Das Treppenhaus im neuen Museum [Reprint 2022 ed.]
 9783112626542

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Volksthümliche Führer durch die Königlichen Sammlungen in Berlin herausgegeben von der

Centralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen.

III. Das Treppenhaus im

Neuen Museum von

Oberlehrer Dr. Schultz.

Preis 10 Pfennig.

Verlag von W. Spemann in Berlin.

Das neue Museum ist von dem vortrefflichen 1865 ver­ storbenen Architekten Stüler (der auch die große Kuppel über

dem königlichen Schloß geschaffen hat) hinter das Schinkelsche Alte Museum angebaut und mit diesem durch einen über

die Straße weg führenden Gang verbunden. Es enthält unten

egyptische und altasiatische Altertümer, sowie Bildwerke aus dem Mittelalter; im Mittelgeschoß Gipsabgüsse nach alt-grie­ chischen und alt-römischen Bildsäulen; oben die Kupferstich­ sammlung, sodann altgriechische Vasen, Geräte u. s. w. Berühmt

ist sein großartiges Treppenhaus. Wir betreten dieses letztere von jenem weiten Säulenhofe aus, der die Nationalgalerie umgiebt. Gleich in der Eingangs­

halle setzen uns riesige Steindenkmäler des grauesten egyptischen und asiatischen Altertums in Verwunderung; einige dieser Ar­ beiten dauern nun schon bald 4000 Jahre.

Links finden sich

dann ein paar Gipsabgüsse aus dem deutscheu Mittelalter, dar­

unter einer von dem berühmten Braunschweiger Löwen; dieses

Bronzewerk stellte Heinrich der Löwe als Siegesdenkmal vor seiner Burg auf;

es ist derselbe sagenberühmte Herzog von

Sachsen, der im Jahre 1176 seinem Kaiser Friedrich Rotbart die Treue brach, dafür sein Herzogtum verlor und in die Ver­ bannung wandern mußte. Wir steigen die große Treppe empor. Zu beiden Seiten sind hier Gipsabgüsse von alten Werken angebracht. Am inter­

essantesten sind links die beiden einander gegenüberstehenden

4 kopflosen Löwen. Der Abguß ist nach einer grauen Steinplatte gemacht, welche vor fast 3000 Jahren über dem Palastthor der griechischen Königsburg Mykenä als Schmuck angebracht wurde. Die verlorenen Köpfe schauten einst mit fletschenden Zähnen den Eintretenden an, gewissermaßen um alle Feinde von der Burg abzuschrecken. Die mächtigen Ruinen der ver­ sunkenen Herrlichkeit stehen jetzt samt dem Löwenthor in öder Bergwildnis. — Oben längs den Brüstungen ziehen sich zwei lange Bänder mit vielen Gestalten in erhabener Arbeit (Relief). Dies sind Gipsabgüsse von einem Reliefstreifen, welcher um einen griechischen Tempel unter dem Dach wie ein Band herum­ lief; rechts sehen wir Kämpfe griechischer Helden gegen Cen­ tauren, Ungeheuer mit Roßleibern und den Oberkörpern von Menschen; links fechten Männer gegen Amazonen, kriegerische Frauen der Sage. (Eine Amazone von dem modernen MeisterKitz sieht man am Eingang des Alten Museums mit einem Panter kämpfen). Der schöne, kleine Tempel, von dem das Reliefband stammt, liegt im arkadischen Gebirge zu Bassä (SüdGriechenland); er ist kurz vor 400 v. Chr. gebaut; die echten Reliefs sind gegenwärtig im Londoner Museum. — Oben an der Treppe begrüßen uns zwei riesenhafte, Rosse zügelnde Jünglinge; dies sind Gipsabgüsse von zwei altgriechischen Steinfiguren, die seit vielen Jahrhunderten auf dem Hügel Roms stehen, wo jetzt der Palast des Königs von Italien liegt. — Wendet man sich von hier aus um, so sieht man über die Treppe weg, längs der entgegengesetzten Wand eine Anzahl von Figuren, die in eine Gruppe zusammengehören; es sind Gipsabgüsse von griechischen Marmorbildern, welche in Florenz aufbewahrt werden. Sie stellen das Unglück der Königin Niobe dar. Niobe rühmte.sich der Sage nach, weil sie vier­ zehn Kinder geboren habe, die Göttin Leto aber nur zwei (näm­ lich den Lichtgott Apollo und die Mondgöttin Artemis); dar­ über ergrimmte Leto, und Apollo erschoß alle sieben Söhne, Artemis alle sieben Töchter der Niobe mit Pfeilen. Die arme

