Das Studium des Judentums und die jüdisch-christliche Begegnung 9783737001670, 9783847101673, 9783847001676

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Das Studium des Judentums und die jüdisch-christliche Begegnung
 9783737001670, 9783847101673, 9783847001676

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Verena Lenzen (Hg.)

Das Studium des Judentums und die jüdisch-christliche Begegnung Unter Mitarbeit von Denis Maier und Stefan Heinzmann

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0167-3 ISBN 978-3-8470-0167-6 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Forschungskommission der Universität Luzern. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort

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Verena Lenzen Im Spiegel der Zeit Judaistik und jüdisch-christliche Dialogforschung in Luzern

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Günter Stemberger Judaistik nach der Shoah im deutschsprachigen Raum

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Dan Diner Jüdische Studien heute Zwischen Beteiligung und Beobachtung

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Kurt Koch Zum Jubiläum der Judaistik und des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung in Luzern

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David Rosen Jewish-Vatican Relations Opportunities and Problems

51

Benedikt M. Lindemann Interreligiöse Verständigung und Friedensarbeit im Heiligen Land

65

Moshe Zuckermann Der moderne Staat Israel Historische Widersprüche, aktuelle Probleme

73

Günter Stemberger Das rabbinische Judentum als bleibende Basis jüdischer Kultur

79

6 Michael Brenner Hebräisch in Deutschland Eine wechselvolle Geschichte

Inhalt

91

Jakob Hessing Germanistik in Israel Aspekte einer Trauerarbeit

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Anne Birkenhauer Sprache und Existenz bei David Grossman und Chaim Be’er Beobachtungen der Übersetzerin

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Autoren und Autorinnen

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Vorwort

Das Studium des Judentums und die jüdisch-christliche Begegnung, so lautete das Thema des Symposiums, das anlässlich des 40jährigen Jubiläums des Fachs Judaistik und des 30jährigen Bestehens des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF) vom 23. bis zum 25. Oktober 2011 an der Universität Luzern stattfand. Die beiden Schwerpunkte umreißen das Profil dieser Lehr- und Forschungsstätte, denn die Wissenschaft vom Judentum wird hier als eigenständige Disziplin und als Voraussetzung eines kompetenten jüdisch-christlichen Gesprächs sowie einer erneuerten Theologie im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils vermittelt. So standen beide Anliegen nicht als separate Themenblöcke nebeneinander, sondern ergänzten und trafen sich in der Frage nach der Religion im Prozess der Säkularisierung und im Sujet der Sprache und der Sprachen des Judentums, das sich als Grundtenor durch fast alle Beiträge zog. Es war die Rede von der Sprache Gottes, von Muttersprachen und Bildungssprachen, von Sprachwandel, Mehrsprachigkeit und Sprachverlust, was auf faszinierende Weise zum Ausdruck brachte, wie wesenhaft das Phänomen Sprache für das Judentum ist. Die Vielschichtigkeit der Judaistik spiegelt sich in den Studien dieses Bandes, ob sie nun aus historischer, soziologischer, literaturwissenschaftlicher, philologischer oder theologischer Perspektive verfasst wurden. Alle Vorträge wurden für die Drucklegung fortgeschrieben und aktualisiert. Die unterschiedlichen Zugänge lösten eine lebhafte Diskussion zwischen den Rednern und dem Publikum aus, die in einer wissenschaftlich anregenden und kollegial freundschaftlichen Atmosphäre stattfand. Alle Referenten und Autorinnen sind mit dem IJCF auf irgendeine Weise verbunden, sei es als Gastprofessoren der Daniel Gablinger-Stiftung, durch regelmäßige Vorträge oder durch die Mount Zion Foundation des Instituts. Einleitend skizziere ich die Geschichte des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung: Im Spiegel der Zeit: Judaistik und jüdisch-christliche Dialogforschung in Luzern, und zwar im Kontext der europäischen Entwicklung des Fachs und der jüdisch-christlichen Dialogbewegung des 20./21. Jahrhunderts. Der

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Vorwort

historische Rückblick bleibt mit dem Namen des Gründers in dankbarem Andenken verbunden, Prof. Dr. Clemens Thoma (1932 – 2011), der in Judaistik bei Prof. Dr. Kurt Schubert in Wien promoviert wurde, so dass zwischen Wien und Luzern traditionell eine Achse besteht. Diese Verbindung nimmt Günter Stemberger, emeritierter Professor für Judaistik an der Universität Wien, in seinem Festvortrag Judaistik nach der Shoah im deutschsprachigen Raum auf, in dem er die Geschichte und die vielfältige Landschaft des Fachs, die verschiedenen Entwicklungen, Ziele und Zukunftsperspektiven der Judaistik und der Jüdischen Studien aufzeigt. Programmatisch bleibt für die Judaistik die Behandlung des Judentums mit seiner Geschichte, Religion und Kultur von den Anfängen bis heute. Zu aller Wissenschaftlichkeit und Objektivität der Judaistik gehört nach Stemberger aber auch der prototypische Charakter des Fachs, das »eine zutiefst humanistische Disziplin [ist], dem Kampf gegen Vorurteil und Ausgrenzung von Minderheiten aller Art verpflichtet«. Dan Diner, Professor für moderne europäische Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem sowie Professor für Jüdische Geschichte an der Universität Leipzig, geht in seinem Beitrag Jüdische Studien heute: Zwischen Beteiligung und Beobachtung dem gegenwärtigen Interesse an Jüdischen Studien im deutschsprachigen Raum nach, das sich nicht nur auf den Sonderstatus des Holocaust zurückführen lässt, sondern darüber hinaus auf die epistemologische Bedeutung der Juden als Seismograph der lebensweltlichen Konstellation der Moderne verweist. Er entfaltet das geometrische Denkbild vom sakralen Zentrum (Judentum) inmitten konzentrischer Kreise abnehmender Heiligkeit als Axiom jüdischer Geschichte und als eine dem komplexen Gegenstand angemessene Wissensordnung aus den Bereichen Judentum, Judenheiten, Juden, Antisemitismus und Holocaust. Die jüdische Binnensicht und wissenschaftliche Außensicht des Judentums beschreibt er als spannungsvollen Perspektivenzwiespalt zwischen Beteiligung und Beobachtung und als unterschiedliche Wege der Verständigung. Jüdische Studien besitzen nicht nur eine kulturwissenschaftliche Vorreiterrolle, sondern erweisen sich auf Grund methodischer wie hermeneutischer Analogien auch als Modellfall für die aktuelle Frage nach der universitären Vermittlung des Islams. In seinem Grußwort zur Feier des doppelten Jubiläums des IJCF würdigt Kardinal Kurt Koch, Präsident der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum und Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, die Verdienste des Instituts für JüdischChristliche Forschung, das im Geist der Konzilserklärung Nostra aetate (Nr. 4) zu einem wissenschaftlich profunden und gleichberechtigten Gespräch zwischen Judentum und Christentum beitrage. Zudem bereicherte P. Dr. Norbert Hofmann SDB, Sekretär der Kommission, durch seine engagierten Beiträge das

Vorwort

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Tagungsgespräch über den jüdisch-christlichen Dialog im Bewusstsein der Fortschritte und der noch offenen, kritischen Fragen. Eine jüdische Antwort auf die Frage des katholisch-jüdischen Verhältnisses formuliert Rabbi David Rosen, Internationaler Direktor der Abteilung für Interreligiöse Angelegenheiten des American Jewish Committee, der in zahlreichen interreligiösen Foren in Israel und den USA aktiv ist und für seine Verdienste in den jüdisch-katholischen Beziehungen 2005 als erster israelischer Staatsbürger und erster orthodoxer Rabbi von Papst Benedikt XVI. zum Komtur des Gregoriusordens ernannt wurde. Im gleichen Jahr erhielt er den Mount Zion Award durch die Mount Zion Foundation des IJCF. In seiner Analyse JewishVatican Relations: Opportunities and Problems schildert er die Geschichte der jüdischen und israelischen Beziehungen zum Apostolischen Stuhl. Er würdigt die revolutionäre Wende im katholisch-jüdischen Verhältnis seit Nostra aetate sowie die entscheidenden Dokumente und Gesten der Pontifikate seit Johannes XXIII., ohne jedoch die theologischen Spannungen der letzten Jahre und die strukturellen Probleme – wie eine rechtzeitige bilaterale Konsultation oder ein effizientes Krisenmanagement bei Irritationen im vatikanisch-jüdischen Dialog – zu verschweigen. Darüber hinaus fordert er »a far more robust approach to absorbing the messages of Nostra aetate« in »the educational fabric and syllabi of the Church worldwide«. In seiner Ansprache Interreligiöse Verständigung und Friedensarbeit im Heiligen Land entfaltet P. Benedikt M. Lindemann OSB existenzielle Überlegungen über die verschiedenen religiösen Realitäten in Israel und über den Nahostkonflikt. Von 1995 bis 2011 war er Abt der benediktinischen Mönchsgemeinschaft Dormition Abbey in Jerusalem und in Tabgha und mit dem IJCF durch den Friedenspreis der Mount Zion Foundation und das Theologische Studienjahr verbunden. Eindrücklich warnt er die Politik in ihrer Logik der Macht vor einer Instrumentalisierung der Religion. Sein Plädoyer richtet sich auf eine wissenschaftliche und spirituelle Ausbildung von Theologinnen und Theologen in allen drei monotheistischen Religionen, um auf überzeugende Weise dialogfähig zu werden. Die Themen Gesellschaft, Staat, Religion und Frieden stehen auch im Mittelpunkt des Beitrags von Moshe Zuckermann, Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. In seinem Essay Der moderne Staat Israel erörtert er immanente historische Widersprüche des zionistischen Israel, die sich bis heute auf aktuelle Probleme der modernen israelischen Gesellschaft und auf den israelisch-palästinensischen Konflikt auswirken. Ungelöst ist die Frage der Trennung von Staat und Religion und die Aporie zwischen einem modern säkularen Gemeinwesen und dem archaisch-religiös begründeten Zionismus. Dieser Komplex von partikularen Klasseninteressen, ethnischem

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Vorwort

Ressentiment und religiös aufgeladener Ideologie blockiert seiner Meinung nach weiterhin die Friedensdebatte. Als Verfasser klassischer Werke über Talmud und Midrasch betont Günter Stemberger in seinem Beitrag Das rabbinische Judentum als bleibende Basis jüdischer Kultur, dass ohne die Kenntnis der klassischen Tradition die jüdische Geschichte und Kultur der Vergangenheit und der Gegenwart nicht erforscht werden kann. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n. u. Z. bewirkte einen radikalen Umbruch der jüdischen Religion und Kultur und verwandelte das Judentum von einer opferzentrierten Kultreligion zu einer Buchreligion, einer Religion heiliger Texte. Die Ethik des Lernens, die Liebe zum Buch, die Bedeutung von Text, Lesung und Sprache kennzeichnen das große Erbe des rabbinischen Judentums und prägen bis heute das Gesicht des Judentums. Dies erklärt nicht nur die grundlegende Bedeutung der rabbinischen Epoche für die moderne jüdische Literatur, bei allen Brüchen der Tradition, sondern es vergegenwärtigt auch die Zentralität von Sprache, Text und Buch im Judentum, wie sie beinahe alle Studien dieses Bandes auf unterschiedliche Weise bezeugen. Um Sprache, die sakrale und die säkulare Sprache, und um Sprachen, das Hebräische in Deutschland, das Deutsche und das Modernhebräische in Israel geht es auch in den folgenden Kapiteln. Michael Brenner, der seit 1997 den Lehrstuhl für jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München innehat, deutet in seinem Beitrag Hebräisch in Deutschland die wechselvolle Geschichte der hebräischen Sprache im neuzeitlichen Deutschland als Spiegel der deutsch-jüdischen Geschichte vom Triumph bis zur Tragödie. Als Mittel jüdischer Identitätsfindung und als moderne Literatursprache in der Haskala endet ihre Berliner Renaissance Anfang der 1920er Jahre mit der pervertierten Aneignung durch christliche Nazi-Hebraisten und nationalsozialistische Verbrecher wie Adolf Eichmann. Die Fortschreibung und Umkehrung der Geschichte zeigt sich in der Exilierung der deutschen Sprache im jungen Staat Israel nach 1948. Im Schatten der Shoah spaltete das Deutsche als Ausdruck der Galuth das kollektive Gedächtnis des modernen Judentums. Jakob Hessing, der bis 2012 Deutsche Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem lehrte, deckt die literarischen Spuren der deutsch-jüdischen Tragödie im Blick auf Herzl, Heine, Paul Celan und Peter Szondi als Aspekte einer Trauerarbeit auf. Indem die Germanistik in Israel die historischen Bruchstellen der deutsch-jüdischen Literatur aufspürt, vollzieht sie eine schwierige Gratwanderung zwischen Forschung und traumatisierter Erinnerung. Wiederum geht es um Sprache, nun um die modernhebräische Sprache. Anne Birkenhauer reflektiert in den Beobachtungen der Übersetzerin, wie Sprache und Existenz bei David Grossman und Chaim Be’er miteinander ver-

Vorwort

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bunden sind. Zwei ganz unterschiedliche israelische Schriftsteller – Be’er schöpft aus der frühen modernhebräischen Literatur und dem Nachhall der jüdischen Tradition, während Grossman in seinem säkularen, modernen Hebräisch seine ganz persönliche Stimme entfaltet – begegnen sich angesichts der existenziellen Bedrohung Israels im Thema der Sprache, der hebräischen Sprache, die über ihr Leben und ihre jüdische Existenz entscheidet. Im Blick auf das Symposium und die Veröffentlichung der Beiträge im vorliegenden Band geht mein Dank nicht nur an alle Autoren und Autorinnen, sondern auch an jene Persönlichkeiten des öffentlichen und kirchlichen Lebens, die durch ihre Grußbotschaften ihre Verbundenheit mit dem IJCF zum Ausdruck brachten, namentlich Prof. Dr. Paul Richli, Rektor der Universität Luzern; Reto Wyss, Regierungsrat und Bildungsdirektor des Kantons Luzern; Kardinal Kurt Koch, Präsident der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum des Heiligen Stuhls; Dr. Dr. Felix Gmür, Bischof von Basel und Magnus Cancellarius der Theologischen Fakultät, und Dr. Herbert Winter, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds. Was die Organisation und Realisation des Symposiums betrifft, danke ich Rabbiner Dr. David Bollag, Dr. Simon Erlanger, Ingeborg Pfeiffer und vor allem Ingrid Kaufmann sowie den Assistierenden, Denis Maier und Stefan Heinzmann. Letzteren gebührt ein ganz besonderer Dank für die sorgfältige redaktionelle Bearbeitung des Manuskripts. Herzlich danke ich den Freunden und Förderern des Instituts für JüdischChristliche Forschung für ihr Vertrauen: Dr. Michael Kohn, Dr. Mario und Dr. Friederike Pesaro, Gerda Herz-Schoeps und Dr. Josef Heine. Ein besonderer Dank geht an die Sponsoren des Symposiums: Dies sind die Daniel Gablinger-Stiftung, Zürich; die Posen Foundation, Luzern; der Schweizerische Nationalfonds und die Forschungskommission der Universität Luzern, die den Druckkostenzuschuss zu dieser Buchpublikation gewährte. Es ist sehr schön, dass alle Texte nun bei V& R unipress erscheinen. Den Leserinnen und Lesern dieses Buches wünsche ich viel Freude und Gewinn, so wie wir es bei diesem anregenden Symposium erleben durften. Luzern, im Sommer 2013

Verena Lenzen

Verena Lenzen

Im Spiegel der Zeit Judaistik und jüdisch-christliche Dialogforschung in Luzern

Jubiläen sind Erinnerungsfeste Erinnerung und Gedächtnis sind in den letzten zwanzig Jahren zu einem zentralen Paradigma der Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften geworden. Verschiedene Gedächtnismodelle, ob das Kollektive oder Kulturelle Gedächtnis, bestimmen heute weitgehend die Programmatik der Kulturwissenschaften. Doch oft wird dabei übersehen, dass das Judentum die Gedächtniskultur par excellence ist und die Hebräische Bibel, mit Martin Bubers Worten, die »große Erinnerungsspenderin und -wahrerin«. Für uns in Luzern steht genau das im Zentrum unserer Arbeit. Wenn ich hier und heute über die Geschichte des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung spreche, so interessiert mich die Vergangenheit nicht in einer nostalgischen Rückschau, sondern in ihrer dialektischen Beziehung zur Gegenwart, zur Jetztzeit. Mich interessiert, im Sinne von Giulio Camillo, »das Handeln aus Memoria«. Dieses Symposium will die Geschichte des IJCF, mit seinem doppelten Profil der Jüdischen Studien und der Dialogforschung, in einen internationalen historischen Zusammenhang stellen, in den Kontext der Geschichte des Fachs Judaistik – von der Wissenschaft des Judentums bis hin zu den Jüdischen Studien – und in die Bewegung des jüdisch-christlichen Gesprächs in der Moderne. Mit der Betrachtung der Zeit eröffnet sich ein Zeit-Raum: die jüdische Geschichte in der Schweiz und damit das landschaftliche Panorama der Alpen.

Judentum und Schweiz Als der Frankfurter Rabbiner Samson Raphael Hirsch, Begründer der Neoorthodoxie und Vorkämpfer für die Rechte der Juden im 19. Jahrhundert, sich am Ende seines Lebens auf eine Reise in die Schweizer Bergwelt begab, soll er gesagt

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haben: »Wenn ich vor Gott stehen werde, wird der Ewige mich fragen: ›Hast du meine Alpen gesehen?‹«1 Unter diesem legendären Titel erreichte 2011 eine eindrucksvolle Ausstellung des Jüdischen Museums Hohenems und des Jüdischen Museums Wien das Forum Schweizer Geschichte in Schwyz: »Hast du meine Alpen gesehen?« Katalog und Schau beleuchten die jüdische Beziehungsgeschichte zu den Alpen, und diese ist eine lange und ebenso bewegte. Sie wurzelt in den mythologischen Gründungs- und Offenbarungserlebnissen jener heiligen Berge von Sinai, Karmel und Zion. Angesichts der Schweizer Berglandschaft erfuhren und beschrieben jüdische Intellektuelle wie Sigmund Freud, Walter Benjamin, Gershom Scholem, Theodor W. Adorno oder Paul Celan die spirituelle Dimension von Gipfelblick und Berg- und Talwanderung. »Wer nie bergauf gegangen ist, hat nie gelebt …«, schrieb der jüdische Philosoph Vil¦m Flusser, der immer wieder nachsann über Täler, Berge und Pässe.2 Es entfaltete sich eine wechselvolle Geschichte der Juden in ihrem Verhältnis zu den Alpenländern, »die Geschichte einer oftmals enttäuschten Liebe«3. Die Geschichte der Juden im Alpenraum, sie beginnt mit der Ausdehnung des Römischen Reiches, fängt an als eine Geschichte des Reisens und des Transits und führt erst spät zu jüdischen Niederlassungen, in der Schweiz unter anderem in Lugano und in Luzern, wo sich 1856 die ersten Juden ansiedelten. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts entfaltete sich gleichzeitig ein saisonales jüdisches Leben in den Schweizer Kurorten. Die alpine Touristik erschloss die Bergwelt als bürgerlichen Erholungsraum, als gediegenes Familienidyll und als sportliche Herausforderung, und jüdische Hoteliers und Reisende gehörten hier zu den Pionieren. Der Alpinismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert bedeutete für die europäischen Juden zugleich Universalismus, Emanzipation und Assimilation. Für viele Juden symbolisierte die Bergwelt das tiefste Gefühl von Heimat, das schon bald mit der radikalsten Erfahrung von Heimatlosigkeit konfrontiert werden sollte. Keine alpinistischen Erlebnisse prägten die Jahre zwischen 1938 und 1945, sondern Flucht und Vernichtung. Die Alpen wurden zum Fluchtgelände und zur Gratwanderung, die über Leben und Tod entschied. Jüdische Schriftsteller und Dichterinnen wie Else Lasker-Schüler oder Margarete Susman erfuhren in den Jahren der Verfolgung die Schweiz als Exil im Sinne von Zuflucht und Fremde. 1 S. R. Hirsch zitiert nach: Hast du meine Alpen gesehen? Eine jüdische Beziehungsgeschichte. Herausgegeben für das Jüdische Museum Hohenems und das Jüdische Museum Wien von Hanno Loewy und Gerhard Milchram. Hohenems 2009, S. 9. Vgl. zur Geschichte das Vorwort Loewy, Hanno; Milchram, Gerhard: Die Alpen ein Missverständnis?, S. 12 – 18. 2 Flusser, Vil¦m: Vogelflüge. Essays zu Natur und Kultur. München 2000, S. 22. 3 Vgl. Loewys Vorwort, S. 13.

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Auch für die Geschichte des Zionismus spielt die Schweiz eine bedeutende Rolle, und nicht nur durch den Ersten Zionistenkongress in Basel 1897, den Theodor Herzl in seinem Tagebuch am 3. September 1897 mit den Worten kommentierte: »[I]n Basel habe ich den Judenstaat gegründet.«4 Die Kongresse in Zürich, Genf und nicht zuletzt der 19. Zionistenkongress in Luzern 1935, an dem Chaim Weizmann, David Ben Gurion, Sammy Gronemann und der junge Fritz Rosenthal, später Schalom Ben-Chorin, teilnahmen (hier vor unseren Augen, am Vierwaldstättersee), waren ebenfalls wichtige Etappen auf dem Weg zur Staatsgründung Israels. Herbert Winter, der Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, schrieb in der NZZ: »Die meisten der in der Schweiz lebenden rund 18 000 Jüdinnen und Juden sind jedoch seit Generationen hier verwurzelt, wobei wir erst seit etwa 150 Jahren als gleichberechtigte Bürger anerkannt werden. Wir […] sind genauso Teil der Schweizer Gesellschaft wie unsere reformierten und katholischen Nachbarn auch. Zur Schweizer Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft leisten wir Juden unseren Beitrag.«5

Wie begegnet man in der Schweiz der jüdischen Geschichte und der Präsenz jüdischen Lebens? Wie gestaltet sich hier das Zusammenleben der christlichen Majoritätsgesellschaft mit der jüdischen Minorität?

Das Institut für Jüdisch-Christliche Forschung in Luzern Auch die Geschichte des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung gehört in den Rahmen dieser jüdischen Beziehungsgeschichte zur Schweiz und der noch schwierigeren Beziehungsgeschichte zwischen Judentum und Christentum, vor allem aber in die neue Verhältnisbestimmung der christlichen Kirchen zum Judentum nach 1945. Für die Katholische Kirche hat hier das Zweite Vatikanische Konzil mit der Erklärung Nostra Aetate 1965 den entscheidenden Meilenstein gesetzt, der bis heute den »point of no return« markiert. Doch darüber hinaus gehört diese Geschichte in den Kontext der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Als der deutsch-jüdische Schriftsteller Arnold Zweig 1940 im fernen Haifa am Berg Karmel sein Alpenbuch Dialektik der Alpen. Fortschritt und Hemmnis6 4 Herzl, Theodor : Tagebücher. 1895 – 1904. Bd. 2. Berlin 1929, S. 24. 5 Winter, Herbert: Israel, die Schweiz und die Juden, in: NZZ 20. 09. 2011. 6 Zweig, Arnold: Dialektik der Alpen. Fortschritt und Hemmnis. Emigrationsbericht oder Warum wir nach Palästina gingen. Bearbeitet von Julia Bernhard. Berlin 1997, S. 14.

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verfasste, entdeckte er in der Geschichte der Alpen »im Groben und Abgekürzten die Geschichte Europas«. Und somit haben wir die Alpen überschritten …

Die Geschichte des Fachs Judaistik: Von der Wissenschaft des Judentums zur Judaistik und den Jüdischen Studien Um die historische, politische und gesellschaftliche Dimension der Judaistik ermessen zu können, muss man sich die Geschichte des Faches vergegenwärtigen.7 In der Folge der jüdischen Aufklärung (Haskala) kamen im frühen 19. Jahrhundert Bestrebungen auf, das Judentum in Geschichte und Gegenwart sowie die hebräische Literatur im Sinne der modernen Wissenschaften zu untersuchen, um so einen Beitrag zur jüdischen Selbstvergewisserung und zum Abbau antijüdischer Vorurteile zu leisten. Die Wissenschaft des Judentums war eine der einflussreichsten intellektuellen Strömungen des deutschsprachigen Judentums. Entstanden im Kontext der Emanzipation, begründete sie das moderne wissenschaftliche Studium des Judentums und war ein wesentlicher Faktor der innerjüdischen Reformbewegungen im 19. Jahrhundert. Mit der Einführung der historischen Kritik übersetzte sie die traditionelle jüdische Gelehrsamkeit in die Denk- und Wahrnehmungskategorien moderner Geisteswissenschaften. Der Aufbau einer Wissenschaft des Judentums seit Ende des 19. Jahrhunderts und ihre Bemühungen um akademische Anerkennung im Rahmen der jüdischen Emanzipation stiessen auf gesellschaftliche und universitäre Widerstände. In der Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums, herausgegeben vom Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden, veröffentlichte Immanuel Wolf 1822 die Grundsatzerklärung »Über den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums« und forderte, das Judentum als bedeutendes und einflussreiches Moment in der Entwicklung des menschlichen Geistes zu erkennen und es als Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung wahrzunehmen und zwar als »Objekt an und für sich, um seiner selbst willen, nicht zu einem besonderen Zweck, aber aus einer bestimmten Absicht«8 zu behandeln. 1854 wurde das Jüdische Theologische Seminar in Breslau gegründet, es folgten 1872 die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin und 7 Vgl. zur nachfolgenden Darstellung: Carlebach, Julius (Hg.): Wissenschaft des Judentums. Anfänge der Judaistik in Europa. Darmstadt 1992; Brenner, Michael; Rohrbacher, Stefan (Hg.): Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen nach dem Holocaust. Göttingen 2000; Meyer, Michael A.: Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 1794 – 1824. München 1994. 8 Wolf, Immanuel: Über den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums, in: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums 1.1 (1822), S. 1 – 24, hier S. 18.

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1873 das Orthodoxe Rabbinerseminar in Berlin, schließlich 1919 die Akademie für die Wissenschaft des Judentums.9 Mit dem Novemberpogrom 1938 endeten fast alle Lebensinitiativen des Lernens und Lehrens des Judentums in Deutschland und in Europa. Nach dem Holocaust gelang erst durch die Gründung des Leo-Baeck-Instituts in Jerusalem, London und New York Mitte der fünfziger Jahre ein Neuanfang. Mit der erzwungenen Emigration, der Deportation und der Ermordung jüdischer Dozenten und Studenten endete die hundertjährige Geschichte der Wissenschaft des Judentums. Da diese Wissenschaft bis dahin fast ausschließlich von jüdischen Gelehrten getragen worden war, kam es zur völligen Auslöschung eines ganzen Fachgebiets in Europa, der Wissenschaft des Judentums. Es dauerte viele Jahre, bis in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts erste akademische Einrichtungen für Judaistik bzw. Jüdische Studien in deutschsprachigen Ländern eröffnet wurden. Es waren Annäherungen nach dem Holocaust. Gültig bleibt das Wort des hebräischen Schriftstellers und Gelehrten Shmuel Yosef Agnon: »Unsere Kenntnisse in Jüdischen Studien sind nichts als die Sägespäne, die von den Werkzeugen der großen Handwerker, nämlich der deutsch-jüdischen Gelehrten, gefallen sind.«10 Die Tatsache, dass in Luzern bereits 1971 Judaistik als universitäres Fach eingeführt wurde, war ein historischer Durchbruch für die Schweiz und besitzt bis heute eine politische, moralische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Bedeutung. Auch die Biografie des Institutsgründers Clemens Thoma, der in den Kriegsjahren mit zehn Geschwistern in einer Bauernfamilie in Kaltbrunn aufwuchs und nach seinem Studium der Philosophie und Theologie 1961 zum Priester geweiht wurde, war gezeichnet von den Zeichen der Zeit. Es war sein Entsetzen über antisemitische Reden in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs und seine Erkenntnis der Unkenntnis vieler Priester über die jüdischen Wurzeln des Christentums, die ihn zum Studium der Judaistik in Wien bewegten. Sein Doktorvater Kurt Schubert und der Wiener Kardinal Dr. Franz König bestimmten Thomas Lebensweg. Kurt Schubert hatte bereits 1949 die Österreichisch-Israelitische Kulturgesellschaft gegründet. Schon als Student hatte sich Schubert 1941 in bewusster Abkehr vom Nationalsozialismus für die hebräische Sprache und die jüdische Literatur interessiert und diese Fragen in Veranstaltungen der Katholischen Studentenseelsorge thematisiert. An seinen Seminaren am Orientalischen In9 In Jerusalem wurde 1924, ein Jahr vor Gründung der Hebräischen Universität, das Institut für Judaistik errichtet. 10 Agnon, Shmuel Yosef: Ad Hena, in: Ders.: Kol sipurav shel Sh. Y. Agnon, Bd. 7, S. 93, zitiert nach Brenner, Michael: Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert. München 2006, S. 182.

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stitut der Universität Wien nahmen nach 1945 christliche und jüdische Studierende teil.11 1966 gründete Schubert eines der ersten Institute für Judaistik in Europa. Doch vor allem beeindruckten den damaligen Studenten Thoma die Besuche des österreichischen Prälaten Johannes Oesterreicher (1904 – 1993), der während des Zweiten Vaticanums mehrmals in das Wiener Judaistische Institut kam und über die Schwierigkeiten des 4. Artikels von Nostra Aetate sprach, welcher das Verhältnis der Katholischen Kirche zum Judentum betraf. Oesterreicher hat diese Erklärung nicht nur angeregt, sondern prägte sie in wesentlichen Punkten. Bereits 1934 hatte der junge Priester – er war jüdischer Abstammung – die Zeitung Die Erfüllung herausgegeben, die das Verhältnis zwischen Juden und Christen verbessern sollte, und in mutigen Rundfunkansprachen erhob er seine Stimme gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus. Seine Eltern, Nathan und Ida Oesterreicher, wurden nach Theresienstadt verschleppt, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Nach einem Verhör durch die Gestapo flüchtete Johannes Oesterreicher im April 1938 über die Schweiz nach Frankreich in die USA. An der Seton Hall University in South Orange, New Jersey, gründete er 1953 das Institut für jüdisch-christliche Verständigung, das in gewisser Weise zum Vorbild des IJCF wurde, denn John Oesterreicher nahm ebenfalls Einfluss auf die Gründung des Luzerner Instituts.12 Wegweisend wurden hier die Gespräche, die der Alttestamentler Herbert Haag (1915 – 2001) mit Kurt Schubert 1968 in Wien führte. Haag erzählte von einem Plan seitens der Regierung des Kantons Luzern und verschiedener Luzerner Theologen, an der Luzerner Theologischen Hochschule ein Fach über Judentum und Christentum einzurichten. Da Haag diesen Auftrag selbst nicht annehmen wollte, entsandte Schubert seinen Schüler Thoma nach Luzern. Für diesen wurden vor allem die Unterstützung der Silbermann-Stiftung wichtig und die produktive Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Simon Lauer13, dem jüdischen Forschungs- und Lehrbeauftragten der Jahre 1981 – 1993, sowie seine Freundschaft mit dem Jerusalemer Religionshistoriker und Neutestamentler David Flusser (1917 – 2000), der im Wintersemester 1975 eine Gastprofessur am IJCF wahrnahm. Zusammen mit David Flusser und Simon Lauer entstanden wichtige Beiträge zur Erforschung und zum Vergleich der jüdischen Gleichnisse im rabbinischen Schrifttum und der neutestamentlichen Jesus-Gleichnisse. 11 Vgl. Jung, Martin H.: Christen und Juden. Die Geschichte ihrer Beziehungen. Darmstadt 2008, S. 235 f. 12 Vgl. zu Oesterreichers Biographie: Recker, Dorothee: Die Wegbereiter der Judenerklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Johannes XXIII., Kardinal Bea und Prälat Oesterreicher – eine Darstellung ihrer theologischen Entwicklung. Paderborn 2007. 13 Vgl. Lauer, Simon: Wandern – Verlieren – Finden. Jüdische und nichtjüdische Lebenswelten 1870 – 2000. Hamburg 2003, S. 58 – 60.

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Ganz entscheidend für die Gründung des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung wirkte noch ein anderer Theologe: der damalige Professor für Altes Testament in Luzern, Dr. Rudolf Schmid, den Thoma 1969 in Rom traf und dessen Engagement er mit folgenden Worten beschrieb: »Bereits ab 1960 hatte der sogenannte Ruedi Anstösse zur Modernisierung der Luzerner Theologischen Fakultät gegeben. […] Er machte dabei darauf aufmerksam, dass es bereits in mehreren Schweizer Universitäten Dialogik-Lehrstühle gab; Vorlesungen über Islam, Hinduismus und Protestantismus.«14

Zur Vorbereitung des Luzerner Lehrstuhls für Judaistik folgten viele Zusammenkünfte von politisch, theologisch und publizistisch Verantwortlichen. Rudolf Schmid traf sich zunächst mit dem damaligen Erziehungsdirektor Hans Rogger und wurde vor allem unterstützt vom nachfolgenden Erziehungsdirektor Dr. Walter Gut, dessen Stellvertreter Dr. Moritz Arnet und dem jüdischen Luzerner Stadtrat Dr. Werner Wyler. Zudem erkannte Schmid die Notwendigkeit einer judaistischen Fachbibliothek in Luzern, und durch die Vermittlung von Josef Guggenheim kam es zum Ankauf des jüdischen Buchantiquariats Abramsky in London, das vom damaligen Bibliothekar Dr. Bernhard Rehor erschlossen wurde. So bietet die Judaistik und das Institut für Jüdisch-Christliche Forschung ein überzeugendes Beispiel dafür, was ein bildungs- und hochschulpolitischer Weitblick vermag, dessen Wahrnehmung sich nicht auf Kategorien wie Ökonomie und Statistik verengt. In diesem Geiste darf man dem Luzerner Bildungsdepartement heute gratulieren zu jenem mutigen Einsatz für ein wirklich nachhaltiges Konzept von Bildung und Wissenschaft. Vor dreißig Jahren (1982) benannte der jüdische Philosoph Michael Landmann, 1913 in Basel geboren und 1984 in Haifa verstorben, das Anliegen von Judaistik-Lehrstühlen an den Philosophischen Fakultäten der Universitäten als »Desiderat in Deutschland« und »eine nicht länger zu verantwortende Lücke«.15 Die Wissenschaft vom Judentum sollte aber nicht nur »spezialistische Hauptresp. Nebenfachjudaisten« anziehen: Sie sollte vielmehr »ein wertvolles Ergänzungsfach bilden für Studenten der Theologie, Religionswissenschaft, Philosophie, Geschichte, der Politologie und Soziologie, der Germanistik, Romanistik, Slavistik und Orientalistik«.16 Denn gerade durch die grosse Katastrophe des 20. Jahrhunderts sei deutlich geworden, »dass der Wissenschaft vom Judentum auch 14 Thoma, Clemens: Institut für Jüdisch-Christliche Forschung an der Theologischen Fakultät Luzern: kirchliche, staatliche, fachliche und persönliche Aufbauarbeiten. Rede anlässlich des Jubiläums 2006, Typoskript, S. 6. 15 Vgl. Landmann, Michael: Lehrstühle für die Wissenschaft vom Judentum, in: Ders.: Jüdische Miniaturen. Bd. 1. Bonn 1982, S. 252. 16 Vgl. ebd. S. 257.

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eine im weiteren Sinne weltanschaulich-bildungsmäßige Bedeutung zukommt«.17 So forderte Michael Landmann – mit einer noch heute währenden Gültigkeit: »Jedem, der später in der geistigen und politischen Welt verantwortlich mitsprechen will, sollte Gelegenheit geboten sein, sich auch über das Judentum aus fester, fundiertester Quelle zu informieren. Neben den eigentlichen Fachvorlesungen sollte daher auch dauernd ein judaistisches Studium Generale für Hörer aller Fakultäten einherlaufen.«18

Auf gewisse Weise wurde Landmanns Traum an der Universität Luzern Wirklichkeit. Zum einen ist die Luzerner Theologische Fakultät bis heute die einzige katholische Lehranstalt im deutschsprachigen Raum, wo Vorlesungen und Seminare über die Geschichte und Literatur, die Religion und Kultur des Judentums zum Pflichtprogramm der Theologie gehören. Das besondere Gewicht des Judentums in der theologischen Ausbildung hat seinen Grund in einer Neubesinnung der christlichen Kirchen auf die Ursprünge des christlichen Glaubens im Judentum einerseits und in der Abkehr von einer jahrhundertelangen Geschichte des Antijudaismus andererseits. Erst nach der Erschütterung der Shoah, der Vernichtung des europäischen Judentums im Zweiten Weltkrieg, setzten die allmähliche Umkehr und ein Neuanfang in den jüdisch-christlichen Beziehungen ein. Doch die Judaistik ist in Luzern nicht einfach ein zusätzliches Fach im theologischen Fächerkanon; sie stellt eine andere Form des Theologietreibens dar. Das Studium der Religion und Kultur des Judentums eröffnet das Kennenlernen und die Kenntnis und somit die respektvolle Anerkennung einer anderen lebendigen Tradition, und es vertieft zugleich die Erkenntnis der eigenen religiösen und kulturellen Identität. Es zählt zu meinen schönsten Erfahrungen an der Universität Luzern, dass sich die Studierenden der Judaistik weit über jedes Pflichtmaß und jedes Credit Pünktli-Zählen hinaus dem Studium des Judentums zuwenden. Denn das zählt: Sie werden die Botschafter dieses Fachs in einer Welt sein, in der es gegen Ignoranz, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit anzukämpfen gilt. Das Fach Judaistik sah sich von Anfang an nicht nur in der Theologischen Fakultät beheimatet. Als historische, philologische, philosophische und soziologische Wissenschaft von interdisziplinärem Charakter wusste sie zugleich um ihren geisteswissenschaftlichen Platz. Wenn Michael Landmann noch von der Einrichtung der Judaistik an Philosophischen Fakultäten träumte, so schrieben 17 Vgl. ebd. S. 258. 18 Ebd. S. 258.

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die Ereignisse in Luzern bereits Geschichte, denn hier führte die Judaistik zur Gründung eines Philosophischen Seminars und legte so einen Grundstein für den Aufbau der heutigen Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät und somit auch der Universität Luzern. Am Rande nur eine kurze historische Notiz: Anfang der 1980er Jahre stellte ein orthodoxer Rabbiner ein Gesuch an das Regierungsdepartement des Kantons Luzern um eine philosophische Promotion in Judaistik in Luzern. An den Rektor der Theologischen Fakultät erging im Juli 1983 der Bescheid, dass die Anfrage des Rabbiners positiv beantwortet werde, sobald der Regierungsrat der Gründung des Philosophischen Instituts in Luzern zugestimmt habe.19 Heute ist all das Wirklichkeit geworden: Seit 2001 ist die Judaistik sowohl in der Theologischen Fakultät als auch in der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät verankert. Das Fach kann an beiden Fakultäten als Haupt- oder Nebenfach oder im Rahmen der Integrierten Studiengänge studiert werden, zudem als Wahlfach an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Das Studium der Judaistik ist offen für alle Studierenden, unabhängig von Religionszugehörigkeit und Weltanschauung; es kann sowohl mit einem Dr. theol. als auch mit einem Dr. phil. abgeschlossen werden. Das Judentum wird vermittelt als Religion und Kultur. Für die Erforschung des Judentums bilden die Jüdische Bibel (das Erste bzw. Alte Testament) und das rabbinische Schrifttum den Anfang und die Grundlage. Dies ist jedoch nicht mit einer »Abschirmung des Blickfeldes«20 verbunden, sondern mit einer Öffnung auf die nachfolgenden Epochen der jüdischen Geschichte von Mittelalter, Neuzeit, Moderne bis hin zur Postmoderne, und vor allem mit der wissenschaftlichen Erschliessung des jüdischen Beitrags an bildender Kunst und Musik, an den Wissenschaften, an Geschichte und Politik und einem verstärkten Interesse an der Gegenwart jüdischen Lebens in Israel, Europa und Amerika, an modernhebräischer und deutsch-jüdischer Literatur. Das Studium wird nicht durch ein christlich-theologisches Vorzeichen verengt. Judentum und Christentum werden als kulturelles Paar gesehen, in guten und in schlechten Zeiten der Geschichte. Insofern ist die Erforschung des jüdisch-christlichen Dialogs kein anderes Fach neben der Judaistik, sondern mit der jüdischen Geschichte zutiefst verwoben. Zutreffend bemerkte Schalom BenChorin einmal, das jüdisch-christliche Gespräch sei »im allgemeinen durchaus von gutem Willen getragen, nicht aber von allgemeiner Sachkenntnis«21. Ohne Studium des Judentums kann kein jüdisch-christlicher Dialog gelingen. 19 Vgl. Brief von Moritz Arnet, 13. Juli 1983; ferner Interview mit Thoma, Clemens: Der christlich-jüdische Dialog am Wendepunkt, in: NLZ Nr. 212, 13. 09. 1996, S. 59. 20 Vgl. Landmann, Lehrstühle für die Wissenschaft vom Judentum, S. 253. 21 Ben-Chorin, Schalom: Jüdische Ethik, Tübingen 1983, S. 106.

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Vaticanum II, Nostra Aetate, Seelisberg und die Gründung des IJCF in Luzern Am 22. Oktober 1981, also genau vor dreißig Jahren und einem Tag, wurde das Institut für Jüdisch-Christliche Forschung in der Aula der damaligen Theologischen Fakultät im Hirschengraben 10 eröffnet. Professor Shemaryahu Talmon von der Hebräischen Universität Jerusalem hielt als damaliger Gastprofessor am IJCF eine Festrede: »Die feierliche Eröffnung des Instituts für jüdisch-christliche Forschung in Luzern kann mit Recht als ein Meilenstein auf dem langen Weg bezeichnet werden, den Juden und Christen miteinander, gegeneinander, und oft getrennt und in Opposition gewandelt sind.«

Talmon unterließ es dabei nicht, »kritische Fragen oder Anfragen an die christlichen Partner« zu stellen: »Kritik muss geübt werden«; doch sie kann »vor allem, wenn es eine Selbstkritik ist, zu einer Katharsis (das heisst Reinigung) führen, die neue Verständnismöglichkeiten eröffnet.«22 Schon im Gründungskonzept hatte sich das Institut für Jüdisch-Christliche Forschung einem humanistisch und existentiell orientierten Wissenschaftsmodell verschrieben: Einmal sollte es bemüht sein, »aus den beidseitigen Traditionen Grundlagen für ein praktisches Zusammenleben von Juden und Christen in wichtigen Menschheitsanliegen« zu erarbeiten. In dieser existentiellen Ausrichtung solle das IJCF Zeugnis ablegen »von einer neuen Aufgeschlossenheit der christlichen Welt dem Judentum gegenüber«.23 Im Spiegel der Zeit zeigt sich die Gründung des IJCF im Rahmen der europäischen Geschichte, der Kirchengeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und gerade auch der deutsch-jüdischen Geschichte und im Kontext einer viel zu wenig beachteten Schweizerischen Dialoggeschichte. Als historisches Phänomen und in institutionalisierter Form entfaltete sich der jüdisch-christliche Dialog erst nach 1945, nach der Katastrophe der Shoah. Einzelne Religionsgespräche auf einer freundschaftlichen Ebene gab es bereits vor dem Zweiten Weltkrieg. Ich nenne hier nur das Leipziger Nachtgespräch im Jahre 1913 und den nachfolgenden Briefwechsel von Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy, in dem Rosenzweig die unterschiedlichen Perspektiven der beiden Religionen herausstellte und Judentum und Christentum als zwei gleichberechtigte Wahrheitsparadigmen begriff. Erinnert sei auch an das Stuttgarter Gespräch, das Martin Buber und der Bonner Neutestamentler Karl 22 Talmon, zitiert nach: Ein Meilenstein auf langem Weg, in: Vaterland Nr. 246 (23. 10. 1981), S. 13. 23 Vgl. ebd. S. 13. Diese Grundsätze wurden seinerseits erarbeitet von einer Arbeitsgruppe der Theologischen Fakultät Luzern. Der damalige Rektor war Dominik Schmidig.

