 212, 226 f , 230 Systemdualismus 172 f. Systemgedanke, rechtswissenschaftlicher 88 f f , 92 f f , 117, 156, 186, 228 Tabakfall s. BVerfGE 12, S. 1 Tatbestandsbestimmtheit 122 f , 157, 202 Toleranzgebot 58, 73, 77 Tonbandaufnahmen-Beschluß s. BVerfGE 34, S. 238 Topik 88, 89 f , 97, 124 Totalität 10, 154 f f , 162 f , 196 f , 229, 258 Totalitarismus 165 Transfusionsverweigerung, Beschluß zur - s. BVerfGE 32, S. 98 Typusdenken, rechtswissenschaftliches 165 f. Übergangsnormen 55, 66 f , 133, .. 138 f f , 144 Übermaßverbot - u n d Konfliktlösung 58, 78, 79, 82, 197,200,2111, 214, 219 - als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips 29, 209 f. - u n d Wehrpflicht 57, 74, 130 überpositives Recht 11, 15 f f , 48, 51 f f , 8 1 1 , 125 f f , 191,226 - s. a. Naturrecht Ungleichheit, soziale 45, 106, 113, 1701,236 - s. a. Klassen, soziale

273

Verfahrensrecht - u n d Einheitlichkeit der Rechtsprechung 105,113 - u n d F u n k t i o n der Verfassung 153, 165, 174,233 - u n d Grundrechtsnormen 60 - als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips 123, 165, 233 - als Normtyp 144 - und Rechtsverweigerungsverbot 109 ff. - s. a. Kompetenznormen, Organisationsnormen Verfassung - Außerkrafttreten 115, 116, 132, 144, 229 - i m formellen Sinn 114 ff. - formstrenge 90,114, 122 ff. - funktionelle Richtigkeit 198 - Funktionen 24, 101, 106, 108, 115, 142, 1431, 156, 167, 1741, 177, 182 f f , 190,218,222,225 - als Ganzes 10, 40, 60, 8 3 1 , 9 0 1 , 103 f f , 111, 114, 126, 1311, 145 f f , 154 f f , 159 f f , 189, 1941, 1961, 220 f f , 230, 233 - „Gesamtinhalt" 13 f f , 20 f f , 41 f f , 62, 66, 90 - „ I d e n t i t ä t " 33 f f , 128 - Inkrafttreten 116, 121, 132, 139, 144, 145,229 - integrierende W i r k u n g 198, 219 als K o d i f i k a t i o n 100, 166 - als Kompromiß 106,152 f , 183, 230 - Legitimität 151, 153, 167, 174 f f , 183 f , 226, 232, 236 - als „logisch-teleologisches Sinngebilde" 21, 23 f , 87, 158 f , 176 f. - Lückenlosigkeit 87, 91, 92 f f , 107 f f , 166,228,231 - „Menschenbild" 29, 58, 59, 78, 79, 158, 170, 191 1 , 2 1 6 - normative K r a f t 198, 219 - N o r m s t r u k t u r 144 f , 190 - Offenheit 100 f , 108,159,170, 190 - Rangabstufungen s. Rangverhältnis - Rechts Vollständigkeit 121 - Schlußvorschriften 138 ff. - Schweigen 101 f , 159, 230 - Textvollständigkeit 121 f f , 130, 228 - u n d Verfassungsgesetz 131, 137, 148 f , 153 f , 162 - Vorrang 115, 118, 121, 123, 124 - als Wertordnung 37 f , 57 f , 59 f f , 69 f , 78, 79 f , 86, 102, 147, 176, 181, 197,213,218 - W i d e r s p r u c h s f r e i h e i t 87, 91, 9 2 1 , 103 f f , 166,168 f f , 228, 231 - Wille zur ~ 182