5 Mutter aber grämte sich so, daß sie zu Stein wurde.

Wir

erkennen in unsern Bildsäulen teils flüchtende, teils verwundete,

teils schon getötete Knaben und Mädchen verschiedenen Alters: der ältere, mehr als die andern Figuren bekleidete Mann ist der Erzieher der Königskinder,: die schönste Gestalt ist Niobe

selbst, schmerzlich zum Himmel blickend, ihre kleinste Tochter vergeblich mit der Hand deckend;

sie ist links von der Thür

ausgestellt. Wahrscheinlich stand die Niobegruppe im drei­ eckigen Giebel eines Tempels; die Niobe selbst bildete dann die

Mitte, zwei Tote lagen in den spitzen Winkeln links und rechts.

— Gegenüber der Gruppe, über der Treppenbrüstung ist ein kräftiger Riese gelagert; es ist der Nil (Flüsse werden ja auch

jetzt noch häufig als Personen abgebildet);

die 16 Kinder, die

um ihn spielen, bedeuten 16 Ellen: tritt im Sommer das Nil­

wasser so hoch über seinen gewöhnlichen Stand, so giebt es für Egypten ein fruchtbares Jahr; darum hält der Alte das Füll­ horn mit den Früchten in seiner Hand;

er stützt sich auf die

Sphinx, jene egyptische Märchengeftalt mit Menschenkopf und Wwenleib; mehrere der Kinder spielen mit einem Krokodil,

das ja im Nil häufig vorkommt.

Das schöne Steinwerk wird

nicht lange vor Christi Geburt von einem Griechen gearbeitet

sein; das Original ist im päpstlichen Palaste zu Rom. Ueber der Niobegruppe krönt den oberen Absatz des Treppen­

hauses eine kleine Halle, deren Dach von vier schönen Mädchen getragen wird; dies ist die Nachbildung eines berühmten Tempel­

vorbaues zu Athen: er stammt beinahe aus derselben Zeit wie jener Tempel von Bassä.

Von dieser „Mädchenhalle" schreibt

sich die Erfindung her, Figureu an Stelle von Säulen zu ver­

wenden; an zahlreichen Balkönen und Hausthüren, auch Berlins, sieht man ja jetzt dergleichen.

Die im Treppenhaus aufgestellten Steinwerke und Abgüsse bereiten uns schon darauf vor, daß wir im Neuen Museum

Arbeiten der verschiedensten Zeiten teils echt, teils im Abguß finden werden. Darum war es ein schöner Gedanke, an den

6 mächtigen Wänden sozusagen die ganze Weltgeschichte in kurzem Auszuge mittels sechs großer Bilder uns vorzuführen.

Gemalt

hat diese der 1874 verstorbene Wilhelm Kaulbach.

Wir

wollen die Wandgemälde jetzt aufmerksam betrachten, indem wir

uns zunächst von dem rechten Rosselenker aus umwenden und nun die [ftnfe] Treppe bis zur Mädchenhalle emporsteigen; von hier sehen wir nach der rechten Wand hinüber und erblicken zu­ nächst über der Thür das Bild der „Sage"; denn Sage ist ja alle älteste Ueberlieferung des Menschengeschlechts.

