Das Wahlsystem zwischen Theorie und Taktik: Zur Frage von Mehrheitswahl und Verhältniswahl in der Programmatik der Sozialdemokratie bis 1933 [1 ed.] 9783428429981, 9783428029983

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Das Wahlsystem zwischen Theorie und Taktik: Zur Frage von Mehrheitswahl und Verhältniswahl in der Programmatik der Sozialdemokratie bis 1933 [1 ed.]
 9783428429981, 9783428029983

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 17

Das Wahlsystem zwischen Theorie und Taktik Zur Frage von Mehrheitswahl und Verhältniswahl in der Programmatik der Sozialdemokratie bis 1933

Von Axel Misch

Duncker & Humblot · Berlin

A X E L MISCH

Das Wahlsystem zwischen Theorie und Taktik

Beiträge zur P o l i t i s c h e n Wissenschaft Band 17

Das Wahlsystem zwischen Theorie und Taktik Z u r Frage von M e h r h e i t s w a h l u n d V e r h ä l t n i s w a h l i n der P r o g r a m m a t i k der S o z i a l d e m o k r a t i e bis 1933

Von

Dr. Axel Misch

DUNCKER&

HUMBLOT/BERLIN

Alle Rechte vorbehalten © 1974 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1974 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 02998 4

Inhaltsverzeichnis Einleitung

9

A. Historische Vorbemerkungen: Die Verhältniswahl bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts

12

I. Z u r Frage des Wahlsystems i n der Französischen Revolution

12

1. Wahlrecht u n d Repräsentation i n der Verfassung von 1791 . .

12

2. Die theoretische Weiterentwicklung des Wahlsystems a) Die wissenschaftliche Methode zur K o n s t r u k t i o n eines neuen Wahlsystems b) Das Wahlrecht als T e i l der verfassungspolitischen Vorstellungen Condorcets

16

I I . Die ersten Systeme der Verhältniswahl i m 19. Jahrhundert 1. Das Listenwahlsystem Victor Considérants 2. Das System der übertragbaren Einzelstimmgebung Hares u n d seine Rezeption durch John Stuart M i l l

16 23 28 28

Thomas 34

B. Wahlrecht und Wahlsystem in der politischen Konzeption Ferdinand Lassalles

37

I. Die preußische Verfassung von 1849 u n d das Dreiklassenwahlrecht

37

I I . Lassalles Konzeption der plebiszitären Führerdemokratie

41

I I I . Die Bedeutung des Wahlrechts i n den Beziehungen Lassalles zu Bismarck 58 C. Die Frage des Wahlsystems im Rahmen des sozialdemokratischen Verständnisses von Demokratie und Parlamentarismus bis zum Erfurter Parteitag 1891 I. Die Periode bis 1878

65 65

1. Der staatliche Rahmen: Verfassung u n d Reichtagswahlrecht . .

65

2. Die sozialdemokratische K r i t i k an Staat u n d Verfassung

67

3. Die Demokratie als Ziel u n d Weg der Sozialdemokratie 73 a) Gegenwartsstaat vs. freier Volksstaat 73 b) Die sozialdemokratischen Erwartungen an Wahlrecht u n d Wahlbeteiligung 82 c) Die Gerechtigkeit des Wahlsystems als Bedingung einer »wahren Volksvertretung' 91 aa) Die Begründung f ü r die Verhältniswahl 91 bb) Die Frage des Systems der Verhältniswahl 98

Inhaltsverzeichnis

6

I I . Die Periode des Sozialistengesetzes bis zum Erfurter Parteitag . . 100 1. A u s w i r k u n g e n des Sozialistengesetzes auf das Verhältnis zu Staat u n d Gesellschaft 100 2. Parlament u n d Wahlrecht unter den Bedingungen des Ausnahmegesetzes 104 3. Demokratische Repräsentation u n d Wahlsystem

115

D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 129 I. Die Benachteiligung der SPD durch das geltende Reichstagswahlrecht als auslösender Faktor für die Forderung nach dem V e r h ä l t niswahlsystem 129 1. Die passive Wahlkreisgeometrie

129

2. Das Problem der Stichwahlen

139

I I . Die innerparteiliche Diskussion über das Wahlsystem

146

1. Die Diskussion u m Mehrheits- u n d Verhältniswahlsystem i m Anschluß an den Erfurter Parteitag 146 2. Die Durchsetzung der starren Liste als sozialdemokratisches System der Verhältniswahl 153 I I I . Sozialdemokratische I n i t i a t i v e n zur Einführung der Verhältniswahl 159 I V . Das Verhältniswahlsystem i m Rahmen der Forderung nach Demokratisierung u n d Parlamentarisierung des Kaiserreichs 167 E. Die Sozialdemokratie und das Wahlsystem in der Weimarer Republik 174 I. Verhältniswahl u n d parlamentarische Demokratie i n der klassengespaltenen Gesellschaft 174 1. Die Entwicklung des sozialdemokratischen Demokratieverständnisses von der »Diktatur des Proletariats* zum »Gleichgewicht der Klassenkräfte 4 174 2. Die K o m p r o m i ß s t r u k t u r der Weimarer Verfassung

185

I I . Die Verhältniswahl i n der Praxis des Regierungssystems

196

1. Probleme des Parteiensystems u n d der Regierungsbildung . . 196 2. Die I n i t i a t i v e n f ü r eine begrenzte Wahlrechtsreform 206 I I I . Grundzüge der Reformdiskussion i n der sozialdemokratischen Publizistik 214 1. Die Verteidigung der Verhältniswahl unter soziologischem Aspekt 214 2. Die Wahlreform u n d die Krise des Verfassungssystems 224 3. Die Wahlreform u n d die Frage der politischen F ü h r u n g

239

Zusammenfassung und Ausblick

257

Literaturverzeichnis

263

Namenverzeichnis

286

Abkürzungsverzeichnis ADGB

== Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund

ADAV

= Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein

AöR

= Archiv des öffentlichen Rechts

BVP

= Bayerische Volkspartei

DNVP

= Deutsch Nationale Volkspartei

DVP

= Deutsche Volkspartei

FVP

= Fortschrittliche Volkspartei

HZ

= Historische Zeitschrift

KPD

= Kommunistische Partei Deutschlands

MEW

= K a r l M a r x / Friedrich 1957 ff.

NSDAP

= Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

NZ

= Die Neue Zeit

Prot. SAP, SD A P bzw. SPD

= Protokoll des Parteitages der SAP, SDAP bzw. SPD

PVS

= Politische Viertel] ahresschrift

SAP

= Sozialistische Arbeiterpartei

SAPD

= Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands

SDAP

= Sozialdemokratische Arbeiterpartei

SM

= Sozialistische Monatshefte

SPD

= Sozialdemokratische Partei Deutschlands

Sten. Ber.

= Stenographische Berichte des Reichstags

USPD

= Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands

Z

=

ZfP

= Zeitschrift f ü r P o l i t i k

Zentrum

Engels,

Werke,

B e r l i n (Ost)

Einleitung M i t dieser Arbeit w i r d nicht die Absicht verfolgt, i n die Diskussion um das beste Wahlsystem einzugreifen, eine Diskussion, deren Ende sich trotz ihrer nunmehr über hundertjährigen Geschichte seit der Kontroverse zwischen John Stuart Mill und Walter Bagehot vielleicht weniger denn je absehen läßt. Wenn diese Arbeit auch ihren Anstoß von dem Plan zur Wahlrechtsreform der i m Herbst 1966 gebildeten Großen Koalition erhalten hat, so w i l l sie doch keinesfalls den Parteien bzw. der SPD i m besonderen für den Fall einer erneuten Aktualisierung dieser Frage Ratschläge i n der einen oder anderen Richtung erteilen. Zur Wahlrechtsdiskussion sei hier nur so viel angemerkt: Ohne die Vorteile eines relativen Mehrheitswahlsystems nach englischem Muster für das parlamentarische Regierungssystem als Konsequenz funktionaler Betrachtungsweise unter den Voraussetzungen seiner demokratischen Mindestbedingungen leugnen zu wollen, muß aber andererseits die zuweilen vertretene These von der Monokausalität des Wahlsystems für das Schicksal der Weimarer Republik als unhaltbare Simplifizierung zurückgewiesen werden, eine These, die auf eine Uberschätzung des Wahlverfahrens als Regelmechanismus sozialer und politischer Konflikte zurückzuführen ist. Wenn auch für die Schwierigkeiten des Weimarer Regierungssystems der Faktor Wahlrecht einen nicht zu unterschätzenden Rang einnimmt, so darf i n diesem Zusammenhang vielleicht an eine gerade die demokratische Legitimation der als A l l heilmittel gepriesenen Mehrheitswahl begründende, unverzichtbare Forderung — die an jedes Wahlrecht zu stellen ist — erinnert werden: die grundsätzliche Offenheit der parlamentarischen Repräsentation auch für neu auftretende politische Gruppierungen. Nicht die Tendenz zur Integration oder Desintegration des Parteiensystems durch das jeweilige Wahlsystem soll i n Frage gestellt werden, sondern die Eignung dieses Instruments zur Unterdrückung einer Volksbewegung vom Ausmaß des Nationalsozialismus i n der Endphase der Weimarer Republik. Die Behauptung, schärfste, durch innen- und außenpolitische Belastungen hervorgerufene Konflikte, wie sie das Gesicht der vielfach polarisierten und zerrissenen Gesellschaft der Weimarer Republik prägten, durch Einführung der relativen Mehrheitswahl überwinden zu können, w i r f t ein Licht auf den Begriff der

10

Einleitung

Wahl, der dies leisten zu können vorgibt: Wahl letztlich als eine über politisches Handeln hinausgehendes, ja bis zu einem gewissen Grade überflüssig machendes technisches Instrument. Die Sinnentleerung des Wahlbegriffs, die den Anhängern der Verhältniswahl häufig nicht zu Unrecht vorgeworfen wird, findet hier ihre Analogie: dem Fetisch Gerechtigkeit bei der Verhältniswahl entspricht der Fetisch Integration bei der Mehrheitswahl. Die Arbeit verfolgt ein i m engeren Sinne historisches Interesse, das eine vorsichtige Zurückhaltung bei der Verwendung des Prädikats „richtig" oder „falsch" verlangt, wenn auch natürlich nicht darauf verzichtet wird, die Quellen m i t Fragestellungen zu konfrontieren, die i n einem systematischen, aber nicht unbedingt auch historischen Kontext zu ihnen stehen. Die Arbeit gibt sich nicht bei der Forderung der Sozialdemokratie nach einem bestimmten Wahlsystem m i t der Feststellung des cui bono zufrieden und tut die theoretische Begründung mehr oder weniger als bloße Garnierung eines gesunden oder i n diesem Falle vielleicht auch allzu kurzfristig definierten Parteiinteresses ab. Es ist vielmehr eine unserer Thesen, daß sich i n dem hier behandelten Zeitraum die Bedeutung des Wahlsystems für die Sozialdemokratie nicht i n der für sie vorteilhaftesten Relation zwischen Stimmen- und Mandatszahl erschöpft. Heuristisch läßt sich diese Annahme durch die beispiellose Kontinuität der sozialdemokratischen Wahlrechtsvorstellungen rechtfertigen: Die Befürwortung der Verhältniswahl durch die Partei umfaßt einen Zeitraum, i n dem sie die Entwicklung von einer kleinen Splittergruppe über die wähler- und mandatsstärkste, i n der Opposition verharrenden und gehaltenen Partei des Kaiserreichs zur Regierungs- und die republikanische Ordnung verteidigenden Partei i n der ersten deutschen Demokratie durchläuft. Erst eine singuläre Katastrophe, die Zerschlagung von demokratischem Staat und Sozialdemokratischer Partei durch den totalitären Nationalsozialismus unter Ausnutzung der i n der parlamentarischen Demokratie vorgeschriebenen Prozedur der Machtgewinnung, eben der Beteiligung an Wahlen, führte zur Erschütterung des bis dahin von der Partei als ganzer nicht i n Frage gestellten Dogmas der Verhältniswahl. Diese Kontinuität gestattet es, das Wahlsystem als Teil der Programmatik zu fassen, wobei die Quellen naturgemäß nicht auf theoretische Erörterungen beschränkt werden dürfen; das Wahlsystem fügt sich somit i n jenen Ziel und Weg der Sozialdemokratie mitbestimmenden Vorstellungskreis ein, der sich i n den Begriffen Staat, Demokratie und Parlamentarismus konkretisieren läßt; m i t ihnen die Entscheidung für die Verhältniswahl i n einem Bezug zu sehen und i n einen Bezug zu

Einleitung

setzen, stellt eines der wesentlichen Ziele dieser Arbeit dar. Schwierigkeiten ergeben sich da, wo — vor allem i n der Anfangszeit der Partei — dieser systematische Kontext bei den die Frage des Wahlsystems behandelnden Autoren nicht i m Zentrum des Interesses steht oder gar ignoriert wird. Für die Darstellung folgt daraus, daß die direkten Erörterungen des Wahlsystems neben die jenen weiteren Vorstellungskreis ansprechenden gestellt werden, die gewonnenen Ergebnisse sich aber nicht i n einer A r t Kausalkette zusammenfassen lassen. So ist auch der Abriß über die Entwicklung der Wahlrechtstheorie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht als Versuch zu werten, gewaltsam eine historische Beziehung zurück bis zur Französischen Revolution i n dieser Frage konstruieren zu wollen. Direkte Anknüpfungen lassen sich nur für Victor Considérant und Thomas Hare nachweisen; wenn darüber hinaus auch Condorcet als bedeutendster Wahlrechtstheoretiker seiner Zeit behandelt wird, dann deswegen, weil die von i h m gewählte, den Rationalismus auf die Konstruktion eines vernünftigen' Staatswesens anwendende Methode für die Ausarbeitung des ,besten' Wahlverfahrens noch i n jenem bei manchen Sozialdemokraten aufzeigbaren Begriff der ,Gerechtigkeit' eines Wahlsystems durchzuschimmern scheint, deren erreichter Grad sich durch mathematische Zahlenverhältnisse darstellte. Diese Arbeit wurde i m Sommer 1971 von der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität i n Freiburg i. Br. als Dissertation angenommen. Später erschienene Literatur konnte nur noch i n Ausnahmen berücksichtigt werden. Zu Dank verpflichtet b i n ich Franz Osterroth für Material und biographische Hinweise zum „Hofgeismarkreis" der Jungsozialisten. Mein besonderer Dank gilt aber meinem Lehrer Prof. Dr. Wilhelm Hennis, der mein Studium vielfältig gefördert und m i r die Anregung zu dieser Arbeit gegeben hat.

A. Historische Vorbemerkungen: Die Verhältniswahl bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts I. Zur Frage des Wahlsystems in der Französischen Revolution 1. Wahlrecht und Repräsentation in der Verfassung von 1791

Es ist zum Gemeinplatz geworden, die Ursprünge des Verhältniswahlgedankens i n der Zeit der Französischen Revolution anzunehmen 1 . Schon i n den Diskussionen innerhalb der Sozialdemokratie über dies Wahlsystem war man sich dieses historischen Zusammenhanges bewußt 2 . So forderte August Bebel als Wirkung eines demokratischen Wahlrechts m i t deutlichem Bezug auf Mirabeau, „die Stimmung der Wähler durch die gewählten Abgeordneten zu einem, w i r möchten sagen, photographisch getreuen Ausdruck zu bringen" 3 , und i n einem das Verhältniswahlrecht ablehnenden A r t i k e l glaubte der Autor „die Begeisterung der deutschen Sozialdemokratie für den Proportionalismus . . . zum guten Theil aus dem Einfluß des Rationalismus" 4 der französischen Aufklärungsphilosophie erklären zu können. I n der Tat lassen sich i n Frankreich seit Ende des 18. Jahrhunderts erste Ansätze einer Weiterentwicklung der aus dem Prinzip der Einstimmigkeit organisch gewachsenen Mehrheitswahl 5 aufzeigen. Ihren Anstoß erhalten sie von zwei verschiedenen — wenn auch vielfältig miteinander verbundenen — Richtungen: staatsrechtlich von der Ablösung der Ständegesellschaft durch die moderne Nationalrepräsentation i m Verlauf der Revolution und wissenschaftlich-theoretisch von dem Versuch, mathematisch-naturwissenschaftliche Exaktheit auch i n der Konstruktion gesellschaftlicher und staatlicher Einrichtungen zu erreichen. 1 Statt vieler: K a r l Braunias, Das parlamentarische Wahlrecht, 2. Bd., B e r l i n u n d Leipzig 1932, S. 195. 2 Vgl. Carl Lübeck, „Die Proportional-Vertretung", i n : Die Zukunft, 1. Jg., B e r l i n 1877/78, Nr. 5, S. 148. 3 August Bebel, Die Sozialdemokratie u n d das Allgemeine Stimmrecht, B e r l i n 1895, S. 51. 4 Advocatus, „Das Proportionalwahlsystem", i n : Der sozialistische A k a d e m i ker, Jg. 2, Nr. 7, B e r l i n 1896, S. 415. 5 Vgl. A d o l f Tecklenburg, Die Entwicklung des Wahlrechts i n Frankreich seit 1789, Tübingen 1911, S. 15 ff.

I. Z u r Frage des Wahlsystems i n der Französischen Revolution

13

I n der Flut der Broschüren am Vorabend der Revolution nimmt M i rabeaus „Sur la représentation illégale de la nation dans ces états actuels et sur la nécessité de convoquer une assemblée générale des trois ordres", eine Rede vor einer provençalischen Adels Versammlung, für die weitere Entwicklung des Wahlsystems besondere Bedeutung ein. Hier findet sich jener Satz, m i t dem Mirabeau i n der Folgezeit immer wieder als Erzvater der Verhältniswahl reklamiert wurde: „Les états sont pour la nation ce qu'est une carte réduite pour l'étendue physique, soit en partie, soit en grand, la copie doit toujours avoir les mêmes proportions que l'original 6 ." Zwar formuliert Mirabeau implizit den für ein demokratisches Wahlrecht fundamentalen Grundsatz der Allgemeinheit: „Le premier principe en cette manière est donc, que la représentation soit individuelle: elle le sera s'il n'existe aucun individu dans la nation qui ne soit électeur ou élu" 7 , es darf dabei jedoch nicht außer acht gelassen werden, daß der i n dieser Rede skizzierte Repräsentationsbegriff noch stark vom Verständnis einer ständischen Vertretung geprägt ist; er „oszilliert hier zwischen ,darstellen 4 , ,zur-Geltungbringen' und ,vertreten 4 " 8 . So schließt er nicht nur eine nicht nach Ständen differenzierte Vertretungskörperschaft aus, auch die angestrebte Proportionalität zwischen „carte réduite" und „étendue physique" erhält bei i h m einen organisch-konservativen Zug. Denn Mirabeaus zweites Prinzip, die Gleichheit der Repräsentation 9 , w i l l er als eine „égalité de nombre et une égalité de puissance" 10 verstanden wissen. Auf Grund des starken numerischen Ubergewichts des Dritten Standes kann auf i h n ein zahlenmäßig gerechter Anteil an Mandaten nicht entfallen; seinem Gewicht w i r d nur dadurch Rechnung getragen, daß i h m die gleiche Anzahl von Sitzen zugewiesen w i r d wie den beiden anderen Ständen zusammen 11 . Größere Bedeutung gewinnt die Forderung nach zahlenmäßiger Gleichheit bei der Vertretung der einzelnen Berufskorporationen vor allem innerhalb des Dritten Standes; aber auch hier verbindet sie sich m i t „celle des richesses et avec celle des services que l'état retire des hommes et des fortunes" 1 2 . Liest man das eingangs gebrachte Zitat, „das übermäßig berühmt und oft mißbraucht worden ist" 1 3 , i n diesem Zusammenhang, so muß Mirabeau weniger als Prota6 Sur l a représentation . . . , i n : M . Mérilhon (ed.), Oeuvres de Mirabeau, Paris 1827; Bd. V I I , S. 7. 7 Ebd., S. 7. 8 Eberhard Schmitt, Repräsentation u n d Revolution, München 1969, S. 189. 9 Mirabeau, S. 7. 10 Ebd., S. 7. 11 Ebd., S. 8. 12 Ebd., S. 7. 13 Tecklenburg, S. 160.

14

A. Die Verhältniswahl bis zur M i t t e des 19. Jahrhunderts

gonist der Verhältniswahl denn als Reformer das Ancien Régime erscheinen. Die Verbindung von Gleichheit der Zahl m i t der der Bedeutung findet sich wieder i n dem von der Nationalversammlung 1791 verabschiedeten Wahlgesetz. Nicht nur stand das Gleichheitsprinzip dem indirekten Zensuswahlrecht nicht entgegen, denn „wenn man i m achtzehnten Jahrhundert von Gleichheit sprach, dann war das allgemeine Wahlrecht unter den letzten Dingen, an die man dabei dachte" 14 , sondern auch die Verteilung der Deputierten auf die Departements erfolgte nach Einwohnerzahl und Steueraufkommen 15 . Zum Unterschied aber zu Mirabeaus Konzeption vom Januar 1789, wonach die Stände und Berufsvereinigungen legitim an der Bildung der volonté générale m i t w i r k e n sollten, beansprucht die Nationalversammlung, nicht die Vertretung der partikularen, sondern der aufs Gemeinwohl gerichteten Kräfte der Nation darzustellen 16 , m i t der historisch folgenreichen Konsequenz der Auflösung von Ständen und Berufsvereinigungen. Theoretisch begründet w i r d diese „jeder französischen Demokratieauffassung inhärente Interessenverbandsprüderie" 17 nach Rousseau 18 vor allem von dem für die endgültige Verfassungsgestaltung viel entscheidenderen Abbé Sieyès 19. Die Zerschlagung der Berufskorporationen, „diesen furchtbarsten öffentlichen Feinden" 2 0 , gibt seiner Parlamentstheorie den besonderen Charakter einer „représentation nationale atomistique" 2 1 . Als legitime, und das heißt schon bald ganz konkret: staatlich geduldete Interessen gelten nur das reine Individualinteresse und natürlich das Gemeininteresse 22 . Repräsentation w i r d nicht begründet als Vertretung von Interessen — so etwa zur gleichen Zeit bei Burke 23 —, sondern unter dem Gesichtspunkt der 14

R. R. Palmer, The Age of the Democratic Revolution. The Challenge, Princeton 1959, S. 501. 15 Tecklenburg, S. 69, referiert den Verteilungsmodus der 745 Abgeordneten: 247 nach dem Territorialprinzip an die Departements als solche; 249 werden gemäß Bevölkerungszahl auf die Departements verteilt; 249 werden nach Steueraufkommen auf die Departements verteilt. 18 Vgl. Schmitt, S. 281. 17 Ernst Fraenkel, Strukturdefekte der Demokratie u n d ihre Uberwindung, i n : Ders., Deutschland u n d die westlichen Demokratien, 4. Aufl. Stuttgart 1968, S. 60. 18 Contrat Social, I V . Buch, 1. Kap. 19 Z u r Bedeutung u n d Bekanntheit Rousseaus 1789 vgl. Schmitt, S. 119. 20 Emmanuel Joseph Sieyès, Was ist der D r i t t e Stand, hrsg. u n d übersetzt von R. H. Förster, F r a n k f u r t 1968, S. 134. 21 Nicolas Saripolos, L a Démocratie et l'élection proportionelle, Paris 1899, S. 152. 22 Sieyès, S. 134. 23 Vgl. H. F. P i t k i n , The Concept of Representation, New Y o r k 1969, S. 168 ff.

I. Z u r Frage des Wahlsystems i n der Französischen Revolution

15

Praktizierbarkeit, u m i n einem Flächenstaat m i t arbeitsteiliger Gesellschaftsstruktur die Bildung des Gemeinwillens zu erreichen 24 . Die beschworene Basis der Volkssouveränität verliert bei dieser Konzeption jeden Anschein von Realität; „die Repräsentation w i r d von einem bloßen Surrogat der unmittelbaren Volksrechte zu einem Phänomen von volkssouveränitätsmäßigem Selbstzweck" 25 . Die Übertragung des individuellen Willens der Bürger auf die Versammlung durch den Wahlakt begründet keinen Einfluß auf die Formung des Gemeinwillens, „der Wille der Repräsentanten ist der Wille der Nation" 2 6 . Die Repräsentativversammlung ist der Ort einer virtuellen Einheit der Nation; „deren physische Wirklichkeit, deren soziologisches Bestehen, das Zusammentreffen der Strömungen, die i n ihr i n Wirklichkeit stattfinden, haben gemäß der Verfassung keine Bedeutung: die Nation hat nur dort Bestand, wo sich i h r Wille formt" 2 7 . Eine „Divergenz zwischen hypothetischem und empirischem Volks w i l l e n " 2 8 kann ex definitione i n dieser Verfassung nicht aufkommen; die Zerschlagung der pouvoirs intermédiaires versucht auch i n der Praxis die mögliche Konkurrenz gegenüber dem „gewissermaßen präexistenten" 2 0 Gemeinwohl von vornherein zu unterdrücken. Vor dem Hintergrund dieser Verfassungskonstruktion müssen die von Sieyès genannten Wahlrechtsgrundsätze gesehen werden. Da die repräsentative Körperschaft bei allem, was sie tut, immer die Nation verkörpert, muß ihr Einfluß „dieselbe Natur, dieselben Verhältnisse und dieselben Regeln haben" 8 0 . Ähnlich w i r d die Proportionalität bei der Bestellung der Repräsentanten auch von anderen zeitgenössischen Publizisten betont 3 1 , die jetzt i m Gegensatz zu Mirabeau als zahlenmäßiges Verhältnis verstanden wird. Was hier jedoch gefordert wird, kann nicht m i t dem irreführenden Etikett „egalitärer Proporz" 3 2 gefaßt werden. „Les mêmes proportions" — das zielt nicht auf ein Verhältniswahlrecht i m modernen Sinne, sondern meint allein die zahlenmäßige Gleichheit der Wahlkreise für die dann auch i n der Verfassung verankerte absolute Mehrheitswahl; Proportionalität nicht zwischen 24 Vgl. dazu E. Schmitt, Sieyès, i n : Klassiker des politischen Denkens, hrsg. von H. Maier, H. Rausch, H. Denzer, S. 134 - 160; S. 153. 25 K a r l Löwenstein, V o l k u n d Parlament nach der Staatstheorie der französischen Nationalversammlung von 1789, B e r l i n 1922, S. 10. 26 Georges Burdeau, Traité de Science Politique, 4. Bd., Paris 1952, S. 245. 27 Ebd., S. 245. 28 Ernst Fraenkel, Die repräsentative u n d plebiszitäre Komponente i m demokratischen Verfassungsstaat, i n : Deutschland . . . , S. 81. 29 Schmitt, Sieyès, S. 157. 80 Tiers état, S. 118. 31 Saripolos, S. 160 f.; Schmitt, Repräsentation u n d Revolution, S. 183 f. 32 Schmitt, S. 201, A n m . 135.

16

A . Die Verhältniswahl bis zur M i t t e des 19. Jahrhunderts

den perhorreszierten Gruppierungen, sondern zwischen den Wahlkreisen, denn das Wahlsystem stützte sich auf die Vorstellung, „daß der Anspruch auf Vertretung an fest umgrenzte Landschaften gebunden sei" 3 3 . 2. Die theoretische Weiterentwicklung des Wahlsystems

a) Die wissenschaftliche Methode zur Konstruktion eines neuen Wahlsystems Philosophisch-wissenschaftlich fundiert w i r d das Problem des Wahlrechts erstmals bei dem bedeutendsten Wahlrechtstheoretiker der Französischen Revolution, bei Condorcet, behandelt. Als ein i n seinen Werken immer wieder erörtertes Thema innerhalb wissenschaftstheoretischer und geschichtsphilosophischer Überlegungen stellt die Konstruktion des Wahlsystems, unter methodischem Aspekt betrachtet, einen bedeutsamen Anfang zu jenem umfassenden Versuch einer völlig neuen Ordnung dar, den erst der Positivismus des 19. Jahrhunderts ausführte 34 . Unter dem Einfluß von Turgot schon frühzeitig von der unbegrenzten menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit überzeugt 35 , verfaßt Condorcet unter den bekannten äußeren Bedingungen m i t seinem „Esquisse d'un Tableau Historique des Progrès de l'Esprit H u m a i n " 3 6 das „abschließende Credo der Aufklärung" 3 7 . „ V o n allen Hunden jener Revolution gehetzt, die er als Morgenröte der Menschheit begrüßt hatte" 3 8 , bekennt er sich zu seiner m i t „christlicher Hoffnung auf eine künftige Vollkommenheit" 3 9 verwandten Überzeugung, „daß die Natur der Vervollkommnung der menschlichen Fähigkeiten keine Grenze gesetzt hat; daß die Fähigkeit des Menschen zur Vervollkommnung tatsächlich unabsehbar ist; daß die Fortschritte dieser Fähigkeit zur Vervollkommnung, die inskünftig von keiner Macht, die sie aufhalten

33 R. Redslob, Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung von 1789, Leipzig 1912, S. 149. Vgl. auch Tecklenburg, S. 32. 34 Vgl. Fritz Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung, Wien München 1961, S. 268. 35 Vgl. H. Frazer, Condorcet on the Progress of the H u m a n Mind, London 1937, passim. 36 I m folgenden zit. nach der Ubersetzung von W. A l f f , F r a n k f u r t am M a i n 1963. 37 Herbert L ü t h y , Geschichte u n d Fortschritt, i n : Das Problem des F o r t schritts — heute, hrsg. von R. W. Meyer, Darmstadt 1969, S. 1 - 28; S. 13. 38 Ebd., S. 14. 39 K a r l L ö w i t h , Weltgeschichte u n d Heilsgeschehen, 4. A u f l . Stuttgart 1961, S. 88.

I. Zur Frage des Wahlsystems i n der Französischen Revolution

17

wollte, mehr abhängig sind, ihre Natur allein i m zeitlichen Bestand des Planeten haben, auf den die Natur uns hat angewiesen sein lassen" 40 . Materiell zu erfassen ist der Fortschritt i n der Evolution der menschlichen Einsichten, vor allem als Fortschritt in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften, die als Bewegungselement für den gesellschaftlichen Fortschritt w i r k e n 4 1 und so den „herrlichen Optimismus der Aufklärung": die „Gewißheit des Gleichschritts von wissenschaftlicher Erkenntnis und gesellschaftlicher Perfektion" 4 2 bezeugen. Der so verstandene Fortschritt reproduziert sich nicht innerhalb einer wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Aristokratie; indem er durch Aufklärung auch die große Masse der Bevölkerung ergreift, manifestiert er sich als Bewegung i n Richtung auf eine Egalisierung und Demokratisierung des politischen Systems. Fortschritt als größtes Glück der größten Zahl, als Eudämonismus, läßt keinen Gegensatz zwischen individueller und allgemeiner Wohlfahrt zu 4 3 ; das „Steigen des historischen Niveaus" (Ortega y Gasset) verwirklicht sich, wenn die Ursachen von Ungleichheit und Elend dadurch beseitigt werden, daß „man an die Stelle der komplizierten und traditionellen Gebräuche und Vorschriften . . . schlichte und einfache, aus der Vernunft abgeleitete Gesetze" 44 treten läßt. Die Steigerung des Glücks durch Vervollkommnung des Wissens, womit sich das natürliche Ziel des Fortschritts umschreiben läßt 4 5 , erschöpft sich nicht „ m i t der blinden Verfolgung des beschränkten Eigeninteresses i m heraufkommenden Bürgertum" 4 6 ; die „Idee des historischen Fortschritts aus dem freien Willen des vernünftig gewordenen Menschen" 47 bedeutet durch die Entwicklung der Produktionsmethoden auch die „Uberwindung der gesellschaftlichen Widersprüche" und die „moralische Läuterung" des Volkes 48 . Tugend, das Gott wohlgefällige Leben der Tradition 4 9 , hat mit der Entfremdung von der Transzendenz ihre ethische Verbindlichkeit verloren; sie nicht wieder, sondern neu zu gewinnen, das ist Ergebnis dieses Fortschritts: „ I I suffit

40

Esquisse, S. 29. Vgl. Gerhard Schulz, Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, i n : Ders., Das Zeitalter der Gesellschaft, München, 1969, S. 73. 42 L ü t h y , S. 11. 43 Vgl. die Einleitung von W. A l f f , S. 7. 44 Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, hrsg. von Jacob P. Mayer, Leck / Schleswig 1969, S. 124. 45 Vgl. L ö w i t h , S. 88. 46 W. Alff, S. 7. 47 Lüthy, S. 14. 48 Vgl. F. Jonas, Geschichte der Soziologie, 2. Bd., Reinbek 1968, S. 38. 49 Vgl. W i l h e l m Hennis, Z u m Problem der deutschen Staatsanschauung, in: Ders., Politik als praktische Wissenschaft, München 1968, S. 16 ff. 41

2 Misch

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A. Die Verhältniswahl bis zur M i t t e des 19. Jahrhunderts

d'éclairer les hommes pour les rendre aussitôt vertueux 5 0 ." Wie fern Condorcet dem Kulturpessimismus des Rousseau des ersten „Discours" m i t dessen Perhorreszierung des wissenschaftlichen Fortschritts i n der emporkommenden bürgerlichen Gesellschaft steht, spricht aus diesem Glauben an die unauflösbare Verknüpfung von Aufklärung und Moral: „Les progrès de la vertu ont toujours accompagné ceux de la lumière, comme ceux de la corruption en ont toujours annoncé ou suivi la décadence 61 ." Der Fortschritt mißt sich an den „Früchten, die das Individuum erntet" 5 2 , Freiheit und Gleichheit sind seine Emanationen und werden zur Bedingung einer rationalen Demokratie, deren Vernunftbegriff „nicht repressiv" 53 ist. Diese m i t der Vernunft untrennbar verbundene Emanzipation darf nicht außer acht gelassen werden, wenn Condorcets Begriff der Geschichte unter dem Gesichtspunkt ihrer Qualität als naturwissenschaftlicher Prozeß angesprochen wird. Die Konzeption der Historie als exakte Wissenschaft, die rationale Prognosen ermöglicht, erlaubt es nur dann, sie als „einen dem freien Willen entzogenen Naturprozeß zu analysieren, i n dem das Individuum nur als statistisches Massenpartikel an Resultaten m i t w i r k t , die es weder w i l l noch begreift" 5 4 , wenn die Erfahrung des depravierten Vernunftbegriffes der jakobinischen Schreckensherrschaft zum Maßstab genommen wird, der Condorcet selbst zum Opfer fiel. Die Relevanz des so gedeuteten Geschichtsprozesses für die praktische Politik w i r d sofort faßbar: es bedarf nur eines „Newton der Geschichte" 55 , u m die gesellschaftliche Entwicklung wissenschaftlich präzise prognostizieren zu können, und zwar nicht auf Grund von Gesetzen m i t einem Charakter sui generis, sondern durch die auf die Gesellschaft angewandten Naturgesetze. M i t dieser — dem Anspruch nach — exakten Rekonstruktion der historischen Entwicklung als Naturgesetzlichkeit und Extrapolation in die Zukunft mittels Wissenschaft von der Gesellschaft reiht sich Condorcet i n die Reihe jener neuzeitlichen Sozialphilosophen ein, deren Specificum „ i n der Kombination eines theoretischen Erkenntnisideals m i t poietischen Voraussetzungen" 5® besteht. 50 Zit. nach Franck Alengry, Condorcet. Guide de la Révolution Française, Paris 1903, S. 798. 51 Marquis de Condorcet, Oeuvres, Paris 1847-49 (Neudruck StuttgartB a d Cannstatt 1968), V I . Bd., S. 78. 52 W. A l f f , S. 7. 53 Ebd., S. 19. 54 L ü t h y , S. 14/15. 55 L ö w i t h , S. 89. 56 W i l h e l m Hennis, P o l i t i k u n d praktische Philosophie, Neuwied 1963, S. 47. Wenn Hannah Arendt, V i t a activa, München 1968, S. 288, den Aufstieg

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I n der Zusammenfassung der beiden Erkenntnisprinzipien Erfahrung und Vernunftschluß, und zwar i n ihrer besonderen Ausprägung durch den neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff, erweist sich Condorcet als einer der Begründer des französischen Positivismus. Deutlich sind bei i h m die Merkmale der neuen „positiven" Wissenschaft vorgezeichnet: trotz seiner Neigung zur Empirie die eindeutig stärkere Betonung des rationalistischen Elements, des Kalküls. Schon bei Condorcet prägt sich das Besondere des französischen Positivismus m i t seinen nachfolgenden Hauptvertretern Saint-Simon und Comte i m Unterschied zu der englischen Variante eines empirischen Positivismus aus: das wissenschaftliche Ziel liegt nicht i n der weitgehenden Beschränkung auf die A n sammlung einer Summe von Einzelbeobachtungen wie bei John Stuart Mill z. B., sondern erhält hier einen ausgesprochen konstruktivistischen Zug durch den Anspruch, mittels „beziehentlichen Denkens" zur Gewinnung von Gesetzen gelangen zu können 5 7 . Die entdeckten Gesetze münden nicht i n einem säkularisierten Geschichtsfatalismus; vielmehr w i r d „die als naturgesetzlich determinirten Vorgang gefaßte Geschichte der Intelligenz (benutzt zur) Rechtfertigung für die radicalen Organisationspläne (für) den systematischen Neubau der Gesellschaft" 58 . Ihre Ausformung bei Condorcet erhält die Ratio i m Kalkül, denn „der Glaube an die universelle Anwendbarkeit der mathematischwissenschaftlichen Rationalität ist das eigentliche Credo der Aufklärung" 5 9 . Die selbst schon klassisch gewordene Definition dieser wissenschaftlichen Methodik, von i h m „esprit classique" bezeichnet, gab ein Menschenalter später Hippolyte Taine: „Suivre en toute recherche avec toute confiance, sans réserve n i précaution, la méthode des mathématiciens; extraire, isoler quelques notions très simples et très générales; puis abandonner l'expérience, les comparer, les combiner, et, du des Homo Faber durch die E n t w i c k l u n g des modernen Wissenschaftsbegriffs allgemein damit kennzeichnet, „daß die neue Wissenschaft von Anfang an sich der N a t u r gegenüber gleichsam auf den Standpunkt dessen stellte, der sie erschuf, u n d zwar nicht aus praktischen Gründen technischer V e r w e r t barkeit, sondern ausschließlich aus dem »theoretischen' Grund, daß Erkenntnisgewißheit anders nicht mehr zu gewinnen sei", so muß dies U r t e i l — seine grundsätzliche Richtigkeit nicht n u r f ü r die Physik vorausgesetzt — bei Condorcets Übertragung der naturwissenschaftlichen Methode zur K o n s t r u k tion von Staat u n d Gesellschaft modifiziert werden. Sein „Esquisse" ist ein Beispiel dafür, welche Bedeutung er den „applications" seiner Methodik beimißt. 57 Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem i n der Philosophie u n d Wissenschaft der neueren Zeit, Stuttgart 1957, S. 14/15. 58 Georg Misch, Z u r Entstehung des französischen Positivismus, i n : Archiv f ü r Philosophie, I. Abt., Archiv f ü r Geschichte der Philosophie, N. F., X I V . Bd., 1914, S. 182. 59 L ü t h y , S. 9. 2»

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composé artificiel ainsi obtenu, déduire par le pur raisonnement toutes les conséquences qu'il renferme: tel est le procédé de l'esprit classique 60 ." Das Ziel, die Politik als ,,1'art social" zu einer „wirklichen Wissenschaft" zu erheben, die sich — wie die anderen Wissenschaften — auf „Erfahrung, Vernunftschlüssen und K a l k ü l gründet" 6 1 , führt Condorcet programmatisch aus i n seinem 1793 geschriebenen „Tableau Général de la Science qui a pour Objet l'Application du Calcul aux Sciences Politiques et Morales" 6 2 . Die Erfahrung, daß „fast alle Meinungen und Urteile, die unser Verhalten bestimmen, sich auf eine mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit stützen, die immer nach einem vagen und fast mechanischen Gefühl oder nach unsicheren und groben Ansichten abgeschätzt w i r d " 6 3 , läßt Condorcet den Plan einer „mathématique sociale" aufstellen. Das K a l k ü l erscheint i h m als Gipfel des Vernunftschlusses: „En se bornant aux raisonnements sans calculs, on s'expose à tomber dans des erreurs 6 4 ." Fortschritt w i r d nur gewährleistet — i m naturwissenschaftlichen wie i m gesellschaftlichen Bereich — durch die Anwendung strenger Methodik, die „die Menschen durch die Präzision der Ideen an die Vernunft kettet" 6 5 . Basis des gesellschaftswissenschaftlichen Kalküls sind auch für Condorcet (und hier zeigt sich deutlich der Einfluß der englischen Sensualisten) die durch Erfahrung gewonnenen Sozialdaten. Die Übertragung der Mathematik auf den gesellschaftlichen Bereich impliziert nicht wie bei Descartes die erkenntnistheoretisch primäre Methode der Deduktion; die gepriesene Ratio w i l l nicht Empirie ersetzen, sondern sie ist das Mittel, „die Erfahrung zu rationalisieren und zu führen" 6 6 . Die neue Wissenschaft von der Gesellschaft versteht sich nicht rein spekulativ-konstruktivistisch, sondern eine der Grundlagen der „mathématique sociale" ist die Kunst, aus den beobachteten Tatsachen zunächst die „faits généraux" und dann die „lois générales" zu formulieren 6 7 . Unter den anwendbaren und noch zu entwickelnden mathematischen Theorien führt Condorcet die insbesondere für die Ökonomie wichtige Theorie des wachsenden Kapitals, sodann die Kom60 H. Taine, Les Origines de la France Contemporaine, I. Bd., o. O. o. J., S. 315. 81 Zit. nach M. Leroy, Histoire des idées sociales en France, 1. Bd., Paris 1946, S. 27. 62 Oeuvres Bd. I , S. 539 ff. 63 Ebd., S. 541. 64 Ebd., S. 542. 05 Ebd., S. 543. 66 Alengry, S. 787. 67 Tableau . . . , S. 546 f.

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binationstheorie, die Theorie von der Deduktion allgemeiner Gesetze aus beobachteten Fakten, die Theorie der Gewinnung von Durchschnittswerten und schließlich vor allem die Wahrscheinlichkeitsrechnung an 6 8 . Anwendungsbereiche der „mathématique sociale" sind die Menschen und gesellschaftlichen Institutionen i m weitesten Sinne 6 9 . Sie berührt m i t ihrer neuartigen Präzision Einrichtungen wie die Lotterie, Schiffsversicherungen oder Rentenanstalten; ebenso erlaubt sie die genaue statistische Erfassung der Lebensdauer der Bürger i n ihrem Zusammenhang m i t geographisch-klimatischen Einflüssen sowie durch Beruf und Gewohnheiten bedingten und — als zweites wichtiges A n wendungsgebiet i n bezug auf den Menschen i m engeren Sinne als Staatsbürger — die wissenschaftliche Erörterung der Vor- und Nachteile eines Wahl Verfahrens. M i t Anwendung der zu jener Zeit i n blühender Entwicklung begriffenen Wahrscheinlichkeitstheorie auf das Wahlrecht markiert Condorcet den eigentlichen Beginn und ersten Höhepunkt der für die Geschichte der Verhältniswahl so charakteristischen theoretischen Betrachtungsweise des Wahlrechts. Die erste selbständige, dem Thema Wahlrecht gewidmete Arbeit mit dem Titel „Essai de l'Analyse de la Probabilité des Décisions rendues à la Pluralité des V o i x " von 1785 drückt bereits diese wissenschaftliche Zielsetzung klar aus. Obwohl politisch zu jener Zeit noch Gegner des allgemeinen und gleichen Wahlrechts — als Anhänger der territorialen Staatstheorie billigte er volles Bürgerrecht und damit Wahlrecht nur den Grundbesitzern zu 7 0 — arbeitet Condorcet ein kompliziertes Wahlsystem aus, dem eine ähnliche Problemansicht wie schon 15 Jahre vorher bei de Borda zugrundeliegt 71 . Ausgehend von der K r i t i k an der relativen Mehrheitswahl skizziert Condorcet ein Wahlverfahren, das dem Wähler eine ausführliche Willensäußerung gestattet, ohne die offenkundigsten Mängel seines Vorgängers zu übernehmen. 68

Ebd., S. 549. Tableau . . . , S. 543. 70 Vgl. Condorcet, Sur les assemblées provinciales, 1788, i n : Oeuvres Bd. V I I I , S. 127 ff. 71 Unter den vielen Mathematikern, die sich i m Laufe von 200 Jahren m i t der Ausarbeitung v o n Wahlsystemen beschäftigt haben, w a r de Borda w o h l der erste. Als M i t g l i e d der Académie Royale stellte er 1770 den Antrag, f ü r die Wahlen i n der Akademie die relative Mehrheitswahl durch ein differenzierteres Wahlverfahren zu ersetzen, das dem W i l l e n der Wähler besser entsprechen sollte. Der Ansatz de Bordas, dem Wähler zu ermöglichen, ausführlicher u n d präziser seinen W i l l e n bei einer W a h l oder A b s t i m m u n g (zwischen denen nach de Borda kein prinzipieller Unterschied besteht) zu äußern, ließ i h n den Zweck der W a h l als A u s w a h l zwischen Kandidaten — w i e bei relativer Mehrheitswahl — aus den Augen verlieren. Stattdessen konzipierte er ein 69

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Tertium comparationis der Wahlsysteme für Condorcet ist der Grad an Richtigkeit und Wahrheit der durch sie vermittelten individuellen Entscheidungen. Er teilt nicht die Rousseausche Überzeugung der Identität von Vernunft und volonté générale; für i h n ist der Grad der zu erreichenden Wahrheit immer ein relativer. Der cartesianische Glaube an allumfassende Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit modifiziert sich bei Condorcet — zumindest auf dem Gebiet des Politischen — unter dem Einfluß des Humeschen Skeptizismus zu einem Probabilismus, dem als wahr, und das heißt am wahrscheinlichsten, das gilt, was der Meinung der größeren Zahl entspricht 72 . Die Logik dieser Prämissen verlangt, daß das Wahlsystem den positiven Willen der Mehrheit klar erkennen läßt, daß also bei mehreren Kandidaten m i t Hilfe einer absoluten Mehrheit der Abstimmenden nur ein dem A m t würdiger Bewerber gewählt wird. Das Wahlsystem, verstanden als Annäherungsverfahren an die Wahrheit, die abzulesen ist aus dem Willen der Mehrheit, bedient sich als Stütze deutlich aufklärerischer Ideologie, postuliert sie doch für jeden Abstimmenden die Gleichheit der Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit seiner Entscheidung, deren Grad zugleich mindestens über 50 % betragen muß: nur so läßt sich eine Korrelation zwischen dem Grad der Mehrheit und dem der Annäherung an die intendierte Wahrheit begründen 73 .

Verfahren, das dem Wähler ermöglichen sollte, die Wertschätzung der einzelnen Kandidaten durch die Reihenfolge auf dem Wahlzettel zu kennzeichnen. B e i einer Zahl von drei Kandidaten z.B. w i r d jeder Name auf jedem Wahlzettel m i t dem Faktor 3 bis 1 gemäß der v o m Wähler bestimmten Reihenfolge multipliziert. Die erhaltenen Werte aller Wahlzettel werden addiert; als gewählt gilt der Kandidat m i t der höchsten Summe. De Bordas Absicht, den Wählern m i t seinem Wahlrecht eine ausführlichere Meinungsäußerung zu ermöglichen, scheiterte, w e i l er die Abstände zwischen den Kandidaten als gleich groß annimmt, indem er die M u l t i p l i k a t o r e n linear von Platz zu Platz verkleinert u n d nicht den Unterschied zur Disposition des Wählers stellt, eine Möglichkeit, die natürlich f ü r die Praxis sein Verfahren ad absurdum geführt hätte. K a n n de Borda seinen eigenen Anspruch an das Wahlsystem durch w i l l kürliche Setzung schon theoretisch n u r unzureichend erfüllen, so k a n n sein Verfahren unter praktisch-politischem Aspekt erst recht nicht befriedigen, w i e an Hand des von i h m selbst angegebenen Beispiels deutlich w i r d . Gew ä h l t w i r d darin nicht w i e bei relativer Mehrheitswahl der Kandidat, der am häufigsten als erster genannt wurde, sondern derjenige m i t den meisten zweiten Plätzen. Z u r Garantie der W a h l w i r d somit nicht die positive U n t e r stützung durch eine Mehrheit — sei es eine absolute oder relative —, sondern v o r allem die Indifferenz der Wähler gegenüber einem Kandidaten, d . h . seine Plazierung i n der Mitte. Vgl. Tecklenburg, S. 47ff.; Braunias, I I . Bd., S. 205 f. 72 73

Vgl. Alengry, S. 426. Vgl. Tecklenburg, S. 51 f.

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Hier ist nicht der Ort, das Wahlsystem i m einzelnen ausführlich darzustellen 74 . Wenn Condorcet auch den groben Fehler de Bordas vermeidet, die Beliebtheitsgrade der Kandidaten linear durch Faktoren zu bezeichnen, so ist er doch i m Ergebnis nicht vor einem ähnlichen I r r t u m gefeit. Das Wahlsystem veranlaßt den Bürger bei der Wahl eines Abgeordneten aus mehreren Kandidaten, jeweils zwei nebeneinanderzustellen, womit das Wahlergebnis aus einem sehr komplizierten Vergleich aller Kandidaten untereinander durch die Wählerschaft hervorgeht. Wiederum ist für das Resultat nicht i n erster Linie der positiv geäußerte Wille einer Mehrheit, sondern sind i n stärkerem Maße die sekundären und tertiären Stimmen ausschlaggebend. Was jedoch bei de Borda als Ergebnis einer ungenügend durchgearbeiteten Lösung angesehen werden muß, ist für Condorcet gerade positiv die Gelegenheit, unerwünschte persönliche Sympathien oder Antipathien als Motiv der Stimmabgabe auszuschalten 75 . b) Das Wahlrecht als Teil der verfassungspolitischen Vorstellungen Condorcets Den Anstoß zur Beschäftigung m i t politischen Problemen unter den neuen wissenschaftlichen Fragestellungen geben nicht i n erster Linie spekulativ vorkonzipierte Theoreme, wie es sich beispielsweise i n starkem Maße für den Hauptvertreter des französischen Positivismus i m 19. Jahrhundert, Auguste Comte, nachweisen ließe; als homme politique, als aktiv Teilnehmender an den Ereignissen der Revolution 7 6 , bezieht Condorcet die Anregungen zu politischen Reflexionen aus der politischen Praxis, „denn vor dem Redigieren und Formulieren hat er seine Theorien selbst gelebt" 7 7 . Die Ausgestaltung der Verfassung und damit auch des Wahlrechts sind bei Condorcet einer Entwicklung unterworfen, deren innere Bezugspunkte die konstitutionellen Stadien Frankreichs sind: die für ihn unbefriedigenden Zustände des Ancien Régime, die Nationalversammlung und schließlich die republikanische Verfassung von 1793. Erst vor diesem Hintergrund w i r d die Relevanz des Wahlrechtsproblems für Condorcet deutlich und der wissenschaftliche Aufwand verständlich, m i t dem er an seine Lösung herangeht. Ein vernünftig gestaltetes Wahlrecht ist das Band, m i t dem die Aporie von Volkssouveränität einerseits und Notwendigkeit einer Regierung andererseits überbrückt werden kann. 74

Vgl. die Zusammenfassung ebd., S. 53 ff. Vgl. Sur la Forme des Elections, 1789, Oeuvres Bd. I X , S. 317. 76 Außer den zitierten Werken vgl. dazu besonders L. Cahen, Condorcet et la Révolution Française, Paris 1904. 77 Alengry, S. 799. 75

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Die endgültige Gestalt seiner Verfassungsprinzipien darf man i n dem Verfassungsentwurf von 1793 sehen, Arbeit einer Kommission, der neben dem Girondisten Condorcet auch Sieyès angehörte. Ohne i m einzelnen i n der Konstruktion festgelegt zu sein — nur die Staatsform der Republik und das Verfassungsreferendum galten als sakrosankt — verstanden die Kommissionsmitglieder und natürlich allen voran Condorcet den vorgelegten Entwurf als das lediglich extrapolierte Produkt einfacher Prinzipien. Nicht Anlehnung an historische Beispiele waren vorbildlich, seine Grundlage lag i n der Vernunft selbst: „Jamais un peuple plus dégagé de tous les préjugés, plus affranchi du joug des anciennes institutions, n'a offert plus de facilité pour ne suivre dans la composition de ses lois, que les principes généraux consacrés par la raison 78 ." Es kam nur darauf an, die Verfassung auf bestimmten einfachen Prinzipien zu errichten, damit sich das staatliche und gesellschaftliche Verhalten selbst als Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit manifestiert. Basis jedes Verfassungsartikels ist die Volkssouveränität, nicht die virtuelle der Verfassung von 1791, sondern eine m i t konkreten Vollmachten ausgestattete: die, die Verfassung entweder i n toto zu akzeptieren oder abzulehnen 79 , sowie die der direkten Beteiligung der Bürgerversammlungen, der assemblées primaires, an der Gesetzgebung 80 . Die starke Betonung des Prinzips der Volkssouveränität m i t der Möglichkeit, direkt i n die staatlichen Organe hineinzuwirken, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß der eigentliche Schwerpunkt und das Zent r u m der Macht i n der Legislative liegen. Condorcet fügt sich damit ohne Bruch i n die Reihen jener französischen Verfassungstheoretiker ein, denen dies Land seine spezifische, für den Kontinent z. T. vorbildliche Parlamentarismus- und Repräsentationsauffassung verdankt: die absolute Präponderanz der Legislative, mehr (1793) oder weniger bzw. überhaupt nicht (1791) durch radikaldemokratische Elemente modifiziert, neben der die Regierung i m engeren Sinne als bloße Exekutive rangiert. M i t den Worten Condorcets: „Ainsi, le pouvoir de faire des lois, et celui de déterminer ces mesures d'administration générale, . . . seront remis à une assemblée nationale, et les autres pouvoirs ne seront chargés que d'exécuter les lois les résolutions émanées d'elle 8 1 ." Die übermächtige Stellung, die die Legislative innerhalb der obersten Staatsorgane einnimmt, bestimmt auch Condorcets Stellung zur Frage des imperativen Mandats. Hatte sich Condorcet i n bezug auf die Quelle und Legitimation aller staatlichen Machtausübung deutlich der Position 78 79 80 81

Oeuvres Bd. X I I , S. 335. Ebd., S. 345. Ebd., S. 351 ff. Oeuvres Bd. X I I , S. 356.

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Rousseaus angenähert, so umgeht er die Konsequenz der Herrschaft der volonté générale mittels Referendum durch die begriffliche Einführung der Unterscheidung von „démocraties immédiates" und „démocraties représentatives" 82 . Ausdehnung und Bevölkerungszahl eines Landes wie Frankreich verbieten die Anwendung des Volksentscheids bei jeder Frage. Die Volkssouveränität erschöpft sich m i t dem Votum über die Verfassung und einer komplizierten und daher sicher nur schwer praktizierbaren M i t w i r k u n g bei größeren Gesetzesvorhaben sowie der Wahl der Abgeordneten für die Nationalversammlung, auf die das Merkmal für Souveränität, die Gesetzgebungskompetenz, faktisch weitgehend übertragen wird. Die Stellung der Gewählten ähnelt dementsprechend i n starkem Maße derjenigen der Abgeordneten nach der Verfassung von 1791. Nicht die rousseauistische Auffassung als Willensübermittler, als „commissaires", sondern jene Theorie der Repräsentation steht Pate bei der Skizzierung ihrer Stellung. „Mandataire du peuple, je ferai que je verrai conforme à ses vrais intérêts; i l m'a envoyé non pour soutenir ses opinions, mais pour exprimer les miennes, ce n'est point à mon zèle seul, mais à mes lumières qu'ils s'est confié et l'indépendence absolue de mes opinions est une de mes devoirs envers l u i 8 8 . " Vermittelndes Glied zwischen legitimierender Volkssouveränität und delegierter Gewalt ist das Wahlrecht. Es gründet sich nicht durch seinen funktionalen Charakter als Regelung zum Erwerb von Herrschaftspositionen, sondern auf dem Naturrecht und ist damit auch allen Bürgern gleichermaßen eigen. Das Prinzip der Gleichheit ist nicht mehr wie bei Mirabeau dem Einfluß der Gruppeninteressen zugeordnet, sondern rationalisiert und mechanisiert als Gleichheit der Zahl. I n seinem Verfassungsentwurf schlägt Condorcet zwei Wahlverfahren für die Besetzung der verschiedenen Gremien vor: Mehrheitswahl i n Mehrmann-Wahlkreisen m i t Eventualstimmgebung für die Nationalversammlung und eine Vorform der Verhältniswahl, die beschränkte Stimmgebung m i t einfacher Mehrheit, für die Geschworenen und die Vorstände der Primärversammlungen i n den Urwahlbezirken. Zwar versucht Condorcet m i t dem System der Eventualstimmgebung die Ungereimtheiten und die Kompliziertheit seines früheren Verfahrens von 1785 zu vermeiden; er ist jedoch weit davon entfernt, aus dessen Nichtpraktikabilität auch Rückschlüsse für die Gültigkeit der theoretischen Prämissen zu ziehen, denn nach wie vor gilt für ihn, daß „man auf diesem Gebiet keine nützlichen Schritte unternehmen kann, wenn man nicht die metaphysische Analyse, die moralischen Beobach-

82 83

Ebd., Bd. I X , S. 429 f. 1792, zitiert nach Alengry, S. 490.

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tungen, die Resultate der Erfahrung auf Kombinatorik (Calcul des combinaisons) und Wahrscheinlichkeitstheorie stützt" 8 4 . Wenn Condorcet für die Wahl zur Nationalversammlung ein wiederum recht kompliziertes Mehrheitswahlsystem m i t Eventualstimmgebung vorsieht, die später i n Verbindung m i t dem „single transferable vote" des Engländers Thomas Hare zur spezifisch angelsächsischen Variante der Verhältniswahl wird, so muß dies i m Zusammenhang mit seiner Auffassung von der Funktion der Wahl i n der „Démocratie représentative" verstanden werden. Die Stellung der Gewählten, die nach der klassischen Theorie „als Repräsentanten der politisch-ideellen Volkseinheit" 8 5 umschrieben worden ist, beschränkt die Aufgabe des Wählens darauf, die zu vergebenden Abgeordnetensitze m i t den w ü r digsten Männern zu besetzen 86 . Jedoch nicht nur die Kompliziertheit seines früheren Verfahrens, auch die Einsicht, diesem Zweck der Wahl damit nicht gerecht zu werden, der m i t hinreichender Wahrscheinlichkeit doch nur über den posit i v erkennbaren Willen einer absoluten Mehrheit zu erreichen ist 8 7 , veranlassen Condorcet ein System vorzuschlagen, dessen Grundgedanken er bereits 1789 i n seinem Aufsatz „Sur la Forme des Elections" publiziert hatte. Es sieht zwei Wahlgänge vor, wobei i m ersten nur die Kandidaten nominiert werden, unter denen dann i m zweiten nach absoluter Mehrheitswahl m i t Eventualstimmgebung die Mandate vergeben werden. Die Notwendigkeit des ersten Wahlganges ist Folge des Demokratieverständnisses, das sich auf einen alle Partikularinteressen verurteilenden atomistischen Souveränitätsbegriff gründet 8 8 . Er umfaßt so die „volle Wahlgewalt (mit) Vorschlag, Auswahl und Entscheidung" 89 . M i t dieser Konstruktion trägt Condorcet der historischen Tatsache des Nichtbestehens von Parteien als „Vorschlagskörperschaften" (Sternberger) Rechnung; zugleich aber erweist sich Condorcet selbst als Anhänger jenes ideologischen Demokratiebegriffes. Die Technik der Eventualstimmgebung ist für i h n das Mittel, m i t hinreichender Sicherheit die Verteilung der zu vergebenden Sitze m i t absoluter Mehrheit der Stimmen zu erreichen, ohne einen dritten Wahlgang als Stichentscheid notwendig zu machen. Der Grund dafür liegt nicht i n erster Linie i n der 84

Sur les Elections, 1793, i n : Oeuvres Bd. X I I , S. 639. Gerhard Leibholz, Das Wesen der Repräsentation u n d der Gestaltwandel der Demokratie i m 20. Jahrhundert, 3. Aufl. B e r l i n 1966, S. 52. 86 Sur la Forme des Elections, Oeuvres Bd. 9, S. 287. 87 Oeuvres Bd. X I I , S. 395. 88 Vgl. dazu E. v. Aster, „ Z u r Geschichte der demokratischen Idee i n der Neuzeit", i n : Die Gesellschaft, 1. Bd. 1925, S. 117 ff. 89 Dolf Sternberger, Über Vorschlag u n d Wahl, i n : K . Kaufmann, H. K o h l , P. Molt, Kandidaturen zum Bundestag, K ö l n - B e r l i n 1961, S. 48. 85

I. Zur Frage des Wahlsystems i n der Französischen Revolution

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angestrebten Vereinfachung der Wahl; seine (Condorcets) Abneigung gegen das Geltendmachen von Gruppeninteressen läßt i h n i n den zwischen beiden Wahlgängen m i t Sicherheit zu erwartenden Personaldiskussionen und Beeinflussungsversuchen nicht einen jeder Demokratie inhärenten und legitimen und notwendigen ,Willensbildungsprozeß 4 erblicken, sondern nur „unlautere Mittel, Ränke und Intrigen" 9 0 . Die Besetzung der wichtigen politischen Ämter i n der repräsentativen Demokratie m i t plebiszitärer Komponente durch das skizzierte Mehrheitswahlrecht m i t Eventualstimmgebung erscheint für Condorcet als eine m i t dem Verfassungssystem i m ganzen durchaus i n Einklang zu bringende Lösung. Nur für die Wahl der Geschworenen und der Vorstände i n den Primärversammlungen der Stimmbürger geht Condorcet über die Grenzen dieses Wahlsystems hinaus, denn der Gedanke der beschränkten Stimmgebung muß als echte Möglichkeit, das sonst sakrosankte Mehrheitsprinzip durch Minderheitenschutz zu ersetzen, angesehen werden. Dieser resultiert daraus, daß jeder Wähler nicht soviel Stimmen hat, als Sitze zu vergeben sind, er also bei z. B. drei zu besetzenden Mandaten nur einen Bewerber wählen darf. Deutlich ist hier der Weg zur Verhältniswahl beschritten, wenn auch einer ihrer späteren Befürworter sie allein i n ihrer entwickelten Form „als rationales System" der Minderheiten Vertretung anerkennen wollte 9 1 . M i t Condorcet setzt, wie zu zeigen versucht wurde, die eigentlich theoretische Reflexion über das Wahlsystem ein. Dessen historisch bedingte Ausformungen werden einer radikalen K r i t i k unterworfen, die jedoch ihre wissenschaftlichen Maßstäbe durchaus nicht ohne Bezug zum Verfassungssystem als absolut setzt. Trotz postulierten Rigorismus des theoretischen Ansatzes gewinnt für Condorcet zum Schluß die praktische Bewährung seines Wahlsystems zunehmende Bedeutung. Ergebnis der Bemühungen Condorcets ist kein Verhältniswahlsystem i m modernen Sinn. Wohl entwickelt er Techniken wie die der Eventualstimmgebung, die sich später m i t Varianten der Verhältniswahl verbinden, und schlägt für die Besetzung von weniger bedeutenden Ä m tern die beschränkte Stimmgebung vor, i m ganzen gesehen bleibt Condorcet aber m i t seinen Überlegungen innerhalb der Grenzen der absoluten Mehrheitswahl. Ausschlaggebend dafür sind nicht wissenschaftliche Prämissen, sondern die Annahme des gegenseitigen theoretischen Sichausschließens von repräsentativer Demokratie und legitimer Vertretung von Gruppeninteressen. Die ahistorische, wissenschaftliche Erörterung von Wahlsystemen kann erst dann ein echtes Verhältnis90

Oeuvres Bd. V I I I , S. 201. Ernst Cahn, Das Verhältniswahlsystem i n den modernen Kulturstaaten, F r a n k f u r t 1909, S. 13. 91

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Wahlsystem produzieren, als sie m i t der ideologisch nicht mehr zu verdrängenden, empirisch belegbaren Aufgliederung der Gesellschaft zusammenfällt. II. Die ersten Systeme der Verhältniswahl im 19. Jahrhundert 1. Das Listcnwahlsystcm Victor Considérants

Der Gedanke der Verhältniswahl erfährt i m 19. Jahrhundert ungeahnte Verbreitung, nicht nur i n Europa, sondern auch i n den USA 1 . Die Diskussion u m das richtige Wahlverfahren erlangt einen Grad an öffentlichem Interesse, der angesichts seiner zweifellosen Zweitrangigkeit gegenüber den großen, die Epoche beherrschenden sozialen und verfassungspolitischen Streitfragen zwischen Absolutismus und Liberalismus, Konstitutionalismus und Volkssouveränität, erstaunlich w i r k t . Die teilweise m i t missionarischem Eifer verfochtenen neuen Wahltechniken werden Bestandteil von Forderungen aus allen politischen Lagern; i n mehreren Ländern kommt es zur Gründung von Vereinen, deren einziges Ziel die Propagierung der Verhältniswahl ist. Der Grund dieses manchmal fast den Charakter einer Bewegung annehmenden Interesses läßt sich unschwer erkennen: kein anderer Bestandteil einer Staatsverfassung läßt sich so „wissenschaftlich" erörtern und begründen wie das anzuwendende Wahlverfahren. Seine Ausgestaltung steht der Anwendung mathematischer Methoden offen (Männer wie Andrä, d'Hondt und Hagenbach-Bischoff legen m i t ihrem Beruf Zeugnis dafür ab), und die oft naive Wissenschaftsgläubigkeit weiter Kreise, bedingt durch den spektakulären Aufschwung der Naturwissenschaften, honorierte die spezifisch theoretische Konstruktion des Wahlsystems. Diese Denkweise, die sich später vielfach i n popularisierter und vulgarisierter Form reproduziert, hat — wie dargestellt worden ist — i n der Geschichte der Wahlrechtstheorien Condorcet zu ihrem Begründer. Einen Neuanstoß erhält die Verhältniswahl durch den Schüler Fouriers, Victor Considérant I m Gegensatz zu Condorcet, der i n sozialdemokratischen Zeitschriftenartikeln nur summarisch als Vorläufer der Verhältniswahl aufgezählt w i r d 2 , ist mit Considérant der direkte Bezugspunkt zur deutschen Sozialdemokratie hergestellt, wissen w i r doch von einem der maßgeblichen Protagonisten für die Aufnahme der Verhältniswahl als sozialdemokratischen Programmpunkt, Wilhelm Liebknecht,

1 Vgl. für die U S A A l f r e d de Grazia, Public and Republic, New Y o r k 1951, S. 184 ff. 2 Vgl. Carl Lübeck, S. 148; Advocatus, S. 415

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daß er 1849 nach der Lektüre Considérants Anhänger dieses Wahlsystems wurde 8 . Auch wenn die Bemühungen Condorcets nicht erwähnt werden, ist Considérant geprägt durch jenen französischen Szientismus, war er doch genau wie Saint-Simon und Comte Schüler der Ecole Polytechnique, der berühmten zu Anfang des Jahrhunderts i m Condorcetschen Geiste gegründeten Lehranstalt 4 . Dennoch steht die Wahlrechtsproblematik bei Considérant i n einem ganz neuen Kontext. Der Maßstab Condorcets für die Bewertung eines Wahlsystems bildete der Grad an Wahrscheinlichkeit, m i t dem die Wahl einer geeigneten Persönlichkeit erreicht werden konnte. Staatstheoretische Grundlage war dabei der mit Volkssouveränität verbrämte ideologische Repräsentationsbegriff des Abbé Sieyès und die damit verbundene Verwerfung der ,pouvoirs intermédiaires' als der volonté générale entgegenstehend. Er entsprach überwiegend jenem von Leibholz stilisierten (wenn auch demokratisierten) Begriff des „klassischen repräsentativen Parlamentarismus, der — unbeschadet der sich bekämpfenden, teils mehr fortschrittlichen, teils mehr konservativ eingestellten Gruppen — doch immer eine gesellschaftlich nicht gespaltene Grundlage besaß" 5 . Die Ausweitung des Wahlrechts i m Sinne der Volkssouveränität läßt selbstverständlich die stärkere soziale Differenziertheit der Wählerschaft gegenüber dem bürgerlichen auf Wahlzensus begründeten Parlamentarismus nicht übersehen; dennoch gewinnt sie zumindest theoretisch keine Bedeutung für die Legitimation des Parlaments. Die Gironde folgt der Sieyèsschen Parlamentsideologie, wonach der Abgeordnete als Repräsentant des ganzen Volkes fungiert, die Jakobiner als Vertreter des extremen Egalitätsprinzips gebrauchen die Verfassung angesichts der „vermeinten Unnatur der gegebenen Ungleichheit", u m „jedes Auftauchen einer Verschiedenheit so viel als irgend möglich (zu) paralysieren" 6 . Jetzt aber w i r d das Verhältniswahlsystem zum Vehikel gegen diese A r t der Repräsentativverfassung. Deren theoretische Begründung, „die als geistige Einheit existentiell vorhandene konkrete Volksgemeinschaft i n der Realität empirisch greifbar zu machen, die Herrschaft des Volkes als Einheit über das Volk als Vielheit sicherzustellen, das Volk zur 5

Vgl. W i l h e l m Liebknecht, Proportionalgesetzgebung, i n : NZ, 16. Jg., Bd. 1897/98, S. 179. 4 Vgl. F. A. Hayek, Mißbrauch u n d Verfall der Vernunft F r a n k f u r t / M. 1959, S. 155. 5 Gerhard Leibholz, Grundlagen des Wahlrechts, i n : Strukturwandlungen der modernen Demokratie, Göttingen 1968, S. 27. 6 Lorenz v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung i n Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 1. Bd., Neudruck Darmstadt 1959, S. 278 f.

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staatlichen Einheit über das Volk als Vielheit sicherzustellen, das Volk zur staatlichen Einheit zu integrieren" 7 , verkehrt sich angesichts der Zersplitterung der Gesellschaft zum Argument gegen eben diese Repräsentation. Ihre bestehende Gestalt i n der Verbindung m i t Mehrheitswahl und Zensus entlarven ihren Anspruch, „die Interessen des gesamten Volkes, des ,Allgemeinwohls' (wahrzunehmen) . . n i c h t aber bestimmte Privilegien und Rechte einzelner Bevölkerungsgruppen und deren partikulare Interessen geltend" 8 zu machen, als bloße Verschleierung, hinter der sich die ungebrochene Herrschaft bestimmter Klassen und Gruppen verbirgt. M i t dem Ziel einer „wahren, aufrechten und legitimen Nationalrepräsentation" 9 verbindet sich für Considérant die Konstruktion einer Verfassung, i n der nicht mehr die Repräsentanten die Herrschaft lediglich „ i m Namen des Volkes, jedoch ohne dessen bindenden A u f t r a g " 1 0 ausüben, sondern i n der vielmehr mittels Wahl als statistischer Bestandsaufnahme das Parlament m i t seinen Entscheidungen nur „Denken und Wollen aller Bürger übersetzen würde" 1 1 . „Repräsentation als Wesen der Staatlichkeit" 1 * soll — zumal i n einem Gemeinwesen, das i n Größe und Einwohnerzahl eine bestimmte Grenze überschritten hat, — zwar nicht aufgehoben werden; sie verändert sich aber i n ihrem theoretischen Stellenwert entscheidend, wenn eine Versammlung, die — idealtypisch — i n freier und öffentlicher Diskussion den Gemeinwillen formuliert, zum Surrogat direkter Demokratie degeneriert. Repräsentation reduziert sich auf „Repräsentativtechnik" 13 , die ihren Charakter als lediglich zweitbeste Lösung nicht verleugnen kann. Die Position der Abgeordneten, für die Burke ausdrücklich i n Anspruch genommen hatte, daß sie nicht „einen Gesandtenkongreß differenzierter und feindlicher Interessen", sondern eine „beratende (deliberative) Versammlung einer Nation m i t einem Interesse, nämlich dem des Ganzen" 14 bilden, gerät mittels eines extensiv interpretierten Begriffs der Volkssouveränität i n die Nähe ihrer Charakterisierung durch Rousseau: „(Die Staatshoheit) besteht wesentlich i m allgemeinen Willen, und der Wille läßt 7

Leibholz, Repräsentation, S. 57. Ebd., S. 53. 9 Victor Considérant, L a Sincérité du Gouvernement Représentatif ou Exposition de l'Election Véridique, Genf 1846 (Neudruck Zürich 1892), S. 2. 10 Fraenkel, Die repräsentative u n d die plebiszitäre Komponente . . . , S. 81. 11 Considérant, S. 9. 12 Manfred Hättich, Demokratie als Herrschaftsordnung, K ö l n u n d Opladen 1967, S. 48. 18 K a r l Löwenstein, Verfassungslehre, Tübingen 1959, S. 37. 14 Edmund Burke, Speech to the Electors of Bristol, zit. nach Francis Canavon, Edmund Burke, i n : Strauss / Cropsey, History of Political Philosophy, Chikago 1963, S. 614. 8

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sich nicht vertreten . . . Die Abgeordneten des Volkes sind also nicht seine Vertreter und können es gar nicht sein, sie sind nur seine Bevollmächtigten 15 ." Unter der Hand ist aus der bekundeten Absicht, die Repräsentation gerechter zu gestalten, die Beseitigung ihrer bis dahin gültigen Prinzipien geworden, und es erstaunt nicht, daß Considérant nur wenige Jahre später unter Einfluß Moritz Rittinghausens ein System der direkten Demokratie propagiert hat 1 6 . Hier w i r d ganz i m Sinne Rousseaus — als Leitgedanke w i r d der Schrift das eben angeführte Zitat aus dem Contrat Social vorangesetzt — der nach wie vor als notwendig angesehenen Zentralinstanz nur der Status der Geschäftsführung (gérance) und Kommission der Bürgerversammlung zugestanden 17 , wodurch die Volkssouveränität nicht tangiert werden darf: „Der freie Wille, absolut frei, absolut unabhängig, Autonomie, Selbstherrschaft des Volkes, das niemandem als sich selbst gehorcht, oder anders ausgedrückt: niemandem gehorcht es, wenn es nach seinem W i l len verfährt 1 8 ." I n Kenntnis dieser Radikalisierung des Souveränitätsbegriffs, wenige Monate vor dem Staatsstreich Louis Napoléons formuliert, läßt sich der Zusammenhang von Verhältniswahlsystem und Repräsentationsbegriff bei Considérant analysieren, wie er sich i n dem Vorschlag an den Genfer Verfassungsrat aus dem Jahre 1846 findet. Ausgangspunkt für die Überlegungen Considérants zum Wahlrecht ist die Diskrepanz von mechanischer Anwendung des Majoritätsprinzips und Zersplitterung des Wahlkörpers. Die Mehrheitswahl i n Einzelwahlkreisen widerspricht einer gerechten Repräsentation aller relevanten „opinions", indem sie den Wähler bei seiner Stimmabgabe „wie den Bauer der Feudalzeit" an die „Scholle" seines Wahlkreises kettet 1 9 . Die Argumentation Bagehots gegen Mill 20 20 Jahre später von der Gegenseite her begrifflich antizipierend, führt Considérant als die den beiden verschiedenen Wahlsystemen eigentlich zugrundeliegenden Prinzipien die Konstituierung der Wahlkörper an: freie Vereinigung der Wähler (bei Bagehot: voluntary constituency) ohne Rücksicht auf Wahlkreisgrenzen bei Verhältniswahl und zusammengezwungene Wählerschaft (compulsory constituency) bei Mehrheitswahl. Historisch steht der Vorschlag Considérants i m Zusammenhang m i t einer politischen Kursschwenkung der Anhänger Fouriers, m i t der eine erhöhte Aufmerksamkeit für den parlamen-

15 10 17 18 19 20

J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1963, S. 139. L a Solution ou L e Gouvernement Direct D u Peuple, Paris 1851. Vgl. ebd., S. 51. Ebd., S. 12. L a Sincérité . . . , S. 3. Walter Bagehot, The English Constitution, London 1964, S. 164 ff.

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tarischen Betrieb verbunden war, nachdem ursprünglich bei der Abschätzung der Realisierungschancen für die intendierten sozialen Maßnahmen von der politischen Struktur weitgehend abstrahiert worden w a r 2 1 . So geht denn auch Considérant bei der Charakterisierung der die Wählerschaft ausmachenden verschiedenen „opinions" von den politischen und sozialen Strömungen seiner Zeit aus: Radikale; Liberale; gemäßigte und extreme Konservative; radikale, liberale und konservative Katholiken; Sozialisten 22 . Diese „opinions" werden nicht begriffen als ad-hoc-Gruppierungen, sondern sind für Considérant das Ergebnis der religiösen und sozialen Vielfalt der Gesellschaft. Die Übernahme der Volkssouveränität Rousseaus erfolgt also nicht ohne bedeutsame Modifikation: erfordert für letzteren die Anwendung der volonté générale die weitestgehende Zurückdrängung aller gesellschaftlichen Partikularvereinigungen wie Parteien und Verbände 23 , erfüllt sich für Considérant gerade die Souveränität des Wählers erst dann, wenn er sich von Territorialschranken unabhängig i n freien Gruppierungen m i t anderen Wählern verbinden kann 2 4 . Das gewählte Parlament erscheint somit als bloß sozialtechnisch nötige maßstabsgetreue Darstellung des Wahlkörpers. Ein Wahlkampf erübrigt sich i m Grunde (als Überwindung der Feindschaft zwischen den Parteien ausdrücklich von Considérant hervorgehoben), beinhaltet doch der eigentlich bedeutsame Teil der Wahl, der über die Aufteilung der Mandate auf die verschiedenen „opinions" entscheidet, die bloße Registrierung der Wähler für eine von ihnen. Erst wenn hierdurch geklärt ist, wieviel Mandate auf jede Partei entfallen, kommt es zur Wahl zwischen den Kandidaten: dem Prinzip entsprechend findet sie nur innerhalb der Gruppierungen statt, eine zuweilen auch i n der späteren Diskussion erörterte Möglichkeit, der i n der Tat die „theoretische" 21 Die frühen Sozialisten (Dokumente der Weltrevolution Bd. 1) hrsg. von Fritz K o o l u. Werner Krause, Freiburg u. Ölten 1967, S. 197. 22 Vgl. Considérant, L a Sincérité . . . , S. 10 f. 28 Vgl. Contrat Social, 2. Buch, 3. Kap. — Diese Partei- u n d Interessenverbandsphobie ist kürzlich von M. L. Goldschmidt, Rousseau on voluntary associations, i n : Nomos, Jg. 1969, i n Zweifel gezogen. Der Aufsatz k u l m i n i e r t i n dem U r t e i l : „ I n der Praxis stimmt er (Rousseau) m i t Madison überein." (S. 133). M. E. w i r d hier unzulässig die i m „Federalist" gewiß bestehende A b lehnung von Parteiorganisationen, jedoch verbunden m i t der nicht geleugneten Aufgliederung verschiedener Interessen u n d deren Anerkennung (vgl. Federalist Nr. 35), vermengt m i t dem atomistischen Souveränitätsbegriff Rousseaus, der zur sozialen Realisierung dieser Prämisse ausführlich die eventuell dazu notwendigen staatlichen Maßnahmen erörtert. (Vgl. Hans Maier, Rousseau, i n : Ders., Klassiker des politischen Denkens, 2. Bd., S. 132 f.). 24 Considérant, L a Sincérité . . . , S. 7. Z u bezweifeln ist, ob Tecklenburg recht hat, der i n diesen Meinungsgruppen die „Phalanges" der Fourieristen sieht. A d o l f Tecklenburg, Überblick über die Wahlformen, i n : Johannes Schauff, Neues Wahlrecht, B e r l i n 1929, S. 70.

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Stringenz nicht abgesprochen werden kann, würden doch damit die Parteien auch i n praxi Träger der Souveränität und ihre Begrenzung auf den Charakter von lockeren Vorschlagskörperschaften i m liberalen Honoratiorenparlamentarismus endgültig überwinden. Auch für Considérant ist Demokratie m i t der Gültigkeit des Majoritätsprinzips verbunden. Hatten jedoch frühere Wahlrechtstheoretiker wie de Borda und Condorcet zwischen inhaltlicher Abstimmung und Personalwahl nicht unterschieden, so folgt Considérant auch hier konsequent seinen Prämissen. Das Parlament w i r d als Momentaufnahme eines als tatsächlich bestehend angenommenen empirischen Volkswillens verstanden, dessen (hypothetisches) Gesamtspektrum die politisch relevanten (weil den Wahlquotienten erreichenden) „opinions" und daher als Ganzes die „opinion publique" bilden 2 6 . Für die Legitimität dieser Versammlung gilt der Imperativ, daß für ihre Konstituierung gerade wegen der bei Anwendung der Mehrheitswahl nicht zu umgehenden Ungerechtigkeiten und Verfälschungen der Repräsentation das Majoritätsprinzip auf jeden Fall ausgeschlossen werden muß. Considérant kommt so zu der begrifflichen Unterscheidung von vote représentatif und vote délibératif, von Parlamentswahl und Abstimmung, von denen er nur für die zweite das Mehrheitsprinzip angewendet wissen will26. Das Parlament als verkleinertes A b b i l d der Volksversammlung w i r d bei Considérant nicht ausdrücklich i n den Kontext einer Verfassung, eines machinery of government, gestellt. Aber die Konstituierung des Parlaments durch ein Wahlverfahren, das eine gerechte Repräsentation aller Gruppen gewährleisten soll und die Identität des delegierten und des tatsächlichen Volkswillens anstrebt, muß notwendig auch die Präponderanz der Legislative gegenüber der Exekutive intendieren. Considérant erweist sich damit i n der Tradition des französischen Demokratieverständnisses befangen, das die Ausübung von Herrschaft lediglich „als Delegation des individuellen Bürgers über die Legislative an die Exekutive, die von der Legislative abhängig ist", begreift, deren „Konsequenz die Annahme der Verhältniswahl ist" 2 7 . Considérant und das von i h m i m Grundsatz formulierte Listenwahlverfahren haben keine unmittelbare Wirkung gehabt 2 8 ; sein Name taucht aber drei Jahrzehnte später i n der deutschen Sozialdemokratie wieder auf, und nicht nur die später von der SPD vertretene Form der 25

Considérant, S. 4. Ebd., S. 5. 27 L . S. Amery, Thoughts on the Constitution, 2. A u f l . London 1953, S. 17/18. 28 Vgl. Tecklenburg, Entwicklung, S. 195. 26

3 Misch

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gebundenen Liste beweist eine erstaunliche Übereinstimmung m i t den Vorstellungen dieses Frühsozialisten. 2. Das System der übertragbaren Einzelstimmgebung Thomas Hares und seine Rezeption durch John Stuart M i l l

Sehr viel stärkere Beachtung als Considérant unter seinen Zeitgenossen fand der Engländer Thomas Hare m i t seinem Buch „ A Treatise on the Election of Représentatives Parliamentary and Municipal" 2 9 , i n dem er sein System der übertragbaren Einzelstimmgebung (single transferable vote) darstellt. Dies Wahlsystem, die britische Variante der Verhältniswahl, erwies sich als die eigentliche Initialzündung jener weit über England hinausreichenden Reformbewegung, i n deren Verlauf auch i n ihrem Ursprungsland mehrere Gesetzentwürfe i m Unterhaus — wenn auch vergeblich — eingebracht wurden 3 0 . Und die erste publizistische Äußerung zur Problematik der Verhältniswahl innerhalb der deutschen Sozialdemokratie ist eine Rezension dieses Buches 31 . Grundlage der Berechnung für die Verteilung der Mandate i n diesem System ist die sog. Wahlzahl, die sich aus dem Quotienten abgegebene Stimmzahl durch Mandatszahl errechnet. I m Unterschied zur Mehrheitswahl bildet das ganze Land einen Wahlkreis, i n dem sich die Kandidaten einzeln, d. h. ohne Listenbindung bewerben. Der Wähler gibt seine Stimme ab, indem er durch Zahlen vor den verschiedenen Kandidatennamen auf dem Stimmzettel seine Erst-, Zweit-, D r i t t - usw. Präferenzen angibt. Von Bedeutung für den uns vor allem interessierenden Zusammenhang von Wahlsystem und institutionellem Rahmen w i r d das Haresche System, als es zum Anlaß einer bedeutenden verfassungstheoretischen Kontroverse zwischen J. St. M i l l und Walter Bagehot w i r d 3 2 . Ihre histo29

London 1859. Vgl. Braunias, Bd. 1, S. 197 ff. 31 L. (Wilhelm Liebknecht), Eine vernünftige Wahlart, i n : Deutsches Wochenblatt, Mannheim 1865, Nr. 49 ff. 32 Vgl. John Stuart M i l l , Considerations on Representative Government, Oxford 1948, Kap. V I I ; Bagehot, S. 161 ff. Ausführlich dargestellt ist die Kontroverse bei Carl Joachim Friedrich, Constitutional Government and Democracy, 4. A u f l . Boston 1950, S. 277 ff. Wenn Friedrich die „rationale" Position M i l l s der „funktionalen" Bagehots gegenüberstellt (S. 278) u n d kurz danach M i l l eine Nichtbetrachtung der Funktionen des Parlaments unterstellt (S. 281), so wäre es angemessener, von der Unterschiedlichkeit der j e weiligen dem Parlament zugeordneten Funktionen zu sprechen: während Bagehot sein V o t u m f ü r die Mehrheitswahl letztlich begründet m i t der ersten von i h m dem Parlament zugewiesenen Aufgaben, der „elective function", die er damit zum Konstituens des Regierungssystems macht, orientiert sich M i l l bei seinem V o t u m f ü r das Haresche System an dem von i h m aufgestellten parlamentarischen Funktionskatalog. 30

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rische Dimension erhält die Auseinandersetzung dadurch, daß das Wahlsystem nur als eigentlich mehr vordergründiges Symptom Licht auf einen viel umfassenderen Prozeß w i r f t . Es ist die durch M i l l theoretisch konzipierte und i n den Wahlrechtsreformen des 19. Jahrhunderts auch praktisch vollzogene Vereinigung zweier Strukturtypen parlamentarischer Regierung: des englischen „responsible government" m i t dem Grundbegriff des „trust", der an das „ A m t " gebundenen und von i h m begrenzten Herrschaft 33 , und dem kontinentalen, vor allem französischen Parlamentarismus, der alle öffentliche Gewalt nur als Delegation des souveränen Willens begreift 3 4 . Haben w i r die Konzeption Considérants so charakterisiert, daß er die von Rousseau stammende weitgehende Absorption der Staatstätigkeit durch Gesetzgebung (auf Grund der Volkssouveränität direkt durch das Volk) aufnimmt und durch Übertragung auf eine „gerecht" zusammengesetzte Repräsentatiwersammlung technisch auch für einen Großstaat wie Frankreich 3 5 löst, so nimmt M i l l als Advokat Hares i n dieser Hinsicht eine andere Position ein; sie zeichnet sich gerade durch eine Beschränkung der dem Parlament zugewiesenen Funktionen aus, die sich unter die beiden Oberbegriffe Diskussion und Kontrolle subsumieren lassen. Ähnlich wie für Tocqueville ist auch für M i l l der Gang seiner geschichtlichen Epoche ein Fortschritt auf dem Weg zur Gleichheit und damit zum allgemeinen und gleichen Wahlrecht. Unvermeidbare Folge wäre durch die zahlenmäßige Übermacht eine Herrschaft einer „kollektiven Mittelmäßigkeit" 3 6 . Nicht i n den Händen der gebildeten Elite des Landes läge die politische Führung, sondern sie fiele den Vertretern der arbeitenden Klassen zu 3 7 . Die Stimme dieser intellektuellen M i n derheit glaubt er bei allgemeinem und gleichem Wahlrecht nicht durch das bisherige Mehrheitswahlsystem sichern zu können, das der Tyrannei der Mehrheit nur den Weg ebne. Erfüllen kann das Parlament seine Aufgabe, ein „Kongreß der Meinungen" zu sein, „eine Arena, i n der nicht nur die allgemeine Meinung (général opinion) vertreten ist, sondern jedes ihrer Teile, und i n der so weit wie möglich jede Meinung i m Licht der Öffentlichkeit produzieren und eine Diskussion auslösen kann" 3 8 , nur wenn die Vertretung dieser minoritären Elite durch ein 33 Vgl. dazu W i l h e l m Hennis, Amtsgedanke u n d Demokratiebegriff, i n : Ders., P o l i t i k als praktische Wissenschaft, München 1968, S. 48 ff. 34 Vgl. dazu Klaus Streifthau, Die Souveränität des Parlaments (Sozialwissenschaftliche Studien H. 5), Stuttgart 1963, S. 95 ff. 36 Considérants Vorschlag galt nicht etwa n u r für den Stadtstaat Genf. Bereits früher hatte er i n der von den Fourieristen herausgegebenen Zeitschrift „ L a Phalange" ähnliche Vorschläge gemacht. Vgl. Tecklenburg, S. 193. 38 Vgl. M i l l , S. 198. 37 Ebd., S. 209. 38 Ebd., S. 172.