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Ludwig Schmidt am 14. Januar 1933, zwei Wochen vor der sog. Machtergreifung Hitlers, führten. Schmidt, evangelischer Theologe und Sozialdemokrat, wagte hier eine bis heute gültige Aussage: »Eine Kirche, die nichts weiß, die nichts wissen will von Israel, ist eine leere Hülse.«24 Martin Buber beschloss seine Rede mit jenen leisen, aber unüberhörbaren Worten, indem er seinen Blick auf den Dom und auf den Jüdischen Friedhof seiner Nachbarstadt Worms richtete: »Ich habe dort gestanden und habe alles selber erfahren, mir ist all der Tod widerfahren: all die Asche, all die Zerspelltheit, all der lautlose Jammer ist mein; aber der Bund ist mir nicht gekündigt worden. Ich liege am Boden, hingestürzt wie diese Steine. Aber gekündigt ist mir nicht. Der Dom ist, wie er ist. Der Friedhof ist, wie er ist; aber gekündigt ist uns nicht geworden.«25

In einer Klarheit, die viele Dialog-Dokumente bis heute nicht erreicht haben, erklärte Buber 1933: »[…] jedes echte Heiligtum kann das Geheimnis eines anderen echten Heiligtums anerkennen.«26 Wenn wir heute dankbar, aber nicht selbstgefällig, auf eine über fünfzigjährige Verständigung zwischen Judentum und Christentum zurückblicken, so kann doch nicht vergessen werden, dass der Aufbruch in die Dialogbewegung nach dem Zusammenbruch der sog. Zivilisationsgeschichte der Moderne liegt: dem Genozid am europäischen Judentum und der Barbarei des Zweiten Weltkriegs. Insofern hat Gershom Scholem in seinen Reflexionen über die deutschjüdischen Verhältnisse mit unerbittlicher Schärfe vor jeder idyllischen Betrachtung der Geschichte gewarnt und betont, dass der »Preis« für diese gesellschaftliche Umkehr zu hoch war. Nur in der Erkenntnis und im Eingedenken des Vergangenen könne – so Scholem – Hoffnung auf eine Verständigung keimen.27 Bestimmend für die theologische Neubesinnung wurde das Konzilsdokument des Zweiten Vatikanischen Konzils Nostra Aetate (1965) über das Verhältnis der katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, vor allem zum Judentum. Treffend beschrieb der bereits erwähnte Prälat John Oesterreicher die Dimension dieser Konzilserklärung: 24 Kirche, Staat, Volk, Judentum. Zwiegespräch im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart am 14. Januar 1933. In: Theologische Blätter. Hrsg. von Karl Ludwig Schmidt, Jg. 12, Nr. 9, September 1933, Spalten 257 – 274; Schmidt, ebd. S. 264. 25 Ebd. S. 273. 26 Ebd. S. 267. 27 Vgl. Scholem, Gershom: Judaica 2. Frankfurt am Main 1970: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch, S. 7 – 11; Noch einmal: das deutsch-jüdische »Gespräch«, S. 12 – 19; Juden und Deutsche, S. 20 – 46.

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»Wenn ich nun die Bedeutung des vierten Abschnitts von Nostra Aetate in einem Satz ausdrücken soll, kann er nur heißen: Die Judenerklärung ist die Entdeckung oder Wiederentdeckung des Judentums und der Juden in ihrem Eigenwert wie in ihrer Bedeutung für die Kirche.«28

Doch lassen Sie mich noch einmal Ihre Aufmerksamkeit lenken auf eine Zeit vor der Konzilserklärung und einen Raum jenseits von Rom. Wiederum richte ich den Blick auf den Vierwaldstättersee und die Alpen, auf ein Kapitel christlichjüdischer Geschichte in der Schweiz – als Teil der deutsch-jüdischen wie der europäischen Geschichte und der jüngeren Kirchengeschichte. In einer Zeit, in der sich der Vatikan noch skeptisch gegenüber einem interreligiösen Glaubensdialog verhielt, kamen im Sommer 1947 auf dem Seelisberg am Vierwaldstättersee 65 Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus 19 Ländern zu einer jüdischchristlichen Dringlichkeitskonferenz gegen den Antisemitismus zusammen, die zur Gründung des Internationalen Rates für Juden und Christen (ICCJ) führte.29 Ihr Ziel war die Untersuchung der Ursachen und Folgen des Antisemitismus und eine Überprüfung der christlichen Lehre über das Judentum hinsichtlich judenfeindlicher Traditionen. Es wurde ein Programm von Zehn Punkten zur Vermeidung von antijüdischen Vorurteilen erarbeitet, welches weitgehend den Vorschlägen des jüdisch-französischen Historikers Jules Isaac folgte. Derselbe Jules Isaac besuchte 1949 Papst Pius XII. in Rom, verfolgte beharrlich die Erneuerung der jüdisch-christlichen Beziehungen und drängte Johannes XXIII. 1960 neben anderen jüdischen Engag¦s, eine neue Verhältnisbestimmung der katholischen Kirche zum Judentum auf dem Konzil einzuleiten. So schließt sich ein Kreis, der viele Länder und Staaten umfasst und den schweizweiten Blick mit der weltweiten Wahrnehmung verbindet. Auch für mich schloss sich vor zehn Jahren mancher Kreis meines Lebenslaufs. Mit der Leitung des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung sind viele Engagements verbunden, die dessen existentielle und gesellschaftspolitische Ausrichtung kennzeichnen und auszeichnen. Durch die Leitung der Jüdisch/ Römisch-katholischen Gesprächskommission (JRGK), die als jüdisch-katholisches Gesprächsforum seit 1985 von der Schweizer Bischofskonferenz und dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund getragen wird, begegnete ich jener ersten Generation jüdischer Dialogiker wieder, die – meist deutscher Herkunft – ihr Anliegen einer jüdisch-christlichen Verständigung in die neue 28 Oesterreicher, Johannes: Die Wiederentdeckung des Judentums durch die Kirche. Eine neue Zusammenschau der Konzilserklärung über die Juden. 2. Auflage. Freising 1971, S. 34. Englische Originalausgabe: The Rediscovery of Judaism, Seton Hall University, South Orange, New Jersey 1971. 29 Vgl. 60 Jahre Seelisberger Thesen. Hg. v. Schweizer Bischofskonferenz; Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund; Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund. Bern; Fribourg; Zürich 2007; S. 4 f; S. 54 – 56.

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Schweizer Heimat übersetzt hatten, und es hier – wie auf internationaler Ebene – gezeichnet durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts, mit einer existentiellen Leidenschaft verfochten. Es wären hier einige Namen zu nennen, wie Jean Halp¦rin, dessen intellektuelle Noblesse das interreligiöse Gespräch in der Schweiz und in Frankreich durch so viel Stil und Tiefe bereichert hat, und natürlich Ernst Ludwig Ehrlich, der 2007 verstarb. Er wurde mir hier ein wunderbarer Freund und Kollege. Als ich vor zehn Jahren gleichzeitig die Leitung verschiedener Stiftungen übernahm, berührte es mich, hier der Geschichte eines ganz besonderen Menschen zu begegnen, den ich als Studentin der Judaistik als Gasthörer im Martin Buber-Institut in Köln kennen gelernt hatte und der uns junge Kommilitoninnen immer mit seinen temperamentvollen Beiträgen beeindruckte: Pfarrer Dr. Wilhelm Salberg, sel. Angedenkens, Sohn eines jüdischen Vaters und einer christlichen Mutter, der sein Vermögen dem IJCF in den Stiftungen Judentum/ Christentum und Mount Zion Foundation anvertraute. Aber die Kreise, die sich schlossen, schreiben sich weiter, so wie die Entwicklung des Fachs sich bewegt und der jüdisch-christliche Dialog weitergeht. Das interreligiöse Gespräch ist kein Produkt, sondern ein Prozess, und als solcher ist er immer wieder Krisen und Belastungsproben ausgesetzt. Dazu zählte in den letzten Jahren die Diskussion um die erneuerte Karfreitagsfürbitte und um die Pius-Bruderschaft. Auch die Perspektiven haben sich im jüdisch-christlichen Gespräch und in der Forschung der letzten Jahrzehnte verändert. Es geht nicht nur darum, das Gemeinsame und Verbindende zwischen Judentum und Christentum herauszustellen, sondern auch das Unterscheidende und Trennende der beiden Glaubensweisen zu benennen. Differenz und Alterität, das Wissen um Unterschiede und Andersheit, sind zu Leitbegriffen der Dialogforschung geworden. Wenn Clemens Thoma in seinem Messiasprojekt (1994) Judentum und Christentum als »Zwillinge«30 beschrieb, so ziehe ich das Paradigma der »Geschwister« vor, in der ganzen Ambivalenz dieses Bildes, das zwischen verwandtschaftlicher Nähe und Gegensätzlichkeit oszilliert, wie uns die Hebräische Bibel so realistisch in den Geschichten der großen Bruderpaare schildert. Am Ende dieser Rede geht mein Dank an viele, die ich nicht alle namentlich nennen kann. Vor allem an jene, die das Fach Judaistik und die Geschichte des jüdisch-christlichen Dialogs in Luzern in all den Jahren gestaltet haben und sich hier und heute dafür einsetzen. Nun schließe ich, doch nicht ohne meinen Blick noch einmal über die Alpen schweifen zu lassen. 30 Vgl. Thoma, Clemens: Das Messiasprojekt. Theologie jüdisch-christlicher Begegnung. Augsburg 1994, S. 15.

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In seinem Essay Erez Alpenland schrieb der Klassiker der historischen Satire Reuwen Kalisch: »Man sagt bei uns, wenn jener Moses schon 40 Jahre herumgesucht hat, hätte er uns nicht lieber in die herrlichen Alpenländer als in die Halbwüste Erez Israel oder Canaan bringen sollen?«31 Kalisch hat freilich nicht bedacht, dass das Ergebnis dieses Herumsuchens nicht allein von »jenem Moses« abhing, sondern dass er noch einen Vorgesetzten hatte; und dass Er, der liebe Herrgott, durchaus Geschmack und Orientierung besaß. Auch die »Halbwüste Erez Israel«, das darf ich Ihnen aus langjähriger Erfahrung sagen, kann sich sehen lassen.

31 Kalisch, Reuwen (1912 – 1995), in: Loewy ; Milchram (Hg.): Hast du meine Alpen gesehen?, S. 415.

Günter Stemberger

Judaistik nach der Shoah im deutschsprachigen Raum

In den nunmehr schon fast siebzig Jahren seit der Shoah und dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Judaistik zu einem festen Bestandteil der akademischen Landschaft im deutschsprachigen Raum geworden und hat dabei vielfältige Entwicklungen mitgemacht. Darauf sei im Folgenden eingegangen, bevor ich auf den heutigen Zustand des Fachs, seine verschiedenen Ausprägungen und Ziele sowie mögliche Zukunftsperspektiven zu sprechen komme. Beginnen aber muss ich mit der Vorgeschichte, ohne die man die jüngere Entwicklung kaum einordnen kann.

1.

Zur Vorgeschichte

Gewöhnlich lässt man die Wissenschaft des Judentums mit Moses Mendelssohn einsetzen. Konkreter werden ihre Zielsetzungen aber erst wenig später : Leopold Zunz (1794 – 1886) veröffentlichte 1818 die kleine Schrift Etwas über die rabbinische Litteratur, worunter er »die ganze Litteratur der Juden, in ihrem grössten Umfange« verstand, die man ohne Rücksicht auf ihre Anerkennung in der jüdischen Tradition erforschen müsse;1 er war die treibende Kraft bei der Gründung des »Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden« (1819) in Berlin, in dessen Auftrag er die nur kurzlebige Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums herausgab (1822 – 23). Im einleitenden Aufsatz der Zeitschrift nannte Immanuel Wolf als Aufgabe der neuen Wissenschaft die »gesammten Verhältnisse, Eigenthümlichkeiten und Leistungen der Juden, in Beziehung auf Religion, Philosophie, Geschichte, Rechtswesen, Litteratur überhaupt, Bürgerleben und alle menschlichen Angelegenheiten«.2 Man sah die Wissenschaft von An1 Zunz, Leopold: Etwas über die rabbinische Litteratur. Berlin 1818, S. 5 Anm. 1. Nachdruck mit selber Paginierung in: Zunz, Leopold: Gesammelte Schriften. Hg. v. Curatorium der »Zunzstiftung«. Bd. I. Berlin 1875, S. 1 – 31. 2 Wolf, Immanuel: Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums, in: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums 1 (1922), S. 1 – 24, hier S. 1.

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fang an im Dienst der jüdischen Emanzipation und der inneren Reform der jüdischen Gemeinden. Um dieselbe Zeit veröffentlichte der hessische Theologe Johann Georg Diefenbach (1757 – 1831) ein Plädoyer für die Einsetzung jüdischer Professoren der Theologie mit allen Ehren und Vorteilen der übrigen Professoren an christlichen Universitäten: »in unseren wissenschaftlichen Zeiten, wo Alles eine wissenschaftliche Behandlung verlanget, hat auch die Stunde geschlagen, wo der Jude nicht mehr blindlings bey seinen Ueberlieferungen bleiben, sondern solche wenigstens in einer wissenschaftlichen Form geordnet sehen will… Von geliebter Hand muß das Geschenk kommen, wenn es soll angennehm seyn. Der Lehrer der Juden sey Jude!«3

Davon erwartete Diefenbach sich eine Reform der jüdischen Religion, die »einen häßlichen Schatten in unseren erleuchteten Zeiten« macht.4 In einer späteren Fortsetzung seiner Schrift stellt Diefenbach die Frage: »Sollen wir den Juden eigene Universitäten geben?« und verneint sie sofort; doch solle man Juden aus den allgemeinen Universitäten nicht nur als Studenten, sondern auch als Lehrer nicht ausschließen. Von ihnen dürfe man dafür keine Taufe verlangen, aber eine gemeinsame religiöse Basis auch durch eine Reform des Christentums sei anzustreben.5 Die Konversion gebildeter Juden zum Christentum lehnte er ab, da dadurch die verbleibende Masse der Juden desto tiefer im Elend versinken würde: »Lasse man doch, wenn keine ausgezeichneten Gründe zum Gegentheil vorhanden sind, die gebildeten Juden bei ihren Glaubensgenossen«.6 Abraham Geiger (1810 – 1874) forderte eine jüdische Fakultät,7 was Ludwig Philippson (1811 – 1889) in seiner Allgemeinen Zeitung des Judentums ab 1837 eifrig propagierte; Leopold Zunz beantragte 1848 beim preußischen Kultusministerium eine ordentliche Professur für jüdische Geschichte und Literatur in der philosophischen Fakultät der Universität Berlin – eine theologische Fakultät kam für ihn nicht in Frage, da er eine strikt säkulare Ausrichtung der Wissenschaft des Judentums vertrat. Die Fakultät verfasste ein negatives Gutachten, begründet damit, dass es nur eine einzige Professur für Geschichte gebe, auch 3 Diefenbach, Johann Georg: Jüdischer Professor der Theologie auf christlicher Universität. Eine Aufgabe für christliche Staaten. Erstes und zweites Heft. Gießen 1821, S. 14 f. 4 Ebd. S. 16. 5 Diefenbach: Jüdischer Professor, Drittes Heft: Prüfung des heutigen aufgeklärten Judenthums. Gießen 1823, S. 120.123 f. 6 Ebd. S. 143. 7 Geiger, Abraham: Die Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät, ein dringendes Bedürfniß unserer Zeit, Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie 2 (1836), S. 1 – 21. Dazu siehe von der Krone, Kerstin: Wissenschaft in Öffentlichkeit: Die Wissenschaft des Judentums und ihre Zeitschriften. Berlin 2012, S. 162 – 168.

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keine eigene für deutsche oder preußische Geschichte; eine Habilitation für jüdische Geschichte und Literatur würde man aber gerne annehmen. Daraufhin lehnte das Ministerium noch im selben Jahr den Antrag ab.8 So suchte man Ersatz für die verweigerte Integration in staatlichen Universitäten in jüdisch-theologischen Seminaren, die auf der Grundlage jüdischen Glaubens in erster Linie zur Ausbildung von Rabbinern gedacht waren: Schon 1829 wurde das Collegio Rabbinico in Padua gegründet, 1854 das »JüdischTheologische Seminar« in Breslau (Zacharias Frankel, 1801 – 1875), 1872 die »Hochschule für die Wissenschaft des Judentums« in Berlin; ebenfalls in Berlin gründete Esriel Hildesheimer (1820 – 99) 1873 das »Rabbinerseminar für das orthodoxe Judentum«, das den Hauptakzent auf rabbinische Studien legte. Eher dem Vorbild Breslaus folgten das »Landesrabbinerseminar« in Budapest (1877), und die »Israelitisch-theologische Lehranstalt« in Wien (1893). Charakteristisch für diese jüdischen Einrichtungen war, dass viele ihrer Studierenden zugleich die Universität besuchten, meist Orientalistik oder klassische Philologie studierten. Alle diese Einrichtungen wurden unter Hitler geschlossen.9

2.

Die ersten Jahrzehnte nach 1945

Schon im 19. Jahrhundert wurden an den Evangelisch-theologischen Fakultäten Berlin (1883, Hermann L. Strack) und Leipzig (1886, Franz Delitzsch) Instituta Judaica gegründet.10 Anfangs standen sie im Dienst der Judenmission, aber schon im frühen 20. Jahrhundert wurde das Studium jüdischer Quellen für eine bessere Kenntnis der Welt des Neuen Testaments vorrangig und wurden auch jüdische Mitarbeiter beschäftigt, auch wenn man auf das Ziel der Judenmission nur langsam offiziell verzichtete. Das Institut in Berlin kam 1937 – 1945 unter Leitung von Johannes Hempel in nationalsozialistisches Fahrwasser, war aber de 8 Die Dokumente sind veröffentlicht bei Geiger, Ludwig: Zunz im Verkehr mit Behörden und Hochgestellten, in: MGWJ 60 (1916), S. 245 – 262.321 – 347, hier S. 335 – 341. Die Antwort des Ministers Ladenberg an Zunz vom 4. Dezember 1848 ist bei Maybaum, Siegmund: Die Wissenschaft des Judentums, in: MGWJ 51 (1907), S. 641 – 658, hier S. 654 – 658 abgedruckt. Dazu auch Wilke, Carsten: »Den Talmud und den Kant«. Rabbinerausbildung an der Schwelle zur Moderne. Hildesheim 2003, S. 599 – 600. 9 Das Collegio Rabbinico von Padua, 1887 nach Rom, 1899 nach Florenz und 1934 wieder nach Rom übersiedelt, musste 1938 seine Tätigkeit wegen der faschistischen Rassengesetze aufgeben und wurde 1945 wiedereröffnet: Del Bianco Cotrozzi, Maddalena: Il Collegio Rabbinico di Padova. Un’istituzione religiosa dell’ebraismo sulla via dell’emancipazione. Firenze 1995, S. 331 – 336. 10 Vorbild war das Institutum Judaicum, das Johann Heinrich Callenberg schon 1728 zur Judenmission in Halle eingerichtet hatte. Siehe Golling, Ralf; von der Osten-Sacken, Peter (Hg.): Hermann L. Strack und das Institutum Judaicum in Berlin. Berlin 1996; Rengstorf, Karl Heinrich: Das Institutum Judaicum Delitzschianum 1886 – 1961. Münster 1963.

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facto inaktiv ; das Leipziger Institut wurde 1938 geschlossen. 1946 konnte das Berliner Institutum Judaicum an der Humboldt-Universität wieder seine Tätigkeit aufnehmen; sie endete 1956 mit dem Weggang seines Leiters Leonhard Rost. 1948 gründete Karl Heinrich Rengstorf in Münster ein Institutum Judaicum, das die Tradition von Leipzig weiterführen sollte; in Tübingen gründete Otto Michel 1957 das Institutum Judaicum an der Evangelisch-theologischen Fakultät Tübingen. In Münster stand die Wiederaufnahme der Gießener Mischna und anderer tannaitischer Texte (Tosefta und halakhische Midraschim) im Vordergrund, daneben bald auch die Erforschung der Werke des Flavius Josephus, die mit einer großen Konkordanz erschlossen wurden. Auch in Tübingen stand Josephus im Zentrum und wurde eine zweisprachige Ausgabe des Bellum Judaicum erarbeitet.11 Zugleich aber bemühte man sich darum, jungen Theologen Verständnis für das Judentum der eigenen Zeit zu vermitteln. Ähnliche Interessen verfolgt das lange Jahre von Peter von der Osten-Sacken geleitete »Institut für Kirche und Judentum«, das 1960 an der Kirchlichen Hochschule Berlin errichtet wurde und seit 1994 der Humboldt-Universität angegliedert ist; neben der Vermittlung jüdischer Religion und Geschichte sind hier Grundfragen des christlich-jüdischen Verhältnisses zentral.12 In Mainz gehörte die Judaistik in der Fakultät lange zum Lehrstuhl für Missionswissenschaft, auch wenn dies nie die Tendenz des Instituts wiedergab: Mit Leo Trepp gewann man später sogar einen regelmäßigen jüdischen Gast- bzw. Honorarprofessor. Im Lehrangebot dominieren rabbinische Texte und Themen aus dem klassischen Judentum. Alle vier Einrichtungen bestehen bis heute; allerdings wurde in Tübingen das Institut 1981/82 geteilt in Abteilungen für »Antikes Judentum und hellenistische Religionsgeschichte / Institutum Judaicum« (jetzt Professur Neues Testament und antikes Judentum) und »Religionswissenschaft und Judaistik«; seit 2004/05 bietet das Institut in Kooperation mit der Kulturwissenschaftlichen Fakultät (jetzt Teil der philosophischen Fakultät) ein Judaistik-Studium mit Bachelorund Master-Studiengängen.13 Doch damit bin ich zeitlich schon weit in die Gegenwart geraten. 11 Rengstorf, Karl Heinrich (Hg.): A complete concordance to Flavius Josephus, 4 Bde. Leiden 1973 – 1983; Schalit, Abraham: Namenwörterbuch zu Flavius Josephus. Leiden 1968; Michel, Otto; Bauernfeind, Otto (Hg.): Josephus, Flavius. De bello Judaico: griechisch und deutsch = Der jüdische Krieg, 3 Bde. München 1962 – 1969. 12 Dazu siehe Stöhr, Martin: Das Institut Kirche und Judentum, in: Golling, Ralf (Hg.): Hermann L. Strack, S. 204 – 213; von der Osten-Sacken, Peter : Institut Kirche und Judentum (1960 – 2005). Geschichte, Ziele, Perspektiven, in: Bilanz und Perspektiven des christlichjüdischen Dialogs. Epd-Dokumentation Nr. 9/10, 1. März 2005. 13 Siehe dazu Schäfer, Peter : Judaistik und ihr Ort in der universitas litterarum heute. Einige Überlegungen zum Fach Judaistik in Deutschland, in: Perani, Mauro (Hg.): »The Words of a

Judaistik nach der Shoah im deutschsprachigen Raum

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Eine Judaistik im eigentlichen Sinn – die zumindest programmatisch das Judentum mit seiner Geschichte, Religion und Kultur von den Anfängen bis heute behandelt und nicht nur gleichsam als Hintergrund zum Neuen Testament – ist im deutschen Sprachraum erst im Gefolge und unter dem Eindruck der Shoah nach dem Zweiten Weltkrieg an philosophischen Fakultäten einzelner Universitäten entstanden. In Wien konnte Kurt Schubert als eben erst promovierter Orientalist im Auftrag des russischen Kommandanten Blagodatow noch im Mai 1945 symbolisch für den Neuanfang mit einer Hebräischvorlesung die Universität wieder eröffnen; 1948 habilitierte er sich für das Fach Hebraistik. Doch war es ein langer Weg, bis jüdische Studien im Rahmen des Orientalischen Instituts ihren Platz fanden, zuerst durch Schubert allein, der am Institut eine Assistentenstelle hatte, dann unterstützt durch Leon Slutzky, einen polnischen Holocaust-Überlebenden, für den Unterricht in Modernhebräisch und zunehmend auch verschiedene Gebiete jüdischer Traditionsliteratur (Raschi, Siddur usw.). 1959 wurde Schubert außerordentlicher Professor. Die ersten Ordinariate und Institute für Judaistik wurden in den 60er Jahren gegründet. Am Anfang stand 1963/64 die Freie Universität Berlin, auf deren Lehrstuhl Jacob Taubes berufen wurde, als jüdischer Rückkehrer eine Ausnahme im noch jungen Fach. Doch widmete Taubes sich immer mehr seinen philosophischen Interessen und wechselte in das Philosophische Institut; 1964 – 66 übernahm Johann Maier, ein Schüler Schuberts, als Dozent die Vorlesungen, später Marianne Awerbuch; die Professur selbst wurde nach längerer Vakanz erst Ende 1983 mit Peter Schäfer nachbesetzt. 1966 wurden fast gleichzeitig die Judaistik-Institute Köln (Johann Maier) und Wien (Kurt Schubert) gegründet; 1970 folgte das Judaistische Seminar in Frankfurt a. M. mit Arnold Goldberg. Kleinere judaistische Abteilungen entstanden auch in München (Leo Prijs) und Freiburg (Goldberg, dann Felix Böhl) jeweils im Rahmen der Orientalistik. Nur erwähnt sei, dass in den letzten Jahren die Frage nach einer eventuellen Kontinuität der neuen deutschsprachigen Judaistik zur Judenforschung der NSZeit aufgeflammt ist.14 Die Frage ist für die judaistischen Institute ebenso wie für Wise Man’s Mouth are Gracious« (Qoh 10,12). Berlin 2005, S. 475 – 491 (Vortrag zur Eröffnung des Tübinger Studienganges). 14 Rupnow, Dirk: Antijüdische Wissenschaft im Dritten Reich. Wege, Probleme und Perspektive der Forschung, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 5 (2006), S. 539 – 598; Heschel, Susannah: The Impact of Nazism on German Rabbinics Scholarship: A Response to Robert P. Ericksen, in: Review of Rabbinic Judaism 13 (2010), S. 76 – 87. Ihre Behauptung über Kurt Schubert, »who had been a member of the SS and a member of the SS Ahnenerbe« (S. 86), ist völlig haltlos und beruht auf einem Missverständnis von Rupnow S. 568 f, der dies über Schuberts Orientalistiklehrer Viktor Christian geschrieben hatte. In ihrem Fortsetzungsaufsatz Jewish Studies in the Third Reich: A Brief Glance at Viktor Christian and Kurt Schubert, in: Review of Rabbinic Judaism 13 (2010), S. 236 – 249, bezieht sie diese Aussagen richtig auf Christian (S. 243) und schreibt von Schubert, dass er kein Mitglied der NSDAP

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die Instituta Judaica zu verneinen, auch wenn an theologischen Fakultäten sehr wohl in der NS-Zeit kompromittierte Forscher sich jüdischen Themen widmeten – ein herausragendes Beispiel ist Karl Georg Kuhn, der sich in seiner Frühzeit rabbinischer Literatur widmete, dann für die NS-Judenforschung arbeitete und nach kurzer Unterbrechung seine akademische Laufbahn zuerst in Göttingen, dann in Heidelberg wieder aufnehmen konnte, wo er sich als Qumranforscher einen Namen machte.15 Dass Kurt Schubert während der Hitlerzeit bei einem bekennenden Nationalsozialisten Altorientalistik studierte und über Hammurabi dissertierte, zugleich auch an der theologischen Fakultät Hebräisch lernte, kann man nur ohne Kenntnis seiner Person und Geschichte als Brücke zwischen den Epochen werten. Luzern war die erste Hochschule in der Schweiz, die mit der Berufung des Schubert-Schülers Clemens Thoma Judaistik 1971 als universitäres Fach einführte. Im Rahmen einer katholisch-theologischen Fakultät war natürlich auch hier wie in den evangelischen Instituta Judaica die Verbindung zu den biblischen Fächern wesentlich, daher auch der Name des Lehrstuhls »Bibelwissenschaft und Judaistik«. Soweit das Thoma anfangs völlig allein bewältigen konnte, war jedoch immer schon sein Bestreben, auch die Entwicklung des Judentums bis zur Gegenwart mit einzubeziehen. Die Schaffung einer Stelle für einen jüdischen wissenschaftlichen Mitarbeiter und einer ständigen Gastprofessur für einen jüdischen Professor seit 1974 war innerhalb einer theologischen Fakultät durchaus ungewöhnlich. Thoma wollte damit sicherstellen, dass die Studierenden nicht nur die Außensicht auf das Judentum, sondern auch die Innenperspektive erfuhren. Die Vermittlung zwischen Judentum und Christentum war Thoma ein wesentliches Anliegen. Die Gründung des Instituts für JüdischChristliche Forschung (IJCF 1981) sollte dem christlich-jüdischen Gespräch dienen, dieses aber auf die feste Grundlage der wissenschaftlichen Erforschung der jüdischen Quellen stellen. Neben der Gleichnisforschung (zusammen mit David Flusser) sei als Frucht der Zusammenarbeit besonders das von Thoma zusammen mit Jacob J. Petuchowski vom Hebrew Union College Cincinnati gemeinsam verfasste »Lexikon der jüdisch-christlichen Begegnung« (Freiburg 1989) hervorgehoben. Einen wichtigen neuen Ansatz brachte die 1979 gegründete »Hochschule für Jüdische Studien« in Heidelberg, die als einzige Institution im deutschen oder einer anderen »Nazi-affiliated organization« gewesen sei (S. 244), jedoch ohne auf ihre falsche Behauptung im früheren Aufsatz hinzuweisen. 15 Zu Karl Georg Kuhn siehe Theißen, Gerd: Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945. Karl Georg Kuhn und Günther Bornkamm. Heidelberg 2009. Kuhns Werk: Der tannaitische Midrasch Sifre zu Numeri. Übersetzt und erklärt. Stuttgart 1959, ist wegen der reichen Anmerkungen trotz der neuen Übersetzung von Börner-Klein, Dagmar: Der Midrasch Sifre zu Numeri. Übersetzt und erklärt. Stuttgart 1997, noch nicht überholt.

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Sprachraum in jüdischer Trägerschaft ist (Zentralrat der Juden in Deutschland), zugleich aber der Universität angeschlossen ist und auch Promotionsrecht besitzt. Das Programm der Hochschule war von Anfang an, die jüdische Geschichte und Tradition in voller Breite durch Spezialisten zu vertreten. Lange wollte das nicht so recht gelingen, da die Professoren gewöhnlich nur kurzfristig aus Israel oder den USA nach Heidelberg kamen. Erst in den letzten Jahren ist es gelungen, alle Stellen mit auf Dauer in Heidelberg anwesenden Professoren zu besetzen (sieben Professuren und eine Junior-Professur, dazu eine feste Gastprofessur für Israel-Studien gemeinsam mit der Universität Heidelberg). Die Mehrzahl der Studierenden ist noch immer nicht-jüdisch, doch verschiebt sich das durch Studienangebote für jüdische Religionslehrer, Gemeindearbeit und auch den akademischen Teil einer Rabbinatsausbildung.

3.

Neuere Entwicklungen

Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts war die judaistische Landschaft im deutschen Sprachraum sehr klein und überschaubar. Seither ist sie viel breiter geworden, einerseits durch zusätzliche Professuren an den bestehenden Instituten (Berlin, Wien, Köln) und den eben genannten Ausbau der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, vor allem aber durch eine Reihe von Neugründungen, zum Teil verbunden mit einer Neuorientierung. 1992 wurden an der Universität Potsdam »Jüdische Studien« eingerichtet, anfangs um je eine Professur in den Bereichen Neuere Geschichte (deutschjüdische Geschichte) und Religionswissenschaft gruppiert und durch das der Universität angegliederte »Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien« ergänzt, dessen Forschungen vor allem den Beziehungen von Juden und nicht-jüdischer Umwelt und der jüdischen Sozialgeschichte in Europa, besonders in Deutschland gewidmet sind. Seit 1994/1995 ist der interdisziplinäre Studiengang Jüdische Studien in Betrieb, getragen von der Philosophischen Fakultät, aber zugleich unter Beteiligung anderer Fakultäten. 1999 kam dazu das Abraham-Geiger-Kolleg zur Rabbiner- und Kantorenausbildung, seit 2003 unterstützt durch eine zusätzliche Professur für Rabbinische Studien im Institut für Religionswissenschaften, die eine Klammer zwischen Universität und Rabbiner-Seminar bildet. 2007 wurden diese Angebote durch ein eigenes Institut für Jüdische Studien an der Philosophischen Fakultät gebündelt. Das Konzept »Jüdische Studien«, ursprünglich in Duisburg als Notlösung gedacht, die verschiedenen Personen, die sich mit jüdischen Themen befassen, um eine zentrale Professur im Forschungsschwerpunkt »Geschichte und Religion des Judentums« zu gruppieren (1974), wurde in Potsdam anfangs stark

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ideologisch als Kontrast zur angeblich rein philologisch und textorientierten Judaistik geschaffen, der die Gegenwartsrelevanz fehle. Alle, die etwas zu einem jüdischen Thema anbieten wollten (Juden in der Literatur, Kunst, Politik, im Film usw.), konnten mitmachen. Sprachvoraussetzungen wurden anfangs bewusst nicht verlangt, Traditionsliteratur kam kaum vor, jüdische Religion auch nicht viel mehr, auch wenn eine der beiden Professuren jüdische Religionsgeschichte war und durch den Judaisten Karl Erich Grözinger besetzt war. Die anfänglich polemische Abgrenzung ist einem pragmatischeren Zugang gewichen, beide Seiten haben sich bei bleibenden unterschiedlichen Schwerpunkten weitgehend aneinander angenähert. Das gilt noch mehr von anderen neueren Instituten wie denen der Universitäten Düsseldorf (seit 2002 aus Duisburg zur lokalen Jiddistik übernommen) und Halle; diese führen zwar die Bezeichnung »Jüdische Studien«, unterscheiden sich aber in Anforderungen und Angebot wenig von traditionellen Instituten für Judaistik. Das 2009 an der Humboldt-Universität gegründete, seit 2011 aktive und an das Institut für Kulturwissenschaft angebundene »Kollegium Jüdische Studien« möchte ähnlich wie ursprünglich in Duisburg und dann in Potsdam die in den verschiedenen Fächern der Universität angebotenen Lehrveranstaltungen mit einem Judentumsbezug zusammenbringen, zugleich auch Forschung und Lehre mit jüdischen Themen im Raum Berlin-Brandenburg vernetzen und dadurch stärken. Jüdische Kultur, Philosophie und Geschichte in Deutschland, insbesondere in Berlin, stehen im Mittelpunkt. In der Schweiz sind die Angebote jüdischer Studien in den letzten Jahren stark gewachsen. Wo früher Luzern in der deutschsprachigen Schweiz alleine stand (in Genf gab es schon seit Jahren jüdische Lehrangebote im Rahmen der Philosophie), besteht seit Herbst 1999 in Basel ein Institut für Jüdische Studien, an der Universität Bern seit 2008 ein Institut für Judaistik, dessen Anfänge in der 2005 eingerichteten interfakultären Forschungsstelle der Theologischen und der Philosophisch-historischen Fakultät lagen. Ren¦ Bloch vertritt hier die Judaistik mit Schwerpunkt Antikes und mittelalterliches Judentum; judaistische Lehrveranstaltungen sind im Rahmen des Studiums der Theologie verpflichtend, ebenso im Institut für Klassische Philologie fester Bestandteil des Lehrangebots. Neben einem Minor in Judaistik bietet Bern auch einen Spezialisierten Masterstudiengang Antikes Judentum zusammen mit der Theologischen und der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich an; auch ein Doktorat der Theologie in Judaistik ist möglich. Das Angebot ist stark auf die biblischen Fächer und das hellenistische Judentum ausgerichtet; der Grad wird von den beiden theologischen Fakultäten verliehen. Seit 2006 besteht auch an der Universität Lausanne eine Professur für die Geschichte der Juden und des Judentums; das Lehrangebot umfasst einerseits den Bereich des antiken Judentums,

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andererseits moderne Themen; die dazwischen liegenden Jahrhunderte werden nicht abgedeckt.

4.

Einige Überlegungen zum Platz einer Judaistik im Rahmen der Universität

Der Überblick über die bisherige Entwicklung der jüdischen Studien im deutschen Sprachraum seit 1945 hat schon gezeigt, dass es nicht nur ein gültiges Konzept dafür gibt. Am Anfang standen einerseits die Instituta Judaica mit der Zielsetzung, den jüdischen Rahmen der Anfänge des Christentums besser verstehen zu lernen, auf der anderen Seite die judaistischen Institute mit dem Anspruch, die Gesamtheit der jüdischen Geschichte, Literatur und Religion zu vermitteln und dies soweit möglich auf Grundlage der wesentlichen Quellentexte in den Originalsprachen. Sprach- und Textstudien nahmen dabei die zentrale Stelle ein, religiöse Themen standen im Vordergrund, die Gegenwart war, abgesehen von Themen wie Antisemitismus, Holocaust und Staat Israel eher unterbelichtet, zum Teil bewusst mit der Begründung, dass dergleichen Themen auch ohne Hebräisch-Kenntnisse von anderen Fächern vermittelt werden können und tatsächlich im Rahmen der Geschichte, Zeitgeschichte, Germanistik, Politologie, Soziologie usw. vermittelt werden – also eine Aufgabenteilung mit anderen Instituten aufgrund der knappen personellen Ausstattung und wegen der für viele moderne Fragestellungen erforderten Methoden, in denen ein textorientierter Judaist meist keine Kompetenz aufweist. Gerade das versuchten dann anfangs die »Jüdischen Studien« im Gegensatz zur klassischen Judaistik zum Prinzip zu machen: Bündelung aller Ressourcen ohne den unnötigen Ballast der Sprachen und alten Texte, mit Konzentration auf die Neuzeit und vor allem die Gegenwart sowie auf kulturelle Phänomene im weitesten Sinn, Juden in Film und Theater, jüdisches Körperbewusstsein, psychologische Fragen und Ähnliches. Selbstverständlich war allen Angeboten an den Philosophischen Fakultäten gemeinsam, dass weder für Lehrende noch für Studierende die Frage der religiösen Zugehörigkeit eine Rolle spielen darf (auch wenn ein Teil der Studierenden immer wieder glaubt, nur jüdische Vortragende könnten jüdische Tradition authentisch vermitteln). Es ist eine Tatsache, dass sich Juden verschiedenster Ausrichtung, Christen, Moslems und Agnostiker in unseren Lehrveranstaltungen friedlich mischen, vereint durch das gemeinsame Interesse an jüdischen Themen, die immer wieder nur paradigmatisch für allgemeinere Fragestellungen sind. Neben das Konzept einer Judaistik, die das Fach in seiner ganzen Breite

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vertreten will, treten Ansätze, diese heterogene Masse ohne eine spezifische eigene wissenschaftliche Methode in die Einzelfächer aufzubrechen. Es hat natürlich viel für sich, etwa jüdische Geschichte im Rahmen eines Historischen Seminars zu lehren und zu erforschen, wie dies an der Universität München seit 1997 der Fall ist, wo »Jüdische Geschichte und Kultur« als eines von drei Teilfächern des Faches »Neuere und Neueste Geschichte« (neben Geschichte der Frühen Neuzeit und der Zeitgeschichte) geführt wird. Diese zeitliche Begrenzung ist sehr verständlich, solange das Fach von einem einzelnen Professor betreut wird. Dass 2009 eine eigene Professur für Mittelalterliche Jüdische Geschichte dazukam, und eine weitere Stelle für die Geschichte der Juden in der islamischen Welt, ergänzt durch regelmäßige Gastprofessuren, erweitert das Spektrum in erfreulicher Weise auch auf kulturgeschichtliche Fragestellungen hin. Der Ansatz ist hier viel breiter als etwa in der Professur für Jüdische Geschichte in Potsdam. Dass man jüdische Geschichte auch in Mittelalter und Neuzeit nicht ohne gute Kenntnisse zumindest des Modernhebräischen betreiben kann, versteht sich von selbst. Ähnliches gilt von judaistischen Professuren im Rahmen der Religionsgeschichte, wie dies in einem relativ breiten Kontext in Potsdam der Fall ist, schon eingeschränkter in Erfurt, wo zugleich die Geschichte der Juden in Deutschland von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart ein Schwerpunkt ist, oder in Bamberg, wo es eine Professur für Judaistik im Rahmen eines »Zentrums für Interreligiöse Studien« gibt und neben Überblicksveranstaltungen zur jüdischen Geschichte, zum jüdischen Leben und zur Liturgie ebenfalls die neuere Geschichte und Literatur im Vordergrund steht. Der gesamte Bereich zwischen Bibel und Neuzeit kommt hier, bedingt durch das eingeschränkte Personal, geringe oder gar fehlende Sprachkenntnisse und das angezielte Publikum (v. a. Lehramtsstudierende) fast nicht vor. Ähnliche Einschränkungen gelten natürlich auch für die Einzelprofessuren für Judaistik im »Centrum für Religionswissenschaftliche Studien« in Bochum und im »Centrum für Religiöse Studien« in Münster. Eine 2010 in Erfurt eingerichtete Professur »für europäisch-jüdische Literatur- und Kulturwissenschaft« konzentriert sich, soweit bisher dokumentiert, auf deutschjüdische Literatur des 20. Jhs. (Kafka, Lasker-Schüler); wie weit diese in einen größeren Rahmen jüdischer Traditionsgeschichte eingebettet wird, bleibt abzuwarten. Neben solchen thematischen Eingrenzungen dessen, was man von jüdischer Geschichte, Kultur und Religion genauer studieren und erforschen will, gab es in neuester Zeit den Versuch, die Judaistik als »Regionalwissenschaft« einzuordnen, sie damit in den Bereich des Nahen Ostens abzuschieben. Sosehr das Judentum einen klaren regionalen Ursprung hat, ist doch klar, dass es sich weit über diese Ursprünge hinaus entwickelt hat und es heute selbstverständlich genauso zur europäischen oder amerikanischen Kultur und Lebenswelt gehört.