Als ein

uraltes Weib sitzt die Sage da, ihr zu Füßen Scherben, Ge­ beine, eine gefallene Krone; ihr ums Haupt fliegen zwei Raben

und krächzen ihr vergessene Geschichten in die Ohren. — Nun,

langsam die Stufen wieder hinunter steigend, haben wir vor

uns das Bild, welches den Anfang der eigentlichen Geschichte uns zeigen soll; denn Geschichte konnte es ja erst geben, seit­

dem es getrennte Völker gab; nun erzählt uns aber die Bibel, wie die eine Familie der Urzeit sich in mehrere Zweige spaltete, wie an Stelle einer Sprache viele wurden, mit an­

deren Worten, wie die Verschiedenheit der Nationen anfing und damit die Möglichkeit zu geschichtlichen Ereignissen, Kriegen u.dergl: es ist die Erzählung vom babylonischen Turm­

bau;

diese führt uns der Maler hier vor Augen.

Im

Hintergründe steht der mächtige unvollendete Turm; Gewitterwolke hüllt ihn ein, Gott Vater selber mit

eine zwei

und

Engeln ist in ihr zur Erde gestiegen ^„Wohlauf, lasset uns her­

niederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren!" 1. Mose, 11]. Die Arbeiter am Bau erschrecken über die Himmelserscheinung,

sie schreien und fluchen, aus ihren Geberden merkt man, daß sie

einander nicht mehr verstehen. Unter dem Turm sitzt, von seinem zersplitternden Volk umdrängt, der finstere König, der ihn erbauen wollte; sein Thron ist vom Blitze getroffen, und die bronzenen

Pfosten, die Götzen darstellen, haben jugendliche Mitglieder des gottlosen Herrscherhauses zerschmettert, der Tyrann ist machtlos,

sein Volk zieht in die Ferne. Den Vordergrund füllen die drei sich

7 trennenden Söhne Noahs mit ihren Familien; von ihnen nehmen ja dann die drei großen Zweige der weißen Menschen ihren Anfang. Links fährt der ehrwürdige Sem auf einem mit Ochsen bespannten Wagen, ruhig und heiter wallen die Seinigcn, eine Schafherde weist auf das Hirtenleben einiger semitischen Völker hin sAbraham! Die Arabers; die Weinranken am Wagen auf das Bauernglück Israels in dem Lande, da Milch und Honig floß. Nach vorn zieht Ham, der Ahnherr nordafrikanischer Stämme; seine und seiner Angehörigen häßliche Gesichtszüge und ängst­ liche Mienen, die bräunliche Hautfarbe, das Götzenbild, das er so sorglich in seinen Armen birgt, sein weißer Wüstenmantel, der Büffel, auf dem er reitet: all das mahnt an Sitten und Schick­ sale des dunklen Erdteils. (Mit den Negern des inneren Afrikas sind die Nachkommen Hams freilich nicht zu verwech­ seln!) Nach rechts sprengt Japhet auf feurigem Pferde, mit ihm kriegerische Hausgenossen; die heldenhafte Geschichte Europas wird in diesen Gestalten versinnbildlicht. Es folgt das Bild des Moses, der wichtigsten Gestalt des alten Testaments. Die europäischeGeschichte aber beginnt mit den Griechen. Dieses hoch begabte Volk hat so herrlich zu bauen, zu bilden, zu dichten verstanden, hat so große Fortschritte in der Gelehr­ samkeit gemacht und so tief über die schwersten Fragen nach­ gesonnen, daß unsere heutige Kunst und Wissenschaft eigentlich nur eine Fortsetzung jener altgriechischen ist. Weil uns nun die Gebäude, Marmorbilder, Gedichte der Griechen wichtiger sind als ihre Kriege und bürgerlichen Streitigkeiten, so stellt Kaulbach ihren größten Dichter, Homer, in den Mittelpunkt des nächsten Gemäldes. Homer besang etwa 1000 v. Chr. den trojanischen Krieg und die Rückkehr des Helden Odysseus von Troja nach seiner Heimatinsel; seine zwei Bücher wurden die Lieblingswerke Griechenlands. Wie er die Götter dargestellt hatte, so dachte man sie sich später: deshalb sagte man wohl, er habe den Griechen ihre Götter erst so eigentlich gegeben; an dem Vorbild seiner Kriegergestalten begeisterten sich die griechi-