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entsprechendes Wahlsystem ermöglicht wird. Und nur wenn die Meinungen und Interessen des Parlaments denen der Wählerschaft entsprechen, können die politischen Führer nach einer der Diskussion folgenden Abstimmung die herrschende Meinung erkennen und danach ihr Handeln einrichten. Die Vertretung der gebildeten Minderheit garantiert erst, daß vordergründige Interessen sich vor der Instanz der Vernunft, der Gerechtigkeit und dem Gemeinwohl verantworten müssen 39 . Das Verhältniswahlrecht w i r d zum Wahrer einer über die bloße zahlenmäßige Bedeutung hinausreichenden moralischen Macht 4 0 . Die Aufgabe der Kontrolle der Regierung durch das Parlament besteht nicht darin, dem Kabinett den Kurs der Politik vorzuschreiben, sondern allein i n der Auswahl der richtigen Personen 41 , unter denen M i l l einen erheblichen A n t e i l jener gebildeten Minderheit erhofft 4 2 . Die Basis des Millschen Regierungssystems ist die Trennung von Regieren, Verwalten und Gesetzgeben durch dazu befähigte Experten einerseits und Kontrolle i n rationaler Diskussion durch die Repräsentation des Volkes, deren Autonomie durch ein die Minderheiten beachtendes Wahlverfahren gesichert wird, andererseits 43 . E i n Verhältniswahlsystem, das durchorganisierte Parteien verlangt ist m i t dieser Form gerechter Vertretung nicht zu vereinbaren.

w

Ebd., S. 182 f. Ebd., S. 207. 41 Ebd., S. 166. 42 Ebd., S. 202. 43 Vgl. dazu Streifthau, S. 98 ff.; vgl. auch H e n r y M. Magid, J. St. M i l l , i n : Strauss / Cropsey, S. 689 f. 40

B. Wahlrecht und Wahlsystem in der politischen Konzeption Ferdinand Lassalles I. Die preußische Verfassung von 1849 und das Dreiklassenwahlrecht Eine theoretisch bedeutende Diskussion wie zwischen Walter Bagehot und John Stuart M i l l i n der Epoche der Parlamentssouveränität über parlamentarisches Regime und i h m adäquates Wahlrecht oder wissenschaftliche Lösungsversuche des absolut besten Wahlsystems innerhalb einer demokratischen Verfassung auf dem Niveau Condorcets wie i n Frankreich hat es i n Deutschland nicht gegeben. Als 1848 i n den Beratungen der Nationalversammlung der Paulskirche das Wahlrecht erörtert wurde 1 , standen die großen Wahlrechtsprinzipien i m Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Bei der Entscheidung für die absolute Mehrheitswahl orientierte man sich einfach an dem französischen Vorbild, ohne daß man die verschiedenen Wahlverfahren gegeneinander abwog. Unausgesprochen wurde deutlich, daß neben den verfassungsrechtlichen Grundfragen der Ausdehnung des Wahlrechts nach liberalem* oder demokratischem, auf Volkssouveränität beruhenden Verständnis dem engeren Problem des Wahlsystems höchstens technische Bedeutung beigemessen wurde; seinen möglichen Auswirkungen wurde noch keine Beachtung geschenkt. Nach dem Vorbild der belgischen Verfassung aus dem Jahre 1831 wurden i m Verlauf der 1848er Revolution überall i n Deutschland die Verfassungen durch neugewählte Kammern i n Richtung auf eine „demokratische Monarchie" reformiert oder gar — wie z. B. i n Preußen — überhaupt erstmalig eine Verfassung erlassen. Konstituierendes Element dieser Verfassungsbewegung war — vor allem nach seiner Einführung i n Frankreich i m Gefolge der Februarrevolution — die Forderung nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht. Gegen die ständische Tradition, wonach das Wahlrecht nur ein korporatives, den Angehörigen eines bestimmten Berufes oder Standes zukommendes Recht sei, und die liberale, die es an Besitz- und Bildungsqualifikationen gebun1 Vgl. Gerhard Schilfert, Sieg u n d Niederlage des demokratischen W a h l rechts i n der deutschen Revolution 1848/49, B e r l i n 1952, S. 196 ff. 2 Rudolf Smend, Maßstäbe des parlamentarischen Wahlrechts der deutschen Staatstheorie des 19. Jahrhunderts, i n : Ders., Staatsrechtliche A b h a n d lungen, 2. Aufl. B e r l i n 1968, S. 19 - 38.

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B. Wahlrecht u. Wahlsystem i n der politischen Konzeption Lassalles

den wissen wollte, setzte sich — zumeist nur durch leichte Modifikationen wie höheres Alter beeinträchtigt — die moderne Vorstellung des Wahlrechts als allen Individuen zugehöriges Recht durch. Es ist bekannt, daß die Verfassungen, mit denen Deutschland A n schluß an die konstitutionelle Entwicklung Westeuropas gefunden hatte, das folgende Jahr 1849 nicht überstanden. I m Juni machte die württembergische Regierung den Sitzungen des Stuttgarter Rumpfparlaments der Paulskirche ein Ende, nachdem i n Preußen bereits i m Dezember des Vorjahres die Nationalversammlung auseinandergejagt worden war. Letzter A k t i n diesem preußischen Verfassungsdrama war die durch die königliche Verordnung vom 30. Mai 1849 erfolgte Ersetzung des (seit A p r i l 1848 gültigen) allgemeinen und gleichen Wahlrechts durch das Dreiklassenwahlrecht. Die Reaktion unter Friedrich Wilhelm IV. verfolgte den Zweck, „die Ergebnisse des Jahres 1848 wieder rückgängig zu machen" 8 . Wenn diese Bemühungen auch auf fast allen Gebieten von Erfolg gekrönt waren, so gelang es doch nicht, die Errungenschaft der Revolution i n Preußen, die Beschränkung des Absolutismus durch eine Verfassung, ganz abzuschaffen. Alle Versuche des Königs, die Befürworter der Verfassung m i t einem königlichen Freibrief zufriedenzustellen, scheiterten an der Weigerung der Minister, diesen A k t gegenzuzeichnen. Dieser letzte Vorbehalt gegenüber dem vollkommenen Rückfall i n den Absolutismus des Vormärz verursachte den hochkonservativen K r i t i k e r n der Verfassung gleichwohl bereits den cauchemar des révolutions; dennoch waren i n diesem „Hauptmodell der konstitutionellen Monarchie" 4 i m 19. Jahrhundert die alten Gewalten Königtum und Adel, Beamtentum und Militär, weitgehend intakt geblieben. Hatte schon die nach der Revolution 1848 oktroyierte Verfassung am monarchischen Prinzip festgehalten, so wurden i n der Verfassung von 1850 diese Elemente noch stärker betont. Obwohl auch die revidierte Verfassung keine Rückkehr zu ständestaatlichen Legislativorganen vorsah, sondern durch Schaffung einer Zweiten Kammer auf der Grundlage des allgemeinen, wenn auch ungleichen Wahlrechts dem modernen Repräsentationsgedanken Raum gab, so verblieb doch i m Sinne Stahls die Staatsgewalt i n ihrer Substanz beim König; für die konstitutionelle Monarchie Preußen galt nicht der Grundsatz des „le roi règne, mais i l ne gouverne pas", Träger der Souveränität, nicht nur i n der Verfassungswirklichkeit, war und blieb der Monarch, demgegenüber sich die Einflußmöglichkeiten der 3 Fritz Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte v o m 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 7. A u f l . Stuttgart 1959, S. 266. 4 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I I I Stuttgart 1963, S. 11.

I. Die preußische Verfassung von 1849 u n d das Dreiklassenwahlrecht

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beiden Kammern auf eng umgrenzte Mitwirkungsrechte beschränkten. „Der König war auch i m preußischen Verfassungsstaat nicht bloß Symbol und Garant der Staatseinheit, sondern der wahre und wirkliche Herrscher 5 ." Diese Konzentration der staatlichen Gewalt i n der Person des Monarchen konnte durch die Gegenzeichnungspflicht der i m Unterschied zum König verantwortlichen Minister nicht entscheidend beeinträchtigt werden. Deren Verbindung m i t dem königlichen Recht der freien Ministerberufung und -entlassung erscheint vielmehr dem Bewunderer dieser Verfassungskonstruktion Ernst Rudolf Huber als „Kernstück der königlichen Gewalt i m konstitutionellen System", das dem König zwar nicht gestattete am persönlichen Regiment, „ w o h l aber an der oberstherrlichen Gewalt i m Staate festzuhalten" 8 . Das Repräsentativorgan i n der Verfassung, das Abgeordnetenhaus, war auf die M i t w i r k u n g bei der Gesetzgebung, vor allem der Aufstellung des Budgets beschränkt, worin es sich m i t dem König und der Ersten Kammer, dem Herrenhaus, teilen mußte. Die Auseinandersetzungen u m diese Verfassung entzündeten sich nicht an ihrem Kernstück, dem monarchischen Prinzip, sondern an dem für die Wahl zum Abgeordnetenhaus geltenden Dreiklassenwahlrecht. Trotz allen Anrennens gegen diese den „Klassenkampf von oben" symbolisierende Institution von Seiten des Linksliberalismus und vor allem der Sozialdemokratie (für die die preußische Wahlrechtsfrage unzweifelhaft immer eindeutige Priorität vor der Reform des Reichstagswahlrechts i m Sinne der Verhältniswahl genoß!), blieb diese Schöpfung der Reaktion nach 1848 bis 1918 i n Kraft 7 . Für die konservativen K r i t i k e r des Reichstagswahlrechts und den besonders ab 1890 gezeitigten Ergebnissen blieb das preußische Wahlrecht freilich Vorbild für alle „Reformpläne" 8 ; es verlieh dem deutschen Kernland den Charakter einer Ordnungszelle inmitten der dynamischen Gewalten einer Klassengesellschaft. Das preußische Wahlrecht war zwar allgemein, und Pläne bei der Beratung für die nachträgliche Verabschiedung i m preußischen Abgeordnetenhaus zur Einführung eines Zensuswahlrechts konnten sich nicht durchsetzen 9 ; das leitende (an Mirabeau erinnernde) Prinzip seiner 5

Ebd., S. 55. • Ebd., S. 56. 7 Vgl. dazu zuletzt Reinhard Patemann, Der K a m p f u m die preußische Wahlreform i m Ersten Weltkrieg (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus u n d der politischen Parteien, Bd. 26), Düsseldorf 1964. 8 Vgl. Egmont Zechlin, Staatsstreichpläne Bismarcks u n d Wilhelms I I . 1890 - 1894, Stuttgart u. B e r l i n 1929. 9 Vgl. H e l m u t h v. Gerlach, Die Geschichte des preußischen Wahlrechts, B e r l i n 1908, S. 17.

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B. Wahlrecht u. Wahlsystem i n der politischen Konzeption Lassalles

Autoren, „auch innerhalb des Kreises der zweiten Kammer den einzelnen Volksschichten denjenigen Einfluß (zu) gestatten, welcher zu ihrer wirtschaftlichen Bedeutung i m Staatsleben i m richtigen Verhältnis steht" 1 0 , führte aber i n Anlehnung an die rheinische Gemeindeordnung von 184511 zur Aufteilung der aktiven Wählerschaft i n drei Klassen nach dem direkten Steueraufkommen i n jedem Wahlbezirk 1 2 . Gegenüber dieser Grundeigenschaft des preußischen Wahlrechts fielen die anderen reaktionären Merkmale nicht mehr i m gleichen Maße ins Gewicht. Eine weitere Korrektur erfuhr der Wählerwille durch die indirekte Wahl der Abgeordneten, und ähnlich wie später beim Reichstagswahlrecht verstärkte die nicht der Bevölkerungsfluktuation angepaßte Wahlkreiseinteilung die Ungleichheit noch zugunsten der agrarischen Gebiete Ostelbiens. Die ungeniertesten Wahlbeeinflussungen durch Regierung, Grundbesitzer und Unternehmer erlaubte das Gebot der öffentlichen mündlichen Stimmabgabe, von ihren Befürwortern i n einer A r t von Vulgärhegelianismus als Garantie der Freiheit gefeiert, die nur Einsicht i n die Notwendigkeit sei 13 . Durch die sozialen Umschichtungen i m Zuge der fortschreitenden Industrialisierung seit den 50er Jahren wurde die Hoffnung der Regierung auf durch das Dreiklassenwahlrecht dauernd gewährleistete konservative Kammermehrheit enttäuscht. Das Anwachsen der von den bürgerlichen und damit bevorzugt liberal wählenden Schichten erbrachten Steuerleistung führte vor allem i n den 60er Jahren zur Majorität der Fortschrittspartei; der preußische Verfassungskonflikt war nur der dramatische Höhepunkt, m i t dem die Fehleinschätzung der Regierung über die Auswirkungen des Wahlsystems offen zutage trat. I m Gegensatz zur späteren Reichsverfassung wies die preußische einen Grundrechtkatalog auf, der die Gleichheit vor dem Gesetz, die Freiheit der Person, die Religionsfreiheit, die Meinungsfreiheit und ähnliches m i t staatlicher Garantie (wenn auch m i t vielfältigen Durchbrechungen des Prinzips 1 4 ) vorsah. Für die sich seit Anfang der 60er Jahre organisatorisch festigende Arbeiterbewegung war die m i t Erlaß des Vereinsgesetzes vom März 1850 erfolgte Einschränkung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit der Verfassung besonders ein10

Zit. ebd., S. 11. Vgl. Härtung, S. 262. 12 V o r allem i n H i n b l i c k auf diese vollkommen w i l l k ü r l i c h vorgenommene Drittelung, die alles Zusammengehörige auseinanderreiße u n d Leute zusammenwürfele, die nichts miteinander zu t u n haben, begründete Bismarck später sein Urteil, daß „ein widersinnigeres, elenderes Wahlgesetz . . . nicht i n irgend einem Staat ausgedacht worden" sei. Zit. nach Gerlach, S. 85. 13 Vgl. die Rede E. L . v. Gerlachs, zit. bei Huber, Bd. 3, S. 88. 14 Vgl. ebd., S. 101 ff. 11

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schneidend. § 8 des Gesetzes bedrohte diejenigen politischen Vereine 1 5 m i t der Auflösung, die feste überörtliche Verbindungen vollzogen. Bis zur Novellierung des Gesetzes zu Anfang dieses Jahrhunderts war vor allem die Sozialdemokratie — als erste, obendrein oppositionelle Massenpartei besonders davon betroffen — gezwungen, ihre Organisationsstruktur den die Herausbildung von sich über ganz Preußen erstreckenden politischen Parteien bewußt verhindernden Bestimmungen anzupassen. Dennoch wurde sie von mehrmaliger Auflösung der Parteiorganisation betroffen. I n diesem Staat mußte die erwachende Arbeiterbewegung wie ein Fremdkörper angesehen werden und sich auch selbst so empfinden, und dementsprechend unterstanden „Vertreter und A n hänger der Sozialdemokratie . . . lange vor dem Bestehen der gegen sie erlassenen Ausnahmegesetze einem stillschweigend anerkannten Ausnahmerecht, gehandhabt vielfach von verständnislosen, den Sozialismus mit ursprünglicher Feindschaft ablehnenden Richtern und Justizbeamten" 1 6 . II. Lassalles Konzeption der plebiszitären Führerdemokratie „Nach der politischen Nacht der fünfziger Jahre" 1 ist das Erwachen der Arbeiterbewegung i n vielfältig differenzierten Formen zunächst 2 zu neuem und diesmal durch nichts mehr auszulöschendem Leben nur erklärlich, wenn man — hinter der Fassade der scheinbar ungebrochen weiter herrschenden alten Gewalten — die tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandlungen wahrnimmt. Obwohl die politischen, oder besser: staatlichen Formen und Institutionen — abgesehen von der kurzen Zeit der Neuen Ä r a — äußerlich weitgehend starr und unbeweglich blieben, vollzog sich unterhalb dieser Sphäre i m Gefolge der nun auch Deutschland ergreifenden industriellen Revolution jene folgenreiche Veränderung, auf deren Weg andere westeuropäische Staaten schon weiter vorangegangen waren. Unter sozialgeschichtlichem Aspekt ist das wichtigste Ergebnis der gescheiterten Revolution von 1848 die politische Stärkung von Monar15 Z u m Begriff der Partei u n d des politischen Vereins i m liberalen Konstitutionalismus vgl. Thomas Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 18, Düsseldorf 1961, S. 11. 16 Vgl. Paul Kampffmeyer, Bruno A l t m a n n , V o r dem Sozialistengesetz, Berlin 1928, S. 187. 1 Hedwig Wachenheim, Die deutsche Arbeiterbewegung 1844 - 1914, K ö l n 1967, S. 54. 2 Nach Ulrich Haufschild, Partei u n d Klasse bei M a r x u n d Engels, Phil. Diss. F r a n k f u r t 1965, S. 125, A n m . 1, gab es 1862 i n Deutschland 104 Arbeitervereine unter bürgerlicher F ü h r u n g sowie 368 evangelische u n d 188 k a t h o l i sche Gesellenvereine.

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chie und feudalen Kräften bei gleichzeitiger Kompensation des Bürgertums für die weitgehende Verdrängung aus diesem Bereich m i t der „Befriedigung des bürgerlichen Erfolgsstrebens durch die . . . Förderung der kapitalistischen Wirtschaft" 3 . Mochten auch die Ursachen für die erste industrielle Aufschwungperiode nicht allein i n dieser Interessenverlagerung zu suchen sein, sondern sich hier vor allem übernationale Faktoren ausgewirkt haben, so schlug sich als Ergebnis dieser ersten deutschen Gründerperiode der „endgültige Abbau der Schranken vorindustrieller Gesellschaftsordnung und das erste Sichtbarwerden der ökonomischen Klassenstruktur" nieder 4 . Deutlich zeigte sich die jetzt einsetzende Strukturveränderung der gewerblichen Wirtschaft und der i n ihr bis zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden Produktionsweise i n dem Anwachsen der i n Klein- und Großindustriebetrieben Beschäftigten 5 . M i t der Ausbreitung der Fabrikindustrie setzte i n verstärktem Maße die Wanderung des Landproletariats i n die großen Städte ein; das Problem der Massenarmut i n den übervölkerten ländlichen Gebieten wandelte sich m i t dem Heraufkommen des industriellen Zeitalters zur sozialen Frage der Fabrikarbeiter 6 . Zentren der zunächst noch auf einige Gebiete beschränkten Industrialisierung waren das preußische Rheinland und Sachsen; erst danach griff die Entwicklung auch auf Großstädte wie Hamburg und Frankfurt über 7 . Der Konflikt zwischen 1848 politisch zurückgedrängtem, i n der Folgezeit sich aber ökonomisch auf dem Vormarsch befindendem Bürgertum und — dem Selbstverständnis nach — den Staat repräsentierenden Gewalten Feudalaristokratie und Grundbesitz brach offen aus, als bei der Auseinandersetzung über die Reichweite des parlamentarischen Budgetrechts aus Anlaß der preußischen Heeresreform der Konstitutionalismus als institutionalisierter Kompromiß zwischen den monarchischkonservativen, teilweise absolutistischen Kräften und den Befürwortern einer erweiterten Parlamentsmacht zerbrach 8 . M i t dieser Sichtweise des preußischen Verfassungskonflikts, die hinter den Diskussio3 H e l m u t Böhme, Prolegomena zu einer Sozial- u n d Wirtschaftsgeschichte Deutschlands i m 19. u n d 20. Jahrhundert, F r a n k f u r t a m M a i n 21968, S. 44. 4 Carl Jantke, Der vierte Stand. Die Gestaltungskräfte der deutschen A r beiterbewegung i m X I X . Jahrhundert, Freiburg 1955, S. 161. 5 I n Preußen stieg die Z a h l von ca. 500 000 1852 auf 1,8 M i l l . 1861 (Arbeitnehmer u n d Arbeitgeber). Vgl. Wachenheim, S. 55. 6 Vgl. Werner Conze, Möglichkeiten u n d Grenzen der liberalen Arbeiterbewegung i n Deutschland, Heidelberg 1965, S. 9. 7 Vgl. Gustav Schmoller, Die Arbeiterfrage, i n : Preußische Jahrbücher, Jg. 1864, S. 403. 8 Z u den verfassungspolitischen Motiven von Konservativen und Liberalen vgl. Adalbert Hess, Das Parlament, das Bismarck widerstrebte (Politische Forschungen, Bd. 6), K ö l n u n d Opladen 1964, S. 25 ff.

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nen um die richtige Verfassungsexegese die eigentlich bestimmende Dynamik, die historisch gesehen verschiedenen Epochen angehörenden Prinzipien des Feudalismus und des Bürgertums, betonte, eröffnete Ferdinand Lassalle i m Frühjahr 1862 jenen Feldzug, den Franz Mehring — als einziger marxistischer Historiker — als „wahres Meisterstück revolutionärer Strategie" feiert 9 . Lassalles Eingreifen i n den preußischen Verfassungskonflikt 10 fiel zeitlich zusammen m i t dem Beginn seiner Arbeiteragitation 1 1 . Uber diesen historischen Zusammenhang hinaus sind aber seine Verfassungsreden für den hier interessierenden Zusammenhang auch deshalb von Bedeutung, w e i l aus ihnen ein Verfassungsverständnis deutlich wird, das institutionellen Regelungen und Verfahren wenig Eigenbedeutung beimißt. Bei seiner Absicht, das auszusprechen, was ist 1 2 — m i t Eduard Bernstein — durch eine „auf folgerichtige Durcharbeitung von erfahrungsgemäß Festgestelltem aufgebaute positivistische Wissenschaft" 18 , darf doch nicht der zweifellos ebenfalls vorhandene agitatorische, aber wissenschaftlich begründete Zweck dieser Reden außer acht gelassen werden 1 4 . Lassalle sieht i m Gegensatz zur Hauptlinie der zeitgenössischen politischen Auseinandersetzung den eigentlichen K e r n des Konflikts nicht i n den Positionen Verfassungstreue — Verfassungsbruch (als Anhänger der demokratischen Ideale von 1848 kann er die Legitimität der nach dem Staatsstreich oktroyierten Verfassung sowieso nicht anerkennen), sondern begreift ihn als sichtbar gewordenes Anzeichen eines labilen gesellschaftlichen Machtverhältnisses. Die Verfassungskrise erscheint als durch Rechtsbegriffe verbrämter Kampf zwischen den organisierten Kräften der monarchischen Staatsspitze (Heer, Beamtenschaft) und den unorganisierten Mächten der Nation 1 6 . A m Schluß seines Vortrags w i r d der

9 Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, B e r l i n (Ost), Bd. I, S. 66. Zusammenfassend zur heutigen kommunistischen Beurteilung Lassalles vgl. die Einleitung von Thomas Höhle, ebd., S. 29 ff. 10 Vgl. seine beiden Reden „Uber Verfassungswesen" am 16. Apr. 1862 u n d „Was n u n " a m 17. Nov. 1862. 11 Vgl. seine Rede „Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode m i t der Idee des Arbeiterstandes" (Arbeiterpro gramm), 12. A p r i l 1862. 12 Vgl. „Über Verfassungswesen", i n : Ferdinand Lassalle: Gesammelte Reden u n d Schriften, hrsg. u n d eingeleitet von Eduard Bernstein, Berlin 1919, Bd. I I , S. 98; vgl. auch W i l h e l m Hennis, Verfassung u. Verfassungswirklichkeit (Recht u n d Staat, Heft 373/374) Tübingen 1968, S. 30. 13 Eduard Bernstein i n der Einleitung zu Lassalle, Reden u n d Schriften, Bd. I I , S. 12. 14 Vgl. Hermann Oncken, Lassalle, Stuttgart 51966, S. 194; Thilo Ramm, Ferdinand Lassalle als Rechts- u n d Sozialphilosoph, Meisenheim - Wien 1953, S. 57. 15 Vgl. Lassalle, Reden und Schriften, Bd. I I , S. 43 u. 53.

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B e z u g s p u n k t f ü r Lassalles eigne politische A k t i o n ganz d e u t l i c h : der A u s g a n g des K o n f l i k t s scheint v o l l k o m m e n offen, sicher i s t n u r die V e r ä n d e r u n g d e r j e t z i g e n Verfassung. „ S i e k a n n a u f entgegengesetzte Weise a b g e ä n d e r t w e r d e n , nach rechts oder l i n k s h i n , aber b l e i b e n k a n n sie nicht. D e r R u f gerade, sie festzuhalten, b e w e i s t es f ü r d e n k l a r e r denkenden Menschen16." So ist f ü r Lassalle die o k t r o y i e r t e V e r f a s s u n g v o n 1849 das k o d i f i zierte P a r a l l e l o g r a m m der gesellschaftlichen M a c h t v e r h ä l t n i s s e 1 7 . D i e a n Z a h l u n t e r l e g e n e n monarchischen K r ä f t e k ö n n t e n diesen N a c h t e i l d u r c h die überlegene O r g a n i s a t i o n ausgleichen; die ö k o n o m i s c h f ü h rende Klasse, das B ü r g e r t u m , v o r a l l e m das städtische, v e r k e n n e die B e d i n g u n g e n des gesellschaftlichen M a c h t k a m p f e s : seine E n t w i c k l u n g f ü h r e l e d i g l i c h dazu, „ s i c h als eine selbständige politische M a c h t zu fühlen" 16. F ü r die einsetzende R e a k t i o n t r a g e das B ü r g e r t u m d u r c h seinen M a n g e l a n p o l i t i s c h e m A u g e n m a ß die V e r a n t w o r t u n g : Es setze a l l seine K r a f t i n die A u s a r b e i t u n g e i n e r V e r f a s s u n g s u r k u n d e , a n s t a t t jene M a ß r e g e l n z u ergreifen, „ w e l c h e n o t w e n d i g w ä r e n , die tatsächl i c h e n i m L a n d e bestehenden M a c h t v e r h ä l t n i s s e z u ä n d e r n , das H e e r aus e i n e m F ü r s t e n h e e r zu e i n e m V o l k s h e e r z u m a c h e n " 1 9 . 16 Ebd., S. 60. Vgl. auch die häufig zitierten Sätze: „Verfassungsfragen sind ursprünglich nicht Rechtsfragen, sondern Machtfragen; die w i r k l i c h e Verfassung eines Landes existiert n u r i n den reellen tatsächlichen Machtverhältnissen, die i n einem Lande bestehen." (Ebd., S. 60) Das politische Ziel Lassalles muß dann allerdings i m Zusammenhang m i t folgendem Z i t a t — ohne Zweifel eine A n l e i t u n g zum Handeln — deutlich gemacht werden: „Die w i r k l i c h e n tatsächlichen Machtverhältnisse i m Lande umgestalten, i n die Exekutive eingreifen, so sehr eingreifen u n d sie tatsächlich so sehr u m f o r men, daß sie sich nie wieder selbständig dem W i l l e n der Nation entgegenstellen konnte — das w a r es, worauf es damals ankam u n d was vorausgehen mußte, damit eine geschriebene Verfassung von Dauer sein konnte." (Ebd., S. 56) Wenn der preußische Kriegsminister Roon trotz aller theoretischen Übereinstimmung darin, daß „der Hauptinhalt der Geschichte nicht n u r z w i schen den einzelnen Staaten, sondern auch innerhalb eines jeden Staates selbst, nichts anderes sei als der K a m p f u m Macht u n d Machterweiterung zwischen den einzelnen Faktoren" (zit. nach „Was nun?" Lassalle, Reden u n d Schriften, Bd. I I , S. 80), Lassalles Vortrag „destruktiver Tendenzen" (ebd., S. 81) beschuldigte, so hat er die politische Sprengkraft von Lassalles Darlegungen richtig erkannt. 17 F ü r Lassalle ist „eine geschriebene Verfassung eine gute u n d dauerhafte, . . . w e n n sie der w i r k l i c h e n Verfassung, den realen i m Lande bestehenden Machtverhältnissen entspricht. Wo die geschriebene Verfassung nicht der wirklichen entspricht, da findet ein K o n f l i k t statt, dem nicht zu helfen ist u n d bei dem unbedingt auf die Dauer die geschriebene Verfassung, das bloße B l a t t Papier, der w i r k l i c h e n Verfassung, den tatsächlichen i m Lande bestehenden Machtverhältnissen, erliegen muß". (Ebd., S. 53). 18 Ebd., S. 51. 10 Ebd., S. 53/54. F ü r den l i n k e n Flügel der Demokratie w a r der Anlaß des Verfassungskonflikts von großer Wichtigkeit, w a r es doch eine der t r a d i t i o nellen Forderungen der Demokratie, das stehende Heer unter ausschließlicher Verfügung des Monarchen durch ein Milizsystem zu ersetzen. Auch

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D i e politische A b s i c h t Lassalles w i r d noch d e u t l i c h e r b e i seinem z w e i t e n V o r t r a g z u m V e r f a s s u n g s k o n f l i k t i m H e r b s t gleichen Jahres. N a c h d e m Scheitern a l l e r K o m p r o m i ß v e r s u c h e u n d der e r n e u t e n A b l e h n u n g des Heeresbudgets d u r c h das A b g e o r d n e t e n h a u s h a t t e sich die S i t u a t i o n i n z w i s c h e n m i t d e r B e r u f u n g B i s m a r c k s z u m M i n i s t e r p r ä s i d e n t e n bed e u t e n d verschärft. D i e A u f f o r d e r u n g Lassalles a n die A b g e o r d n e t e n , die S i t z u n g so l a n g e auszusetzen, bis die R e g i e r u n g i h r e A u f g a b e n w i e d e r v o n der B e w i l l i g u n g d u r c h das P a r l a m e n t a b h ä n g i g macht, s t e l l t e d e n V e r s u c h dar, „ e i n e n B r a n d zu entfachen, f ü r d e n der Z ü n d s t o f f v o r h a n d e n w a r " 2 0 , u n d die L i b e r a l e n w e g v o m b l o ß defensiven F e s t h a l t e n a n d e n V e r f a s s u n g s a r t i k e l n o f f e n b a r i n R i c h t u n g a u f die a k t i v e E r k ä m p f u n g der P a r l a m e n t s s u p r e m a t i e zu d r ä n g e n 2 1 . I n Lassalles A u g e n scheiterte der Versuch, das B ü r g e r t u m als „ d i e u n o r g a n i s i e r t e

für Lassalle gehört das M i l i t ä r p r o b l e m zum eisernen Bestand demokratischer Forderungen. Vgl. seinen Brief an Engels i m Februar 1860 (Ferdinand Lassalle, Nachgelassene Briefe u n d Schriften, Stuttgart - B e r l i n 1921 ff., hrsg. von Gustav Mayer, Bd. V, S. 278): „Das Gesetz ist schmachvoll! Aufhebung — völlige, n u r verkappte — der Landwehr als letzten demokratischen Restes der Zeit von 1810, Schöpfung eines immensen Machtmittels f ü r Absolutismus u n d Junkertum." 20 Gustav Mayer, Die Lösung der deutschen Frage 1866 und die Arbeiterbewegung, i n : Festgabe f ü r W. Lexis, Jena 1907, S. 229. 21 Nicht zuzustimmen ist Oncken, S. 219, der meint, daß Lassalle die A u f forderung zum Parlamentsstreik nicht ernst gemeint hat. Die Rede sei „ n u r eine Demonstration, die hauptsächlich den Zweck verfolge, die Liberalen vor ihren Wählern zu diskreditieren." Oncken fragt rhetorisch, was Lassalle an der K a p i t u l a t i o n der Regierung v o r dem B ü r g e r t u m liegen konnte, dessen Macht er ein halbes Jahr zuvor bereits i n einer Rede als überlebt u n d u n sittlich nachgewiesen habe. I n einem B r i e f an die Gräfin Hatzfeld vom 14.10.1862 äußert Lassalle i n bezug auf seinen Plan eines Parlamentsstreiks die Hoffnung, daß er es „nicht f ü r unmöglich" hält, daß der Beschluß durchgeht. „Ich jedenfalls werde suchen, eine höllische Agitation f ü r diesen Beschluß loszulassen i n der Zwischenzeit." (Lassalle, Nachlaß, Bd. IV, S. 308). Bestätigen läßt sich dagegen, w e n n Oncken der Rede einen „diabolischen" . . . Zug m i t „unterirdische(n) Argumente(n) . . . nicht n u r gegen die Regierung, sondern mehr noch gegen die Liberalen" unterstellt. (a.a.O.). Dies ergibt sich aus den verschiedenen Tonarten seiner Rede u n d seines Briefes an seine engste Vertraute. Die Schlußsätze seines Vortrages lauten: „ D a n n (im Falle des Handelns nach den Ratschlägen Lassalles) werden Sie i n der Lage sein, das parlamentarische Regiment, ohne welches n u r Scheinkonstitutionalismus bestehen kann, zu fordern u n d durchzusetzen. . . . Dann also kein neuer Kompromiß m i t i h m (dem Absolutismus), sondern: den Daumen aufs Auge u n d das K n i e auf die B r u s t " (Werke, Bd. I I , S. 115). Dagegen heißt es i n dem zitierten Brief: „Wenn die K a m m e r diesen Beschluß faßt, ist die Regierung lahmgelegt. Auflösen ändert die Situation nicht. . . . Bleibt der Regierung somit n u r die W a h l : nachzugeben oder sich der konstitutionellen Form überhaupt zu begeben; absolut weiter zu regieren. Dies aber ist unmöglich. Folglich w ü r d e die Regierung nachgeben. Dann aber stünde es erst recht schlimm f ü r die Demokratie. Denn dann würde eine Versöhnung sein und ein Jubel u n d ein Stolz u n d eine Freude, u n d die K a m m e r wäre froh, aus dem K o n f l i k t endlich herausgekommen zu sein, daß die Regierung t u n könnte i m übrigen, was sie w i l l . " (a.a.O.).

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i n der Gesellschaft herrschende elementarische Macht" 2 2 zur Zerstörung des bloßen Scheinkonstitutionalismus zu bewegen — indem es die Regierung als schlecht kaschierten Absolutismus entlarvte — an dessen mangelnder Bereitschaft zu revolutionärem Handeln 2 3 . Diesen Kampf gegen die als Scheinkonstitutionalismus begriffene preußische Verfassungsstruktur gilt es bei den späteren Aktionen Lassalles und seiner Nachfolger i m Auge zu behalten. Nicht erst die i m Anschluß an diesen Vortrag m i t liberalen Zeitungen geführte Pressepolemik markiert die Trennung Lassalles von der bürgerlichen Demokratie; spätestens die öffentliche Forderung nach Einführung des direkten und gleichen Wahlrechts mußte von dieser als Kampfansage verstanden werden, hatte man doch der Verschmelzung von konstitutioneller und demokratischer Partei diese alte demokratische Forderung zum Opfer gebracht und nicht i n das Programm der 1861 gegründeten Fortschrittspartei aufgenommen 24 . Nicht ganz zu Unrecht kann Mehring m i t dem Pathos dessen, der sich selbst als Glied dieser demokratischen Bewegung versteht, die sich jetzt ankündigende politische A k t i o n Lassalles m i t den Worten begrüßen: „Indem die deutsche Bourgeoisie politisch abdankte und die Rechte des Volkes wegwarf, nahm das deutsche Proletariat die Rechte des Volkes auf und meldete seine Ansprüche auf die politische Herrschaft an 2 5 ." I n der sich an das rhetorische Eingreifen Lassalles i n den Verfassungskonflikt anschließenden sozialen Agitation m i t ihrem Höhepunkt, der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) 1863, w i r d eine gewisse Akzentverschiebung seines Demokratiebegriffes deutlich 26 , ohne daß allerdings dessen Grundelemente preisgegeben werden. Anstoß dazu ist seine Unterscheidung der sozialen von der rechtlichen Verfassung und die Einsicht von der Organisation als Grundbedingung der Errichtung einer Gegenmacht gegen den — sich hinter dem Scheinkonstitutionalismus verbergenden — herrschenden Absolutismus 27 . Die Absicht, eine Organisation aus dem unterdrückten Teil der Gesellschaft, den Arbeitern, aufzubauen, kollidiert auch logisch 22

Lassalle, Reden u n d Schriften, Bd. I I , S. 100. Vgl. Eduard Bernstein, Einleitung zu „Was nun?", i n : Lassalle, Reden u n d Schriften, Bd. I I , S. 72 f. 24 Vgl. dazu Gustav Mayer, Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie i n Deutschland, i n : Ders., Radikalismus, Sozialismus u n d bürgerliche Demokratie, hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, F r a n k f u r t 1969, S. 109 f. 25 Mehring, Bd. I, S. 695. 26 Vgl. dazu auch Shlomo Na'aman, Lassalle — Demokratie und Sozialdemokratie i n : A r c h i v f ü r Sozialgeschichte, Bd. I I I , Hannover 1963, S. 63 ff. 27 Vgl. „Uber Verfassungswesen", i n : Lassalle, Reden u n d Schriften, Bd. I I , S. 43. 28

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m i t der Annahme eines einheitlichen durch Demokratie sich verwirklichenden Gemeinwohls. I n diesem Verständnis ist der demokratische Gedanke allgemein; „er kennt keine Grenze von Klasse und Gruppe" 2 8 . Substrat dieser Demokratie ist das Volk, aber nicht als empirisch lokalisierbare Wirklichkeit: spekulativ losgelöst von jeder historisch-sozialen Konkretion w i r d sein Wesen „die Willensgemeinschaft oder der allgemeine W i l l e " 2 0 genannt. Deutlich ist der Einfluß Rousseaus 30, allerdings i n der Terminologie des deutschen Idealismus 31 , wenn Lassalle den Begriff Volk „ f ü r einen noch so großen überall her versammelten Haufe von Leuten" nur dann gelten lassen w i l l , wenn „dieser Haufe i n ursprünglicher Weise von demselben identischen und bestimmten Geiste beseelt sei, der einem Volke eben durch Rassenabstammung, Tradition und Geschichte vermittelt wird. . . . Das Volk ist dann zu vollendeter Wirklichkeit gelangt, oder das Volksein ist dann, wie Fichte sagt, i n sein Bewußtsein und sein wahrhaftes Sein übergegangen, wenn es diesen gemeinschaftlichen Geist nun auch selbst heraussetzt und entwickelt. Alle Geschichte und aller Drang eines Volkes besteht i n nichts als i n der Verwirklichung seines Geistes" 32 . Dieser Volksgeist ist nicht an das Individuum gebunden, er verwirklicht sich nicht durch bloße Addition von Meinungen; er ist vielmehr begrifflich m i t dem Allgemeinen i n Ubereinstimmung, das er m i t Hegel „als die wahre Objektivität des Seins" 33 versteht. Das Gesetz ist Ausfluß dieses Allgemeinen wie bei Rousseau Ausfluß der volonté générale 34 . Der Charakter dieser Demokratie, die er an anderer Stelle als „Autonomie, Selbstgesetzgebung des Volkes nach innen" 3 5 bezeichnet, von Shlomo Na'aman fast besänftigend als „integrale Demokratie" 3 6 apostrophiert, w i r d erhellt, wenn Lassalle die Auflösung jeder Gesinnungseinheit seiner Epoche diagnostiziert 37 . 28

Na'aman, Lassalle — Demokratie u n d Sozialdemokratie, S. 41. „System der erworbenen Rechte" (1861), i n : Reden u n d Schriften, Bd. X I I , S. 551. 30 M i t Recht weist Susanne M i l l e r auf die Tatsache hin, daß sich trotz häufig erkennbarer Beeinflussung durch Rousseau i n den Werken von Lassalle, M a r x , Engels u n d Nachfolgern k a u m ein Hinweis auf diesen findet. Vgl. Das Problem der Freiheit i m Sozialismus, 3. Aufl., F r a n k f u r t 1964, S. 40. 31 Vgl. dazu T h i l o Ramm, Lassalle, S. 66 f. u n d S. 169 f.; Carl Trautwein, Über Ferdinand Lassalle u n d sein Verhältnis zur Fichteschen Sozialphilosophie, Jena 1913. 32 „Fichtes politisches Vermächtnis u n d die neueste Gegenwart", (1860) i n : Reden u n d Schriften, Bd. V I , S. 72/73. 38 „ H e r a k l i t " (1858) ebd., Bd. V I I I , S. 652. 34 Vgl. D u Contrat social, Kap. I I , 6. 85 „Der italienische K r i e g " (1859), Reden u n d Schriften, Bd. I, S. 31. 36 Na'aman, Lassalle — Demokratie u n d Sozialdemokratie, S. 66. 37 Vgl. den Brief Ferdinand Lassalles an Gräfin Hatzfeld, 10. August 1860, Nachlaß, Bd. I V , S. 260ff.: „ A b e r nichts ist heute gemeingültig, nichts 29

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Dieser r e i n rousseauistisch-hegelianische Staats- u n d D e m o k r a t i e b e g r i f f l ä ß t sich b e i Lassalle bis i n s J a h r 1862 h i n e i n nachweisen. I n e i n e m seiner a m b e r ü h m t e s t e n g e w o r d e n e n V o r t r ä g e „ U b e r d e n besond e r e n Z u s a m m e n h a n g der g e g e n w ä r t i g e n Geschichtsperiode m i t der Idee des A r b e i t e r s t a n d e s " , d e n er w e n i g e Tage v o r seiner ersten V e r fassungsrede i n e i n e m B e r l i n e r H a n d w e r k e r v e r e i n zunächst ohne g r o ßes Echo h i e l t , v e r b a n d sich f ü r i h n m i t d e m A r b e i t e r s t a n d noch k e i n gesellschaftliches P a r t i k u l a r i n t e r e s s e , d e n n dessen Sache sei „ i n W a h r h e i t die Sache d e r gesamten Menschheit, seine F r e i h e i t . . . die F r e i h e i t der M e n s c h h e i t selbst, seine H e r r s c h a f t . . . die H e r r s c h a f t a l l e r " 3 8 . D e r F o r t s c h r i t t der Geschichte m i t d e m Z i e l der F r e i h e i t f i n d e t i n d e r u n t e r s t e n Gesellschaftsklasse, d e m A r b e i t e r s t a n d , e i n e n ü b e r dessen p e r sönliches Interesse h i n a u s g e h e n d e n T r ä g e r , d e n n „ d i e V e r b e s s e r u n g i h r e r L a g e als Klasse . . . f ä l l t , . . . s t a t t sich d e r geschichtlichen B e w e g u n g entgegenzustellen u n d d a d u r c h z u j e n e r U n s i t t l i c h k e i t v e r d a m m t zu w e r d e n , seiner R i c h t u n g nach v i e l m e h r durchaus z u s a m m e n m i t der E n t w i c k l u n g des gesamten V o l k e s , m i t d e m Siege der Idee, m i t d e m F o r t s c h r e i t e n der K u l t u r " 3 9 . A n Rousseau u n d dessen v o l o n t é générale, d e r e n soziale Basis die Klassenlage des K l e i n b ü r g e r t u m s i n e i n e m Gem e i n w e s e n v o n überschaubarer Größe w a r 4 0 , k n ü p f t e Lassalle n u r i n d i herrscht, nichts ist mehr allgemeine Ansicht. . . . Es gibt heutzutage nicht mehr, w i e zu jeder andern Zeit, eine bestimmte Substanz von Gesinnungen, welche die ethische Welt beherrschen. Sondern es ist die bunteste Mosaik der allerverschiedenartigsten Welten u n d Gesinnungen, die gleichzeitig existiert. I n dieser bunten Mosaik, i n diesem Untergegangensein alles geistigen Einklangs ist wenigstens das Gute, daß k e i n I n d i v i d u u m mehr allein zu stehen braucht, daß es f ü r jede Meinung Gesinnungsgenossen u n d Glaubensbrüder gibt, f ü r jeden Standpunkt Teilnehmer, u n d daß es sich n u r darum handelt, sich diese u m sich zu sammeln; daß ferner jedes I n d i v i d u u m dann sich u n d seinen Standpunkt u n d Kreis als die berechtigte u n d wahrhaftige Welt u n d die andern als n u r individuelle Unvernunft u n d als n u n sich i n Bann u n d Acht getan (wenn zwei Standpunkte sich ausschließen, schließen sie sich gegenseitig aus) betrachten k a n n u n d dies auch dadurch nicht gehindert w i r d , daß vielleicht mehr Individuen i h m gegenüberstehen, zumal wenn er dafür Vernunft, Wissenschaft u n d die geschichtliche Bewegung f ü r sich hat, da es das Zählen der Individuen i n keiner Hinsicht macht. Später w i r d es schon wieder einmal zur aneinander krachenden, negativen Ausschließlichkeit kommen, u n d das w i r d eben nicht zum Nachteil unserer Farbe sein . . . " 88 „Arbeiterprogramm", i n : Reden u n d Schriften, Bd. I I , S. 187. 39 Ebd., S. 193/194. Die hier entwickelte geschichtsphilosophische Stufenfolge des jeweils herrschenden Klassenprinzips hat M e h r i n g zu dem U r t e i l veranlaßt, „Lassalles ,Arbeiterprogramm' sei das »Kommunistische Manifest' i m Spiegel der deutschen Zustände". (Franz Mehring, Geschichte, Bd. I, S. 673). Während f ü r Mehring die auch von i h m nicht geleugnete idealistische Staatsauffassung Lassalles „sich mehr . . . nach ihrer F o r m als nach ihrem I n h a l t anfechten" läßt (ebd., S. 676), ist f ü r M a r x das „Arbeiterprogramm" nichts als eine „schlechte Vulgarisation" des Kommunistischen Manifests (Brief an Engels v o m 28.1.1863, MEW, Bd. 30, S. 322). 40 Vgl. I r i n g Fetscher, Rousseaus politische Philossophie. (Politica Bd. 1), Neuwied 1960, S. 214 ff.

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rekt über Fichte an. Die von Talmon für Fichte und die romantische Phase des „politischen Messianismus" aufgestellte These, daß „der Widerspruch zwischen dem egoistischen Impuls und dem Gefühl eines unpersönlichen gewaltigen Einssein . . . seine Lösung (findet) i m Aufgehen des einzelnen i n einer Idee" 4 1 findet seine Entsprechung bei Lassalle: „Die sittliche Idee des Arbeiterstandes . . . ist die, daß die ungehinderte und freie Betätigung der individuellen Kräfte durch das Individuum noch nicht ausreiche, sondern daß zu ihr i n einem sittlichen geordneten Gemeinwesen noch hinzutreten müsse: die Solidarität der Interessen, die Gemeinsamkeit und die Gegenseitigkeit der Entwicklung 4 2 ." Diese Demokratie der Volksgemeinschaft, deren potentiell totalitäre Ausformung nicht zu übersehen ist, war i n dem Moment theoretisch nur mehr schwierig aufrechtzuerhalten, als m i t der Gründung des A D A V und seinem für jene Zeit beispiellosen Maß an Organisation 43 die postulierte Interessensolidarität m i t der Gesamtgesellschaft der Effizienz und dem Durchsetzungsvermögen einer i m Prinzip nur A r beiter umfassenden 44 politischen Kampfgemeinschaft geopfert wurde 4 5 . Und so antwortet er m i t deutlicher Akzentverschiebung i n seinem „Offenen Antwortschreiben" auf die selbstgestellte Frage, was denn der Staat sei: „Ihnen also, meine Herren, den notleidenden Klassen, gehört der Staat, nicht uns, den höheren Ständen, denn aus Ihnen besteht er! . . . Ihre, der ärmeren Klassen, große Assoziation — das ist der

41 J. L. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, 2. Bd. (Politischer Messianismus), K ö l n u. Opladen 1963, S. 169. F ü r Talmon illustriert Fichte „die erstaunliche Verschiebung i m deutschen Denken v o m atomistischen Rationalismus zum romantischen Organizismus". Ebd., S. 169. 42 „Arbeiterprogramm", Reden u n d Schriften, Bd. I I , S. 195. 43 Vgl. Thomas Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, Düsseldorf 1961 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 18) S. 294. 44 Vgl. Statut des A D A V § 2: „Jeder deutsche Arbeiter w i r d durch einfache Beitrittserklärung M i t g l i e d des Vereins . . . Ebenso ist der Vorstand berechtigt, auch Nichtarbeiter, welche dem Verein beitreten wollen, und m i t den Grundsätzen u n d Zwecken desselben einverstanden sind, als Mitglieder aufzunehmen." (Lassalle, Reden u n d Schriften, Bd. I V , S. 246/7). Die Absicht, den Verein klassenmäßig „ r e i n " zu halten, w i r d auf eine n u r ironisch zu kommentierende Weise i n § 8 der „ I n s t r u k t i o n f ü r die Bevollmächtigten des A D A V " deutlich: „Wo keine Bedenken vorliegen, also i n der Regel, haben Sie die Aufnahme sofort zu bewirken . . . Wo Ihnen Bedenken vorzuliegen scheinen, haben Sie unter Angabe derselben sowie aller f ü r u n d gegen sprechenden Gründe u n d Umstände zuvor an den Vorstand zu berichten. I n die Klasse der Personen, i n bezug auf die stets beim Vorstande anzufragen ist, gehören der Regel nach alle Literaten." (Ebd., S. 257) 45 Daß Na'aman, S. 63, diesen Prozeß als geistige Krise Lassalles gewertet wissen w i l l , w i r d n u r verständlich durch seine Absolutsetzung der „integralen Demokratie". (Ebd., S. 65 ff.)

4 Misch

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Staat 4 6 ." Die Erwartungen Lassalles i n das Echo seiner Agitation orientierten sich offensichtlich an der nach Millionen zählenden Zahl der Unterschriften für die Wahlrechtspetition während der englischen Chartistenbewegung. So schreibt Lassalle i m Frühjahr 1863 — noch vor der Gründung des A D A V — an Gustav Lewy: „ E i n solcher Verein . . . , 100 000 Arbeiter i n Deutschland umfassend m i t jährlich 150 000 Talern Agitationsmitteln, und energisch geleitet — das wäre eine Macht 4 7 ." Obwohl kurz vor Gründung des A D A V , i m Mai 1863, Lassalle sich schon zurückhaltender über den zu erwartenden Zulauf äußerte 48 , konkretisierte sich das „unsterbliche Verdienst", die Arbeiterbewegung nach fünfzehnjährigem Schlummer i n Deutschland wieder wachgerufen zu haben 49 , weitaus bescheidener; bei Lassalles Tod (Aug. 1864) umfaßte der A D A V lediglich ca. 4600 Mitglieder, davon ganze 35 i n Berlin 5 0 . Ungeachtet dieses sich i m ganzen gesehen zunächst recht träge ausnehmenden Unterfangens bleibt festzuhalten, daß sich mit Gründung des A D A V eine immer mächtiger werdende Bewegung i m politischen Leben Gehör zu verschaffen verstand, die allein durch die Tatsache ihres Bestehens Wirklichkeit und Ideologie des frühkapitalistischen liberalen Rechtsstaates i n Frage stellte und schließlich auch entscheidend veränderte. Der „Nachtwächteridee" 51 , die den Staatszweck auf den Schutz der persönlichen Freiheit des einzelnen und seines Eigentums beschränkte, — i n klassischer Weise i n Wilhelm v. Humboldts „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" auf den Begriff gebracht —, setzt Lassalle — damit den Anspruch des liberalen Bürgertums auf M i t w i r k u n g i m Staate bei 48 „Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig". Reden u n d Schriften, Bd. I I I , S. 80/81. 47 Lassalle, Nachlaß, Bd. V, S. 111. Die Z a h l von 1 000 000 i n dem zitierten Brief beruht höchstwahrscheinlich auf einem Druckfehler. Vgl. die entsprechenden Zahlen i m „Offenen Antwortschreiben" (Reden und Schriften, Bd. I I I , S. 90) von 100 000 bzw. 160 000. Auch Oncken, S. 343, zitiert die Zahl von 100 000. 48 Vgl. Lassalles Brief an W i l h e l m Rüstow v o m M a i 1843: „Ich w i l l n u r eine Minorität, das ist natürlich. Alles, was i n der Welt passiert ist, ist m i t Minoritäten gemacht. M i t hundert Arbeitern, w i e Herwegh sagt, nein — damit ist eine politische Partei nicht zu machen. Eine Sekte für spätere Zeiten ließe sich damit gründen. Keine Partei. Dann habe ich Unrecht gehabt; dann b i n ich zu f r ü h gekommen, dann w e n n mein Arbeiterverein binnen Jahresfrist nicht zehntausend Arbeiter hat, dann allerdings werde ich m i r überlegen, ob ich nicht ganz auf die P o l i t i k verzichte, da alle Aufopferung dann nutzlos war." Nachlaß, Bd. V, S. 171. 49 M a r x an Schweitzer am 13. Okt. 1868, i n : NZ, X V . Jg., Bd. I, 1896/97, S. 8. 50 Vgl. Oncken, S. 347. 51 „Arbeiterprogramm", Reden u n d Schriften, Bd. I I , S. 195.

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gleichzeitiger B e t o n u n g seines v o n der Gesellschaft e x e m p t e n Bereichs s p r e n g e n d — e i n e n »vergesellschafteten', n u r scheinbar ü b e r d e n K l a s sen u n d i h r e n Interessen stehenden S t a a t 5 2 entgegen, der seine L e g i t i m a t i o n aus der u n g e h e u r e n Ü b e r z a h l des U n t e r d r ü c k t e n u n d A u s g e b e u t e t e n g e w i n n t . I n s t r u m e n t dieses E m a n z i p a t i o n s k a m p f e s ist die P a r t e i , die sich — als O r g a n i s a t i o n n o t w e n d i g n u r eine M i n o r i t ä t i h r e s sozialen P o t e n t i a l s u m f a s s e n d — i h r e m A n s p r u c h u n d S e l b s t v e r s t ä n d nis nach aber u n i v e r s e l l m i t d e m Interesse i h r e r Klasse v e r b i n d e t u n d i n Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t d e n E r k e n n t n i s s e n der Wissenschaft als T r ä ger der Idee des F o r t s c h r i t t s schlechthin f u n g i e r t 5 8 . M i t dieser K o n z e p t i o n der P a r t e i v e r l ä ß t Lassalle d e n B o d e n des l i b e r a l e n P a r t e i b e g r i f f s , der seine B e g r e n z u n g i n d e n S c h r a n k e n des k o n s t i t u t i o n e l l e n Staates n i c h t v e r l e u g n e n k a n n . I n B e z u g gesetzt zu der D i c h o t o m i e v o n S t a a t u n d Gesellschaft r e d u z i e r t e sich die diesen V e r e i n i g u n g e n zugestandene W i r k s a m k e i t a u f d e n l o c k e r e n Z u s a m m e n schluß v o n gebildeten, p o l i t i s c h i n t e r e s s i e r t e n M ä n n e r n als zureichende G r u n d l a g e eines die V o l k s s o u v e r ä n i t ä t u n d die aus i h m folgende V e r k l a m m e r u n g v o n Repräsentant u n d Repräsentierten perhorreszierenden Honoratiorenparlamentarismus 54. 52 Vgl. Geschichte der sozialen Entwicklung, Nachlaß Bd. V I , S. 94: „Die herrschende Klasse i n der Gesellschaft bedient sich stets u n d immer der Staatsgewalt, Staatsform, u m i n der Staatsverfassung ihre Herrschaft über die anderen Klassen zu sichern." 53 Vgl. Lassalles Gerichtsrede „Die Wissenschaft u n d die Arbeiter", Reden u n d Schriften, Bd. I I , S. 247/8: „ Z w e i Dinge allein sind groß geblieben i n dem allgemeinen Verfall, der für den tieferen Kenner der Geschichte alle Z u stände des europäischen Lebens ergriffen hat, zwei Dinge allein sind frisch geblieben u n d fortzeugend m i t t e n i n der schleichenden Auszehrung der Selbstsucht, welche alle Adern des europäischen Lebens durchdrungen hat: Die Wissenschaft u n d das Volk, die Wissenschaft u n d die Arbeiter! . . . Die Alliance der Wissenschaft u n d der Arbeiter, dieser beiden entgegengesetzten Pole der Gesellschaft, die, w e n n sie sich umarmen, alle Kulturhindernisse i n ihren ehernen A r m e n erdrücken werden — das ist das Ziel, dem ich, so lange ich atme, mein Leben zu weihen beschlossen habe." Der Gedanke von der Wissenschaft als leitender K r a f t der Gesellschaft k n ü p f t — ohne eine direkte Abhängigkeit behaupten zu wollen — w o h l mehr an Saint-Simon u n d Weitling an als an M a r x (wie Oncken, S. 223, meint), deren Werke Lassalle, bereits als Zwanzigjähriger, gelesen hatte. (Vgl. Oncken, ebd., S. 53) Als Marginalie zur Geschichte der sozialistischen Wahlrechtsvorstellungen ist hier hinzuzufügen, daß Weitling i n seinen „Garantien der Harmonie u n d der Freiheit" (erschienen 1842) die Thematik ,Änderung des Wahlsystems' nicht unter dem Gesichtspunkt einer Reform des von i h m abgelehnten Repräsentativsystems, sondern gemäß seiner M a x i m e : „die Philosophie muß regieren" hinsichtlich der wissenschaftlichen Auswahlkriterien für die Besetzung der obersten Staatsämter erörtert. (Neudruck, B e r l i n 1955, S. 147) 54 Vgl. die Begriffsbestimmung Johann Caspar Bluntschlis: „Die p o l i t i schen Parteien sind keine Glieder i n dem Organismus des Staatskörpers, sondern sie sind freie, i n ihrer Zusammensetzung dem wechselnden B e i t r i t t u n d A u s t r i t t anheimfallende Gesellschaftsgruppen, welche durch eine bestimmte Gesinnung u n d Richtung zu gemeinsamer politischer A k t i o n ver-

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Der Demokratie i m Staate ist die i n der Partei, dem A D A V , nachgebildet, deren Willen als Organisation sich i m Willen ihres Führers konkretisierte 5 5 . Das später immer wieder nicht nur von Marx und Engels, sondern auch von den Eisenachern kritisierte autoritäre, auf den Präsidenten Lassalle zugeschnittene Vereinsstatut 56 war sicherlich nicht nur Ausfluß der reaktionären preußischen Vereinsgesetze 57 . Lassalle hat aus der für i h n bestehenden Notwendigkeit einer Erziehungsdiktatur kein Hehl gemacht. I n einem 14 Tage vor Gründung des A D A V an einen Arbeiter gerichteten Brief offenbarte er seine Pläne ohne Verschleierung: „Wer auch Präsident sei, die Präsidialgewalt muß so diktatorisch als möglich organisiert sein 58 ." Und wenn er sich A k k l a mation für die von i h m propagierte „Diktatur der Einsicht" suchte, dann schreckte er auch nicht vor einem guten Schuß Demagogie zurück, wie seine letzte Rede vor dem A D A V i n Ronsdorf belegt: „ W i r müssen unserer aller Willen i n einen einzigen Hammer zusammenschmieden und diesen Hammer i n die Hände eines Mannes legen, zu dessen Intelligenz, Charakter und guten Willen w i r das nötige Zutrauen haben, damit er aufschlagen kann m i t diesem Hammer! Die beiden Gegensätze, die unsere Staatsmänner bisher für unvereinbar betrachteten, Freiheit und Autorität — die höchsten Gegensätze, sie sind auf das innigste vereinigt i n unserem Vereine, welcher so nur das Vorbild i m kleinen unserer nächsten Gesellschaftsform i m großen darstellt. . . . Diese Disziplin beruht auf keinem anderen Grunde, als auf dem Geiste unseres Vereins, auf der hellen Erkenntnis, daß nur durch die Diktatur der Einsicht, nicht durch die Krankheit des individuellen Meinens und Nörgeins, die großen, gewaltigen Übergangsarbeiten der Gesellschaft zu bewerkstelligen sind 5 9 ." bunden sind." Charakter u n d Geist der politischen Parteien, Nördlingen 1869, S. 9. 55 Vgl. die auf den Führungsstil Lassalles hinzielende Feststellung Gollwitzers: „Von der Ebene des Staates hat er den Cäsarismus auf die der Klasse u n d der Partei verlagert." Heinz Gollwitzer, „Der Cäsarismus Napoleons I I I . i m W i d e r h a l l der öffentlichen Meinung Deutschlands", i n : H Z 173, 1952, S. 72. 56 Zusammengefaßt dargestellt bei Susanne Miller, S. 48 ff. 57 Entsprechend seiner insgesamt positiven Beurteüung Lassalles wertet Mehring das Vereinsstatut: „Es k a n n nicht geleugnet werden, daß möglichst diktatorische Vollmachten f ü r den ersten Präsidenten i n der N a t u r der Sache lagen, gleichviel ob sie Lassalles persönlichen Neigungen entsprachen oder nicht." Mehring, Bd. I I , S. 78. 58 Abgedruckt i n : Dokumente des Sozialismus, hrsg. von Eduard Bernstein, Stuttgart 1902 ff., Bd. I V , S. 474. Vgl. auch den Brief Lassalles an den Hamburger Bevollmächtigten des Vereins, Perl: „Sollten meine Gründe Sie nicht überzeugt haben, so bitte ich Sie eben, m i r zu glauben: es ist so u n d w i r d so sein, w i e ich sage. . . . Es muß eben ein W i l l e sein! Wie sollte man sonst eine Partei führen können?" (Reden u n d Schriften, Bd. I V , S. 310/311). 59 Reden u n d Schriften, Bd. I V , S. 226/227. Das Protokoll notiert am Ende des zitierten Abschnitts „anhaltenden, rauschenden Beifall". Wenn Häuf-

I I . Lassalles Konzeption der plebiszitären F ü h r e r d e m o k r a t i e 5 3 D i e F o r d e r u n g nach a l l g e m e i n e m u n d g l e i c h e m W a h l r e c h t — l a u t S a t z u n g das einzige politische Z i e l des A D A V 6 0 — w a r n u r die zugespitzte Quintessenz v o n Lassalles Staats- u n d D e m o k r a t i e b e g r i f f . I n a u ß e r o r d e n t l i c h w i r k s a m e r Weise v e r k ö r p e r t e sie e i n e n agitatorischen K r i s t a l l i s a t i o n s p u n k t , m i t dessen e i n g ä n g i g e r P r o p a g i e r u n g sich die A d r e s s a t e n l e i c h t i d e n t i f i z i e r e n k o n n t e n . N i c h t die ö k o n o m i s c h e n F o r d e r u n g e n z u r U b e r w i n d u n g des „ e h e r n e n Lohngesetzes" w i e die nach staatlicher U n t e r s t ü t z u n g f ü r P r o d u k t i v a s s o z i a t i o n e n b i l d e t e n das K e r n s t ü c k der p o l i t i s c h e n A k t i o n Lassalles, s o n d e r n „ d i e l e i t e n d e n Ges i c h t s p u n k t e f ü r die P r a x i s " ergab „ d e r D e m o k r a t i s m u s " 6 1 . Theoretisches F u n d a m e n t der F o r d e r u n g nach d e m a l l g e m e i n e n u n d gleichen W a h l r e c h t i s t die B e j a h u n g der V o l k s s o u v e r ä n i t ä t 6 2 . Lassalle s t ü t z t sich n i c h t auf die K o n s t r u k t i o n des W a h l r e c h t s als N a t u r r e c h t 6 3 , die F o r d e r u n g i s t n i c h t A u s f l u ß eines w e i t g e h e n d theoretischen P r i n zips der G e r e c h t i g k e i t w i e später die W a h l r e c h t s v o r s t e l l u n g e n der schild, S. 130, schreibt, „die mystifizierende Apotheose der Partei u n d die suggestive Dämonisierung der F ü h r e r - A u t o r i t ä t i n der Eonsdorfer Rede (erkläre sich) als der krampfhafte Versuch, die schleppende Bewegung m i t stimulierenden M i t t e l n voranzutreiben u n d zugleich die innere Ermattung des Parteichefs zu vertuschen", so kann er zu diesem U r t e i l — trotz richtig angeführten biographischen Bezugs — n u r kommen unter Relativierung inhaltlich ähnlicher Formulierungen Lassalles. So ist die folgende Stelle aus dem Brief Lassalles an Bismarck v o m 8. 6.1863 sicher nicht n u r als t a k tischer Versuch zu deuten, Bismarcks cäsaristische Hoffnungen zu nähren. Z u r Überreicherung des Status des A D A V , der „Verfassung meines Reiches" schreibt er: „ A b e r es w i r d Ihnen aus diesem Miniaturgemälde deutlich die Überzeugung hervorgehen, wie w a h r es ist, daß sich der Arbeiterstand i n stinktmäßig zur D i k t a t u r geneigt fühlt, w e n n er erst m i t Recht überzeugt sein kann, daß dieselbe auch i n seinem Interesse ausgeübt w i r d . " (Gustav Mayer, Bismarck u n d Lassalle, Stettin 1928, S. 59/60). 60 § 1 lautet: „ U n t e r dem Namen ,Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein' begründen die Unterzeichneten f ü r die deutschen Bundesstaaten einen V e r ein, welcher, von der Überzeugung ausgehend, daß n u r durch das allgemeine gleiche u n d direkte Wahlrecht eine genügende Vertretung der sozialen Interessen des deutschen Arbeiterstandes u n d eine wahrhafte Beseitigung der Klassengegensätze i n der Gesellschaft herbeigeführt werden kann, den Zweck verfolgt, auf friedlichem u n d legalem Wege, insbesondere durch das Gewinnen der öffentlichen Überzeugung, f ü r die Herstellung des allgemeinen gleichen u n d direkten Wahlrechts zu w i r k e n . " (Lassalle, Reden u n d Schriften, Bd. I V , S. 246). 61 K u r t Brandis, Die deutsche Sozialdemokratie bis zum Falle des Sozialistengesetzes, Leipzig 1931, S. 11. Allerdings erfaßt der Begriff ,Demokratismus' (doch w o h l zu verstehen als zur Ideologie geronnene Demokratie) nicht den Stellenwert des Wahlrechts i n der A g i t a t i o n Lassalles. 62 Bereits 1849 versuchte Lassalle — i n seiner nie gehaltenen „Assisenrede" — den bestehenden Staat am Prinzip der Volkssouveränität zu messen: „Das Grundprinzip des konstitutionellen Staates ist, daß i n i h m nicht mehr der W i l l e des Monarchen herrsche, daß er vielmehr der Ausdruck des allgemeinen Volkswillen sei, der sich durch die Volksrepräsentation zur Geltung zu bringen hat." (zit. nach Oncken, S. 88) es Vgl. Ramm, S. 61.

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Sozialdemokratie, sie ergibt sich zwingend i n dem Augenblick, wo die Arbeiterschaft das politische Instrument zur Verbesserung ihres Klassenloses sucht. Wahlrecht ist nicht — oder jedenfalls nicht i n erster Linie — logisch notwendiger Bestandteil des Idealzustandes Demokratie, das allgemeine und gleiche Wahlrecht ist vor allem der Hebel, „die reellen, tatsächlichen Machtverhältnisse" zu verändern. Für Lassalle ist unzweifelhaft, daß seine Einführung nicht nur einen auf das Formale beschränkten Verfassungswandel 64 zur Folge hätte, „denn es ist doch klar, daß unter dem allgemeinen und direkten Wahlrecht der Staat jedenfalls ein ganz anderer sein würde, als der heutige" 6 5 . Das Konstituens des vierten Standes als unterster Stand der Gesellschaft bietet keinen Raum einer Privilegienherrschaft i n neuem Gewände. Die Herrschaft des Feudaladels gründete sich auf Grundbesitz, die des Bürgertums auf Eigentum an Kapital und daran gebundene Wahlrechtsqualifikation 6 6 . Die Herrschaft des Arbeiterstandes ist nicht möglich ohne die Gleichberechtigung aller anderen Klassen. Alleiniges Maß ist ganz mechanisch die Zahl gleicher Individuen: „Prinzip des Arbeiterstandes (ist der) Anteil aller an der Bestimmung des Staatswillens 67 ." Nicht staatsrechtlich durch Änderung des entsprechenden Verfassungsartikels würde sich die Egalisierung des Wahlrechts erschöpfen, ausschlaggebend wäre vielmehr die dadurch offenkundig gewordene machtpolitisch entscheidende Verknüpfung des gesellschaftlichen mit dem staatlichen Bereich. Dementsprechend nennt es Lassalle vor den Leipziger Arbeitern „nicht nur I h r politisches, (sondern auch) I h r soziales Grundprinzip" 6 8 . Lassalles Begründung für das politische Ziel des direkten, allgemeinen und gleichen Wahlrechts ist nicht nur Ausfluß demokratischer Ideologie, sondern auch soziologischer Empirie. Ähnlich wie Sieyes 1789 den Dritten Stand m i t seinen 19/20 der Nation zum wahren Souverän erklärte, so gründete sich die politische A k t i o n Lassalles auf den vierten, enterbten Stand der Gesellschaft, „der 1789 noch i n den Falten des dritten Standes verborgen war und m i t i h m zusammenzufallen schien, welcher jetzt sein Prinzip zum herrschenden Prinzip der Gesellschaft erheben und alle ihre Einrichtungen m i t demselben durchdringen w i l l " 6 9 . Zu den notleidenden Klassen, die Lassalle m i t Beginn seiner Arbeiteragitation m i t dem Staat begrifflich zu verschmelzen suchte, 84 „Das formelle M i t t e l der Durchführung dieses Prinzips (des Arbeiterstandes) ist das . . . allgemeine u n d direkte Wahlrecht." Ebd., S. 188. 65 „Arbeiterlesebuch". Reden u n d Schriften, Bd. I I I , S. 245. 66 „Arbeiterprogramm", ebd., Bd. I I , passim. 67 „Arbeiterprogramm", ebd., Bd. I I , S. 199. 68 „Offenes Antwortschreiben", ebd., Bd. I I I , S. 186. 69 „Arbeiterprogramm", ebd., Bd. I I , S. 186.

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rechnete er nicht weniger als 96 °/o der Bevölkerung. Die Zahl erhielt er durch eine preußische Einkommensstatistik aus dem Jahre 1851, nach der nur 33/4 %> der Einwohner m i t einem jährlichen Einkommen von über 400 Talern leben konnten, 96,25 °/o aber m i t 400 Talern, 72,25 °/o sogar m i t weniger als 100 Talern auskommen mußten 7 0 . Daß Lassalle die Einkommensteuerstatistiken als einzige Quelle für die Zuordnung zu einer Bevölkerungsklasse benutzte, ist sicherlich nicht nur m i t der beabsichtigten propagandistischen Sprengkraft der von i h m errechneten Zahlen zu erklären 7 1 , die i n ihren absoluten Größenordnungen auch später nicht widerlegt werden konnten 7 2 . Die Benutzung dieser Zahlen als einziges empirisches K r i t e r i u m für den Adressaten seiner politischen Aktion, die Arbeiter, läßt erkennen, daß Lassalle nicht mit den durch differenzierten Status bedingten verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb der 96 "°/o Minderbemittelten rechnete 73 bzw. ihre u. U. gegenläufigen Interessen ignorierte. Besonders deutlich w i r d das i m Zusammenhang m i t seiner sozialen Hauptforderung, dem zweiten Pfeiler seiner Agitation: der durch Staatsmittel geförderten Errichtung von Produktivassoziationen 74 . Die emphatisch beschworene Macht der 96 °/o als Basis für eine solidarische Durchdringung und Ausübung der Staatsgewalt wurde notwendig schon bei dem Versuch, solche Assoziationen zu errichten, durch den Gegensatz von ländlichen und städtischen Unterschichten eines noch ganz überwiegend agrarisch strukturierten Landes i n Frage gestellt 7 5 ; denn die — recht begrenzten — finanziellen Mittel des Staates würden als ersten nur den Industriearbeitern als der „Avantgarde der Menschheit" 76 zugute kommen; den Landarbeitern 1 „Offenes Antwortschreiben", ebd., Bd. I I I , S. 79. Vgl. „Arbeiterlesebuch", ebd., Bd. I I I , S. 214 ff., w o er die Zahlen geringfügig varüert. 71 Zweifel an seinen Zahlen nutzt er i n seinen Reden demagogisch aus: „Jawohl, man w i l l den unbemittelten Klassen ihre Zahl verschweigen, u m ihnen ihre Macht zu verschweigen." („Arbeiterlesebuch", ebd., S. 206). 72 Vgl. A n m . 1 von Eduard Bernstein, ebd., Bd. I I I , S. 80. 73 Vgl. z. B. die detaülierte Aufgliederung des Arbeiterstandes m i t den vielfältigen sozialen Abstufungen zwischen Handwerksmeistern u n d ungelernten Tagelöhner bei Conze, Möglichkeiten, S. 6 ff. 74 Schon als Lassalle den Staat m i t jenen 96 °/o i n gedrückten Verhältnissen Lebenden identifizierte u n d damit die restlichen 4 % i m p l i z i t als i m Gegensatz zur ,volonté généralé stehend brandmarkte, w a r f i h m Franz Ziegler vor, m i t dem allgemeinen Wahlrecht „Interessenpolitik" treiben zu w o l l e n ; f ü r die radikale Demokratie gelte nicht die „Magenpolitik", sondern i n erster Linie „die ganze Idee der Menschheit". (Lassalle, Nachlaß Bd. V, S. 102/103). Die weitere soziale Aufgliederung der Unterklassen macht die empirischen u n d auch praktisch-politischen Schwierigkeiten deutlich, den ideologischen Demokratiebegriff aufrechtzuerhalten. 75 Nach Oncken, S. 238, betrug die Zahl der i n der Fabrikindustrie Beschäftigten Anfang der 60er Jahre i n Preußen 0,77 M i l l . gegenüber 1,09 M i l l . Handwerkern u n d 3,43 M i l l . i n der Landwirtschaft Beschäftigten. 76 „Arbeiterlesebuch", Reden u n d Schriften, Bd. I I I , S. 264. 70

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B. Wahlrecht u. Wahlsystem i n der politischen Konzeption Lassalles

und Kleinbauern bliebe zunächst nur die Hoffnung auf die dadurch geförderte Entwicklung ganz neuer, auch die Bewirtschaftung des Bodens beeinflussender Produktionsverhältnisse 77 . Die Forderung nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht war auch i n demokratischen Kreisen jener Zeit alles andere als unumstritten, war doch das französische Experiment i n die Bonapartische Diktatur umgeschlagen. Marx 9 Verdikt, für den Lassalle ein „aufgeklärter Bonarpartist" 7 8 war, t r i f f t durchaus die Haltung Lassalles zu diesem Punkt, der „zwar die Herrschaft Napoleons unverblümt als Militärdespotismus bezeichnet, aber . . . undoktrinär genug war, sich an der Machttechnik des Diktators ein Vorbild zu nehmen" 7 9 . Die „Diktatur der Einsicht" und der i n Frankreich praktizierte Bonarpartismus waren für Lassalle keine identischen Herrschaftsformen. Jene bleibt unauflöslich an die Spontaneität eines Gemeinwillens gebunden, die Volkssouveränität dieses jedoch „gipfelt i n dem Recht, sich selbst abzuschaffen" 8 0 . Nicht der sozusagen blinden Diktatur von oben, sondern der „Diktatur der objektiven Erkenntnis" 8 1 als Ausdruck der „Einheit von Politik und Wissenschaft" 82 gilt sein Bemühen, wenn er auch nicht ganz ohne Bedenken gegenüber der Urteilsfähigkeit des Souveräns Volk ist: „Ständen die ,signatura temporis' wirklich auf Cäsarismus, so wäre alles verloren für die Gegenwart" 8 3 . Und trotzdem gibt es für ihn keinen Zweifel, daß das Wahlrecht langfristig seine Erwartungen erfüllen werde. Zwar sei es keine „Wünschelrute . . . , die . . . vor momentanen Mißgriffen schützen kann", es sei aber „jene Lanze, welche die Wunden wieder heilt, die sie schlägt" 84 . Überragende Bedeutung für Lassalle gewinnt das Wahlrecht als Erziehungsmittel der Massen, und wenn sich sogar unter den illiberalen Bedingungen i n Frankreich 1863 die Zahl 77

Ebd. Das bedeutet nicht w i e Gottschalch (Wilfried Gottschalch, Friedrich Parrenberg, Franz Josef Stegmann, Geschichte der sozialen Ideen i n Deutschland, Deutsches Handbuch der P o l i t i k Bd. 3, M ü n c h e n - W i e n 1969, S. 88) meint, daß Lassalle den Landarbeitern keine Aufmerksamkeit schenkte. Vgl. die von Gottschalch übersehene A r b e i t von Shlomo Na'aman. („Lassalles Beziehungen zu Bismarck — i h r Sinn u n d Zweck", i n : Archiv f ü r Sozialgeschichte, I I . Bd., 1962, S. 68), i n der Beispiele f ü r die ländliche Agitation zu finden sind. Die Übernahme einiger Elemente der marxistischen LassalleK r i t i k verführen Gottschalch ebenfalls zu Fehlurteilen über den Lassallischen Staatsbegriff. (Vgl. S. 92). 78 Zitiert nach der Einleitung von Mayer, i n : Lassalle, Nachlaß Bd. I I I , S. 22. 79 Gollwitzer, S. 71/72. 80 Robert Michels, Z u r Soziologie des Parteiwesens i n der modernen Demokratie, hrsg. von W. Conze, Neudruck der 2. Aufl., Stuttgart 1957, S. 209. 81 Shlomo Na'aman, Lasalle — Demokratie u n d Sozialdemokratie, S. 65. 82 Vgl. Thilo Ramm, Lassalle, S. 195 f. 83 Lassalle, Nachlaß Bd. V I , S. 358. 84 „Arbeiterprogramm", Reden u n d Schriften, Bd. I I , S. 188.

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der oppositionellen Abgeordneten von 5 auf 33 erhöht hatte 8 5 , so muß das für Lassalle eine sichtbare Ermutigung seiner Politik bedeuten, entspricht diese Entwicklung doch seiner Prophezeiung vor den Frankfurter Arbeitern: „Das allgemeine Wahlrecht belehrt durch seinen Gebrauch, und überdies, daß Ihnen dann diese Belehrung kommen wird, ist nicht zu bezweifeln; denn bei Ihnen ist das Interesse die Mutter der Einsicht, und das Interesse ist eine fruchtbare Mutter 8 6 ." I n den Reden Lassalles fehlt es nicht an Hinweisen, die seine Forderung nach Einführung des gleichen Wahlrechts damit begründen, daß von den auf dieser Grundlage zusammengesetzten Legislativorganen die Gewährung der für vernunftnotwendig gehaltenen Kredite für Produktivassoziationen zu erwarten seien 87 . Zu Recht läßt sich daraus der Schluß ziehen, daß „das demokratische Wahlrecht . . . nicht beliebige Resultate geben (soll) wie jeder Vulgärdemokrat meinte, sondern die Wissenschaft zum Durchbruch bringen (soll)" 88 . Sinn und Bedeutung des allgemeinen Wahlrechts für Lassalle werden jedoch verkannt, wenn man es nur als M i t t e l ansieht, „Manchestertum i n erhöhter Potenz" 89 , eine sich auf proletarische Wählerstimmen stützende Interessenpolitik mit reformerischer Absicht unter dem Etikett ,Lösung der sozialen Frage' 90 zu betreiben. Das Wahlrecht Lassalles erfüllt sich keinesfalls — wie i n den modernen Verfassungsstaaten — i n seinem Zweck als Instrument zur Besetzung politischer Führungspositionen. „So oft ich allgemeines Wahlrecht sage, muß es von euch Revolution' und wieder ,Revolution' verstanden sein", soll Lassalle i m vertrauten Kreise ausgeführt haben 91 . Durch das Wahlrecht den Elan, die Spontaneität der Massen zu mobilisieren, woraus nur ein Staat hervorgehen kann, der keine Identität m i t dem bestehenden mehr haben w i r d — das ist das Konzept Lassalles. Erkennbar w i r d hier die Ambivalenz und damit auch Unklarheit des Revolutionsbegriffs 92 , der sich auch bei Lassalle

85 Vgl. Die W a h l der Parlamente und anderer Staatsorgane, B e r l i n 1969, Bd. I , 1, S. 462. 86 „Arbeiterlesebuch", Reden u n d Schriften, Bd. I I I , S. 272. 87 „Offenes Antwortschreiben", ebd., Bd. I I I , S. 89; „Arbeiterlesebuch", ebd., S. 243. Vgl. auch Lassalles Brief an Rodbertus v o m 30.4.1863: „Ohne das allgemeine Wahlrecht, also eine praktische Handhabe, unsere Forderungen zu verwirklichen, können w i r sein eine philosophische Schule oder auch eine religiöse Sekte, aber niemals eine politische Partei. D a r u m scheint mir, daß das allgemeine u n d direkte Wahlrecht so zu unseren sozialen Forderungen gehört w i e der Stiel zu der A x t . " (Lassalle, Nachlaß Bd. V, S. 332). 88 Na'aman, Lassalles Beziehungen zu Bismarck, S. 79. 89 Ziegler an Lassalle am 1. März 1863. Lassalle, Nachlaß Bd. V, S. 103. 90 Vgl. Ramm, Lassalle, S. 62 f. 91 Bernstein, i n : Lassalle, Reden u n d Schriften, Bd. I I I , S. 176. 92 Vgl. dazu v. a. Susanne Miller, S. 26 ff.

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B. Wahlrecht u. Wahlsystem i n der politischen Konzeption Lassalles

zwischen den dialektisch verbundenen Polen der historischen Notwendigkeit und der A k t i o n des i n Übereinstimmung m i t den obwaltenden und sie beschleunigenden Geschichtstendenzen des historisch bewußt handelnden Individuums bewegt. Gegen diese historische Gesetzmäßigkeit läßt sich keine Revolution machen, sie wäre „die Torheit unreifer Menschen" 93 ; der „Hebammendienst" des Arbeiterführers an dem durchzusetzenden neuen Gesellschaftsprinzip ist jedoch nicht zu gering einzuschätzen. Hintergrund der politischen Aktion Lassalles seit Frühjahr 1862 war — wie w i r gesehen haben — der preußische Verfassungskonflikt. Seine beiden Verfassungsreden hatten den Sinn, die liberale Kammermehrheit zur intransigenten Konfrontation m i t der Regierung zu bewegen, i n deren Verlauf den sich organisierenden Gesellschaftsmächten eine starke Position gegenüber den beiden geschwächten Kontrahenten zufallen würde 9 4 . Einen neuen Ansatz für die Zuspitzung der Krise bot sich Lassalle i n den Unterredungen m i t Bismarck über die Einführung des allgemeinen Wahlrechts Anfang Januar 1864.

