Das religiöse Problem der Gegenwart bei Jakob Böhme [Reprint 2021 ed.] 9783112491287, 9783112491270

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Das religiöse Problem der Gegenwart bei Jakob Böhme [Reprint 2021 ed.]
 9783112491287, 9783112491270

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Hans

Jürgen

Baden

Das religiöse Problem der Gegenwart

bei Jakob Böhme

I. C. Hinrichs

Verlag / Leipzig 1 9 3 9

Alle Rechte vorbehalten

J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig Printed in Germany

Verl.-Nr. 4335

IM WASSER LEBT DER FISCH, DIE PFLANZE IN DER ERDEN / DER VOGEL IN DER LUFT, DIE SONN AM FIRMAMENT / DER SALAMANDER MUSS IM FEUR ERHALTEN WERDEN / UND GOTTES HERZ IST JACOB BÖHMES ELEMENT.

Beschriftung eines alten Böhme-Bildes

Inhalt Seite

I. Die Gestalt und ihre Zeit.........................................................

II. Böhme und wir

9

............................................................................. 25

III. Der Schriftsteller............................................................

31

IV. Geschichte und Geist................................

41

V. Gott..................................................................................................62

VI.Natur und Welt......................................................................

.

77

VII. Der Mensch...................................................................................... 87

VIII. Das Böse ...................................................

IX. Wiedergeburt...................................................... X. Rückschau

101

n4

........................................................................................ 132

Böhme-Bibliographie................................................................................ 136

I. Die Gestalt und ihre Zeit Wer eine vergangene Gestalt zum Leben erwecken will, muß die Zone der Historie überschreiten. Er muß in jene tieferen Räume vorstoßen, wo wir vom Gewesenen nicht mehr getrennt werden, sondern wo es sich wieder ver­ gegenwärtigt, und die Toten uns brüderlich grüßen. Nicht auf dem durch Daten, Namen und Epochen abgeteilten Feld der Geschichte erfahren wir das Geheimnis der Gleichzeitigkeit mit den Toten — jenes Geheimnis, das Kierkegaard umkreist und von dem alle wissen, welche mit Toten zusammen­ leben; vielmehr ist dies Mysterium jeder exakten Forschung verschlossen. Die wahre Begegnung mit einer geschichtlichen Gestalt vollzieht sich gleichsam eine Dimension unter der allen zugänglichen geschichtlichen Ebene; diese Be­ gegnung ist mystisch ohne vieldeutig, sie ist intuitiv ohne verschwommen zu sein. Das Erfassen eines historischen Geistes setzt eine Art meditativer Fähig­ keit voraus: also die Fähigkeit der Passivität, aber nicht einer leeren Passi­ vität, sondern einer bis zum Zerreißen gespannten Empfängnisbereitschaft. In dieser Bereitschaft werden die alten Gedanken flammend wie am ersten Tage empfangen, wiedergeboren. Die Gegenwart ist labil, die Vergangenheit spröde. An der Sprödigkeit der Vergangenheit, welche die Signatur des Todes ist, scheitern die meisten Bemühungen um die Wiedererweckung historischen Lebens, historischer Ge­ stalt. Man kann den Geist eines Toten nicht beschwören, indem man mosaik­ artig Daten zusammenfügt, Ausschnitte sammelt, eine detaillierte Be­ schreibung liefert. Zur Totenbeschwörung gehören andere Voraussetzungen, vor allem die Fähigkeit des Schauens. Man muß den Toten, das heißt die historische Gestalt erschauen können: eine Schau, welche die Ergebnisse der exakten Bemühung, welche das Einzelne, Detaillierte, Zusammenhanglose zusammenschmilzt zur lebendigen Totalität. Diese Schau bedeutet in ge­ wissem Sinne eine Abstraktion vom Geiste der Exaktheit, — bedeutet, daß man nicht am Einzelnen haften bleibt, sondern daß man das Einzelne, so wichtig es an sich ist, als Vorletztes erkennt. Die historischen, die biographi­ schen Einzelheiten sind die Bausteine, aus welchen die Gestalt ersteht. Aber ihre wirkliche Auferstehung feiert die geschichtliche Gestalt nur dort, wo der Betrachtende eben über das verfügt, was wir die Schau nennen, über In­ tuition, oder, wie sich auch sagen ließe: über Eros. Allein der Eros verlebendigt Geschichte, schmilzt die Distanz ein und verleiht dem Gewesenen Atem von unserem Atem. Was zunächst von der geschichtlichen Gestalt gesagt wurde.

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gilt auch von ihrem Werke, ihrer intellektuellen Problematik, ihren geistigen Lösungen. An jedem geistigen Werke sind entscheidende Stücke einmalig, will sagen vergänglich. Diese Erkenntnis erzieht zur Bescheidenheit. Man kann eine geistige Lösung der Vergangenheit niemals vollkommen in die Gegenwart übertragen, sondern man muß scheiden. Die zeitgebundenen Elemente des Werks müssen gesondert werden von jenen Fragestellungen, welche uns heute noch unmittelbar anrühren. Keine Gestalt der Vergangen­ heit, welche nicht in irgendeinem Sinn für uns aktuell wäre. Aber der Grad ihrer Aktualität ist zugleich der Grad ihrer Geschichtlichkeit, der Grad ihres Ruhmes. Das so genannte Genie ist in einem Minimum seiner Leistung zeit­ gebunden, in einem Maximum seiner Leistung aktuell. Für jede andere, außergeniale Leistung scheint charakteristisch, daß ihre zeitlosen Elemente von den zeitgebundenen völlig absorbiert werden. Diese grundsätzliche Erwägungen bleiben nicht Erwägungen, sondern sie sind im folgenden angewandt auf die Gestalt Jakob Böhmes. Es soll also kein Abriß seines Lebens gegeben, keine Biographie geschrieben werden; die Gestalt tritt völlig zurück hinter dem Werk. Kenntnis der Gestalt ist nur soweit vonnöten, als sie das Werk verdeutlicht. Denn wir sind allerdings der Überzeugung, daß das Werk erst einen Menschen legitimiert; das Werk erhebt die private Existenz zur geschichtlichen Existenz. Immer ist das Private, das Biographische des Schöpfers der Schöpfung grundsätzlich untergeordnet; der echte Schöpfer weiß sich nur als Medium, fein ganzes Dasein trägt medialen Charakter. Es geht hier also weniger um die private Erscheinung Böhmes als um seine geistige Gestalt, deren Exponent das Werk ist. Auf das Werk Böhmes trifft zunächst zu, was vorher angedeutet war: es birgt Elemente, welche zeitgebunden sind, und es birgt Elemente, sehr zahlreiche Elemente, über deren Aktualität sich jede Erörterung erübrigt. Eben diese aktuellen Elemente sollen herausgehoben werden, und es wird sich zeigen, wie problematisch sie sind, und welche Bedeutung sie haben für die Ermittlung unserer eigenen geistigen und religiösen Lage. Man kann einen vergangenen Geist nicht Satz für Satz in die Gegenwart übertragen, es wurde angedeutet; das ist Scholastik. Die Scholastik geht von der Fiktion aus, daß sich die Problematik des Menschen nicht verschiebt und das menschliche Bewußtsein sich nicht verändert; die Scholastik setzt einen statischen geistigen Raum voraus, in welchem alles überall gilt. Wir wissen, daß dem nicht so ist; nie gleicht die Wahrheit dem starren Gesetz, überall anwendbar, sondern in dem Maße als sich der Horizont unseres Bewußtseins erweitert, wandelt sich auch die Ausdrucksform der Wahrheit. Es besteht eine dynamische Korrespondenz zwischen dem Bewußtsein und der Wahrheitsform (nicht dem Wahrheits­ inhalt).

Aber wo liegt der Maßstab zu scheiden, was aktuell und gültig, was tot und einmalig ist? Wer eliminiert die Elemente des Werks, welche auf Ver­ gegenwärtigung drängen, von jenen andern, welche uns dunkel und unver­ ständlich geworden sind? Hier eben beginnt die subjektive Arbeit des Inter­ preten; hier ist er aus seinen Instinkt, seine Intuition angewiesen; hier trägt er allein die Verantwortung, daß das Ewige des Werks nicht verschüttet, das Zeitverhaftete nicht ungebührlich in den Vordergrund gezerrt wird. In dem Maße, als der Interpret über die Fähigkeit der Schau und der historischen Beschwörung verfügt, wird ihm auch die Vergegenwärtigung des Bleibenden gelingen. Wir sagten, die Subjektivität des Interpreten sei ausschlaggebend, und das kann mißverstanden werden; denn der Interpret ist Kind seiner Zeit, er lebt in der Atmosphäre seiner Zeit, und darum denkt er stellvertretend für seine Zeit. In feinem Denken spiegelt sich die geistige Verfassung seiner Zeit wider, und nicht nur in seinem Denken, sondern auch in der Bewertung dessen, was vergangen ist. Sieht man diesen Zusammen­ hang des Einzelnen mit seiner Zeit, des Einzelnen mit seinem Volke recht, so gibt es im Grunde keine isolierte geistige Leistung, sondern in jeder Leistung manifestiert sich die Gesamtheit, und durch den Einzelnen spricht das Kollektiv. Der Maßstab, auf Grund dessen wir bestimmen, was an Böhme aktuell und was an ihm vergangen ist, läßt sich nicht exakt ermitteln. Also bleibt die Intuition für uns ausschlaggebend, was nicht gleichbedeutend mit Gefühl, Verschwommenheit ist, sondern dieser Intuition kann nur Gültigkeit zu­ gesprochen werden, wenn sie echtes Verständnis für den Geist der Ver­ gangenheit verrät, und wenn sie zugleich für den Geist der Gegenwart auf­ geschlossen ist. Vielleicht wird man sagen, das bedeute Auflösung der Wissenschaft in Phantasterei, das sei Ablösung des präzisen Denkens durch das Gefühl. Und damit ist nun freilich ein Problem berührt, welches den Umbruch in der Wissenschaftsauffassung kennzeichnet. Das Wissenschaftsideal hat sich ver­ schoben. Früher war das Ideal die Exaktheit, heute ist es die Intuition. Es gab eine Wissenschaft, welche an der eigenen Exaktheit zugrunde ging und in abstrakten Räumen existierte; hier wurden die geistigen Gestalten präpariert, wie man Schmetterlinge und getrocknete Pflanzen präpariert, — ein Tun, welches tote Objekte voraussetzt. Das mußte notgedrungen zur Diskrepanz von Wissenschaft und Leben führen, mußte die Wissenschaft über das Leben erheben und das Leben an der Wissenschaft irre werden lassen. Aber da die Wissenschaft dem Leben dienen, das Leben durch die Wissenschaft bereichert werden soll, ward diese Entwicklung zwangsläufig revidiert: es trat das intuitive, das schöpferische Element in den Vordergrund. Die Intuition und das Schöpfertum, sie stellen das Ideal einer katalogisierenden und rein

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enzyklopädischen WL ssenschaftlichkeit in Frage und verwirklichen statt dessen einen neuen Wissenschaftstypus, welcher ausgesprochen künstlerische Züge aufweist und überhaupt enge Beziehungen zum künstlerischen Werk hat.

Böhme ist ein religiöser Denker, und so sind es denn auch bestimmte religiöse Gedanken seines Werkes, denen wir unsere Aufmerksamkeit zu­ wenden. Wir sagen: bestimmte Gedanken, damit wird schon deutlich, daß eine Auswahl zu treffen ist. Böhme ist uns weithin unverständlich geworden, und es besteht eine ausgesprochene Spannung zwischen der Bekanntheit des Namens und der Unkenntnis des Werks. Denn sein Werk, wie man gesagt hat, besitzt die Länge, welche tötet; dazu kommt ein Denkstil, welcher ver­ worren ist, und eine Terminologie, die oft wie ein Rebus anmutet. Der Denkstil ist kraus und schnörkelig, verspielt und tropisch, also typisch barock; es gibt zahllose Wiederholungen, Widersprüche, Unstimmigkeiten, — also das Gegenteil eines „Systems". Dieses Denken wirkt dynamisch, wie der barocke Baustil dynamisch wirkt, in schroffem Bruch mit der mittelalterlich antikisierenden Überlieferung. Denn wie der barocke Baustil phantastisch

aufschäumt, sich aufbäumt und dann zu Stein erstarrt, im Gegensatz zu einer gewissen vorgeschriebenen Kahlheit der Renaissance, welche sich auf die Antike zurückführt, so verhält es sich entsprechend mit dem Denkstil (wie überhaupt erregende Analogien zwischen Denkstil und Baustil durch die Jahrhunderte hindurch bestehen). Die platonisch-aristotelischen Systeme der Scholastiker glichen antiken Tempeln: kühl, klar, angemessen bis ins Letzte, Triumph logischer Architektur; mit der Reformation brechen irrationale Elemente in das Denken ein, welche man als spezifisch germanisch bezeichnen kann. Die autochthon nordisch-germanische Veranlagung setzt sich durch: im Baustil, im Denken, im 17. Jahrhundert auch in den Literaturformen. Was vom Denkstil gilt, gilt entsprechend von der Sprache. Damals, im 17. Jahrhundert, schreiben die Gelehrten Lateinisch, und nur Lateinisch; als Universitäts- und Schulsprache reicht das Latein bis tief in das nachfolgende Jahrhundert. Die Staatsmänner und Diplomaten dagegen gebrauchen erst das Französische, später das Italienische. Es ist ein Zeitalter, wo man alles spricht, nur nicht Deutsch, wo man alles kopiert, wo man sich den Sitten, den Literaturformen, den Moden Anderer angleicht bis zur Selbstpreisgabe, und wo nur eines fehlt: die Besinnung auf die eigenen Werte. Das erste Zeichen nationaler Besinnung ist das Deutsch, welches die Mystiker des Hoch­ mittelalters sprechen und schreiben: Eckart, Tauler, Seuse, das bunte, volkhafte, leidenschaftliche Deutsch, in welchem die Bettelmönche teilweise predigen; aber der deutsche Sprachgeist wird noch nicht entsiegelt, sondern

das Latein der Gelehrten, der Gebildeten und Klöster behält den Primat. Erst Luther entsiegelt den Sprachgeist, und nun schäumt und quillt es an allen Ecken und Enden; grob, enthusiastisch, volkstümlich und doch zugleich zart ist dies neugeborene Deutsch; es ist die Sprache einer ebenso starkfarbigen, überschäumenden, tumultuarisch bewegten Zeit. Sprachen die Mystiker, die Bettelmönche aus praktischen Gründen Deutsch: um dem Volk verständlich zu sein, so entdeckt man seit der Reformation die Sprache als autonomen Wert, man ist stolz. Deutsch zu sprechen, an der Sprache entzündet sich das Nationalbewußtsein. So spricht auch Böhme bewußt Deutsch, grenzt sich mit seinem Deutsch von den antikisierenden, latinisierenden Gelehrten und Theologen scharf ab und spürt zugleich, daß in diesem Sprachwandel ein geistiger und religiöser Wandel mitgesetzt ist. Jedenfalls ist die Bewußtheit, mit welcher Böhme für seine Muttersprache eintritt und sich gegen die fremden Idiome wendet, auffallend. Das Deutsch, welches Böhme spricht, ist ganz ähnlich wie bei Luther das Deutsch des Volkes, es ist die Sprache der Schenken und Gassen, der Märkte und Zünfte, die Sprache der Schneider, Schuster, Soldaten, Marktweiber, ein warmes, bluthaftes, gewachsenes Deutsch, voll Plastik und Anschaulichkeit, voll Humor und Wärme, zuweilen auch bissig, ausfallend, polternd. Luther war noch durch feine Herkunft ge­ bunden, und wichtige metaphysische Darlegungen kann er nicht anders als lateinisch geben; das war ja überhaupt verbreitete Anschauung: daß die deutsche Sprache subtile Gedankengänge gar nicht fasse, daß sie nur als Kauderwelsch des gemeinen, des ungelehrten Mannes gut sei. Bei Böhme dagegen fällt jeder Ehrgeiz, noch das Subtilste anders als Deutsch aus­ zusprechen, fort; auch wenn er anders konnte, er hätte es nicht getan, und so erobert er denn Sphären für die deutsche Sprache, in welchen bislang die kristallene lateinische Syllogistik der Scholastiker unumschränkt geherrscht hatten. Philipp Jakob Spener setzt, später, an Böhme seine „chymische Termino­ logie" aus, deretwegen er unlesbar sei; dies ist allerdings ein entscheidender Grund für die Entfremdung aller Späteren von Böhme. In der chymifchen Terminologie spiegelt sich die Überlieferung der Alchimisten wider, vor allem der Einsiuß des Pararelsus; man beginnt damals gerade das Buch der Natur aufzufchlagen, das bislang verschlossen war, und das wird von unabsehbarer Wirkung. Freilich ist die Natur damals noch kein streng gesetzliches Gefüge, der Kosmos kein metrischer Raum, als welchen ihn im 17. Jahrhundert die Descartes, Spinoza, Leibniz bestimmten; im Gegenteil, die Natur wird als mystischer Organismus verehrt, als die Ouelle aller Geheimnisse und Mysterien. Okkultismus, Kabbala, magische Chemie, das sind die Wege, auf denen man sich der Natur nähert, und die Entsprechung der mikro-

i4 kosmischen und der makrokosmischen Welt wird, in den gewagtesten Abwand­ lungen, zum Zentrum aller Spekulation. Die Männer, welche sich dieser unterirdischen, mystisch-kabbalistischen Spekulation leihen, sind eigenartige Erscheinungen, von dunklem religiösem Feuer verbrannt, wissenschaftliche Scharlatane mit einem maßlosen Haß auf Universitäten, Doktoren, Bücher. Dieses sektiererische, zerrissene Jahrhundert ist der ideale Boden für ihre Verkündigungen, ihre Goldmacherkünste und Verzauberungen; sie ziehen durch Städte, durch Länder, ja durch Erdteile, überall Unruhe stiftend, hassend und gehaßt, jede religiöse und wissenschaftliche Konvention ver­ achtend. Geradezu typisch ist das Schicksal des Paracelsus, der heilend, predigend, alchimistische Künste treibend durch die Lande zieht; heute heilt er irgendeinen hohen habsburgischen Würdenträger, morgen finden wir ihn eine ganze Nacht und einen ganzen Tag hindurch Schriften diktierend, über­ morgen untersucht er für die Fuggersche Bergwerksverwaltung den Gold­ gehalt eines Baches; er wird gerufen und wieder verstoßen, er wird mit Ämtern belehnt und wieder verjagt, ein ewiges Hin und Her. Oder, ebenfalls

eine bezeichnende Erscheinung: der Breslauer Ouirinus Kühlmann, schon ein Schüler Böhmes. Er gibt zu Leyden einen „Neu begeisterten Böhme" heraus, eine Schrift voll chiliaftifcher Prophezeiungen, haßt die Universitäten und beschäftigt sich mit okkulten Fragen, welche ihn über Böhme zu Paracelsus zurückführen. Er geht nach Holland, das tolerant ist, aber nicht einmal dort duldet man ihn, den alchimistischen Abenteurer, Propheten und Künder der Sieben Siegel Salomonis; England, Frankreich, Türkei, das sind weitere Stationen auf seinem Wege. Inzwischen ist der Jesuitismus schon auf seiner Spur, und in Rußland, wo er sensationell wirkt, wird er end­ lich zur Strecke gebracht, in Moskau gefoltert und verbrannt. — Nur einer oder zwei von diesen unruhigen Geistern herausgegriffen, und es wird klar, welche Atmosphäre Böhme umgibt. Wir werden weiter unten noch näher auf das Problem einzugehen haben, welches mit der Stellung Böhmes zur religiösen Tradition seiner Zeit gegeben ist: kann man ihn gegen die offizielle kirchliche Überlieferung ausfpielen, so daß man ihn ausnahmslos jenem zweiten, unterirdisch mystischen Strom zuweisen müßte, der wieder und wieder die festen kirchlichen Formen unterhöhlt; oder gehört er nicht, trotz allem, in die kirchliche Überlieferung, auch wenn er sie, und gerade wenn er sie, erschüttert hat ? Davon also später; nur soviel bleibt gewiß: auf Böhme ist viel von dem alchimistischen und mystischen Erbe jener Schwärmer ge­ kommen, der Geist der Paracelsus und Kühlmann, das ist irgendwie sein Geist, und auch ihn berauscht jener schwere häretische Wein, welcher göttliche Trunkenheit hervorrust, chiliastische Gesichte sehen läßt und die Ordnungen der Engel sowie die Mysterien Lucifers dem verzückten Auge enthüllt.

iS Sterne, Elemente und Naturgeister verschlingen sich in Böhmes Denken zu einem pandämonischen Reigen, und was uns als spekulative Phantastik erscheint, ist ihm unleugbare Wirklichkeit. All diese Auseinandersetzungen über die Prinzipien der Natur und die Duellgeister, über die Urelemente „Sal, Sulphur und Mercurius", über die allgebärende Matrix, über den Salitter, gleich Salpeter, als den himmlischen oder irdischen unqualifizierten Urstoff, über Essenzen, Metalle, Farben, Naturqualitäten —: alles dies ist uns heute ein verschlossenes Reich. Diese Seite des Böhmeschen Denkens ist nicht in unsere Verstandeswelt zu übertragen, und darum wird im folgenden von ihr bewußt abstrahiert. Jeder Entzifferungsversuch schafft nur Verkrampfung, und die analogische Deutung verfügt nirgends über Anhaltspunkte, sondern artet mehr oder weniger zum Rätselraten aus. Wenn wir der Interpretation hier eine bewußte Schranke ziehen, dann bleiben zwei Auslegungsmöglichkeiten. Entweder wir verbinden damit ein Gericht über den böhmisch-pararelsischen Geist und sagen, dies alles sei unverbindliche Träumerei, phantastische Naturdichtung, das heißt nachträg­ liche Imagination, welcher kein Wirklichkeitsgehalt zukomme. Oder wir sehen umgekehrt hier die Grenze des eigenen geistigen Fassungsvermögens aufdämmern, so daß das Dasein dieser bizarren Welt geradezu zum Gericht über uns selbst wird. Wir begreifen diese Dinge nicht mehr, aber keineswegs auf Grund eines aufgeklärteren Wissens, sondern gegenteilig: auf Grund größerer geistiger Armut. Unser Denken stößt immer weiter vor in die Horizontale der Wirklichkeit und bringt es hier freilich zu profunden Ent­ deckungen und Fortschritten; darüber wird vergessen, daß es auch einen vertikalen Aspekt der Wirklichkeit gibt, und daß es diese Seite der Wirklich­ keit ist, auf der allein die fremdartigen Blüten des böhmisch-pararelsischen Geistes gedeihen. Von hier aus gesehen sind wir zwar seit der Zeit Böhmes mit einer Summe zivilisatorischer Errungenschaften gesegnet, aber verlustig gegangen dagegen jener „vertikaler" Erkenntnisse, welche unmittelbar zum Herzen der Welt führen. Jene verspielte Welt von Böhme, Paracelsus und ihren Adepten erweckt die Erinnerung an eine geistige Dimension, welche uns offensichtlich verlorenging; und dahinter steht die schwierigere und schicksals­ schwerere Frage, ob der Verlust einer Wirklichkeitsdimension je wieder rück­ läufig gemacht werden kann. e

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„Der niedrige Arbeitstisch, der niedrige Schemel, die wassergefüllte Kugel, welche das Licht der kleinen Öllampe auffängt und glänzender wieder zurück­ wirft, der scharfe Duft des Leders und des Pechs müssen notwendigerweise eine nachhaltige Wirkung auf die menschliche Natur ausüben, und sie tun

i6 es auch mächtig. — Das Licht, welches durch die schwebende Glaskugel auf den Arbeitstisch fällt, ist das Reich phantastischer Geister; es füllt die Ein­ bildungskraft während der nachdenklichen Arbeit mit wunderlichen Gestalten und Bildern und gibt den Gedanken eine Färbung, wie sie ihnen keine andre Lampe, patentiert oder nicht patentiert, verleihen kann. — Immer tiefer sehen wir in die leuchtende Kugel und in dem Glase sehen wir das Universum mit all seinen Gestalten und Naturen, durch die Pforten aller Himmel treten wir frei und erkennen sie mit allen ihren Sternen und Elementen; höchste Ahnungen gehen uns auf und niederschreiben wir, während der Pastor Primarius Richter von der Kanzel den Pöbel gegen uns aufhetzt und der Büttel von Görlitz, der uns ins Gefängnis bringen soll, vor der Tür steht. — Viel sehen wir in der glänzenden Kugel, auf welche die schlechte Lampe so armes Licht wirft, daß wir kaum zu Papier bringen können, was wir sehen; aber nichtsdestoweniger können wir unter das voll­ endete Manuskriptum schreiben: Geschrieben nach göttlicher Erleuchtung durch Jakob Böhme, sonsten auch Teutonicus genannt." Soweit Wilhelm Raabe im „Hungerpastor". Fragt man, woher Böhme diese Veranlagung und Gabe der Divination habe, so wird man zunächst auf seine schlesische Heimat ver­ wiesen, welche schon seit je der rechte Boden für allerlei sektiererische und mystische Gesinnung war. Denn Böhme, der in der Lausitz geboren ist, ist nur Glied einer langen Kette von häretischen Schlesiern, welche gradlinig hindurchführt bis zum Narr in Christo: Emanuel Ouint. Schlesien ist der Mutterboden der Mystik im 13. und iZp Jahrhundert, aus Schlesien kommen sie alle, die Schwenkfeld und Weigel, Peurer und Johann Scheffler genannt Angelus Silesius; Zinzendorf hat Beziehungen zu Schlesien, und auch Schleiermacher, ein letzter Nachfahr der großen Spiritualisten, ist gebürtiger Breslauer. Und noch bis in unsere Zeit ist die tiefe, schwärmerische, religiös oft verkrampfte schlesische Geistesart literarisch bewahrt: in den Gestaltungen von Carl und Gerhart Hauptmann. Damals, zur Zeit Böhmes, kreuzen sich in Schlesien also bereits die verworrensten spiritualistischen Strömungen; der mystische Orden der Rosenkreuzer war am Wirken, und von den oben Genannten dürfen vor allem die Einsiüsse Schwenkfelds nicht unterschätzt werden. Während die Intensität die Beziehungen von Böhme zu Luther recht unterschiedlich beurteilt wird, ist über die Bedeutung des Paracelsus für den Görlitzer Schuster kein Wort zu verlieren. Die Schriften des Paracelsus bedeuteten für die Ärzte eine Revolution,

und unter ihrem Eindruck bildeten sich zwei Arzttypen heraus: der magisch­ mystische Typ, wie er Paracelsus entsprach, und der Typ des medizinischen Handwerkers, der ohne Intuition nur nach Schema arbeitet. (Übrigens

eine medizinische Alternative, die je und je ihre Auferstehung feiert.) Para-

celsus lehrte ja eine Zeitlang in Basel, und gerade um jene Zeit hatten mannigfach Schlesier in Basel studiert, hatten den Meister gehört und brachten seine Anschauungen mit in die Heimat. Von diesen pararelsisch gebildeten Ärzten, deren ein Teil nach Görlitz reiste oder dort gar ansässig war, laufen indirekte Verbindungslinien zu Böhme. Der bekannteste von ihnen, ein Abenteurer und Scharlatan, wie sie eben nur diese Zeit hervor­ brachte, war Dr. Balthasar Walther; Abraham von Frankenberg schreibt von ihm, er habe „auf seinen vielen und weiten Reisen, insonderheit er gantzer 6 Jahre lang in Arabia, Syrien und Egypten gewesen, nach der wahren ver­ borgenen Weisheit (welche man sonst Kabbalam, Magiam, Chymiam, oder auch in ihrem rechten Verstände Theosophiam nennt) mit großem emsigen Fleiß geforscht". — Nimmt man endlich hinzu, daß auch in Böhmescher Zeit die schlesische Dichtkunst erblüht — Gryphius, Hofmannswaldau, Lohenstein; auch Martin Opitz wird 1597 in Breslau geboren —, dann ist der Hintergrund einiger­ maßen plastisch geworden, jene gärende, verworrene, abenteuerliche Atmo­ sphäre, aus welcher die Gestalt Böhmes begriffen werden muß. Man hat zu­ weilen gefragt, woher diese schlesische Eigenart des Sinnierens, Grübelns, diese Haltung ausgesprochen mystischer Provenienz eigentlich rühre. Man wird das ethnologisch und soziologisch nie erklären können. Das geistige Prosil dieser Menschen ist irgendwie östlich, slavisch, und Schlesien scheint immer wieder die Heimat der großen Gemütserschütterer gewesen zu sein, welche apostolische Armut und Kindlichkeit mit dem Herzen gesucht und mit der ganzen Leidenschaft ihrer religiösen Veranlagung verwirklicht haben. &

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In dieser Landschaft wird Jakob Böhmes im Jahre 1575 geboren, und

zwar in Alt-Seidenberg, gelegen bei dem Städtchen Seidenberg, in der Lausitz. Sein Vater war Bauer, und wenn die Feststellungen über sein Besitztum stimmen, hat er etwa hundertzwanzig bis hundertfünfzig Morgen Landes besessen. Das ist kein kleiner Besitz, und die elterlichen Verhältnisse waren dementsprechend durchaus gesichert. Im Hause sind acht Kinder, und Böhme, der zur Landwirtschaft zu schwächlich erscheint, wird einem Schuhmacher in die Lehre gegeben. Die Lehre dauert drei Jahre, daran schließen sich drei Wanderjahre des Gesellen; wohin er wanderte, läßt sich nicht mehr feststellen. Ab 1599 bekommen wir sichere Nachrichten: Böhme wird Meister, Bürger der Stadt Görlitz, Ehemann. Dies alles hängt unD Um 1600 wechselt die Schreibart: Böhm, Böhme, Dheme, Beme, Byme, Bohem, Böhmer, Bemann. 2 Baden: Relig. Problem

i6

mittelbar miteinander zusammen; jeder Innungsmeister war zum Erwerb des Bürgerrechts verpflichtet, und der ledige Meister wiederum mußte im „halben Jahre sich verehelichen, welches da es nicht geschehe, er nachdeme das Meisterrecht auf ein neues zu gewinnen schuldig sein soll". Von Böhmes Frau, einer Schlächterstochter, wissen wir nicht viel; im Görlitzer Traubuch heißt es unter dem io. Mai 1599: „Jacob Behme (getraut mit) Junkfrau Catharina Hanns Kuntzschmanns Tochter (und zahlte) 3 Kreuzer". Nur eins läßt sich mit ziemlicher Sicherheit bestimmen: daß Böhmes Frau den Hori­ zont ihres Standes nirgends überschreitet, daß sie den Intuitionen ihres Mannes hilflos gegenübersteht und wohl nie begriff, wie er den goldenen Boden des Handwerks verlassen und sich auf den vagen Boden der Literatur begeben konnte. Böhme ist zunächst brav und bieder in seinem Handwerk, wie seine Frau zeitlebens brav und bieder bleibt, bis zum Jahre 1612 fällt er in keiner Weife aus dem Rahmen. Er arbeitet sieißig, erwirbt eine Schuhbank auf dem Görlitzer Markt, deren nur eine beschränkte Anzahl zugelassen war; er rühmt sich selbst: „Meine Übung ist äußerlich ein gemein Handwerk gewesen, damit ich mich lange Zeit ehrlich genähret." Der Innung widmet er sich mit großer Rührigkeit, und der Streit der Schuster und Gerber bringt ihn derartig zum Sieden, daß er sich über Gebühr hinreißen läßt. Die Angelegenheit wird kriminell, im Rathausprotokoll lesen wir: „Jacob Kißling und Jacob Böhm sind mit Gefängnis bestraft worden, dieweil sie den Weißgerber Matz Röhricht vor einen Schelmen gescholten." — Die Tragödie beginnt im Jahre 1612: Böhme schreibt sein erstes Werk nieder, „Aurora oder Morgenröthe im Aufgang"; das ist, wie es im Unter­ titel heißt, „Die Wurzel oder Mutter der Philosophie, Astrologie und Theo­ logie aus rechtem Grunde, oder Beschreibung der Natur". Woher der Sturm kam, wie der Funke ins Herz siel, wer will das sagen; jedenfalls: mit einem Schlage verwandelt sich die ganze Szenerie dieses Lebens. Das Schreiben, wie er selbst gesteht, kommt über ihn wie ein brennendes Feuer, der Geist rast, „dem muß die Hand und Feder nacheilen"; weil er seiner schäumenden tollen Eingebung auf dem Papier nicht folgen kann, darum gerät ihm orthographisch manches daneben, die Hände zittern. Er sagt: „Ich habe dem Geiste immer nachgeschrieben, wie er diktieret hat, und der Ver­ nunft keine Stätte gelassen, und erkenne es nicht als ein Werk meiner Ver­ nunft, welche allzu schwach wäre, sondern es ist des Geistes Werk." Wunder­ bar sind diese schriftstellerischen Selbstzeugnisse, von denen noch näher zu sprechen sein wird; schon die wenigen Ausschnitte, die gegeben wurden, zeigen: hier ist Berufung, welche bis in Besessenheit, in Taumel ausmündet, hier wird der Mensch vom Geiste verbrannt, ohne daß er noch Möglichkeit

hätte, dazu Stellung zu nehmen. Es ist alles vorentschieden. Und nun kommt es, wie es kommen mußte: der von seinen Intentionen trunkene Schuster hat keine Zeit mehr für sein Handwerk, sondern er schreibt; die Werkstatt geht zurück, ein Jahr später schon wird die Schuhbank auf dem Markt wieder verkauft. Mit mystischen Eingebungen, welche handschriftlich ver­ breitet werden, läßt sich kein Haushalt bestreiten, und so hebt das materielle Elend an; Böhmes Frau verlegt sich auf den Handel, um die Familie zu sichern, hausiert sie mit Garn, mit Handschuhen. Auch im Handel hat sie kein Glück, sie muß mit anderen Frauen vor dem Rat prozessieren; dazu kommen die Angriffe von außen, die Bedrohung des Pöbels, die Aufzüge vor ihrem Hause, so daß sie sich mit ihren Kindern — es sind vier — kaum noch auf der Straße sehen lassen mag. Nimmt man die völlige Fremdheit demgegenüber hinzu, was ihren Mann geradezu geistig zu sprengen droht, so versteht man, daß sie es nicht leicht hat, daß sie verzagt wird und klagt. In einem Briefe vom 15. Mai 1624 schreibt Böhme an Dr. Tobias Kober, einen seiner Freunde: „Bitte, wollet mit meinem Weibe handeln und ihr sagen, daß sie sich in Geduld fasse und zufrieden gebe und nicht also kleinmütig darüber werde, wie ich vernehme, daß sie ist. Sie soll sich das für keine Schande zu­ rechnen, denn wir werden um göttlicher Erkenntnis und Gabe um Christi unseres Erlösers willen verfolgt. Ich will sie und unsere Kinder, so Gott will, noch wohl versorgen. Sie gebe sich nur in Geduld zufrieden und lasse ihr niemand etwas einbilden . . . Mein Weib darf keine Fensterladen deshalb machen lassen; wollen sie diese einwerfen, das mögen sie tun. So sieht man des Hohenpriesters Früchte." Man sieht, welche Form gegen Ende seines Lebens die Auseinandersetzungen um den Schuster angenommen haben; es bestätigt sich ferner: durch eingeworfene Fensterscheiben hat die llmwelt schon damals die Berufenen legitimiert. Wie war es zu diesem Aufstande gekommen? Der Anlaß war die niedergeschriebene „Aurora". Wir haben zwar die äußere Wendung angedeutet, welche mit dem Durchbruch und der Nieder­ schrift dieser Gedanken in Böhmes Leben eintrat. Diese Wendung hat zwei Aspekte, wie das gewöhnlich bei solchen Anlässen der Fall zu sein pflegt. Von außen gesehen, erscheint der Vorgang oft abrupt, überraschend, völlig un­ motiviert; von innen gesehen ist der Vorgang dagegen aufs sorgfältigste vorbereitet, die betreffenden Gedanken sind durch Jahre hindurch geistig zur Reife gebracht, um dann auf einmal vulkanisch auszubrechen und die Außen­ front dieses Daseins völlig zu zerreißen. So schreibt Böhme im Sturm seine Aurora nieder, aber nach eigener Äußerung haben ihn diese Gedanken schon

zwölf Jahre beschäftigt, er hat sie ein Dutzend Jahre ausgetragen, ohne daß sein äußeres, sein öffentliches Leben etwas davon verraten hätte. Keine 2*

20 geistige Erschütterung durchfurchte bislang die Oberfläche dieses durchschnitt­ lichen, legitimen, im Wortsinne „zünftigen" Handwerkerdaseins. Bis dann der Sturm ausbricht, und die Landschaft dieses Lebens sich von Grund auf verändert. Zu Böhmes Bekanntschaft zählen verschiedene schlesische Adelige, die ihm geistesverwandt sind, unter ihnen ist besonders zu nennen Karl Ender von Sercha auf Leopoldshain. Diesem Karl Ender überläßt Böhme seine Erst­ lingsschrift, Ender schreibt sie ab, von der Abschrift entstehen weitere Ab­ schriften, die orthodoxe Geistlichkeit bekommt Wind, und schon flammt der Streit hellauf. Als Böhmes großer Kontrahent tritt auf Gregor Richter, Pastor primarius in Görlitz, ein Ketzerrichter par excellence, dessen Kampf gegen die Böhmeschen „Häresien" auch den mindesten geistlichen Einschlag vermissen läßt. Er arbeitet mit Anzeigen, mit persönlichen und völlig aus der Luft gegriffenen Verleumdungen; er druckt Flugblätter, hetzt den Pöbel bis zu öffentlichen Demonstrationen. — Zunächst also beginnt der Tanz mit einer Anzeige Richters: er hat eine der kursierenden Abschriften von Böhmes „Aurora" erhalten. Im Jahre 1613 wird die Angelegenheit vor dem Rat verhandelt; der Bürgermeister Srultetus schreibt darüber in sein Tagebuch: „1613, den 26. Juli, wird Jakob Böhme, ein Schuster zwischen den Toren hinter der Spitalschmiede, zum Ablohnen (Bestrafen) aufs Rathaus ge­ fordert und um seinen enthusiastischen Glauben gefragt, darüber in Stock eingesetzet und so bald durch Oswalden sein geschriebenes Buch in Quarto aus seinem Haus abgeholet, daraus er wieder aus dem Gefängnisse entlassen und ermahnet worden, von solchen Sachen abzustehen." Es läuft also äußer­ lich einigermaßen glatt aus, Böhme bleibt straffrei, nur die Urschrift der Aurora ist konfisziert. Aber die psychologischen Wirkungen dieser Verhand­ lung Dorrn Rat reichen tiefer. Daß die gerade im Aufkeimen befindliche Be­ rufung durch diese handgreiflichen äußeren Widerstände nicht sonderlich ge­ fördert wurde, sondern daß statt dessen Resignation, ja Verzicht auf weitere schriftstellerische Tätigkeit sich einstellen will, wird man begreiflich finden. Böhme erwägt, „nichts mehr zu schreiben, sondern als ein Gehorsamer Gott still zu halten und den Teufel mit seinem Spotte also lassen über sich Hinweg­ rauschen". Aber hinter dieser Resignation steht noch ein tieferes Problem: ist der äußere Widerstand nur Widerstand des Unwissens, der Lüge, der Ver­ blendung, kurz gesagt: des Teufels, oder verbirgt sich hinter diesem äußeren Widerstande in etwa der Wille Gottes, so daß Gott ihm selbst Widerpart hielte und seine Berufung damit als Fiktion enthüllte? Die Berufung Wirk­ lichkeit oder Fiktion: diese verzehrende Alternative, welcher kein Berufener entgeht, wird anläßlich des ersten Aufruhrs vor Böhme in aller Schärfe aufgerichtet; und so sieht Böhme denn zu Gott, er möge ihn erleuchten, ob

seine Arbeit auch wahrhaft zur Ehre der göttlichen Majestät geschehe. Er fleht — und die schöpferische Flamme glüht nur um so stärker in ihm: Gott bestätigt indirekt die Berufung. „Ich habe den Geist des Herrn hundertmal angefleht", heißt es, „so mein Wissen nicht zu seinen Ehren und meinen Brüdern zur Besserung möchte dienen, er wollte solches von mir nehmen und mich nur in seiner Liebe erhalten; aber ich habe gefunden, daß ich mit meinem Flehen nur habe das Feuer heftiger in mir entzündet, und in solchem Ent­ zünden und Erkenntnis habe ich meine Schriften gemacht". Freilich dauert es in der Praxis doch einige Zeit, bis Böhme diesen ersten Schlag wieder verwindet. Sowohl sein äußerer wie sein innerer Mensch, wie er das aus­ drückt, sträuben sich, weiterhin Werkzeug der Erwählung zu sein. Der äußere Mensch hat einfach Angst, denn das Schreiben ist ja „vom Herrn Primario verboten". Wir leben in einer Zeit, das darf nicht vergessen werden, wo trotz Luther, Reformation und allen Folgeerscheinungen die geistliche Autorität im großen und ganzen noch unerschüttert ist; es ist gefährlich, gegen diese Autorität etwas zu tun. Aber dagegen gehen nun die Freunde Böhmes mit guten Gründen an; auch sie pochen auf die Bibel, sie drohen mit göttlichen Strafen, wenn er nicht schreibt; denn in der Bibel, wie sie versichern, steht ja, „daß ein jeder soll bereit sein, seiner Gaben und Glaubens samt der Hoff­ nung Rechenschaft zu geben, und daß Gott das Pfund würde von mir nehmen und dem geben, der es anlegt . . ." Hier wird Böhme also von seinem Freundeskreis die Verpflichtung eröffnet, welche in der Gabe, in der Berufung liegt; das Gleichnis von den Talenten illustriert es. Eine neue drohende Alternative zeichnet sich ab: Berufung oder Autorität; wenn die Berufung eine göttliche Aufgabe ist, dann muß sie verwirklicht werden, aber indem sie verwirklicht wird, muß sie zwangsläufig mit irgendwelchen irdischen Autori­ täten politischer, gesellschaftlicher oder geistiger Art kollidieren. Ist die Be­ rufung der Autorität, oder ist die Autorität der Berufung überzuordnen? Es gehört zum Wesen der Berufung, daß sie ihren Träger sehr häufig ver­ anlaßt, sich nicht den bestehenden Zuständen einzufügen, sondern zu ihrem Sturze beizutragen. Außerdem, was schon gesagt wurde, ist die Berufung von Gott, sofern sie aus der Entwicklung, aus der Fruchtbarmachung an­ erschaffener Anlagen hergeleitet werden muß. Auf der anderen Seite sind indessen auch die Autoritäten von Gott herzuleiten, auf welchem Lebens­ gebiete es auch immer sei; wer die Autorität stürzt, stürzt die göttliche Ord­ nung, hebt die Anarchie auf den Schild, das eigentliche Element des Teufels. Vor dieses Entweder-Oder sieht sich Böhme gestellt; und während zunächst durch die Kollision von Berufung und religiöser Autorität Zweifel über die Echtheit der Berufung bei ihm entstehen, ändert sich das später, das Be­ rufungsbewußtsein tritt immer schroffer, immer radikaler in den Vorder-