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Mag auch eine solche Zuordnung der Judaistik in der Gliederung der Universitäten eine praktische Entscheidung sein, so verkennt sie doch völlig die in der Natur seines Gegenstands angelegte notwendige Breite des Fachs, das weder in den Philologien noch in der Geschichts- oder Religionswissenschaft voll aufgehen kann, auch wenn es natürlich an all diesen Disziplinen und anderen mehr partizipiert. Die umfassende Breite (zumindest früherer) philosophischer Fakultäten ist sicher noch immer die diesem Fach am ehesten angemessene Heimstätte. Die Begrenzung auf einen ganz bestimmten Bereich jüdischer Tradition hat gewiss den Vorteil einer viel größeren Fachkompetenz im jeweiligen Bereich und nimmt das Jüdische jeweils als Teil der allgemeinen Geschichte, Religions-, Kultur- oder Literaturgeschichte wahr, vermeidet so eine zu enge Binnenperspektive. Andererseits schränken solche Konstellationen natürlich den zu behandelnden Themenbereich stark ein, laufen Gefahr, vielleicht auch Zusammengehöriges auseinanderzureißen – wie kann man etwa jüdische Wirtschaftsgeschichte zumindest bestimmter Perioden ohne Kenntnis der einschlägigen Halakha verstehen, wieweit kommt man ohne spezielle Sprachkenntnisse? Es braucht immer eine Bündelung spezifischer Kenntnisse, eine schon in der Ausbildung angelegte Interdisziplinarität, der Rest ist dann weitgehend eine Frage der Pragmatik (ein schönes Beispiel dafür ist Italien, wo es zahlreiche Spezialisten zu jüdischen Themenbereichen gibt, aber nicht in eigenen Instituten, sondern gestreut über eine Fülle von Disziplinen – römisches Recht, klassische Philologie und alte Geschichte sind hier breit vertreten, aber auch eine ganze Reihe anderer Fächer, die zu den jüdischen Studien Wesentliches beitragen). Ein anderer Punkt, der eine Frage von Interessensabwägungen ist, ist die Gewichtung des älteren gegenüber dem neueren Bereich. Ich bin überzeugt, dass eine solide Kenntnis der klassischen Periode des rabbinischen Judentums auch für die Erforschung der neueren Geschichte und der Gegenwart unabdingbar ist; fast alles, was jüdisches Leben und jüdische Kultur bis heute prägt, hat nicht in der biblischen Zeit, sondern in der Zeit von Talmud und Midrasch seine wesentliche Gestalt angenommen; dass das Studium dieser Epoche (aber das gilt fast ebenso auch von allen anderen Epochen der jüdischen Geschichte) nicht ohne gründliche Sprachkenntnisse möglich ist, versteht sich von selbst. Das heißt aber nicht, dass der ältere Bereich in einem Normalcurriculum den Löwenanteil erhalten muss. Es ist immer eine Frage der Abwägung, wofür man unbedingt die Quellentexte im Original lesen können muss oder wo eine umfangreichere Kenntnis dieser Texte aus verlässlichen Übersetzungen gewonnen werden kann; ebenso ist im Einzelfall zu entscheiden, was man als absolutes Minimum an Kenntnissen der rabbinischen Periode voraussetzt, um alle späteren Entwicklungen sinnvoll studieren zu können. Denn natürlich ist jegliches

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Studium der Judaistik immer nur ein kleiner Ausschnitt aus einer viel größeren Wirklichkeit, die kein Programm auch nur annähernd vertreten kann. Schließlich zur Frage der Religion. Sie ist für das Judentum so allumfassend, dass es dafür kein ursprünglich hebräisches Wort gibt und orthodoxe Kreise im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert sich vehement gegen die Einführung eines eigenen Religionsunterrichts wehrten. Religiöse Fragen greifen überall hinein und ohne ein Verständnis dafür, warum gewisse Dinge (etwa Kaschrut oder Reinheitsfragen) jemandem wichtig sein können, kann man viele Aspekte der jüdischen Geschichte und Kultur schwer verstehen, ganz gleich, ob man selbst dergleichen praktiziert, für wichtig hält oder nur aus der Ferne beobachtet. Toleranz für andere Lebensformen und Grundeinstellungen ist in der Judaistik vielleicht mehr noch als in anderen Fächern eine wesentliche Voraussetzung. Die Konstellation der Judaistik in Luzern finde ich interessant, insofern hier die Judaistik einerseits fest in das theologische Studium eingebettet ist und damit beitragen sollte, allen Theologie Studierenden zumindest ein Basiswissen vom Judentum zu vermitteln – womit man nicht nur die andere Seite besser verstehen lernt, sondern zugleich (im positiven Sinn) eigene religiöse Positionen zu relativieren gezwungen ist.16 Wenn es im Programm der Luzerner Judaistik heißt: »Das Studium der Judaistik steht allen Studierenden offen, ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung«, so ist das eigentlich selbstverständlich, nur auf dem Hintergrund der Einbettung in eine Theologische Fakultät eigens zu betonen. Wie sehr Studierende der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät oder im Rahmen eines Rechtswissenschaftlichen Studiums das Angebot wahrnehmen und die Schwellenangst zur Theologischen Fakultät überwinden, kann nur die Erfahrung lehren. Ein letzter Punkt verdient noch kurz erwähnt zu werden. Zu Beginn der historischen Entwicklung der jüdischen Studien stand die Forderung nach einer eigenen jüdisch-theologischen Fakultät. Heute ist diese Forderung als Frage der Neutralität des Staates gegenüber den Religionen wieder aktuell geworden, wie eine Enquete des Deutschen Wissenschaftsrates zeigt, in der es primär um die Frage ging, ob Deutschland auch islamisch-theologische Fakultäten einrichten solle.17 Das wurde im Kontext der staatlichen Evangelischen und Katholischen

16 Am ehesten vergleichbar ist die Situation in Göttingen, wo das Institut für Judaistik, 1950 als »Institut für spätjüdische Religionsgeschichte« gegründet, in der Theologischen Fakultät beheimatet ist und dort auch als Hauptfach im Promotionsstudiengang der evangelischen Theologie gewählt werden kann, zugleich aber auch der Philosophischen Fakultät zugeordnet ist; ähnlich ist es nun auch in Tübingen. Wie in Luzern ist auch hier die Konfessionsgebundenheit der Professur nicht ganz unproblematisch. 17 Siehe die »Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen

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Fakultäten diskutiert, wobei natürlich auch die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg eine Rolle spielte (diese ist großteils staatlich finanziert), aber auch die Frage, wie im Fall einer jüdisch-theologischen Fakultät das weitere Bestehen judaistischer Institute zu begründen ist. Inzwischen ist beschlossen, vier islamisch-theologische Zentren an deutschen Universitäten (u. a. zur Ausbildung von Imamen) einzurichten. Eines davon ist Tübingen, das im Oktober 2011 seine Tätigkeit aufnahm und das im Vollausbau sechs konfessionell gebundene Professuren haben soll. Ähnlich ist in Wien die Errichtung einer islamisch-theologischen Fakultät im Gespräch; eine Professur für islamisches Recht gibt es schon im Rahmen der Orientalistik, eine andere für islamische Religionspädagogik in der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft. Sosehr die Gleichstellung der Religionen auch im staatlichen Bildungswesen ein Gebot der Stunde ist, hielte ich es doch für problematisch, dafür den konfessionsfreien Raum jüdischer oder analoger Studien in Frage zu stellen. Der ganze Themenbereich ist zu wichtig, als dass er allein den Insidern vorbehalten bliebe. Luzern ist ein interessanter Versuch, einen Zwischenweg zu gehen; eine allgemein gültige Lösung ist nicht zu erwarten. Abschließend noch ein Wort zur Wissenschaftlichkeit der jüdischen Studien. Lange galten sie wie die Theologien als »Gesinnungswissenschaften«, deren Wissenschaftlichkeit man in Frage zog, es sei denn als Teil der Semitistik oder der Geschichte. Natürlich muss die Judaistik genau so objektiven Methoden und Kriterien folgen, wie dies von anderen Disziplinen gefordert wird. Zugleich aber gilt gerade für die Judaistik: Ohne Sympathie für den Gegenstand des Studiums, ohne Liebe zur Sache ist man hier fehl am Platz. Dies gilt gerade wegen der Vorgeschichte der Disziplin, vor allem aber auch der jüdischen Bevölkerung im deutschen Sprachbereich. Ich zitiere mich selbst: »Bei aller Wissenschaftlichkeit und Objektivität ist Judaistik eine zutiefst humanistische Disziplin, dem Kampf gegen Vorurteil und Ausgrenzung von Minderheiten aller Art verpflichtet. Insofern ist das Judentum nur ein wichtiger Prototyp, dessen Studium auf andere Bereiche übertragbar ist. Es mag heute naiv klingen, noch immer an eine Verbesserung der Welt durch Wissen zu glauben. Vom Ansatz her sollte sich aber gerade auch die Judaistik dazu eignen, durch Wissen auch Haltungen zu bestimmen.«18

Wissenschaften an deutschen Hochschulen« des Wissenschaftsrats vom 29. 01. 2010: http:// www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/9678 – 10.pdf (abgerufen am 12. 02. 2013). 18 Stemberger, Günter : Einführung in die Judaistik. München 2002, S. 20.

Dan Diner

Jüdische Studien heute Zwischen Beteiligung und Beobachtung

Es mag verwundern, ist aber empirisch belegbar : Jüdische Studien heute gelten als akademische Erfolgsgeschichte. Gerade in Deutschland, aber auch in den weiteren deutschsprachigen Ländern, erfährt das Studium der jüdischen Lebenswelten beträchtlichen Zuspruch. Die gegenwärtige Blüte des Gegenstandes ist anhand universitärer Studiengänge, der Etablierung von Forschungsprogrammen und der Auflage von wissenschaftlichen Publikationsorganen abzulesen. Was vor knapp zwei Jahrzehnten kaum vorstellbar gewesen war – auch international finden die deutschsprachigen Jüdischen Studien wachsende Anerkennung. Inzwischen werden sie mit etablierten akademischen Einrichtungen in den Zentralländern der Erforschung des jüdischen Gegenstandes, vornehmlich in Israel wie in den Vereinigten Staaten, in einem Atemzug genannt. Die Gründe einer solchen Wertschätzung sind komplex. In Deutschland sind sie nicht zuletzt Teil öffentlich geförderter Bestrebungen, sich der jüdischen Anteile seiner Geschichte – wenn schon nicht real, so doch zumindest im Sinne einer historischen Beschäftigung mit dem Gegenstand – zu versichern. Einer solchen Tendenz kam auch der mit dem politischen Zwillingsjahr 1989/90 verbundene Umbruch entgegen. Die nunmehr erlösten politischen Räume evozierten zumindest im Gedächtnis die mit ihnen einstmals verbunden gewesenen historischen Zeiten. Ein kompliziertes Relief von Vergangenheit trat aus dem in Grautönen übertünchten Areal der kommunistischen Neutralisierung von Geschichte hervor. Dass hierfür gerade den Juden, genauer : der Erinnerung an sie, ein mittel-ostmitteleuropäisches Moment der Erkenntnis innewohnt, verstand sich entweder von selbst oder drängte sich durch die den Erinnerungen inhärenten Weiterungen auf. So etwa Fragen nach der Restitution vormaligen enteigneten oder erbenlos gemachten Eigentums, vornehmlich des jüdischen. Schließlich bedeutete die mit der großen Wende im vormaligen politischen Osteuropa verbundene Wiedereinführung des Prinzips des Privateigentums nicht nur eine Wiederherstellung vormaliger Besitzverhältnisse, sondern auch der von diesem Akt der Evokation ausgehenden Gedächtnisschüben. Grundbuch und Kataster erweisen sich als Behälter der Erinnerung. Da dem privat-

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eigentümlichen Ding so etwas wie ein transgenerationelles Gedächtnis eingeschrieben ist, lässt sich zu Recht vermuten, dass diese Konstellation auf einer anthropologischen Konstante basiert. Dass den Jüdischen Studien in der Folge der Katastrophe des Holocaust besondere Aufmerksamkeit zuteilwird, ist nicht rundweg falsch, wenn auch keine hinreichende Erklärung. In der Tat ist das Interesse an den Juden und den jüdischen Lebenswelten zu einem nicht unwesentlichen Teil dem ultimativen Genozid geschuldet. Das Geschehen der sich für das Bewusstsein als schier ewig erweisenden kurzen zwölf Jahre der Naziherrschaft zieht ebenso weit zurückliegende Zeiten an sich wie es auch die nachfolgenden Zeiten belastet. Insofern bedingt dieses Ereignis ganz aus sich heraus und damit wiederum anthropologisch einen Sonderstatus – mit allen sich daran anknüpfenden epistemologischen Konsequenzen. Was dürfte hinsichtlich des vom Holocaust ausgelösten Interesses an den Jüdischen Studien über dieses Ereignis hinausweisen? Hier tritt die Bedeutung der Juden für den westlichen, also christlich-säkularisierten Zivilisationszusammenhang hervor. Bereits lange vor dem Holocaust kam den Juden trotz ihrer auffallend geringen absoluten wie relativen Zahl im Verhältnis zu den Bevölkerungen ihrer Umgebungskulturen eine besondere Bedeutung zu. Diese zog auf den verschiedenen Stufen der Wahrnehmung besondere Aufmerksamkeit wie Sichtbarkeit nach sich. Diese kulturanthropologische Sonderlage ist darin begründet, dass die Juden historisch die einzige nicht-christliche Bevölkerungsgruppe Europas gewesen waren. Über diesen Umstand hinaus und mit ihm verbunden boten sich die Juden der Christenheit zudem als Inkarnation des ultimativ Anderen an. Schließlich war ihnen theologisch negativ eine eminent heilsgeschichtliche Bedeutung zugeschrieben worden. Mit dem Niedergang des theozentrischen Weltbildes und dem Aufkommen einer sich zunehmend säkularisierenden Moderne transformierte sich die den Juden zugewiesene theologische Besonderheit in soziale Semantiken und generierte im Zeichen gesellschaftlicher Beschleunigung Markierungen, die vornehmlich Juden auferlegt wurden. Und dies, obschon hinter den scheinbar rationalen Bildern der Welterklärung weiterhin die Konturen des Theologischen erkennbar blieben. Ein solcher in der frühen Moderne sich durchsetzender Paradigmenwechsel von einer religiösen zu einer sozialen Diffamierung der Juden war nicht zuletzt dem sich damals durchsetzenden Prinzip der Gleichheit geschuldet. Die formale, also staatsbürgerliche Gleichheit brachte es paradoxerweise mit sich, dass bestehende Unterschiede mittels eines gemeinsamen, von der Gleichheit hervorgebrachten gleichen Maßes erst recht sichtbar geworden waren. Damit wurde solche Sichtbarkeit auch politisch relevant. Das horizontal angelegte Prinzip der formellen Gleichheit unterscheidet sich fundamental von der ihm vorausgegangenen vertikal angelegten hierarchischen Ordnung der Korporationen und

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ihrer festgefügten Stellung zueinander – eine Ordnung, in der (ständische) Differenz und vergleichende interkorporative Wahrnehmung eigentlich bedeutungslos war. Das Interesse an den jüdischen Lebens- und Wissenswelten in der Moderne erfolgt aus einem im Bereich der Jüdischen Studien wenig reflektierten Grund: der epistemologischen Bedeutung der Juden als Seismograph von mit den Verwerfungen der neuen Zeit einhergehenden Erscheinungen. Im Zentrum ihres Enigmas steht eben jenes Verhältnis von realer Ungleichheit unter Konditionen formeller Gleichheit. Dies ist der Kernbestand dessen, was gemeinhin im 19. Jahrhundert aber auch darüber hinaus als »Judenfrage« die Gemüter erhitzte. Die den Juden zukommende diagnostische Bedeutung zum Verständnis der lebensweltlichen Konstellation der Moderne erwächst aus einem exzeptionellen zeitgleichen Zusammenwirken temporal ungleicher lebensweltlicher Modi in ein und derselben (jüdischen) Person. Dabei sind die Merkmale kollektiver jüdischer Zugehörigkeit von den individuellen und auf Verwirklichung drängenden Attributen der Person zu unterscheiden. So folgen die kollektiven Anteile jüdischer Zugehörigkeit durchaus religiösen Maßgaben und damit vorausgegangenen Zeiten. Sie sind mithin als Residuen der Vormoderne zu verstehen. Gleichzeitig kann ein und dieselbe Person durch eine hochindividualisierte Disposition ihrer Tugenden ebenso zum Pionier der Moderne veranlagt sein und als Einzelner oder Einzelne deren Realisierung anstreben. Die aus vielfältigen Anteilen und ihren ungleichzeitigen Ursprüngen komponierte jüdische Zugehörigkeit – hier ist von unterschiedlichen, in ihrer Vielfalt gleichsam in raumzeitlicher Hinsicht kaleidoskopisch komponierten Emblemen die Rede – nahm bereits in der Hochmoderne die Existenzerfahrung des nachmodernen Menschen der Gegenwart vorweg, dessen teilhafte Verkörperung sich auf verschiedene Lebenswelten, verschiedene Kulturen und verschiedene Sprachgemeinschaften erstreckt und dessen Persönlichkeit als Ausdruck von Mehrfachzugehörigkeit gedeutet wird. Die Erforschung dieses hoch komplexen Zusammenhangs weist den Jüdischen Studien dieses Gegenstandes wegen eine kulturwissenschaftliche Vorreiterrolle zu. Jüdische Studien sind thematisch breit ausgelegt. Als »Studien« im Sinne der amerikanischen akademischen Tradition von studies weit und offen denominiert, geht ihnen eine spezifische, der kontinentalen Wissenstradition entsprechende räumliche und/oder zeitliche Disziplinierung eher ab. Als studies umfassen sie im Prinzip alle Epochen und alle Lebensräume, in denen Juden durch die Zeiten hindurch präsent gewesen waren. Gleiches lässt sich für den methodischen Zugriff sagen. Die Jüdischen Studien können sich des traditionell historischen, des anthropologischen, des religionswissenschaftlichen, soziologischen oder anderer disziplinaren Zuordnungen bedienen. Eine solche Band-

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breite in Zeit, Raum und Methode gereicht ihnen akademisch ebenso zum Vorteil wie zum Nachteil. Zum Vorteil, als die diasporische, mithin raum-zeitlich allseitige Präsenz der Juden ihren Niederschlag in eben jener erwähnten Vielheit wissenschaftlicher Disziplinen findet. Ein solcher Zugriff ist weder beliebig noch voluntaristisch zu verstehen, sondern folgt durchaus der Natur des Gegenstandes – dem ihm charakteristischen Umstand, dass eine solche raumzeitliche Mannigfaltigkeit recht eigentlich der lebensweltlichen Konstellation der Diaspora entspringt. Schon das Wort von der Diaspora – ein griechisches Wort für eine jüdische Kondition – weist auf eine thematische Weiterung hin, nämlich der im Unterschied zu anderen Gegenständen der allgemeinen geistesund sozialwissenschaftlichen Forschung außerordentlich hohen Kontextgebundenheit des jüdischen Gegenstandes, will heißen: Dass ohne eine weite und tiefe Kenntnis der Umgebungskulturen der Juden sich forscherisch kein hinreichendes Verständnis der jüdischen Lebenswelten ergeben dürfte. Übertragen in ein geometrisches Bild der Erkenntnis – ein Bild, das bereits in seiner eindringlichen Figürlichkeit die Besonderheiten einer wirklichkeitsgerechten politischen Geschichte der diasporischen Judenheiten im Kontext ihrer nicht-jüdischen Umgebung herausstellt: Nämlich die jüdische Lebenswelt in Gestalt einer Geometrie des ungeschützten Punktes im Verhältnis zu einer ihn umschließenden machtgestützten Geometrie der Fläche zu erfassen. Dieser figürlichen Umschreibung entspringt in der Tat ein ansehnlicher Zugewinn an Erkenntnis; und dieser Zugewinn gemahnt letztendlich an die Modi von Dekonstruktion. Tatsächlich will es scheinen, als ob der methodische Zugang der Dekonstruktion, wie er sich für nachmoderne Phänomene überaus gegenstandsgerecht anbietet, in den vormodernen und in die Hochmoderne hinein sich verlängernden jüdischen Besonderheiten seinen phänomenologischen Ursprung hat. Der Gegenstand der diasporischen jüdischen Lebenswelten könnte mithin als das eigentliche erkenntnisbefördernde Material der Dekonstruktion bzw. des Primats der diff¦rance verstanden werden. Mit diesen Ausführungen ist aber auch der systematische Nachteil des Gegenstandes der Jüdischen Studien angezeigt. Dieser war dort lokalisiert worden, wo gerade die hochgradige Kontextbindung des jüdischen Gegenstandes eine strenge akademische Disziplinierung erschwert. Dies vor allem dann, wenn bedacht wird, dass das jüdische Thema dort seinen eigentlichen erkenntnisrelevanten Ort hat, wo im Gefolge von Säkularisierung, Profanierung und Emanzipation traditionelle Bezüge sich in Auflösung befinden, vormodern gefügte Bindungen sich lockern und akkulturierende Phänomene von Überschreitung und Verflüssigung vorausgegangener Gewissheiten auf den in der Vormoderne eher fixierten Charakter von Zugehörigkeit einwirken, was wiederum als institutionelle wie existenzielle Krise in Erscheinung tritt – eben jene »Judenfrage« als partikular drapierte Menschheitsfrage.

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Aus diesen Überlegungen folgt eine komplexe, indes dem jüdischen Gegenstand angemessene Wissensordnung. Sie lässt sich anhand eines dynamischen, wieder der geometrischen Form bedienenden Modells beschreiben – nämlich der Figur einer in konzentrischen Kreisen sich abschwächenden Heiligkeit. So fügt sich die dem jüdischen Gegenstand angemessene Wissensordnung konzentrischer Kreise aus den Bereichen Judentum, Judenheiten, Juden, Antisemitismus und Holocaust. Und je weiter sich die konzentrischen Kreise vom sakralen Zentrum (Judentum) entfernen, desto profaner, säkularer dürfte ihr Inhalt beschaffen sein. Die Bewegung der Auflösung und Verflüssigung des sakralen Kernbestands allen jüdischen Wissens – nämlich der traditionellen Befassung mit dem geoffenbarten Gesetz und dem auf dem geoffenbarten Gesetz sich gründenden normativen Kanon des spätantiken rabbinischen Judentums – findet sich zunehmend historisiert. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn die im Übergang von der Vormoderne in die Moderne sich vollziehende Ablösung des offenbarten sakralen Gesetzes durch säkulares Geschichtsdenken als eine ernste Krise des Judentums verstanden wird. Das von außen, von der Aufklärung an das Judentum herangetragene Geschichtsdenken dringt in der Emanzipationszeit mittels der eher philologischen und sich der deutschen Sprache bedienenden Wissenschaft des Judentums in den traditionellen jüdischen Textkörper ein und verwandelt diesen historisch – eine Folge profaner Hermeneutik. Wissensgeschichtlich handelt es sich dabei um eine veritable Revolution. Zu dieser Textrevolution parallel und zu ihr analog erfolgt die von nichtjüdischen Obrigkeiten, also von außen her an das Judentum als lebensweltliches Ganzes herangetragene Reform der jüdisch-korporativen Einrichtungen, in erster Linie die jüdische Autonomie, beruhend auf der traditionellen Rechtsform des Privilegs. Dass mit der Auflösung der jüdischen korporativen Institutionen auch die weitere Entwicklung des jüdischen Selbstverständnisses getroffen wird, liegt auf der Hand – eine Entwicklung, die zumindest im Westen ihren Kulminationspunkt in der Französischen Revolution und der Gleichstellung der Juden als citoyen erfährt. Im westlich-mitteleuropäischen Kontext werden Juden also zu Staatsbürgern und damit individuell zu Angehörigen einer mosaischen oder israelitisch denominierten Konfession. Im östlichen Europa zeichnet sich eine andere Entwicklung ab. Mit dem Niedergang der vormodernen korporativen jüdischen Autonomie bei Ausbleiben absoluter staatsbürgerlicher Gleichheit wie vornehmlich im Rußländischen Reich tendieren die Juden dort zur Ausbildung eines durchweg ethnisch-religiösen jüdischen kollektiven Selbstverständnisses. Ein weiterer Kreis zunehmend abnehmender Heiligkeit hat die Erforschung der lebensweltlichen Kontexte einzelner Personen jüdischer Herkunft zum Gegenstand. Dabei handelt es sich um Personen, die davon Abstand nehmen

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würden, als Juden im Sinne von Herkunft und positivem Selbstverständnis bezeichnet zu werden. Als dem Judentum als solchen distanziert gegenüberstehende Individuen, später und unter kosmopolitisch-internationalistischen Vorzeichen als »nichtjüdische Juden« (Isaak Deutscher) bezeichnet, lassen sich Personen eines solchen dem Judentum distanzierten Selbstverständnisses eher mittels stark vermittelter und kaum als jüdisch zuordenbarer Embleme als Juden identifizieren. Soweit es sich um herausragende Persönlichkeiten handelt, die wesentlich durch ihr Werk bleibende Wirkung erzielten, dürften solche Embleme eher als habituell und wesentlich über die von diesen Personen erzeugten Werke, vor allem über deren hinterlassene Textkulturen eruiert werden können. Ein solches Forschungsfeld erfährt vor allem in den aktuellen Kulturwissenschaften großen Zuspruch, trägt aber doch gleichzeitig dazu bei, dass die ohnehin schütteren Parameter der mit dem jüdischen Gegenstand sich befassenden Disziplin sich weiter ausdünnen. Dem Judentum als solchem eigentlich fremd, wenn auch für die jüdische Existenzerfahrung von höchster existenzieller Brisanz, ist die Erscheinung des Antisemitismus. Als Projektionsphänomen auf die Juden reklamiert seine Erforschung zwar große gesellschaftliche Dringlichkeit, steht als moderne Judenfeindschaft dem eigentlichen jüdischen Wissenskanon aber außen vor, sieht man von den Folgeerscheinungen antisemitischer Weltanschauungen einmal ab, die als negative Phänomene jüdischer Existenzerfahrung nolens volens in den jüdischen Wissenskanon Eingang finden. Einen ähnlich exzentrischen Status nimmt die Holocaustforschung ein. Obwohl für das jüdische Selbstverständnis nach der Katastrophe gleichsam begründend, neigt das vornehmlich an den Juden verübte Verbrechen eines ultimativen Genozids akademisch eher dazu, sich wissenschaftsorganisatorisch anderweitig zu verorten – so in die als allgemein sich verstehende Geschichte und darin wiederum in der NS-Forschung. Indes soll nicht übergangen werden, dass sich zunehmend Zugangsweisen ausbilden, den Holocaust aus einer spezifisch jüdischen Erfahrungsperspektive heraus zu erforschen. Dazu gehören nicht nur die existenzielle Sonderlage, in die Juden angesichts der Vernichtung gestoßen worden waren, sondern auch die Übertragung eines religiös imprägnierten Kanons der Deutung ebenjener Umstände, wie sie sich etwa in rabbinischer Responsenliteratur niederschlägt und Deutungswelten wie die mit ihnen verbundenen Fragen nach sich zieht, die der nicht-jüdischen Forschung wesentlich doch verschlossen bleiben. Wie immer die historisch-historiographische Integration des Holocaust in den jüdischen Wissenskanon auch erfolgen mag – geschichtsphilosophisch hat sie zu erheblichen Folgerungen geführt, etwa die ganz jenseits der empirischen wie moralischen Erforschung des Geschehens als solches sich auftürmende epistemologische Konsequenzen insofern, als es – und dies noch einmal: wie von

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selbst die ihm vorangegangenen jüdischen Zeiten in seinen Bann zieht und sie dabei einem negativen Telos unterwirft. Die Erforschung jüdischer Lebenswelten wird von einem ihnen zugrunde liegenden Perspektivenzwiespalt bestimmt. Da ist zum einen die sich des akademisierten Gegenstandes bedienende jüdische Binnensicht auf sich selbst. So hat mit dem Niedergang der Gesetzestreue in der Moderne gleichsam als Ersatz für die vormals eher unbefragt gebliebene Tradition ein zunehmend historisierender Diskurs über sich selbst eingesetzt. Das dominierende Motiv dieses Diskurses ist der Wandel bzw. das zunehmende Schwinden von nach außen sichtbaren Emblemen jüdischer Zugehörigkeit (»Identität«). So gesehen sind die Jüdischen Studien auch ein Feld innerjüdischer Selbstfindung und damit eine doch ethnisch-religiös zentrierte Disziplin. Davon unterscheidet sich die Außensicht auf den Gegenstand jüdischer Zugehörigkeit. Sie zeichnet sich durch größere Distanziertheit wie wissenschaftliche Disziplinierung aus, hat aber diesen Zugewinn an Objektivität doch mit einem Verlust an Intuition und einer in letzterer verborgenen epistemologischen Orientierung zu zahlen. So haben beide Perspektiven – die innere wie die äußere – Vorzüge und Nachteile aufzuweisen. Letztendlich handelt es sich bei beiden Perspektiven, der inneren wie der äußeren Perspektive, im Wesentlichen um jeweils verschieden justierte Modi der Verständigung über ein und dasselbe. Im Idealfall wird es sich hierbei um eine Unterscheidung zwischen existentieller Beteiligung einerseits und eher teilnahmsloser Beobachtung andererseits handeln. Indes neigen beide Perspektiven bei aller ihnen eigenen Verschiedenheit von Beteiligung und Beobachtung dazu, ineinander überzugehen. Dies trägt dazu bei, dass dem Gegenstand eine eigentümliche Spannung anhaftet und dass es zuletzt zu innerakademischen Konflikten kommen kann, »wer« »wie« den jüdischen Gegenstand angemessen zu erforschen vermag. Wissensgeschichtlich lassen sich solche Konflikte und die mit ihnen zum Ausdruck gelangenden Affekte auch auf vorgelagerte Erfahrungsbestände zurückführen, die zwar weitgehend unterdrückt, gleichwohl subkutan ihre Wirkung tun. So wird in solchen Konflikten der Perspektivenwahl mancherorts ein Nachhall vormoderner akademischer Befassung mit den Texten des Judentums durch christliche Hebraisten verspürt, eine Wissenstradition, die eigentlich mit der christlichen Judenmission in wirkmächtiger Verbindung stand und dies lange bevor Juden eine philologischhistorische Hoheit über den eigenen Text mittels eben jener im 19. Jahrhundert zur Blüte gelangten Wissenschaft des Judentums zu erlangen vermochten. Dass der jüdischen akademischen Selbstermächtigung in Gestalt der Wissenschaft eine wirkliche Anerkennung in Form der Einrichtung von universitären Lehrstühlen eigentlich bis fast in die Gegenwart hinein versagt geblieben war, führte dazu, dass ihre eigenständig generierte Wissenskultur eher im Rahmen von Rabbinerseminaren und außeruniversitären Akademien ein wohl

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abseitiges Dasein fristete. Umso dramatischer nimmt sich der Umstand aus, dass die Nazis mittels der von ihnen betriebenen sogenannten »Judenforschung« als einer Disziplin der Ausspähung der von ihnen stigmatisierten Juden, für die eine ganze Reihe von Instituten etabliert worden war, sich ohne größere Umschweife der Ergebnisse vorausgegangener jüdischer Selbsterforschung bedienen konnten. Eine solche unbeabsichtigte Nähe wirft ein eher zwiespältiges Licht auf den seine universelle Akademisierung erstrebenden jüdischen Gegenstand. Die dem akademisierten jüdischen Gegenstand inhärente Spannung speist sich auch aus dem Zwiespalt zwischen einem weiterhin an die Offenbarung gebundenen, also »theologisch« argumentierenden Textwissen (Judentum/Judaistik) und einem solchen Wissen, das sich einer kontextgebundenen Profangeschichte der Juden öffnet. Beiden Orientierungen sind verschiedene Modi von Verstehen und Erkenntnis eigen, und sie bedürfen zu ihrer Entfaltung auch voneinander geschiedener akademischer Gefäße. Hierin zeigt sich im Übrigen eine gewisse Parallele zu den neuerdings an deutschen Universitäten eingerichteten religionspädagogisch orientierten Lehrstühlen für Islamkunde. So wie diese sich der Ausbildung von muslimischem Lehrpersonal für muslimische Schüler in Schulen und Bildungseinrichtungen verschrieben haben und in der Wissensvermittlung ihrem religiösen Auftrag nach die Bindung an die Offenbarung zu wahren haben, ist es die Aufgabe der universitären Islamwissenschaften, jene Offenbarungsgewissheiten so philologisch-historisch zu erschüttern oder zu »dekonstruieren«, wie es ihnen die Bibelkritik des 19. Jahrhunderts vorgemacht hatte. Letztendlich sind beide identisch anmutende Textkorpora durch eine epistemische und hermeneutische Welt tief voneinander getrennt, nehmen sie sich jeweils selbst ernst. Bei Vermischungen vermögen sie den Versuchungen politisch-theologischer Gefährdungen zu erliegen. Und da Islam und Judentum keine den christlichen Kirchen entsprechende Hierarchien kennen und zudem verschiedene, an Glaubensrichtungen gemahnende Strömungen aufweisen, erschwert eine derartige Vielfalt ihre staatskirchliche Anerkennung. Die Übertragung der Ausbildung von Religionslehrern und anderes für die Religionsausübung vorgesehenes Personal an eine »Denomination« allein würde freilich erheblichen Konfliktstoff anhäufen. Die jüdisch-muslimische Parallele erlaubt es für beide im Kern sakral imprägnierte Textkorpora sowohl methodische wie hermeneutische Analoga zu entwickeln. Dieses analoge Potential entspringt dem Umstand, dass Judentum wie Islam im Unterschied zur dritten Offenbarungsreligion, dem Christentum, Gesetzesreligionen sind. Diese Gemeinsamkeit erlaubt in Zukunft Forschungsund Lehrprogramme zu entwickeln, die den Jüdischen Studien so etwas wie eine Vorreiterrolle zuweisen, und dies wesentlich aus dem von ihnen inzwischen gewonnen Erkenntnisschatz einer diasporischen Erfahrung, eine Erfahrung die der Islam erst zu machen beginnt.

Kurt Koch

Zum Jubiläum der Judaistik und des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung in Luzern

Das Institut für Jüdisch-Christliche Forschung stellt das älteste Institut der Universität Luzern dar. Das heisst, dass man hier schon relativ bald nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil bemüht war, die bahnbrechende Erklärung Nostra aetate (Nr. 4) in die konkrete Wirklichkeit zu übersetzen. Es ging von Anfang an nicht nur darum, das Fach Judaistik wissenschaftlich zu etablieren, sondern auch um die konkrete Förderung des jüdisch-christlichen Dialogs. Um mit unseren jüdischen Schwestern und Brüdern auf Augenhöhe in den Dialog einzutreten, ist eine profunde Kenntnis des Judentums notwendig, die dann ihrerseits durch das gemeinsame Gespräch vertieft werden kann. Als bleibendes Vermächtnis und zukunftsgerichtete Weisung empfiehlt in diesem Zusammenhang Nostra aetate (Nr. 4): »Da also das Christen und Juden gemeinsame geistliche Erbe so reich ist, will die Heilige Synode die gegenseitige Kenntnis und Achtung fördern, die vor allem die Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gespräches ist.« Diese Vorgabe hat das Institut für Jüdisch-Christliche Forschung entschieden aufgegriffen und dazu beigetragen, dass die Kenntnis des Judentums unter den Studierenden vertieft wurde und der jüdisch-christliche Dialog Fortschritte machen konnte. Als Präsident der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum gilt daher allen mein aufrichtiger Dank, die ihre Kräfte und Fähigkeiten für die Gründung und Führung dieses Instituts eingesetzt haben. Da ich selbst hier in Luzern studiert und unterrichtet habe, und ein Stück weit die Geschichte des Instituts kenne, vor allem seinen verheissungsvollen Beginn, möchte ich diesen Dank noch konkretisieren. Als Theologiestudent wird man hier in Luzern unweigerlich mit der Judaistik konfrontiert, eine Vorlesung im Bereich des Judentums gehört zum normalen verpflichtenden Curriculum. Meiner Kenntnis nach ist es im deutschen Sprachraum einzigartig, dass Studenten der Theologie von Anfang an einen gewissen Einblick in die Geschichte des Judentums bekommen und auf diese Weise mit den jüdischen Wurzeln des Christentums vertraut gemacht werden. Als Student begegnete ich daher dem Gründer des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung, Professor Clemens

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Thoma, der auf seine unnachahmlich markante Weise uns die Grundlagen des Judentums näher brachte. Ihm sei in dieser Stunde ein besonderer Dank ausgesprochen. Er hat unermüdlich und unnachgiebig, geprägt von einer tiefen Überzeugung der Notwendigkeit jüdisch-christlicher Versöhnung, die Geschicke des Instituts über lange Zeit hinweg geprägt. Als Konsultor stellte er auch seine Fähigkeiten der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum zur Verfügung und stand ihr in Rom mit Rat und Tat zur Seite. Er gehört sicher zu den bedeutendsten Protagonisten des jüdisch-christlichen Dialogs, auf theologischer Ebene unternahm er erste Schritte zu einer katholischen Theologie des Judentums. Nach seiner Emeritierung übernahm Frau Professor Verena Lenzen im Jahre 2001 das Institut; auch sie feiert ein kleines Jubiläum, denn seit nunmehr zehn Jahren steht sie dem Institut an der Theologischen Fakultät vor und leitet seine Geschicke. Ihr sei von Herzen Dank gesagt für Ihr grosses Engagement, besonders auch für ihren Einsatz innerhalb der Jüdisch/Römisch-katholischen Gesprächskommission (JRGK) der Schweizer Bischofskonferenz. Insofern leistet das Institut für Jüdisch-Christliche Forschung einen ganz konkreten Dienst im offiziellen Dialog der katholischen Kirche mit dem Judentum in der Schweiz. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass in diesem Jahr zum ersten Mal in der katholischen Kirche in der Schweiz ein Dies Iudaicus begangen wurde, der in dieser Gesprächskommission Gestalt annehmen konnte. In meinen ausgesprochenen Dank mischt sich die Freude darüber, dass wir gerade hier in Luzern auf fruchtbare Jahrzehnte der Lehre und Forschung im Bereich der Judaistik und zugleich des jüdisch-christlichen Gesprächs zurückblicken können. Die Freude wird auch genährt durch die wachsende Freundschaft zwischen Juden und katholischen Christen, die ich derzeit in meiner Aufgabe in Rom auf internationaler Ebene wahrnehmen kann. Es ist viel Erfreuliches und Positives geschehen in den Jahren nach Nostra aetate (Nr. 4). War schon damals die Abfassung und Verabschiedung dieser Erklärung auf dem Zweiten Vatikanischen Konzils ein kleines Wunder, so kann man die bisherige Wirkungsgeschichte dieses Dokuments als noch grösseres Wunder bezeichnen. Insofern gilt unser Dank in dieser Stunde dem Allmächtigen, dem Ewigen, der uns bisher diese guten Wege geführt hat. Damit dürfen wir die Bitte verbinden, dass er mit seinem Segen und Beistand die Geschicke des Instituts für JüdischChristliche Forschung weiterhin begleite und dessen Arbeit fruchtbar mache für eine Vertiefung der Freundschaft zwischen Juden und Christen.

David Rosen

Jewish-Vatican Relations Opportunities and Problems

I am grateful for the invitation to address this important conference on this significant milestone in the life of the most significant institute of its kind on the European continent. I also express my personal appreciation to Professor Verena Lenzen who has in the past graciously recognized my own modest contribution to Christian-Jewish reconciliation and thus my presence here is also an expression of my gratitude to her. If I understand my mandate correctly, my responsibility here is less to address the theological dimensions of the bilateral relationship and more to assess the issues as well as the mechanisms that have emerged for Jewish and Israeli relations with the Holy See over the course of the last almost half century. However, allow me the immodesty of mentioning, for those of you who may be interested that I have in the past, tentatively addressed the question of the theological nature of the bilateral relationship and proposed a theology of complementarity. My latest reference to such was in my presentation on a panel, also with His Eminence Cardinal Koch, at the Community of Sant Egidio’s annual Meeting of Religions and Peoples convened this year in Munich1. This annual conference pursues and is inspired by the vision of the Assisi gathering first convened by Blessed Pope John Paul II; and coincidentally I, like Cardinal Koch, will be going from here to attend the twenty fifth anniversary gathering being convened in Assisi by Pope Benedict XVI, affirming his own commitment to this ongoing vision. Allow me also to mention that I have written on Pope Benedict XVI’s own approach towards Jewry and Judaism, perhaps most notably in an article for the Knights of Columbus’s publication on the occasion of his visit to the USA.2 1 Jews and Christians, from Dialogue to Friendship, reprinted in: Jerusalem & Religions (Sept. 18, 2011); online at http://www.santegidio.org/index.php?pageID=2386& res=1& idL ng=1064& idTesto=355. 2 Pope Benedict XVI and Catholic Jewish Relations, in: Columbia Magazine (December 2007), at http://www.rabbidavidrosen.net/Articles/Christian-Jewish%20Relations/Pope_Benedict_ XVI_and_Catholic_Jewish_Relations_Dec_2007.pdf.

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However, we must not forget that all this is part of a stunning revolution and transformation in relations between Christians and Jews and in particular on the part of the Catholic Church. Aside from the all-pervasive »teaching of contempt« as Jules Isaac termed it3, which had prevailed until the Second Vatican Ecumenical Council; prior to the pontificate of Blessed Pope John XXIII, the Vatican had actually opposed the involvement of Catholics in any official dialogue with Jewry. This is well documented in the case of the pioneering British Council of Christians and Jews in which Catholics were officially discouraged from participation prior to Vatican II.4 Moreover we should bear in mind the ongoing reservation if not hostility of the Holy See towards the very idea of Jewish sovereignty in the Holy Land, even for years after the establishment of the Jewish State. The semi-official Vatican publication of the Jesuits, Civilta Cattolica and also Osservatore Romano itself, continued to express such sentiments well into the nineteen fifties. Such an example was the article entitled »The dangerous influence of Zionism« by G. de Vries published in Civilta Cattolica in April 1950 that described the newly established State of Israel as »full of racial fanaticism« and »infected by the worst materialism… partly due to Soviet influence«.5 The apparent Jesuit expert on the subject of the State of Israel for Civilta Cattolica was Father A. Messineo, who continued to write articles well into the fifties declaring that Pius X, Benedict XV, Pius XI and Pius XII, all opposed the idea of Zionism both because of its secularity and because of the impiety of the very idea of Jews being in control of Christian holy sites. But the main problem, he wrote, was »not only the holy places, but the salvation of so many souls dear to the heart of Christ, who were ›endangered‹ by the Jewish conquest of the Holy Land«!6 All this only heightens the degree of the transformation that came about in the pontificate of Blessed John XXIII, with the Second Vatican Ecumenical Council and the promulgation of Nostra Aetate; and the subsequent documents and statements of the Magisterium on Catholic-Jewish relations. There had accordingly been significant contacts between the Vatican and Jewish representatives, in advance of and during the course of the Second Vat-

3 Isaac, Jules: The Teaching of Contempt: the Christian Roots of Anti-Semitism. New York 1964. 4 Simpson, William W.; Weyl, Ruth: The Story of the International Council of Christians and Jews. Part I – A Brief History, 1946 – 1986. revised edition. 1988, pp. 29 – 32. 5 Klein, Sister Charlotte: Vatican and Zionism 1897 – 1967, in: Christian Attitudes on Jews and Judaism no. 36 – 37 (June-August 1974), pp. 11 – 16, here p. 13 – 14. 6 Ibid, p.14.

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ican Council; and especially in preparation for the promulgation of Nostra Aetate in 1965.7 However in 1970 the Office for Catholic-Jewish relations in the Secretariat for Christian Unity set up by Cardinal Augustin Bea at the initiative of Pope John XXIII – to be succeeded in 1974 by the Holy See’s Commission for Religious Relations with the Jews presided over by Cardinal Johannes Willebrands – sought a representative Jewish body as an official interlocutor that would unify the different Jewish bodies claiming to represent the Jewish People to the Church and would legitimately represent the diversity of contemporary Jewry. This led to the formation of the International Jewish Committee for Interreligious Consultations (IJCIC) initially made up of the major Jewish international and American organizations functioning in this field. The latter included the only specific religious body, the Synagogue Council of America, embracing the Orthodox, Conservative and Reform movements in the U.S.A. While the SCA subsequently collapsed, the three movements remained in IJCIC through both their respective lay and rabbinic organizations. The initial meeting of the CRRJ and IJCIC led to the formation of the International Catholic Jewish Liaison Committee (ILC) which until 2002 remained the only official Jewish partner of the Holy See’s Commission for Religious Relations with Jewry (CRRJ). This meeting produced a historic memorandum of understanding8 which identified a major concern for the ILC to be that of combating anti-Semitism through eliminating from educational materials and liturgy anything offensive and incompatible with the teachings of Nostra Aetate; and it committed the parties to promoting mutual understanding, in particular through education, inter alia, giving special attention to the ways in which the relationship between religious community, people and land, are conceived in the Jewish and Christian traditions respectively. The ILC was also to focus on »ways in which Judaism and Christianity, as communities deriving from the biblical faith in one God as Creator, concerned with the fate of this world, can face together the problems besetting religion in the modern age.«9 The memorandum suggested that »at a later stage studies might be under7 Declaration on the Relation of the Church to non-Christian Religions – Nostra Aetate – promulgated on October 28, 1965, at http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decl_19651028_nostra-aetate_en.html. 8 Memorandum of Understanding, Initial Meeting, – Joint Declarations of the International Catholic-Jewish Liaison Committee (ILC), Vatican City December 1970, in: Cunningham, Philip A.; Hofmann, Norbert J.; Sievers, Joseph (eds.): The Catholic Church and the Jewish people: Recent Reflections from Rome. New York 2007, appendix 2, pp. 201 – 202. 9 Ibid, p. 202, section 2b.