I I I . Die Bedeutung des Wahlrechts in den Beziehungen Lassalles zu Bismarck I n den taktischen Erwägungen Lassalles spielte nicht nur die Ausweitung des Wahlrechts selbst, sondern i n ganz besonderer Weise die Form dieser Änderung eine wichtige Rolle. Die Begegnungen Lassalles mit Bismarck kamen zustande, nachdem Lassalle Bismarck für den Fall, daß die Gerüchte von der bevorstehenden Oktroyierung des gleichen Wahlrechts zuträfen, geradezu gedrängt hatte, ihn vor Abfassung des Wahlgesetzes zu empfangen 1 . Die Überlegungen Bismarcks, eventuell nicht den legalen Weg zur Einführung des gleichen Wahlrechts zu gehen, wurden sicherlich durch die politische Unmöglichkeit bestimmt, das Abgeordnetenhaus zur verfassungsmäßigen Verabschiedung eines regierungsgenehmen Wahlgesetzes zu veranlassen 2 . Bei Lassalles Be93

„Die Wissenschaft u n d die Arbeiter". Reden und Schriften, Bd. I I , S. 165. Vgl. Lassalles Rede „Die Feste, die Presse und der Frankfurter Abgeordnetentag", v o m 20. Sept. 1863. Ebd., Bd. I I I , S. 341 ff., w o er diese T a k t i k i n bezug auf die anstehenden Wahlen zum Abgeordnetenhaus noch einmal erläuterte: „Solange das allgemeine Wahlrecht nicht besteht u n d solange w i r daher keine selbsteigene Stellung einnehmen können, solange muß es unser dringendstes taktisches Interesse sein, daß dieser K a m p f zwischen Reaktion u n d Fortschrittlern fortdauere . . . Ich sage, i n unserem Interesse ist es, daß dieser K a m p f fortdauere, nicht damit einer den anderen, sondern damit . . . sie sich gegenseitig auffressen u n d verschlingen. Ebd., S. 384. 1 Brief v o m 9. Januar 1864, i n : Mayer, Bismarck und Lassalle, S. 80. 2 Vgl. die Einleitung Gustav Mayers, ebd., S. 42 f. 94

I I I . Das Wahlrecht i n den Beziehungen Lassalles zu Bismarck

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fürwortung der Oktroyierung spielte vordergründig ganz gewiß auch die These der radikalen Demokratie eine Rolle, die immer wieder den Unrechtscharakter der i m Dezember 1848 oktroyierten Verfassung und des i n ihr enthaltenen Dreiklassen-Wahlrechts betonte 8 ; zugleich impliziert aber diese „demokratische Lückentheorie" 4 viel weitergehende Ziele als lediglich die Wiederherstellung verletzten Rechts. Es ist die weitreichende Konsequenzen nicht nur einkalkulierende, sondern beabsichtigende Kampfansage an das liberale Bürgertum und seine politische Partei, die Fortschrittspartei, die ihre demokratischen Zielsetzungen aufgegeben hatte und sich an das von der Reaktion eingeführte Dreiklassen-Wahlrecht klammerte, das zur politischen Garantie der sich abzeichnenden ökonomischen Vorherrschaft dieser Klasse wurde. Für Lassalle bestand nicht die Alternative Revolution oder Reformen i m Gefolge des allgemeinen Wahlrechts 5 , sondern i n der politischen Situation jenes Jahres konnte die Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechts als Initialzündung wirken, „denn niemand konnte daran zweifeln, daß dieser Weg hart am Rande der Revolution vorbei, wenn nicht mitten in sie hineinführte" 6 . Bei Lassalles Agitation für das gleiche Wahlrecht sind demokratische Ideologie und taktisch-politische A k t i o n i m Sinne eines Hebels zur Umgestaltung der Machtverhältnisse eng miteinander verbunden. Die Ausgestaltung des engeren Wahlsystems hingegen w i r d von theoretischen Erwägungen überhaupt nicht tangiert. Lassalles Entwurf eines Wahlgesetzes unter dem Titel ,Punktationen' 7 war Ausfluß taktischer Gemeinsamkeit i n dem Bewußtsein der strategischen Inkompatibilität mit dem Konzept des Adressaten auf der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums. Durch Gustav Mayer kennen w i r detailliert die Wahlmodifikationen, unter denen Bismarck die Oktroyierung allein erwogen haben mochte 8 . U m die Zahl der regierungstreuen Abgeordneten zu erhöhen, erwog er nicht nur, durch „ambulante Wahlbüros" die — öffentliche — Abstimmung i n den einzelnen Gemeinden und sogar Wohnungen vornehmen zu lassen; als verschärfte Variante der unter Napoleon III. üblichen behördlichen Unterstützung der „offiziellen Kandidaturen" gedachte er außerdem zum Ausgleich der sehr ge3 Vgl. „Arbeiterfrage". Reden u n d Schriften, Bd. I I I , S. 143; „Die Feste, die Presse . . . , ebd., Bd. I I I , S. 379 ff. 4 Na'aman, Lassalles Beziehungen zu Bismarck, S. 66. 5

So Ramm, Lassalle, S. 63. Mayer, Einleitung, S. 41; vgl. auch Na'aman, Lassalles Beziehungen zu Bismarck, S. 66 f. 7 Abgedruckt bei Mayer, S. 82. ö Ebd., Einleitung, S. 35 ff. 6

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B. Wahlrecht u. Wahlsystem i n der politischen Konzeption Lassalles

ringen Wahlbeteiligung 9 vor allem i n der dritten und mutmaßlich monarchisch gesinnten Wählerklasse, die nichtabgegebenen Stimmen automatisch dem Regierungskandidaten zuzuschlagen. Die Wahlrechtsvorstellungen Bismarcks auf dem Höhepunkt des Konflikts m i t der liberalen Abgeordnetenhausmehrheit verdeutlichen seine Absicht, zugunsten der monarchisch-regierungstreuen Gewalten den der ökonomischen Stellung des Bürgertums entsprechenden politischen Einfluß entscheidend zurückzudrängen, wobei er bereit war, den Unterschichten wohl eine gewisse soziale Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse, nicht aber die politischen Emanzipation zuzugestehen. Vor diesem Hintergrund muß Lassalles Brief an Bismarck einen Tag nach einer diesem Thema gewidmeten Unterredung verstanden werden. Nach dem Vorschlag, das passive Wahlrecht i n Preußen allen Deutschen zu erteilen (was die Bedeutung des Nationalen i n seiner Konzeption andeutet 10 ), schreibt Lassalle: „Was die Wahltechnik betrifft, so habe ich gestern Nacht die gesamte französische Gesetzgebungsgeschichte nachgelesen und da allerdings wenig Zweckmäßiges gefunden. Aber ich habe auch nachgedacht und bin nunmehr allerdings wohl i n der Lage, Ew. Excellenz die gewünschten Zauberrezepte zur Verhütung der Wahlenthaltung wie der Stimmenzerbröckelung vorlegen zu können. A n der durchgreifenden Wirkung derselben wäre nicht i m geringsten zu zweifeln 1 1 ." Näher ausgeführt werden diese „Zauberrezepte" i n den ,Punktationen', die Lassalle noch m i t zwei rechtsstaatlichen Garantien für die Wahlfreiheit versehen wissen wollte: einem liberalen Pressegesetz und einer Telegraphenmaßregel, mit der — nach Na'aman 12 — wahrscheinlich die Verstaatlichung des Nachrichtendienstes gemeint war. Als Mittel, das erste Problem, die geringe Wahlbeteiligung, zu lösen, schlägt Lassalle die Einführung der Wahlpflicht vor; zweimaliger Verstoß dagegen zieht den zehnjährigen Entzug der bürgerlichen Ehrenrechte nach sich. Die Wahlpflicht entsprach sicher Lassalles Vorstellung von der Demokratie als Mobilisierung der Volksmassen, ausschlaggebend für ihre Aufnahme i n die ,Punktationen 4 waren aber wohl nicht i n erster Linie ideologische, sondern praktische Gesichtspunkte: einerseits die Notwendigkeit, die Arbeiter aus der Indifferenz gegenüber ihrer politischen Organisation, dem A D A V , auf9 F ü r alle drei Klassen betrug die Wahlbeteiligung 1863 n u r 30,9%. Noch 1903, als sich die Sozialdemokratie an den Landtagswahlen beteiligte, gaben aus der 3. Klasse n u r 21,2 % ihre Stimme ab. Vgl. H e l l m u t h von Gerlach, Die Geschichte des preußischen Wahlrechts, B e r l i n 1908, S. 222 f. 10 Vgl. dazu: Werner Conze, Dieter Groh, Die Arbeiter i n der nationalen Bewegung. Die deutsche Sozialdemokratie vor, während und nach der Reichsgründung, Stuttgart 1966, v. a. S. 52 ff. 11 Mayer, S. 81. 12 Lassalles Beziehungen zu Bismarck, S. 68.

I I I . Das Wahlrecht i n den Beziehungen Lassalles zu Bismarck

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zurütteln 1 3 , andererseits dem eventuellen Versuch Bismarcks zuvorzukommen, das Problem der Wahlenthaltung auf andere, für Lassalle nachteilige Weise zu lösen 14 . Die Zersplitterung der Stimmen versuchen die ,Punktationen' durch Einführung der absoluten Mehrheitswahl zu umgehen. Kandidieren können i n den Wahlbezirken, die 100 000 Einwohner umfassen sollen, sowohl freie als auch Regierungskandidaten. Jeder Wähler schreibt die Namen zweier Kandidaten auf seinen Stimmzettel, und die beiden m i t den höchsten absoluten Stimmzahlen gelten als gewählt. W i r d i m ersten Wahlgang die absolute Mehrheit nur von einem oder gar keinem Kandidaten erreicht, so w i r d die Wahl wiederholt. Kommt es bei diesem 2. Wahlgang, bei dem sich nur die bereits nominierten Kandidaten beteiligen können, und anschließend auch bei einem dritten Wahlgang nicht zur Vereinigung einer absoluten Mehrheit auf einen oder zwei Kandidaten, so ruht für die Dauer der Legislaturperiode das Wahlrecht dieses Bezirks für die nicht erledigte Abgeordnetenstelle. Ganz deutlich t r i t t die Absicht Lassalles hervor, nach Abschaffung ihrer Besitzprivilegien i m Wahlrecht die zahlenmäßige Minorität des Großbürgertums zu einer quantité négligeable i n einem egalitären Wahlkörper zu machen. Lassalle t r i f f t sich dabei m i t dem erklärten Ziel Bismarcks, nur eine echte Majorität der Bevölkerung zum Träger der Abgeordnetenhausmehrheit zu machen 15 . Dem entspricht der Zwang, bei zwei zu vergebenden Mandaten auch zwei Kandidaten zu wählen; eine beschränkte Stimmgebung w i r d nicht erwogen, (die allerdings auch erst bei mehreren zu wählenden Abgeordneten der Minderheit eine Chance gegeben hätte). Noch deutlicher t r i t t das zutage, wenn Lassalle lieber einen Wahlbezirk eine ganze Legislaturperiode lang ohne Abgeordneten läßt, als auch nur ein wenig von der postulierten Legitimationsbasis der absoluten Mehrheit abzuweichen. Auffallend dabei ist, daß Lassalle nicht die Möglichkeit der Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten m i t den höchsten Stimmzahlen ins Auge faßt, eine Regelung, die das von der preußischen Nationalversammlung 1848 beschlossene Wahlsystem beispielsweise enthielt 1 6 . Allerdings verbietet 13

Vgl. Ramm, Lassalle, S. 63. W o h l ist m i t Mayer, Bismarck u n d Lassalle, S. 37/38, anzunehmen, daß Bismarck sich gehütet haben w i r d , Einzelheiten der ins Auge gefaßten Wahlmodifikationen u n d damit „über die Arcana, die sich i n der Küche des preußischen Polizeistaats vorfanden", mitzuteilen. Allein, die Heraushebung der Frage der Wahlbeteiligung i n der zitierten Briefstelle durch Lassalle läßt die Vermutung zu, daß er die Bismarcksche „Lösung" des Problems auf jeden F a l l vermeiden wollte. I m übrigen k a n n kein Zweifel daran bestehen, daß Lassalle nicht Bismarcks Liebäugeln m i t dem Bonapartismus durchschaut hätte. 15 Vgl. ebd., S. 35. 18 Vgl. Die W a h l der Parlamente, B. I, 1, S. 202. 14

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B. Wahlrecht u. Wahlsystem i n der politischen Konzeption Lassalles

die von Lassalle vorgeschlagene Regelung nicht ausdrücklich die Zurückziehung von Kandidaten i m zweiten und dritten Wahlgang und ermöglicht so die Konzentration der Stimmen auf die übriggebliebenen. Hierin aber eine Antizipation der später Gemeinplatz gewordenen sozialdemokratischen Abneigung gegen das System der Stichwahlen sehen zu wollen, wäre wahrscheinlich verfehlt, denn das die Problemat i k auslösende Moment ahnte Lassalle nicht voraus: Das Dilemma der Stichwahlen für die spätere SPD rührte nur von der Paria-Situation der sozialistischen Wahlkreis-Minoritäten her, während Lassalles Berechnung seines Wählerpotentials auf 89 - 96 % dem Gedanken einer dauernden Majorisierung einer proletarischen Minderheit wohl von vornherein keinen Raum geben konnte. I n den ,Punktationen' ist von Parteien keine Rede; die einzig erwähnte organisierte Gewalt ist die Staatsgewalt. U n d doch kann kein Zweifel bestehen, daß Lassalle seinen Wahlgesetzvorschlag i m Hinblick auf die bereits bestehende Organisation des A D A V konzipiert hat, dessen schnelles Anwachsen er ja für die nächste Zukunft erwartete. Die Arbeiterorganisation allein würde i n der Lage sein, der Regierungsmacht pari zu bieten, wenn auch der Mißerfolg anfangs nicht auszuschließen wäre. Sein Vorschlag der zweijährigen Legislaturperiode mag also weniger als Ausfluß radikaldemokratischer Vorstellungen gewertet werden, sondern vielmehr als institutionelle Möglichkeit zur baldigen Korrektur eines „falschen" Wahlresultats. Zwischen den organisierten Mächten der Gesellschaft und der Regierung würden sich seiner Erwartung nach die Liberalen kaum behaupten können 1 7 ; trotz öffentlicher Zurückhaltung bei diesem Punkt w i r d damit deutlich, daß er vor einem wenn auch taktischen und zeitlich begrenzten Kartell mit der Reaktion zur Ausschaltung der Liberalen nicht zurückschreckte 18 , was Na'aman dahingehend pointiert, daß „die ,Punktationen' das Schicksal Preußens i n die Hände der organisierten Mächte der Regierung und der Massenpartei" geben 19 . Danach sieht der Weg zur Macht nicht so aus, wie Lassalle noch wenige Monate zuvor seinen Zuhörern zwischen den Zeilen dargelegt hatte, daß i n dem Kampf zwischen Regierung und Fortschritt das Volk der lachende Dritte sei 20 . I n der Situation zu An17 Agitatorisch zugespitzt findet sich diese Einschätzung bei dem nachmaligen Präsidenten des A D A V , von Schweitzer. I n einer Rede sagt er 1864 i n Leipzig: „Preußische Bajonette oder deutsche Proletarierfäuste, w i r sehen kein Drittes." Z i t i e r t nach Gustav Mayer, Joh. Baptist v. Schweizer u n d die Sozialdemokratie, Jena 1909, S. 93. 18 Nicht ohne Berechtigung erscheint so das Urteil, das Engels i n Unkenntnis dieser weitgehenden Absichten über Lassalle fällte: „Der I t z i g hat der Bewegung einen Tory-chartist-Charakter gegeben." (Brief an M a r x v o m 13. 2.1865, M E W Bd. 31, S. 69). 19 Na'aman, Lassalles Beziehungen zu Bismarck, S. 69. 20 „Die Feste, die Presse . . . " , Reden u n d Schriften, Bd. I I I , S. 384.

I I I . Das Wahlrecht i n den Beziehungen Lassalles zu Bismarck

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fang des Jahres 1864 jedenfalls ging Lassalle davon aus, daß die Polarisation schließlich zwischen den kurzfristigen taktischen Partnern entstehen würde, zwischen Arbeiterpartei und Regierung 21 . Shlomo Na'aman hat den Demokratiebegriff Lassalles, dem er eine eindringliche Studie gewidmet hat, scharf gegen jede Form von Parlamentarismus abgegrenzt: „ V o m liberalen Parlamentarismus gibt es einen Weg zum demokratischen; von republikanischer Tugend ä la Robespierre oder Lassalle führt der Weg i n verschiedenste Richtungen, nie und nimmer i n grader Linie zum Parlamentarismus. Was Lassalle zum Parlamentarismus fehlt, ist nicht nur die geschichtliche und politische Erfahrung, sondern die ganze geistige Haltung 2 2 ." Die autokratische Weise, mit der Lassalle den A D A V führte, deutlich dokumentiert i n dem Zirkular gegen die „Wühltätigkeit" des Vorstandsmitglieds Vahlteich 23 und der öffentlichen Erklärung, daß die Vereinsverfassung „nur das Vorbild i m kleinen unserer nächsten Gesellschaftsform i m großen darstellt" 2 4 , belegen hinreichend diese These. Die Pfeiler der Lassallischen Demokratie, empirisch die Annahme, einer uniformen Lebenslage von 9 6 % der Bevölkerung, theoretisch die eines Gemeinwiilens, schließen ein parlamentarisches Repräsentativsystem aus, dessen „ideologische Basis" gerade entgegengesetzt „die Einsicht i n die Differenzierung des Staatsvolks" ist 2 5 . So ist das Wahlsystem, m i t dem Lassalle Bismarck für die Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechts zu gewinnen hoffte 2 6 , nicht Teilstück einer umgreifenden Verfassungskonstruktion, etwa eines parlamentarischen Regierungssystems. A m A n fang seiner Agitation steht — i n seinen Verfassungsreden — die souveräne Verachtung gegenüber den Formen, die — wie Na'aman zu Recht betont — genauso wie die materiellen Gegebenheiten zum Parlamentarismus gehören 27 . Versucht man, die Verknüpfungen eines auf der Basis des allgemeinen Wahlrechts gebildeten Parlaments m i t anderen Staatsorganen herauszudestillieren, so bleibt nur die Institution der Wissenschaft, die dem gesetzgebenden Körper „die Grenzen und For21

Vgl. Na'aman, Lassalles Beziehungen zu Bismarck, S. 69. Na'aman, Lassalle — Demokratie und Sozialdemokratie, S. 30. 23 Abgedruckt i n : Lassalle, Reden u n d Schriften, Bd. I V , S. 276 ff. 24 „Ronsdorfer Rede". Ebd., Bd. I V , S. 226. 25 Ernst Fraenkel, Die repräsentative u n d plebiszitäre Komponente i m demokratischen Verfassungsstaat, S. 81. 26 Gegenüber Moses Heß hat Lassalle rückblickend die Oktroyierungspläne als i m Grunde fest beschlossen hingestellt: „Ich weiß von guter Hand, daß die Regierung schon zur Oktroyierung des allgemeinen u n d direkten Wahlrechts entschlossen war, u m es einmal auch auf diese Weise zu versuchen." Moses Heß, Briefwechsel hrsg. von E. Silberner, 's Gravenhage 1959, S. 468. 27 Na'aman, Lasalle — Demokratie und Sozialdemokratie, S. 29. 22

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B. Wahlrecht u. Wahlsystem i n der politischen Konzeption Lassalles

men und Mittel" für staatliche Interventionsmaßnahmen setzt 25 . Nicht die Führung durch ein die Volkssouveränität als seine Legitimationsbasis anerkennendes Parlament, sondern eine Legislative, die i n W i r k lichkeit die Führung durch einen auf der Seite jener 96 °/o stehenden Gelehrtenrat ermöglichen und garantieren soll, also Abdankung zugunsten einer als m i t der volonté générale identisch erklärten Wissenschaft — das ist die Konzeption Lassalles. Wenn Susanne Miller m i t Bernstein der Behauptung eines den Parlamentarismus ausschließenden Lassalleschen Demokratiebegriffes m i t der durchaus plausiblen Vermutung begegnet, daß Lassalle — hätte er länger gelebt — „die später von der Sozialdemokratie vertretene Auffassung der parlamentarischen Tätigkeit gelehrt und theoretisch begründet hätte" 2 9 , so ist damit doch nicht zu widerlegen, daß i m Unterschied zu dem von Bernstein geprägten demokratischen Sozialismus i m modernen Sinne Lassalle der Repräsentatiwerfassung mit parlamentarischer Verantwortung der Regierung keine über das Instrumentelle hinausgehende Bedeutung beigemessen hat. Wenn darzustellen versucht worden ist, daß Lassalles Skizzierung eines Wahlsystems i m engeren Sinne nicht i n erster Linie Ausfluß theoretischer Vorstellungen war, so darf daraus keinesfalls der Schluß gezogen werden, daß damit ein frühes Beispiel eines i m modernen Sinne funktionsgerechten Wahlsystems konzipiert worden sei. Nicht die Interdependenz m i t den anderen Verfassungselementen war Maßstab für Lassalles Überlegungen zur „Wahltechnik", sondern — i m Rahmen des für i h n Demokratie konkretisierenden Wahlrechts — seine auf die taktische Situation bezogenen Vorstellungen über die V e r w i r k lichung des ,Prinzips des Arbeiterstandes 4 verbunden m i t der politischen Notwendigkeit, die Erwartungen Bismarcks bei einer Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechts zu berücksichtigen.

28 29

„Offenes Antwortschreiben", Reden u n d Schriften, Bd. I I I , S. 89. Susanne Miller, S. 40, A n m . 59.

C. Die Frage des Wahlsystems im Rahmen des sozialdemokratischen Verständnisses von Demokratie und Parlamentarismus bis zum Erfurter Parteitag 1891 I. Die Periode bis 1878 1. Der staatliche Rahmen: Verfassung und Reichstagswahlrecht

Die Gestaltung der neuen Reichsverfassung i m allgemeinen und des Wahlrechts i m besonderen durch Bismarck, den Adressaten der Lassallischen Vorschläge, eröffnet keinen Bezug zu den Verhandlungen m i t dem Gründer des A D A V . Partner Bismarcks bei der Ausgestaltung der Verfassung und damit auch des Wahlrechts war nicht der Führer einer zwar vielleicht zukunftsreichen, aber schließlich nur wenige tausend Mitglieder umfassenden Arbeiterpartei, sondern i n erster Linie der Teil des Bürgertums, der sich nach den erfolgreichen Kriegen von 1864 und 1866 von der Partei des Verfassungskonflikts, dem Fortschritt, abgespalten hatte, jener Partei also, gegen die sich m i t Bismarck zu verbünden Lassalle bereit gewesen war. Die politische Situation, i n der es zur Verwirklichung der Forderung kam, die Lassalle zum Angelpunkt seiner Strategie gemacht hatte, stellte sich also grundlegend anders dar als zu jener Zeit, da er Bismarck für sein großes Spiel zu gewinnen suchte, wobei die Frage, ob dieser überhaupt jemals ernstlich zu solch einer Gratwanderung bereit gewesen wäre, hier ruhig unerörtert bleiben kann. Zwar schrieben die Nachfolger Lassalles die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts ihrer unablässigen Agitation dafür zugute; an jenes für einen Moment als Möglichkeit aufblitzende taktische Bündnis zwischen Feudalaristokratie und Monarchie einerseits und Arbeiterschaft andererseits vermochten sie jedoch nicht mehr anzuknüpfen. Die besondere Beziehung zur Spitze des preußischen Staates erschöpfte sich nun darin, daß der neue Präsident des A D A V , J. B. v. Schweitzer, zur Förderung der Agitation unter den Arbeitern zugunsten der Bismarckschen Wahlrechtspläne aus dem Gefängnis beurlaubt wurde und dafür finanzielle Unterstützung erhielt 1 . Der einzige Ansatzpunkt, der äußerlich eine 1 Vgl. Gustav Mayer, Erinnerungen, München 1949, S. 186: zu den vergeblichen Versuchen Schweitzers, m i t Bismarck i n K o n t a k t zu treten, vgl. Gustav Mayer, Johann Baptist von Schweitzer u n d die Sozialdemokratie, Jena 1909, S. 180 ff.

9 Misch

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C. Wahlsystemfrage u n d sozialdemokratische Staatstheorie bis 1891

Verbindungslinie zu den verfassungspolitischen Erörterungen zwischen Bismarck und Lassalle drei Jahre zuvor herstellen konnte, ist die m i t der Gründung des Norddeutschen Bundes erfolgte Einführung des direkten, allgemeinen und gleichen Wahlrechts; allein, ideologisch war dafür „weniger die egalitäre Staatstheorie als die Idee der nationalen Homogenität ausschlaggebend" 2 , politisch verband Bismarck m i t diesem „für die damalige Zeit noch fast revolutionären Unterfangen" 3 die Hoffnung, den Einfluß des liberalen Bürgertums durch konservatives Wahlverhalten der Neuwähler zu schwächen. Der Reichstag spielte i m Verfassungssystem des Bismarckreiches nur eine untergeordnete Rolle, seine Stellung war m i t dem englischen Unterhaus nicht zu vergleichen, das, wenn auch auf Grund des Zensus gewählt, die ausschlaggebende Verfassungsinstitution war. Ohne hier auf die Diskussion über die Frage einzugehen, wo nach der Reichsverfassung die Souveränität lag 4 , war doch die Stellung des föderativen Organs, des Bundesrats, der sich aus den Bevollmächtigten der Einzelstaaten unter starker preußischer Hegemonie zusammensetzte, gegenüber dem unitarischen, dem Reichstag, deutlich herausgehoben. Nicht nur m i t exekutiven Kompetenzen ausgestattet, war er auch zugleich mitbeteiligt an der Legislative des Reiches und konnte durch absolutes Veto jedes Gesetz zu Fall bringen. Der Reichstag war i m wesentlichen auf die Teilnahme an der Gesetzgebung und der Budgetgewalt beschränkt und besaß keine über das Recht einer allgemeinen Kontrolle hinausgehende Möglichkeit, gemäß dem Prinzip parlamentarischer Verantwortlichkeit der Regierung auf die personelle Besetzung der Regierungsämter Einfluß zu nehmen. Einer stillschweigenden Weiterentwicklung des Verfassungssystems i n Richtung auf ein parlamentarisches Regierungssystem, dessen eines Kennzeichen die Rekrutierung der Regierungsmitglieder aus dem Parlament ist, stand entgegen, daß der Reichskanzler kraft Amtes Vorsitzender des Bundesrates war, zwischen dem und dem Reichstag zugleich als Ausfluß einer starren Gewaltenteilungsdoktrin das Gebot absoluter Inkompatibilität herrschte 5 . Darüber hinaus stand dem Bundesrat i m Einvernehmen mit dem Kaiser jederzeit vor Ablauf der dreijährigen Legislaturperiode das Recht der Reichstagsauflösung zu. Die starke Stellung des Kaisers, der allein den 2 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I I I . , Stuttgart 1969, S. 784. 3 A l f r e d Milatz, Wähler u n d Wahlen i n der Weimarer Republik. (Schriftenreihe der Bundeszentrale f ü r politische Bildung), Bonn 1965, S. 11. 4 Vgl. dazu E. R. Huber, Bd. I I I , S. 849. 5 Z w a r w a r der Reichskanzler als Vorsitzender nicht M i t g l i e d des Bundesrats; durch die Personalunion von Reichskanzler u n d preußischem Ministerpräsidenten, m i t dem sich die Stellung eines Bundesratsbevollmächtigten verband, galt aber faktisch, daß kein Reichstagsmitglied Reichskanzler w e r den konnte. Vgl. ebd., S. 829.

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Kanzler ernannte und entließ, bei der Mitformulierung der Politik, insbesondere auch das kaiserliche Kommando über das Heer, das parlamentarischer Kontrolle entzogen blieb, sowie die Einrichtung extrakonstitutioneller Kabinette, boten gewisse Möglichkeiten für ein persönliches Regiment, das sich allerdings i n der Zeit von Bismarcks Reichskanzlerschaft nicht entfalten konnte. Für die Wahl zum Reichstag galt das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht, womit an das erste deutsche Parlament, die Frankfurter Nationalversammlung, angeknüpft wurde. Die Wahl erfolgte nach absoluter Mehrheit, die gegebenenfalls i n einem zweiten Wahlgang durch Stichentscheid zwischen den beiden Kandidaten m i t den höchsten Stimmzahlen des ersten Wahlgangs ermittelt wurde. I m organischen Zusammenhang m i t dem Mehrheitswahlsystem bekannte sich die Verfassung i n bezug auf die Stellung der Abgeordneten nach liberaler Repräsentationstheorie zum freien Mandat; nicht als Vertreter des Wahlkreises und nicht seiner Wähler galt der Abgeordnete, sondern nach A r t . 29 der Reichsverfassung als „Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden". Doch auch i m Verbünde mit der Diätenverweigerung konnte der tiefgreifende Strukturwandel des Parlaments, sowohl i n soziologischer Hinsicht als auch als politisch handelnde Einheit, durch die Entwicklung des modernen Partei- und Verbandswesens nicht wirklich gehemmt werden. Wenn das Regierungssystem des Kaiserreichs i n den 50 Jahren seines Bestehens auch nicht zu übersehenden Wandlungen ausgesetzt war, die gerade auch die Stellung des Reichstags gegenüber der Regierung bedeutend stärkten 6 , so konnte doch die entscheidende Verfassungsänderung, die Einführung des parlamentarischen Regierungssystems, erst kurz vor der endgültigen Kapitulation i m Herbst 1918 herbeigeführt werden. Die prägende K r a f t des Konstitutionalismus auf die politisch Handelnden wie auch auf die Verfassungstheoretiker wirkte sich aber noch für die parlamentarische Demokratie von Weimar aus. 2. Die sozialdemokratische K r i t i k an Staat u n d Verfassung

Die deutsche Einigung hatte sich auf andere Weise vollzogen und fand ihre gesellschaftlich-politische Ausprägung i n einer ganz anderen 6 Vgl. Eberhard Pikart, „Die Rolle der Parteien i m deutschen konstitutionellen System v o r 1914", i n : Zeitschrift f ü r Politik, N . F . (1962), S. 1 2 - 3 2 ; Werner Frauendienst, „Demokratisierung des deutschen Konstitutionalismus i n der Zeit Wilhelms I I . " , i n : Zeitschrift f ü r die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 113, 1957, S. 721 ff.; zuletzt Udo Bermbach, Vorformen parlamentarischer Kabinettsbildung i n Deutschland, Politische Forschungen Bd. 8, K ö l n u. Opladen 1967, S. 15 ff.

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Form, als die Führer der aufkeimenden Arbeiterbewegung erträumt hatten. Schweitzer und der A D A V waren zuerst bereit, sich den neugeschaffenen Verhältnissen anzupassen, und zögerten nicht anzuerkennen, daß der „preußische Machtkern unser deutsches Vaterland, das so lange mißachtet war, dem Ausland gegenüber endlich zur Geltung und zur Ehre gebracht hat" 7 . Als deutlich wurde, daß beide Leitvorstellungen der nationaldemokratischen Bewegung, Einheit und Freiheit, nicht zu erreichen waren, bedeutete das für i h n keinen Grund, dem Einigungswerk gegenüber i n feindlicher Ablehnung zu verharren 8 . Auch für Marx und Engels galt, daß „von dem Augenblick an, wo Bismarck den kleindeutschen Bourgeoisplan m i t der preußischen Armee unter so kolossalem Sukzeß durchführte, . . . die Entwicklung i n Deutschland diese Richtung so entschieden genommen (hat), daß w i r ebensogut wie andere das fait accompli anerkennen müssen, we may like i t or not" 9 . Dagegen war der andere Zweig der Arbeiterbewegung, der sich bei Gründung des Norddeutschen Bundes organisatorisch i n der Sächsischen Volkspartei m i t dem linken Flügel der bürgerlichen Demokratie vereinigte, stark von großdeutsch-föderalistischen Gedankengängen beherrscht, die sich i n der kompromißlosen Ablehnung der Bismarckschen Lösung der deutschen Einigung unter preußischer Hegemonie und Ausschluß Österreichs niederschlugen. Marx' und Engels' „weltrevolutionärem Opportunismus von hoher theoretischer Warte", der ohne Schwierigkeiten die Bewertung neuer historischer Entwicklungen dem einen großen Gesichtspunkt unterordnen konnte, „was die soziale Revolution beschleunige und einer A r t Idealtypus von Arbeiterbewegung Marx-Engels'scher Provenienz zum Nutzen ausschlage" 10 , vermochten sich August Bebel, der Vorsitzende des Verbandes Deutscher Arbeitervereine, und i n noch stärkerem Maße Wilhelm Liebknecht, dem seit seiner Rückkehr aus dem Londoner E x i l hauptsächlichen politischen Partner für die Verfasser des Kommunistischen Manifests i n Deutsch7 Stenographische Berichte des Reichstags des Norddeutschen Bundes, I. Legislaturperiode, 18.10.1867, S. 470. 8 Vgl. Conze / Groh, S. 66. 9 Engels an M a r x am 25.7.1866, i n : M E W , Bd. 31, S. 240. Auch M a r x ist der Meinung, „daß man den Dreck nehmen muß, w i e er ist". M a r x an Engels am 27. 6.1866, ebd., S. 242. Daß Engels die deutsche Einigung nicht n u r als Konzession an die Realität akzeptiert, geht aus folgendem hervor: „Die Sache hat das Gute, daß sie die Situation vereinfacht, eine Revolution dadurch erleichtert, daß sie die K r a w a l l e der kleinen Hauptstädte beseitigt, u n d die Entwicklung jedenfalls beschleunigt. A m Ende ist doch ein deutsches Parlament ein ganz anderes D i n g als eine preußische Kammer. Die ganze Kleinstaaterei w i r d i n die Bewegung hineingerissen, u n d die schlimmsten lokalisierenden Einflüsse hören auf, u n d die Parteien werden endlich w i r k l i c h nationale, statt bloß lokale." Ebd., S. 241. 10 Conze / Groh, S. 68.

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land 1 1 , nicht anzuschließen. Nicht nur hatten sich nicht die Revolutionserwartungen während der Krise des Jahres 1866 erfüllt 1 2 , der Ausgang des Krieges führte zur Bildung eines Bundes, der i n Bebels Augen „nur ein Großpreußen (war), umgeben von Vasallenstaaten, deren Regierungen nichts weiter als Generalgouverneure der Krone Preußens" 13 waren; m i t der Einigung Deutschlands unter preußischer Hegemonie verband sich für i h n die Vorstellung einer das ganze Reich umfassenden Kaserne 14 . Noch radikaler war Liebknecht i n seinem Preußenhaß, aus dem er für Marx „das Pathos (schöpfte), dem er allein verve und singleness of purpose verdankt" 1 5 1 . Die kleindeutsche Lösung, der Ausschluß Österreichs also, bedeutete für i h n unter dem Gesichtspunkt seiner nationalen Konzeption nur die endgültige Besiegelung der deutschen Teilung, unter dem seiner innenpolitischen Vorstellungen nur die Knechtschaft unter preußischem Joch 16 . Noch während des Hochverratsprozesses gegen Bebel, Liebknecht und Hepner 1871, veranlaßt durch die Verherrlichung der Pariser Kommune und die Verdammung des Annexionskrieges, stand für W. Liebknecht fest, daß „ein Staat wie das Bismarcksche Preußen-Deutschland . . . durch seinen Ursprung m i t fatalistischer Notwendigkeit dem gewaltsamen Untergang geweiht" sei 17 . Die politische Konsequenz aus Königgrätz und die damit nicht mehr revidierbare kleindeutsche Lösung bestand darin, i n intransigentem Anrennen ( 11 Die lange gültige Wertung Liebknechts als Beauftragter der Internationalen Arbeiter Assoziation bzw. M a r x ' ist inzwischen entscheidend modifiziert durch R. P. Morgan, The German Social Democrats 1864 - 1872, Cambridge 1965, S. 99 u n d passim. 12 Vgl. zu diesem P u n k t Conze/Groh, S. 62 ff.; K a r l - H e i n z Leidigkeit. W i l h e l m Liebknecht u n d August Bebel i n der deutschen Arbeiterbewegung 1862 - 1869, 2. Auflage, B e r l i n (Ost) 1958, S. 108. 18 Rede Bebels i m konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes, zit. nach: August Bebel, Aus meinem Leben, B e r l i n (Ost) 1961, S. 349. 14 Ebd., S. 350. Eine Äußerung drei Jahre später zeigt, daß Bebel ohne Änderung seiner Beurteilung des Einigungswerks den unter Einfluß L i e b knechts hervorgekehrten blinden Preußenhaß rationalisiert hat: „ I c h betrachte insofern die Ereignisse m i t einer gewissen Genugtuung, w e i l nämlich eine Frage, die sog. Einigungsfrage, von der Tagesordnung nunmehr verschwunden ist, gerade jene Frage, welche Jahrelang dazu beigetragen hat, Millionen ehrenwerter u n d tüchtiger Männer irrezuführen, welche meinten: Erst Einigung, nachher w i r d sich die Freiheit finden. Nun, w i r haben jetzt die Einigung u n d werden sehen, w i e es m i t der Freiheit beschaffen ist." Rede i m Norddeutschen Reichstag a m 6.12.1870, zit. nach August Bebel, Ausgewählte Reden u n d Schriften, Bd. 1, B e r l i n (Ost) 1970, S. 135. 15 M a r x an Engels, 17.12.1867, MEW, Bd. 31, S. 412. 16 Vgl. seine Rede i m Reichstag am 17.10.1867, Stenographische Berichte des Reichstags des Norddeutschen Bundes, Bd. 2, S. 451. 17 Der Hochverratsprozeß w i d e r Liebknecht, Bebel, Hepner v o r dem Schwurgericht zu Leipzig v o m 11. - 26.3.1872. M i t einer Einleitung von W. Liebknecht, B e r l i n 1894, S. 159.

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gegen die neugeschaffenen Realitäten wieder die alten Forderungen i n das Chemnitzer Programm der neugegründeten Sächsischen Volkspartei aufzunehmen und damit zu bekräftigen: „Die demokratische Partei i n Sachsen w i r d trotz der veränderten Verhältnisse ihr altes Programm aufrecht erhalten und für dasselbe eintreten . . . K e i n Kleindeutschland unter preußischer Führung, kein durch Annexion vergrößertes Preußen, kein österreichisches Großdeutschland, keine Trias 1 8 ." Dieser Preußenhaß, der seinen Ursprung i n der Niederschlagung süddeutscher und sächsischer Volksbewegungen m i t Einsetzen der Reaktion i m Jahre 1849 hatte, verband sich bei den Volksparteien m i t einer unkritischen Verherrlichung der österreichischen Zustände 19 , was für Engels lediglich „die von Liebknecht den Arbeitern systematisch eingebleuten süddeutsch-republikanisch-spießbürgerlichen Borniertheiten" 2 0 belegte. Der radikalen Verneinung der so vollzogenen deutschen Einigung reiht sich nahtlos die sozialdemokratische Beurteilung, besser Verurteilung des Verfassungsaufbaus und darüber hinaus der ganzen inneren Struktur Deutschlands an 2 1 . Die Ablehnung gerade auch des neuen Reichstags reichte über die Sozialdemokratie hinaus bis i n den von ihr nicht eindeutig trennbaren linken Flügel der radikalen Demokratie, und zwar besonders da, wo noch die alten Vorstellungen von 1848 lebendig waren. So lehnte der ehemalige Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung Prof. Roßmähler — später Mitglied i m Leipziger Arbeiterbildungsverein — 1867 eine Kandidatur für die Sächsische Volkspartei zum Reichstag i m Wahlkreis Crimmitschau m i t der Begründung ab, daß legal von dem Weiterbestehen der Nationalversammlung ausgegangen werden müsse 22 . Und noch 1874 legte Johann Jacoby, der ehemalige Führer des linken Flügels i n der preußischen Nationalversammlung, der bedeutenden Einfluß auf Bebel und Liebknecht ausübte 2 3 , sein für die Sozialdemokratie i m Wahlkreis Leipzig-Land errun18

Zit. nach Deutsches Wochenblatt, Mannheim, Nr. 35, 1866. Vgl. z. B. Demokratisches Wochenblatt, Nr. 1 v o m 4.1.1868. 20 Engels an Kugelmann am 10.7.1868, MEW. Bd. 31, S. 620; vgl. Engels an M a r x am 8.10.1868: „Ich hatte i h n (Liebknecht) darauf aufmerksam gemacht, daß es i m Moment, w o die revolutionäre A k t i o n nähertritt, es durchaus gegen die Interessen unsrer Partei ist, w e n n unsere Leute sich an den faulen Gegensatz von Großpreußen u n d österreichisch-föderalistischem Großdeutschland zugunsten der einen Partei fest verbissen haben. Das unglückliche V i e h k a n n noch i m m e r nicht einsehn, daß der ganze Gegensatz m i t seinen beiden Seiten eine reine Borniertheit ist." Ebd., Bd. 32, S. 178. Vgl. auch E r w i n Faul, Die sozialdemokratischen Richtungen angesichts des „konstituierenden" Norddeutschen Reichstages, i n : Sprache u n d Politik, Festgabe f ü r Dolf Sternberger zum 60. Geburtstag, hrsg. von Carl-Joachim Friedrich u n d Benno Reifenberg, Heidelberg 1968, S. 295. 21 Vgl. zum folgenden auch M i l l e r , S. 80 ff. 22 Vgl. Deutsches Wochenblatt, Nr. 4, 1867. 23 Vgl. M i l l e r , S. 84. 19

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genes Mandat sogleich nieder, weil er bei der politischen Struktur Deutschlands keine Möglichkeit für demokratische und soziale Veränderungen sah 24 . I n der grundsätzlichen Bewertung von Verfassung und Reichstag bestand — abgesehen von verschieden gesetzten Akzentuierungen — keine Diskrepanz i n der Sozialdemokratie. Marx' oft zitierte Charakterisierung des Reiches als „ein m i t parlamentarischen Formen verbrämter, m i t feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus" 2 5 , hätten wohl die meisten Sozialdemokraten zugestimmt. Schweitzer knüpfte an die Lassallische Unterscheidung von Verfassung und Verfassungswirklichkeit bei seiner Analyse der Stellung des Reichstags i n der Verfassung an, wenn er schreibt: „Das einzuberufende Parlament . . . w i r d machtloser sein, als vielleicht jemals eine derartige Versammlung war. Wehrlos, ohne auch nur auf einem vorausgegangenen Volksaufschwung fußen zu können, ohne Aussicht, revolutionäre Volkskräfte u m sich zu konzentrieren, steht dieses Parlament einer Regierung gegenüber, welche, siegreich nach innen und außen, eine große Armee und alle andern Machtmittel eines großen Staates zur Verfügung hat. . . . Und man glaube auch nicht, daß hieran vielleicht etwas durch Erweiterung der dem Parlamente zuzuerkennenden Kompetenz geändert werden könnte. Wenn i h m die Regierungen alle Befugnisse der Welt zudekretieren wollten — immer bliebe das Parlament eine Macht auf dem Papier und die preußische Regierung eine Macht i n der Wirklichkeit 2 6 ." Ungleich schärfer klingen aber die Formulierungen Bebels und Liebknechts. Adressat bitterer K r i t i k war das Bürgertum, dem Bebel die Aufgabe seiner i m Verfassungskonflikt vertretenen liberalen Prinzipien vorwarf: „Seit 1866 . . . ist der Liberalismus aus der Initiative, die er vorher hatte, von der Offensive, die er vor 1866 öfter ergriff, vollständig i n die Defensive gedrängt; heute handelt es sich nicht mehr darum, neue Rechte zu erobern, sondern nur darum, die Scheinrechte, die er hat, zu verteidigen 2 7 ." Nicht der freie Volksstaat der Sozialdemo24 Da der Wahlkreis i n der Nachwahl nicht gehalten werden konnte, wurde Jacoby i m ,Volksstaat' scharf verurteilt. Vgl. Mehring Bd. I I , S. 434 f. Vgl. auch Hans Josef Steinberg, Sozialismus u n d deutsche Sozialdemokratie, Hannover 1967, S. 64 f. 25 K r i t i k des Gothaer Programms, MEW, Bd. 19, S. 29. 26 Sollen w i r wählen oder nicht?, i n : Johann Baptist von Schweitzer, Politische Aufsätze u n d Reden, hrsg. von F. Mehring, B e r l i n 1912, S. 172. Vgl. auch Guenther Roth, The Social Democrats i n I m p e r i a l Germany, Totawa (New Jersey) 1963, S. 50 f. 27 Rede i m Deutschen Reichstag a m 8.11.1871, zit. nach A . Bebel, Ausgew ä h l t e Reden u n d Schriften, Bd. 1, S. 171.

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kratie war Maßstab der K r i t i k , sondern ein liberales Modell des Parlamentarismus reichte aus, den obrigkeitsstaatlichen Charakter des Deutschen Reiches zu belegen: „Die Ministerverantwortlichkeit, das Steuerbewilligungs- und Budgetrecht, die Grundrechte — jene Grundfesten bürgerlich-konstitioneller Verfassungen, ohne welche nach dem bisher allein seligmachenden bürgerlichen Verfassungsdogma eine Verfassung keine Verfassung war — wurden preisgegeben, der Regierung die vollste und unumschränkteste Verfügung über ein ungeheures stehendes Heer und den ganzen gewaltigen Mlitärapparat eingeräumt 2 8 ." Es galt für Bebel, die Verfassung als Kryptoabsolutismus zu entlarven, der sich w o h l der Institution des Parlaments bediente, aber nur, u m verdeckt durch den parlamentarischen Schein, desto wirksamer die wirklich entscheidenden Machtpositionen zu verteidigen und obendrein noch das machtlose Parlament i n der Öffentlichkeit m i t der Verantwortung zu beladen. So gipfelte seine Abrechnung m i t dem neuen deutschen Regierungssystem i n den Worten (bei denen das Protokoll „Große Unruhe" notiert): „Sie haben dem Reichskanzler eine Verfassung gegeben, wie sie reaktionärer gar nicht gedacht werden kann. Meine Herren, m i t einer solchen Verfassung kann allerdings ein jeder Minister regieren, das ist keine Verfassung für das Volk, das ist weiter nichts als der Scheinkonstitutionalismus i n rohester Form, das ist der nackte Cäsarismus. Das ist ein Cäsarismus, der die parlamentarische Form gebraucht, w e i l die öffentliche Meinung sie für notwendig hält, der aufgrund einer solchen Verfassung scheinbar konstitutionell regieren kann 2 9 ." Die radikalste K r i t i k an der Verfassung und insbesondere am Reichstag übte wiederum Liebknecht, für den der Reichstag schlicht „das Feigenblatt des Absolutismus" 3 0 war. Seine schroffe Ablehnung gerade auch des englischen Parlamentarismus, i n dem er „nichts anderes als die schamloseste Klassenherrschaft" 31 zu erblicken vermochte, ohne also die 1867 erfolgte bedeutende Erweiterung des Unterhauswahlrechts 28 A . Bebel, Die parlamentarische Tätigkeit des Deutschen Reichstages u n d der Landtage u n d die Sozialdemokratie von 1874- 1876, ebd., S. 229; vgl. auch die Äußerung i m Demokratischen Wochenblatt: „ E i n Parlament ohne Ministerverantwortlichkeit wäre eine Redeanstalt", zit. nach G. Mayer, Johann Baptist v o n Schweitzer, S. 402. 29 Vgl. seine Rede i m Reichstag v o m 8.11.1871, Ausgewählte Reden u n d Schriften, S. 171 ff. 30 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, Bd. 2, S. 452. 31 Demokratisches Wochenblatt Nr. 2, 11.1.1868. Ganz ähnlich hatte er sich schon drei Jahre v o r der englischen Wahlrechtsreform geäußert: „Der H i m m e l bewahre uns v o r dem englischen Parlamentarismus. Der gepriesene englische Parlamentarismus ist n u r eine Lüge, n u r ein Deckmantel des aristokratischen Regiments." Oberrheinischer Courier, Freiburg, Nr. 41 /1864.

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zur Kenntnis zu nehmen, beleuchtet seine — i m Gegensatz zu Bebels zwar scharfer, aber differenzierterer Beurteilung — intransigente Gegnerschaft gegen das Repräsentativsystem überhaupt i n dieser Phase. Die letzte Härte i n der Verurteilung des Reichstags bewirkte sicher sein abgrundtiefer Haß auf den preußischen Absolutismus; dabei darf aber nicht übersehen werden, daß Liebknecht offensichtlich nicht i n der Lage war, den Unterschied i n der Stellung des i n seinen Kompetenzen äußerst beschränkten Reichstags und etwa des englischen Unterhauses i n der Epoche der Parlamentssouveränität zu erkennen oder doch jedenfalls daraus politische Konsequenzen zu ziehen und Maßstäbe der K r i t i k zu gewinnen. So schreibt er 1872, auf die Gründung des Norddeutschen Bundes zurückblickend, daß er von seinen damaligen Ansichten sich i n soweit entfernt habe, als er „die Verurteilung dieses spezifischen Auswuchses auf den Parlamentarismus überhaupt (hätte) ausdehnen sollen, der, wenn auch nirgends — selbst nicht i m Bas-Empire des Bonaparte — zu einer so traurigen Rolle berufen, wie i m Preußischen Deutschland, doch i n allen Staaten, wo er grassiert, zur Täuschung und Knechtung des Volkes dient, — ein m i t dem Schaumgold der Phrase beklebter Theatermantel, hinter dem der Absolutismus und die Klassenherrschaft ihre häßlichen Glieder und ihre Mordwaffen verstecken" 32 . 3. Die Demokratie als Ziel und Weg der Sozialdemokratie

a) Gegenwartsstaat vs. freier

Volksstaat

Die endgültige Trennung der Arbeiterbewegung vom linksliberalen Bürgertum, „die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie" 3 3 , datiert erst seit 1869, mehr als zwei Jahre nach Gründung des Norddeutschen Bundes. Die weitgehende Kontinuität der Programmatik, ganz besonders i n den demokratischen Forderungen der Sozialdemokratie, deutet an, daß die Scheidung zunächst jedenfalls „ i m Bereich des Soziologischen und des Organisatorischen stecken" blieb 3 4 .Wilhelm Liebknecht, einer der Führer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die nach dem Ort ihrer Gründungsversammlung allgemein ,Eisenacher' genannt wurden, gestand ein, daß „neun Zehntel 32 W i l h e l m Liebknecht, Über die politische Stellung der Sozial-Demokratie, 2. Auflage, Leipzig 1872, Vorwort. 38 Gustav Mayer, Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie, 1863 - 1870, a.a.O. 34 Erich Matthias, K a u t s k y u n d der Kautskyanismus. Die F u n k t i o n der Ideologie i n der deutschen Sozialdemokratie v o r dem ersten Weltkriege, i n : Marxismusstudien, 2. Folge, hrsg. von I r i n g Fetscher, Tübingen 1957, S. 151 ff.; S. 155.

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unserer Parteigenossen . . . durch die Demokraten i n den Sozialismus gekommen (sind) und . . . ohne Demokratie heute noch nicht i m Sozialismus" wären 3 5 . Und diese Charakterisierung traf nicht zuletzt auch auf Liebknecht selbst zu, bestand doch für ihn eine untrennbare Einheit von Demokratie und Sozialismus, deren begriffliche Scheidung er nicht einmal gestatten wollte: „Demokratisch und sozialistisch sind überhaupt für mich identische Ausdrücke — und da die Arbeiter das Gros der Gesellschaft bilden, ist es nicht an ihnen, sich der Demokratie anzuschließen; sie sind die Demokratie 3 6 ." Für die Anfangszeit der Sozialdemokratie jedenfalls, auch mit Rezeption des Marxismus nie ganz verschüttet, gilt, daß Demokratie und Sozialismus keineswegs i n einem Mittel-Zweck-Verhältnis standen. Als Ziel der Partei nennt das Programm die Errichtung des freien Volksstaates; und wenn Liebknecht dies Ziel dadurch „konkretisiert", die heutige Gesellschaft und der heutige Staat seien das genaue Gegenteil des Angestrebten 37 , dann gilt auch hier, was G. A. Ritter i n bezug auf die spätere sozialdemokratische Parteiorganisation sagt, daß nämlich die Zielvorstellungen „ i n vielem nur die Umkehrung des Verfassungsaufbaus des wilhelminischen Reichs (waren) und gerade i n der Konsequenz der Verneinung die Befangenheit i m Denken dieser Verfassung (verraten)" 38 . Der Zweck dieses Gemeinwesens ,freier Volksstaat', von Liebknecht zunächst rein voluntaristisch damit bestimmt, „den Willen des Volkes zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen" 3 9 , näherte sich dem Staatsbegriff Lassalles, ohne jedoch dessen idealistische Begrifflichkeit zu übernehmen: es sei „Zweck des Staates, . . . allen seinen Angehörigen die höchstmögliche Summe von Wohlergehen zu sichern" 40 . Dieser „ i n Erfüllung des Aristotelischen Ideals . . . echte K u l t u r staat" 4 1 beinhaltet Elemente i n seiner Verfassungsstruktur, die zum großen Teil aus der Tradition der radikalen Demokratie stammen. Das „ V o l k " , das hier zum Träger des zukünftigen Staatswesens erklärt 35

Brief an Geib v o m 5. bzw. 9.11.1872, zit. nach: Eberhard Hackethal, Z u r Entwicklung der Staatsauffassung i n der deutschen Arbeiterbewegung nach der Pariser K o m m u n e (1871 -78), i n : Staat u n d Recht, Jg. 1966, B e r l i n (Ost), S. 914-934; S. 929. 36 5. Deutscher Arbeitervereinstag zu Nürnberg 1865, i n : Die ersten deutschen Sozialistenkongresse, F r a n k f u r t / M . 1906, S. 48. 37 Prot. SD A P 1874, S. 32. 88 G. A . Ritter, Die Arbeiterbewegung i m Wilhelminischen Reich, 2. A u f lage B e r l i n 1963, S. 50. 39 W. Liebknecht, Eine vernünftige Wahlart, i n : Deutsches Wochenblatt Nr. 49 1866, S. 384. 40 (Wilhelm Liebknecht), „Was die Sozialdemokraten sind u n d was sie wollen", Hottingen - Zürich, o. J., S. 2. 41 W. Liebknecht, Wissen ist Macht — Macht ist Wissen, Rede v o m 5.2. 1872, Hottingen - Zürich 1888, S. 43.

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wird, war noch nicht m i t dem Proletariat identisch, sondern war die sozial heterogene große Masse der Bevölkerung, die nicht den privilegierten Ständen angehörte, jenes den dritten Stand umfassende „Konglomerat der verschiedensten Klassen von Kapitalisten, Mitgliedern der »liberalen 4 Brufe, Bauern, Kleinbürgern, Proletariern und L u m penproletariern" 4 2 . I n dieser noch weitgehend kleinbürgerlich-demokratischen Bewegung sind unverkennbar Anklänge an rousseauistische Gedankengänge festzustellen, die trotz Verschiebung der sozialen Basis auch weiterhin i n der Sozialdemokratie eine Rolle spielten. Dem entsprach, daß der Abschnitt „Unbeschränktes Selbstbestimmungsrecht des Volkes 44 i m Programm der Sächsischen Volkspartei i m Eisenacher und Gothaer Programm 1875, m i t dem die Einigung zwischen Lassalleanern und Eisenachern vollzogen wurde, durch die direkte Gesetzgebung des Volkes ergänzt wurde, für Friedrich Engels eine „reine Modesache, . . . die i n der Schweiz besteht und mehr Schaden als Nutzen anrichtet, wenn sie überhaupt was anrichtet 4443 . Einer der eifrigsten Verfechter der direkten Gesetzgebung war Moritz Rittinghausen, Gründungsmitglied der Eisenacher und späterer Reichstagsabgeordneter, der sich i n seinen Abhandlungen „Die unhaltbaren Grundlagen des Repräsentativ-Systems" 44 und „Uber die Notwendigkeit der direkten Gesetzgebung durch das V o l k 4 4 4 5 als geradezu „monomaner 4 4 4 6 Hasser des liberalen Parlamentarismus auswies. Der 42 (K. Kautsky), „Der E n t w u r f des neuen Parteiprogramms", I, i n : N. Z. Bd. 9, 1890/91, S. 728. Vgl. dazu die Kennzeichnung dieses Begriffs des „Volkes", bei K a r l M a r x , Der 18. Brumaire des Louis Napoleon, M E W Bd. 8, S. 144 f.: „ D e r Demokrat, w e i l der das K l e i n b ü r g e r t u m v e r t r i t t , also eine Übergangsphase, w o r i n die Interessen zweier Klassen sich zugleich abstumpfen, d ü n k t sich über den Klassenunterschied überhaupt erhaben. Die Demokraten geben zu, daß eine privilegierte Klasse ihnen gegenübersteht, aber sie m i t der ganzen übrigen Umgebung der Nation büden das Volk. Was sie vertreten, ist das Volksrecht, was sie interessiert, ist das Volksinteresse. Sie brauchen daher bei einem bevorstehenden Kampfe die Interessen u n d Stellungen der verschiedenen Klassen nicht zu prüfen. Sie brauchen ihre eigenen M i t t e l nicht allzu bedenklich abzuwägen. Sie haben eben n u r das Signal zu geben, damit das V o l k m i t allen seinen unerschöpflichen Ressourcen über die Dränger herfalle. Stellen sich n u n i n der A u f ü h r u n g ihre Interessen als uninteressant u n d ihre Macht als Ohnmacht heraus, so liegt das entweder an verderblichen Sophisten, die das unteilbare V o l k i n verschiedene Lager spalten, oder die Armee w a r zu vertiert u n d zu verblendet, u m die reinen Zwecke der Demokratie als ihre eignes Beste zu begreifen, oder an einem Detail der Ausführung ist das Ganze gescheitert." 43 Engels an Bebel, 18. / 28. 3.1875, MEW, Bd. 34, S. 128. 44 Sozialdemokratische Abhandlungen Heft 3, K ö l n 1869. 45 Sozialdemokratische Abhandlungen Heft 2, K ö l n 1869. 46 Ernst Fraenkel, Die repräsentative u n d plebiszitäre Komponente i m demokratischen Verfassungsstaat, S. 109. Vgl. zum Folgenden auch das Buch von Reinhard Schiffers, Elemente direkter Demokratie i m Weimarer Regie-

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moderne Staat, dessen Wesen die „Einheit" sei 47 , werde andererseits regiert durch Repräsentanten, die — obwohl nur i n einem Wahlkreis gewählt — als Abgeordnete des ganzen Volkes gelten und darüber hinaus an die Aufträge und Weisungen ihrer Wählerschaft nicht gebunden seien. Ergebnis dieser vorgeblichen Vertretung, die er statt dessen an ein „bestimmtes, streng zu befolgendes Mandat" geknüpft sehen w i l l , seien „Bruchtheile eines Wahl-Herrschertums, dessen Majestät noch über dem Volk thront und es zu einem willen- und rechtlosen Körper herabwürdigt" 4 8 . Notwendige Folge jedes Repräsentativsystems sei daher die Vertretung des allgemeinen Interesses durch ein Privat-Interesse, die Ersetzung des Volkswillens durch einen individuellen 4 9 . Da für i h n feststeht, daß „je aufrichtiger durch das Gestz bezweckt wird, eine wahre Volksvertretung zu erzielen, desto weniger . . . es diesen Zweck erreichen" w i r d 5 0 , kann die m i t dem Repräsentativsystem grundsätzlich und unabänderlich verbundene „Entfremdung des Volkes" 5 1 auch durch ein neues Wahlsystem nicht aufgehoben werden. Die Vorschläge Hares sieht er für „Spielereien" an, bei denen er nicht verstehen kann, wie „vernünftige Leute" sich darauf einlassen können, wenn sie i h m auch andererseits gerade als Beleg für seine Diagnose des Repräsentativsystems willkommen sind 5 2 . Der Ausgang der ersten beiden Reichstagswahlen bestätigte i n seinen Augen nur die Verurteilung dieses Systems und erwies die demokratische Überzeugung, daß „eine Umwandlung der Gesellschaft i m sozialdemokratischen Sinne durch die Volksvertretung zu erreichen" sei, als „verhängnisvollen I r r t u m " 5 3 . Die Beschränkung auf das Referendum, wie sie i m Eisenacher Programmentwurf Bebels ursprünglich vorgesehen war, wurde auf Antrag Rittinghausens gestrichen und die „direkte Gesetzgebung durch das Volk i n ihrer Reinheit" angenommen 54 , die verlange, „daß alle Gesetzesvorschläge aus dem Volke selbst hervorgehen, daß diese Vorschläge nicht von irgendeiner Commission gemacht seien, z. B. nicht aus einem Repräsentativkörper hervorgehen" 55 . f rungssystem, Düsseldorf 1971, das nach Abschluß dieses Manuskripts erschien, S. 20 ff. 47 M . Rittinghausen, Die unhaltbaren Grundlagen des RepräsentativSystems, S. 8. 48 Ebd., S. 8. 49 Ebd., S. 14. 50 Ebd., S. 16. 51 Ebd., S. 3. 52 Ebd., S. 18. 63 Prot. S D A P 1869, S. 4. 54 Ebd., S. 35. 55 Ebd., S. 34.

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Ähnlich kritisch dem Parlamentarismus gegenüber stand Johann Jacoby, für den das „ V o l k unter Vormundschaft seiner Abgeordneten —nicht minder unfrei (ist) als unter dem absoluten Regiment eines Einzelvormunds" 5 6 . Als demokratische Lösung ist auch bei i h m die direkte Gesetzgebung vorgesehen, allerdings nicht ohne das Bestehen eines m i t bindenden Aufträgen versehenen Versammlungskörpers 57 , während für Rittinghausen „die Tagesordnung des Volkes" 5 8 nur aus der Initiative der Bürger selbst aufgestellt werden sollte. Dem Urteil Millers ist zuzustimmen, daß die direkte Gesetzgebung „nicht zu den intensiv diskutierten und nachdrücklich propagierten Forderungen der Partei" 5 9 gehörte; dennoch beeinflußte sie i n starkem Maße das sozialdemokratische Parlamentarismusverständnis. Bei fast allen Parteiführern lassen sich entsprechende Äußerungen nachweisen, am längsten w o h l bei Wilhelm Liebknecht, der noch 1891 den „Schwerpunkt des politischen Lebens" nach „dem demokratischen Prinzip i m Volk selbst" sah, worunter er i m Anschluß an Joh. Jacoby neben der M i t w i r k u n g des Volkes an der Gesetzgebung vor allem auch die Einführung des imperativen Mandats verstand 60 . Auch Bebel war der Meinung, daß sich „ i n den Vertretungskörpern sehr rasch das Cliquenwesen und der Eigendünkel der Vertreter" ausbreite, weshalb die Partei fordere, daß „die Vertretungskörper nichts anderes als zeitweilig zusammentretende beratende Ausschüsse sind, welche die Gesetze vorzubereiten haben, über die dann das ganze Volk nach Gutdünken entscheidet" 61 . 68 Johann Jacoby, Z u m demokratischen Programm, Gesammelte Schriften u n d Reden, H a m b u r g 1872, Bd. 2, S. 337. 57 Vgl. Selbstgesetzgebung des Volkes, ebd., S. 341. 58 Über die Organisation der direkten Gesetzgebung durch das Volk, Heft 4, S. 9. 59 S. M i l l e r , S. 105. I n stärkerem Maße allerdings i n der Schweizerischen Sozialdemokratie. K a r l B ü r k l i , der nach Rittinghausen schon 1851 diese F o r derung vertreten hatte, (vgl. Rittinghausen, Über die Notwendigkeit . . . , S. 37) w a r der I n i t i a t o r eines entsprechenden Antrages an die Internationale Arbeiter Assoziation durch deren Züricher Sektion. Vgl. Demokratisches Wochenblatt Nr. 32 u. 33 /1869, Beilage. 80 Protokoll SPD 1891, S. 345. 61 Die parlamentarische Tätigkeit des Deutschen Reichstages . . . 1874 - 76, S. 403. Vgl. auch die ähnliche Äußerung Liebknechts 1872: „Die direkte Regierung u n d Gesetzgebung durch das Volk, welche w i r erstreben, w i r d zwar vertretender (Repräsentativ-)Körper nicht ganz entbehren können, allein die aus der freien W a h l des Volks hervorgegangenen Bürger werden Ausschüsse büden, die bestimmte, scharf abgegrenzte Aufgaben, geschäftsmäßig zu erledigen haben, nicht aber Schwatzklubs, i n denen die ellenrednerische Impotenz sich breit macht, u n d gewissenhaftes Prüfen, ernste Beratung, mannhafte Entschließung einfach unmöglich sind." „Über die politische Stellung der Sozialdemokratie", Vorwort.

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Obwohl die Sozialdemokratie die Forderung nach direkter Gesetzgebung von der bürgerlichen Demokratie übernommen und auch nach Rezeption des Marxismus als parteioffizielle Weltanschauung — wenn auch eingeschränkt — programmatisch weiter verfochten hat 6 2 , so modifizierte sich deren Bedeutung m i t dem wachsenden Gewicht, das die Sozialdemokratie auf die sozialökonomische Analyse der Gesellschaft legte. I n dem Maße, wie die Klassenspaltung zum Bewußtsein der Partei kam und der Staat nur als Garant dieser gesellschaftlichen Machtverhältnisse begriffen wurde, wurde notwendig auch die Möglichkeit eines Gemeinwillens, einer volonté générale, i n Frage gestellt. Zweifellos sind Anklänge an Rousseau nicht zu überhören 63 , wenn Bebel die „größte Ausdehnung der politischen Rechte auf alle Staatsbürger" 6 4 damit begründet, daß „der einzelne . . . i m Urteil irren (mag), die Gesamtheit nie, w e i l die Gesamtheit, stets das Gemeininteresse i m Auge habend, darüber wachen wird, daß sie sich nicht selber schädigt" 65 . Die zeitliche Entfernung dieses vorausgesagten Idealzustandes von der Gegenwart w i r d aber deutlich, wenn diese sich damit charakterisieren läßt, daß „ m i t der stetig zunehmenden ökonomischen Entwicklung . . . auch das Klassenbewußtsein der Arbeiter (erwachte), sie anfingen, als selbständige Partei sich zu konstituieren, ihre weitergehenden Forderungen den Forderungen der Bourgeoisie gegenüberzustellen" 66 . Galt für Liebknecht noch 1868 ganz i m Sinne der radikalen Demokratie, daß „die soziale Frage der Gegenwart aus politischen Gründen" entspringe und nur dadurch gelöst werden könne, daß „die Staatsgewalt zum Ausfluß der Gesamtgesellschaft" gemacht w i r d 6 7 , also durch die Herrschaft einer die Klassenspaltung ignorierenden volonté générale, so

62 K a r l K a u t s k y wollte sie „ i n das Inventar des ,Zukunftsstaates'" verbannt wissen. Vgl. Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung u n d die Sozialdemokratie, Stuttgart 1893, S. 139. 63 Vgl. M i l l e r , S. 100 f. Vgl. dazu Bebels abschätziges U r t e i l daß „die Grundanschauungen des Rousseauschen Gesellschaftsvertrages . . . heute noch i n weiten Kreisen der französischen Gesellschaft (spuken)". Größe u n d Grenzen der sozialistischen Bewegung i n Frankreich, Ausgewählte Reden u n d Schriften, Bd. I , S. 517. 64 A . Bebel, Die parlamentarische T ä t i g k e i t . . . 1874/76, S. 403. 05 Ebd., S. 404. 66 Die parlamentarische T ä t i g k e i t . . . 1871/74, ebd., S. 228. 07 Demokratisches Wochenblatt, Nr. 41 /1868. Vgl. dazu den Brief M a r x 1 an Kugelmann v o m 5.12.1868: „Wie ein Mann, den ich während 15 Jahren mündlich eingepaukt hatte (zum Lesen w a r er v o n jeher zu faul), solches Zeug drucken zu lassen k a n n w i e z. B. „Gesellschaft u n d Staat", w o r i n „das Gesellschaftliche" (auch eine schöne Kategorie!) als das Sekundäre u n d das „Politische" als das Wesentliche behandelt w i r d , wäre unbegreiflich, w e n n Liebknecht nicht ein Süddeutscher wäre und, w i e es scheint, mich von jeher m i t seinem alten Vorgesetzten, dem ,edlen' Gustav Struve, verwechselt hätte." MEW, Bd. 32, S. 581.

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stellte sich i h m Mitte der siebziger Jahre das Verhältnis von Demokratie und sozialer Demokratie grundlegend anders dar: „Seit dem Emporkommen der modernen bürgerlichen Gesellschaft m i t ihren Klassengegensätzen und ihrem Klassenkampf ist die Fahne der Demokratie vielfach dazu benutzt worden, die K l u f t , welche zwischen den verschiedenen Klassen der Gesellschaft gähnt, dem Auge des Volkes zu verhüllen 6 8 ." Der soziologisch-ökonomischen Analyse, daß „der heutige Staat . . . der Ausdruck der Klassenherrschaft (ist), (der) . . . die Macht des Kapitals (vertritt) und also . . . gezwungen (ist), allen denjenigen Bestrebungen entgegenzutreten, welche die Beseitigung der Klassenund Kapitalherrschaft erstreben" 69 , entsprach durchaus der Praxis, m i t der gegen die „Reichsfeinde" vorgegangen wurde. Die staatliche Unterdrückung, der beide Fraktionen der Arbeiterbewegung nach kurzer Zeit gleichermaßen ausgesetzt waren, und die, wie Mehring schreibt, für die 1875 vollzogene Vereinigung zur Sozialistischen Arbeiterpartei, „ein tüchtig Teil des alten Schuttes" 70 i n Gestalt des gegenseitigen Mißtrauens wegräumte, verstärkte und versteinerte die zunächst soziologische und organisatorische, aber auch die zunehmend ideologische Trennung von der übrigen Gesellschaft und sogar von den ehemaligen Bundesgenossen, den Demokraten. Auch von deren Seite her wurde dem „kein Friede mit dem heutigen Staat" 7 1 als ehemals gemeinsamer Losung aller demokratisch-oppositionellen Kräfte i n dem Maße der Boden entzogen, je mehr das Interesse der linksliberalen Parteien an demokratischen Forderungen abnahm und ihr Anschluß an die Bismarcksche Politik sich vollzog. Hatte Liebknecht auch nach Gründung der SDAP noch gegenüber Marx und Engels, die immer wieder eine selbständige Partei des Proletariats forderten 72 , das Zusammengehen m i t den Demokraten deshalb befürwortet, weil eine starke Arbeiterbewegung erst nach Generationen entstehen könne 7 3 , hatte auch Bebel noch 1869 vergeblich versucht, die Sozialbezeichnung „Arbeiter" aus dem Parteinamen zu verbannen — er befürwortete die Bezeichnung „Demokratisch-sozialistische Partei" 7 4 —, so statuierte das 68

Was die Sozialdemokraten sind u n d was sie wollen, Zürich, S. 1. So Liebknecht 1870, Prot. SDAP, S. 12. 70 F. Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Bd. 2, S. 444. 71 W. Liebknecht, „Uber die politische Stellung der Sozial-Demokratie, S. 12. 72 Vgl. F. Engels, Die preußische Militärfrage u n d die deutsche Arbeiterpartei, MEW, Bd. 16, S. 68 f. 73 Liebknecht an Engels, 27. 4.1870, W. Liebknecht, Briefwechsel m i t K a r l M a r x u n d Friedrich Engels, hrsg. von Georg Eckert, The Hague, 1963, S. 98. 74 Prot. SDAP 1869, S. 54. F ü r Bebels bei diesem Vorschlag offensichtlich mitspielende taktische Erwägungen hatten die beiden i n England kein V e r ständnis. Vgl. den ironischen Kommentar Engels': „Es ist eine schöne Gesell69

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Gothaer Programm von 1875: „Die Befreiung der Arbeit muß das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse sind 7 5 ." Dieser Begriff, der auch später i n Agitation und Selbstverständnis der Partei eine große Rolle spielte 76 , wurde von Marx und Engels scharfer K r i t i k unterzogen. Obwohl Marx gegenüber diesem, wie er meinte „Lassalleschen Zitat von reinstem Wasser", den Charakter der Bourgeoisie gegenüber Feudalen und Mittelständen als „revolutionäre Klasse" 7 7 betonte und Engels ironisch anfragte, wie i n Deutschland das demokratische Kleinbürgertum zu dieser reaktionären Masse gehören könne, wo doch die SDAP jahrelang m i t i h m i n der Volkspartei Hand i n Hand gegangen sei 78 , hielt die Partei doch an der Auffassung fest, daß alle gegnerischen Parteien den Sozialismus „verlästern und verleumden" und damit dieser Bewegung gegenüber ununterscheidbar eine reaktionäre Masse bilden 7 9 . Die Klassenspaltung der Gesellschaft konnte also von der Sozialdemokratie bei der von i h r angestrebten Demokratie nicht außer acht gelassen werden, denn für sie setzte sich die Maxime durch, daß „ w i r ja i n Deutschland sozialistisch erst dann vorgehen können, wenn w i r den demokratischen Staat haben" 8 0 . Obwohl sich die Partei nie ganz klar über den Charakter des freien Volksstaates geäußert hat, läßt sich soviel sagen, daß Vorstellungen wie die der Diktatur des Proletariats schaft, vgl. die Debatte über sozialdemokratische, demokratisch-soziale Arbeiterpartei i m Eisenacher Kongreß. U n d Rittinghausen i h r Prophet." Brief an M a r x , v o m 5. 9.1869, MEW, Bd. 32, S. 370. 75 Quelle abgedruckt bei M i l l e r , S. 308. A n der Abkapselung, die gegenüber allen bürgerlichen K r ä f t e n begrifflich ausgedrückt w i r d , ändert auch nichts die Begründung Liebknechts, die er f ü r seine Aufnahme i n das Programm gibt: „ I n der T a t gibt es heutzutage doch n u r zwei große einander gegenüberstehende Klassen, die der Besitzenden u n d die der Nichtbesitzenden; alles Dazwischenstehende verschwindet, w i e w i r tagtäglich beobachten können. Kleinbürger u n d Kleinbauern gehören i n W i r k l i c h k e i t zur Arbeiterklasse u n d haben d a r u m m i t den Arbeitern zu gehen." Prot. SAP 1875, S. 96. Aus der politischen Kampfgemeinschaft m i t der bürgerlichen Demokratie w a r die E r w a r t u n g des Abgleitens dieser Schichten ins Proletariat geblieben. 76

Vgl. Miller, S. 204. K r i t i k des Gothaer Programms, M E W , Bd. 19, S. 22 f. Vgl. dazu Fr. Mehring, Die Geschichte eines Schlagworts, i n : Neue Zeit, X V . Jg., I I . Bd., 1896/97, S. 513 ff. der meint, daß Lassalle zu Unrecht f ü r die Urheberschaft verantwortlich gemacht w i r d . V o r allem unter dem Sozialistengesetz versuchten die Marxisten dies dem Ressentiment entgegenkommende Schlagw o r t ideologisch zu widerlegen. Vgl. z. B. den (wahrscheinlich von Bernstein) stammenden A r t i k e l „Handelt von einem Schlagwort", i n : Der Sozialdemok r a t v o m 1. 7.1888. 77

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S. 54.

Engels an Bebel, 18. / 28. 3.1875, MEW, Bd. 34, S. 126. A . Bebel, Die parlamentarische T ä t i g k e i t . . . 1874/76, S. 435. A. Bebel auf dem Gründungsparteitag i n Eisenach, Prot. SDAP 1869,

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keine Rolle spielten 81 . Da kein Zweifel i n der Partei bestand, daß i n diesem Staat alle Tätigkeit, insbesondere die ökonomischen Maßnahmen, m i t dem Interesse der überwiegenden Mehrheit des Volkes i n Einklang stehen würde, war kein Raum für die Vorstellung, daß die von der Arbeiterpartei i m Einklang m i t dem Volk errungene und ausgeübte Macht dieser durch ein demokratisches Votum wieder entzogen werden könnte 8 2 . So finden sich nirgends Hinweise auf mögliche Unterdrückungsmaßnahmen, die gegen die alte Herrscherklasse angewendet werden sollen, und immer kehrt die Beteuerung wieder, daß es i n dem neuen Staat keine Privilegien irgendwelcher A r t geben würde 8 8 . Obwohl sich für die Sozialdemokratie mit dem freien Volksstaat natürlich die Vorstellung von einer nicht mehr i n Klassen gespaltenen Gesellschaft verband — m i t den Worten Liebknechts: „ W i r erstreben den freien Volksstaat, der, auf den Trümmern der jetzigen Klassenherrschaft errichtet, die Harmonie der Interessen zur Wahrheit macht" 8 4 — so blieben doch nach diesem Verständnis auf Grund der zunächst weiter bestehenden ökonomischen Ungleichheit die Klassen für eine gewisse Ubergangszeit bestehen, i n der die Staatsgewalt sich durch den Stimmzettel legitimieren muß. Die noch stark vulgärdemokratischen Vorstellungen verhaftete Äußerung, daß „ i n einem gut organisierten Staat die Regierung nur der Ausfluß der gesamten Gesellschaft" 85 sein darf, verschob sich unter dem schärfer gesehenen ökonomischen Aspekt zum Verständnis des Volksstaates als „Regierung des Volkes durch das Volk, nicht durch einzelne Klassen, weder einseitig durch die Arbeiterklasse noch einseitig durch die Klasse der sogenannten Bourgeoisie" 86 . Vergeblich versuchte Marx m i t der K r i t i k des Gothaer Programms seinen Staatsbegriff für die Partei verbindlich zu machen, indem er die politischen Forderungen als die „alte weltbekannte demokratische L i tanei" verächtlich machte, „die, soweit nicht i n phantastischer Vorstellung übertrieben, bereits realisiert sind. Nur liegt der Staat, dem 81

Vgl. Hackethal, S. 927 ff. Die Äußerung Bebels: „ W i r sind v i e l zu nüchtern, u m nicht eingesehen zu haben, daß w i r neben mancher neueroberten Position auch bereits innegehabte — w e n n auch m i t relativem Erfolg — wieder verloren, u n d andere, auf die w i r gehofft, nicht gewonnen haben", bezieht sich n u r auf die W a h l beteiligung der Sozialdemokratie i m Bismarckreich u n d nicht auf eine w i r k lich freie, d. h. frei von sozialen u n d ökonomischen Zwängen, Wahlentscheidung i m demokratischen Staat, Ausgewählte Reden u n d Schriften Bd. 1, S. 493. 83 A . Bebel, Unsere Ziele, Leipzig, 2. Auflage, 1871, S. 13. 84 Wissen ist Macht — Macht ist Wissen, S. 43. 85 W. Liebknecht i m Demokratischen Wochenblatt Nr. 40 /1868. 86 Samuel Spier i n einem Vernehmungsprotokoll, i n : Georg Eckert, Samuel Spier u n d die Internationale Arbeiter-Assoziation i n : A r c h i v f ü r Sozialgeschichte, I V . Bd. Hannover 1964, S. 599 - 615; S. 603. 82

6 Misch

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sie angehören, nicht innerhalb der deutschen Reichsgrenze, sondern i n der Schweiz, den Vereinigten Staaten etc. Diese Sorte ,Zukunftsstaat 4 ist heutiger Staat, obgleich außerhalb ,des Rahmens' des Deutschen Reichs existierend". „Solcherart Demokratentum innerhalb der Grenzen des polizeilich Erlaubten und logisch Unerlaubten" setzte er die „Periode der revolutionären Umwandlung" entgegen, „deren Staat nichts anderes als die revolutionäre Diktatur des Proletariats sein kann" 8 7 . Zweifellos wäre aber die Forderung nach Bekenntnis zur D i k tatur bei einem großen Teil der Partei auf Unverständnis gestoßen, denn das Ziel der Sozialdemokratie, m i t den Worten Wilhelm Liebknechts, lautete: „ W i r wollen nur beseitigen, was die gesunde, vernünftige Weiterentwicklung der Gesellschaft hindert, nur erwirken, daß die Interessen der großen Mehrheit nicht länger denen der Minderheit geopfert werden, und daß, statt der Privilegien Einzelner, statt des politisch-sozialen Monopols, das Recht und die Interessen Aller, die Gerechtigkeit, zum obersten Gesetz i n Staat und Gesellschaft werde 8 8 ." b) Die sozialdemokratischen Erwartungen an Wahlrecht und Wahlbeteiligung Die sozialdemokratische Einschätzung des allgemeinen Wahlrechts entsprach jener Äußerung Wilhelm Liebknechts, daß „durch die bahnbrechende Agitation Lassalles . . . der deutschen Arbeiterklasse (seine) Hochschätzung . . . sozusagen m i t der Muttermilch eingeflößt worden w a r " 8 9 . Und so gibt es auch kein sozialdemokratisches Programm, i n dem diese Forderung nicht eine herausgehobene Position einnähme. Hatte schon das Chemnitzer Programm der Sächsischen Volkspartei 1866, kurz nach dem preußischen Sieg über Österreich, ohne nähere Erläuterung i m Rahmen des „unbeschränkten Selbstbestimmungsrechts des Volkes" „allgemeines, direktes und gleiches Wahlrecht m i t geheimer Abstimmung auf allen Gebieten des staatlichen Lebens" 9 0 verlangt, so waren die entsprechenden Programmpunkte 1869 und 1875 Reaktionen auf die als ungenügend empfundene Ausgestaltung des Reichstagswahlrechts: i m Eisenacher Programm 9 1 die Forderung, allen Männern vom 20. und nicht erst wie nach der Reichsverfassung vom 25. Lebensjahr das geheime Wahlrecht zu gewähren 92 , i m Gothaer Programm 9 3 die 87

K r i t i k des Gothaer Programms, MEW, Bd. 19, S. 28. W. Liebknecht, Hochverrat u n d Revolution, (Sozialdemokratische B i b l i o thek X V I I ) Hottingen - Zürich, 1887, S. 43. 89 W. Liebknecht, Einleitung zu: Der Hochverratsprozeß . . . , S. 47. 90 Zit. nach Deutsches Wochenblatt Nr. 35 /1866. 01 Quelle abgedruckt bei Miller, S. 307. 92 Vgl. die entsprechenden Abänderungsanträge i n der Reichstagsdebatte über das Wahlgesetz von den Lassalleanern Hasenclever (Stenographische 88

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Ausdehnung dieser Forderung auf „alle Staatsangehörigen", also — etwas kaschiert — auch auf die Frauen 9 4 , unter Einführung der gesetzlichen Wahlpflicht 9 5 , an einem Sonn- oder Feiertage. Bis auf die obligatorische Stimmabgabe, deren mögliche schädliche Auswirkungen man wohl nicht zuletzt auf Grund der Reichstagswahl von 1887 erkannt hatte, die der Partei ein relativ ungünstiges Ergebnis bei extrem hoher Wahlbeteiligung 9 6 gebracht hatte, finden sich alle hier aufgestellten Forderungen bei weiterer Spezifizierung auch i m Erfurter Programm, dessen entsprechende Passage so lautet: „Allgemeines, gleiches, direktes Wahl- und Stimmrecht m i t geheimer Stimmabgabe aller über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen. Proportionalwahlsystem und bis zu dessen Einführung gesetzliche Neueinteilung der Wahlkreise nach jeder Volkszählung 9 7 ." M i t dieser Zusammenstellung der Wahlrechtsforderungen aus den offiziellen Parteiprogrammen erschöpft sich das Problem des allgemeinen Wahlrechts für die Sozialdemokratie jedoch keineswegs. Äußerlich scheint i n bezug auf die Forderung nach Wahlrecht zwischen Lassalle und der aus der bürgerlichen Demokratie hervorgegangenen Eisenacher Partei kein Unterschied zu bestehen; und doch nimmt das gleiche I n strument jeweils einen deutlich zu unterscheidenden Stellenwert ein. Ursprünglich Eingang gefunden i n die deutsche Sozialdemokratie hat die Forderung nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht nicht als von politischer Praxis unbeeinflußte Ideologie. Sicher war es für Lassalle Berichte, 16. Session 1871, 6. Sitzung, S. 45) u n d Schweitzer (11. Sitzung, S. 157). 03 Quelle zit. nach M i l l e r , S. 309. 94 Vgl. die Debatte über diese u. a. von Bebel vertretene Forderung auf dem Gothaer Parteitag, Prot. SAP, S. 107. 95 Liebknecht gab i n seiner Programmrede 1875 keine Begründung f ü r die obligatorische Stimmabgabe; i n einer von i h m anonym herausgegebenen Broschüre „Was die Sozialdemokraten sind u n d was sie w o l l e n " verweist er lediglich auf das Bestehen dieses Zwanges i m antiken Griechenland, (S. 3). Ohne Kenntnis von Lassalles Wahlrechtsentwurf f ü r Bismarck, der j a W a h l pflicht vorsah (vgl. oben), wandte sich der Lassalleaner Hasselmann m i t der Befürchtung dagegen, auf diese Weise der Reaktion „ S t i m m v i e h " zuzutreiben. (Prot. SAP 1875, S. 107). Er konnte sich aber nicht gegen Bebel durchsetzen, der sich aus der hohen Z a h l der Nichtwähler unter den Arbeitern einen T e i l f ü r die Sozialdemokratie versprach. (Ebd., S. 109). I n das Erfurter Programm wurde diese Forderung ohne Begründung nicht wieder aufgenommen. Die 1891 von P. Vitalis erneut erhobene Forderung (Das höchste Recht des Volkes, B e r l i n 1891, S. 37), rein ideologisch damit begründet, daß der Zweck der Wahl, „die wirkliche Gesinnung des gesamten Volkes zu e r m i t teln", n u r dann zu erreichen sei, w e n n sich nicht starke Bruchteile von der W a h l fernhielten, hat keine Resonanz i n der Partei gefunden. 96 Gegenüber 1884 m i t 60,4 %> schnellte sie 1887 auf 77,2 % empor. 97 Quelle abgedruckt bei Miller, S. 310 ff. 6*

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unverzichtbarer Bestandteil seiner Vorstellung von Demokratie; zugleich aber setzte er sich ohne Bedenken über däs vulgärdemokratische Verständnis des Wahlrechts, wie es i n dem Begriff ,Volksrecht 1 mitschwingt hinweg, indem er i h m eine Form gab, die den Volkswillen ganz bewußt i n eine bestimmte Richtung zu leiten versuchte. Das Wahlrecht sollte weniger den empirisch feststellbaren, den tatsächlichen materialen Volkswillen zum Prinzip der Regierungstätigkeit machen, als vielmehr dem i m Sinne von Lassalles Geschichtsphilosophie historisch Notwendigen zum Durchbruch verhelfen. Das allgemeine Wahlrecht als das K r i t e r i u m jeder Demokratie, zugleich aber auch als M i t t e l praktischer Politik, das — i m Wissen u m die bonarpartistischen Absichten Bismarcks — als Instrument die politische und soziale Umwälzung Preußens herbeiführen soll, diese beiden Elemente sind unlösbar i n Lassalles Wahlrechtsbegriff enthalten. Dagegen bestand bei der bürgerlichen Demokratie und ihrem sozialdemokratischen Ableger, ungeachtet einer i n den Programmen grundsätzlich stets vertretenen entsprechenden Forderung, lange Zeit diesem Instrument gegenüber eine immer wieder bekundete Zurückhaltung. Denn während Lassalle Bismarck für die Oktroyierung des Wahlrechts zu gewinnen suchte, stand ein großer Teil der Demokratie diesem Instrument skeptisch und sogar teilweise ablehnend gegenüber, hatte sich doch i n Frankreich gezeigt, zu welch reaktionären Ergebnissen es unter Umständen führen konnte. M i t Recht würdigt deshalb Gustav Mayer das Verdienst der Nachfolger Lassalles i m Präsidium des A D A V , das Bewußtsein der Bedeutung des Wahlrechts und damit auch der parlamentarischen Betätigung wachgehalten zu haben 98 . Da jeder Gedanke einer Erziehungsdiktatur auch m i t plebiszitärer Legitimation von der radikalen bürgerlichen und der aus ihr hervorgehenden sozialen Bewegung scharf abgelehnt wurde (das dieser Vorstellung entsprechende, auf den Präsidenten zugeschnittene Organisationsstatut der Lassalleaner war später eins der Hauptangriffsziele der Eisenacher) 99 , ließ die Symbiose von allgemeinem Wahlrecht und Bonapartismus vor allem auch die späteren Führer der deutschen Arbeiterbewegung nicht unbeeindruckt: nicht nur August Bebel, i n seiner Früh-

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Vgl. Gustav Mayer, Die Lösung der deutschen Frage 1866 u n d die A r b e i terbewegung, i n : Festgabe f ü r W. Lexis, Jena 1907, S. 233 -268; S. 244. A u f allen Kongressen des A D A V bis 1867, dem Jahr der ersten Reichstagswahl, w u r d e regelmäßig die Forderung nach allgemeinem Wahlrecht wiederholt. Vgl. die entsprechenden A D A V - P r o g r a m m e , abgedruckt bei W i l h e l m Schröder, Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage 1863 - 1909. München 1910, S. 461 ff. 99 Vgl. G. Mayer, J. B. Schweitzer, S. 257: Ernst Engelberg, Revolutionäre P o l i t i k u n d Rote Feldpost 1878 - 1890, B e r l i n (Ost) 1959, S. 14 f.