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scheu Soldaten zum Kampf fürs Vaterland; im Andenken an seine Verse arbeiteten die Bildhauer und Maler; die Kinder lernten in den Schulen den Homer so, wie man etwa bei uns die biblische Geschichte treibt. Darum sehen wir den Dichter nun vor uns, wie er dem ganzen griechischen Volke, und den Göttern dazu, seine Gesänge vorträgt; er steht in einem Kahn, die „Sage" sitzt hinter ihm; um ihn lauschen Wassergöttinnen, vor ihm am Strande horcht ein festlicher Kreis. Links sieht man Künstler bauen und meißeln, hinten Soldaten ihren Kriegstanz um einen Altar aufführen; dahinter breitet sich eine schöne Landschaft aus, enges Meer und Berge: es sind die Höhen von Salamis, berühmt durch einen der größten Siege altgriechischer Tapferkeit. In den Wolken aber, zu denen der Altarrauch emporzieht, wandeln die Götter; voran die drei Grazien, Göttinnen der Anmut, welche nach dem kleinen Liebes­ gotte haschen, dann Apollo, der Gott des Lichts und der Gesänge, gefolgt von den neun Musen, deren jeder eine Kunst Unter­ than war; hierauf ein thronendes Paar, gerade über dem Altar: der höchste Gott, Zeus, mit seinem Adler und seine Gemahlin Hera mit ihrem Pfau. Die kriegerische Göttin gleich dahinter ist Pallas Athene; dann folgt noch ein langer Zug himmlischer Gestalten. Der sinnende Mann mit der Tafel, in die ein lern­ begieriger Knabe so eifrig blickt, soll uns nun auch die griechische Gelehrsamkeit nahebringen, es ist Pythagoras, der Ent­ decker des wichtigsten Lehrsatzes der Geometrie; auf der Tafel muß die zum Lehrsatz gehörige Figur ausgezeichnet sein. Als der Weise die große Wahrheit gefunden hatte, opferte er dem erleuchtenden Gotte Apollo hundert Stiere; darauf weist das vor ihm liegende Beil hin. Durch das Christentum wurde die Geschichte der alten Völker, Griechen, Römer und Juden unterbrochen. Die eigent­ liche jüdische Geschichte insbesondere endet mit der schrecklichen Zerstörung Jerusalems durch den römischen Prinzen, späteren Kaiser Titus, im Jahre 70 n. Chr. Dieses Ereignis