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gründ. Schließlich ist Böhme soweit, daß er die Berufung, das unmittelbare Gotteserlebnis mit entscheidender Schärfe gegen die religiöse Autorität aus­ spielt. Dazu helfen die Freunde, die ihm, wie wir sahen, seine Erwählung plausibel machen; dazu hilft ferner die Einsicht, die sich unter dem äußeren Druck immer mehr herausbildet: daß Haß, Verleugnung, Boykott vielleicht gerade ein Stigma der Berufenen seien. Die Verachtung als Komplement der Erwählung, das sieht Böhme bei Christus; und in dem Maße als er sich anschickt, Christus nachzufolgen, das Schicksal Christi im eigenen Schicksal gleichsam zu wiederholen, — in eben dem Maße verliert der äußere Haß für ihn jede Anstößigkeit. In Christus ist das Urbild jeder Berufung gegeben; was dem Berufenen auch immer erwächst an kristallener Einsamkeit und Angst von innen, an Widerstand der Menge von außen, der sich kundtut in einer fast tätlichen Verschwisterung von Stumpfheit und Bösartigkeit: im Blick auf das Bild Christi ist dieser Gefahr zu begegnen. Denn hier, am Kreuz Christi, sind schon alle Schauer der Berufung stellvertretend erlitten und getragen worden. Darum hatten es auch die Menschen früherer Jahrhunderte, die noch unresiektiert im Christentum wurzelten, viel leichter, der Schwierig­ keiten der Berufung Herr zu werden, als die Späteren. Wie oft sehen wir nicht die Späteren an ihrer Berufung zugrunde gehen, ja von ihrer Berufung geradezu zersieischt werden: die elementare Tragödie von Menschen, welche den inneren und äußeren Widerständen der Berufung nicht gewachsen sind. Denn gegen den Berufenen verschwören sich das eigene und das öffentliche Leben, mit einem Wort: gegen ihn verschwört sich die ganze Welt; wehe ihm, wenn er nicht gewappnet ist. So kann Böhme in einem Gebet an Christus geradezu sagen: „Erhalte du mich doch in meiner Angst und Verfolgung, unter dem Spotte des Teufels und aller falschen Menschen, die dich nicht kennen und deinen Weg nicht gehen wollen." Die Korrespondenz von Er­ wählungsbewußtsein und Leidensbewußtsein kommt hier so tief zum Ausdruck, daß um ein Anhalten der Not gebeten wird; denn wenn Angst, Verfolgung, Spott schwinden, erlischt dann nicht auch der Funke der Berufung? Böhme schweigt jetzt sechs Jahre, 1612 bis 1616; er scheint, wie aus Andeutungen hervorgeht, auch innere Schwierigkeiten gehabt zu haben, wie sie bei schöpferischen Menschen gang und gäbe sind, jedenfalls versagt sich ihm das „Gnadenlicht", der „äußere Mensch wollte nicht mehr auf­ schreiben". Aber, dann, nach dieser Pause, beginnt er wieder, und wird bis zu seinem Ende im Jahre 1624 nicht wieder aufhören. Seine Handschriften werden ihm von feinen Freunden direkt aus der Hand gerissen, werden ab­ geschrieben, verbreitet, er braucht die Druckpresse gar nicht, die ihm durch Machenschaften vorenthalten wird, denn mindestens ebenso präzis arbeiten seine enthusiastischen Anhänger. Einmal werden hinter seinem Rücken zwei

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seiner Schriften durch einen adligen Gönner, Hans Sigismund von Schwein! chen, in Druck gegeben; selbstverständlich benutzt Richter das zu einer zornigen Gegenaktion, der Rat wird aufgewiegelt, man verhandelt; doch kann Böhme richtigstellen, daß der Druck nicht auf seine Veranlassung ge­ schehen sei. Nun beginnt erst die eigentliche Kontroverse mit Richter, in deren Verlauf die ganze Stadt gegen den Schuster mobilisiert wird, ins­ besondere der Pöbel; man kann nicht behaupten, daß die offizielle Geistlichkeit ehrenvoll dabei abschneidet. Richter publiziert eine Hetzschrift gegen Böhme, die auf Grund ihrer platten und unsachlichen Gehässigkeit freilich das Gegen­ teil dessen erreicht, was sie beim Rat erreichen soll: sie stimmt den Rat zur Milde. Im übrigen ist diese Schrift so charakteristisch für den Mann, für seine Person, seine geistige Haltung sowie für seine Auffassung der Wahrheit, daß es am zweckmäßigsten scheint, unmittelbar zu zitieren. 3m Vorspruch

heißt es:

„Neue Arten zu reden bringen gemeiniglich neue Irrtümer und neue Widerwärtigkeiten mit sich; dahero jener sagte: Man müsse ein ungewöhnliches Wort wie eine Klippe im Meer meiden." Ein ungewöhnliches Wort wie eine Meeresklippe zu meiden, das ist ein Bekenntnis: das Bekenntnis kanonischer Sterilität, welche noch nie etwas verspürt hat vom Wehen des Geistes. Aber so ist der ganze Mann: engstirnig, indolent bis zum Bersten, sich im Alleinbesitz der Wahrheit wissend und jeden dem höllischen Feuer überantwortend, der nicht in seinem Schema denkt. Seiner Polemik fehlt Geist und Überlegenheit, es ist einfach Gassenpolemik;

typisch etwa folgender Passus der Streitschrift: „So viel Zeiten sind / so viel sind GOttes-Lästerungen in des Schusters Büchern zu sinden; welche nach nichts als Schuster-Pech / und nach der garstigen so genannten SchuSchwärze stinken: Pfuy, pfuy / dieser greuliche Gestank sey ferne von uns." Triumph der Unsachlichkeit; man fragt sich: will der Theologe den Schuster nicht widerlegen, weil er zu eitel ist, oder kann er ihn nicht widerlegen? Böhme antwortet zweimal, zunächst in schriftlicher Verantwortung vor dem Rat zu Görlitz, dann, erheblich scharf auch seinerseits, in einer „Schutzrede wider Gregor Richter". Diese Schutzrede ward handschriftlich überall verbreitet, und das tat das Seinige, um Böhme den Aufenthalt so sauer wie möglich zu machen. In seinem letzten Lebensjahre, 1624, artet die Richtersche Hetze gegen ihn in Demagogie aus, und so reist er denn meist außerhalb, seine Aus­ weisung steht sowieso vor der Tür. Treu zu ihm halten seine Freunde, vor

24 allem die adeligen; auf ihren Gütern weilt er oft lange zu Disputen und Ge­ sprächen, von ihnen bekommt er Korn, Käse, Fische, ab und zu auch wohl bares Geld, als Gegengabe für geliehene handschriftliche Werke oder Entgelt für theosophisch-mystische Auskünfte. Als der Umstrittene endlich stirbt, gibt es noch einen letzten Strauß: die Geistlichkeit will ihn nicht beerdigen, sie begibt sich zum Teil aus der Stadt, als der Rat die kirchliche Bestattung verlangt; endlich muß dann doch einer der Kleriker den letzten Dienst tun, und er tut ihn entsprechend. — Leider gibt es von Böhme keine zeitgenössischen Bilder, die existierenden entstanden alle später, etwa fünfzig Jahre nach dem Tode; so ist es also kaum möglich, seine Beschreibung nach dieser Seite hin abzurunden. Ein Bild mit lateinischer Unterschrift entspricht am meisten, wie die Forschung an­ nimmt, dem Original, weil es sich in etwa mit der Beschreibung Abraham von Frankenbergs deckt, welche lautet: Jakob Böhmes äußerliche Leibes­ gestalt war verfallen und von schlechtem Aussehen, kleiner Statur, niedriger Stirne, erhobener Schläfe, etwas gekrümmter Nasen, grau und fast himmel­ bläulich glänzender Augen, sonst wie die Fenster am Tempel Salomonis,

kurz-dünnen Bartes.

II. Böhme und wir Es ist an der Zeit, eine Frage zu stellen, von deren Beantwortung die fernere Behandlung unseres Gegenstandes abhängt. Die Frage ist diese: War Böhme Christ? Zunächst steht einmal fest, daß zwischen Böhme und der offiziellen Kirche schärfste Spannungen vorlagen. Es werden uns noch genügend Äußerungen

darüber entgegentreten. Böhmes Animosität gegen die Theologen geht sehr weit, er steht zu ihnen ähnlich wie Paracelsus zu den Medizinern. Beide, Böhme wie Paracelsus, beschäftigt das Problem, ob der Mensch auf dem Wege des Studiums, der Bücher und der akademischen Stufenleiter ins Amt komme, oder auf dem Wege der unmittelbaren Inspiration. Beide bejahen die Inspiration; Paracelsus hat für die gelehrten Ärzte nur Verachtung, müssen sie sich doch erst durch ihre Amtstracht, rote Barette und Talare, aus­ weisen: „. . . gehürnte akademische bacchanten, gemalte aerzt — so sie nicht gemalt gingen wie die butzi in der Fastnacht, wer wollt sie für aerzt erkennen?" Entsprechend äußert sich Böhme über Doktoren und Theologen, über ihren Habit, über ihre Bücher; alles was mit theologischer Gelehrsamkeit zu­ sammenhängt, ist für ihn vom Teufel. Man wird gewisse Ressentiments, die darin zum Ausdruck kommen, nicht übersehen, aber im ganzen ist doch die Ablehnung so radikal, daß man ernstlich zu fragen gezwungen ist, ob hier noch ein Weg zur Kirche zurückführt. Auf der andern Seite jedoch: das ganze Gedankengut dieses Mannes ist christliches Gedankengut, seine Probleme sind christliche Probleme, er hat nirgends die Absicht, etwas Neues zu schaffen, sondern er will das Alte restaurieren. Die ganze Atmosphäre, in der Böhme lebt, in der er geistig wurzelt, ist die große alte Atmosphäre des christlichen Abendlandes. Die Haltung gegenüber diesem christlichen Abendlande ist heute über­ wiegend negativ, bezeichnet durch das Stichwort der religiösen Emanzi­ pation. Diese Emanzipation ist das Schicksal der meisten von uns, übrigens ein Schicksal, auf das man sich viel zugute tut, auf das man stolz ist, weil es fortschrittlich scheint. Fragen wir aber, was bei dieser Emanzipation heraus­ gekommen ist, so ist zu erwidern: wenig, herzlich wenig, beinahe nichts. Einziges Fazit der religiösen Emanzipation, das sich mit hinlänglicher Sicherheit ziehen läßt: der Mensch ist auf eine fast hintergründige Weise heimatlos geworden. Man hat es einmal sarkastisch so formuliert: im Laufe dieser Emanzipation sei Gott von der Welt verschluckt und zur Göttlichkeit

26 verdaut. Das ist kein Verinnerlichungsprozeß, wie man vielleicht anzunehmen geneigt ist, sondern ein Vernichtungsprozeß. Gott wurde in der Tat durch die Welt absorbiert, und diese Verschlingung der Transzendenz durch die Im­ manenz, wenn sie einmal angehoben hat, ist nachträglich nicht mehr zu stoppen. Am Ende dieser 'Speisung — welche Karikatur der evangelischen Speisungen! — steht dann ein metaphysischer Hunger, den nichts mehr sättigt. Nimmt man die göttlichen Realitäten in den Menschen hinein, so werden sie schließlich vollkommen zum Verschwinden gebracht, sie werden mit dem Menschen zur Deckung kommen. Wo bleibt das Ewige, das Über­ ragende, der heilige Schauer? Er versiüchtigt sich zum Schauer des Gefühls, in den Enthusiasmus der Vernunft, wird umgefetzt in Willen. Von hier aus gesehen, hat die sogenannte religiöse Emanzipation eher den Charakter einer atheistischen Chemie: die göttlichen Elemente gelangen im Stoff der Welt zur Auflösung, will sagen, sie sind nicht mehr. Sieht man die religiöse Entwicklung von diesem Gesichtspunkt der Emanzi­ pation aus, wonach die Lösung vom Christlichen identisch ist mit Befreiung, Verselbständigung, Autonomie, so gelten gewisse Spitzenerscheinungen der christlichen Überlieferung bereits als Vorläufer, als Bahnbrecher der guten Sache. In diesem Sinne haben insbesondere Eckart, Luther, Böhme dazu dienen müssen, die religiöse Aufklärung zu sanktionieren: wieder und wieder werden sie dem Volke vorgestellt als geistige Überwinder der Kirche, als Neuerer, Revolutionäre schlechthin. Sie sind die „Genies" in Dingen des Glaubens, welche es wagen, eben diesen Glauben ganz in die Hand des Men­ schen zu legen, das Dogma außer Kraft zu setzen, den Priester zu dispensieren. Hilft es, daß man darauf hinweist, in welchem Maße die angeblichen Häretiker in der Kirche wurzeln, wie sie mit der Kirche denken, mit der Kirche formulieren? Hilft der Hinweis darauf, daß keiner dieser Männer je daran dachte, die Kirche durch eine freireligiöse Gemeinde, durch eine verschwommene Neuerung irgendwelcher Art zu ersetzen, wo jeder, seines Geistes Herkunft und Verfassung entsprechend, sich selbst Dogmen „macht"? Hilft endlich der Hinweis, daß diese Männer an der Kirche die gleiche Aufgabe hatten wie der Arzt an einem gestörten Organismus, welcher durch partielle Stauungen und Leiden gequält wird? Nein, diese Hinweise fruchten nicht, man weiß es besser. Gewiß, diese Männer wollten keine bewußte Revolution, aber indirekt revolutionierten sie doch, sie waren ahnungslose Umstürzler; erst uns Spä­ teren blieb es vorbehalten, das klarzustellen, wir ziehen sozusagen die Bilanz der versteckten Häresie. Die Unmöglichkeit dieser Interpretation steht für uns außer Zweifel. Freilich, niemand kann sich über die Folgen dessen, was er tut, bis ins letzte im klaren sein; oft ziehen die Handlungen der Toten Kreise, welche die

Toten nicht ahnen und auch nicht ahnen konnten. Aber was hier getan wird, scheint uns auf einem anderen Blatt zu stehen: man reprojiziert die eigene Aufgeklärtheit, deren Substanz diskutabel ist, in vergangene Jahrhunderte, man befrachtet die Entscheidungen der großen Toten mit den eigenen, sehr vagen Vorstellungen von geistiger und religiöser Freiheit. Die Gefahren einer reinen Antithese zur religiösen Überlieferung, das ist

zum Christentum, müssen hier kurz gestreift werden. Wie auf keinem Gebiete, so kann man auch im Religiösen die Revolution nicht zum Prinzip schlechthin erheben. In der rechten Wechselwirkung von Revolution und Tradition, von Schöpfung und Überlieferung liegt das Geheimnis des Lebens, auch des religiösen Lebens. Das ist, nebenbei bemerkt, die These unserer gesamten Ausführungen. Aber erleben wir es nicht feit dem vorigen Jahrhundert in immer stärkerem Ausmaße, daß die kritische Haltung gegenüber der religiösen Überlieferung

überwiegt? Ob jemand bereits anfing zu denken, oder ob er dazu noch keinerlei Anstalten traf: jedenfalls opponiert er gegen die Überlieferung, er­

klärt sie für antiquiert, hemmend, überholt, und die eigene geistige Be­ deutung mißt man an der Stärke des Widerspruchs gegen die Tradition. Es braucht nur jemand gegen die Überlieferung zu rebellieren, seiner Gering­ schätzung für die Überlieferung entsprechenden Ausdruck zu geben, und schon gilt er als Revolutionär, als Wortführer des Reuen, — zwar eines nebulösen Neuen, einer Neuheit, die ebenso verschwommen wie widerspruchsvoll ist, aber was tut das? Es steht etwa folgende Anschauung dahinter: wenn das Alte erst einmal zerschlagen ist, so kommt das Neue von selbst. Vordring­ lichste Aufgabe bleibt demnach die Zertrümmerung des Alten. Wenn man bei einem Flußbett das alte Wasser abläßt, strömt neues von selbst nach: ähnlich stellt man sich das vor in der Welt des Geistes. Beseitigt das Alte, das entstehende Vakuum wird schon irgendein Neues einströmen lassen, es wird sich schon eine neue Idee wiedersinden! Leider ist dem in der Wirklichkeit nicht so, man zerstört auch zuweilen, ohne daß durch diese Zerstörung Neues geschaffen wird, und die geistigen „Erben" begnügen sich damit, die Trümmer weiter zu zertrümmern, bis alles pulverisiert ist. Auch dieser katalytische Prozeß ist irgendwann einmal zu Ende, und es tritt der Zustand völliger Leere ein, weil man nichts mehr in Händen hält als eine riesengroße, sehr formale Freiheit, welche den Menschen verschlingt. So unmöglich es also ist, im Verhältnis zur Überlieferung eine rein negative Position zu beziehen, so unmöglich ist es zugleich, Spitzenerschei­ nungen, große schöpferische Gestalten der Überlieferung gegen eben diese Überlieferung auszuspielen. Gerade die schöpferischen Durchbrüche, soweit sie im Rahmen der Überlieferung erfolgen, sind für diese lebensnotwendig;

28 der schöpferische Durchbruch erfolgt nicht, um die Tradition zu zerbrechen, sondern um sie zu verlebendigen, sie gleichsam zu entkrusten. Das religiöse Schöpfertum, für sich, tendiert immer auf Anarchie im Religiösen, auf eine schrankenlose individuelle Willkür in Dingen des Glaubens; die religiöse Überlieferung, für sich, tendiert immer auf Versteinerung und Erstarrung: auf den Tod. Erst dort, wo das Schöpfertum zwar vorübergehend die Tra­ dition durchbricht, um dann doch wieder in sie einzugehen und ihre Formen von innen her zu durchglühen, ist eine ideale Synthese gegeben. Übrigens ist

dies ein Mittelweg, von dem man nicht sagen kann, er sei bequem, wie man das sonst von Mittelwegen sagt; vielmehr scheint die Bequemlichkeit hier mehr die Extreme zu heischen: Ausrottung der Überlieferung zugunsten der schöpferischen Intention, Ausrottung der schöpferischen Intention zugunsten der Überlieferung. Ziel muß sein, daß beides sich findet: daß die schöpferischen

Durchbrüche in das Bett der Tradition zurückgelenkt werden, und daß die Tradition sich durchglühen und spiritualisieren läßt vom schöpferischen Feuer. Diese allgemeinen Ausführungen lassen erkennen, wie wir Böhme in die religiöse Überlieferung einzuordnen gedenken, das heißt, wie wir sein Ver­ hältnis zum Christlichen bestimmen. Er ist nicht Überwinder des Christlichen, kein Antichrist, der nur nicht um sein Antichristentum weiß, kein erster Vor­ läufer der religiösen Freizügigkeit; vielmehr hat er seinen Platz innerhalb der christlichen Überlieferung. Die Kirche nimmt ihn für sich in Anspruch,

freilich nicht mit ungeteilter Freude, nicht ohne Bedenken, aber das läßt sich bei schöpferischen Geistern nicht vermeiden. Geschieht in einer großen Ge­ stalt der religiöse Durchbruch, so ist damit von selbst eine gewisse Reibungssiäche mit der Überlieferung und mit den Vertretern der Überlieferung ge­ geben: der Durchbruch erfolgt nie ohne Protest der Überlieferungsträger. Mit diesen Spannungen von Schöpfung und Überlieferung im Christentum

geht es so, daß im ersten Augenblick, da die Schöpfung durchbricht und akut wird, eigentlich nur die revolutionäre, das ist gefährliche Seite gesehen wird; die Späteren vermögen oft erst diese geistige Eruption sinnvoll in das Gefüge der Überlieferung einzuordnen und ihre Notwendigkeit zu bestimmen. Diese Antinomie von religiöser Schöpfung und Überlieferung sehen wir bei Böhme verkörpert, eine Antinomie, die doch nicht als solche stehen bleibt, sondern die sich für uns Spätere dialektisch auflöst zur höheren Einheit. Diese Antinomie, die bei Böhme durchscheinend wird, ist nicht nur von historischer Bedeutung, sondern in ihr zeigt sich etwas von der ewigen Problematik des Christentums. Das Wort Gottes stand, solange es auf dieser Welt bekannt ist, immer in der doppelten Gefahr: entweder traditionell zu verhärten, nicht mehr lebendiges Brot zu sein für die Menschen, sondern toter Stein, mit dem man sich die Schädel und die Studierstubenfenster ein-

warf; oder es lief Gefahr, Gegenstand der Schwärmer zu werden, sich schwärmerisch zu verflüchtigen und zu einem Objekt der inneren Fühlsamkeit zu degradieren. Diese dauernde Rivalität zwischen Schöpfung und Über­

lieferung besteht übrigens nicht nur auf dem Gebiet der Religion, sondern auch sonst auf dem Gebiet der Wissenschaft, der künstlerischen Leistung, der Politik. Es ist im Grunde die ewige Thematik des Lebens selbst. Das Leben ist ausgespannt zwischen diesen beiden Polen, dem bewahrenden und dem schöpferisch-zerreißenden, und das Lebensschicksal gestaltet sich je nach Ein­ ordnung des Seins zwischen diese Extreme. Wer sich dem schöpferischen Pol zu sehr naht, droht zu verbrennen, denn das reine Schöpfertum ist der Krater, aus dem nichts Lebendiges zurückkehrt (Hölderlin, Nietzsche); wer sich dem bewahrenden Pol zu sehr naht, gleicht den Figuren des Märchens, welche durch zartes Anrühren des Stabes zu Stein verwandelt werden: er ist lebend tot. Man sieht übrigens, wie gefährlich das Leben, und wie tödlich — in diesem Falle — die Einseitigkeit ist! Dieser ewige Konsiikt des Christentums, der Konflikt von Schöpfung und Überlieferung, wird bei Böhme akut, und zwar in einer besonders dringlichen Weise; er ist zugleich der Konflikt unserer Tage. Oft erkennt man die eigene Problematik nicht, weil sie einem zu unmittelbar auf den Nägeln brennt, oder man erkennt sie mangels Distanz nur verzerrt; aber auf dem Umwege über eine geschichtliche Gestalt vermag man sie klarer zu sichten. Die Gestalt Jakob Böhmes ist geeignet, den Konflikt von Schöpfung und Überlieferung

anschaulich werden zu lassen, — eben unseren ureigensten Konflikt, der uns als Christen heute auferlegt ist; wer einen Konflikt klar erkennt, hat bereits das Entscheidende zu seiner Lösung angebahnt. Denn das ist die Lage des Christentums heute, und nicht nur heute, sondern schon seit Beginn dieses Jahrhunderts und länger: daß es auf der einen Seite schöpferisch, meist pseudoschöpferisch, aufgelöst wird in eine rein subjektive Religion des Gefühls, des Ethos, der Rasse, und daß es sich auf der andern Seite versteift zu einer Haltung, in der es wohl bewahrt wird, aber so wie man ein archäologisches Etwas, eine Antiquität bewahrt. Kurz gesagt: das Christentum ward einer­ seits verhärtet und vermochte lebendige Menschen nicht mehr anzusprechen; auf der andern Seite verlor es jede objektive Verbindlichkeit, jede Norm, und man gab für Christentum aus, was man wollte. Was wird nicht alles mit dem Etikett „christlich" versehen! So sieht sich der fragende und suchende Mensch zwischenein gestellt zwischen diese beiden Fronten: die sich ver­ schanzende Rechtgläubigkeit auf der einen Seite, welche jeden ablehnt, der Gott nicht in ihren Formulierungen zu sinden vermag, und auf der andern Seite der fadeste Subjektivismus, welcher das Christentum umdichtet, so oft es gerade päßlich erscheint, und für den man das Wort eines Polemikers

30 variieren kann: daß er der Entwicklung des Geistes, der Künste und der Politik jeweils nachhinke wie die Marketenderin dem Troß. So ist das Christentum je und je in dieser besonderen Gefahr gestanden: sich entweder rechthaberisch zu verhärten, oder sich dem Zeitgeiste preiszugeben und mit ihm derart zu mischen, daß die Grundlagen der Kirche verlassen waren. Ist es möglich, das religiös-schöpferische Moment zu bejahen, ohne die Grundlagen der Kirche zu verlassen? Ist es anderseits möglich, die religiöse Tradition zu bejahen, ohne ein Opfer ihres Konservativismus zu werden? Wir glauben, diese Fragen zustimmend beantworten zu sollen, Und nun ist deutlich, aus welchem Grunde die Gestalt Böhmes hier zur Verdeutlichung der Sachlage verwandt wird: weil gerade in ihr die Problematiken sich schneiden, dieselben, unter denen wir leiden. Um es ausdrücklich zu bemerken: wir sehen sehr stark die Zeitbedingtheit vieler Gedanken Böhmes und ver­ weisen dazu noch einmal auf das, was wir eingangs über die Grenzen der historischen Erscheinung sagten. Wir erklären uns außerdem mit manchen Lösungen Böhmes durchaus nicht identisch, weil wir den Eindruck haben, daß hier das Fundament der Überlieferung zugunsten subjektiver Speku­ lation preisgegeben wird. Auf der andern Seite sinden sich, umgekehrt, bei Böhme Einsichten, welche ihrerseits die Überlieferung vernachlässigt hat,

so insbesondere das Gott-Natur-Problem. Ganz allgemein ist es von Wichtigkeit, sich eine wirklich dynamische Theologie vorzuführen, ein Denken, welches unmittelbar von der Wahrheit bewegt wird, — im Gegensatz zu einem rein statisch theologischen Denken, das nirgends über begriffliche Konstruktion hinauskommt, und bei dem man sich oft fragt, ob es sich um eine Zweigdisziplin der Logik oder der Mathematik handelt. Das deutsche religiöse Problem: hat es etwas mit diesem Verhältnis von Schöpfung und Überlieferung zu tun, zu dessen Klärung wir die Gestalt Böhmes in Anspruch nehmen? Allerdings; denn an der Klärung dieses Ver­ hältnisses hängt die Frage, ob das Christentum überhaupt noch eine lebendige Bedeutung für uns hat. Und das ist nun ohne Zweifel eine nationale Frage, denn wir sind der Ansicht, daß das religiöse Schicksal der Nation unlösbar mit dem Christentum verknüpft ist. Freilich hat die Nation nur Interesse an einem Christentum, das die Lebensfragen auch wirklich zu beantworten ver­ mag, das heißt, das mehr ist als ein religiöses Requisit aus Vätertagen. Die Lebendigkeit des Christentums aber hängt — nicht nur, jedoch entscheidend — davon ab, daß schöpferische Kräfte in ihm lebendig sind, welche die Über­

lieferung wieder und wieder umschmelzen, welche der Wahrheit ihre Sprache, ihre Leidenschaft und ihre Intentionen leihen, so daß sie, die uralte, bei uns den Eindruck hervorruft, als sei sie uns eben zum ersten Male geoffenbart.

III. Der Schriftsteller Jakob Böhme ist eine literarische Existenz, wohl eine der ersten, die wir kennen. Er wirkt nicht durch das gesprochene Wort, er predigt nicht, — seine mündlichen Wirkungen beschränken sich nur auf kleine und kleinste Kreise seiner Freunde. Als alleiniges Ausdrucksmittel steht dem Schuster das ge­ schriebene Wort zur Verfügung. Auf dieses geschriebene Wort hat er sich sehr bewußt konzentriert, hat viel nachgesonnen über die Wahrheit dieses Wortes und über die Legitimation seiner Schriftstellere!; so kann man bei ihm geradezu eine Theorie des Schriftstellers entwickelt finden. Der Schriftsteller, verschweigen wir es nicht, wird allmählich zur tragischen Erscheinung. Man mache sich das klar an der heutigen Lage der Dinge. Zu jedem Gedanken, welcher gedacht und niedergeschrieben wird, wird zugleich das Gegenteil gedacht und niedergeschrieben. Die Schriftsteller haben die Welt, die reale und die geistige, atomisiert und in eine Unsumme von Aspekten zerschlagen. Wenn der Schriftsteller nicht verzweifeln will, muß er über eine fast zynische Abstraktionsfähigkeit verfügen. Er muß so tun, als sei er der Einzige, der schreibt, und als würde die Welt untergehen, wenn er nicht sagte, was er sagt. Er muß überhaupt so tun, als sei die ganze Welt nur zur schrift­ stellerischen Materie für ihn von Gott geschaffen. Dann kann er es zur Not aushalten. Aber wehe, wenn er um sich sieht, wenn er feststellt: außer mir schreiben noch Tausende, ein Heer von Federn bewegt sich, ein Heer von Hirnen denkt. Mit welchem Recht schreiben sie alle, mit welchem Auftrag? Woher haben sie die Legitimation, das Gegenteil von dem zu schreiben, was er, unser Autor, schreibt? Der heutige Autor, fragt man ihn, warum er schreibt, psiegt sich auf seine Neigung zu berufen, auf seine Gaben, seinen Instinkt und eine gewisse Virtuosität des Ausdrucks, welche ihm ein unglück­ licher Zufall in die Hände gespielt hat. Aber sind das Kriterien? sind das nicht rein persönliche Daten? Und wer will in diesem Durcheinander noch ent­ scheiden wollen, wo echte Berufung vorliegt? An dieser Stelle wird unabweislich die Frage nach dem Sinn der schrift­ stellerischen Existenz akut. Woher hat der Schriftsteller seinen Auftrag? In einem subjektiven Zeitalter wird man diesen Auftrag nie anders als subjektiv verstehen können, und der Ausdruck „Berufung" wird zur Farce: man kann sich nicht selbst berufen. In einer Zeit dagegen, wo der Mensch aus der un­ bedingten Bindung an das Ewige lebt, läßt sich die Berufung im Vollsinne des Worts verstehen: der Mensch wird von Gott berufen, entsprechend

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seinen Gaben. Dieser Gedanke der unmittelbaren göttlichen Berufung trägt Böhmes schriftstellerisches Wirken; er, Böhme, ist nur ein Glied in der Hierarchie der Gemeinde, jedes Glied aber hat seine Anlagen von Gott erhalten und sie entsprechend zu realisieren. Wer seine Anlagen nicht ver­ wirklicht, das heißt sie in göttlichen Dienst stellt, fällt unter das göttliche Gericht: siehe das Gleichnis vom vergrabenen Pfund. Immer wieder greift Böhme gerade auf dies Gleichnis zurück, um die göttliche Sanktion seines Schreibens zu begründen. Nur dort, wo die Sanktion des Schriftstellers von Gott kommt, ist die schriftstellerische Existenz unbedingt sinnvoll; wer da­ gegen seinen Auftrag aus sich selber bezog, steht in der dauernden Gefahr, sich selbst betrogen zu haben. Die Berufung erfolgt bei Böhme in einem einmaligen datierbaren Akt. Er sieht visionär die Größe des Universums, in diesem Universum Sonne, Sterne, Regen, Schnee, Wolken, er sieht die ganze Tiefe der Welt, und auf dem Hintergrund des Ungeheuren wird ihm die Bedingtheit des Menschen bewußt. Was ist der Mensch inmitten des kosmischen Raumes? Ein „kleiner Funke". Dazu wird Böhme desgleichen ein Blick ins Innerste der Dinge geschenkt, er sieht ihre ethische Dualität und stellt fest: überall mischen sich Gut und Böse, noch bis in die Elemente, bis in Kristalle und Pflanzen reicht der Einfluß des Teufels. Diese Einsichten bringen den Schuster in Me­ lancholie und Traurigkeit, und dann geschieht das Unbegreifliche: „Als sich aber in solcher Trübsal mein Geist, von dem ich wenig und nichts verstand, was er war, ernstlich in Gott erhob, als mit einem großen Sturme, und mein ganzes Herz und Gemüt samt allen anderen Gedanken und Willen sich darein schloß, ohne nachzulassen mit der Liebe und Barmherzigkeit Gottes zu ringen, er segne mich denn, das ist, er erleuchte mich mit seinem heiligen Geiste, damit ich seinen Willen verstehen möchte und meine Traurigkeit los werden; so brach der Geist durch." Dem Durchbruch folgt ein wahrer Triumph des Geistes, ein spirituelles Jubeln, Schwellen, Drängen, das sich nicht beschreiben läßt; dem Geiste erscheint alles durchsichtig wie Glas, und in der gläsernen Transparenz der Welt erschaut er überall die große schwebende Mitte: Gott. Das Ganze ist wie eine Auferstehung von den Toten, eine Geburt des Lebens inmitten des Todes. Mit dieser göttlichen Erleuchtung, welche den Menschen unmittelbar verwandelt, ist nun aber zugleich der „Trieb" gesetzt, das Wesen Gottes zu beschreiben. Böhme bestätigt das ausdrücklich, seine Erleuchtung, seine Divination schließen das Schreibenmüssen in sich ein. Freilich dauert es dann noch Jahre, bis er wirklich schreibt, bis das Schreiben wie ein Sturm über ihn kommt, — wir hörten früher davon; das Erlebnis ist noch nicht zum Beschreiben reif. Bevor man Erlebnisse, religiöse wie profane, beschreiben

kann, müssen sie sich geklärt haben, und man muß seinerseits Abstand von ihnen gewinnen; erst der Abstand ermöglicht Gestaltung. So geht es Böhme auch: es ist zunächst noch alles fließend, auch von einer wirklich religiösen Konstanz kann er noch nicht sprechen, er sagt es selbst: „das erste Feuer war nur ein Same, aber nicht immer ein beharrliches Licht, es ist seit der Zeit mancher kalte Wind darüber gegangen . . ." Aber es zeigt sich hier schon, welche Qual des Denkens und inneren Erlebens voraufgehen müssen, bis die Erkenntnis reif ist; und wiederum bedarf es dann einer bestimmten Zeit­ spanne, bis sich die Erkenntnis soweit geläutert hat, daß sie zum schrift­ stellerischen Ausdruck reif ist. Aus der mystischen Intuition wird der Gedanke als Rohmaterial gewonnen, und dieses gedankliche Rohmaterial wird seiner­ seits solange vom Geiste bearbeitet, bis es gestaltungsfähig erscheint: so etwa ließe sich der innere Weg des Gedankens bei Böhme darstellen. „Ich bin tot und ein Nichts, so ich also rede und schreibe, und schreibe nichts aus mir selber . . .": es ist die Paradoxie des mystischen Schriftstellers, daß er schreibt und doch wieder nicht schreibt: er weiß sich vielmehr als Objekt Gottes, der durch ihn handelt, spricht, schreibt. Welcher Unterschied zur Auf­ fassung des Schriftstellers von heute: der alles aus seiner Subjektivität herausspinnt und dem als Material letzten Endes nur zur Verfügung steht, was ihm empirisch zugänglich ist. Böhmes Schriftstellerei dagegen trägt rein passiven Charakter, er versichert es immer wieder; der Geist überfällt den Autor, der Autor ist das Instrument, auf dem der Geist spielt, wann und wie er will. Dies Schreiben angesichts des Absoluten und als Werkzeug in der Hand des Absoluten: es setzt einen Zustand medialer Sachlichkeit voraus, das heißt einen Zustand, wo der Autor sein Ich dispensiert und statt dessen die Einwohnung des Geistes erfährt. Der Geist überfällt Böhme wie ein Flammenbrand, das Ganze hat nahezu den Charakter des mystischen Diktats; nie hätte Böhme das aus sich selber gekonnt, wie er zu versichern nicht müde wird: „erkenne es nicht als ein Werk meiner Vernunft, welche allzu schwach wäre, sondern es ist des Geistes Werk". Böhme kann sich diesem Diktat, diesem Ergriffenwerden nicht entziehen; die „Zeit der Durchbrechung" ist da. Es hat zuweilen den Anschein, erschreckt vor seiner Berufung zurück, wie etwa die alttestamentarischen Propheten zurückschrecken, wenn sie sich zu schwach fühlen. So heißt es einmal: „Ich wollte auch wohl in meiner Sanftmut ruhen, so ich dies nicht tun müßte, aber der Gott, der die Welt gemacht hat, ist mir viel zu stark, er mag mich setzen, wohin er will." Auch er, der Schuster, muß erfahren: wen der Geist ergreift, der hat auf seine Freiheiten zu ver­ zichten, es gibt angesichts Gottes keine Alternativen mehr. Freilich ist dies Ergriffenwerden durch den Geist nicht als dauernd vorzustellen, es ist kein Zustand; auch Böhme kennt das, was dem „profanen" Autor als die Dialektik

3 Baden: Reltg. Problem

34 der Produktion geläufig ist. Niemand schreibt durchlaufend, sondern zwischen die schöpferischen Stunden schieben sich die unschöpferischen, die Produktions­ pausen, welche oft Jahre anhalten können und eine namenlose Zerreißprobe für den Berufenen bedeuten. Diese Dialektik, welche notwendig ist, sieht Böhme unter geistlichen Vorzeichen: als die Dialektik von Geist und Fleisch, welche sich in der Produktion und ihren Stauungen widerspiegelt. „Die Sonne", so schreibt er, „ist mir oft erloschen, und je öfter sie erloschen ist, desto Heller und schöner ist sie wieder aufgegangen." Durch alle Divination und Eingebung leuchtet doch die Demut dessen, der sich nur als Gefäß der Gnade weiß, wie das einmal schön in folgendem Zusammenhang gesagt ist: „Du darfst nicht denken, daß ich sei in Himmel gestiegen, und habe solches mit meinen fleischlichen Augen gesehen. O, nein, höre ... ich bin wie du und habe kein größer Licht in meinem äußerlichen Wesen als du, dazu bin ich wohl ein sündiger und sterblicher Mensch als du, und muß mich alle Tage und Stunden mit dem Teufel kratzen und schlagen . . . Wenn er aber überwunden ist, so geht die Himmelspforte in meinem Geiste auf, dann sieht der Geist das göttliche und himmlische Wesen, nicht außer dem Leibe, sondern im Quellbrunnen des Herzens geht der Blitz auf in die Sinnlichkeit des Gehirnes, darinnen der Geist spekulieret." Man sollte meinen, daß der Autor sich in seinem Schaffen selbst überwacht und sich psychologisch darüber Rechenschaft zu geben ver­ sucht, sei geistesgeschichtlich erst neueren Datums; hier jedoch wird, nebenbei, deutlich, daß Böhme schon über eine sublime Selbstbeobachtung verfügt, was die inneren Fragen der Produktivität betrifft. Böhme weiß, daß die Darstellung des Mysteriums durch ihn ihre Schranken hat. Diese Frage bewegt ihn immer wieder: ob das, was er geschaut hat, in seinen Darlegungen auch wirklich zugänglich wird; es steht wohl ganz allgemein die Frage dahinter: ob und wie weit religiöse Erfahrung und An­ schauung mitteilbar seien. Religiöse Erkenntnis ist ihm immer fragmen­ tarisch: sie ist fragmentarisch, weil der Erkennende in den besagten dialek­ tischen Prozeß von Fleisch und Geist verwickelt ist, so daß er in buchstäblichem Sinne immer nur ein „Stück" erblicken kann: eben solange der Geist auf ihm ruht. Nur der Mensch, welcher sich permanent vom Geiste besessen wüßte, und nicht nur darum wüßte, sondern auch wirklich besessen wäre —: nur dieser Mensch würde nicht fragmentarisch, sondern total erkennen. Die Sehnsucht, das Ganze zu sehen, kann der Mensch schon deshalb nicht befriedigen, weil er nur ein Teil des Ganzen, nur „Partikular aus dem Ganzen" ist; Gott allein kommt das Prädikat „ganz" zu, und wenn jemand Gott vollständig be­ schreiben wollte, so könnte das eben nur Gott selber tun. Das stückweise Er­ kennen in göttlichen Dingen ist also mit der Existenz des Schriftstellers so­ zusagen gesetzt; Böhme weiß darum und erinnert auch den Leser an diese

seine Grenze. „Ich kann dir nicht die ganze Gottheit in einem Zirkel be­ schreiben, denn sie ist unermeßlich, aber dem Geiste, der in Gottes Liebe ist, nicht unbegreiflich; er begreifts wohl, aber nur stückweise; darum fasse eines nach dem andern, so wirst du das Ganze sehen." Es gehört zum Geheimnis, freilich auch zum Anstößigen der schöpferischen Persönlichkeit, daß sie innerlich widerspruchsvoll erscheint. So lassen sich auch die schriftstellerischen Selbstaussagen Böhmes zum Teil schlecht ver­ einen. Ist er auf der einen Seite von einer übertriebenen Demut, der Denker des Fragments, der Mann der kindisch-primitiven Gedankenführung, deren er sich selbst bezichtigt, so zeigt er anderseits ein schriftstellerisches Selbst­ bewußtsein, das einer Steigerung kaum noch fähig ist. Wir wissen, daß Böhme geistig durchaus nicht ganz eigenständig ist — Einzelheiten inter­ essieren uns hier nicht —, aber er selbst legt Wert darauf, den reinen Auto­ didakten zu spielen, und er spielt ihn nicht ohne Pose. Er behauptet, vieler großer Meister Schriften gelesen zu haben, um von ihnen zu profitieren, aber er habe nichts gefunden als einen „halbtoten Geist", ängstlich und frierend in seiner eigenen Unwissenheit. „Wenn ich gleich kein ander Buch hätte", sagt er, sich übersteigernd, „als nur mein Buch, das ich selber bin, so hab ich Bücher genug; liegt doch die ganze Bibel in mir, so ich Christi Geist habe." Das ist die immer wiederkehrende Melodie: ich habe es aus mir selbst, aus meiner Erleuchtung stammt es, nicht aus Büchern oder Erkenntnissen anderer; werden irgendwelche anderen Schriften erwähnt, so geschieht es nur, um zu bestreiten, daß man von ihnen abhängig sei. Bis zu welcher grotesken szientifischen Eitel­ keit sich Böhme versteigen kann, wird etwa deutlich, wenn er den Inhalt seiner Schrift Aurora definiert: diese Schrift gibt zu erkennen, was das Schicksal der Gottheit vor der Erschaffung der Welt war, sie kündet von der Schöpfung der Engel, vom Fall Lucifers und seiner „Legionen"; sie erklärt, woraus Himmel, Erde, Sterne, Elemente geschaffen sind, auch Steine und Metalle; sie schildert die Geburt alles Lebens und der dinglichen Leiblichkeit; sie enthüllt das Geheimnis derHimmel sowie des Zornes Gottes: „in Summa, was oder wie da sei das Wesen aller Wesen". Man sieht, es wird ein Programm aufgestellt, das einen schwindeln läßt; hier ist entweder ein Geist am Wirken, der jedes Maß verloren hat, oder dem in seiner rasenden Berufung die Pforten der letzten Geheimnisse offen zu stehen scheinen, blnd wenn selbst ein Engel vom Himmel berabstiege und wollte ihm Erkenntnisse vermitteln — Böhme spielt auf eine paulinische Wendung an —, so würde er sie doch nicht annehmen; denn in seinem Inneren hat er ja schon die ganze geistige Welt einschließlich aller Gewißheiten, dort geht ihm die Sonne auf, dort erlebt er die Geburt der Engel und aller Dinge. Die erleuchtete Seele ist das kosmische Theater, in welchem das makrokosmische Mysterienspiel wieder und wiederabrollt. . . 3*