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zeit noch Anhänger Schütze-Delitzschs, sprach sich gegen das allgemeine und gleiche Wahlrecht aus 1 0 0 , auch für Wilhelm Liebknecht galt das Bekenntnis, wichtiger als Wählen sei Wühlen 1 0 1 . A m klarsten dargestellt finden sich die Bedenken i n der 1865 erschienenen Broschüre „Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei" von Friedrich Engels. Ohne daß Engels Lassalles Versuche, Bismarck für eine oktroyierte Wahlrechtsausdehnung zu gewinnen, kannte, glaubte er die Arbeiter vor solchen Versuchen warnen zu müssen: „Wenn die Regierung einen solchen bonarpartistischen Streich machte und die Arbeiter gingen darauf ein, so hätten sie ja damit schon von vornherein der Regierung das Recht zuerkannt, durch eine neue Octroyierung, sobald es i h r beliebt, das allgemeine, direkte Wahlrecht auch wiederaufzuheben 102 ." Es sind vor allem zwei Gesichtspunkte, die Engels Zurückhaltung gegenüber dem allgemeinen Wahlrecht geraten erscheinen ließen: Nicht nur bezweifelte er das nötige politische Bewußtsein der Arbeiter; entscheidendes Gewicht maß er vor allem der soziologischen Gegebenheit bei, daß die Landbevölkerung doppelt so stark wie die Stadtbevölkerung war. Folgerichtig erklärte er „die Bekämpfung der feudalen und bürokratischen Reaktion . . . i n Deutschland gleichbedeutend m i t dem Kampfe für geistige und politische Emanzipation des Landproletariats". Solange dies nicht m i t i n die Bewegung hineingerissen werde, solange könne und werde das städtische Proletariat i n Deutschland nicht das geringste ausrichten, solange sei das „allgemeine, direkte Wahlrecht für das Proletariat keine Waffe, sondern ein Fallstrick" 1 0 3 . Die zweite Bedingung, die Engels für die Erfüllung der i n die Waffe des allgemeinen Wahlrechts gesetzten Hoffnungen der Arbeiter erfüllt sehen wollte, zielt auf seine konstitutionelle Absicherung i n Form von Pressefreiheit sowie Vereins- und Versammlungsrecht. Ohne Illusionen sah er einer möglichen Gewährung entgegen: „Solange der Regierung damit gedient ist, daß diese (Arbeiter-)Bewegung besteht, daß der bürgerlichen Opposition neue, unabhängige Gegner erwachsen, solange w i r d sie diese Bewegung dulden. Von dem Augenblick an, wo diese Bewegung die Arbeiter zu einer selbständigen Macht entwickelt, wo sie dadurch der Regierung gefährlich wird, hört die Sache sofort auf 1 0 4 ." 100

Vgl. A . Bebel, Aus meinem Leben, S. 82. Vgl. G. Mayer, J. B. v. Schweitzer, S. 331. 102 Die preußische Militärfrage u n d die deutsche Arbeiterpartei, Bd. 16, S. 73. 103 Ebd., S. 74. 104 Ebd., S. 74/75. 101

MEW

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I n dem Bewußtsein, daß 1867 die Einführung, des allgemeinen Wahlrechts Folge „einer Revolution von oben" 1 0 5 gewesen war, i n der Hoffnung, „ m i t dem allgemeinen Stimmrecht besser hantieren zu können, die Massen besser bearbeiten zu können, als es bei dem Klassen- und Ständewahlsystem der Fall w a r " 1 0 6 , lag der Grund für die auch später immer wieder zu hörende Warnung vor „dem Cultus des allgemeinen und direkten Wahlrechts" 1 0 7 . Dieser Skepsis stand aber auf der anderen Seite ein durch nichts zu erschütterndes Vertrauen der Sozialdemokratie entgegen, daß „ein i n wahrer Freiheit lebendes, gebildetes Volk notwendigerweise die i m Interesse des Gemeinwohls richtigen Entscheidungen treffen oder etwaige Fehlentscheidungen . . . dank seiner Freiheit, K r i t i k zu üben, schneller korrigieren werde . . . Unter diesen Bedingungen werde, nach Überzeugung der Sozialdemokraten, das K o l lektiv — die Masse, das Volk — i m Sinne der Freiheit und Gerechtigkeit entscheiden" 108 . Dem entsprach die immer wieder geäußerte Uberzeugung, daß alle von der Sozialdemokratie geforderten sozialistischen Maßnahmen i m freien Volksstaat „ i m Interesse und m i t Zustimmung der ungeheuren Volksmehrheit" 1 0 9 vorgenommen würden. So unterschied die Sozialdemokratie durchaus zwischen einem durch politische und soziale Rückständigkeit fehlgeleiteten und einem ,wahren Volkswillen': sie stand vor dem Dilemma, ihre i m Namen des Volkes aufgestellten Forderungen nicht gegen den empirischen Volkswillen durchsetzen zu wollen. Dieser Zwiespalt, der sich zwischen dem angenommenen und dem i n den Wahlen unter den Bedingungen des Bismarckreiches geäußerten Volkswillen auftat, spielte auch eine Rolle bei der Frage, ob sich die ios F r a n z Mehring, Die Wahlen u n d das Wahlrecht, i n : Neue Zeit, X V I . Jg., 1897/98, S. 353 ff.; S. 354. 106 Rede Bebels i m Norddeutschen Reichstag am 18. 3.1869 zit. nach: Bebel, Ausgewählte Reden u n d Schriften, Bd. 1, S. 45. 107 W. Liebknecht, Über die politische Stellung der Sozialdemokratie, S. 12. Später galt diese Warnung allerdings weniger einem möglichen Bonarpartismus als vielfach der F i x i e r u n g der Sozialdemokratie auf das Parlament bei der Eroberung der politischen Macht. 108 Miller, S. 105. Die DDR-offizielle Lassallephobie i n Rechnung gestellt, ist Rolf Weber (Kleinbürgerliche Demokraten i n der deutschen Einheitsbewegung 1863 - 1866, B e r l i n (Ost) 1962, S. 61) durchaus zuzustimmen, w e n n er schreibt: „Die F u n k t i o n des allgemeinen Wahlrechts w a r . . . bei Lassalle anders als bei der kleinbürgerlichen Demokratie. Während sie darin ein ganz natürliches politisches Recht des Volkes sah, w a r es bei Lassalle »soziales Grundprinzip', i n opportunistischer Weise gedacht als M i t t e l zur Umgestaltung der bürgerlichen Gesellschaft." 109 A . Bebel, Unsere Ziele, S. 37. Auch M a r x w a r von dieser Vorstellung nicht frei, selbst nach dem ,18. Brumaire'. I n einem A r t i k e l über die Chartisten i n England schrieb er 1852: „Das allgemeine Wahlrecht ist f ü r die Arbeiterklasse Englands gleichbedeutend m i t politischer Macht: denn das Proletariat bildet dort die große Majorität." M E W , Bd. 8, S. 344.

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Sozialdemokratie an den Reichstags wählen beteiligen sollte. Obwohl auch Schweitzer sich darin m i t der Bebel-Liebknechtschen Gruppe einig war, daß für die angestrebte Wirkung des allgemeinen Wahlrechts die Gewährleistung von Pressefreiheit, Vereins- und Versammlungsrecht unabdingbar sei 1 1 0 , zögerte er dennoch nicht, die Chance der Wahl zu nutzen, als diese Forderung unerfüllt blieb 1 1 1 . Umstrittener war dagegen die Entscheidung i n der Sächsischen Volkspartei und später bei den Eisenachern. Das Chemnitzer Programm der Volkspartei sprach sich zwar für die Aufstellung von Kandidaten für den konstituierenden Norddeutschen Reichstag aus, trotzdem wurde damit keinesfalls die mehr oder weniger schroffe Ablehnung des Parlamentarismus überwunden, wie sie sich am ausgeprägtesten bei Liebknecht zeigte 112 . Zwar hatte er den ursprünglich vertretenen Standpunkt, daß unter den obwaltenden Umständen die Wahlbeteiligung m i t Landesverrat gleichgesetzt werden müsse, soweit aufgegeben, daß er die i h m während eines Gefängnisaufenthalts angetragene Kandidatur ohne Vorbehalt akzeptierte. Aber bald kam, wie Bebel rückblickend feststellt, „die alte Abneigung gegen den Parlamentarismus wieder bei i h m zum Durchbruch", die „sich i n lebhaften Auseinandersetzungen zwischen uns über die Taktik, die w i r i m Reichstag einnehmen sollten" 1 1 3 , äußerte. I n der schon zitierten Rede zu dieser Frage, die Parteigeschichte gemacht hat, findet sich jener intransigente Charakter Liebknechts am reinsten belegt, den Mayer so beschreibt: „Abkömmling einer Familie von Mathematikern und Theologen, (wohnte i n ihm) der feste Glaube an die unantastbare Reinheit des Prinzips. Kompromisse verabscheute er, und wenn der Staat nach einem Rezept errichtet war, das er verwarf, so mußte eben ein solcher Staat von Grund aus zerstört werden, bevor der Versuch unternommen werden durfte, i n einem auf „richtiger" Grundlage errichteten neuen Staat das Ideal der Zukunft i n die Praxis zu überführen 1 1 4 ." Das Prinzip hieß i n diesem Falle „ K e i n Friede mit dem heutigen Staat", und dementsprechend galt für ihn die Maxime, daß „die Sozialdemokratie unter keinen Umständen und auf keinem Gebiet m i t den Gegnern verhandeln" dürfe. „ M i t prinzipiellen Gegnern verhandeln, heißt sein Prinzip opfern. Prinzipien sind unteilbar, sie werden entweder ganz bewahrt oder ganz geopfert. Die geringste prinzipielle Konzession ist die Aufhebung des Prinzips. Wer mit Feinden parlamentelt, parlamentiert, wer parlamentiert, paktiert 1 1 5 ." 110 111 112 113 114 115

Vgl. G. Mayer, J. B. v. Schweitzer . . . , S. 176. Vgl. M i l l e r , S. 93. Vgl. Mayer, J. B. v. Schweitzer, S. 164. Bebel, Aus meinem Leben, S. 367. Mayer, J. B. v. Schweitzer, S. 310. Über die politische Stellung der Sozialdemokratie, S. 7/8.

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Während Liebknecht so weit ging, den Reichstag auch nur als Bühne für sozialdemokratische Agitation abzulehnen — „zwecklos reden ist Thoren Vergnügen" 1 1 6 —, versuchte Bebel den „Parlamentarismus aus einem Mittel, die Massen zu beherrschen und zu nasführen, i n eines, sie zu befreien", umzuwandeln 1 1 7 . Nach seinem Bericht ist die „rein negierende Stellung Liebknechts . . . für die Partei nie maßgebend geworden, so oft er auch dafür kämpfte" 1 1 8 . Rückenstärkung erfuhr Bebel i n dieser Frage auch durch Engels, der den Rat gab, „überall Arbeiterkandidaten auf(zu)stellen und durch(zu)setzen" 119 . M i t der Einsicht, nicht durch eine „Radikalkur" die gesellschaftlichen Zustände verändern zu können 1 2 0 , war der m i t der Wahlbeteiligung verfolgte Zweck der Aufklärung der Wählerschaft nicht nur i m Wahlkampf, wie auch Liebknecht befürwortet hatte 1 2 1 , sondern gerade auch von der Tribüne des Reichstags herab zur politischen Notwendigkeit geworden. Bebel setzte gegen die ungebrochene sittliche Empörung Liebknechts über das Gewaltwerk des Norddeutschen Bundes eine taktische Regel durch, i n deren Gefolge die Sozialdemokratie die Entwicklung von der Splittergruppe zur Massenpartei gelang: „Protestieren und negieren, wo es am Platze war, also vor allen Dingen gegen alles Schlechte und Verderbliche, aber zugleich auch agitieren i n positivem Sinne . . . Indem w i r . . . Anträge stellten und Reden zu ihren Gunsten hielten, die, wenn auch noch so verstümmelt, i n den Berichten der Zeitungen gelesen w u r den, würden w i r i m höchsten Grade agitatorisch und propagandistisch wirken 1 * 2 ." Der Reichstag als Tribüne zur Agitation und die Wahlkämpfe als Kampagnen zur Aufklärung der entsprechenden Bevölkerungsschichten, das war i n erster Linie die Funktion, die die Wahlbeteiligung anfangs für die Sozialdemokratie einnahm 1 2 3 . Darüber hinaus versuchten Ebd., S. 10. K a r l Kautsky, Nachwort zu: Bebel, Aus meinem Leben, S. 825. 118 Ebd., S. 369. 119 Engels an M a r x a m 29. 4.1870, M E W , Bd. 32, S. 490; ebenso Engels an Bracke am 28.4.1870, ebd., S. 679. 120 A . Bebel, Das allgemeine Stimmrecht f ü r die Vertretung der Einzelstaaten u n d Kommunen, Referat auf dem Parteitag 1871, i n : Ausgewählte Reden u n d Schriften, Bd. 1, S. 153. 121 W. Liebknecht, Über die politische Stellung der Sozialdemokratie, S. 12; unrichtig ist die Annahme Millers, S. 93, daß der Proteststandpunkt L i e b knechts sich hier auch auf die Wahlkampfabstinenz erstreckt. 122 A . Bebel, Aus meinem Leben, S. 167/168. 123 Vgl. Bebels Schilderung seiner T a k t i k i m konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes: „ V o r allem sind w i r beide (Bebel u n d Schraps) prinzipielle Gegner des Norddeutschen Bundes, die sich auf eine Beratung u n d Amendierung des Entwurfes (der Verfassung) durchaus nicht einlassen wollen. Die L i n k e dagegen w i l l letzteres t u n u n d hat es bereits getan. I n den 117

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vor allem Bebel und Schweitzer (in seiner kurzen Zeit als Reichstagsabgeordneter) Einfluß auf die Gesetzgebung, insbesondere bei sozialpolitischen Materien zu nehmen. Zwar unternahm die Partei bei jeder Reichstagswahl die größten Anstrengungen, nicht nur ein Höchstmaß an Stimmen — die Aufstellung von Zählkandidaten i n eigentlich aussichtslosen Wahlkreisen war von Anfang an üblich —, sondern auch an Mandaten 1 2 4 zu gewinnen, die Möglichkeit und die Aussicht aber, i n absehbarer Zeit durch die Zahl der Reichstagssitze bestimmenden Einfluß auszuüben oder gar die Mehrheit zu erringen, wiesen die führenden Männer der Partei weit von sich. Nicht nur die Gegnerschaft zum Bismarckreich und die mehr oder weniger starke Skepsis gegenüber dem Repräsentativsystem zusammen m i t der unklar gebliebenen Revolutionserwartung 1 2 5 , sondern auch die reale Einschätzung der Chancen der Partei bewirkte die Überzeugung, daß der Zeitpunkt, wo die Sozialdemokratie einmal die politische Macht haben würde (und das hieß konkret die Mehrheit der Bevölkerung 1 2 6 ), „vorläufig ja noch hübsch i n der Ferne l i e g t " 1 2 7 . I n dieser Beurteilung gab es keinen Unterschied zwischen Bebel und Liebknecht, der 1869 folgende Rechnung für eine zu erlangende sozialdemokratische Reichstagsmehrheit aufmachte: „Jetzt haben w i r 7 Sozial-Demokraten; bei der nächsten, und so bei jeder folgenden Wahl erlangen w i r 7 mehr — das ist gewiß eine ideal günstige Annahme —, der (Norddeutsche) Reichstag hat 296 M i t glieder, bis w i r auf diese Weise die Majorität — mindestens 149 — haben, müssen also noch 63 Jahre verstreichen 128 ." Es war dieses Selbstverständnis als „kleine M i n o r i t ä t " 1 2 0 , das es unmöglich erscheinen ließ, Fragen nun, w o w i r prinzipiell m i t i h r übereinstimmen, suchen w i r sie bei der A b s t i m m u n g zu unterstützen, sobald jedoch diese Anträge gefallen sind, was ausnahmslos geschieht, da sie . . . (keine) Unterstützung finden, stimmen w i r gegen alle anderen Amendements, die an Stelle des Ganzen n u r das Halbe oder, w i e sich die Herren auszudrücken belieben, ,das Erreichbare' setzen wollen. Dadurch kommen w i r n u n allerdings vielen, die unsere prinzipielle Stellung nicht kennen, i n eine schiefe Stellung." Bebel an M a x Hirsch, 29. 3.1867, i n : Ausgewählte Reden u n d Schriften, Bd. 1, S. 54 ff. 124 Vgl. Bebels scharfen Tadel, als Jacoby 1874 sein bereits gewonnenes Reichstagsmandat wieder niederlegte, i m Volksstaat v o m 20.2.1874. 125 Vgl. dazu M ü l e r , S. 107 ff. 129 Dem entsprach die Vorstellung, daß die Mehrheit des Volkes — ohne Berücksichtigung der institutionellen Bedingungen — l e g i t i m die Richtung der P o l i t i k bestimmen müsse. Vgl. Bebels E r k l ä r u n g i m Leipziger Hochverratsprozeß: „ D i e Staatsdiener sind aber abzusetzen, w e n n sie sich i m K o n f l i k t m i t den Gewalten befinden, welche die öffentliche Meinung u n d die Gesetzgebung bestimmen." Ausgewählte Reden u n d Schriften Bd. 1, S. 186. 127 A . Bebel, Der Gewerbebetrieb durch den Staat u n d die Kommune, 1878, ebd., S. 522. 128 Über die politische Stellung der „Sozialdemokratie", S. 17. 129 A . Bebel, F ü r eine Arbeiterschutzgesetzgebung i n Deutschland, i n : Ausgewählte Reden u n d Schriften, Bd. 1, S. 448.

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„unter den heutigen Verhältnissen . . . eine Zahl von Vertretern durchzusetzen, welche imstande sind, die Machtverhältnisse umzugestalten"130. Auffällig ist, daß i n keinem der offiziellen Parteiprogramme bis hin zum Erfurter Programm die Forderung nach Parlamentarisierung der Regierung gestellt wurde. Zwar galt auch für Bebel die Ministerverantwortlichkeit als Grundbedingung bürgerlicher Verfassungen 131 , und noch 1868 war als „demokratisches Ziel der deutschen Arbeiter" „der ungeteilte deutsche Volksstaat auf breitester demokratischer Grundlage m i t beschließendem Parlament und demokratischer Spitze" 1 3 2 genannt worden, zum angestrebten Verhältnis von Parlament und Regierung gibt es aber keine über unklare Allgemeinplätze hinausgehende Äußerungen. Engels hat später diese Unterlassung scharf kritisiert und der Parteiführung vergeblich den Passus „Konzentration aller politischen Macht i n den Händen der Volksvertretung" 1 3 3 zur Aufnahme i n das Erfurter Programm empfohlen. Diese programmatische Zurückhaltung ist wohl m i t strafrechtlichen Bedenken der Partei nicht hinreichend zu erklären, wie sie etwa für die Forderung der Republik galten. Es zeigt sich hier vielmehr eine wohl nicht zuletzt auf der Feindschaft gegenüber dem Gegenwartsstaat beruhende Nichtbeachtung institutioneller Fragen, die lange Zeit für die Sozialdemokratie charakteristisch blieb. Z u m anderen war man i n der Partei offensichtlich der Meinung, daß bei sozialdemokratischer Mehrheit i n Volk und Parlament sowieso nur dann gegen deren Willen zu regieren sei, wenn die Möglichkeit eines i n diesem Fall legitimen gewaltsamen Aufstandes einkalkuliert würde 1 3 4 . Offensichtlich verstellte die Gegnerschaft zur Regierung und auch zu den anderen Parteien zumindest i n dieser Frühphase der Sozialdemo130 A. Bebel, Die parlamentarische Tätigkeit . . . 1871/74, S. 278. Engels dagegen w a r i n diesem Punkte viel optimistischer, f ü r i h n w a r es eine „bedeutungsvolle Tatsache", daß „ i n allen großen Städten u n d Industriezentren des Reichs die Arbeiterbewegung m i t Riesenschritten vorwärts gekommen war, u n d daß i h r alle diese Wahlkreise m i t Sicherheit bei den nächsten Wahlen 1880 zufallen werden . . . Die deutsche Sozialdemokratie erwies sich als eine Macht, u n d als eine schnell wachsende Macht, m i t der k ü n f t i g alle anderen Mächte des Landes, die regierenden oder die sonstigen, zu rechnen haben würden". Die europäischen Arbeiter i m Jahre 1877, MEW, Bd. 19, S. 119/120. 131 A. Bebel, Die parlamentarische Tätigkeit . . . 1871/74, S. 229, wobei nicht ganz deutlich ist, ob dabei die politische oder die juristische Verantwortlichkeit gemeint ist. 132 Beilage zum Demokratischen Wochenblatt, Nr. 10 /1868. 133 Z u r K r i t i k des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, M E W Bd. 22, S. 235. 134 Vgl. Bebel i m Hochverratsprozeß: „Wenn daher einem Parlamente m i t Gewalt entgegengetreten w i r d , so ist es Pflicht eines jeden Staatsbürgers, Gewalt m i t Gewalt zu vertreiben." Ausgewählte Reden u n d Schriften, Bd. 1, S. 186; ähnlich Liebknecht, Hochverratsprozeß, S. 373.

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kratie den Blick dafür, daß bestimmte institutionelle Probleme unabhängig von der herrschenden Mehrheit betrachtet und gelöst werden können. Gerade auch die Nichtbeachtung der Entwicklungen i m parlamentarischen Regierungssystem Englands legt dafür Zeugnis ab 1 3 5 . Wenn wirklich einmal i n der Partei die Erweiterung der Reichstagskompetenzen erörtert wurde, dann nur m i t der Einschränkung, daß „unter Volksvertretung . . . nicht der gegenwärtige Parlamentarismus zu verstehen" sei und damit also „keine Anerkennung des modernen Repräsentativsystems" 136 . c) Die Gerechtigkeit des Wahlsystems als Bedingung einer ,wahren Volksvertretung' aa) Die Begründung für die Verhältniswahl Liebknechts Äußerung auf dem Erfurter Parteitag, daß die Forderung nach Proportionalwahl „von unseren Zeitungen schon so oft auseinandergesetzt und befürwortet worden (ist)" 1 3 7 , so daß er sich einer näheren Kommentierung enthalten könne, läßt sich bei Durchsicht der i n Frage kommenden Veröffentlichungen nicht bestätigen. A l l e i n die Zahl von nur fünf monographischen A r t i k e l n zu diesem Thema — unter den Verfassern waren allerdings die beiden wichtigsten Parteiführer, Bebel und Liebknecht — i n sozialdemokratischen Zeitschriften, zeigt an, daß der Frage des Reichstagswahlrechts wie i m übrigen auch des Wahlrechts zu den Landtagen i n dieser Periode keine besondere A u f merksamkeit zuteil wurde, nachdem die grundsätzlichen demokratischen Forderungen m i t dem Reichstagswahlrecht erfüllt waren. Zwar betonte Bebel i n einem Referat auf dem Dresdener Parteitag von 1871, daß „die Sozialdemokratie m i t den Errungenschaften für den Deutschen Reichstag (keineswegs) bereits zufriedengestellt sei (oder) zufrieden sei m i t dem Wahlrecht, das für diesen gewährt worden i s t " 1 3 8 ; als sozialdemokratische Forderungen für dessen bessere Ausgestaltung 135 v g L dazu Reinhard J. Lamer, Der englische Parlamentarismus i n der deutschen politischen Theorie i m Zeitalter Bismarcks (1857 - 1890), Historische Studien Heft 387, Lübeck - H a m b u r g 1963, S. 115. Anzumerken ist aber, daß Lamers E r k l ä r u n g dafür, i n der erstrebten D i k t a t u r des Proletariats sollte die Masse das einzig handelnde Subjekt sein u n d folglich jede Delegierung von Macht von vornherein ausgeschlossen werden, allein deswegen schon unrichtig ist, w e i l die D i k t a t u r des Proletariats mindestens i n dem von i h m behandelten Zeitraum keine Rolle i n der theoretischen Diskussion der deutschen Sozialdemokratie gespielt hat. 138 W. Liebknecht, Prot. SAP 1875, S. 98. 137 Prot. SPD 1891, S. 344. 138 Das allgemeine Stimmrecht f ü r die Vertretung der Einzelstaaten u n d Kommunen, Ausgewählte Reden u n d Schriften, Bd. 1, S. 152.

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nannte er allerdings keinen m i t dem Wahlrecht direkt zusammenhängenden Punkt. Wichtig erschien i h m nur das Fehlen von Diäten — für i h n „ein indirekter Zensus . . . anstatt des direkten Zensus" auf Grund der schwierigen sozialen Absicherung von Arbeiterabgeordneten und des damit verbundenen Kandidatenmangels — und die Beschränkungen durch Vereins- und Versammlungsrecht, sowie die mangelnde Pressefreiheit 139 . Erstmals eine gewisse Aufmerksamkeit breiterer Parteikreise auf sich gezogen haben dürfte die Diskussion des Wahlsystems 1878 i n der von dem Parteimäzen Karl Höchberg herausgegebenen Zeitschrift „Die Z u k u n f t " 1 4 0 , nachdem zuvor zu diesem Thema nur zwei A r t i k e l von Wilhelm Liebknecht erschienen waren, Ende 1866, also kurz vor den ersten Wahlen zum Norddeutschen Reichstag, i m „Deutschen Wochenblatt" eine längere Rezension über Thomas Hare 1 4 1 und 1871 i n dem Parteiorgan „Der Volksstaat" 1 4 2 . Alle Verfasser der genannten A r t i k e l sind sich darin einig, daß das Wahlsystem den Willen des Volkes auf das genaueste und präziseste bei der Zusammensetzung des Repräsentativkörper gewährleisten soll, auch der spätere Reichstagsabgeordnete Max Kayser, der als einziger gegen die Verhältniswahl Stellung bezog. Während für Liebknecht nicht nur der Zweck der Wahl, sondern der Zweck des Staates überhaupt darin lag, „den Willen des Volks zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen" 1 4 3 — eine voluntaristische Formulierung, die, wie oben gezeigt, später durch materiale Gemeinwohlvorstellungen modifiziert wurde —, galt sonst — i n Variationen — als Hauptbegründung, daß „das Parlament (ein) wahrer Ausdruck der Volksstimmung, (ein) Spiegel der Meinungen und Parteien, die i m Schöße des Volkes sich regen", sein soll 1 4 4 . A m blumigsten ausgeführt findet sich dies Argument bei Ludwig Büchner: „Das allgemeine Stimmrecht muß sich zur Aufgabe machen, einen solchen Grad der Genauigkeit zu erreichen, daß die Nationalversammlung zur Nation, 189

Ebd., S. 153. Die Z u k u n f t , 1. Jg. 1877/78: Carl Lübeck, „Die Proportionalvertretung", S. 145- 148, S. 153- 165, S. 190 - 198; L u d w i g Büchner, „ Z u r WahlreformFrage", S. 305-311; D. St., „ Z u r Proportional-Vertretung", S. 311/312; A(ugust) B(ebel), „ Z u r Wahlreform-Frage", S. 507-511; M a x Kayser, „Gegen die Proportional-Vertretung", S. 624 - 626. 141 (Wilhelm) L(iebknecht), „Eine vernünftige W a h l a r t " , i n : Deutsches Wochenblatt Nr. 49 /1866, Nr. 52 /1866. 142 „Wählen", i n ,Volksstaat' Nr. 31 v o m 15.4.1871. Die irrtümliche Datierung als v o m 15.4.1873 durch Lübeck w i r d von allen späteren Autoren u n besehen übernommen, zuletzt von Friedrich Schäfer, Sozialdemokratie u n d Wahlrecht, i n : Verfassung u n d Verfassungswirklichkeit, Jahrbuch 1967, T e i l 2, K ö l n - Opladen, S. 157 ff.; S. 164, A n m . 26. 143 Liebknecht, „Eine vernünftige Wahlart", S. 384. 144 Lübeck, S. 146. 140

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deren Vertreter sie ist, sich ebenso verhält, wie eine Landkarte kleineren Maßstabs zu einer größeren. Sie muß die Nation i n numerisch reduciertem Maßstabe sein, sie muß aber ganz genau alle Gedanken und Strebungen, alle Irrtümer und Fehler, alle Bedürfnisse und Forderungen, alle guten wie bösen Eigenschaften, alle Laster wie Tugenden, alle Flecken wie Glanzpunkte der Nation wiedergeben 145 ." Diese rein individualistische Fundierung des Wahlsystems ist nicht auf die radikale bürgerliche Demokratie beschränkt, zu dessen äußersten linken Flügel der Verfasser von „ K r a f t und Stoff" gehörte, sie findet sich ähnlich bei dem Sozialdemokraten Liebknecht, für den galt, daß „jede Meinung, die nicht eine persönliche Schrulle ist, . . . eine Stimme i m Rat der Nation" haben muß 1 4 6 . Noch 1890 auf dem Parteitag i n Halle sah er i n der Durchlässigkeit und Offenheit der Verhältniswahl den Beweis für ihre demokratische Qualität: „Jawohl, es gibt eitle Gecken, die da glauben, den Verstand m i t Löffeln gegessen zu haben, das Monopol des Verstandes zu besitzen. Nun, ein solcher Bursche mag sich doch aufstellen lassen! Jetzt ist er ein verkanntes Genie, und ein solches ist stets unzufrieden, wenn er aber seinen Namen und sein Genie aufpflanzt und sich den Wählern von ganz Deutschland vorstellt, dann ist ganz Deutschland sein Rekrutierungsfeld — und da hat er doch bessere Aussichten, als jetzt. Und wenn eine neue Idee auftaucht, so ist doch, falls sie etwas taugt, wohl zu erwarten, es werden i n ganz Deutschland so viel Stimmen für sie abgegeben werden, daß wenigstens ein Vertreter ins Parlament kommt. Und jede Idee, jede Strebung und Strömung soll vertreten sein 1 4 7 ." Selbst Bebel, der — wie noch zu zeigen sein w i r d — die individualistische Argumentation weitgehend überwunden hatte, sah sich genötigt, zur Legitimität des von i h m vorgeschlagenen Verhältniswahlsystems zu betonen, daß „selbst die kleinste Minorität, wenn sie nur so viel Stimmen i m ganzen Reich insgesamt zusammenzubringen i m Stande ist, als die Durchschnittsstimmenzahl auf einen Vertreter b e t r ä g t , . . . ihre Vertretung (erhält)" 1 4 8 . Die ideologische Fundierung der Forderung nach Verhältniswahl i n radikaldemokratischen Vorstellungen zeigt sich auch i n dem Wert und i n der Bedeutung, die diese Autoren dem Parlament überhaupt einzuräumen bereit waren. Nachdem Liebknecht, zunächst ganz i m Sinne Sieyes', die Notwendigkeit einer Volksvertretung m i t der räumlichen Ausdehnung der modernen Territorialstaaten gerechtfertigt hatte 1 4 9 , 145 Büchner, S. 305. Nach seinen Worten handelt es sich dabei u m eine Übersetzung Giradins, die er zustimmend zitiert. 146 Liebknecht, Eine vernünftige Wahlart, S. 385. 147 Prot. SPD 1890, S. 171. 148 Bebel, Z u r Wahlreform-Frage, S. 510. 14 ® Liebknecht, Eine vernünftige Wahlart, S. 384.

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war für i h n 1871 — auf dem Höhepunkt seiner Parlamentsfeindlichkeit — theoretischer Antrieb zur Reform, „die Repräsentation wenigstens zu einer Wahrheit zu machen", „man mag über das Prinzip der Repräsentation denken, wie man w i l l " 1 5 0 . Ähnlich bestand für Carl Lübeck wirkliche Volkssouveränität nur dann, „wenn (das Volk) das höchste und letzte Entscheidungsrecht auf allen Gebieten der Gesetzgebung ausübt" 1 5 1 . Ganz i m Stile Rittinghausens argumentierend, führt er aus, wie dies ursprünglich vorhandene Volksrecht allmählich verloren gegangen sei und man „dem Volke dafür den Stein statt des Brotes" gegeben habe, den parlamentarischen Apparat, „ein Recht, das nur ein Scheinrecht ist, das Volk i n Ohnmacht erhält, den Despotismus stärkt und i n seiner Ausübung die Korruption fördert und die öffentliche Moral untergräbt" 1 5 2 . Auch Max Kayser, der die Mehrheitswahl bevorzugte, gibt als M i t t e l gegen die „ i n allen Wahlsystemen . . . enthaltenen) Übel" nur die Abschaffung der Wahlen überhaupt an, wenn „der Grundsatz der Sozialdemokratie, die direkte Gesetzgebung, zum Siege gekommen sein w i r d " 1 5 3 . Es fällt auf, daß bei Begründung der Forderung nach Verhältniswahl keine der sonst bei Erörterung des Wahlrechts üblichen relativierenden Einschränkungen seines Wertes als Emanzipationsinstrument i m jScheinkonstitutionalismus 4 des Bismarckreiches gemacht werden, wie sie ja gerade auch für Liebknecht bezeichnend sind. Anscheinend konnte der Wille der nach dem Verständnis der Sozialdemokraten politisch noch weitgehend unaufgeklärten Volksmassen nur dann Legitimität gewinnen, wenn der Berechnungsmechanismus für die Zusammensetzung der durch ihn gebildeten Volksvertretung den sozialdemokratischen Ansprüchen der Gerechtigkeit genügte. Das Verhältniswahlsystem erschien gleichsam als ein Mechanismus, der die Spontaneität des Volkswillens eigentlich erst ermöglichte und legitimierte, der ihn befreite. Der hier beschworene empirische Volkswille gewann einen Status, den sonst eigentlich nur jener heißerwartete i m freien Volksstaat einnahm 1 5 4 . Auch hieraus w i r d deutlich, daß die Sozialdemokratie der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts keinen Augenblick erwogen hat, den empirischen i m Namen eines hypothetischen, „wahren" 150

Volksstaat 31 /1871. Lübeck, S. 145. Z u r Person Lübecks vgl. K a r l Kautsky, Erinnerungen u n d Erörterungen, Quellen u n d Untersuchungen zu Geschichte der Deutschen u n d österreichischen Arbeiterbewegung, Bd. I I I , 's Gravenhage 1960, S. 444 ff. 152 Lübeck, S. 145/146. 165 Kayser, S. 145. 154 Die diesen freien Volkswillen umgebende V e r k l ä r u n g machte es für Bebel z.B. unvorstellbar, daß eine Demokratie noch K r i e g führen könnte. Vgl. Prot. SAP 1869, S. 33. 151

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Volkswillens zu unterdrücken. Ein K o n f l i k t zwischen konservativer' Volksmehrheit und ,fortschrittlicherer' Parlamentsmehrheit erschien unvorstellbar. Die Erwägung, durch Wahl eine zeitlich begrenzte und inhaltlich rechtsstaatlich-demokratisch normierte Führung zu bestimmen, über die das souveräne Volk nach Ablauf der Legislaturperiode sein Votum abzugeben hätte, das Konzept also einer demokratisch legitimierten Repräsentation, ist zumindest i n dieser ersten Phase der Sozialdemokratie nicht aufzufinden. Die Volksvertretung hat nur derivativen Charakter; Maßstab ihrer Bewertung ist der mathematisch feststellbare Grad an Identität m i t dem tatsächlichen Volkswillen. Auch eine andere Begründung für die Verhältniswahl, obwohl nicht der zentrale Gesichtspunkt, w i r f t Licht auf die Qualität des Wahlaktes, die sich m i t diesem System für die Sozialdemokratie verband, nämlich die mindere Bedeutung der personellen Auswahl gegenüber der inhaltlichen, m i t den Worten Liebknechts, es werde „mehr für Prinzipien als für Personen gestimmt und damit der leidige Personenkultus an der Wurzel gepackt". 155 Nicht der Abgeordnete, wie i h n der liberale Honoratiorenparlamentarismus idealtypisch verlangt, sondern eher der gesichtslose Vertreter einer bestimmten Gesinnungsgemeinschaft scheint hier gefordert zu sein. Die Beschwörung des Volkswillens und einer i h m entsprechenden gerechten Mandatsverteilung beruhte sicherlich auch auf der erhofften und nie verleugneten Folge der Verhältniswahl, der Erhöhung der sozialdemokratischen Abgeordnetenzahl. Jedoch die später bezogene Position, die Einführung der Verhältniswahl auch dann zu bejahen, wenn die scheinbare Konzession der anderen Parteien i n Wirklichkeit nur die Schwächung bzw. Benachteiligung der Sozialdemokratie verfolgte 1 5 6 , verbietet, das angegebene Motiv der Gerechtigkeit ohne weiteres als Verschleierung des eigenen Vorteils anzusehen. Gerade das Selbstverständnis als Minderheit i n einer zutiefst ungerechten und inhumanen Gesellschaft haben — jedenfalls i n dem hier behandelten Zeitraum — dem politischen Handeln der Sozialdemokratie, der tagespolitischen Praxis wie der theoretischen Zielvorstellung, eine Komponente ethischen Rigorismus — gegeben. Jenem erträumten, auf dem Prinzip der 155 Liebknecht, „ W ä h l e n " ; fast wörtlich ebenso bei Bebel, Z u r WahlreformFrage, S. 510. 156 Daß die Verhältniswahl auch von undemokratischen Minderheiten benutzt werden könne, insbesondere jener des Großbürgertums, u m nicht majorisiert zu werden, w a r durchaus schon bekannt. Vgl. das Deutsche Wochenblatt 16 /1867, w o von einer I n i t i a t i v e der „Geldaristokratie" u n d der „Großen Industriellen" auf Einführung des Hareschen Systems i n New Y o r k berichtet w i r d .

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Gerechtigkeit errichteten Volksstaat konnte nur ein nicht den Volksw i l l e n verfälschendes Wahlsystem entsprechen 167 . Die hier entwickelte sozialdemokratische Vorstellung vom Verhältnis zwischen Volk und Volksvertretung läßt deutlich werden, daß ein Gesichtspunkt wie die Funktionsfähigkeit des Wahlsystems keinen die Willenskomponente relativierenden Rang gewinnen konnte. U n d es darf nicht bezweifelt werden, daß das Verhältniswahlsystem nicht nur für die konstitutionelle Monarchie, sondern auch für die noch nicht genauer durchdachten Bedingungen eines parlamentarischen Regierungssystems angestrebt wurde; für welches Wahlsystem sich die Sozialdemokratie unter einem bereits funktionierenden parlamentarischen Regierungssystem entschieden hätte, muß unerörtert bleiben 1 5 8 . I n einer sozial weitgehend homogenen Wählerschaft, wie sie der freie Volksstaat sicherlich intendierte oder wie sie auch durch das Zensuswahlrecht künstlich aufrecht erhalten wurde, haben Majoritätsentscheide bei der Wahl eines Abgeordneten wie des ganzen Parlaments eine viel weniger einschneidende Wirkung für die unterlegene Minderheit als i n einer Klassengesellschaft. Zwar mögen auch dort verschiedene politische Gruppierungen m i t durchaus unterschiedlicher Zielsetzung u m die Führung ringen, allein die gemeinsame soziale Basis garantiert doch, daß die durch eine Wahlentscheidung ausgelösten Veränderungen einen bestimmten Rahmen nicht überschreiten. Grundlage des Funktionierens dieses Systems ist die Anerkennung der Herrschaft durch die jeweils unterlegene Gruppe einerseits, das Selbstverständnis des gewählten Abgeordneten als legitimer Repräsentant auch der unterlegenen Minorität andererseits 159 . Die ideologischen Begründungen für die Verhältniswahl verwendeten nicht den Begriff der Klasse, den der Partei zumeist noch i m Sinne des Frühkonstitutionalismus. Die Umschreibungen der politischen Gruppierungen i m Kaiserreich der 70er Jahre m i t „Strebungen", „Strömungen", „Gefühlsströmungen" basierten auf jenem das V o l k als Einheit gegen die dynastische und feudale Spitze setzenden Souveränitätsverständnis, wie es 157 Die auf dem Prinzip der Gerechtigkeit basierende ethische Begründung des Sozialismus des Höchbergkreises wurde von M a r x u n d Engels scharf kritisiert als von „materialistischer Erkenntnis" w e i t entfernte „ideologische Phrasen"; vgl. M a r x an Bracke a m 23.10.1877, M E W , Bd. 34, S. 305. 158 Dementsprechend können w i r uns nicht der apodiktisch formulierten These Schäfers, S. 162, anschließen, wonach die Sozialdemokratie unter dem Konstutionalismus „folgerichtig dazu kommen (mußte), eine Zusammensetzung der Vertretungskörperschaft nach Gerechtigkeitsgesichtspunkten zu fordern". 159 v g l . etwa die Debatte u m die Besetzung einer Reichstagskommission f ü r die Gewerbeordnung 1869, i n der der liberale Abgeordnete Lasker f ü r sich gemäß liberalem Repräsentationsbegriff auch die Vertretung der A r b e i ter i n Anspruch nahm. G. Mayer, J. B. Schweitzer, S. 276.

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beispielsweise von Johann Jacöby vertreten wurde 1 6 0 . I n den Worten, mit denen die Majorisierung i n den Wahlkreisen beschrieben wurde, spiegelt sich jedoch die Situation der Sozialdemokratie als isolierte Minderheit i n der kapitalistischen Klassengesellschaft. Uber das formale Gerechtigkeitskriterium hinaus, das es nicht erlaubte, „eine Ungerechtigkeit durch die andere aufzuheben" 161 , war die Minorität wesentlich durch ihren ganz anderen sozialen Status nicht i n der Lage, sich damit zufrieden zu geben, daß „ i h r " Kandidat u . U . i m Nachbarwahlkreis die Mehrheit gewann; nur vor diesem das Selbstverständnis der Partei umfassenden Hintergrund erklärt sich, wie selbst ein eher radikaldemokratischer denn sozialistischer Journalist wie Carl Lübeck von einer der unterlegenen Minorität „aufgedrängten feindseligen Repräsentation" 162 durch „prinzipielle Gegner" 1 6 3 sprechen konnte. Die theoretischen Gerechtigkeitsvorstellungen — i n diesem Zusammenhang am reinsten bei L u d w i g Büchner zu finden — erhielten ihre eigentliche Wirkung erst durch das gegenseitige Feindverhältnis von Arbeiterbewegung und bürgerlicher Gesellschaft. Dieser vermutete Zusammenhang von Pariastellung der Sozialdemokratie, wie sie sich gerade auch bei den Stichwahlen niederschlug (vgl. unten), und Forderungen nach Verhältniswahl, w i r d negativ dadurch gestützt, daß der einzige Befürworter der Mehrheitswahl, Max Kayser, — obwohl grundsätzlich A n hänger der direkten Demokratie — sein Votum u. a. auf jenen liberalen Repräsentationsbegriff stützte. Ähnlich wie später für die süddeutschen Reformisten war für Kayser eine lupenreine proletarische Vertretung kein leitender Gesichtspunkt, der Bündnisse m i t anderen Parteien ausschließen konnte. Für die Anhänger der Verhältniswahl wurde aber aus der m i t dem theoretischen Gerechtigkeitsmaßstab kollidierenden Majorisierung i n der politischen Praxis „ein Schlachtfeld, auf dem es Sieger und Besiegte g i b t " 1 6 4 . Und so würde m i t Einführung der Verhältniswahl auch der gegenwärtige Charakter des Wahlkampfes überwunden, der „demoralisierend (wirkt), indem (er) Leidenschaften erweckt, Haß und Mißtrauen erregt und zu allen möglichen Lastern f ü h r t " 1 6 5 , indem an die Stelle des Kampfes u m die Majorität der „Wahlspruch des preußischen Königshauses . . . suum cuique" 1 6 6 träte. wo V o r diesem ideologischen H i n t e r g r u n d muß seine 1868 geäußerte Klage begriffen werden: „Woher k o m m t es, daß bisher alle Versuche, dem V o l k s w i l l e n die gebührende Geltung zu verschaffen, so kläglich gescheitert sind? . . . Der G r u n d liegt einfach darin, daß ein w i r k l i c h e r einmütiger Volkswüle gar nicht vorhanden w a r . " Demokratisches Wochenblatt Nr. 6 /1868. 161 Liebknecht, „Eine vernünftige Wahlart", S. 385. 182 Lübeck, S. 146. 163 Ebd., S. 147. 184 Lübeck, S. 147. 165 Ebd. 186 Bebel, S. 511. 7 Misch

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C. Wahlsystemfrage und sozialdemokratische Staatstheorie bis 1891 bb) Die Frage des Systems der Verhältniswahl

A l l e n Verhältniswahlsystemen, auch den von diesen Autoren vorgeschlagenen, liegt — m i t den Worten Liebknechts — ein praktischer Gedanke zugrunde: „Statt vieler kleiner Wahlkörper ein großer Wahlkörper, statt Bezirkswahlen eine Staatswahl 1 6 7 ." Trotz dieser gemeinsamen Grundlage sind die Systeme der Verhältniswahl Legion, und es überrascht nicht, daß alle fünf hier behandelten Vertreter der Verhältniswahl ein eigenes System präsentierten. Wenn auch die technischen Details i n diesem Zusammenhang nicht i m Vordergrund des Interesses stehen sollen, gestatten die vorgeschlagenen Systeme Rückschlüsse auf die Entwicklung des Parteibegriffs vom liberalen Typus, der die „ A n hänger einer politischen Grundvorstellung" „allein durch persönliche Uberzeugung" 1 6 8 umfaßte und sich durchaus i n mehrere Fraktionen aufgliedern konnte 1 6 0 , zu dem Typus der durchorganisierten Mitgliederpartei, wie i h n als erste die Sozialdemokratie repräsentierte. Jenen ersten Typus reflektiert noch vollständig der Vorschlag L u d w i g Büchners, bezeichnenderweise m i t dem Titel „Partei-Wahlen", der nach seinen Angaben ursprünglich aus dem Jahre 1850 stammt 1 7 0 ; das erstrebte Ziel seines Wahlsystems, einen „genauen und unverfälschten Ausdruck des Volkswillens" 1 7 1 zu erhalten kann nur durch mehrfach indirekte Wahl erreicht werden, da sich auf Grund des vollkommenen Fehlens jeder Organisation die Anhänger der verschiedenen Parteimeinungen nur durch persönlichen Kontakt über die Benennung des Wahlmannes auf der nächst höheren Stufe absprechen können, bis es schließlich zur endgültigen Wahl des Abgeordneten k o m m t 1 7 2 . Spätestens m i t Gründung der Arbeiterpartei wurde deutlich, daß das allgemeine und gleiche Wahlrecht einen anderen Parteityp verlangte als der Honoratiorenparlamentarismus auf der Basis des Zensuswahlrechts, und die Erfolge der Sozialdemokratie führten dazu, daß gerade auch die liberalen Parteien die überlokale Organisation auszubauen anfingen. Wenn sowohl Wilhelm Liebknecht als auch Carl Lübeck 1 7 3 ein jeweils den Grundgedanken Thomas Hares variierendes System skizzierten, dann Scheint bei beiden Autoren dafür die starke individualistische Kompo167

Liebknecht, Eine vernünftige Wahlart, S. 385. Nipperdey, S. 11. 169 Ebd. 170 Büchner, S. 305. 171 Ebd., S. 307/308. 172 Ebd., S. 308 ff. 173 Lübeck, S. 192, schlug das von dem Schweizer Sozialdemokraten K a r l B ü r k l i auf Hare u n d A n d r ä basierende ausgearbeitete System vor. Wie Bebel berichtet, hat sich B ü r k l i später i h m gegenüber f ü r sein System der starren Liste ausgesprochen. Vgl. Aus meinem Leben, S. 573. 168

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nente ausschlaggebend zu sein. Hares Vorschläge, gegen die sich für Liebknecht „weder theoretisch noch praktisch das Geringste einwenden" 1 7 4 ließ, schließen zwar das Bestehen organisierter Parteien nicht aus, ermöglichen aber Einzelgängern die Chance der Wahl, für Liebknecht unabdingbar für den geforderten Grad an Gerechtigkeit seines Wahlsystems. Seine eigene politische Tätigkeit stand allerdings, sollte sie wirksam sein, unter dem Zwang eines festen Zusammenschlusses, denn „einheitliche Organisation ist das Zusammenfassen der Kräfte, ihre Sammlung i n einem Brennpunkt" 1 7 5 . Wenn Liebknecht 1871 auch dementsprechend i n seinem dort skizzierten Verhältniswahlsystem der Wirklichkeit der bestehenden Parteien m i t seinem Vorschlag eines Listensystems stärker Rechnung trug, wobei aber der Wähler nicht an die Parteilisten gebunden sein und sie offensichtlich auch durch Streichen und Panaschieren verändern können sollte, hat sich seine grundsätzlich individualistische Sichtweise des Wahlsystems nicht geändert. Nach wie vor betrachtete er das Wahlsystem unter dem Gesichtspunkt, wie „die Rechte des Individuums besser gewahrt" 1 7 6 werden können. Die konsequenteste Ausprägung des neuen Parteitypus i n dem vorgeschlagenen Wahlsystem findet sich bei August Bebel. Unter den frühen sozialdemokratischen Befürwortern der Verhältniswahl sticht er dadurch hervor, daß die sonst üblichen vulgärdemokratischen Begründungen so gut wie ganz fehlen. Als Zweck eines gerechten Wahlsystems bezeichnet er „eine gerechte Partei Vertretung", m i t anderen Worten, „daß jede Partei genau i n dem Maße i n der Volksvertretung Sitz und Stimme hat, wie die Zahl der für sie abgegebenen Wahlstimmen zu der Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen sich verhält" 1 7 7 . Zwar hebt auch er, wie schon erwähnt, die Durchlässigkeit seines Systems für winzige, über das ganze Reich zerstreute politische Minderheiten hervor, grundsätzlich gilt aber für ihn, daß „das Wahlsystem . . . die Zersplitterung i n kleine Parteien nicht begünstigen (darf), es . . . vielmehr auf Zentralisation der gleichgesinnten Kräfte hinwirken (muß)" 1 7 8 . Starke Parteienzersplitterung scheine i h m überhaupt kein Zeugnis vorgeschrittenen politischen Lebens zu sein. Diese beabsichtigte und befürwortete Konzentration auf wenige große Parteien steht bei i h m jedoch nicht i n dem Kontext einer etwa angestrebten Funktionstüchtigkeit des Reichstags, sie muß i n den Zusammenhang jener sozialdemokratischen Vorstellung gestellt werden, die die differenzierte Schichtung auch der bürgerlichen 174 175

S. 10. 176 177 178

7*

Eine vernünftige Wahlart, S. 385. W. Liebknecht, Was die Sozialdemokraten sind u n d was sie wollen, Liebknecht, Wählen. Bebel, S. 507. Ebd., S. 507/508.

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Gesellschaft des Bismarckreiches dadurch simplifizierte, daß die grundsätzliche Spaltung zwischen die Pole Proletariat und Bourgeoisie verlegt wurde, „dessen einzelne Parteien nur Abteilungen einer und derselben Partei" seien17®. Diese politische Konzentration sollte i n erster Linie Folge eines sozialen Klärungsprozesses sein, als dessen Ergebnis unter anderem der endgültige Übergang des Kleinbürgertums i n das Lager des Sozialismus erwartet wurde. Von Bebel vorgesehene Maßnahmen zur Verhinderung der Parteienzersplitterung sind erstens, daß jeder Wähler sich einer Partei anzuschließen habe, und zweitens, wohl als Beleg für die Dauerhaftigkeit der Parteiorganisation, der Nachweis einer Zentralleitung 1 8 0 . Diesem total i n Parteien aufgeteilten Volk entspricht nicht mehr der Begriff „Volkssouveränität", angemessen erschien Bebel allein „die souveräne Verfügung (jeder Partei) über die Besetzung der i h r zugefallenen Sitze" 1 8 1 . Konsequent folgerte er, daß damit jenes Prinzip der liberalen Repräsentationstheorie, wonach die Abgeordneten die Vertreter des ganzen Volkes sind, endgültig aufgegeben sei. Nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich wären „die Vertreter alsdann Parteivertreter" und die jetzige „Lüge" ihres Status gehörte der Vergangenheit an. Bebels auf wenigen Seiten vorgetragener Entwurf eines Verhältniswahlsystems enthält schon manche Elemente der Lehre vom Parteienstaat, die i n der Weimarer Republik entwickelt wurde, und es überrascht nicht, bei den Befürwortern der Verhältniswahl, auch den sozialdemokratischen, 50 Jahre nach diesem Entwurf, nicht nur äußerliche Anklänge an diese frühe Schrift zu finden. I I . Die Periode des Sozialistengesetzes bis zum Erfurter Parteitag 1. Auswirkungen des Sozialistengesetzes auf das Verhältnis zu Staat und Gesellschaft

Das 1878 i m Anschluß an zwei auf Wilhelm I. verübte Attentate verabschiedete „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Szoialdemokratie", das bis zum Herbst 1890 i n K r a f t blieb, hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Entwicklung der Sozialdemokratie, auf ihr Selbstverständnis und Verhältnis zum Wilhelminischen Deutschland und zur bürgerlichen Gesellschaft ausgeübt. Mochte das Sozialistengesetz, verglichen m i t dem Massenterror des 20. Jahrhunderts, auch i n der Sicht eines marxistischen Historikers „ i m ganzen 179 180 181

Hochverratsprozeß, Einleitung von W. Liebknecht, S. 23. Vgl. S. 509. Bebel, S. 510.

I I . Die Periode des Sozialistengesetzes bis zum Erfurter Parteitag

gesehen viel mehr Schikane als Unterdrückung" 1 gewesen sein, i m Bewußtsein der Mitglieder lebte es weiter als die »heroische Epoche1 der Arbeiterbewegung. Für die junge Sozialdemokratie hatte als Geburtshelfer die intransigente Opposition gegen das Bismarcksche PreußenDeutschland gewirkt, eventuell noch vorhandenen Überresten lassallescher Staatsvergötzung wurde aber endgültig jede Grundlage durch das Sozialistengesetz und die i n seinem Gefolge sich vollziehenden polizeilichen und juristischen Unterdrückungsmaßnahmen gegen alle Organisationen des Vierten Standes entzogen. Zur Kennzeichnung des durch die Repression geschaffenen Verhältnisses von Arbeiterschaft und Reich suchen manche Historiker Zuflucht bei besonders scharf gefaßten Metaphern. Jantke spricht von dem „klaffenden Bruch zwischen Arbeiterbewegung und Staat" 2 , und für Ziekursch wurde „ m i t dem Sozialistengesetz i n den Leib des deutschen Volkes ein Pfahl gestoßen und eine eiternde Wunde geschlagen, die bis zur Gegenwart noch nicht verharrscht ist" 3 . Der Versuch Bismarcks blieb daher vergeblich, die „Peitsche" des Ausnahmegesetzes zusammen mit dem „Zuckerbrot" der Sozialgesetzgebung4 dazu zu benutzen, die Massen der Arbeiter durch Anerkennung „berechtigter Forderungen" für den Staat zurückzugewinnen und der Sozialdemokratie zu entfremden. Bismarck verkannte (oder wollte nicht erkennen), daß „ i n letzter Konsequenz . . . die soziale Frage und die Frage der Integration der Arbeiterschaft i n den Staat eine Verfassungsfrage (war) und . . . mit den Mitteln einer reinen Sozialpolitik nicht gelöst werden (konnte)" 5 . Bezeichnend für die Pariastellung, die die Sozialdemokratie sowohl nach ihrem Selbstverständnis als auch aus der Sicht der anderen gesellschaftlichen Gruppen des Bismarckreiches einnahm, ist das Weiterleben des Schlagwortes von der „einen reaktionären Masse" aus dem Gothaer Programm; der Verzicht auf diesen Terminus i m Erfurter Programm war i n den Debatten über den theoretischen Teil der einzige kontro1 A r t h u r Rosenberg, Entstehung u n d Geschichte der Weimarer Republik, F r a n k f u r t / M. 1955, S. 36. 2 Carl Jantke, Der vierte Stand. Die Gestaltungskräfte der deutschen Arbeiterbewegung i m 19. Jahrhundert, Freiburg 1955, S. 222. 3 Johannes Ziekursch, Politische Geschichte des neuen deutschen Kaiserreiches, 3 Bde., F r a n k f u r t / M. 1927; 2. Bd., S. 333. 4 Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, 2. Bd., S. 583. 5 G. A. Ritter, Die Arbeiterbewegung i m Wilhelminischen Reich, S. 40. Das Mißtrauen der Sozialdemokratie gegen die Reformpolitik w i r d i n einer Resolution des Kopenhagener Parteikongresses von 1885 deutlich, i n der es u. a. heißt: „Der Kongreß erklärt, daß er i n bezug auf die sog. Sozialreform weder an die ehrlichen Absichten noch an die Fähigkeiten der herrschenden Klassen nach deren bisherigen Verhalten glaubt, sondern der Überzeugung ist, daß die sog. Sozialreform n u r als taktisches M i t t e l benutzt w i r d , u m die Arbeiter v o m wahren Wege abzulenken." Prot. SAP 1883, S. 30.

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C. Wahlsystemfrage u n d sozialdemokratische Staatstheorie bis 1891

verse Punkt 6 . Obwohl Engels mehrfach die wissenschaftliche und politische Unhaltbarkeit dieses Begriffs den beiden wichtigsten Theoretikern der deutschen Sozialdemokratie für die Rezeption des Marxismus, Eduard Bernstein und Karl Kautsky, dargelegt hatte, sprach sich anfangs nicht nur Liebknecht, sondern Bebel sogar noch bei der endgültigen Programmredaktion für die Beibehaltung dieses Verdikts gerade auch über die liberalen Kräfte des Bürgertums i m Parteiprogramm aus 7 . Das Sozialistengesetz richtete sich nur gegen die Organisationen der Arbeiterbewegung und nur gegen die von ihnen wahrgenommenen politischen Tätigkeiten wie Versammlungen, Verbreitung von Druckschriften und Beitragssammlungen. Vom Gesetz unberührt blieb das aktive und passive Wahlrecht der Sozialdemokraten und damit auch die Stellung der sozialdemokratischen Abgeordneten; eine Aberkennung der Mandate — auch der auf Grund des Gesetzes rechtskräftig Verurteilten — war nicht m i t i h m verbunden. Diese „Lücke", die es der Partei ermöglichte, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, die politische Arbeit fortzusetzen und m i t den stetig anwachsenden Wahlerfolgen die Nutzlosigkeit des Gesetzes zu demonstrieren, war Ausfluß liberaler Repräsentationstheorie, deren Prinzip i n diesem Fall auch gegenüber den „Reichsfeinden" grundsätzlich nicht aufgegeben wurde. Das System der Mehrheitswahl, das für die Aufstellung der Kandidaten einen verhältnismäßig geringen Organisationsgrad der Parteien erfordert, — ist doch die Mehrheitswahl die historische Form der Wahl i n der Epoche des weitgehend unorganisierten Honoratiorenparlamentarismus — erleichterte noch die Beteiligung an den Reichstagswahlen unter dem Sozialistengesetz. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß die Sozialdemokratie m i t dem Ende des Ausnahmezustandes i n ihr Erfurter Programm die Forderung nach Verhältniswahl aufnahm, die — hätte sie schon vorher bestanden — bei Unterdrückung der dazu notwendigen Parteiorganisation für die Sozialdemokratie viel mehr Schwierigkeiten bedeutet hätte. Es kennzeichnet die von institutionellen Bedingungen weitgehend unberührte Sichtweise der Sozialdemokraten, daß dieser Gesichtspunkt i n der Diskussion über die Verhältniswahl keine Rolle spielte, obwohl die Politik der Partei noch lange von der Furcht vor neuen Ausnahmegesetzen beeinflußt wurde. 8

Vgl. M i l l e r , S. 203. Vgl. Engels an Bernstein a m 12. /13. J u n i 1883, M E W , Bd. 36, S. 37; Engels an K a u t s k y am 14.10.1891, MEW, Bd. 38, S. 179 f.; Liebknecht auf dem Gothaer Parteitag, Prot., S. 165; K a u t s k y an Engels a m 30.10.1891, Engels, Briefwechsel m i t K . Kautsky, hrsg. u. bearb. von Benedikt Kautsky, Wien 1955, S. 314. Vgl. auch die A r b e i t von Horst Bartel, M a r x u n d Engels i m K a m p f u m ein revolutionäres deutsches Parteiorgan 1879 - 1890, B e r l i n (Ost) 1961, S. 103 ff. 7

I I . Die Periode des Sozialistengesetzes bis zum Erfurter Parteitag

M i t Inkrafttreten des Sozialistengesetzes hatte sich die Partei selbst aufgelöst und war damit nur einer entsprechenden staatlichen Maßnahme zuvorkommen. Während der ganzen Dauer des Gesetzes hat die Parteiführung nie den Versuch gemacht, die bald an vielen Orten gebildeten geheimen Lokalorganisationen, die sog. innere Organisation, durch eine geheime Zentralorganisation zu verbinden, denn — wie Mehring schreibt — „ f ü r eine breite und mächtige Volksbewegung war alle Geheimbündelei unmöglich" 8 . Unter diesen Umständen mußte der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion als der einzig legalen Institution i n der Partei eine besondere Stellung zufallen 9 . Die zwangsläufige Entwicklung, daß nach und nach die Reichstagsfraktion die sichtbare Leiterin der Sozialdemokratie wurde, „legalisierte" 1880 der erste Parteikongreß unter dem Sozialistengesetz i n Wyden; er bestimmte, daß „die offizielle Parteivertretung . . . i n die Hände der derzeitigen Abgeordneten" gelegt werden sollte 1 0 . Aus dieser Monopolstellung der Reichstagsfraktion i n einer Zeit, i n der die innerparteiliche Diskussion notwendigerweise beschränkt war, mußten sich Konflikte zwischen den verschiedenen Flügeln gerade i n solch einer Partei ergeben, die ihr zwiespältiges Verhältnis zum Parlamentarismus noch lange nicht überwunden hatte. Die Diskussionen auf den Parteikongressen unter dem Sozialistengesetz und die innerparteiliche Opposition der „Jungen" Anfang der 90er Jahre geben Zeugnis von dem schon zu dieser Zeit sichtbar werdenden Nebeneinander von revolutionärer Phraseologie und reformerischer Praxis. Obwohl die m i t Engels* Worten „notwendige . . . und vortrefflich geführte" „sozialistengesetzliche Fraktionsd i k t a t u r " 1 1 nach 1890 ihre Unentbehrlichkeit verloren hatte, behielt die Fraktion einen über die eigentlichen statutenmäßigen Befugnisse weit hinausgehenden Einfluß i n der Partei, dessen Basis die Formulierung der Politik der Sozialdemokratie zwischen den Parteitagen war 1 2 . Alle Vorbehalte gegenüber dem Parlamentarismus vermochten nicht bei dem starken Anwachsen von Stimmen und Mandaten bis 1890 die dieser Institution innewohnende Dynamik aufzuhalten. M i t der Zahl der Abgeordneten verstärkte sich auch die Beteiligung an der parlamenta-

8

Mehring, Bd. I I , S. 531. Nicht zuletzt auch durch die den Reichstagsabgeordneten zustehende Freifahrkarte bei der Reichsbahn, die dazu beitrug, die finanziellen Schwierigkeiten bei Agitationsreisen zu senken. 9

10 Zit. nach Paul Kampffmayer, Unter dem Sozialistengesetz, B e r l i n 1928, S. 139. 11 Engels an Kautsky, 23. 2.1891, MEW, Bd. 38, S. 41. 12 G. A . Ritter, S. 54; vgl. dazu auch Robert Michels, „Die oligarchischen Tendenzen der Gesellschaft", i n : A r c h i v f ü r Sozialwissenschaft u n d Politik, 1908, S. 73 ff., S. 108.

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C. Wahlsystemfrage u n d sozialdemokratische Staatstheorie bis 1891

rischen Arbeit i n den Ausschüssen und i m Seniorenkonvent 13 , womit die Grenzen der dem Parlamentarismus zuerkannten bloß agitatorischpropagandistischen Bedeutung stillschweigend übertreten wurden. So gehört es zur paradoxen Erbschaft des Sozialistengesetzes, daß sich einerseits Theorie und Selbstverständnis der Partei radikalisierten, andererseits aber die Fraktion ihre recht weitgehende Unabhängigkeit bewahren konnte und somit den grundsätzlich parlamentarischen Charakter der Partei garantierte. 2. Parlament und Wahlrecht unter den Bedingungen des Ausnahmegesetzes

Die Einschränkung der politischen Arbeit für die Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz führte naturgemäß zu einer allmählichen Neubewertung der Institution des Parlaments durch die Partei; der marxistische Parteihistoriker Franz Mehring kann sein Unbehagen über diese auch von i h m nicht geleugnete Entwicklung schlecht verbergen, wenn er einzig dem Sozialistengesetz die Schuld daran zuweist, „daß überhaupt der Reichstagstribüne, dem einzigen Ort i n Deutschland, wo noch ein freies Wort möglich war, eine Bedeutung zufiel, die der bürgerliche Parlamentarismus an und für sich nicht beanspruchen konnte" 1 4 . Wenn schon seit der Reichsgründung die Rechtfertigung für die Beteiligung an den Reichstagswahlen vor allem i n den damit verbundenen Möglichkeiten der Agitation erblickt worden war, bedeutete der neue Zustand durch die Beschneidung jeder anderen politischen Tätigkeit trotz aller Erbitterung gegenüber dem Staat und seinen Institutionen die faktische Alternativlosigkeit zur Wahlbeteiligung. So bekräftigte schon das erste geheime Treffen 1880 i n Wyden die Notwendigkeit der Beteiligung an Reichstags-, Landtags- und Kommunalwahlen „aus agitatorischen und propagandistischen Rücksichten" 15 , derselbe Kongreß, der die Beteuerung des Gothaer Programms, nur legale M i t tel anwenden zu wollen, m i t der Begründung strich, daß eine gesetzliche Arbeit durch das Sozialistengesetz unmöglich gemacht worden sei 16 . Ursache für die veränderte Einschätzung des Parlaments und des Instruments des allgemeinen und gleichen Wahlrechts war aber weder das Führungs- noch das Agitationsmonopol der Reichstagsfraktion, sondern vor allem die großen Wahlerfolge, die die Sozialdemokratie 13 Vgl. Eduard Bernstein, Die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung, 3 Bde., B e r l i n 1907 - 1910; 2. Bd., S. 315. 14 Franz Mehring, 2. Bd., S. 621. 15 Prot. SAP 1880, S. 49. 16 Vgl. ebd., S. 28.

I I . Die Periode des Sozialistengesetzes bis zum Erfurter Parteitag

während der Zeit des Sozialistengesetzes errang 1 7 : der Versuch der Unterdrückung der Sozialdemokratie endete m i t den Reichstagswahlen 1890, die sie zur wählerstärksten Partei des Reiches machten und das Schicksal Bismarcks als Reichskanzler besiegelten. Die unerwarteten Wahlerfolge der Sozialdemokratie lassen vor allem einen Gesinnungswandel bei Engels erkennen, der das allgemeine Wahlrecht zuvor nur aus der historischen Erfahrung des Bonapartismus zu beurteilen vermochte und dementsprechend skeptisch und abwertend seine Einführung bei Gründung des Bismarckreiches beobachtet hatte: er sah i n i h m nur den Versuch einer feudalmonarchistischen Staatsführung, „ein bißchen m i t der neuerstehenden sozialen Bewegung zu kokettieren, wenn die Bourgeoisie sich widerhaarig erwies" 1 8 . Aber schon der relativ bescheidene Gewinn von 12 Mandaten und knapp 500 000 Stimmen bei den Reichstagswahlen von 1877 ließ ihn „von einem der größten Siege" sprechen, „der je von Arbeitern errungen wurde" 1 9 . Und es waren die ersten Wahlen unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes — die Sozialdemokratie errang 312 000 Stimmen und 12 Mandate —, die die beiden Londoner A l t e n m i t der deutschen Arbeiterbewegung versöhnten 20 , nachdem die staatlichen Maßnahmen sehr zum Mißfallen von Marx und Engels manche Stimmen i n der Sozialdemokratie ermuntert hatten, den Gedanken des Klassenkampfes zugunsten eines sozialreformerischen Klassenversöhnungsdenkens zu verdrängen 21 . Die Wahlerfolge der Partei führten allerdings keinesfalls zu einem Selbstverständnis der Sozialdemokratie als parlamentarische Oppositionspartei; immerhin ließen aber die auch nach Ende des Sozialistengesetzes anhaltenden Wahlerfolge trotz aller immer wieder geäußerten Vorbehalte gegenüber der parlamentarischen Mitarbeit an 17 Z u m folgenden vgl. auch Steinberg, Sozialismus u n d deutsche Sozialdemokratie, S. 64 ff. Nachdem die ersten Wahlen unter dem Sozialistengesetz 1881 einen Rückgang der Stimmen erbracht hatten, stieg der sozialdemokratische Wähleranteil auf 9,7 °/o 1884,10,1 °/o 1887 u n d 19,7 °/o 1890. 18 Die Rolle der Gewalt i n der Geschichte, M E W , Bd. 21, S. 429. 19 Die europäischen Arbeiter i m Jahre 1877, MEW, Bd. 19, S. 119; die Stimmen i m 1. Wahlgang betrugen n u r ca. 493 000, bei der von i h m genannten Z a h l von 600 000 hat Engels offensichtlich die Stichwahlen hinzugezählt. 20 Vgl. Engels an Bebel a m 30.11.1881: „Wenn ein äußeres Ereignis dazu beigetragen hat, M a r x wieder einigermaßen auf den Strumpf zu bringen, so sind es die Wahlen gewesen. So famos hat sich noch kein Proletariat benommen." MEW, Bd. 35, S. 237. 21 So v o r allem i n dem berüchtigten „Dreisterneartikel" i m Jahrbuch f ü r Wissenschaft u n d Sozialpolitik, hrsg. von Dr. L u d w i g Richter (Pseudonym für K a r l Höchberg), 1. Jg. 1. Hälfte, Zürich 1879. Die Verfasser des m i t drei Sternen gezeichneten A r t i k e l s „Rückblicke auf die sozialistische Bewegung i n Deutschland" w a r e n Höchberg, K a r l Flesch, C. A . Schramm u n d Eduard Bernstein. Der A r t i k e l führte zu heftigen Reaktionen von M a r x u n d Engels. Vgl. M ü l e r , S. 191 ff.

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C. Wahlsystemfrage u n d sozialdemokratische Staatstheorie bis 1891

d e n insgesamt bescheidenen S o z i a l r e f o r m e n B i s m a r c k s die e r n s t h a f t e E r ö r t e r u n g e i n e r P a r l a m e n t s - oder g a r W a h l a b s t e n t i o n n i c h t m e h r z u 2 2 . D i e W a h l e r f o l g e e r h i e l t e n f ü r die F ü h r e r d e r S o z i a l d e m o k r a t i e z u sätzlich eine r e v o l u t i o n ä r e K o m p o n e n t e — w i e v o r a l l e m d e m B r i e f wechsel z w i s c h e n B e b e l u n d E n g e l s 2 3 z u e n t n e h m e n i s t — d u r c h die E r w a r t u n g e i n e r b e v o r s t e h e n d e n K r i s e u n d des Z u s a m m e n b r u c h s des K a p i t a l i s m u s , die B e b e l 1891 a u f d e m E r f u r t e r P a r t e i t a g zu d e r u n v o r sichtigen P r o p h e z e i h u n g v e r a n l a ß t e , daß seiner Ü b e r z e u g u n g nach die V e r w i r k l i c h u n g der l e t z t e n Z i e l e d e r P a r t e i so nahe sei, daß n u r w e n i g e i m Saale diese n i c h t m e h r e r l e b e n w ü r d e n 2 4 . G r u n d l a g e dieser H o f f n u n g w a r e n die u n t e r s c h i e d l i c h s t e n B e o b a c h t u n g e n a u f ö k o n o m i s c h e m u n d p o l i t i s c h e m G e b i e t ; b a l d w a r es die E r w a r t u n g eines b a l d i g e n T h r o n w e c h s e l s i m R e i c h 2 5 , i m D r e i k a i s e r j ä h r d a n n die P e r s o n des „ s c h n o d d r i g e n J a r d e l e u t n a n t s " 2 6 W i l h e l m , oder i m G r u n d e m a r g i n a l e w i r t s c h a f t l i c h e u n d soziale K r i s e n e r s c h e i n u n g e n w i e das A b s i n k e n der E f f e k t e n k u r s e u n d K l a g e n ü b e r schlechten Geschäftsgang w u r d e n z u r u n a b ä n d e r l i c h e n N o t w e n d i g k e i t der K a t a s t r o p h e m i t f o l g e n d e r R e v o l u t i o n hypostasiert 27. Der bei M a r x „zwischen sozialökonomischem Det e r m i n i s m u s u n d p o l i t i s c h e m A k t i v i s m u s " 2 8 oszillierende dialektische 22 Selbst die radikale Gruppierung der „Jungen" nach 1890 bejahte die agitatorische Ausnutzung der Reichstagstribüne u n d damit die Wahlbeteiligung. Vgl. Prot. SPD 1890, S. 99 ff. Vgl. dazu zuletzt H. M. Bock, „Die »Literaten- u n d Studenten-Revolte' der Jungen i n der SPD u m 1890", i n : Das Argument 63 /1971, S. 22 ff. Z u Recht hebt L i d t k e hervor, daß der A n t i p a r l a mentarismus i m Gegensatz zu dem Rittinghausens u n d Liebknechts während der 70er Jahre nicht aus radikaldemokratischen Vorstellungen erwuchs. V e r non L. Lidtke, The Outlawed Party. Social Democracy i n Germany, 1878 1890, Princeton, New Jersey 1966, S. 314 ff. 23 A. Bebel, Briefwechsel m i t Friedrich Engels, hrsg. von Werner B l u m e n berg, Den Haag 1965. 24 Prot. SPD 1891, S. 209. Angeregt zu dieser Prophezeiung wurde Bebel offensichtlich durch den auch i m „ V o r w ä r t s " abgedruckten A r t i k e l von Engels „Über den Brüsseler Kongreß u n d die Lage i n Eruopa" (MEW, Bd. 22, S. 243), der einen Höhepunkt i n Engels' Revolutionserwartung bildet. Das Rechnen auf einen Engpaß i n der Getreideversorgung Deutschlands und Rußlands m i t nachfolgender Hungersnot k u l m i n i e r t i n den folgenden Sätzen: „Schließlich w i r d es Bewegung geben, Kampf, Leben u n d unsere Partei w i r d alle Früchte davon ernten; u n d w e n n die Ereignisse diese Richtung nehmen, w i r d unsere Partei schon u m das Jahr 1898 zur Macht kommen können." Bebels Reaktion ist begeistert, denn n u n k a n n nicht einmal mehr der „ B l ö deste leugnen, daß die Sintflut naht". Bebel an Engels am 29.9.1891, Briefwechsel, S. 433. Spöttisch kommentiert w u r d e dagegen die E r w a r t u n g eines »Kladderadatsch 4 von Vollmar. Vgl. Prot. SPD 1891, S. 185. 25 Engels an Bernstein, 22. - 25. 2.1882, MEW, Bd. 35, S. 283. 26 Engels an Sorge am 7.1.1888, MEW, Bd. 37, S. 10. 27 Vgl. die Briefe Bebels an Engels v o m 11. 2.1881 (Briefwechsel, S. 103), 28. 3.1881 (ebd., S. 106), 6.1.1883 (ebd., S. 146). 28 Theodor Schieder, „Das Problem der Revolution i m 19. Jahrhundert", i n : Staat u n d Gesellschaft i m Wandel unserer Zeit, München 1958, S. 38.

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Revolutionsbegriff verflacht hier deutlich zum fatalistisch-mechanistischen Entwicklungsgang 29 ; die einseitige Betonung der „objektiven" ökonomischen Faktoren, die das politische Handeln, die Praxis, fast überflüssig machen — „ w i r selbst brauchen dazu gar nichts zu tun, nur unsere Gegner für uns arbeiten zu lassen" 30 — gerann dann nach der Jahrhundertwende zur Rechtfertigungsideologie für den Quietismus des Parteivorstandes. Die Gewißheit, daß die ökonomische Krise m i t Notwendigkeit über kurz oder lang zur politischen Revolution, zur Ergreifung der Macht durch das Proletariat führen mußte, ergab sich aus dem gewaltigen Anstieg der Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen durch die Erschließung neuer Wählerschichten. Auch die stetig steigenden Stimmzahlen der Sozialdemokratie nahmen für Engels den Charakter einer fast gesetzmäßigen Entwicklung an, konnte man doch „ m i t mathematisch genauer Berechnung die Zeit bestimmen . . . , i n der sie zur Herrschaft k o m m t " 3 1 . Schon die Wahl 1884 ließ i h n i n der Partei eine Macht sehen, „deren Dasein und Anschwellen den Regierungen und den alten herrschenden Klassen ebenso unbegreiflich und geheimnisvoll ist, wie das Anschwellen der christlichen Flut der Gewalten des untergehenden Römertums, die aber ebenso sicher und unaufhaltsam sich emporarbeitet, wie damals das Christentum, so sicher, daß die Gleichung ihrer wachsenden Geschwindigkeit und damit der Zeitpunkt ihres schließlichen Sieges sich schon jetzt mathematisch berechnen läßt" 3 2 . Besonders wichtig war für Engels die soziale Zusammensetzung der sozialdemokratischen Wählerschaft; er konnte daran das Maß an Übereinstimmung zwischen dem sozialökonomischen Entwicklungsgrad und dem Klassenbewußtsein der Arbeiterschaft ablesen, sah er doch i m allgemeinen Wahlrecht den „Gradmesser der Reife der Arbeiterklasse" 3 3 . So konstatierte er bei den Wahlen von 1887 m i t großer Genugtuung, daß sich der Schwerpunkt des sozialdemokratischen Wählerpotentials weg von der aussterbenden sächsischen Handweberei h i n zu den großstädtischen und ländlichen Industriebezirken verlagert hatte 3 4 . Der 20. Fe29

Vgl. dazu Dieter Groh, „ M a r x , Engels u n d D a r w i n " , i n : PVS, 4/1967, S. 544 ff.; S. 558. 30 Engels an Bernstein, 22. - 25.2.1882, MEW, Bd. 35, S. 283. 31 Friedrich Engels, Der Sozialismus i n Deutschland, M E W , Bd. 22, S. 250. I n der Formulierung Liebknechts: M a r x u n d Engels hätten den Sozialismus zur Wissenschaft erhoben u n d „seinen Sieg zum notwendigen Ergebnis . . . eines Rechenexempels m i t festen, feststehenden Größen gemacht". Zit. nach Blumenberg, Einleitung zu Bebel, Briefwechsel m i t Fr. Engels, S. X L V I I . 32 Engels an K a u t s k y a m 8.11.1884, MEW, Bd. 36, S. 230. 33 Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums u n d des Staats, MEW, Bd. 21, S. 168. 34 Engels an L a u r a Lafargue, 24. 2.1887, M E W Bd. 36, S. 619.