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taken of the common heritage of Jews and Christians in order to further the understanding both of each other and of their common responsibility to humanity and the world.«10 The ILC met annually until 1985, but since 1990 has held meetings every two years. Some of the goals of the memorandum of understanding were initially pursued vigorously. Despite the fact that the memorandum did not mention the State of Israel as such, the undertaking to explore »the ways in which the relationship between religious community, people and land are conceived«11 in the respective traditions, was the focus of the first substantive ILC thematic discussions that took place in the first years. These set the stage for the repeated and ongoing call from IJCIC to the Holy See through the ILC, for official recognition of the State of Israel and for the establishment of bilateral diplomatic relations. While combating anti-Semitism was a constant theme, it took a while before the ILC formally addressed the subject, which it did quite dramatically in 1990 in Prague. The comments of Cardinal Willebrand’s successor, Cardinal Edward Cassidy, that the fact »that anti-Semitism has found a place in Christian thought and practice calls for an act of teshuvah (repentance) and of reconciliation on our part …« was not only contained in the concluding statement of the 13th ILC12, but was also repeated by Pope John Paul II when he received ILC delegates later that year in Rome for a special celebratory meeting on the 25th anniversary of Nostra Aetate. The subject of anti-Semitism was further pursued four years later at the meeting in Jerusalem; and naturally it featured prominently as well at the 1998 ILC in Rome which took place a week after the promulgation of »We Remember – A reflection on the Shoah«.13 In addition to focusing on the educational challenges, subjects that flowed from a shared ethical heritage and moral responsibility were addressed over the years including religious freedom; the challenges of secularism; the sanctity of life; human rights; youth and faith. The ILC also discussed and issued joint documents on the environment, the family, holy sites and education. However to be frank, these important declarations were never widely, let alone systemati-

10 Ibid, section 1c. 11 Ibid, section 1d. 12 A Common Declaration on Antisemitism, 13th Meeting – Joint Declaration of the International Catholic-Jewish Liaison Committee, Prague, Czechoslovakia September 3 – 6, 1990 in: Cunningham, Philip A.; Hofmann, Norbert J.; Sievers, Joseph (eds.): The Catholic Church and the Jewish People (note 8), appendix 2, pp. 202 – 207, here p. 204. 13 We Remember : A Reflection on the Shoah , Commission for Religious Relations With Jews, presented by Cardinal Edward Cassidy on March 16, 1998, at http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/documents/rc_pc_chrstuni_doc_16031998_shoah_en.html.

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cally, disseminated. I dare to say that the challenge in this regard remains on the table. A new stage developed with the turn of the millennium in which ethical themes were not only addressed conceptually, but also were taken to a new dimension of joint cooperation. At the 2004 Buenos Aires meeting on Tzedek and Tzedakah, and at the Cape Town meeting on Dignifying the Divine Image – focusing on healthcare and the challenge of HIV/AIDS; Jewish and Catholic philanthropy and social services were brought together to become greater than the sum of their different parts and to cooperate in addressing the financial crisis in Latin America in the former ; and at the latter, the challenges arising from the AIDS pandemic.14 A critical dimension of the Jewish-Christian relationship, not specifically addressed in the memorandum of understanding, but courageously confronted at the 1977 ILC, was the subject of Mission and Witness – i. e. whether the Church should seek to proselytize among Jews. The Catholic paper was presented by Prof. Tommaso Federici who argued that the logical conclusion of Nostra Aetate must be to reject any attempt to call on Jews to accept the Christian faith, as they were already in a covenantal relationship with God – a position subsequently reiterated by the third President of the Holy See’s CRRJ, Cardinal Walter Kasper. However his call was replaced in the official Vatican publication of Federici’s text by a rejection of »unwarranted proselytization«.15 As we know, this question of the exact meaning of Nostra Aetate for Christology let alone for an understanding of the nature of the Divine Covenant with the Jewish People itself, remains a key debate within the Church with naturally profound bearing on the bilateral relationship and it was at the heart of the crisis with the Vatican a few years ago concerning the prayer for the Jews in the Tridentine Latin liturgy for the Triduum.16 This was but one example of the fact that notwithstanding the remarkable transformation in Catholic-Jewish relations ushered in by Nostra Aetate, and 14 Common Declaration on Tzedeq and Tzedaqah – Justice and Charity – 18th Meeting, Buenos Aires, July 5 – 8, 2004; and Common Declaration on Dignifying the Divine Image: Health Care and HIV/AIDS – 19th Meeting, Cape Town, South Africa,Nov. 4 – 7, 2006), in: Cunningham, Philip A.; Hofmann, Nobert J.; Sievers, Joseph (eds.): The Catholic Church and the Jewish People (note 8), appendix 2, pp. 216 – 222. 15 Federici, Tommaso: Study Outline on the Mission and Witness of the Church, presented at the 6th meeting of the Liaison Committee between the Roman Catholic Church and the International Jewish Committee for Interreligious Consultations (International CatholicJewish Liaison Committee), Venice March 27 – 30, 1977, at http://www.bc.edu/dam/files/ research_sites/cjl/texts/cjrelations/resources/articles/Federici.htm. 16 Lampman, Jane: Recast Prayer Renews Ancient Strain between Jews and Vatican, in: The Christian Science Monitor (February 21, 2008), at http://www.csmonitor.com/The-Culture/ Religion/2008/0221/p16s01-lire.html.

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even after the establishment of the ILC, there have been recurrent controversies and challenges for Jewish-Vatican relations. While these have also related to the aforementioned question of the precise theological import of Nostra Aetate, most of these have unsurprisingly related directly or indirectly to the Shoah and the Second World War period. I will not review all of them, but since the institutionalization of the bilateral relationship, there were two particularly difficult periods – in the late 1980’s and the late 1990’s. Arguably the principle source of tension in the late eighties stemmed from the establishment of the Carmelite convent in Auschwitz and the reactions to it.17 This was compounded by the papal reception of Kurt Waldheim18. The consequences of these tensions were both a hiatus in the meetings of the ILC, but also the positive papal commitment to produce a document on the Church and the Shoah19. The eventual papal intervention in the Carmelite convent controversy leading to the latter’s relocation, brought eventual closure to the episode; and the ILC sought to overcome the negative fallout and misunderstandings by initiating the first ever joint travel mission in 1991, specifically to Central/Eastern Europe – to Poland, Czechoslovakia and Hungary, to meet with the leadership of both Catholic and Jewish Communities. This mission was not simply born out of the desire to repair damaged bridges, but far more out of a recognition – highlighted by the Carmelite convent affair – of the widespread ignorance in Central and Eastern Europe (intensified under Communist rule) of the achievements in Catholic-Jewish relations and reconciliation over the preceding decades. The second hiatus in the late eighties was attributed by Cardinal Cassidy, the then-president of the Holy See’s Commission for Religious Relations with the Jews – to what he described as »a bitter campaign of serious accusations against Pius XII« that he identified as coming from the World Jewish Congress influencing IJCIC’s approach which he described as »aggressive«.20 The canonization of Edith Stein in 1998 further intensified the crisis, which 17 Holtschneider, K. Hanna: Carmelite Controversy, in: Kessler, Edward; Wenborn, Neil (eds.): A Dictionary of Jewish-Christian Relations. Cambridge 2005, p. 79. 18 Schanche, Don A.: 1 1/2 hr. Meeting with Pope Clears Air : Jewish Leaders. Waldheim, Israel Issues Unresolved, in: Los Angeles Times (Sept. 1, 1987), at http://articles.latimes.com/198709-01/news/mn-5488_1_jewish-concerns. 19 Fisher, Eugene J.; Klenicki, Leon (eds.): Spiritual Pilgrimage, Texts on Jews and Judaism 1979 – 1995, Pope John Paul II. New York 1995, pp. 102 – 104; see also Waxman, Mordecai M.: Rome and Miami, in: Christian-Jewish Relations Vol. 20. No. 3 (1987), pp. 31 – 33. 20 Cassidy, Cardinal Edward Idris: Ecumenicism and Interreligious Dialogue. New York 2005, section: The International Catholic-Jewish Historical Commission, pp. 208 – 210, at http:// www.ccjr.us/dialogika-resources/themes-in-todays-dialogue/p12/659-cassidy05sep1.

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was compounded by a rather atypically insensitive comment on the part of Pope John Paul II expressing the hope that Stein would accordingly serve as a symbol for Jewish-Christian reconciliation.21 These words revealed that despite his historic contribution to the advances and flourishing in Christian-Jewish relations, John Paul II still had not fathomed the fullness of Jewish self-understanding and integrity that the 1974 Guidelines on Nostra Aetate urge Catholics to understand. The Vatican’s unwillingness to cooperate with a body that it saw as confrontational had an inevitable impact; and in late 1998 Cardinal Cassidy reported that the bilateral relationship with IJCIC terminated.22 However in November 2000 a way was sought to overcome the impasse through the establishment of an International Catholic-Jewish Historical Commission to review the historical record of the Holy See during the period of the Shoah. This promising initiative which started well, ended in dissent and acrimony, with accusations and counter accusations.23 It became evident that there had been expectations that in the end could not be delivered. While these focused on the technicalities of access to the Vatican secret archives, they probably reflected the unbridgeable differences with regards to perceptions pertaining to the period and to the key protagonists. Of course the essence of this controversy remains and retains its combustibility for the bilateral relationship, and naturally it causes distress on both sides, as evidenced in the Vatican’s reaction to Yad VaShem’s treatment of Pius XII’s record during World War II.24 While Jewish organizations continue to call for open scholarly access to the Holy See’s secret archives from the Shoah period; reassurances have recently been received from Rome that this will be made available in some five or six years time. Nevertheless, it seems clear to me that this issue will remain one in which different and even conflicting perspectives are maintained on each side, and probably the best we will be able to achieve is to respectfully agree to disagree. 21 Homily of John Paul II for the Canonization of Edith Stein, Oct. 11, 1998, at http:// www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/homilies/1998/documents/hf_jp-ii_hom_111019 98_stein_en.html, section 7. 22 Cassidy, Cardinal Edward Idris: Ecumenicism and Interreligious Dialogue (note 20), pp. 208 – 210. 23 Shapiro, Haim: Vatican Still Refuses to Open Holocaust Records to Jewish Scholars, in: The Jerusalem Post (11/2/2001), at http://www.rense.com/general16/refuse.htm; see also Cavalli, Dimitri: The Commission That Couldn’t Shoot Straight, in: New Oxford Review (July/ August 2002), at http://www.ewtn.com/library/ISSUES/CMMSSP12.HTM. 24 Vatican Rep to Jerusalem Refuses to Attend Holocaust Commemoration Due to Misrepresentation of Pope, in: Catholic News Agency (April 12, 2007), at http://www.catholicnewsagency.com/news/vatican_rep_to_jerusalem_refuses_to_attend_holocaust_com memoration_due_to_misrepresentation_of_pope/.

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In the meantime, in the early nineties, other dramatic developments in Catholic-Jewish relations occurred that created new official lines of communication and ultimately led to the creation of an additional official Catholic-Jewish Commission under the Vatican’s auspices. The absence of diplomatic relations between the Holy See and the State of Israel had, as already indicated, been a source of concern in the bilateral relationship between Jewry and the Catholic Church. Many if not most within the Jewish community – and I dare say not a few Catholics – viewed this absence as an indication that the Holy See still had theological problems with the idea of a Jewish sovereign state in the Holy Land and above all in Jerusalem (as reflected in the abovementioned articles in Civilta Cattolica in particular) despite the fact that in the eighties the Vatican explicitly denied this to be the case.25 However negotiations between the Holy See and the State of Israel, following the Madrid Peace Conference in 1991, and the eventual signing of the Fundamental Agreement between the two at the end of 1993 leading to full bilateral relations,26 resolved this matter and eliminated any need for IJCIC to continue its previous role as advocate for the State of Israel which the latter could now fully do for itself. Moreover the Fundamental Agreement also included a joint commitment of the Holy See and the State of Israel to work together to combat anti-Semitism and other forms of racism and intolerance, as well as to promote mutual understanding among nations, respect for human life and dignity.27 Above all, with the historic visit of Pope John Paul II to Israel as part of his pilgrimage in the year 2000 – a visit substantially facilitated by the establishment of full bilateral relations – a formal interreligious dialogue was initiated with the Chief Rabbinate of Israel which was also conducted by the Vatican under the auspices of the Pontifical Commission for Religious Relations with the Jews. As the official state body representing the Jewish faith, the Chief Rabbinate (for all its many limitations) provided a new kind of official partner for the Holy See’s CRRJ. There is much symbolic significance to this bilateral commission, and it has also served to pave the way for greater international Jewish Orthodox engagement with the Catholic Church. 25 Bronfman, Edgar M.: Another New Beginning? and Feldman, Rabbi Leon : Christian/Jewish Relations Require Progress; in Catholic-Jewish Relations-Tension and Intention, in: Christian Jewish Relations Vol. 20, no. 3 (Autumn 1987), pp. 26 – 31, here p. 28 and pp. 28 – 31, here p. 30. 26 Fundamental Agreement between the Holy See and the State of Israel, signed in Jerusalem on December 30, 1993, at http://www.vatican.va/roman_curia/secretariat_state/archivio/documents/rc_seg-st_19931230_santa-sede-israele_en.html, especially article 14. 27 Ibid. Article 2, no. 1.

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Meeting annually alternately in Rome and Jerusalem, the focus of deliberations has been on subjects with contemporary practical significance. These have included: The Sanctity of Human Life and Family Values; the Relevance of the Holy Scriptures that Jews and Catholics Share for Contemporary and Future Society ; a Shared Version of Social Justice; the Relationship Between Religious and Civil Authority ; the Relationship Between Human Life and Modern Technology ; the Freedom of Religion and Conscience and its Limits; Jewish and Catholic Teaching on Creation and the Environment; and the Challenges for Faith and Religious Leadership in Secular Society.28 However beyond the subject material and the warm friendships established between the members of the bilateral commission, it is clear that it is accorded great significance by the Holy See for what it represents. This was reflected in Pope Benedict XVI’s speeches during his papal pilgrimage to Israel in 2009 and on his visit to the Rome synagogue the following year.29 Moreover this bilateral commission has also proved to be a most valuable channel for communication and advocacy as was evidenced in particular in the clarifications received both concerning the Latin Mass referred to before and the brief crisis in relations with the Vatican over the affair with Bishop Williamson and the Society of St. Pius X.30 To be specific, the fact that the relationship with the Chief Rabbinate of Israel is a relationship with a state organ – and also functions from the Vatican side under the purview of the Papal Nuncio – provides more direct access to the Secretariat of State which IJCIC and other Jewish bodies do not have in the same way.

28 Fumagalli, Pier Francesco: The Commission for Religious Relations with the Jews and the International Catholic-Jewish Liaison Committee, and Hofmann, Norbert J.: A Sign of Great Hope: The Beginning of the Dialogue Between the Holy See and the Chief Rabbinate in Israel, in: Cunningham, Philip A.; Hofmann, Norbert J.; Sievers, Joseph (eds.): The Catholic Church and the Jewish People (note 8), pp. 159 – 166 and pp. 167 – 175. 29 Address of His Holiness Benedict XVI on a Courtesy Visit to the Two Chief Rabbis of Jerusalem at the Hechal Shlomo Centre in Jerusalem on May 12, 2009, at http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2009/may/documents/hf_ben-xvi_spe_2009051 2_rabbini_en.html and Address of His Holiness Benedict XVI on his Visit to the Synagogue of Rome on January 17, 2010, at http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/ 2010/january/documents/hf_ben-xvi_spe_20100117_sinagoga_en.html (section 8). 30 Letter of Card. Tarcisio Bertone in Response to Concerns on the Revised Good Friday Prayer to Mr. Oded Wiener on May 14, 2008, at http://www.notredamedesion.org/fr/dialogue_docsView.php?id=615& categoria=cattolici; see also Communique by the Secretariat of State Following the Publication of the New Prayer for the Jew from the Vatican, April 4, 2008, at http://www.vatican.va/roman_curia/secretariat_state/2008/documents/rc_seg-st_20080 404_oremus-pro-iudaeis_en.html; see also International Jewish Body Welcomes Vatican Action on Williamson – IJCIC Statement February 5, 2009, at http://www.rabbidavidrosen.net/Statements_Reports.htm.

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Notwithstanding the establishment of full relations between the State of Israel and the Holy See, this relationship has not been without its difficulties. These have stemmed overwhelmingly from Israel’s failure to fulfill the expectations of the Holy See that the latter had assumed had been achieved by the Fundamental Agreement and the commitments given by Israel to resolve the outstanding issues within two years (specifically, legal and fiscal matters).31 I will not now go into detail regarding the reasons for Israel’s failure to deliver fully on those expectations. Suffice it to say here that there were those in the Israeli civil service who felt that the interpretation of the relevant clauses needed to be tightened up in order to protect Israel’s interests. The result has been that while a subsequent legal agreement was reached, it was not ratified; and the fiscal negotiations have dragged on for over fifteen years. Remarkably there was only faint agitation on the part of the Holy See, that no doubt reinforced the will of the revisionists on the Israeli side. I have been on public record as saying that I do not believe that any country that had entered into a treaty and then discovered that the assumptions on which it signed the treaty are not shared let alone honored by the other party, would have tolerated such a situation.32 Arguably the restraint shown by the Holy See is a tribute to its sensitivity regarding relations with the Jewish State. Recent controversies to which I have already referred, namely the Triduum prayer for the Jews in the more widely permitted use again of the Tridentine Latin liturgy ; and the lifting of the excommunication of the Society of Saint Pius X (including Bishop Williamson), have highlighted what arguably appear to be the main challenges in relations with the Vatican, beyond any remaining theological tensions. To some extent and maybe even to a large extent these may be inherent in the structure or at least the modus operandi of the Vatican, but their ramifications are more substantive. To begin with, these problems have exposed a wider issue; namely, the lack of prior consultation that could avoid misunderstanding and the need for all the post factum crisis management. If there are official channels for bilateral dialogue; and if there is a genuine desire for mutual trust and confidence; then is it too much to expect that these channels be used to provide for advance consultation or at least prior notice of intentions that have bearing on the bilateral relationship? Indeed, the failure to

31 Fundamental agreement (note 26), article 10, subsection 2c. 32 Liphshiz, Cnaan: Rabbi Calls Israel’s Treatment of Vatican ›outrageous‹, in: Haaretz (January 17, 2010), at http://www.haaretz.com/print-edition/news/rabbi-calls-israel-s-treatment-ofvatican-outrageous-1.261548.

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do so to some extent gives the whole institutional dialogue an image of impotency and some would even say irrelevancy in practical terms. Moreover these tensions add to the degree of confusion as to what indeed are the practical implications that are drawn from Nostra Aetate. In fact in recent years certain Catholic theologians have argued that Nostra Aetate is not a binding magisterial document. A few years ago, the news service ZENIT published an interview with one such theologian who claimed that Nostra Aetate has no doctrinal authority and that to attribute such to it would be »greatly ingenuous« and an »historical error«.33 In addition there have been those that have argued that the permanent Covenant referred to in Nostra Aetate on the basis of Paul, refers to the Covenant with Abraham and not the Covenant with Moses, thus arguing against any idea of salvific legitimacy for contemporary Judaism. Indeed the late Cardinal Avery Dulles declared that whether the Old Covenant is still in force today remains »an open question.«34 These comments would appear to be in clear variance with the frequent explicit words of blessed Pope John Paul II,35 as well as at variance with the two documents issued by the Holy See’s Commission for Religious Relations with the Jews: the Guidelines on Nostra Aetate of 1974;36 and the 1985 Notes On The Correct Way To Present Jews And Judaism In Preaching And Catechesis in the Roman Catholic Church.37 The revised text that Pope Benedict XVI wrote for the prayer for the Jews in the Triduum Latin Liturgy38 that Jews (and others) saw as still very problematic;

33 Misunderstandings about Interreligious Dialogue (part 1), interview with Ilaria Morelli, in: Zenit (January 15, 2005), at http://www.zenit.org/article-11981?l=english. 34 Dulles, Avery : The Covenant with Israel, in: First Things (November 2005), 17, at http:// www.catholicsforisrael.com/content/view/98/119/lang,en/. 35 Cunningham, Philip A.: Official Ecclesial Documents to Implement Vatican II on Relations with Jews: Study Them, Become Immersed in Them, and Put Them Into Practice, in: Studies in Christian-Jewish Relations Vol. 4 (2009), pp. 15, 22 – 26, at http://escholarship.bc.edu/ojs/ index.php/scjr/article/view/1521/1374; see also Fisher, Eugene J.: A Commentary on the Texts. Pope John Paul II’s Pilgrimage of Reconciliation, in Fisher, Eugene J.; Klenicki, Leon (eds.): Spiritual Pilgrimage (note 19), pp. xx–xxxix. 36 Commission for Religious Relations with the Jews: Guidelines and Suggestions for Implementing the Conciliar Declaration »Nostra Aetate« (n.4). Rome December 1, 1974, at http:// www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/relations-jews-docs/rc_pc_chrstu ni_doc_19741201_nostra-aetate_en.html. 37 Commission for Religious Relations with the Jews: Notes on the Correct Way to Present the Jews and Judaism in Preaching and Catechesis in the Roman Catholic Church, at http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/relations-jews-docs/rc_pc_chrstuni_doc_1 9820306_jews-judaism_en.html. 38 Note from the Secretary of State Concerning the New Dispositions by the Holy Father Benedict XVI For the Liturgical Celebrations of Good Friday from the Vatican, February 4,

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as well as the lifting of the excommunication of the SSPX and the apparent willingness to compromise with the latter, reinforced the perception that the aforementioned Catholic reinterpretations limiting the meaning and significance of Nostra Aetate had support at the highest level. However Pope Benedict XVI’s clarifications, and especially his address in the synagogue in Rome39 referring to the Covenant of Moses (as had Pope John Paul II already in 1980 in Mainz and on many subsequent occasions) did substantially set the record straight and counterbalanced this revisionism to a significant degree. Nevertheless, the Jewish community (as well of course as many Catholics) continues to watch the ongoing negotiations with SSPX with concern. No less problematic is the fact that we rarely hear references by Church authorities to those aforementioned documents, the Guidelines and the Notes; and we hardly hear clear repudiation from the Holy See when such aforementioned theological revisionism is expressed. Furthermore, lingering concerns about the degree to which Nostra Aetate and those subsequent documents are embraced by the Church, are nurtured by the fact that not only are they rarely a required part of the syllabus for the formation of clergy ; but that in many parts of the Catholic world they are hardly known at all. In the Middle East, this ignorance fuels political hostility and anti-Semitism itself and at the special Synod on the Middle East held last year in the Vatican, this ignorance was evident – perhaps most dramatically in the statements at a press conference of Greek Catholic Bishop Cyril Bustros, who at the time was head of his church in the US.40 But as deplorable as his pre-conciliar comments were, there was no official repudiation of them, only a muted reaffirmation of the official Vatican position by its spokesman. Bustros’ lamentable ignorance of the official teachings of the Magisterium, let alone his words contradicting them, certainly did not appear to have any constraining impact on his elevation to become Melkite Metropolitan of Beirut a few months later. But this should come as little surprise in the wake of the statements of the Melkite Patriarch Gregorius III who has described both terrorist attacks on

2008, at http://www.vatican.va/roman_curia/secretariat_state/2008/documents/rc_seg-st_ 20080204_nota-missale-romanum_en.html. 39 Address of His Holiness Benedict XVI on his Visit to the Synagogue of Rome on January 17, 2010, at http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2010/january/documents/ hf_ben-xvi_spe_20100117_sinagoga_en.html. 40 Controversial Comments of Archbishop Cyril Bustros, Oct. 23, 2010, in Dialogika, at http:// www.ccjr.us/dialogika-resources/themes-in-todays-dialogue/isrpal/896-bustros2010nov1.

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Iraqi Christians as well as the uprising against Syrian President Bashar Assad as emanating from »a Zionist conspiracy against Islam«!41 Such statements are not especially surprising, but the failure of the Holy See to publicly censure them, is very lamentable, even if there are understandable political reasons for such extreme discretion. Blessed John Paul II declared in his momentous address at the synagogue in Rome in 1986 that all that is required of Catholics in terms of relations with Jews and Judaism is to study Nostra Aetate and the documents issued for its implementation carefully, »immersing oneself in their teachings, and of putting them into practice.«42 It seems to me that there is still a way to go for his call to be fully embraced. Let me not leave anyone under the impression that I think the responsibilities lie only on one side, God forbid. The Jewish community itself still has a long way to go in overcoming its own prejudices and reservations in relation to the Christian world – especially outside the United States, as in the latter the situation is generally far more healthy. However, our relationship is not symmetrical; the history of our relationship is asymmetrical; and thus the onus for transformation is accordingly asymmetrical as well. Cardinal Walter Kasper stated that »we are only at the beginning and still far from a definitive understanding … of the overall Christian theology of Judaism.«43 In addition, the then Cardinal Ratzinger in a private conversation with me more than twenty years ago stated that »we have not yet fully understood the

41 Jawad, Aymenn: Middle Eastern Christians and Anti-semitism, in: Jerusalem Post (01/08/ 2011), at http://www.jpost.com/LandedPages/PrintArticle.aspx?id=231998; see also Zaatari, Mohammed: Sidon Archdiocese Reopens Following Refurbishment, in: The Daily Star (December 6, 2010), at http://www.dailystar.com.lb/News/Local-News/Dec/06/Sidon-archdiocesereopens-following-refurbishment.ashx#axzz1et4 fECkB; see also Catholic Patriarch Warns Christians face ›extinction‹, in The Daily Star (March 5, 2011), at http://www.dailystar.com.lb/ News/Local-News/Mar/05/Catholic-patriarch-warns-Christians-face-extinction.ashx#ax zz1et4 fECkB. 42 Address by Pope John Paul II on His Historic Visit to the Synagogue of Rome, April 13, 1986, in: Fisher, Eugene J.; Klenicki, Leon (eds.): Spiritual pilgrimage (note 19), pp. 60 – 66, here section 5, p. 64. 43 Kasper, Cardinal Walter: The Commission for Religious Relations With the Jews: A Crucial Endeavor of the Catholic Church, address at Boston College. Boston November 6, 2002, at http://www.bc.edu/content/dam/files/research_sites/cjl/texts/cjrelations/resources/articles/ Kasper_6Nov02.htm, section 3; see also Kasper, Cardinal Walter: The Good Olive Tree,: in America 185:7 (Sept. 17, 2001), at http://www.americamagazine.org/content/article. cfm?article_id=1034; see also Christians, Jews and the Thorny Question of Mission,: in Origins 32: 28 (December 19, 2002).

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meaning of Nostra Aetate’s affirmation of the eternal nature of the Covenant with the Jewish people«. Obviously further theological reflection on the part of the Church to explore the meaning and import of that affirmation in Nostra Aetate, is not a simple matter for Catholic Christology and ecclesiology. However without that further clarification there remains confusion within the Jewish community (and I might say within the Catholic world as well) as to how Catholicism truly views Jewry both in soteriological and contemporary terms. That confusion leads to misunderstanding and inevitable tensions, which may well be unavoidable. However if indeed this is the case, then all the more reason that we should at the very least make sure that the mechanisms for necessary crisis management are both in place and effective. There appears to be work to be done in this regard. Above all, if the Vatican desires to reassure the confidence of its interreligious partners generally, but of the Jewish community in particular ; then there needs to be a far more robust approach to absorbing the messages of Nostra Aetate, the documents of the Holy See’s Commission for Religious Relations with Jewry, and Blessed John Paul II’s texts on the subject of Catholic-Jewish relations, into the educational fabric and syllabi of the Church worldwide. Notwithstanding these ongoing challenges for the bilateral relationship, we must never take for granted the truly amazing transformation in Catholic-Jewish relations that has taken place in this last half century. A community that had been seen as even cursed and rejected by God and as the enemy of the Church, is now seen in the words of Blessed John Paul II as »the dearly beloved elder brother of the Church, of the ancient Covenant never revoked and never to be revoked«. For this we must truly give thanks to our Father in Heaven.

Benedikt M. Lindemann

Interreligiöse Verständigung und Friedensarbeit im Heiligen Land

1.

Vorbemerkungen

Zu meinem Thema »Interreligiöse Verständigung und Friedensarbeit im Heiligen Land« bedarf es einiger Vorbemerkungen. Seit August 1995 bis Juli d. J. stand ich als Abt der benediktinischen Mönchsgemeinschaft auf dem Zionsberg in Jerusalem und in Tabgha am See Genesareth vor. Diese Jahre haben mein Leben und meinen geistlichen Weg zutiefst geprägt. Zeitgleich mit dem erfreulichen Wachsen und Gedeihen meiner eigenen Gemeinschaft erlebte, erfuhr und erlitt ich die Realitäten im Heiligen Land. Ich glaube, dass man nur an etwas leiden kann ohne zu verbittern, wenn man es einerseits sehr liebt, und andererseits versucht, das tiefe Vertrauen in einen alles übersteigenden Sinn, den Glauben an den einen Gott und die Hoffnung auf sein Heil zur stillen und unauffälligen Tat werden zu lassen. Ich spreche als jemand, der seit 16 Jahren als Fremder, als Gast, als Pilger, als Deutscher, als gläubiger Mensch und Gottsucher – eben als christlicher Mönch in Jerusalem – lebt. Obwohl wir an der Dormitio-Abtei das Theologische Studienjahr haben, obwohl zahlreiche Politiker unser Kloster besuchen und alle zwei Jahre der Friedenspreis vom Berg Zion, der Mount Zion Award, in Zusammenarbeit mit dem Institut für Jüdisch-Christliche Forschung in Luzern verliehen wird, spreche ich nicht als Theologe, nicht als Politiker oder als Friedensaktivist. Dieser Beitrag möchte nicht in einen wissenschaftlichen oder gar gesellschaftspolitischen Diskurs über den Nahostkonflikt eintreten, sondern er möchte existenzielle Betrachtungen und Überlegungen anstellen: Ich habe mich für ein Leben, für eine Existenz als Gottsucher im Heiligen Land entschieden. Dabei habe ich diesen Schritt zuallererst nicht selbst ausgesucht, sondern ich wurde durch eine Wahl dazu berufen. Was ich also zu sagen habe, sage ich nicht als Wissenschaftsexperte sondern als jemand, der mit seinem eigenen Leben »Ja« zu einem Leben im Heiligen Land gesagt hat. Meine Ausführungen werden

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daher höchst subjektiv sein. Ich stehe hinter ihnen im wahrsten Sinn des Wortes mit meinen Lebenserfahrungen.

2.

Die Situation im Nahen Osten, wie ich sie wahrnehme

Oft höre ich sowohl von palästinensischer wie israelischer Seite, von Juden, Christen wie Muslimen gleichermaßen: »Die Welt hat uns vergessen; niemand kümmert sich um unsere Probleme; so viele sind gegen uns; niemand versteht unsere Situation.« – Stimmt das? Die Zahl der Friedensaktivitäten im Heiligen Land ist beinahe unübersehbar! Allein von deutscher Seite sind alle (!) parteinahen Stiftungen mit mindestens einem Büro vertreten und machen fast nichts anderes als »Friedens- und Verständigungsarbeit«, ausgestattet mit reichlichen Geldmitteln, angefangen von der Hanns-Seidel-Stiftung über die Konrad-Adenauer-Stiftung, die FriedrichEbert-Stiftung, die Friedrich-Naumann-Stiftung und die Heinrich-Böll-Stiftung bis hin zur Rosa-Luxemburg-Stiftung. Andere Länder und Regionen dieser Erde können von einem solchen Engagement nur träumen! Es gibt – wie manche Zyniker konstatieren – im Heiligen Land eine eigene millionenschwere »Friedens-Industrie«. An »Friedensarbeit« mangelt es im Heiligen Land m. E. nicht. Doch der Friede will nicht so recht einkehren. Woran liegt das? Wird vielleicht am falschen Hebel angesetzt? Müsste die Rolle der verschiedenen Glaubens- und Religionsgemeinschaften stärker berücksichtigt werden? Was ist das denn eigentlich für ein Konflikt im Nahen Osten? Ist es ein Konflikt um Ressourcen, Sicherheit, wirtschaftliche Interessen, der mit Religion nichts zu tun hat? Oder ist es nicht doch ein zutiefst religiöser Konflikt, bei dem sich die verschiedenen Glaubensgemeinschaften als unversöhnliche Kontrahenten gegenüberstehen? Ich bin persönlich davon überzeugt, dass es sich bei dem Nahostkonflikt (noch) um keinen religiösen Konflikt handelt! Die Religionen sind nicht die Quelle des Unfriedens. Ich sehe aber auch, dass gerne von verschiedenen Seiten die Religion, religiöse Metaphern und Zitate aus den jeweiligen heiligen Schriften im Munde geführt werden, um das eigene Handeln und die eigene Position auf eine unangreifbare religiöse Meta-Ebene zu heben. – Anders ausgedrückt: der Nahostkonflikt ist kein genuin religiöser Konflikt, sondern ein religiös übertünchter Konflikt. Allerdings, so stelle ich fest, ändern sich zunehmend die Vorzeichen. Meine kleinen Erfahrungen des Alltags am Rande der Altstadt von Jerusalem lassen mich aufhorchen und erfüllen mich mit Sorge. Mit einem unvergleichlich größeren Überblick schaut der derzeitige König von Jordanien auf die Situation im Nahen Osten. Am 8. März d. J. erschien in

Interreligiöse Verständigung und Friedensarbeit im Heiligen Land

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deutscher Sprache das Buch König Abdullahs II. von Jordanien mit dem Titel: »Die letzte Chance – Mein Kampf für Frieden im Nahen Osten«. Im Vorwort warnt er vor einer realen Krise, die sich in einem rasanten Tempo vergrößert und zu einem Krieg mit verheerenden Folgen führen kann. Dabei glaubt der König, dass es noch eine letzte Chance für den Frieden gebe. In der Zwischenzeit, so müssen wir feststellen, hat sich die politische Situation in zahlreichen arabischen Staaten grundlegend verändert, und wir können heute nicht vorhersagen, welche Kräfte in welcher Weise zukünftig die Geschicke der Völker und der ganzen Region bestimmen werden. König Abdullah fällt in besonderem Masse auf, dass »die Unversehrtheit Jerusalems als einer der drei heiligen Stätten des Islam« und damit verbunden die Palästinenserfrage für weit über eine Milliarde Muslime auf der ganzen Welt einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert einnimmt, auf den er bei seinen zahlreichen Gesprächen in der muslimischen Welt zunehmend angesprochen wird. Was kann ich als religiöser Mensch dazu sagen?

3.

Meine drängenden Wünsche als Heilig-Land-Mönch

Nun spreche ich als gläubiger Mensch, der sich verbunden weiß mit vielen anderen gläubigen Menschen im Heiligen Land, seien sie Juden, Christen oder Muslime. Was verbindet uns gläubige Menschen? Ich denke, uns ist gemeinsam die Gewissheit, dass es etwas gibt, das uns vorgegeben ist, das nicht in unserer Verfügbarkeit steht, dem wir unser Leben verdanken und von dem wir abhängen. Als Beter gehen wir auf das zu, was wir als Monotheisten als personalen Gott anbeten. Gottsucher – gleich welcher Religion sie angehören – möchten immer tiefer verbunden bleiben mit Gott, ihm immer näher kommen, immer mehr Anteil an seinem Mysterium haben. Dabei ist Religion keine Weltflucht, keine reine Innerlichkeit. In der Wirklichkeit, die uns umgibt, und die Sichtbares und Unsichtbares umfasst, ist Gottes Gegenwart erfahrbar. Die drei großen monotheistischen Weltreligionen, die nirgendwo auf der Welt wie in Jerusalem auf engstem Raum an den ihnen heiligen Stätten zusammenleben, berufen sich in ihrer Ausübung auf Gottes Wort, das ihnen Sinn und Auftrag des Lebens vermittelt. Nun kenne ich mich zu wenig mit dem Islam aus. Dennoch möchte ich mit aller Vorsicht, mit aller theologischen Unsicherheit, und mit großem Respekt vor anders-gläubigen Menschen, einige Gedanken von P. Mauro-Giuseppe Lepori, Generalabt des Zisterzienserordens, zitieren, die er am 4. November 2010 (Jahrestag der Ermordung Jitzchak Rabins) in Paris an

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einer Ordenskonferenz mit dem Thema »Individuum und Gemeinschaft« ausgesprochen hat. P. Mauro-Giuseppe meint, dass wir in unseren Heiligen Schriften »Belege für das finden können, was wir selbst erleben, was uns heute beschäftigt und beunruhigt«. Das Wort Gottes wirft ein klärendes Licht auf die uns umgebende Wirklichkeit, die diese aus sich selber nicht erzeugen kann. Wird jedoch das Wort Gottes an die Stelle der Realität dieser Welt gestellt, entsteht ein gefährlicher Fundamentalismus: »Das Wort Gottes ersetzt die Realität der Welt nicht, sondern es beleuchtet sie; es will uns helfen, die Realität noch realistischer, in all ihren Dimensionen, in ihrer ganzen Wahrheit zu sehen. Das Wort Gottes will nicht ideale Situationen, die schnell utopisch sein können, wie eine Diskette formatieren. Das Wort Gottes will das Streben nach dem Guten wecken und stärken, und dieses Streben nennen wir Bekehrung.«

»Bekehrung« ist ein Grundwort aller drei monotheistischen Religionen. Jede Religion weiß um die Schwäche ihrer Gläubigen und um die Notwendigkeit einer steten Bereitschaft echter, d. h. in aller Freiheit vollzogener Bekehrung. Und auch hier verbindet uns der Glaube an das Erbarmen Gottes, das er denen gewährt, die ihre Bedürftigkeit, ihre Kleinheit, ihre Schuld und Sünde bekennen. Es ist die Demut, die den königlichen Weg des Gott-suchenden Menschen weist, das tiefe innere Wissen, wer ich vor Gott als sein Geschöpf in Wahrheit bin. Ich glaube, dass, wenn wir von »interreligiöser Verständigung« sprechen, die genannten Stichworte uns verbindende Elemente darstellen, die uns gemeinsam auf Gott ausrichten: Gottsuche, Anbetung, Freiheit, Bekehrung, Erbarmen Gottes. Es wird allerhöchste Zeit, dass wir uns in unseren Religionen gemeinsamen geistlichen Themen widmen. Um den Frieden in dieser Welt zu stärken, brauchen wir meines Erachtens nicht weniger Religion, sondern mehr. Man muss allerdings sehr darauf achten, dass die Politik in ihrer Sprache Religion nicht verzweckt, sondern in Lauterkeit wirklich »säkular« argumentiert und nicht auf religiöses Vokabular zurückgreift, wenn sie »mit ihrem Latein am Ende ist«. Denn Politik hat ihre eigene Logik, eine Logik des Ehrgeizes und der Macht: sie ist zum »Erfolg verdammt«, muss mit Interessen und Mehrheiten jonglieren und muss Ergebnisse und Erfolge aufweisen können, wenn sie nicht ihre Legitimation verlieren will. »Erfolg« ist aber kein Name Gottes! Selbstverständlich ist ebenso der Einfluss der Religion auf Politik und Gesellschaft immer wieder kritisch zu hinterfragen. Der Wille zur Macht ist nun einmal eine allzu menschliche Versuchung in allen möglichen Bereichen des menschlichen Lebens. Religion muss Politik daran erinnern, dass nicht der Mensch, sondern der allmächtige und sich erbarmende Gott die Mitte, das Ziel

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und der Sinn allen Lebens ist. Die Politik ihrerseits muss für die Würde der Freiheit der Menschen – auch im Hinblick auf die Religionsfreiheit – eintreten. Daher brauchen wir in Zukunft mehr und gut ausgebildete Theologinnen und Theologen in allen drei monotheistischen Religionen, die aber nicht nur gute Wissenschaftler sind, sondern die sich auch spirituell auf den Weg machen. Wir brauchen Theologinnen und Theologen in der Zukunft, die nicht nur durch ihr theologisches Wissen in der eigenen Religion einen gesunden Selbststand haben, sondern diesen auch durch ihr geistliches Leben ausstrahlen. Sie werden in der Lage sein, sich wissenschaftlich und geistlich mit der eigenen und mit den anderen Religionen auseinanderzusetzen und Wege des friedlichen Miteinanders zu finden. Die große Macht geistlicher Ausstrahlung, um die wir alle wissen, braucht das wache und starke Gegenüber der Vernunft. Wir benötigen Aufklärung, Belehrung, Verstehen und gegenseitiges respektvolles Kennenlernen über Judentum, Christentum und Islam. Unwissen schafft Mauern und Waffen und spielt in die Hände zerstörerischer Kräfte und Mächte – und das eben nicht nur bei dem sogenannten einfachen Volk. Intelligenz und Wissen, aber auch der »Besitz« geistlicher Kraft und Macht, bedeuten nicht schon gleich Reife, Weisheit und charismatische Güte – da mag einer jung oder alt sein. Die Politiker des christlichen Abendlandes, das seine lebendigen Wurzeln im Judentum hat, täten gut daran, die theologischen Fakultäten ihrer Länder gerade auch in der beschriebenen Hinsicht zu fördern!

4.

Ein Traum und eine Hoffnung

Wenn wir in diesen Tagen mit dem wissenschaftlichen Symposium »Das Studium des Judentums und die jüdisch-christliche Begegnung« das 40jährige Jubiläum des Fachs Judaistik und das 30jährige Bestehen des Instituts für JüdischChristliche Forschung als dem ältesten Institut der Universität Luzern begehen, dann möchte ich den Pioniergeist der Universität Luzern nicht nur bewundern und loben. Ich möchte diesen Pioniergeist durch einen Vorschlag unterstützen, der mir heute für Europa und den Weltfrieden als dringlich erscheint: Ein »Institut für Islamisch-Jüdisch-Christliche Forschung« würde im Herzen Europas, in Luzern, ein Segen sein für die gemeinsamen Fragen unserer Religionen, so wie auch das Institut für Jüdisch-Christliche Forschung der Universität Luzern eine segensreich ausstrahlende Kraft entwickelt hat. Dem Gründer Clemens Thoma und seiner Nachfolgerin Verena Lenzen können wir alle nur größten Respekt zollen, unseren herzlichen Dank aussprechen und für die Zukunft dem Institut in seinen Anliegen und Aufgaben nur alle erdenkliche Unterstützung wünschen!

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Ist nicht gerade die Schweiz der hervorragende Ort für die gemeinsame Suche nach Frieden zwischen Völkern, Kulturen und Religionen?! – Das ist mein Traum, den ich heute mit Ihnen teilen möchte. Denn ich habe den Eindruck, dass wir keine Zeit zu verlieren haben. Auch wenn wir in unseren Religionen verschieden von Gott sprechen, so ist uns dennoch der Glaube an den einen und wahren, allmächtigen Gott gemeinsam, der immer der je Größere und der Geheimnisvolle für uns alle bleibt. Doch es gibt wesentlich mehr, so meine ich, als die oben beispielhaft aufgezählten gemeinsamen Schlüsselworte, sich diesem Gott gemeinsam zu nähern und sein Erbarmen und seine Liebe zu uns und den Menschen zu erbitten. Manche mögen über meinen etwas vorlauten Vorschlag und über meine etwas weltfremden mönchischen Gedanken lächeln. Um dennoch ein wenig Verständnis und Verstehen zu bewirken, möchte ich meinen Beitrag beenden mit den Gedanken eines Kirchenvaters, nämlich Dorotheus von Gaza (505 – 565). Das Bild, welches er für das gemeinsame Leben gebraucht, um den Weg der Annäherung an Gott und den Menschen zu beschreiben, passt m. E. gut für das respektvolle, tolerante, demütige und friedliche Miteinander der Religionen. Als religiöse Menschen wissen wir, dass wir als Geschöpfe Gottes immer nur Gott-Suchende und nach Antwort-Suchende sind: Denn Gott hat uns zuerst gerufen. Er ist der aktivere Part! Ihm allein gehört alle Macht und Ehre! Über allem aber steht sein Erbarmen, das Heil der Menschen. In diesem Bewusstsein dürfen und können wir gemeinsam lernen, eine demütige und gelassene Grundhaltung gegenüber unserem Leben und gegenüber anderen Religionen zu entwickeln. Doch nun zu Dorotheus von Gaza: »… so viel, wie jemand mit dem Nächsten geeint ist, so viel ist er auch mit Gott geeint. Ich erzähle euch dazu einen Vergleich, den die Väter gebrauchen, damit ihr den Sinn dieses Satzes versteht. Stellt euch vor, dass auf dem Boden ein Kreis ist, d. h. eine runde Linie gezogen mit einem Zirkel. Zentrum heißt nun genau der Mittelpunkt des Kreises, wo der Stachel des Zirkels aufsetzt. Richtet nun euren Verstand auf das Gesagte. Denkt euch diesen Kreis als die Welt, die Mitte des Kreises als Gott, die Strahlen von der Kreislinie bis zur Mitte hin als die Wege bzw. die verschiedenen Lebensweisen der Menschen. So viel die Heiligen nun nach innen hineingehen, weil sie danach verlangen, sich Gott zu nähern, kommen sie, entsprechend ihrem Hineingehen, Gott und einander näher. So viel sie sich Gott nähern, nähern sie sich auch einander, und so viel sie sich einander nähern, nähern sie sich auch Gott. Genauso denkt es euch auch für das Entferntsein. Wenn sie sich nämlich von Gott trennen und sich nach außen abwenden, ist offensichtlich, dass, so viel sie weggehen und sich von Gott entfernen, und so viel sie sich voneinander entfernen, so viel entfernen sie sich auch von Gott.