36 Freilich glaubt man hin und wieder in Darlegungen Böhmes Stellen zu finden, wo den Autor selbst das Entsetzen überfällt: wenn er sich nämlich einen Augenblick darüber klar wird, welchen Weg er geht, und bis in welche Tiefe er sich mit Gott eingelassen hat. Er faßt es einmal in die Worte: „Aber ich bin nun zu hoch gestiegen und darf nicht wieder zurücksehen, sonst schwindelt mir und habe noch ein kleines Leiterchen bis ans Ziel, da ist alle meines Herzens Lust völlig hinzusteigen. Denn so ich aufsteige, so schwindelt mir gar nicht, aber wenn ich zurücksehe und wieder umkehren will, so schwindelt mir und fürchte mich des Fallens." Was ist das anders als das Bekenntnis eines Mannes, der selbst Angst bekommt vor der Abgrundlosigkeit der Gottes erkenntnis, — das Bekenntnis eines Mannes, der aufgebrochen ist, Gott zu suchen, und den der bloße llmblick taumeln läßt: soweit hat er schon das Vertraute und Geläufige hinter sich gelassen. Der Schwindel, den Böhme hier beschreibt, ist der Schwindel, welcher jeder großen Erkenntnis, jeder großen geistigen Leidenschaft korrespondiert: in namenloser Einsamkeit friert unser Herz, und die Seele vergeht vor dem eisigen Anhauch Gottes. Weil die Erkenntnis, insbesondere die Gotteserkenntnis, in ein fast tötliches Abenteuer ausarten kann, darum warnt Böhme seine Leser: sie mögen sich vorsehen! Sie sollen sich auf der Leiter der Begrifflichkeit halten, solange sie die Be­ griffe haben,können sie nicht abstürzen. Sie sollen die Demut nicht verlernen und sollen nicht mehr zu wissen begehren, als ihnen gut ist. Dem einen wird mehr zu erkennen gegeben, dem anderen weniger, darum soll man nicht rechten, das Ziel ist bei allen das gleiche: sich Gott ergeben, mit dem gött­ lichen Willen eins werden. Endlich soll der Leser sich in die Tiefe der Wunder Gottes führen lassen, und eben dazu muß er seinen Willen Gott überant­ worten; er kann die Wunder nicht von sich aus finden, versucht er das, so stürzt er aus der ewigen Freiheit in die eigene beschränkte Imagination. Auch sonst gibt es mannigfache Ermahnungen an den Leser, wie über­ haupt die ganzen Schriften von Einwürfen und Anreden durchsetzt sind, was oft ein außergewöhnliches Maß von Lebendigkeit beim geschriebenen Wort bewirkt. Die Dynamik dieses Denkens ist so bedeutend, daß Böhme an be­ stimmten Punkten der Entwicklung den Leser auf ganz besondere Gefahren beim Mitdenken aufmerksam machen muß. So etwa, wenn er einen besonders hef­ tigen Stoß gegen den Teufel führt: er weiß, der Teufel wird das nicht wider­ standslos hinnehmen, sondern hier entspinnt sich ein metaphysischer Kampf um den Leser. Man kann sagen: an bestimmten Einschnitten, Knoten der Gedan­ kenführung sitzt der Teufel geradezu leibhaft auf der Lauer, um den Leser abzu­ fassen, ein „beißiger Hund", mit dem nicht zu spaßen ist; darum mag sich der Leser wohl mit dem Geiste Gottes rüsten und den Zweifeln keinen Raum geben. Böhmes Sprachschatz ist außerordentlich bunt und umfassend und kann

sich beinah mit dem Luthers messen; dazu hat er eine Plastik der Darstellung, die bestrickt. Man führe sich nur etwa folgende Darlegung zu Gemüte, wo er seinen ganzen unakademischen Zorn über die Studierenden ergießt: „Schickt ein Mann einen Sohn auf die hohe Schule, daß er soll was Gutes lernen, daß er möge Gott und der Welt nütze sein, so lernet er Üppigkeit,

Hochmut, Lustigkeit, wie man einem Einfältigen möge das Seine, seinen Schweiß, mit List abdringen: da macht man einen Mantel darum, und heißts Jura, aber der Mantel ist des Teufels, und das falsche Herz ist sein Diener. Kann er ein wenig fremde Sprachen, so ist ihm schon kein einfältig Mann gut genug: der Hochmut fährt oben aus; der stinkende Madensack muß mit Loden und Zotten behangen sein; Buhlen und Jungfrauen schänden ist bei ihnen höflich Kunst . . ." Übrigens gibt Böhme selbst zu, daß der Um­

gang mit Gesinnungsgenossen und Freunden seinen Stil erheblich gebessert habe; das gemeinsame Denken, die gemeinsame Aussprache, sie machen seinen Geist geschmeidiger, und das spiegelt sich im Ausdruck wieder: er konnte von da ab „alles besser in das Äußere bringen". Trotzdem ist die Gedankenführung im allgemeinen sehr monoton, dieselben Probleme werden wieder und wieder abgewandelt; es ließe sich, in einem gewissen Sinne, von einer ideellen Monomanie bei Böhme reden. Übrigens eine Tatsache, welche sich uns

bestätigt, wenn wir das Werk einer beliebigen schöpferischen Persönlichkeit mustern: Schöpfertum besteht nicht darin, zahllos neue Ideen und Problem­ stellungen hervorzubringen, sondern einige wenige Gedanken zu entdecken und sie immer aufs neue, immer wirkkräftiger und überzeugender zu ent­ wickeln. Nicht im Übermaße neuer Ideen, welche sie produziert, liegt das

Geheimnis der schöpferischen und geschichtlichen Persönlichkeit beschlossen, sondern in der Hartnäckigkeit und Stärke, mit welcher das einmal Erkannte vor der Öffentlichkeit ausgebreitet wird. Insofern ist das Verhältnis der geistigen Vergangenheit zu einem Autor auch anders als das Verhältnis seiner Zeitgenossen zu ihm. Das ganze Leben des Autors ist ein Kampf um wenige Gedanken, er wird in ihrer Konzeption immer reifer, er stellt sie von neuem dar mit den Variationen und Abschattungen, welche sich mit fort­ schreitendem Verständnis ergeben, er muß sie gegen Gegner verteidigen: es ist klar, daß sich daraus eine gewisse Breite des Gedankens, und aus dieser Breite wiederum eine gewisse Eintönigkeit des gesamten Werkes ergibt. Die Späteren, welche das vorliegende Material durchgehen, vermeinen oft, sie könnten das Gleiche ungleich konzentrierter darstellen. Hier liegt ein wesent­ licher Grund, warum dieses ausgesprochen literarische Werk — das Werk Böhmes — für uns so schlecht lesbar geworden ist; wollte man es graphisch darstellen, so müßte man Spiralen zeichnen, welche ineinander greifen und sich schließlich unentwirrbar verschlingen.

38

Den Charakter eines Schriftstellers erkennt man kaum besser als in den Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern. In der Polemik enthüllt sich das wahre Wesen des Autors. Auch hier kommt man bei Böhme nicht über den Eindruck einer letzten Zwiespältigkeit hinaus. Auf der einen Seite ist er der erklärte Feind jeder religiösen Auseinandersetzung. Diese Auseinander­ setzungen sind ihm im Grunde ein groß angelegtes Mißverständnis: Streit um Buchstaben, um „Meinungen" (Die Meinung ist der Inbegriff subjektiver geistiger Willkür). Jeder religiöse Streit, jede religiöse Polemik, sie folgen aus der großen Kontroverse von Geist und Buchstabe, — es wird davon noch ausführlich zu reden fein; wo die Kontroverse beseitigt ist, das heißt wo ein Autor ganz und gar aus dem Geiste heraus lebt und schreibt, muß auch der Religionsstreit zwangsläufig zum Verschwinden gebracht werden. „Soll ich wider das zanken, das außer mir ist", fragt Böhme einmal, „ehe ich lerne kennen, was in mir ist?" Das was außen ist, sind die Meinungen, die vagen, anstößigen Buchstabenweisheiten, um welche man bis ins Unendliche feilschen kann; im Innern dagegen ruht die mystische, die göttliche Gewiß­ heit, aus welcher die lautere Wahrheit quillt. Wer aus diesem Innen heraus lebt, lebt aus der Wahrheit, hat die direkte Inspiration, er ist über jede Aus­ einandersetzung erhaben. Würde unser Autor diese grundsätzlichen Erkennt­ nisse, auf die er häufig zurückkommt, in die Tat umgesetzt haben, so müßte man sich eigentlich auf klare unpolemische Darlegungen gefaßt machen, aus denen unmittelbar die Gewißheit spricht. Dem ist in der Praxis freilich nicht so. Daß er auf das grobe Geschütz, welches Richter gegen ihn auffährt, entsprechend reagiert, kann man verstehen; aber in den Auseinandersetzungen mit Balthasar Tilken, Esaia Stiefel und Ezechiel Meth, wo es sich um aus­ schließlich religiöse Fragen handelt, kommt denn doch der Pferdefuß zum Vor­ schein. Die profanen Schriftsteller sprechen sich zuweilen untereinander den Geist ab, die religiösen Autoren tun dasselbe mit dem heiligen Geist. In­ sofern es gelingt, die religiöse Berufung des Andern als Fiktion zu enthüllen, hat man ihn unschädlich gemacht: er schaut und schreibt dann nicht aus dem Zentrum Gottes heraus, wie er angibt, sondern aus seinem eigenen Zentrum, das heißt aus seinem Ich einschließlich aller Bedingtheit und Fehlbarkeit, welche dem Ich anhaftet. „Du kannst die Meinung nicht ins Centrum und wieder herausführen", heißt es gegen Tilken; „es ist kein Geist der Tiefe in dir, sondern ein zusammencopuliret Wesen von anderm Mund, und dein eigener Mund versteht das nicht. Aber ich schreibe, was ich selber verstehe, und was ich kann ins Centrum bis auf den Ungrund führen." Die gesperrten Worte sind von Böhme selbst gesperrt, sie verraten ein Selbstbewußtsein, welches kaum noch eine Verstärkung erträgt. Dieses eine Zitat steht für viele; es zeigt, auf welchen vagen Boden sich hier die Polemik begibt. Kann man

dem Andern die Berufung absprechen? Es gibt keine sachlichen Kriterien, eine Berufung gegen die andere auszuspielen, weil das ganz unwägbare Daten sind, welche sich jeder Kontrolle entziehen; um die eigenen Erfahrungen zu sichern, muß man die Tatsächlichkeit des religiösen Vorgangs in anderen Seelen bestreiten. Diese Tatsache spiegelt die Gefährlichkeit wider, welche jeder religiösen Auseinandersetzung, werde sie auch aus den idealsten Gründen geführt, anhaftet: im Grunde läuft es doch darauf hinaus, daß man das, was der Andere erlebt zu haben vorgibt, als Phantasmagorie, wenn nicht als Selbstbetrug, hinstellt. Bei Auseinandersetzungen, welche auf der Ebene der Empirie liegen, hat man Tatbestände, Belege, Zahlen, welche sich nicht versiüchtigen lassen und ein gewisses Gerüst der jeweiligen Position abgeben; die Tatbestände dagegen, welche.der religiösen Auseinandersetzung zugrunde­ gelegt sind, lassen sich kurzweg bestreiten. Es gab immer Menschen, und wird sie immer geben, für welche Priester und Propheten mit Betrügern identisch sind. In den Auseinandersetzungen spielen für Böhme die eigenen Schriften eine zentrale Rolle, er zitiert sie, er verweist wieder und wieder auf sie; kurz und gut, die Aussagen, die er früher einmal zu irgendeinem Gegenstand gemacht hat, sind im allgemeinen für ihn kanonisch. Seine Polemik beschränkt sich auch nicht darauf, die Berufung des Gegners in Zweifel zu ziehen, sondern sie schlägt auf genau die gleiche, grobe, ungeistige und ungeistliche Weise um sich, wie die Gegenseite das tut. „Das saget mir, oder laßt meine Schriften unbekleistert", so heißt es schroff. Oder unser Autor glaubt sich geistig von der Gegenseite mißbraucht: „Geiget nicht auf meiner Geigen!" ruft er. Oder, pathetisch: „Ach, wie schrecklich ists, daß man die Schrift so darf verkehren! Liebe Herren, wo wollt ihr aus? Wie wollt ihr vor Gott bestehen?" Oder, den Andern eifernd und zänkisch die reine Gesinnung ab­ sprechend: „Was gaukelt ihr viel mit dem h. Geiste? Seid ihr mehr wissend als er? Ja wohl, hoffärtige, eigenehrige, eigennützige, mutwillige Kinder seid ihr!" Virtuos sind insbesondere die Auseinandersetzungen mit Gregor Richter, auch formal; man vermutet deswegen, daß sie nicht ohne fremde Hilfe niedergeschrieben sind. Als schriftstellerisches Mittel bevorzugt Böhme Bild und Gleichnis. Das ist kein Zufall. Einem Denken, das wesentlich durch die Schau, die Intuition genährt wird, wird das Bild stets adäquater sein als der Begriff. Das gilt ganz allgemein: Böhme denkt nicht in Begriffen, sondern in Potenzen. Die Welt löst sich ihm nicht auf in eine Summe klarer logischer Beziehungen und Sätze, sondern die Welt ist ihm erfüllt von einem Kräftespiel seltsam hintergründiger Art. Gott, Satan, Engel, Elemente, Geister, das alles sind Realitäten, durch nichts aus der Welt zu schaffen, und im Leben des Menschen

4° schneiden sich all diese Machtsphären. Ein solches Pandämonium von über­ weltlichen und zugleich innerweltlichen Kräften läßt sich selbstverständlich begrifflich nicht mehr erfassen, sondern die einzige Kategorie, welche hier zur Anwendung kommen kann, ist die mythische. Darum hat man bei Böhme oft weniger den Eindruck einer Philosophie oder Theologie, als einer Mythologie. Im Mythos gestaltet sich das Verhältnis Gottes zur Welt, des Menschen zur Welt, gestaltet sich das Verhältnis aller geistigen Mächte, welche das All erfüllen, zu einem buntbewegten Drama. Eben das ist das Kennzeichen des Böhmefchen Denkens: es ist mythisch dramatisch, und der Denker überwältigt hier nicht mehr die Dinge vermittels seiner Begriffe, sondern gegenteilig: er droht ein Opfer der Dinge zu werden. Denn im mythischen Bereich wird jedes Ding zu einem eigenen Kraftzentrum, es ist „geladen"; und auf Grund dieser potenziellen Verfassung kann man sich seiner gedanklich nicht mehr bemächtigen. Somit wird jedes Denken, das in diesen Lebenskreis eindringt, grundsätzlich anders orientiert sein als es ein Denken ist, welches zu seinem Gegenstand einen logisch geschlossenen und rational durch­ lichteten Weltraum hat.

IV. Geschichte und Geis! Das Verhältnis von Geist und Geschichte wird zur Lebensfrage der Ge­ schichtsreligion und damit zur Lebensfrage des Christentums. Die Ge­ schichtsreligion fußt nicht auf einer zeitlosen Wahrheit, welche überall und jederzeit zu ermitteln wäre, sondern sie gründet ihre Wahrheit auf ein ein­ maliges historisches Begebnis. Dieses Begebnis liegt in der Vergangenheit; einerlei, ob in grauer Vorzeit oder ob in neuerer Zeit, es droht ihm immer das gleiche Schicksal: daß es durch und durch historisiert wird und eben damit versteint, abstirbt. So wie das Paradies inmitten dornigten, steinigen Ge­ ländes eingesprengt liegt, so liegt jenes Begebnis, jenes Stück „Heils­ geschichte" eingesprengt in die Gesamtgeschichte, welche kein Strahl des gött­ lichen Lichtes erhellt. An einer einzigen Stelle öffnet sich der Himmel über der Geschichte, an einer einzigen Stelle bricht Gott handelnd in die Geschichte ein, und dann nie wieder. Eingekapselt in die profane, die unheilige Geschichte liegt jener Ge­ schichtsaugenblick, welcher von Gott und göttlicher Offenbarung erfüllt ist. Die Geschichtsreligion kennt dies Ineinander von Geschichte und Heils­ geschichte, wobei das Ineinander oft zum Widereinander, das Wider­ einander zum Auseinander wird. Wenn es inmitten der endlosen Kette „profaner" Begebnisse ein Begebnis gibt, welches ausgesprochen meta­ physischer Provenienz ist, so verbindet sich damit von selbst eine Aburteilung der profanen, der nicht ausgezeichneten Geschehnisreihe. Das metaphysische Licht erstrahlt an jenem einmaligen geschichtlichen Orte so hell, daß dem­ gegenüber alle sonstige Historie in Dämmerung getaucht wird, ja aufgelöst wird. Die Fixierung eines bestimmten heilsgeschichtlichen Ortes birgt immer die Gefahr, daß man die Geschichte, wie sie abgesehen von der Heilsgeschichte gegeben ist, bagatellisiert. Die tatsächliche Zurückhaltung, welche das christ­ liche Bewußtsein oft der Gegenwart, der gegenwartsgeladenen Geschichte gegenüber übt, rührt eben daher: das Bewußtsein ist an einem einmaligen Punkt der Vergangenheit so eindeutig orientiert, daß alles andere zu schatten­ hafter Bedeutungslosigkeit versinkt, und sei es auch das unmittelbar gelebte Leben. Man sieht: hier bildet sich ein ungesundes Verhältnis von Geschichte und Heilsgeschlchte heraus, ein Verhältnis, in welchem die Geschichte zu­ gunsten der Heilsgeschichte nahezu ausgelöscht wird. Das heilsgeschichtliche Ereignis, so vermeint man, läßt sich in seiner Bedeutung nur bewahren, wenn der geschichtliche Augenblick, welcher uns umfängt, dafür preisgegeben wird.

42 Zugespitzt: ist der Verrat des Augenblicks, der Verrat der uns tragenden Gegenwart an ein verschollenes übernatürliches Ereignis der letzte Sinn der geschichtlich-heilsgeschichtlichen Konzeption? Wir beantworten diese Frage hier noch nicht, wir sagen nur: es entsteht oft der Eindruck, als ob dem so sei. Führt der Glaube an einen heilsgeschichtlichen Ort der Vergangenheit das gläubige Bewußtsein dazu, ihm zuliebe alle sonst gegebene Geschichte abzuwerten, so verhält es sich zwangsläufig umgekehrt für das ungläubige, das profane Bewußtsein. Oder, um es zurückhaltender zu sagen: für das Be­ wußtsein, welches von jenen heilsgeschichtlichen Vorgängen nicht unmittelbar überzeugt ist. In diesem Falle bäumt sich der Mensch auf gegen die Herrschaft eines abgelaufenen historischen Ereignisses über die lebendige Gegenwart, und insbesondere dagegen, daß das Göttliche nur an jenem Orte einmalig in die Geschichte eingetreten sein solle. Je brüsker die Gegenwart Gottes und das Handeln Gottes einzig an jenem Geschichtsabschnitt, welchen wir Heilsgeschichte nennen, lokalisiert werden, desto profaner wird der Charakter der sonstigen Geschichte. Die Gegenüberstellung von Heilsgeschichte und Profangeschichte besagt in diesem Sinne, daß, wenn ein Geschichtsaugenblick heilserfüllt und dementsprechend herauszustreichen sei, alle sonstigen Geschichtsaugenblicke verdunkeln und irrelevant werden. Steigt die Waage auf der einen Seite, fo sinkt sie auf der andern, das gilt auch von den Kategorien heilig und profan. Die Heiligsprechung jenes Geschichtsabschnitts der Jahre o bis 30 hatte die Entgottung aller früheren und aller kommenden Geschichtsabläufe zur Folge. War das notwendig? Wenn es notwendig wäre, so wäre dem Christentum das Todesurteil zu sprechen. Weil es nicht notwendig war, darum ist an dieser Stelle der Finger zu legen auf eine Fehlentwicklung des Christentums, welche bedeutende Folgen nach sich gezogen hat. Die Vergottung jenes heils­ geschichtlichen Vierteljahrhunderts zu Beginn unserer Zeitrechnung hat in der Tat dazu geführt, daß die Geschichte wachsend entgöttert wurde, bis zur völligen Säkularisierung, Entleerung hin. Soll damit die Bedeutung der Gestalt Christi, die Bedeutung der Offenbarung, welche die Grundlage des christlichen Glaubens ist, geleugnet werden? Keineswegs, es soll nur kritisiert werden die rein historische Auffassung dieses Offenbarungsgeschehens, wie sie im Christentum herrschend wurde. Versuchen wir eine Veranschaulichung: ein Vulkan zerreißt die Ruhe und Gleichförmigkeit einer Landschaft für kurze Zeit durch seinen Ausbruch; will man jenen Ausbruch sich vergegenwärtigen, so muß man auf die Schilderung von Augenzeugen rückgreifen. Nach und nach gleitet das Ereignis immer mehr ins Gewesene. Entsprechend die

historische beziehungsweise historisierende Auffassung der Offenbarung: an einer Stelle hat die Offenbarung die Ruhe und Gleichförmigkeit der Ge­

schichte unterbrochen, an einer Stelle und nur für einen Augenblick; dann schließt sich der Himmel wieder, und die Geschichte erscheint gleichförmig, monoton wie zuvor. Nur erinnernd noch läßt sich von diesem Ereignis sprechen; es ist lediglich in historischen Kategorien ausdrückbar, aber es er­ mangelt der Gleichzeitigkeit. Was geschieht? Die Generationen, welche in einer gewissen zeitlichen Nähe zu diesem Ereignis leben, vermögen noch davon zu zehren, für sie ist die Erinnerung von einer Spontaneität, welche den Ab­ stand bedeutungslos erscheinen läßt; aber je weiter die Geschichte fortschreitet, desto mehr siieht das Ereignis, desto verkrampfter wird die Erinnerung, desto hoffnungsloser jeder Dergegenwärtigungsversuch. Es gibt keine zweite Er­ innerung, welche mit einer solchen Lebhaftigkeit in den Gemütern und Herzen sich erhalten hat als die Erinnerung an die Gestalt Christi; sie hat sich über Jahrhunderte hin konserviert. Und doch stehen wir gerade jetzt an einem Punkte, wo grundsätzlich Wandel einzutreten scheint: wo nämlich die Offen­ barungserinnerung unaufhaltsam schwindet. Wir sprechen von einem Zer­ bröckeln der Tradition, aber es ist im Grunde ein Zerbröckeln der religiösen Erinnerung, das da vor sich geht, sofern unser ganzes Christentum mit Pre­ digt, Lehre, Unterweisung auf die Offenbarungserinnerung abzielte. Die Erinnerung an Christus verfängt nicht mehr, wir müssen den Mut haben, es zu gestehen; die Reminiszenzen an Daten der Bibel, an das heilige Land, der Gedanke daran, daß es vor nicht langer Zeit noch die Sehnsucht frommer Menschen war, nach Palästina zu reisen und den Spuren Jesu zu folgen: dies alles ist unfaßbar fremd geworden. Wir stehen inmitten der Krise des historischen Christentums, das heißt eines Christentums, welches sich in konzentrischen Ringen um ein Faktum der Vergangenheit herumlegt, ohne es wirklich zum Leben erwecken zu können. Jener Prozeß der religiösen Emanzipation, welcher an anderer Stelle erwähnt wurde, der Prozeß wachsender Entkirchlichung und weithin auch Entgottung hängt mit der Historisierung des Offenbarungsgeschehens un­ mittelbar zusammen. Wie jedes Ereignis nach und nach in die Erinnerung tritt und verblaßt, so trat auch die Offenbarung, das heißt jene Vorgänge, welche sich an Gestalt und Werk Christi anknüpfen, immer mehr zurück in den Raum reiner Historie. Und da man — mit Recht! — überzeugt war, daß Gott in diesen Vorgängen unmittelbar zur Darstellung komme, so geriet auch Gott selbst in diesen Historisierungsprozeß und ward zur Erinnerung. Gott keine Realität, sondern Erinnerung: man erinnert sich seiner auf Grund der religiösen Hinterlassenschaft früherer Jahrhunderte, auf Grund der Bau­ werke, deren Existenz unbestreitbar ist, auf Grund der Geschichte mit ihren

44 Glaubensauseinandersetzungen. Zahllose Zeugnisse in Stein, Holz, Metall, Wort, Musik, Farbe erinnern an Gott, aber sie erinnern nicht mehr an ihn wie an etwas Gegenwärtiges, Seiendes, sondern wie an ein Fabeltier ver­ gangener Tage. Früher diente ein System kirchlicher Lehre und schulischer Unterweisung, diente eine christlich orientierte Pädagogik dazu, die Offenbarungserinnerung von Generation zu Generation weiterzureichen. In dem Augenblick, wo dies System bis in die Wurzeln erschüttert wurde, mußte sich zeigen, daß alles über die Offenbarung Gesagte eben nur Erinnerung war, nur vererbte Reminiszenz, nur — Historie. Dieser Augenblick der Erschütterung ist jetzt eingetreten. Wir sehen: jeglicher Glaube, der sich auf rein historischem Boden angebaut hat, ohne durch den Geist versichert zu sein, ist verloren. Er zer­ bröckelt, wie eine Eisscholle mählich zerbröckelt, und alle Versuche, das Christentum auf dieser Ebene zu erhalten, sind vergeblich. — Das Christentum gründet sich auf die Gestalt Christi als auf ein geschicht­ liches Ereignis. Fußte das Christentum auf einer allgemeinen, von jedermann deduzierbaren zeitlosen Wahrheit, so wäre aus ihm niemals geworden, was aus ihm geworden ist. Erst die Bindung an ein bestimmtes geschichtliches Er­ eignis befähigte das Christentum, Geschichte zu machen. Zeitlose Wahrheiten religiöser Art sind häusig unverbindliche Einfälle; das geschichtliche Faktum dagegen setzt der Willkür der religiösen Subjektivität bestimmte Schranken. Ohne diese Schranken gibt es keine Religion in festem, normativem Sinne, sondern nur ein Nacheinander und Nebeneinander von Meinungen, Erleb­ nissen, Erleuchtungen, das Ganze gleicht dem verwirrenden Stimmen eines Orchesters. Ist die Gestalt Christi — die historische Gestalt — die eigentliche Mitte des Christentums, so liegt in dieser Tatsache zugleich die Schwäche und die Stärke seiner Position. Seine Stärke ist die Tatsächlichkeit dieses Ereignisses, der spezielle geschichtliche Grund, welcher allen seinen Aussagen zugrunde liegt; seine Schwäche, daß dies Ereignis der Historisierung, der ge­ schichtlichen Verhärtung verfallen kann. Es entsteht die Frage, ob so die Geschichte Christi, als die Grundlage des Christentums, nicht doch zu einem unaufhaltsamen Verdorren verurteilt sei. Man kann ja zweifellos von der Morphologie einer geschichtlichen Gestalt sprechen, ihre Nachwirkungen einbegriffen: irgendwann schließt sich der Kreis, auch die größte geschichtliche Erscheinung, mit einem schier göttlichen Nahruhm umgeben, verblaßt. Wie entgeht die Erscheinung Christi diesem Schicksal? Sie entgeht ihm nur, wenn man sie nicht historisch, das ist er­ innerungsmäßig zu begreifen versucht, sondern auf dem llmweg über den Geist, genauer: über den heiligen Geist. Mit diesen Feststellungen haben wir uns den Zugang eröffnet zu einem der großen Probleme, welche das Böhme-

sche Denken bewegen, und zwar zu einem Problem, das sich nur antinomisch ausdrücken läßt: dem Problem von Geist und Geschichte, Überlieferung und

Kommunikation.

000 Was weiß der Laie von den Toten vor tausend Jahren? fragt Böhme einmal, und in dieser Frage ist bereits die ganze Problematik, um die es geht, enthalten. Der Laie, das ist der Unwissende, Ungebildete, weiß von den Toten vor tausend Jahren nichts, erst auf dem Umwege über die Geschichte, über die Wissenschaft weiß man. Bedeutet das nicht im Grunde, daß die Wissen­ schaft der einzig zugängliche Weg .zur Gestalt Christi und zum Christentum ganz allgemein ist? Und ist damit nicht der Unwissende, unwissenschaftliche Mensch vom Christentum, also von der Religion, ausgeschlossen? Darf man den Glauben vom Wissen abhängig machen? Es besteht bei Böhme eine grundsätzliche Abneigung gegen die Geschichte, oder wie er es nennt: gegen die Historie. Das Wort Historie, wo und wie es auch bei Böhme begegnet, hat immer diesen Beigeschmack des Verstaubten, Fühllosen, Rein-Vernünftigen. Diese Abneigung gegen die Geschichte er­ streckt sich nicht etwa auf das politische Bereich, sondern allein auf die Ge­ schichte, soweit sie Mittler religiöser Werte, religiöser Überlieferung ist.

Die Geschichte, das ist zugespitzt die Ansicht Böhmes, tötet die Wahrheit, tötet den Geist. Weil ich etwas historisch wissen kann, ohne innerlich davon ergriffen zu sein, weil ich etwas intellektuell erkennen kann, ohne daß mich diese Erkenntnis verpsiichtet, darum liegt im historischen Nur-Wissen eine außer­ ordentliche Gefahr. Das Wissen läßt das Herz kalt und den Glauben leer. Oder anders: das historische Wissen macht den Menschen nicht besser, es verändert ihn nicht. Das Wissen kann zur intellektuellen Bereicherung bei­ tragen, aber es trifft nicht das Wesen des Menschen und dessen ethische Oualisikation vor Gott. Mit einer außerordentlichen Eindringlichkeit werden hier also Wissenschaft und Person geschieden; Wissenschaft, Historie berühren nie das Zentrum der Person, sondern nur deren Peripherie. In welchem Maße das Wissen für den Glauben unergiebig ist, demonstriert Böhme am Teufel. „Der Teufel weiß auch, daß ein Gott ist: das macht ihn darum nicht zum Engel." Der Teufel weiß schlechterdings alles, ihm sind keine intellek­ tuellen Schranken gesetzt; aber gerade diese, wenn man so sagen darf, in­ tellektuelle Unendlichkeit des Teufels zeigt es, welche Kluft zwischen Wissen und Verändern liegt. Die Abneigung gegen die Historie zeugt die Abneigung gegen die Theologie und umgekehrt; man wird nicht genau angeben können, von wo der Anstoß ausgeht. Kein Zweifel: der Haß Böhmes auf Theologie, Universität,

46 Wissenschaftlichkeit wird teilweise aus Ressentiments, will sagen Spiegel­ gefühlen herrühren; es zeigt sich hier die Animosität des kleinen Mannes, der nichts gelernt hat und es trotzdem zu etwas bringt. Diese Ressentiments interessieren uns hier weiter nicht; wir fragen nach dem tieferen Grunde der Abneigung. Die Theologie ist Wissenschaft, ihr Gegenstand ist der Glaube, ihre Methode, ganz allgemein gesagt, historisch. In der Theologie handelt es sich um ein Wissen von religiösen Phänomenen. Dieses Wissen von Religion und über Religion hat indessen nichts mit Glauben zu tun. Ein Mensch könnte das unbegrenzte religiöse Wissen des Teufels besitzen, und doch ohne die mindeste Beziehung zu Gott sein. Im Gegenteil: mit dem historischen Wissen ist die Meinungsverschiedenheit, die Zersplitterung, der Streit gesetzt. Wenn ich einen religiösen Tatbestand „weiß", so kann ich ihn subjektiv beleuchten und entsprechend subjektiv auslegen. Das heißt, ich bilde mir eine Meinung. Wenn man einige Aussagen sammelt, welche Böhme über den Begriff „Meinung" getan hat, so staunt man über die Hell­ sichtigkeit dieses Mannes, der die Gefahr des Subjektivismus ahnt, Jahr­ hunderte bevor er zur Entartung der gesamten abendländischen Religiosität führt. Versteht man unter Schwärmertum exaltierten Subjektivismus, so ist die Bezeichnung Böhmes als eines Schwärmers alles andere als zutreffend; vielmehr verbirgt sich hinter seinen oft maßlosen Protesten eine echte Sehn­ sucht nach Objektivität, und das Bewußtsein um die Unlösbarkeit von Ob­ jektivität und Wahrheit. „In Meinungen ist eitel Zweifel, obs recht sei oder nicht. Aus Meinungen ist der Antichrist geboren." Die verschiedenen Meinungen atomisieren den Sach­ verhalt, der gegeben ist, denn zu jeder Meinung gehört ein bestimmter Aspekt, und die Zahl der möglichen Aspekte ist unendlich. Ün dem Augenblick, wo man anfängt, sich „Meinungen" zu bilden, ist es um die Objektivität der Erkenntnis geschehen. Darum besteht für Böhme eine gewisse Identität zwischen Meinung und Wahn. Die Übergänge zwischen Meinung und Wahn sind fließend.

Weil die Meinung der sachlichen Kriterien ermangelt, sondern lediglich in der Subjektivität wurzelt und dieser geradezu ausgeliefert ist, besteht eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihr und der Wahrheit. Das Meinen wird zum Wähnen, aus dem Wähnen entsteht der Wahn, für uns der Inbegriff geistiger Willkürlichkeit. Wird die objektive Erkenntnis — die für uns hier zunächst noch eine Fiktion ist! — zugunsten der Meinungen verlassen, so meldet sich mit Notwendigkeit der Zweifel. Der Zweifel wird in dem Augen­ blick geboren, wo man die Meinung, den Wahn zum Erkenntnisprinzip erhebt. Das Nebeneinander der Meinungen und die verschiedene Bewertung der einen christlichen Wahrheit, welcher dadurch Tür und Tor geöffnet ist, läßt die Frage aufkeimen nach der Richtigkeit der eigenen Meinung. Von den

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verschiedenen Interpretationen, welche vorliegen, kann im Grunde nur eine wahr sein, aber welche? Die meinige? Daher auch die zunächst eigenartig anmutende Verbindung von Meinung und Antichrist. Das Ziel Gottes ist immer die Ganzheit, das Absolute, Ob­ jektive; das Prinzip des Teufels ist die Zertrümmerung und Zerbröckelung des Seins. Der Teufel ist wirksam in der zentrifugalen Strebung, sowohl in Menschen wie in Dingen, Kollektiven; der Teufel versucht alles bis zu jener Übersteigerung auf sich selbst zu stellen, welche die Anarchie im Gefolge hat.

Oer Teufel will Anarchie; in der Anarchie ist das Sein derartig zerbrochen, daß alles nur sich selbst will, und die einzigen Existenzweisen Feindschaft, Haß, Isolation sind. An dieser Stelle wird der „Meinung", dieser scheinbar so harmlosen Äußerung, die Maske heruntergerissen; die Meinung, die so­

genannte freie Meinung, muß erkannt werden als ein anarchischer Faktor, berufen, die Einheitlichkeit der geistig-religiösen Welt zu zerstören. Die Meinung ist der Vater des Zweifels. Meinungen bedrohen sich gegen­ seitig, heben sich gegenseitig auf; was soll man glauben? Genau genommen ist es wohl so, daß die Meinung zunächst die Unsicherheit zeugt, und aus der Unsicherheit erwächst der Zweifel. Es tritt der Zustand ein, wie er geradezu klassisch formuliert wird, „da man nur Worte wechselt, und Worte mit Worten erklärt". Die Meinung äußert sich in Worten, welchen jede tiefere Legitimation fehlt. Denn die Meinung siießt aus der „Selbheit", der Egoität, dem Ich; das sich selbst wollende, in sich schwingende Ich ist jedoch der eigent­ liche Feind Gottes. Das Ich kann nicht anders als Meinungen produzieren, welche keine andere Sanktion besitzen, als sie das Ich geben kann, das heißt: überhaupt keine. Das Wort, welches keinerlei Beziehung zum Objektiven mehr hat, verliert den Wahrheitsgehalt, den Wirklichkeitsgehalt; es gibt hinfort nur noch ein Spiel mit Worten, das unverbindlich ist. — Es scheint, als sei hier bei Böhme eine Entwicklung vorausgeahnt, welche bald nach ihm eintrat, um sich nach und nach alles zu unterwerfen und zu einer völligen Inflation des Wortes zu führen. Die Problematik, welche mit dem Dasein von Meinungen gegeben ist, greift auf die Wissenschaft über. Wieder eine außerordentlich aktuelle Frage: wie weit ist Wissenschaft objektiv, das heißt Wahrheit, und wie weit hat sie lediglich die Bedeutung einer Meinung? Böhme sagt: „Das Gericht folgt über die Wissenschaft." Er meint damit nicht die Wissenschaft schlechthin, sondern die Wissenschaft „in Wahn und Meinung". Von dem Wissen, welches sich in dieser Wissenschaft widerspiegelt, kann er vergleichend behaupten, es sei der Strick, in dem man sich selbst fange . . . Wiederum wird man Böhme nicht zu viel implizieren, wenn man sagt, daß hier die Entwicklung vorwegnehmend geahnt ist. Die Objektivität dev

48 Wissenschaft wird in dem Augenblick gefährdet, wo sie sich aus dem Ganzen herauslöst, wo sie also ihre metaphysische Beziehung verliert. Die Wissen­ schaft, auf sich selbst gestellt, wird zur Meinung, und damit zugleich in die zuvor beschriebene Krise der Meinungen, deren deutlichstes Symptom die Herrschaft des Zweifels ist, hineingerissen. Wenn wir heute von einer Krise der Wissenschaft sprechen, so meinen wir damit nicht die Wissenschaft als solche, sondern die Krise der Spezialistentümer. Das Spezialistentum ist der krasseste Exponent dessen geworden, was Böhme die wissenschaftliche Mei­ nung nennt. Daß die Wissenschaft auf dem Weg über das Spezialistentum in eine Sackgasse geraten ist, ist heute ein offenes Geheimnis. Es ertönt der Ruf nach der lebendigen Wissenschaft, das heißt nach einer Wissenschaft, welche wieder Beziehung zur Ganzheit aufweist und sich einordnet in den großen Zusammenhang alles Lebens. Eben dieser Ruf nach der „lebendigen Wissenschaft in der Beschaulichkeit und Empfindlichkeit" findet sich bei Böhme schon dreihundert Jahre zuvor; er versteht darunter eine Wissenschaft, welche nicht in der rein historischen Anschauung der Wahrheit verdorrt, sondern von dieser Wahrheit unmittelbar durchdrungen, getragen wird. Die leidige Verbindung von Wissenschaft und Meinung wird aber erst eigentlich aktuell in der Theologie. Die Theologie als Wissenschaft läuft Gefahr, Gegenstand der Meinungen zu werden. Böhme spricht es immer wieder aus, in welchem Maß ihn der Streit zwischen Theologen und Theo­ logien empört. Gerade auf diesem Gebiet, wo notgedrungen Einheit, Friede, Liebe erwartet werden sollten, begegnet dieselbe Zerrissenheit wie auf völlig profanen Sachgebieten. „Ihr verfolget einander", heißt es, „schmähet und schändet einander, richtet Krieg und Empörung an, verwüstet Land und Leute um der wahren Erkenntnis Gottes und seines Willens, und seid doch so blind an Gott wie ein Stein." Ja, er bezeichnet geradezu als rasend, die Gott zum Zankapfel machen, „der ein Macher, Erhalter und Träger aller Dinge ist, der in allem das Centrum ist". Kann um das gestritten werden, was llrgrund alles Seins, was Licht alles Lichtes ist, oder hebt sich dieser Streit nicht in sich selbst auf? Man könnte allenfalls annehmen, daß dieser Streit auf die Streitenden selbst in dämonischer Weise rückschlägt, äußerlich anschaubar in den geistig-geistlichen Verwüstungen, welche jede Glaubens­ auseinandersetzung anrichtet. „Darum liegets nicht am Disputieren, Hoch­ sliegen, spitzig sein, seinen Bruder dem Teufel geben . . das ist schon recht; wie oft geschah es nicht, daß, wer seinen Gegner dem Teufel gab, sich damit eben selbst dem Teufel übereignete. Die theologische Streitig­ keit ist hintergründiger als jede andere: weil es meist nicht beim Streite bleibt, sondern bis zur Verdammnis, zum Anathema über eine fremde Seele kommt.