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bruar 1890, der Tag der Reichstagswahl, war für i h n der „Beginn der deutschen Revolution" 3 5 , auch seine Erwartung für die Wahlen von 1893 so groß, daß sogar Bebel die Vorfreude seines Freundes dämpfen zu müssen meinte 3 6 . Zwar hoffte auch er auf „ganz überraschende Resultate" m i t Siegen i n Kreisen, an die bisher niemand gedacht" hat 3 7 , aber dennoch glaubte er nicht an die von Engels vorausgesagten 272 M i l l . Stimmen, nicht zuletzt wegen der vielen sicheren großstädtischen Hochburgen der Sozialdemokratie, die eine relativ geringe Wahlbeteiligung aufwiesen 38 . Wenn auch Bebel auf Grund seiner größeren Nähe zur Parteiorganisation und den Massen hier i n seinen Prognosen etwas zurückhaltender erscheint, so stimmte er doch i n seinem grundsätzlichen Optimismus, m i t dem er die politische Entwicklung betrachtete, voll m i t Engels überein. Nach dem Wahlausgang von 1884 eröffneten sich i h m weite Perspektiven: „ U n d dann haben w i r die großen Reserven der Leute von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren, die nicht wählen dürfen. Unsere Stimmenzahl steigt von jetzt an riesig. Die A l t e n sterben, die Jungen wachsen heran. Die Anhänger der alten Parteien laufen aus ihrem Lager i n das unsre 3 9 ." Die Erwartung einer sozialdemokratischen Mehrheit für die Dekade 1900 bis 191040 veranlaßte Engels schließlich 1895 i n seiner bekannten Einleitung zu Marx' „Klassenkämpfen i n Frankreich" „die neue Kampf es weise des Proletariats" aufzuzeigen, „die m i t dieser erfolgreichen Benutzung des allgemeinen Stimmrechts . . . i n Wirksamkeit getreten" w a r 4 1 . Das Wachstum der sozialdemokratischen Wähler55

Engels an L a u r a Lafargue, 26. 2.1890, M E W Bd. 37, S. 359. I n seiner Gratulation an Liebknecht, der 1890 m i t 42 000 die höchste Zahl der Stimmen aller Kandidaten auf sich vereinigen konnte, sprach Engels die bestimmte Hoffnung auf die baldige Gewinnung neuer, der Partei noch feindlicher Schichten aus: „Unsere Erfolge i n Schleswig-Holstein, Mecklenburg u n d Pommern verbürgen uns jetzt riesige Fortschritte unter den Ackerbauarbeitern des Ostens! Jetzt, w o w i r die Städte haben u n d der Ruf unserer Siege bis i n die abgelegenen Rittergüter dringt, können w i r auf dem Lande einen ganz andern B r a n d anzünden als die Strohfeuer von vor 12 Jahren. I n drei Jahren können w i r die Landarbeiter haben, u n d dann haben w i r die Kernregimenter der preußischen Armee." Engels an Liebknecht a m 9.3.1890, MEW, Bd. 37, S. 365. Dieser Plan ist, w i e G. A . Ritter, S. 77, nüchtern k o n statiert, ebenso w i e die 1890 von Bebel verkündete Aufgabe, die Mehrheit von Polen, Elsässern u n d katholischen Arbeitern zu gewinnen, „ i m wesentlichen gescheitert". 37 Bebel an Engels am 11. 4.1893, S. 675. 38 Bebel an Engels am 18.4.1893, ebd., S. 678. 30 Bebel an Engels, am 24.11.1884, ebd., S. 200. 40 Vgl. I n t e r v i e w m i t „ T h e D a i l y Chronicle", 1.7.1893, i n : MEW, Bd. 22, S. 548. 41 MEW, Bd. 22, S. 519. Z u Recht hat Blumenberg i n seiner instruktiven Einleitung gegenüber den i m m e r wieder erhobenen V o r w ü r f e n der Verfälschung der Einleitung durch den sozialdemokratischen Parteivorstand darauf 36

I I . Die Periode des Sozialistengesetzes bis zum

rfurter Parteitag

masse ging für Engels „so spontan, so stetig, so unaufhaltsam und gleichzeitig so ruhig vor sich . . . wie ein Naturprozeß" 4 2 . Die Darstellung dieser erfolgreichen Taktik kulminiert i n den berühmten Sätzen: „Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir, die ,Revolutionäre', die ,Umstürzler', w i r gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz. Die Ordnungsparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen gesetzlichen Zustand. Sie rufen verzweifelt m i t Odilon Barrot: la légalité nous tue, die Gesetzlichkeit ist unser Tod, während w i r bei dieser Gesetzlichkeit pralle Muskeln und rote Backen bekommen und aussehen wie das ewige Leben. Und wenn w i r nicht so wahnsinnig sind, ihnen zu Gefallen uns i n den Straßenkampf treiben zu lassen, dann bleibt ihnen zuletzt nichts anderes, als selbst diese ihnen so fatale Gesetzlichkeit zu durchbrechen 43 ." Die Selbstverständlichkeit, m i t der noch 1878 für Bebel gegolten hatte, daß die Partei bei den Wahlen nicht nur Stimmen, sondern auch die errungenen Mandate zählt, so daß es auch „ganz selbstverständlich für jeden (ist), der bis vier zählen kann, daß die Partei einen Wahlmodus wünschen muß, der die Abgeordnetensitze gerecht verteilt und der Volksstimmung i n der Vertretung den richtigen Ausdruck g i b t " 4 4 , wurde i n den 80er Jahren zeitweise überwuchert von einer bei manchem Parteiführer wieder anklingenden Parlamentsverdrossenheit. Dieser latente Antiparlamentarismus ist nicht von den großen Wahlerfolgen der Partei zu trennen, die Ursache liegt i n der Diskrepanz zwihingewiesen, daß sämtliche Änderungen auf Anregung des Parteivorstands von Engels selbst vorgenommen worden sind. Briefwechsel, S. X L . Ä h n l i c h Steinberg, S. 70, der übersieht, daß der langgesuchte Brief Engels' an Fischer v o m 8. 3.1895 bereits v o r i h m bei Blumenberg ausführlich zitiert w i r d . 42 Engels, MEW, Bd. 22, S. 524. 43 Ebd., S. 525. Engels T a k t i k , die Legalität der Partei zu wahren u n d zur Verbreiterung ihrer Massenbasis zu nutzen, ist nicht erst Konsequenz der sozialdemokratischen Wahlerfolge i n den 90er Jahren. Den Grundriß dieser T a k t i k findet man schon 1877 i n einem Engeischen Zeitungsartikel: „Doch es werden sich Leute finden u n d sagen: A b e r w a r u m macht i h r m i t solchen K r ä f t e n nicht gleich die Revolution? Aus folgendem Grunde: Da w i r noch nicht mehr als 600 000 von 5V2 M i l l i o n e n Stimmen haben u n d diese Stimmen da u n d dort i n so u n d so v i e l Ländern verstreut sind, w ü r d e n w i r sicher besiegt werden u n d m i t unüberlegten Aufständen u n d Torheiten eine Bewegung vernichten, die n u r ein w e n i g Zeit braucht, u m uns zu einem sicheren T r i u m p h zu führen. Es ist klar, daß man uns den Sieg nicht einfach überlassen w i r d , daß die Preußen nicht tatenlos zusehen werden, w i e i h r ganzes Kriegsheer sozialistisch infiziert w i r d , ohne Gegenmaßnahmen zu treffen; aber je mehr Reaktion u n d Unterdrückung es geben w i r d , desto höher w e r den die Fluten steigen u n d schließlich die Deiche hinwegschwemmen." E n gels, B r i e f an Bigname über die deutschen Wahlen von 1877, MEW, Bd. 19, S. 90. 44 Der Sozialismus u n d das Landvolk, Ausgewählte Reden u n d Schriften, Bd. 1, S. 505.

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sehen dem Selbstverständnis einer intransigenten Klassenpartei einerseits und dem Werben u m breitere Wählerschichten 45 sowie der Vermehrung der Zahl der Abgeordneten, die sich auf Grund der Diätenlosigkeit i n wachsendem Maße aus nichtproletarischen Schichten rekrutierte 4 6 , andererseits. Ausdruck des latenten Antiparlamentarismus i n der Parteiführung und i n Teilen der Mitgliedschaft war der häufig betonte Vorrang der Stimmenzahl gegenüber der Zahl der errungenen Mandate. Auch m i t Aufnahme der Verhältniswahl i n das Erfurter Programm, womit die auch der Zahl der Mandate beigemessene Bedeutung dokumentiert wurde, war die Höherbewertung der Stimmzahlen keineswegs überwunden. Auswirkungen dieser ideologisch begründeten Zurückhaltung gegenüber dem Parlamentarismus auf die Intensität des Wahlkampfes dürften zwar kaum festzustellen sein, obwohl hierm i t die Hemmungen der Partei bei Stichwahlabkommen m i t anderen Parteien zusammenhingen. Anlaß für das Unbehagen an der parlamentarischen Mitarbeit und damit auch an dem Anwachsen der Fraktion gaben vor allem das Abweichen einzelner Abgeordneter oder sogar der Fraktionsmehrheit von der Linie der intransigenten Opposition, wie sie besonders von Bebel und Engels vertreten wurde. Die Befürwortung des Schutzzolls durch Max Kayser 1879 und der Streit u m die Dampfersubventionen 1884/85 schlugen sich i n Äußerungen nieder, die die Parlamentsverdrossenheit des radikalen Parteiflügels anzeigten. So hob Engels den Eindruck, den das Verhalten der Partei bei den Reichstagswahlen von 1881 i n ganz Europa gemacht hatte, ausdrücklich hervor, die Zahl der Sitze hingegen war i h m „Wurst", wenn nur Fraktionsstärke zum Einbringen eigener Initiativen und Resolutionen erreicht werde 4 7 . Und auch 1887, als die Partei trotz Stimmengewinns mehr als die Hälfte der Mandate gegenüber 1884 verlor, kam es Engels „auf die Zahl der Sitze . . . gar nicht an, nur auf die statistische Darlegung des unaufhaltsamen Parteizuwachses" 48 ; ja, der Verlust an Mandaten sei nicht nur leicht zu verschmerzen, „sondern i n vieler Beziehung ein V o r t e i l " 4 9 . Ganz ähnlich liest es sich bei Bebel i n dieser Zeit: „Das beste wäre, den Stimmenzuwachs zu konstatieren, ohne die Mehrgewählten ohne weiteres i n Kauf 45

Vgl. Brandis, S. 67, der nachweist, daß sich die Partei zur Gewinnung neuer Wählerschichten i n der Wahlagitation sehr v i e l weniger r a d i k a l gab als i n parteiinternen Verlautbarungen. 46 Vgl. die K r i t i k von Matthias / P i k a r t an der undifferenzierten Etikettier u n g der Abgeordneten als Kleinbürger. Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898 - 1918, (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus u n d der politischen Parteien, 1. Reihe, Bd. 3, I) Düsseldorf 1961, S. L I . 47 Engels an J. Ph. Becker, 4.11.1881, MEW, Bd. 35, S. 236. 48 Engels an Sorge, 3. 3.1887, MEW, Bd. 36, S. 623. 40 Engels an Julie Bebel, 12. 3.1887, M E W , Bd. 36, S. 627.

I I . Die Periode des Sozialistengesetzes bis zum Erfurter Parteitag n e h m e n z u m ü s s e n 5 0 . " U n d gegenüber Motteier

1

äußerte er „ t i e f e n E k e l

gegenüber a l l d e m p a r l a m e n t a r i s c h e n G e s c h w ä t z " 5 1 . T r o t z dieser Ä u ß e r u n g e n , d i e sich besonders f ü r die Z e i t nach d e m D a m p f e r s u b v e n t i o n s s t r e i t zwischen der „ r e c h t e n " M e h r h e i t der F r a k t i o n a u f der e i n e n Seite u n d der M i n d e r h e i t m i t B e b e l u n d der R e d a k t i o n des i l l e g a l e n Organs „ D e r S o z i a l d e m o k r a t " a u f d e r a n d e r e n Seite v e r m e h r t f i n d e n , h a t die P a r t e i g r u n d s ä t z l i c h d e n W a h l k a m p f n i c h t n u r u m S t i m m e n , s o n d e r n auch u m M a n d a t e g e f ü h r t 5 2 . D i e M ö g l i c h k e i t e n stärkerer parlamentarischer Einflußnahme w u r d e n v o n den F ü h r e r n der P a r t e i n i c h t n u r gesehen, s o n d e r n auch b e j a h t 5 3 , sie w u r d e n aber 50 Bebel an Engels, 7. 9.1886, a.a.O., S. 282/283. Vgl. auch Lidtkes Darstellung von Bebels H a l t u n g zum Parlamentarismus i n diesen Jahren, S. 232 ff. 51 Zit. nach Lidtke, S. 234 (zurückübersetzt). 62 Ausfluß der höheren Bewertung der Stimmwahlen waren v. a. die sozialdemokratischen Zählkandidaturen, d . h . die Aufstellung von K a n d i daten auch i n von vornherein aussichtslosen Wahlkreisen. Zweck dieser Praxis, die über die Grenzen der Mehrheitswahl hinausging, war, die Organisation möglichst über das ganze Reich auszudehnen u n d an Hand der Wahlziffern die statistische Vermehrung der Anhängerschaft registrieren zu können. U m eine zu starke Zersplitterung der v o r allem i n der Anfangszeit geringen M i t t e l zu vermeiden, konzentrierte sich aber der Einsatz auf die sog. offiziellen Wahlkreise. Anzahl der Wahlkreise m i t statistisch feststellbaren sozialdemokratischen Kandidaturen bei den Hauptwahlen 1871 - 1912:

I. (1871) 98 von 382 V I I I . (1890) 343 von 397 I I . (1874) 163 von 397* I X . (1893) 381 von 397 I I I . (1877) 196 von 397 X . (1898) 383 von 397 X I . (1903) 392 von 397 I V . (1878) 190 von 397 X I I . (1907) 392 von 397 V. (1881) 183 von 397 X I I I . (1912) 397 von 397 V I . (1884) 219 von 397 V I I . (1887) 255 von 397 * hinzugekomen waren 15 elsaß-lothringische Wahlkreise. Nach: Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898- 1918, Bd. I , Einleitung S. X V I . Nicht zuletzt auch diese Praxis w a r f ü r die Diskrepanz von Stimmen u n d Mandaten verantwortlich. Die Annahme, daß bei Einführung der Verhältniswahl auch die anderen Parteien ihre Organisation ausbreiten u n d so ebenfalls höhere Wählerzahlen erreichen würden, veranlaßte bereits M a x Kayser, S. 626, v o r zu großem Optimismus i n bezug auf die Erhöhung der Z a h l der Abgeordneten zu warnen. 53 Praktisch handelte die Partei i m m e r nach der Anweisung i n Bebels Polemik von 1878 gegen A . Mühlberger „Der Sozialismus u n d das L a n d v o l k " , Ausgewählte Reden u. Schriften, Bd. I, S. 505: „Daß Sie 12 u n d auch 41 sozialistische Vertreter i m Reichstag gleich N u l l erklären u n d m i t dieser so gewonnenen N u l l I h r mathematisches Genie leuchten lassen u n d sie, m i t 2, 6, 9, multipliziert, N u l l sein lassen, entspricht ganz I h r e m Talent: schwarz für weiß u n d weiß f ü r schwarz anzusehen; verständige Leute zucken darüber die Achsel. Unsere Gegner, die besser als Sie wissen, was die Wahlen zu bedeuten haben, möchten die zwölf gern aus dem Tempel hinauswerfen; die Rechnung, daß 3 m a l 12 36 ist, leuchtet unsern Gegnern besser ein als Ihnen, H e r r Doktor; unter Umständen ist mein Feind mein bester Freund, er lehrt mich, was ich nicht soll."

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C. Wahlsystemfrage u n d sozialdemokratische Staatstheorie bis 1891

zeitweise durch ideologische Auseinandersetzungen, auch i m Zusammenhang m i t der unter dem Sozialistengesetz einsetzenden Rezeption des Marxismus als verbindliche Weltanschauung für die Partei, überlagert. Irreführend wäre es aber, den durch Engels reduzierten Stellenwert des allgemeinen Wahlrechts, das es ermögliche, sich „über . . . (die) eigene Stärke wie über die aller gegenerischen Parteien (zu unterrichten) und . . . dadurch einen Maßstab für die Proportionierung . . . (der) A k t i o n " 5 4 zu liefern, allgemein für die Sozialdemokratie anzunehmen. Deutlich zeigt sich die schwankende Beurteilung der parlamentarischen Arbeit und der Bedeutung der Zahl der Abgeordneten auch i n dem von Eduard Bernstein redigierten „Sozialdemokrat", der während der Auseinandersetzung u m die Dampfersubventionen für Bebel gegen die Fraktionsmehrheit Partei ergriff. 1884 schrieb das Blatt i n einer Analyse der Reichstagswahl: „Ist m i t der Konstatirung der Wählerzahl dem theoretischen Bedürfnis Genüge geschehen, so erfordert die Praxis unseres Kampfes, daß die Wählerzahl auch durch eine entsprechende Anzahl von Abgeordneten vertreten sei. Es genügt nicht, eine Festung zu erstürmen, man muß sie auch zu besetzen verstehen. Je größer die Zahl unserer Abgeordneten, m i t u m so größerer Zuversicht werden w i r den Kampf fortsetzen können 5 5 ." U n d i n einem A r t i k e l „ Z u den Stichwahlen" wurde den Parteimitgliedern dargelegt: „Wenn w i r auch längst die Hoffnung aufgegeben haben, mittels des heutigen Parlamentarismus unser hohes Ziel zu erreichen, so ist es uns doch keineswegs gleichgültig, i n welcher Stärke die Sache des arbeitenden Volkes i n den gesetzgebenden Körpern vertreten ist 5 6 ." 1887 hat sich die Sprache des Blattes merklich radikalisiert, offener Antiparlamentarismus w i r d auch hier deutlich. Kurz vor dem Wahltag erschien dem Blatt am allgemeinen Wahlrecht am bedeutsamsten, daß es den „Schwerpunkt der politischen Entscheidung immer mehr i n die Hände der Massen" legt 5 7 . Als das Wahlergebnis vorlag, erklärte es den Verlust der Mandate zu einer marginalen Erscheinung, denn „gegenüber den achtmalhunderttausend Stimmen schrumpft der Verlust eines Teils unserer Mandate 54 F. Engels, Einleitung zu M a r x ' „Klassenkämpfen i n Frankreich", MEW, Bd. 22, S. 519; Th. von der V r i n g glaubt unter Berufung auf diesen Ansatz die sozialdemokratische Befürwortung der Verhältniswahl damit begründen zu können, daß ein Verhältniswahlsystem eben v i e l besser dieses Anwachsen der Stimmzahlen zum Ausdruck hätte bringen können. Reform oder M a n i p u lation? F r a n k f u r t / M . 1968, S. 34. Nicht einzusehen ist aber, w a r u m die Praxis der Kandidatenaufstellung dies kontinuierliche Wachsen nicht angemessen wiedergeben sollte. B e i der Verhältniswahl geht es eben auch u m die M a n datsverteilung u n d nicht n u r u m die Messung von Stimmzahlen. 55 „Der Sieg ist unser", Der Sozialdemokrat, Nr. 44, 30.10.1884. 56 Der Sozialdemokrat, Nr. 42,16.10.1884. 57 „Das allgemeine Wahlrecht u n d die Arbeiterklasse", Der Sozialdemokrat, 4. 2.1887.

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1 i3

zu nichts zusammen" 58 , zersetze sich doch damit die Illusion, „es werde . . . immer so fortgehen, und der Zeitpunkt, wo w i r i m Reichstag die Majorität oder doch wenigstens einen ausschlaggebenden Einfluß erlangt hätten, sei i n greifbare Nähe gerückt" 5 9 . Demgegenüber sei es viel wichtiger, Eroberungen i m Volke zu machen und durch Gewinnung der Massen eine Macht zu schaffen, die i m Stande sei, den jetzt herrschenden Gewalthabern dereinst die Spitze zu bieten. Und deutlich an Engels anknüpfen heißt es i m Anschluß an die Stichwahlen: „Die Sozialdemokratie bemißt ihre K r a f t nicht nach der Zahl ihrer Reichstagsmandate, ob sie durch 11 oder durch 30 Abgeordnete vertreten ist, kann ihr vollkommen gleich sein . . . Sie hat nur einen Gradmesser, nach dem sie ihre Stärke bemißt, und das ist die Verbreitung ihrer Prinzipien i m Volke 6 0 ." Allerdings dürfte die Vermutung nicht unberechtigt sein, daß angesichts der bei den Wahlen von 1887 für die Sozialdemokratie besonders ungünstigen Relation von Stimm- und Mandatszahl — auf Grund des weitreichenden Wahlbündnisses des Kartells aus Liberalen und Konservativen — die demonstrative Höherbewertung der Stimmzahlen durch das Parteiblatt schärfer hervorgehoben wurde, als der — trotz jener m i t großer Schärfe auf Seiten des „Sozialdemokrat" geführten Auseinandersetzung m i t der Fraktion — bei Bernstein auch während dieser radikalen Phase zu beobachtende Pragmatismus gegenüber Parlamentarismus und parlamentarischer Tätigkeit der Sozialdemokratie eigentlich erlaubte. Bestätigen läßt sich diese Vermutung aus seiner Haltung bei den folgenden Reichstagswahlen von 1890, m i t denen er die — auch erfüllte — Hoffnung auf Brechung der Kartellmehrheit verband 6 1 . Gerade unter Beschwörung des revolutionären Charakters der Sozialdemokratie wurde die Bedeutung des Parlaments und des allgemeinen Wahlrechts aufgezeigt, dessen richtige Anwendung es zu „einem der wirksamsten Hebel der Emanzipation" mache 62 . Und i n scharfer Abgrenzung, sowohl gegen jeden doktrinären Antiparlamenta-

58

„Die deutschen Wahlen", Der Sozialdemokrat, 4.3.1887. Ebd. 60 Der Sozialdemokrat, 11. 3.1887. 61 Vgl. dazu die skeptischen Bemerkungen von Engels i n einem Brief an Bebel am 23.1.1890: „Heute w i r d w o h l schon das Sozialistengesetz i n B e r l i n verhandelt. Ich glaube, D u . . . hast recht, was Bismarck nicht von diesem Reichstag kriegt, kriegt er v o m nächsten, die steigende F l u t unserer Stimmen bricht aller u n d jeder bürgerlichen Opposition den Rückgrat. Darüber b i n ich m i t Ede (Bernstein) nicht einerlei Meinung. E r u n d K a u t s k y — sie haben beide ein bißchen Anlage f ü r „hohe P o l i t i k " — meinen, bei den nächsten Wahlen müsse eine regierungsfeindliche M a j o r i t ä t erstrebt werden. Als ob es etwas Derartiges unter den bürgerlichen Parteien noch i n Deutschland gäbe." M E W , Bd. 37, S. 349. 82 „ Z u den bevorstehenden Reichstagswahlen I " , i n : Der Sozialdemokrat, 12.1.1890. 59

8 Misch

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rismus als auch bloßen reformerischen Parlamentarismus stellte der „Sozialdemokrat" als Ziel des sozialdemokratischen Wahlkampfes den Gewinn „sowohl (von) möglichst viel Stimmen als möglichst viele(n) Sitzen . . ( d i e Entfaltung) sowohl intensive(r) wie extensive(r) Propaganda" 63 . A m deutlichsten zeigte sich bei den Stichwahlen 1890, daß die Vorbehalte gegenüber dem Parlamentarismus nicht stark genug waren, u m offenkundige, vitale Interessen der Partei zu gefährden. Nach den innerparteilichen Auseinandersetzungen, nicht zuletzt aber auch nach der Erfahrung einer so geschlossen wie nie zuvor aufgetretenen bürgerlichen Einheitsfront gegen die „Reichsfeinde" bei den von nationalistischer Erhitzung gekennzeichneten Wahlen von 1887, hatte der i n demselben Jahr abgehaltene sozialdemokratische Parteikongreß i n St. Gallen für die nächsten Reichstagswahlen bei Stichentscheid zwischen zwei bürgerlichen Kandidaten strikte Wahlenthaltung der Sozialdemokratie beschlossen64. Angesichts der Chance, die Kartellmehrheit zu brechen und eine nochmalige Verlängerung des Sozialistengesetzes zu verhindern, legte der „Sozialdemokrat" nicht nur dem Gewinn eigener Mandate größte Bedeutung bei, sondern — u m eine regierungsfeindliche Mehrheit zu erreichen — war es i h m auch „durchaus nicht gleichgültig, wie der nächste Reichstag zusammengesetzt ist, u m so weniger gleichgültig, als derselbe bekanntlich dank der zusammengeschwindelten Kartellmehrheit, auf fünf Jahre gewählt w i r d " 6 5 . Nach einer eher taktisch zu verstehenden Reverenz gegenüber dem nach wie vor vom Parteiprogramm gedeckten Schlagwort von der „einen reaktionären Masse" — „die gegnerischen Parteien sind keine Sozialisten, sie werden sich unter Umständen, und zwar alle ohne Ausnahme — darüber geben w i r uns gar keinen Illusionen h i n und möchten auch den Genossen alle I l l u sionen austreiben — gegen uns verbünden; w i r können uns auf keine von ihnen verlassen" 66 — ordnet er alle Wahlkampfbemühungen einem Ziel unter: der „Niederlage der Regierungsparteien, oder, m i t andern Worten, . . . (des) Sieg(es) der Oppositionsparteien". Und dies große Ziel beinhaltet, daß „ i n Fragen der Taktik . . . nicht das Gefühl, sondern das Interesse zu entscheiden (hat), . . . die Interessen der großen Sache, der w i r dienen, . . . die Interessen der Klasse, für deren Emanzipation w i r kämpfen" 6 7 . Diesen Erwägungen konnte sich auch der Parteivorstand 63 „ Z u den bevorstehenden Reichstagswahlen I " , i n : Der Sozialdemokrat, 12.1.1890. 64 Vgl. Prot. SAP 1887, S. 21. 65 a.a.O.; bekanntlich w a r m i t verfassungsänderndem Gesetz v o m 19. 3.1888 zum A r t i k e l 24 der Reichsverfassung die Legislaturperiode von 3 auf 5 Jahre verlängert worden. 66 „ Z u den Reichstagswahlen I I " , Der Sozialdemokrat, 18.1.1890. 67 Ebd.

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nicht verschließen, der entgegen dem von Bebel selbst initiierten St. Gallener Votum für die Stimmenthaltung als Parole für die Stichwahl zwischen zwei nichtsozialistischen Kandidaten ausgab, dem Gegner von jeder Ausnahmegesetzgebung die Stimme zu geben 68 . Eine flexible Stichwahltaktik mußte gerade einer Minderheitenpartei entsprechen, die dauernd m i t der Gefahr staatlicher Unterdrückungsmaßnahmen leben mußte und wegen ihrer das ganze Reichsgebiet umfassenden Organisation nicht nur selbst relativ viele Stichwahlen bestreiten mußte, sondern auch genauso häufig das Zünglein an der Waage bilden konnte. Nicht zuletzt aber die Erfahrung des Sozialistengesetzes bewirkte, daß die Partei hier nicht die ideologischen Selbstbeschränkungen überwinden konnte und durch Stichwahlabkommen m i t anderen Parteien ihre parlamentarische Stellung verbesserte, wie Engels schon 1884 befürwortet hatte 6 9 . 3. Demokratische Repräsentation und Wahlsystem

Das Sozialistengesetz und die von i h m legalisierte staatliche Verfolgung der Sozialdemokratie verfestigten nicht nur die gesellschaftliche und politische Pariastellung der Arbeiterbewegung; i n demselben Maße mußte sich die Feindschaft der Betroffenen auch gegen die Institutionen der Unterdrückung wenden. Wenn trotzdem m i t Recht festgestellt werden kann, daß „gerade unter dem Sozialistengesetz . . . der parlamentarische Charakter der Sozialdemokratie v o l l ausgeformt" 70 wurde, so war das nicht nur Folge des „an unserer Gesetzlichkeit müssen unsere Feinde zu Grunde gehen" m i t dem dieser Maxime entsprechenden Führungsprimat der Reichstagsfraktion und weitgehender — erfolgreicher — Konzentration der politischen Tätigkeit auf die Wahlbeteiligung, sondern auch einer nur teilweise aus den besonderen politischen Bedingungen der 80er Jahre zu erklärenden veränderten theoretischen Sicht des Repräsentativsystems. Wenn auch am Ende des Sozialistengesetzes durchaus kein einheitliches Verständnis parlamentarischer Vertretung i n der Partei bestand, so dürfte es doch zutreffend sein, die Richtung der Entwicklung der theoretischen Vorstellungen m i t einer Befürwortung repräsentativer Elemente bei gleichzeitigem Zurückdrängen der Forderung nach direkter Demokratie zu kennzeichnen 7 1 . Hervorgehoben werden muß aber, daß m i t dem Begriff „repräsentativ" nur die Technik der Willensbildung durch gewählte Vertreter 68 Vgl. dazu die Begründungen auf dem Parteitag 1890 von Singer u n d Bebel, Prot. SPD 1890, S. 62 f. u. 75 ff. 6 ® Vgl. Engels an Bernstein, 23. 5.1884, M E W , Bd. 36, S. 150 f. 70 Brandis, Die deutsche Sozialdemokratie, S. 71. 71 M i l l e r , S. 206.

8*

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gemeint sein kann 7 2 ; mißverständlich und falsch wäre er da, wo er auf die besondere Ausprägung etwa des zeitgenössischen englischen Regierungssystems — auch nach Verbreiterung seiner sozialen Basis — bezogen würde. Wesentlich mitgeprägt wurde das sozialdemokratische Verständnis von Demokratie und Parlamentarismus seit dem Sozialistengesetz durch den Einfluß des Marxismus. Die Zuordnung von Staat und i n der Gesellschaft herrschender Klasse und die Einsicht, daß eine Revolution oder die Eroberung der politischen Macht durch eine neue Klasse nicht von willkürlichen Entscheidungen abhängt, sondern einer Gesetzmäßigkeit verhaftet ist, die eine gewisse — insbesondere ökonomische — Reife verlangt, eröffneten Marx und Engels und i n ihrem Gefolge auch den ersten beiden marxistischen Theoretikern i n der deutschen Sozialdemokratie, Karl Kautsky und Eduard Bernstein, die Möglichkeit, staatliche Institutionen unvoreingenommener zu betrachten, deren Struktur per definitionem nicht unabhängig von der Entwicklung der Produktionsverhältnisse gesehen werden kann. Nach dieser Theorie korreliert die politische bzw. bürgerliche Demokratie m i t der auf Privateigentum an Produktionsmitteln beruhenden Herrschaft der Bourgeoisie; für diese ist die parlamentarische Republik deshalb die spezifische Form ihrer politischen Herrschaft, w e i l dem Gesetz der kapitalistischen Wirtschaftsweise, dem Prinzip der freien Konkurrenz, das jedem formal gleiches Recht gewährt, Eigentum zu erwerben, auch gleiches politisches Recht für jeden Bürger dieses Staatswesens entsprechen muß. I n dieser Sichtweise erscheint der bürgerliche Parlamentarismus als eine zwar zu überwindende, nichtsdestoweniger aber notwendige Entwicklungsstufe; Ziel der Sozialdemokratie konnte also vernünftigerweise zunächst nicht die Schwächung oder Abschaffung dieser Institution sein, sondern ihre höchste Ausformung „ m i t der Konzentration aller politischen Macht i n den Händen der Volksvertretung" 7 8 . Politisches Nahziel von M a r x und Engels war nicht eine Form direkter Demokratie, i n der das Volk synonym für eine sozial diffuse Masse von Kleinbürgern ist, sondern eine parlamentarisch-demokratische Republik, die i m Falle Deutschlands „vielleicht m i t der Fortschrittspartei an der Spitze, . . . uns zunächst zur Eroberung der großen Massen der 72 I n diesem weiten Sinne könnte man sogar Lenins Demokratieverständnis „repräsentativ" nennen, w i e es sich i n der berühmten Stelle aus „Staat u n d Revolution" darstellt: „Ohne Vertretungskörperschaften können w i r uns eine Demokratie nicht denken, auch die proletarische Demokratie nicht; ohne Parlamentarismus können u n d müssen w i r sie uns denken." Ausgew ä h l t e Werke Bd. I I , B e r l i n (Ost) 1966, S. 357. 73 Engels, K r i t i k des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, MEW, Bd. 22, S. 235.

I I . Die Periode des Sozialistengesetzes bis zum Erfurter Parteitag A r b e i t e r f ü r d e n r e v o l u t i o n ä r e n Sozialismus ( d i e n t ) " 7 4 , oder m i t M a r x ' W o r t e n : d i e „ l e t z t e S t a a t s f o r m der b ü r g e r l i c h e n Gesellschaft, (wo) d e r K l a s s e n k a m p f d e f i n i t i v auszufechten i s t " 7 5 ' . U n t e r d e m E i n f l u ß dieser Staatstheorie w u r d e aus d e r s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n Z i e l v o r s t e l l u n g v o m „ f r e i e n V o l k s s t a a t " die I n s t a l l i e r u n g e i n e r p a r l a m e n t a r i s c h e n D e m o k r a t i e als M i t t e l z u r E r o b e r u n g der p o l i t i s c h e n M a c h t , als B e d i n g u n g f ü r das „ A b s t e r b e n " des Staates. Diese a n g e n o m m e n e S t u f e n f o l g e p o l i tischer F o r m e n , i h r C h a r a k t e r des V o r l ä u f i g e n , i s t z w e i f e l l o s Ursache f ü r e i n gewisses Desinteresse des M a r x i s m u s a n i n s t i t u t i o n e l l e n F r a gen. I n E r w a r t u n g des Z u s a m m e n b r u c h s der bestehenden Gesellschaft u n d angesichts d e r v o n i h m i n die Z u k u n f t e x t r a p o l i e r t e n S t i m m g e w i n n e der S o z i a l d e m o k r a t i e , die i h r die b a l d i g e M e h r h e i t der B e v ö l k e r u n g i n A u s s i c h t z u s t e l l e n schienen, k o n n t e n v o n Engels z. B . P r o b l e m e des Reichstagswahlrechts ( w i e W a h l k r e i s g e o m e t r i e u n d S t i c h w a h l e n ) z w a r k o n s t a t i e r t w e r d e n , aber eine m e h r als m a r g i n a l e B e d e u t u n g n i c h t e r l a n g e n 7 6 . A m a l l g e m e i n e n W a h l r e c h t interessierte i h n w e n i g e r die M ö g l i c h k e i t , d e n e m p i r i s c h e n V o l k s w i l l e n sichtbar zu m a chen; i m V o r d e r g r u n d s t a n d v i e l m e h r f ü r i h n dessen C h a r a k t e r als

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Engels an Bernstein, 27. 8.1883, MEW, Bd. 36, S. 55. M a r x , K r i t i k des Gothaer Programms, MEW, Bd. 19, S. 29. 1890 scheint Engels unter Bebels Einfluß seine Ansicht über die Herrschaftsfähigkeit des deutschen linksliberalen Bürgertums geändert zu haben. 1884 hatte er noch Bebels Zweifel an der permanenten Revolution zurückgewiesen, der i h m geschrieben hatte: „Der bürgerliche Radikalismus ist i n Deutschland tot Der Klassengegensatz ist i n Deutschland heute so ausgeprägt als irgendwo, er ist aber mehr als irgendwo i n der W e l t den Massen zum Bewußtsein gekommen. Daher k a n n i n Deutschland von einem bürgerlich-radikalen Zwischenstadium keine Rede mehr sein . . . Ich meinerseits taxiere die Dinge so, daß w i r m i t Riesenschritten der Revolution entgegengehen." Bebel an Engels, 24.11.1884, Briefwechsel, S. 198 f. Dieser Vorstellung t r a t Engels am 11. /12. Dezember 1884 entgegen (MEW, Bd. 36, S. 252): „Was die reine Demokratie u n d ihre Rolle i n der Z u k u n f t angeht, so b i n ich nicht Deiner A n s i d i t . Daß sie i n Deutschland eine w e i t untergeordnetere Rolle spielt als i n L ä n dern älterer industrieller Entwicklung, ist selbstverständlich. Aber das verhindert nicht, daß sie i m Moment der Revolution, als äußerste bürgerliche Partei, als welche sie sich j a schon i n F r a n k f u r t aufgespielt, als letzter Rettungsanker der ganzen bürgerlichen u n d selbst feudalen Wirtschaft momentan Bedeutung bekommen kann. I n einem solchen Moment t r i t t die ganze reaktionäre Masse hinter sie u n d verstärkt sie; alles was reaktionär w a r , gebärdet sich dann demokratisch." 1890 jedoch sah er — durchaus i m W i d e r spruch zu diesem Entwicklungsschema — „die Fortschrittlichen verschwinden, w e n n das Sozialistengesetz aufhört; die bürgerlichen darunter gehen zu den Nationalliberalen, die Kleinbürger u n d Arbeiter zu uns." (Brief an Bebel, 23.1.90, M E W , Bd. 37, S. 349). Darüber hinaus erwartete er die A u f l ö sung des Zentrums u n d damit „die Beseitigung der letzten, nicht auf rein ökonomischer Basis beruhenden Parteibildung, also ein wesentliches Moment der Klärung, eine Freisetzung bisher ideologisch befangener Arbeiterelemente". (Brief an Bebel 17. 2.1890, ebd., S. 357); vgl. dazu auch Bartel, M a r x u n d Engels, S. 89 ff. 75

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Vgl. das I n t e r v i e w i m „Figaro" am 8. 5.1893, MEW, Bd. 22, S. 538 ff.

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C. Wahlsystemfrage u n d sozialdemokratische Staatstheorie bis 1891

V e h i k e l z u r V e r s c h ä r f u n g der Klassengegensätze, w e s w e g e n er v o r ü b e r g e h e n d die französische F o r m der L i s t e n w a h l l o b t e 7 7 . D e r i n diesem S i n n e z u v e r s t e h e n d e n M a x i m e Bernsteins, „ d e r W e g z u r v o l l e n p o l i t i schen F r e i h e i t f ü h r t d u r c h d e n P a r l a m e n t a r i s m u s h i n d u r c h , n i c h t u m i h n h e r u m " 7 8 , entsprach auch die p r a k t i s c h e P o l i t i k d e r S o z i a l d e m o k r a t i e ; selbst a u f d e m H ö h e p u n k t seines A n t i p a r l a m e n t a r i s m u s b e k a n n t e sich B e b e l i m Reichstag z u r p a r l a m e n t a r i s c h e n Regierungsweise, u n d die R e i c h s t a g s f r a k t i o n b r a c h t e eine R e i h e v o n G e s e t z e s i n i t i a t i v e n z u r D e m o k r a t i s i e r u n g des Reichstags u n d z u r S t ä r k u n g d e r S t e l l u n g seiner M i t g l i e d e r e i n ( z w e i j ä h r i g e L e g i s l a t u r p e r i o d e , D i ä t e n , Reisespesen) 7 9 . Einen wichtigen Beitrag zur Ü b e r w i n d u n g vulgärdemokratischer Vorstellungen lieferte K a r l K a u t s k y ; zusammen m i t Bernstein u n d B e b e l 8 0 i s t es i h m v o r a l l e m zuzurechnen, daß die i m G o t h a e r P r o 77 Das 1885 i n Frankreich eingeführte System sah Listenwahl nach Departements vor, wobei Panaschieren erlaubt war. Z u r W a h l erforderlich w a r die absolute Mehrheit; es handelte sich also nicht u m ein Verhältniswahlsystem. Vgl. den B r i e f Engels an Laura Lafargue v o m 22. 9.1885: „ M i r gefällt die systematische u n d theoretisch korrekte A r t , m i t der die Franzosen drangehen, das ,scrutin de liste' ins Werk zu setzen. Jede Partei stellt eine eigene vollständige Liste auf. Die Folge davon w i r d sein, daß überall die verhältnismäßig stärkste Partei alle ihre Leute hineinbekommt, die übrigen keine. A b e r gleichzeitig w i r d jede Partei die Auszählung selbst vornehmen u n d über ihre Stärke Bescheid wissen. U n d bei den nächsten Wahlen w i r d das notwendige Ergebnis herauskommen: die Parteien, die ähnliche Interessen haben, werden sich entsprechend ihrer relativen Stärke zu einer gemeinsamen Liste zusammentun — w e n n dies nicht schon jetzt am Vorabend der W a h l geschehen ist. Scrutin de liste zwingt Radikale u n d Sozialisten eine gemeinsame Liste aufzustellen, ebenso w i e sie die Opportunisten u n d Monarchisten nach u n d nach zwingen w i r d , sich i n einer gemeinsamen Liste zu vereinen, wenigstens i n einzelnen Departements. A b e r es ist charakteristisch f ü r das génie français, daß dies n u r als Ergebnis praktischer Erfahrung erreicht werden kann. Gerade dieser ideologische, absolute Charakter ist es, der der Geschichte der französischen P o l i t i k ihre klassische F o r m gibt, v e r glichen m i t der verworrenen P o l i t i k anderer Nationen." MEW, Bd. 36, S. 360 f. A u f den E i n w a n d von Paul Lafargue gegen dieses Wahlsystem — „le scrutin de liste est une arme contre les partis pauvres" (an Engels am 7.10.1885, Paul et Laura Lafargue Correspondence, Textes recueillis, annotés et représentés par Emile Bottigelli, Paris 1956, Bd. 1, S. 308) ändert auch Engels seine Meinung: „ I n Frankreich hat man Euch die Listenwahl aufgezwungen, eine Bourgeoiswahl par excellence, eigens erfunden, u m zu sichern, daß ausschließlich Advokaten, Journalisten u n d andere politische Abenteurer, Wortführer des Kapitals, gewählt werden. U n d was hat dieses Wahlsystem der Reichen der Bourgeoisie eingebracht? Es hat i m Schöße des französischen Parlaments eine revolutionäre Arbeiterpartei geschaffen, deren bloßes E r scheinen auf dem Schauplatz genügt hat, V e r w i r r u n g i n die Reihen aller b ü r gerlichen Parteien zu tragen." (Zum 15. Jahrestag der Pariser Kommune, MEW, Bd. 21, S. 258). U n d trotz dieses Erfolges wollte er 1888 Boulanger eine „Vendöme-Säule" errichten, w e n n er das Listenwahlsystem wieder abschaffe. Vgl. Engels an Paul Lafargue, 19.3.1888, MEW, Bd. 37, S. 40. 78

„Parlamentarismus", i n : Der Sozialdemokrat, 24. 5.1890. ® Vgl. Lidtke, S. 230 ff. 80 Vgl. Engels an Kautsky, 13. 6.1891. „Bebel w i r d schon dafür sorgen, daß 7

I I . Die Periode des Sozialistengesetzes bis zum Erfurter Parteitag

gramm noch pauschal geforderte „direkte Gesetzgebung durch das V o l k " auf das „Vorschlags- und Verwerfungsrecht" reduziert wurde und die Entscheidung über Krieg und Frieden dem Parlament vorbehalten werden sollte 8 1 . Zwar galt zumindest i n Teilen der Partei nach wie vor nur der Staat als demokratisch, i n dem „jeder Bürger endgültig über die Gesetze entscheidet" 82 ; der radikaldemokratischem Verständnis entsprechende Gegensatz von Volkssouveränität und Repräsentativsystem deckte sich aber nicht mehr m i t der Meinung der Partei, wie sich i n einer das sozialdemokratische Ziel eines demokratischen Parlamentarismus i n bezeichnender Weise umschreibenden Passage aus dem parteioffiziellen Programmkommentar ergibt: „Die naturnothwendige Folge der Repräsentativ-Verfassung, d.h. derjenigen Verfassung, bei welcher das Volk durch seine Vertreter (Repräsentanten) an der Gesetzgebung m i t w i r k t , ist die direkte Gesetzgebung durch das Volk. Diese letztere ist nur der volkstümliche Ausbau jener Ausrichtung 8 3 ." Wie weit die Sozialdemokratie sich theoretisch von ihrem ursprünglichen Mißtrauen gegen jede politische Repräsentation und die Institution eines Parlaments freigemacht hatte, zeigen die Schriften Kautskys zu diesem Problem. Zugleich aber w i r d deutlich, daß Parlament und parlamentarische Regierungsweise bei dieser Neubewertung eine theoretische Transformation durchmachten, die wegführte vom liberalen Honoratiorenparlamentarismus hin zu einem Repräsentativsystem, dessen tragende Säulen durchorganisierte Parteikörper sind. Und diese Parteien, jedenfalls die Sozialdemokratische Partei, würden dazu i n der Lage sein, ihre Vertreter i n den Parlamenten zu kontrollieren; das Problem der Entfremdung zwischen Wählern und Gewählten, das die Parlamentarismusdiskussion i n der frühen radikalen Demokratie bestimmt hatte, verändert sich zur Einsicht i n die Notwendigkeit und den Vorteil einer arbeitsteiligen Demokratie. Demokratie ist hier nicht mehr Selbstzweck, ihre konkrete Ausgestaltung bestimmt sich aus ihrem Charakter als M i t t e l zur sozialen Umgestaltung der Gesellschaft; nicht demokratische Identität von Regierenden und Regierten heißt das Etappenziel, sondern Ausbau der dieser historischen Entwicklungsstufe die alten Liebknechtschen vulgärdemokratischen u n d vulgärsozialistischen Phrasen nicht (ins Programm) hineinkommen." MEW, Bd. 38, S. 114. 81 Ursprünglich hatte Liebknecht i n seiner Programmrede i n Halle die radikalere Version gefordert. Vgl. Prot. SPD 1890,S. 171 f. A b e r schon i m Programmentwurf des Parteivorstandes w a r dem I n h a l t nach die spätere Fassung vorgeschlagen. Vgl. Prot. SPD 1891, S. 15. 82 B. Schoenlank, i n : K . K a u t s k y u n d Bruno Schoenlank, Grundsätze u n d Forderungen der Sozialdemokratie. Erläuterungen zum Erfurter Programm, 2. Auflage, B e r l i n 1892, S. 34/35. 83 Ebd., S. 35; vgl. auch Otto Lang, „Allgemeines Wahlrecht u n d direkte Gesetzgebung durch das V o l k " , i n : SM, 4. Jg., 1900, S. 575 ff.

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allein angemessenen parlamentarischen Regierung. Die Repräsentativorgane wandeln sich von Objekten des Mißtrauens für jeden Demokraten zu „Organen der Volkssouveränität" 8 4 . Politik der Sozialdemokratie könne es nur sein, die Reste des Feudalstaates und des Absolutismus und nicht „die Volksvertretungen i m Prinzip zu bekämpfen, (für deren Kräftigung) die Sozialdemokratie i n Deutschland noch auf lange hinaus . . . einzutreten" habe 85 . Unzweifelhaft gilt also für Kautsky, „daß i n einem modernen Großstaat der Schwerpunkt der politischen Tätigkeit naturnotwendig i n seinem Parlament l i e g t " 8 6 ; Elemente der direkten Demokratie wie Initiative und Referendum sind i n seinen Augen eher überflüssige Konzessionen an ein dem gegenwärtigen theoretischen Stand der Partei nicht mehr entsprechendes rein formales Demokratieverständnis 87 . Den Platz der direkten M i t w i r k u n g des Volkes bei der Gesetzgebung m i t dem Ziel einer Demokratisierung des Repräsentativsystems übernehmen i n der Periode der klassengespaltenen bürgerlichen Gesellschaft die Parteien als die politischen Organisationen der Klassen; und das Ziel muß i n einer Polarisierung des Volkes liegen, wie sie sich besonders i n den Wahlkampfschlachten durch Agitation und Propaganda vollzieht, während der direkten Gesetzgebung auch unter Klassenkampfgesichtspunkten keine Funktion mehr beigemessen wird, denn sie „hat die Tendenz, die Scheidung der Bevölkerung i n Parteien zu hemmen, nicht zu fördern, (und) . . . immer wieder neue Brücken zwischen den nach verschiedenen Richtungen auseinandergehenden Parteien" 8 8 zu schlagen. M i t der Befürwortung solcher Repräsentation war die Abkehr von der Annahme eines Gegensatzes zwischen „ V o l k " i m Sinne einer weitgehend homogenen Masse und Regierenden einschließlich der Volksvertreter vollzogen. M i t der Veränderung der sozialen Basis oder besser, mit der Einsicht i n ihre notwendige Differenzierung, muß sich auch die A r t der Bindung zwischen Wählern und Gewählten wandeln. Während beide, liberaler Parlamentarismus und radikale Demokratie, als Kreationsorgan den 84 (K. Kautsky), „Der E n t w u r f des neuen Parteiprogramms I V " , N Z 1890/91; 2. Bd., S. 817. I n der Frage der Autorschaft des anonym erschienenen A r t i k e l s folgen w i r Werner Blumenberg, K a r l Kautskys literarisches Werk, 's Gravenhage 1960, S. 46. Ganz auszuschließen dürfte Engels als A u t o r sein, wie i n „Die W a h l der Parlamente", S. 226, angegeben ist. Albrecht Langner nennt dagegen Eduard Bernstein als Verfasser, von dem auch der 2. T e ü des Erfurter Programms stammt. Vgl. K a r l Kautsky, Texte zu den Programmen der Deutschen Sozialdemokratie 1891 - 1925, hrsg. von A . Langner, K ö l n 1968, Einleitung, S. 31. 85 „Der E n t w u r f des neuen Parteiprogramms I V " , S. 817. 86 K a r l Kautsky, Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung u n d die Sozialdemokratie, Stuttgart 1893, S. 120. 87 Vgl. Kautsky, „Der E n t w u r f . . . I V " , S. 816. 88 Kautsky, Der Parlamentarismus . . . , S. 131.

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Wahlkreis vorsehen (der Abgeordnete bei ersterem ideologisiert zum Vertreter des ganzen Volkes, bei letzterer seinen Wählern durch imperatives Mandat verbunden), werden die Abgeordneten der Arbeiterschaft für Kautsky die Beauftragten der Partei. Die Volksvertreter werden demokratisch kontrolliert, ohne durch nicht praktikable bindende Aufträge ihrer Wähler gehemmt zu sein; Gewähr für das Handeln i m Sinne der Wähler gibt die Partei, denn „wo das Proletariat sich i n einer besonderen, selbstbewußten Weise organisiert und als solche an den Kämpfen u m das Parlament und i m Parlament teilnimmt, da hört es auf, zu den Klassen zu gehören, die erwarten müssen, von ihren parlamentarischen Vertretern bei allen wichtigen Angelegenheiten verraten und betrogen zu werden". Wie i n der Presse finde auch i m Parlament die Korruption einen festen Damm i n der Organisation und Disziplin des kämpfenden Proletariats. Es gebe „keine Partei, die ihre Abgeordneten so fest i n ihrer Hand hätte, die so sicher auf sie zählen dürfte, wie die sozialdemokratische" 89 . Wenn auch Kautsky hier Folgerungen aus den bereits sichtbar werdenden Tendenzen des modernen Parteienstaats ableitete, dessen organisatorische Ausprägung i n Deutschland sich zuerst i n der SPD auffinden läßt, so ging er doch nicht so weit i n die scheinbar vorgegebene Richtung wie Bebel, der das Parlament zu einer von den Parteien ad hoc beschickten Versammlung umwandeln wollte. Während Bebels Ausgangspunkt die Konstruktion eines Verhältniswahlsystems war, das i h m — von i h m zwar sicher auch aus taktischen Gründen, dessen ungeachtet aber vor einem genuin demokratischen Hintergrund — für die Struktur des Parlamentarismus einige einschneidende Veränderungen notwendig und wohl auch wünschenswert machte, gewann Kautsky seine Kriterien für die Betrachtung der Institution Parlament aus einer weniger dünnen Quelle und entwickelte sie strikt unter dem Gesichtspunkt, welchen Einfluß sie auf das Hauptziel seiner Partei, die Eroberung der politischen Macht, hätten 9 0 . Unter diesem Aspekt w i r d auch die Frage des Wahlsystems betrachtet: Maßstab ist also nicht eine abstrakte Gerechtigkeitsvorstellung (mochte sie auch zuweilen untrennbar m i t den taktischen Vorteilen der eigenen Partei verbunden sein), sondern die Gewinnung der Mehrheit i m Parlament, w o r i n sich für Kautsky bei parlamentarischer Verantwortlichkeit der Regierung die Diktatur des Proletariats konkre89 Ebd., S. 112; v g l auch den von Bernstein verfaßten A r t i k e l „Über »prinzipielle Fragen'", i n : Der Sozialdemokrat, 5.2.1885: „Sie (die Sozialdemokratie) muß unter allen Umständen darauf halten, daß ihre Abgeordneten als Vertrauensmänner der Partei gewählt werden u n d als solche der Disziplin der Partei unterstehen. Das persönliche Moment, das sich allerdings nie ganz ausmerzen lassen w i r d , muß hinter dem Sachlichen zurückstehen." 90 Später bejahte er allerdings den Zusammenhang parteienstaatlicher Demokratie u n d Verhältniswahl. Vgl. unten Kap. E 1,1.

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t i s i e r t 9 1 . Angesichts d e r k o n t i n u i e r l i c h e n S t i m m e n g e w i n n e der Soziald e m o k r a t i e w a r es f ü r i h n „ n u r noch eine F r a g e d e r Z e i t , w a n n sie — b e i d e m j e t z i g e n W a h l r e c h t — auch d e r Z a h l i h r e r V e r t r e t e r nach die s t ä r k s t e P a r t e i sein w i r d " 9 2 . B e i dieser E r w a r t u n g u n d i m B e w u ß t s e i n des g r u n d s ä t z l i c h n u r t r a n s i t o r i s c h e n C h a r a k t e r s e i n e r „ g e r e c h t e n V e r t r e t u n g " w u r d e die d e t a i l l i e r t e A u s g e s t a l t u n g des a l l g e m e i n e n W a h l rechts z u e i n e m z w e i t r a n g i g e n P r o b l e m ä h n l i c h w i e die V e r k ü r z u n g d e r L e g i s l a t u r p e r i o d e n , die geheime A b s t i m m u n g oder die V e r l e g u n g des W a h l t a g e s a u f e i n e n S o n n t a g 9 3 . D a r ü b e r h i n a u s scheint K a u t s k y ( u n d w o h l auch B e r n s t e i n 9 4 , v o n d e m b e k a n n t l i c h d e r z w e i t e T e i l des E r f u r t e r P r o g r a m m s v e r f a ß t w u r d e ) gegenüber d e r P r o p o r t i o n a l w a h l n i c h t ganz ohne B e d e n k e n h i n s i c h t l i c h der P r a k t i k a b i l i t ä t u n d der v o n i h m v e r m u t e t e n T e n d e n z z u r P a r t e i e n z e r s p l i t t e r u n g gewesen z u sein, ohne sie deswegen aber g r u n d s ä t z l i c h a b z u l e h n e n 9 5 . Seine Ä u ß e r u n g e n 91 Kautsky, Der Parlamentarismus, S. 118: „ N u r ein politisch B l i n d e r k a n n heute noch behaupten, das Repräsentativsystem sichere auch unter der Herrschaft des allgemeinen Wahlrechts die Herrschaft der Bourgeoisie, u n d u m diese zu stützen, müsse man zunächst das Repräsentativsystem beseitigen. Jetzt schon beginnt offenbar zu werden, daß ein w i r k l i c h parlamentarisches Regime ebenso gut ein Werkzeug der D i k t a t u r des Proletariats sein kann, als es ein Werkzeug der D i k t a t u r der Bourgeoisie ist." Noch schärfer formuliert K a u t s k y i n einem Brief an M e h r i n g v o m 8.7.1893: „ F ü r die D i k t a t u r des Proletariats aber k a n n ich m i r eine andere F o r m nicht denken, als die eines kraftvollen Parlaments nach englischem Muster m i t einer sozialistischen Mehrheit u n d einem starken u n d selbstbewußten Proletariat hinter sich." (Zitiert nach Steinberg, Sozialismus u n d deutsche Sozialdemokratie, S. 81, A n m . 233). Ä h n l i c h die Ausführung von Engels, Z u r K r i t i k des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891: „Wenn etwas feststeht, so ist es dies, daß unsere Partei u n d die Arbeiterklasse n u r zur Herrschaft kommen kann, unter der F o r m der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische F o r m f ü r die D i k t a t u r des Proletariats." MEW, Bd. 22, S. 235. 92

Kautsky, Der Parlamentarismus, S. 117. Ebd., S. 50. 94 Allerdings gewöhnte sich auch Bernstein an, die sozialdemokratische Mandatszahl an dem unter Verhältniswahl erlangten A n t e i l zu messen. Vgl. z. B. Der Sozialdemokrat, 22. 3.1890; (Für die H a l t u n g Bernsteins zur V e r h ä l t niswahl vgl. unten Kap. D I I , 1). 95 Vgl. Kautskys Erläuterungen zu dem Programmentwurf der Redaktion der „Neuen Zeit" v o r dem Erfurter Parteitag: „ W i r haben die Forderung ,Neueinteilung der Wahlkreise nach jeder Volkszählung' deshalb eingefügt, w e i l w i r sie f ü r beinahe noch wichtiger halten als die der Proportionalvertretung. Die Letztere stößt sich nämlich zur Zeit u. a. i m m e r noch an der Schwierigkeit, eine solche Methode ihrer Ausführung zu ermitteln, die, ohne zu kompliziert zu sein, doch das Prinzip, nach dem sie ihren Namen trägt, konsequent v e r w i r k l i c h t . A l l e bisher bekannt gewordenen Systeme der Proportionalvertretungen passen unseres Erachtens allenfalls f ü r kommunale u n d Bezirksvertretungen, f ü r die Wahlen zu den großen Landesvertretungen fehlt es aber unseres Erachtens durchaus noch an einem praktikablen System der Proportionalvertretung. Der Vorschlag, das ganze Land, bzw. Reich zu einem großen Wahlkörper zu erklären, der so u n d so viele hundert Vertreter zu erwählen hat, erscheint n u r einfach, tatsächlich w ü r d e er fast unlösbare V e r w i r r u n g zur Folge haben. M a n erinnere sich nur, zu welchen 93

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zeigen i m ganzen eine beträchtliche Reserve gegenüber dieser Forderung, besonders aber der ihr vor allem von Liebknecht gegebenen individualistischen Begründung. Man w i r d annehmen dürfen, daß Kautsky i n dieser von i h m nicht für vorrangig angesehenen Frage keinen Anlaß sah, der eine Auseinandersetzung m i t den beiden wichtigsten Repräsentanten der deutschen Sozialdemokratie, die sich i n Veröffentlichungen engagiert für dies Wahlsystem eingesetzt hatten, gelohnt hätte. Soweit uns bekannt ist, hat Kautsky auch später dies Problem über die bloße — allerdings nicht ablehnende — Erwähnung des Wahlsystems hinaus nicht einer eigenen Erörterung für wert befunden 953 -. Sicher dürfte aber sein, daß für Kautsky die Verbesserung des geltenden Wahlrechts vor einer Änderung i n Richtung auf die Verhältniswahl rangierte. Den stärksten Einfluß auf die endgültige Aufnahme der Verhältniswahl als Forderung i n das Erfurter Programm übte zweifellos Wilhelm Liebknecht aus, dessen Verhältnis zum Parlamentarismus während der Zeit des Sozialistengesetzes von allen Parteiführern w o h l die größte Wandlung erfahren hatte. A u f Grund der nur teilweise möglichen innerparteilichen Kommunikation während des Ausnahmegesetzes mußte dieser Meinungswechsel vor allem bei denen Erstaunen und Enttäuschung hervorrufen, die — wie die „Jungen" und später noch andere radikale Gruppierungen — sich i n ihrem Antiparlamentarismus auf Liebknecht berufen zu können glaubten. Entgegen der die Intransigenz und Dauer seines früheren Standpunktes etwas verwischenden Rede auf dem Erfurter Parteitag 9 6 kann man annehmen, daß seine Neueinschätzung der durch den Parlamentarismus gebotenen Möglichkeiten erst etwa ab Mitte der 80er Jahre zu datieren sein dürfte, galt doch noch 1881 ganz i m Sinne seines früheren Standpunktes, daß durch die Gesetzgebung nichts Wesentliches i m gegenwärtigen Reichstag zu erreichen und die Sozialdemokratie ohnedies i m Prinzip Gegner des modernen Parlamentarismus und der existierenden Form der VolksrepräUnzuträglichkeiten i n Frankreich schon die Listenwahl nach Departements geführt hat, u n d vergesse weiter nicht, daß dem Proportionalwahlsystem die natürliche Tendenz der Differenzierung der Parteien innewohnt. Alles das sind keine Gründe, die Forderung nicht i m Prinzip zu statuieren, denn w e n n die vorerwähnte Schwierigkeit auch bis heute noch nicht gelöst ist, so ist damit noch nicht gesagt, daß sie überhaupt unlösbar sei, aber es sind Gründe t r i f t i g genug, die Forderung der Sicherstellung gleichmäßiger W a h l kreise einstweilen nicht fallen zu lassen." Der E n t w u r f des neuen Parteiprogramms I V , S. 818. »5A VGL. K . Kautsky, Der Parlamentarismus, S. 50. Der Weg zur Macht, B e r l i n 1909, S. 83. Die nach Schoenlanks Tod von K a u t s k y allein herausgegebenen Neuauflagen der „Grundsätze u n d Forderungen der Sozialdemokratie" m i t der (von Schoenlank stammenden) Erläuterung der Forderung nach V e r hältniswahl k a n n man w o h l nicht unbedingt als i n diesem Punkte Kautskys Meinung authentisch wiedergebende Quelle ansehen. 96

Vgl. Prot. SPD 1891, S. 204.

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sentation sei 97 . Liebknechts Erwartung des gesellschaftlichen Entwicklungsganges richtete sich nicht wie die Bebels und Engels' (mit dem er i n einem viel loseren brieflichen Kontakt stand als ersterer) auf den baldigen Zusammenbruch des kapitalistischen Deutschland; er rechnete vielmehr m i t dem allmählichen Übergang i n eine neue Gesellschaftsordnung, wobei der genaue Zeitpunkt der Revolution, verstanden als die Ersetzung einer gesellschaftlichen Qualität durch eine neue, nicht eindeutig zu bestimmen sei, denn — i n seiner später vielfach variierten Formulierung aus dem Jahre 1890 —: „Der heutige Staat wächst i n den Zukunftsstaat hinein 9 8 ." I n diesem von Katastropheneschatologie freien Erwartungshorizont nahm der Parlamentarismus und die parlamentarische Mitarbeit der Sozialdemokratie einen neuen Stellenwert ein, der die Möglichkeit sozialer Verbesserungen durch legislative Maßnahmen unter dem Einfluß einer immer stärker werdenden Sozialdemokratie i n einem anderen Licht erscheinen ließ 9 9 . Über dies taktische Neubedenken des Parlamentarismus für die Politik der Sozialdemokratie hinaus nahm Liebknecht auch eine bedeutsame Modifizierung seiner theoretischen Einschätzung des Repräsentationsprinzips vor. Bestand früher für i h n ein grundsätzlicher Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie, so glaubt er jetzt an die Möglichkeit der Übereinstimmung von parlamentarischem Majoritätsprinzip und konsequenter Durchführung der Volkssouveränität 1 0 0 . Voraussetzung dafür sind aber institutionelle Reformen, die den am Parlamentarismus noch klebenden „Begriff des Halben, der Täuschung", das „unehrliche Wesen des Parlamentaris97 Selim ( = W. Liebknecht), „Der Parlamentarismus", i n : Der Sozialdemokrat, 12. 6.1891. Die Pauschalität dieser Absage dürfte allerdings auch von agitatorischen Erwägungen geprägt sein. Vgl. A n m . 107 dieses Kapitels. 98 Prot. SPD 1890, S. 204. 99 Vgl. Liebknechts Ausführungen auf dem Erfurter Parteitag von 1891: „Parlamentarismus heißt einfach das System der Vertretung des Volkes. Daß w i r i m Reichstag bisher nichts ausgerichtet, ist doch nicht die Schuld des Parlamentarismus, sondern daß w i r i m Lande, i m Volke noch nicht die nötige Macht haben. Ständen hinter uns so v i e l Stimmen, so v i e l Macht w i e hinter den bürgerlichen Parteien, dann w ü r d e der Reichstag f ü r uns so wenig unfruchtbar sein, als er es jetzt f ü r die Anderen ist, die ,Klinke der Gesetzgebung' würde f ü r uns ebenso gut arbeiten, w i e heute f ü r unsere Gegner. Dam i t soll nicht gesagt sein, daß auf dem Wege der Gesetzgebung alle Fragen gelöst werden können; aber man zeige m i r doch einen anderen Weg, der zum Ziele führt." Prot. SPD 1891, S. 204 f. Bei aller Übereinstimmung m i t K a u t s k y darin, daß der Parlamentarismus als I n s t i t u t i o n nicht an die Bourgeoisie gebunden ist, darf doch nicht die „demokratischere" Verwurzelung L i e b knechts übersehen werden, die eben eine w i e auch i m m e r geartete „ D i k t a t u r des Proletariats" nicht erstrebte. 100 , , P a r l a m e n t a r i s c h e s " , NZ, 1886, S. 1 6 - 2 6 u n d 302-311; S. 26. Daß der ungezeichnete A r t i k e l von Liebknecht stammt, ergibt sich aus F. Mehring, „Einiges von M a r x u n d Liebknecht", i n F. Mehring, Politische Publizistik 1905 - 1918, (Gesammelte Schriften Bd. 15), B e r l i n (Ost) 1966, S. 595. Lidtke, S. 236 ff., der die Wandlung von Liebknechts Verhältnis zum Parlamentarismus beschreibt, erwähnt diesen wichtigen A r t i k e l nicht.

I I . Die Periode des Sozialistengesetzes bis zum Erfurter Parteitag

m u s " 1 0 1 beseitigen. Für Liebknecht gilt es nun, das Parlament zu stärken, u m die Volksherrschaft zu ermöglichen 1 0 2 ; i m Gegensatz zu Kautsky, der eine ähnliche Formulierung verwendet, verbinden sich für Liebknecht m i t diesem Begriff aber ganz konkret einige das Repräsentativsystem ergänzende radikaldemokratische Elemente. Für Kautsky ist Volksherrschaft bei einer sozialdemokratischen Parlamentsmehrheit mit entsprechender Kontrolle durch die Partei erreicht, für Liebknecht fällt Parlamentarismus mit Volksherrschaft nur dann zusammen, wenn ein Höchstmaß an Ubereinstimmung zwischen Volksvertretung und tatsächlichem Volkswillen gewährleistet ist. Institutionelle Garantien für die konkrete Volkssouveränität bei Bestehen eines für i h n nicht ersetzbaren Repräsentativorgans sind Proportionalwahlsystem, direkte Gesetzgebung und die Möglichkeit, die Abgeordneten abzuberufen 103 . So wie i h m offensichtlich nicht England, sondern Frankreich mit seinem durch Parteigrenzen noch wenig gekennzeichneten Parlamentsbetrieb vor Augen steht 1 0 4 , so schätzt er auch an der Verhältniswahl vor allem die Eigenschaft, daß sie die Wahl von nicht parteigebundenen Einzelpersonen ermögliche 105 . Auch hier liegt das Gemeinsame m i t Kautsky nur i n der grundsätzlichen Bejahung des Repräsentativsystems. Während sich Kautsky von der Wahlbeteiligung und parlamentarischen Mitarbeit eine Konzentration auf die großen Parteien, also eine Polarisation des Volkes, versprach (worauf sich seine Skepsis gegenüber der Verhältniswahl gründete), stand Liebknecht als Ziel das B i l d eines Parlamentarismus vor Augen, der den starken Einfluß der Parteien zwar nicht ausschließen, der aber entsprechend den vielfältigen Differenzierungen des Volkes auch dem kleinsten Meinungsfächer legitime Einflußnahme ermöglichen sollte 1 0 6 . 101

„Parlamentaristisches", S. 307. Vgl. den A u f r u f der sozialdemokratischen F r a k t i o n zur dritten Reichstagswahl unter dem Sozialistengesetz (21.2.1887), i n : Die Sozialdemokratie i m Deutschen Reichstag, B e r l i n 1909, S. 250. 103 „Parlamentaristisches", S. 309. 104 Ebd., S. 23 f.; die Autorität, die ein parlamentarischer Führer w i e Palmerston i n England lange Zeit ausüben konnte, w a r f ü r Liebknecht m i t seiner Vorstellung eines demokratischen Parlamentarismus unvereinbar. Vgl. ebd., S. 306. 105 Ebd., S. 308; ähnlich Prot. SPD 1890, S. 170. 106 I n unserem Zusammenhang nicht entscheidend, aber dennoch aufschlußreich f ü r das Parlamentarismusverständnis Liebknechts ist, daß sich ein f ü r i h n gewichtiger E i n w a n d gegen das bestehende Repräsentativsystem auf die Häufigkeit der Plenarreden bezieht: „Das W o r t Parlament — Parlamentarismus usw. stammt von parlieren, reden, schwätzen. Nomen ist omen. I n dem Namen ist die K r a n k h e i t des Parlamentarismus bezeichnet: die Rede — u n d Schwätzkrankheit." (a*a.O., S. 309). „ I m überlaut reden, welches die Deklamation, das Redenhalten m i t sich bringt, liegt etwas den Redner berauschendes, i h m die Sinne verwirrendes. E i n Physiolog . . . leitet dies daher, daß w e n n die Stimme stark erhoben, übermäßig v i e l L u f t ein- u n d ausgeat102

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C. Wahlsystemfrage u n d sozialdemokratische Staatstheorie bis 1891

F ü r die U m g e s t a l t u n g der bestehenden Gesellschaftsform rechnete L i e b k n e c h t m i t l ä n g e r e n Z e i t r ä u m e n , i n d e n e n aber die S o z i a l d e m o k r a t i e e i n e n s t e t i g anwachsenden E i n f l u ß g e w i n n e n w ü r d e . U n t e r diesem A s p e k t w a r eben n i c h t n u r die a u f d i e P a r t e i e n t f a l l e n d e S t i m m e n z a h l v o n B e d e u t u n g , s o n d e r n auch die e r r u n g e n e M a n d a t s z a h l , so daß eine R e f o r m des Reichstagswahlrechts i n R i c h t u n g a u f e i n V e r h ä l t n i s w a h l s y s t e m u n d d a m i t v e r b u n d e n e r E r h ö h u n g des s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n M a n d a t s a n t e i l s n i c h t n u r u n t e r d e m theoretischen G e s i c h t s p u n k t e i n e r D e m o k r a t i s i e r u n g des R e p r ä s e n t a t i v s y s t e m s i n s A u g e z u fassen w a r , s o n d e r n j e t z t auch d e r n e u e n t a k t i s c h e n M a r s c h r o u t e e n t s p r a c h 1 0 7 . U n d so i s t es bezeichnend, daß d i r e k t i m A n s c h l u ß a n die f ü r die Sozialdem o k r a t i e — m a n d a t s m ä ß i g — sehr u n g ü n s t i g v e r l a u f e n e n Reichstagsw a h l e n v o n 1887, die m i t der w i e d e r s t ä r k e r g e w o r d e n e n s t a a t l i c h e n Repression d e r n e u e n p a r l a m e n t a r i s c h e n K o n z e p t i o n L i e b k n e c h t s nach der M e i n u n g Lidtkes die Basis e n t z o g e n 1 0 8 , z u m e r s t e n m a l i n e i n e m o f f i z i e l l e n ( v o n L i e b k n e c h t v e r f a ß t e n ) P a r t e i d o k u m e n t die F o r d e r u n g nach Proportionalwahl erhoben w u r d e 1 0 9 . A u f d e m E r f u r t e r P a r t e i t a g h a t die F r a g e d e r P r o p o r t i o n a l w a h l n u r eine u n t e r g e o r d n e t e R o l l e gespielt, v o n i r g e n d e i n e m D e l e g i e r t e n ausmet w i r d , sich B l u t i n dem H i r n ansammelt u n d die K l a r h e i t des Denkens trübt." (Sic!) Ebd., S. 310. A b h i l f e sieht Liebknecht n u r i n einer Verstärkung der Ausschußarbeit. Diese Verurteilung der parlamentarischen Rede w i r k t u m so erstaunlicher, als die Agitation i m m e r als H a u p t m o t i v der Parlamentsarbeit der Sozialdemokratie angesehen wurde u n d i n der Zeit des Sozialistengesetzes — als Liebknecht diesen Aufsatz schrieb — eine besondere Bedeutung f ü r die verfolgte Partei gewonnen hat. 107 Die taktischen Vorteüe der Verhältniswahl f ü r die Sozialdemokratie hatte Liebknecht schon 1881 betont. Vgl. K u r t Eisner, W i l h e l m Liebknecht, B e r l i n 1906, S. 85, der eine unveröffentlichte A r b e i t Liebknechts auf die von K a r l Höchberg gestellte Preisfrage „Welche Maßregeln hat die sozialistische Partei durchzuführen, w e n n sie i n nächster Z u k u n f t einen maßgebenden Einfluß auf die Gesetzgebung gewinnen sollte" auszugsweise zitiert. 108 L i d t k e , S. 239. 109 „Wahlaufruf des sozialdemokratischen Wahlkomitees zur dritten Reichstagswahl unter dem Sozialistengesetz", i n : Die Sozialdemokratie i m Deutschen Reichstag, S. 274. Wie nach dem Wahlergebnis nicht anders möglich, enthält der „ A u f r u f " auch die Beteuerung: „ O b w i r 11 Vertreter i m Reichstag haben oder 25, ist gleichgültig, solange der „Unverstand der Massen" die Volksvertretung den Gegnern der Sozialdemokratie u n d der Sozialreform i n die Hände gibt u n d diese Gegner keine M i n o r i t ä t aufkommen lassen. I m Volke liegt unsere Mission u n d unsere Z u k u n f t . " (S. 273) Diese Aussagen werden aber mehr als relativiert, w e n n i m Anschluß daran die Forderung erhoben w i r d , daß „die Z a h l der Vertreter m i t der Z a h l der Wähler i n ein genaues Verhältnis gebracht w i r d " . (S. 274) Die zuerst zitierten Sätze könnten möglicherweise den Zweck gehabt haben, die später parteiöffentlich auf dem i m gleichen Jahr veranstalteten Parteikongreß geäußerte K r i t i k von Bebel die Spitze zu nehmen, wonach i m Falle einer Vergrößerung der Z a h l der Mandate bei den letzten Reichstagswahlen „die Neigung zu Kompromissen u n d zu sog. praktischer Tätigkeit . . . dann höchstwahrscheinlich so gewachsen (wäre), daß vermutlich eine Spaltung eingetreten wäre", Prot. SAP 1887, S. 19.

I I . Die Periode des Sozialistengesetzes bis zum Erfurter Parteitag

127

d r ü c k l i c h a b g e l e h n t w o r d e n i s t sie n i c h t . D i e S k i z z i e r u n g der G r u n d züge eines n e u e n P a r t e i p r o g r a m m s d u r c h L i e b k n e c h t e i n J a h r z u v o r , i n d e r e r auch die V e r h ä l t n i s w a h l i n d e n K a t a l o g d e r s o z i a l d e m o k r a t i schen G e g e n w a r t s f o r d e r u n g e n a u f g e n o m m e n h a t t e 1 1 0 , h a t t e g e n ü g t , u m diesen P u n k t i n a l l e d e m E r f u r t e r P a r t e i t a g v o r g e l e g t e n P r o g r a m m e n t w ü r f e h i n e i n z u b r i n g e n 1 1 1 . Es ist n i c h t a n z u n e h m e n , daß sich alle D e l e g i e r t e n a u f die v o n L i e b k n e c h t gegebene ideologische B e g r ü n d u n g dieses W a h l v e r f a h r e n s h a b e n festlegen lassen, charakteristischerweise o s z i l l i e r t e sie i n d e n m e i s t e n Ä u ß e r u n g e n i m m e r z w i s c h e n d e r g r u n d sätzlichen theoretischen F u n d i e r u n g 1 1 2 u n d d e r B e t o n u n g des t a k t i s c h e n Vorteils f ü r die Sozialdemokratie. B e f ü r w o r t e r u n d Gegner des V e r h ä l t n i s w a h l r e c h t s f i e l e n n i c h t m i t d e n P a r t e i f l ü g e l n z u s a m m e n , f a n d e n sich doch s p ä t e r B e r n s t e i n u n d Parvus Helphand 113 i n der D i s t a n z gegenüber diesem W a h l s y s t e m w i e 110 V

g l

P r o t

S P D

1890> s>

170>

111

Außer den E n t w ü r f e n der Redaktion der Neuen Zeit u n d des Parteivorstands k a m ein d r i t t e r von den Mitgliedern Auerbach, Kampffmeyer u n d L u x (Prot. SPD 1891, S. 22). Auch die Abänderungsanträge (u.a. Vollmar) sprachen sich alle f ü r die Verhältniswahl aus. (Ebd., S. 29). 112 Eine die ideologische Begründung der Verhältniswahl extrem betonende A r b e i t erschien 1891 von dem Sozialdemokraten P. Vitalis unter dem T i t e l „Das höchste Recht des Volkes", B e r l i n 1891. (Vgl. auch den A r t i k e l desselben i m Vorwärts v o m 20. 5.1891, Beilage). Die relative Mehrheitswahl lehnt der A u t o r aus dem G r u n d ab, w e i l hier die „Ungerechtigkeit" zugunsten der SPD ausschlagen würde. (S. 26) A l s ausschlaggebend f ü r die Verhältniswahl nennt Vitalis: „Die Verhältniswahl macht das allgemeine u n d gleiche Wahlrecht erst zur Wahrheit, indem sie jeder Stimme den gleichen Wert sichert u n d keine als rechtlos ausschließt . . . Die Verhältniswahl gibt uns die reinste F o r m des Repräsentativ-Systems." (S. 30/31) Die bürgerlichen Parteien sucht Vitalis m i t dem späteren Vorteil des Mehrheitswahlrechts f ü r die Sozialdemokratie zu ködern: „Wenn einst die sozialistische Bewegung soweit f o r t geschritten ist, daß allenthalben die überwiegenden Massen sozial-demokratisch denken u n d fühlen, dann k o m m t das ungünstige Wahl-System, welches die unterliegenden Minderheiten zur parlamentarischen Machtlosigkeit v e r dammt den Sozialdemokraten sogar zu gute. Es k a n n sich der Spieß umdrehen; das sollte die heute herrschende Klasse bedenken." (S. 31) Überhaupt g i l t f ü r den A u t o r bei der Beurteilung institutioneller Einrichtungen, daß „davon, ob seine Sache nützt oder schadet, . . . w i r überhaupt i n prinzipiellen Fragen unser U r t e i l nicht bedingt sein lassen (dürfen). (S. 38) Der hinter diesen Äußerungen stehende Demokratiebegriff w i r d aus den folgenden Passagen deutlich: „Das erste Erfordernis eines Abgeordneten ist die Ubereinstimmung m i t seinen Wählern." (S. 47) Durch Einführung von Verhältniswahl u n d direkter Gesetzgebung „erhält die ganze P o l i t i k ein anderes Gesicht. Es haben fortan die Massen ein W o r t mitzusprechen, u n d die verlangen nicht nach Krieg, Militärlasten u n d hohen Steuern, sondern nach Frieden, A r b e i t u n d Freiheit. Gesetze, welche die Rechte des Volkes schmälern, oder dieses bedrücken sollen, werden, w e n n das V o l k selbst entscheidet, nicht mehr genehmigt werden". (S. 54) 113 Beleg f ü r Helphands H a l t u n g i n dieser Frage bei (Eduard Bernstein), „Das demokratische Prinzip u n d seine Anwendung", i n : NZ, Jg. 1896/97, 1. Bd., S. 23. Eine eigenständige Erörterung des Wahlsystems durch Rosa L u x e m b u r g w a r nicht aufzufinden. A u f ihre eher ablehnende H a l t u n g diesem

128

C. Wahlsystemfrage u n d sozialdemokratische Staatstheorie bis 1891

auch Georg Ledebour und Otto Landsberg i n seiner Befürwortung. Wenn auch die taktische Komponente bei der Forderung nach der Verhältniswahl zunehmende Bedeutung erlangte, so wurde die theoretische Begründung doch nie verloren. Die Strukturierung der Weimarer Verfassung, die m i t i h r i n den entsprechenden Teilen weitgehend zusammenfällt, ist ein Zeichen für ihre Wirkungsmächtigkeit. Die Forderung nach Verhältniswahl ist als Beleg dafür anzusehen, daß trotz Marxismusrezeption und des i n seinem Gefolge i n die Partei eindringenden zuweilen etwas „kühleren" Verhältnisses zu den spezifisch demokratischen Forderungen 1 1 4 i n Teilen der Sozialdemokratie i h r Verhältnis zum Parlamentarismus von radikaldemokratischen Vorstellungen mitgeprägt wurde und blieb. Mochte auch die Forderung nach Proportionalwahl i n wachsendem Maße ihren Antrieb von der die Sozialdemokratie aufs höchste benachteiligenden passiven Wahlkreisgeometrie erhalten, so daß die Versuchung, diesem Übelstand ein für allemal durch Änderung des Wahlsystems abzuhelfen, recht plausibel erscheint, so darf dennoch nicht die Stärke der immer wieder beschworenen Vorstellung von der Gerechtigkeit auch des Wahlsystems unterschätzt werden, so daß der ehemalige Volksbeauftragte Otto Landsberg noch 1928 erklären konnte, die Sozialdemokratie habe lieber auf die Mehrheit i m Reichstag verzichtet als Nutznießer eines von ihr bekämpften Systems zu werden 1 1 5 .

Wahlsystem gegenüber k a n n man durch einen Aufsatz über die belgische Wahlrechtsfrage schließen, i n der die Sozialisten die Verhältniswahl erst auf Druck der Liberalen akzeptierten. Vgl. „Das belgische Experiment", Gesammelte Werke, Bd. 1, 2. Halbbd., B e r l i n (Ost), 1970, S. 215. I n den von i h r ausführlich erläuterten Wahlrechtsgrundsätzen i m Kommentar zum Prog r a m m der polnischen Sozialdemokratie w i r d die Verhältniswahl nicht erwähnt. „Was w o l l e n w i r ? " (1906), ebd. Bd. 2, S. 56 ff. Z u den übrigen genannten Sozialdemokraten vgl. unten. 114 Lidtke, S. 322. Die Feststellung, daß m i t dem Jahre 1890 das Konzept des „Volksstaates" i n der Sozialdemokratie zum „Museumsstück" degenerierte, erscheint uns allerdings etwas pauschal; weder w i r d damit das k o m plizierte Verhältnis von Demokratie u n d Sozialismus hinreichend umschrieben; noch bedenkt es die ungebrochene demokratische T r a d i t i o n der Sozialdemokratie, w i e sie v o r allem auch i n der praktischen P o l i t i k w i r k s a m blieb. Dies U r t e i l Lidtkes basiert offensichtlich auf der problematischen Gleichsetzung von „freiem Volksstaat" u n d parlamentarischer Demokratie. (Ebd., S. 53, 322 ff.). 115 Der Rat der Volksbeauftragten, i n : Friedrich Ebert u n d seine Zeit, Charlottenburg o. J., S. 183 ff.; S. 208. Landsberg bezog sich zwar i n erster L i n i e auf das Frauenwahlrecht, ließ aber durchblicken, daß auch die E i n f ü h r u n g der Verhältniswahl das Verfehlen einer sozialdemokratischen Mehrheit i n der Nationalversammlung b e w i r k t habe. Z u Landsbergs H a l t u n g i n dieser Frage vgl. unten Kap. D I V .

D. Die Verhältniswahl als Programm punkt der Sozialdemokratie bis zum Ende des Ersten Weltkriegs I. Die Benachteiligung der SPD durch das geltende Reichstagswahlrecht als auslösender Faktor für die Forderung nach dem Verhältniswahlsystem 1. Die passive Wahlkreisgeometrie

Es ist unwahrscheinlich, daß die Verhältniswahl innerhalb der politischen Nahziele der Sozialdemokratie jenen Charakter eines „ A x i o m s " 1 angenommen hätte, der auch noch am Ende der Weimarer Republik jeden Gedanken an eine durchgreifende Reform hinfällig werden ließ, wenn nicht das bestehende Wahlrecht zum Reichstag mit seinen prägenden Eigenschaften die SPD aufs schwerste benachteiligt hätte: zum einen durch die passive Wahlkreisgeometrie durch die i n einem halben Jahrhundert unverändert gebliebene Wahlkreiseinteilung 2 , zum anderen durch das System der Stichwahlen. Der theoretische Anstoß zur Verhältniswahl kam, wie oben dargestellt, zum Teil schon vor den ersten Erfahrungen der Partei m i t dem neuen Wahlrecht; seine Fundierung fällt m i t einer radikaldemokratisch motivierten Ablehnung des sehr bescheidenen Bismarckschen Parlamentarismus zusammen, so daß die Gerechtigkeitsvorstellung kaum als bloße Verschleierung des wohlverstandenen eigenen Vorteils verstanden werden kann. Der moralische Impetus jener kleinen Minderheit, für die die Emanzipation der eigenen Klasse untrennbar m i t der des ganzen übrigen Volkes verbunden war, schloß dem eigenen Selbstverständnis nach eine mögliche K l u f t zwischen Parteivorteil und „objektiver" Gerechtigkeit aus. Bei aller grundsätzlichen Berechtigung auch des theoretischen A n stürmens gegen die ideologischen Festen des feudal-bürokratischen 1 Vgl. Advocatus, Das Proportionalwahlsystem u n d die deutschen Reichstagswahlen, i n : NZ, Bd. 13,2 (1895), S. 68: „Wie die direkte Gesetzgebung durch das V o l k wurde auch das Proportionalwahlverfahren als eine A r t A x i o m behandelt." 2 Unberücksichtigt bleiben die aus anderen Gründen als der Bevölkerungsfluktuation, z. B. aus administrativen vorgenommene Neueinteilung einiger Wahlkreise. Z u r Frage der sozialdemokratischen Zählkandidaturen vgl. oben Kap. C I I , A n m . 52 u n d A n m . 9 dieses Kap.

9 Misch

30 750

1912

• Nach Huber, Bd. III, 875.