Interreligiöse Verständigung und Friedensarbeit im Heiligen Land

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Seht, dies ist die Natur der Liebe: Um so viel wir draußen sind und Gott nicht lieben, um so viel haben wir auch jeder zu seinem Nächsten Abstand. Wenn wir aber Gott lieben, nähern wir uns Gott so viel durch die Liebe zu ihm, so viel wir durch die Liebe zum Nächsten eins werden; und so viel wir in der Liebe zum Nächsten eins werden, werden wir mit Gott geeint.«

Das ist meine Hoffnung, und dafür will ich leben.

Moshe Zuckermann

Der moderne Staat Israel Historische Widersprüche, aktuelle Probleme

In diesem Beitrag sollen einige immanente Widersprüche erörtert werden, in denen das zionistische Israel ideologisch von seinem Anbeginn befangen war. Von Relevanz sind diese Faktoren, weil sie sich als historisch geronnene Strukturmomente bis zum heutigen Tag auf das israelische Kollektivleben, mithin auch auf die Perspektive einer finalen Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts auswirken. Die hier anvisierten Widersprüche tangieren vor allem das Selbstbild Israels als modernen demokratischen Staat, zugleich aber auch sein zionistisches Selbstverständnis als Staat der Juden. Anders als in Ländern, in denen sich die Etablierung einer zivilen gesellschaftlichen Ordnung der (zuweilen erst im blutigen Bürgerkrieg manifest gewordenen) Austragung innerer Konflikte verdankte, fußte der innere Zusammenhalt der israelischen Gesellschaft seit jeher auf einer durch violente Auseinandersetzungen mit äußeren Feinden gespeisten, zudem über Jahrzehnte tabuisierten Entsorgung immanenter Widersprüche und der diesen innewohnenden Konfliktpotentialen. Obgleich sich Israel dabei der Erhaltung einer im Vergleich mit anderen Ländern der Region leidlich funktionierenden formalen Demokratie rühmen darf, zeichnet sich sein Selbstverständnis als »Staat der Juden« durch die Aporie zweier unvereinbarer Vektoren aus: des universal orientierten Anspruchs auf ein modern-säkulares Gemeinwesen und der diesem Anspruch wesentlich zuwiderlaufenden, auf archaisch-religiöse Momente des Partikularen zurückgreifenden Begründung des Zionismus. Die durch die Raison d’Þtre des Staates vorgegebene Hegemonie der Juden verträgt sich schlechterdings nicht mit dem zivilen Anspruch eines »Staates all seiner Bürger«. Ohne es demnach juristisch offiziell verankern zu müssen, wird die große in Israel lebende arabische Minorität in der Praxis und im Rahmen etablierter politischer Institutionen bis auf den heutigen Tag gleichsam strukturell als eine Kategorie von Bürgern zweiter Klasse behandelt. Dies erweist sich nicht nur an der normativ angezweifelten Legitimität arabischer Parlamentarier als Koalitionspartner etablierter zionistischer Parteien in entscheidenden Fragen, etwa der radikalen Forcierung des Friedensprozesses mit den Palästinensern, sondern

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Moshe Zuckermann

vor allem auch an der Diskriminierung des arabischen Sektors beim Ausbau seiner Infrastruktur, der Verteilung staatlicher Wirtschaftsressourcen und der allgemeinen Besetzung von sozial, politisch, ökonomisch und kulturell bedeutsamen Machtposten und Kontrollpositionen. Ohne übertriebenen Sarkasmus lässt sich freilich vermuten, dass dieser Sachverhalt den allergrößten Teil der jüdischen Bevölkerung Israels weitgehend unberührt lassen dürfte, implizierte besagte Aporie nicht ein anderes gravierendes, die israelischen Juden selbst betreffendes Problem, nämlich die immer noch ungelöste Frage der Trennung von Staat und Religion. Was bislang mit der nebulösen Formel des kurz vor Staatsgründung festgelegten »Status quo« sozusagen unterm tagespolitischen Teppich gekehrt wurde, erfordert eine mittlerweile kaum mehr zu umgehende artikulierte Klärung. Denn wie sich spätestens bei der Ermordung des israelischen Premierministers Yitzhak Rabin am 4. November 1995 herausstellte, handelt es sich bei der Konfrontation von religiösen und nichtreligiösen Juden in Israel inzwischen längst nicht mehr nur um die monopolisierte Administration des Personenstandes und anderer Problembereiche des zivilen Zusammenlebens, sondern – zumindest, was gewisse Strömungen im nationalreligiösen Lager anbelangt – um Legitimationsgrundlage und -modus des jüdischen Staates schlechthin; was sich nämlich an den Postulaten der nicht- bzw. antizionistischen Ultraorthodoxen noch als messianisches Utopie-Denken ausnehmen mag, gewinnt bei den Nationalreligiösen, welche die Besetzung der im Sechs-Tage-Krieg von 1967 eroberten Gebiete und den nachfolgend erhobenen Anspruch auf deren Annexion als Vorzeichen und Beginn der messianischen Erlösung des jüdischen Volkes auslegen, eine höchst aktuelle politische Brisanz. Zum einen impliziert besagte Divergenz zwischen streng säkularer und religiös bzw. theologisch unterfütterter Legitimation des Staates das unausgesprochene Kriterium für die noch ausstehende Erprobung der wirklichen – nicht nur sloganhaft proklamierten – Friedensbereitschaft der israelischen Bevölkerung. Denn insofern davon auszugehen ist, dass die endgültige Beilegung des Konflikts mit den Palästinensern mit einer zwangsläufigen Räumung und Rückgabe weiter Gebiete, die von extremistischen Nationalreligiösen als Teil des göttlich verheißenen Landes der Juden be- und ergriffen werden, einhergehen muss, kann nicht ausgeschlossen werden, dass es zur blutigen Auseinandersetzung zwischen radikalen, den Rückzug verweigernden Siedlern und den von Israel zur Räumung eingesetzten Militärkräften kommen könnte. Dabei ist ganz und gar nicht ausgemacht, wie ein Großteil der jüdischen Bevölkerung Israels auf ein solches Schauspiel der rigorosen (zudem noch staatlich sanktionierten) Gewaltanwendung von »Juden gegen Juden« reagieren würde. Kurze, relativ harmlos anmutende Stichproben aus der Vergangenheit, bei denen es nicht

Der moderne Staat Israel

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einmal zu nennenswerten Gewalttätigkeiten kam, verheißen in dieser Hinsicht nichts Gutes. Darüber hinaus gibt aber die Diskrepanz zwischen der säkularen und religiösen Begründungsmatrix des jüdischen Gemeinwesens einen Begriff von dem der israelischen Gesellschaft auch in »Friedenszeiten« inhärierenden Spannungsfeld polarisierter existenzieller Anschauungen und Orientierungen. Dass dieses Spannungsfeld sich nicht leichterdings mit dem Hinweis auf vergleichbare Formen eines wie auch immer verstandenen postmodernen Multikulturalismus abtun lässt, erklärt sich vor allem daraus, dass das sogenannte Jüdische an dem sich für jüdisch ausgebenden zionistischen Staat, insoweit es nicht religiös begründet wird, sich seinem Inhalt nach ziemlich nebulös ausnimmt. Es geht um mehr als bloß tradiertes, im Wesentlichen unreflektiertes Brauchtum, wenn sich eine Großzahl nichtgläubiger israelischer Juden als »traditionell« (d. h. bestimmte religiöse Riten, Bräuche und Vorschriften einhaltend) bezeichnet. Bei sehr vielen entstammt nämlich dieses Selbstverständnis einem stets unausgesprochenen, nur vorbewusst gegenwärtigen Gefühl der säkularen Minderwertigkeit gegenüber der »reichen«, »moralischen«, »geistig orientierten« Welt der Religiösen, deren ungebrochener Glaube nicht nur das jüdische Volk über Jahrtausende »zusammengehalten« hat, sondern ihnen bis zum heutigen Tage vermeintliche Standfestigkeit gegenüber Konfusion, Unmoral und Chaos der modernen Welt verleiht. Es handelt sich hierbei in der Tat um die eigentümliche Form eines antiaufklärerischen (oder zumindest aufklärungsmüden) Impulses jener, die der Aporie ihrer spezifischen Existenz mit großem Unbehagen und noch größerer Verdrängung begegnen, ein Impuls, der sich mit der unhinterfragten, dafür mit umso emphatischerer Bestimmtheit proklamierten Gewissheit, dass Israel unbedingt »jüdisch« – oder doch ein »Staat der Juden« – bleiben müsse, verschwistert weiß. Die von Ferdinand Tönnies seinerzeit erörterte Unwirtlichkeit des modern Gesellschaftlichen, der stets ein (Rück)sehnen nach Gemeinschaft gepaart ist, manifestiert sich hier als eine diffuse, vom ehemaligen Diaspora-Bewusstsein noch immer berührten Gemeinschafts-Ideologie, die sich freilich nicht mehr nach einer »organischen« Lebensform ausrichtet, sondern vielmehr religiös-abstrakt (bzw. im Sinne der vollends fetischisierten Orientierung am pseudo-religiös »Traditionellen«) konstituiert. Dass dabei stets eine uneingestandene Ausschließung des »Anderen« (vor allem dessen arabische Erscheinung) mitschwingt, gibt Aufschluss darüber, wie komplex es um die Prädispositionen für die Entfaltung einer künftigen zivilen Gesellschaft in Israel noch immer bestellt ist. Ein zweiter Faktor, der im Hinblick auf gemeinschaftliche Solidarität und ziviles Selbstverständnis einige Fragezeichen aufwerfen mag, ist das in der jüdisch-israelischen Gesellschaft virulierende Moment des Ethnischen. Eine gravierende Rolle spielt hierbei das zunehmende Verblassen der zionistischen

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Schmelztiegel-Ideologie. Verstand sich das vom Pathos des Pioniergeistes und der Negation diasporaler Leiderfahrung getragene Kollektiv der Juden in Israel anfangs noch als eine monolithische Solidargemeinschaft, deren Selbstbestimmung sich mit dem Oberbegriff »israelischer Jude« gleichsam deckte, so wurde im Laufe der Zeit der ideologisch perpetuierte Schein homogener Identität durch die immer stärker zum Vorschein kommenden sozialen Diskrepanzen seiner Verblendungsfunktion überführt. Nicht nur entstand eine durch Strukturen der Jischuw-Vorgeschichte des Staates prädisponierte Klassenkluft im ökonomischen Aufbau der israelischen Gesellschaft, sondern es war auch unübersehbar, dass die unterbemittelten Schichten der Sozialhierarchie sich nahezu vollkommen aus orientalischen Juden zusammensetzten. Die dann seit Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts durch den Staat forciert unterstützte Einwanderung großer Massen von russischen Juden konnte zwar als ein großer Erfolg zionistischer Politik und Ideologie verbucht und vermarktet werden, trug gleichwohl ein Übriges dazu bei, das Gefühl von verzerrten sozialen und wirtschaftlichen Prioritäten zu stärken und ließ sogar Stimmen laut werden, das aschkenasische Establishment versuche, die Proportionen der jüdisch-israelischen Demographie ethnisch »zu seinen Gunsten« zu manipulieren. Was immer an dieser Behauptung sein mag, man darf auf keinen Fall das ihr unverkennbar zugrundeliegende Ressentiment unterschätzen. Gerade das, was sich in der Vergangenheit als die Tugend einer (ideologisch noch so verklärten) Einheit und Einheitlichkeit im Sinne des »neuen Juden« bzw. »Sabre« ausgab, schlug allmählich in den Augen vieler orientalischer Juden ins Gegenteil um, bis es dann vollends als ein zum Vorteil der politisch und sozial Mächtigen der israelischen Gesellschaft wirkendes Instrument der Repression und Diskriminierung gedeutet wurde. Bezeichnend dabei ist freilich, dass die Deutungsmuster sozio-ökonomischer Benachteiligung, die beispielsweise den Ausbruch sozialer Unruhen in israelischen Slums Anfang der 1970er Jahre speisten, mit dem Aufkommen postmodernistischer Interpretationstechniken und den mit diesen einhergehenden normativen Umgewichtungen immer mehr an politisch agitatorischer Brisanz verloren und auf die (modisch ungleich attraktivere) Ebene kultureller Identitätsverluste verlagert wurden. Nicht von ungefähr konnten sich viele israelische Intellektuelle orientalischer Abstammung in den 1980er Jahren über nichts mehr erbosen als über die, wie sie meinten, »von oben« bzw. von aschkenasischen Inhabern offizieller Machtpositionen systematisch gesteuerte Unterdrückung des sogenannten »orientalischen Gesangs« und dessen offensichtlicher Ausschließung aus den Sendeprogrammen der Massenmedien (was sich freilich inzwischen von Grund auf verändert hat). Einer ihrer herausragenden Vertreter stellte gar den »langen Weg« zur Erlangung eines wahrhaftigen Friedens, der durch die israelische und palästinensische Arbeiter ausbeutenden Betriebe in Israels Kleinstädten und im Gazastreifen führe, auf die

Der moderne Staat Israel

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gleiche Ebene mit »dem langen Weg, der durch die Keller der Unterdrückung der orientalischen Kultur in den staatlichen und ›privaten‹ Sendeanstalten führt«. Dass er sich darüber hinaus dazu verstieg, von der »schönen und sterilen aschkenasischen Linken« zu räsonieren, bezeugt zwar den emanzipativ ausgerichteten Bewusstseinswandel, dem sich die so argumentierenden jüdisch-orientalischen Intellektuellen unterzogen haben, zugleich aber auch, wie sehr ethnisch aufgeladen (und eben vom Ressentiment getragen) dieser Strang der Emanzipation ist – und sein will. Der Anspruch aufs Universelle begründet sich durchs Partikulare. Dass dabei die eigentliche gesellschaftliche Ursache der Diskriminierung (samt des ihr entspringenden ethnischen, ja rassistischen Dünkels), wenn nicht verkannt wird, so doch objektiv ins Hintertreffen gerät, mag gerade jenen dienlich erscheinen, die dann in den Massenmedien quasi generös viel »orientalische Kultur« (bzw. kulturindustrielle Vermarktung eines popig aufgemachten »Orientalischen«) vom Stapel lassen, um aber die realen ökonomischen Missstände und die gerade durch den angehobenen Lebensstandard sich immer weiter öffnenden sozialen Klüfte umso beständiger (gewissermaßen kulturell-ideologisch legitimiert) unberührt zu lassen. Dies will wohlverstanden sein: dass der ethnische Identitätsdiskurs ideologisch funktionalisiert wird, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sehr reale sozialpsychologische Ursachen für das in ihm zum Vorschein kommende Unbehagen vieler orientalischer Juden gibt. Die klassische zionistische Ideologie, die aus der Negation alles Diasporischen die abstrakte Vision einer allgemeinen jüdischen Solidarität ableitete, manifestierte sich letzten Endes in einem Gemeinwesen, das – historisch bedingt und durchaus erklärbar – von seinem Anbeginn durch die politische, soziale, ökonomische und kulturelle Hegemonie des aschkenasischen Establishments gekennzeichnet war. Viel ethnischer Dünkel, kulturelle Überheblichkeit und Arroganz der »Fortgeschrittenen« paarte sich da mit ehrlich gemeinter Missionsleidenschaft, paternalistischer Besserwisserei und administrativen Bevormundungspraktiken der gesellschaftlich und politisch objektiv Höhergestellten. Dass dabei nicht nur die Kultur orientalischer ethnischer Gruppen, sondern auch die der aschkenasischen Jiddisch-Welt des alten osteuropäischen Schtetl-Judentums unter die Dampfwalze der zionistischen Ideologie des »Neuen Juden« geriet; dass darüber hinaus besagte Diaspora-Kulturen wohl aus dem Bereich der staatlich sanktionierten, »offiziellen« Kultursphäre verjagt, nicht aber aus den verschiedenen, eigengesetzlich pulsierenden Lebenswelten eliminiert werden konnten; dass also letztlich die orientalische Kultur eher mit der zionistischen als mit der aschkenasischen Kultur in Konflikt geriet – kann (und sollte) nicht das authentische Gefühl historischer Erniedrigung und angestauter Wut, die nachhaltige Empfindung begangenen Unrechts und noch »offener Rechnung« in Abrede stellen. Ob sich mit diesem von unreflektiert nachtragendem Ressentiment gespeisten

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Moshe Zuckermann

Ethnozentrismus eine gute soziale Politik betreiben lässt, scheint freilich mehr als fraglich zu sein. Hat auch die »Schmelztiegel«-Praxis zum Teil das Gegenteil vom Beabsichtigten erreicht und durch die im »Schmelz«-Vorgang entstandene Berührung gerade das kritische Bewusstsein der zionistisch zu Integrierenden entfaltet und geschärft, so darf doch nicht vergessen werden, dass sich die bedrohlich öffnende soziale Kluft letztlich eben nicht durch die noch so schlimmen Erscheinungen ethnischen Dünkels in der Vergangenheit erklären lässt, somit also auch durch keinerlei ethnische Gegenstrategie überbrückt werden kann. Die hier nur gerafft vorgenommene Darstellung einiger der die israelische Gesellschaft durchwirkenden Konfliktachsen stehen in engem Bezugszusammenhang zur Möglichkeit der Etablierung eines dauerhaften Friedens mit den Palästinensern (und der arabischen Welt insgesamt). Denn es ist ja gerade die potenziell durch einen solchen Friedensschluss ermöglichte Abschaffung der äußeren Bedrohung, die eine tiefgreifende Austragung der bislang durch die Kohäsions- und Einheitsideologie unterdrückten Konfliktpotentiale (und deren Überwindung) erst eigentlich möglich werden ließe. Entsprechend wird das »Sicherheitsproblem« über Jahrzehnte stets so hochgehalten, dass es, wann immer nötig, als Mittel der Verdrängung innerer Konflikte und deren Entsorgung vom öffentlichen Diskurs herangezogen werden kann. Es bedurfte ohnehin keiner allzu großen Regierungsanstrengung, um die Emphase der im Sommer 2011 aufgeloderten sozialen Protestbewegung wieder verpuffen zu lassen; aber wäre es notwendig geworden, hätte Israels Premier Benjamin Netanjahu die Protestbewegung jederzeit durch Anheizung der Situation »an den Grenzen« entwaffnen können. Nicht von ungefähr schwebte damals die akute Möglichkeit eines Angriffs auf den Iran fortwährend in der ideologisierten politischen Luft. Der Ende 2012, Anfang 2013 in Israel ausgetragene Parlamentswahlkampf widerspiegelte dann aufs beredtste diesen hermetisch verfestigten und unauflösbar scheinenden Wirkzusammenhang von partikularen Klasseninteressen, ethnischem Ressentiment und religiös aufgeladener Ideologie des »Jüdischen« – unter weitgehendem Ausschluss der Friedensdebatte, bei umso manipulativerer Aufblähung der »Sicherheitsfrage«. Die Durchbrechung dieses funktionellen Teufelskreises – strukturelles Schicksal und ideologischer Plan zugleich – steht vorerst nicht auf der nationalen Tagesordnung.

Günter Stemberger

Das rabbinische Judentum als bleibende Basis jüdischer Kultur

Heute tendieren jüdische Studien zu einer immer stärkeren Betonung des gegenwärtigen Judentums, des Holocaust, des Staates Israel und des israelischarabischen Konflikts usw., und verdrängen damit die früher im Mittelpunkt gestandene Periode des »klassischen Judentums«, der rabbinischen Epoche im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung, immer mehr an den Rand. Das ist zum Teil eine begründbare Entwicklung, zugleich aber ergibt sich daraus die Gefahr, die im rabbinischen Judentum befindliche Basis der gesamten jüdischen Kultur bis heute zunehmend zu vergessen. Doch ist die These der rabbinischen Basis überhaupt zu rechtfertigen?

1.

Wie wurde das rabbinische Judentum zur Basis des Judentums schlechthin?

Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 bewirkte einen radikalen Umbruch in der jüdischen Religion und Kultur, der zwar erst langfristig als unumkehrbar bewusst wurde, aber dennoch das Judentum wesentlich veränderte. Es wurde von einer auf Opfer zentrierten Kultreligion zu einer Religion heiliger Texte, zu einer Buchreligion. Anders als etwa Jacob Neusner möchte ich zwar das Judentum bis heute als »biblische Religion« bezeichnen,1 doch ist es eine Tatsache, dass es nicht mehr so sehr bestimmte biblische Inhalte – v. a. Opfer- und Reinheitsgesetze, Vorschriften zu Abgaben von der Ernte des Landes Israel usw. – waren, die jüdisches Leben bestimmten, als vielmehr die nun erst im Umfang der Schriften und in der genauen Festlegung des Textes normierten heiligen Bücher, deren Lesung im Mittelpunkt des Synagogengottesdienstes 1 Neusner, Jacob: Is Judaism a »Biblical Religion«? In: Neusner, Jacob: Writing with Scripture: The Authority and Uses of the Hebrew Bible in the Torah of Formative Judaism. Atlanta, GA, 2 1993, S. 166 – 192.

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Günter Stemberger

stand.2 Dazu kam die Einführung eines geregelten Gebetsgottesdienstes, also nochmals eine verstärkte Textualisierung der Religion anstelle des Ritus.3 Im religiösen Leben der Diaspora war beides in einem bestimmten Ausmaß schon vorweggenommen, doch nahm die Entwicklung in Palästina, dann auch in Babylonien eine ganz eigene Richtung, wobei auch die hebräische (und aramäische) Sprache für die jüdische Identität immer zentraler wurde. Dieser Wandel in jüdischen Lebensformen brauchte natürlich seine Zeit. Die Rabbinen als wesentliche Träger der Entwicklung waren noch lange eine relativ einflusslose kleine Gruppe, die erst im Lauf der Jahrhunderte jüdisches Leben immer mehr bestimmte.4 Manchmal spricht man vom Judentum als einer »Religion des vierten Jahrhunderts« (ähnlich beim Christentum),5 insoferne verstärkt ab Konstantin, mehr noch ab 380 (Christentum als Staatsreligion) das Judentum als Religion und nicht mehr sosehr als Volk mit einer bestimmten Lebensform wahrgenommen wurde und seine Religionsdiener (soweit vom Patriarchen anerkannt) einen staatlichen Schutz gleich dem der paganen und christlichen Priester erhielten. Dazu gehört auch die erst mit dem 4. Jahrhundert immer stärkere Prägung der Landschaft Palästinas durch religiöse Bauten, Kirchen und Synagogen6 und auch das Bewusstsein, dass die Schriftlesung das Wesentliche in der Synagoge ist (besonders deutlich wird das im staatlichen Eingriff in die jüdische Schriftlesung in Justinians Novelle 146 vom Jahr 553).7 Auch in der Synagoge waren die Rabbinen noch lange eher Randfiguren, bestimmten nicht deren Liturgie, predigten dort nur selten und zogen es oft vor, bei ihrem Studium zu bleiben, anstatt sich dem Volk in den Synagogen anzuschließen. Was die Rabbinen im Lauf der ersten Jahrhunderte nach 70 als halakhisches System entwickelten, bestimmte zuerst einmal nur die Lebensweise der Anhänger der rabbinischen Bewegung, sofern die Rabbinen nicht einfach 2 Fleischer, Ezra: Annual and Triennal Reading of the Bible in the Old Synagogue (hebr.), in: Tarbiz 61 (1991 – 92), S. 25 – 43. 3 Siehe Fleischer, Ezra: On the Beginnings of Obligatory Jewish Prayer (hebr.), in: Tarbiz 59 (1989 f), S. 397 – 441; Langer, Ruth: Revisiting Early Rabbinic Liturgy. The Recent Contributions of Ezra Fleischer, in: Prooftexts 19 (1999), S. 179 – 194. 4 Dazu Hezser, Catherine: The Social Structure of the Rabbinic Movement in Roman Palestine. Tübingen 1997. 5 So schon Parkes, James: The Conflict of the Church and the Synagogue. London 1934, S. 153: »Judaism and Christianity remain, up to the present day, in many ways religions of the fourth century«. 6 Siehe Schwartz, Seth: Imperialism and Jewish Society : 200 B.C.E. to 640 C.E. Princeton 2002, S. 200 – 274; Stemberger, Günter : Juden und Christen im Heiligen Land: Palästina unter Konstantin und Theodosius. München 1987. 7 Aus der reichen Literatur dazu siehe Veltri, Giuseppe: Die Novelle 146 Peri Hebraio¯n, in: Hengel, Martin; Schwemer, Anna Maria (Hg.): Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum. Tübingen 1994, S. 116 – 130 (Nachdruck in: ders.: Gegenwart der Tradition. Leiden 2002, S. 104 – 119).

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ältere religiöse und gesetzliche Traditionen in ihr System integrierten, wie dies wohl z. B. im Eherecht der Fall war ; Ehe- und Scheidungsurkunden der Babatha und der Salome Komaisa vom Toten Meer können so nicht als Beleg gelten, wie schnell sich rabbinische Normen durchgesetzt haben, sondern zeigen eher, dass die Rabbinen ältere Rechtstradition übernommen haben.8 Die Frage nach Kontinuität mit Traditionen vor 70 ist nach wie vor höchst aktuell und kann auch durch die Texte von Qumran nicht immer klar entschieden werden.9 Auch dort, wo man Kontinuitäten feststellen kann, ist immer zu fragen, wieweit nicht der neue Kontext, das Gesamtsystem, ältere Traditionen verändert. Das gilt insbesondere auch von der rabbinischen Auslegung der heiligen Schriften, also eines alten, traditionellen Textes, dem die rabbinische Hermeneutik oft völlig neue Perspektiven abgewinnt. Schon allein die Annahme eines einheitlichen, in sich widerspruchsfreien und ohne unnötige Wiederholungen auskommenden Textes, dessen hebräische Sprachgestalt mit ihren vielfältigen Möglichkeiten von Anspielungen, Anklängen und »Etymologien« die alleinige Basis der Auslegung ist, die gewöhnlich in einer Übersetzung nicht nachvollzogen werden kann, ändert viel gegenüber dem für sich allein in seinem vermuteten historischen Kontext gelesenen Text, ganz abgesehen von Fragen historischer Grammatik oder gar der Textkritik. Die rabbinische Grundannahme, dass dieser Text unveränderlich für alle Zeiten gilt, damit auch gewandelte ethische Vorstellungen schon in sich enthält, trägt zu einer weiteren Verschiebung bei, wenn z. B. biblische Todesstrafen nach rabbinischer Deutung kaum noch in der Praxis angewandt werden können, die biblisch mögliche Ehe eines Mannes mit mehreren Frauen durch die immer mehr zur Norm gewordene Monogamie abgelöst wird usw.10 Die wenigen Beispiele zeigen wohl zur Genüge, dass jüdische Religion in der Zeit der Rabbinen nur dann noch biblische Religion ist, wenn man die Bibel in der Perspektive der Rabbinen liest. Hier war nur von gesetzlichen Normen die Rede; doch hat auch die Haggada viel dazu beigetragen, biblische Erzählungen in die eigene Zeit zu befördern, sie nicht nur »interessanter« zu machen, sondern sie auch den geänderten Wertvorstellungen anzupassen. Dass das rabbinische Wertesystem nicht einfach das biblische System weitergibt, sieht man z. B. nicht nur an den vielfältigen Normen 8 Siehe Cotton, Hannah M.: The Impact of the Documentary Papyri from the Judaean Desert on the Study of Jewish History from 70 to 135 CE, in: Oppenheimer, Aharon (Hg.): Jüdische Geschichte in hellenistisch-römischer Zeit. Wege der Forschung: Vom alten zum neuen Schürer. München 1999, S. 221 – 236; Hezser, Catherine (Hg.): Rabbinic Law in Its Roman and Near Eastern Context. Tübingen 2003. 9 Shemesh, Aharon: Halakhah in the Making. The Development of Jewish Law from Qumran to the Rabbis. Berkeley 2009. 10 Siehe Dohmen, Christoph; Stemberger, Günter : Hermeneutik der jüdischen Bibel und des Alten Testaments. Stuttgart 1996.

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um Ehe, Familie, Familienreinheit (Miqwe) usw., oder der erst rabbinisch belegbaren Norm, dass Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat usw., sondern auch daran, dass das Lernen (natürlich in erster Linie der Tora) zum zentralen Wert des Judentums schlechthin geworden ist und bis heute gilt, nicht nur in traditionellen Formen des Lernens wie dem daf yomi, sondern auch in säkularisierter Form als allgemeine Bildungsbeflissenheit, Liebe zum Buch usw.11 Doch auch zum Abschluss der beiden Talmudim und der gaonäischen Periode, also im späten ersten Jahrtausend, ist die Durchsetzung der rabbinischen Prägung des Judentums noch nicht zum Ziel gekommen, wie ganz deutlich das Aufkommen und die frühe Blüte der karäischen Gegenbewegung zeigt. Im Wesentlichen ist die rabbinische Gestalt des Judentums eine Entwicklung des Mittelalters, zuerst in Nordafrika, dann vielleicht mehr noch im christlichen Europa als im muslimischen Spanien. Das hängt stark mit der Verbreitung schriftlicher Texte rabbinischer Werke zusammen, der damit verbundenen Unabhängigkeit von den rabbinischen Zentren in Palästina und Babylonien, vor allem aber auch mit der Diasporaexistenz.12 Wo jüdische Gemeinden groß genug waren, setzten sich rabbinisch gebildete Männer als geistige Autoritäten der Gemeinde durch. In der muslimischen Umgebung war noch länger eine viel breitere und vielfältigere Bildung möglich, die das rabbinische Schrifttum nicht so exklusiv zum Gegenstand des Lernens werden ließ – in Ashkenaz war dagegen nicht-rabbinische Gelehrsamkeit, vor allem in Astronomie, Astrologie und Medizin, doch sehr stark an talmudische Voraussetzungen gebunden. Hier konnte die Liturgie viel schneller nach rabbinischen Vorstellungen normiert werden, hier entstand auch zuerst die Funktion des Rabbiners als religiöser Autorität der Gemeinde, der halakhische Fragen entschied und mit seinem Bet-din bei Scheidungen oder diversen Rechtsproblemen in der Gemeinde vermittelte und bei der Erziehung der Knaben mitwirkte, eventuell auch Talmud-Schüler an sich zog. So viel wie möglich an talmudischen Entscheidungen wurde in dieser Umwelt zumindest theoretisch Basis jüdischen Lebens.13 Wenn wir einen kurzen Blick auf die spätere Entwicklung, vor allem in Osteuropa, werfen, sehen wir eine zunehmend ausschließlichere Bedeutung des Talmudstudiums; es wurde nur in jenen Bereichen durch profanes Wissen er11 Hirshman, Marc G.: The Stabilization of Rabbinic Culture, 100 C.E.–350 C.E. Texts on Education and their Late Antique Context. New York 2009. 12 Fishman, Talya: Becoming the People of the Talmud. Oral Torah as Written Tradition in Medieval Jewish Cultures. Philadephia 2011. 13 Siehe Schwarzfuchs, Simon: Êtudes sur l’origine et le d¦veloppement du rabbinat au Moyen ffge. Paris 1957; Grossman, Abraham: The Early Sages of France. Their Lives, Leadership and Works (hebr.). Jerusalem 21996; ders.: The Early Sages of Ashkenaz. Their Lives, Leadership and Works (hebr.). Jerusalem 32001.

Das rabbinische Judentum als bleibende Basis jüdischer Kultur

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gänzt, die für das Verständnis talmudischer Probleme notwendig waren (etwa Mathematik für die Berechnung des Kalenders oder des Eruv, anatomische Kenntnisse für das Schächten usw.). Aber auch innerhalb der rabbinischen Tradition gab es nochmals eine Einengung, immer exklusiver auf den babylonischen Talmud und seine Kommentare, den Schulchan Arukh und dessen Kommentare ausgerichtet. Schon der palästinische Talmud war, außer etwa in der Schule des Gaon von Wilna, kaum gefragt, Mischna kein selbständiger Studiengegenstand. Auch die Midraschim hatten in diesem Rahmen höchstens erbauliche Bedeutung, konnten am ehesten für die Predigt dienen, wo eine solche überhaupt regelmäßig stattfand; die Bibel selbst galt als Teil des Curriculums nur für Kinder oder zum richtigen Vortrag der Lesung in der Synagoge, war aber nicht ein selbständiger Gegenstand; im 19. Jh. galt oft sogar schon der Besitz eines gedruckten Tanakh als Vergehen;14 die einzig mögliche und auch völlig genügende Auslegung fand die Bibel im Rahmen des Talmud, vielleicht auch noch des Midrasch.

2.

Der Umbruch seit Moses Mendelssohn

Die kulturelle Öffnung des deutschen Judentums, die man vor allem mit dem Namen Mendelssohns verbindet, führte zu einer Relativierung des Talmud für jüdische Bildung und jüdisches Leben; Mendelssohn selbst hatte, obwohl er die zentrale Bedeutung des Talmud anerkannte, ihn nicht als alleinigen und für alle verbindlichen Lernstoff angesehen. Im Lehrplan der auf ihn zurückgehenden Freischule in Berlin (1778 – 1825) gab es für das Talmudstudium keinen Platz. Seine Bibelübersetzung (mit Kommentar) rückte vielmehr das selbständige Bibellernen wieder in den Vordergrund, was zu entsprechender Polemik von Seiten traditioneller Rabbiner führte.15 Um allen möglichen Polemiken zu entgehen, beschäftigten sich viele Aufklärer gar nicht mit der rabbinischen Literatur. Doch gab es sehr wohl auch direkte Angriffe auf den Talmud; am bekanntesten ist eine Schrift von Abraham Buchner (1789 – 1869), seit 1826 Hebräischlehrer an der neugegründeten Rabbinerschule in Warschau.16 14 Siehe Shavit, Yaakov ; Eran, Mordechai: The Hebrew Bible Reborn. From Holy Scripture to the Book of Books. A History of Biblical Culture and the Battles over the Bible in Modern Judaism. Berlin 2007, S. 51 – 64; Stampfer, Shaul: Families, Rabbis and Education. Traditional Jewish Society in Nineteenth-century Eastern Europe. Oxford 2010, S. 145 – 166. 15 Siehe Lohmann, Ingrid: Chevrat Chinuch Nearim. Die jüdische Freischule in Berlin (1778 – 1825) im Umfeld preußischer Bildungspolitik und jüdischer Kultusreform. Eine Quellensammlung. 2 Bde. Münster 2001. 16 Buchner, Abraham: Der Talmud in seiner Nichtigkeit dargestellt. Warschau 1848 (2 Teile in 1;

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Um so erstaunlicher ist es, dass das erste große Werk der Wissenschaft des Judentums gerade der rabbinischen Literatur gewidmet war, nicht den Talmudim, sondern den Midraschim, die 1832 erschienenen und noch immer nicht überholten »Gottesdienstlichen Vorträge der Juden« von Leopold Zunz.17 Bei allem Bestreben der neuen Wissenschaft, das Judentum in seiner Gesamtheit und all seinen Hervorbringungen zu erforschen, nahm in der Folgezeit doch die rabbinische Literatur einen zentralen Platz ein: Erwähnt seien hier nur die beiden noch immer nachgedruckten Einleitungen zur Mischna und zum palästinischen Talmud von Zacharias Frankel.18 Ebenso ist auf die zahlreichen Editionen von Midraschim zu verweisen, die führende Vertreter der deutschsprachigen Wissenschaft des Judentums im 19. und frühen 20. Jahrhundert publizierten und die zum Teil auch heute noch nicht ersetzt sind – so etwa die Editionen von Salomo Buber (1827 – 1906)19 und der Vertreter des Wiener Bet ha-Midrasch, Eisik Hirsch Weiss (1815 – 1905)20 und Meir Friedmann (1831 – 1908).21 Ebenso seien die Traditionsgeschichten von Eisik H. Weiss und Isaak Halevy (1847 – 1914) erwähnt,22 oder, um einen christlichen Autor zu nennen, Hermann L. Strack (1848 – 1922) mit seiner Einleitung in die rabbinische Literatur.23 Was in den Publikationen jüdischer Autoren der Zeit noch länger fehlt, ist der babylonische Talmud. Die Vertreter der Wissenschaft des Judentums vermieden es, dazu zu publizieren, um jeden unnötigen Konflikt mit der Orthodoxie zu vermeiden, deren grundlegender Text er war. Doch mit dem Wissen, dass jü-

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1. Teil schon 1818?). Allgemein zur Einstellung der Maskilim zum Talmud: Pelli, Moshe: The Age of Haskalah. Studies in Hebrew Literature of the Enlightenment in Germany. Leiden 1979, S. 48 – 72. Zunz, Leopold: Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden historisch entwickelt. Berlin 1832; Frankfurt 21892; Nachdruck Hildesheim 1966; Nachdruck mit Einleitung von Kern-Ulmer, Rivka. Piscataway, NJ, 2003. Hebräische Übersetzung: Ha-Derashot be-Yisra’el (mit einem Anhang von Chanokh Albeck). Jerusalem 1954. Frankel, Zacharias: Darkhe ha-Mishna. Hodegetica in Mischnam librosque cum ea conjunctos. Pars prima: Introductio in Mischnam. Leipzig 1859; ders.: Mavo ha-Yerushalmi. Introductio in Talmud Hierosolymitanum. Breslau 1870. Nur eine Auswahl: Buber, Salomo: Pesiqta deRav Kahana. Lyck 1868; Midrash Leqah Tov. Wilna 1879; Midrash Tanhuma. Wilna 1885; Midrasch Tehillim (Schocher Tob). Wilna 1891; Midrash Mishle. Wilna 1893; Midrash Ekha Rabba. Wilna 1899; Midrash Sekhel Tov. Berlin 1900. Weiss, Eisik Hirsch: Sifra de-vei Rav. Hu Sefer Torat Kohanim. Wien 1862; Mekhilta. Wien 1865. Friedmann, Meir : Sifre de-vei Rav. Wien 1864; Sefer Mekhilta. Wien 1870; Midrash Pesiqta Rabbati. Wien 1880; Seder Eliyahu Rabba we-Seder Eliyahu Zuta. Wien 1902; Pseudo-Seder Eliahu zuta. Wien 1904; Sifra de-vei Rav. Wien 1915. Weiss, Eisik Hirsch: Dor Dor we-Dorshav. 5 Bde. Wilna 1871 – 1883; Halevy, Isaak: Dorot haRishonim. 3 Bde. Berlin; Wien 1897 – 1937. Strack, Hermann L.: Einleitung in den Thalmud. Leipzig 1887; ab der 5. Auflage, München 1921: Einleitung in Talmud und Midrasˇ.

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dische Forschung an deutschen Universitäten keinen Platz finden werde, und der daraus folgenden Gründung eigener Rabbinerseminare und jüdischer Hochschulen von Padua und Breslau über Berlin zu Wien und Budapest musste natürlich auch der babylonische Talmud auf das Lehrprogramm, blieb aber weiter ein Stiefkind der Forschung (ähnlich, wie dies etwa bis heute an der Hebräischen Universität von Jerusalem der Fall ist). Insgesamt aber war und ist klar, dass man nicht nur jüdische Geschichte und Kultur der Vergangenheit, sondern auch in ihrer gegenwärtigen Ausprägung nicht ohne Kenntnis der rabbinischen Tradition erforschen kann.

3.

Rabbinische Studien im Rahmen der deutschsprachigen Judaistik

Seit den Anfängen der Judaistik im deutschsprachigen Raum nach 1945 nahm die rabbinische Literatur bzw. insgesamt die ältere Periode jüdischer Religion, Geschichte und Literatur einen zentralen Platz ein. Warum es so kam, darüber kann man diskutieren. An erster Stelle war das wohl in der Tradition der Jüdischen Hochschule Berlin und der Rabbinerseminare begründet, die man irgendwie aufgreifen wollte, zugleich aber auch in Fortführung theologischer Interessen am Judentum, die traditionell auf die rabbinische Literatur als weiteren Kontext für die Auslegung des Neuen Testaments und der Umwelt Jesu zurückgriffen. Als frühe Wurzeln könnte man hier auf die Talmuddisputationen des 13. Jahrhunderts und das Werk Raimund Martinis verweisen,24 den rabbinischen Kommentar zum Neuen Testament von John B. Lightfoot (1602 – 1675) und als vorläufigen Endpunkt der Entwicklung Paul Billerbecks Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, eine Tradition, die David Instone Brewer weiterführt.25 In diesem Kontext war ja auch die Gießener Mischna entstanden (ab 1912, zuerst nur von protestantischen Theologen erarbeitet, in den dreißiger

24 Raimundi Martini capistrum Judaeorum. Texto cr†tico y traducciûn. Hg. v. Adolfo Robl¦s Sierra. 2 Bde. Würzburg 1990 – 1993; Raymundi Martini Pugio Fidei Adversus Mauros Et Judaeos. Hg. v. Johannes Benedikt Carpzov. Leipzig 1687; Ragacs, Ursula: »Mit Zaum und Zügel muss man ihr Ungestüm bändigen« (Ps 32,9): Ein Beitrag zur christlichen Hebraistik und antijüdischen Polemik im Mittelalter. Frankfurt 1997. 25 Lightfoot, John B.: Horae hebraicae et talmudicae. 6 Bde. London 1658 – 1678; (Strack, Hermann L.); Billerbeck, Paul: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch. 6 Bde. München 1921 – 1961; Instone Brewer, David: Traditions of the Rabbis from the Era of the New Testament. Grand Rapids, Mich. Band 1 Zeraim 2004; Band 2 A Moed 2011 (insgesamt sechs Bände gemäß den Traktaten der Mischna geplant).

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Jahren dann auch mit jüdischer Beteiligung), die nun langsam wieder fortgesetzt, doch 1991 abgebrochen wurde.26 Als das neue Fach Judaistik in philosophischen Fakultäten eingerichtet wurde, wurde es gewöhnlich in den Bereich der Orientalistik eingebunden, deren Teilfächer damals noch fast ausschließlich historisch orientiert waren. Das hat sicher auch die Ausrichtung der noch jungen Judaistik mitbestimmt. Fragen nach der Gegenwart des Judentums wurden aus verschiedenen Gründen ausgeklammert; es gab kaum noch Juden im deutschsprachigen Raum, und die wenigen, die hier langsam wieder oder erstmals Fuß fassten, hatten andere Interessen. Wer sich vor der Shoah rechtzeitig retten konnte, wie Chanokh Albeck, Alexander Guttmann, Ephraim E. Urbach, Joseph Heinemann, hatte kein Interesse, nach Deutschland zurückzukehren und hätte auch kaum einen Platz in der akademischen Welt gefunden. Und natürlich hatten auch sie alle ihren wissenschaftlichen Schwerpunkt in der Spätantike, wie es für den Großteil der Wissenschaft des Judentums selbstverständlich gewesen war. Zwar fanden schon bald die Texte von Qumran Eingang auch in das Lehrangebot der neuen judaistischen Programme und später dann eigenen Institute. An diesen Texten waren aber auch die biblischen Fächer der theologischen Fakultäten wegen ihrer Bedeutung für die Anfänge des Christentums sehr interessiert und sind es weithin heute, viel mehr als die judaistischen Institute. In diesen haben die Schriften von Qumran die rabbinischen Texte als Kern des Studiums nirgends verdrängen können. Diese talmudische Ausrichtung war wohl nirgends so ausgeprägt wie in Wien, wo lange die tägliche Talmudstunde noch Pflicht für alle bis zur Promotion war ; erst später ging das mit der immer stärkeren Formalisierung der Studienpläne zurück. Aber überall befanden sich rabbinische Übungen im Kernangebot, und so war es dann auch in Luzern, wohin Clemens Thoma etwas von der Wiener Tradition mitbringen konnte. Das wirkte sich natürlich auch in den Dissertationsthemen und den Publikationen der Lehrenden aus. Zahlreiche Arbeiten galten Themen der rabbinischen Theologie; aber auch Editionen rabbinischer Texte und kommentierte Übersetzungen wurden erarbeitet: Nicht nur die Gießener Mischna wurde fortgeführt, auch die Ausgabe und Übersetzung der Tosefta und die kommentierten Übersetzungen der halakhischen Midraschim bekamen neuen Schwung. Waren bei diesen Projekten aufgrund der Vorgeschichte noch immer fast ausschließlich die theologischen Fakultäten beteiligt, so kamen doch von den lange vergleichsweise kleinen judaistischen Instituten beachtliche Beiträge: 26 Die Mischna: Text, Übersetzung und ausführliche Erklärung. Begründet von Georg Beer und Oscar Holtzmann. Hg. v. Karl Heinrich Rengstorf und Leonhard Rost. 45 Bde. Gießen; Berlin 1912 – 1991. Nur die erste Ordnung, Zera’im, ist vollständig.