Die Theologie, als „Meinung" hineingerissen in den Wirbel der Subjek­ tivität, zeigt eine unheilvolle Spaltung und Zerklüftung. Diese Zerklüftung ist ausreichend, wenn nicht den Theologen an sich selbst, so doch den Außen­ stehenden am Theologen irre werden zu lassen. Die Gründe? Die Gründe aller theologischen Zerspaltenheit und Haarspalterei liegen im Primat der. Vernunft. Mit Hilfe der Vernunft gewinnt man niemals objektive Normen, sondern Vernunft, vernünftiges Denken sind gleichsam die Messer, mit denen die Wirklichkeit in subjektive Aspekte zerschnitten wird. Und auch eine Ge­ gebenheit wie das Evangelium ist in dem Augenblick verloren, wo die Ver­ nunft darüber gerät. Wie verschiedene Scheinwerferbündel einen Gegen­ stand fassen, so faßt die Vernunft mittels verschiedener Belichtungen, Inter­ pretationen, „Meinungen" ihren Gegenstand von allen nur möglichen Seiten, die Differenz dieser Ansichten ist derart, daß es fast den Anschein erweckt, als habe das Objekt gewechselt. Verzweifelt spricht Böhme es aus: „Zu welchem Part soll ich mich doch wenden, wo soll ich doch hingehen, daß ich das rechte Evangelium höre predigen? Wo soll ich Christus finden, fluchen sie doch alle und richten einander, und ich höre doch, daß ein jeder aus der Bibel redet und das seine gründet und lehret den Weg Gottes: was soll ich doch tun?" Aus dieser klagenden Frage oder anfragenden Klage, welche außerordentlich zeitgemäß anmutet, wird deutlich, daß das Vorhandensein von Tatsachen, von einer Offenbarungsurkunde und ähnlichem noch nicht genügt, um vor der religiösen Subjektivität gesichert zu sein. Eine vor­ gegebene Tatsache kann in der Mühle der Ansichten, der subjektiven Inter­ pretation derartig zermahlen werden, daß kein Mensch sie wiedererkennt. Solange die Vernunft aus dem Tatbestand dies oder jenes nach ihrem Be­ lieben herausfchneidet, kommt es nicht zur objektiven Erkenntnis. Hier liegt die Grenze der „vernünftigen" Theologie. Das heißt, konkret gesprochen: die vernünftige Theologie erschafft not­ gedrungen verschiedene Bilder Christi, welche differieren; die natürliche Theologie erschafft verschiedene Ansichten des Evangeliums, welche mit dem besten Willen nicht in Einklang zu bringen sind. Damit wird der internen theologischen Auseinandersetzung Tür und Tor geöffnet. Die theologischen Auseinandersetzungen resultieren nicht aus der Lieblosigkeit, dem Haß, der Streitlust, sondern zunächst aus der Zerrissenheit, welche mit dem Primat der Vernunft gesetzt ist; die mit der Vernunft gesetzte Zerrissenheit ist es dann, welche als Zweites Lieblosigkeit, Haß, Streitlust gebiert. Wo die Vernunft dominiert, wird das Wirklichkeitsfeld zwangsläufig atomisiert in Ansichten, Meinungen, es erfolgt die individuelle Abwertung, Beurtei­ lung, Belichtung der Tatbestände. Wird man diese Vielfalt auf allen Sach­ gebieten in gewissen Grenzen anerkennen, weil sich in ihr die Vielfalt des 4 Baden: Relig. Problem

So Lebens widerspiegelt, so muß sie doch in der Theologie zur totalen Krise dieser Wissenschaft führen. Was eben angedeutet wurde, gilt insbesondere für die protestantische Theologie; für die katholische Theologie nur verhüllt. Die protestantische Theologie, in ihrem Widereinander der Interpretationen und Interpretationsmöglichkeiten, erscheint oft nur als ein Bündel verschiedener Welt­ anschauungen, notdürftig zusammengehalten durch ein und dasselbe Faktum: die Gestalt Christi. Freilich kann auch die Gestalt Christi noch zur Not ge­ strichen werden, in diesem Fall werden allgemeine und unverbindliche An­ schauungen über Gott, die Welt, den Menschen produziert. 3m Raum der protestantischen Theologie, sofern die Vernunft den Primat hat, herrscht ein ununterbrochener Kampf der verschiedenen Interpretationsweisen des Evangeliums. Zur Norm wird erhoben die Verneinung der Norm: nämlich die willkürliche Auslegung des evangelischen Tatbestands. Demgegenüber scheint nun zwar die katholische Position im Vorteil, weil hier offenbar eine Norm vorliegt, unerschüttert durch die Jahrhunderte, und doch ist die Objektivität der katholischen Norm nur eine Schein-Objektivität. Man überwindet die durch die Vernunft inaugurierte Zerrissenheit nicht dadurch, daß man eine „Meinung" herausgreift und sie kanonisiert. Wir beobachten diesen Vorgang auf allen Gebieten des Lebens, wir beobachten ihn auch im Religiösen: um sich vor der zerreibenden Vielfalt der Anschauungsweisen zu retten, einigt man sich auf eine Anschauungsweise und proklamiert ihre Objektivität; alles was dawider ist, wird mit Feuer und Schwert nieder­ gehalten. Man beachte das Rafsinement der Täuschung: die Objektivität siießt in diesem Falle nicht aus dem Sachverhalte, vielmehr wird einem Sachverhalt (aus einer Anzahl möglicher Sachverhalte) das Siegel der Objektivität aufgedrückt, und nun wird mit einem großen Aufwand ver­ sucht, diesen Schein der Objektivität zu wahren. Aber wo liegt die wirk­ liche Objektivität, wo liegt die Wahrheit? Wir grenzen zunächst negativ ab: Vernunft und Wahrheit verhalten sich ausschließend, die Vernunft zer­ bröckelt die Einheit des Wahren zu Vielfalt der Meinungen, Vernunft ist Motor der Subjektivität und zwangsläufiger Gegner des Objektiven. Bezeichnend für alle Vernunftlösungen, Vernunftwahrheiten ist die geistige Unruhe, welche mit ihnen eingeführt wird. Auch diese Feststellung trifft Böhme bereits. Denn da jede Vernunftlösung mit jeder möglichen anderen ausgewechselt werden kann, und da die Vernunft bald diesen, bald jenen Weg beschreitet, weil sie den Weg nicht kennt, so ist die ganze Atmo­ sphäre dieses Denkens die dauernde Unruhe, das Tastende, Schweifende, die Sprunghaftigkeit in Permanenz. 3n der Geladenheit mit Unrast, welche das geistige Leben je und je bezeichnet, verrät sich indirekt die Grenze der

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Vernunft und des vernünftigen Denkens. Denn die Vernunft hängt an der „Selbheit" als an dem Prinzip der Einzelung, der Individuation; sie ist damit zugleich der individuellen Begierde ausgeliefert, welche sie von Objekt zu Objekt reißt, ohne jemals zu verhalten. Selten jedoch erscheint uns Böhme hellsichtiger als dort, wo er auf die Verbindung von Vernunft und Begriff zu sprechen kommt. Es besteht nach Böhme ein dialektischer Gegensatz von Begreiflichkeit und Unbegreiflichkeit: „Denn das ist der Begreiflichkeit Gesetz, daß sie sich nicht in die Unbegreif­ lichkeit erhebe . . ." Das besagt, übertragen: der Begriff ist dem Unbegreif­ lichen, also Gott, inadäquat, alle Bemühungen, mit dem Denken das Gött­ liche zu ermitteln, scheitern. In Gott, so heißt es ausdrücklich, ist kein Be­ griff, „denn wo ein Begriff ist, da ist Anfang und Ende". Das Begreifen, das begriffliche Erfassen eines Dinges kann man daher geradezu als eine tätliche Veranstaltung bezeichnen; etwas, das sich begreifen läßt, hat An­ fang und Ende, ist also endlich und damit — tätlich. Oder, wie es knapp und klar ausgedrückt wird: „in der Begreiflichkeit stehet der Tod". Welche Perspektiven eröffnen sich hier. Das begriffliche Denken verwandelt die Wirklichkeit in ein Totenfeld. Denn wo es auch immer einsetzt, da begrenzt es nach vorn und nach hinten, da zerschneidet es die strömende Gegenwart durch die Daten Geburt und Tod und raubt ihr die innere Unendlichkeit. Das unmittelbar geatmete, unmittelbar gelebte Leben scheint unendlich, aber diese Unendlichkeit ist eine Fiktion, welche der Begriff zerstört, aus der Unwägbarkeit des Augenblickes wird, da man ihn auszuloten sucht, die meß­ bare Zeit. Unter dem Zugriff des Verstandes erkaltet das Leben, es verlier! sein eigentümliches Fluidum und Aroma, da man es begrifflich auszumessen, abzustecken und zu ordnen wünscht; oder, in einem Bilde Böhmes gesagt: die Wirklichkeit, unter dem Primat des Begriffs, erkaltet zum gläsernen Meer ... D

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Was bedeutet das? Bedeutet das völligen Dispens der Vernunft, Beurlaubung jeglichen Denkens? Es ist bedeutsam bei Böhme, daß er sich nicht zu den Tiraden Luthers gegen die „Hure Vernunft" hinreißen läßt, und daß er noch weniger jenem Antagonismus gegen den Geist verfällt, dem die sogenannte Lebensphilosophie des 20. Jahrhunderts verfallen ist. Dm Gegenteil: Böhme gesteht die Bedeutung der Vernunft zu für Er­ fahrung, Forschung, für die „natürlichen Künste"; der Mensch soll sich nicht hinsetzen, die Hände in den Schoß legen, untätig auf Gnadeneingießung und dergleichen warten, sondern er soll innerhalb der natürlichen, irdischen Grenzen so tätig wie nur möglich sein. Die Vernunft ist das gegebene In­ strument zur Meisterung des Lebens, zur Betätigung in der Welt. Aber die 4*

52 Grenze der Vernunft liegt eben dort, wo es um Gotteserkenntnis, um Religion, um Transzendenz im umfassenden Sinne geht. Gott ist das Objekt, an welchem die Vernunft schlechterdings zerbricht. Und ebenso scheitern alle Versuche der Vernunft, sich Gott auf dem Umwege über die Historie zu nähern, das heißt auf dem Umweg über irgendwelche Ereignisse, Daten, in welchen sich Gott sichtbar bezeugt hat. Auch das Vorhandensein von Heilsgeschichte, so wichtig es ist, verhilft der Vernunft noch keineswegs zur Gottesbegegnung. Das vernünftige Denken, welches sich auf den ganzen Umkreis des Hiesigen erstreckt, ist für Böhme siderisches Denken, siderische Erleuchtung. Also eine Erleuchtung, welche ihre Kraft aus dem Gestirn und den Elementen zieht. So spiegelt sich auch im Denken die Abhängigkeit des Menschen von den Elementen und den Mächten des Elementaren wider. Aber dies elementare Denken findet, wie gesagt, seine Grenze an Gott; was muß mit der Vernunft geschehen, damit sie Gott erkennt? Es wird präzise so ausgedrückt: „Gottes Geist muß in der Vernunft sein, will die Vernunft Gott schauen." Das ist eine sehr einprägsame Formel: religiöse Erkenntnis ist nur möglich auf dem Wege über eine transzendente Berührung des Menschengeistes. Erst dann schaut die Vernunft Gott, wenn sie sich Gott zuvor geöffnet hat, wenn sie von seinem Geiste besessen ist. Jeder Akt des menschlichen Geistes auf Gott zu ist sekundär, ibm geht voraus eine Wendung Gottes zum Menschen. Man wird sagen dürfen, daß sich gerade hier das Christliche im Gottes­ begriff sehr kompakt heraushebt: der Mensch überwältigt Gott nicht durch eigene Initiative, er überwältigt ihn nur, wenn er zuvor überwältigt ward. Das heißt, daß im Verhältnis Gottes zum Menschen Gott stets das Subjekt, der Mensch das Objekt ist. Was die Menschen von Gott wissen, so kann es zugespitzt formuliert werden, das wissen sie nicht aus sich, sondern das weiß der Geist Gottes in ihnen. So hat denn alles Wissen über Gott im Grund mediales Gepräge, nicht der Mensch erkennt, sondern Gott erkennt im Menschen. Als Funktion der menschlichen Erkenntnis bleibt nur das Sich-zur-Verfügung-stellen. Diese Feststellungen, welche wir hier an Hand von Böhme treffen, sind von grundsätzlicher Bedeutung für das Verhältnis von Gott und Menfch und darüber hinaus für die Abgrenzung von Gott und Göttern. Die Wirklich­ keit Gottes erschließt sich nur in der Passivität des Menschen, anders gesagt: Gott erkennen heißt begnadet werden. Gott erkennen, nachdem man von Gott erkannt ward: das ist die paulinische Formel, welche auch in unserem Falle den Tatbestand ausdrückt. In dem Augenblick, wo Gott zum Objekt menschlichen Erkennens wird, also zu etwas Gegenüberstehendem, — in dem Augenblick wird seine trän-

szendente Wirklichkeit zur Fiktion. Denn alles, was gegenüber ist, ist damit zum Gegenstand der Vernunft gemacht, es ist begrifflich betastbar, begrifflich umreißbar. Und damit hat es Anfang und Ende, will sagen Endlichkeit, erhalten. Böhme drückt es so aus: „Was hilft dirs, daß du in einem fremden Prinripio reitest über Gott? Wärest du nicht besser in Gott?" Die Sper­ rungen stammen von mir, um zu verdeutlichen; was hier gesagt wird, ist fundamental für die Gotteserkenntnis, für die Theologie schlechthin. Es bleibt die Tragödie der Theologie, daß sie Gott zu ihrem Objekt macht — vielleicht notgedrungen machen muß; damit wird Gott aus einer Wirk­ lichkeit zu einem Begriff, an welchem sich beliebig logische Operationen vollziehen lassen. Wird Gott zum Begriff, so hat er Anfang und Ende, verliert die Ewigkeit; daß im Begriff der Tod stehe, gilt auch vom Gottes­ begriff. Ferner: die Möglichkeit, Begriffe von Gott zu bilden, ist unbe­ grenzt; im Bereich der Vernunft wird also sogleich eine Fülle rivalisierender Gottesbegriffe auftauchen, deren Streit kein Ende hat. Wir kommen hier also auf einem anderen Wege zu der Frage zurück, woher die Zerrissenheit in der Theologie und in Fragen der Religion rühre. Sie rührt daher, daß man Gott objektiviert, und damit eine endliche Größe aus ihm macht, welche in jedem Falle diskutabel ist. Durch Objektivation verhärtet die Wirklichkeit zum Begriff. Wird man von der Wirklichkeit Gottes ergriffen, so ist dieses Ergriffensein nicht diskutier­ bar, sondern allenfalls an Hand der Erfahrungen beschreibbar, etwa im Stile der Konfession. Es läßt sich nicht streiten über das, was überwältigt, in solchen Augenblicken atmet der Mensch die Luft einer höheren Realität, welche ihn umgibt, und in welcher er „darin" ist. In Gott sein, das heißt, hineingenommen sein in die transzendente Wirklichkeit, in ihr leben, pulsieren; eben dies ist das Ziel des Böhmeschen Denkens. Der von der Realität Gottes berührte, von ihr umfangene Mensch, soweit er Gott erkennt, erkennt nun nicht mehr aus einem fremden, durch die Elemente bestimmten Prinzip, sondern er erkennt aus Gott selbst. Den fremden, elementaren, siderischen Prinzipien bei der Erkenntnis Gottes, welche alle im Nenner die Vernunft stehen haben und durch sie zusammengehalten werden, ist das göttliche Erkenntnisprinzip entgegenzusetzen, mit Hilfe dessen Gott sich gleichsam selbst erkennt, auf dem Wege über den gläubigen Menschen. Göttliche Erkenntnis tritt dann ein, wenn der Mensch sich dem Geiste Gottes hinhält und von ihm vollständig in Besitz genommen wird. Der Mensch, als Objekt des Geistes, ermöglicht sachliche Gotteserkenntnis, tatsächliches Hineinleuchten in die Geheimnisse der Welt. In dem Augen­ blick, wo der Mensch sich diesem Geiste ganz und demütig öffnet, ist die Fehlerquelle der Subjektivität ein für allemal ausgeschaltet. Die Frage nach

54 dem objektiven Wissen um Gott und Welt kann nach Böhme nur sinnvoll gestellt werden, wenn sie zu ihrer Voraussetzung die Hingabe hat. Diese Frage, aufgeworfen in der völligen Gehaltenheit der Vernunft, wird die Antwort des Geistes sinden. Der göttliche Lehrer in Passivität ist dann nicht mehr der „selbstgewachsene Lehrer", der die willkürlichen Einfälle seiner Person über Gott mit dem Nimbus objektiver Tatsächlichkeit ver­ kleidet, sondern seine Lehre ist nur das Echo dessen, von dem er zuvor gelehrt wurde. Alle „Kunst" in der Theologie, in der Gotteslehre ist ver­ dächtig, zeigt sich doch gerade in der theologischen Kunst, als da sind Rhetorik, Gelehrsamkeit, Finesse der Auslegung und ähnliches, das Ranken­ werk der Subjektivität, welches den Wahrheitsgehalt mehr verdeckt als enthüllt. So ergibt sich die leidenschaftliche Attacke gegen die Historie, den Buch­ staben. Die Wahrheit ist historisch, dem Buchstaben nach vorhanden, in der Bibel. Die Wahrheit, wie man heute zu sagen pflegt, liegt beschlossen im „Wort". Welche Gefahr! Denn nun kann man sich der Wahrheit historisch bemächtigen, kann sie sich buchstabenmäßig aneignen und sich in der Illusion verlieren, man verfuge in der Tat über die Wahrheit. Was aber so historisch, „buchstäblich" angeeignet wird, ist nicht die Wahrheit, sondern deren Hulse, ist Schale, nicht Kern. „Denn Glauben ist kein historischer Wahn, sondern ein rechtes Leben": das intellektuelle vernünftige Verfugen über die Wahr­ heit bedeutet noch kein Leben mit der Wahrheit und in der Wahrheit. Im Gegenteil: das intellektuelle Verfugen tötet die Wahrheit. Das heißt aber: die Wahrheit wird zum Objekt, und es wäre hier nur wieder hinzuweisen auf das, was zuvor über die Unmöglichkeit, daß die Wahrheit unser Objekt ist, bemerkt wurde. Alles äußere Lehren haftet nicht am Menschen, sagt Böhme ein andermal; ist die Wahrheit nur historisch angeeigneter Wissens­ stoff, so kann sie mit anderem Wissensstoff verquickt oder ausgewechselt werden, alles äußerlich und historisch Kommunizierte ist im Grunde unver­ bindlich. Vielleicht liegt hier das eigentliche Schwergewicht: in der Un­ verbindlichkeit des historischen Wissens. Der Buchstabe berührt noch nicht die Existenz, die Existenz öffnet sich erst dem Geiste. Darum ist alles buch­ stabenmäßige, nur-theologische Wissen für Böhme existentiell völlig neutral. Das bedeutet nicht, daß sich Buchstabe und Geist exklusiv zueinander ver­ halten; es bedeutet vielmehr, daß zwischen Buchstabe und Geist eine not­ wendige Korrespondenz besteht, oder zumindest bestehen sollte. Ohne den Geist bleibt der Buchstabe nur Hülle, Hülse, Tand, Maske,Wahn. Die Lebendigkeit des Buchstabens steht im Geiste. Ein Mensch, der sich etwa aneignet, was der Buchstabe über die Wiedergeburt sagt, ist ein „historischer neuer Mensch", aber kein existentiell neuer Mensch. Wie die Sektoren eines Kreises in dessen

Mitte rückzielen, so zielen die Buchstaben zurück in die göttliche Mitte. „Die

Buchstaben stehen alle in Einer Wurzel, das ist der Geist Gottes." Der Buchstabe ist tot; weil er tot ist, vindiziert er nicht Erkenntnis, son­ dern Lüge. Mag man im Buchstaben noch so sicher sein, diese Sicherheit ist doch weit entfernt vom Verstehen. Wer etwas erforscht, wer etwas tausend­

mal liest, ohne sich innerlich umzuwenden, will sagen ohne sich seinsmäßig berühren zu lassen, versteht vom Gelesenen soviel „als der Esel vom Psalter".

Darum bleiben der Buchstabe an sich, das „Wort an sich" durchaus un­ fruchtbare Größen; ihre Funktion besteht darin, Leiter des Geistes zu sein. Wer sich das Wort Gottes aneignet ohne die Kraft, die geistige Dynamik,

operiert nur mit der Hülse des Wortes, die theologischen Auseinander­

setzungen sind Auseinandersetzungen um eben diese Hülse. Denn in dem Augenblick, wo das Wort Gegenstand der Vernunft wird, wird es auch

Beute der verschiedenen Meinungen und damit Opfer des wissenschaftlichen Gezänks („Zankbuchstabe") ad infinitum ...

Paracelsus fragt einmal: „Wie mag hinter dem Ofen ein guter Cosmographus wachsen oder ein guter Geograph?" Entsprechend würde Böhme

fragen: Wie mag hinter Büchern, über Buchstaben ein guter Theologe

wachsen? Böhmes Kampf gilt dem Buchstaben, dem Buch, der Buchgelehr­

samkeit, sein Kampf gilt jeglicher Literatur, welche immer zweitrangig ist, immer um eine Dimension hinter den eigentlichen Vorgängen zurücksteht. Dazu kommt die Arroganz der Gelehrsamkeit, welche sich nicht überzeugen

lassen will, daß sie Erzeugnisse zweiter Hand durchdenkt, ordnet, beobachtet, sondern die sich unmittelbar an Stelle der mystischen Tatbestände setzt. Frei­ lich bedeutet das nicht, daß Böhme den Buchstaben, die Schrift als solche aufheben will, so scharf seine Polemik gegen den Buchstaben ist, er hat der­

gleichen nie gewollt. Er hat nicht für den schlechthinnigen Kampf gegen

den Buchstaben plädiert, sondern die Reduktion des Buchstabens auf den Geist verlangt, die Füllung des Buchstabens mit Geist, denn der Geist ist es, welcher den Buchstaben legitimiert und ihn der Sphäre des zufälligen Mei­

nens und Wägens entreißt. „Das aufgeschriebene Wort ist nur ein Werk­ zeug, damit der Geist leitet. Das Wort, das da lehren will, muß in dem buchstabischen Worte lebendig sein. Der Geist Gottes muß in dem Buch­

stabischen Halle sein, sonst ist keiner ein Lehrer Gottes, sondern nur ein Lehrer

der Buchstaben, ein Wisser der Historien, und nicht des Geistes Gottes in Christo." Das Christentum, als Offenbarungsreligion, gründet sich auf die Urkunde

von der Offenbarung, wie sie in der Bibel vorliegt, — gründet sich also auf Buchstabe^ Wort, Historie. Die reine Negation des Wortes, der Historie

würde das Christentum aufheben. Böhme hat die Gefahr gesehen, die von

56 beiden Extremen her droht: Historisierung, das heißt völlige Erstarrung des Glaubens auf der einen Seite, auf der anderen Seite die Lösung des Glau­ bens von seiner geschichtlichen Grundlage und seine Überführung in Schwär­ merei. So radikal Böhme gegen die Buchstabengläubigkeit opponiert, weil sie keine Gläubigkeit im ursprünglichen Sinne mehr ist, sondern deren Karikatur, so scharf wendet er sich anderseits gegen die Versuche, das Christentum schwärmerisch aufzulösen und Wahrheiten zu proklamieren, welche mit der biblischen Wahrheit nicht zu Deckung gebracht werden können (so etwa die Lehren Stiefels und Meths von der Göttlichkeit des Menschen). Wird der Glaube zum Objekt der Vernunft, so wird er in alle Irrtümer der Vernunft eingeführt; wird er zum Objekt der Schwärmerei, so verliert er ebenfalls jede Normativität und wird zum Opfer der llnverbindlichkeit und des religiösen Einfalls. Böhme lehnt also nicht das Bibelwort als Autorität schlechtweg ab, er lehnt es nur als Autorität ab, soweit es nicht Geistträger, das heißt lebendig ist. Die Autoritätenabwehr Böhmes darf nicht rein negativ miß­ verstanden werden; er wendet sich nur gegen das Mißverständnis der Schrift­ autorität, um den Weg zum echten, dynamischen und wirkenden Wort frei­ zubekommen. Es ist kein Kampf, der auf den letztlichen Sturz der Autorität abzielt, um auf den Trümmern der autoritären Festung die Flagge der re­ ligiösen Meinungsfreiheit, der schöpferischen religiösen Phantasie zu hissen, es ist ein Kampf, der vielmehr auf die Wiedererweckung der Autorität ab­ zielt. Die „buchstäbliche" Autorität führt letztlich zur Vergewaltigung des Herzens; die lebendige, die geistgefüllte Autorität legitimiert sich selbst. Böhme unterscheidet sich also durchaus von denen, welche mit ihrer Opposition gegen den Buchstaben die geschichtliche Grundlage des Christen­ tums im Auge haben. Er opponiert nicht gegen die Historie, sondern gegen das Zerrbild der Historie, welches immer wieder zur Versuchung des christ­ lichen Glaubens wird. Böhme wußte, daß dort, wo man den Primat der Schwärmerei und der Phantasie in religiösen Dingen verkündet, die gleiche Zerspaltenheit Platz greift wie unter dem Primat der Vernunft. Denn in der Schwärmerei ist nicht die Objektivität des Geistes Gottes am Werk, sondern als Schwärmerei bezeichnen wir das Feuerwerk subjektiver und rein immanenter Geistigkeit, welches ohne Nachhall wieder versprüht. Das reli­ giöse Leben an diese Geistigkeit binden, heißt die Hoffnung auf sachliche Normen im Religiösen endgültig begraben. Die Schwärmerei kursiert heute unter dem Stichwort der religiösen Frei­

heit. Religiöse Freiheit, das bedeutet Preisgabe jeglicher Autorität, bedeutet Verlagerung des gesamten religiösen Erkennens, Fühlens, Wollens ins Subjektive. Böhme hat dergleichen niemals im Sinne gehabt, und infolge

dessen kann er dieser religiösen Freizügigkeit des 20. Jahrhunderts auch keinerlei Vorspanndienste leisten. Wo er von ihr in Anspruch genommen wird, als der Vorkämpfer wider Buch und Buchstabe, handelt es sich um eine der üblichen Fehlinterpretationen. Aus der Autoritätenabwehr im Religiösen ist heute etwas grundsätzlich anderes geworden, als Böhme es je beabsichtigt hat. Die Autoritätenabwehr heute ist überwiegend — ich sage: überwiegend — ebensosehr Buchstabe wie das, was sie bekämpft, Buchstabe sein mag. Fast alle widerautoritären Proteste lehnen sich an vergangene Vorbilder an — Böhme, Luther, Eckhart —, und sind darum mangels Ursprünglichkeit ohne Rang. Die Argumente werden ebenso entliehen wie das Pathos. 0

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Die Lebensferne der Predigt, die oft geradezu rührende Abstraktheit der Theologie und die Isolierung der Kirche inmitten der Wirklichkeit unseres Lebens sind Symptome dafür, daß das Christentum wieder und wieder der Versuchung zu erliegen droht, ein Opfer des Buchstabens zu werden. Allein unter dem Primat des Geistes ist der Glaube lebensmächtig, andern­ falls wird er zu einer Haltung, welche sich in sich selbst verkapselt, sich der Wirklichkeit nach Kräften enthält und jede Veränderung des öffentlichen Lebens mit großväterischer Mißbilligung quittiert. Die Verkapselung und buchstäbliche Verhärtung des Glaubens droht besonders in Zeitläuften, welche die religiöse Freiheit proklamieren. So war es bei Luther, der in Kontroverse mit dem Schwärmertum Thomas Münzers in die Buchstaben­ gläubigkeit zurückzufallen drohte, so ist es, um gleich zur unmittelbar aktuellen Parallele überzugehen, heute, wo die religiöse Freiheit aller Schattierungen rückwirkend einen wahren Buchstabenkult unter den Theologen begünstigt hat. Im religiösen Chaos ist der letzte Anhaltepunkt: das Wort. Oder richtiger: der Buchstabe. Die Tatsache, daß etwas in der Schrift so und so steht, wird zum Trost der „angefochtenen Seelen"; die Schrift ist die absolut zuverlässige Karte, an Hand deren man sich in der religiös zerklüfteten Land­ schaft unserer Tage zurechtsindet. Das heißt aber: nicht das geisterfüllte, das dynamische Wort wird zur Norm, sondern der Buchstabe an sich, wie er, jedermann zugänglich, auf dem Papier steht. Damit wandelt sich das „Wort" zu einer Art Sakrament im katholischen Sinne, es wirkt ex opere operato, durch den bloßen Vollzug. Hat man den Buchstaben, so ist man sicher, die Geistesmächtigkeit des Buchstabens bleibt eine durchaus posteriore Frage. Es besteht nun kein Zweifel, daß mit dem „Haben" des Buchstaben noch nicht der mindeste Halt gegeben ist; wie ungeheuer simpel wäre sonst die religiöse Krise unserer Zeit zu lösen. Das Wort der Bibel bedarf vielmehr erst der Erhellung durch den Geist, ohne

58 diese Erhellung bleibt es ein Wort unter vielen, weder unwichtiger noch markanter als diese. Man muß mit dem Gedanken, daß der Weg zur wahren Kirche in der „Heiinkehr zum Wort" gegeben sei, außerordentlich vorsichtig sein. Man sieht heute die wesentliche Tat der Reformation darin, daß sie uns das „Wort" wieder erschlossen habe, daß sie die Kirche allein auf das Prinzip des Wortes gegründet habe, — eine Anschauung der Reformation, welche nicht ohne Vorbehalt aufzunehmen ist. Schon Böhme hat diese Vorbehalte gegenüber der Reformation gemacht, er sah als erster die Gefahr, welche vom Wort her drohte. Daher seine gelegentlichen kritischen Anmerkungen zur Reformation. In der naheliegenden und selbstsicheren Freude über den Besitz des Wortes überschlägt man den Glauben, vergißt man, daß das Wort der lebendigen Aneignung bedarf, und daß es den Menschen durch­ dringen, existentiell anrühren muß. Daher die Feststellung, der rechte Glaube sei „seit Christi Zeiten niemals kränker und schwächer gewesen als eben jetzund, da die Welt doch laut schreiet: wir haben den rechten Glauben gefunden!" Was ist der Grund? „Lieben Brüder, man rühmt sich anjetzo des Glaubens: wo aber ist der Glaube? Eine Historia ist der jetzige Glaube." Oder in einem Bilde gesagt: die Reformation hat nicht das Kind gefunden, sondern nur die Wiege des Kindes: eben die Historie. Soweit Böhme. Ist nicht etwas Wahres daran? Das Wort ist starr, ist kraftlos, wenn es nicht in Tat, in Sein umgeschmolzen wird; das Wort als solches besagt noch nichts, erst da es sich in der menschlichen Existenz inkarniert, da es Fleisch wird, indem es kraft seiner Dynamik den Menschen wiedergebiert, — erst da erweist es seine wesenhafte Bedeutung. Es liegt eine unheimliche Kluft zwischen dem Buchstaben, dem nur-gewußten Wort, und dem lebenschaffen­ den, lebenzeugenden Wort auf der anderen Seite. Das Wort, welches Leben schafft, ist heilsmächtiges Wort. Dieses Wort unterscheidet sich prinzipiell von den Worten unseres Alltags; die Inflation des Wortes, in welcher wir leben, hat das Wort entleert und rationalisiert, hat es der eigentlichen Gestaltungskräfte beraubt. Wir wissen nicht mehr um das wesenhafte Wort, wir kennen das Wort nur als Chiffre, als Etikett im Sinne des Nominalismus. Das Wort der Bibel, welches in seinen Tiefen Leben und Tod birgt, darf nicht im nominalistischen Sinne miß­ verstanden werden. Daß es mißverstanden wird, auch und gerade von den Theologen mißverstanden wird, bleibt sein währendes Verhängnis. Das Wort der Bibel ist nicht nur Etikett für irgendwelche Heilsvorgänge, um die man auf Grund dieses Etiketts weiß; sondern dort, wo das Wort die geöffnete — wohl gemerkt: die geöffnete — Existenz trifft, bewirkt es un­ mittelbar die Wandlung.

Der Vorwurf Böhmes gegenüber der Reformation läßt sich dahin zufammenfaffen: sie habe die Frömmigkeit auf das Wort reduziert im Sinne eines Nur-Wifsens, einer historischen Orientierung; sie habe darüber ver­ gessen, daß es um einen Umbruch des Seins im Glauben gehe, um Ver­ wandlung, um Transfiguration, will sagen Verklärung des Fleisches. Mit dem „Wort" wurden die Mißverständnisse des Wortes impliziert, und nun war der Glaube kein seinshaftes Ereignis mehr, sondern eine Angelegenheit der Vernunft und des Denkens. Weil das Wort heute etwas rein Ratio­ nales geworden ist, ohne jede tiefere Seinsmächtigkeit, darum läuft eine Wortfrömmigkeit Gefahr zu verhirnlichen und die Wurzeln des Seins nicht mehr zu treffen. Außerdem: Gott spricht nicht nur durch das Wort; er spricht ebenso durch das Sakrament, und das heißt: durch ein Sein. Er spricht ferner, verhüllt und doch unüberhörbar, in der Transparenz seiner Schöpfung, in Blüte, Pflanze, Stern und Kristall, er spricht, verhüllt und doch mahnend, im Geschehen der Zeit, er ist die verborgene Triebkraft der Geschichte und der geschichtlichen Entwicklung. Insofern man sich zur Er­ haltung der Welt durch Gott bekennt, bekennt man sich zu seiner Gegenwart in und hinter den Erscheinungen, so daß ihn die Erscheinungen als eine Art Bildergewand zugleich verdecken und heimlich meinen. Das heißt aber: Gott ist nicht allein im Wort präsent, sondern auch auf mancherlei andere Weise, die ganze Natur ist eine göttliche Chiffreschrift; darum bedeutet die Reduktion des Glaubens allein auf das Wort eine willkürliche Einengung der göttlichen Offenbarungsmöglichkeiten. Freilich lebt die Kirche entschei­ dend aus dem „Wort", aber nicht aus dem Wort als einer Mitteilungsform über Gott, sondern aus dem Wort, welches gefüllt, welches unmittelbar Träger göttlichen Seins ist. 3m lebendigen Wort kommuniziert man an Gott. — Die Erkenntnis, daß das Wissen allein nicht genüge, sondern daß es in Sein überführt werden müsse in einer gleichsam existentiellen Erhärtung, diese Erkenntnis gewinnt für Böhme an einem Punkte besondere Bedeutung. Es handelt sich um den stellvertretenden Tod Christi. Christus ist für uns Menschen gestorben: das Wissen, die bloße Rückerinnerung an dies Faktum läßt uns angeblich selig sein. Die Lehre von der sogenannten Imputation, der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, drückt diesen Sachverhalt besonders zugespitzt aus, in ausgesprochen juristischen Kategorien. Kein Zweifel, daß die Kompliziertheit dieser Imputation den Glauben kaum befriedigt, sondern als eine wesentlich rechnerische, logische Angelegenheit begriffen werden muß. Die verstandesmäßige Erwägung, daß die Gerechtigkeit Christi auch mir gilt, daß also gleichsam bei Gott eine Verrechnung vorgenommen wird, macht mich zum „neuen" Menschen. Das ganze religiöse Gefühl

6o Böhmes bäumt sich gegen ein derartiges Verständnis der Heilstat Christi auf, wie es vor allem von Melanchthon in völliger Rationalisierung vor­ getragen wird. Hier genügt ein rein historisches Wissen zur Wiedergeburt, die Versöhnung vollzieht sich als eine Art kosmische Umbuchung der Schul­ den. Sieht man das Verhältnis Christi zum Gläubigen wesentlich in einer derartigen Schuldverschreibung, richtiger Schuldumschreibung, begründet, dann feiert in der Tat die „Historie" Triumphe, die Historie, welche der Intellekt begreift, welche aber die Seele kalt und die Wurzeln der Existenz unberührt läßt. Von einer derartigen Verrechnungslehre wird der Mensch nicht seinsmäßig, sondern nur intellektuell erfaßt, das heißt, er bleibt der alte. Und die Konstruktion einer derartigen Lehre ruft den Verdacht hervor, als wolle der Mensch der realen Nachfolge Christi ausweichen: als wolle er die Wehen der Wiedergeburt meiden. In seiner pointierten Art druckt unser Autor das so aus: „der leckerhafte Weg, den man itzt geht, da man den alten bösen Schalk, Mörder und hof­ färtigen, geizigen und babylonischen Antichrist mit Christi Leiden und Tod nur kitzelt und tröstet, er soll nur beharren und sich wohl mästen, Christus habe bezahlt: sei er unter Christi Blutfahne gezeichnet und auserwählt, so könne er nicht verdammt werden: ist ganz falsch, mörderisch und ungerecht". Es gilt nicht, wie nachdrücklich betont wird, „eine von außen zugerechnete Barmherzigkeit, daß wir nur glauben, es fei geschehen", sondern die Ver­ bindung mit Christus muß ungleich realer, ungleich wirkkräftiger sein, — es genügt nicht die rein historische Verknüpfung, auf Grund deren man von Kreuz, Stellvertretung, Imputation „weiß". Gerade die Wendung, daß man sich mit Christi Leiden und Tod „kitzelt", kehrt bei Böhme häufiger wieder; sie bezeichnet die Versuchung, welche darin liegt, daß man sich bei der historischen Genugtuung Christi beruhigt, und daß eben damit die Existenz den schmerzhaften Wandlungen des Geistes entzogen wird. Historisches Wissen um die Stellvertretung, die Genugtuung Christi: das bedeutet Flucht vor der Wandlung. Das Sein entzieht sich so faktisch der Wiedergeburt, die Existenz wird nicht verklärt und erhellt auf Grund eines Wissens, sondern auf Grund einer Metamorphose, welche sie total erfaßt. Damit nähern wir uns wieder, von einer andern Seite, der ursprünglichen Fragestellung nach dem Wesen der Heilsgeschichte. Die Heilsgeschichte, oder richtiger, Christus, der den Gegenstand der Heilsgeschichte bildet, muß gleichzeitig werden, muß dem Raum der toten Historie entwachsen und gött­ liche Gegenwärtigkeit gewinnen. Man muß nicht um Christus wissen, man muß ihn erleben, muß sich von ihm in die Wandlung ziehen lassen, „keine Wissenheit macht euch selig, sondern daß ihr in das Wissen eingeht und der Wissenschaft Täter seid und werdet". Es besteht demnach eine Spannung

6i zwischen der Anschauung von einer zugerechneten Barmherzigkeit Christi und der Nachfolge Christi. Die Nachfolge ist mehr als ein Wissen, in der Nachfolge verdichtet sich das Wissen zum Handeln: der Mensch läßt sich hineinziehen in das Leiden, Sterben, Leben Christi, er wird, wie der Apostel es ausdrückt, Christus ähnlich. Nicht durch Wissen erfolgt die „Symmorphose", die Angleichung an die Gestalt Christi, sondern durch das Opfer, also durch einen Akt, welcher die Existenz als ganze betrifft. So erfolgt bei Böhme der Übergang von der Logistik der Imputation zum Realismus der

Wandlung. Weil der Mensch nur durch das Opfer seiner selbst zum Leben kommt, das heißt durch die Preisgabe seiner „Selbheit", seiner Egoität, in welcher die Sünde wurzelt, und weil der Mensch zu diesem Opfer allein fähig ist auf dem Wege der Christusnachfolge: darum entsteigt Christus wieder und wieder den toten Räumen der Geschichte und wird gegenwärtig, wird Wand­ lungsmacht, Leben und Seligkeit.