9 führt uns das dritte große Gemälde Kaulbachs vor. Wir sehen in düsteren Wolken Racheengel auf die unglückliche Stadt niedersteigen, darüber sitzen die vier großen Propheten und halten die Tafeln ihrer Schrift den Juden entgegen: sie haben ihr Volk gewarnt! Unter der Wolke rasen alle Greuel der Zerstörung; links hinten brennt der Tempel, weiter vorn werden Frauen von rohen Kriegern erbeutet und geschleift, von rechts hinten kommt der römische Prinz mit seinem Gefolge geritten, unbewegt, unbarmherzig, recht ein Bild des furchtbaren römischen Reiches, das so mitleidlos alle Völker niedertrat, bis es endlich selbst von unseren deutschen Vorfahren zerschmettert wurde. In der Mitte des Vordergrundes sicht timit eine verzweifelnde Gruppe: ein jüdischer Priester hat seine Kinder getötet, will eben sich selber das Schwert in die Brust stoßen, seine Frau bittet ihn um den Tod. Nach rechts zieht unter dem Schutz eines Engels eine Christenfamilie; jüdische Kinder flehen sie an, sie mitzunehmen; der Künstler will damit sagen, daß das Christentum gerade seit dem Untergange des jüdischen Tempels seine weiteste Verbreitung gewann. In scharfem Gegensatz zu dieser stillen Gruppe steht links der von Furien Mache­ göttinnen^ gehetzte Ewige Jude Ahasver, der nach der Sage dem Herrn auf seinem Kreuzesgange einen Ruhesitz weigerte und dafür nun in Ewigkeiten ruhelos wandern muß! Mit dem Bilde von der Zerstörung Jerusalems ist das Altertum abgeschlossen; die Wand endet mit einer Figur, welche die Geschi chte bedeutet; ein Knabe hält ihr ein Buch zum Schrei­ ben hin. — Und damit sind wir die Treppe ganz herunter ge­ kommen, gehen nunmehr nach der andern srechtenj Treppe hin­ über und beschauen die Bilder der zweiten Wand, indem wir emporsteigen. Diese Wand giebt uns das Mittelalter und die Neuzeit; eine Darstellung der Wissenschaft, der „Ge­ schichte" gegenüber eröffnet sie; das Licht des Wissens wird durch die Fackel bezeichnet. — Das Mittelalter beginnt nun mit der Zertrümmerung des Römerreichs durch die Deutschen, der so-

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genannten Völkerwanderung [375—578 n. Chr.). In diese führt uns das erste große Gemälde ein.

Deutsche Völker hatten bereits Spanien, England, Teile des jetzigen Frankreichs in Besitz genommen, in Italien regierte noch der römische Kaiser, als um 451 n. Chr. sich für Römer

und

Deutsche eine gemeinsame, große

Gefahr erhob.

Das

schreckliche Asiatenvolk der Hunnen nämlich, das seit mehr als

siebenzig Jahren in den Ebenen Osteuropas saß, bewegte sich unter schauerlichen Kriegsgreueln nach Westen. Sein König war Attila, der in unserer Nibelungensage als Etzel fortlebt; er selbst nannte sich „Gottesgeißel", er behauptete, zum Züchtiger

und Vernichter aller Völker erkoren zu sein.

Zunächst zog er

nach dem jetzigen Frankreich, alles verwüstend. Da vereinigten

sich die deutschen Westgoten, die eben hier und in Spanien ihre Sitze aufgeschlagen hatten, mit den Römern;

es wurde bei

ChLlons eine der gewaltigsten Schlachten geschlagen, in der

übrigens gewisse deutsche Stämme wie die Ostgoten auf hunni­

scher Seite kämpften. Nach entsetzlichem Gemetzel mußte Attila abziehen, und der Westen war gerettet; bald darauf zerfiel das

Reich des großen Würgers. Die Sage berichtete aber, es hätten in der Nacht nach dem Kampfe die Seelen der Ge­

fallenen in den Lüften noch weiter gekämpft;

und eben dies

stellt der Maler uns dar; von rechts schwebt das Hunnenheer,

von links tote Römer und Deutsche zu neuem Streit in die

Wolken.

Recht in der Mitte des Geistergefechts wird Attila

selber auf einem Schilde von den ©einigen getragen; in der

Hand schwingt er eine Fackel, deren Flammen wie die Schnüre einer Peitsche auseinander fahren; der Künstler braucht hier

eine gewisse Freiheit, da der Fürst selbst in der Schlacht ja garnicht gefallen war. Ihm entgegen dringt der Westgotenkönig, erkennbar am mächtigen Flügelhelm; dieser war wirklich unter dm Gebliebenen des Bluttages.

Die jammernden Frauen­

gestalten erinnern an die massenhaften Schlächtereien unter Wehrlosen, die in jenen wilden Kriegen allgemein waren.