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Genannt seien hier nur die kommentierte Übersetzung und die synoptische Edition des palästinischen Talmud, die in der Erforschung des Yerushalmi Maßstäbe setzen,27 die zahlreichen Arbeiten zur Pesiqta Rabbati des Frankfurter Instituts unter Arnold Goldberg, inzwischen durch die synoptische Textausgabe von Rivka Ulmer abgeschlossen,28 und die grundlegenden Forschungen zu den Gleichnissen der Rabbinen, die Clemens Thoma zusammen mit Simon Lauer, später dann mit Hanspeter Ernst in vier Bänden vorgelegt hat.29 Im Schweizer Kontext darf natürlich auch Hans Bietenhard nicht unerwähnt bleiben, der anfangs an der Gießener Mischna beteiligt war, später eine kommentierte Übersetzung von Tosefta Sota herausbrachte und mit Übersetzungen von Sifre Devarim und Tanchuma Buber auch die Midraschforschung voranbrachte.30 Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte brachte eine immer stärkere Ausweitung der Themenbereiche, die in Judaistik-Studien nachgefragt und durch die starke Zunahme an Lehrenden auch angeboten werden konnten. Damit bekam das Judentum der frühen Neuzeit und der Gegenwart, das auch früher nie völlig ausgeklammert war, ein anderes Gewicht. Das wirkte sich schon auf die erneuerten Studienpläne der achtziger und neunziger Jahre aus und wurde durch die Bologna-Reform nochmals verstärkt. Schon länger hatte das Konzept der Jüdischen Studien sich von der traditionellen Judaistik dadurch abzugrenzen versucht, dass der (vermeintliche) Ballast der Sprachausbildung abgeworfen und die der Judaistik vorgeworfene Textzentriertheit zugunsten kulturwissenschaftlicher Zugänge ersetzt wurde: Das Judentum der Gegenwart, wie es sich in Film, Literatur und Kunst ausdrückt und durch soziologische oder politologische Methoden erforscht wird, rückte in den Mittelpunkt. Inzwischen ist das Pendel wieder ein wenig zurück geschwungen: Auch die »Jüdischen Studien« haben sich wieder stärker traditionellen Zugängen geöffnet und sehen darin zumindest eine notwendige Ergänzung der Gegenwartsthemen; auch betonen 27 Übersetzung des Talmud Yerushalmi. Hg. v. Martin Hengel, Peter Schäfer u. a. Tübingen 1975 ff. (die fehlenden fünf Traktate sollen in absehbarer Zeit erscheinen); Synopse zum Talmud Yerushalmi. Hg. v. Schäfer, Peter; Becker, Hans-Jürgen. 4 Bände in 7 Teilen, Tübingen 1991 – 2001. 28 Ulmer, Rivka: Pesiqta Rabbati. A Synoptic Edition of Pesiqta Rabbati Based upon All Extant Manuscripts and the Editio Princeps. 3 Bde. Atlanta; Lanham 1997 – 2002. Für weitere Bibliographie siehe Stemberger, Günter : Einleitung in Talmud und Midrasch. München 92011, S. 328 – 330. 29 Thoma, Clemens; Lauer, Simon; Ernst, Hanspeter : Die Gleichnisse der Rabbinen. 4 Bde. Bern 1986 – 2000. 30 Bietenhard, Hans: Der Tosefta-Traktat Sota. Hebr. Text mit krit. Apparat, Übers., Komm., Bern 1986; ders.: Der tannaitische Midrasch »Sifre Deuteronomium«. Bern 1984; ders.: Midrasch Tanhuma B. R. Tanhuma über die Tora genannt Midrasch Jelammedenu. 2 Bde. Bern 1980 – 82. Für weitere Literatur zur deutschsprachigen rabbinischen Forschung (natürlich nicht mehr ganz auf dem neuesten Stand) siehe Stemberger, Günter : Talmud und Rabbinische Literatur, in: Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen nach dem Holocaust. Hg. v. Michael Brenner; Stefan Rohrbacher. Göttingen 2000, S. 121 – 133; 225 – 227.

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sie wieder stärker die Notwendigkeit hebräischer Sprachkenntnisse. Andererseits hat auch die traditionelle Judaistik sich den neuen Fragestellungen und Methoden geöffnet, sodass die Unterschiede zwischen beiden Ansätzen fast nur noch graduell sind. Eine Folge der Entwicklung ist natürlich, dass im engen Korsett von Bologna und ECTS-Punkten, die auf die verschiedenen Perioden und Gebiete jüdischer Studien aufgeteilt werden müssen, die Sprachausbildung weniger Raum erhält und die Stundenzahl, die für rabbinische Texte oder auch für mittelalterliche Quellentexte zur Verfügung steht, drastisch reduziert wurde. Oft versucht man, im Unterricht rabbinische Texte verstärkt in Übersetzung zu studieren. So vermittelt man zumindest eine breitere Kenntnis rabbinischer Literatur und eine gewisse Vertrautheit mit ihr, was beim Festhalten an Originaltexten nicht in diesem Umfang möglich wäre. Andererseits geht dabei vieles verloren, was an der sprachlichen Gestalt dieser Texte und ihrer oft so kunstvollen Formulierung hängt – Rhythmus und Klang, Struktur und Prägnanz so vieler halakhischer wie auch haggadischer Texte – und sich in Übersetzung nur höchst unvollkommen wiedergeben lässt. Wer je versucht hat, einen längeren rabbinischen Text zu übersetzen, weiß, wovon ich rede. Wir können das Rad nicht völlig zurückdrehen, doch muss ein Weg gefunden werden, wie das große Erbe des klassischen Judentums, als das wir zu Recht das rabbinische Judentum bezeichnen, auch weiterhin bewusst und in einem möglichst großen Umfang auch bekannt bleibt.

4.

Die bleibende Basis jüdischer Kultur

Mit der jüdischen Kultur, Religion und Literatur der Gegenwart kann man sich nicht sinnvoll tiefer beschäftigen, wenn man die rabbinische Tradition nicht kennt. Das gilt natürlich in erster Linie vom religiösen Kontext, dem Gebetbuch, dessen traditionelle Texte ja fast alle in rabbinischer Zeit entstanden sind, vom Schabbat, dessen heutige Praxis weitgehend eine Entwicklung der Rabbinen ist, und den vielfältigen Bräuchen im Jahreszyklus, der Pessach-Haggada oder dem Brauchtum zu Sukkot und Simchat Tora. Für die Details zum koscheren Essen genügt es nicht, sich auf die biblischen Speiseverbote zu berufen; dass Wein, Öl, Brot oder Käse nicht koscher sein können, ist eine Entwicklung der Spätzeit des Zweiten Tempels und vor allem der rabbinischen Zeit. Ich könnte mit dem Familienrecht fortfahren, den Vorschriften zu Eheschließung, Ketubba und Scheidung, dem Problem der Agunot oder der Chalitsa, um nur einige Themen zu nennen, die noch immer aktuell sind, auch wenn nichtreligiöse Juden sich kaum darum kümmern; spätestens bei einer Hochzeit in Israel kann das aber schnell akut werden. Ebenso wirken viele handelsrechtliche Lösungen der

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Rabbinen bis heute nach, nicht nur im Zinsverbot unter Juden (von israelischen Banken durch halakhische Konstruktionen, die auf die Rabbinen zurückgehen, umgangen), und vieles andere mehr. Schon erwähnt habe ich kulturelle Verschiebungen größeren Ausmaßes, die auf die rabbinische Zeit zurückgehen: Man denke etwa an die Einstellung zur Todesstrafe, die es in Israel de facto nicht gibt, obwohl sie in den sonst weithin übernommenen Rechtsgrundlagen des Staates Israel, dem britischen und dem türkischen Recht, damals noch selbstverständlich war. Auf rabbinische Auffassungen lässt sich auch das jüdisch viel früher als in der nichtjüdischen Umwelt durchgesetzte Recht der Frau zu außerhäuslicher Arbeit, ebenso der Zugang von Frauen zum Universitätsstudium zurückführen: nach rabbinischer Auffassung sind nur Männer zum exklusiven Studium der Tora verpflichtet; Mädchen hingegen gereicht Griechischlernen zur Zierde, wie R. Yohanan gesagt haben soll (ySota 9:15,24c). Ein Erbe der rabbinischen Tradition ist insgesamt natürlich die Ethik des Lernens, die Liebe zum Buch. Nicht so klar ist, wieweit die Tradition rabbinischen Lernens etwa auch die Entwicklung der Psychoanalyse und allgemeiner der Psychologie beeinflusst hat, oder wie das durch die talmudische Diskussion geförderte abstrakte Denken den Zugang zur Mathematik, zur Informatik oder auch zum Schachspiel erleichtert hat, wie oft behauptet wird. Um hier gewisse Stärken jüdischer Tradition zu sehen, bedarf es nicht notwendig der Kenntnis speziell rabbinischer Traditionen. Anders ist es schon beim Einfluss rabbinischen Denkens auf die moderne Philosophie, auf Ethik, Sprachphilosophie und Hermeneutik (man denke nur an Emmanuel L¦vinas mit seinem starken Hintergrund rabbinischen Lernens). Nennen möchte ich nur noch ein anderes Beispiel: Robert J. Aumann, Professor an der Hebräischen Universität und Nobelpreis für Wirtschaft 2005, verwendet die Spieltheorie gerne auch zur Lösung talmudischer Probleme.31 Zum Schluss sei nur noch ein zentraler Bereich genannt, für dessen Verständnis man ohne gewisse Kenntnis der rabbinischen Tradition kaum auskommt: die moderne jüdische Literatur. Das gilt schon von der deutschen jüdischen Literatur, in der immer wieder fast selbstverständlich Einsprengsel rabbinischer Dicta kommen, auch wenn es nicht um traditionell jüdische Milieus geht, die ein Autor schildert. Das hat jüngst zum Beispiel wieder eine Arbeit

31 Ein altes talmudisches Rätsel, das Robert Aumann bei einem Vortrag in Wien mit der Spieltheorie erklärte, ist die Aufteilung des Nachlasses, wenn dieser nicht für die volle Befriedigung der unterschiedlichen Rechtsansprüche der drei Frauen eines Verstorbenen ausreicht (Mischna Ketubbot 10,4). Analog sei bei einer geschäftlichen Partnerschaft aufzuteilen. Siehe dazu Aumann, Robert J.; Maschler, Michael: Game theoretic analysis of a bankruptcy problem from the Talmud, in: Journal of Economic Theory 36 (1985), S. 195 – 213.

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zu Soma Morgenstern gezeigt,32 ist aber auch für Werke Kafkas oder Celans bekannt.33 Vor allem gilt das natürlich für die hebräische Literatur Israels, nicht nur für Gedichte Bialiks wie Ha-Matmid mit dem talmudischen Refrain Qamashma lan, nicht nur für einen Klassiker wie Shmuel J. Agnon,34 sondern gilt in verschiedenem Maß auch für ganz rezente Autoren. Inhalte, Vorstellungen, aber vor allem auch immer wieder sprachliche Wendungen, Zitate und Halbzitate verweisen immer wieder zurück auf die rabbinische Tradition; dass viel davon oft in Übersetzungen ins Deutsche oder Englische verloren geht, ist nur zu verständlich. Wieweit das neue japanische Computerspiel »El Shaddai: Ascension of the Metatron« zum Verständnis des Hintergrunds rabbinische Kenntnisse braucht, kann ich nicht sagen, doch insgesamt möchte ich doch behaupten: Das rabbinische Judentum ist und bleibt die Basis jüdischer Kultur. Wer auf seine Kenntnis, wie auch immer sie im heutigen Studium vermittelt werden kann, verzichtet, tut dies zu seinem Nachteil.

32 Da˛browska, Anna: Interkulturalität im Schaffen Soma Morgensterns. Krakau 2011. 33 Siehe etwa Grözinger, Karl Erich: Kafka und die Kabbala. Das Jüdische im Werk und Denken von Franz Kafka. Berlin 2003. Für einige neuere Beispiele sei auf das kleine Buch verwiesen: Bodenheimer, Alfred; Breysach, Barbara (Hg.): In den Himmel gebissen. Aufsätze zur europäisch-jüdischen Literatur. München 2011. 34 Dazu zuletzt Hoshen, Dalia: A Story Is (Not) a Sugya in the Gemara. On S. Y. Agnon’s Novels, in: Review of Rabbinic Judaism 14 (2011), S. 188 – 207: Das Zitat im Titel stammt aus Agnons Erzählung Ad hena.

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Hebräisch in Deutschland Eine wechselvolle Geschichte

Die Geschichte der hebräischen Sprache im neuzeitlichen Deutschland ist ein Spiegel der deutsch-jüdischen Geschichte – und zwar sowohl ihres Triumphes wie auch ihrer Tragödie.1 Hebräisch war das Mittel zur Herausbildung einer modernen und selbstbewussten jüdischen Identität im Zeitalter der Haskala – und es diente als Medium in den Konversionsbestrebungen gegenüber den Juden. Hebräisch wurde im Kampf um die Wiedergeburt des jüdischen Volkes eingesetzt – und im Zuge seiner Vernichtung missbraucht. Im Folgenden können nur einige Impressionen dieser wechselvollen Geschichte während der Neuzeit dargestellt werden.

1.

Triumph

Wie so oft, stand auch in dieser Geschichte Moses Mendelssohn am Anfang. Er versuchte, die hebräische Sprache als säkulare Sprache wiederzubeleben und schuf hierfür seine kurzlebige, an eine gebildete deutsch-jüdische Leserschaft adressierte Zeitschrift kohelet mussar. Seine Schüler setzten diesen Versuch etwas erfolgreicher in der immerhin über mehrere Jahre bestehenden Zeitschrift ha-meassef fort. »Ich habe deutlich gesehen, wie unsere jüdischen Brüder die hebräische Sprache im Stich gelassen haben und ich bin darüber zutiefst traurig. Ich weiss nicht, wie es zu diesem Übel kam und was sie dazu veranlasst hat, die Krone der glänzenden Schönheit auf den Boden zu werfen. Ist sie denn nicht die schönste aller Sprachen? … Lasst uns von den anderen Nationen lernen, die alle ihre eigene nationale Sprache haben. Warum sollen wir am Boden liegen, anstatt mit der prächtigsten und ältesten aller Sprachen ihre Taten nachzuahmen?«2

1 Dieser Aufsatz beruht auf einem an der University of Chicago gehaltenen Vortrag und wurde in englischer Sprache in veränderter Form in Prooftexts 33.1 (Winter 2013) veröffentlicht. 2 Breuer, Edward; Sorkin, David: Moses Mendelssohn’s First Hebrew Publication. An Anno-

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Diese anonym publizierte Schrift aus den 1750er Jahren zeigt den bedrückenden Stand der hebräischen Sprache zu jener Zeit an. Mendelssohn bediente sich des biblischen Vokabulars, um eine moderne Sprache für seine Zeit zu schaffen. Mendelssohn stand auch in anderer Beziehung am Anfang: unter den drei ersten Büchern, die im 18. Jahrhundert aus dem Deutschen ins Hebräische übersetzt wurden, befanden sich zwei seiner Schriften: Phaedon (1787) sowie ein Band seiner Briefe (1794).3 Letztlich blieb Mendelssohns Versuch der Revitalisierung des Hebräischen unter den deutschen Juden der Erfolg versagt. Sie wechselten von ihrem westjiddischen Dialekt ins Hochdeutsche und nicht ins Hebräische. Hierzu trug Mendelssohns Bibelübersetzung das ihrige bei. Hebräisch blieb zum einen, was es vorher war : die Sprache des Gebets und des Studiums unter der immer geringer werdenden traditionellen bzw. orthodoxen Minderheit der deutschen Juden. Zudem erlangte es durch die in den 1820er Jahren entstehende Bewegung der Wissenschaft des Judentums als Wissenschaftssprache einen gewissen Wert. Als lebendige Sprache wurde es hier freilich nicht angesehen. In seinem 1818 verfassten grundlegenden Aufsatz »Etwas über die rabbinische Litteratur« äußerte Leopold Zunz, der Begründer der neuen Disziplin, die Befürchtung, dass es in hundert Jahren schwierig sein würde, ein hebräisches Buch zu finden und noch schwieriger, jemanden ausfindig zu machen, der es lesen und verstehen würde.4 In einer posthum überlieferten Anekdote soll sich Zunz gegen Ende seines langen Lebens überrascht gezeigt haben, als ihm ein »hebräischer Schriftsteller« vorgestellt wurde. Jitzchak Leib Gordon zufolge hätte Zunz ihn befremdet angesehen und dann gefragt »Wann haben Sie gelebt?«5 Bei Zunz’ Tod 1886 hatte die osteuropäische Haskala bereits erfolgreich mit der Wiederbelebung der hebräischen Sprache als einer modernen Literatursprache begonnen. Zunz’ Befürchtung, im Jahre 1918 würde es keine hebräischen Bücher mehr geben, erwies sich also als zu pessimistisch. Moderne Schriftsteller osteuropäischen Hintergrunds, wie Micha Yosef Berdyczewski, Yosef Hayim Brenner und Hayim Nachman Bialik begannen in diesen Jahren, einen modernen hebräischen Kanon zu schaffen. Ihre Leser kamen auch aus dem deutschsprachigen Judentum. Franz Kafka bemühte sich mit Hilfe seiner Privatlehrerin, einen hebräischen Roman von Brenner zu übersetzen und Gerhard Scholem machte tated Translation of the Kohelet Mussar, in: Year Book of the Leo Baeck Institute 48 (2003), S. 8 – 10. 3 Shefi, Naama: Germanit be-ivrit. Targumim mi-germanit ba-Yishuv ha-ivri, 1882 – 1948. Jerusalem 1998 (dt. Vom Deutschen ins Hebräische. Übersetzungen aus dem Deutschen im jüdischen Palästina 1882 – 1948. Göttingen 2011). 4 Zunz, Leopold: Etwas über die rabbinische Litteratur. Berlin 1818, S. 4. 5 Wieseltier, Leon: Etwas über die jüdische Historik. Leopold Zunz and the Inception of Modern Jewish Historiography, in: History and Theory 20/2 (May 1981), S. 148.

Hebräisch in Deutschland

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seine ersten Hebräischübungen auf dem Weg zum Studium diffiziler kabbalistischer Texte. Franz Rosenzweig studierte Hebräisch, um später gemeinsam mit Martin Buber die Bibel zu übersetzen, während Walter Benjamin sich zumindest die Grundkenntnisse des Hebräischen anzueignen versuchte. Manche bildeten sich nur ein, auf Hebräisch zu schreiben, wie etwa die Dichterin Else LaskerSchüler. All diesen später zu Ruhm gelangten jüdischen Intellektuellen war gemein, dass sie Hebräisch eben gerade nicht als eine antiquierte verstaubte Sprache betrachteten, sondern als eine Sprache, die sich eine aufmüpfige Jugend gegen die bürgerliche, zur Assimilation neigende Vätergeneration aneignete. Gershom Scholem notierte 1916 in sein Tagebuch: »In Berlin ist augenblicklich Hochflut des Hebräischen. Alle möglichen Leute wollen lernen, lernen, oder – haben schon wieder aufgehört zu lernen. Das Hebräische ist ein wenig – ich fürchte sogar sehr : zur Salonangelegenheit geworden. Die gesuchtesten Menschen im ›zionistischen Berlin‹ sind augenblicklich zweifellos die Palästinenser, an die sich alle wie an die Erlösung drängen.«6

Für diese Kreise spielte die Zuwanderung osteuropäischer, oftmals dem Zionismus zugeneigter Juden eine bedeutende Rolle. Zunächst gruppierten sie sich in Berlin um das Jüdische Volksheim, 1919 entstand dann die Hebräische Sprachschule, in der ca. 200 Schüler pro Jahr eingeschrieben waren. Berlin war bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu einem Zentrum hebräischer Kultur geworden. Berliner Kaffeehäuser, wie das Monopol und das Caf¦ des Westens wurden am Vorabend des 1. Weltkriegs zum Treffpunkt der Hebraisten. So erinnert sich Ittamar Ben-Avi, der Sohn des Erneuerers der hebräischen Sprache Elieser Ben-Jehuda und das erste in Neuhebräisch erzogene Kind, an eine hebräischsprachige Ecke im Caf¦ Monopol – frequentiert von zahlreichen der bekanntesten hebräischen Schriftsteller dieser Tage. Einen Höhepunkt erlebte die hebräische Sprachbewegung in Berlin vor dem 1. Weltkrieg mit der Organisation der ersten »Konferenz für hebräische Sprache und Kultur« im Oktober 1909. Einer ihrer Organisatoren war der junge Martin Buber, der aktiv in der zionistischen Bewegung tätig war und sich durch die Herausgabe seiner chassidischen Geschichten bereits einen Namen in der deutschen und deutsch-jüdischen Öffentlichkeit gemacht hatte. Der später an der Hebräischen Universität in Jerusalem lehrende Philosoph musste seine Begrüßungsrede jedoch in deutscher Sprache abhalten, denn – so betonte er – er sei leider nicht in der Lage, auf Hebräisch zu denken.7

6 Scholem, Gershom: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923, 1. Halbband 1913 – 1917. Hg. v. Karlfried Gründer und Friedrich Niewöhner. Frankfurt am Main 1995, Eintrag vom 22.11.16, S. 430. 7 Buber, Martin: Die hebräische Sprache und der Kongreß für hebräische Kultur, in: Jüdische

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Wer die Ehrenreihe der Gräber auf dem Jüdischen Friedhof in Weissensee abschreitet, begegnet den Namen der in kurzem Abstand in Berlin verstorbenen hebräischen Schriftsteller Yosef Hayim Berdyczewski, David Frishman und Shai Ish Hurwitz, die alle in Berlin gelebt hatten und im Abstand nur weniger Monate von Ende 1921 bis Anfang 1922 hier verstorben waren. Zu diesem Zeitpunkt war Berlin das unbestrittene Zentrum der hebräischen Literatur geworden, in dem Dichter wie Uri Zwi Greenberg und Saul Tschernichowski, Erzähler wie der spätere Nobelpreisträger Shmuel Joseph Agnon, und Publizisten wie Achad Ha’am und Jakob Klatzkin wirkten. Gleichzeitig wurde das Deutschland der Weimarer Republik zum Zentrum des hebräischen Verlagswesens: Chaim Nachman Bialik gründete hier seinen Dwir-Verlag, der in Israel später zu einem der renommiertesten literarischen Verlage in hebräischer Sprache avancierte, Klatzkin gab in seinem Eschkol-Verlag neben der deutschsprachigen Encyclopaedia Judaica (die zehn bis 1934 erschienenen Bände reichten bis zum Buchstaben L) auch zwei Bände des ersten und bisher einzigen hebräischen JudaicaLexikons heraus, die spätere israelische Politikerin Schoschana Persitz machte ihren in Bad Homburg beheimateten Omanuth-Verlag zum Zentrum für jüdische Kunst und der Philosoph Simon Rawidowicz veröffentlichte in seinem KlalVerlag Neuausgaben hebräischer Klassiker. Von 1921 bis 1923 erschien das offizielle hebräische Organ der zionistischen Weltorganisation, Ha-Olam (Die Welt), in Berlin. Bialiks fünfzigster Geburtstag wurde mit einer feierlichen Zeremonie in der Berliner Philharmonie begangen. Fast alle namhaften hebräischen Verlage waren zur Zeit der Inflation in Berlin beheimatet. Zwar zogen die meisten Dichter und Verlage Mitte der zwanziger Jahre weiter nach Tel Aviv, Paris oder New York, doch gab es noch genügend hebräischsprachige Präsenz, um es dem Philosophen Simon Rawidowicz zu ermöglichen, 1931 die erste Knessia Ivrit einzuberufen, die an der Spree den Hebräischen Weltverband (Knessia Ivrit Olamit) gründete. Als während der zwanziger Jahre die erste hebräische Theatertruppe, die in Moskau beheimatete (und heute als Israels Nationaltheater fungierende) Habimah, mehrmals Deutschland bereiste, übertrafen die enthusiastischen Reaktionen selbst unter weitgehend assimilierten deutschen Juden jegliche Erwartungen. Der Kritiker Alfred Kerr war fasziniert von Schauspielern, die wieder »den alten Laut, Bibel-Laut, der mir leider fremd ist [reden] – obschon man, aller Abstammungswahrscheinlichkeit nach als Cousins Erzengel in der Familie hat, und Heerscharen und so.«8 Für Kerr blieben die Habimah-Gastspiele »etwas Rundschau, 14. Januar 1910, S. 13. Der folgende Abschnitt beruht auf meinem Buch Die Renaissance jüdischer Kultur in der Weimarer Republik. München 2000, Kapitel 6. 8 Zitiert in Jüdische Rundschau, 29. Oktober 1926, S. 608.

Hebräisch in Deutschland

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lebenslang Unvergeßbares«, Max Reinhardt fand sie »hinreissend« und Albert Einstein schrieb an die Habimah-Truppe: »Ihre Leistung war von wahrhaft monumentaler Größe und vermittelte mir wohl den größten Eindruck, den ich bisher in einem Schauspiel erlebt habe.«9 Der Wiener Schriftsteller Richard Beer-Hofmann, dessen Drama »Jaakobs Traum« in hebräischer Version aufgeführt wurde, begeisterte sich hierfür : »Was da sonderbar fremdartig von oben erklang, in einer Sprache, die ich nicht verstand, aber in einer Musik, die mir irgendwie von alther vertraut erschien – war doch in seiner Gesamtheit mir und meinem Blute verwandt.«10

Weder Kerr noch Beer-Hofmann verstanden auch nur einen hebräischen Satz, und dennoch ging von der hebräischen Sprache eine ungeheure Faszination aus. Für alle diese höchst akkulturierten deutschen Juden verkörperte Hebräisch – wie übrigens auch Jiddisch – die Wiederentdeckung einer, bei sich selbst verloren geglaubten, jüdischen »Authentizität«. Simon Rawidowicz hat wohl kaum übertrieben, als er 1932 in einem Rückblick auf die frühen zwanziger Jahre – unter Anspielung auf den Gebetsvers »Von Jerusalem ergeht das Wort Gottes« – notierte: »Aus Deutschland ging damals das hebräische Wort nach Palästina und in alle Diasporaländer.«11

2.

Tragödie

Die Hochachtung vor der hebräischen Sprache war bekannterweise ja nicht immer mit einer Hochachtung vor den Juden verbunden. Ausgerechnet jene Wittelsbacher Herzöge, die die Juden aus Bayern vertrieben hatten, wurden zu großen Sammlern hebräischer Handschriften und später auch Drucke. Humanistische Gelehrte hielten die hebräische Sprache in allen Ehren, verfassten aber gleichzeitig hasserfüllte Pamphlete gegen die Juden. Mancherorts wurden sogar hebräische Druckereien eingerichtet, um den Sohar und andere kabbalistische Werke zu drucken und damit den christlichen Charakter der Kabbala nachzuweisen. Im 19. Jahrhundert knüpften die großen christlichen Hebraisten an die Tradition der Judenmission an.12 Friedrich Delitzschs Bibelkommentare verrieten 9 Brief von Einstein an Mitglieder des Habimah, 18. Dezember 1929. Abgedruckt in: Kreis der Freunde des Habimah (Hg.): Habimah. Berlin o. J., [unpaginiert]. 10 Jüdische Rundschau, 29. September 1926, S. 545. 11 Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, 1. Juni 1931, S. 166. 12 Zum nachfolgenden Abschnitt ausführlicher in Brenner, Michael: Nichtjüdische Historiker und jüdische Geschichte: Der Wandel in der Wahrnehmung von außen. Franz-DelitzschVorlesung 2005. Münster 2006.

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eine Gelehrsamkeit auf dem Gebiet der hebräischen Sprache und der jüdischen Geschichte und Literatur, wie sie selbst unter den herausragenden Vertretern der Wissenschaft des Judentums selten war. Gleichzeitig war Delitzsch einer der entschiedensten Kämpfer gegen antisemitische Vorurteile. So verurteilte er in seiner Schrift Rohlings Talmudjude (1881) den Versuch des Pseudo-Talmudgelehrten August Rohling, den Talmud zu diskreditieren und wandte sich in Schachmatt den Blutlügnern Rohling und Justus (1883) gegen den Ritualmordvorwurf, der im ungarischen Tisza-Eszlar gegen Ende des 19. Jahrhunderts wieder aufflammte. Delitzschs Interesse am Judentum beschränkte sich jedoch nicht nur auf seine wissenschaftliche Arbeit und den Kampf gegen antisemitische Verleumdungen. Wie kein zweiter förderte Delitzsch die Judenmission im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Bereits als Fünfundzwanzigjähriger betrieb er während Besuchen auf der Leipziger Messe Missionsarbeit, indem er selbstverfasste Traktate verteilte, jüdische Kinder in christliche Familien vermittelte und Krankenbesuche machte.13 Seit 1846 ordentlicher Professor für protestantische Theologie, gab er seit 1863 die Missionszeitschrift Saat auf Hoffnung heraus, gründete 1871 den »Lutherischen Centralverein für die Mission unter Israel« und 1886 schließlich das Leipziger Institutum Judaicum, das sich der missionarischen Tätigkeit widmete. In den letzten, kurz vor seinem Tode erschienenen Schriften über das Judentum unterstrich Delitzsch seine Auffassung von der Geschichte des Judentums als Vorgeschichte des Christentums14 und rief die Juden eindringlich zur Taufe auf: »Brüder aus Israel, durchbrecht doch endlich den Bann des Unglaubens, damit der Kreislauf der Erbarmungen sich vollende.«15 Sollte Israel jedoch weiter in seinem »Unglauben« verharren, »so gibts für Euch kein Morgenrot!«16 Delitzschs Hebraismus und Kampf gegen den Antisemitismus waren nicht immer ohne inneren Konflikt mit seiner Missionstätigkeit zu vereinbaren. Delitzsch selbst bekannte, »wer Israel liebt, aber auch Jesus liebt, wird in die schmerzlichste Collision der einen Liebe mit der andern hingerissen…«17 Dennoch hat er seine »Liebe für Israel« und seine Missionstätigkeit niemals als Gegensätze verstanden. Er betrachtete den Antisemitismus als größtes Hindernis auf dem Weg zur Judentaufe und folgte damit der von ihm häufig ausgegebenen Devise: »Redet freundlich mit Jerusalem«. Delitzschs »Liebe für Israel« war weniger eine Liebe gegenüber Juden, als gegenüber potentiellen 13 Wagner, Siegfried: Franz Delitzsch. Leben und Werk. München 1978, S. 151. 14 Delitzsch, Franz: Sind die Juden wirklich das auserwählte Volk? Leipzig 1889, S. 57. In derselben Schrift fordert Delitzsch die Juden offen zur Konversion zum Christentum auf. Ebd. S. 60 – 61. 15 Delitzsch, Franz: Ernste Fragen an die Gebildeten jüdischer Religion. Leipzig 1888, S. 72. 16 Saat auf Hoffnung. Zeitschrift für die Mission der Kirche an Israel, Bd. 65 (1928), S. 69. 17 Delitzsch, Franz: Christentum und jüdische Presse. Erlangen 1882, S. 4.

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Christen, gemäß Luthers Grundsatz: »Darum sollen wir die Juden nicht so unfreundlich behandeln, denn es sind noch zukünftige Christen unter ihnen …«18 Dem von Delitzsch begründeten Leipziger Institutum Judaicum folgten weitere ähnliche Gründungen an anderen deutschen Universitäten.19 Das wichtigste dieser Institute schuf Hermann Strack an der Berliner Universität. Der Theologe und Orientalist Strack erinnert in seiner Beziehung zum Judentum in vielerlei Hinsicht an Delitzsch. Wie dieser zog er gegen antisemitische Verleumdungen zu Felde20 und trug mit zahlreichen Veröffentlichungen zur Verbreitung der Kenntnis von jüdischer Literatur bei.21 Von herausragender Bedeutung ist seine Einleitung in Talmud und Midrasch (1887), die in zahlreichen neubearbeiteten Auflagen und Übersetzungen bis heute als Standardwerk für die Einführung in den Talmud gilt. Wie Delitzsch war auch Strack nicht der Meinung vieler seiner theologischen Kollegen, die Juden zur Zeit des Zweiten Tempels als ein morsches und morbides »Spätjudentum« zu charakterisieren, das nach dem Auftreten Jesu jegliche Vitalität verloren hätte. Stracks Absicht war die Widerlegung eines negativen Judenbildes, das nicht zuletzt durch ein verfälschtes Bild des Talmud entstanden war. Im Gegensatz zu Delitzsch hielt sich Strack in seinen Veröffentlichungen von christologischen Deutungen jüdischer Quellen weitgehend fern. Dennoch gilt auch bei ihm, was bereits das Jüdische Lexikon von 1927 feststellte, dass er »wohl bei all seinen Arbeiten für das Judentum im letzten Grunde von der Idee der Judenmission geleitet« war.22 Als er am Vorabend des 1. Weltkriegs sein Institutum Judaicum Berolinense in ein »Seminar vom nachbiblischen Judentum« umwandeln wollte und zu diesem Zweck auch einen jüdischen Lehrassistenten einzustellen beabsichtigte, machte er in seinem Antrag an die Theologische Fakultät klar, dass dieser von einem christlichen Professor völlig abhängig zu sein habe. Die Kenntnis des nachbiblischen Judentums könne »durch Juden, selbst bei bestem Willen und großer Gelehrsamkeit, nicht in einer die berechtigten Ansprüche von Christen wirklich befriedigenden Weise vermittelt werden«23. Es ist im Übrigen 18 Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt (1521), abgedruckt in: Bienert, Walther: Martin Luther und die Juden. Frankfurt am Main 1982, S. 67. 19 Bereits im Jahre 1728 begründete I. H. Callenberg ein Institutum Judaicum an der Universität Halle, das jedoch kontinuierlich nur bis 1792 bestand. Vgl. Aring, Paul Gerhard: Christen und Juden heute – und die »Judenmission«? Geschichte und Theologie protestantischer Judenmission in Deutschland, dargestellt und untersucht am Beispiel des Protestantismus im mittleren Deutschland. Frankfurt am Main 1987, S. 51 – 154. 20 Vgl. z. B. Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit, 8. Aufl. Leipzig 1900; Sind die Juden Verbrecher von Religionswegen? Leipzig 1900; Jüdische Geheimgesetze? Berlin 1920. 21 Vgl. etwa: Hebräische Grammatik mit Übungsbuch. München 1917, oder Jüdischdeutsche Texte. Leipzig 1917. 22 Kirschner, Bruno: Strack, Hermann Leberecht, in: Jüdisches Lexikon, Bd. IV/2, Sp. 735. 23 Zitiert bei Wiese, Christian: Ein »aufrichtiger Freund des Judentums«? »Judenmission«,

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interessant, diese Bemerkung mit einer Widmung Delitzschs an den hebräischen Schriftsteller Max Letteris in Wien zu vergleichen, in der er diesem gestand, vorliegende Zeilen nicht auf Hebräisch zu schreiben, da er sich bewusst sei, »dass der hebräische Styl einen feinen Takt, einen signon erfordert, welches der NichtIsraelit kaum sich aneignen kann«24. Forschungen zum Judentum blieben auch während der Weimarer Republik – neben den Rabbinerseminaren – im Wesentlichen Sache theologischer oder sogar missionarischer Organisationen. Die Forderung der wichtigsten Forscher der Wissenschaft des Judentums, an deutschen Universitäten einen Lehrstuhl auf diesem Gebiet einzurichten, verhallte ungehört. Es gehörte zu den tragischen Ironien des Dritten Reichs, dass nach 1933 das Thema Judentum an akademischen Einrichtungen in Deutschland plötzlich ernstgenommen wurde. Allerdings geschah dies nicht unter den Vorzeichen einer wertfreien Wissenschaft, sondern im Rahmen der ideologisch bedingten »Gegnerforschung«. Während die Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich Vernichtung der Juden im von Nationalsozialisten beherrschten Europa immer mehr Opfer forderte, fütterten die Wissenschaftler an den Instituten zur Erforschung der Judenfrage die staatlichen Stellen mit Informationen. Juden waren selbstverständlich nicht mehr unter den Forschern. Zu dem 1935 gegründeten Institut zum Studium der Judenfrage (ab 1939: Antisemitische Aktion) in Berlin, der ein Jahr später ins Leben gerufenen Münchner Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des Neuen Deutschland sowie der von Alfred Rosenberg 1939 geschaffenen und 1941 eingeweihten Außenstelle der Hohen Schule der NSDAP (Institut zur Erforschung der Judenfrage) in Frankfurt kamen während des Krieges europaweit noch weitere Forschungsinstitute zur Judenfrage von Ancona bis Krakau, von Bordeaux bis Budapest hinzu. Die neue Disziplin der »Judenforschung« legitimierte die rechtliche Ausgrenzung der Juden und später die Konfiskation jüdischen Besitzes. Im Zuge der NS-Vernichtungspolitik ging die Verstrickung der Geschichtswissenschaft weiter. Die NS-Institute beteiligten sich aktiv an der Enteignung und requirierten große Bestände jüdischer Bibliotheken von Athen bis Amsterdam, von Wilna bis Rom. Zu ihren Veröffentlichungen gehörten Monographien, Bibliographien und eigene Zeitschriften. Wie in anderen Bereichen des NS-Staates gab es auch hier christliche Judaistik und Wissenschaft des Judentums im Deutschen Kaiserreich am Beispiel Hermann L. Stracks, in: Veltri, Giuseppe; Necker, Gerold (Hg.): Gottes Sprache in der philologischen Werkstatt: Hebraistik vom 15. bis zum 19. Jahrhundert. Leiden 2004, S. 311. 24 Es handelt sich um eine Widmung zu Delitzschs Zur Geschichte der jüdischen Poesie (Leipzig 1836), die abgedruckt ist in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 40 (1896), S. 430.

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interne Rangeleien und Konkurrenzsituationen, insbesondere zwischen der von der Partei getragenen Frankfurter Außenstelle und dem staatlichen Reichsinstitut. Auch das Studium des Hebräischen spielte eine Rolle in dieser Pseudowissenschaft. Sehen wir uns etwa die Karriere des Karl Georg Kuhn an, einem prominenten Vertreter des Faches Semitistik unter der NS-Herrschaft. Während die sogenannten Semiten ermordet wurden, praktizierte er das Studium der Semitistik. Kuhn hatte in den späten 20er Jahren mehrere Kurse am JüdischTheologischen Seminar in Breslau besucht, wo er Zugang zu klassischen jüdischen Texten vom Talmud bis zu kabbalistischen Quellen erhielt. Gemeinsam mit seinem Lehrer Gerhard Kittel, der führenden Autorität in rabbinischer Literatur unter den deutschen Theologen der Weimarer Republik, publizierte er nach 1933 über frühe rabbinische Kommentare. Für ihn stand dies nicht im Widerspruch zu der Tatsache, dass er bereits 1932 in die NSDAP eingetreten war und 1933 der SA beitrat. Auch sein Lehrer Kittel war für seine rechtslastigen Ideen bereits während der Weimarer Zeit bekannt und verlieh später dem NSRegime seine volle Unterstützung. Kittel wollte, dass die deutschen Juden lediglich einen Status als Bürger zweiter Klasse, als Gäste in Deutschland genossen. Wie Kittel wies Kuhn den primitiven Antisemitismus des Stürmer zurück. Stattdessen sollten die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel der Wissenschaft eingesetzt werden, um den Antisemitismus in den höheren Kreisen der Gesellschaft respektabel zu machen. Kuhn diente als Experte in Judenfragen für das Rassenpolitische Amt, für das er 1942 einen Bericht über die Frage erstellte, ob die Karäer als Juden zu betrachten seien oder nicht.25 Kittel and Kuhn waren beileibe nicht die einzigen deutschen Theologen, die ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Juden gegen sie verwandten. Fritz Arlt, geboren 1912 in Ostsachsen begann seine Nazikarriere in frühen Jahren. Schon im Alter von fünfzehn Jahren war er in der Hitlerjugend aktiv, und noch in der Weimarer Republik wurde er ein NS-Studentenführer in Leipzig. 1932 trat er der SA bei, 1937 der SS. In seinem Studium widmete er sich der protestantischen Theologie, worin er zu dem etwas skurrilen Thema eines Vergleichs der Rolle der Frauen in der isländischen Saga und dem Alten Testament gemäß ihres »rassischen Wertes« promovierte. Er publizierte zahlreiche antisemitische Artikel, so 1938 den Aufsatz »Der Endkampf gegen das Judentum«. Er führte auch eine Bevölkerungserhebung zur Leipziger jüdischen Gemeinde durch, deren Ergebnisse später den dortigen Deportationsprozess beschleunigen halfen. Arlt un-

25 Zu Kittel und Kuhn siehe: Steinweis, Alan: Studying the Jew. Scholarly Antisemitism in Nazi Germany. Cambridge, MA 2006, 76 – 91; Heschel, Susannah: The Aryan Jesus. Christian Theologians and the Bible in Nazi Germany. Princeton 2010, S.184 – 189.

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terrichtete auch andere Nationalsozialisten in der hebräischen Sprache. So heißt es in einem internen Bericht: »Dr. Arlt ist alter Pg. Er besitzt hervorragende Kenntnisse über das Judentum. Während seiner Zeit in Leipzig hat er sämtliche Voll-, Dreiviertel-, Halb- und Vierteljuden karteimäßig kategorisch erfasst. Diese Arbeit hat Dr. Arlt aus eigener Initiative durchgeführt. Er beabsichtigt, dieselbe Kartei zuerst für Oberschlesien und schließlich für ganz Schlesien aufzubauen und bat um die Unterstützung des S.D. (…) Dr. Arlt erbot sich, einigen SD-Angehörigen Neuhebräisch zu lehren. (…)«26

Ein weiteres Beispiel für einen Nationalsozialisten, der die hebräische Sprache gut beherrschte, war Johannes Pohl, in den Worten des Historikers Alan Steinweis, »the German scholar who was most instrumental in the plundering of the Jewish communities.«27 Pohl schrieb seine Dissertation in katholischer Theologie über den Propheten Ezekiel und Messianismus an der Universität Bonn 1926, und nach einem Aufenthalt am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom erhielt er ein Stipendium, um in Jerusalem biblische Archäologie zu studieren. Er lebte zwischen 1932 und 1934 in Jerusalem, wo er wohl auch an der Hebräischen Universität Seminare besuchte.28 Nach Deutschland zurückgekehrt, wurde er Kurator für Hebraica and Judaica in der Orientsammlung der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin, eine Stelle, die vorher von einem jüdischen Kollegen, Arthur Spanier, eingenommen worden war. Pohl schreckte auch nicht davor zurück, in Streichers Stürmer Hetzartikel gegen den Talmud zu veröffentlichen. 1941 wurde er Direktor der Frankfurter Hebraica-Abteilung des Rosenberg’schen Instituts zur Erforschung der Judenfrage. Seine neue Karriere begann mit einer Reihe von Plünderungen jüdischer Bibliotheken im Osten, von Minsk über Wilna bis Belgrad und Saloniki. Bekannt ist der Bericht des Chronisten des Wilnaer Ghettos, Hermann Kruk, der über einen Vortrag Pohls im Wilnaer Ghetto berichtete. Er nannte Pohl nur den Hebraisten und notierte in seinem Tagebuch am 23. April 1942: »Der Hebraist, den wir schon erwähnten, ist schon gekommen. Er ist ein Soldat in Parteiuniform. Ein großgewachsener Mann, der aussieht wie ein Jude und jüdischer Herkunft zu sein scheint. Sein Name ist Dr. Pohl. Er studierte zwei Jahre lang an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Veröffentlichte einige Werke über den Talmud etc. Er ist höflich, sogar gesellig. Aber man kann nichts aus ihm herausbekommen. Was

26 Zitiert nach: Aly, Götz; Roth, Karl Heinz: Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 2000, S. 90. 27 Steinweis, Studying the Jew, S. 115. 28 Kühn-Ludewig, Maria: Judaist und Bibliothekar im Dienste Rosenbergs. Eine biographische Dokumentation. Hannover 2000.