274

Sachregister

- Zentralnormen 157,167 - s. a. Einheit der Verfassung; Positivität des Rechts; Rechtsordnung Verfassunggebung - u n d Begriffsjurisprudenz 95 - Bindung 16, 51 f , 55, 126 f. - als Kompromiß 152 f , 185 - u n d politische Einheit 131, 148 - u n d Texteinheit der Verfassung 121 - u n d Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts 51 Verfassungsänderung 15, 28, 38 f , 51 f , 55, 57, 117 f f , 122, 129 f. Verfassungsauftrag 144,174 Verfassungsdurchbrechung 90, 117 f f , 212 Verfassungsgerichtsbarkeit 119, 174, 175 Verfassungsgeschichte 87, 163 f f , 221, 229 Verfassungsgewohnheitsrecht 90, 101, 121 ff. - s. a. Gewohnheitsrecht Verfassungsgrundsätze 49, 191 ff. - u n d Begründung von ungeschriebenem Verfassungsrecht 40 f f , 83 f , 226 f. - u n d Rangabstufungen i m Verfassungsrecht 12 f f , 81 f f , 125 f f , 132 f f , 226 f. - u n d systematische Interpretation 49 f f , 83 f , 132 f f , 188 f , 191 f f , 226 f. verfassungskonforme Interpretation u n d D r i t t w i r k u n g von Grundrechten 27 - Eigenständigkeit 84 - funktionell-rechtliche Grenze 48 - Rangunterschied als Voraussetzung 20, 32,49,63,188 Verfassungsnovelle 101, 107,130 Verfassungspolitik - als Konkretisierungselement 24, 28, 30, 33, 56, 169, 177, 181, 194, 199,

216,220

- s. a. Polgenbewertung; Rechtspolitik Verfassungsrecht - B e g r e n z u n g 61, 70 f f , 83, 195 f , 212,2261 - ungeschriebenes s. Richterrecht; Verfassungsgewohnheitsrecht Verfassungsschutz 28, 30, 73 f , 163, 178 Verfassungsstaat, moderner europäischer 109 f f , 152, 1561, 164 f f , 1701,232 Verfassungstheorie - materiale 181, 232

- s. a. Konkretisierungselemente, verfassungstheoretische Verfassungsvergleich s. Rechtsvergleichung Verfassungswandel 107, 120, 130 verfassungswidrige Verfassungsnorm - nach dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof 16, 17 f , 125 - nach dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts 11, 21, 50 f f , 57, 127 - Nichtexistenz 136 - nach dem Schrifttum 128 f. - nach dem Zweiten Senat des B u n desverfassungsgerichts 11, 16, 20 Verhältnismäßigkeit s. Übermaßverbot Vernunftrecht 15, 92 f , 107, 113, 228 Völkerrecht 61 f , 87 Volkswille 148 Vorhersehbarkeit s. Rechtssicherheit Vorverständnis - bei der Rechtsarbeit 137, 154, 199, 202 - staatstheoretisches 87 f , 163 - des Verfassunggebers 48 f. Wehrpflicht 57, 71 ff. Wertabwägung s. Abwägung Werte s. Grundrechte, Wertordnung; überpositives Recht; Verfassung, Wertordnung Wertung 113, 115, 123, 146, 193, 199 Widerspruch s. K o n f l i k t Wiedervereinigungsgebot 57,130, 139 Wiener Schule s. Reine Rechtslehre Wirklichkeit, gesellschaftliche - u n d Positivismus 94, 106 - u n d Verfassungstheorie 150 f f , 168 - u n d Verfassungswandel 107, 120 - u n d Verwirklichung des Rechts 106 f , 1701, 175 - s. a. Normbereich; Sachbereich; Ungleichheit, soziale Wirtschaftsordnung 101, 150 f , 165 f , 168 f. Wortlaut - Grenzfunktion 46, 53 1, 107, 1141, 120, 1241, 136,212,220 - u n d Textvollständigkeit des Grundgesetzes 121 ff. - s. a. Konkretisierungselemente, grammatische; Normprogramm Zitiergebot 118 Zivilrecht 87 f , 117, 124, 191 Zuständigkeitsnormen s. Kompetenznormen Zwangsversteigerungs-Beschluß I s. BVerfGE 42, S. 64 Zweckdenken, juristisches 93

Entscheidungsregister Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 1, S.5: 66, 83, 134, 139 1, S. 14: 9, 11, 12 ff., 23, 25, 29, 32, 36, 39, 41, 42, 48, 50, 51, 54, 55, 56, 63, 66, 69, 76, 80 f., 83, 90, 104, 114, 116, 119, 122, 123, 127, 137, 139, 158, 176, 188,192 f., 208, 226, 231 1,S. 167: 66, 80, 83, 139 f. 1, S. 208: 40 ff., 49 f., 61, 65, 83, 90, 192, 231 2, S. 1:58, 86, 159, 161, 169 2, S. 266: 81, 211 2, S. 380: 9, 12, 47 ff., 53, 64, 80, 811, 83, 90, 104, 107, 123, 144, 176, 1 9 2 1 3, S. 225: 11, 18, 21, 22, 261, 50 ff., 57, 62, 661, 69, 76, 801, 83, 114, 123, 127, 132, 134, 136, 1391, 176, 182, 192, 193, 201, 205, 206, 217, 226 3, S. 407: 107 4, S. 7: 29, 58, 169 4,S. 294: 66, 83, 127, 133, 134, 140, 206 5, S. 85: 30, 86, 128, 133, 159 1, 161, 163 f , 167, 169 6, S. 32: 58, 86 6, S. 55: 201, 207, 208 6,S. 309: 61 ff., 83, 104, 134, 158, 176, 188 7, S. 198: 27, 30, 83, 86, 90, 104, 141, 192 7, S. 342: 107 7,S. 377: 29, 57 1, 83, 161, 1681, 192, 211 9, S. 89: 47 9, S. 334: 118 9, S. 338: 44, 158, 211 10, S. 59: 86, 201 11, S. 126: 27 12, S. 1: 16, 37, 691, 103, 201, 203, 2101 12, S. 45: 57, 73, 86, 130, 134, 174, 195 13, S. 46: 86 13, S. 97: 86 13, S. 331: 89 14, S. 19: 169 14, S. 56: 47 14, S. 197: 47 14, S. 288: 86 15, S. 167: 67, 83, 101, 1151, 1171, 139 f., 149, 229