11 Die Deutschen, welche das Römerreich zerstört hatten, waren zunächst noch sehr roh und mußten erst allmählich, besonders durch die christliche Kirche, zu höherer Gesittung gebracht werden. Daher wird das folgende Jahrtausend, das eigentliche Mittelalter, ganz durch die katholische Geistlichkeit beherrscht; und wenn ein gewaltiger Monarch, wie Karl der Große, sein Volk erziehen und veredeln wollte, so that er dies im engen Bündnis mit dem Papste und in beständigem Verkehr mit Italien; ließ er sich doch im Jahre 800 zu Rom die alte römische Kaiserkrone vom Papst aufs Haupt setzen. Karl galt allen mittelalterlichen Königen als ihr Vorbild; in unzähligen, französischen und deutschen Sagen und Liedern lebt sein An­ denken fort; seine Staatseinrichtungen beherrschten die gesamte Folgezeit. Das Bild dieses mächtigen Mannes giebt uns Kaulbach so, wie die Phantasie der alten deutschen Maler es sich dachte. Als die Macht der Kirche am höchsten war, unternahm die Ritterschaft von halb Europa im Auftrage der Päpste jene berühmten Züge gen Morgen, um das Heilige Land (ins­ besondere aber Jerusalem, Bethlehem, Nazareth) den Türken zu entreißen und wieder christlich zu machen, nachdem es bald 500 Jahre unter mohammedanischer Herrschaft gestanden hatte. Diese Kreuzzüge sind in mancher Beziehung das denkwürdigste Ereignis in der streng kirchlichen Zeit des Mittelalters; nicht nur zeigte sich hier der Glaubenseifer jener Tage in seiner stärksten Glut, sondern auch das eigentümliche mittelalterliche Kriegswesen wurde jetzt ganz ausgebildet; gepanzerte „Ritter" schlugen sich mit den türkischen Reitern auf den dürren Ebenen des Ostens. Viele Erzeugnisse und Erfindungen Asiens lernte Europa erst durch die Kreuzzüge kennen; Wissenschaft und Kunst wurden bereichert durch diese Fahrten in die äußerste Ferne; der Handel blühte empor, infolgedessen nahm auch die Industrie zu. Und so thut der Künstler recht daran, wenn er uns ins Mittelalter durch ein Bild gerade aus den Kreuzzügen einführt.

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Der gewählte Augenblick ist der, wo das Christenheer zum ersten­ mal von Norden die Türme und Mauern Jerusalems er­ schaut (Sommer 1099). Von allen Seiten strömen die Krieger zusammen, betend und jauchzend, zwischen ihnen knicen Büßer, einer davon zergeißelt sich, um seiner Sünden los zu werden, den nackten Rücken. Die Heldengestalt, die von rechts heran­ reitet, die Krone in der ausgestreckten Hand, ist Gottfried von Bouillon; ihm wurde nach Jerusalems Eroberung die Königs­ würde angeboten, er aber wollte da keine Krone tragen, wo der Heiland unter der Dornenkrone geblutet hatte; er scheint auf dem Bilde den goldenen Reif wie ein Opfer hinlegen zu wollen. Aus den Wolken schauen Christus, Maria und Heilige auf die Kreuzfahrer, heller Sonnenglanz fällt über die weißgekleideten Geistlichen, die den Mittelpunkt des Gemäldes bilden. Sie tragen in kunstvollem Schrein wunderthätige Ueberreste von Heiligen (Reliquien), man denkt unwillkürlich an die Priester des alten Testaments, die die Bundeslade trugen. Die Zeit der mittelalterlichen Kirchenherrschaft nahm im 15. und 16. Jahrhundert ein Ende durch vielerlei Ursachen. Die Europäer, besonders aber die Italiener, wurden immer­ feiner gebildet und lernten selbstständiger zu denken. Man mochte sich nicht mehr so ganz von den Geistlichen regieren lassen. Man entdeckte, wie Großes schon die alten Griechen und Römer geleistet hatten, die versunkene Heidenzeit erschien manchem als viel besser und freier, denn die kirchliche Gegen­ wart; große Entdeckungen, besonders die Amerikas und die des Umlaufs der Erde um die Sonne erregten heißes Interesse für die Naturwissenschaften und schwächten die Gewißheit mancher katho­ lischen Glaubenssätze; zudem lebte die Geistlichkeit in diesen Jahr­ hunderten nicht immer den kirchlichen Regeln gemäß und erbitterte die Völker durch allerlei Bedrückungen. So kam es denn im Jahre 1517 zur Reformation Luthers und damit zur Zersprengung der mittelalterlichen Weltordnung. Auf allen Gebieten sind um jene Zeit die Anfänge des modernen Lebens entstanden; die