28 350

1907

18 000

1890

24 000

19 000

1887

1903

14 300

1881

1884

16 000

12 300

1878

19 000

14 500

1877

1894

13 500

1874

1893

10 000

13 000

1871

Wahljahr |

28 500

17 700

17 600

15 300

14 400

12 300

14 300

11000

16 000

13 000

13150

16 400

9 600 11 500

37 000

30 200

25 800

21000

18 800

28 000

17 000

19 600

16 200

13 800

j

11800

29 900

20 800

18 800

14 300

15 300

12 700

15 500

13 000

35 600

26 300

25 600

19 200

27 700

17 600

30 400

14 000

10 800

14 800

12 000

9100

Fortschrit t

62 000

|

37 600

40 600

40 800

69 400

23 000

26 000

48 500

41000

39 000

38 600

75 800

37 200

7 400

Zentmm

14100

14 000

16 000

11 500

National9 300

10 000

| Konservative |

Für ein Reichstagsmandat waren im Durchschnitt folgende Stimmzahlen erforderlich:

Tabelle I: Zählwert und Erfolgswert der Stimmen in den Reichstagswahlen 1871—1912*

|

^al-^

D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie

I. Die Benachteiligung der SPD durch das Reichstagswahlrecht

131

Staates blieb nicht aus (und konnte wohl auch nicht ausbleiben), daß die Intransigenz der K r i t i k zuweilen die Beurteilung des faktisch Bestehenden und mehr noch die sich daraus ergebenden Möglichkeiten der eigenen Partei verzeichnete. Diese Wechselwirkung von K r i t i k und objektiv Gegebenem läßt sich auch für das Gebiet des Wahlrechts aufzeigen. Die sowohl theoretisch als auch aus den ersten Erfahrungen eines noch weitgehend gleichen Mehrheitswahlrechts 3 erwachsene Befürwortung der Verhältniswahl m i t der i h r inhärenten Gerechtigkeitsvorstellung erlaubte es, die durch passive Wahlkreisgeometrie ausgelösten Abweichungen vom Prinzip der Wahlrechtsgleichheit viel schärfer zu verurteilen als von der Basis der Mehrheitswahl aus, die auch i n ihrer reinsten Form einer absoluten Gleichheitsforderung nicht entsprechen kann 4 . Die Wirksamkeit der eigenen theoretischen Argumente für die praktische Politik zeigte sich am Ende des ersten Weltkrieges: Die Partei war angesichts der grotesken Ungleichheit der Wahlkreise nicht i n der Lage, kritisch abzuwägen, ob — unter Würdigung sowohl der eigenen Chancen als auch der Möglichkeiten für eine parlamentarische Demokratie i n Deutschland — eine Lösung i n der Neueinteilung der Wahlkreise unter Beibehaltung der Mehrheitswahl oder i n der Einführung der Verhältniswahl zu suchen sei. Die Entscheidung ist bekannt, eine Diskussion hat i m Grunde nicht stattgefunden. Auch das Einschwenken der ursprünglichen Gegner i n den meisten bürgerlichen Parteien auf dies Wahlsystem konnte das sozialdemokratische Votum nicht erschüttern. Die Option für die Verhältniswahl führte dazu, daß die Mängel des Reichstagswahlrechts letztlich nur durch Abschaffung dieses Wahlsystems selbst behebbar schienen, und diese Möglichkeit mußte u m so verlockender werden, je länger die Regierung die Anpassung der Wahlkreise an die Bevölkerungsfluktuation hinausschob 5 , von der Wirkung des verhaßten preußischen Dreiklassenwahlrechts für die Verfestigung des theoretischen Gerechtigkeitsideals ganz zu schweigen. Grundlage der Wahlkreiseinteilung waren die Volkszählungen kurz vor der Reichsgründung gewesen, wobei auf jeden Bundesstaat pro 100 000 Einwohner ein Mandat entfiel und ein Überschuß von mehr als 50 000 aufgerundet wurde; unabhängig von der Bevölkerungszahl

8 Vgl. Bebels Bemerkungen über die Zufälligkeit der Wahlkreiseinteüung i n seiner Rede auf dem Parteitag 1871, i n : Ausgewählte Reden u n d Schriften, Bd. I , S. 159 f. 4 F ü r die Radikalisierung des Begriffs der liberalen Gleichheit zur demokratischen Egalität i m Wahlrecht vgl. Gerhard Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 2. Auflage, Göttingen 1868, S. 86 f. 5 Aus dem Wahlgesetz ergibt sich allerdings nur, daß „eine Vermehrung der Z a h l der Abgeordneten infolge der steigenden Bevölkerung . . . durch das Gesetz bestimmt" w i r d (§ 5,3).

9*

132

D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie

konnte aber jeder Bundesstaat mindestens einen Sitz beanspruchen®. Auslösendes Moment der unterschiedlichen Entwicklung der Wahlkreisgrößen war die m i t den Gründer jähren einsetzende Industrialisierung und die m i t ihr verbundene starke Wanderung der Bevölkerung, wie m i t folgender Tabelle deutlich gemacht werden kann. Tabelle

II

Verteilung der Bevölkerung auf Stadt und Land im Deutschen Reich* Von der Gesamtbevölkerung wohnten Jahr

1871 1885 1900 1905 1910

i n Landgemeinden (bis 2000 E i n wohner) 63,9 56,3 45,7 42,6 40,0

v.H. v.H. v.H. v.H. v.H.

in Klein- und Mittelstädten (2000—100 000 E i n wohner) 31,3 v.H. 34,2 v.H. 38,1 v.H. 38,4 v.H. 38,7 v.H.

i n Großstädten (über 100 000 E i n wohner) 4,8 9,5 16,2 19,0 21,3

v.H. v.H. v.H. v.H. v.H.

• Nach: Arthur Dix, Die deutschen Reichstagswahlen 1871—1930 und die Wandlungen der Volksgliederung (Recht u. Staat in Geschichte u. Gegenwart, Heft 77), Tübingen 1930, S. 7.

Diese Fluktuation führte dazu, daß die zwischen 1874 und 1912 fast erreichte Verdopplung der Wahlberechtigten auf ca. 14,5 M i l l . vor allem den großstädtischen und Industriegebieten zugute kam, während die — vor allem auch ostelbischen — Landgemeinden, gemessen an diesem Wachstum, fast stagnierten. Die Diskrepanz blieb keineswegs auf wenige Wahlkreise beschränkt, sondern die Bandbreite der Wahlkreise wurde durch die Bevölkerungsfluktuation insgesamt bedeutend erweitert. Hauptleidtragende dieser Bewegung und des dadurch hervorgerufenen riesenhaften Anwachsens der großstädtischen Wahlkreise war naturgemäß die Sozialdemokratie, die trotz aller Anstrengungen, auch die Landarbeiter für sich zu gewinnen 7 , noch 1912 alle 110 Reichstagssitze i n Wahlkreisen m i t gewerblicher Mehrheit errang 8 . Die große Diskrepanz zwischen den Erfolgswerten und Stimmzahlen der einzelnen Parteien — bei gleichem Zählwert — über die jedem Mehrheitswahlsystem inhärente Abweichung hinaus resultierte auch aus dem Stich6 Der kleinste Wahlkreis, Schaumburg-Lippe, ist also k e i n typisches Beispiel f ü r die passive Wahlkreisgeometrie des Kaiserreiches. 7 Vgl. Bebel auf dem Haller Parteitag 1890, Prot. SPD 1890, S. 39 f. 8 Vgl. Die Parteien, Beiheft zur Zeitschrift f ü r Politik, Bd. 1, 1912, S. 367. Lediglich 3 Wahlkreise hatten eine n u r relative gewerbliche Mehrheit.

317 47 662

351 54 107

74 898

86 323

VI

VII

580

XII 194 941

738 933

105 804

321

287

342

428 162 995

76

99

448

24 054

23 566

88

92

24 332

419 24 017

376

23 612

23 600

103

102

72 24 235

82

Rastenburg WahlWahlberechkreistigte index

105

117

23 380 24 462

258

143 835

132 177

108 441 315

124 551

283

259

211 85 815

189 73 358

580 89 414

264

171 63 607

179 62 352

235

104 104

22 599

122 23 387 218 23 324

204

Bochum WahlWahlberechkreistigte index

213 23 916

158 53 811

161 49 000

160 49 087

42 142

4ö8 74 735

328 56 424

339 256

248160

604

220 258 48 185

183 076

36197

202 42 324

197

182 37 109

179 35 946

176 43 693

117 24 514

Essen WahlWahlberechkreistigte index

67

• Nach: Die Reichstagsiraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898—1918, Einleitung S. XIX. Der Wahlkreisindex, der das ungleichmäßige Anwachsen der wahlberechtigten Bevölkerung in den verschiedenen Wahlkreisen deutlich macht, bezeichnet das prozentuale Verhältnis zwischen der jeweiligen absoluten Zahl der Wahlberechtigten eines Wahlkreises und der Durchschnittszahl der Wahlberechtigten pro Wahlkreis (Gesamtzahl der Wahlberechtigten im Reichsgebiet in einer Legislaturperiode, dividiert durch die Zahl der Wahlkreise = 100 °/o).

219 782

XI 164 932

XIII

523

X 142 226

134 993

454 87 911

494

IX 121 564

409 65 443

VIII 104 460

242 45 046

210 41 903

48 238

55 446

183 40 261

V

42 232

III

157 37 799

132 23 540

Charlottenburg WahlWahlberechkreistigte index

26 491

132 33 806

VI Wahlkreisindex

IV

28 250

Berlin Wahlberechtigte

II

I

Wahlperioden

Tabelle III: Das Anwachsen der Zahl der Wahlberechtigten in großstädtischen Wahlkreisen 1871—1912* I. Die Benachteiligung der SPD durch das Reichstagswahlrecht 133

134

D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie Tabelle

IV

Die unterschiedliche Entwicklung der Wahlkreise insgesamt* Wählerzahl

A n z a h l der Wahlkreise

6 000— 8 000 8 000— 10 000 10 000— 12 000 12 000— 14 000 14 000— 16 000 16 000— 18 000 18 000— 20 000 20 000— 22 000 22 000— 24 000 24 000— 26 000 26 000— 28 000 28 000— 30 000 30 000— 32 000 32 000— 34 000 34 000— 36 000 36 000— 38 000 38 000— 40 000 40 000— 45 000 45 000— 50 000 50 000— 60 000 60 000— 70 000 70 000— 80 000 80 000—100 000 100 000—120 000 120 000—140 000 190 000—200 000 240 000—250 000

1871 1 3 6 12 29 50 104 85 58 33 11 4 1 — — — — — — — — — — — — — —

1907 1 —

5 12 10 22 34 23 52 38 34 28 24 14 15 14 20 16 10 8 3 3 6 3 1 1

* Nach: SM, 1910, S. 1349.

Wahlsystem und der sozialdemokratischen Praxis der Zählkandidaturen 0 ; der ungleichen Wahlkreiseinteilung, die gegenüber den anderen 9 Meist w u r d e von der Sozialdemokratie bei der E r k l ä r u n g der Diskrepanz von relativ hoher Stimmzahl u n d relativ niedriger Mandatszahl das System der Mehrheitswahl m i t seiner grundsätzlichen Ungerechtigkeit i m allgemeinen u n d die ungleiche Wahlkreisverteilung i m besonderen, weniger die Stichwahlen u n d die Zählkandidaturen, verantwortlich gemacht, wobei zur Demonstration der Ungerechtigkeit zumeist eine einfache Übertragung der Reichstagswahlergebnisse auf Verhältniswahl beigefügt wurde. Vgl. z. B. August Bebel, Die Sozialdemokratie u n d das Allgemeine Stimmrecht, B e r l i n 1895, S. 52. U n e r w ä h n t läßt er aber die Z a h l der Kandidaturen, die so aussah: D K : 162; RP: 73; N L : 181; F V : 67; F V P : 232; Süddt. V P : 41; Z : 217; Antisemiten: 122; SPD: 380; nach A d o l f Neumann - Hof er, Die Entwicklung der Sozialdemokratie bei den Wahlen zum Deutschen Reichstage, B e r l i n

I. Die Benachteiligung der SPD durch das R e i c h s t a g s w a h l r e c h t 1 3 5

beiden Faktoren wahrscheinlich i n geringerem Maße für die Benachteiligung der Sozialdemokratie verantwortlich war 1 0 , galt jedoch der besondere Haß der Partei. Auch das System der Stichwahlen m i t dem Dilemma der Sozialdemokratie zwischen intransigenter Prinzipientreue und taktischem Bündnis hat die Entscheidung der Partei für das Verhältniswahlsystem mitbestimmt; die offensichtliche Ungerechtigkeit der Wahlkreiseinteilung mußte aber i n besonderem Maße die i m mer wieder gepriesene Gerechtigkeit der Proportionalwahl um so heller leuchten lassen. 1894, S. 52. Vgl. die leicht differierenden Werte bei Matthias/Pikart, S. X V I , u n d bei G. A . Ritter, S. 67. Noch bei den Wahlen 1912 hatte sich dieses B i l d nicht grundlegend verändert, nicht zuletzt auch auf Grund von Absprachen der bürgerlichen Parteien untereinander. Vgl. auch Die Parteien, S. 356. A u s führlicher erörterte Peter B r a u n die E i n w i r k u n g von Wahlkreiseinteilung und Verbreitung der Anhängerschaft auf das Stimmen-Mandate-Verhältnis der Sozialdemokratie. Z u Recht k a m er zu dem Ergebnis, daß allein f ü r die Sozialdemokratie beide Faktoren negativ zu Buche schlagen, während z.B. bei den konservativen Parteien die Verbindung von regionalen Hochburgen m i t agrarischen Wahlkreisen eine einmalige Bevorzugung darstellte. I m m e r h i n k a m aber auch noch das Z e n t r u m bei ungünstiger Wahlkreiseinteilung (katholische Großstädte) durch die konfessionell bedingte Konzentration auf relativ wenige Wahlkreise zu überproportionaler Parlamentsvertretung, während bei den linksliberalen Parteien die Zersplitterung der Anhängerschaft ausgeglichen w u r d e durch die f ü r sie günstige Wahlkreiseinteilung. Vgl. Peter Braun, „ F ü r ein zahlengerechtes Wahlverfahren", i n : NZ, Bd. 12,2, S. 303—312, 333—344; S. 305 ff. Wenn B r a u n auch i m Ergebnis zuzustimmen ist, so ist es jedoch unzulässig, von der Nichtaufstellung von Zählkandidaturen bei Mehrheitswahlrecht auf die Nichtexistenz von Minderheiten zu schließen. Meist w u r d e n die Zählkandidaturen allerdings nicht als E r k l ä r u n g f ü r eine tatsächlich geringere Benachteilignug durch das bestehende W a h l recht gewertet, sondern als Beleg f ü r das a l l die Minoritäten unvertreten lassende ungerechte Mehrheitswahlrecht u n d damit als Begründung f ü r die Forderung nach Verhältniswahl. Vgl. Paul Hirsch u n d Bruno Borchardt, Die Sozialdemokratie u n d die Wahlen zum Deutschen Reichstag, B e r l i n 1912, S. 29. Die Praxis der Zählkandidaturen, die ihren Ursprung — entsprechend der distanzierten H a l t u n g gegenüber dem Parlamentarismus — i n der Hochschätzung der Stimmen hatte, verstärkte noch optisch die tatsächliche Benachteiligung der Sozialdemokratie durch das Reichstagswahlrecht. Zugleich ließ es die ungerechte Wahlkreiseinteilung noch stärker hervortreten, überragte doch die Z a h l der i n der Minderheit gebliebenen sozialdemokratischen Stimmen zuweilen die der siegreichen M a j o r i t ä t i n anderen Wahlkreisen. — E i n weiterer Faktor, der die einfache Umrechnung der Reichstagswahlergebnisse auf Proportionalwahl eigentlich verbot, waren die Hochburgen v o r allem des Zentrums u n d der Konservativen m i t über 80—90 °/o der abgegebenen Stimmen bei einer zuweilen relativ geringen Wahlbeteiligung; v e r mutlich w u r d e hier das Stimmenpotential nicht v o l l ausgeschöpft. Allerdings galt dies nicht n u r f ü r die bürgerlichen Parteien, w i e Ritter, S. 67, A n m . 98, meint, sondern ebenfalls — w e n n auch i n geringerem Maße — f ü r einzelne großstädtische, sozialdemokratische Hochburgen. Vgl. die diesbezügliche Klage Bebels i n seinem Brief an Engels v o m 18.3.93, Briefwechsel, S. 678. Wie unangefochten z. B. die Stellung des Zentrums i n vielen Wahlkreisen war, zeigt sich daran, daß von den 91 1912 errungenen Wahlkreisen 73 seit 1874 ununterbrochen i n seinem Besitz war. Vgl. Peter Molt, Der Reichstag vor der improvisierten Revolution, Köln-Opladen 1963, S. 59, A n m . 10. 10

Vgl. Matthias/Pikart, S. X X .

136

D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie

Z u m Bewußtsein kam der Partei das Problem erst, als die Benachteiligung bereits offenkundig war. Bei den Beratungen des Wahlgesetzes i m Reichstag des Norddeutschen Bundes hatte sich das Interesse der Sozialdemokratie auf die Herabsetzung des Wahlalters, die Abhaltung der Wahl an einem Sonntag und die Zurückweisung einiger Wahlrechtsbeschränkungen konzentriert 1 1 , während der liberale Abgeordnete Lasker bereits für den Fall ungleicher Wahlkreiseinteilung vor einem möglichen „Pluralwahleffekt" warnte 1 2 . Unbehagen über das durch Bevölkerungsvermehrung und -fluktuation bedingte unterschiedliche Wachstum der Wahlkreise scheint sich erst i n der zweiten Hälfte der siebziger Jahre i n der Sozialdemokratie verbreitet zu haben, so daß die Fraktion 1877 einen Antrag auf Neufestsetzung von Zahl und Umfang der Reichstagswahlkreise einbrachte 13 . Die Befürchtung, die aus den oben zitierten Worten Kautskys sprach, daß sich die Anstrengungen der Partei allein auf das Fernziel der Verhältniswahl richten könnten, erfüllte sich nicht, wiederholten doch die sozialdemokratischen Abgeordneten vor Ablauf des Sozialistengesetzes den Antrag nicht weniger als dreimal 1 4 . Die Klagen über die Ungerechtigkeit der Wahlkreiseinteilung und die damit verbundene Unterrepräsentation der Arbeiterbewegung beschränkten sich keineswegs auf den reformerischen, die parlamentarische Arbeit befürwortenden Flügel der Partei; massive Angriffe auf das Reichstagswahlrecht wurden zum Beispiel immer wieder von Georg Ledebour vorgetragen 19 . Dieser Mißstand und die Weigerung von Re11 Vgl. die entsprechenden Abänderungsanträge v o n Bebel, Hasenclever u n d Schweitzer i n den Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, Session 1869, Bd. 1, S. 45, 157, 166. 12 Ebd., S. 43. 13 Vgl. Sten. Ber. des Reichstags, Anlagen, Aktenstück Nr. 119, Session 1877. Der A n t r a g wurde nicht behandelt. Noch ein Jahr zuvor w a r eine Debatte über die Neueinteilung einiger Wahlkreise aus administrativen Gründen, i n der der Führer der Linksliberalen, Eugen Richter, bereits „ a l l die Ungerechtigkeiten u n d Ungleichheiten i n der Einteilung der Wahlkreise" beklagt hatte, ohne sozialdemokratische Beteiligung geblieben. Vgl. Sten. Ber. Session 1876, 1. Bd., S. 735. 14 1878 (Drucksache 66), 1881/82 (Drucksache Nr. 39), 1885/86 (Drucksache Nr. 152). Vgl. M a x Schippel, Sozialdemokratisches Reichstags-Handbuch, B e r l i n o. J., S. 1116; vgl. außerdem den Versuch M a x Kaysers, eine Petition ähnlichen Inhalts auf die Tagesordnung zu setzen. Session 1885/86 Drucksache 183. N u r Rittinghausens A n t r a g von 1881/82 k a m wenigstens m i t der Unterstützung der Volkspartei i n die erste Lesung, bevor er abgelehnt wurde. Vgl. Sten. Ber. Session 1885/86, 1. Bd., S. 526 ff. 15 Vgl. die Reichstagssitzung v o m 5. 3.1903, Sten. Ber., Bd. 187, S. 7688 ff., m i t detaillierten Vorschlägen zur Neueinteilung während der Etatberatung; ebenso Reichstagssitzung v o m 7. 2.1912, Sten. Ber. Bd. 293, S. 100. Vgl. auch Engels i n dem I n t e r v i e w m i t „ L e Figaro" v o m 8. 5.1893, MEW, Bd. 22, S. 541. E i n einigermaßen kurioses Beispiel f ü r die allgemeine Verärgerung über die ungerechte Wahlkreisverteilung ist dem Protokoll des Erfurter Parteitages zu

I. Die Benachteiligung der SPD durch das Reichstagswahlrecht

137

gierung und Reichstagsmehrheit, i h n zu reformieren, wuchs sich zu einem immer eindrucksvolleren M i t t e l aus, u m an i h m den Charakter des ganzen Systems und darüber hinaus die Unfähigkeit und den Unwillen der politischen Gegner, die eigene Verfassung einzuhalten, zu dokumentieren 16 . I n den Augen der Sozialdemokratie bot die passive Wahlkreisgeometrie den herrschenden Klassen — agitatorisch zugespitzt — die Möglichkeit, auch ohne staatsstreichähnliche Lösung der innenpolitischen Schwierigkeiten durch Einschränkung des Wahlrechts die Partei wirkungsvoll zu unterdrücken, für die diese nur zu bereitw i l l i g das Prinzip der Wahlrechtsgleichheit durchlöcherten 17 . Gegen das durch bewußtes Unterlassen einer Reform zum „verfassungswidrigen Pluralwahlsystem" 1 8 verfälschte Reichstagswahlrecht setzte die Sozialdemokratie die Forderung nach einem wirklich gleichen Wahlrecht, dem ein Mehrheitswahlsystem immer weniger entsprechen konnte. Auch wenn manche Äußerungen führender Sozialdemokraten darauf hinzudeuten schienen, daß sie einer Neueinteilung der Wahlkreise das gleiche Gewicht wie der Einführung der Verhältniswahl beigemessen hätten 1 9 , so galt doch für die Partei als ganze grundsätzlich, daß eine endgültige Lösung des Problems nur i n der Änderung des Wahlsystems erblickt wurde. Schon 1878 hatte Bebel i n dem Überflüssigwerden der ständigen Neueinteilung der Wahlkreise einen wichtigen entnehmen. Werner, Berliner Kandidat bei den letzten Reichstagswahlen u n d Sprecher der oppositionellen Gruppe der „Jungen", soll Bebel gegenüber seine antiparlamentarische H a l t u n g m i t seiner Wahlniederlage erklärt haben: „Nehmen sie m a l an, ich habe bei der W a h l 22 000 Stimmen bekommen, andere, die i m Reichstag sitzen, haben 7000 Stimmen bekommen; diese haben was zu sagen, u n d ich habe nichts zu sagen." Prot. SPD 1891, S. 166. 16 Das Problem der passiven Wahlkreisgeometrie benachteiligte die Sozialdemokratie nicht n u r i m Reich, sondern ebenso auch i n den Ländern, dort z . T . neben anderen Wahlrechtsbeschränkungen; vgl. z.B. Reinhard Jansen, Georg Vollmar, Eine politische Biographie, Düsseldorf 1958, S. 66; Klaus Simon, Die württembergischen Demokraten (Veröffentlichungen der K o m mission f ü r geschichtliche Landeskunde i n Baden-Württemberg, Reihe B, 52. Bd.) Stuttgart 1969, S. 61. 17 Vgl. „Das V o l k lernt", i n : Vorwärts, 2.7.1898. 18 Vorwärts v o m 18. 6.1903. Ä h n l i c h K a r l Kautsky, Der Weg zur Macht, 2. Auflage 1910 (Neudruck F r a n k f u r t 1972), S. 89. 19 Vgl. z.B. die Forderung L u d w i g Franks, die Mißstände zu beseitigen „sei es durch E i n f ü h r u n g der Verhältniswahl, sei es durch die sofortige Neueinteilung der Wahlkreise". Reichtagssitzung v o m 15.2.1912, Sten. Ber., Bd. 293, S. 26; ähnlich Ledebour, ebd., S. 100. 1917 w a r es f ü r Ledebour sogar eine „sekundäre Frage", auf G r u n d welchen Wahlsystems die Gleichheit des Wahlrechts erreicht würde. Reichstagssitzung v o m 30.3.1917, Sten. Ber. Bd. 309, S. 2928. Trotzdem galt f ü r beide (wie auch f ü r die Gesamtpartei) daß selbstverständlich der Verhältniswahl der Vorzug gegeben wurde, w e n n auch eine Neueinteilung der Wahlkreise nicht verschmäht u n d natürlich unterstützt worden wäre. Vgl. Ledebour, ebd., S. 2928 u n d L u d w i g Frank, Reden, Aufsätze u n d Briefe, hrsg. von H e d w i g Wachenheim, B e r l i n o. J., S. 294.

138

D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie

Grund für seine Forderung nach Verhältniswahl gesehen, obwohl die Ungleichheit längst noch nicht jenes erst die Verbitterung auslösende Maß der Zeit nach der Jahrhundertwende aufwies 20 . Auch wo die ideologische Betrachtung der Verhältniswahl nicht mehr so ausgeprägt war, wie z.B. bei Ledebour, wurde die Option für sie trotz der betonten Zweitrangigkeit der Frage nicht grundsätzlich neu geprüft; die tatsächliche Ungerechtigkeit des Wahlsystems führte dazu, den axiomatischen Charakter der Proportionalwahl für die Sozialdemokratie nur noch mehr zu untermauern, wurde doch die nie aufgegebene theoretische Begründung durch die Wirklichkeit offensichtlich empirisch verifiziert. Die Reform des Reichstagswahlrechts i n Richtung auf maximale Gleichheit wurde nur aus taktischen Gründen zeitweise mittels Neueinteilung der Wahlkreise versucht, das Fernziel Verhältniswahl blieb davon unberührt 2 1 . Je länger aber auch die überfällige Reform hinausgezögert wurde und damit die angestrebte Gerechtigkeit politisch und technisch zu einer fast unlösbaren Aufgabe wurde, desto mehr verlor die Verhältniswahl den Charakter des Fernziels, schien doch nur sie allein das Instrument zu bieten, den gordischen Knoten des Reichstagswahlrechts zu durchschlagen 22 . Die automatische Gerechtigkeit der Verhältniswahl versprach eine endgültige Lösung durch Abschaffung des ganzen Problems 23 . Die Ungleichheit ließ institutionelle Erwägungen zurücktreten; i n den Vordergrund schob sich immer mehr die Forderung nach gerechter Repräsentation der Minoritäten, und dies Problem stellte sich für die Sozialdemokratie i m Grunde überall gleich dar, ob 20 Vgl. Bebel, Z u r Wahlreform — Frage, S. 510; ähnlich Liebknecht auf dem Erfurter Parteitag, Prot. SPD 1891, S. 344. 21 Vgl. z.B. August Kolb, Die Neueinteilung der Reichstagswahlkreise, Würzburg 1911; ders., Wahlreform oder Neueinteilung der Reichstagswahlkreise? S M 1912, 1, S. 474 ff.; vgl. auch die Vorwürfe eines Parteitagsdelegierten auf dem Parteitag 1913 gegenüber der Fraktion, die statt einer knapp niedergestimmten Resolution zur Verhältniswahl lieber einen A n t r a g auf Neueinteilung der Wahlkreise hätte stellen sollen, „der w o h l m i t ungeheurer Mehrheit angenommen worden (wäre) w e i l er leichter durchführbar u n d i n folgedessen zweckmäßiger ist". Prot. SPD 1912, S. 373. 22 Vgl. den Aufsatz des Reichstagsabgeordneten A d o l f Thiele „ I s t das Reichstagswahlrecht noch gleich?" S M 1910/3, S. 1341 ff. Vgl. auch den „ A u f r u f des Parteivorstandes zu den Reichstagswahlen" 1912, i n dem „ f ü r alle Vertretungskörper Verhältniswahl zur Beseitigung der m i t der heutigen Wahlkreiseinteilung verknüpften schreienden Ungerechtigkeit" gefordert wurde, i n : Die Parteien, S. 259. Ä h n l i c h w a r auch die offizielle Begründung der SPD f ü r die E i n f ü h r u n g der Verhältniswahl i n Württemberg 1906. Vgl. die Rede W i l h e l m Keils v o m 24.1.1906, Verhandlungen der Württembergischen K a m m e r der Abgeordneten auf dem 36. Landtag i n den Jahren 1904/06, S. 3067. 23 Vgl. A d o l f Thiele, „Verbesserung des Reichstagswahlrechts", i n : S M 1912, 2, S. 1191. Thiele sorgte sich allerdings nicht n u r u m die Möglichkeiten der Wahlkreisgeometrie bei den ständigen Neueinteilungen, nicht weniger ging es i h m u m die Beständigkeit der Wahlkreisorganisationen der Parteien.

I . Die Benachteiligung der SPD durch das Reichstagswahlrecht

139

es sich nun u m die Wahlen zu den Kaufmanns- und Gewerbegerichten, den Gemeinderäten, den Landtagen oder gar dem Reichstag handelte 24 . Die Ungleichheit der Wahlkreiseinteilung bot sich sicherlich für die Begründung der Verhältniswahl als erstes an; ein echtes Trauma des Mehrheitswahlrechts, das sich bis heute für die SPD noch nicht ganz verflüchtigt haben dürfte, schuf allerdings das System des absoluten MehrheitsWahlrechts m i t der Stichwahl i m zweiten Wahlgang: das Trauma der bürgerlichen Einheitsfront gegen die Sozialdemokratie. 2. Das Problem der Stichwahlen

Nicht zu unterschätzende Wirkungen auf das Parteiensystem des Kaiserreichs sind von dem Charakteristikum des deutschen Systems der absoluten Mehrheitswahl ausgegangen: erreichte i m ersten Wahlgang kein Kandidat die absolute Mehrheit, kam es zu einer Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten m i t den höchsten Stimmzahlen. Die Möglichkeit, besser: die Notwendigkeit von Wahlbündnissen bei einem Mehrheitswahlrecht m i t Vielparteiensystem 25 , wurde noch dadurch verstärkt, daß es i n einem großen Teil der Wahlkreise erst i m zweiten Wahlgang zur Entscheidung kam 2 6 . Dem Wahlsystem entsprechend, das i m Grunde nur dem Mandatsgewinn eine Bedeutung beimaß, waren nach dem ersten Wahlgang zwischen den Parteien Wahlabsprachen üblich, die eine gegenseitige Unterstützung für die Stichwahlen vorsahen; diese Absprache beschränkten sich i n der Regel nicht auf einzelne Wahlkreise, sondern verlangten i m Sinne eines ,do u t des' überregionale oder gar das ganze Reichsgebiet umfassende Stichwahlabkommen. Aber nicht nur Bündnisse für den zweiten Wahlgang waren eine taktische Möglichkeit, auch für die Hauptwahlen waren Wahlabkommen nichts Außergewöhnliches, zumal bei der von vornherein gegenüber der Sozialdemokratie geringeren Zahl der aufgestellten Kandidaten bei den bürgerlichen Parteien. A m bekanntesten sind die bei den unter nationalistischer Wahlparole von Seiten der Regierung geführten Wahlen von 1887 und 1907. Das K a r t e l l von 1887 aus den beiden konservativen Parteien und Nationalliberalen reichte bis zur gemeinsamen Kandidatenaufstellung, während das abgestimmte Vorgehen des Bülow-Blocks bei den „Hottentotten-Wahlen" von 1907 — ehemaliges 24 Vgl. die Rede des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten H ü t t mann am 16.4.1913, Sten. Ber. Bd. 288, S. 4830. 25 I m Reichstag waren nie weniger als 11 Parteien. 26 Von 397 Abgeordneten w u r d e n 1890: 248, 1893: 217, 1898: 210, 1903: 217, 1907: 239, 1912: 206 i m ersten Wahlgang gewählt. Vgl. Die Parteien, S. 363; vgl. i m übrigen zu diesem Abschnitt die materialreiche Studie von Erich Matthias u n d Eberhard Pikart, Das Dilemma der Stichwahlen, i n : Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898—1918, S. X X I ff.

140

D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie

Kartell plus Linksliberalismus — auf Grund der ideologischen und interessenmäßigen Spannbreite nicht ganz so weit gehen konnte. I m merhin führten beide Bündnisse zu der angestrebten — wenn auch 1907 nur kurzfristigen — Mehrheit. Von solchen Bündnissen war die Sozialdemokratie weitgehend ausgeschlossen, galt doch bei allen bürgerlichen Parteien die offizielle Unterstützung der linken Flügelpartei auch nur i n einem auf Gegenseitigkeit beruhenden Wahlbündnis als Paktieren m i t dem ,Reichsfeind'; die lange Zeit gerade auch vom Linksliberalismus geübte Praxis einer bürgerlichen Einheitsfront gegen die Sozialdemokratie bei den Wahlen, die lieber dem konservativen Kandidaten als dem sozialistischen zum Mandat verhalf 2 7 , ist während des ganzen Kaiserreichs grundsätzlich nicht aufgegeben worden: Das Stichwahlabkommen mit der Sozialdemokratie von 1912 entsprang sicherlich mindestens ebensosehr taktischen Erwägungen — nach dem auf Grund der Wählerstruktur katastrophalen Ausgang der Hauptwahl 2 5 — wie einer gewissen politischen Annäherung, ganz abgesehen davon, daß ein Großteil der linksliberalen Wählerschaft nicht bereit war, i n diesem Fall der Stichwahlparole ihrer Partei zu folgen 29 . Das Wahlverhalten der gegnerischen Parteien und des Bürgertums i m allgemeinen bildete also nur das Gegenstück zur sozialdemokratischen Selbstabkapselung, und es kann nicht verwundern, wenn sich für die Sozialdemokratie gerade i n den Wahlanalysen m i t diesem empirischen Belegmaterial die Unterschiede zwischen den anderen Parteien verwischten; hier schien sich zu bestätigen, daß „ A r t . . . nicht von A r t (läßt), und was nun einmal zur Bourgeoisie gehört, das gehört, auch wenn es mitunter noch so demokratisch tut, doch zu der ,einen, großen, reaktionären Masse'" 30 . Der bürgerlichen Einheitsfront, der sich die 27 Vgl. die von dem Führer der Linksliberalen Eugen Richter 1878 ausgegebene Stichwahlparole bei einer Nachwahl: „Lieber (den Frei-Konservativen) Lucius als (den Sozialdemokraten) Kapell." Mehring, Geschichte Bd. I I , S. 485. 28 Die F V P hatte bei 1,5 Millionen Stimmen i m ersten Wahlgang kein Mandat erringen können. 29 Vgl. Matthias/Pikart, S. X L V I I I . Vgl. das Resümee, das Schorske aus dem Dämpfungsabkommen zieht: „The details of the w o r k i n g of the electoral agreement reveal an ominous descrepancy between parliamentary politics and popular opinion . . . There were . . . grounds for hope that the political divide i n parliament w o u l d lie between the Center and the National Liberals w i t h the Blue-Blacks on one side and the Liberal-Social Democratic alliance on the other. Outside parliament however, the d i v i d i n g line lay rather between Progressives and Social Democrats . . . Thus the elections of 1912 revealed that the real cleavage i n public opinion followed the divide of middle class and workers, not that of Junkers and middle class." Carl E. Schorske, German Social Democracy 1905—1917, New Y o r k 1955, S. 233 f. 30 Der Sozialdemokrat, 11. 3.1887. Naturgemäß w a r die Sozialdemokratie

I. Die Benachteiligung der SPD durch das R e i c h s t a g s w a h l r e c h t 1 4 1

Sozialdemokraten bei den Wahlen gegenübersahen, entsprach ihrer zur Schau gestellten Intransigenz i n der Frage von Wahlbündnissen, obwohl — wie zu Recht betont worden ist — der Sozialdemokratie weder die eigenen Mandatsgewinne noch die Mandatsverteilung der übrigen Parteien jemals gleichgültig waren 3 1 . I n welchem Maße die endgültige Stärke der sozialdemokratischen Reichstagsvertretung vom Ausgang der Stichwahlen bestimmt wurde, ergibt sich aus Tabelle V. Das Dilemma der Stichwahlen folgte für die Sozialdemokratie daraus, daß sie einerseits auf Grund der Zählkandidaturen i n sehr vielen Wahlkreisen das Zünglein an der Waage bilden konnte und ihre Wählerschaft dementsprechend von den anderen Parteien umworben wurde, sie andererseits dieses Kapital nicht i n ein Abkommen einbringen konnte, u m die Position bei den eigenen Stichwahlen zu verbessern. Als Flügelpartei blieb ihr i n den meisten Fällen gar nichts anderes übrig, als zähneknirschend die Linksliberalen oder — wie 1907 — das Zent r u m 3 2 zu unterstützen, während die nutznießenden Parteien auf Grund ihrer Mittellage i m politischen Spektrum die erzwungene sozialdemokratische Wahlhilfe nicht entsprechend zu honorieren brauchten 33 . Die von Teilen der Partei immer wieder erhobene Forderung nach genereller Stimmenthaltung i m Falle der Stichwahl zwischen zwei gegnerischen Kandidaten ist allerdings nie zur Maxime sozialdemokratischer Wahltaktik geworden. Die Empfehlung zur Stimmenthaltung gehörte auf allen Parteikongressen unter dem Sozialistengesetz zu denen, die angenommen wurden 3 4 , konnte aber, wie Auer 1897 offen erklärte, „praktische Geltung nie erlangen" 3 5 . So war die SPD trotz am meisten enttäuscht über die i h r am nächsten stehenden Parteien, die Linksliberalen, denen gegenüber die Erbitterung deutlich zum Ausdruck gebracht w i r d . So sah der Vorwärts 1903 das Fazit der Reichstagswahlen i n dem „Aufhören des Freisinns als demokratische Oppositionspartei". Vorwärts v o m 27.1.1903. 31 Vgl. Matthias/Pikart, S. X X I V . Vgl. auch die von K a u t s k y ausgearbeitete Resolution auf dem Kongreß der Internationale 1900, i n der die „schrittweise Eroberung von Wahlsitzen i n Gemeindevertretungen u n d gesetzgebenden Körperschaften" zur Eroberung der politischen Macht gefordert w i r d . Zit. nach Hugo Poetzsch, „Die deutsche Sozialdemokratie u n d der Parlamentarismus", i n : SM, 3. Bd. 1917, S. 1051 ff.; S. 1055. 82 Vgl. den A u f r u f zur Stichwahl i m Vorwärts v o m 25.1.1907. 83 Die teilweise nicht unerheblichen Stichwahlerfolge der Partei beruhten allerdings auch auf den Spannungen der bürgerlichen Parteien untereinander. Vgl. Matthias/Pikart, S. X X V I I I ff. 34 Vgl. Prot. SAP 1880, S. 119; Prot. SAP 1883, S. 21; Prot. SAP 1887, S. 21. 35 W i l h e l m Schröder, Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage von 1863—1909, München 1910, S. 260 f. Ungeachtet der Empfehlung von 1884 hatte das Zentralwahlkomitee f ü r 1887 aufgefordert, bei Stichwahlen den Fortschritt zu wählen. Vgl. Prot. SAP 1887, S. 21. F ü r die Nichtbeachtung des St. Gallener Beschlusses zur Stimmenthaltung vgl. die Begründungen seiner ursprünglichen Befürworter Singer u n d Bebel, Prot. SPD 1890, S. 62 f., 75 ff.

1871

1887

1890

1893

1898

1903

1907

1912

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

64

29

56

32

24

20



9d)

6

9

2

8

2b)

^ Wahljahr Mandate

16

121

90

118

98

83

58

18

24

22

19

11

4

1.Wahlgang _ , /TTT ... ®

46

14

25

24

20

15

12 )

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15

3

5

7

lo)



16 38

21

24

24

9

0

28

24

110

43

81

56

44

35

12

12

11

9

9

2

Stichwahlen _ _ _ , , , Erfolgsquote insgesamt n;x (in °/o)

44

63

26

55

16

_ , ... Beteiligung Mandate (Wahlkreise)

Mandate

D. Die V e r h ä l t n i s w a h l als P r o g r a m m p u n k t d e r Sozialdemokratie

* Nach „Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898—1918", S. XXIH. a) Eisenacher und Lassalleaner. b) Einschließlich des in Zwickau gewählten Reinhold Schraps, der sich auch als „Förderaiist" bezeichnete. c) Zwar hatten in zwei Wahlkreisen Sozialdemokraten bei den Stichwahlen gesiegt. Jacoby, der in Leipzig-Land gewählt worden war, lehnte jedoch das Mandat ab. In der Nachwahl ging der Wahlkreis dann wieder verloren. d) Ein weiterer im ersten Wahlgang eroberter Wahlkreis (Altona), in dem eine Nachwahl erforderlich wurde, da Hasenclever doppelt gewählt worden war und sich für Berlin VI entschied, konnte nicht behauptet werden. e) Die Partei war auch in 13 Wahlkreisen erfolgreich gewesen. Jedoch konnte der Wahlkreis Mainz, den der auch in Offenbach gewählte Liebknecht abgetreten hatte, in der Nachwahl nicht gehalten werden.

1881

1884

V

1878

IV

VI

1877

1874

III

IIa)

Ia)

Legislatur., penode

Tabelle V: Ausgangspositionen und Erfolge der Sozialdemokratie bei den Stichwahlen 1871—1912*

142

I. Die Benachteiligung der SPD durch das R e i c h s t a g s w a h l r e c h t 1 4 3 a l l e r r a d i k a l e n B e k u n d u n g e n , daß es d e n „ G r u n d s ä t z e n d e r P a r t e i b e i W a h l e n w i d e r s p r i c h t , sich i n K o m p r o m i s s e m i t f e i n d l i c h e n P a r t e i e n e i n z u l a s s e n " 3 6 , n i c h t a u f eine w i r k l i c h r a d i k a l e A b s t i n e n z b e i d e n S t i c h w a h l e n festzulegen, w o b e i sie versuchte, i h r e S t i c h w a h l u n t e r s t ü t z u n g a n die E r f ü l l u n g eines K a t a l o g s v o n M i n d e s t f o r d e r u n g e n z u b i n d e n 3 7 . A u c h f r ü h e r schon h a t t e es l o k a l e u n d r e g i o n a l e W a h l a b s p r a c h e n gegeben, das erste a u f Reichsebene geschlossene W a h l b ü n d n i s w a r aber das m i t d e r F V P b e i d e n R e i c h s t a g s w a h l e n 1912 3 8 . Dieses sogenannte D ä m p f u n g s a b k o m m e n sah v o r , daß i n e i n i g e n W a h l k r e i s e n , i n d e n e n ein sozialdemokratischer m i t einem fortschrittlichen K a n d i d a t e n i n der S t i c h w a h l stand, d e r W a h l k a m p f z u „ d ä m p f e n " sei, w ä h r e n d die F V P d e r S o z i a l d e m o k r a t i e die U n t e r s t ü t z u n g gegen k o n s e r v a t i v e K a n d i d a t e n zusicherte. Dieses v o m l i n k e n P a r t e i f l ü g e l scharf k r i t i s i e r t e 3 9 A b k o m m e n entsprach durchaus d e r v o n Engels v e r t r e t e n e n T a k t i k , f ü r d e n S t i c h w a h l a b k o m m e n u n d sogar B ü n d n i s s e v o r d e n H a u p t w a h l e n k e i n e F r a g e des P r i n z i p s d a r s t e l l t e n 4 0 . 36

Bebel auf dem Parteitag 1893, Prot. SPD 1893, S. 253. Vgl. Matthias/Pikart, S. X X X V I . 38 Vgl. dazu v o r allem Jürgen Bertram, Die Wahlen zum Deutschen Reichstag v o m Jahre 1912 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus u n d der politischen Parteien Bd. 28), Düsseldorf 1964, S. 224 ff.; siehe auch Wachenheim, Die deutsche Arbeiterbewegung 1844—1914, S. 509. 39 Vgl. die Zusammenstellung der sozialdemokratischen Presse zum Stichwahlabkommen, i n : Die Parteien, S. 314. Die Ablehnung erfolgte v o r allem aus Angst v o r „parlamentarischem Kretinismus", zudem verschleiere ein Bündnis m i t bürgerlichen Parteien i n der Hoffnung auf eine reformerische Mehrheit n u r den tatsächlichen Klassengegensatz zwischen Feudalismus u n d B ü r g e r t u m einerseits u n d Arbeiterschaft andererseits. Vgl. auch Rosa L u x e m burg, Sozialdemokratie u n d Parlamentarismus, Gesammelte Werke, Bd. 1. 2, S. 447 ff. Dazu Peter Nettl, Rosa Lusemburg, F r a n k f u r t - Wien - Zürich 1965, S. 434 ff. 40 Vgl. Engels an Bernstein a m 23.5.1884, MEW, Bd. 36, S. 150. Ob dieser Brief allerdings als „eines der Schlüsseldokumente f ü r die taktischen A n schauungen von Engels" (G. A . Ritter, S. 183) gelten darf, ist nicht ganz sicher, denn 1893 f ü h r t er zu diesem Problem i n einem I n t e r v i e w m i t „The Daily Chronicle" folgendes aus: „ W i r stellten 391 Kandidaten auf u n d ließen uns m i t keiner anderen Partei auf Vereinbarungen ein. Hätten w i r so etwas gewollt, hätten w i r zwanzig oder dreißig Sitze mehr erhalten können, aber w i r lehnten standhaft jeden Kompromiß ab, u n d gerade das ist es, was u n sere Position so stark macht." M E W , Bd. 22, S. 544. I m m e r h i n hat die u n d o k trinäre (vielleicht n u r aus taktischen Gründen i n dem I n t e r v i e w eingeschränkte) H a l t u n g Engels' gegenüber ad-hoc-Bündnissen ihren Einfluß auf Bernstein u n d K a u t s k y nicht verfehlt. Vgl. Bernsteins A r t i k e l i m Sozialdemokrat v o m 30.10.1884, i n dem er aufruft, nachdem „ m i t der Konstatier u n g der Wählerzahl dem theoretischen Bedürfnis Genüge geschehen" ist, m i t allen M i t t e l n die Festung der Gegner i n den Stichwahlen zu stürmen. Vgl. auch Kautskys K r i t i k an der „antikompromißlichen Sektiererei" der sozialdemokratischen W a h l t a k t i k i n einem Brief an A d l e r v o m 5.4.1894 (Victor Adler, Briefwechsel m i t August Bebel u n d K a r l Kautsky, gesammelt u n d erläutert von Friedrich Adler, Wien 1955, S. 152 ff.), u n d die das Stichwahlabkommen von 1912 rechtfertigenden A r t i k e l Kautskys i m Vorwärts v o m 5./6. u n d 7. März 1912. 37

144

D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie

Solchen Wahlbündnissen gegenüber hat die Sozialdemokratie aber nie ein ungebrochenes Verhältnis entwickelt; Absprachen zwischen politisch heterogenen Partnern haftete i n ihren Augen immer etwas Unstatthaftes an. Dieser Unwille oder wohl besser diese Unfähigkeit zu taktischen Bündnissen, die eine Konsequenz des absoluten Mehrheitswahlrechts waren, hat zweifellos die Zustimmung für die Einführung der Verhältniswahl auch unter den Parteimitgliedern verstärkt, die die theoretische Begründung dieses Wahlsystems nicht übernahmen oder für die sie jedenfalls nicht jene Verbindlichkeit besaß. Wenn Wahlbündnisse überhaupt überflüssig gemacht würden, also auch zwischen bürgerlichen Parteien, wäre die Bündnisunfähigkeit der Sozialdemokratie m i t ihren negativen Folgen für das Wahlergebnis ausgeglichen; die Möglichkeit von Listenverbindungen, auf die einer der wenigen K r i t i k e r der Verhältniswahl warnend hinwies 4 1 , konnte die Hoffnung, m i t der Einführung dieses Wahlsystems ein Ende der oft „seltsamsten Verbindungen zwischen den Parteien" 4 2 bei den Stichwahlen zu erreichen, nicht trüben. Der Wahlkampf wurde von der Sozialdemokratie, wie schon dargelegt, nicht u m Mandate u m jeden Preis geführt, das Primäre waren die errungenen Stimmen, denen jedoch die Zahl der Mandate entsprechen mußte. Aber ähnlich wie die eigene Unterrepräsentation dem Gerechtigkeitsgefühl entgegenstand, so hätte eine eigene durch Wahlbündnisse erzielte Uberrepräsentation i n manchen Kreisen der Partei Unbehagen ausgelöst, hätte sie sich doch nicht durch eine entsprechende Wählerzahl legitimiert 4 3 . Die sozialdemokratische Abneigung gegen Stichwahlbündnisse überstieg den bloßen Ärger über die eigene Benachteiligung auf Grund der Isolierung i m Parteiensystem; die Stichwahlen erhielten den Charakter des Unmoralischen durch die „Widernatürlichkeit" der Bündnisse 44 . Wie Kautsky bei seiner Verteidigung des Stichwahlabkommens zugeben mußte, verband sich für viele Sozialdemokraten mit dieser Institution die Vorstellung von „Mogelei und Korruption" 4 6 . 41 Vgl. Advocatus, Das Proportionalwahlsystem u n d die deutschen Reichstagswahlen, NZ, Bd. 13, 2, S. 106. 42 Bebel, Die Sozialdemokratie u n d das Allgemeine Stimmrecht, S. 52. 43 Vgl. W. Liebknecht, K e i n Kompromiß, kein Wahlbündnis, B e r l i n 1899, S. 5 u. 16. Dieser Grundsatz, der absolute Geltung f ü r die Gesamtpartei zweifellos nicht erlangen konnte, findet sich extrem zugespitzt bei Vitalis: „Davon ob eine Sache uns nützt oder schadet, dürfen w i r überhaupt i n prinzipiellen Fragen unser U r t e i l nicht bedingt sein lassen." S. 38. 44 Vgl. Vitalis, S. 23: ebenso: „Das Proportionalwahlrecht" i n : Vorwärts, 23. 8.1896; vgl. die ironische Kommentierung dieser Überziehung des Moralbegriffs i n dem Aufsatz von E. Bernstein: „Das demokratische Prinzip und seine Anwendung", i n : NZ, 1. Bd. 1896/97, S. 22. 45 Vorwärts v o m 5. 3.1912 (1. Beilage).

I. Die Benachteiligung der SPD durch das R e i c h s t a g s w a h l r e c h t 1 4 5

Nicht nur zum linken Flügel neigende Sozialdemokraten sahen den Ausweg aus der Not des immer wiederkehrenden Stichwahlproblems i n der Tugend der Verhältniswahl 4 6 , auch für erklärte Befürworter einer aktiven Stichwahlpolitik verloren die Wahlabsprachen nicht den Charakter des Unehrlichen und Unstatthaften, zu der nur die absolute Mehrheitswahl „verführte" 4 7 . Und so gab Scheidemann i n seiner großen Rede zur Verteidigung des „Dämpfungsabkommens" auf dem Parteitag 1912 auf die rhetorische Frage, warum die Sozialdemokratie das Verhältniswahlrecht fordere, nur die Antwort: „ U m uns und auch die anderen vor derartigen Übereinkommen zu bewahren" 4 8 . Kompromisse verfielen damit einer Verurteilung, die sich aus der marxistischen Theorie nicht ableiten läßt; das Verdikt über eine pragmatische Wahltaktik scheint zuweilen, die tatsächliche Pariastellung der Sozialdemokratie und die Klassenkampfparolen des linken Flügels hier außer acht lassend, eher i n den Kontext jenes kleinbürgerlichen Vorurteils gegenüber der „schmutzigen Politik" zu passen 49 . Der Zwang zu Wahlbündnissen, der die Sozialdemokraten das absolute Mehrheitswahlrecht des Kaiserreichs ablehnen ließ, schloß beim Umschwung der politischen Verhältnisse 1918 die Einführung der relativen Mehrheitswahl von vornherein ein. Alle Vorbehalte gegenüber dem bestehenden Wahlrecht galten i n noch stärkerem Maße für dieses Wahlsystem, das nicht nur keine echte statistische Bestandsaufnahme ermöglichte, sondern vor allem danach drängte, „Abmachungen zwischen verschiedenen Parteien schon für den ersten Wahlgang zu treffen" 5 0 . Theoretische Vorstellungen und die tatsächliche Benachteiligung durch das bestehende Wahlsystem m i t der passiven Wahlkreisgeometrie 46 Vgl. die Reden Georg Ledebours i m Reichstag am 3.4.1911 u n d 17.2.1912, Sten. Ber. Bd. 266, S. 6136 f.; Bd. 283, S. 90. 47 So Katzenstein auf dem SPD Parteitag 1907, Prot. SPD 1907, S. 324. 48 Prot. SPD 1912, S. 333; vgl. auch Philipp Scheidemann, „Disziplin", i n : Das freie Wort, Jg. 1931, S. 22 ff.; S. 23. 40 Die Stichwahlen u n d die m i t i h r erforderlichen Bündnisse waren keineswegs n u r i n der Sozialdemokratie Gegenstand heftiger Debatten. Auch der spätere linksliberale Vizekanzler von Payer erblickte i n der Verhältniswahl eine Chance, durch die „ i m Interesse der politischen Reinlichkeit das Stichwahlverfahren vollständig aus unserem Wahlverfahren beseitigt werden könnte". Sten. Ber. 16.2.1912, Bd. 183, S. 62 f. Auch i n Frankreich waren es vor allem die Wahlbündnisse unter der Mehrheitswahl, die die Sozialisten veranlaßten, seit der Jahrhundertwende f ü r die Verhältniswahl einzutreten. Vgl. Die W a h l der Parlamente, I, 1, S. 474; vgl. außerdem Etienne Buisson, „Die Einführung des Proportionalwahlrechts i n Frankreich", i n : SM, Jg. 1912, Bd. 3, S. 1474 ff. 60 K a u t s k y i m Vorwärts, v o m 5.3.1912 (1. Beilage); vgl. auch den Wahlaufr u f bayerischer Sozialdemokraten; Prot. SPD 1912, S. 36 f.; ebenso Vitalis, S. 26, f ü r den eine durch relative Mehrheitswahl errungene Mehrheit der Sozialdemokratie der „öffentlichen Gerechtigkeit" widersprechen würde.

io Misch

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D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie

und der Stichwahlproblematik haben bei diesem sozialdemokratischen Programmpunkt Pate gestanden. Zuweilen gewann aber dieses Wahlsystem einen Eigenwert, der sich nur m i t moralischen Kategorien umschreiben ließ: „Durch den Wegfall der Wahlbündnisse w i r d der Wahlkampf überhaupt sich veredeln, das heißt . . . er w i r d den Geist der Kompromisse verjagen und sich u m Grundsätze konzentrieren. Und dadurch w i r d die ganze Agitation für die sozialdemokratische Lehre zielbewußter, weniger zugänglich der Korruption 5 1 ." I I . Die innerparteiliche Diskussion über das Wahlsystem 1. Die Diskussion um Mehrheits- und Verhältniswahlsystem im Anschluß an den Erfurter Parteitag

Der Aufnahme der Verhältniswahl i n den zweiten Teil des Erfurter Programms ist keine ausführliche Diskussion vorausgegangen; wenn eine gewisse Skepsis gegenüber der Praktikabilität der vorgeschlagenen Systeme der Verhältniswahl bei Kautsky nicht zu übersehen ist, so w i r d doch die Masse der Parteitagsdelegierten diesem Programmpunkt keine besondere Bedeutung beigemessen haben. Die Benachteiligung der Sozialdemokratie durch das geltende Reichstagswahlrecht war so offenkundig, daß die Forderung nach einem absolut gerechten Wahlsystem keine Opposition hervorrufen konnte; die Identifizierung von Proportionalwahlrecht und Gerechtigkeit mußte gerade i n einer Partei, deren Impetus nicht zuletzt i n einer der als zutiefst ungerecht empfundenen Gesellschaftsordnung des Bismarckreichs entgegengesetzten diffusen und unartikulierbaren Sehnsucht nach Gerechtigkeit lag, erschweren, wenn nicht verhindern, daß die Frage des Wahlrechts auch unter den praktischen Gesichtspunkten des Regierungssystems und der Chance einer sozialdemokratischen Reichstagsmehrheit betrachtet wurde. Darüber hinaus ist es sicher nicht falsch zu vermuten, daß die Kenntnis über das i m Gegensatz zu den Nachbarländern Schweiz und Frankreich i n Deutschland noch relativ wenig diskutierte neue Wahl verfahren i n weiten Parteikreisen noch sehr beschränkt war 1 . Der Verhältniswahl kam also innerhalb der sozialdemokratischen Programmatik keine theoretisch vorrangige Bedeutung zu, und die Möglichkeit für ihre Durchsetzung erschien angesichts der herrschenden Mehrheitsverhältnisse i m Reichstag und der erforderlichen Zustim51 Vgl. den unter dem Pseudonym Catilina erschienene Aufsatz des Herausgebers der Sozialistischen Monatshefte Josef Bloch, „ F ü r ein proportionales Wahlsystem", i n : Der sozialistische Akademiker, 2. Jg., B e r l i n 1896, S. 554. 1 Vgl. die Klage des Delegierten Schöpflin 1896, „daß gerade über diesen P u n k t unseres Programms große U n k l a r h e i t unter den Genossen i m Lande herrscht", Prot. SPD 1896, S. 175.

I I . Die innerparteiliche Diskussion über das Wahlsystem

147

m u n g des B u n d e s r a t s als sehr g e r i n g , d e n n — w i e e i n D e l e g i e r t e r 1890 i n grotesker U b e r s c h ä t z u n g der S p r e n g w i r k u n g d e r V e r h ä l t n i s w a h l , aber durchaus n i c h t i m W i d e r s p r u c h z u d e n V o r s t e l l u n g e n i h r e r B e f ü r w o r t e r äußerte — „ d a m i t w ü r d e j a die h e u t i g e Gesellschaft sich selbst aufgeben" 2. Eine breitere Diskussion i n der sozialdemokratischen Publizistik über die F r a g e des W a h l s y s t e m s setzte nach der d u r c h das Sozialistengesetz u n t e r b r o c h e n e n E r ö r t e r u n g i n der „ Z u k u n f t " erst nach d e r F e s t l e g u n g der P a r t e i i n diesem P u n k t i n der M i t t e der n e u n z i g e r J a h r e e i n 3 . A u s gelöst w u r d e die D i s k u s s i o n n i c h t z u l e t z t auch v o n e i n e r B e f ü r w o r t u n g der V e r h ä l t n i s w a h l d u r c h k o n s e r v a t i v e P u b l i z i s t e n , die sie o f f e n als I n s t r u m e n t gegen die w e i t e r e A u s b r e i t u n g der S o z i a l d e m o k r a t i e e m p f a h l e n 4 ; auch der 1895 a n g e n o m m e n e A n t r a g , die V e r h ä l t n i s w a h l a u f die T a g e s o r d n u n g des nächsten Parteitages z u setzen, scheint d a v o n b e e i n f l u ß t gewesen z u sein 5 . 2

Prot. SPD 1890, S. 186. Vgl. die folgenden A r t i k e l : E. Bernstein, i n : N Z 1893/94, 1. Bd. S. 470 (Rezension zu Heinrich Rosin, Minoritätenvertretung u n d Proportionalwahlen, B e r l i n 1892); H. K., „ F ü r ein zahlengerechtes W a h l verfahren", i n : NZ, Jg. 1893/94, 2. Bd., S. 699/700; Otto Lang, „Proportionales Wahlverfahren", ebd., Jg. 1893/94, 1 Bd., S. 828/829; Peter Braun, „ F ü r ein zahlengerechtes Wahlverfahren", ebd., Bd. 12,2 (1894), S. 303—312 u. 333—344; Advocatus, „Das Proportionalwahlsystem u n d die deutschen Reichstagswahlen", ebd., Bd. 13,2 (1895), S. 68—75, 100—108 u. 142—149; August Bebel, Die Sozialdemokratie u n d das Allgemeine Stimmrecht. M i t besonderer Berücksichtigung des Frauenstimmrechts u n d Proportional-Wahlsystems, B e r l i n 1895; Ramsey Macdonald, „Probleme der Demokratie i n England" (übersetzt von E. Bernstein), ebd., Bd. X I V , 1 (1895/96), 357 ff. u. 394 ff.; „Das Proportionalwahlrecht", i n : Vorwärts v o m 23.8.1896; Advocatus, „Das Proportional-Wahlsystem", i n : Der Sozialistische Akademiker, 2. Jg. (1896), S. 413—427; Catilina (identisch m i t J. Bloch), „ F ü r ein proportionales Wahlsystem", ebd., S. 541— 555; (E. Bernstein), „Das demokratische Prinzip u n d seine Anwendung", i n : NZ, Jg. 1896/97, 1. Bd., S. 19—25 (daß dieser anonym erschienene A r t i k e l von Bernstein stammt, ist Z. Leder, „Das Proportionalwahlrecht", ebenda, 31. Jg., Bd. 2, S. 5—15 u n d 56—63, S. 6, zu entnehmen). 4 Vgl. z.B. L u d w i g von Hirschfeld, Die proportionale Berufsklassenwahl. E i n M i t t e l zur A b w e h r der sozialistischen Bewegung, Leipzig 1885. Vgl. dazu Donald J. Ziegler, Prelude to Democracy, University of Nebraska Studies, New Series No. 20,1958, S. 32 ff. 5 Vgl. Prot. SPD 1895, S. 194; die beschlossene Diskussion, f ü r die als Berichterstatter der Reichstagsabgeordnete Lütgenau vorgesehen war, fand aus Zeitgründen nicht statt. Nachdem sie bereits an die letzte Stelle der Tagesordnung gesetzt worden w a r (Prot. SPD 1896, S. 67) w u r d e schließlich m i t „großer M a j o r i t ä t " ein A n t r a g auf Absetzung angenommen, die der Hamburger Delegierte Förster so begründete: „Wenn unsere Genossen n u r i n der Frage der Proportionalwahl u n k l a r sind, so läßt sich das noch ertragen. Die Proportionalwahl ist schließlich heute n u r eine akdemische Frage." Ebd., S. 175. Vgl. auch den Vorwärts v o m 17.10.1896, der gleichfalls die A b setzung nicht bedauerte, da es „sowohl v o m Standpunkt der aktuellen Politik, w i e v o m prinzipiellen Standpunkte der Partei . . . zahlreiche Fragen (gibt), deren Erörterung w e i t dringender ist". E i n ähnlicher A n t r a g wurde auf dem Parteitag 1897 niedergestimmt, vgl. Prot. SPD 1897, S. 77. 3

10*

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D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie

I n der publizistischen Diskussion über die Verhältniswahl nahmen die Zweifel an der Durchführbarkeit der vorgeschlagenen speziellen Systeme für die Position der Skeptiker und Gegner einen bedeutenden Stellenwert ein; dennoch wurden diese mehr technischen Zweifel auf der Basis eines „reduzierten" Demokratiebegriffes vorgetragen. Bezeichnend ist dabei, daß weder von den beiden deutschen K r i t i k e r n der Verhältniswahl — Advocatus und Bernstein — noch von den Verteidigern die mögliche und von der Sozialdemokratie doch auch angestrebte Parlamentarisierung des Regierungssystems explizit i n die A r gumentation aufgenommen wurde. Das Wahlsystem wurde nicht auf ein konkretes Verfassungsmodell bezogen, das die Kriterien für seine Beurteilung lieferte. Zweifellos galt von Anfang an für die Befürworter des Verhältniswahlsystems diese Forderung auch unter den Bedingungen parlamentarischer Verantwortlichkeit der Regierung, wie auch umgekehrt die K r i t i k e r eine weitere Schwächung des Reichstags i m bestehenden Konstitutionalismus bei Einführung der Proportionalwahl befürchteten, die sich durch die zwangsläufige Zersplitterung des Parteiensystems ergeben müßte. Die gefährlichen Konsequenzen eines scheinbar logisch aus dem Prinzip der Demokratie zu deduzierenden Wahlverfahrens sind bei Bernstein klar ausgesprochen: „Das Wahlsystem zu Gunsten der Leichtigkeit von allerhand Parteibildungen zustutzen, hieße aber i n einem Lande, wo die Kräftigung der Parteien gegenüber der Zentralgewalt die einzige Garantie politischer Freiheit ist, die demokratische Praxis einem vermeintlich demokratischen Prinzip aufzuopfern 6 ." Und Advocatus befürchtet die Auflösung der großen Parteien durch das Auftreten von engbegrenzten Interessenvereinigungen m i t dem Ergebnis, daß „ein mehr oder weniger von Berufsborniertheit und sektiererischem Fanatismus beherrschtes Parlament . . . allgemeine Verachtung erregen und . . . vielleicht dem ganzen Parlamentarismus das Grab graben, jedenfalls . . . eine starke Regierung m i t einem derartigen Reichstage leicht fertig (würde)" 7 . So steht für ihn fest, daß m i t der Einführung der Verhältniswahl nicht die angestrebte Demokratisierung, sondern „die größte Stärkung des Absolutismus" 8 verbunden wäre. Die rein individualistische Begründung der Verhältniswahl durch Liebknecht, der „jede Idee, jede Strebung und Strömung" 9 vertreten wissen wollte, ohne über seine gerechte Zusammen6

Vgl. Bernstein, „Das demokratische Prinzip", S. 23. „Das Proportionalwahlsystem u n d die deutschen Reichstagswahlen", S. 145. 8 „Das Proportional-Wahlsystem", S. 423. 9 Prot. SPD 1890, S. 171. Liebknechts naiv-eindimensionale Betrachtungsweise des Wahlsystems k a n n m i t folgendem Zitat belegt werden: „Das Proportionalsystem ist so einfach, daß jeder, der das Einmaleins kann, es begreift u n d daß auch jeder, der weiß, daß zweimal zwei vier u n d zwölf d i v i 7

I I . Die innerparteiliche Diskussion über das Wahlsystem

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setzung hinaus auf die Funktionen oder gar die Mehrheitsbildung des Reichstags einen Gedanken zu verschwenden, ist für Advocatus nur „ein Doktrinarismus der Demokratie". Angesichts der geringen Bedeutung des Reichstags auf Grund der bereits bestehenden Zersplitterung des Parteiensystems und des von i h m vorausgesetzten Interesses der Sozialdemokratie an der Stärkung des Parlaments w i r f t er den Befürwortern der Verhältniswahl vor, „aus doctrinären Gründen . . . die Auflösung der Parteien zu befördern" 1 0 . Für Bernstein hat das Argument, das demokratische Prinzip verlange die Befürwortung der Verhältniswahl, keine Geltung, da für i h n — i n dieser Hinsicht noch ganz auf dem Boden des marxistischen Staatsbegriffs — die Demokratie und demokratische Institutionen lediglich „ M i t t e l zum Zweck, nicht Selbstzweck sind" 1 1 und dementsprechend solche Einrichtungen „nicht isoliert, auf den Grad ihrer Übereinstimmung m i t einem abstrakten Gleichheitsgedanken abzuschätzen (sind), sondern i n ihrem Zusammenhang zum allgemeinen Stande der politischen und sozialen Entwicklung" 1 2 . Was die beiden deutschen K r i tiker der Verhältniswahl m i t dem späteren ersten Labour-Premierminister verband, war das Festhalten an einem mehr organischen, personalen Demokratieverständnis i m Gegensatz zu einem eher mechanistischen, die Struktur des Willensbildungsprozesses i n den Vordergrund stellenden, eine Auffassung, die Macdonald nur als „Traum von Leuten" (erklären kann), die unter der Herrschaft von privilegierten Klassen lebten"; dahinter stehe die Anschauung, „daß der Staat nur eine Großmutter (ist), die sich einmische, u m zurückzuhalten, und daß die Massen, wenn sie nur erst das Stimmrecht hätten und frei entscheiden könnten, immer für ihre eigenen Interessen — das heißt für die Ideen dieser selben Politiker — stimmen würden" 1 3 . Die Betonung der Persönlichkeit i n der Demokratie verträgt sich nicht m i t der Auffassung vom Abgeordneten als Vollzugsinstrument eines i m Wahldiert durch vier drei ist, die Richtigkeit dieses, w i r können w o h l sagen mathematischen Wahlsystems anerkennen muß." „Proportionalgesetzgebung", NZ, 16. Jg. (1897/98), 2. Bd., S. 179/180. 10 „Das Proportional-Wahlsystem", S. 422. 11 „Das demokratische Prinzip u n d seine Anwendung", S. 19. Vgl. dagegen die 1899 erschienene Schrift „Die Voraussetzungen des Sozialismus u n d die Aufgaben der Sozialdemokratie", w o Demokratie definiert w i r d als „ M i t t e l u n d Zweck zugleich. Sie ist das M i t t e l der Erkämpfung des Sozialismus u n d sie ist die F o r m der V e r w i r k l i c h u n g des Sozialismus". (Neudruck Reinbek 1969, S. 154). Vgl. auch Peter Gay, Das Dilemma des demokratischen Sozialismus, Nürnberg 1954, S. 199 ff. F ü r die Übergangsphase Bernsteins zum Revisionismus vgl. Steinberg, Sozialismus u n d deutsche Sozialdemokratie, S. 89 ff. 12 S. 20. 13 „Probleme der Demokratie i n England", S. 398.

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D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie

a k t festgestellten V o l k s w i l l e n s ; die „ p r a k t i z i e r b a r e T h e o r i e d e r D e m o k r a t i e " m i ß t d e m S t i m m z e t t e l n u r die sehr eingeschränkte W i r k u n g eines „ P r o n u n c i a m e n t o d e r Masse d a r ü b e r (zu), ob die Ergebnisse e i n e r gewissen gesetzgeberischen T ä t i g k e i t i h r e n B e i f a l l h a b e n oder n i c h t , u n d ob gewisse i n A u s s i c h t gestellte politische M a ß n a h m e n B e f ü r c h t u n g e n oder H o f f n u n g e n . . . e r w e c k e n " 1 4 . A u c h l e h n t B e r n s t e i n die d i r e k t e Gesetzgebung u n d das gebundene M a n d a t ab; i h n l e i t e t dabei allerdings nicht der Gesichtspunkt einer funktionierenden parl a m e n t a r i s c h e n Regierungsweise, s o n d e r n i m V o r d e r g r u n d s t e h t f ü r i h n bezeichnenderweise die Gesetzgebung d u r c h v o m V o l k b e n a n n t e P e r s ö n l i c h k e i t e n , d e r e n E i g e n s t ä n d i g k e i t gegenüber d e m S o u v e r ä n aus d e m P r i n z i p gesellschaftlicher A r b e i t s t e i l u n g eher ä u ß e r l i c h b e g r ü n d e t wird15. A d v o c a t u s g e h t ü b e r die bloße Z u r ü c k w e i s u n g jenes „ d o c t r i n ä r e n D e m o k r a t i e b e g r i f f e s " h i n a u s u n d w e i s t a u f die geistesgeschichtliche F u n d i e r u n g d e r V e r h ä l t n i s w a h l i m R a t i o n a l i s m u s u n d dessen Ü b e r z e u g u n g h i n , „ d u r c h e i n k l u g ersonnenes W a h l s y s t e m a l l e M ä n g e l des b i s h e r i g e n V e r f a h r e n s m i t e i n e m Schlage z u beseitigen u n d so a u f d e m G e b i e t der P o l i t i k d e r , e w i g e n V e r n u n f t 4 u n d der , e w i g e n G e r e c h t i g k e i t ' z u m Siege z u v e r h e l f e n " 1 6 . U n d i n A b w e h r gegen diesen scheinbar ausreichenden B e g r i f f der V e r n u n f t , d e r i n W i r k l i c h k e i t aber n u r d e n 14 Ebd., S. 400; ausführlicher u n d prägnanter behandelt Ramsey Macdonald diese Probleme i n dem i n Deutschland v o n Bernstein herausgegebenen Buch Sozialismus u n d Regierung, Jena 1912, i n dem der Unterschied zum Demokratieverständnis der deutschen Sozialdemokratie noch stärker hervorsticht. I m schneidenden Gegensatz zu der vielleicht nicht angestrebten, aber ideologisch vorgeschobenen u n d später i n der F o r m des Weimarer Wahlsystems auch partiell realisierten individualistischen Repräsentationstheorie i m Sinne Liebknechts stellt Macdonald lapidar fest: „Parlamentarische Vertretung ist die Frucht eifriger Ideenpropaganda, nicht etwa ein Recht, das f ü r die Idee einfach auf G r u n d ihres Daseins reklamiert werden kann. Das große A u f heben, das von der Minoritätenvertretung gemacht w i r d , ist meistens ein Popanz, von oberflächlichem Denken erzeugt (S. 74)." U n d sogar die m i t dem selbständigen Auftreten der Labour Party einsetzende Zerreißprobe des englischen Parteiensystems w i e auch die damit verbundene Herausforderung des Mehrheitswahlrechts können i h n nicht von seinem V o t u m gegen die Verhältniswahl abbringen. (Vgl. ebenda, S. 80 ff.) Die Wiederherstellung eines funktionierenden Zweiparteiensystems antizipierend, stellt er ganz i n der Tradition englischen verfassungspolitischen Denkens fest: „Demokratie bedeutet, daß m a n nicht n u r einen Vertreter, sondern eine Regierung zu w ä h len hat (S. 89)." Vgl. die ähnlichen Ausführungen etwa bei L . S. Amery, Thoughts on the Constitution, S. 15 ff. 15 Vgl. „Das demokratische Prinzip . . . " , S. 24; vgl. auch ders., Parlamentarismus u n d Sozialdemokratie, S. 35; ders., Die Voraussetzungen des Sozialismus u n d die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 167. Die angedeutete w e i t gehende Übereinstimmung m i t dem Demokratiebegriff Macdonalds (Vorwort zu Sozialismus u n d Regierung) bedeutet jedoch keineswegs, daß Bernstein auch das Modell des englischen parlamentarischen Systems übernommen hat. Vgl. unten Kap. D I V . 16 „Das Proportional-Wahlsystem", S. 415.

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Blick für andere Aspekte dieses Problems verstelle, fordert unser Autor, diese „Fragen, die, wie die vorliegende, aufs Engste m i t dem ganzen politischen und sozialen Leben zusammenhängen, nicht einzig und allein unter dem Gesichtspunkt eines abstrakten Gerechtigkeitsprinzips (zu) betrachten". Seine Philippika gegen die Verhältniswahl und ihre theoretische Begründung durch die Sozialdemokratie gipfelt i n dem vernichtenden Urteil: „Doctrinärer Radikalismus, schwächliche Opportunitätspolitik und bornierter Partei-Utilitarismus" 1 7 . Zur A b hilfe der auch von ihnen nicht geleugneten unterproportionalen Vertretung der Sozialdemokratie i m Reichstag wissen beide deutschen K r i t i k e r kein anderes Mittel, als die i m Erfurter Programm geforderte Neueinteilung der Wahlkreise 1 8 . Für Bernstein ist überdies zweifelhaft, ob die Einführung der Verhältniswahl wirklich die angestrebte Erhöhung der Zahl der Mandate bedeuten würde; während Max Kayser eine ähnliche Befürchtung 1878 m i t der sozialdemokratischen Praxis der Zählkandidaturen unter der Mehrheitswahl begründet hatte 1 9 , taucht bei Bernstein erstmalig der Gedanke der Interdependenz von Wahlsystem und Wählerverhalten auf. Er erwartet nicht nur bei Verhältniswahl m i t einer entsprechend stärkeren Betonung der Parteibindung der Kandidaten eine modifizierte Stimmabgabe durch den Wähler, sondern auch eine geringere Wahlbeteiligung durch die Erweiterung der Wahlgebietseinheit, so daß „ f ü r die Parteien . . . das zahlengerechte Wahlverfahren bis auf weiteres daher nur die Aussichten einer Lotterie (böte), (da) sie . . . (es) m i t einer noch unbekannten Größe zu t u n (hätten)" 2 0 . Es spricht für die undogmatische Behandlung des Problems der Verhältniswahl durch die beiden deutschen Autoren, daß beide es ausdrücklich unter dem Gesichtspunkt einer Einführung dieses Systems i m Deutschen Reich erörterten. Die Bedenken richteten sich also wesentlich gegen ein Proportionalwahlsystem i n einem Großstaat wie Deutschland m i t fast 50 Millionen Einwohnern. Stärker noch als Advocatus 21 betont Bernstein die Möglichkeit des Proporzes für Länder „ m i t sehr fortgeschrittenen politischen Einrichtungen und einer politisch gereiften Wählerschaft" und vor allem für „homogene und auf bestimmte Aufgaben beschränkte Wählerschaften", die er aber schon für die deutschen Kleinstaaten nicht mehr gelten lassen w i l l 2 2 . 17

Ebd., S. 416. Bernstein, „Das demokratische P r i n z i p . . . " , S. 23; Advocatus, „Das Proportionalwahlsystem u n d die deutschen Reichstagswahlen", S. 149. 19 Vgl. Kayser, S. 626. 20 Bernstein, „Das demokratische Prinzip", S. 24. 21 Vgl. S. 148. 22 Bernstein, „Das demokratische Prinzip", S. 23. 18

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Insgesamt widmet Bernstein diesem Problem — anders als offensichtlich Advocatus — kein besonderes Interesse, das Ergebnis seiner Ausführungen zeigt eine gewissermaßen ablehnende Indifferenz gegenüber dieser von i h m als zweitrangig angesehenen Frage 23 , was sich nicht zuletzt darin dokumentiert, daß er diesem Thema — soweit ersichtlich — nie wieder eine eigene Arbeit gewidmet hat. Auch später als Reichstagsabgeordneter der SPD und USPD hat Bernstein sich i n dieser Frage nicht der Parteidisziplin widersetzt und für die entsprechenden A n träge seinen Namen nicht verweigert. Eine echte Gegenposition gegenüber der K r i t i k an der Verhältnisw a h l nimmt nur der A r t i k e l von Bloch ein, nachdem Peter Braun mit seinem Beitrag erst die Gegenstimmen auf den Plan gerufen hatte. Während letzterer i n seiner Begründung und mehr noch i n der mathematischen Erläuterung seines Wahlsystems durchaus den Hinweis Advocatus' auf die rationalistische Wurzel der Bewegung für die Verhältniswahl rechtfertigt, erörtert Bloch ohne jenes dabei so häufige Eiferertum das Problem. Seine Verteidigung dieses Wahlsystems unterscheidet sich von den meisten zeitgenössischen und eben auch von den meisten sozialdemokratischen Autoren durch seine Betonung der Zweitrangigkeit der behandelten Frage 24 . Sie erlaubt es ihm, Advocatus' Vorwurf, ein abstraktes Gerechtigkeitsprinzip zum alleinigen Beurteilungskriterium des Wahlsystems zu machen, geschickt zu unterlaufen, obwohl er i n der Substanz die Argumentation anderer, doktrinärerer Anhänger der Verhältniswahl höchstens modifiziert 2 5 . So wie für Bebel ist auch für Bloch eine Zersplitterung der politischen Parteien durch die Betonung eines individualistischen Repräsentationsbegriffs kein m i t der Einführung der Verhältniswahl verbundenes Übel; seine A n t wort auf diesen Punkt der K r i t i k gleicht aber ebenso eher einer Beschwörung und zugleich Verniedlichung der von Bernstein und Advocatus aufgezeigten Tendenz der Verhältniswahl zur Zersplitterung des Parteiensystems als einer wirklichen Widerlegung dieser Bedenken 26 . 23

Ebd., S. 25. Vgl. Catilinia, S. 541. 25 „Freilich ein ,allein gerechtes' k a n n . . . (das Wahlverfahren) nicht w e r den, einzig aus dem selbstverständlichen Grunde, w e i l es eine absolute Gerechtigkeit überhaupt nicht gibt. A b e r u m diese handelt es sich auch gar nicht. »Gerecht 4 u n d ,richtig' sind eben sehr verschiedene Dinge, die man nicht so durcheinander werfen darf. Das Wahlverfahren ist u m so richtiger, je mehr es i m Stande ist seinen Zweck zu erfüllen. U n d der Zweck eines jeden Wahlverfahrens k a n n n u r der sein, eine Vertretung der Wähler zu schaffen. Die Wähler wählen aber ihre Vertreter, u m ihnen die Durchführung ihrer Interessen zu übertragen. Es ist also klar, daß jedes Interesse i n der gew ä h l t e n Körperschaft i n demselben Maße vorhanden sein muß, w i e i n der wählenden Menge." S. 543. 28 „Große Ideen sollen kleine unterjochen . . . durch die überzeugende K r a f t der Größe, die ihnen innewohnt, Sektiererei u n d Individualitätsdusel 24

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Wenn Bloch trotz seiner Außerachtlassung jedes institutionellen Gesichtspunktes die Diskussion über die Verhältniswahl auch später noch beeinflußt hat, so beruhte dies vor allem auf dem von i h m vorgeschlagegen System der Proportionalwahl 2 7 . Aber ebensowenig wie die grundsätzliche K r i t i k an der Verhältniswahl die Entscheidung der Partei für dieses Wahlrecht beeinflussen konnte, genauso wenig war die sozialdemokratische Option für die starre Liste als System der Verhältniswahl durch andere Vorschläge zu verhindern.

2. Die Durchsetzung der starren Liste als sozialdemokratisches System der Verhältniswahl

Wenn man von dem 1918 eingeführten System der Verhältniswahl ausgeht, könnte man zu dem Schluß kommen, daß die von Bebel 1878 vorgeschlagene Form der starren Liste die Haltung der Partei i n dieser Frage bereits frühzeitig präjudiziert hat und sie nur dort modifiziert worden ist, wo bei Bebel offensichtliche Unvereinbarkeiten m i t dem Prinzip der Volkssouveränität und dem der direkten Wahl bestanden. Diese Annahme läßt sich aber nicht aufrechterhalten. Nicht nur hat es nie einen Parteibeschluß gegeben, der über die allgemeine Statuierung der Verhältniswahl hinaus eine Festlegung auf ein spezielles System der Verhältniswahl beinhaltete (der Gothaer Parteitag von 1896 hätte vielleicht detailliertere Aufschlüsse gebracht), auch die erreichbaren sozialdemokratischen Äußerungen zu diesem Thema bieten lange Zeit die auch von anderen Befürwortern der Proportionalwahl bekannte Vielgestaltigkeit; und gerade dieser Mangel eines konkreten Systems der Verhältniswahl veranlaßte die beiden einflußreichsten Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie i n der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg, K a r l Kautsky und Eduard Bernstein, diesem Programmpunkt der Partei gegenüber eine gewisse Skepsis zu bewahren. Gerade an der Vielfalt möglicher Proportionalwahlsysteme w i r d deutlich, wie schwierig die scheinbar so plausible abstrakte Gerechtigkeitsforderung zu einem (nota bene der kleinen Individualitäten) soll nicht bestehen, w o die gewaltige Macht all umfassender Gedanken besteht. Das alles muß von selbst k o m men, durch den bloßen Wettstreit. Aber eine Vorbeugung durch ein absichtlich schlechtes u n d verwerfliches System, die ist schlimmer als jene Dinge zusammengenommen . . . Aber ganz abgesehen davon, daß eine solche V o r beugung der Parteizersplitterung prinzipiell zu verwerfen ist, ist sie t a t sächlich nicht einmal zu befürchten. Selbst w e n n alle A n t i - I m p f l e r , A n t i Vivisektionisten etc. sich zusammentun u n d auch glücklich ein bis zwei K a n didaten durchbringen sollten, was wäre weiter Schlimmes dabei? Sie verschwinden i n der Volksvertretung, w i e sie i m Volke selbst verschwinden . . . " S. 544 f. 27 Vgl. z. B. Etienne Buisson, „Die Einführung des Proportionalwahlrechts i n Frankreich", S. 1487. F ü r die Weimarer Republik vgl. unten Kap. E I I .

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wirklich befriedigenden Wahlverfahren zu konkretisieren ist 2 8 . Die Option für das „Prinzip" der Proportional wähl erinnert ein wenig 1 an die Katze i m Sack und kann wohl nur erklärt werden vor dem Hintergrund der starken Benachteiligung der Sozialdemokratie durch das geltende Wahlsystem 29 . Alle sozialdemokratischen Vorschläge eines konkreten Verhältniswahlsystems bieten Belege für die Einsicht i n die Notwendigkeit der politischen Organisationen, der Parteien also, für das moderne Repräsentativsystem. Das gilt selbstverständlich für die sich an Bebel anlehnenden Systeme, aber auch für jene, die bei aller grundsätzlichen Anerkennung dieser unvermeidlichen Entwicklung unter der Herrschaft des allgemeinen Wahlrechts dem einzelnen, sei es innerhalb oder außerhalb der Partei, die M i t w i r k u n g an der politischen Willensbildung ermöglichen wollen. Auch wenn i n der ideologischen Begründung der individualistische Repräsentationsbegriff nie ganz überwunden wurde, so stellte nach der Aufnahme der Proportionalwahl als Forderung ins Erfurter Programm das diesem am ehesten entsprechende Ssytem, das auf der übertragbaren Einzelstimmgebung Hares basierte, keine Alternative mehr für die Sozialdemokratie dar 3 0 . Ziel der meisten vorgeschlagenen Systeme war, wie Leder es 1913 ausdrückt, „die gemischte, gleichzeitig persönliche und Parteiwahl" 3 1 . Bezeichnenderweise sind sich daher sowohl die K r i t i k e r der Verhältniswahl als auch deren grundsätzliche Befürworter während der Diskussion i n den neunziger Jahren i n der Ablehnung des 1895 von Bebel bekräftigten Vorschlags von 1878 weitgehend einig. Während Bernstein, Parvus Helphand zitierend, befürchtet, daß dieses „ProportionalWahlsystem, während es auf der einen Seite die Zersplitterung der Parteien, die Parteiung nach allen möglichen sektiererischen Liebhabereien begünstigt, auf der anderen geschlossene, wohldisziplinierte, ja hyperdisziplinierte Parteien voraussetzt" 32 , ist für Macdonald dieses Wahlsystem schlicht eine „sehr 28 Wie w e n i g gerade der Protagonist der Verhältniswahl i n der Sozialdemokratie, W. Liebknecht, sich der vielfältigen Gesichtspunkte der Ausarbeitung eines neuen Wahlsystems bewußt w a r , zeigt, daß sich f ü r i h n die möglichen Schwierigkeiten auf „eine Frage des guten Willens" reduzieren. „Proportionalgesetzgebung", S. 181. 29 Wie schwer es selbst einem Anhänger der Verhältniswahl fiel, deren „Wesen" zu konkretisieren, w i r d deutlich bei Z. Leder, S. 7. Ungeachtet dessen g i l t f ü r diesen A u t o r : „ W i r müssen das Prinzip der Proportionalwahl billigen u n d dann von diesem Prinzip ausgehend das gegebene Proporzsystem bewerten." Ebd., S. 59. 30 Selbst bei Liebknecht, der an der individualistischen Begründung der Verhältniswahl grundsätzlich festhält, scheinen 1898 die Parteilisten die Regel u n d die Einzelkandidaten die Ausnahme zu sein. Vgl. a.a.O., S. 180. 31 Leder, S. 8. 32 Bernstein, „Das demokratische Prinzip . . . " , S. 23; Advocatus erwartet, daß sich „keine Partei . . . den verheerenden W i r k u n g e n dieses Systems auf

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schlechte Demokratie" 3 3 . Ähnlich scharf äußern sich die Anhänger der Verhältniswahl, so zum Beispiel Peter Braun, der sich gegen dies die „Parteityrannei" begünstigende „Zerrbild eines Wahlrechts" verwahrt 3 4 . I m Gegensatz zu der „kleinen Wahlrechtsreform" des Reichstags 1918, bei der auf Initiative der Sozialdemokratie die starren Listen eingeführt wurden (vgl. unten Kap. D III), zeigt sich i n der publizistischen Erörterung dieses Systems eine deutliche Bevorzugung solcher Systeme, die den Einfluß der Parteiorganisationen auf zweifache Weise zu begrenzen suchten. Während Braun die „Stimmviehnatur des Herdenwählers" dadurch „abschleifen" 35 w i l l , daß er sein Listensystem durch Panaschieren und Kumulieren für jeden denkbaren Eingriff des Wählers durchlässig macht 3 6 , wählt Bloch wohl nicht zuletzt unter dem Einfluß der K r i t i k Advocatus' ein System, i n dem gewisse Elemente der herkömmlichen Form des Kampfes unter den verschiedenen Kandidaten u m einen Wahlkreis enthalten sind 3 7 : Die Wahlkreiseinteilung bleibt bestehen bzw. w i r d der Bevölkerungsfluktuation angepaßt; gewählt w i r d scheinbar wie bisher ein Kandidat i m Wahlkreis, dessen Stimmen jedoch m i t denen aller anderen Kandidaten dieser Partei zusammengezählt und so die dieser zustehende Zahl der Mandate ermittelt wird, wobei als Abgeordnete die Kandidaten m i t den höchsten i m Wahlkreis errungenen Stimmen i n den Reichstag einziehen 38 . Die Frage der starren Liste blieb i n der SPD umstritten, ebenso aber das von Liebknecht und Bebel herausgestellte Berechnungsprinzip der Verhältniswahl, daß nämlich das gesamte Wahlgebiet einen einzigen Wahlkreis bilden sollte. Nicht nur die K r i t i k e r der Verhältniswahl die Dauer entziehen (könnte), das ihren Führern eine solche Allmacht i n die Hände legt". „Das Proportionalwahlsystem u n d die deutschen Reichstagswahlen", S. 144. 33 Probleme der englischen Demokratie, S. 364; vgl. auch sein Buch Sozialismus u n d Regierung, S. 84, w o er den ,Caucus' den „angreifbarsten T e i l unseres Systems der Regierung durch Parteien" nennt. Damit antizipiert er theoretisch den Emanzipationsprozeß der L a b o u r - F r a k t i o n von der Parteiorganisation, w i e er bei R. T. McKenzie, Politische Parteien i n England, K ö l n u n d Opladen 1961, beschrieben ist. 34 Braun, S. 333; ähnlich Bloch, S. 548; u n d Leder, S. 12. 35 a.a.O., S. 335. 36 Ebd., S. 337. Auch Vitalis, S. 28 f. sieht die freie Liste vor. 37 A u f die platt rationalistische Erläuterung Brauns, das neue Wahlverfahren kenne „weder eigentliche Siege, noch eigentliche Niederlagen, statt dessen einfach Abstimmungen u n d Verteilung nach streng mathematischer Regel", (ebd., S. 335) hatte Advocatus gerade den Charakter der P o l i t i k m i t „ K a m p f " u n d „ K o m p r o m i ß " gekennzeichnet (der i h n auch das System der Stichwahlen positiv beurteilen ließ). Vgl. Das Proportionalwahlsystem u n d die deutschen Reichstagswahlen, S. 143 f. 38 Vgl. S. 546 ff.