V. Gott Was ist Gott? „So man aber will von Gott reden, was Gott sei: so muß man fleißig erwägen die Kräfte in der Natur, dazu die ganze Schöpfung, Himmel und Erde, sowohl Sterne und Elemente und die Kreaturen, so aus denselben sind hergekommen, sowohl auch die heiligen Engel, Teufel und Menschen, auch Himmel und Hölle." An dieser Stelle erinnere ich an die „Aufzeich­ nungen des Malte Laurids Brigge" von Rilke, und zwar an eine Aus­ führung, wo er von den Prämissen des guten Gedichtes spricht. Ein gutes Gedicht, ein guter Vers entstehen nur auf Grund von Erfahrungen, die der Mensch macht; eine Vielzahl von Erfahrungen der Leidenschaft, des Schmer­ zes, der Trauer und Wollust schießen in einem Verse zusammen. Verse sind also der Niederschlag einer außerordentlichen Reichweite des Erlebens, des äußeren sowohl wie des inneren; Dichtung ist Ver-dichtung einer weit über dem Durchschnitt liegenden Intensität der Erfahrung. Die Legitimation eines Verses ergibt sich so aus der Leidenschaft des gelebten Lebens, welchem er entwächst, wobei ein bestimmtes Maß an Formkraft vorausgesetzt wird. Die Mangelhaftigkeit vieler Dichtungen rührt daher, daß die entsprechende Erfahrungsgrundlage, im Geistigen sowohl wie im Sinnlichen, fehlt. Diese Reminiszenz an Rilke ist mehr als zufällig; denn, so fragen wir uns: hängt nicht auch die Wirklichkeit Gottes, oder anders: die Aktualität Gottes mit der Erfahrungsbreite des menschlichen Daseins zusammen? Je inten­ siver ein Mensch erfährt, je stärker er lebt, je voraussetzungsloser er fragt, desto eher stößt er an jene Grenze, hinter welcher Gott auf ihn wartet. Nicht im gesicherten, umhegten Dasein wird die Gottesfrage akut, nicht — um es in der Sprache des Philosophen zu sagen — in der in sich geschlossenen Endlichkeit; sondern dort, wo der Mensch an die Grenze seiner selbst gerät, wo die Fülle des Erfahrenen ihn zu sprengen droht, wo die zweite, die dä­ monische Seite der Wirklichkeit in Erscheinung tritt, — dort, eben dort erhebt sich die zwingende Frage nach dem letzten tragenden Sinn des Ge­ schehens. Was anders meint Böhme denn als dies! Wer je über die Kräfte und Mächte der Natur nachdachte, wer die Elemente mit ihren Geheim­ nissen kennt, wer in den Nachthimmel schaute mit seinen Myriaden Stern­ nebeln: er muß am Ende dieser Erfahrungen notgedrungen auf Gott stoßen. Die Versenkung in das Lebensgeheimnis, das Mysterium des eigenen sowie des kosmischen Lebens, führt zwangsläusig bis zu dem Punkt, wo man zwar Gott nicht direkt sindet, wo sich jedoch die Frage nach Gott nicht mehr

umgehen läßt. So besteht also doch eine gewisse Korrespondenz zwischen dem gelebten Leben und Gott; wir scheuen uns nicht, es zu sagen, obwohl es mißverständlich klingt. In den Erschütterungen des Daseins wird Schleier um Schleier zerrissen, der Mensch entwächst der bergenden Mutterhülle der Jrdischkeit, die ihn doch nicht mehr bergen kann, sein Leben ist jetzt mehr als bloßes Vorhandensein, als nackte Vegetation; so reift er der zweiten Wirklichkeit entgegen, der göttlich-dämonischen, und es ist nur die Frage, ob er sein Leben im Dienste Gottes heiligen oder in Hörigkeit der Dämonen

verbrennen will. Diese Erwägungen, so scheint uns, sind von grundsätzlicher Bedeutung für den Gottesgedanken. Der Gottesgedanke Böhmes ist keine Abstraktion, kein Ergebnis von Wissenschaft und Bildung; in der lebendigen Konfron­ tation mit der Existenz und ihren Hintergründen ersteht die Ahnung Gottes, die Ahnung einer göttlichen Welt. Der Ausgangspunkt der Gesinnung über Gott ist so ein anderer als etwa bei der Scholastik, er ist lebensmäßig, nicht intellektuell bestimmt, was ihm seine Bedeutung bis heute gesichert hat. Noch einmal: Was ist Gott? Die erste Bestimmung ist die Negation. Gott ist das „ewig Nichts". Bedeutet das die Auflösung, die Versiüchtigung der göttlichen Wirklichkeit? Keinesfalls; als die realste Aussage über Gott erscheint uns eben dies, daß er nichts sei. Im Lichte Gottes, wie es ein andermal heißt, wird keine Natur mehr empfunden, die Natur zerschmilzt gleichsam im Brande der Transzendenz. Das Sein Gottes wird als so völlig unqualisizierbar erkannt, so daß es sich im Gegensatz zum irdischen Etwas nur als das Nichts beschreiben läßt. Alle unsere Erkenntniskategorien, all unsere Vorstellungen von Form, Farbe, Geruch, Quantität sind auf Gott schlechterdings unanwendbar. Das Verhältnis von Gott und Welt läßt sich nur dialektisch festlegen, im Lichte Gottes wird die Welt zu Nichts, im Lichte der Welt wird Gott zu Nichts. Der Abstand von göttlicher und irdischer Wirklichkeit kann kaum eindrück­ licher bezeichnet werden als durch die Alternative von Nichts und Etwas. Böhme nennt Gott das „Ende der Natur". Hier ist also noch nicht in dem Sinne, wie das früher erörtert wurde, Gott zur Göttlichkeit degradiert und von der Welt verdaut worden, sondern es besteht das Bewußtsein eines dimensionalen Unterschieds. Gott beginnt, wo die Natur aufhört, die Natur beginnt, wo Gott aufhört. Alle Versuche, Böhme in das Jmmanenzdenken zu rangieren, also für eine Frömmigkeit in Anspruch zu nehmen, welche von trüben und verschwommenen Gott-Welt-Gleichungen zehrt, scheitern an diesen und ähnlichen Ausführungen, über deren Eindeutigkeit kein Zweifel bestehen kann. Der dimensionale Unterschied greift über auf die geistige Wirklichkeit: auf die Sphäre des Erkennens. „So wenig ein Werk kann

64 seinen Meister ergreifen, so wenig kann auch ein Mensch Gott seinen Schöpfer ergreifen und erkennen, es sei denn, daß ihn der heilige Geist erleuchte . . ." Will man Gott fassen, so verbirgt er sich unter der Tarnkappe der Transzen­ denz, und der Erkennende fällt ins Leere. Oft meint man, man hat ihn er­ griffen, sagt Böhme, und in dem Augenblick entzieht er sich; die Gottes­ erkenntnis wird zur Selbstquälerei, weil sie nur in leeren Raum vorstößt und dem Menschen so erst eigentlich das Gefühl seiner kreatürlichen Un­ wissenheit vermittelt. Eine revolutionäre Beochachtung: das Streben nach göttlicher Erkenntnis, soweit es aus nur natürlichen Quellen gespeist wird, wandelt sich in Qual. Eine der markantesten Bezeichnungen Gottes bei Böhme ist der Begriff des Ungrundes. Die irdische Wirklichkeit hat Grund und tritt uns auch wiederholt im Bilde des Grundes entgegen, sofern sie Gestalt, Kontur, Substanz besitzt; Gott dagegen bleibt das schlechterdings Gestalt-, Konturund Substanzlose, er ist unergründlich und damit grundlos, das Nichts, dessen Definition in der Desinitionslosigkeit abbricht. „Man kann nicht von Gott sagen, daß er dies oder das sei, bös oder gut, daß er in sich selber Unterschiede habe: denn er ist in sich selber Naturlos, sowohl Affekt- und Kreatur-los. Er hat keine Neiglichkeit zu etwas, denn es ist nichts vor ihm, dazu er sich könnte neigen, weder Böses noch Gutes. Er ist in sich selber der Ungrund, ohne einigen Willen ... als ein ewig Nichts; es ist keine Qual in ihm." Da Gott keine Eigenschaften besitzt, welche eine Beschreibung von ihm zulassen, so wäre die einzig mögliche Haltung ihm gegenüber: das Schweigen. Im Schweigen gewinnt die Realität Gottes Raum, unter dem harten Zugriff der Desinition, Aussage, Begrifflichkeit zerspringt sie wie Glas. Jedoch ist das Schweigen praktisch undurchführbar, wir müssen not­ gedrungen von Gott reden; aber diese Rede ist fragmentarisch und bleibt fragmentarisch, was nicht verwundern darf, ist doch auch unsere Existenz fragmentarisch, „denn wir leben in dieser Welt in Stückwerk und sind aus Stückwerk gemacht worden". So bleibt nach Böhme als einzige Anschau­ ungsform Gottes die bildliche. Was der analytischen Beschreibung und dem Begriffe nicht gelingt, das gelingt der Schau. (Freilich darf diese Art, Gott zu schauen, nicht verwechselt werden mit jener anderen Art der Gottschau, welche der Kritiker mit Recht in „Gottschaum" ummünzt.) Zwei Bilder sind es wesentlich, alte mystische Ideogramme, welche bei Böhme immer wieder für Gott auftauchen: Kugel und Rad. Wie die Kugel in sich erfüllt ist, so ist Gott in sich erfüllt, die Kugel schwingt in sich selbst, sie scheint ursprunglos. Die Kugel hat kein Oben und Unten, kein Vorn und Hinten, man kann auf ihr und in ihr nicht besondere Orte bezeichnen; der Charakter der Kugel ist das Überall und Nirgend. Die Kugel hat wiederum ihr kon-

kretes Anschauungsbild in der Himmelskugel, wiederholt wird von Böhme darauf hingewiesen; die Grenzen der Himmelskugel sind siktiv, sie setzen nirgends Halt entgegen und öffnen sich faktisch ins Grenzenlose. Das aber ist es, was die Anschauung Gottes im Bilde der Kugel so geglückt erscheinen läßt: die Erfülltheit, das selige Jch-sich-selbst-schwingen, Bestimmungs­ losigkeit, Fiktion jeder Grenze. Die Kugel war von jeher Bild der Voll­ endung, weil sie nach keiner Seite unfertig ist, — ihr fehlen die Seiten, weil sie keinerlei Entwicklungsmöglichkeiten mehr hat, — sie ist Negation jeder Entwicklung und Summe aller nur möglichen Entwicklungen. Beim Rade liegt der Akzent auf einer anderen Eigentümlichkeit: das Rad, das sich ewig um sich selbst dreht und in sich selbst dreht, kennt kein Zeitmaß. Weil beim Rade Anfang und Ende in eins liegen und sich nie entwirren lassen, darum bedeutet das Rad Fülle der Zeit, oder wenn man so will, Aufhebung der Zeit. Fülle und Aufhebung sind in gewissem Sinne identisch, wie ja stets eine geheime Identität zwischen den Gliedern der Paradoxie besteht. Ursprunglosigkeit, Unmeßbarkeit hat der Ungrund mit dem Rade gemeinsam. Endlich steht beim Rade, stärker noch als bei der Kugel, das Problem des Zentrums im Mittelpunkt. Das Rad hat zum Zentrum die Nabe, das Rad lebt aus der Drehung der Nabe; was wieder entsprechendes Gleichnis dafür ist, daß Gott nur aus sich selbst lebt, aus seiner eigenen Mitte und aus keinem anderen Prinzip ableitbar ist. Darin urständet die Unveränderlich­ keit Gottes, er ist „von Ewigkeit zu Ewigkeit also unveränderlich, er hat sich in seinem Wesen noch nie verändert, wird sich auch in alle Ewigkeit nicht verändern". Zur Unveränderlichkeit tritt die Einfachheit. Was „Grund aller Wesen" ist, selbst dagegen ungegründet, nicht deduzierbar, nicht bestimmbar, ewig sich selbst begnügend und erfüllend, das ist schlechthin einfach: die Einfach­ heit des Ewigen. Vielleicht kann man diese Simplizität in allem, was Gott und Gottes ist, wiedersinden; auch bedeutet sie keinen Mangel, wie man an­ nehmen könnte, sondern im Einfachen liegt die Fülle unentfaltet darin. Von hier aus ergibt sich eine neue, zunächst eigentümlich berührende Definition Gottes. Hieß es zunächst, der Ungrund sei definitionslos, so werden jetzt, dem zum Trotz, die Bestimmungen Gottes geradezu gehäuft. Gott ist alle Kraft und aller Kräfte „Quellbrunn", in ihm ist Licht und Finsternis, Luft und Wasser, Hitze und Kälte, hart und weich, dick und dünn, Schall und Ton, süß und sauer, bitter und herbe, und so fort. Was es nur immer an Bestimmungen im Irdischen gibt, wird auf Gott ange­ wandt: er ist die Summe aller Bestimmungen, die ganze komplexe Mannig­ faltigkeit des Lebens faßt sich in ihm zusammen. Was in der Welt an Seiendem, an Differenzen, Schattierungen, Farben, Körpern, Qualitäten 5 Baden: Nelig. Problem

66 vorhanden ist, ist ja aus der Einheit der Ewigkeit ausgeströmt; darum er­ scheint die Einheit als Ursprungsort der Mannigfaltigkeit, in der Einheit liegt die ganze bunte Welt keimhaft beschlossen. Aus dem allen wird deutlich, was Böhme die Größe Gottes nennt. Gottes Größe bedeutet die Negation aller hiesigen Größenverhältnisse; sie bedeutet zugleich — wir beginnen jetzt, die Dialektik dieses Gottes­ begriffs zu verstehen — deren Erfüllung und Vollendung. Größe und Kraft Gottes transzendieren jedes menschliche Begreifen: „Also viel Sterne unter dem Himmel stehen, die doch unzählig und der Vernunft unbegreiflich, auch ein Teil unsichtlich sind: also viel und mancherlei ist Gottes des Vaters Kraft und Weisheit." Oder es wird ein Wort des Propheten Jesajas heran­ gezogen, die Größe Gottes zu verdeutlichen: „Was wollt ihr mir für ein Haus bauen? Ich umfasse den Himmel mit einer Spanne und den Erdboden mit einem Dreiling". Diese vollkommene Jenseitigkeit Gottes, welche dadurch, daß er die un­ entfaltete Einheit aller irdischen Bestimmungen und Erscheinungen ist, noch unterstrichen wird, — diese Jenseitigkeit, sage ich, schließt jeden Versuch aus, Gott mit irgendwelchen Entwicklungsprozessen zu belasten. Hier liegt die letzte und entscheidende Abgrenzung gegen jedwede Gott-Welt-Jdentität. Läßt man Gott eingehen in die Tiefen des Blutes, das Geschlecht mit Ge­ schlecht verknüpft, läßt man ihn eingehen in die Evolution des Weltganzen, oder wie nun auch diese zahllosen, mehr oder minder sublimen Monismen aussehen mögen: so nimmt man ihm seine Gottheit, raubt ihm seine Tran­ szendenz, wodurch alles, was wir von Gott wissen, aussagen, glauben, sich grundlegend ändert. Es bedeutet die Einebnung des Ewigen ins Zeitliche, Gott wird zu einer Partikel im Zuge der Evolution, welche niemals ab­ reißt. Wird Gott von der Welt also verschlungen, so liegt sein Glanz noch eine Weile als phosphoreszierender Schimmer über den Dingen, um dann schnell und unaufhaltsam zu verblassen; zurückbleibt die leere Diesseitigkeit, sinnlos in sich selbst kreisend. (Es gibt ein Kreisen, ein Schwingen in sich selbst, das Fülle ist: so Gott; und es gibt ein Kreisen in sich selbst als Zu­ stand völliger Sinnleere, Sinnlosigkeit: so die Profanität.) Gott kann seinem Wesen nach niemals mit irgendwelchen Entwicklungsprozessen identisiziert werden, so daß er Glied und Kette in ihnen wäre; Gott war vov jedem dieser Prozesse, und wird nach ihnen sein. Oder, wie es von Böhme eindeutig formuliert wird: „Vor dieser Welt war allein Gott von Ewigkeit, und nach dieser Welt ist auch allein Gott in Ewigkeit." s

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Mit der Überweltlichkeit Gottes ist eine Problematik gegeben, welche für das Christentum von schlechthin überragender Bedeutung wurde. Die Überweltlichkeit Gottes, seine Transzendenz, welche die schroffe Scheidung

von Zeit und Ewigkeit impliziert, hat dazu geführt, Ewigkeit und Zeit, Gott und Welt als zwei völlig unvereinbare Größen zu sehen. Überweltlich­ keit Gottes, Jenseitigkeit Gottes: bedeutet das nicht die Verlagerung Gottes aus der Welt, — Gottentfremdung der Welt, Weltentfremdung Gottes? Man hat die Anschauung von der schroffen Transzendenz oft empfunden als eine große Gefahr: die Duellen des göttlichen Seins springen nicht mehr in dieser Welt, die Welt verdorrt; wo man die Jenseitigkeit kündet und lehrt, dort fällt die Welt aus Gott, und Gott aus der Welt in die eisige Nacht der Transzendenz. Die Welt vereist, wenn sie von Gott transzendiert wird, — sie erblüht, sie wird verklärt und geheiligt, wenn sie der Atem Gottes durchströmt. Kein Zweifel, wenn man von Gott nicht mehr auszusagen weiß als seine Transzendenz, so ist das eine Karikatur des Gottesgedankens. Als das Ge­ heimnisvolle an Gott erscheint vielmehr die Dialektik von Ferne und Nähe, erscheint die Tatsache, daß der Ferne nah, und daß der Nahe ungreifbar fern ist. Die Übersteigerung der Jenseitigkeit, ohne daß man um dies

dialektische Geheimnis wüßte, kann in ihren Konsequenzen bis zum Atheis­ mus führen: man klagt über die Entgötterung des Lebens und vergißt, daß man dieser Entgötterung selbst den Boden bereitete. Das Leben weiß nichts mehr von der breiten, strömenden Gegenwärtigkeit Gottes, Gott ist zu einer punktförmigen Transzendenz jenseits des Geschehens zusammen geschrumpft; das Geschehen bekam seinen Anstoß von ihm, aber nun läuft es gleichsam von selbst wie die aufgezogene Uhr, nach rein immanenten, mechanischen Gesetzen. Es ist die Tragik der Theologen unserer Epoche, daß sie aus Angst vor der Mystik, vor der Auflösung Gottes in Natur und Welt, vor der Gleichsetzung von Kirche und Kultur, — daß sie aus dieser Angst den Gedanken der Jenseitigkeit in einem Maße herausgearbeitet haben, daß er schlechterdings unfruchtbar werden mußte. Selten ward Gott so an die Peripherie des Alls gedrängt wie im theologischen Denken der Gegenwart; das All, sich selbst überlassen, geriet nun entweder in die Fänge der rein rationalistischen Wissenschaft, oder eine jäh aufbrechende, kirchlich nicht mehr gebundene Religiosität erlebte es wieder verzaubert und dämoni­ siert wie in vorchristlichen Tagen. Es besteht weithin Einigkeit darüber, daß das Paradox die Grundform der religiösen Aussage darstellt: das Mysterium wird allein im Paradox ergriffen. Es gehört also zum Wesen des göttlichen Geheimnisses, daß man Aussagen, welche sich logisch ausschließen, gleichzeitig und mit voller Über­ öS

68 zeugung darauf in Anwendung bringen kann. Ich erwähne dazu noch einmal, was vorher schon angedeutet wurde: daß eine Identität zwischen den Glie­ dern der Paradoxie besteht, sie widersprechen sich, aber in diesem Wider­ spruch fordern sie einander und gehören so zusammen wie die Hemisphären, welche sich zur Kugel ergänzen. Böhme läßt über die Transzendenz seines Gottesgedankens keinen Zweifel zu; daneben sinden sich nun, in einem geradezu bestürzenden Gegensatz, Aus­ sagen von einer so betonten Gott-Nähe, Gott-Erfülltheit, Gott-Durchdrungenheit der Welt, daß man an ihm irre zu werden droht. Die Paradoxie der religiösen Aussage tritt uns in einer Schärfe, die klassisch genannt werden kann, entgegen. „In Gott ist weit und nahe eins": darum ist es möglich, in einem Atem seine Ferne und Nähe auszusagen, seine Transzendenz und seine Immanenz, ohne daß sich das widerspräche. Böhme erläutert das vor allem am Bild des Himmels. Himmel ist ihm Chiffre für die Wohnung der Gottheit, schließlich für Gott selbst. In früheren Zeiten, so wird ausgeführt, glaubten die Menschen, der Himmel schwinge sich viel hundert oder tausend Meilen über diesen Erdboden empor; Böhme gesteht, daß er in einer früheren Periode seines Denkens selbst dieser Ansicht war: Himmel schien ihm, was sich „mit einem runden Kreis ganz lichtblau hoch über den Sternen schließt". Dort oben, noch hinter den Sternnebeln, war zugleich der Wohnsitz Gottes. Es ist anzunehmen, daß sich das Denken Böhmes vornehmlich an zwei Problemen entzündet hat: am Problem des Bösen, und an dem der Tran­ szendenz, das heißt der Erdenferne Gottes. Es schien ihm unfaßbar, daß Gott lediglich in jener Sternenwelt hause, während sich auf der anderen Seite die große Tiefe der Welt öffnet mit Sonne, Wolken, Regen, Schnee. So kommt er denn zu der Einsicht: „Wenn du deine Gedanken von dem Himmel faßt, was, wo oder wie er sei, so darfst du deine Gedanken nicht viel tausend Meilen von hinnen schwingen, denn derselbe Loeus oder Himmel ist nicht dein Himmel . . . Denn der rechte Himmel ist allenthalben, auch an dem Orte, wo du stehest und gehest . . ." Was sich in dieser und vielen gleich­ lautenden Aussagen ankündigt, bedeutet eine Revolutionierung der Meta­ physik: es wird endgültig damit gebrochen, auf Gott und den „Himmel" lokale Kategorien anzuwenden. Die lokalen, räumlichen Kategorien sind nur behelfsmäßig zu verstehen; das Mysterium selbst ist lokal nicht abgrenz­ bar. In der statischen Metaphysik des Mittelalters war der Gottesgedanke an ein bestimmtes Weltbild gebunden, welches das Universum in Stock­ werke gliederte, mit der Spitze in Gott; der Gottesgedanke wurde in dem Maße gefährdet, als sich die neu erwachenden Naturwissenschaften daran machten, diese Vorstellung vom Weltgebäude — im Wortsinn verstanden! — zu zertrümmern.

In Paranthese: das Weltbild der statischen Metaphysik des Mittelalters geht zurück auf Aristoteles; Aristoteles ist bei seiner Konzeption wiederum beeinflußt durch ein Mißverstehen des Mathematikers Eudoxos. Die An­ schauung ist die, daß sich der Kosmos in Bezirke aufteilen lasse: die Welt beginnt gleichsam bei der Erde, erhebt sich dann von Sphäre zu Sphäre bis zum Fixsternhimmel und der göttlichen Vollkommenheit. Damit steht zugleich die Erde im Weltmittelpunkt, ihre Bewegung wird geleugnet. Für diesen Geozentrismus ist aufschlußreich, was Aristoteles in seiner Schrift De Caelo (Über den Himmel) ausführt: „Augenfällig ist, daß die Erde not­ wendig im Mittelpunkt und unbeweglich ist, sowohl aus den angeführten Gründen als auch darum, weil die mit Gewalt nach oben in senkrechter Richtung geschleuderten Körper wieder auf den nämlichen Punkt herab­ bewegt werden, wenn auch die Kraft sie unbegrenzt weit hinaufschleudert." Dies Dogma des Aristoteles, illustriert durch den emporgeworfenen Stein, der wieder in die Hand des Werfers zurückkehrt, machte noch auf Tycho Brahe solchen Eindruck, daß er die kopernikanische Lehre ablehnte! — Böhme hat das Verdienst, freilich nicht allein und nicht als erster, alle räumlichen Anschauungen aus der Gottesvorstellung entfernt und ein theologisches Verständnis des Himmels (soweit es sich nicht um die astro­ nomische Größe Himmel handelt) angebahnt zu haben. Der Himmel ist, gleich Gott, für den gläubigen Menschen drängende Allgegenwart; und das­ selbe gilt für den geistigen Christus, von dem die Kirche bekennt, er sitze „zur Rechten des Vaters", was nichts anders bedeutet als eben die All­ gegenwart Christi. Schroff wendet sich Böhme daher gegen Calvin, welcher den „aufgefahrenen" Christus fixieren will in einem Himmel, der aus­ gesprochen räumliches, dreidimensionales Gepräge aufweist: „Du mußt nicht denken, was Johannes Calvus oder Calvinus gedacht hat, der Leib Christi sei ein unallmächtiges Wesen und begreife nichts weiter als den Lorus in sich. Nein, Menschenskind, du irrst und verstehest die göttliche Kraft

nicht recht . . ." Und nun komme ich zu den Aussagen, in welchen Böhme die Nähe, Gegenwart, lebendige Dynamik Gottes in einer Weise feiert, daß wir in der Tat anzunehmen geneigt sind, hier sei die christliche Gottesvorstellung endgültig verlassen. „Die pure Gottheit ist überall ganz gegenwärtig an allen Orten und Enden . . ., und die englische Welt reicht an allen Enden, wo du hinsinnst, auch mitten in die Erden, Stein und Felsen: also auch die Hölle, oder das Reich des Zornes Gottes ist auch überall." Hier öffnen sich die Schleusen des Himmels und der Hölle, alle himmlische Seligkeit, alle höllische Oual wird auf die Schöpfung ausgeschüttet. Das metaphysische Reich und das irdische Reich sind nicht mehr reinlich getrennt, sondern wachsen

70 heimlich-unheimlich ineinander, so daß eines das andere durchdringt, eines im anderen verschmilzt. Immer aufs Neue wird das Thema von der Gegen­ wärtigkeit Gottes variiert, die ganze Welt ist „voll Gott", er ist das Herz der Natur, der „Sabbat", in dem alle Dinge ruhen. „Außer Gott kann nichts fallen, denn er ist selber Alles." Wo der Mensch sich selbst liebt, freilich nicht in selbstsüchtiger Eigenliebe, sondern wo er sich liebt als Träger einer Seele, die auf Gott hin geschaffen ist, wo er ferner Bruder und Schwester liebt, da ist Gott. Es ist die große Idee des Johannesbriefes, welche immer wieder die ewigen Zusammenhänge von Bruder, Liebe, Gott umkreist, und die von Böhme in folgendem Sahe niedergelegt wird: „Wenn wir uns nur selber suchen und lieben, so lieben wir Gott: was wir uns selber unter­ einander tun, das tun wir Gott; wer seinen Bruder und Schwester suchet und findet, der hat Gott gesucht und gefunden". In immer neuen Bildern wird das Geheimnis dieser Gegenwärtigkeit Gottes geschildert; die ganze Natur, Himmel, Erde, dazu alle Weite, Tiefe, Höhe des Universums bilden den Leib Gottes — ein Vergleich, der immer wiederkehrt —, und die Kräfte der Sterne und Elemente, welche unaufhörlich in die Welt ausstrahlen, sind die Duelladern in diesem Leibe

Gottes. Es ist die Vorstellung vom Makrokosmos, welcher mit Gott iden­ tifiziert wird, die hier auftaucht; wir werden noch darauf zurückkommen. Ein anderes Bild erinnert an die Vorstellung der Alten von einer Sphären­ musik: wenn man tausende von Instrumenten in der Welt zusammentrüge und ließe sie von ausgesuchten Meistern handhaben, es wäre nur ein er­ bärmliches Geräusch gegen jene göttliche Musika, die von Ewigkeit zu Ewigkeit das All durchströmt. Wie anders könnte sich die Präsenz Gottes auch auswirken als in einer Musik, welches alles Leben in ihren Rhythmus zieht und wie ein heimliches Rauschen unter dem Himmel und über den Dingen liegt, vorausgesetzt, daß die Kreatur Ohren hat, um zu hören. — „Zeige mir einen Ort", heißt es ein andermal, „da du deinen lüsternen Geist hinschickest, es sei gleich ein Mensch oder Vieh, oder Kleider oder Acker, oder Geld oder was genannt werden mag, da nicht Gott ist; aus ihm ist Alles und er ist in Allem und er ist selber Alles und hält und trägt Alles." Hier wird mit dem Gedanken Ernst gemacht, daß die göttliche Gegenwart auch in die kleinsten, unscheinbarsten Dinge eingesiossen ist; hebe einen Stein auf, er weiß von Gott, brich eine Blume, sie weiß von Gott, es ist alles wissend um Gott, und nicht nur wissend, sondern auch gottragend, gott­ getragen. Welch eine Welt! Aber, wird man einwenden, hier ist nun die Transzendenz endgültig ver­ lassen, Gott entpuppt sich als eine Art vis vitalis, als Lebensmacht, als monistisches Prinzip, dies ist die Gotteskarikatur eines sogenannten deut-

7i sehen Glaubens, aber nicht mehr die Gottesvorstellung, welche das Christen­ tum besitzt. Dieser Einwand ist wahr und falsch in einem; wahr, sofern diese Aussagen, isoliert und für sich genommen, eine nichtchristliche Gottes­ vorstellung implizieren mögen; falsch, sofern diese Aussagen niemals isoliert, sondern nur im Zusammenhang der Dialektik des Gottesgedankens betrachtet werden dürfen. Es ist gleich verhängnisvoll, ob sich der Glaube ausschließlich auf die Jenseitigkeit oder ob er sich ausschließlich auf die Diesseitigkeit fest­ legt, in jedem Fall ist damit die Dialektik der Gotteswirklichkeit zerstört. Eine Dialektik, in der man, wie Leopold Ziegler einmal ausführt, nicht über die Antinomie hinaus zu einer umgreifenden Synthese gelangt, ist sinnlos und kann nur als ihre eigene Parodie gelten. Trotzdem würden sich für den unbefangenen Leser die Aussagen vom transzendenten und vom immanenten Gott bei Böhme vielleicht zu un­ vermittelt voneinander abheben, wenn nicht zum Glück noch eine dritte Kategorie von Äußerungen über dies Problem vorläge. Hier ist auch von der Gegenwart Gottes die Rede, aber mit der deutlichen Einschränkung, daß das Geschöpf von Gott nur ergriffen werden könne, aber ihn niemals ergreife. Würde Gott vollkommen in seiner Schöpfung und in den Dingen aufgehen, wie Salz im Wasser aufgeht, so wäre damit allerdings der Unter­ schied Gott—Welt bis zur Bedeutungslosigkeit nivelliert, aus Gott wird Göttlichkeit: Göttlichkeit als eine Art Verklärung irdischer Zustände und Dinge, aber ohne den Schein einer tieferen Realität. — Wenn ich etwas aufhebe und forttrage, sagt Böhme, so trage ich nicht die Ewigkeit fort und noch viel weniger Gott, obwohl die Ewigkeit in dem Dinge darin ist. Wie erklärt sich das? Das Ding entstammt der Ewigkeit, sofern es von ihr geschaffen wurde, darum kann das Ding die Ewigkeit zwar nicht be­ rühren, nicht begreifen, wird aber umgekehrt von der Ewigkeit berührt und begriffen. Die Ewigkeit ist an allen Orten, ohne von ihnen erfaßt zu werden, es besteht ein absoluter quantitativer Unterschied zwischen Gott und jedem konkreten Ort der Schöpfung. Gott umfaßt sie alle — die Orte, die Dinge —, er trägt sie, durchströmt sie, ohne daß sie sich ein Minimum seiner Wirk­ lichkeit im Sinne eines „Habens" zu eigen machen könnten. Um noch einmal das Bild von der Tarnkappe der Transzendenz heranzuziehen: die Gestalt unter der Tarnkappe kann den Dingen nah sein, kann sie berühren, ohne daß die Dinge fähig wären, diese Nähe, diese Berührung zu erwidern; sie sind zur Passivität verurteilt. Besonders beliebt ist das Mißverständnis, als vertrete Böhme die Anschauung einer Gott-Natur: Gott und Natur im Letzten identisch. Schon aus dem zuletzt Gesagten wird deutlich, daß diese Anschauung dem Gottesverständnis Böhmes zuwiderläuft; es wird indessen auch klipp und klar so formuliert: „Die Natur ist nicht Gott, aber

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Gott wird durch die Natur offenbart." Und ähnlich: Gott ist „die Fülle aller Dinge, und das Ding begreift ihn doch nicht, und ist auch das Ding nicht Gott". Warum lehnt Böhme diese Identität von Gott und Natur ab, — muß er sie ablehnen auf Grund seiner Voraussetzungen? Weil Gott um eine Wirklichkeit, oder besser: um eine Dimension über die Schöpfungs­ wirklichkeit hinausragt; Gott ist eine Ewigkeit älter als das, was er er­ schaffen hat. Böhme drückt es so aus: Gott lebt in einem anderen Prinzip, „er wohnt eine Geburt tiefer im Centro, als diese äußere Welt ist, er erfüllt alles in dieser Welt und nichts begreift oder sieht ihn, denn er wohnt nicht in der Welt, sondern in sich . . ." Die große Alternative: Gott in der Natur oder Gott über der Natur, ist damit in der allein möglichen Weise beantwortet: Gott ist über der Natur und zugleich in ihr, er ist in ihr und zugleich darüber. Es handelt sich um ein In-Sein, ohne daß die Ewigkeit von der Zeit absorbiert würde, und um ein Anders-Sein, ohne daß die Ewigkeit der Zeit verlorenginge,

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Es wurde bisher eine Bestimmung Gottes bewußt zurückgestellt: die Bestimmung, daß Gott Wille sei. Wie ein plötzlicher Wind die Spiegel­ glätte des Sees aufriffelt und in sachte Bewegung bringt, so geschieht Ähn­ liches mit dem Gotte Böhmes in dem Augenblick, da er als Wille definiert wird. Wille und Bewegung sind identisch; Gott ist jetzt nicht mehr Spiegel des ewig in sich ruhenden und vollendeten Seins, sondern dieser Spiegel wird durch die Willensbewegung getrübt. Die dynamische Seite des Gottes­ gedankens tritt durchaus in den Vordergrund, Gott ist Dynamik, unendliche Bewegung, er steht niemals still. Ohne Unterlaß ist in Gott „ein liebliches Ringen, Bewegen und Kämpfen, gleich wie zwei Kreaturen, die in großer Liebe miteinander spielen und sich miteinander halsen oder würgen, bald liegt eines oben, bald das andere, und so eins überwunden hat, so gibts nach, und läßt das andere wieder auf die Füße". Für diese Dynamik in Gott gibt es zwei Erklärungsmöglichkeiten. Ent­ weder gehört diese Bewegung zum Wesen Gottes dazu, sie erwächst aus seiner Freiheit. Oder: es wird Gott dies Gesetz der Dynamik von außen auferlegt, womit Gott, oder besser: der Ungrund einer Notwendigkeit unterworfen wäre, welche seine Ewigkeit und Allmacht entschieden ein­ dämmt. Bevor wir uns für eine dieser Möglichkeiten entscheiden, fragen wir zu­ nächst, worin das Wesen dieser Dynamik in Gott beruht. Sie beruht darin, daß der Ungrund in seiner Stille, Weite, Ruhe, Einerleiheit sich selbst nicht genügt. „Das Nichts hungert nach dem Etwas." Das Nichts ist, für sich

betrachtet, leer und langweilig, fast wäre man geneigt zu sagen steril, darum sehnt sich das Nichts nach dem Etwas als nach seinem Gegenwurf, seinem Spiegel: das Etwas ist Spiegel des Nichts. Die Ewigkeit hat das Bedürfnis, aus sich herauszutreten, sie will wirken, sie kann aber nur wirken auf der Folie der Zeit. Indem sich der Ungrund so im Grunde als in seinem Spiegel gegenübertritt, spaltet er sich auf in Schauendes und Geschautes, Subjekt und Objekt; damit beginnt die erste Stufe des kosmogonischen Prozesses. Dieser Wille des Ungrundes zu seinem Gegenüber, zum Anderen, wird von Böhme immer aufs Neue in psychologischen Kategorien beschrieben; der Ungrund „hungert", der Ungrund trägt in sich die „Sucht" nach dem Grunde, ihn faßt das Begehren, ihn „lästert". So wird also die Monotonie des Ewigen von der ersten Dialektik zerrissen, es beginnt ein Hin und Her, dem Wellengekräusel vergleichbar, das sich zum „magnetischen" Ziehen ver­ dichtet und endlich in die reale Opposition der Außenwelt ausmündet. „Denn die Gottheit hat gelästert, die Wunder der ewigen Natur, der unzählbaren Essentien im Wesen und körperlichen Dingen zu sehen . . ." Was gemeint ist, wird endlich auch in der uralten Antithetik von Licht und Finsternis ausgedrückt: wo nur Licht ist, pures unwandelbares Licht, da ist die steife reglose Stille, das Licht ruht farblos in sich selbst; dann aber wird es durch­ zittert vom Wirbel des Begehrens und gebiert aus sich die Finsternis, in der Polarität von Licht und Finsternis kommt das Licht — gesetzt den Fall, es besäße ein Bewußtsein — erst zu sich selbst. Was sich hier ausspricht, ist das Urgesetz vom Gegensatz, das sich Böhme allenthalben wiederholt, was er auch immer betrachtet. Dieses Gesetz wird ganz allgemein folgendermaßen ausgesprochen. Solange ein Ding für sich ist, also allein, eines Willens, solange zeigt es weder Zersplitterung noch Streit. Die Eins kann nie mit sich uneins werden, sie bleibt immer in sich. Die Uneinigkeit hebt in dem Augenblick an, da aus der Eins die Zwei herauswächst und einen eigenen Willen bildet, ein neues Zentrum formiert: jetzt stehen zwei Willen, zwei Zentren nebeneinander. Dieses Nebeneinander wandelt sich zwangsläusig zum Widereinander: denn jedes der beiden „Regimente" konzentriert sich auf sich selbst, ist auf die Durchsetzung seines Willens bedacht, was dazu führt, das andere Regiment zu dämpfen, den widerstrebenden Willen niederzuhalten. Das „Ausgeborene", als der Sohn, steigert sich in wachsende Opposition gegen den Vater hinein, dem er seine Entstehung verdankt; so ist ein Streit ad infinitum gesetzt. Das ist die negative Seite der Schöpfung (als eine Doppelung, Zwiefältigkeit verstanden): aus einem Willen werden zwei, die sich aneinander reiben. Darin liegt die Tragik der Schöpfung, und nicht nur der Schöpfung, sondern der Antithetik, welche als elementares Lebensgesetz unsere Wirk-

74 lichkeit bestimmt: der Streit wird für immer fixiert. Daneben aber findet sich eine so grundsätzliche Aussage wie diese: „Im Streit ist der Urstand aller Geister." Das heißt, der Streit ist nicht nur ein notwendiges Übel, sondern er zeigt die eminent schöpferische Funktion an, welche die Polarität in der Welt hat. Der Gegensatz, welchen der Streit entbindet, ist es, der erkennen läßt, „das eines ohne das andere nicht zum Wesen käme". Darum also geht es: nicht die Eins, die unentfaltet, unbewegt in sich ruht, gelangt zur Erkenntnis ihrer selbst und zu ihrem Wesen, sie bedarf vielmehr der Zwei als des Gegensatzes, an dem sie sich erst realisiert. Der Wille ist zunächst „dünn als ein Nichts", gläserne Stille; wenn sich in ihm aber das Begehren entzündet, so wird er schwanger (der Begriff der Schwängerung taucht in diesem Zusammenhang oft auf) und gebiert den Gegen-Willen, den Gegen-Wurf. Geschähe diese Schwängerung, welche zur Geburt der Polarität führt, nicht, so bliebe alles ein farbloses, indiffe­ rentes Nichts, die ganze Weltwirklichkeit, welche ein Produkt dieses polaren Entfaltens und Drängens ist, würde wieder in das Schweigen des Ungrundes versinken. So bleiben Uneinigkeit, Polarität, Antithetik des Geschehens einerseits ein Unglück, weil sie den währenden Streit aus ihrem Schoße entbinden, auf der andern Seite sind sie Voraussetzung dafür, daß Wirk­ lichkeit, Leben, Bewegung, präzises Sein überhaupt in Erscheinung treten können. Sonst würden die Konkretionen des Lebens in der Tiefe des Un­ grundes verborgen bleiben, gleich der Traumstadt der Sage, welche auf ewig im Schoß des Meeres versunken liegt. Unglück wie Notwendigkeit in einem ist es, wenn die Wirklichkeit sich wie folgt präsentiert: „Ein jeder Körper ist mit ihm selbst uneins, wie nicht allein zu sehen ist in lebendigen Kreaturen, sondern auch in Sternen, Elementen, Erden, Steinen, Metallen, Laub, Gras und Holz; in allem ist Gift und Bosheit. Besindet sich auch, daß es also sein muß, sonst wäre weder Farbe, Tugend, Dickes oder Dünnes oder einigersei Empsindnis, sondern es wäre alles ein Nichts." — Nach all dem neige ich der Ansicht zu, daß diese Dialektik nicht in der Freiheit des Ungrundes beschlossen liegt, sondern daß sie als ein Gesetz über den Ungrund verhängt ist. Gott bleibt der dialektischen Notwendigkeit unterworfen, welche ihn immer wieder in das polare Spiel der Entfaltungen und Kontraste hineinzwingt; über Gott steht das Gesetz. Ich scheide mich damit von anderen Auffassungen, welche (so etwa Heinrich Bornkamm) die Dialektik als zum Wesen Gottes gehörig erklären: das Spiel der Entfal­ tungen erwächst aus der Natur der Gottheit. Wie dem im Einzelnen auch sei: jedenfalls ist hier die. Basis des christlichen Gottesgedankens verlassen. F. Chr. Baur hat einmal die Bemerkung gemacht, es handele sich bei Böhme genau wie bei den Gnostikern darum, den Übergang von der Ideal-

7-5 Welt zur Realwelt zu finben. Wie es von der Ewigkeit zur Zeit, vom Un­ endlichen zum Endlichen kam, das ist das Kernproblem, und alle Mittel der Spekulation werden aufgeboten, diese Lösung vorzubereiten. In der Tat ist die Nähe Böhmes zur Gnosis, was die innergöttlichen Prozesse und die Schöpfung angeht, frappant; damit wird ein in bestimmtem Umfang gebundenes Denken abgelöst durch die Spekulation in subjektiver Freiheit und Willkür. Böhme, dem es darum zu tun war, eine Aera objektiver Er­ kenntnisse heraufzuführen und das Unkraut der Meinungen mit Stumpf und Stiel auszurotten, — er wird hier selbst zum Opfer der „Meinung". Nirgends wird das deutlicher als in seiner Hilflosigkeit der trinitarischen Frage gegenüber. Weil er in der Dialektik das Schema gefunden hat, welches allen innergöttlichen Prozessen zugrunde liegt, so mußte demgegen­ über das trinitarische Prinzip nur störend wirken. Böhmes Spekulation wird zwar zuweilen mit dem trinitarischen Etikett versehen, aber das ist rein äußerlich, er wagt nur nicht, das Trinitätsprinzip ganz fallen zu lassen. In der Reifezeit freilich ist vom ganzen Trinitätsgedanken nicht mehr vor­ handen als ein „dünner Rest psychologischer Begriffe" (Bornkamm). Für den Böhme-Historiker mag es von Wichtigkeit sein, die Fülle des sich widersprechenden Materials zu der Frage auszubreiten, wie nun im Einzelnen die Entfaltung des Ungrundes zum Grunde vor sich geht, welche Rolle dabei das Schöpfungswort spielt und wie sich endlich in diese Zu­ sammenhänge das eigenartige Zwitterwesen der Jungfrau Sophia, der göttlichen Weisheit, einordnet; man wird völlig historische Klarheit nicht gewinnen, und man wird sich zugleich eingestehen müssen, daß es sich eben um rein historische Fragen handelt: um Fragen, welche für unsere religiöse Lage ohne tiefere Aktualität sind. — So wollen wir denn zum Schluß, diese an der Peripherie liegenden Probleme übergehend, einen Hymnus Böhmes auf Gott hierhersetzen, einen Hymnus, der zeigt, in welchem Maße er vom letzten Gegenstand alles menschlichen Schauens, Fragens, Denkens, Liebens zugleich ergriffen und berauscht ist: „O Gott, du überglänzendes, ewig ausscheinendes Licht, du hast der äußeren Welt von dem Hauchen deiner Macht durch die Strahlen deines Lichtes gegeben, und herrschest mit Sonne und Monde in allen deinen Werken in dieser Welt Wesen ... du zierest die Erde mit schönen Kräutern und Blumen durch dieses Licht, und erfreust darinnen alles, was lebet und wächset, und zeigst uns Menschen darinnen deine Herrlichkeit, daß wir erkennen deine Kraft, die inwendig verborgen ist, und daran sehen, wie du dein ewiges Wort und Wirkung sichtbar gemacht hast; auf daß wir dadurch sollen betrachten dein inwendiges geistliches Reich, da du im Verborgenen

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wohnest und alle deine Geschöpfe erfüllest, und Alles in Allem selber wirkst und tust . . . Die Himmel samt der Erde erzählen deine Ehre, Kraft und große Macht. Die Elemente sind ein Gegenwurf deiner Weisheit, da dein Geist mit einem Gegenwurf vor dir spielet und alle Dinge dich loben und sich deiner Kraft freuen und frohlocken ... O du Feuer und Licht der großen Jnwendigkeit, erbarme dich über mein Elend, und hilf mir aus diesem dunklen Hause, darin ich gefangen bin! Gib mir doch wieder eine wahre Erkenntnis deines Wesens, dazu du das Gemüt anfänglich haft in Natur gebildet und haft es zum Wollen deiner Figuren und Geschöpfe geordnet. Führe mich doch wieder in Christo meinem Heilande in meine gehabte Herrlichkeit!"