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mit seiner Arbeit am YIVO passieren wird, können wir nicht einmal erraten. Dies hängt völlig in der Luft. Niemand weiß, was der ›Hebraist‹ will oder was seine Pläne sind.«29

Kruk war so überrascht, einen Nazioffizier mit profunden Hebräischkenntnissen anzutreffen, dass er automatisch davon ausging, er müsse jüdische Wurzeln haben. Auch hier ist Hebräisch in biologischer FaÅon mit dem jüdischen Volk verbunden. Ein Nazi könne doch kein Hebräisch beherrschen! Pohl, der keine jüdischen Vorfahren hatte, war dagegen damit beschäftigt, die jüdische Gemeinde von Wilna ihrer Buchschätze zu berauben. 70 % sollten in den Reißwolf gehen, der Rest ins Reich gebracht werden, lautete seine Anweisung.30 Erlauben Sie mir ein Nachwort zu diesen drei Nazi-Hebraisten. Sie alle machten in der Bundesrepublik Karriere. Kuhn wurde Professor für Neues Testament in Göttingen und später in Heidelberg. Arlt, der Experte für Eindeutschung in Polen gewesen war, wurde ein führender Funktionär im Bundesverband der deutschen Industrie.31 Pohl wurde zunächst von der Kirche angestellt, später ein führender Herausgeber des Duden. Eine derartige Karriere blieb Adolf Eichmann vorenthalten. Nachdem er in Argentinien aufgespürt und bevor er 1961 in Israel vor Gericht gestellt wurde, hatte der israelische Polizeioffizier Avner Less Gelegenheit, ihn zu befragen. Als ein kleineres Detail dieser Befragung erwähnte Eichmann, dass er 1935 ein Lehrbuch der hebräischen Sprache erworben hätte, um die Grundlagen der hebräischen Sprache zu erlernen. Im Unterschied zu Pohl war Eichmann gewiss kein Dilettant, sondern ein professioneller Massenmörder. Der Grund seines Hebräischunterrichts war, die jiddische Presse der polnischen Juden besser verstehen zu können – jener Juden, deren systematische Tötung er selbst wenige Jahre später planen sollte:

29 Kruk, Hermann: The Last Days of the Jerusalem of Lithuania. Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939 – 1944, ed. Benjamin Harshav. New Haven 2002, S. 268. 30 Triendl, Mirjam: hunger macht blumen aus papier. Über Bücher und T/Räume. Vilna 1941 – 1943. Magisterarbeit Universität Wien 2001. 31 Mecklenburg, Frank: Von der Hitlerjugend zum Holocaust. Die Karriere des Fritz Arlt, in: Matthäus, Jürgen; Mallmann, Klaus-Michael: Deutsche – Juden – Völkermord: Der Holocaust als Geschichte und Gegenwart. Darmstadt 2006, S. 87 – 101.

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»Ich bekam auch Zeitungen. Darunter den ›HAJNT‹. Die Zeichen konnte ich nicht lesen; daraufhin habe ich mir Samuel Kaleko gekauft, das ist ein Buch zum Lernen von Hebräisch. Ich habe in erster Linie die hebräischen Lettern in Druckschrift gelernt. Auch Vokabeln, aber ich wollte hauptsächlich die Druckschrift des ›HAJNT‹ lesen, der ja in Jiddisch schrieb, aber mit hebräischen Lettern.«32

Allem Anschein nach gelang es Eichmann, der auch Herzls Judenstaat gelesen hatte (und mit dessen Inhalt grundsätzlich übereinstimmte), in der Tat, jiddische Zeitungen zumindest rudimentär zu verstehen. 1937 etwa machte er einen Artikel über die Haganah aus und berief einen führenden Vertreter der Reichsvertretung der deutschen Juden, Paul Eppstein, in sein Büro, um ihm mehr darüber mitzuteilen.33 In ihrer Analyse des Eichmann-Prozesses spielte Hannah Arendt Eichmanns Verständnis des hebräischen Alphabets herunter: »Damals eignete er sich auch ein paar Brocken Hebräisch an, die ihn in Stand setzten, mit einigem Stocken eine jiddische Zeitung zu lesen, was nicht weiter schwierig war, da Jiddisch, was ja im wesentlichen ein alter deutscher Dialekt in hebräischer Schreibweise ist, von jedem Deutschsprechenden verstanden werden kann, der ein paar Dutzende hebräischer Wörter gelernt hat.«34

Ganz abgesehen von Arendts eigentümlicher Definition der jiddischen Sprache hat sie hier den entscheidenden Punkt übersehen. Indem sie Jiddisch und Hebräisch lernten, wagten sich Eichmann und andere Nazis ins Herz jenes Territoriums einzudringen, das von einem innerjüdischen Diskurs bestimmt war und neben Juden nur einigen christlichen Theologen offenstand. Viele Juden betrachteten Hebräisch als ihre Sprache, selbst wenn sie sie nicht beherrschten. Sie konnten und wollten sich nicht vorstellen, dass ihre Feinde nun die hebräische und jiddische Presse lasen. Zeitungen wie der Haint brachten daher in ihrer Berichterstattung weniger Vorsicht zutage als jüdische Publikationen in englischer, deutscher oder französischer Sprache. Sie fühlten sich sozusagen unbeobachtet. Genau diese Sicherheit wurde ihnen durch die NS-»Judenexperten« geraubt. 32 von Lang, Jochen (Hg.): Das Eichmann-Protokoll. Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre. Nachwort Avner W. Less, Mitarbeit Claus Sibyll. Wien 1991, S. 28. Ähnlich beschrieb Eichmann selbst seine Bemühungen, Hebräisch zu lernen. »Dafür bekamen wir mit anderen Zeitungen jetzt auch von der Presseabteilung des SD-Hauptamtes den in Riga erscheinenden ›Haint‹. Es war aber in hebräischen Lettern geschriebenes Jiddisch, das kein Mensch (!) lesen konnte. Eines Tages kaufte ich mir in einer Buchhandlung ›Iwrit Lavat‹, so hieß das Bändchen wohl, von Samuel Kaleko. Ich lernte die Druckschrift lesen und es dauerte nicht allzu lange, dann konnte ich äußerst langsam zuerst, dann doch einigermaßen den ›Haint‹ in etwa lesen.« Eichmanns Erinnerungen, DIE WELT, 19. August 1999. 33 Caesarani, David: Eichmann. His Life and Crimes. London 2004, S. 53. 34 Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 2009, S. 116.

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Epilog

Kein anderer hebräischer Dichter hat so lange in Deutschland gelebt wie Shmuel Yosef Agnon, der einzige hebräische Schriftsteller, der einen Nobelpreis (1966) erhalten hat. Als junger Schriftsteller lebte Agnon von 1912 bis 1924 in Deutschland, heiratete eine deutsch-jüdische Frau und hatte bald den Großteil seiner Familie in Deutschland um sich versammelt. Nach Stationen in Berlin und Leipzig, das er in seinem Roman Herrn Lublin Laden verewigte, lebte er größtenteils in Bad Homburg, wo heute ein Denkmal an ihn erinnert. Wir wissen nicht, ob er dort geblieben wäre, wenn nicht 1924 ein Brand im Nachbarhaus auf sein Haus übergesprungen wäre und dieses mitsamt seiner großen Bibliothek und eines unveröffentlichten Manuskripts vernichtet hätte. Dieses Feuer war für ihn das Fanal zum Aufbruch nach Jerusalem, wo er die restlichen Jahrzehnte seines Lebens verbrachte. Es war ein völlig anderes Feuer, das neun Jahre später in allen großen deutschen Städten die Literatur deutsch-jüdischer Schriftsteller vernichten sollte. Der sogenannten »Bücherverbrennung« vom 10. Mai 1933 fielen zahlreiche klassische Werke deutscher Literatur zum Opfer, interessanterweise nicht aber die Werke Agnons oder anderer Hebräisch schreibender Juden. Die siebente der zwölf »Thesen wider den undeutschen Geist«, die die deutschen Studenten der Bücherverbrennung als Pamphlet voranstellten, lautete: »Wir wollen den Juden als Fremdling achten und wir wollen das Volkstum ernst nehmen. Wir fordern deshalb von der Zensur : Jüdische Werke erscheinen in hebräischer Sprache. Erscheinen sie in deutsch, sind sie als Übersetzung zu kennzeichnen. Schärfstes Einschreiten gegen den Mißbrauch der deutschen Schrift. Deutsche Schrift steht nur Deutschen zur Verfügung. Der undeutsche Geist wird aus öffentlichen Büchereien ausgemerzt.«

Hebräisch wurde hier als die Sprache der Juden gekennzeichnet, selbst wenn die meisten deutschen Juden nicht einmal mehr rudimentäres Hebräisch beherrschten. Es liegt eine gewisse Ironie in der Tatsache, dass unter den nach Palästina emigrierten Juden Hebräisch oftmals weiterhin eine Fremdsprache blieb und sie sich dort als Botschafter der deutschen Sprache und Kultur verstanden. Einer der prominentesten Schriftsteller, dessen Werk ebenfalls unter den verbrannten Autoren 1933 gewesen war und der nun in Israel wirkte, war Arnold Zweig. Zweig war einer der Mitherausgeber der deutschsprachigen Zeitschrift Der Orient, die während des Zweiten Weltkriegs in Palästina erschien. Am 2. Februar 1943 ging die Druckerpresse, auf der die Zeitschrift hergestellt wurde, in Flammen auf. Militante Verteidiger der hebräischen Sprache, die keine anderen Sprachen unter den Juden in Palästina gelten lassen wollten und vor allem ein

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Druckwerk in der Sprache der Nazis voller Hass betrachteten, hatten einen Brandanschlag verübt. Zweig kehrte noch vor Gründung des Staates Israel 1948 nach Deutschland zurück und nahm in der DDR eine ähnlich staatstragende Rolle ein, wie sie Agnon in Israel bekleiden sollte. Die Flammen dieser so verschiedenen Feuer verschlangen das mit der Aufklärung eingeleitete deutsch-hebräische Gespräch mit seinen zahlreichen unterschiedlichen Facetten. Erst viel später, mit der Übersetzung zahlreicher hebräischer Autoren ins Deutsche, mit Schriftstellerbegegnungen aus beiden Ländern und mit dem Studium des Hebräischen durch deutsche Studenten, sollte die Diskussion fortgesetzt werden. Bis dahin war es ein langer Weg. Als in den fünfziger Jahren israelische und deutsche Delegierte bei den sogenannten Wiedergutmachungsverhandlungen aufeinandertrafen, hatten diese zwar alle Deutsch als Muttersprache, doch war die israelische Delegation angewiesen, nur über einen offiziellen Dolmetscher oder in Englisch miteinander zu sprechen. Erst als ein deutscher Delegierter den schwäbischen Akzent im Englisch seines israelischen Gegenüber entdeckte und sich herausstellte, dass beide nicht nur aus Stuttgart stammten, sondern auch in die gleiche Schule gegangen waren, brach das Eis ein wenig.35 Doch die Barriere zwischen den beiden Staaten, die ihren symbolischen Ausdruck in dem Eintrag israelischer Pässe fand, sie seien für alle Länder gültig »mit Ausnahme Deutschlands«, blieb zumindest in Israel auch in Bezug auf die beiden Sprachen bestehen. 1950 verbot die für die Aufführungen von Filmen und Theaterstücken zuständige israelische Behörde alle Aufführungen in deutscher Sprache. 1961, im Jahr des Eichmann-Prozesses, kamen neue Gesetze heraus, die den Gebrauch der deutschen Sprache einschränkten. Selbst die Aufnahme diplomatischer Beziehungen 1965 brachte keinen sofortigen Kulturaustausch zwischen beiden Ländern mit sich. Ein erster Durchbruch war im März 1967 der Besuch eines jungen deutschen Schriftstellers, der damals als der Inbegriff des Antifaschisten galt – lange bevor er mit einem Einreiseverbot für Israel belegt wurde. Günter Grass’ Besuch in Israel zeigte, wie tief die Gräben innerhalb der israelischen Gesellschaft zwei Jahrzehnte nach der Schoa in Israel noch waren, wenn es um Deutschland und die deutsche Sprache ging. Ein Teil der israelischen Öffentlichkeit protestierte gegen den Besuch eines deutschen Schriftstellers, der auch noch auf Deutsch Reden hielt. Der israelische Schriftstellerverband weigerte sich, Grass zu empfangen. Die israelische Regierung dagegen brach ihre eigenen Gesetze, indem sie Grass’ öffentliche Auftritte in deutscher Sprache mitorganisierte. Sowohl der Staatspräsident wie auch der Ministerpräsident und der Erziehungsminister empfingen Grass, der vor einem zahlreichen und interessierten Publikum seine »Rede von der Gewöhnung« in Tel Aviv und in Jerusalem hielt. Grass war der 35 Deutschkron, Inge: Israel und die Deutschen. Das schwierige Verhältnis. Köln 1983, S. 50.

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erste deutsche Staatsbürger, der offiziell eingeladen wurde, einen deutschen Vortrag in Israel zu halten. Er wusste dies nur allzu gut: »Und wenn er (ein deutscher Israelreisender), wie ich heute, zu Ihnen in deutscher Sprache spricht, muß er gewiß sein, daß diese Sprache, was immer sie mitzuteilen vorhat, Ihrem Ohr Schmerzen bereitet. Ich liebe diese Sprache. Mit ihrer Hilfe, und nur mit ihrer Hilfe bin ich – und sei es im Widerspruch – da.«36

Das Publikum war sichtlich bewegt. Unter ihnen waren viele Studenten, die noch nie eine deutsche Rede gehört hatten. Unter ihnen waren zahlreiche Jekkes – deutsche Juden –, die diesen Moment herbeigesehnt hatten. Unter ihnen war auch ein älteres Ehepaar, das Deutschland 1924 verlassen musste, als ihr Haus abgebrannt ist. Für den Nobelpreisträger Shmuel Yosef Agnon und seine aus Königsberg stammende Frau mag sich an diesem Abend ein Kreis geschlossen haben. In den deutsch-hebräischen Kulturbeziehungen brach an diesem Abend ein neues Kapitel an.

36 Grass, Günter : Über das Selbstverständliche. Politische Schriften. München 1969, 127/128. Siehe hierzu: Grimmeisen, Julie: Der erste Besuch von Günter Grass in Israel, in: Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur 1 (2009), S. 90 – 95.

Jakob Hessing

Germanistik in Israel Aspekte einer Trauerarbeit

Aus komplexen Gründen muss die Germanistik in Israel ein eigenständiger – vielleicht sogar ein eigenwilliger – Gegenstand bleiben. Weder lässt sie sich unter ›Auslandsgermanistik‹ noch unter den sogenannten ›German-Jewish Studies‹ rubrizieren. Die Auslandsgermanistik ist eine Angelegenheit deutscher Kulturpolitik, einerseits ein Interesse der Bundesrepublik, die deutsche Kultur im globalen Wettstreit konkurrenzfähig zu halten; andererseits eine Möglichkeit, zahlreichen Germanisten jenseits eines schrumpfenden Arbeitsmarktes Anstellungen zu verschaffen. Und die German-Jewish Studies tragen nicht zufällig einen englischen Namen. Der ist weder mit dem Deutschen noch mit dem Jüdischen identifiziert, vielmehr bezeichnet er einen neutralen Boden, von dem aus er seinen Gegenstand zu objektivieren sucht. Seit den 1980er Jahren, so ist überzeugend argumentiert worden, bildet er sich als eine selbstständige Disziplin heraus und ist im Rahmen der Kulturwissenschaften zum Schulbeispiel der Hybridität, im Zeichen der Postmoderne zum Musterfall für kon- und divergierende Narrative geworden.1 Die Germanistik in Israel dagegen steht unter völlig anderen Vorzeichen. Lange gab es in dem jungen Staat einen starken Widerstand gegen alles Deutsche im öffentlichen Raum, Waren und Kultur wurden gleichermaßen boykottiert, und auch die 1965 aufgenommenen diplomatischen Beziehungen wurden noch kein selbstverständlicher Wendepunkt. Die Hirschbibliothek, eine von deutschen Juden in Tel Aviv eingerichtete große Leihbücherei, diente der Botschaft lange als Kulturzentrum, doch da es in der Bundesrepublik keine staatlich gelenkte Kulturpolitik mehr gibt, wurde das Zentrum wieder abgekoppelt und dem politisch unabhängigen Goethe-Institut eingegliedert. Heute hat es auf engstem Raum drei sehr erfolgreiche Zweigstellen – Tel Aviv, Jerusalem, Ramallah –, aber 1 Einen historischen Überblick zur Entstehung der German-Jewish Studies bietet Gelber, Mark H.: German-Jewish Literature and Culture and the Field of German-Jewish Studies, in: Cohen, Jeremy ; Cohen, Richard I. (Hg.): The Jewish Contribution to Civilization. Reassessing an Idea. Oxford; Portland (Oregon) 2008, S. 165 – 184.

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auch hier mussten erhebliche Schwierigkeiten überwunden werden. 1977 war mit Menachem Begins Partei noch einmal ein deutliches Ressentiment gegen alles Deutsche zur Macht gekommen, und offiziell konnte das Tel Aviver GoetheInstitut erst 1979 eröffnet werden.2 Seit den 1970er Jahren fand die deutsche Kultur auch Einlass in die Akademie. Den Anfang machte die Tel Aviver Universität. Eine Gründung der 50er Jahre, musste sie sich gegen die ältere Hebräische Universität behaupten und konnte in die deutsche Lücke des Jerusalemer Lehrangebots treten. Mit Geldern der Volkswagenstiftung gründete der Historiker Walter Grab 1971 das noch heute bestehende Institut für deutsche Geschichte, und damit war das Eis gebrochen. 1977, wiederum mit Hilfe der Volkswagenstiftung, wurde an der Hebräischen Universität die Abteilung für Deutsche Sprache und Literatur eingerichtet. Sie ist die einzige Abteilung ihrer Art geblieben, und später entstandene Institute – das Koebner Center in Jerusalem, die Zentren für German Studies in Jerusalem und Beerschewa, das Bucerius Center in Haifa – bieten weit gefächerte Programme zu deutscher Geschichte und Kultur an, aber keine Germanistik im engeren Sinn. Selbst das Franz-Rosenzweig-Zentrum für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte ist da keine Ausnahme. 1990 wurde es an der Hebräischen Universität Jerusalem unter anderem mit dem Ziel gegründet, den zukünftigen Lehrstab der deutschen Abteilung auszubilden. Es hat diese Aufgabe aber nie erfüllt,3 und statt der inzwischen ausgeschiedenen oder verstorbenen Dozenten der Abteilung hat die Universität keine jüngeren Lehrkräfte mehr angestellt. Zum Teil hängt das sicherlich mit dem Legitimationsdruck zusammen, unter dem die Geisteswissenschaften, und damit die Literaturabteilungen, heute weltweit stehen. Die Budgets sind geschrumpft, die Universitäten können sich nicht mehr leisten, was sie als ›Luxus‹ ansehen, in einer gewissen Weise aber macht das auch die folgenden Ausführungen prekär. Indem sie die Bruchstellen der deutsch-jüdischen Literatur aufspürt und ein problematisches Kapitel der jüdischen Galuth-Geschichte nachzuzeichnen versucht, vollzieht die Germanistik in Israel eine schwierige Gratwanderung.

2 Vgl. Hessing, Jakob: Gerechtes Misstrauen, in: Die Zeit, 12. Mai 2005. 3 Als Forschungszentrum dagegen hat es sich sehr bewährt. Unter anderem arbeitet es die deutsch-jüdischen Nachlässe an der Nationalbibliothek in Jerusalem auf und war maßgeblich an der Kritischen Edition der Werke und Briefe Else Lasker-Schülers beteiligt, die jetzt abgeschlossen ist.

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I Theodor Herzls Der Judenstaat, 1896 erschienen, ist das berühmteste Gründungsmanifest des politischen Zionismus, und es ist ein deutscher Text. Schon dieser Umstand lässt ermessen, warum die israelische Öffentlichkeit an ihren geistigen Wurzeln im deutschen Judentum interessiert sein muss, ebenso deutlich aber sind die Widerstände, die dieses Interesse hemmen. »[I]n Basel«, schreibt Herzl am 3. September 1897 nach dem ersten Zionisten-Kongress in sein Tagebuch, »habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es Jeder einsehen.«4 Aber als 1948 der Staat Israel ausgerufen wurde, hatte sich die größte Katastrophe in der jüdischen Geschichte ereignet. Sie war von Deutschland ausgegangen und verschüttete daher für lange Zeit auch die deutschen Wurzeln der jüdischen Nationalbewegung. Diese Abspaltung des kollektiven Gedächtnisses von seiner Vergangenheit findet ihr Spiegelbild auf einer Gegenseite, die für den Germanisten von besonderem Interesse ist. Es gibt keinen bedeutenden deutsch-jüdischen Autor der Nachkriegszeit, der seinen Weg nach Israel gefunden hätte. Einer, Arnold Zweig, überlebte den Krieg in Palästina, kehrte dann aber schnell in die DDR zurück; und auch Else Lasker-Schüler, die im Januar 1945 in Jerusalem starb, wäre nicht in Israel geblieben, daran lassen ihre jetzt veröffentlichten Briefe keinen Zweifel.5 Andere Autoren, die erst später hervortraten – Wolfgang Hildesheimer und Edgar Hilsenrath – verbrachten die Kriegszeit teilweise in Palästina, verließen das Land aber schon vor der Staatsgründung; und wieder andere kehrten Deutschland zwar den Rücken, zogen ein selbstgewähltes Exil aber der »Heimkehr« ins Land der Väter vor. Das waren nicht nur Antizionisten wie Peter Weiss oder Erich Fried, sondern auch Befürworter eines jüdischen Staates wie Nelly Sachs und Paul Celan. In einem Brief an Verwandte in Israel bringt er sein Dilemma auf die kürzeste Formel. Es gebe nichts in der Welt, schreibt er kurz nach seiner Ankunft in Paris im Sommer 1948, »um dessentwillen ein Dichter es aufgibt zu dichten, auch dann nicht, wenn er ein Jude ist und die Sprache seiner Gedichte die deutsche […]. Vielleicht bin ich einer der Letzten, die das Schicksal jüdischer Geistigkeit in Europa zuendeleben müssen.«6 4 Herzl, Theodor : Tagebücher. Bd. 2. Berlin 1923, S. 24. 5 Vgl. den letzten Band der Werkedition: Lasker-Schüler, Else: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Bd. 11. Briefe 1941 – 1945. Nachträge. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki und Andreas B. Kilcher. Berlin 2010. 6 Die Briefstellen werden zitiert nach: Displaced. Paul Celan in Wien 1947 – 1948. Hg. v. Goßens, Peter ; Patka, Marcus G. Frankfurt a. M. 2001, S. 157 sowie Celan, Paul; Celan-Lestrange, GisÀle: Briefwechsel. Mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric. Aus dem Französischen von Eugen Helml¦. Herausgegeben und kommentiert von Bertrand Badiou in

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Es ist eine merkwürdige Formulierung, mit der Celan hier seine Unfähigkeit begründet, sich von der deutschen Sprache zu lösen: Als »einer der Letzten« müsse er »das Schicksal jüdischer Geistigkeit in Europa zuendeleben«. Die deutsch-jüdische Verbindung, so deutet er an, sei eine europäische Angelegenheit gewesen, und damit spricht er nicht nur eine subjektive, sondern auch eine historische Wahrheit aus. Als der junge Moses Mendelssohn um die Mitte des 18. Jahrhunderts nach Berlin kam und dort zum angesehenen Mitglied einer gebildeten Gesellschaft avancierte, stand die Aufklärung in voller Blüte. Ihr Ziel war universal definiert, nicht partikular ; weltbürgerlich, nicht national; das deutsche Judentum, das in der Begegnung von Lessing und Mendelssohn seine Sternstunde hatte, wollte kein altes Ghetto gegen ein neues austauschen, es wollte die Freiheit eines offenen Kulturraums gewinnen; und als Lessing seinem Nathan die Ringparabel in den Mund legte, schrieb er der deutschen Literatur diesen jüdischen Wunsch ein. So zumindest – als eine erste Hypothese israelischer Germanistik – könnte man es lesen. Denn einen europäisch-deutschen Kulturraum hat es auch als politische Alternative gegeben. Aber dass die sogenannte großdeutsche Lösung des habsburgischen Vielvölkerstaates dann der kleindeutschen Lösung Bismarcks weichen musste; dass damit das Nationalprinzip gesiegt hatte und schließlich zum Ersten Weltkrieg führte, zum Anfang vom Ende; dass es im Jahre 1920, als Paul Celan dort geboren wurde, die Bukowina eigentlich gar nicht mehr gab und das »Schicksal jüdischer Geistigkeit in Europa«, das er noch 1948 zuendeleben wollte, schon lange vor Hitler besiegelt war : Das sind die Akte einer Tragödie, deren literarische Spuren der israelische Germanist zu lesen hat. Zu diesen Spuren gehört auch der Umstand, dass Herzl die Judenfrage zu lösen hoffte, indem er sich notgedrungen dem Konzept verschrieb, das für die Juden im deutschen Kulturraum schließlich zur Todesfalle werden sollte: dem Nationalstaatsgedanken. Mit achtzehn Jahren verlässt er seine Geburtsstadt Budapest und geht nach Wien, er fühlt sich zu allem Deutschen hingezogen und ist ein Verehrer Bismarcks, aber dann lernt er den Antisemitismus in der österreichischen Hauptstadt kennen. Als Zeitungskorrespondent in Paris berichtet er über den Dreyfus-Prozess, er erkennt die hoffnungslose Lage der Juden in Europa, schreibt seine Tragödie »Das Neue Ghetto«7, und schließlich, 1896, veröffentlicht er das Gründungsmanifest des politischen Zionismus, Der Judenstaat. Es ist ein optimistischer Text, der die Notlage seines Verfassers kaschiert und in dessen Einleitung es heißt:

Verbindung mit Eric Celan. Anmerkungen übersetzt und für die deutsche Ausgabe eingerichtet von Barbara Wiedemann. Bd. 2. Kommentar. Frankfurt a. M. 2001, S. 405. 7 Herzl, Theodor : Das neue Ghetto. Wien 1897.

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Die Juden haben die ganze Nacht ihrer Geschichte hindurch nicht aufgehört, diesen königlichen Traum zu träumen: ›Übers Jahr in Jerusalem!‹ ist unser altes Wort. Nun handelt es sich darum, zu zeigen, daß aus dem Traum ein tagheller Gedanke werden kann. Dazu muß vor allem in den Seelen tabula rasa gemacht werden von mancherlei alten, überholten, verworrenen, beschränkten Vorstellungen. So werden dumpfe Gehirne zunächst meinen, daß die Wanderung aus der Kultur hinaus in die Wüste gehen müsse. Nicht wahr! Die Wanderung vollzieht sich mitten in der Kultur. Man kehrt nicht auf eine niedrigere Stufe zurück, sondern ersteigt eine höhere. Man bezieht keine Lehmhütten, sondern schönere, modernere Häuser, die man sich neu baut und ungefährdet besitzen darf. Man verliert nicht sein erworbenes Gut, sondern verwertet es. Man gibt sein gutes Recht nur auf gegen ein besseres. Man trennt sich nicht von seinen lieben Gewohnheiten, sondern findet sie wieder. Man verläßt das alte Haus nicht, bevor das neue fertig ist.8

Der sprachliche Duktus verrät die politische Propaganda und ihre Widersprüchlichkeit. Die Gegner seines zionistischen Konzeptes, von denen es unter den deutschen Juden sehr viele gab,9 tut Herzl als »dumpfe Gehirne« ab; seinen Anhängern verspricht er »schönere, modernere Häuser«; und alle Schwierigkeiten seines Unternehmens werden bagatellisiert: Die jüdischen Bürger, die hier angesprochen sind, sollen sich in ihren »lieben Gewohnheiten« keineswegs gestört fühlen. Hier geht es nicht darum, die Fragwürdigkeit einer politischen Rhetorik zu entlarven. Die hat Der Judenstaat mit vielen Schriften dieser Art gemeinsam. Sie ist unvermeidbar, denn mit ausgewogenen Argumenten lässt sich eine Utopie, wie es Herzls Programm in seiner Geburtsstunde gewesen ist, nicht durchsetzen. Uns soll hier nur ein bestimmter Aspekt dieser Rhetorik interessieren, eine Intertextualität, die Herzl zunächst evoziert und dann gleich wieder zurücknimmt. Die »ganze Nacht ihrer Geschichte hindurch«, so heißt es, hätten die Juden »nicht aufgehört, diesen königlichen Traum zu träumen. ›Übers Jahr in Jerusalem!‹ ist unser altes Wort.« Herzl spielt auf die Pessach-Liturgie an, auf den heiligen Text, der am jährlichen Sederabend gelesen wird und an den Auszug aus Ägypten erinnert: an den Gründungsakt des Judentums, in dessen Zentrum das Sinaiereignis und schließlich die Landnahme steht. Herzl stellt seine Streitschrift in eine erhabene Tradition, dann aber sagt er es anders. »So werden dumpfe Gehirne zunächst meinen«, fährt er nämlich fort, »daß die Wanderung aus der Kultur hinaus in die Wüste gehen müsse. Nicht wahr! Die Wanderung vollzieht sich mitten in der Kultur.« Nicht nur der poli8 Zitiert nach der Ausgabe: Herzl, Theodor : Der Judenstaat. Zehnte Auflage. Berlin 1934, S. 19 – 20. 9 Den ersten Zionisten-Kongress wollte Herzl ursprünglich in München einberufen, aber das verhinderten die deutschen Rabbiner. Deshalb musste er ihn nach Basel verlegen.

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tische Leser wird hier stutzig, sondern auch der Literaturwissenschaftler. Darf, so fragt er sich, auf solche Weise mit den Metaphern jongliert werden? Wenn Herzl die Wüste aus seinen biblischen Anspielungen herausnimmt, worauf greift dann sein ›königlicher Traum‹ zurück?

II Bei Herzl lässt sich beobachten, wie eng der offene Kulturraum geworden ist, dem die Juden sich ursprünglich einzuschreiben hofften; und wie sehr sie daher die Symbole ihrer Tradition zurechtbiegen müssen, um die Illusion einer deutsch-jüdischen Kultur auch weiterhin aufrecht zu erhalten. Ist es aber legitim, bei dem hier zur Sprache gekommenen Text noch von Germanistik zu reden? Ist Herzls Judenstaat noch ein überzeugendes Beispiel für die ›deutsche Literatur‹? Eine legitime Germanistik – nach wessen Gesetzen? Natürlich ist es kaum zu erwarten, dass sich Der Judenstaat an deutschen, japanischen oder amerikanischen Universitäten im Syllabus einer germanistischen Veranstaltung findet. In Deutschland bereitet man einen großen Teil der Germanistikstudenten auf das Lehramt vor, auf Inhalte, die an deutschen Schulen zu vermitteln sind und zu denen auch ein respektvoller Bezug auf den ›jüdischen Beitrag‹ zur deutschen Literatur gehören mag, kaum aber eine wirkliche Auseinandersetzung mit intern jüdischen Fragen; in Tokyo wird die Auslandsgermanistik um eine globale Verortung ihres Angebots bemüht sein, bei der das Judentum gewisser Autoren wenig ins Gewicht fallen dürfte; und in den Vereinigten Staaten, wo die GermanJewish Studies in Blüte stehen, liegt ihre Interkulturalität im Interesse der amerikanischen Einwanderungsgesellschaft, für die eine zionistische Perspektive nicht relevant ist. Aber hier geht es nicht um all dies, hier geht es um eine Germanistik in Israel. Will man sie definieren, so müssen zunächst ihre Rahmenbedingungen abgesteckt und erste Leitfragen gestellt werden. In den frühen Jahren vor und nach der Staatsgründung war man in Israel bemüht, sich neu zu entwerfen. Dazu gehörte die Verdrängung aller Erinnerung an das Exil, die Galuth, und das betraf nicht nur die deutsch-jüdische Erfahrung. Auch andere Aspekte der Diaspora wurden ausgegrenzt, wie das Deutsche war auch das Jiddische verpönt, die Exilsprache par excellence. In den letzten Jahrzehnten hat sich das geändert. Eine traumatische Landesgeschichte hat das zionistische Selbstverständnis erschüttert, und in zunehmendem Maße wird der Blick in die eigene Geschichte wieder zugelassen. So findet sich eine wachsende Literatur israelischer Autoren, die aus arabischen Ländern stammen und ihre dortige Vergangenheit nicht mehr verbergen. Und ein aufschlussreiches Indiz macht sichtbar, dass man sich in Israel auch immer

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einer deutschen Verbindung bewusst gewesen ist. Gemeinhin werden die Einwanderergruppen, aus denen sich die jüdische Landesbevölkerung zusammensetzt, in Sepharden und Aschkenasen unterteilt, in Juden, die ursprünglich aus dem spanischen Kulturraum kommen, und die anderen, die aus Aschkenas stammen. Ein Enkel des Noah, soll Aschkenas nach jüdischer Mythologie der Urahn der Deutschen sein:10 Wie das aus dem Mittelhochdeutschen überkommene Jiddisch ist auch der Name dieses Judentums ein untrügliches Zeichen für eine Verbindung zum Deutschen, die weit hinter die Begegnung von Lessing und Mendelssohn zurückgeht. Wer eine ganz eigene, selbstständige Germanistik für Israel postuliert, tut es im Interesse einer Gesellschaft, die sich seit der Staatsgründung und mehr noch seit dem Sechs-Tage-Krieg des Jahres 1967 am Scheideweg befindet. Sie muss sich über ihre Identität klar werden, und der Blick auf die deutsch-jüdische Kultur und Literatur bietet da viele Aufschlüsse. Lessings Nathan der Weise lässt sich, wenn man so will, als Magna Charta des deutschen Judentums lesen, das am Vorabend der Französischen Revolution schon im Entstehen war. Aber ist es wirklich so, stellt Lessing seinen Nathan nicht eher als alten Mann dar, der keine Nachkommen mehr haben wird, als den letzten Juden in Jerusalem? War es nicht sein aufklärerisches Vorhaben, das Judentum, und nach ihm alle historischen Religionen, aus der Welt zu schaffen? Was sich der Aufklärer auch gewünscht haben mag: Lessing hat nicht Recht behalten, und Nathan ist nicht der letzte Jude in Jerusalem geblieben. Heißt das aber, dass wir von ihm nichts mehr zu lernen haben? Sollte uns Lessings Saladin unberührt lassen, seine Vorstellung von einem großzügigen muslimischen Herrscher, dem auch der Jude, wie Nathan, nun seinerseits in Großzügigkeit begegnen könnte?11 Zwei Generationen nach Lessing und Mendelssohn hat der helle Horizont der Aufklärung sich schon verdunkelt. Am Anfang seiner Dichterlaufbahn versucht Heinrich Heine einen jüdischen Roman zu schreiben, den Rabbi von Bacherach, aber anders als der Politiker Theodor Herzl lässt er keinen falschen Optimismus aufkommen. Heine schildert einen Seder-Abend, der in der Katastrophe endet: Die jüdische Gemeinde von Bacherach wird des Ritualmordes beschuldigt, und vor dem drohenden Pogrom fliehen der Rabbi und seine Frau in einem Boot über den Rhein.12 Am Ende des Jahrhunderts wird im Judenstaat noch einmal 10 Zur Ableitung des Begriffes, vgl. Encyclopedia Judaica. Corrected Edition. Jerusalem o. J. (1971), Vol. 3, Sp. 719 – 720. 11 In einer Magisterthese an der Hebräischen Universität hat Jan Kühne eine Geschichte der Nathan-Aufführungen in Israel vorgelegt. Sie zeigt ein sehr differenziertes Verhältnis israelischer Autoren, Übersetzer und Künstler zu dem Stück. Vgl. Kühne, Jan: A Multi-Tragic Paradigm. Nathan the Wise in Israel. Saarbrücken 2011. 12 Vgl. Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften. Hg. v. Klaus Briegleb. Bd. 1. München 1997, S. 468 f.

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die Pessach-Liturgie bemüht, um ein politisches Programm zu propagieren, aber lange vorher schon hatte Heine gezeigt, dass sich die Symbolik der jüdischen Heilsgeschichte keiner zeitgenössischen Wirklichkeit mehr einfügen ließ. Es ist das Erstaunliche an diesem ersten bedeutenden deutsch-jüdischen Dichter, dass er in den 59 Jahren seines Lebens (1797 – 1856) alle Phasen der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte zwischen 1789 und 1945 bereits vorausnimmt – von der Assimilationsfreudigkeit des Anfangs über die Krise des Selbstverständnisses bis zur problematischen Heimkehr in eine jüdische Tradition. Vor seiner Umsiedlung nach Frankreich im Jahr 1831 hegte er den starken Wunsch, von seinen Lesern als ›deutscher‹ Dichter im vollen Sinne des Wortes akzeptiert zu werden. Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt, aber es ist kein Zufall, dass der Rhein häufig die landschaftliche Kulisse seines Werkes bildet – in seinem jüdischen Rabbi von Bacherach ebenso wie in der »Loreley«, seinem bekanntesten Gedicht, das auch von deutscher Seite immer als ein Teil des Kanons erachtet wurde. So lautet die berühmte Eingangsstrophe: Ich weiß nicht was soll es bedeuten, Daß ich so traurig bin; Ein Märchen aus alten Zeiten, Das kommt mir nicht aus dem Sinn.13

Seine Trauer ist dem Dichter unverständlich, und ein altes Märchen kommt ihm in den Sinn, von dem er sich nicht befreien kann. Es beherrscht ihn, das ständige Nachdenken darüber wird zum Zwangsakt, und in seiner Unentrinnbarkeit ist es beides zugleich – der Grund und der Inhalt der Trauer, die den Dichter erfüllt. Was aber ist dieses Märchen? Es stellt sich im Bild einer Landschaft dar – »Die Luft ist kühl und es dunkelt, / Und ruhig fließt der Rhein« –, und im Bild einer »schönsten Jungfrau«, die auf dem Gipfel des Berges sitzt. Dort bleibt sie für den Schiffer unerreichbar, nur ihr Gesang zieht ihn schmerzhaft an: Den Schiffer im kleinen Schiffe Ergreift es mit wildem Weh; Er schaut nicht die Felsenriffe, Er schaut nur hinauf in die Höh.

Der Gesang der Loreley ist das Geheimnis des Gedichtes, und in ihm legt Heine sein tiefstes Dilemma nieder. Nicht nur die Schönheit der Jungfrau lässt den Schiffer vom Weg abkommen, sondern mehr noch ihr Lied: in ihm erscheint ihre sexuelle Anziehungskraft sublimiert, aber die ›Kunst‹, die ihn hier lockt, rettet den Schiffer nicht, im Gegenteil – sie macht nur das Doppelantlitz dieser Jungfrau sichtbar, ihren Eros und den Thanatos: 13 Ebd. S. 107.

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Ich glaube, die Wellen verschlingen Am Ende Schiffer und Kahn; Und das hat mit ihrem Singen Die Lore-Ley getan.

Über die Kultur wollten deutsche Juden ihren Weg in die Moderne nehmen, aber in der »Loreley« erweist sie sich als Falle. Mit dem Schicksal des namenlosen Schiffers gestaltet Heine ein Leben und Sterben im Exil, und wenn die Jungfrau an die Sirenen in der Odyssee erinnert, so gibt es doch einen großen Unterschied: Odysseus befindet sich auf der Heimfahrt, es ist die Sehnsucht nach Ithaka, die ihm das Leben rettet, bei Heines Schiffer dagegen kennen wir weder seine Herkunft noch sein Ziel. Er kommt aus dem Nichts und fährt in das Nichts – Abbild einer letzten Heimatlosigkeit, in dem auch Heines gespaltene, deutschjüdische Existenz ihren Knotenpunkt hat.

III Früh liegen für den israelischen Germanisten die Spuren der Tragödie zutage, die sich durch die deutsch-jüdische Literatur ziehen. Als Theodor Herzl zwei Generationen nach Heine in seinem Judenstaat glorreiche Zeiten voraussagte, trat er eine prekäre Flucht nach vorne an, und vielleicht hatte er keine andere Wahl. Es fällt aber auf, wie zwiespältig das Verhältnis vieler deutsch-jüdischer Schriftsteller und Intellektueller zur zionistischen Bewegung war. In ihren Gründerjahren hatten Kaiser Wilhelms mosaische Untertanen alle jüdisch-nationalen Aspirationen von sich gewiesen, seit dem Untergang Preußens aber war ihre ›deutsche‹ Identität fragwürdig geworden, und viele von ihnen – Arnold Zweig und Walter Benjamin, Erich Fromm und Hannah Arendt, Leo Löwenthal und Norbert Elias – sind auf die eine oder andere Weise mit dem Zionismus in Berührung gekommen. Kaum einer von ihnen jedoch wanderte nach Palästina aus oder ist dort geblieben.14 Zumeist haben sie den deutschen Sprachraum zwar verlassen, zogen der zionistischen ›Heimkehr‹ aber ein anderes Exil vor – ähnlich wie später die eingangs genannten Autoren der deutsch-jüdischen Nachkriegsliteratur Peter Weiss und Erich Fried, Nelly Sachs und Wolfgang Hildesheimer. Zu ihnen gehört auch Paul Celan. In seinem oben zitierten Brief an Verwandte in Israel hatte er begründet, weshalb er Europa nicht verlassen würde, und so ist es dann auch geschehen. Die ehemalige Bukowina, einst eine Hochburg der deutschen Kultur, gehörte seit 1947 zur Ukrainischen Sowjetrepublik, und Celan 14 Zu Arnold Zweig in Palästina, vgl. Gordon, Adi: ›In Palestine. In a Foreign Land‹. The Orient, a German-Language weekly between German Exile and Aliyah. Jerusalem 2004 (hebräisch).

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wollte weder dort noch im kommunistischen Bukarest bleiben. Er floh in den Westen, zuerst für einige Monate nach Wien, und schließlich nach Paris, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. Kurz bevor er Wien verlässt, schreibt er ein Gedicht, das diese Bewegung festhält: Auf Reisen Es ist eine Stunde, die macht dir den Staub zum Gefolge, dein Haus in Paris zur Opferstatt deiner Hände, dein schwarzes Aug zum schwärzesten Auge. Es ist ein Gehöft, da hält ein Gespann für dein Herz. Dein Haar möchte wehn, wenn du fährst – das ist ihm die bleiben und winken, wissen es nicht.15

verboten –

Stehen der Titel »Auf Reisen« und das Eingangswort »Stunde« miteinander in Beziehung, ist es die Stunde, in der die Reise beginnt? Das Bild der ersten Zeile scheint es zu bestätigen. Ein anrollendes Fahrzeug, vielleicht eine Kutsche, wirbelt den Staub auf, der dem Reisenden nachweht, die nächsten beiden Zeilen aber nehmen die Bewegung wieder zurück – zur selben Stunde, »in Paris«, wird das Haus des Reisenden zur »Opferstatt«, sein Auge wird das »schwärzeste«, alle Dynamik erstarrt. Die Fahrt mündet in ein Ritual der Trauer, und unmerklich verlagert sich das Gewicht von der ersten Zeile auf die zweite, gibt auch dem »Staub« eine andere Bedeutung. Er ist kein aufwirbelnder Sand mehr, sondern eine Metapher für die Toten, im »Gefolge« des Reisenden sind auch sie an der Opferstatt zugegen. Schon der Titel des frühen Bandes, in dem das Gedicht steht, hält diese Metapher fest: Der Sand aus den Urnen. Und dennoch bleibt sie ambivalent, evoziert auch die Wüste vor dem Gelobten Land, den Sand an den Schuhen des Ewigen Juden, den Staub in seiner Doppeldeutigkeit, als göttliche Verheißung und als Bild des sterblichen Menschen. Das Bild der anrollenden Kutsche entsteht nur in der Vorstellung des Lesers, denn die Zeile lässt sich nicht paraphrasieren. Ihre Worte – »Stunde«, »Staub«, »Gefolge« – erlauben keine logische, sondern nur eine bildliche Vermittlung, und auch der Beginn der zweiten Strophe stellt den Leser vor diese Aufgabe. »Es ist ein Gehöft, da hält ein Gespann für dein Herz«: Die Eingangszeilen beider Gedichtstrophen weisen parallele Konstruktionen auf, und es scheint zunächst, als fände die vom Leser imaginierte Kutsche des Anfangs im »Gespann« der zweiten Strophe ihre Entsprechung, aber ist es wirklich so? »Dein Haar möchte wehn, wenn du fährst«: Noch scheint der Fahrtwind zu 15 Celan, Paul: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1986. S. 60.