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wiesen dabei auf die politischen Auswirkungen wie auch auf die technischen Schwierigkeiten hin, auch bei den grundsätzlichen Befürwortern sind Bedenken zu finden, die ihren Niederschlag i n der Ausgestaltung einiger Wahlgesetze gefunden haben. Schon Kautsky äußerte die Befürchtung der Parteienzersplitterung bei einem solchen Wahlsystem 30 ; als technisch kaum zu handhaben muß es dort erscheinen, wo es i m Verein m i t einer extensiven individuellen Freiheit des Wählers durch die Möglichkeit des Panaschierens und Kumulierens zu einer ungebührlichen Erschwerung bei der Auszählung der Stimmen und Verteilung der Mandate kommt. Selbst Braun ist deshalb bereit, die absolute Zahlengerechtigkeit zugunsten der „Anforderungen der lebendigen Wirklichkeit" einzuschränken, indem er die Aufteilung des Reichsgebiets i n 5 - 8-Mann-Wahlkreise vorschlägt 40 . Die Verhältniswahlverfahren, die die Sozialdemokraten i n den folgenden Jahren als Gesetzentwurf i n vielen Vertretungskörperschaften eingebracht haben, sind dementsprechend unterschiedlich gestaltet; sie reichen von der Übernahme des Systems Victor Considérants 41 über die Verbindung von 2 5-Mann-Wahlkreisen m i t starrer Liste 4 2 bis zu ebensolcher Wahlkreisgröße, aber m i t freien Listen 4 3 . Obwohl auch i n den folgenden Jahren i n sozialdemokratischen Zeitschriften immer noch wieder A r t i k e l erschienen, i n denen das individualistische Repräsentationsprinzip verteidigt und das vorgeschlagene Verhältniswahlverfahren entsprechend konstruiert wurde 4 4 , behielt schließlich das System der starren Liste, gemildert durch die Aufteilung i n Wahlkreise, die Oberhand. Deutlich kann man an diesem Prozeß eine inhaltliche Wandlung des m i t der Verhältniswahl postulierten Gerechtigkeitsprinzips ablesen: die Verdrängung des anfangs stark die Entfaltungsmöglichkei-

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„Der E n t w u r f des neuen Parteiprogramms I V " , S. 818. a.a.O., S. 333 ff. 41 Vgl. die Rede Grillenbergers i m bayerischen Landtag am 25.10.1895, Verhandlungen der K a m m e r der Abgeordneten des bayerischen Landtags i m Jahre 1895/96, Stenographische Berichte V. Bd., S. 265. 42 Vgl. die Reden W i l h e l m Keils am 24.1.1906 bzw. 6. 2.1906, i n : Verhandlungen der Württembergischen K a m m e r der Abgeordneten auf dem 36. L a n d tag, 1904/06, Stuttgart, S. 3067 bzw. 3238. 43 Vgl. den sozialdemokratischen Wahlgesetzentwurf v o m 2.12.1901 i n der Badischen 2. Kammer, Nr. 8 der Beilagen zu den Verhandlungen der B a d i schen K a m m e r der Abgeordneten, 1901/02. Bei der Reform des Gemeindewahlrechts i n Baden w u r d e n aber auf I n i t i a t i v e der SPD die starren Listen eingeführt. Vgl. W i l h e l m Kolb, Die Tätigkeit der Sozialdemokratie i m badischen Landtage 1909/10, Mannheim 1910, S. 129. 44 Vgl. die sich an Bloch anlehnenden Vorschläge von August Kolb, „ W a h l reform oder Neueinteilung der Wahlkreise", i n : SM, 1. Bd. 1912, S. 474 ff., und A d o l f Thiele, „Verbesserung des Reichstagswahlrechts", i n : SM, 3. Bd. 1912, S. 1191 ff. Vgl. außerdem Leder, S. 57. 40

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ten auch des Individuums betonende Gerechtigkeitsvorstellung durch eine eher den bestehenden politischen Gruppierungen zugute kommende. Hatten ursprünglich die meisten sozialdemokratischen Anhänger der Verhältniswahl m i t Ausnahme Bebels an diesem Wahlsystem die Durchlässigkeit für neue Ideen gerühmt oder doch wenigstens die Unterdrückung von Splittergruppen durch ein Wahlverfahren abgelehnt 4 5 , so klingen die sozialdemokratischen Begründungen für die starre Liste einigermaßen erstaunlich. Für den bedeutendsten Kommunalpolitiker der Sozialdemokratie, Hugo Lindemann, besteht „das Bedürfnis nach unbeschränkter Freiheit des Wählerwillens viel mehr i n der Phantasie des spekulierenden Theoretikers als i n der Praxis" 4 6 . Freie Listen würden seiner Meinung nach zur Zersplitterung führen, während politischer Fortschritt nur durch die Herausbildung großer, bestorganisierter Parteien erzielt werden könne, die offensichtlich alle Wähler erfassen sollten: „Der Wille der Parteiangehörigen soll sich nicht bei der Wahl, sondern bei der Aufstellung der Kandidaten zur Geltung bringen. Damit er das aber t u n kann, ist die demokratische Organisation der Partei die erste Vorbedingung 4 7 ." M i t dieser Einschränkung — gewissermaßen als A l i b i —, die aber solange nicht durchschlagen kann, wie der Unterschied zwischen dem eine Partei wählenden Sympathisanten und dem Mitglied nicht aufgehoben ist— ganz abgesehen von der Problematik eines solchen „parlamentarischen" Systems — ruft er die Sozialdemokratie auf, „die Verfälschung des Proportionalwahlverfahrens durch das individualistische Wahngebilde von der Freiheit des Wählerwillens zu bekämpfen" 4 8 . Die Festlegung auf das System der starren Liste für das Wahlrecht der Weimarer Republik ist i m Grunde schon m i t der Reform des Reichstagswahlrechts kurz vor dem Ende des Bismarckreiches erfolgt, m i t dem die Verhältniswahl für einige großstädtische Wahlkreise eingeführt wurde. Entgegen dem Gesetzentwurf der Reichsregierung, der ein Wahlverfahren m i t beschränkt freien Listen (Panaschieren, aber kein Kumulieren) 4 9 vorsah, ist m i t den Stimmen der linksliberalen Mehrheit gegen Konservative und Zentrum die Einführung der starren 45

Vgl. Bloch, S. 544. Hugo Lindemann, „Versuche u n d Erfahrungen auf dem Gebiet der Proportionalwahl", i n : SM, 1. Bd. 1906, S. 231. Bezeichnend ist, daß Lindemann i n diesem Aufsatz gleichermaßen die Verhältniswahl i n den sozialen K ö r p e r schaften ebenso w i e f ü r die K o m m u n a l - , Landtags- u n d Reichstagswahlen behandelt u n d beurteilt. 47 Ebd., S. 232. Vgl. auch seinen Aufsatz „Die nächste Aufgabe der Partei, i n : SM, 3. Bd. 1917, S. 1119 ff. 48 „Versuche u n d Erfahrungen . . . " , S. 238. 49 Vgl. Verhandlungen des Reichstags, Bd. 323, Aktenstück Nr. 1288. 46

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Liste beschlossen worden 5 0 . Die USPD sah die Garantie, daß die Parteien dadurch nicht i n unerträglicher Weise zentralisiert und tyranisiert würden, i n der Aufteilung des Reichsgebiets i n Wahlkreise von fünf bis sechs Abgeordneten; zugleich erhoffte sie sich davon ein w i r kungsvolles M i t t e l gegen die befürchtete Parteienzersplitterung 51 . Bei der Mehrheitssozialdemokratie stand offensichtlich nicht die ebenfalls gegebene Begründung zu großer Kompliziertheit 5 2 der freien Liste i m Vordergrund, sondern — wie auch für die USPD — vielmehr die A b neigung gegen eventuelle Eingriffe des Wählers i n die i h m von der Partei präsentierte Kandidatenliste. Auswahlmöglichkeiten unter mehreren Kandidaten wurden nicht als legitime Eingriffe des souveränen Wählers bejaht, sondern galten schlicht als „häßliche Wahlumtriebe" 5 3 oder als Wiederaufleben der m i t Einführung der Verhältniswahl intendierten Abschaffung des „persönlichen Kampfes" 5 4 . Einwände der Gregner der starren Liste „widerlegte" Gradnauer m i t dem Hinweis auf befriedigende Erfahrungen m i t dieser Einrichtung bei den Gewerbegerichten 55 . Für die Sozialdemokratie existierte auch der Möglichkeit nach kein Bruch zwischen demokratisch fungierender Parteiorganisation und passiver Anhängerschaft; insofern entsprach es durchaus der subjektiven Uberzeugung, daß „von einer Knechtung des Wählers . . . bei gebundener Liste durchaus nicht die Rede" sein kann 5 6 . Deutlich w i r d aber hier die Neigung, Herausforderungen und Infragestellungen von außen i m Interesse der Partei bzw. der Sicherheit des die Partei verkörpernden Apparats zu bekämpfen; gerade auch die Verhältniswahl, die i m Namen der Demokratie gefordert und später auch verteidigt wurde, entpuppte 50 Vgl. K a r i n Schauff, Die Entwicklung zum Proportionalwahlrecht i n Deutschland, i n : Joh. Schauff, Neues Wahlrecht, S. 136. 51 Vgl. die Ausführungen des USPD-Vertreters i m Verfassungsausschuß, 1. Bericht des Verfassungsausschusses, Aktenstück Nr. 895, Bd. 321 der Sten. Ber. (Anlagen), S. 1668, u n d Herzfelds a m 8. 7.1918 i m Reichstag, ebd., Bd. 313, S. 5923. Ähnliche Vorschläge u n d Begründungen zur Verhältniswahl hatte Ledebour bereits a m 3.4.1911 i m Reichstag gemacht; Sten. Ber., Bd. 266, S. 6137. Die vorgeschlagene Aufgliederung des Wahlgebiets i n 5 - M a n n - W a h l kreise zur Verhinderung der „Koterien" der Parteileitung bei der Kandidatenaufstellung steht möglicherweise i m Zusammenhang m i t Ledebours Reorganisationsplänen des Parteivorstandes i n diesem Zeitraum. Vgl. Ursula Ratz, Georg Ledebour 1850—1947, Veröffentlichungen der historischen K o m mission zu B e r l i n Bd. 31, B e r l i n 1969, S. 135 ff. 52 Vgl. den 4. Bericht des Verfassungsausschusses. Aktenstück Nr. 1681, Sten. Ber. (Anlagen), Bd. 324, S. 2362. 63 Georg Gradnauer, „Die kleine Wahlrechtsreform", i n : NZ, 2 Bd., 36. Jg. 1918, S. 387. 54 Gradnauer i m Reichstag a m 8. 7.1918, Sten. Ber., Bd. 313, S. 593 f.; ähnlich bereits a m 12.3.1918. Bd. 311, S. 4327. 55 Reichstagssitzung v o m 8.7.1918, Sten. Ber. Bd. 313, S. 5935. 56 Landsberg i m Reichstag, ebd., S. 5914.

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sich hier als Vehikel einer potentiellen Entfremdung zwischen Partei und Wählerschaft, zwischen der beharrenden Verselbständigung einer bürokratischen Organisation gegenüber einer fast zwangsläufig lethargischen Wählerschaft, wie sie i n jener selbstgefälligen, ungewollt entlarvenden Äußerung Hugo Lindemanns über die Einführung starrer Listen schon frühzeitig anklingt, daß nämlich „die Absicht der Vorschlagenden . . . nicht gegen ihren Willen gefälscht werden" 5 7 dürfe. I I I . Sozialdemokratische Initiativen zur Einführung der Verhältniswahl Als die Verhältniswahl 1891 zum für die Sozialdemokratie verbindlichen Programmpunkt erhoben wurde, war dieses neue Wahlverfahren i n Deutschland noch relativ unbekannt. Eine „Probe m i t einem diesbezüglichen Gesetzentwurf" 1 , wie Bebel 1878 forderte, konnte nur dort Erfolg haben, wo die Sozialdemokratie bereits eine starke Stellung bzw. Mehrheit hatte, oder dort, wo andere Parteien durch das geltende Wahlrecht benachteiligt wurden. M i t der breiteren publizistischen Erörterung der Verhältniswahl lernten aber auch die konservativen Gegner, daß dieses Wahlrecht genauso wie es einer sozialdemokratischen Minderheit eine entsprechende Vertretung garantierte, auch jede andere Minderheit gegen eine drohende Majorisierung schützen konnte. Das führte dazu, daß entsprechende Anträge nicht zuerst von der Sozialdemokratie gestellt wurden, sondern nur zu oft von einer bürgerlichen Mehrheit, die sich an dieses Wahlverfahren als Schutz gegen eine drohende sozialdemokratische Mehrheit klammerte 2 . Man kann annehmen, daß die Ausbreitung der Verhältniswahl i m kaiserlichen Deutschland und später die Übernahme für alle Repräsentationsorgane i n der Weimarer Republik m i t Hilfe der anderen Parteien, abgesehen vom linken Flügel des Bürgertums 3 , weniger demokratischer 67 Lindemann, „Versuche u n d Erfahrungen . . . " , S. 238. Vgl. auch die Rede Keils i m Württembergischen Landtag am 24.1.1906, wo er am Verhältniswahlsystem die Eigenschaft preist, „wenigstens f ü r 2 k aller zu wählenden Abgeordneten i m voraus feste Sitze zu schaffen". Verhandlungen der W ü r t tembergischen K a m m e r der Abgeordneten auf dem 36. Landtag i n den Jahren 1904/06, Stuttgart, S. 3069. 1 „ Z u r Wahlreform-Frage", S. 511. 2 Vgl. Ziegler, S. 43, der besonders diese Motivation f ü r die Einführung der Verhältniswahl betont. 3 F ü r die Übernahme der Forderung nach Verhältniswahl durch die württembergische Volkspartei i m Bewußtsein möglicher Mandatseinbuße, vgl. Klaus Simon, Die württembergischen Demokraten (Veröffentlichungen der Kommission f ü r geschichtliche Landeskunde i n Baden-Württemberg, Reihe B, 52. Bd.) Stuttgart 1969, S. 61 ff. I n Unkenntnis dieser Forderung Joachim K n o l l , Führungsauslese i n Liberalismus u n d Demokratie, Stuttgart 1957, S. 69.

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D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie

Ideologie entsprang als vielmehr dem Parteiinteresse oder (wie i m Falle des Zentrums) der Anpassung an eine anscheinend nicht aufzuhaltende Entwicklung. Die Benutzung des Verhältniswahlsystems zur Sicherung gegen eine sozialdemokratische Mehrheit erlebte die Partei erstmals 1901, als der Reichstag gegen ihre Stimme die Einführung der fakultativen — also nur bei Bedarf gegen die Sozialdemokratie anzuwendenden — Verhältniswahl i n den Gewerbegerichten beschloß4. Obwohl die Partei sehr genau erkannte, daß hier die Proportionalwahl als Waffe gegen deren eigentlich demokratische Protagonisten benutzt wurde 5 , hielt sie diese Erfahrung nicht davon ab, wie i n allen anderen Repräsentativorganen auch i n den sozialpolitischen Körperschaften weiter für dieses Wahlsystem einzutreten 6 . Weitaus ärger war es jedoch für die Sozialdemokratie, wenn die Verhältniswahl i n Verbindung m i t Pluralwahlsystemen eingeführt wurde wie für die Hamburger Bürgerschaftswahlen 1906 und für die badischen Gemeindewahlen 19107. Die frühesten Vorstöße zur Verwirklichung ihrer Wahlrechtsforderungen unternahm die Partei, soweit erkennbar, i n den neunziger Jahren i n den Landtagen der süddeutschen Staaten. Grundsätzlich läßt sich zur sozialdemokratischen Taktik i n dieser Frage sagen, daß zwar die programmatischen Maximalforderungen aufgestellt wurden, die Partei aber i n jedem Fall bereit war, auch bei einer nur relativen Verbesserung des geltenden Wahlrechts ihre Stimmen i n die Waagschale zu werfen, wo dies ohne Aufgabe von Grundsatzpositionen möglich war. Bei diesen ersten Initiativen zur Einführung der Proportionalwahl zeigte sich, daß die Sozialdemokratie i n deren Befürwortung keineswegs immer allein stand. Da wo das geltende Wahlrecht m i t schwe4

Vgl. Prot. SPD 1901, S. 275. Vgl. Gustav Hoch, „ Z u r Frage der Proportionalwahl", i n : NZ, Bd. 20,2 (1902), S. 618; Lindemann, „Versuche u n d Erfahrungen . . . " , S. 229. 6 Vgl. Friedrich Kleeis, „ E i n f ü h r u n g der Verhältniswahl bei den sozialpolitischen Institutionen", i n : NZ, 1909, S. 519. N u r i n Ausnahmefällen führte dies zum Abrücken von der Verhältniswahl i n diesem Bereich, vgl. Ziegler, S. 33 f. Vgl. außerdem Paul Lange, „Kaufmannsgerichte u n d Verhältniswahl", i n : NZ, Jg. 1904/05, 2. Bd., S. 849—854; Friedrich Kleeis, „Das Verhältniswahlverfahren i n der Reichsversicherung", i n : SM, 2. Bd., 1913, S. 745—750; Hugo Lindemann, Arbeiterpolitik u n d Wirtschaftspflege i n der deutschen Städteverwaltung, 1. Bd., Stuttgart 1904, S. 304 ff., der sich f ü r die Einführung der Verhältniswahl i n Gemeinden besonders einsetzte. Vgl. außer seinem schon erwähnten Aufsatz auch „ Z u r K r i t i k der sozialdemokratischen K o m m u n a l programme", i n : SM, 1. Bd., 1902, S. 281 ff. 7 E i n ähnlicher Versuch 1907 f ü r das sächsische Landtagswahlrecht scheiterte am Widerstand der 2. Kammer. Vgl. dazu A d o l f Grabowsky, „Deutsche Wahlrechtsprobleme", i n : ZfP, 1 Bd., 1908, S. 132 ff.; Carl von Pelser-Berensberg, Die Verhältniswahl u n d i h r gegenwärtiger Bestand i n Deutschland, rechts- u n d staatswiss. Diss. Würzburg 1911, S. 26 ff. u n d 44 ff. 5

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ren Benachteiligungen für die Liberalen verbunden war, waren diese nur zu schnell bereit, die m i t dem Modell liberaler Repräsentation korrespondierende Mehrheitswahl zugunsten eines den augenblicklichen Interessen der Partei mehr entsprechenden Verhältniswahlsystems aufzugeben 8 . Der einzige Bundesstaat, i n dem vor dem Weltkrieg die Verhältniswahl auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts eingeführt wurde, war Württemberg, während die Sozialdemokratie i n Baden und Bayern ihre weitergehenden Ziele i m Interesse der Einführung des direkten Wahlrechts zurücksteckte 9 ; das Verhalten der Sozialdemokratie wurde bestimmt von dem „Nebeneinander radikaler Forderungen m i t der Bereitwilligkeit zum Verzicht" 1 0 . Das eingeführte Wahlsystem i n Württemberg m i t seiner Verbindung von absoluter Mehrheitswahl i n 70 Wahlkreisen und Proportionalwahl nach freien Listen i n Stuttgart (6 Abgeordnete) und zwei weiteren Landkreisen (9 und 8 Abgeordnete) stellte hingegen eine echte Reform i m Sinne der Sozialdemokratie 11 dar und gab das Vorbild ab für die 1918 durchgeführte kleine Reform des Reichstagswahlrechts. Den parlamentarischen Kampf u m die Verbesserung der Wahlrechte i n den Bundesstaaten führte die Sozialdemokratie auf zwei Ebenen, einmal direkt durch ihre Vertretung i n den Landtagen 12 , zum anderen durch Resolutionen und Gesetzesinitiativen der Reichstagsfraktion. Eindeutigen Vorrang genoß dabei aber auch wie i n den Fällen der drei süddeutschen Staaten die Erfüllung der demokratischen Mindestforderungen des Wahlrechts. Vor allem die Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts erschien der Sozialdemokratie beinahe als ein „Schlüssel, der m i t einem Schlage alle Türen aufschloß, alle Hindernisse beseitigte" 1 3 ; gemessen daran war die Frage, ob m i t dieser Reform 8 1895 wurde Grillenbergers A n t r a g auf Einführung der Verhältniswahl i n Bayern gegen die Stimmen der Sozialdemokraten u n d der Liberalen abgelehnt. Vgl. Reinhard Jansen, Georg von Vollmar, Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus u n d der politischen Parteien Bd. 13, Düsseldorf 1958, S. 66. I n Baden k a m es 1899 zur einstimmigen Forderung des Landtages auf Verhältniswahl, die jedoch an der Ablehnung von Regierung u n d 1. K a m m e r scheiterte. Vgl. Hannelore Schlemmer, Die Rolle der Sozialdemokratie i n den Landtagen Badens u n d Württembergs u n d i h r Einfluß auf die Entwicklung der Gesamtpartei 1890—1914, Phil. Diss. Freiburg, 1953, S. 32. 9 Vgl. Jansen, S. 69 f.; Schlemmer, S. 35. F ü r die Wahlrechtsfrage i n Baden u n d Bayern aus sozialdemokratischer Sicht vgl. die diversen A r t i k e l i n : Die neue Gesellschaft, Jge. 1905 u n d 1906. 10 Schlemmer, S. 33. 11 Vgl. W i l h e l m K e i l , Erlebnisse eines Sozialdemokraten, Stuttgart 1947, 1. Bd., S. 231 f.; Schlemmer, S. 56 ff. Vgl. auch Berthold Heymann, „Die V e r fassungsreform u n d die Neuwahlen i n Württemberg", i n : SM, 2. Bd. 1906, S. 1020 ff. 12 Vgl. z . B . den sozialdemokratischen A n t r a g auf allgemeines, gleiches, direktes, geheimes Verhältniswahlrecht i n Sachsen, Prot. SPD 1911, S. 36. 13 Patemann, S. 245.

u Misch

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D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie

auch die E i n f ü h r u n g d e r V e r h ä l t n i s w a h l v e r b u n d e n w o r d e n w ä r e , höchstens v o n z w e i t r a n g i g e r B e d e u t u n g . D e m e n t s p r e c h e n d s t a n d diese F o r d e r u n g i n der W a h l r e c h t s b e w e g u n g des J a h r e s 1907 f ü r die L a n d tage i m H i n t e r g r u n d 1 4 : D i e P a r t e i k o n z e n t r i e r t e sich ganz a u f die d e m o kratische M i n d e s t a u s g e s t a l t u n g des L a n d t a g s w a h l r e c h t s . W e n n diese B e w e g u n g i r g e n d e i n e n E r f o l g h a b e n sollte, w a r d i e S o z i a l d e m o k r a t i e a u f die U n t e r s t ü t z u n g a n d e r e r P a r t e i e n angewiesen, die d u r c h diese insgesamt, gegenüber d e m k o n k r e t e n N a h z i e l , z w e i t r a n g i g e F o r d e r u n g n i c h t zusätzlich e r s c h w e r t w e r d e n d u r f t e . D a ß diese Z u r ü c k h a l t u n g n i c h t e t w a aus Skepsis gegenüber d e r V e r h ä l t n i s w a h l g e ü b t w u r d e , zeigte sich i m H e r b s t 1918 1 5 . A m spätesten h a t die S o z i a l d e m o k r a t i e I n i t i a t i v e n f ü r d i e R e f o r m des W a h l r e c h t s i m S i n n e der V e r h ä l t n i s w a h l i m Reichstag e r g r i f f e n 1 8 . E i n d e u t i g i m V o r d e r g r u n d i h r e r R e f o r m b e m ü h u n g e n s t a n d bis ins erste J a h r z e h n t dieses J a h r h u n d e r t s eine N e u e i n t e i l u n g der Reichstagsw a h l k r e i s e . D i e 1891 i n t r u t z i g e n W o r t e n a n g e k ü n d i g t e feste A b s i c h t ,

14 Vgl. die „Berichte des Parteivorstandes" i n den Protokollen der Parteitage 1907 u. 1908. Offenbar entsprach es dieser T a k t i k , w e n n auch die späteren diesbezüglichen Anträge z. T. ohne die Forderung nach Verhältniswahl eingebracht wurden. Vgl. Sten. Ber., Bd. 298, Nr. 74 u n d Bd. 301, Nr. 898. Vgl. dagegen die w o h l u. a. aus agitatorischen Gründen eingebrachte Resolution zum Etat des Reichskanzlers 1908, i n der die Verhältniswahl auch f ü r die Bundesstaaten verlangt w u r d e (Bd. 245, Nr. 593). Ebenfalls aufgeführt findet sich die Verhältniswahl i n den Parteiresolutionen, die nicht von der Möglichkeit, eine Reichstagsmehrheit zu erhalten beeinflußt waren. Vgl. Prot. SPD 1910, S. 178; Wahlaufruf 1912, i n : Die Parteien, S. 259. 15 Vgl. die W a h l der Parlamente I, S. 246. Auch i n den Bundesstaaten gehörte die Verhältniswahl zu den ersten Forderungen, die i m November 1918 erhoben wurden. F ü r Hessen vgl. Carl Ulrich, Erinnerungen des ersten hessischen Staatspräsidenten, hrsg. von L u d w i g Bergsträsser, Offenbach 1953, S. 102; f ü r Württemberg vgl. K e i l , Bd. I I , S. 19 u n d E. Bernstein, Die Deutsche Revolution, 1. Bd., B e r l i n 1921, S. 61; f ü r Bayern, Franz Schade, Der Revolutionär K u r t Eisner u n d die bayerische Sozialdemokratie, Hannover 1961, S. 59; J. T i m m , „Der Landesparteitag der bayerischen Sozialdemokratie", i n : SM, 1. Halbbd. 1919, S. 111; W. Albrecht, Landtag u n d Regierung i n Bayern am Vorabend der Revolution von 1918, B e r l i n 1968, S. 318. I n einer Besprechung der Mehrheitsparteien des Reichstags u n d des preußischen A b geordnetenhauses am 7.11.1918 wurde die Einführung der Verhältniswahl in allen Bundesstaaten beschlossen. Vgl. Die Regierung des Prinzen M a x von Baden, bearbeitet von Erich Matthias u n d Rudolf Morsey (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus u n d der politischen Parteien, 1. Reihe, Bd. 2), Düsseldorf 1962, S. 573. I n dem entsprechenden sächsischen A u f r u f der Partei — zusammen m i t USPD u n d späteren K P - M i t g l i e d e r n — fehlt dagegen diese Forderung. Vgl. Bernstein, Die Deutsche Revolution, Bd. I , S. 57 f.; vgl. auch Ziegler, S. 42 f. 16 Die i m 2. T e i l des Erfurter Programms enthaltenen Gegenwartsforderungen w u r d e n keineswegs etwa aus agitatorischen Gründen ohne Berücksichtigung taktischer Gesichtspunkte als Gesetzesinitiativen i m Reichstag eingebracht. Vgl. die Ablehnung eines entsprechenden Antrags auf dem Parteitag 1894, Prot. SPD 1894, S. 98.

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das Verhältniswahlrecht bald durchzusetzen 17 , wurde erstmals m i t einem — unerledigt gebliebenen — Antrag unmittelbar nach den Reichstagswahlen von 1907 zu realisieren versucht 18 . Der Ausgang dieser sogenannten Hottentottenwahlen 1 9 , die für die Sozialdemokratie m i t einem geringen Rückgang des Stimmenanteils von knapp 3 % bei gleichzeitigem Gewinn von 250 000 Stimmen auf Grund der hohen Wahlbeteiligung (84,3% gegenüber 75,8% 1903) fast eine Halbierung der Mandate von 81 auf 43 brachten, löste bei den Gegnern Jubel, i n der Sozialdemokratie selbst aber Betroffenheit aus 20 , die trotz des betonten Hinweises auf die absoluten Stimmengewinne deutlich zu spüren war 2 1 . Zu stark wurde der Rückgang der Zahl der Mandate empfunden, die nur etwa 2/5 der bei gleichem Wahlergebnis unter Verhältniswahlrecht errungenen entsprach, als daß man noch die Hoffnung hatte, die offenkundige Benachteiligung durch das Reichstagswahlrecht m i t einer Neueinteilung der Wahlkreise beseitigen zu können 2 2 . Für das Ergebnis der Wahlen waren i n viel stärkerem Maße die Wahlbündnisse der Parteien des sogenannten Bülow-Blocks (Konservative und Liberale) ausschlaggebend, wodurch die Sozialdemokratie von den 90 Wahlkreisen, i n denen sie i n die Stichwahl gekommen war, nur 14 gewinnen konnte. Die von der SPD als Verrat empfundene Wahltaktik des Linksliberalismus 2 3 mußte der Partei endgültig suggerieren, daß sie unter dem geltenden Wahlrecht eine ihrer Stärke entsprechende Vertretung nicht erreichen konnte. Die Reichstagswahl von 1912 gab der Bewegung für die Einführung der Verhältniswahl neue Nahrung. Obwohl die Sozialdemokratie bei dieser Wahl zum ersten M a l auch die höchste Mandatszahl aller Parteien erzielte und, wie Blaustein ermittelt hat, bei relativer Mehrheitsw a h l sogar ohne Neueinteilung der Wahlkreise bereits eine überpro17 Vgl. „Konservative Einwendungen gegen das Proportionalwahlsystem", i n : Vorwärts v o m 1.8.1891. 18 Vgl. Sten. Ber. (Anlagen) Bd. 240, Nr. 122; vgl. auch Protokoll der F r a k tionssitzung v o m 25. 2.1907, i n : Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898—1918, T e i l 1, S. 178. 19 Z u r W a h l v o n 1907 vgl. George D. Crothers, The German Elections of 1907, New Y o r k 1941. 20 Z u r Diskussion u m die T a k t i k der Partei nach den Wahlen vgl. Schorske, 5. 63 ff. 21 Vgl. z. B. die A r t i k e l v o n Franz M e h r i n g i n der N Z v o m 30.1.1907, 6. 2.1907 u. 13.2.1907 (Gesammelte Schriften, Bd. 15, S. 219 ff.). 22 I n den ersten Kommentaren w a r dieser Faktor der ungleichen W a h l kreiseinteilung v o r allem Z i e l der sozialdemokratischen Angriffe. Vgl. V o r wärts v o m 29.1.1907 (Beilage) u. 3. 2.1907. 23 Vgl. Prot. SPD 1907, S. 35. Z u m Stichwahlverhalten der Linksliberalen vgl. E. Bernstein, „The German Elections and the Social Democrats", i n : The Contemporary Review, 1907, S. 579 ff.; S. 489 ff.

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D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie

p o r t i o n a l e Z a h l der Sitze e r r e i c h t h ä t t e 2 4 , sie a u ß e r d e m d u r c h das S t i c h w a h l a b k o m m e n m i t d e n L i n k s l i b e r a l e n die höchste E r f o l g s q u o t e b e i d e n S t i c h w a h l e n seit 1884 v e r b u c h e n k o n n t e , scheint gerade dieser S c h r i t t a u f d e m Wege z u r M e h r h e i t die S o z i a l d e m o k r a t i e i n i h r e r F o r d e r u n g nach e i n e m P r o p o r t i o n a l w a h l r e c h t n u r b e s t ä r k t z u h a b e n 2 6 . U n t e r s t ü t z u n g i n dieser F r a g e k o n n t e die S o z i a l d e m o k r a t i e nach dieser W a h l i n v e r s t ä r k t e m Maße v o n den beiden liberalen Parteien erwarten, d e r e n V e r t r e t u n g i m Reichstag z u n e h m e n d v o m A u s g a n g der S t i c h w a h l e n a b h i n g u n d d a m i t f ü r a l l e K a n d i d a t e n dieser P a r t e i e n e i n hohes M a ß a n U n g e w i ß h e i t m i t sich b r a c h t e 2 6 . Diese B e n a c h t e i l i g u n g d u r c h das Reichstagswahlrecht, die d e n L i b e r a l e n v o n d e n S o z i a l d e m o k r a t e n i m m e r wieder vorgerechnet w u r d e 2 7 , f ü h r t e zu einer lebhaften E r ö r t e r u n g u n d schließlich z i e m l i c h e i n h e l l i g e n B e f ü r w o r t u n g d e r V e r h ä l t n i s w a h l i n d e n l i b e r a l e n P a r t e i e n 2 8 . A l s die S o z i a l d e m o k r a t i e 1913 b e i m E t a t des Reichskanzlers eine R e s o l u t i o n z u r E i n f ü h r u n g der V e r h ä l t n i s w a h l einbrachte, w u r d e dieser A n t r a g n u r m i t der Z u f a l l s m e h r h e i t v o n 140 gegen 139 S t i m m e n a b g e l e h n t 2 9 .

24 Bei Proportionalwahl hätte die Sozialdemokratie 138, bei relativer M e h r heitswahl 144 Mandate bekommen (gleiches W a h lverhalten u n d gleiche W a h l t a k t i k der Parteien vorausgesetzt). Vgl. Die Parteien, S. 366. 25 Vgl. Vorwärts v o m 2.2.1912, i n dem die relative Mehrheitswahl nochmals ausdrücklich verworfen w i r d . Bereits i n der 6. Sitzung des neuen Reichstags wurde die Forderung nach Verhältniswahl von L u d w i g Frank erhoben, Sten. Ber., Bd. 293, S. 26. A m 11. Dezember 1912 w u r d e diese Frage dem V e r fassungsausschuß der Reichstagsfraktion zur „Vorberatung" überwiesen. Vgl. Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie, 1. Bd., S. 283. Ob hier n u r die Frage des Verfahrens der Verhältniswahl oder diese grundsätzlich erörtert wurde, geht aus dem Protokoll nicht hervor, w i e auch spätere H i n weise auf eventuelle Ergebnisse der Beratung fehlen. 26 Bei 1,5 bzw. 1,7 Millionen Stimmen i m ersten Wahlgang gewann die Fortschrittliche Volkspartei 0, die Nationalliberalen 4 Mandate. 27 Vgl. z.B. die Reden der sozialdemokratischen Abgeordneten Emmel am 24.3.1908, Sten. Ber., Bd. 231, S. 4297, F r a n k am 15.2.1912, ebd. Bd. 293, S. 26 u n d Gradnauer am 16.4.1913, ebd., Bd. 289, S. 4821. 28 Bereits 1890 gab es Erwägungen bei den Nationalliberalen, das Reichstagswahlrecht durch ein Verhältniswahlrecht zu ersetzen. Vgl. Walter Gagel, Die Wahlrechtsfrage i n der Geschichte der deutschen liberalen Parteien, Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus u n d der politischen Parteien, Bd. 12, Düsseldorf 1958, S. 129 ff.; Ziegler, S. 24 ff. Vgl. auch die Rede Stresemanns i m Reichstag am 23. 3.1917, wo er — da sich der Reichstag hauptsächlich m i t überlokalen Problemen (Außenpolitik, Wirtschaft, Soziales) befasse — die rhetorische Frage stellte „ob das System der Verhältniswahl nicht überhaupt i n ganz anderer Weise unserem politischen Leben der Gegenwart entspricht". Das Protokoll notiert „sehr richtig" bei den Nationalliberalen der Fortschrittlichen Volkspartei u n d der Sozialdemokratie. Sten. Ber., Bd. 309, S. 2854. 29 Vgl. ebd., Bd. 189, S. 4835. Von den Mitgliedern des Präsidiums stimmten die Mitglieder des Zentrums u n d der Konservativen dagegen, die der Sozialdemokratie u n d der F V P dafür.

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D i e F r a g e des Reichstagswahlrechts w u r d e erst w i e d e r a k t u e l l , als w ä h r e n d des W e l t k r i e g s i m Z u g e der a n g e s t r e b t e n N e u o r i e n t i e r u n g d e r i n n e r e n V e r h ä l t n i s s e eine w e i t g e h e n d e U m s t r u k t u r i e r u n g der V e r fassung a u f die T a g e s o r d n u n g k a m . I n d e m a m 30. M ä r z 1917 eingesetzten Verfassungsausschuß 3 0 des Reichstags k o n n t e n sich die b e i d e n s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n P a r t e i e n m i t i h r e n A n t r ä g e n a u f generelle E i n f ü h r u n g d e r V e r h ä l t n i s w a h l f ü r die W a h l z u m R e i c h s t a g 3 1 n i c h t d u r c h setzen 8 2 . A n g e n o m m e n — m i t d e n S t i m m e n der S P D — w u r d e e i n K o m p r o m i ß a n t r a g der F V P 3 3 , nach d e m i n d e n besonders b e v ö l k e r u n g s s t a r k e n W a h l r e i s e n u n t e r V e r m e h r u n g d e r M a n d a t e die V e r h ä l t n i s w a h l e i n g e f ü h r t w u r d e 3 4 . Dieses Gesetz gelangte n i e z u r A n w e n d u n g . 30 Z u r Konstituierung des Verfassungsausschusses vgl. Prot. SPD 1917, S. 123; Eugen Schiffer, Der Verfassungsausschuß und seine Arbeit, B e r l i n 1917, S. 3; Udo Bermbach, Vorformen parlamentarischer Kabinettsbildung i n Deutschland (Politische Forschungen Bd. 18), K ö l n u n d Opladen 1967, S. 52 f.; sowie A b r a h a m Joseph Berlau, The German Social Democratic Party 1914—1921, New Y o r k 1949, S. 116 ff. 31 Vgl. die Resolution der USPD, Sten. Ber. (Anlagen) Bd. 320, Nr. 690, u n d der SPD, Nr. 2 der Drucksachen des Verfassungsausschusses, ebenda, Bd. 321, Nr. 895. Vgl. auch Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie, Bd. I, S. 258. A m 5. J u l i wiederholte die SPD ihren A n t r a g auf generelle Verhältniswahl. Vgl. ebd., S. 265. 32 Die Einführung der generellen Verhältniswahl für die Reichstagswahlen scheiterte nicht an einer ablehnenden Reichstagsmehrheit, sondern an dem Widerstand des Bundesrates. Den sozialdemokratischen A n t r a g auf Verhältniswahl hatten die Konservativen i m Verfassungsausschuß durch Stimmenthaltung indirekt unterstützt, u m so die Ablehnung des gesamten Projekts durch den Bundesrat zu provozieren. Vgl. die Reden Landsbergs i m Reichstag am 8. 6.1918, Sten. Ber., Bd. 313, S. 5912 u n d Müllers (Meiningen), ebd., S. 5915. 33 Vgl. Nr. 12 der Drucksachen des Verfassungsausschusses, 1. Bericht des Verfassungsausschusses, Sten. Ber., Bd. 321, Nr. 895. 84 Reichsgesetzblatt 1918, S. 1079—1085. M i t diesem Gesetz wurden 80 der nunmehr auf 441 vermehrten Reichstagsmandate, d . h . i n 26 der insgesamt auf 387 verminderten Wahlkreise nach Verhältniswahl (System d'Hondt, starre Listen) gewählt. I n der Sozialdemokratie w a r dies Gesetz nicht u n u m stritten. Vgl. die Rede Hermann Müllers am 19. 4.1917. Prot, der Sitzung des erweiterten Parteiausschusses am 18. u n d 19. 4.1917 zu Berlin, B e r l i n o. J., S. 62. Vgl. die Sitzung der SPD-Fraktion v o m 4. 7.1917, 2. Bd., S. 265 f., auf der ein von Landsberg eingebrachter A n t r a g auf Stimmenthaltung m i t 37 gegen 26 Stimmen abgelehnt wurde. Vgl. den davon abweichenden Bericht bei David, der f ü r sich i n Anspruch n i m m t , diese Teilreform zuerst angeregt zu haben. Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard D a v i d 1914—1918. Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus u n d der politischen Parteien, 1. Reihe, Bd. 4, Düsseldorf 1966, S. 240 u n d 279 (Eintragungen v o m 4. 7.1917 u n d 8. 7.1918). Vgl. auch die Fraktionssitzung der SPD v o m 5. 7.1918, I I . Bd. S. 411. Die USPD lehnte zusammen m i t den Konservativen das Gesetz ab. Vgl. die Rede des USPD-Abgeordneten Herzfeld am 8. 7.1918, Sten. Ber., Bd. 313, S. 5921. Die Bedenken von USPD u n d Teilen der SPD richteten sich keineswegs etwa gegen die Verhältniswahl, sondern n u r gegen deren teilweise Einführung gerade i n jenen Wahlkreisen, i n denen andere bürgerliche Parteien starke von der Sozialdemokratie majorisierte Wählerpotentiale besaßen. Vgl. die

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D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie

M i t d e r p a r t i e l l e n R e f o r m des Reichstagswahlrechts gab sich die S o z i a l d e m o k r a t i e n i c h t z u f r i e d e n . E i n w ä n d e n , daß nach der gerade erst e r f o l g t e n V e r a b s c h i e d u n g des n e u e n Reichstagswahlrechts das W i e d e r a u f w e r f e n dieser F r a g e „ t a k t i s c h . . . u n m ö g l i c h " s e i 3 5 , s t a n d e n v o r a l l e m B e m ü h u n g e n O t t o L a n d s b e r g s a u f generelle E i n f ü h r u n g der V e r h ä l t n i s w a h l g e g e n ü b e r 3 6 . E i n entsprechender G e s e t z e n t w u r f w u r d e auch noch a m 8.11.1918 g e m e i n s a m v o n S P D , Z e n t r u m , F V P u n d N a t i o n a l l i b e r a l e n i m Reichstag eingebracht, k o n n t e aber n i c h t m e h r b e h a n d e l t werden37. A l s der R a t d e r V o l k s b e a u f t r a g t e n a m 12. N o v e m b e r i n s e i n e m ersten A u f r u f 3 8 f ü r „ a l l e W a h l e n z u ö f f e n t l i c h e n K ö r p e r s c h a f t e n " die E i n f ü h r u n g des „gleichen, geheimen, d i r e k t e n , a l l g e m e i n e n W a h l r e c h t s a u f G r u n d des p r o p o r t i o n a l e n W a h l s y s t e m s f ü r a l l e m i n d e s t e n s 20 J a h r e a l t e n m ä n n l i c h e n u n d w e i b l i c h e n P e r s o n e n " b e k a n n t g a b , w a r das n u r d e r logische A b s c h l u ß e i n e r E n t w i c k l u n g , i n d e r e n V e r l a u f die b ü r g e r l i c h e n P a r t e i e n die d u r c h die V e r h ä l t n i s w a h l g e w ä h r l e i s t e t e B e r ü c k Rede Landsbergs a m 8. 7.1918, Sten. Ber., Bd. 313, S. 5913. Ziegler, S. 48, hat errechnet, daß von den 80 nach d'Hondtschem System vergebenen Sitzen die Sozialdemokratie auf der Basis des Wahlergebnisses von 1912 ca. 50 Mandate errungen hätte, der Rest wäre etwa zu gleichen Teilen auf FVP, N L u n d Zentrum entfallen. V o n einem „Ausnahmegesetz gegen die Arbeiter", w o h i n Herzfeld sich verstieg, k a n n also k a u m die Rede sein. Sten. Ber., Bd. 313, S. 5921. Ä h n l i c h auch Fr. Mehring, „Eine Tragikomödie", Gesammelte Schriften, Bd. 15, S. 729. Entscheidend f ü r die Zustimmung der Sozialdemokratie zu diesem Gesetz w a r aber ihre Hoffnung, über den U m w e g der partiellen E i n f ü h r u n g der Verhältniswahl den Weg f ü r die generelle freizumachen. Vizekanzler Payer nannte das Gesetz eine „Probe auf die Durchführbarkeit der Verhältniswahl". Sten. Ber., Bd. 311, S. 4144. Daß aber selbst noch i m Sommer 1917 eine Neueinteilung der Wahlkreise ohne sofortige Einführung der V e r hältniswahl u. U. eine kurzfristig akzeptable Lösung f ü r die Sozialdemokratie dargestellt hätte, zeigt die Denkschrift des Partei- u n d Fraktionsvorstandes an Reichskanzler von Bethmann-Hollweg v o m 27.6.1917, abgedruckt bei P h i l i p p Scheidemann, Der Zusammenbruch, B e r l i n 1921, S. 166. 85 So K e i l auf der gemeinsamen Sitzung v o n F r a k t i o n u n d Parteiausschuß a m 23.9.1918, i n : Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie, 2. Bd., S. 449. 86 Ebd., S. 447; Fraktionssitzung a m 17.10.1918, ebd., S. 488; gemeinsame Sitzung der F r a k t i o n u n d des Parteiausschusses a m 6.11.1918, ebd., S. 512; Sitzungen des Interfraktionellen Ausschusses a m 5. u. 7.11.1918. Die Regier u n g des Prinzen M a x von Baden, S. 515 f. bzw. 571. Vgl. auch die Äußerungen Hochs i n den Fraktionssitzungen a m 15.10.1918, S. 474 u. 476, u n d am 16.10.1918, S. 480. 87 Vgl. Walther Schücking, Staatsrechtliche Reformbestrebungen u n d Reformen während der Kriegszeit, i n : Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I (Das öffentliche Recht der Gegenwart, Bd. 28), Tübingen 1930, S. 87—95; S. 94. Stresemann hatte am 7.11.1918 erklärt, daß i n seiner F r a k t i o n die Neigung zur generellen Einführung des Verhältniswahlsystems gewachsen sei. Die Regierung des Prinzen M a x von Baden, S. 571. 88 Reichsgesetzblatt 1918, S. 1303 f. Zuletzt abgedruckt i n : Die deutsche Revolution 1918—1919, hrsg. v o n G. A . Ritter u n d Susanne M i l l e r , F r a n k f u r t 1968, S. 96 f.

I V . Die Verhältniswahl u. die Frage der Demokratisierung des Reiches 167

sichtigung der Minderheiten schätzen gelernt hatten: „Die Verhältniswahl wurde der Schutz des Bürgertums i n einer aufgeregten Z e i t " 3 9 . U m dieses Wahlverfahren brauchten keine großen Debatten mehr geführt zu werden, die Verhältniswahl gehörte 1919 zu den am wenigsten umstrittenen Teilen der Weimarer Verfassung; Friedrich Naumann stand m i t seiner berühmten Warnung allein. I V . Das Verhältniswahlsystem im Rahmen der Forderung nach Demokratisierung und Parlamentarisierung des Kaiserreichs I n der politischen Neuorientierung seit 1917 nahm die Frage des Verhältniswahlsystems für die Sozialdemokratie einen nicht unwichtigen Stellenwert ein, denn ihre verfassungspolitischen Vorstellungen waren i n viel stärkerem Maße auf die Demokratisierung des Wahlrechts (vor allem allerdings i n Preußen) als auf die spezifischen Gestaltungselemente der parlamentarischen Demokratie fixiert 1 . I n der theoretischen Diskussion über das Problem der Parlamentarisierung 2 hat die Frage des Wahlsystems jedoch fast überhaupt keine Rolle gespielt. Man dürfte kaum fehlgehen, hierin ein Indiz für die unumstrittene Gültigkeit dieser Forderung — zumindest i n ihrer taktischen Begründung — zu sehen, zugleich aber auch für die — nicht nur i n der Sozialdemokratie — mangelhaft entwickelte Fähigkeit, die institutionellen Probleme parlamentarischer Regierungsweise zu analysieren. Daß sich für die meisten Sozialdemokraten m i t dem Begriff des demokratischen Parlamentarismus nur ein Wahlsystem verbinden ließ, das den empirischen Volkswillen i n der Zusammensetzung des Parlaments widerspiegelte, fügt sich an ihr Verständnis der Demokratie als System von Willensübertragungen, i n dem den Repräsentativorganen und der Regierung nur der Stellenwert von Derivaten des souveränen Volkswillens zugebilligt wurde, wo also — m i t den Worten Rudolf Breitscheids — die „Volksvertretung" nur als „ein Ausschuß des Volkes der Staatsexekutive die Richtung gibt" 3 . Für das Verständnis der verfassungspolitischen Vorstellungen der Sozialdemokratie bedeutsam ist die i n der Partei weitverbreitete strikte 39

K . Braunias, Das parlamentarische Wahlrecht; 2. Bd., S. 203. Vgl. die Ausführungen Eberts i n der Fraktionssitzung a m 10. 7.1917, Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie, I I . Bd., S. 295. F ü r Landsberg w a r die „Lösung der Wahlrechtsfrage i n Reich u n d Einzelstaaten" die „wichtigste politische Frage". Prot. SPD 1917, S. 141. 2 Vgl. die gründliche Darstellung dieser Diskussion bei Dieter Grosser, V o m monarchischen Konstitutionalismus zur parlamentarischen Demokratie, Den Haag, 1970, S. 33 ff. u. 152 ff. 3 Rudolf Breitscheid, „Die Bedeutung des Parlaments", i n : NZ, 2. Bd. 1914, S. 160. 1

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D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie

A b l e h n u n g der englischen F o r m p a r l a m e n t a r i s c h e r R e g i e r u n g , die sich gemäß d e m M a ß s t a b d e r K r i t i k , d e m e i n e r r a d i k a l e n D e m o k r a t i e , auch a u f das englische Z w e i p a r t e i e n s y s t e m u n d d a m i t das r e l a t i v e M e h r h e i t s w a h l r e c h t bezog 4 . D e m g e g e n ü b e r müsse, w i e Heinrich Cunow, der Herausgeber d e r „ N e u e n Z e i t " , e r k l ä r t e , das Z i e l der S o z i a l d e m o k r a t i e l a u t e n , „ d e n g r ö ß t e n E i n f l u ß der Volksmasse a u f die V o l k s v e r t r e t u n g , der V o l k s v e r t r e t u n g a u f die R e g i e r u n g " zu sichern 5 . Es gab S t i m m e n i n d e r P a r t e i , die diese r a d i k a l d e m o k r a t i s c h e n V o r stellungen nicht i n dem Maße betonten u n d ihre A u f m e r k s a m k e i t mehr d e m f ü r die H e r a u s b i l d u n g p a r l a m e n t a r i s c h e r V e r a n t w o r t u n g angemessenen P a r t e i e n s y s t e m z u w a n d t e n . So h a t t e B e r n s t e i n w o h l u n t e r d e m E i n f l u ß seiner E m i g r a t i o n s j ä h r e i n E n g l a n d schon 1903 „ d i e F o r m i e r u n g d e r p a r l a m e n t a r i s c h e n G r u p p e n i n z w e i L a g e r " als z u m „ W e s e n des P a r l a m e n t a r i s m u s " g e h ö r e n d e r k l ä r t , w ä h r e n d i h m e i n V i e l p a r t e i e n s y s t e m als Z e i c h e n d a f ü r erschien, „ d a ß der P a r l a m e n t a r i s m u s . . . e n t w e d e r noch n i c h t zu v o l l e r E n t f a l t u n g g e l a n g t oder schon n i c h t m e h r das m a c h t v o l l s t e O r g a n i s t " 6 . B e r n s t e i n h a t t e sich v o n der m a r x i s t i s c h e n V o r s t e l l u n g , nach der die P a r t e i n u r die politische O r 4 Vgl. J. Sachse, „Das englische Parteiensystem u n d die Arbeiterpartei", i n : NZ, 1. Bd. 1912, S. 161 ff.; K a r l Leuthner, „Der plebiszitäre Kabinettscäsarismus", i n : SM, 1. Bd. 1915, S. 386 ff. F ü r Sachse bedeutet das Nebeneinander u n d gegenseitige Abwechseln von Regierungs- u n d Oppositionspartei nur „komplizierten Humbug", m i t dem die „absolute Herrschaft der Vorderbänke" verschleiert werden solle. Als M i t t e l f ü r die Aufrechterhaltung dieses Machtkartells aus den führenden P o l i t i k e r n beider Parteien sieht er neben der durch die Whips herbeigeführten Fraktionsdisziplin u n d der kollektiven Verantwortung des Kabinetts u. a. auch die relative Mehrheitswähl, die das Auftreten eines dritten Kandidaten i n den meisten Fällen unmöglich mache (a.a.O., S. 387). Vgl. auch Grosser, S. 58 ff. u. 135 ff. Eine positive Einschätzung des englischen Regierungssystems findet sich außer bei Bernstein n u r noch bei Edmund Fischer, „ Z u r politischen Entwicklung Deutschlands", i n : SM, 4. Bd. 1908, S. 1637 ff. 5 Heinrich Cunow, „Volksherrschaft u n d parlamentarisches System", i n : NZ, 1. Bd. 1918, S. 169 ff.; S. 171. Daß Cunow auch explizit Befürworter der Verhältniswahl w a r , ergibt sich aus seinem Beitrag „Vorschläge zum neuen Parteiprogramm", i n : Das Programm der Sozialdemokratie, B e r l i n 1920, S. 39. 6 E. Bernstein, „ E i n Ausblick auf die bevorstehenden Reichstagswahlen", i n : SM, 1. Bd. 1903, S. 180 ff.; S. 186. Vgl. auch ders., Parlamentarismus und Sozialdemokratie, S. 58 ff. Ä h n l i c h w u r d e das Verhältnis von Parteiensystem u n d parlamentarischer Regierungsweise auch von den Linksliberalen gesehen. Vgl. die Rede Müllers - Meiningen a m 2.12.1908: „ M a n sagt, die Zersplitterung des deutschen Parlaments u n d seiner politischen Parteien sei die Ursache des Zurückbleibens unserer Verfassungsbestimmungen. Dies mag teilweise richtig sein, aber meine Herren, hier handelt es sich u m eine Wechselwirkung. W i r haben keine großen Parteien i m deutschen Parlament, w e i l dem Parlament das zur Einigung treibende Moment der Macht, w e i l i h m der Einfluß auf die Regierung fehlt." Sten. Ber., Bd. 255, S. 5908. Den Zusammenhang von Parteiensystem u n d Wahlrecht sprach i n der Debatte über die Daily-Telegraph-Affäre n u r Friedrich Naumann an, vgl. ebd., 5. 5945.

I V . Die Verhältniswahl u. die Frage der Demokratisierung des Reiches 169 g a n i s a t i o n der Klasse ist, gelöst u n d e r k a n n t e an, daß „ P a r t e i . . . i h r e m ganzen B e g r i f f u n d W e s e n nach etwas (ist), w a s w e i t e r r e i c h t als die K l a s s e " 7 . So b e g r ü ß t e er i m V e r e i n m i t a n d e r e n R e v i s i o n i s t e n die sich nach d e n Reichstags w ä h l e n 1912 abzeichnende M ö g l i c h k e i t e i n e r Z u s a m m e n a r b e i t m i t d e n l i b e r a l e n P a r t e i e n 8 . A b e r auch f ü r B e r n s t e i n , dessen 1916 skizziertes M o d e l l p l u r a l i s t i s c h e r u n d r e p r ä s e n t a t i v e r D e m o k r a t i e sich i n b e m e r k e n s w e r t e r Weise v o n d e n m e i s t e n a r t i k u l i e r t e n verfassungspolitischen V o r s t e l l u n g e n der S o z i a l d e m o k r a t i e a b h e b t 9 , g a l t das englische K a b i n e t t s s y s t e m „ n i c h t (als) das v o l l k o m m e n s t e S y s t e m p a r l a m e n t a r i s c h e r R e g i e r u n g u n d noch w e n i g e r (als) . . . das l e t z t e W o r t d e m o k r a t i s c h e r S e l b s t r e g i e r u n g " 1 0 ; auch f ü r i h n d e f i n i e r t e sich parlamentarisches S y s t e m n i c h t d u r c h eine v o m P a r l a m e n t begrenzte u n d k o n t r o l l i e r t e F ü h r u n g der R e g i e r u n g , s o n d e r n dadurch, daß die „ R e g i e r u n g der Vollziehungsausschuß der V o l k s v e r t r e t u n g " i s t 1 1 . Ä h n l i c h lassen sich die a n d e r e n A u t o r e n , die das r e p r ä s e n t a t i v e E l e m e n t der p a r l a m e n t a r i s c h e n D e m o k r a t i e b e t o n t e n , keineswegs a u f das englische M o d e l l f e s t l e g e n 1 2 . B e i i h n e n a l l e n f i n d e t sich k e i n e r l e i

7 „Parteien u n d Klassen", i n : SM, 2. Bd. 1902, S. 853; vgl. seine Charakterisierung der englischen Parteien: „ W e i l die großen Parteien i n dem Bewußtsein leben, jederzeit an die Regierung kommen zu können, modifiziert sich bei ihnen der Partei- u n d Klassengeist zu einem Streben nach nationaler Universalität", Parlamentarismus u n d Sozialdemokratie, S. 20. 8 Eduard Bernstein, „Bedeutung u n d Aufgaben des Sieges", i n : SM, 1. Bd. 1912, S. 144; ders., „Regierung u n d Sozialisten", i n : SM, 2. Bd. 1913, S. 838 ff. Die Aussichten einer solchen Zweiergruppierung w u r d e n f ü r i h n aber durch den Fortbestand großer Mittelparteien entscheidend gemindert. Vgl. „ V o m Parlament u n d v o m Parlamentarismus", i n : SM, 2 Bd. 1912, S. 653. Vgl. auch L u d w i g Quessel, „Sozialdemokratie u n d Monarchie", i n : SM, 1. Bd. 1912, S. 272 ff.; K a r l Leuthner, „Der Zwang zum Positiven", i n : SM, 3. Bd. 1911, S. 1156 ff.; M a x Schippel, „Die Reichstagswahlen", i n : SM, 1. Bd. 1912, S. 75 ff. Das U r t e i l Grossers, S. 59, daß „überhaupt nicht diskutiert" wurde, „ob i n absehbarer Zeit ein Parteiensystem möglich w a r , das die parlamentarische Regierung tragen konnte" ist somit i n dieser Schärfe nicht aufrechtzuerhalten. 9 E. Bernstein, „Demokratie", i n : NZ, 2. Bd. 1916, S. 291 ff. 10 Ders., „Politische Unabhängigkeit u n d politische UnVerantwortlichkeit", i n : SM, 1. Bd. 1914, S. 542. 11 „Sozialdemokratische Abstimmungen", i n : SM, 1. Bd. 1907, S. 271. 12 Vgl. L u d w i g Quessel, „Führer u n d Masse", i n : SM, 2. Bd. 1910, S. 1407 ff. F ü r Quessel folgt allerdings die „ F ü h r u n g " der parlamentarischen Vertreter aus ihrer Eigenschaft als „Fachmann" (siehe S. 1411). Obwohl Quessel die F u n k t i o n der W a h l unter den Bedingungen eines parlamentarischen Regierungssystems (Wahl der „Partei, von deren Vertrauensmänner er (der Wähler) regiert werden w i l l " ) von der unter dem Konstitutionalismus scharf abhebt, erblickt er das K r i t e r i u m parlamentarischer Regierung darin, daß „hier . . . das M i n i s t e r i u m lediglich ein Vollzugsorgan des souveränen Parlamentswillens (ist), das von dem parlamentarischen Körper nicht abgetrennt werden kann, das kein selbständiges Leben zu führen imstande ist". („Die ministerielle Abstinenz der Sozialdemokratie u n d ihre Folgen f ü r die Demokratie", i n : SM, 2. Bd. 1913, S. 901 f.) Auch Heinrich Peus sieht i m englischen Kabinettssystem nicht die F o r m der von i h m angestrebten parlamentarischen

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D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie

Hinweis auf Fragen des Wahlrechts; auch Bernstein, dessen grundsätzliche Befürwortung des Mehrheitswahlrechts man auch noch für diesen Zeitraum vermuten darf, griff dieses Problem auch dann — jedenfalls publizistisch — nicht wieder auf, als i m letzten Kriegsjahr die endgültige Einführung der Verhältniswahl i n den Bereich des Möglichen rückte 1 3 . Bei zwei i n der Endphase des Weltkrieges einflußreichen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, Eduard David und Otto Landsberg, hat die Frage des Wahlsystems i n ihrer Konzeption der Neuordnung der innenpolitischen Verhältnisse einen wichtigen Rang eingenommen. Da sich beide von den i n der Partei vielfach vertretenen radikaldemokratischen Auffassungen deutlich unterschieden 14 , sind sie ein Beleg dafür, daß auch dort, wo taktische Gesichtspunkte i n der Frage des Wahlrechts eine wichtige oder dominierende Rolle spielten, ein kritisches Neubedenken der Option für die Verhältniswahl nicht erfolgte; sowohl David als auch Landsberg sind i n der Weimarer Republik als Verteidiger dieses Wahlsystems aufgetreten. Auch wenn die i n der Anfangsphase überwiegende radikaldemokratische Begründung der Verhältniswahl hier überwunden ist, scheinen die m i t i h r verbundenen Gerechtigkeitsvorstellungen auch noch i n den eher taktisch motivierten Erwägungen hindurch. Landsberg, der ebenso wie David den Wert des parlamentarischen Regierungssystems darin erblickte, daß sich die Regierung aus der Parlamentsmehrheit konstituiert 1 5 , war bei der Debatte Regierung (vgl. „Die Demokratie auf dem Marsch", i n SM, 1. Bd. 1917, S. 279 ff.; S. 281), obwohl gerade er die Führungsfunktion des Repräsentanten betont (vgl. „Freiheit u n d Disziplin", i n SM, 3. Bd. 1912, S. 1305) u n d die F u n k t i o n des Parlaments über die bloß negative A b w a h l der Regierung hinaus i n der Pflicht zur Verantwortung f ü r die Einsetzung einer neuen Regierung sieht. (Vgl. „ K l a r h e i t u n d Wahrheit", i n : SM, 3. Bd. 1917, S. 976). Verantwortung u n d damit begrenzte F ü h r u n g erkennt Peus offensichtlich n u r dem Parlament zu. Auch f ü r i h n stellt sich allerdings — damit diesen Begriff wieder abschwächend — die Verantwortung der Volksvertretung n u r als i n tellektuelle Beratung des durch sie tatsächlich zur Herrschaft kommenden Volkswillens dar (ebd., S. 974). Eine weitere Stufe der Verantwortung durch eine die Richtung bestimmende Regierung u n d damit auch weitere Entfernung v o m empirischen V o l k s w i l l e n lag anscheinend auch f ü r viele K r i t i k e r radikaldemokratischer Vorstellungen außerhalb des Möglichen. Später hat sich Peus allerdings klarer zu den Prinzipien verantwortlicher F ü h r u n g des Parlaments durch die Regierung bekannt. Vgl. Heinrich Peus, „Positive A r b e i t " , i n : SM, Jg. 1924, S. 20 ff. 13 Grosser, S. 143, vermutet als G r u n d f ü r die publizistische Abstinenz Bernsteins i n verfassungspolitischen Fragen, daß er h i e r i n i n der USPD „beinahe isoliert u n d zur Einflußlosigkeit v e r u r t e i l t " war. 14 Ebd., S. 153 ff. 15 Vgl. Prot. SPD 1917, S. 139. D a v i d pointierte diese Ansicht dahin, daß unter parlamentarischem Regierungssystem die Regierung i m Grunde direkt durch das V o l k eingesetzt werde. Ebd., S. 337. A n anderer Stelle kennzeichnete er das parlamentarische Regierungssystem als „ständige organische Fühlung" zwischen Parlament u n d Regierung. Sten. Ber., Bd. 309, S. 2909.

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i n der Fraktion über die partielle Einführung der Verhältniswahl i n den großstädtischen Wahlkreisen einer der schärfsten Gegner dieses Kompromisses; seine Verurteilung des Reichstagswahlrechts nach der Reform war nicht weniger scharf als zuvor 1 6 . Auch wenn er den taktischen Gesichtspunkt für die Einführung der Verhältniswahl, den Gew i n n der Mehrheit 1 7 , nicht verschwieg, so gründete sich doch diese Taktik auf jene Gerechtigkeitsvorstellung, die einen Ausschluß „irgendeiner i m Volke vohandenen beachtlichen politischen Strömung von der Vertretung i n den gesetzgebenden K ö r p e r n " 1 8 nicht zuließ. Landsberg dürfte i n der Frage der Verhältniswahl repräsentativ für einen großen Teil der Sozialdemokratie gewesen sein: man erhoffte sich von diesem Wahlsystem eine Vermehrung oder —wie er persönlich — sogar Mehrheit der Mandate, zu deren Legitimität eine entsprechende Mehrheit i m Volke als erforderlich galt. Der nicht zu belegenden Erwägung, daß gerade die mechanische Gerechtigkeit dieses Wahlsystems eine umfassendere Gerechtigkeit — die Installierung einer sozialdemokratischen Regierung — ausschließen könnte 1 9 , wäre wahrscheinlich schon deshalb kein besonderes Gewicht beigemessen worden, w e i l das taktische Konzept der Parteiführung sowieso zu einer Teilung der Verantwortung m i t den anderen Parteien des Interfraktionellen Ausschusses tendierte. 16 Vgl. seine Äußerungen i n der gemeinsamen Sitzung v o n F r a k t i o n u n d Parteiausschuß a m 23. 9.1918: „Das Reichstagswahlrecht . . . (ist) i n W i r k l i c h keit k e i n gleiches, sondern ein Plural-Wahlrecht." I n : Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie, 2. Bd., S. 447. 17 „Denn ohne das (Proportionalwahlrecht) bekommen w i r die Mehrheit nicht i m Reich. Sonst schalten w i r das Z e n t r u m nicht aus." Fraktionssitzung am 17.10.1918, ebd., S. 488. 18 Prot. SPD 1917, S. 140. Vgl. auch seine Betonung der demokratischen Komponente einer Reform des Reichstagswahlrechts auf der Fraktionssitzung a m 23.9.1918. Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie, 2. Bd., S. 446 f. 19 Anders dagegen i n der Frage des Frauenwahlrechts. Schon Bebel, auf dessen I n i t i a t i v e h i n diese Forderung einst i n das Gothaer Programm aufgenommen worden w a r , w a r sich der möglichen negativen A u s w i r k u n g e n auf die Sozialdemokratie i m Falle der E i n f ü h r u n g des Frauenwahlrechts w o h l bewußt. Vgl. Prot. SPD 1907, S. 313. Obwohl es auch zu den sozialdemokratischen Maximalforderungen i m Verfassungsausschuß gehörte, scheint die Partei hier nicht besonders gedrängt zu haben. Nachdem die F r a k t i o n am 15.10.1918 einen A n t r a g Gustav Hochs angenommen hatte, bei den kommenden Verfassungsänderungen auch die Verhältniswahl zu fordern, bedurfte es extra noch einer „Anregung" von Marie Juchacz, u m dabei auch das Frauenwahlrecht aufzunehmen. Vgl. Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie, 2. Bd., S. 474. Vgl. auch die Äußerung Davids i m I n t e r fraktionellen Ausschuß a m 8.11.1918: Da sich das Frauenwahlrecht i n erster L i n i e zugunsten des Zentrums auswirke, „haben w i r nicht so sehr dafür gekämpft". Die Regierung des Prinzen M a x v o n Baden, S. 607. N u r bei Landsberg w a r stets die Forderung nach Verhältniswahl m i t der nach dem Frauenwahlrecht verbunden. Dessen ungeachtet w u r d e es aber zusammen

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D. Die Verhältniswahl als Programmpunkt der Sozialdemokratie

A u c h f ü r E d u a r d D a v i d b e s t a n d a n d e m g r u n d s ä t z l i c h e n Z i e l der V e r h ä l t n i s w a h l k e i n Z w e i f e l . W e n n er sich besonders f ü r d e n K o m p r o m i ß i n der R e f o r m des Reichstagswahlrechts einsetzte, d a n n n i c h t n u r , w e i l d a m i t eine P r ä j u d i z i e r u n g der V e r h ä l t n i s w a h l v e r b u n d e n w a r , s o n d e r n v o r a l l e m auch deswegen, w e i l er sich m i t d e r V e r m e h r u n g der großstädtischen M a n d a t e eine S t ä r k u n g d e r f o r t s c h r i t t l i c h e n K r ä f t e insgesamt v e r s p r a c h 2 0 , e i n G e s i c h t s p u n k t , d e r auch v o n Wilhelm Keil u n d G e o r g G r a d n a u e r b e t o n t w u r d e 2 1 . Daß maßgebliche P o l i t i k e r der P a r t e i M i t t e l ersannen z u r S t ä r k u n g a n d e r e r P a r t e i e n , w i r f t e i n L i c h t a u f die E r w a r t u n g e n der S o z i a l d e m o k r a t i e , die absolute M e h r h e i t z u erreichen. U n d i n der T a t k o n n t e die P a r t e i b e i e i n e m S t i m m a n t e i l v o n k n a p p 35 °/o b e i d e n W a h l e n v o n 1912 k a u m hoffen, i n e i n e m S c h r i t t t r o t z der A u s w i r k u n g e n des K r i e g e s e i n e n so g e w a l t i g e n Z u w a c h s zu verzeichnen. A u c h w o n i c h t die absolute M e h r h e i t f ü r absehbare Z e i t ü b e r h a u p t ausgeschlossen w u r d e 2 2 , u m s c h r i e b m a n die A u s s i c h t e n der P a r t e i f ü r die nächsten W a h l e n recht vage m i t e i n e r „ s e h r b e d e u t e n d e n M a c h t " 2 3 . W o l l t e die P a r t e i i n Z u k u n f t die P o l i t i k des Reiches a k t i v m i t b e s t i m m e n , d a n n w a r sie a l l e r V o r a u s s i c h t nach a u f eine K o a l i t i o n a n g e w i e -

m i t der Verhältniswahl durch den A u f r u f der Volksbeauftragten ohne t a k tische Verzögerung proklamiert. Daß aber auch Landsberg nicht frei von solchen Befürchtungen war, zeigen spätere Äußerungen. Vgl. Landsberg, Der Rat der Volksbeauftragten, S. 208. Dieser P u n k t w u r d e n u r zurückhaltend erörtert. Vgl. z. B. Heinrich Peus, „Der deutsche Sozialismus nach der Wahl", i n : SM, 1. Halbband 1920, S. 489ff.; S. 489. Vgl. auch die wahlsoziologische Untersuchung zum Wahlverhalten der Frauen von M a x Schneider, „Die deutsche Wählerin", i n : Die Gesellschaft, 2. Halbband 1927, S. 364 ff., sowie Georg Decker, „Nachwort", ebenda, S. 370 ff. Diese Nachteile konnten aber, wie einer der sozialdemokratischen Wahlrechtsexperten der Nationalversammlung schrieb — „die sozialdemokratische Regierung nicht bestimmen, der Hälfte des Volkes ein Recht vorzuenthalten, f ü r das sich die Partei seit fast einem Menschenalter erklärt hatte". Simon Katzenstein, „Wahlbetrachtungen", i n : SM, 1. Bd. 1919, S. 106. 20 „Entscheidend f ü r mich ist dabei die Vermehrung der städtischen M a n date f ü r den Reichstag, das ist eine Schlüsselforderung; gelingt es uns, das durchzusetzen, dann w i r d i m Reichstag eine noch geschlossenere Mehrheit der L i n k e n erscheinen, die dann die Dinge weiter durchsetzt, die w i r verlangen müssen." Prot, der Sitzung des Parteiausschusses am 26. 6.1917, o. O., o. J., S. 18. Vgl. auch seine Tagebucheintragung v o m 21.3.1917: „Gespräch m i t Payer. Vermehrung der städtischen Mandate. Sicherung einer l i n k e n Mehrheit." Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard D a v i d 1914 bis 1918, S. 223. 21 Vgl. die Fraktionssitzung v o m 22.2.1918. Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie, Bd. 2, S. 380; Georg Gradnauer, „Die kleine Wahlrechtsreform", i n : NZ, 2. Bd. 1918, S. 389. 22 So Edmund Fischer, „Sozialdemokratie u n d Regierungsgewalt", i n : SM, Bd. 1912. S. 277. 23 Scheidemann auf dem Parteitag 1917, Sonderdruck seiner Rede „Die nächsten Aufgaben der Partei", B e r l i n 1917, S. 6.

I V . Die Verhältniswahl u. die Frage der Demokratisierung des Reiches 173

sen, so daß sie ein Interesse daran haben mußte, die Partei des städtischen linksliberalen Bürgertums, die FVP, und den gleichfalls überwiegend i n den städtischen Gebieten verankerten linken Flügel des Zentrums zu stärken. Aber über diese durchaus rationalen Erwägungen hinaus weist das Festhalten an der Verhältniswahl zugleich darauf hin, daß die Sozialdemokratie insgesamt keineswegs jene unbeirrt den Weg zur Macht zurücklegende Partei war; vielen habe i m Gegenteil die Möglichkeit, „durch irgendeinen weltpolitischen Zufall plötzlich zur politischen Macht (zu) kommen" „Alpdrücken" verursacht, gestand Scheidemann ein 2 4 . So wurde die Koalition nicht nur wegen der fehlenden Mehrheit zur Notwendigkeit, sie kam auch dem Gefühl eigener Unsicherheit entgegen: Die Verhältniswahl wurde das geeigente Mittel, eine der Sozialdemokratie nicht unangenehme Kontinuität zu sichern. Als sie sich offiziell für die Verhältniswahl entschied, war die Sozialdemokratie keine Splitterpartei mehr, auch wenn ihre Anhänger i n vielen Wahlkreisen noch eine chancenlose Diasprora bildeten; die 1891 i m Vordergrund stehende individualistische Begründung war für die Partei selbst bereits von den realen Wahlziffern überholt. Daß aber m i t der Zurückdrängung dieser Anschauung, die der Wirklichkeit einer durchorganisierten Massenpartei kaum noch entsprechen konnte, keine Diskussion der Wahlrechtvorstellungen verbunden war, läßt sich zwar zum großen Teil durch die tatsächliche Ungerechtigkeit des geltenden Wahlsystems erklären, darf aber wohl darüber hinaus auch als ein A n zeichen für das Weiterwirken des sozialdemokratischen Selbstverständnisses als diskriminierte Gruppe inmitten einer nach wie vor feindlichen Mehrheit der Gesellschaft gelten 2 5 ; die Begründung der Verhältniswahl m i t dem Schutz der Minoritäten vor unerträglicher Majorisierung traf nicht mehr die reale Situation der Sozialdemokratie, wohl aber deren tradierte Mentalität 2 6 .

24

Ebd., S. 7. F ü r solche Überlegungen ohne Gespür, Ziegler, S. 54 f., der die sozialdemokratische Option f ü r die Verhältniswahl damit erklären zu können glaubt, daß die Partei die erhaltenen relativen Mehrheiten nicht an Hand der Statistik ausgezählt habe. 28 Z u r Abgrenzung des Begriffs der Mentalität von dem der Ideologie vgl. Erich Matthias, Sozialdemokratie u n d Nation, Stuttgart 1952, S. 83 u. 303 f. 25

E. Die Sozialdemokratie und das Wahlsystem in der Weimarer Republik L Verhältniswahl und parlamentarische Demokratie in der klassengespaltenen Gesellschaft 1. Die Entwicklung des sozialdemokratischen Demokratieverständnisses v o n der ,Diktatur des Proletariats' zum »Gleichgewicht der Klassenkräfte'

Eine für die reformistische Praxis der Sozialdemokratie bedeutsame K r i t i k an der marxistischen Parteiideologie übte Eduard Bernstein bei seiner Abkehr von der Orthodoxie nicht nur an dem herrschenden ökonomischen Determinismus, sondern auch an dem marxistischen Verständnis des Staates. I n deutlicher Distanzierung zu früher selbst vertretenen Auffassungen sah er jetzt i n der Demokratie „ M i t t e l und Zweck zugleich" 1 , und die bisher behauptete sozial eindeutige Zuordnung der Herrschaft verschob sich bei i h m zu einem Demokratiebegriff, der „prinzipiell die Aufhebung der Klassenhersschaft, wenn . . . auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen" 2 beinhaltet. Die Forderung nach einem zahlengerechten Wahlverfahren und die damit implizierte Garantie des Minoritätenschutzes entlarvte für i h n das vom orthodoxen Marxismus vertretene Nahziel, die Diktatur des Proletariats, als bloße „Phrase" 3 . Bernsteins Verurteilung der Klassendiktatur als eines „politischen Atavismus", der „einer tieferen K u l t u r " 4 angehöre, zugleich aber auch seine Etikettierung des von M a r x geschilderten Aufbaus des ersten Staatswesens „neuen Typs", der Pariser Kommune (nach Engels* bekanntem Hinweis die Form der Diktatur des Proletariats 5 ), als „Liberalismus" 6 , ist nur ein Beleg dafür, wie der Begriff der proletarischen 1 Die Voraussetzungen des Sozialismus u n d die Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 154. 2 Ebd., S. 155. Vgl. dazu auch Pierre Angel, Eduard Bernstein et r é v o l u t i o n d u socialisme allemand, Paris 1961, S. 241 ff. 3 Voraussetzungen, S. 156. 4 Ebd., S. 157. 6 Engels Einleitung zu M a r x ' „Bürgerkrieg i n Frankreich" i n der Ausgabe von 1891, MEW, Bd. 22, S. 199. 6 Voraussetzungen, S. 166.

I . Verhältniswahl u n d Parlamentarismus i n der Klassengesellschaft

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Diktatur zwischen »notwendiger* Unterdrückung und extensiver Demokratie oszillierte. U n d die Polemik nach der Oktoberrevolution zwischen den Bolschewiki 7 und K a r l Kautsky 8 als dem bedeutendsten Theoretiker der Zweiten Internationale resultierte nicht nur aus einer grundverschiedenen politischen Taktik, sondern beruhte auch auf z. T. mißverständlichen und gegensätzlichen Äußerungen von M a r x und Engels zu dieser Frage, aus denen sich durchaus verschiedene Handlungsanleitungen belegen ließen. Eingang i n die deutsche Sozialdemokratie fand der Begriff der Diktatur des Proletariats erstmals durch Marx* scharfe Abgrenzung von dem auf dem Gothaer Parteitag 1875 verabschiedeten Programm, insbesondere einem der zentralen Vorstellungskreise der Sozialdemokratie, dem freien Volksstaat (hier als freier Staat bezeichnet). Schroff setzte Marx der etwas unklaren Vorstellung einer harmonischen Demokratie die klar zu unterscheidenden Schritte auf dem Weg zu seinem Endziel der klassenlosen Gesellschaft entgegen: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen i n die andere. Der entspricht auch eine politische Ubergangsperiode, deren Staat nichts andres ein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats 9 ." Das Kernstück der marxistischen Staatsauffassung, wonach der Staat nur das politische Repressionsinstrument der ökonomisch herrschenden Klasse ist 1 0 , läßt auch die Demokratie vor allem nach ihrem sozialen Inhalt betrachten, „wechselt" diese doch „ m i t dem jedesmaligen Demos" 11 . So bedeutet die Setzung der revolutionären Diktatur gegen den freien Volksstaat nicht zugleich die der Minderheitsherrschaft gegen eine auf dem Prinzip der Volkssouvernäität basierende Mehrheitsherrschaft, sondern nur die offengelegte Zuordnung von politischer Gewalt und sozialer Basis; Zielpunkt der K r i t i k ist „die vulgäre Demokratie, die i n der demokratischen Republik das Tausendjährige Reich sieht und 7 Vgl. u. a. W. J. Lenin, Staat u n d Revolution, Ausgewählte Werke, Bd. I I , B e r l i n (Ost), 1966, S. 315 ff.; ders., Die proletarische Revolution u n d der Renegat Kautsky, Bd. I I I , S. 69 ff.; K a r l Radek, Proletarische D i k t a t u r u. Terrorismus, B e r l i n 1919; Leo Trotzki, Terrorismus u. Kommunismus, H a m burg 1920. 8 Vgl. K a r l Kautsky, Die D i k t a t u r des Proletariats, W i e n 1918; ders., Demokratie oder D i k t a t u r , 2. Aufl., B e r l i n 1919; ders., V o n der Demokratie zur Staatssklaverei, B e r l i n 1921. 9 K r i t i k des Gothaer Programms, MEW, Bd. 19, S. 28. Bis zur Veröffentlichung nach Ende des Sozialistengesetzes w a r die i n F o r m eines Z i r k u l a r briefes an die Führer der SDAP geäußerte K r i t i k allerdings über diesen Kreis hinaus nicht i n der Partei bekanntgeworden. Vgl. dazu Miller, S. 73 ff. 10 Vgl. Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie des Privateigentums u n d des Staats, M E W , Bd. 21, S. 166 f. 11 Engels an Bernstein a m 24.3.1884, M E W , Bd. 36, S. 128.