VI. ETfatur und Welt Am Anfänge der Naturanschauung Böhmes steht die Vision von der Mutter, jene Vision, die immer wieder in der romantischen Dichtung, in der romantischen Philosophie aufsteigt. Insbesondere seit der wieder erwachten Beschäftigung mit Bachofen ist das Muttersymbol in den Vordergrund getreten, und die Dichter versuchen es neu zu beschwören: riesenhaftes Bild einer Frau, das Kleid mit Tieren und Pflanzen bestickt, Sterne im Haar, mit unergründlichem Antlitz, in das Schmerz und Wollust, Liebe und Grau­ samkeit, Haß und Erbarmen gleichermaßen eingegraben sind; durch ihre lässig bewegten Hände aber gleiten unaufhörlich die Gestalten des Lebens vom Sein ins Nichtsein, vom Leben zum Tod. Dieses Muttersymbol hat für den Betrachter eine ambivalente Bedeutung: es erweckt sowohl Haß als Liebe. Es erweckt Haß, weil es die erbarmungslose Auslieferung des Menschen an die Dämonie der Natur zeigt; was ist das Hindurchgleiten, durch die Hände der Mutter anders als ein blinder sinnloser Kreislauf, die Psianze blüht und welkt, der Mensch wird geboren und stirbt, wer fragt darnach? Wir sind alle nur Welle in dem großen kosmischen Lebensmeere, Welle die steigt und fällt und deren Bestimmung es bleibt, kein Schicksal, kein Prosil zu haben. Betrachtet man Leben und Natur von hier aus, so mutet es an, als ob „alles nur ein Spielwerk sei, damit es seine Zeit in Unruhe zubringet". Die gespenstische Nichtigkeit der Kreatur tritt ins Blickfeld: „Alles was Anfang hat, das hat Ende: was in die Zeit geschlossen, das gehet mit der Zeit wieder ins Aether." Zugleich ist die Mutter Symbol des Triebhaften, alle chthonischen Mächte und Räusche liegen in ihr be­ schlossen, Böhme bekennt: „wir sind in die Mutter, welche die bösen Tiere gebieret, geschlossen, und haben tierische Eigenschaft". Aber, wie schon gesagt, die Mutter hat ein Doppelgesicht. Die Mutter ist es zugleich, die alle Kreatur birgt und nährt, die nichts aus ihrem Schoße fallen läßt; um die Mutter wissen, bei der Mutter sein, das heißt an den Ursprüngen und Quellen des Seins anlangen. Bei der Mutter ist die absolute Ge­ borgenheit, wie sie eben dem Kinde nur bei der Mutter zuteil werden kann, — und alles Geschaffene steht im Kindschaftsverhältnis. Darum ermahnt Böhme, in den Schoß der Mutter einzugehen, daher seine wiederholten Appelle zur Freude an der Mutter, in der Mutter. In dem Maße, als sich das Geschöpf von der Mutter isoliert, ist es verloren, in dem Maße, als es in sie rückkehrt, wird es getragen von ihren dunklen, bewahrenden Kräften.

?8 Das also ist die rätselhafte Ambivalenz des Muttersymbols: bewahrend und zerstörend, liebend und hassend, grausam und erhaltend erscheint es in einem, bald lockt es uns magisch an in der Tiefe einzukehren, bald schreckt es uns als die Verkörperung des Lebenschaos. Versuchen wir zu beschreiben, was Böhme unter Natur im Einzelnen versteht, so stoßen wir sogleich an die Schranke, welche der Begriff der Natur sich selbst setzt. Wir verstehen unter Natur das außermenschliche Reich der Pflanzen, Tiere, Erde, den ganzen Kreis des organischen und anorganischen Lebens abzüglich des Menschen; Natur und Mensch werden, zumal seit den letzten Jahrhunderten, in einer wachsenden Antinomie zueinander ge­ sichtet. Dieser Prozeß der Emanzipation des Menschen von der Erde, aus dem All-Leben, ist in letzter Zeit so außerordentlich eindringlich von den verschiedensten Seiten enthüllt und dargestellt — ich erinnere nur an Ludwig Klages —, daß wir uns hier nicht weiter damit zu beschäftigen brauchen; außerdem ist nicht die negative Darstellung produktiv, die sich erschöpft in der Aufzählung dessen, was wir verloren haben, sondern es wäre zu sagen, auf welchem Wege wir die Nähe der „Mutter" wiedergewinnen können. Die Nähe zur Erde, zum kosmischen Leben, zu all dem, was wir etwas

unglücklich unter dem Begriff der Natur zusammenfassen, ist bei Böhme Grundelement des Denkens. Freilich ist die Naturanschauung bei ihm eine andere als bei uns; es enthüllt sich hier der Gegensatz zwischen einem Welt­ bild, das durchgehend magisch und mythisch bestimmt ist, und einem Welt­ bild kausaler, mechanistischer Art. Auch dies ein Faktum, unendlich oft be­ schrieben und beklagt: die Isolation des Menschen in der Natur warf ihn an die Peripherie des All; das tiefere Leben der Natur ward ihm verriegelt. Weil der Mensch nicht mehr in der Natur lebte, im Sinne eines mütter­ lichen Geborgenseins, darum erhob er sich über die Natur und machte sie zu seinem Objekt. In der Objektivierung aber erstarb das eigentliche Leben der Natur, die Mächte und Kräfte der Natur wurden gleichsam vom Men­ schen exorzisiert; was zurückblieb, war tote, errechenbare Materie, war Holz, Stein, Erz, Frucht, tierisches und pffanzliches Leben, welches sich dem Menschen sofort in Zahlen umsetzte, zu Zahlen verdichtete. Kein Zweifel, daß die seelisch-geistige Unsicherheit des Menschen unserer Zeit weithin mit dieser Entnatürlichung der Natur zusammenhängt, — mit der Unfähigkeit, die eigentlichen Lebensvorgänge zu erspüren. Die Naturschwärmerei und Naturromantik, die sich dessen ungeachtet gegen Ende des ig. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer mehr ausbreiten, sind nur Karikaturen des echten Naturgefühls: wo der rationalisierte Mensch an die Grenze der Ratio stößt, ohne sie überwinden zu können, wird er sentimental.

Für die Naturansicht Böhmes, wenn wir nunmehr zu Beschreibung im Einzelnen übergehen, ist bedeutsam die Einheit des Lebens. Einheit des Le­ bens nicht als Theorem, sondern als praktische Erfahrnis des Niederbruchs aller Schranken zwischen Stein, Tier, Pflanze, Mensch. Die Trennung von Pflanz-, Tier- und Menschsphäre, wie sie bei Aristoteles auftaucht, später ausgenommen von der Scholastik als Differenzierung in Vegetation, Vitalität, Vernunft, — diefe Trennung ist für Böhme gegenftandlos. Viel­ mehr bleiben ihm die Grenzen fließend, die Menfch-Ding-Verwandtschaft ist konstitutiv für sein Wirklichkeitsverständnis. Die Scheidung des orga­ nischen vom anorganischen Leben, die uns so in Fleisch und Blut übergegan­ gen ist, wird als Fiktion abgetan: die Kristalle noch sind Organismen, das Atom repräsentiert die Welt. 3m kleinen „Körnlein" spiegelt sich der Makrokosmos wieder. — Wir schieben hier einen Exkurs ein, indem wir darauf Hinweisen, in welchem Maße sich diese Naturerfahrung mit dem echten Mythos deckt und mit dem Lebensgefühl der Primitiven, das unendlich urtümlicher ist als unser durch und durch abstraktes Wirklichkeitsverhältnis. 3m Mythos brechen fast physische Beziehungen auf zwischen Mensch, Tier, Pflanze; Menschen zeugen Tiere und umgekehrt; ähnlich im Märchen, wo Tiergeburten, Tierhochzeiten die Regel sind. Ständiger Übergang

erfolgt von menschlicher in tierische Gestalt und umgekehrt, ebenso kennen wir Überführung der menschlichen Natur in Steinnatur als Motiv zahl­ reicher Märchen. Verzauberung, Bann, magisches Wort bewirken die Metamorphose. Um Tier zu sein bedient man sich der Tiermasken, die griechische Tragödie entstand aus Tiermaskentänzen. Unter der Maske wird die vitale Mächtigkeit der Tiere eingetauscht. Nirgends ist die Ver­ bundenheit zwischen Mensch und Ding markanter als im totemistischen Kreis: eine geradezu bluthafte Einung findet statt. Der Gruppentotemismus kennt den verwandtschaftlichen Bezug des Verbandes mit Tier oder Pflanze, der Art, daß das Totem den Verband oder der Verband das Totem zeugte. Die totemistische Gemeinschaft präsentiert sich als einheitliches magisches Kraftfeld. Die Rollen des Gebers und Empfängers wechseln, bald speist das Totem die Gruppe mit Energien, bald lädt die Gruppe das Totem auf, das man sich als eine Art Batterie vorstellen muß. 3n dieser mythischen Wirklichkeit zeigt sich, aufs Ganze gesehen, eine Tendenz zur Aufhebung der Gruppen, Klassen, Gattungen, und damit der 3ndividualität schlechthin. Man bemerkt: jede Klassisikation, jede Einzelung hat den Charakter der Vorläusigkeit. Niemand kann ein Ding oder ein Lebewesen aus seinen Zu­ sammenhängen schälen, es sauber begrenzen, denn niemand weiß, wo das Einzelne aufhört, wo es endet. Kraft ihrer dämonischen Spannweite deckt

8o sich die Erscheinung nicht mit ihren gegenständlichen Grenzen. Alles leitet, angeschlossen an einen magischen Stromkreis. Für die mythische Welt, wie sie uns bei Böhme entgegentritt, ist weiter von grundsätzlicher Bedeutung das Verhältnis des Teils zum Ganzen. Das Ganze zerfällt nicht in Teile, sondern jeder beliebige Teil ist das Ganze. Das Ding wird nicht erfahren als Summe von Teilen, sondern als ge­ schloffener Organismus, und was wir Glied nennen, ist seinerseits wieder Organismus, welcher den übergeordneten abspiegelt. Das Glied ist nicht etwas am Ganzen, sondern das Ganze unter abgewandeltem Aspekt. Man mag den mythischen Raum noch so sehr zerschlagen: in jedem Splitter ist strukturell das Ganze enthalten. Bei den Primitiven bildet die beste Illu­ stration dieses Tatbestandes der Analogiezauber, die „Ahmung" (Leopold Ziegler). In irgendeinem Zubehör des Leibes, in Haar, Kleidung, noch in der Ausscheidung ist jeweils der Mensch als ganzer gegeben. Besitze ich ein Kleidungsstück, ein Gerät meines Feindes, so ist er damit in meine Hand gegeben: ich kann ihn überwältigen. Geräte und Dinge, mit denen ein Mensch dauernd umgeht, führen keine Eigenexistenz, sind nichts für sich, sondern gelten als Verlängerungen des betreffenden Lebens, in dessen Ge­ brauch sie gestellt werden. Ich führe den Exkurs weiter: was den mythischen Raum kennzeichnet, ist seine Gegensätzlichkeit zum mathematisch- metrischen. Im mathematischen Raum herrscht die Funktion, er löst sich auf in eine Summe von Gesetzen, Beziehungsverhältnissen. Der mathematische Raum ist meßbar, seine Teile sind homogen. Dem mathematischen Raum entspricht das logische Denken, für den Logos wird der Raum zur reinen Ordnungsform. Im mathemati­ schen Kosmos sind die wechselnden Erscheinungen in ein stehendes Koordina­ tensystem eingezeichnet, welches durch die herauswitternden Inhalte nicht berührt wird. Das System gleicht dem Knochengerüst, welches bleibt; die Erscheinungen fallen ab und zerfallen gleich dem vergänglichen Fleische. Der mythische Bilderraum, wie es echter Anschauung entspricht, ist nie unendlich — die Unendlichkeit des Raumes bleibt logische Konstruktion! —, sondern Ausschnitt, es gibt keine Scheidung von Ort und Erscheinung, beides fällt zusammen. Um das Labile der Raumansicht im Mythos auf­ zuweisen: es gibt keine ideellen Verbindungen zwischen Dingen, nur sinn­ liche, welche sofort das Einzelne auslöschen, einschmelzen. Denken wir an die Magie des Gebens: geben heißt, sich in Beziehung zu jemandem setzen. Einer gibt dem Anderen, damit wird ein Strom ausgelöst, der sich durch Gegengabe zurücklenken läßt, der Stromkreis schließt sich. Es gibt keine sachliche Veräußerung, wie wir sie kennen, die Gabe ist geladen, Geben stiftet Kommunion. —

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Die ganze Wirklichkeit mythischen Gepräges, wie wir sie eben skizzierten, wird bei Böhme in einem Satze erschöpfend charakterisiert: „Es ist alles magisch." llnsere spärlichen, abgezogenen Begriffe von Natur versagen angesichts der Wirklichkeit, wie sie sich hier enthüllt: einer Wirklichkeit heimlich-unheimlichen Gepräges, wie sie der Mythos und das Märchen kennen, und wie sie das Leben der Primitiven bestimmt. Primitivität und Mythik bedeuten ja in diesem Fall das Gegenteil dessen, was die sogenannte Aufgeklärtheit in ihnen sieht: Aberglaube, Gespensterglaube, Wahnidee; vielmehr entlarvt sich die Aufgeklärtheit hier selbst als eine völlig entleerte Form des Wirklichkeitsbewußtseins. Die Natur ist nach Böhme nicht starr, auf mechanische Gesetze reduzierbar, sondern ihre Adern werden durchspült von lebendigen Kräften und Mächten. Die Natur ist erfüllt von „Sucht" und „Begehren", „Hunger" und „Lust". Schon die Pstanze ent­ faltet sich wachsend in einer lebendigen Dynamik, ein Widereinander von Strebungen tritt zutage; die Kräfte, welche beteiligt sind, stiehen und suchen einander, bis dann endlich die Pflanze ihre Gestalt gefunden hat und „fröh­ lich ist, daß sie dem Kriege entlaufen ist". — Wer glaubt, hier werde das an sich starre, tote Naturleben mit einer Schicht von psychologischen Vor­ stellungen überzogen und damit nachträglich verlebendigt, irrt; aber der dem kosmischen Leben bis in die Wurzel entfremdete Mensch von Heute vermag sich dergleichen nicht anders zu erklären als auf dem Wege einer nachträglichen Psychologisierung oder Imagination. So ist ihm auch die pandämonisch bewegte Welt des Märchens keine echte Wirklichkeit mehr, sondern eine gleichsam für die Kinder degradierte Wirklichkeit, solange diese noch in der rührenden Vorstellung befangen sind, daß Vögel sprechen, Menschen sich verwandeln, Hölzer zaubern können . . . Das vom Mythos und der tieferen Naturerfassung emanzipierte Denken bewegt sich wesentlich in Antithesen, ist antinomisch bestimmt: es reißt auseinander und konfrontiert, um zu erkennen. Das mythische Denken, und somit auch in gewissem Sinne des Denken Böhmes, ist hierarchisch ge­ sonnen: eines wächst aus dem anderen, Ring schließt sich an Ring. Hierarchie bedeutet Einstufung, Einordnung ins Ganze; das Ganze erklärt die Teile, die Teile erklären das Ganze. Die große Hierarchie alles Geschaffenen wird immer wieder angeschaut im uralten Bild des Weltenbaumes, das auch bei Böhme wiederkehrt und anzeigt, wie alles aufeinander bezogen ist: „Der Garten dieses Baumes bedeutet die Welt, der Acker die Natur, der Stamm des Baumes die Sterne, die Äste die Elemente; die Früchte, so auf diesem

Baume wachsen, bedeuten die Menschen; der Saft in diesem Baume be­ deutet die klare Gottheit." 0

6 Baden: Relig. Problem

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62 Wir sprachen früher von der Ambivalenz des Muttersymbols: daß die Große Mutter, die „Amme" oder „Ernäherin", wie Platon sagt, zwei Seiten hat: eine schützende und eine grausame, eine bewahrende und eine zerstörende. Die Mutter ist also im Grunde doppelgesichtig wie der Januskopf. Diese Doppelgesichtigkeit, Ambivalenz ist aber nicht nur der Mutter eigen, sondern allem, was aus ihrem unergründlichen Schoße quillt. Licht und Schatten mischen sich auf eine unerhörte Art in den Erscheinungen, und es bleibt das metaphysische Problem der Erscheinung, ob der Schatten oder das Licht den Sieg davonträgt. Erläutern wir das, worum es geht, an der Tatsache des Tabu. Das Tabu ist eine der Grunderfahrungen des religiösen Menschen, stehe seine religiöse Anschauung im Einzelnen auf hoher oder primitiver Stufe. Das Tabu beweist, daß die durchgängige Ansicht von der Gleichheit aller Wirklichkeits­ faktoren eine Abstraktion ist; in der Wirklichkeit ist nicht jedes Ding wie das andere, sondern eines wird vorm anderen ausgezeichnet. Denken wir nur an das Tier: es kennt Orte im Raum, die sich ihm herausheben, und wo es nistet, schläft, weilt. Wir sprechen von Stätten. Was die Stätte konstituiert, ist ein besonderes Heimliches oder Unheimliches. Die erste Grenze, die man so in der Welt fand, war die zwischen dem mächtigen und dem unmächtigen Ort, zwischen der nichtssagenden, legitimen Wirklichkeit und jener andern, die man eben als tabu erfuhr. Ob das Tabu gut oder böse in unserem Sinne ist, wird damit nicht im geringsten gesagt; das Tabu ist zunächst weder gut noch böse, weder heilig noch dämonisch, es ist einfach „anders". Als das Andere wird der Ort, welcher tabu ist, aus seiner Umgebung herausgeschnitten, ausgezirkelt und nur mit Scheu betreten; so ent­ stehen die Heiligtümer. Das Wort Tempel, von griechisch zepiveLV, bedeutet ja ursprünglich nichts anderes als das Herausgeschnittene, will sagen den Ort, welcher vor anderen ausgezeichnet ist. Alles mathematische Maßbewußtsein erwuchs aus dem sakralen, bis es seinen Ursprung vergaß. In der mythischen Wirklichkeit ist ganz ausgesprochen das Bewußtsein darum lebendig, daß sich Menschen, Dinge, Orte vor anderen herausheben. Sie sind tabu, dem Tabu korrespondiert die Scheu. Auch die Scheu besagt noch nicht, ob etwas böse oder gut, dämonisch oder heilig ist, die Scheu bedeutet nur die absolute Andersartigkeit dessen, wovor man sich scheut. Menschen, Dinge, Orte, die man als tabu empfindet, sind Träger einer besonderen Mächtigkeit, in ihnen hat sich gleichsam Strom lokalisiert, gestaut. Erst nach und nach, im Laufe der Entwicklung, fchwand beim Tabu die Indifferenz für Gut und Bös, Heiligkeit und Dämonie; es wurde deut­ lich, daß gewisse Erscheinungen positiv und andere negativ ausgezeichnet

83 waren. Der Heiligkeit entsprach eine Art unreiner Heiligkeit, und beide bestimmten wechselnd das Wirklichkeitsfeld. Was wir eben entwickelten und in seiner Entwicklung zu verstehen suchten, ist bei Böhme durchgängige Anschauung. Die Wirklichkeit ist nicht in dem Sinne profaniert und machtlos, wie sie das bei uns auf Grund eines Den­ kens wurde, dem sich die Seinsschichten der Tiefe verschlossen; sondern die gesamte Wirklichkeit erscheint doppelpolig, positiv oder negativ bestiinmt, das heißt von Gott oder vom Teufel „getragen". Metaphysik und Ethik bleiben also nicht nur Anliegen des Menschen, sondern sind kosmische An­ liegen: alles Sein wird hineingezogen in die große Scheidung. Wir werden, wenn wir die Problematik des Bösen im Denken Böhmes behandeln, aus­ führlich darauf zurückkommen. Hier ist nur bedeutsam: die Doppelgesichtigkeit oder Ambivalenz des Seins, die wir zuerst bei der Großen Mutter wahrnahmen, kann also kein Zufall sein, sondern geht zurück auf einen tieferen grundlegenden Dualismus, der wie ein Sprung den ganzen Kristall der Schöpfung durchreißt. Die Mutter, welche das Chaos verkörpert, die sinnlose Folge der Geburten und Tode, — diese Mutter ist negatives Symbol des Grauens, der Nichtigkeit und der Seinsleere, sie erhält also die Attribute, die wir als wesentlich dem „Teufel" zugehörig betrachten. Die Mutter da­ gegen, welche von uns erfahren wird als Ort der Geborgenheit, Liebe, Güte, wandelt sich unter der Hand zur Mutter Kirche, der mater ecclesia, oder tritt uns entgegen unter der Hülle der Madonnenverehrung. Diese eigentümliche Zwiegesichtigkeit des Seins, auf Grund deren alles irgendwie posititiv oder negativ geladen ist, Gegenstand der Scheu oder brünstiger Verehrung, wird selbstverständlich am schärfsten akut beim Menschen. Aber, wie schon angedeutet: dieser Konsiikt greift bei Böhme weit über den Menschen hinaus, erfaßt die ganze Natur, ja die Sterne und Elemente. Damit wir uns nicht in der Fülle des Materials verlieren, will ich die Analyse nur an einem Elemente umfassender durchführen: am Element des Wassers. Auch das Wasser birgt diese Doppelheit in einer auffälligen Weise: Licht und Finsternis, Leben und Chaos, Geburt und Tod. Wie andersartig wirkt neben dem Chaoswasser zu Beginn der Schöpfung oder bei der Sintsiut das gläserne Meer des Johannes; welcher Unterschied zwischen den dämonischen Urwässern und dem Taufwasser! Das Wasser ist nach Böhme zunächst ein negatives Element. „Das Wasser hat . . . einen grimmen, tödlichen Ouell in sich, denn es tötet und verzehret; dazu muß alles Lebende und Webende in dem Wasser verfaulen." Der Teufel besitzt im Wasser durchaus Gewalt, „denn die äußerste verderbte Geburt gehört in dem elementischen Wasser auch zum Zorne Gottes; und der Tod ist darin wie in der Erde". Die Verhaftung des Wassers unter

84 das Böse hat ganz praktische Folgen; sie zeigt sich darin, daß das Wasser „in dieser Welt also wütet und tobt, läuft und rennt, und daß es also sinster und dick ist; und dazu, so es nicht läuft, so wirds stinkicht . . ." Die irn Wasser beschlossene Negation wird also deutlich in seiner ünruhe, in Stürmen, Sturmsiuten und Überschwemmungen; es ist das chaotische Moment,

welches dem Wasser hier sein Gepräge gibt. Ferner ist das Wasser Träger des Todes: das Wasser nichtet das Leben durch Ertränken. Aber am Un­

heimlichsten wirkt das Wasser zweifellos dort, wo es stagniert, und wo es

das Leben eben nicht durch Bewegung, Welle zerstört, sondern durch Fäul­ nis. Was in diese breiigen, binsengrünen Kloaken gerät, ist schlechterdings verloren, und der Hauch, der uns aus stagnierenden Mooren, Sümpfen,

Gräben entgegenschlägt, ist der Pesthauch der Verwesung selbst. Hier offen­ bart sich die dämonische Seite des Wassers. Die Urwässer zu Beginn der Schöpfung sind freilich nicht nur chaotisch

bestimmt, sondern hier zeigt sich schon der zwiespältige Charakter des Ele­ ments. Das Urwasser ist zugleich zerstörend und schöpferisch zeugend. Zu

Beginn

war nur

das

Chaoswasser;

aus

diesem

hat Gott durch sein

Schöpfungswort alles Sein ins Leben gerufen. Es trifft also indirekt zu, wenn Böhme sagt: „Siehe, alle Dinge sind aus dem Wasser geschaffen."

Aber nicht nur zu Beginn wurde das Leben aus dem Wasser geboren,

sondern das geschieht wieder und wieder; sind nicht zahllose Wesen im Mutterleibe vom Fruchtwasser umschlossen und gehen im eigentlichsten Sinne aus dem Wasser hervor? So wird das Wasser zum positiv schöpfe­ rischen Element,

und Böhme verweist

darauf,

in welchem Maße das

Wasser an der Zusammensetzung der Dinge beteiligt ist und sie dadurch gleichsam trägt: „Das Wasser quallet in allen lebendigen und webenden

Dingen in dieser Welt; im Wasser besteht der Leib aller Dinge . . ." Es wird von Böhme vor allem vermerkt, in welchem Maße Wasser für das

Fleisch und das Leben des Fleisches konstitutiv ist; Wasser gehört zur Grund­ substanz des Fleisches. In dem Augenblick, wo Gott das Wasser ergreift, wo das Wasser „in

Gott" ist, verliert es den dunklen, dämonischen Charakter der Fäulnis und des Todes, es wird „ganz licht gleich dem Himmel". Wer erinnert sich nicht sofort an die merkwürdige Stelle der Offenbarung Johannes, wo der Seher

das „gläserne Meer gleich dem Kristall schaut": hier hat das Element ganz

augenscheinlich seinen chthonischen, finsteren Charakter verloren und gött­ liches Vorzeichen erhalten. — In letzter Schärfe tritt freilich die Ambi­

valenz des Wassers erst bei der Taufe hervor. Hier, im Taufwafser, liegen noch beide Grundfaktoren des Wassers, das Töten und Lebendigmachen,

unmittelbar nebeneinander. In der Taufe wird der Mensch (der „alte"

Mensch) getötet — Funktion des Chaoswassers; es wird zugleich aus dem Wasser, dem durch Gottes Wort geheiligten Wasser, ein „neuer" Mensch geboren. Wir bezeichnen das, was hier geschieht, in der religiösen Sprache als Wiedergeburt: der Mensch, aus dem Chaos geboren, wird in der Taufe zunächst ins Chaos wieder zurückgenommen, er „ertrinkt", um dann wieder­ geboren zu werden aus dem heiligen Wasser des Sakraments. — Schon diese wenigen Andeutungen genügen, um erkennen zu lassen, wie bei dem, was wir die Ambivalenz der Erscheinungen nannten, eine Per­ spektive der Wirklichkeit aufbricht, die uns fast völlig verschüttet ist. Es geht hier um weit mehr als um interessante religionsgeschichtliche Er­ hebungen und Vergleiche, es geht um eine grundsätzliche Neubesinnung auf das Phänomen Wirklichkeit mit seiner metaphysischen Problematik. Die Naturerkenntnisse Böhmes, wenn auch manches Gleichgültige, Ver­ spielte, ja Groteske darunter ist, weisen doch den Weg, der begangen werden muß, wenn sich uns die tiefsten Duellen der Wirklichkeit wieder erschließen sollen. S 0 0 Das Äußere ist ein in Geheimniszustand erhobenes Innere, heißt es bei Novalis, und mit dieser Bemerkung wird eine Erkenntnis berührt, die Böhme ganz ähnlich ausdrückt: „Die äußere Welt ist durchaus ein Gleichnis der inneren; denn die innere Welt hat sich mit der äußeren offenbart: daran man kann verstehen, was der unsichtbare Gott im Verborgenen sei." So wird denn alles Äußere Mysterium: „das reine Mysterium der äußeren Welt . . . stehet in der Wurzel der inneren und gehört darein". Dieser Mysterien­ charakter des Äußeren rührt daher, daß es nur als Projektion des Innen verständlich ist; ein innerer Gehalt hat sich in den äußren Formen buchstäblich aus-gedrückt. So kann die äußere Welt nie als bloße Materie, als leere Form und in sich schwingendes Endliches mißverstanden werden, sondern verstanden wird sie allein auf dem Hintergrund des totalen Sinnes, der alle Formen hervortreibt und trägt. So gehen wir durch eine wahrhaft sinn­ volle, sinnschwere Welt: alles Außen nur Spiegel des Innen, nur Wider­ schein eines Sinnes, der unmittelbar auf die Gottheit rückführt. Die geist­ lichen Welten, die für Böhme eine so ausgezeichnete Rolle spielen, liegen demnach nicht transzendent, sondern sie werden in der äußeren Welt un­ mittelbar geoffenbart, ebenso wie es die wesentliche Funktion der Zeit ist, nicht sich selbst, sondern die Ewigkeit darzustellen. Eine Herrschaft der äußren Welt wird strikt geleugnet, wäre sie doch nichts anderes als eine Herrschaft toter Formen, leerer Masken; „nicht die äußere Welt soll herrschen, sondern die innere göttliche Welt durch alles".

86 „Die sichtbare Welt ist aus der geistlichen Welt als aus der ausgeflossenen göttlichen Kraft entsprossen und ist ein Objektum oder Gegenwurf der geist­ lichen Welt: die geistliche Welt ist der innerste Grund der sichtbaren Welt; die sichtbare Welt stehet in der geistlichen." Diese Kommunikation von geistlicher und sichtbarer Welt führt unmittelbar zum Gedanken des Gleich­ nisses: alles Sichtbare ist nur ein Gleichnis . . . Der Gleichnisgedanke taucht bei Böhme immer wieder auf, unzählig variiert; im Diesseits mit seinen Myriaden Formen, Gestalten, Profilen sehen wir doch nur Ausdrücke der Ewigkeit. Freilich nicht einer definitionslosen Ewigkeit, sondern einer Ewig­ keit, die trinitarisch bestimmt ist, — kurz: des dreieinigen Gottes. Noch Steine, Hölzer, Pflanzen tragen die trinitarische Physiognomie: „Also siehst du auch die Dreiheit der Gottheit in Holz und Steinen, sowohl in Kraut, Laub und Gras, obwohl dasselbe alles irdisch ist. Auch gebäret die Natur nichts, es sei in dieser Welt was es wolle, und wenn es gleich kaum eine Stunde stehen oder bleiben soll, es wird alles in der Dreiheit oder nach dem Gleichnis Gottes geboren." In dieser Ausdruckslehre Böhmes, könnte man sagen, zeigen sich die Ansätze zu einer kosmischen Physiognomik. Die physiognomische Welt­ auffassung bahnt die grundsätzliche Überwindung des Nominalismus an.

Es werden nicht mehr Form und Gehalt, Sache und Name, Gestalt und Idee auseinandergerissen, sondern beides liegt unmittelbar ineinander, sich durchtränkend, miteinander kommunizierend: das Außen ist nur verständlich vom Innen her, das Innen nur faßlich, erkenntlich im Außen. Das Leiden an einer sinnlosen, vordergründigen Welt rührt je wesentlich daher, daß sich der metaphysische Sinn der Schöpfung von der Schöpfung abgespalten und versiüchtigt hat, eine maskenhafte Welt starrt uns an, die in die Sinn­ leere, in die absolute Verzweiflung hineinragt. Ist aber der Sinn präsent, so siießt das eigentliche Leben in die Dinge zurück wie der Strom in das verlassene Bett, und der beschwingte Fuß betritt eine neue Welt, deren tragendes Geheimnis in dem Satze steht: „Man darf nicht denken, daß Gott von irgend etwas abwesend sei, einem Ort oder Stätte: er erfüllet alles . . ."

VII. Der Mensch Wer eine Bestimmung des menschlichen Existenzgeheimnisses versucht, wird auf die Kluft hingewiesen, welche Mensch und Tier trennt. In der Negation, in der Abgrenzung zu den außermenschlichen Lebenssphären ist es am ehesten möglich, zu sagen, was der Mensch sei und was er nicht sei. Gewiß hat auch der Mensch teil am vegetativen Leben, das der Pflanze, und am vitalen Leben, das dem Tier eigentümlich ist; aber über das rein Vitale und Vegetative hinaus besitzt er doch ein eigentümliches Mehr an Sein, welches seine Sonderstellung im Kosmos bedingt. Die Grenzlinie, welche insbesondere den Menschen vom Tier trennt, wird von Böhme wiederholt markiert, um der Bestimmung des Menschen näherzukommen. Am augenfälligsten erscheint am Tier, im Unterschiede zum Menschen, seine Stummheit: das Tier ist mit Stummheit geschlagen. Diese Stumm­ heit weist unmittelbar in die Tiefe, sie charakterisiert das Phänomen Tier am entscheidenden Punkt: das Tier ist ohne Bewußtsein und darum „ohne Begriff des Wesens". Sprache, Denkvermögen, Resiektiertheit: sie zeigen an, daß beim Menschen eine andere Seinsebene gegeben ist als beim Tier, daß hier ein Geist sich auswirkt, welcher mehr ist als „nur Natur", und der nicht aus den Elementen allein deduziert werden kann. Darum ist der Mensch im Universum zu einem anderen Schicksal verurteilt als das Tier. Was tut das Tier? Es erhebt sich nirgends über die Elemente, die Elementargeister der Schöpfung, sondern bleibt ihnen auf jede Weise hörig. Es urständet allein „aus dem Leben dieser Welt", als eine Komposition aus „Leim und Erden"; was aus Leim und Erde geschaffen ist, ohne jede Geistbestimmt­ heit, das wird sich auch wieder in diese Stoffe auflösen. Beim Tiere fehlt der geistige Faktor im Geheimnis des Ursprungs: es weiß von seinem Ursprung so wenig wie der Topf vom Töpfer, das Werk vom Meister. Es gibt auch, nach Böhme, im Tiere keinerlei Bestrebung, das Ge­ heimnis des Ursprungs zu lüften; die Begierden des Tieres liegen in anderer Richtung: „sich zu füllen, nähren und mehren". Fraß und Fortpsianzung, Fortpsianzung und Fraß, das ist die ganze Zweckbestimmtheit des Tieres; das Tier „blicket und karret", ohne sich selbst je Gegenstand von Fragen zu werden, welche den Menschen zerreißen. Zwar liegen, wie Böhme wiederholt versichert, im Tiere Spuren der Gottheit, das trinitarische Siegel hat sich auch im tierischen Sein abgedrückt, aber doch im Grunde ohne geistige Folgen für das Tier.

66 Anders der Mensch. Der Mensch hat, auf Grund seiner mikrokosmischen Struktur, von der noch die Rede sein wird, Anteil an der vitalen und vege­ tativen Seinsweise der Kreaturen. Der Mensch ist also immer Tier und Pflanze zugleich, in ihm schneiden sich Tier- und Pflanzennatur, wozu dann noch ein Drittes kommt; in diesem Dritten liegt die eigentliche Problematik des Menschseins. Dieser dritte, übernatürliche Faktor äußert sich zunächst, ganz unbestimmt, in der Unruhe: „im irdischen Leibe steckt sie (die Seele) in Unruhe . . ." Eine undefinierbare Unruhe, welche weder mit Nahrungssorgen noch mit der Selbsterhaltung zu tun hat, zeichnet den Menschen vor aller andern Kreatur aus: diese Unruhe zielt auf das Geheimnis des menschlichen Ursprungs. Das Tier kennt wohl die Unruhe in der Gefahr, die Unruhe des Hungers, es kennt aber nicht jene Unruhe, welche völlig zwecklos, ziellos das Sein als solches durchzittert und in den Abgründen der Seele geboren wird. Diese Unruhe stammt aus der Ungenüge des Lebens an sich selbst, das Leben spürt in sich einen Impuls über sich selbst hinaus. Der Mensch hat in sich „noch ein ander Sehnen und Begehren nach einem anderen Wesen und Leben, welches nicht tierisch und vergänglich ist, und auch nicht elementischer, irdischer Speise begehret". Unruhe, Ungenüge, Impuls über sich hinaus, das sind, um es nun klar zu sagen, Hinweise auf die göttliche Ursprünglichkeit der Seele. Der Mensch fragt, woher er kommt und wohin er geht, er stellt die Frage nach seinem Schicksal. Die menschliche Schicksalsfrage ist aber mit der Gottesfrage unlösbar verbunden. Der Wille des Menschen, über eine rein naturhafte, vegetative Daseinsform hinauszukommen, das Ahnen einer göttlichen Wirklichkeit, welche die natürliche Wirklichkeit kreuzt und über­ schneidet, das beständige Kreisen um das Mysterium des Ursprungs: das alles fetzt voraus, daß der Mensch bereits einen göttlichen Funken in sich trage. Irgendwie weiß der Mensch um Gott, um die Frage nach Gott überhaupt stellen zu können, und das erhebt ihn über eine nur-tierische Seinsweise. Wie ja auch die Fähigkeit, die Sonne zu schauen, eine ent­ sprechende Bereitschaft des Auges in sich schließt: Böhme drückt es un­ nachahmlich so aus: „Du kannst nicht sagen, du sehest allein aus der Sonne; es muß auch etwas sein, das der Sonne Licht fährt und mit der Sonne Licht eine Infizierung hat, als denn der Stern in deinem Auge." Das ist eine Entsprechung zu dem Goetheschen: Wär' nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt' es nie erblicken. Die menschliche Bemühung um das Wesen der Dinge und die Ursprünge der Wirklichkeit, das Eindringen in Gott sowie die ganze metaphysische Problematik des Menschseins führen Böhme also auf den göttlichen Ur­ sprung des Menschen, anders: auf seine göttliche Ebenbildlichkeit. Der

Mensch das Ebenbild Gottes: das ist ein Gedanke, welcher in zahlreichen Variationen und Abschattungen die Schriften Böhmes durchzieht. Böhme lehnt sich bei diesem Gedanken unmittelbar an die Bibel an: Gott bläst dem Menschen einen lebendigen Odem ein, was kann Gott aber anders aus sich blasen als sich selbst? In seinem Odem ist Gott selbst im Menschen präsent. Die Begriffe Ebenbild und Gleichnis sinden sich in diesem Zu­ sammenhänge oft, der Mensch ist Gottes Ebenbild, Gottes Gleichnis, — „was aus dem Ewigen formiert wird, das ist Geist und ist ewig, als die Engel und die Seelen der Menschen". Also zumal die Seele ist Spiegel Gottes im Menschen, denn in der Seele eröffnen sich die eigentlichen Wunder Gottes, die eigentlichen Wunder des Geistes. Wie alle Kreaturen das trini­ tarische Siegel tragen, wenn auch unbewußt, so trägt die Seele dieses Siegel in stolzer Bewußtheit: sie ist dreifältig gezeichnet. Mensch und Seele sind verfertigt aus allen Kräften Gottes, „aus allen sieben Geistern Gottes"; die ganze Fülle der Gottheit wird im Menschen anschaulich. So daß es geradezu heißen kann: „wir sind Götter in ihm, durch welche er sich offen­ bart". Freilich wird dies göttliche Bild im Menschen nicht mehr rein, sondern nurmehr gebrochen, versinstert widergespiegelt, wie ein Spiegel mit der Zeit sich trübt, so ist das göttliche Ebenbild mit der Zeit und durch die Zeit — im Wortsinne — getrübt. Der paradiesische Mensch als reine Inkarnation des Gottesbildes war zeitlos: er besaß nicht Anfang und Ende, nicht Geburt noch Tod und wurde angeschaut im Zeichen des geschlossenen Regenbogens. In Ausführungen, die hymnischen Charakter tragen, bringt Böhme dieses ursprüngliche Menschenbild zur Anschauung: „Du konntest über Sonne und Sternen regieren: es war alles in deiner Gewalt, das Feuer, Luft und Wasser mitsamt der Erden konnten dich nicht zähmen, kein äußeres Feuer brannte dich, kein Wasser ertränkte dich, keine Luft erstickte dich: alles was lebte, fürchtete dich; du hattest deine eigene Speise an paradiesischer Frucht dem äußeren Leben zu geben, und dem inneren Seelenleben das Verbum Domini: du hättest ewig ohne Wehe oder Fühlung einigerlei Krankheit gelebt in eitel Freude und Lust, dazu ohne Mühe und Kummer; dein Gemüte wäre als eines Kindes, das da mit den Wundern seines Vaters spielt; keine Erkenntnis des bösen Willens wäre in dir gewesen, kein Geiz, keine Hoffart, kein Neid, kein Zorn, sondern alles ein Liebesspiel." Wie man sieht, ein apokalyptisches Gemälde, das in außerzeitliche Sphären hinüber­ weist, das Anfang und Ende aller Zeitlichkeit berührt. Es ist ein Gemälde des Menschen in seiner paradiesischen Totalität: die Anschauung des Men­ schen nach der metaphysischen Idee. (Das Problem der Gottebenbildlichkeit des Menschen weist bei Böhme noch weitere Differenzierungen auf, die hier nicht zur Darstellung kommen.