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wehen, der in der ersten Strophe den Staub aufgewirbelt hat, doch dann kommt die Fortsetzung – »das ist ihm verboten« –, und es erweist sich, dass die schon zu Anfang stillgelegte Bewegung auch in der zweiten Strophe nicht mehr aufkommt. Man kann »ein Gespann für dein Herz« im Bild der Kutsche lesen, als ›Kutsche nach dem Herzen‹, in der man auf ersehnte »Reisen« geht. Erkennt man indessen den Stillstand in diesen Zeilen, so verändert sich das Bild. Auf dem Gehöft warten dann keine Pferde darauf, das Herz auf Reisen zu nehmen, sondern der Satz ist wörtlich gemeint – das »Gespann für dein Herz« ist ein Gestänge mit Joch und Zügeln, in dem das Herz selbst eingespannt bleibt; es kann den Ort nicht mehr verlassen, den das ›schwärzeste Auge‹ gesehen hat – ein Gehöft der schmerzlichsten Erinnerung, das zur Opferstatt wird, zu Flucht- und Endpunkt aller Fahrten. Der Titel, »Auf Reisen«, steht im Plural, denn wohin die Fahrten gehen, ist nicht zu sagen. Gehen sie nach Paris, ins Haus der Opferstatt, oder beginnen sie dort? Will der Reisende nach Paris, um das Ritual zu beginnen, oder will er fort von Paris, will er es beenden? Wie dem auch sei, zu fahren »ist ihm verboten«, die Kutsche rollt niemals an, und die »bleiben und winken, wissen es nicht«. Wer sind sie, diese Winkenden? Sind es die Lebenden, die glauben, er breche zur Opferstatt auf; oder die Toten, die glauben, er kehre nach Vollendung des Rituals ins Leben zurück? Auf diese Frage gibt das Gedicht keine Antwort, denn sie – diese Frage – ist das Gedicht: Immer wird Celan im Niemandsland zwischen den Toten und den Lebenden verharren, immer wird er sich in seiner Dichtung beiden Welten zugehörig fühlen. Zwei Gedichte der deutsch-jüdischen Literatur, das erste an einem scheinbar noch verheißungsvollen Anfang geschrieben, das andere schon nach der Katastrophe. Doch ob Anfang oder Ende: beide Gedichte, die »Loreley« und »Auf Reisen«, werden durch eine schwer zu beschreibende Grenzlinie von Leben und Tod strukturiert, und paradigmatisch bilden sie den Rahmen der Welt, die eine israelische Germanistik zu erkunden hat. Der unter Akademikern wohl bekannteste Zionist, der die Welt des deutschen Judentums als eine Lebenslüge anprangerte, war der Kabbalaforscher Gershom Scholem. In Berlin geboren und aufgewachsen, wanderte er schon früh, 1923, nach Jerusalem aus und trat nach dem Krieg als scharfer Kritiker aller Apologetik auf. Aber Scholem, ein eingefleischter Antimilitarist, stand immer auf dem kulturzionistischen Flügel, und die politischen Entwicklungen nach 1967 erfüllten ihn mit Besorgnis. Er gehört zu den Wegbereitern, die der deutschen Kultur den Eintritt in die Hebräische Universität ermöglichten. 1968 lud er Peter Szondi nach Jerusalem ein, und im Wintertrimester dieses Jahres vertrat er Lea Goldberg auf dem Lehrstuhl für Komparatistik. Goldberg, eine bekannte israelische Dichterin und Kinderbuchautorin, hielt diesen Lehrstuhl seit 1963 inne, und als sie im Januar 1970 stirbt, wendet sich Scholem ein

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weiteres Mal an Szondi und trägt ihm Goldbergs Nachfolge an. Szondi kann die Einladung nicht annehmen, und in einem Brief begründet er das ausführlich. »Sie haben einmal in Jerusalem«, schreibt er an Gershom Scholem, mit einem in seiner Hellsichtigkeit zwar nicht überraschenden, aber unvergesslichen Satz gesagt, warum ich in Deutschland lebe und wohl hier bleiben werde: weil ich es verlernt habe, zu Hause zu sein (ich war es in meiner Budapester Kindheit so wenig wie in Zürich und streng genommen auch in anderem Sinn bei meinen Eltern nie). Das ist eine Krankheit, die man vielleicht mit der Rosskur einer, aus welchem Grund auch immer, notwendig werdenden Emigration heilen könnte; aus freiem Willen bringe ich die Kraft zu diesem Schritt umso weniger auf, als ich in Jerusalem vor zwei Jahren ja nicht nur empfand, dass ich dort zu Hause bin, sondern auch, dass ich das nicht ertrage.16

Diesen Brief schreibt er am 26. Februar 1970, und bald danach begeht Szondis Freund Paul Celan Selbstmord in Paris. »Vielleicht bin ich einer der Letzten« hatte er 1948 nach Israel geschrieben, »die das Schicksal jüdischer Geistigkeit in Europa zuendeleben müssen«. Und es ist seltsam: Auch Peter Szondi – das Kind aus Ungarn, das ein Abkommen mit Eichmann vor dem Tod gerettet hat; der Schweizer Staatsbürger, der in Berlin Professor für vergleichende Literaturwissenschaft war ; der Gastdozent, der in Jerusalem französische Vorlesungen gehalten hatte –, auch er lebte seine tiefe Verbundenheit mit der deutschen Kultur als ein Schicksal jüdischer Geistigkeit in Europa zu Ende. Im Oktober 1971, anderthalb Jahre nach seiner Korrespondenz mit Gershom Scholem, folgte er Paul Celan in den Freitod.

16 Der Brief wird zitiert nach: Peter Szondi. Brief an Gershom Scholem, in: Hessing, Jakob (Hg.): Jüdischer Almanach 1993. Frankfurt a. M. 1992, S. 85 – 86.

Anne Birkenhauer

Sprache und Existenz bei David Grossman und Chaim Be’er Beobachtungen der Übersetzerin

Das Thema dieses Vortrags entsprang einer verblüffenden Beobachtung, die ich beim Übersetzen von zwei großen Romanen der israelischen Autoren David Grossman und Chaim Be’er machte. Sie ließ mich nicht los und begleitete mich schließlich bis zu einem weiteren Buch von David Grossman, einer Erzählung, an der ich zur Zeit arbeite. Der Vortrag soll Einblicke in diese Zusammenhänge geben, die im Laufe der Arbeit in meinem Kopf Gestalt annahmen. Einblicke nicht in den engeren Prozess des Übersetzens von einer Sprache in die andere, vielmehr in den immer parallel dazu ablaufenden Prozess der Interpretation, also die Art und Weise, wie ich mir aus dem, was der Autor in seinem aktuellen Buch schreibt, und auch aus dem, was er in früheren Büchern geschrieben hat, ein sich ständig revidierendes Bild mit immer mehr Details mache, das im Idealfall die nächsten Schritte des Verstehens und Übersetzens erhellt. Wie bei jedem Leser – und Übersetzen ist ja zunächst einmal ein sehr intensives, engagiertes Lesen – legt eine solche Lektüre Spuren im Gedächtnis des Übersetzers, die sich selbst nach vielen weiteren Lektüren und Übersetzungen nicht mehr wegdenken lassen. Es sind sehr präzise Spuren; bei mir haben sie selten mit den großen Zügen der Handlung zu tun; vielmehr sind es Bruchstücke einzelner Szenen und Details, bestimmte Bewegungen oder Lichtverhältnisse, die sich mir einprägen, als hätte ich sie selbst erlebt. Wenn ich später einen anderen Autor übersetze, treffe ich immer wieder auf die Spuren seiner Vorgänger, die automatisch einen weiteren Hintergrund zu den neuen Eindrücken bilden, und wenn ich dann das nächste Buch des ersten Autors übersetze, sind die Perspektiven auf ihn inzwischen vielfältiger geworden, denn manchmal beschreiben Autoren ja ähnliche Details, und gerade im Vergleich ihrer literarischen Mittel tritt ihre Eigenart umso deutlicher hervor. So begegneten sich in meinem Kopf David Grossman und Chaim Be’er, zwei große und denkbar unterschiedliche Autoren der zeitgenössischen hebräischen Literatur, da ich ihre beiden letzten Romane direkt nacheinander übersetzte. Beide haben in diese Romane das Thema der existenziellen Bedrohung Israels

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mit Hilfe zweier verblüffend ähnlicher Szenen eingeflochten. Ausgehend von dieser Parallelität werde ich auf ihren so unterschiedlichen Umgang mit der modernen hebräischen Sprache zu sprechen kommen und darauf, in welchen Situationen sie sich selbst und ihre Sprache als existenziell bedroht erleben. Ich beziehe mich im Folgenden auf David Grossmans Roman Eine Frau flieht vor einer Nachricht, auf seine Erzählung Aus der Zeit fallen, und auf Chaim Be’ers Roman Bebelplatz, alle drei von mir übersetzt, zudem auf Grossmans Essayband Die Kraft zur Korrektur, übersetzt von Vera Loos und Naomi Nir-Bleimling.1 * Vor etwa fünf Jahren übersetzte ich David Grossmans großen Roman Eine Frau flieht vor einer Nachricht2 und stieß dort auf eine kurze Szene, über die ich staunte, und die ich zunächst für reine Fiktion hielt. Von Ora, der Heldin des Romans, heißt es dort: Im letzten Jahr, während der großen Umwälzungen in Oras Leben, hatte ein Bekannter einen Job für sie gefunden – Teilzeit und ohne feste Verpflichtungen – für ein neues Museum, das in Nevada entstehen sollte und sich aus irgendeinem Grund für Israel und vor allem für seine »materielle Kultur« interessierte. Ora mochte diese ungewöhnliche Beschäftigung, die ihr da zugefallen war und sie ein wenig von sich selbst ablenkte, und zog es vor, nicht eingehender nach den verborgenen Motiven zu forschen, nicht nachzufragen, was die Initiatoren bewogen hatte, ausgerechnet in der Wüste Nevada Unsummen für eine Rekonstruktion des Staates Israel auszugeben.3

Etwa eineinhalb Jahre später übersetzte ich Chaim Be’ers Roman Bebelplatz4, der etwa im selben Zeitraum entstand. Bei ihm stieß ich auf ein ganz ähnliches Detail; der Ich-Erzähler sagt dort: Ich erzählte ihm vom Helden meines Buches, Lemberg, und von dessen Traum, außerhalb Israels eine Bibliothek zu errichten, die in Vielfalt und Qualität sogar die Nationalbibliothek von Jerusalem übertreffen solle. Eine Art Sicherheitskopie für den Fall, dass bei uns im Zuge eines militärischen Desasters oder einer anderen existenziellen Katastrophe der große Computer zusammenbräche und alles, was wir in ihm gespeichert haben, vernichtet würde.5 1 Grossman, David: Die Kraft zur Korrektur, aus dem Hebr. von Vera Loos und Naomi NirBleimling, München 2008; ders.: Eine Frau flieht vor einer Nachricht, aus dem Hebr. von Anne Birkenhauer, München 2009; ders.: Aus der Zeit fallen, aus dem Hebr. von Anne Birkenhauer, München 2013; Be’er, Chaim: Bebelplatz, aus dem Hebr. von Anne Birkenhauer, Berlin 2010. 2 Der Roman erschien 2008 unter dem hebr. Titel ischa borachat mi-bessora bei Ha-sifria hachadascha. 3 Grossman, Eine Frau flieht vor einer Nachricht, S. 90. 4 Der Roman erschien 2007 unter dem hebr. Titel lifnej ha-makom beim Verlag Am oved. 5 Be’er, Bebelplatz, S. 120 f.

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Und etwas weiter : Derartige Bibliotheken entstünden heutzutage tatsächlich an verschiedenen Universitäten der Welt. Einige aus der Überzeugung heraus, das in Amerika heranwachsende jüdische Zentrum sei dem in Israel ebenbürtig, wie etwa seinerzeit Babylonien und Jerusalem, und habe vielleicht sogar die besseren Entwicklungschancen. […] Andere wiederum betrachteten den Staat Israel ganz unverhohlen lediglich als eine vorübergehende Episode in der Geschichte des jüdischen Volkes, dessen Kulturschätze man für die Zeit danach, in der es den Staat nicht mehr geben werde, bewahren müsse. Von den meisten dieser Bibliotheken wisse die breite Öffentlichkeit nichts.6

Als ich diese Stelle bei Be’er übersetzte, stand mir die parallele Szene bei Grossman lebendig vor Augen. Die Tatsache, dass in eben diesen Jahren zwei wichtige Autoren eher verschwiegene Details der israelischen Realität dazu benutzen, um auf ganz ähnliche Art ihre grundlegende Besorgnis um die schiere physische Weiterexistenz des Staates zu illustrieren, gab mir zu denken. Beide Autoren beschreiben – auch das interessant und sicher kein Zufall – durch den Mund nicht in Israel lebender Juden kühl und distanziert die Erwartung, dass der Staat Israel in absehbarer Zeit vernichtet werden wird. Das nahe Ende Israels ist für sie eine Tatsache mit der sie nicht hadern, sie nehmen sie vielmehr als gegeben und unabwendbar an. In Israel äußert man solche Befürchtungen wohl mal voller Verzweiflung im Gespräch, sie sind aber für die meisten, ja oft mehrfach traumatisierten jüdischen Israelis grundsätzlich tabu. Man redet freilich sehr engagiert von den jeweils aktuellen konkreten Bedrohungen, wenn es um eine Mehrheit für bestimmte politische Beschlüsse oder um eine Aufstockung des Militäretats geht, doch an und für sich, ohne die Aussicht auf »rettenden« Aktionismus, lässt man diesen Gedanken nicht zu. Man könnte wohl kaum in Israel bleiben und Kinder großziehen, wenn man wirklich annähme, dass es mal ganz aus sein wird mit diesem Staat, und dass keine realistische Rettung zu erwarten ist. Das Tabu lautet: nicht zu sehen und nicht zu zeigen, dass die Zukunft Israels und das physische und geistige Weiterleben seiner Bewohner unter einer grundlegenden und absoluten Bedrohung steht. * Soweit zu der existenziellen Bedrohung, die beide Autoren vor etwa fünf Jahren, in ihre Romane relativ unauffällig eingeschrieben haben, so beiläufig, dass sie in der Öffentlichkeit keinen Aufschrei auslösten, und bei Grossman unter dem Eindruck der Ereignisse des gesamten Romans auch leicht überlesen werden konnten. 6 Ebd. S. 121.

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Aber die beiden sind eben nicht Historiker oder Soziologen, sondern sie schreiben Literatur. Ihr eigentliches Thema ist die Sprache. Die Existenz dieser Autoren, auch ihre jüdische Existenz, steht und fällt bei ihnen mit der hebräischen Sprache, und das nicht erst in fernerer oder näherer Zukunft, sondern heute, jeden Tag. Dies beschreiben und beschwören sie beide seit Jahren immer wieder, jeder auf seine ganz eigene Art. Die Helden ihrer Romane sind deshalb bei Be’er nicht etwa Lemberg oder Rappoport und bei Grossman auch nicht seine Hauptfiguren Ora und Avram, sondern der eigentliche Held ihrer beiden Romane ist die hebräische Sprache: die Möglichkeit, in ihr Dinge zu beschreiben und zu vollziehen, die in der außersprachlichen Wirklichkeit (bisher) nicht möglich sind; in ihr Dinge denken zu können, die unsere enge, individuelle Wahrnehmung und Begrifflichkeit transzendieren; in ihr die präziseste Darstellung komplexer Emotionen zu erreichen. In einem zweiten Schritt möchte ich deshalb zeigen, wie unterschiedlich Grossman und Be’er, nachdem ich sie aufgrund dieser ähnlichen Szenen in einen inhaltlichen Zusammenhang gestellt habe, mit ihrem Medium, der hebräischen Sprache, umgehen, und näher untersuchen, wo sie ihren wahren Helden, ihre Sprache, und ihre Existenz in der Sprache als bedroht erleben. Ich werde erst auf Chaim Be’er eingehen, dann auf David Grossman zurückkommen und mit einer Stelle aus dessen neuestem Buch schließen. * Chaim Be’er ist wohl der heute letzte Vertreter eines literarischen hebräischen Stils, der sich bewusst in die Tradition der frühen modern-hebräischen Literatur stellt, in die Tradition von Mendele Moicher Sforim (1836 – 1917http://de.wiki pedia.org/wiki/Gregorianischer_Kalender) und Josef Chaim Brenner (1881 – 1921), von Samuel Joseph Agnon (1888 – 1970) bis hin zu Jehuda Amichai (1924 – 2000); von Autoren also, in deren Sprache man einen Nachhall der jahrtausendealten Traditionsliteratur hört. Seine Romane spielen in einer vom traditionellen jüdischen Textstudium geprägten Welt, unter Protagonisten, die, auch wenn sie die traditionelle orthodoxe Lebensweise abgelegt haben, weiter in dieser geistigen Welt verwurzelt sind. Be’er vermag in diesem sich dauernd an frühere Sprachepochen zurückbindenden Stil nicht nur spannende und komplexe Geschichten zu erzählen sondern auch seine persönlichsten Regungen auszudrücken. So beschreibt er zum Beispiel in Berlin-Grunewald das verwaiste Haus seines Freundes Salomon Rappoport – Sohn eines jüdischen Buchliebhabers, der, weil er seine Bücher nicht mitnehmen konnte, Deutschland nach den Bücherver-

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brennungen nicht verlassen wollte und zusammen mit seiner Bibliothek unterging. Seine Trauer über diesen verwaisten Ort drückt Be’er mit einer alten Formulierung über die Zerstörung des Jerusalemer Tempels aus. Die Anspielung auf zwei Verse aus den Klageliedern Jeremias (1,4 und 2,9) »Weil keiner mehr kam, waren seine Tore tief in die Erde gesunken«7 sollte der israelische Leser erkennen. Für einen Israeli, in dessen Leben diese traditionelle jüdische Textkultur noch lebendig ist, sind die Klagelieder Verse, die man jedes Jahr am 9. Av, dem Gedenktag der Zerstörung des Jerusalemer Tempels, rezitiert oder gehört hat, an einem Datum, mit dem weitere traumatische Ereignisse in der Geschichte des jüdischen Volkes identifiziert werden. Diese Verse sind mit einem mitgewachsen, man hat mit ihnen gerungen, anhand ihrer mit Gott oder mit dem Schicksal gehadert; es sind Verse, die in Zeiten entsetzter Sprachlosigkeit aufgrund ihrer zeitlosen Schlichtheit vielleicht die einzigen Worte waren, die überhaupt noch Kraft hatten, die ideologisch nicht missbraucht worden waren und ein Ereignis wie den Zivilisationsbruch der Vernichtung der europäischen Juden wenigstens für einen Moment fassen konnten. Verse, die für diejenigen, denen sie geläufig sind, nicht nur zum Inbegriff sondern zum Gefäß für einen Schmerz geworden sind, der weit über die Trauer der Tempelzerstörung hinausgeht. All das schwingt mit, wenn ein Schriftsteller wie Chaim Be’er eine so aufgeladene Formulierung benutzt: »Weil keiner mehr kam, waren seine Tore tief in die Erde gesunken.«8 Das merkt der moderne, säkulare Israeli allerdings oft nicht mehr ; er überliest die Stelle, vermutet hinter dieser archaisch anmutenden Formulierung, die in ihm nichts auslöst, eher eine klischeehafte Phrase, mit der der Autor große Gelehrsamkeit, enzyklopädische Textbeherrschung oder Frömmigkeit demonstrieren will. Er kann sich nicht vorstellen, dass dies die für den Autor angemessenste und präziseste Art ist, die Wucht seiner allerpersönlichsten Gefühle angesichts des Todes seines Freundes Rappoport auszudrücken und dabei eine Vielzahl von Assoziationen aufzurufen. Chaim Be’er hält bis heute an diesem ihm so ganz eigenen Stil fest; er benutzt die historische Tiefe der hebräischen Sprache und ihren traditionellen Sprachgebrauch als Mittel, die Vielschichtigkeit und Dialektik seiner Gedanken und Emotionen darzustellen. Doch immer weniger Leser werden ihn verstehen, denn im Zuge der religiösen Polarisierung, die in den letzten Jahrzehnten in Israel stattfindet, 7 Auf Hebr.: »mi-bli ba’ej mo’ed tav’u ba-aretz sche’arav«; Be’er, lifnej ha-makom, S. 276. Hierbei handelt es sich nicht um ein wörtliches Zitat, das man in einer Konkordanz finden könnte, sondern um die Verbindung von Formulierungen aus zwei verschiedenen Versen, wie sie sich jemand erlauben kann, der diese Texte als seine eigene Sprache verwendet. 8 Be’er, Bebelplatz, S. 286.

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schwindet bei den Nichtreligiösen die Kenntnis der traditionellen jüdischen Texte rasant, so dass ihnen der Reichtum dieser Anspielungen immer öfter entgehen wird. Im Gegenzug verengen bestimmte religiöse Israelis aus Angst vor dem Einbruch der Moderne in ihr Leben ihren Kulturbegriff oft so sehr, dass sie einen so durch und durch jüdischen, aber eben auch modernen Autor wie Chaim Be’er nicht lesen, weil er, vereinfacht gesagt, ihre enge religiöse Weltsicht nicht teilt. Um dieser Einschränkung seiner Leserschaft zu begegnen, hat Be’er in seinem letzten Roman Bebelplatz erstmals eine Art »Kommentarschiene« eingefügt, in der er selbst als Erzähler an einigen Punkten die von ihm verwendeten traditionellen Formulierungen für den israelischen Leser erklärt und sogar kommentiert. Dieser Kunstgriff erleichterte natürlich auch mir ihre Vermittlung an die mit jüdischer Textkultur nicht vertrauten Leser und gab mir als Übersetzerin zudem die Möglichkeit, ihm, wo nötig, noch ein paar mehr Erklärungen »in den Mund zu legen«9. An der betreffenden Stelle habe ich meine Erklärung allerdings nicht als deklarierten Kommentar des Erzählers, sondern unterschwellig eingeflochten: Die Büsche auf dem Weg zu Rappoports Haus waren wild gewachsen und versperrten den Eingang. Weil keiner mehr kam, waren seine Tore tief in die Erde gesunken, ging mir die Beschreibung des verlassenen Jerusalemer Tempels durch den Kopf.10

Um zu zeigen, wie eng bei Chaim Be’er nicht nur in seinem Schreiben, sondern auch in seiner täglichen, gesprochenen Sprache diese beiden Aspekte – die Beschreibung existenzieller physischer Bedrohung und die Sprache als das, womit man sich seiner Existenz versichert – miteinander verflochten sind, möchte ich eine Szene von unserer gemeinsamen Lesereise im März 2011 berichten. Gegen Ende einer Lesung in Düsseldorf fragte ein sehr betagter Herr aus der Jüdischen Gemeinde mit großer Sorge, ob Be’er denn tatsächlich glaube, dass der Staat Israel vielleicht einst nicht mehr bestehen werde, das wage er überhaupt nicht, sich vorzustellen. Be’er meinte, er antworte auf schwierige Fragen am liebsten mit einem Gleichnis: Ein König ließ den größten Weisen seines Reiches vor sich erscheinen. Er zeigte ihm seine geschlossene Faust, sagte, darin sei ein Schmetterling gefangen, und fragte ihn, ob der noch lebe oder tot sei. Der Weise verstand: Würde er sagen, er ist tot, würde der König die Hand öffnen und der Schmetterling würde herausfliegen. Würde er sagen, er lebe noch, könnte der König zudrücken und ihn töten. So besann er sich eine Weile und sagte: »König, es liegt ganz in deiner Hand!«11 9 Vgl. dazu mein Nachwort: Ebd. S. 310 – 319. 10 Ebd. S. 286, unterstrichen ist meine eingefügte Erklärung. 11 Chaim Be’er, mündlich am 22. 3. 2011 im Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf.

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Be’er beschloss das Gleichnis mit dem Zusatz: »Es liegt alles in unserer Hand. Wir müssen jetzt sehr weise und bedächtig sein!« Diese eher politisch anmutende Antwort auf eine existenzielle Besorgnis des Fragers habe ich für das Publikum übersetzt, das mit dem Nachhall dieser Worte nach Hause ging. Erst später wurde mir klar : Die Antwort hatte, wie fast alles, was Chaim Be’er auf Hebräisch sagt, einen doppelten Boden: Denn viele Midraschim beginnen mit der Geschichte von einem irdischen König, gegen den sich das Gegenbild des Königs der Könige, also des Schöpfers der Welt, abhebt, und der ist barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Huld und Treue. Dieses Gegenbild muss gar nicht genannt werden, und wird es auch oft nicht; es wird in diesem Genre ohnehin sofort mitgedacht. Sobald man im Midrasch also von einem irdischen König (melech bassar wa-dam) liest, weiß man, dass hier indirekt eine Aussage über den König der Könige gemacht wird. Wenn also der moderne, politisch denkende Chaim Be’er zu seinem Gleichnis den Nachsatz hinzufügt: »Es liegt ganz in unserer Hand« – und mit »uns« meinte er die Israelis und die von ihnen gewählte Regierung –, dann darf man dies gewiss als eine explizite Absage an den König im Gleichnis verstehen. Soweit so gut. Doch welchem König erteilt er damit eine Absage? Den doppelten Boden kann nur hören, wer das literarische Genre der Königsgleichnisse kennt und weiß, dass es in solchen Gleichnissen um einen ganz anderen König geht. Zu dem äußert sich Be’er nicht explizit, doch in dem Moment, wo er dieses literarische Genre anklingen lässt, evoziert er auch den zweiten Teil des Gleichnisses, den er verschweigt. Die Verantwortung obliegt zweifellos uns Menschen, sagt er, doch die Worte des Weisen »König, es liegt ganz in deiner Hand« sind nicht unbedingt Worte der Schlauheit oder Verzweiflung angesichts der Willkür des irdischen Königs, sondern möglicherweise Worte der Hoffnung, die an den anderen, den wahren König gerichtet sind. Eine solche Hoffnung kann man als moderner Mensch, zumal wenn man sich von vielen gesellschaftlichen Konventionen seiner Religionsgemeinschaft gelöst hat, kaum laut aussprechen, aber man kann sie sehr beredt schweigen. Glücklich, wer dieses Schweigen wahrnimmt und in solchen Momenten den präzisen Urgrund der Hoffnung, auf der diese reiche Kultur fußt, für einen Moment erahnen kann. Damit ist der Bogen geschlagen zur wiederkehrenden Frage von Jakob Hessing in seinem Vortrag: »Darf man solchen Trost in säkularen Texten suchen? – Die Antwort ist schwer zu geben, und nur individuell.« * David Grossman mit seinem säkularen, modernen, oft umgangssprachlichen Hebräisch, das nur selten mal eine Formulierung aus der jüdischen Traditi-

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onsliteratur aufgreift, steht genau am anderen Ende des Spektrums der gegenwärtigen hebräischen Literatur. Hundertmal lieber als alte Formulierungen oder Zitate aus der Traditionsliteratur zu verwenden, erfindet Grossman, wenn ihm die moderne hebräische Sprache nicht ausreicht, eigene Wörter, und das zuhauf, in oft unauffälligen, manchmal aber auch sehr virtuosen Wortschöpfungen. Grossman ging es schon als ganz junger Mann, als er noch beim Radio arbeitete, darum, die Sprache des israelischen Kollektivs, jenes Wir-Hebräisch, zu demontieren und ihm einzelne, klare, mutige Stimmen in der ersten Person Singular entgegenzustellen. Die Rückeroberung der persönlichen Sprache ist für ihn der Garant seiner Individualität. Sprache ist das Medium, in dem er wirklich frei ist, in dem er sich und andere noch einmal neu denken, neu erfinden kann, in dem er neue Formen menschlicher Kommunikation ausprobiert, von denen viele noch nicht einmal zu träumen wagen. Ein halbes Jahr bevor Eine Frau flieht vor einer Nachricht auf deutsch herauskam, erschien ein sehr schönes Bändchen mit seinen Aufsätzen zur Sprache und zum Schreiben unter dem Titel Die Kraft zur Korrektur. Es enthält radikale Bekenntnisse des Autors zu seinem Schreiben, zu dem, was ihn dazu treibt, und kommt immer wieder auf seine zentrale Aussage zurück, dass er Dinge erst dann wirklich versteht, wenn er über sie schreiben kann. Für unseren Kontext möchte ich nur zwei zentrale Gedanken daraus hervorheben: Für Grossman ist das Schreiben sein persönlicher Weg, nicht zum Opfer der politischen »Lage« zu werden: Selbst wenn er nicht fiktiv, sondern dokumentarisch schreibt, bewahrt er sich allein dadurch, dass er eine Situation mit von ihm selbst gewählten Worten und aus einer von ihm bestimmten Perspektive beschreibt, seine innere Freiheit und die Gewissheit, dass diese Situation nicht so bleiben muss, wie sie ist, dass sie anders sein könnte, ja, dass sie anders sein kann. Zugespitzt gesagt: Die todbringenden Zwangsläufigkeiten, mit denen wir uns im Nahen Osten gleichsam »eingerichtet« haben, sind dann kein unentrinnbares, über uns verhängtes Schicksal mehr. Sein Schreiben ist der immer neue Versuch, den Anderen aus seinem Inneren heraus zu verstehen: Dies ist, wie Patricia Reimann so beeindruckend zusammenfasste, »der humane Kern von Grossmans politischem Denken, es ist die ästhetische Wurzel seines Schreibens, der Urgrund seines künstlerischen Schaffens: »den andern aus seinem Inneren heraus zu verstehen«.12 Grossman schrieb Eine Frau flieht vor einer Nachricht unter anderem auch, wie er in seinem Nachwort erklärt, um seinem zweiten Sohn Uri, der kurz nach Beginn seines Schreibens eingezogen wurde, während dessen zweieinhalbjäh12 Patricia Reimann: Laudatio bei der Verleihung des Jane Scatcherd-Preises 2011 an Anne Birkenhauer in Frankfurt, unveröffentlichtes Manuskript.

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rigen Wehrdienstes schreibend so nah wie möglich zu sein. Doch am Ende dieses Wehrdienstes, als Grossman sein Buch beinahe abgeschlossen hatte, ist Uri im August 2006 in den letzten Tagen des Zweiten Libanonkrieges gefallen. Wer Grossman bis dahin gelesen hat – seine Aufsätze und seinen letzten Roman –, musste sich natürlich fragen, ob dieser Mann weiterschreiben wird; wie sich das Schreiben als erklärtermaßen einzige Art, nicht Opfer »der Lage« zu werden, angesichts des gefallenen Sohnes überhaupt noch bewähren kann. Im Juni 201113 veröffentlichte er sein neues Buch nofel me-chutz la-sman: »Aus der Zeit fallen. Eine Erzählung für Stimmen« – und es scheint mir eine Art Antwort auf diese Frage zu sein. Es ist ein schmales Buch, oft mit kurzen, wie Lyrik anmutenden Zeilen. Nicht in der uns von Grossman bekannten vitalen, ausufernden, von Bildern überquellenden, sondern in einer zumindest auf den ersten Blick mageren Sprache. Wir hören darin die Stimmen von Eltern, die ihre Kinder verloren haben, wie sie versuchen, sich den Ort vorzustellen, an dem ihre Kinder jetzt sind, und auch darüber, wie das Trauern sie voneinander isoliert, wie ihre Ehen daran verkümmern. Doch eigentlich – und das ist ein weiterer, wohl der zentrale Strang dieser Erzählung – versucht eine dieser Figuren, ein mit seinem Schreibtisch verwachsener »Zentaur«, halb Schriftsteller, halb Tisch, dennoch für das, was ihm mit dem Tod des Sohnes widerfuhr und ihm seine Sprache raubte, eine Form zu finden. Nur kommt man ihm nicht so schnell drauf, denn Grossman ist ein virtuoser Erschaffer neuer Welten und Verwirrer. Vielleicht bot das mythisch wirkende, geradezu fantasyhafte Repertoire von Figuren dieser nicht in Israel spielenden Erzählung ihm auch die Möglichkeit, zunächst ein paar Schritte von seinem persönlichen Abgrund zurückzutreten, ein bisschen literarische Distanz zu gewinnen, um dann sich selbst und uns Leser von hinten zu überraschen und ganz nah an diesen unerträglichsten aller Schmerzen heranzugehen und dabei bis an die Grenzen der Sprache und über sie hinaus. Wer Die Kraft zur Korrektur gelesen hat, wird in den wütenden und verzweifelten Worten des Zentauren Grossmans Hauptgedanken über sein Schreiben wiedererkennen. Gerichtet sind sie an eine andere Figur, den »Chronist der Stadt«, der jeden Abend durch die Stadt geht und »im Auftrag des Herzogs« verschiedene Trauernde befragt und ihre Antworten notiert.

13 Wenige Wochen davor hatte er ein schmales Bändchen, eine Art Kinderbuch mit Zeichnungen der israelischen Künstlerin Michal Rovner veröffentlicht; es erschien in der Übersetzung aus dem Englischen von Michael Krüger Anfang 2012 unter dem Titel: Die Umarmung.

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Zentaur: So ist das bei mir, Beamtenzwerg, so bin ich eben gebaut. Tatsache! Ich bin nicht in der Lage, etwas zu verstehen, bis ich es nicht aufschreibe. Ich meine, wirklich verstehen, ganz genau! Was schaust du mich so an? Schon wieder dieses Waisengesicht! Wirklich schreiben, sag ich dir, nicht bloß wiederkäuen, was tausend Leute vor mir schon gekaut und ausgespuckt haben, wie du es so gern tust, du Blöckchenschreiber. Ablauschen und zitieren, jeden Furz von ihnen in Schönschrift notieren, ja? Dann schreib jetzt bitte, in Riesenbuchstaben: Ich muss es von Neuem erschaffen, in Form einer Geschichte! Kapiert? Na was wohl, Idiot? Das, was passiert ist! Was verstehst du hier nicht? Diese verfickte Sache, die mir und meinem Sohn da passiert ist, ja, ich muss sie in eine Geschichte einbauen, anders geht es nicht, in eine Handlung, und Phantasie muss dabei sein, und neue Ideen und Freiheit und Träume! Feuerzungen! Alles muss rein in den brodelnden Kessel!14

Und direkt darauf: Zentaur: Nur so kann ich mich ihm irgendwie nähern, diesem verfluchten Etwas, ohne dabei draufzugehn, kapiert? Ich muss mich ihm gegenüber bewegen können, mich regen, nicht erstarren wie das Kaninchen vor der Schlange! Muss wenigstens für einen Moment, für eine halbe Sekunde, diesen letzten Ort der Freiheit spüren, den ich vielleicht noch in mir hab, diesen Viertelfunken, der eventuell noch in mir brennt, den es nicht hat verlöschen können … verdammt! Ich hab keinen andern Weg, versteh: Ich kenne keinen andern Weg. […] Kneten will ich es, dieses es, ja, das, was passiert ist, das, was wie ein Blitz einschlug und mir alles verbrannt hat, auch die Wörter, verflucht nochmal, die Wörter, die es mir hätten beschreiben können, die hat es auch verbrannt, dieses Monstrum. […] Mehr brauch ich doch nicht, bloß, dass es sich ein bisschen bewegt, wenigstens auf meinem Blatt, dass es zuckt, dass ich nicht … dass ich nicht so absolut gar nichts mit ihm machen kann!15

Die Stimmen der trauernden Eltern sprechen im Originaltext kurze, gegen den Sinn gebrochene, abgehackt wirkende Zeilen; sie bestehen oft nur aus ein, zwei Wörtern, laufen syntaktisch aber in die nächste Zeile über, um auch dort gleich wieder abzubrechen. Grossmans Zeilen bilden also meist keine semantische Einheit, wie man bei Lyrik vermuten würde, sondern binden eher die Anfänge und Enden von je zwei Gedanken abrupt zusammen. Das Schriftbild der Elternstimmen scheint das Zerbrechen der Sprache angesichts des Todes widerzuspiegeln. Als ich Grossman das erste Mal aus diesem Buch öffentlich vorlesen hörte, war ich völlig überrascht, denn er überging all diese Zeilengrenzen und las den Text wie fortlaufend geschriebene, oft rhyth14 Grossman, Aus der Zeit fallen, S. 50. 15 Ebd. S. 50 – 52.

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mische, oft sehr klangvolle Prosa. Mein Eindruck war : Erst die Klänge, die entstehen, wenn menschlicher Atem den Text belebt, überwinden (ja, bewegen!) das objektive Schriftbild der schwarz auf weiß geschriebenen »großen Tatsache« des Todes. Als letztes Beispiel dazu, noch einmal eine Stelle aus der Rede des Zentaur : Zentaur: […] dann schreib jetzt bitte auf, und zwar schnell, bevor es mir wieder entflieht: und bei mir im kopf ist immer krieg komma die wespen hören nicht auf zu summen doppelpunkt wem hilft es wenn du schreibst fragezeichen was nutzt du der welt wenn du dir ausmalst fragezeichen und wenn du nicht anders kannst komma dann schreib bitte nur die fakten komma was gibt es sonst noch zu sagen fragezeichen schreib sie auf und danach schweig für immer doppelpunkt um die und die uhrzeit komma an dem und dem ort komma mein sohn komma mein einziger komma elf einhalb jahre alt punkt der knabe ist nicht da punkt16

16 Ebd. S. 55 – 56.

Autoren und Autorinnen

Anne Birkenhauer, geb. 1961 in Essen, studierte Judaistik und Germanistik in Berlin und Jerusalem. Sie war als Assistentin an der Hebräischen Universität Jerusalem sowie als Dozentin an der Dolmetscherschule der Bar-Ilan Universität in Ramat Gan tätig. Seit 1989 lebt sie in Israel. Am 25. April 2010 wurde sie zusammen mit David Grossman mit dem Internationalen Literaturpreis ALBATROS ausgezeichnet. Übersetzungen u. a.: David Grossman, Eine Frau flieht vor einer Nachricht, München 2009; Gabriela Avigur-Rotem, Loja, Frankfurt am Main 2008; Eshkol Nevo, Vier Häuser und eine Sehnsucht, München 2007. Michael Brenner, geb. 1964 in Weiden, ist seit 1997 Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und leitet die Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft des Leo Baeck Instituts in Deutschland. 2009 war er Gastprofessor am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung der Universität Luzern. Veröffentlichungen u. a.: Kleine Jüdische Geschichte, München 2008; Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006; Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000. Dan Diner, geb. 1946 in München, ist Professor für moderne europäische Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem sowie Professor am Historischen Seminar der Universität Leipzig und dort Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur. Als Ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften leitet er das in Verbindung mit dem Simon-Dubnow-Institut durchgeführte Forschungsprojekt »Enzyklopädie jüdischer Kulturen«. 2002/2003 war er Gastprofessor am Institut für JüdischChristliche Forschung der Universität Luzern. 2006 wurde er mit dem ErnstBloch-Preis ausgezeichnet; 2007 mit dem italienischen Premio Capalbio; 2013 mit dem Leipziger Wissenschaftspreis. Veröffentlichungen u. a.: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Leipzig 2011 ff (Herausgeberschaft); Zeiten-

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Autoren und Autorinnen

schwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München 2010; Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007. Jakob Hessing, geb. 1944 in Lyssowce, Oberschlesien, seit 1995 Professor für deutsche Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem, zudem Schriftsteller, Journalist und Übersetzer. 2004/2005 war er Gastprofessor am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung der Universität Luzern. Veröffentlichungen u. a.: Hessing/Lenzen, Sebalds Blick, 2014; Der Traum und der Tod. Heinrich Heines Poetik des Scheiterns, Göttingen 2005; Mir soll’s geschehen, Berlin 2005. Kurt Koch, geb. 1950 in Emmenbrücke, ist Präsident der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum und Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen. Veröffentlichungen u. a.: Das Geheimnis des Senfkorns. Grundzüge des theologischen Denkens von Papst Benedikt XVI., Regensburg 2010; Dem Herrn gehört die Zeit. Meditationen zum Kirchenjahr, Paderborn 2008; Die Kirche Gottes. Gemeinschaft im Geheimnis des Glaubens, Augsburg 2007. Verena Lenzen, geb. 1957 im Kreis Aachen, Studium der Judaistik, Germanistik, Theologie, Philosophie. Seit 2001 ist sie Professorin für Judaistik und Theologie/Christlich-Jüdisches Gespräch und Leiterin des Instituts für JüdischChristliche Forschung an der Theologischen Fakultät und der Sozial- und Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern. Sie ist Co-Präsidentin der Jüdisch/Römisch-katholischen Gesprächskommission der Schweiz und VizePräsidentin der Gesellschaft Schweiz Israel, Sektion Zentralschweiz. 1990 erhielt sie den Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis für Essayistik, 2004 das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Veröffentlichungen u. a.: Schalom Ben-Chorin. Ein Leben im Zeichen der Sprache und des jüdisch-christlichen Gesprächs, Berlin 2013; Jüdisches Leben und Sterben im Namen Gottes. Studien über die Heiligung des göttlichen Namens (Kiddusch HaSchem), München 22002 (1995). Benedikt Maria Lindemann OSB, geb. 1958 in Welschen Ennest, Kirchhundem (Nordrhein-Westfalen), war von 1995 bis 2011 Abt der benediktinischen Mönchsgemeinschaft Dormition Abbey in Jerusalem und in Tabgha. In Jerusalem widmete er sich insbesondere der Friedensarbeit zwischen Israelis und Palästinensern, Christen, Juden und Muslimen. Für sein Engagement wurde Benedikt Lindemann 2004 mit dem Göttinger Friedenspreis ausgezeichnet. Veröffentlichung: Freiheit, die ich meine: Einsichten eines Mönchs aus Jerusalem. Mit einem Vorwort von Notker Wolf, Gütersloh 2009.

Autoren und Autorinnen

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David Rosen, geb. 1951 in Newbury, Berkshire (England), ist Präsident des Internationalen Jüdischen Komitees für den interreligiösen Dialog (IJCIC), leitet das Institut für internationale interreligiöse Verständigung des American Jewish Committee und ist zudem Mitglied der Delegation des israelischen Großrabbinats beim Heiligen Stuhl. Rabbi Rosen ist Gründer des Interreligious Coordinating Council, Präsident der World Conference of Religion for Peace (WCRP) und ehrenamtlicher Präsident des International Council of Christians and Jews (ICCJ). Er erhielt für seine Dialogarbeit zahlreiche Auszeichnungen: 2005 das Ritterkreuz des Gregoriusordens und den Mount Zion Award, 2008 den RaphaelLemkin-Preis für Internationale Menschenrechte, und 2010 wurde er zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Günter Stemberger, geb. 1940 in Innsbruck, war bis 2009 ordentlicher Professor für Judaistik und ist Korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 2005 zeichnete ihn die Theologische Fakultät der Universität Göttingen mit der Ehrendoktorwürde aus. 2010 erhielt er das Grosse Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich. Veröffentlichungen u. a.: Einleitung in Talmud und Midrasch, 9. vollständig neubearbeitete Auflage, München 2011; Das klassische Judentum. Kultur und Geschichte der rabbinischen Zeit, München 2009; Jüdische Religion, München 2009. Moshe Zuckermann, geb. 1949 in Tel Aviv, ist Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Seit 1990 lehrt er am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas an der Universität Tel Aviv, und von 2000 bis 2005 war er Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte in Tel Aviv. 2006/2007 war er Gastprofessor am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung der Universität Luzern. Seit 2010 ist er wissenschaftlicher Leiter der Sigmund Freud Privatstiftung in Wien. Veröffentlichungen u. a.: »Antisemit!« Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument, Wien 2010; Sechzig Jahre Israel. Die Genesis einer politischen Krise des Zionismus, Bonn 2009; Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands, Göttingen 1998.