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E. Die SPD u n d das Wahlsystem i n der Weimarer Republik

keine Ahnung davon hat, daß gerade i n dieser letzten Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft der Klassenkampf definitiv auszufechten ist" 1 2 , nicht dagegen die Demokratie als prinzipielle Mehrheitsherrschaft, gilt doch die Prämisse von der Emanzipationsbewegung des Vierten Standes als „Bewegung der ungeheuren Mehrzahl i m Interesse der ungeheuren Mehrzahl" 1 3 . Wie die Herrschaft des Proletariats als revolutionäre Diktatur die Demokratie nicht ausschließt, ja i n diesem besonderen Sinne geradezu erfordert, so erklärt sich auch, wie Engels die demokratische Republik einmal als „letzte Form der Bourgeoisherrschaft" 14 , bei anderer Gelegenheit jedoch als die „spezifische Form für die Diktatur des Proletariats" 1 5 bezeichnen konnte. I n der Periode der Revolution von 1848 hätte sich die proletarische Diktatur nur i n einem eher virtuellen Sinne auf die Mehrheit der Bevölkerung berufen können, deren vorausgesetzte Zustimmung weniger auf aktiver Unterstützung als geschichtsphilosophischer Spekulation der Verfasser des Kommunistischen Manifests beruhte; so orientierte sich die Taktik der proletarischen Revolution i n starkem Maße an derjenigen kleiner Minoritäten i n der Phase der bürgerlichen Revolution, die vor dem Hintergrund einer sich weitgehend inaktiv verhaltenen Mehrheit ablief. Die deutsche Arbeiterbewegung blieb von dieser blanquistischen Phase 16 des Marxismus fast unberührt, die Ablehnung der an diese Tradition anknüpfenden leninistischen Parteidoktrin reichte bis i n den linken Flügel der Partei. Was blieb, auch nach der Entscheidung für die legale Taktik seit Engels' Einleitung zu Marx' „Klassenkämpfe i n Frankreich" von 1895, war die Überzeugung, daß die sozialistische Transformation der Gesellschaft nur nach der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat möglich sei 17 . Die günstigsten Voraussetzungen für die Inbesitznahme der Staatsmacht boten — i n viel stärkerem Maße noch als i n der Mitte des Jahrhunderts — bürgerliche Verfassungen auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts, der Bedingung für die Herausbildung einer selbständigen Massenpartei des Proletariats; insofern konnten sich demokratisches Bürgertum und Arbeiterschaft für einen bestimmten, begrenzten Zeitraum i n gemeinsamer A k t i o n zur Realisierung der von beiden geforderten verfassungs12

M a r x , K r i t i k des Gothaer Programms, MEW, Bd. 19, S. 29. Kommunistisches Manifest, MEW, Bd. 4, S. 473. 14 Brief an Bernstein v o m 24. 3.1884, MEW, Bd. 36, S. 128. 15 Z u r K r i t i k des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, MEW, Bd. 22, S. 235. 16 Vgl. dazu B e r t r a m D. Wolfe, M a r x u n d die Marxisten, B e r l i n 1965, S. 147 ff. 17 Vgl. Stanley Moore, Z u r Theorie politischer T a k t i k des Marxismus, Frankfurt/M. 1969, S. 62. 13

I. Verhältniswahl u n d Parlamentarismus i n der Klassengesellschaft

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politischen Reformen zusammenfinden. Die idyllische Vorstellung des freien Volksstaates endete allerdings i n den dann durch keine militärbürokratische Staatsmacht mehr unterdrückten Klassenkämpfen. Der Demokratie als Verfassungsform konnte i n diesem Verständnis keine eigenständige Bedeutung zukommen, maßgeblich allein war der soziale Inhalt, der auch den demokratischen Staat zu einem Klassenstaat machte. Nicht nur durch die politische Gleichheit aller Staatsbürger, sondern auch durch die Herrschaft der mächtigsten Klasse über alle anderen definiert sich diese Demokratie, ein Zustand, dem soziologisch nur der Begriff der Diktatur angemessen ist, „die nicht durch bloße Gewalt . . . herrscht, sondern die über die Gewalt herrscht, der der Apparat der Gewalt unterworfen ist zufolge ihrer Stellung als herrschenden Klasse i m gesellschaftlichen Produktionsprozeß" 18 . Zwar war es auch für Marx und Engels möglich, daß „ausnahmsweise . . . Perioden vor(kommen), wo die kämpfenden Klassen einander . . . nahe das Gleichgewicht halten" 1 9 , grundsätzlich aber ist i n jedem Staat die ökonomische Basis der Herrschaft sozial zu lokalisieren. Bei dem Wechsel der Herrschaft von der Bourgeoisie zum Proletariat stand den Begründern des Marxismus wohl immer das dialektische, abrupte Umschlagen i n eine neue Qualität vor Augen; die über den Weg des Mitbestimmens erreichte quantitative Veränderung des Bestehenden entspricht nicht dieser sprunghaften Entwicklung, und auch dort, wo die Partei durch die Beachtung der Gesetzlichkeit „pralle Muskeln und rote Backen" bekommt, stände zwischen einer sozialdemokratischen Mehrheit i m Parlament und der Diktatur des Proletariats immer noch der endgültige Entscheidungskampf, auch wenn dieser nicht mehr von der revolutionären Klasse selbst, sondern von den herrschenden Klassen gegen diese ausgelöst würde 2 0 . Die von Marx geschilderte spezifische Struktur dieses Ubergangsstaats entspricht nicht herkömmlicher Auffassung von Diktatur 2 1 , sondern jener „proletarischen Demokratie, die i n Wahrheit das ist, was 18 A r k a d i j Gurland, Produktionsweise — Staat — Klassendiktatur, Phil. Diss., Leipzig 1929, S. 79. 19 Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums u n d des Staats, MEW, Bd. 21, S. 167. Vgl. auch M a r x ' Charakterisierung der nach der Februarrevolution ins A m t gekommenen Regierung „als Kompromiß der v e r schiedenen Klassen, die gemeinsam den J u l i t h r o n umgestürzt (haben), deren Interessen sich aber feindlich gegenüberstanden". (Die Klassenkämpfe i n Frankreich, MEW, Bd. 7, S. 16.) 20 Engels, Einleitung zu M a r x ' „Klassenkämpfe i n Frankreich", Bd. 22, S. 525. 21 Z u r Diskussion dieses Begriffs bei M a r x vgl. Wolfe, S. 160 ff.

12 M i s c h

MEW,

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die bürgerliche Demokratie lediglich zu sein vorgibt" 2 2 . U n d i n der Tat mangelt es der Kommuneverfassung nicht an radikaldemokratischen Elementen, von denen es keine Verbindung zu einem Parlamentarismus liberaler Prägung gibt. Gemäß der Maxime, daß „nichts dem Geist der Kommune fremder sein (konnte), als das allgemeine Stimmrecht durch hierarchische Investitur zu ersetzen" 23 , w i r d durch mehrstufige Delegation eine jederzeit revozierbare zentrale Körperschaft beschickt, die „nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende . . . sein (sollte), vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit" 2 4 . Der von jeder bürgerlichen Demokratie unterschiedene Charakter dieses Staates ergibt sich auch aus dem Fehlen der Parteien als der politischen Interessenverbände auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft 25 , Demokratie fällt hier nicht mehr zusammen m i t Konkurrenz verschiedener Gruppierungen, sondern definiert sich „wesentlich (als) eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfes der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse" 2 6 . Die proletarische Diktatur kennt keine rechtsstaatlich-liberalen Kautelen, ihre Richtung bestimmt die volonté générale der Produzenten, begrenzt nur durch die extreme Dezentralisierung des Landes. Diese Demokratie ist eine aller mildernden Beisätze entkleidete Form der Mehrheitsherrschaft, die sich gerade durch die radikalen Eingriffe i n die Produktionsverhältnisse definiert, und insofern widerspricht dieser Demokratiebegriff nicht dem diktatorischen Willen einer Klasse, die die große Mehrheit der Bevölkerung bildet. Wohl gilt das allgemeine Wahlrecht, und nirgends findet sich ein Hinweis bei Marx, daß dieses Recht etwa an soziale Kriterien gebunden sein sollte wie später nach der Oktoberrevolution i n Rußland, dabei aber von einer Berücksichtigung der Minderheit zu sprechen muß sich verbieten, wendet sich doch gerade die Stoßrichtung dieser Volksherrschaft gegen die ausbeuterische Minorität; die unbegrenzte Demokratie ist damit zugleich die Quelle der proletarischen Diktatur. Dies Konzept einer Herrschaft, i n der — unter Bewahrung beider Elemente — radikale Demokratie und Klassendiktatur i n eine Form 22 John Plamenatz, German M a r x i s m and Russian Communism, London New Y o r k - Toronto 1954, S. 159. 23 M a r x , Der Bürgerkrieg i n Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 340. 24 Ebd., S. 339. 25 Vgl. dazu Laurent Tschudi, Kritische Grundlegung der Idee der direkten Rätedemokratie i m Marxismus. Staatswiss. Diss., Basel 1952, S. 70. Zugrunde liegt dieser A r b e i t die Annahme einer weitgehenden theoretischen K o n t i n u i t ä t zwischen M a r x u n d den russischen Bolschewiki, so daß die i m engeren Sinne „marxistischen" Elemente nicht i m m e r eindeutig von späteren M o d i fikationen getrennt werden. Vgl. z. B. S. 57. 28 a.a.O., S. 342.

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zu gießen versucht wurde, hat unter den späteren marxistischen Theoretikern vor allem Rosa Luxemburg aufgenommen 27 . Die schon i n der Theorie prekäre Einheit von Demokratie und Diktatur zerbrach i n dem Moment, als sich i m Gefolge des ersten Weltkriegs Umstürze vollzogen, i n deren Verlauf sich jeweils die eine Seite jenes Begriffs von der anderen löste und für einen Staat konstitutiv wurde: i n Rußland die Klassendiktatur, die immer stärker zur unverhüllten Diktatur des Parteiapparats wurde, i n westeuropäischen Ländern wie Deutschland und Österreich, die Demokratie, die aber die Entwicklung von der bürgerlichen zur sozialen Demokratie nicht vollziehen konnte. I n Abwehr gegen jenen depravierten Sozialismus, aber auch unter dem Druck, die nur m i t halbem Herzen begrüßte Demokratie bald schon gegen ihre Feinde verteidigen zu müssen, vollzog sich i n der sozialdemokratischen Analyse von Staat und Demokratie eine bedeutsame Verschiebung, die schließlich zu einer Neubewertung der bestehenden parlamentarischen Demokratie führte. Während bei Otto Bauer und Rudolf Hilferding die Wirklichkeit der demokratischen Republik und die gegenüber der Vorkriegszeit grundsätzlich veränderte Haltung der Sozialdemokratie ihr gegenüber den Ausgangspunkt bildeten, stand für K a r l Kautsky die Auseinandersetzung m i t der russischen Spielart des Marxismus i m Vordergrund. Charakteristisch für Kautsky ist die Veränderung des Inhalts unter weitgehender Beibehaltung der traditionellen Begriffe; dem Selbstverständnis nach vollzog er keine Revision des Marxismus, sondern nur die Verteidigung der reinen Lehre, deren äußerliche Kontinuität aber nur unter ständiger Gefahr einer Sinnentlehrung gewahrt bleiben konnte. A m Ende steht bei Kautsky nicht nur — i n Abgrenzung gegen den bolschewistischen Diktaturbegriff — die Herauslösung jedes spezifisch diktatorischen Mittels aus dieser Diktatur, auch die m i t ihr grundsätzlich identische Demokratie hat eine theoretische Transformation von einer die jakobinische Tradition nicht verleugnenden zu einer stärker die liberal-pluralistischen Elemente betonenden Form durchgemacht. Immer hat Kautsky betont, daß m i t der Staatsform der Demokratie keineswegs schon eine Überwindung der Klassengegensätze verbunden sei, sondern nur eine gegenüber früheren Staatsformen 27 „Es (das Proletariat) soll u n d muß eben sofort sozialistische Maßnahmen i n energischster, unnachgiebigster, rücksichtslosester Weise i n A n g r i f f nehmen, also D i k t a t u r ausüben, aber D i k t a t u r der Klasse, nicht einer Partei oder einer Clique, D i k t a t u r der Klasse, d . h . i n breitester Öffentlichkeit, unter tätigster ungehemmter Teilnahme der Volksmassen, i n unbeschränkter Demokratie." Die russische Revolution, hrsg. von Ossip K . Flechtheim, F r a n k furt/M. 1963, S. 77. Vgl. auch die Einleitung Paul Levis zu dieser zuerst von i h m 1922 herausgegebenen Broschüre, abgedruckt i n : Paul Levi, Zwischen Spartakus u n d Sozialdemokratie, F r a n k f u r t / W i e n 1969, S. 98 ff.

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andere A r t ihrer Austragung 2 8 ; während er jedoch 1899 noch unter klarer Trennung beider Begriffe die „Klassendiktatur" als eventuell notwendige Maßnahme zur Emanzipation des Proletariats von den „demokratischen Formen" proletarischer Klassenherrschaft abhebt 29 , w i r d der Begriff der Diktatur 1918 jedes konkreten Inhalts dadurch beraubt, daß die „Diktatur als Regierungsform", gleichbedeutend mit der Entrechtung der Opposition, i m Namen der „Diktatur als Zustand", die alle demokratischen Freiheiten und Schutz der Minoritäten gewährleiste, verworfen w i r d 3 0 . I n dieser Form der Demokratie w i r d die Herrschaft der jeweiligen Klassen mediatisiert durch die i n Wirklichkeit regierenden Parteien, die nicht mit den Klassen zusammenzufallen brauchen 31 . Eine solche Demokratie schließt die Alleinherrschaft einer Klasse begrifflich aus — „eine Verfassung, die ausdrücklich die Herrschaft einer bestimmten Klasse festlegt, ist stets eine Aristokratie" 3 2 —, Charakteristikum dieses pluralistischen Parteienstaates, i n dem die Sozialdemokratie nur als eine Gruppe neben anderen Gruppen steht, ist die dauernd mögliche Veränderung der Majorität, denn „keine Partei darf auf ewige Dauer ihrer Mehrheit rechnen, selbst wenn sie i m Augenblick noch so fest i m Sattel sitzt, auch eine Klasse (nicht), die die ungeheure Mehrheit der Nation ausmacht" 33 . Zwangsläufig w i r d damit der Zeitpunkt dauerhafter proletarischer Alleinherrschaft weit hinausgeschoben, denn als Bedingung für ihre Errichtung gilt, daß das Proletariat „die Mehrheit der Bevölkerung darstellt oder doch wenigstens hinter sich hat" 3 4 , eine Möglichkeit, die angesichts der labilen Machtverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft offensichtlich von Kautsky selbst nicht sonderlich günstig eingeschätzt wurde 3 5 . 28

Vgl. K a r l Kautsky, K r i e g u n d Demokratie, 1. Buch, B e r l i n 1932, S. 68. Ders., Bernstein u n d das sozialdemokratische Programm, Stuttgart 1899, S. 172. 30 Vgl. Demokratie oder D i k t a t u r , S. 29 f. 1899 definiert K a u t s k y Demokratie schlicht als „ F o r m der Herrschaft der M a j o r i t ä t " (S. 170), 1918 bedeutet sie i h m „aber nicht minder Schutz der Minderheit" (Demokratie oder D i k t a t u r , S. 22). 31 Ebd., S. 23; vgl. auch ders., Die proletarische Revolution u n d i h r Programm, Stuttgart 1922, S. 80. 32 K a r l Kautsky, „Demokratie u n d Demokratie", i n : Vorwärts, v o m 20. 6.1920. 33 Kautsky, K r i e g u n d Demokratie, S. 73; ebenso Demokratie oder D i k t a t u r , S. 22. Zugespitzt spricht Langner von der „Integrierung der Sozialdemokratie als soziologische Gruppe i n den Gruppenpluralismus der demokratischen Ordnung", Einleitung zu K a r l Kautsky, Texte zu den Programmen der deutschen Sozialdemokratie 1891—1925, S. 36. M i t dem Begriff „Integrierung" w i r d allerdings Kautskys nie aufgegebenes Ziel der Systemüberwindung allzusehr verwischt. 34 a.a.O., S. 31. 35 Vgl. seine Ausführungen dazu i n : Von der Demokratie zur Staatssklaverei, S. 25 f. 29

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I n dieser wechselnde Regierungseinheiten produzierenden Demokratie — ihr Reifegrad erweist sich daran, ob sie „jegliche Wandlung i m Denken und Fühlen der Massen und i n ihren Kräftverhältnissen erkennen" läßt 8 6 — verbietet sich die Alleinherrschaft einer Klasse von selbst; Charakteristikum für diese Phase ist vielmehr ein „Gleichgewichtszustand der Klassen", vor einem Zeitpunkt also, wo „das Proletariat so weit ist, daß es für sich allein die politische Herrschaft zu gewinnen vermag, aber doch schon zu stark, als daß irgendeine der bürgerlichen Klassen ihre Herrschaft i m Gegensatz zum Proletariat behaupten könnte" 3 7 . Dieses Gleichgewicht der Klassenkräfte bleibt nicht ohne prägende Auswirkungen auf die Struktur der demokratischen Regierung: Keine Klasse kann eine Ausschließung von der politischen Richtungsbestimmung hinnehmen, denn die kompromißlose Majorisierung wäre eine Gefährdung des labilen Gleichgewichts und damit auch der grundsätzlich friedlichen Form des Klassenkampfes. Und so formuliert Kautsky die Quintessenz seiner Darstellung fast als autoritative Handlungsanweisung i n bewußter Anspielung auf die berühmte Passage i n der „ K r i t i k des Gothaer Programms", zugleich aber auch damit über Marx, der noch „nicht . . . die Formen des Klassenkampfes i n einer schon ausgebildeten Demokratie" beobachten konnte 3 8 , hinausgehend: „Zwischen der Zeit des rein bürgerlich und des rein proletarisch regierten Staates liegt eine Periode der Umwandlung des einen i n den anderen. Dem entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Regierung i n der Regel eine Form der Koalitionsregierung bilden wird39." M i t dieser Lehre vom Klassengleichgewicht knüpfte Kautsky an Gedanken des österreichischen Führers der Sozialdemokratie, Otto Bauer, an 4 0 . Während aber Kautsky für diesen Zustand m i t einem längeren Zeitraum rechnete, umfaßte er für Bauer nur eine relativ kurze Periode, da „jede der beiden Klassen . . . immer auf die Gelegenheit 36

Die proletarische Revolution u n d i h r Programm, S. 80. Ebd., S. 100. 38 K a r l Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, I I . Bd., B e r l i n 1927, S. 512. 39 Die proletarische Revolution u n d i h r Programm, S. 106. V o n revisionistischer Seite wurde die Entwicklung Kautskys beifällig kommentiert. Vgl. die Aufsätze von Paul Kampffmeyer „Das Staatsproblem i n der Sozialdemokratie", i n : SM Bd. 68 (1929), S. 303 ff., und „Sozialdemokratische u n d bolschewistische Staatsauffassung" ebd., Bd. 72 (1930), S. 1100 ff. 40 Vgl. dazu Hans Kelsen, „Otto Bauers politische Theorien", i n : Der Kampf, 1924, S. 50 ff.; ders., M a r x oder Lassalle. Wandlungen i n der p o l i t i schen Theorie des Marxismus, i n : Demokratie u n d Sozialismus, hrsg. von Norbert Leser, Wien 1967, S. 148 ff.; W i l f r i e d Gottschalch, Ideengeschichte des Sozialismus i n Deutschland, S. 278 ff. Norbert Leser, Zwischen Reformismus u n d Bolschewismus, Wien - F r a n k f u r t - Zürich, 1968, S. 152 ff. 37

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E. Die SPD u n d das Wahlsystem i n der Weimarer Republik

l a u e r t , das M a c h t v e r h ä l t n i s z u i h r e n G u n s t e n z u v e r s c h i e b e n " 4 1 . So b e grenzte er die Z e i t d e r „ V o l k s r e p u b l i k " , die „ i m O k t o b e r 1918 aus e i n e m C o n t r a c t social, aus e i n e m s t a a t s b i l d e n d e n V e r t r a g der d r e i g r o ß e n P a r t e i e n , die die d r e i g r o ß e n K l a s s e n d e r Gesellschaft v e r t r a ten, e n t s t a n d e n . . . , n u r i n t ä g l i c h e n K o m p r o m i s s e n zwischen d e n K l a s sen" l e b t e 4 2 , a u s d r ü c k l i c h a u f die J a h r e bis 1922, m i t d e m f ü r i h m die „ R e s t a u r a t i o n d e r B o u r g e o i s i e " e i n s e t z t e 4 3 . K e n n z e i c h n e n l ä ß t sich dieser Z u s t a n d des K l a s s e n g l e i c h g e w i c h t s dadurch, daß „ t a t s ä c h l i c h alle K l a s s e n des V o l k e s a n der Staatsmacht i h r e n A n t e i l (haben), tatsächlich die W i r k s a m k e i t des Staates die R e s u l t i e r e n d e der K r ä f t e a l l e r K l a s s e n des V o l k e s " 4 4 ist, w o m i t zugleich d u r c h die B e t e i l i g u n g v o n B e r u f s o r g a n i s a t i o n e n d e r A r b e i t e r u n d A n g e s t e l l t e n eine K o m b i n a t i o n d e r p a r l a m e n t a r i s c h e n m i t der „ f u n k t i o n e l l e n D e m o k r a t i e " e n t s t a n d 4 5 . W e g e n dieser n u r m o m e n t a n a u f g e t r e t e n e n E n t w i c k l u n g w a r B a u e r jedoch nicht bereit, sein orthodox-marxistisches Demokratieverständnis g r u n d sätzlich i n F r a g e z u stellen, k o m m e doch „ u n v e r m e i d l i c h der A u g e n b l i c k , i n d e m das G l e i c h g e w i c h t s v e r h ä l t n i s a u f g e h o b e n w i r d u n d n u r noch die W a h l b l e i b t zwischen d e m R ü c k f a l l u n t e r die K l a s s e n h e r r schaft der Borgeoisie u n d d e r E r o b e r u n g der p o l i t i s c h e n M a c h t d u r c h das P r o l e t a r i a t " 4 6 . 41 Otto Bauer, „Das Gleichgewicht der Klassenkräfte", i n : Der Kampf, 1924, S. 57 ff.; S. 66. 42 Otto Bauer, Die österreichische Revolution, Wien 1923, S. 244. 43 Ebd., S. 249; „Das Gleichgewicht der Klassenkräfte", S. 61. 44 Die österreichische Revolution, S. 245. 45 Ebd., S. 187. 46 „Das Gleichgewicht der Klassenkräfte", S. 66 f. Auch von einem anderen österreichischen Parteitheoretiker, M a x Adler, der großen Einfluß auf den l i n k e n Flügel der deutschen Sozialdemokratie u n d besonders auf die später von i h r abgesplitterte Sozialistische Arbeiterpartei ausübte, wurde die Möglichkeit eines solchen Gleichgewichts eingeräumt (Politische oder soziale Demokratie, Wien 1926, S. 131), ohne aber zugleich von dem Konzept d i k t a torischer Ü b e r w i n d u n g dieses Übergangszustandes m i t dem Ziel einer Gesellschaft ohne Klassenunterschiede abzurücken. F ü r A d l e r ist Demokratie, solange sie auf dem Boden des Klassengegensatzes ruht, überhaupt nicht möglich, w e i l jede Mehrheitsentscheidung Klassenherrschaft beinhalte. Vgl. Die Staatsauffassung des Marxismus, W i e n 1922 (Neudruck 1964), S. 115. Demgegenüber ist f ü r A d l e r nicht die Mehrheitsentscheidung f ü r die Demokratie konstitutiv, sondern Rousseaus volonté générale i n einer solidarischen Gemeinschaft, eben einer sozialen Demokratie, während die bloß politische „gerade die F o r m ist, i n der die (Diktatur) ausgeübt w i r d " . Politische oder soziale Demokratie, a.a.O., S. 82 u. 91. Vgl. auch ders., „Die Niederlage der Volksgemeinschaftsidee, „ i n : Der Klassenkampf, 1930, S. 581 ff. Z u Adlers Begriff der D i k t a t u r vgl. die scharfsinnige Analyse Gurlands, S. 71 ff. Der Anspruch des Proletariats auf demokratische D i k t a t u r w u r d e i n den Organen der deutschen Sozialdemokratie nicht zuletzt auch von menschewistischen Emigranten vertreten. Vgl. u. a. Theodor Dan, „Die Krise der Demokratie u n d die Krise der D i k t a t u r " , i n : Die Gesellschaft, 2. Bd. 1926, S. 235 ff., sowie M a r k Abramowitsch, „Demokratie u n d D i k t a t u r i n Staat u n d Gemeinden", i n : Das freie Wort, H. 4,1929, S. 11 ff.

I. Verhältniswahl u n d Parlamentarismus i n der Klassengesellschaft

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A m weitesten von der Orthodoxie entfernte sich Rudolf Hilferding, nach seinem Wiedereintritt i n die Partei der einflußreichste Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie i n der Weimarer Republik 4 7 ; seine an herausragender Stelle erschienenen programmatischen Thesen 48 dürfen durchaus als m i t der offiziellen Haltung der Partei i n Übereinstimmung angenommen werden. Ausgangspunkt seiner Neuformulierung des Verhältnisses von Arbeiterbewegung und Republik war die Annahme, daß m i t dem Heraufkommen des organisierten Kapitalismus die revolutionäre Phase zunächst abgeschlossen und eine friedliche demokratische Entwicklung eingeleitet sei 49 . A u f diese Periode der demokratischen Republik sei schon deshalb die marxistische Begrifflichkeit nicht einfach anzuwenden, weil „die Arbeiterschaft . . . die Republik als ihr Werk (betrachtet), sie . . . Träger dieser Staatsform" ist 5 0 . Das gebrochene Verhältnis der Sozialdemokratie zu der Republik von Weimar, theoretisch untermauert durch die behauptete Dichotomie von politischer und sozialer, formaler und realer Demokratie, beruhte für i h n auf einer Verkennung des Wertes dieser bestehenden Demokratie für die Arbeiter; ebenso wie die Demokratie nicht eine Einrichtung des Bürgertums, sondern historisch stets die Sache des Proletariats gewesen sei, so sei das Wort von der formalen Demokratie eine ebenso falsche Kennzeichnung, denn die Trennung von Politik und sozialer Wirkung sei eine rein theoretische, während i n Wirklichkeit eine Veränderung der politischen Machtverteilung immer m i t materialen Konsequenzen verknüpft sei 51 . Hilferding folgt insofern der marxistischen Anschauung, als für ihn die Parteien als Träger des politischen Kampfes nicht losgelöst von den Klassen gesehen werden können — „der Parteikampf (spiegelt) nichts anderes wider, als den Kampf der Klassen untereinander" 5 2 ; das Resultat dieses demokratischen Kampfes ist aber nicht die unterschiedslose Herrschaft der ökonomisch führenden Klasse, das Spezifische dieser Herrschaftsform 53 liege gerade darin, daß „die Bildung des Staats w i l 47 Vgl. zum folgenden auch W i l f r i e d Gottschalch, Strukturveränderungen u n d politisches Handeln i n der Lehre von Rudolf Hilferding (Soziologische Abhandlungen, Heft 3), B e r l i n 1962, S. 189 ff. 48 Siehe besonders sein Geleitwort f ü r die erste N u m m e r der neuen theoretischen Parteizeitschrift „Probleme der Zeit", i n : Die Gesellschaft, 1. H a l b band 1924, S. 1 ff., sowie seine Rede „Die Aufgaben der Sozialdemokratie i n der Republik", Prot. SPD 1927, S. 165 ff. 49 Vgl. Gottschalch, Hilferding, S. 205. 50 „Probleme der Zeit", S. 13. 51 Vgl. Prot. SPD 1927, S. 172 ff. 52 Ebd., S. 171. 63 „Demokratie" w a r f ü r H i l f e r d i n g keineswegs gleichbedeutend m i t dem A b b a u v o n Herrschaft, sondern „ n u r ein Ausleseprinzip, die f ü r die mo-

1 8 4 E .

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lens nichts (ist) als die Komponente aus dem politischen Willen der einzelnen" 54 . Die Statik einer Klassenherrschaft ist m i t Hilferdings Begriff der Demokratie unvereinbar, die gerade das Sichtbarwerden der gesellschaftlichen Dynamik durch das ständige Messen der politischen Stärkerelationen der Klassen gewährleistet. Aus dieser „ A n schmiegsamkeit der demokratischen Staatsmacht an die wechselnden Kräfteverhältnisse der sozialen Klassen i m Gegensatz zur relativen Starrheit anderer Regierungssysteme" 55 schöpfte Hilferding die Hoffnung auf gesellschaftlichen Fortschritt durch demokratisch-parlamentarische Mittel. Gemeinsames Kennzeichen aller hier skizzierten Versuche einer den veränderten Umständen angemessenen Theorie der Demokratie ist ein Abrücken von der Gleichsetzung der Demokratie m i t einfacher Mehrheitsherrschaft. I n der klassengespaltenen Gesellschaft kann die Herrschaft der Mehrheit ebenso wie die der Minderheit die Vergewaltigung der dieser Herrschaft Unterworfenen bedeuten, m i t der Folge, daß für die demokratische Verfassungsordnung stets die Gefahr ihrer Durchbrechung besteht. Sollte Demokratie nicht zur reinen Leerformel erstarren, hinter der sich nur die unverrückbare Herrschaft einer Klassenmajorität über die -minorität verbirgt, bedarf es einer Garantie für die Beteiligung auch der Minderheit an der Richtungsbestimmung der Politik. Keine parlamentarische Demokratie kann ohne das Mehrheitsprinzip bestehen, die Forderung nach Einstimmigkeit wäre gleichbedeutend m i t einer Aufgabe politischen Handelns oder würde i n die Herrschaft eines nur virtuellen Gemeinwillens umschlagen; auch die klassengespaltene Demokratie verlangt Mehrheitsentscheidungen, die aber nur durch Verknüpfung m i t Elementen des Paritätsprinzips 56 nicht als Unterdrückung erfahren werden. Das Prinzip der Parität ermöglicht erst den Mehrheitsentscheid, weil dadurch bereits die Extreme ausgeschaltet worden sind und die Mehrheit nur innerhalb einer relat i v engen Bandbreite entscheiden kann; die Anerkennung der Entscheidung als legitim und verbindlich verlangt die Berücksichtigung der Minorität zumindest i n dem Maße, daß sie nicht zur Sicherung vitaler Interessen zum Verlassen der gemeinsamen demokratischen Plattform getrieben wird. derne Gesellschaft allein geeignete Selektion, bei der der Ausgangspunkt für alle gleich ist". „Probleme der Zeit", S. 4. 54 Prot. SPD 1927, S. 173. 55 So Hilferding 1931. Zit. nach Gottschalch, Hilferding, S. 198. 56 Vgl. dazu Dietrich Schindler, Über die B i l d u n g des Staatswillens i n der Demokratie, Zürich 1921. Das „Wesen der Parität" i m strengen Sinne sieht Schindler darin, „daß zum Zustandekommen eines Beschlusses die Zustimm u n g sämtlicher Gruppen, i n welche das Gemeinwesen zerfällt, erforderlich ist (S. 96)".

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Bezeichnend für das institutionelle Desinteresse der führenden sozialdemokratischen Theoretiker ist, daß keiner dieser Autoren die m i t den theoretischen Darlegungen verbundenen Implikationen für die Verfassungsstruktur einer eingehenderen Analyse unterzogen hat 5 7 ; auch die Frage des dieser Demokratie angemessenen Wahlverfahrens wurde nicht als eigenes Problem gesehen oder zumindest einer Erörterung nicht gewürdigt 5 8 . Jüngere Intellektuelle griffen dagegen diese Verfassungsfragen i m engeren Sinne auf, womit die Verhältniswahl eine zusätzliche theoretische Fundierung erhielt, die i n der ursprünglichen Begründung nicht aufzufinden ist, nämlich als das diesem Gleichgewichtszustand angemessene Wahlverfahren. 2. Die Kompromißstruktur der Weimarer Verfassung

Wenn es richtig ist, daß „Demokratie . . . nur dann bestehen (kann), wenn die Differenzen auf dem Fundament gemeinsamer Überzeugungen oder eines gemeinsamen Staatswillens ausgetragen werden können" 5 9 , dann mußten die Lebenserwartungen der Weimarer Republik von vornherein pessimistisch beurteilt werden. Die gesellschaftlichen und politischen Konflikte des Kaiserreichs, nur äußerlich für kurze Zeit durch den Appell an die nationale Einheit überlagert, kamen nach dem Ende des Krieges i n verstärktem Maße zum Ausbruch. Die staatstragenden Schichten des alten Reichs, Armee, Beamtenschaft und Großgrundbesitz, standen der Republik i n feindlicher Ablehnung gegenüber. Versailles und die Dolchstoßlegende waren die Belege, m i t denen von rechts der Kampf geführt wurde, und die permanente Wirtschaftskrise und die Verarmung weiter Schichten schwächten zusätzlich das traditionell demokratische Potential des Kaiserreichs i m Bürgertum und i n der Arbeiterschaft. Deren z. T. gleichgerichtete verfassungspolitische Zielsetzungen wurden aber relativiert und gefährdet durch die i m Grunde unüberbrückbaren Gegensätze der gesellschaftspolitischen Vorstellungen. I n der Situation vom Herbst 1918 verbot sich aus innen- wie außenpolitischen Gründen gleichermaßen das Festhalten an der mo57 Z u Hilferdings Beschäftigung m i t dem A r t . 48 der Weimarer Reichsverfassung vgl. Gottschalch, Hilferding, S. 206 f. 58 Während Otto Bauer, Die österreichische Revolution, S. 224, die Verhältniswahl bloß summarisch unter den m i t dem Sturz der Monarchie erreichten Verbesserungen nennt — f ü h r t Kautsky, Die proletarische Revolut i o n u n d i h r Programm, S. 126, diese „modernsten Wahlsysteme nach dem proportionellen Verfahren" n u r unter dem Gesichtspunkt als M i t t e l der Bindung der F r a k t i o n an die Gesamtpartei an. Hilferding erwähnt die V e r hältniswahl lediglich bei seinem Hinweis auf die sog. Proporzregierungen i n den österreichischen Bundesländern. Vgl. Prot. SPD 1927, S. 180. 69 Dietrich Schindler, Verfassungsrecht u n d soziale Struktur, Zürich 1932, 141.

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narchischen Staatsform, als die K o n t i n u i t ä t 6 0 wahrende Alternative blieb nur das parlamentarische Regierungssystem, das wenige Wochen zuvor noch vom alten Reichstag eingeführt worden war. Ihre Prägung erhielt die Geburtsstunde der Republik durch eine breite Abwehrfront gegen alle Umsturzversuche von links, die ein Weitertreiben der Revolution zum Ziel hatten; die gemeinsame Furcht vor dem Bolschewismus ließ manche grundsätzliche Unvereinbarkeit hinter dem scheinbar taktisch Gebotenen zurücktreten. Grundlage der Republik war also zunächst nicht eine gleichgerichtete Majorität i m Volk, sondern „ein Notbau aus w i d e r w i l l i g improvisierten Kompromissen" 61 . Die „Kompromißstruktur von Weimar" konkretisierte sich auf vier verschiedenen Ebenen 62 : dem Ebert-Gröner-Pakt zur unmittelbaren Sicherung des Staates, dem Stinnes-Legien-Abkommen, m i t dem die Gewerkschaften als alleinige Tarifpartner der Unternehmer anerkannt wurden, dem Verwaltungsabkommen vom Februar 1919, m i t dem der Föderalismus des Kaiserreichs auch für die Weimarer Republik gewahrt blieb, und schließlich der i m Grunde schon seit der Friedensresolution des kaiserlichen Reichstags bestehenden Weimarer Koalition aus Zentrum, Demokraten und Sozialdemokraten, auf deren Grundlage die Verfassung als Ausdruck „der tatsächlichen Kräfteverteilung i m Volk . . . zur Zeit ihres Entstehens" 63 beschlossen wurde. Die Hoffnung, die „demokratischen Errungenschaften . . . i n den Formen einer paritätischen bürgerlich-sozialistischen Regierung" sichern zu können 6 4 , schien sich also zunächst m i t dem Verfassungswerk erfüllt zu haben, dem „mühsamen Ergebnis politischer Arbeit zweier Volksschichten, die zum ersten Male völlig frei i n ihrer politischen Betätigung wurden, nämlich der Arbeiterschaft und des mittleren Bürgertums 6 5 . 60

Z u diesem Themenkomplex vgl. Wolfgang Elben, Das Problem der K o n t i n u i t ä t i n der deutschen Revolution (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus u n d der politischen Parteien Bd. 31), Düsseldorf 1965. 61 K a r l Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 4. A u f lage, V i l l i n g e n 1964, S. 21. 62 Siehe ebd., S. 23 ff. 63 „ T a g der Verfassung", i n : Vorwärts, 10. 8.1930, Morgenausgabe. 64 M a x Weber, Deutschlands künftige Staatsform, i n : Gesammelte P o l i t i sche Schriften, 2. Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1958, S. 470. 65 M a x Quarck, Der Geist der neuen Reichsverfassung (Sozialwissenschaftliche Bibliothek, Bd. 13), B e r l i n 1919, S. 36. Das Schwanken zwischen dem Lob dieser Zusammenarbeit u n d ihrer A b w e r t u n g als bloßes K o m p r o m i ß w e r k k a n n man aus der Äußerung Gradnauers entnehmen: „Die Verfassung von Weimar . . . ist ein mühevolles Werk aus chaotischer Notzeit geboren u n d es zeigt starke Spuren noch unausgeglichener Volks- u n d Klassenkämpfe." Das Programm der Sozialdemokratie, B e r l i n 1920, S. 61 f. Franz Neumann wertet als Charakteristikum der Weimarer Republik, daß „dieses p l u r a l i stische System . . . den Klassengegensatz nicht mehr (ignorierte), . . . (sondern)

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Die relativ kurze Periode, i n der die Weimarer Koalition die Geschicke der Republik bestimmte, hat das Verfassungsdenken der Sozialdemokratie stark beeinflußt, denn unter den Bedingungen des Umsturzes schien sie die einzig mögliche Form sozialdemokratischer Regierungstätigkeit zu sein. Erich Matthias hat die „attentistische Politik" der Regierung der Volksbeauftragten m i t ihren „Legitimationsskrupeln" und der damit verbundenen Fixierung auf die „Macht des Stimmzettels" zu erklären versucht 66 ; zweifellos trat aber bei der Ankündigung der Wahlen zu dem Motiv, dadurch „vertrautes Terrain" wiederzugewinnen, als weiterer Beweggrund, über die Einberufung einer Konstituante die Basis der Regierung durch Zusammenarbeit m i t dem demokratischen Bürgertum zu verbreitern. I n der Krisensituation der Jahreswende 1918/19 hatte sich jene Theorie der 51 %>, m i t deren Gew i n n der Staat von Grund auf zu verändern wäre, als leere Illusion erwiesen; sie entsprach auch nicht den Absichten der maßgeblichen sozialdemokratischen Politiker, würde doch die Partei „ i n eine ganz mißliche Lage kommen, wenn . . . (sie sich) erkühnte, ganz allein zu regieren" 6 7 . Die Partei stellte sich für die nähere Zukunft auf die Notwendigkeit von Koalitionen ein 6 8 ; auch der Gewinn der absoluten Mehrheit hätte eine kompromißlose Einleitung sozialistischer Maßnahmen nicht ermöglicht 6 9 , ja er wuchs sich fast zu einer Gefahr aus, i h n vielmehr i n eine Zusammenarbeit der Klassen zu verwandeln (suchte). Die Weimarer Demokratie beruht demnach entscheidend auf der Idee der Parität, einer Parität zwischen sozialen Gruppen, zwischen Reich u n d L ä n dern, zwischen den verschiedenen Kirchen". Der Funktionswandel des Gesetzes i m Recht der bürgerlichen Gesellschaft, i n : Demokratischer u n d autoritärer Staat, hrsg. von Herbert Marcuse, F r a n k f u r t / M . 1967, S. 57. Vgl. auch ders., Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism, New Y o r k 1942, S. 18. F ü r Carl Schmitt w a r der Charakter der Verfassung als Verfahren, auf dessen Boden sich Arbeiterschaft u n d B ü r g e r t u m einigen konnten, ein Beleg f ü r seine „Formel v o m innenpolitisch neutralen Staat". „Hugo Preuß i n der deutschen Staatslehre", i n : Die Neue Rundschau, 1930, S. 289 ff.; S. 298. 66 Einleitung zu Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus u n d der politischen Parteien, 1. Reihe, Bde. 6/1 u. 6/II), bearbeitet v o n Susanne M i l l e r u n d Erich Matthias, Düsseldorf 1969, 1. Bd., S. C X X V I I ) . Ä h n l i c h w u r d e von linkssozialistischer Seite den Mehrheitssozialisten vorgeworfen, daß sie m i t der aus der Friedenszeit übernommenen „Ideologie der Legalität" die revolutionären Vorgänge geradezu als „unerwünschte Störung" empfunden u n d „ i m hypnotischen Banne des Gedankens der parlamentarischen Wahlen" gehandelt haben. Siegfried Marek, Reformismus u n d Radikalismus i n der deutschen Sozialdemokratie, B e r l i n 1927, S. 36. 67 Molkenbuhr auf der Reichskonferenz der SPD 1920. Protokoll über die Verhandlungen, B e r l i n 1920, S. 45. 68 V g l die Rede Hermann Müllers auf dem Görlitzer Parteitag, Prot. SPD 1921, S. 112. 69 Vgl. Hermann Müller-Franken, Die November-Revolution, B e r l i n 1928, S. 281. Ä h n l i c h äußerte sich Eduard Bernstein: „Selbst w e n n die Sozialdemo-

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d a „ d i e S o z i a l d e m o k r a t i e (schon deswegen) a u f J a h r e h i n a u s n i c h t a l l e i n r e g i e r e n k ö n n e , . . . w e i l sie n i c h t alle Wünsche b e f r i e d i g e n u n d deshalb gar n i c h t als r e i n e sozialistische R e g i e r u n g a u f t r e t e n k ö n n t e " 7 0 . Das Parteiengefüge, das dies „ S y s t e m des l a b i l e n A u s g l e i c h s " 7 1 t r u g , w a r w e i t davon entfernt, jenem v o n Friedrich Naumann dem Parlam e n t a r i s c h e n R e g i e r u n g s s y s t e m f ü r angemessen e r k l ä r t e n dualistischen z u e n t s p r e c h e n 7 2 ; das P a r t e i e n s y s t e m des Kaiserreichs m i t seinen v i e r großen S ä u l e n ( K o n s e r v a t i v e , L i b e r a l e , Z e n t r u m u n d S o z i a l d e m o k r a t i e ) t r a d i e r t e sich auch ü b e r d e n E i n s c h n i t t v o n 1918 hinaus, s e i n Z u s a m m e n b r u c h m i t d e n W a h l e n v o n 1930 l ä u t e t e zugleich das E n d e der R e p u b l i k e i n 7 3 . A m E n d e des Kaiserreichs schien auch u n t e r a n d e r e n V e r f a s s u n g s v e r h ä l t n i s s e n eine grundsätzliche U m s t r u k t u r i e r u n g des Parteiensystems nach englischem V o r b i l d u n d e n k b a r ; i m Gegenteil,

kratie bei den nächsten Wahlen zur Nationalversammlung die ziffermäßige Mehrheit erhalten hätte, wäre die Heranziehung der bürgerlich-republikanischen Parteien zur Regierung ein Gebot der Selbsterhaltung der Republik gewesen." Die deutsche Revolution, S. 198. Der Z w a n g zur K o a l i t i o n ergab sich für M ü l l e r allerdings auch aus außenpolitischen Gründen, „ w e i l dem Auslande gegenüber gezeigt werden muß, daß w i r w i r k l i c h nach den Grundsätzen des westlichen Parlamentarismus zu regieren gewillt waren." Sozialdemokratie u n d Staat, B e r l i n o. J., S. 9. Ähnlich w i e M ü l l e r erblickte auch G. Radbruch i n einer absoluten Mehrheit der Sozialdemokratie allein noch keine Basis f ü r eine Alleinregierung: „Solange sich die Arbeit noch nicht m i t den wirtschaftlichen Machtmitteln des außerparlamentarischen Klassenkampfes die gesellschaftliche Überlegenheit gegenüber dem K a p i t a l zu erstreiten vermocht hat, ist deshalb eine Arbeiterregierung, auch wenn sie der Z a h l der Mandate nach möglich wäre, nicht einmal erwünscht. „Goldbilanz der Reichsverfassung", i n : Die Gesellschaft, 1924, 1. Halbbd., S. 57 ff., S. 62. 70 Aufzeichnung des demokratischen Innenministers Koch - Weser nach einer Unterredung m i t dem sozialdemokratischen Reichskanzler Bauer. Zit. nach A l f r e d Kastning, Die deutsche Sozialdemokratie zwischen K o a l i t i o n u n d Opposition, Paderborn 1970, S. 39. Anders allerdings Scheidemann 1920, der sich nach seinem Rücktritt als Kanzler mehr nach l i n k s orientierte: „Bringen uns die Wahlen (vom 6. J u n i 1920) eine andere Konstellation, bringen sie uns eine sozialistische Mehrheit, w i r w ü r d e n m i t Freude u n d Erleichterung von der K o a l i t i o n Abschied nehmen." Vorwärts, 5. 5.1920, Abendausgabe. 71 W i l l Könemann, „Zwischen den Wahlen", i n : SM, 1932/33, Bd. 77, S. 733 ff.; S. 738. 72 Vgl. die oft zitierten Äußerungen i m Verfassungsausschuß der Nationalversammlung, Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 336, S. 242. 73 Lepsius v e r t r i t t die interessante These, daß diese bemerkenswerte Stab i l i t ä t des Parteiensystems zwischen 1871 u n d 1928 daraus resultierte, daß die Parteien wesentlich aus den strukturellen K o n f l i k t e n bereits v o r dem Kaiserreich entstanden waren u n d später auf die einmal mobilisierte A n hängerschaft f i x i e r t blieben, wobei die K o n f l i k t e sich ritualisierten und „den Demokratisierungsprozeß subkulturell überformten u n d hemmten". M. R. Lepsius, Parteiensystem u n d Sozialstruktur. Z u m Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft. I n : Wirtschaft, Geschichte u n d W i r t schaftsgeschichte, Festschrift f ü r Friedrich Lütge, Stuttgart 1966, S. 371 ff.; S. 377.

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das Auftreten der Labour Party, verstärkt noch durch die weitere Egalisierung des Wahlrechts, ließ auch das Ende des bisher relativ stabilen Zweiparteiensystems i n England erwarten 7 4 . Die besonderen Verhältnisse i n Deutschland, wo die beiden stärksten Parteien, Zentrum und Sozialdemokratie, als Weltanschauungsparteien auch „geborene Minoritätsparteien" 7 5 waren, und das Auftreten von Flügelparteien, die die Republik schon i n ihrer Geburtsstunde i n Frage stellten, ließ auch das System zweier sich abwechselnder Koalitionen, wie es Hugo Preuß erwartete 7 6 , nicht Realität werden 7 7 . Uber das Parteiensystem hatte man sich — wie oben dargestellt — bei Einführung des parlamentarischen Regimes i n der Sozialdemokratie wenig Gedanken gemacht; das Fehlen eines Zweiparteiensystems wurde keineswegs als ein diese Regierungsweise ausschließender Mangel angesehen. I m Gegenteil, da auch die Sozialdemokratie auf jeden Fall eine Koalition einzugehen gewillt war, bot das Vielparteiensystem wenigstens die Garantie dafür, daß auch keine bürgerliche Partei die absolute Mehrheit erringen und so „die anderen einfach von der Regierung ausschließen" konnte 7 8 ; eine „einfache Übernahme oder Nachahmung des englischen . . . Systems" wurde nicht angestrebt 79 . Die Verwerfung des Zweiparteiensystems war bei Cunow i m wesentlichen Ausfluß radikaldemokratischer Vorstellungen 8 0 , vor denen das englische 74 Vgl. M a x Weber, Parlament u n d Regierung i m neugeordneten Deutschland, Gesammelte Politische Schriften S. 371. 75 Ders., P o l i t i k als Beruf, ebd., S. 530. 76 Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammg, Bd. 336, S. 243. 77 Während Peter Haungs, Reichspräsident u n d parlamentarische K a b i nettsregierung (Politische Forschungen, Bd. 8), K ö l n u n d Opladen 1968, S. 18, die These vertritt, daß i n der Mittelphase der Weimarer Republik sich „durch das Überwiegen der gouvernementalen K r ä f t e i n der D N V P . . . die Möglichkeit f ü r ein funktionierendes parlamentarisches Regierungssystem abizeichnete)", k o m m t Michael Stürmer, K o a l i t i o n u n d Opposition i n der Weimarer Republik 1924—1928 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus u n d der politischen Parteien, Bd. 36), Düsseldorf 1967, S. 265 f. zu einem etwas anderen Ergebnis: „Es w a r ein Symptom der permanenten Strukturkrise der Weimarer Republik, daß sich die dialektische Beziehung von Regierung u n d parlamentarischer Opposition i n eine Vielheit einander überschneidender Gegensätze auflöste . . . Es entstand eine A r t Gleichgewicht der Gruppengegensätze, die von einer parteipolitischen Orientierung auf die M i t t e und einer eindeutigen Schwerpunktbildung auf der parlamentarischen Rechten oder L i n k e n gleich w e i t entfernt blieb." Z u m Weimarer Parteiensystem vgl. ferner v o r allem Bracher, S. 81 ff., sowie Werner Conze, Die deutschen Parteien i n der Staatsverfassung v o r 1933, i n : Das Ende der Parteien 1933, hrsg. von Erich Matthias u n d Rudolf Morsey, Düsseldorf 1960, S. 3 ff. 78 Heinrich Cunow, „Revolution u n d Reichsverfassung", i n : NZ, 37. Jg., 1. Bd. (1918/19), S. 291. 79 Ebd., S. 290. 80 Cunow w a r A r t . I 1, Abs. 2 i n Preuß' Verfassungsentwurf („Die Staatsgewalt liegt beim deutschen Volke") „allzu schwächlich". Demgegenüber for-

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E. Die SPD u n d das Wahlsystem i n der Weimarer Republik

Kabinettssystem nicht bestehen konnte. Das ideologische Selbstverständnis der Sozialdemokratie wie auch die Möglichkeit des Konsenses i n Weimar überhaupt w i r d deutlicher aufgezeigt durch die Ablehnung des Zweiparteiensystems m i t der Begründung der Klassenspaltung. Die Übernahme des englischen Dualismus von Regierung und Opposition auf der gemeinsamen Basis der Verfassung, damit zugleich Dynamik und Kontinuität verbürgend, mußte i n dieser Sicht „die endgültige Scheidung der Kräfte (bedeuten), die bis jetzt „aus Angst vor dieser letzten Auseinandersetzung" verhindert worden w a r 8 1 . Die letztlich systemerhaltende Opposition i n England würde sich, nach Deutschland übertragen, zur Fundmentalopposition ausweiten, m i t der Konsequenz bei periodischem Machtwechsel, „die ganze Gesellschaftsordnung alle vier Jahre — oder sogar noch öfter — grundsätzlich zu ändern" 8 2 . Dies Problem einer antagonistischen Gesellschaft konnte nicht ohne Einfluß auf die Strukturierung der Verfassung bleiben. Die von institutionellen Erwägungen weitgehend abstrahierende Gerechtigkeitsvorstellung, unter deren Signum die Verhältniswahl auf Betreiben der Sozialdemokraten i n der Verfassung verankert wurde, fügte sich als konstitutives Element i n ein Regierungssystem ein, dessen soziale Basis ein „Pluralismus bloßer Differenzierungen ohne Übereinstimmung" w a r 8 3 . Die

derte er einen Satz, „der schärfer die Souveränität des Volkes ausspricht, die Regierung als v o m V o l k eingesetzt bezeichnet u n d daraus folgert, daß sie unter dem V o l k s w i l l e n steht." Heinrich Cunow, „ E n t w u r f einer neuen Reichsverfassimg", i n : NZ, 1919, 1. Halbbd., S. 436 ff.; S. 443. Trotz dieses deutlichen rousseauistischen Anklanges bestritt Cunow die realsoziologische Existenz einer volonté générale. Vgl. seinen Aufsatz „Der Einfluß des Rousseauschen „Gesellschaftsvertrages" auf die französische Nationalversammlung 1789 bis 1791", i n : NZ, 1919, 1. Halbbd., S. 373. 81 Georg Decker, „ K r i s e des deutschen Parteiensystems", i n : Die Gesellschaft, 1926, 1. Halbbd., S. 1 ff.; S. 8 f. Decker (eigentlich J u r i Petrowitsch Denicke) w a r menschewistischer Emigrant u n d Verfasser zahlreicher Beiträge i n sozialdemokratischen Zeitschriften, v. a. i n der „Gesellschaft". 82 Ebd. Ä h n l i c h Gustav Radbruch: „Das Zweiparteiensystem ist n u r dort möglich, w o die einander i n der Regierung ablösenden Parteien einen u m fassenden Bestand gemeinsamer politischer Gesinnungen u n d Bestrebungen haben. Sonst legt sich i m Wechsel der Regierungen das Staatsschiff bald tief auf die eine, bald tief auf die andere Seite, u m schließlich zu kentern." V e r fassungsrede, gehalten v o n Prof. Dr. Gustav Radbruch bei der Feier der Reichsregierung a m 11. August 1928, B e r l i n 1928, S. 9. Vgl. auch die kritische Beurteilung des englischen Regierungssystems nach der ersten von der Labour Party gebildeten Regierung durch den Redakteur der österreichischen „Arbeiterzeitung", Otto Leichter: „Das Wechselspiel von Erfolgen u n d M i ß erfolgen, die einander ablösen, ein Wechselspiel, das noch dazu durch das englische Wahlsystem außerordentlich begünstigt w i r d , macht nach den bisherigen Erfahrungen zu sehr den Eindruck einer P o l i t i k der Schaukel." Ende des demokratischen Sozialismus?, Wien 1932, S. 6. 83 W o l f r a m Bauer, Wertrelativismus u n d Wertbestimmtheit i m K a m p f u m die Weimarer Demokratie (Beiträge zur politischen Wissenschaft, Bd. 3), B e r l i n 1968, S. 63.

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Gerechtigkeit, die es verbot, irgendeine hinreichend bedeutende Gruppe von der Repräsentativversammlung auszuschließen, erlangte so letztlich eine integrative Funktion, die ein „funktionsgerechtes" relatives MehrheitsWahlrecht i n dieser Situation nicht hätte leisten können: die Linderung der starken verfassungs- und gesellschaftspolitischen Gegensätze — die hätten ausreichen können, einen Bürgerkrieg auszulösen — durch die Aufrechterhaltung einer politischen Mitte 8 4 . M i t der Einführung der Verhältniswahl folgte die Verfassung nicht jenem Begriff der Demokratie als „System von Willensvereinheitlichungen . . . , für welches immer das Gesetz der kleinen Zahl g i l t " 8 5 , der Integration schon auf einer unteren Stufe voraussetzt, sondern jenem, der „alle politischen Gruppen i m Verhältnis zu ihrer Stärke i m Parlament vertreten" wissen w i l l , „damit die tatsächliche Interessenlage . . . i m Parlamente sich zunächst überhaupt darstelle" 8 6 ; auf die Sammlung verschiedener politischer Kräfte schon i m souveränen Volk kann hier verzichtet werden, w e i l „Integration . . . besser i m Parlament selbst als i n der breiten Masse der Wähler vor sich geht" 8 7 . Ähnlich wie bei Gustav Radbruch beruht die Verteidigung des pluralistischen Parteienstaates bei Kelsen auf einem neukantianisch geprägten Relativismus, der „jeden politischen Glauben, jede politische Meinung, deren Ausdruck ja nur der politische Wille ist, gleichermaßen achtet" 8 8 . Der poli84 Vgl. Theodor Eschenburg, Das Zweiparteiensystem i n der deutschen Politik, i n : Festgabe f ü r Fritz Härtung, B e r l i n 1958, S. 409. Vgl. Friedrich Ebert, „Der letzte Tag der Nationalversammlung", i n : Vorwärts, 21.5.1920: „Wer den verhängnisvollen Zusammenprall der Gewalten von rechts u n d links, die Wiederauferstehung des Faustrechts nicht wollte, f ü r den blieb kein anderer Weg als jener der Demokratie, der Nationalversammlung u n d der Koalition." F ü r Richard Thoma würde die „künstliche Aufzwingung eines Zweigruppensystems die Klassenspaltung vertiefen u n d eine etwaige sozialistische Mehrheit i n die Versuchung einer proletarischen, eine etwaige „bürgerliche" Reichstagsmehrheit i n die Versuchung einer faschistischen führen". Das Reich als Demokratie, i n : Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 1. Bd., Tübingen 1930, S. 195. 85 Hermann Heller, „Politische Demokratie u n d soziale Homogenität", i n : Politische Wissenschaft, Heft 5, B e r l i n 1928, S. 35 ff.; S. 38. 86 Hans Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus, 2. Auflage, Darmstadt 1968, S. 34. 87 Ebd., S. 35. 88 Ders., V o m Wesen u n d Wert der Demokratie, Neudruck der 2. Auflage v o n 1929, Aalen 1963, S. 101. Siehe auch Gustav Radbruch, Die politischen Parteien i m System des deutschen Verfassungsrechts, i n : Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 1. Bd., S. 289; ders., „Gedanken a m Verfassungstag", i n : Deutsche Republik, 1931/32, 5. Jg., S. 1409 ff.; sowie ders., „Parteienstaat u n d Volksgemeinschaft", i n : Die Gesellschaft, 2. Halbbd. 1929, S. 99. Vgl. auch die kritischen Bemerkungen bei Richard Thoma, Der Begriff der modernen Demokratie i n seinem Verhältnis zum Staatsbegriff, i n : Hauptrobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe f ü r M a x Weber, I I . Bd., München u n d Leipzig 1923, S. 43 f.

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tische Pluralismus auf dieser Basis eines philosophischen Relativismus bezog zwar die antagonistischen Kräfte i n sein System m i t ein, indem er ihnen die ihrer Zahl entsprechende Vertretung zuerkannte 89 , das Problem der Mehrheitsbildung reduzierte sich aber auf den Prozeß einer „Normerzeugung" durch „das dialektische, i n Rede und Gegenrede sich entfaltende . . . Verfahren der Volks- wie Parlamentsversammlung" 9 0 ; was i m parlamentarischen Raum aufeinanderprallte, waren „Meinung und Gegenmeinung" 91 , der demokratische Prozeß entfaltete sich i n „bindenden Spielregeln eines loyalen Wettstreits der Meinungen" m i t dem Ergebnis, daß bei Achtung Andersdenkender die Mehrheit entschied 92 . Gefährdet wurde der relativistische Glaube an die Möglichkeit einer „mittleren Linie zwischen den einander entgegengesetzten sozialen Kräften" und damit einer Regierung, aus der der Volksmehrheit entsprechenden parlamentarischen Majorität gebildet, weniger durch die „Vielheit der Parteien . . . (als durch) ihre Starrheit" 9 3 , durch die Absolutsetzung ihrer jeweiligen weltanschaulichen Uberzeugung. Die Möglichkeit einer hinreichend homogenen Regierungsmehrheit mußte dort sinken, wo große soziale Gruppen u n w i l l i g oder unfähig waren, einen Kompromiß auszuhandeln; i n einer Gesellschaft, i n der das Parteiensystem Züge einer „Versäulung" 9 4 angenommen hatte, entstand die Notwendigkeit, „das Prinzip der Mehrheitsentscheidung . . . weitgehend

89 1924 hatte sich Radbruch f ü r ein offenbar zum Mehrheitswahlrecht tendierendes Wahlverfahren ausgesprochen, „das den Kandidaten wieder i n nahe persönliche Beziehung zu einem engeren Kreise von Wählern bringt". („Die Goldbilanz oder Reichsverfassung", S. 65). 1930 begründet er aber seine Lehre v o m Parteienstaat u. a. m i t dem geltenden Wahlrecht. Vgl. Die p o l i t i schen P a r t e i e n . . . , S. 290 ff. 90

Kelsen, V o m Wesen u n d Wert der Demokratie, S. 101.

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Ders., Das Problem des Parlamentarismus, S. 41. Radbruch, „Parteienstaat u n d Volksgemeinschaft", S. 102. 93 Radbruch, Verfassungsrede, S. 10. Auch Ernst Fraenkel sah die „Gefahr f ü r den Parlamentarismus . . . nicht i n dem Kompromiß, vielmehr i n der Eventualität, daß einmal ein Kompromiß nicht mehr möglich sein w i r d , w e i l die auseinanderstrebenden Interessen zu stark sind, u m durch gemeinsame Bande zusammengehalten zu werden". „ Z u m Verfassungstag", i n : Jungsozialistische Blätter, 1929, S. 226 ff.; S. 230. 92

94 Vgl. die Definition Gerhard Lehmbruchs, Proporzdemokratie (Recht u n d Staat i n Geschichte u n d Gegenwart, Heft 335/36), Tübingen 1967, S. 33 f.: „ A l s Versäulung soll . . . jener Integrationstypus bezeichnet werden, bei dem die ideologischen Präferenzen der konkurrierenden Gruppen so sehr dominieren, daß sie andere (in anderen Gesellschaften als ideologisch neutral empfundene) Präferenzen sich gleichsam unterordnen; dadurch entsteht naturgemäß eine starke Polarisierung der Gruppen." Z u ähnlichen Modellen vgl. Klaus v. Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme i n Europa, München 1970, S. 493 ff.

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zugunsten jenes Grundsatzes . . . (der) ,amicabilis compositio' — gütliches Einvernehmen" auszuschalten 95 . Der marxistisch orientierten Theorie stellte sich das Gleichgewicht der Klassenkräfte i n der ersten Deutschen Republik so dar, daß „die Arbeiterklasse (zwar) noch nicht imstande (ist), die Staatsmacht für sich zu ergreifen, aber schon zu einem Machtfaktor geworden (ist), der auf die Dauer nicht von der Beteiligung an der Staatsmacht . . . ausgeschaltet werden kann" 9 6 , m i t den Worten Otto Kirchheimers: Weimar war eine „Verfassung ohne Entscheidung" 97 , deren Parität nicht ohne weiteres durch eine Wählerentscheidung verändert werden konnte 9 8 . „Die zum paritätischen Ausgleich bestimmten Kräfte (waren) zahlenmäßig verschieden groß . . . (und) die reale Macht der Träger dieser Bewegungen verschieden stark 9 9 ." I n dieser Epoche des „aufgeklärten Hochkapitalismus" bei Volkssouveränität mit egalitärem Wahlrecht erfuhr das Majoritäsprinzip eine notwendige Veränderung: Die dieser Phase entsprechende "dialektische Demokratie" funktioniert nur dann, wenn die Vorstellung einer früheren Stufe der Demokratie, wonach mit Hilfe einer „Mehrheit von 51 °/o der Staat erobert und durch den Staat die Wirtschaft und Gesellschaft umgeformt werden könnte" 1 0 0 , aufgegeben wird. Die extremen Antagonismen lassen eine dem klassischen englischen Parlamentarismus entsprechende Schaukelbewegung nur als „offenbare Unmöglichkeit" 1 0 1 erscheinen. Nur ein Wahlverfahren, das ein radikales Umschlagen der 95 Lehmbruch, S. 7 f. Er entwickelt die v o m englischen Modell parlamentarischer Regierung abweichende u n d einen eigenen Typus bildende „Proporzdemokratie" v o r allem an H a n d Österreichs u n d der Schweiz. F ü r die Weimarer Republik bescheinigt er eine „Versäulung des katholischen Bevölkerungsteils u n d der Arbeiterbewegung. Ebd., S. 35, A n m . 40. 96 Georg Decker, „Offenbarungen der Tat", i n : Die Gesellschaft, 2. Halbbd. 1929, S. 228. 97 Otto Kirchheimer, „Weimar — u n d was dann?" (1930), i n : P o l i t i k u n d Verfassung, F r a n k f u r t 1964, S. 52. 98 Vgl. ebd., S. 24. 99 Ernst Fraenkel, „Abschied von Weimar"? (1932), i n : Z u r Soziologie der Klassenjustiz u n d Aufsätze zur Verfassungskrise 1931—32, Darmstadt 1968, S. 58. F ü r das gegenüber der Vorkriegszeit geringere theoretische Interesse der Partei u n d die politische Bedeutung der i n der „Gesellschaft" erscheinenden A r t i k e l vgl. Fraenkels Äußerung i n dem V o r w o r t dieser Ausgabe: „Es dürfte charakteristisch f ü r die Weimarer SPD sein, daß sie sich den doppelten L u x u s leistete, zwar eine wissenschaftliche Zeitschrift von exzeptionell hohem theoretischem Niveau zu publizieren, i h r aber i n der p o l i t i schen Praxis keinerlei Bedeutung beizumessen, geschweige denn Einfluß einzuräumen. Die „Gesellschaft" stand bestenfalls am äußersten Rande der Politik." (Ebd., S. IX.) 100 Ders., „ U m die Verfassung" (1932), ebd., S. 79. 101 Ebd., S. 78. Wenn Fraenkel f ü r diese „relativistische Demokratie" Kelsen als ihren Vertreter anführt, so unterschlägt er, daß dieser seine K o n struktion der Demokratie gerade auch f ü r die Klassengesellschaft konzipiert

13 M i s c h

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E. Die SPD u n d das Wahlsystem i n der Weimarer Republik

Mehrheit verhindert, ist einer Demokratie angemessen, deren „charakteristische Erscheinungsform . . . das Kompromiß" 1 0 2 ist. Nicht tatsächlich bestehende Klassenkonflikte zu verschleiern, ist Aufgabe des Wahlrechts, sondern gerade umgekehrt soll es „ i n der gegenwärtigen Epoche . . . den wirtschaftlichen und sozialen Klassenkampf auf das politische Gebiet (ins Parlament) . . . transponieren" 1 0 3 . Der Kompromiß den Fraenkel hier umschreibt, geht über den für eine Regierungskoalition auszuhandelnden hinaus, er ist vielmehr eine umfassende Präventivmaßnahme gegen einseitige Klassenherrschaft und damit verbundener Gefahr gewaltsamen Ausbrechens. U n d so entspricht dem B i l d der Schaukel i n der „relativistischen Demokratie" m i t sozial weitgehend homogener Basis i n der „dialektischen Demokratie" das eines Pendels, das — nach einem Prozeß der Synthese aus den antithetischen Parteimeinungen — „die Tendenz hat, stets i n der mittleren Ruhelage zu verweilen" 1 0 4 . Das Wahlsystem, das dieser Demokratie entspricht, w i r d nicht unter — einem i n engerem Sinn — funktionalen Aspekt des Regierungssystems ausgewählt 1 0 5 , sondern bestimmt sich allein nach der sozialen Basis dieser Verfassung, denn das „Proportionalwahlrecht, das von festen klassengebundenen Parteien ausgeht, ist für die dialektische Demokratie ebenso kennzeichnend, wie das Einmann-Wahlkreisverfahren für die relativistische" 1 0 6 . Während Ernst Fraenkel den seiner Darstellung zugrundeliegenden Demokratiebegriff ausdrücklich von dem — an Rousseau anknüpfenden — Carl Schmitts 107 abgrenzt 1 0 8 , ist Otto Kirchheimers Analyse der hat zur „Erzielung einer solchen mittleren L i n i e zwischen den einander entgegengesetzten Interessen, einer Resultante der einander entgegenwirkenden sozialen Kräfte". V o m Wesen u n d Wert der Demokratie, S. 58. 102 Fraenkel, U m die Verfassung, S. 80. 108 Ders., Z u m Verfassungstag, S. 230. 104 Ders., „ U m die Verfassung", S. 80. 105 Zuweilen schimmert i n diesen frühen Arbeiten Fraenkels trotz der marxistischen Terminologie schon die Lektüre Bagehots durch, w e n n er z. B. i n der Einflußnahme auf die Regierungsbildung „das wichtigste politische A k t i v u m des Parlamentes" erblickte. „ Z u m Verfassungstag", S. 230. 106 „ U m die Verfassung", S. 79. Ä h n l i c h hatte schon Hermann Greulich, ein aus Deutschland stammender Schweizer Sozialdemokrat die Verhältniswahl begründet: „Solange tatsächliche Gegensätze zwischen verschiedenen Gesellschaftsklassen bestehen, so lange lassen sich Klassenkämpfe nicht vermeiden . . . Sache des Staates ist es, . . . Katastrophen zu verhüten, Etappen anzubahnen zu schrittweiser M i l d e r u n g der nicht zu vermeidenden Kämpfe — so daß das Parallelogramm der K r ä f t e w a l t e n kann." Proporz u n d Klassenkampf, Zürich 1906, S. 15. 107 Z u r Demokratie als „einer Reihe v o n Identitäten" vgl. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl., M ü n chen u n d Leipzig 1926, S. 35. 108 „ U m die Verfassung", S. 76. Allerdings spricht er auch davon, daß „ i n der klassengespaltenen Gesellschaft die Demokratie mannigfach versagt hat". „ Z u m Verfassungstag", S. 231.

I. Verhältniswahl u n d Parlamentarismus i n der Klassengesellschaft 195

Weimarer Verfassung „eine eigenartige Amalgamation von Schmittismus und Marxismus" 1 0 9 , wobei, wie man hinzufügen könnte, letzterer vor allem durch die Werke Max Adlers vermittelt ist. So ist für Kirchheimer eine Mehrheitsentscheidung, die nicht zugleich Vergewaltigung der Uberstimmten bedeutet, nur i n einer sozial homogenen Gesellschaft möglich, i n der das Majoritätsprinzip nur M i t t e l ist, „ u m Streitigkeiten über die technisch beste Verwirklichung der allen gemeinsamen Grundsätze aus der Welt zu schaffen" 110 . Auch für Kirchheimer ist das Gleichgewicht der Klassenkräfte nicht unbedingt abhängig von der Zahl der Wählerstimmen; die deutsche Wahl hat geradezu eine „gewisse Ähnlichkeit" „ m i t dem bolschewistischen und faschistischen Wahlrecht..., als auch sie keine bestimmende Einwirkung auf den Gang der Ereignisse besitzt" 1 1 1 . So liegt der Sinn des listengebundenen, „von der Parteiwillkür bestimmten Proportionalwahlrechts" 1 1 2 vor allem darin, „die Klassenfronten mathematisch genau widerzuspiegeln, ohne daß freilich die jeweilige Feststellung politisch v o l l ausgewertet werden könnte" 1 1 3 . I n einer Gesellschaft m i t weltanschaulich und sozial so enggebundenen Parteien führt keine von ihnen den Wahlkampf ernsthaft u m eine Mehrheit, sondern i n Wirklichkeit u m größtmögliche Ausschöpfung eines von vornherein begrenzten Wählerpotentials 1 1 4 . Auch die Worte Hermann Müllers, daß durch „das reinste Proportionalwahlsystem . . . , das i n irgendeinem Lande existiert", jede Partei „eigentlich (um) die Mehrheit bei den Wahlen" ringen und „ihre Weltanschauung einmal unverfälscht zur Geltung bringen" 1 1 5 könnte, vermochte nicht darüber hinwegzutäuschen, daß i n der angestrebten Koalition die Majorisierung eines Partners wegen der ständigen Gefahr eines Bruches nicht durch109 Otto Kirchheimer, Politics, L a w , and Social Change, hrsg. von Frederic S. B u r i n u n d K u r t L . Shell, New Y o r k u n d London 1969, Einführung v o n John H. Herz u n d Erich Hula, S. X . 110 „Weimar — u n d was dann?", S. 17. I m m e r h i n bedeutet i h m die gemeinsame A r b e i t von Sozialdemokraten u n d B ü r g e r t u m auf dem Boden des Parlaments „wenigstens ein Stück Demokratie". „ A r t i k e l 48 u n d die Wandlungen des Verfassungssystems", i n : Der Klassenkampf, 1930, S. 457. 111 „Weimar — u n d was dann?", S. 24. A n anderer Stelle bezeichnet er i n einer an seinen Lehrer Carl Schmitt erinnernden Formulierung „die Übergangszeit v o m Kapitalismus zum Sozialismus . . . (als) eine i m Prinzip v e r fassungslose Zeit, deren Verfassung n u r darin besteht, sie sich erst zu erkämpfen". „Das Problem der Verfassung", i n : Jungsozialistische Blätter, 1929, S. 234. 112 „ W e i m a r — u n d was dann", S. 23. 113 Ebd., S. 24. 114 Vgl. Seymour M a r t i n Lipset, „ P a r t y Systems and the Representation of Social Groups", i n : Archives européennes de sociologie, Bd. 1, 1960, S. 50 ff.; S. 75. 115 A u f der Reichskonferenz 1920, Prot., S. 54.

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E. Die SPD u n d das Wahlsystem i n der Weimarer Republik f ü h r b a r w a r 1 1 6 ; so r e d u z i e r t e sich die K o a l i t i o n s p o l i t i k — w i e d e r m i t d e n W o r t e n M ü l l e r s — a u f „ W e l t a n s c h a u u n g s p o l i t i k (aus)gedrückt . . . i n Prozenten"117. Das V e r h ä l t n i s w a h l s y s t e m schützte die P a r t e i e n v o r e i n e r als u n e r t r ä g l i c h e m p f u n d e n e n M a j o r i s i e r u n g , es „ w i r k t e w i e ö l a u f die W o g e n des p o l i t i s c h e n F i e b e r s " 1 1 8 , w i e Carlo Mierendorff, der schärfste G e g n e r dieses W a h l s y s t e m s i n d e n R e i h e n d e r S o z i a l d e m o k r a t i e f ü r die ersten J a h r e der R e p u b l i k a n e r k a n n t e , es w a r aber z u g l e i c h auch Schutz v o r der N o t w e n d i g k e i t , u n e r w ü n s c h t e V e r a n t w o r t u n g z u ü b e r n e h m e n . R e g i e r e n bedeutete i n diesem S y s t e m eines „ l a b i l e n K o a l i t i o n s p a r t e i e n s t a a t e s " 1 1 9 — nach der u n ü b e r t r e f f l i c h e n F o r m u l i e r u n g eines sozialdem o k r a t i s c h e n J o u r n a l i s t e n — „ i n d e n E n t s c h e i d u n g s e i n h e i t e n j e nach Stärke verhältnismäßig vertreten zu sein"120.

I I . D i e V e r h ä l t n i s w a h l i n der Praxis des Regierungssystems 1. Probleme des Parteiensystems und der Regierungsbildung M i t der W e i m a r e r V e r f a s s u n g w a r das D e f i z i t a n D e m o k r a t i e , das D e u t s c h l a n d i m V e r g l e i c h z u a n d e r e n westeuropäischen N a t i o n e n so l a n g e a u f z u w e i s e n h a t t e , i n d e n A u g e n der S o z i a l d e m o k r a t i e m e h r als

116 Vgl. die von Beyme, S. 265, zitierte Äußerung des Zentrumsabgeordneten Gröber. F ü r den Parteien-Proporz i m Interfraktionellen Ausschuß u n d i n der parlamentarisierten Reichsregierung des Kaiserreichs vgl. ebd., S. 257, u n d Bermbach, S. 80 u. 289. 117 Prot. SPD 1921, S. 112. 118 Carlo Mierendorff, Die Gründe gegen die Verhältniswahl u n d das bestehende Listenwahlverfahren, i n : Schauff, S. 18. Ä h n l i c h Julius Leber, ein anderer scharfer K r i t i k e r der Verhältniswahl: „Vielleicht haben die . . . Wirkungen unserer Listenwahl der deutschen Republik einen größeren Dienst erwiesen als w i r alle ahnen, indem sie i n den schweren Jahren nach dem Kriege allzu große Erschütterungen u n d Wandlungen u m die Macht verhinderten." E i n M a n n geht seinen Weg, B e r l i n 1952, S. 104. 119 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931, S. 102. 120 Wolfgang Schwarz, „Uber die Staatswillensbildung i n der deutschen Demokratie", i n : Politische Wissenschaft, Heft 10, B e r l i n 1931, S. 34ff.; S. 46. Schwarz w a r Redakteur des „Vorwärts". Vgl. auch die auf dem Görlitzer Parteitag angenommene Resolution, i n der es heißt: „Jede Partei hat die Möglichkeit, entsprechend i h r e m A n h a n g i m Volke die Richtlinien der Regierungspolitik zu beeinflussen." Prot. SPD 1921, S. 389. Vgl. auch die F o r m u lierung i n einer Zuschrift an den „Klassenkampf": „Die Mehrheit entscheidet nicht — sie sollte es wenigstens nicht — i m Sinne der diktatorischen U n t e r drückung alles Andersmeinens, sie soll vielmehr alles verhältnismäßig, u n d das heißt, seiner Stärke nach, gelten u n d zum Ausdruck kommen lassen." (Wilhelm Häusgen, „Einige Bemerkungen zu drei Aufsätzen der „Gesellschaft", 1929, S. 700). Ähnliche Formulierungen finden sich häufig i n sozialdemokratischen Organen während dieser Zeit.

I I . Die Verhältniswahl i n der Praxis des Hegierungssystems

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aufgeholt. Die Partei lebte i n dem stolzen Selbstbewußtsein, maßgebend an der Gestaltung der i m „Vergleich . . . (zu) den Verfassungsverhältnissen i n England, Amerika, Frankreich und Italien . . . demokratischsten Verfassung..., die es überhaupt i n der Welt gibt" 1 , beteiligt gewesen zu sein. Das Prädikat „demokratisch" beschränkte sich nicht auf eine durch allgemeines und gleiches Wahlrecht sowie parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung demokratisierte Repräsentativverfassung, und es war durchaus nicht für alle Sozialdemokraten m i t dem parlamentarischen Regierungssystem erfüllt; die Partei handelte vielmehr grundsätzlich nach der Maxime, „dem empirischen Volks w i l l e n eine tunlichst große Wirkungsmöglichkeit zu eröffnen" 2 . Der Glaube an die Ratio des Volkswillens, wie er sich i n der Ausgestaltung der Verfassung und besonders auch i n den Vorstellungen vieler Sozialdemokraten zu Beginn dieser m i t so großen Hoffnungen verknüpften neuen Staatlichkeit niederschlug 3 , kollidierte schon bald mit den nach kurzer Unterbrechung wieder auftretenden Gegenkräften, aber auch m i t offenkundig werdenden Konstruktionsmängeln des Regierungssystems. Jene „Verdoppelung des demokratischen Prozesses", die sich am Ende der Republik als „unechte Doppelkonstruktion" 4 so verhängnisvoll auswirkte, erschien vielen Sozialdemokraten zunächst als Erfüllung aller demokratischen Forderungen; nicht nur war das Wahlsystem Garant für die größtmögliche Übereinstimmung zwischen Parlament und Volk, zugleich verkörperte der plebiszitär gewählte Reichspräsident — verstärkt durch das M i t t e l der Volksabstimmung — das institutionelle Gegengewicht sowohl zu einem Parlamentsabsolutismus als auch einer Parlamentsohnmacht 5 . Die Genugtuung darüber, daß „die Demokratie (nicht) lediglich am Parlamentarismus haften" 6 1

Hermann M ü l l e r auf der Reichskonferenz 1920. Prot., S. 55. Fraenkel, Die repräsentative u n d die plebiszitäre Komponente, S. 114. 3 Vgl. die Rede W i l h e l m Keils auf der außerordentlichen Landesversamml u n g der Sozialdemokraten Württembergs a m 21.12.1918, i n der er die N o t wendigkeit einer D i k t a t u r w e i t v o n sich wies: „Haben alle Glieder des Volkes vollkommen gleiche Rechte, so bedarf es n u r der verständlichen, sachlichen A u f k l ä r u n g der breiten Volksmassen, deren Lebensbedürfnisse durch die Ziele der Sozialdemokratie erfüllt werden sollen, u m durch den Mehrheitsw i l l e n des Volkes die Änderung i m Gesellschaftsleben herbeizuführen." W i l h e l m Keil, Die Sozialdemokratie u n d die Erneuerung Deutschlands, Stuttgart o. J., S. 7. 4 K a r l Dietrich Bracher, „Parteienstaat — Präsidialsystem — Notstand", i n : Ders., Deutschland zwischen Demokratie u n d D i k t a t u r , Bern u n d M ü n chen 1964, S. 37. 5 Vgl. dazu Friedrich K a r l Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz (Tübinger Studien zur Geschichte u n d Politik, Bd. 12), Tübingen i960, S. 28. 6 Quarck, S. 36. Ä h n l i c h Katzenstein i n der Sitzung v o m 3. 7.1919. V e r handlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 2

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E. Die SPD u n d das Wahlsystem i n der Weimarer Republik

geblieben war, bezog sich auf eine Verfassung, deren Strukturanalyse zu dem Ergebnis führt, daß „das konstitutionell-monarchische System nicht durch das parlamentarische abgelöst, sondern beide ineinandergeschoben" 7 worden waren. Die „Verzahnung" der „Repräsentationsströme" 8 durch die doppelte Abhängigkeit des Reichskanzlers sowie die die Suprematie des Reichspräsidenten heraushebenden Rechte der Reichstagsauflösung und der Möglichkeit parlamentsloser Regierung nach A r t . 48 waren für den auch i n der Weimarer Zeit nie ganz abgestreiften „subalternen Charakter" 9 des Reichskanzleramts gegenüber dem Staatsoberhaupt verantwortlich. I n dieser Verfassungskonstruktion mußte die komplizierte und labile Balance der Gewalten dann gefährdet werden, wenn die Schwäche der einen auf die Dauer ein Übergewicht der anderen nach sich zog. Soweit diese Probleme des Regierungssystems m i t dem Wahlsystem verknüpft waren, sollen sie i m folgenden kurz skizziert werden. „Die strukturelle Dauerkrise" 1 0 der Weimarer Demokratie begann damit, daß „der große Versuch des staatspolitischen Parteienkompromisses bereits i m Jahre 1920 gescheitert w a r " 1 1 ; seit den Reichstagswahlen 1920 datiert der Beginn der Desintegration des Parteiensystems, die schließlich m i t dem Bruch der großen Koalition 1930 die Bildung 327, S. 1263. F ü r Quarck wurde jeder mögliche Dualismus zwischen Parlament u n d Präsident durch die direkte V o l k s w a h l beider ausgeschlossen: „Die Gleichheit der H e r k u n f t w i r d die Gleichheit der Ziele u n d Zwecke bestimmen (S. 14)." Vgl. auch seine Begründung der dreijährigen Legislaturperiode damit, daß „auch i n demokratischen Staaten sich schon i n einem Jahre eine Divergenz zwischen Volksvertretung u n d Wählerschaft herausbilden" kann. Bericht des Verfassungsausschusses, Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 336, S. 449. Ä h n l i c h w i e Quarck rühmte Stampfer an der Verfassung, daß sie sich „nicht zum Prinzip des reinen Parlamentarismus bekennt", der sowohl durch die direkte Volksgesetzgebung als auch die direkte Präsidentenwahl eingeschränkt worden sei. Friedrich Stampfer, Verfassung, Arbeiterklasse u n d Sozialismus, B e r l i n 1919, S. 9. Allerdings w a r die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Reichspräsidentenamtes i n der Sozialdemokratie keineswegs unumstritten. Vgl. dazu Haungs, S. 38 ff., sowie Beyme, S. 271. 7 Theodor Eschenburg, „Die Richtlinien der P o l i t i k i n Verfassungsrecht u n d i n der Verfassungswirklichkeit", i n : S t r u k t u r w a n d e l der modernen Regierung, hrsg. von Theo Stammen, Darmstadt 1967, S. 372. 8 Manfred Hättich, „Plebiszit u n d Repräsentation i n Verfassung u n d Staatspraxis 1919—1969", i n : Parlamentarische Demokratie i n Deutschland (Schriftenreihe der Bundeszentrale f ü r politische Büdung, Heft 86), Bonn 1970, S. 49. 9 W i l h e l m Hennis, „Amtsgedanke u n d Demokratiebegriff", i n : Ders., Polit i k als praktische Wissenschaft, S. 58. 10 Erich Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, i n : Das Ende der Parteien 1933, S. 101. 11 Werner Conze, „Die deutschen Parteien i n der Staatsverfassung vor 1933", ebd., S. 18.

I I . Die Verhältniswahl i n der Praxis des

egierungssystems

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jeder durch eine Parlamentsmehrheit gestützten demokratischen Regierung überhaupt unmöglich machte 12 . Dabei wurde die Verschiebung der parlamentarischen Gewichte und die i n ihrem Gefolge auftretende Schwächung der Regierungen und damit auch des Parlaments selbst durch zwei verschiedene, höchstens indirekt miteinander verbundene Faktoren verursacht: die Polarisierung des Parteiensystems einerseits und die Zersplitterung andererseits. Ausschlaggebend dafür, daß der Versuch, die Republik zumindest für eine Ubergangszeit durch eine gemeinsame Koalitionsregierung aus den drei Verfassungsparteien der Arbeiterschaft, des liberalen Bürgertums und des katholischen Bevölkerungsteils zu sichern, schon m i t den ersten Reichstagswahlen scheiterte, war der erdrutschartige Stimmenverlust der bisherigen Regierungsparteien SPD und DDP m i t einem entsprechenden Anwachsen der die demokratische Verfassung halb oder ganz ablehnenden Parteien USPD, D V P und D N V P 1 3 . Schließliches Ergebnis dieser Polarisierung, deren die Republik gefährdende Intensität nur vorübergehend i n der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre nachließ 14 , war eine verfassungsfeindliche, negative Mehrheit aus KPD, DNVP und NSDAP bei einem fast völligen Verschwinden der beiden traditionellen Parteien des Liberalismus. Einher m i t dieser Schwerpunktverlagerung des Parteiensystems ging eine Zersplitterung, die i n ursächlichem Zusammenhang m i t dem Verhältniswahlsystem stand und sich erst m i t den großen Wahlerfolgen der Nationalsozialisten verminderte. Stärker als die Parteienzersplitterung i m Parlament war die Stimmenzersplitterung; trotz der automatischen Methode des Wahl Verfahrens kamen nur 1919 und 1933 mehr als die Hälfte der kandidierenden Parteien i n den Reichstag. War auch die Zahl der i m Weimarer Reichstag vertretenen Parteien nicht höher als die i m kaiserlichen (wobei allerdings die nationalen Minoritätsparteien z. T. abzurechnen sind), so hat eben doch ein zersplittertes Parteiensystem für das Repräsentationsorgan i n einem parlamentarischen Regierungssystem eine viel schwerer wiegende Bedeutung als i n einem konstitutionellen. Jene Hoffnung, daß sich das Par12

Z u r Wahlgeschichte der Weimarer Republik vgl. besonders K a r l Dietrich Bracher, „Probleme der Wahlentwicklung i n der Weimarer Republik", i n : Ders., Deutschland zwischen Demokratie u n d D i k t a t u r , S. 50 ff., u n d A l f r e d Milatz, Wähler u n d Wahlen i n der Weimarer Republik (Schriftenreihe der Bundeszentrale f ü r politische Bildung, Heft 66), Bonn 1965. Vgl. auch zusammenfassend: Die W a h l der Parlamente, Bd. I, 1, S. 258 ff. 13 Zahlenmäßig geschwächt wurde die K o a l i t i o n noch durch die Abspaltung der B V P v o m Zentrum. 14 F ü r den Zusammenhang von wirtschaftlicher Depression u n d W a h l v e r halten i n der Weimarer Republik vgl. Werner Kaltefleiter, Wirtschaft u n d P o l i t i k i n Deutschland, 2. Auflage, K ö l n u n d Opladen 1968, S. 24 ff.

~ werb. Part.

39 290 526

35 199193

99,6 99,9

99,3 4

597 554 2,8 0,4 0,0

271 595

168 947

493 165 1,7

832 563

2,8

8 5

316 410 481 588^)

412 822 523 503^)

5

1 548 762

136 315 548 040