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sondern nur für eine historische bzw. historisierende Betrachtungsweise von Belang sind. So klingt zuweilen der Gedanke an, daß sich im Menschen drei Prinzipien widerspiegeln: die göttliche Finsterwelt, die göttliche Licht­ welt und die äußere, durch die Elemente bestimmte Welt. Der Mensch ist damit schöpfungsmäßig ein Kind dreier Reiche, die nun in den Kampf um ihn eintreten: also auch eine „trinitarische" Bestimmtheit des Menschen, wenn man so will, freilich eine solche, die an keiner Stelle die Überlieferung für sich hat und als rein subjektiver Einfall des Autors gewertet werden muß.) S

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Der Kosmos ist nach Böhme ein Leib, der Mensch Glied dieses Leibes. Auf Grund der eigenartigen Entsprechung des Teiles mit dem Ganzen, wie sie dem mythischen Denken eigentümlich ist, müssen auch Kosmos und Mensch sich decken: es besteht eine paradoxe Identität zwischen dem Welt­ leibe und dem Menschen, seinem Gliede. Der Mensch „begreift den ganzen Lorus oder Leib dieser Welt, und der Locus begreift den Menschen". Im Leibe des Menschen bildet sich demnach die ganze sichtbare Welt ab, er ist „ein Bild und Wesen alles dessen, was die Welt ist". Oder, wie es ein andermal heißt: „Es liegt Himmel und Erde mit allen Wesen im Menschen; du mußt nur einen rechten Hammer brauchen, willst du seine Stunde schlagen und ihn aus dem Schlaf aufwecken." Nichts wird gedacht, geschmeckt, ge­ schaut, gehört, das nicht im Menschen wäre, — das nicht unentfaltet in ihm darinläge. Dieser Gedanke von der Einheit des Menschen mit dem Universum — der Mensch als den Makrokosmos widerspiegelnder Mikrokosmos — ist uralt und wesentlicher Bestandteil jedes mythisch gerichteten Denkens. In vielen Kosmogonien des Mythos sinden sich jene seltsamen Berichte, wonach die Welt aus den Teilen eines Urmenschen, oft auf Grund feiner gewaltsamen Zerstückelung, gebildet sei: das Fleisch wurde zum Acker, das Blut zum brausenden Meer, die Knochen zu Gebirgen, das Haar zu Psianzen, die Gedanken formierten sich zu Wolken . . . Diese starken Bilder umschreiben auf ihre Weise den makrokosmischen Gedanken; sie wollen bedeuten, daß Acker, Meer, Gebirge, Psianze, Wolke kein selbständiges, gegenüber dem Menschen abgeriegeltes Sein besitzen, sondern auf mystische Weise am menschlichen Sein partizipieren. Die Isolierung des Menschen im All ist eine Fiktion, vielmehr schneiden sich alle Lebenskreise des All im Menschen, in ihn strömt alles ein, er ist der Behälter der Dinge. Die gleichen kosmogonischen Bilder sinden sich nun auch bei Böhme, wenn er die Höhlung des Leibes der Tiefe zwischen Himmel und Erde gleichsetzt.

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wenn ihm das Fleisch mit der Erde, das Blut mit dem Wasser identisch ist, wenn ihm die Adern im Leibe als „Kraftgänge der Sterne" erscheinen. Bis auf die Einzelheit der Bilder herrscht hier Übereinstimmung des kosmogonischen Berichtes, ohne daß irgendwelche Abhängigkeiten konstatiert werden könnten, ein Zeichen dafür, daß das mythische Denken allenthalben und zu allen Zeiten gleich strukturiert ist. Die Tatsache, daß die paradoxe Identität von Mensch und Welt sich allenthalben im Mythos bezeugt, gibt dem makro-mikrokosmischen Gedanken seine überragende Bedeutung. Dieser Gedanke entspringt nicht der Kon­ struktion, sondern gerade im mythischen Raum wächst er heraus einem ursprünglichen Wirklichkeitsgefühl, Lebensgefühl, — wenn man auf dieser Stufe schon von Lebensgefühl sprechen darf. Man könnte behaupten, die Tragödie des neuzeitlichen Menschen, bezeichnet durch seine Vereinsamung inmitten der Natur und der Naturreiche, durch eine maßlose, jede mütter­ lich-natürliche Bindung zerreißende Emanzipation —: diese Tragödie wäre vermieden worden, wenn dem Menschen das Spiegelverhältnis von Makro­ kosmos und Mikrokosmos lebendig geblieben wäre.

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In der Betrachtung des Menschenlebens herrscht bei Böhme die gleiche widerspruchsvolle Spannung wie etwa in seiner Gottesdarstellung. Das Menschenleben hat einen positiven Aspekt: seine Gottebenbildlichkeit, von der die Rede war; es hat einen negativen Aspekt, dem vornehmlich die bittere Erfahrung zugrunde liegt, wie es tatsächlich in der Welt und unter den Menschen zugeht. Böhme entwickelt hier eine bestechende Beobachtungs­ gabe, das ganze oft absurde Spiel des Menschseins, der menschlichen Nichtigkeit, des Ehrgeizes, Machtstrebens wird vor uns aufgerollt. Böhme hat eine lebhafte Empfindung dafür, daß die entscheidende Größe in der menschlichen Wirklichkeit der Tod ist. Gehört es sonst zum „Mystiker" aller Spielarten dazu, daß er das Faktum des Todes auflöst oder verschweigt, verklärt, mystisiziert, oder den Tod nur Durchgang sein läßt in eine singierte Ewigkeit, — gehört dergleichen sonst zum professionellen Mystiker dazu, sage ich, so erweist sich das Daseinsverständnis unseres Autors auch an dieser Stelle als durchaus unmystisch. Der Tod bedeutet das desinitive Ende des Menschen. „Ein toter Mensch hat keinen Odem, und hat auch kein Feuer in seinem Leibe: der Leib hat keine Fühlung, denn er zerbricht ganz und gar, seine Essentien fahren in die Erden; seinen elementischen Geist als die Luft nimmt wieder die Luft und zerstäubet; das Wasser und Blut nimmt das irdische Wasser und die Erde, da bleibet nichts vom äußeren Menschen, er ist hin, denn er hatte Anfang und Ende, alle seine Wesen sind weg."

92 Das Ende ist also, daß sich der Mensch wieder auflöst in die Stoffe, aus denen er sich zusammensetzt: daß er ohne Rest von den kosmischen Elementen verbraucht wird. Das Leben läßt sich vergleichen mit dem Feuer, das dauernd der Zehrung bedarf, um nicht zu erlöschen; das Leben zehrt von den Organen des Leibes, die Organe wiederum werden befeuert durch die Speise; fehlt die Speise oder tritt sonst eine Störung ein, so verbrennt das Lebensfeuer in sich selbst, der Mensch verdirbt „als eine Wiesenblume, so die nicht Wasser hat, umfällt". Oder in einem anderen Bilde ausgedrückt: das elementare Dasein ist ein Sieden, eine Art kochendes Lebensfeuer, und wenn es nicht mehr siedet, erlischt es. Im Zeichen des Feuers erschauen wir die eigentüm­ liche Dynamik des menschlichen Seins, seine Vitalität und Unberechen­ barkeit, freilich alles Faktoren, die sich dem Tode nicht gewachsen zeigen, wie ja auch die Flamme nicht ewig ist. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die ganzheitliche Anschauung des Menschen, obwohl sie, das muß zugegeben werden, bei Böhme nicht überall durchgeführt wird. Es finden sich Aussagen, wo von einer klaren Abspaltung der Seele im Tode die Rede ist, was eine Antinomie Leib-Seele voraus­ setzt; es sinden sich indessen auch andere Bemerkungen, auf Grund deren die Seele ganz und gar mit in das Todesschicksal des Leibes versiochten ist. So etwa, wenn es heißt: „die Seele hat kein Bildnis oder Leib, der ewig bleibet". Diese sogenannte Leib-Seele-Einheit ist es ja erst, welche dem Tode in der menschlichen Wirklichkeit seine eigentliche Bedeutung verleiht, ansonst man sich via Seele dem Ende doch auf alle mögliche Art und Weise entziehen könnte. Die Nähe des Todes, zwar sie nicht allein, aber doch im wesentlichen, bestimmt das Sein des Menschen in der Welt. Diese Nähe des Todes wird nicht endzeitlich erfahren, — endzeitlich in dem Sinne, daß gegen das Lebens­ ende zu, wenn der Seinsbestand sich wachsend auflichtet, der Tod näher­ käme; nein, diese Todesnähe bedeutet die permanente Bedrohung des Seins in jedem Augenblick. Der Tod ist schwebendes Verhängnis, dem wir auch nicht eine Sekunde lang auszuweichen vermögen. Man bezeichnet das viel­ fach als „Grenzsituation". Das Eigentümliche der Grenzsituation besteht also darin, daß die Existenz dauernd vom Tode berührt, gleichsam ins Nichts hineingehalten wird. Das Grenzerlebnis wird ausgedrückt in der Symbolik des Abgrunds, der Bodenlosigkeit, wie es bei Böhme eindrücklich im Folgen­ den geschieht: dem Menschen ist zu Mute wie einem, der „in eine tiefe See fällt und da schwimmt und sieht kein Ufer, und wartet immer des Todes, da ihm das Wasser ins Maul geht, der ächzt und begehrt der Hilfe von oben herab; oder gleich einem, der in eine tiefe Grube fällt, da keine Rettung ersehen wird, der wartet auch der Hilfe von oben herab; also gehts

auch der armen Seele: sie ist in einen finsteren Kerker gefallen und schwimmt in einem sährlichen tiefen Wasser, da sie auf allen Seiten von Feinden umgeben ist, die alle auf sie zuschlagen: ein jeder will sie morden, und sie sieht keinen Helfer um sich; wenn sie gleich Leib, Blut und Fleisch, so wohl Mark und Beine durchsuchet, so sind sie doch alle nur ihre Feinde, die sie dem Abgrund zuführen". Ich habe in dem Zitat jene Stellen ge­ sperrt, welche das Spezifische der menschlichen Grenzerfahrung erhärten. Das Wissen um die Grenze des Seins schafft ein besonderes Lebensgefühl, das wesentlich negative Züge aufweist, ohne sich jedoch in dieser Negativität zu erschöpfen. Es ist das Wissen darum, „daß wir m dieser Welt nichts Eigenes haben, und daß wir uns selber nicht eigen sind, sondern nur eine kleine Zeit in dieser Welt Arbeiter und dazu fremde Gäste . . Ständig schattet über unserem Dasein die Einsicht, daß wir „wieder in das Staubwesen eingehen, davon wir Herkommen sind". So gewinnt Böhme die unmittelbar biblische Erkenntnis der menschlichen „Pilgrimschaft", eine Erkenntnis, welche die notwendige Konsequenz der menschlichen Lage ist, wenn man sie wirklich sieht, und ihr nicht irgendwie illusionistisch oder ideologisch ausweicht. Man hat dieses Lebensgefühl oft als weltflüchtig karikiert, hat ihm den Vorwurf gemacht, daß es angesichts der Wirklichkeit mit ihren Ausgaben, Härten, Pflichten bankerottiere. Zweifellos ist dies nicht der Fall, sobald man erkennt, daß sich in dieser Beurteilung des Lebens nicht das gesamte christliche Daseinsgefühl ausspricht, sondern gleichsam nur seine negative, fragende, vorbereitende Seite; das um die Nachbarschaft des Nichts wiffende Sein stellt die Frage nach dem unbedingten Sinn, welcher jenseits des Nichts aufleuchtet: es ist angewiesen auf transzendente Erfüllung. Mit dieser Erfüllung wird dann freilich ein durchgehend neues Lebensgefühl, Lebensverständnis konstituiert, von dem an anderem Ort die Rede sein wird. Untep diesen Umständen ist es verhängnisvoll — wir fahren in der Schil­ derung des negativen Aspektes fort —, wenn sich der Mensch mit seiner ganzen Existenz in das Außen wirft, wenn er sich an die Peripherie des Seins begibt, wo nicht die Fragen der Seele, sondern die Probleme Macht, Ruhm, Güter im Vordergrund stehen. Angesichts Gottes, angesichts der Transzendenz schrumpfen diese Probleme zu einem Minimum an Bedeu­ tung zusammen. „Es ist nur ein Spiegelfechten in dieser Welt; das Regiment dieser Welt endet sich mit dem Leibe, und das Regiment in Gottes Geiste bleibt ewig stehen." Weil die menschlichen Ansichten von Macht, Ruhm, Gütern mit in den Wirbel der Vergänglichkeit gerissen werden, weil jede Generation die Dinge anders wertet als die vorhergehende Generation, darum ist es nicht gut, das Heil seiner Seele darauf zu bauen; „zeitlich Gut

94 und Ehr ist vor Gott nur Kot; eö fällt alles mit dir ins Grab und wird zunichts . . In dieser fast übertriebenen Distanz zu beherrschenden Faktoren der „Zeitlichkeit", welche sich im Aufbau des Gemeinschaftslebens nicht gut entbehren lassen, sondern tragende Bedeutung für sich in Anspruch nehmen, — in dieser übertriebenen Distanz, sage ich, wird die Wahrheit zum Aus­ druck gebracht, daß ohne jede göttliche Sanktion, Legitimation kein echter Halt in der Welt gefunden werden kann, möge er heißen wie er wolle. Die Unterschiede, welche die Menschen zwischen sich aufreißen, sind im Grunde gegenstandslos, es gibt keine Scheidungen an Hand von Geld und Machtpositionen, Mensch bleibt Mensch, „denn dem Reichen schmeckt sein Köstliches nicht besser als dem Hungrigen sein Bissen Brot. Es ist überall Sorge, Kummer, Furcht, Krankheit und endlich der Tod". Aber gerade, weil sich der Mensch wesentlich in der Vordergründigkeit der Geld- und Machtfragen bewegt, gewinnt sein Leben den eigentümlichen Zug von Unruhe. Wer glaubt, der Zweck des Daseins bestehe darin, eine irgendwie geartete Stellung zu erringen, gerät in Unruhe, solange er diese Stellung nicht hat, gerät aber auch in Unruhe, wenn er sie hat, da er sie wieder ver­ lieren kann. Außerdem impliziert jede sogenannte Stellung ein Mehr an Sorgen, Verantwortungen; auch von daher gesehen, dient die Stellung keineswegs der Beruhigung des Seins. Zusammengefaßt: der Mensch „läuft nach Kummer und Sorgen, und das läuft ihm doch selber nach; er ist, als wäre er immer toll und macht sich Unruhe: ließe er sich genügen, so hätte er Ruhe". Die Möglichkeit, eine Position zu gewinnen, Macht zu gewinnen, versetzt den Einzelmenschen in die währende Unruhe und die Gemeinschaft in den währenden Streit. Der Streit, oder der Zank, wie Böhme durchweg sagt, ist das eigentliche Medium des menschlichen Zu­ sammenlebens. Das Groteske an diesem Streite ist, daß er um vergängliche Dinge geht, also um Dinge, auf die man sowieso wieder verzichten muß, und sei es auch erst im Tode; man will besitzen, was man nie wahrhaft besitzen wird. Wir zanken miteinander wie Kinder, sagt Böhme, die im Spiel uneins werden, und je leidenschaftlicher der Streit um das Relative, um relative Dinge entstammt, desto sicherer wird uns zugleich das Absolute entrückt. Der Staub, den wir aus den Gassen aufrühren, vermag leicht den Himmel zu verdecken. „Wir nehmen doch nichts mit von dieser Welt, was zanken wir denn um das Eitele und verscherzen damit das Unvergängliche?" Das Leben ist ein Spiel, das sich unter dem Einstuß des Teufels in Streit verkehrt; so kommt eine Generation, streitet und spielt, spielt und streitet und geht wieder zur Ruhe, um den Nächsten Platz zu machen; auch diese Nächsten streiten und spielen wiederum „bis an den Abend, bis sie schlafen gehen in ihr Land . . ." Was ist doch das Menschsein für eine Komödie:

Streit, Totschlag, Exaltation um Vergehendes, ein ewiges Haschen nach Wind, und das von Geschlecht zu Geschlecht, von Jahrhundert zu Jahr­ hundert, ohne daß man begänne aufzumerken . . . „Warum zanken wir", heißt es, „um ein Hölzlein, das wir nicht gemacht haben? Ist doch dies Land nicht unser, und auch dies Kleid nicht unser." Oder ein andermal: „also ist ein Mensch des andern Teufel, der ihn quälet, und ist nur um eine Handvoll Erden zu tun oder um Steine, deren doch die Erde genug hat: möchte das nicht ein Wunder sein?" Ohne den göttlichen Hintergrund bleibt das menschliche Leben mit all seinen Erschütterungen, Zielen, Er­ folgen eine Bewegung im Leeren. Ein anderes Moment, das der menschlichen Entzweiung zugrunde liegt, ist der Trieb der Selbsterhaltung, der Lebenssteigerung, Genußsteigerung um jeden Preis. Solange das Leben lediglich durch Mächte wie Fleisch und Blut bestimmt ist, ohne den Anruf Gottes in der Seele und durch die Seele vernommen zu haben, solange wird es immer im magischen Kreise des Ich gefangen bleiben und nichts kennen als sich selbst, nichts wollen als sich selbst: „Der Geist dieser Welt in Fleisch und Blut . . . will nur sein tierisch Leben erhalten". Der Bann der Egoität bewirkt es, daß uns Menschen die Welt immer zu eng werden will, wir möchten den Raum stürmen, möchten in unnennbare Sphären einbrechen, — und gelänge es, wir wären doch nicht zufrieden. Darin wirkt sich, nach Böhme, ein höllisches Prinzip aus: der schlecht verhüllte Hochmut des Geschöpfes, das an Stelle des Schöpfers residieren möchte. In der grenzenlosen Bewegung des Ich um sich selbst gründen Ruhmsucht, Titelsucht, Machtsucht, gründet auch der Geiz, diese furchtbare Narretei, wo der Mensch aufhäuft, um wieder zu verlieren, wo der Mensch in Sorge zerfressen wird um das, was mit seinem Ende, oder schon vorher, in alle Winde zerstäubt. e

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Summieren wir die negativen Züge, die so am menschlichen Sein deutlich zutage treten, so ergibt sich, daß diese Negationen nicht nur Zutaten des Seins sind, daß sie nicht nur äußerlich am Menschen haften, sondern daß sie alle aus der gleichen Wurzel herauswachsen. Damit ergibt sich die grundlegende Frage nach der Existenz des Bösen, von der später die Rede sein wird; ich berühre die Frage hier nur so weit, als es für den vorliegenden Zusammenhang notwendig erscheint. Das Charakteristikum des menschlichen Seins ist seine Mitte zwischen Himmel und Hölle, der Mensch hat die Möglichkeit zu beiden in sich. „Siehst du nicht, wie hoch und gefährlich du gehest? Du tanzest zwischen Himmel und Hölle." Nur ein „schmales Steglein" ist vorhanden, auf dem wir balan-

96 eieren. Die Möglichkeit, in der Hölle zu sein — wobei Hölle kein Ort, sondern eine existentielle Bestimmtheit ist — ward durch Adam, den „ersten" Menschen zur Wirklichkeit. Adam ist das Urbild des abgefallenen Menschen, will sagen des Menschen, der nicht mehr im göttlichen Prinzip lebt wie der Fisch im Wasser, sondern dessen Geist und Sinne „in das Äußere, in die vier Elemente eingingen, in die Begreiflichkeit, als in Tod . . ." Was Adam verwirk­ lichte, ist seitdem auch je und je durch die Menschen verwirklicht: sie fielen aus der metaphysischen Bindung ins Äußere, in die Materie, ihr Leben er­ füllte sich in einem vordergründigen Sein auf zweifelhafte Weise. Hier, im Äußeren, im ungöttlichen und widergöttlichen Prinzip zog sich die Existenz all die Übel zu, wurde sie gleichsam infiziert von den Krankheiten, welche wir zuvor als Tod, Bedrohung, Unruhe, Streitsucht charakterisierten. Damit steht aber die Existenz in einer unablässigen Gefahr, in der Gefahr nämlich, ein Opfer des anderen, hintergründigen Prinzips zu werden, von dem ergriffen zu sein Aufstand gegen Gott bedeutet. Diese Gefahr, in welche das Leben gestellt ist, wird von Böhme zuweilen im Bilde der Herberge verdeutlicht: „In was gefährlicher Herberge wir ... in Fleisch und Blut, im Reich der Sterne und Elemente, im Gegensatz des Teufels gefangen liegen und auf was gefährlichen Wegen wir von Teufel in Lüsten des Fleisches und Blutes pflegen zu wandeln ... ist nicht genug zu reden oder zu schreiben". So kann es denn heißen: „Unser Leben ist ein steter Krieg mit dem Teufel." Erliegt der Mensch in diesem Kampfe, verfällt er dem widergöttlichen Prinzip, so ist sein Dasein hinfort durch die besagten Ne­ gationen gezeichnet, als tödlich, zerrissen, qualvoll, für die Dauer der irdi­ schen Existenz im Streite liegend. Die Metaphysik des Himmels wird ab­ gelöst durch die Metaphysik des Bauches, des Gutes und der „Stellung", kurz gesagt, durch die Metaphysik des Ich, die Verabsolutierung des Ego. In einer großartigen mythologischen Schau wird das Gemeinte folgender­ maßen zusammengefaßt: „Wir stehen allhier in diesem Leben alle in einem Acker und wachsen, und die Sterne und Elemente sind der Acker, darinnen wir wachsen: Gott hat uns hineingesät, Adam ist das erste Korn, das Gott selber säte, und aus demselben Korn wachsen wir alle: wir sind alle eines Samens, wir sind allesamt leibliche Brüder und Schwestern. Aber der Teufel hat Unkraut zwischen und unter uns gesät: nicht hat er Menschen gesät, denn das kann er in Ewigkeit nicht tun, sondern er hat uns geblendet, und hat Hoffart, Neid, Zorn, Geiz und bösen Willen in unser Gemüt gesät, damit er uns verderbe. Denn er gönnet uns der Ehren nicht, daß wir Gottes Kinder sind an seiner Statt, da er war: er ist durch Zorn, Hoffart und Neid von Gott gefallen, und hat sich abgewandt von Gott; darum will er uns verführen, daß nur sein Reich groß werde." —

Der Mensch als Mitte von Himmel und Hölle: was folgt daraus? Es folgt daraus die Notwendigkeit, sich zu entscheiden. Der Begriff der Ent­ scheidung impliziert die Tatsächlichkeit des freien Willens. In der schwierigen und durch die ganze christliche Überlieferung hindurch ewig problematischen

Frage, ob der Mensch über einen freien Willen verfüge, stellt Böhme sich zunächst einmal eindeutig auf den Standpunkt des freien Willens. Und doch ist es wiederum nicht so, daß das Gegenteil, der unfreie Wille, radikal aus­ geschlossen würde. Es gibt auch Aussagen, welche eine so weitgehende Passivität des Menschen Gott und dem Teufel gegenüber enthalten, daß die Willensfreiheit zur Farce wird. Auf das Ganze des Böhmefchen Denkens gesehen, steht jedoch der Gedanke des freien Willens durchaus im Vorder­ grund. Will man die Willensfreiheit biblisch begründen, so kann man, mit Böhme, ausgehen von einem Worte Christi: Christus spricht dort von zwei Söhnen, denen der Vater Befehle erteilt; der eine handelt darnach, der andere nicht. Das ist eine der Grundstellen der Schrift, welche für den freien Willen plädieren, und demgemäß kann es denn auch nicht verwundern, wenn Luther mit seinem Determinismus, seinem Satze vom servo arbitrio, rundweg abgelehnt wird. Die Polemik gegen Luther ist unüberhörbar, so wenn es heißt: „Warum wollt ihr dem Menschen den freien Willen Gottes absagen? Ist doch seine Seele aus der höchsten Allmacht Gottes geschaffen . . ." Als letztes Requisit des göttlichen Ursprungs und der gött­ lichen Ebenbildlichkeit birgt der Mensch den freien Willen, der ihn über die Notwendigkeiten triumphieren läßt und die Möglichkeit gibt, bewußt das Böse oder Gute zu wollen. Darum ist der Mensch — ein Fundamentalsatz Böhmes — das, was er aus sich macht. In ihm liegen unendliche Möglich­ keiten des Guten und des Bösen beschlossen, er ist es, der sowohl die Nach­ barschaft Gottes wie die Nachbarschaft des Teufels sucht. Ja, kraß aus­ gedrückt: der Mensch kann sowohl in das Bild Gottes wie in die Larve des Teufels eingehen, nur auf Grund seines freien Willens. „Darum sehe ein jeder zu, was er tut! Es ist ein jeder Mensch sein eigener Gott und sein eigener Teufel." Oder an anderer Stelle: „Denn ein jeder Mensch ist frei und ist wie sein eigener Gott, er mag sich in diesem Leben in Zorn oder in Licht verwandeln, was einer für ein Kleid anzieht, das verkläret ihn." Der Mensch ist das Pendel, das sowohl zum himmlischen als zum höllischen Extrem ausschwingen kann. „Wer selber nicht will, wer will dem helfen? . . . Man lasse doch den freien Willen hinlaufen, so kommt er in sein Vater­ land, daraus ist er gegangen. Warum leihet der Mensch sein Herz dem Teufel, daß er ihm bösen Willen einführet? Ein guter Baum bringt gute Früchte." Der Mensch braucht seinen freien Willen nur in die göttliche Gerechtigkeit 7 Baden: Relig. Problem

98 zu werfen, so faßt der Geist Gottes diesen Willen, saugt ihn gleichsam in sich hinein und bestimmt ihn fortan gänzlich. In dem Augenblicke jedoch, wo der Mensch seinen Geist sinken läßt im Hange des Bösen, der Triebe und Begierden, da infizieren ihn „der Teufel und der höllische Saft". Weil der Mensch Gottes Kind und aus dem „besten Kern der Natur" geschaffen ist, darum hat er grundsätzlich die Möglichkeit, in diesem antidämonischen Kampfe zu siegen und das Böse durch das Gute zu überwinden. Freilich ist dieser Sieg kein glatter, klarer, sondern gekennzeichnet durch totale Er­ schütterungen, die vorausgehen; die Stellung zwischen Gott und dem Teufel und die zwingende Notwendigkeit, sich zu entscheiden, sind es ja, welche die Dynamik der Existenz ausmachen. Dazu kommt das Unheimliche, daß das Handeln des Menschen sehr oft zwie-spältig ist, er tut nicht, was er gern möchte, sondern er tut, was in der Tiefe, in der Sphäre des Unbewußt­ seins ihm anbefohlen wird, dort wo der „Wille im Abgrunde" sich regt. „Jeder wandelt aus seinem Abgrunde . . .", sagt Böhme einmal, das heißt er lebt, handelt, entscheidet weniger aus der Bewußtheit heraus als aus der irrationalen Tiefe des Wesens. Hier, nicht im Rationalen, fallen die eigent­ lichen Entscheidungen der menschlichen Existenz. So kommt es zuweilen zu dem paradoxen Tatbestand, daß der Mensch sich in seinen Handlungen selbst nicht kennt, daß er tut, was er richtet. Darum ist es gerade dieser irrationale Wille, welcher Gott anheimgestellt werden muß; nur dann, wenn die eigentliche Tiefe der Existenz sich dem Geiste Gottes überantwortet, kommt es zu eindeutig guten Entscheidungen. So bleibt also dies Doppelte. Entweder der Mensch überantwortet sich auf Grund seines Willens dem Gotte, ein Vorgang, in welchem der Mensch seinsmäßig ergriffen und transsiguriert wird. Diese göttliche Hingabe be­ wirkt es, daß das Gottesbild im Menschen wieder aufgefrischt wird, in seiner urbildlichen Klarheit erstrahlt; die reine Ebenbildlichkeit aber wirkt dämonenscheuchend, sie ist das Zeichen, in dem der Mensch über den Wider­ sacher triumphiert. „Die Bildnis Gottes im Menschen ist so mächtig und kräftig, daß, wenn sie sich ganz in Gottes Willen wirst, sie die Natur bändiget, daß ihr das Gestirne gehorsam ist . . ." Umgekehrt: ergibt sich der Mensch dem höllischen Prinzip, so entzündet er gleichsam die Elemente, die in ihm schlummern, das heißt, er entfacht seine elementaren Kräfte zur stärksten Aktivität; was potenziell in ihm ruht, das bricht nun aus und macht die gesamte Existenz zum Werkzeug des Bösen. Wir bezeichneten die Übergabe des Menschen an die heiligen oder hölli­ schen Kräfte als Transsiguration, Überbildung, Verwandlung in andere

Gestalt. Diese Bezeichnung hat einen tieferen Sinn. Wenn der Mensch den Anschluß nach oben oder unten sucht, wird er Träger eines Bildes, einer

bestimmten Gestalt. Wie man nach einem Guß die Form zerschlagen muß, um zum Kern, zum Bilde zu gelangen, das in der Form ruht, so geht es auch beim Menschen: die menschliche Form muß zerschlagen werden, damit das geheimnisvolle Bild aufleuchtet, in dem die Existenz metaphysisch begriffen werden kann. Dieses Bild ist entweder das Gottesbild, das durch alle mensch­ lichen Verhüllungen hindurchzuleuchten beginnt, wenn das Dasein vom Geiste ergriffen wird. Oder — es ist das Bild von Tieren. „Darum ists, daß mancherlei Figuren in der Seele Bildnis, im Inneren erscheinen, alles nachdem ihre Begierde zu einem Wesen ist, als wilder Tiere Bildnis, auch Schlangen und Kröten." Was bedeutet das? Es ist kein Zufall, daß hier von Böhme gerade die Gestalten wilder Tiere, die Bilder von Kröte und Schlange zitiert werden, in welche der Mensch transsiguriert wird. Gerade diese Tiere sind Symbole der bloßen Vitalität, der rohen ungeistigen Kräfte — so die Raubtiere; oder Symbole der Falschheit, Lüge, Widergöttlichkeit, des Giftes — so Kröten und Schlangen. Eben die in dieser Symbolik begriffenen Kräfte und Mächte sind es, welche dem Menschen das Siegel aufdrücken, und zwar in dem Augenblick, da die Gottebenbildlichkeit erlischt. Hier liegt auch der Grund für die Tatsache, daß wir Menschen, wenn sie un-menschlich werden, sich un-menschlich aufführen, mit Tiernamen belegen: was uns selbst nur noch abgegriffenes Scheltwort erscheint, ist doch in Wirk­ lichkeit Zeichen dafür, daß sich der Mensch entmenscht und in die Sphäre des Tiers begeben hat. So bildet die tierische Transsiguration den Gegen­ pol zur Gottebenbildlichkeit. — Noch einmal zusammengefaßt: Wir stehen allhier zwischen Himmel und Hölle in einem Acker; entweder es wachset ein Engel oder ein Teufel aus uns; wer nun das Himmelreich liebet und wer gern ein Engel sein wollte, der mag wohl Acht auf sich haben: Es ist bald um einen Menschen geschehen; du hast freien Willen, wo du hingehst, da bist du; was du aussäest, das erntest du ein, das laß dir gesagt sein." Der freie Wille ist es also, der das göttliche Licht verlöscht, der freie Wille steht auf schwindelndem Grat zwischen Himmel und Hölle, in seiner Hand liegt das zeitliche und ewige Schicksal der Existenz, llnd doch sinden sich nun auch, die Allmacht des freien Willens angehend, gewisse Einschränkungen bei Böhme, die nicht zu übersehen sind. Genau genommen ist die Entscheidung nicht eine radikal menschliche, will sagen allein im freien Willen begründet, sondern Gott und Mensch wirken zusammen. Damit ist nicht der berüchtigte Synergismus gemeint, jenes Zusammenwirken von Gott und Mensch, das die Gnade entmächtigt; der Mensch leitet vielmehr eine Bewegung ein, die er nie zu Ende führen könnte, wenn Gott nicht einspränge. Was von der gött­ lichen Erkenntnis gilt: man erkennt, indem man erkannt wird, das gilt auch 7*

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von der religiösen Entscheidung: man wählt, indem man erwählt wird. Gott wählen, das heißt von Gott ergriffen sein; das Böse wählen, heißt vom Teufel überwältigt sein. So erhält die Auffassung vom freien Willen doch eine bemerkenswerte Einschränkung: die Initiative liegt durchaus nicht allein beim Menschen, sondern durch seine Willensrichtung setzt er eine Kraft in Bewegung, die ihn von außen ergreift. „Die Möglichkeit ist in allen Menschen, aber in Gottes Erbarmen; nicht daß er einen nicht wollte, der zu ihm käme: er will immer gern. Allein es liegt nicht am menschlichen Wahn, Laufen oder Eigen-Machen: kein Mensch kann sich selber zum Kind Gottes machen, er muß sich ganz in Gottes Gehorsam einwerfen, so macht ihn Gott zum Kinde." Der Gehorsam, zum Guten oder zum Bösen, ist demnach Eigenleistung des Menschen; die Annahme zum „Kinde", die Adoption, sei es durch Gott oder den Teufel, liegt nicht mehr in des Menschen Händen.

VIII. Das Böse Wie sich das Anrücken eines Gewitters durch fernes Grollen, durch schweflige Blitzstreifen über den Horizonten ankündigt, so hat sich uns, zumal in unseren letzten Untersuchungen über den Menschen, immer unheim­ licher ein Faktum angekündigt, dem wir nunmehr nicht gut aus dem Wege gehen können. Es ist das Faktum des Bösen. Die Mängel der Existenz, von vielen Seiten her sichtbar geworden: in der Tatsache des Todes, der Scheinlebendigkeit, des Widerspruchs und der ewigen Täuschungen, — was sind diese Mängel anders als die Blumen des Bösen, die aus einer letztlich gemeinsamen Wurzel erblühen. Die verspielte, vertane Gottebenbildlichkeit, das Aufkeimen dunkler tierischer Bilder im Grunde der Seele: weist es nicht unüberhörbar hin auf ein Grundgebrechen, welches die Existenz, ja darüber hinaus das Leben des Kosmos bestimmt? Denn nicht nur das menschliche, auch das kosmische Dasein war ja, so sahen wir früher, vom Gesetz des Streites, Widerspruchs bestimmt, auch das kosmische Leben erhielt seine Dynamik erst dadurch, daß sich jedes seiner Glieder gegen das andere wandte, daß ein niemals aufzuhebender Kampf durch die ganze Hierarchie der Natur­ reiche raste. Das Böse wird, und das ist entscheidend, von Böhme nicht dogmatisch festgelegt, sondern es wird sozusagen aus dem Leben, aus dem Weltgeschehen destilliert. Die Analyse der menschlichen Existenz mit ihren Widersprüchen, die Betrachtung des kosmischen Lebens mit seinen Antinomien und unauf­ hebbaren Dunkelheiten, dies beides drängt uns das Datum des Bösen auch dann geradezu auf, wenn wir an sich durchaus nicht geneigt wären, es wahrzuhaben. Diese Tatsache scheint mir von grundlegender Bedeutung. Sie erhellt, daß jede wirklich unbefangene Betrachtung des Geschehens zum Sein des Bösen vorstößt, und daß umgekehrt jede Betrachtung, welche das Böse aus der Welt eliminiert, befangen —: daß sie Fiktion ist. Überall dort, wo das Böse geleugnet wird, lebt man in einer fiktiven Welt, und jeder „Glaube", der sich auf diesem Grunde erbaut, schafft eine opportunistische Karikatur der eigentlichen Weltlage. Der Wille, das Böse nicht sehen zu wollen oder es moralistisch zu verflüchtigen in eine Summe ungesetzlicher Handlungen, dieser Wille ist ebenso verständlich wie gefährlich: das Leben baut sich aus einem vulkanischen Grunde an, ohne davon etwas wissen zu wollen. Es ist eine vielumstrittene Frage, ob das Wissen um das Böse lähme, — das Wissen um jene Bosheit, welche, ontologischer Natur, das Menschen-

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wesen bis an die Wurzeln ergriffen hat; ich glaube, daß es nicht lähmt, sondern daß es dem Handeln in der Welt erst die eigentliche Berechtigung verleiht, wenn alle Faktoren, auch die gefährlichen, explosiven mit ein­ begriffen find. Ein Handeln, welches um die Realität des Bösen nicht weiß, und diese infolgedessen nicht einschließt, bleibt Abenteuer; ein Handeln, welches diese Realität berücksichtigt, verdient allein die Bezeichnung sach­ lich. Sachliches Da-sein, sachliches Handeln werden die hintergründige Tragik, welche durch alle existentiellen Gegebenheiten hindurchleuchtet, nicht einen Augenblick ausschließen können. Man hat neuerdings versucht, der Problematik des Bösen dadurch die Spitze abzubrechen, daß man sie rassisch bedingt sieht; es ist das ein letzter, wissenschaftlich verbrämter Versuch, dieser Problematik auszuweichen. Allein die Gestalt Böhmes muß alle diese Theorien widerlegen, die darauf hinauslaufen, daß der sogenannte Arier um die existentktzlle Bedeutung des Bösen nicht wisse, während es den vorderasiatisch-semitischen Rassen Vor­ behalten blieb, den Pfuhl des Bösen aufzurühren und jene Chimäre ans Tageslicht, will sagen ins Bewußtsein der Völker zu bringen, die sich Erb­ sünde nennt. Wollte man indessen behaupten, Böhme, der so inständig um das Mysterium des Bösen kreist, sei in diesem Punkt von einer „fremden" Weltanschauung infiziert, so wäre das eine Behauptung, die zu widerlegen man sich gar nicht erst bemühen sollte. Sie zählt zu den Behauptungen, die sich aus durchsichtigen Gründen selbst richten. Wir stoßen im Geheimnis des Bösen vielmehr auf ein Grundelement des Daseins, das auf rassischem Wege nicht mehr zu erklären ist, und gerade der deutsche Geist ist diesem Geheimnis in wesentlichen Vertretern immer wieder nachgegangen. e

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Die große ungelöste Frage des Christentums bildet die Frage nach dem Ursprung des Bösen. Es ist schwer, vom Bösen zu sprechen, die Realität des Bösen zu vertreten, ohne zugleich zum Ankläger Gottes werden zu müssen. Widerspricht die Existenz des Bösen nicht der Allmacht Gottes? Bedeutet die Existenz des Bösen nicht den Vorwurf für Gott, bewußt eine unvoll­ kommene Welt geschaffen zu haben? Bedeutet endlich das Vorhandensein des sündigen, des „gefallenen" Menschen nicht eine geradezu unheimliche Widerlegung des Glaubenssatzes von der Vatergüte Gottes? Wäre es nicht besser, der Mensch wurde überhaupt nicht geschaffen, als daß er in dieser wahrhaft dämonischen Fehlbarkeit, Unvollkommenheit, Korruption geschaffen wurde? Jedenfalls ist es unmöglich, die Allmacht, Allwissenheit, Liebe, Barmherzigkeit Gottes mit der zerstörten Schöpfung, insbesondere mit der fragwürdigen Humanitas, in einer logischen Klammer zusammen-

io3 zuschließen. Das Dasein der Welt, wie sie ist, das Dasein des Menschen, wie es ist, bedeutet permanente Anklage gegen Gott. Diesen ewig logischen Konflikt hat nun Böhme auf eine Weise zu über­ brücken versucht, welcher noch heute unsere Bewunderung für sich hat, wenngleich wir uns seine Lösung nicht mehr zu eigen machen können. Da die Absolutheit Gottes schlechthin gefährdet wäre, wenn das Böse außerhalb seiner läge, außerhalb seiner entstände, so muß das Böse also im Gottes­ begriff als negativer Posten mit untergebracht werden. Freilich: Gott als der Ungrund liegt jenseits von Gut und Böse; die Stille, Indifferenz des Ungrundes ist noch nicht zerrissen vom Streite. Aber dann, im Laufe des Offenbarungsprozesses, spalten sich in Gott Liebe und Zorn voneinander. Böhme statuiert also einen theogonischen Prozeß, die Gottheit selbst unter­ liegt der Entwicklung. Es läßt sich eine Geschichte der Evolution Gottes schreiben, und der Augenblick, wo Gut und Böse, Liebe und Zorn sich in Gott scheiden, ist Moment dieser Evolution. Schon der Gedanke einer Entwicklung in Gott ist uns, angesichts unseres Unwissens, verschlossen. Der menschliche Geist ist nicht imstande, eine Ent­ wicklung innerhalb der Transzendenz, des transzendenten Bereichs, festzu­ stellen, — selbst gesetzt den Fall, eine derartige Entwicklung sei möglich. Schon der Fortschritt, den Böhme postulierte vom Ungrund zum prosilierten Gottesbild der Trinität, der Fortschritt von der bestimmungslosen Gott­ heit zum bestimmten Gotte, — schon dieser Fortschritt war eine spekulative Eigenmächtigkeit unseres Autors, von der Überlieferung nirgends geheißen

und auch angesichts der Desinition vom fernen, „nichtigen" Gott ein Ab­ surdum. Das Gleiche gilt von der Aufspaltung Gottes in Gut und Böse, Liebe und Zorn. Aber zurück zu Böhme: im Böhmeschen Gottesbegriffe sind also Liebe und Zorn potenziell enthalten. Gott haßt und liebt in einem: „ist sein Zorn allmächtig zum Verderben, so ist seine Liebe auch allmächtig zum Erhalten". An anderer Stelle: „Gottes Liebe ist so groß als sein Zorn, sein Feuer ist so groß als sein Licht, ... es ist alles gleich ewig, ohne Anfang." Es kommt bis zu der Paradoxie, daß Gott auch im Teufel stecke, in den Tiefen der Hölle: „Ist doch der Abgrund und Hölle auch Gottes." Diese wenigen Belege genügen, um einen Begriff von der maßlosen inneren Spannung dieses Gottesgedankens zu geben, in dem sich Hölle und Himmel, Licht und Finster­ nis berühren, ja verschmelzen. Ist das Böse, als Ausfluß von Gottes Zorn, selbstgewollt und geradezu provoziert, so besteht jedenfalls kein Anlaß mehr, an der Allmacht Gottes zu zweifeln. Die Fäden des guten wie des bösen Ge­ schehens laufen in Gottes Händen wieder zusammen. Dafür wird aber nun die Allmacht Gottes von einer anderen Seite her gefährdet: faktisch