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Staatsverwaltungen begannen sich zu ändern; die Kriegskunst war durch das Schießpulver umgewandelt worden, die Schiff­ fahrt durch den Kompaß; die Buchdruckerkunst brachte geistiges Leben in weite Kreise; die neuere Gelehrsamkeit beruht auf den Entdeckungen jener geistesstarken Zeiten: die Kunst stand da­ mals, besonders in Italien, auf unerreichter Höhe. Und so wollte Kaulbach seine Wanderung durch die Weltgeschichte mit einem Bilde des Zeitalters der Reformation beschließen. Weil er aber die ganze Bedeutung dieser Jahrhunderte illustriren wollte, so giebt er keinen einzelnen geschichtlichen Vorgang, sondern er stellt die hervorragendsten Menschen aus etwa drei­ hundert Jahren wie zu einer großen Gemeinde zusammen. Der Schauplatz ist eine Kirche; im Hauptchor wird das Abend­ mahl auf evangelische Weise den Fürsten und Streitern des neuen Glaubens gereicht; unter diesen erkennen wir z. B. auch die evangelische Königin Elisabeth (links), die ein Kind war, als Luther starb, und den frommen Schwedenkönig Gustav Adolf (rechts), der 86 Jahre nach Luthers Tode im Kampfe für das Evangelium fiel (1632). Auch bedeutende Gestalten der katholischen Kirche schauen zu, wiewohl von ferne und ver­ stimmt. Den Mittelpunkt dieser Gruppe bildet Luther selbst, die geöffnete Bibel hoch in beiden Händen uns entgegenhaltend. — In den Chören der beiden Seitenschiffe wird gemalt (rechts) und Sternkunde gelehrt (links). — Vorn aber sammelt sich die Wissenschaft und Dichtung um zwei Centren. Links sinnt Columbus, der Entdecker Amerikas (1492), über seinem Globus; Naturforscher und Mathematiker umdrängen ihn. Rechts werden Bildwerke des Altertums bestaunt; Sprach­ gelehrte, Denker und Dichter erbauen sich an der wiederauf­ gefundenen Herrlichkeit und sinnen neuen Schöpfungen nach. Deutlich erkennt man unter andern den ganz rechts stehenden Italiener Petrarca mit dem Lorberkranz, der schon im 14. Jahr­ hundert seine berühmten Verse schrieb; ihm gegenüber sitzt die edle Gestalt des letzten großen Dichters dieser Zeiten, des 1616

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gestorbenen Engländers Shakespeare.

Etwas abseits, nach

der Mitte zu, sitzt der wackere deutsche Schuhmacher und Poet

Hans

Sachs, ciu Zeitgenosse Luthers,

bescheidentlich

am

Boden und schreibt. Wie vor dem Kreuzfahrerbilde die Figur des größten

mittelalterlichen Herrschers, so thront vor dem Reformations­ bild die eines großen modernen Königs, des alten Fritz. — Die

Reihe

der

Gemälde schließt mit der

Darstellung

„Dichtung", die den Lorber auf dem Haupt,

der

die Harfe in

der Hand trägt; sie bildet das Gegenstück zu der „Sage",

bei der wir unsere Wanderung begannen; wir wieder oben, neben der „Mädchenhalle".

und damit stehen

Druck von Albert Damcke, Berlin SW. 12.