16, S. 194:211 17, S. 108:211 17, S. 306: 211 19, S. 135: 83, 133, 134 f., 205, 207 19, S. 206: 9, 10, 21 ff., 39, 63, 69, 76, 77, 82, 83, 87, 133, 138, 158 f., 176 f , 188, 218 19, S. 342: 211 20, S. 45: 211 21, S. 362: 86 22, S. 349: 101 23, S. 127:211 27, S. 127: 207 27, S. 180:47 27, S. 211: 211 28, S. 243: 71 ff., 83, 86, 133, 195, 200, 202 f., 210, 211 30, S. 1: 27 ff., 36, 731, 83, 122, 130, 159, 172, 192, 195 30, S. 33: 30, 31, 130, 172 30, S. 173: 29, 58, 59 ff, 70, 78, 83, 135, 161, 192, 195, 200 f , 202, 206, 207, 208, 211, 215, 217 30, S. 200:208 30, S. 292: 169 32, S. 54: 208 32, S. 98: 58, 69 f., 77, 79 f , 83, 135, 161, 192, 195, 201, 202, 204 32, S. 373: 211 33, S. 1: 47 33, S. 23: 67, 68 ff., 71, 78, 83, 135, 143, 161, 192, 195, 201, 202, 204 33, S. 35: 161, 202 33, S. 303: 170 34, S. 165: 76, 77, 83, 133, 143, 195, 204 34, S. 238: 122 f. 34, S. 269: 43 ff, 60, 78, 83, 97, 133, 158, 160, 195, 201 34, S. 369: 211 35, S. 202: 58, 78 f , 83, 133, 192. 195, 200 f , 204, 206, 216 f. 36, S. 264: 211 36, S. 342: 67 f , 83, 196 37, S. 57: 86 37, S. 271: 33 ff., 83, 128, 159, 192 39, S.1: 207 f.

276

Entscheidungsregister

39, S. 334: 32 f., 36, 83, 159, 160, 192 40, S. 371:211 41, S. 29: 76 f., 83, 133, 143, 195, 196, 200 f., 204, 213, 215 41, S. 65: 76 f., 83, 143, 195, 196, 200 f., 204 42, S. 64: 60, 83, 192 42, S. 263: 63

44, S. 37: 61, 77 f., 83, 143, 161, 188, 195, 200 f., 204 44, S. 59: 77 f., 83, 143, 161, 195, 2001, 204 44, S. 249: 60, 63, 67, 83, 104, 161, 192 47, S. 327: 78, 83, 207, 215, 217 B. v. 1.8.1978 (2 B v R 1013/77 u.a.): 75, 80, 83

Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs (BayVfGH) 2, S. 45: 13, 15 f., 17, 125, 133, 205 2, S. 181:38 3, S. 28: 13, 15 f., 125 4, S. 51: 17, 125, 136, 193 f. 9, S. 1: 18, 125 11, S. 127: 18, 56, 81, 125 f.

11, S. 146: 18, 125 13,S.27: 18, 125 14, S. 87: 18, 125 17, S. 94: 18, 125 20, S. 36: 38 f., 49, 61,191

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) 1, S. 159: 47 1, S. 303: 206 18, S. 135: 65 f., 189

25, S. 318: 206 29, S. 52: 64 f., 137,160 f., 208 47, S. 330: 74

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (BGHZ) 1, S. 274: 51, 134, 140 38, S. 317: 16, 37 f., 141, 158, 201, 203,

210 f., 227 B G H i n : J Z 1975, S. 637: 78

Entscheidung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts (PrOVGE) 2, S. 399: 65, 137,160,195, 217