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ist die Einheit doch eine Zweiheit, wenn sowohl Gottes Liebe wie Gottes Zorn sich schöpferisch betätigen. So wird in die Transzendenz ein Dualismus hineingetragen, eine ewige Zwie-fpältigkeit, — übrigens von Böhme selbst als Gefahr erkannt und ausgesprochen: „So denn Gott das Böse wollte und auch das Gute, so müßte er mit ihm selber uneins sein und würde folgen, daß eine Zerstörung in der Gottheit sei, daß eins wider das ander laufe und eines das ander verderbe." Es würde also darauf hinauskommen, daß Gott zwei Allmächten besitzt, die sich in dem was sie bewirken widersprechen, ja geradezu ausschließen. Dieser Riß in der Gottheit ist nicht heilbar. Trotzdem ist die Hereinnahme des Bösen als „Gottes Zorn" in den Gottesbegriff für Böhme die einzige Möglichkeit, um den äußeren Dualis­ mus, der ans Manichäertum grenzt, zu überwinden, freilich um den Preis, daß dieser Dualismus nun von außen nach innen, ins innere Leben der Gott­ heit, projiziert wird. Um die Spaltung innerhalb der Allmacht, die er oben selbst andeutet, zu verhindern, entwickelt Böhme sehr eigenartige Gedanken. Gottes Wille ist niemals vorsätzlich böse, das Böse kann nicht direkt, nur indirekt auf Gott zurückgeführt werden. „Meinst du, es fei Gottes vorsätz­ licher Wille gewesen? So müßte Gott in sich einen Teufels-Willen haben und auch ein englischen; das wäre ganz wider die Schrift der Heiligen, auch wider Gottes Liebe und wider das Licht der ewigen Natur." Daraus folgt: „Gott, soviel er Gott heißet, kann nichts Böses wollen." Gott schleppt sich nicht mit dem Grimm herum, Teufel und Finsternis sind in seiner Liebe nicht offenbar; „so nennet sich nun Gott einen Gott nach der Liebe und Sanft­ mut . . ." „Nach dem ersten Prinripio ist Gott alle Bosheit von Ewigkeit bewußt; aber man heißets nicht Gott, sondern Gottes Zorn." Wir häufen die Belege, um zu zeigen, wie hier doch ein letztliches Absurdum behauptet wird. Gott weiß zwar das Böse, er hindert es nicht, er ist sogar schöpferisch am Bösen beteiligt, aber doch ist es nicht Gott, sondern Gottes Zorn, was sich hier auswirkt. Gott, sofern er Gott heißt, ist lauterer Liebesspiegel. „Gott ist alles, aber das Licht heißet allein Gott." Hier ist der Gottes­ gedanke in aller Deutlichkeit zerbrochen, zwei Allmächten, „Allmächte" rivalisieren miteinander. Man kann nicht das schöpferisch Gute und das schöpferisch Böse gleichermaßen in Gott gründen. s

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Die einheitliche Duelle alles Guten und Bösen in der Welt ist Gott. Diese Einheit, Einheitlichkeit des Ursprungs zu wahren, war das entschei­ dende Anliegen Böhmes. Ich habe den Eindruck, daß diese Zwiespältigkeit des Gottesgedankens erst eine nachträgliche Setzung Böhmes ist: er hat den Dualismus, den er in der Natur, im gesamten Geschehen vorfand.

io5 in die Gottheit reprojiziert. Die Schöpfung ist ja immer Spiegelung des Schöpfers: trägt der Schöpfer potenziell Liebe und Zorn in sich, so müssen sich in der Schöpfung diese Potenzen ausschütten, müssen eingehen in das Gegenständlich-Sichtbare. Was ist die Schöpfung mit ihren zerreißenden Dualismen, Widersprüchen, mit ihrer ewigen Dynamik anders als eine Manifestation der innergöttlichen Spannung? Wenden wir uns jedoch diesem Zweiten zu: dem Dualismus des Lebens. Das ganze Territorium des Universums wird durch die unheimliche Kluft von Gut und Böse aufgespalten. Wir sind gewohnt, das Problem von Gut und Böse für ein sittliches Problem zu halten, das allein für den Menschen Gültigkeit besitzt; bei Böhme wird diese Schranke des Sittlichkeitsproblems grundsätzlich durchstoßen. Nicht nur die Menschen, sondern der ganze Um­ kreis des Seins, des organischen sowie des anorganischen, ist von der Proble­ matik des Gut und Böse infiziert. In immer neuen Varianten findet dieser Tatbestand bei Böhme seinen Ausdruck. Es gibt in der Natur zwei „Spezies", zwei Dualitäten: die des „Heilsamen" wie die des „Grimmigen"; sie durch­ ziehen unsichtbar-sichtbar den ganzen Umkreis des Lebens. Anders aus­ gedrückt: es sind die beiden Affekte der Liebe und des Zornes, uns aus den innergöttlichen Bereichen bekannt, die sich in der Schöpfung auswirken, in sie einsiießen; jede Kreatur trägt dies dualistische Siegel. „In dieser Welt aber ist Liebe und Zorn ineinander in allen Kreaturen." Daß schlechterdings kein Sein, auch nicht das allergeringste, dieser Zwiespältigkeit entnommen ist, kommt an zahlreichen Stellen zum Ausdruck, so etwa, wenn es heißt: „Es ist in allen Kreaturen in dieser Welt ein guter und böser Wille und Duell, in Menschen, Tieren, Vögeln, Fischen, sowohl auch in allem dem, was da ist, in Gold, in Silber, Zinn, Kupfer, Eisen, Stahl, Holz, Kraut, Laub und Gras, sowohl in der Erde, in Steinen, im Wasser, und in Allem, was man erforschen kann." Das Fundament der Natur bilden „zwei Qualitäten, eine gute und eine böse, die in dieser Welt in allen Kräften, in Sternen und Elementen, sowohl in allen Kreaturen ineinander sind". Der Dualismus bedeutet nun freilich kein statisches Nebeneinander, sondern durch diese Zwiespältigkeit, Zwiegesichtigkeit des Seins entsteht die eigentliche Bewegung und Dynamik des Lebens. Die Liebe sowohl wie der Zorn „verzehren": die Liebe verzehrt, indem sie verklärt und spiritualisiert, der Zorn verbrennt in seiner dämonischen Flamme zu Staub und Asche. So wird das ganze Feld des Seienden auf ewig durchzittert von Lust und Schmerz, Qual und Ekstase, Anziehung und Abneigung: „die treibenden Qualitäten bringen Lust in alle Kreaturen zum Bösen und zum Guten, daß sich alles untereinander begehret, vermischet, zunimmt, abnimmt, schön wird, verdirbt, liebet, feindet". Die einzigen Geschöpfe — soweit sie noch mit Fug als Geschöpfe

io6 bezeichnet werden können —, die sich nicht mischen, sondern sozusagen chemisch rein in der ihnen besonderen Qualität leben, sind Engel und Teufel. Es wurde schon von uns bemerkt: wir sind gewohnt, das Problem von Gut und Böse als ein sittliches, das heißt als ein spezifisch menschliches, anthropozentrisches behandelt zu sehen. Diese Gewohnheit tritt bei Böhme außer Kraft. Nicht nur das menschliche Tun ist zwiespältiges Tun, nicht nur das Sein des Menschen ist zwiespältiges Sein, sondern darüber hinaus geht der Sprung durch den ganzen Kristall des Universums. Zu dieser Kon­ sequenz mußte Böhme schon aus dem Grunde kommen, weil er das Sein des Menschen nicht als einsames, isoliertes Sein im Gefüge der Welt sichtet, sondern weil ihm Mensch und Kreatur auf Grund der makro-mikrokosmischen Spiegelung unlösbar verbunden sind. Wieder berühren wir damit jene verhängnisvolle, spezisisch abendländische Entwicklung, welche in der Entfremdung von Natur und Welt: in der kosmischen Emanzipation des Menschen gipfelt. Diese Emanzipation bedeutete zugleich die religiöse Lösung des Menschen aus seiner Umgebung, und die Erstellung einer be­ sonderen „Moral", „Sittlichkeit", einer allein für den Menschen gültigen Ethik. Das was wir heute als Moral bezeichnen, ist eine Übung, welche jede metaphysische, religiöse Begründung verloren hat, sondern sich als abstrakter Psiichtenkanon präsentiert. Leopold Ziegler hat einmal darauf aufmerksam gemacht, wie sich gerade in diesem Punkte westliches und öst­ liches Denken grundlegend scheiden: „Der Orient hat im Unterschied zum Okzident niemals die Moral so todernst genommen, weil er sie niemals aus ihrer religiösen Mutterhülle gelöst und damit auch tatsächlich profaniert, will heißen, aus dem Heiligtum oder fanum ausgeklammert hat" („Über­

lieferung"). Die Tendenz des östlichen Denkens zielt zurück auf ein uni­ versalistisches Ethos, auf eine kosmisch fundierte Ethik. Kein Zufall, daß einer der letzten großen Vertreter östlicher Philosophie auf abendländischem Boden, Nicolai Berdiajew, in diesem gesamten Fragenkreis auf Jakob Böhme zurückgreift. Der Mensch ist also mit der gesamten Kreatur im Guten wie im Bösen verbunden. Nicht nur das Menschsein wird als problematisch, als wider­ spruchsvoll und zerrissen erkannt, sondern diese Zerrissenheit greift über auf das All. Die Möglichkeit, Träger des Guten wie des Bösen, und damit, in gewissem Sinne, Offenbarer Gottes wie des Teufels zu fein, ist auch der Kreatur eigen. Wir erinnern an dieser Stelle wieder, was zuvor über die Ambivalenz der Erscheinungen gesagt wurde, über die rätselvolle Zwiegesichtigkeit, Bipolarität jedes Seinsausschnittes: hier besteht eine unmittel­ bare Beziehung. So gibt es etwa bestimmte Psianzen, die positiv oder negativ ausgezeichnet sind; wir geben das dadurch zu erkennen, daß wir von

Joy einem besonderen Charakter der Pflanze sprechen. Wir implizieren einer Pflanze diesen Charakter nicht rein gefühlsmäßig, will sagen unverbindlich, sondern wir haben den Eindruck, daß die Pflanze selbst für diese Wertung eine objektive Grundlage bereithält. Ich erinnere nur an den Kontrast von Lilie und Mohn, an die positive Wertung der Rose etwa im Unterschied zu allen Arten Nachtschattengewächsen. Die Nachtschattengewächse sind ganz zweifellos dämonischer Natur, und ebenso bestimmte Tiere, die in der religiösen Symbolik ständig wiederkehren. So unterscheidet Böhme „Wölfe und Schafe, Schlangen und gute Fische, giftige Kröten und liebliche Tiere". Die ethische Bestimmtheit von Wolf und Schaf ist ohne weiteres ein­ leuchtend; nicht ohne Grund wird uns die Gestalt Christi im Zeichen des Lammes vorgestellt: Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt —; auf der anderen Seite gebraucht Jesus selbst den Unterschied von Wolf und Schaf als Gleichnisstoff. Bedeutsam ist auch die Rolle, welche die Schlange in der religiösen Symbolik spielt, so in der Paradieses­ geschichte, oder in jener eigentümlichen Gleichniswendung Jesu, wo sie zu­ sammen mit dem Skorpion erscheint. Der Kontrast, in welchem Schlange und Fisch stehen, ist ebenfalls berechtigt; der „gute" Fisch erscheint in der altchristlichen Zeichensprache als Christuschiffre. Die Buchstaben der grie­ chischen Bezeichnung für Fisch (Ix&vq) sind zugleich die Anfangsbuchstaben des fundamentalen Heilssatzes der Christenheit: Jesus Christus, Gott, unser Heiland. Endlich charakterisiert der Fisch in der Urchristenheit auch das Taufgeschehen: wie der Fisch in der Flut lebt, so lebt der Christ im Wasser der Taufe, das heißt im Medium des durch die Taufe gewirkten Heils. — Also noch einmal: die Frage nach Gut und Böse ist bei Böhme keine sittliche, sondern eine kosmische, eine metaphysische Frage. Die Größen Gut und Böse fallen hier nicht einer abstrakten Ethik zum Opfer, sondern deutlich wird gesagt: es handelt sich um Mächte, um Potenzen, um einen metaphysischen Dualismus, der das ganze Weltgefüge durchgreift. Wenn also der professionelle theologische Moralismus versucht, Böhme zum Sittlichkeitsapostel zu stempeln („In Böhmes Betrachtungsweise trat eine Philosophie auf, die wiederum ganz streng auf das Sittliche eingestellt war . . .": Karl Holl), so muß ein derartiger Versuch strikte abgelehnt werden. Weder Böhme noch Luther kreisten in diesem. Sinne ausschließlich um das Sittlichkeitsproblem, sie waren im Grunde ihres Wesens Meta­ physiker; erst einem späteren Geschlecht, dem sich jegliche Religion in Moral verkehrte, blieb es vorbehalten, den eigenen Moralismus in die Gestalten der religiösen Vergangenheit zu reprojizieren. „Streng auf das Sittliche eingestellt": eben das bedeutet ja die rein gesetzliche Haltung zum Guten und Bösen: man mag das Gute oder Böse wählen, wie man in der Auslage

io8 eines Obstladens wählt . . . Aber mit dieser loyalen Einstellung zum GutBösen wird dort aufgeräumt, wo man um den religiösen Charakter dieser Begriffe, oder richtiger: Potenzen, weiß. Der Mensch, der in der sogenannten sittlichen Entscheidung steht, ist ethisch nicht etwa neutral; sondern mit seinem Eintritt in die Welt wird er in ein Kräftefeld geschleudert, das von der antipodischen Spannung des Gut-Böse durchzittert ist. Der Mensch, wo immer er sich bewegt, bewegt sich auf vulkanischem Gelände; da ist nicht lange Zeit zu sittlichen Entscheidungen, zur Erörterung von Pflichten und Verboten, sondern bevor er sich entschieden hat, ist er schon das Opfer der Kräfte geworden, die ihn umwerben. Gerade hier, für das Gebiet vermeint­ licher Ethik, trifft zu: man erwählt, wovon man erwählt ist, man wird das Opfer dessen, dem man sich ergab, sei es dem Gotte zum Leben, sei es der Hölle zum Sturz in den Abgrund. 0

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Es gibt Kreaturen, die geeigneter, und solche, die weniger geeignet sind, Werkzeuge des Bösen zu sein. Die geeignetste Kreatur ist zweifellos der Mensch. So erreicht denn auch beim Menschen die Problematik des Bösen ein Ausmaß wie bei keiner anderen Kreatur. Der Mensch ist das hervor­ ragendste Medium des Bösen in der Welt. Sehr oft erscheint bei ihm auch das Böse unter dem Deckmantel des Guten, das heißt, unter dem Deck­ mantel einer Idee, einer Wohltat, einer täuschenden Geste; besonders häufen sich die Fälle, wo zur Realisation eines an sich guten Zwecks derart infame, ja teuflische Mittel in Bewegung gesetzt werden, daß der Zweck dadurch jede Bedeutung verliert. Man kann niemals mit bösen Mitteln etwas Gutes erreichen, und es ist eine Fehlmeinung, daß der Zweck die Mittel heilige; vielmehr: die Mittel entlarven den Zweck. — Am Anfänge der Menschengeschichte steht der erste Mensch: Adam. Der Mythos von Adam besitzt eine geradezu elementare Bedeutung. Im Mythos von Adam wird das Schicksal des Menschen schlechthin auf­ gerollt; auch unser eigenes Schicksal. Im Adam-Mythos wird das Böse in seiner den Menschen beherrschenden Gewalt gezeigt; die Schicksals­ bedeutung des Bösen repräsentiert Adam stellvertretend für die gesamte Menschheit. Adam- war ursprünglich paradiesischer Mensch, Mensch in absoluter Reinheit der göttlichen Idee; in großartigen Bildern wird dieser Mensch von Böhme umrissen: „Der edle Lapus Philosophorum wäre ihm so leicht als ein Mauerstein zu finden gewesen, da hätte er das äußere Leben mögen mit Golde, Silber und Perlen schmücken, alles zu seiner Freude und zu Gottes Wundertat: er hätte der tierischen Kleidung nicht bedurft, denn er ging nackend mit der Himmels-Tinktur bekleidet; er hatte keine

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solche Glieder, deren er sich jetzt schämet, wie es sein Fall ausweiset." In­ dessen wollen wir uns nicht bei diesem sehnsüchtigen Gemälde vom Paradies­ menschen, deren es bei Böhme zahlreiche gibt, aufhalten; brennender ist die Frage: auf welchem Wege entwich der Mensch dem Paradiese, wie kam er zum Verlust seiner göttlichen Ursprünglichkeit? Der Fall Adams hat sozusagen ein himmlisches Vorspiel: den Fall Lucifers. Das Prinzip, das hier wie drüben zugrunde liegt, ist jedoch das gleiche. Durch diesen Fall wird eine elementare Veränderung der Welt und des Lebens hervorgerufen, von Böhme außerordentlich plastisch angedeutet: „Wenn alle Bäume Schruber wären und alle Äste Schreibfedern und alle Berge Bücher und alle Wasser Dinten, noch könnten sie den Jammer und Elend nicht genugsam beschreiben . . ." Wie hat Adam diese Veränderung im Einzelnen beschworen? Der ursprüngliche, paradiesische Mensch sollte völlig in Gottes Willen ruhen, es sollte zu jener hohen Einung des gött­ lichen und des menschlichen Willens kommen, daß jede Bewegung Gottes mit der des Menschen zusammensiel. Diesen beabsichtigten gott-mensch­ lichen Rhythmus hat der Mensch zerstört. Der Mensch weckte in sich Be­ gierde zum Widergöttlichen, die Begierde erzeugte Widerwillen, Eigen­ willen, und der Eigenwille trat als ein Zweites neben den göttlichen Willen. Eigenwille aber ist schon identisch mit Feindschaft, im Eigenwillen verließ der Mensch die Nachbarschaft Gottes und ward ein atheistisches Wesen. Das Verhältnis des Menschen zu den Elementen wurde verkehrt: war ur­ sprünglich vorgesehen, daß der Mensch bedingungslos über die Elemente herrschen, ihr Herr sein sollte, so trat nun das Entgegengesetzte ein: der Mensch wurde den Elementen versklavt, wurde aus dem göttlichen Rhythmus gerissen und dem niederen elementischen Rhythmus hörig. Außerdem bedeutet das Elementare den Tod; was sich aus den Elementen zusammenfügt, wird wieder in die Elemente eingehen. Die Todlosigkeit, welche dem para­ diesischen Menschen zu eigen war, geht in dem Augenblick verloren, wo er sich mit den Elementen einläßt. „Als er (Adam) aber in die vier Elemente einging, so ging er in Tod, und ward sein Leib als ein Tier, da ward die Erde versiuchet vom Herrn, daß sie nicht mehr paradiesische Früchte trug. Denn Adam ward ausgetrieben in das äußere Prinripium: da mußte er irdische Frucht bringen, und die Wunder des äußeren Princip!! eröffnen, und ward also irdisch." Interessant ist hier auch wieder die Andeutung der Tierheit, die mit dem „Falle" in tiefem Zusammenhänge steht: im Fall nämlich verblaßt das göttliche Bildnis, das der Mensch ursprünglich trug, und erstarkt das tierische. Die Gottebenbildlichkeit, die der paradiesische Mensch stark und strahlend zeigt, gleichsam als sein Wappen, diese Gottebenbildlichkeit „verdunkelt und verfinstert". Ferner: seit dem Fall muß

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der Mensch irdische Frucht bringen, will heißen: wie er, der Mensch selbst, den Elementen verhaftet ist, so auch sein Werk, es wird ihm hinfort nicht mehr gelingen, etwas Ewiges zu schaffen. Der Fall bedeutet die Krise des menschlichen Schöpfertums. Das eigentliche Motiv des adamitifchen Abfalles war also dies: die Seele ging aus der Freiheit Gottes „in die Natur dieser Welt", der Mensch wollte aus seinem eigenen Prinzip leben, nicht mehr aus dem göttlichen Prinzip, kurz gesagt: er wollte sein eigener Herr sein. Der Apfel, die irdische Frucht „aus irdischen Essentien", ist Gleichnis für das Verlangen des Menschen, das sich hinfort auf das irdisch Essentielle und Elementare richtet, auf „irdische Frucht"; wer irdische Frucht genießt, kann auch nur irdische Frucht wirken. Auch der Schlaf, der Adam nach dem mythischen Bericht überkam, hat gleichnishafte Bedeutung: „Sobald Adam vom Geist dieser Welt überwunden ward, so siel er in Schlaf, als in die äußere Magia, welche den Tod andeutet." Der Schlaf also bedeutet den Tod, mit dem Schlaf fällt Adam aus dem Reich der Grenzenlosigkeit in das „äußere Reich", das Anfang und Ende hat; es ist sein Schicksal, da er sich dem „Geist dieser Welt" ergibt, „ins Nichts geschlossen" zu werden, Anfang und Ende zu haben. Der Fluch Gottes über den ersten Menschen versinnbildlicht den Abschluß, das desinitive Ende der paradiesischen Seinsweife; „Gott ver­ fluchte die Erde: das ist anders nichts, als er entwich mit dem Paradies vom Menschen". — In Adam spiegelt sich die menschliche Existenzialität schlechthin, er ist das llrbild des Menschen. In ihm ist die gesamte Menschheit kollektiv zu­ sammengefaßt. Wir erleiden, verkürzt und miniaturhaft, alle das gleiche adamitische Schicksal. Adam hat der Möglichkeit des Bösen im mensch­ lichen Sein zur Wirklichkeit verholfen, zu jener Wirklichkeit, die dann für das Sein bestimmend wurde. Denn welches ist nun, nach dem Falle, der Zustand des Menschen? Lassen wir Böhme selbst schildern: „Ein jeder schreit, hätte ich nur Geld! Der Gewaltige sauget dem Niedrigen das Mark aus den Beinen und nimmt ihm seinen Schweiß mit Gewalt. In Summa, es ist nur Lug und Trug, Morden und Raub; es heißt mit Recht des Teufels Nest oder Wohnhaus". Das Leben ist währender Kampf mit dem Teufel, Tag um Tag, Stunde um Stunde, und das eigentliche Element des Daseins die Gefahr, die irdische und die metaphysische. „Darum geschiehts, daß, wenn oft der Mensch im Finstern gehet, daß er sich entsetzt und fürchtet, und hat immer Sorge, etwas greife nach ihm: das ist der Seele Furcht, denn sie sieht sich außer dem Sonnenlicht in einem sinsteren Kerker; sie fürchtet sich vor Gottes Grimm im Centro und vor den Teufeln, die in der Finsternis wohnen."

Wie die Kehrseite des Falles der Tod, so ist die Kehrseite des Bösen der Schauer der Vergänglichkeit. Es bleibt die Dialektik der irdischen Lust, daß alles was ich begehre mir zum „Spott" wird, daß ich mich anklammere und daß mir eben in der Anklammerung die Sinnlosigkeit meiner vermeint­ lichen Hilfen aufbricht. Stürmisch begehre ich nach dem Zeitlichen, nach der Relativität, die doch mein Feind ist; unser Schicksal ist, daß wir uns ängsten nach dem, was uns haßt, daß wir uns führen lassen von dem, was immer sicherer in die Nacht hineinführt. Unvergeßlich bleibt der Hymnus Böhmes auf die Vergänglichkeit: „Wie eine Rede, so vergessen wird, also vergehen unsere Tage und sind immerdar in Unruhe. Unstät ist unser Wandel. Wir verlassen uns auf unseren Arm und hangen an unserer Hände Werke, und trauen dir (Gott) nicht gänzlich. Darum läßt du uns hinfahren in unseren Ängsten und Dualen . . . Denn kein Atem mag sich ohne dich regen

und kann kein Gräslein die Erde ohne dich krönen. Das alles sehen wir und bauen doch auf unsere Nichtigkeit, auf unserer Hände Werk und trauen dir nicht recht. Wir sammeln und genießen des nicht. Ein Fremder quälet sich darinnen mit Eitelkeit und ist des Jammers keine Zahl, das wir treiben. . . Das alles macht unser Eigenwille, daß wir uns von dir abwenden in das Eitele und begehren nur das vergängliche Wesen. Wir schwimmen mit unserer Lust darinnen wie der Fisch im Wasser, und sagen immerdar zu unserer Seele: es hat keine Not . . . wir wandeln alle gegen die Nacht und laufen gegen unsere Gruben zu, wie ein Botenläufer seine Weg laufet." Das Zentrum Adams wie des adamifchen Menschen ist der Eigenwille, die „Selbheit". Wie der Kreisel in seiner Spitze ruht, so ruht die menschliche Existenz in ihrer Selbheit, ihrer Egozentrik. Die Erweckung und ständige Befeuerung dieser Egozentrik bedeutet den Abfall von Gott, den Ausgang aus dem „Paradiese". Der Eigenwille schlummert im Menschen wie der Funke im Stein; so wie der Anschlag des Steines den Funken springen läßt, wird der Eigenwille durch jede Berührung aktiviert. Oder in einem andern Bilde Böhmes ausgedrückt: der Eigenwille ist dem schwarzen Dochte in­ mitten der Flamme vergleichbar; löscht man die Kerze, so liegt der Kerzen­ stock in Finsternis, will heißen, die menschlichen Kräfte bleiben in der Finster­ nis der Selbheit beschlossen. Dort, wo die Egozentrik alle Kräfte absorbiert und einsaugt — denn das ist ihre eigentliche Funktion —, bleibt der Mensch für immer in der Magie des Ich befangen. Aus der egozentrischen Magie wächst das Leiden des Menschen, diese Magie hat das paradiesische Bild im Menschen zerstört und „in die Schärfe der Erde" verwandelt. So be­ steht eine unmittelbare Beziehung zwischen dem äußeren und dem inneren Menschen, in dem sich das Gottesbild spiegelt; je mehr der äußere Mensch zunimmt, desto mehr nimmt der innere ab, und umgekehrt. Eitelkeit

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ist das Zeichen abstrakter Veräußerlichung. Eitelkeit heischt den Tod der Seele. Demnach wäre es also die Aufgabe des Menschen, sein Ich zu entmächtigen, das Duelle des Bösen, Duelle der Leiden ist; aber diese Aufgabe ist unfaßlich schwer. „Das Sterben des bösen Willens tut wehe, niemand will daran." So bleibt also meine Lage die: ich „schwimme mit meinem äußeren Leben in Sternen und Elementen, da meine Finde auf allen Seiten, inner­ lich und äußerlich, auf mich warten, auch der zeitliche Tod, welcher der Zerbrecher dieses eitlen Lebens ist". In meiner Selbheit bin ich „zum Toren geworden". Der Zustand magischer Ich-Verhaftung bleibt der existentielle Zustand schlechthin. Man müßte vielleicht noch hinzufügen, daß dieses Ich durchaus nicht ein Einzel-Ich, sondern daß es auch ein Kollektiv-Ich sein kann. Der Mensch mag sich aus der Sinnleere des privaten Ich in ein weiträumigeres, übergeordnetes Ich flüchten, um die Erlösung von sich selbst zu suchen. Freilich gerät er damit von Regen in die Traufe: auch in der kollektiven Selbheit liegt noch nicht die absolute Freiheit, sondern diese Bindung bedeutet Flucht von einer Egozentrik zur nächsten. Immerhin liegt in der kollektiven Bindung schon so etwas wie eine religiöse Auflockerung beschlossen: ist doch die Selbstverzweiflung, wenn auch noch unbewußt und uneingestanden, der eigentliche Beweggrund dieser Bindung. Der Mensch hat das Zutrauen zu sich selbst verloren, das Opfer vor dem Altar seines Ego befriedigt ihn nicht mehr; also wendet er sich zu größeren, umgreifenderen Bindungen, worin der erste Schritt fort vom Bösen getan wird, welcher zugleich der erste Schritt zum neuen Leben ist. &

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Die Fortschrittler aller Zeiten und Geistesrichtungen haben immer wieder für einen Feldzug gegen das Böse plädiert, haben Visionen gehabt eines hygienischen, vom Bösen wahrhaft geläuterten Zeitalters. Dieser ein­ leuchtende Wille zur Weltverbesserung stößt freilich sehr bald auf eine Schranke, — ich meine nicht die Schranke der Realität, auf die stößt er auch —, sondern auf die Schranke, die uns durch die Größen Gut und Böse gesetzt wird. Eine Welt, in der das Böse ausgerottet ist, läßt uns auch das Gute nicht mehr erkennen! Das Gute bedarf des Bösen, um in Erscheinung zu treten, und umgekehrt bedarf das Böse des Guten, um für uns plastisch zu sein. Das Böse gebraucht das Gute, das Gute gebraucht das Böse zu seiner Existenz. Wir würden aber mit dem Bösen zugleich das Gute ver­ nichten, so daß, paradoxerweise, der Kampf gegen das Böse mit dem Kampf gegen das Gute identisch ist. Böhme formuliert es so: „Das Böseste muß

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des Besten Ursache sein" Oder: das Böse „dienet zur Offenbarung der Herrlichkeit Gottes und zum Freudenreich und ist ein Werkzeug Gottes, damit er sein Gutes bildlich machet, auf daß das Gute erkannt werde; denn so kein Böses wäre, so würde das Gute nicht erkannt". Man mag es etwas anders so ausdrücken: die Wirklichkeit, in der wir leben, steht in der Polarität des Ja und Nein. Das Ja ist gut, das Nein böse. Das Ja wäre ohne das Nein unerkenntlich, darum ist die Antinomie von Ja und Nein die Grundvoraussetzung unserer Erkenntnis, unserer ethischen Einsicht. Denn „das Verständnis urständet in der Unterschiedlich­ keit". Heißt das, den Kampf gegen das Böse aufgeben? Sollen wir das Böse grassieren lassen, um zur Erkenntnis des Guten zu gelangen? Ähnlich fragt auch der Apostel Paulus, der auf das Problem der gegenseitigen Ein­ wirkung von Sünde und Gnade gestoßen wird: die Sünde bringt ja sozu­ sagen die Gnade zu höchster Aktivität. Aber soll man deswegen sündigen? Von hier aus erklärt sich der mysteriöse Ausspruch Gogols: „Eine Trau­ rigkeit überfällt meine Seele, weil ich das Gute im Guten nicht zu erschauen vermag." Jenes Gute, das mit dem Bösen so unlöslich verkoppelt ist, jenes Gute, das mit dem Bösen zugleich stirbt, ist noch nicht das wahre Gute. Das wahre Gute erscheint erst „jenseits von Gut und Böse". Die Spaltung von Gut und Böse, wie wir sie kennen, ist bereits Produkt des — Bösen. Wir vermögen in einer „gefallenen" Welt, in einer existentiell unzuläng­ lichen Seinsform das eigentlich Gute nicht mehr zu erkennen, sondern nur das Gute, das Komplement des Bösen ist. So wird hier, in einer letzten tiefsten Schicht, das Urteil über unsere Seinsform akut: im Zusammen­ bruch unserer ethischen Einsichten. Damit stnden die Ausführungen über das Böse ihren natürlichen und äußerlichen Abschluß: indem wir über das Böse philosophieren und seinen Gegensatz, das Gute, verwirklichen wollen, verwirklichen wir doch im Grunde nur das Böse. Infolge der polaren Verkoppelung von Gut und Böse kann man nicht eines ohne das andere wollen, nicht eines ohne das andere vernichten. Darum liegt das wirklich Gute in der Tat jenseits von Gut und Böse, und das heißt, jenseits unserer Seinsformen, jenseits unserer Denkformen im Bereich des „neuen Himmels und der neuen Erde". Hier, und hier allein, schwindet daher die Traurigkeit, von der Gogol spricht.

8 Baden: Relig. Problem

IX. Wi edergeburt Die eigentliche Sünde des Menschen, welche zur Krise seiner ganzen Existenz führte, war die, daß er Gott und das Ich vertauschte. Er verließ das Paradies, um sich selbst -— sein Selbst — zu entdecken. Das menschliche Leben ist zwischen zwei Polen ausgespannt und dem Magnetismus beider Pole ausgesetzt: Gott und dem Ich. Das Ich bedeutet nun für den natür­ lichen Menschen eine ungleich stärkere Anziehung als Gott; so fällt die menschliche Existenz von der Peripherie, wo sie den Anruf Gottes allenfalls noch zu hören vermochte, in das Zentrum ihres Seins, bis sie mit dem Ich völlig verschmilzt, sich identifiziert, — bis sie nur noch rein punktuell vor­ handen ist. Der Verzicht des Seins auf feine wirklichen Möglichkeiten, feine völlige Hereinnahme in die punktuelle Egozentrik, sein Sich-zurDeckung-bringen mit dem Ich-Kern, was bedeutet dies anders als Verzicht auf die religiöse Seinsweise schlechthin. Das Ich ist, vom Gesichtspunkt der Selbsterhaltung, die tragende Mitte des Geschöpfes; darum tut das Geschöpf alles, fein Ich zu wahren, darum wird der gesamte Umkreis des Lebens diesem Ich-Kult dienstbar gemacht. Selbst-erhaltung: es steckt die Vorstellung darin, als könne der Mensch, unter Aufbietung aller Mittel und Kräfte, sein Selbst erhalten, sein Selbst in einem Maße kultivieren, daß alle Gefahr behoben sei. Die elementare Zerrissenheit des Wirklichkeits­ feldes rührt daher, daß es in der Wirklichkeit letzten Endes nur einen treibenden und schöpferischen (negativ schöpferischen) Faktor gibt: den zentripetalen, will sagen, den selbstischen. Daher die Atomisierung und Zer­ stückelung des Seins: weil alle Seinselemente sich selbst suchen, in sich selbst schwingen, weil sie nur nach innen offen, aber nach außen verriegelt sind. Auf diese Weise geht jede Beziehung von Mensch zu Mensch, jede tiefere Bindung verloren; als unöglich erweist sich die Realisation von Liebe. An diesem Punkt also enthüllt sich das Wesen der Sünde. Sünde bedeutet nicht eine Summe moralischer Verfehlungen — das bedeutet sie erst in zweiter Linie —, sondern sie liegt in der Struktur des Seins verborgen: eben in dessen Egozentrik, in der Zerbröckelung und Zertrümmerung des Seins in Milliarden von Partikeln, die alle um sich selbst — um ihr Selbst — kreisen. Je stärker sich das Sein der magischen Ich-Mitte annähert, desto mehr entfernt es sich zugleich von Gott, was man schon am Begriff der Liebe dartun kann: Gott ist die Liebe, aber die Auflösung des Seins im Ich bedeutet die schlechthinnige Verneinung von Liebe. Das Selbst kann nicht

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lieb en — es sei denn sich selbst. Das Selbst gleicht dem Strudel in der Strömung, welcher alles von außen in seine schwarze Tiefe saugt; also bannt auch das Selbst die Kräfte, Vermögen, Elemente des Seins in seinen Abgrund. Der Vergleich des Ich mit dem Abgrunde besitzt seine tiefere Berechtigung: alles was dem Ich zugewandt wird, fällt in die Bodenlosigkeit des Nichtgenügens, es fällt zugleich in die Bodenlosigkeit des Todes. So wachsen alle Übel des Lebens und des Zusammenlebens, alle Übel und Unvollkommenheiten

unserer Welt organisch aus der Ichheit, wie Böhme es nennt; die Ichheit ist Wurzel der Sünde, und damit zugleich Wurzel des Widerstandes gegen Gott. Den Teufel könnte man als Extrakt aller Ichheit oder Selbheit be­ zeichnen, als Selbheit in corpore. Die entscheidende Frage, ja die religiöse Frage schlechthin ist die, wie man der Ichheit entrinnt. Es ist deutlich, daß mit der wachsenden Entmächtigung der Ichheit alle die Kräfte und Vermögen in den Menschen einströmen müssen, deren Entbehrung sein Leben zur Hölle macht: Sündlosigkeit, Liebe, Angstlosigkeit, Ruhe, ewiges Leben, Gott . . . Wie kann dies geschehen? Mit einem Wort: der Mensch eröffnet den Kampf gegen sich selbst, gegen sein Selbst. Es beginnt ein metaphysisches Ringen von unerhörtem Ausmaß, in dem der Mensch den magischen Egozentrismus zu sprengen sucht; indem er das Ich zerspellt, zerschlägt, damit Gott erscheine. Nun kann dieser Kampf niemals aus menschlicher Kraft allein geführt werden, man kann nicht im Zeichen der Selbheit die Selbheit überwinden. Freilich kann man auch dies zuweilen beobachten; hier bleibt die Auseinandersetzung in einem sinnlosen Zirkel befangen, die Selbst-Überwindung wird zur Komödie.

Wie es in dem mystischen Monogramm heißt: „Wer nicht stirbet / eh er stirbet / Der verdirbet / wenn er stirbet", so gilt als grundlegende For­ derung in diesem Zusammenhänge der Eigentod. Der Mensch muß sich selbst sterben. Das ist das Fundament der Lehre von der Wiedergeburt. Aber wie geschieht das? „Gott hat uns nicht zur Eigenheit geschaffen, sondern zum Werkzeuge seiner Wunder, durch welches er will seine Wunder selber offen­ baren . . .; der eigene Wille regierte sich selber, denn er hat sich von Gott abgebrochen". Also Gott hat den Menschen zur Passivität geschaffen, zu einer Haltung, in der er für Gott offen, für Gott empfänglich ist; die Kon­ zentration auf die Eigenheit macht jede Offenheit für Gott zunicht und ver­ kehrt damit den Sinn der Schöpfung: denn der Sinn der Schöpfung ist ja zweifellos der, daß das Geschöpf jederzeit die Güte, Allmacht, Präsenz Gottes durchscheinen lasse. In dem Augenblick jedoch, wo der Wille „der Selbheit abstirbt", ist er von seiner Egozentrik, ist er von der Sünde frei; hinfort wird er „nur das Werkzeug des Tuns, mit dem Gott tut, was er will". Hier ent8*

116 hüllt sich die Paradoxie des mystischen Tuns; nicht mehr das Ich strahlt seine Energien in die menschlichen Handlungen aus, so daß alle Handlungen

sich konzentrisch um das Ich herumlegen, vielmehr: Gott ist der Handelnde, er handelt durch den Menschen hindurch. Diese medialen Taten des Menschen

besitzen allein Ewigkeitswert, weil sie sich in völliger Ablösung von der Selbheit vollziehen, die Selbheit stirbt, damit Gott sich des menschlichen

Werkzeugs bedient. Es ist das unheimliche der egozentrischen Existenz, daß sie sich selbst im

Wege steht. Der Mensch hindert sich selbst an der Erkenntnis, an der Wahr­ nehmung, sein Auge ist seinem Auge im Wege. „Dein eigen Hören, Wollen

und Sehen verhindert dich, daß du Gott nicht siehest noch hörest." Darum fordert Böhme immer von neuem dazu auf, die Selbheit zu töten. „Das

Gemüt umwenden und die Selbheit zerbrechen, muß ein strenger unnach­ lässiger Ernst sein, und ein solcher Vorsatz, daß, ob sollte Leib und Seele

darum zerspringen, der Wille dennoch wollte beständig bleiben und nicht wieder in die Selbheit eingehen." Der Mensch darf sich nicht durch die Bilder,

die Dinge der äußeren Welt binden lassen; sich ihnen hingeben, heißt ja nichts anderes als Ich und Selbheit aktivieren. Sich an das Außere ver­ lieren bedeutet sich ihm verknechten, erst aus der Distanz, der Gelassenheit wächst die Überlegenheit. Die Gelassenheit realisiert sich dort, wo das Ich

stirbt; die Gelassenheit ermöglicht Dingbeherrschung aus Distanz: „Die

Selbheit dienet nur dem zeitlichen Wesen, aber die Gelassenheit beherrschet alles, was unter ihr ist." Die Gelassenheit ist also nicht, wie man oft ge­

glaubt hat, Indifferenz gegenüber dem äußeren Geschehen; vielmehr er­ möglicht die Gelassenheit erst wirkliche Teilnahme am äußeren Geschehen, wirkliche Beurteilung dieses Geschehens, — weil sie nicht in Gefahr steht,

von ihm verschlungen zu werden. Es besteht ein deutlicher Unterschied zwischen Teilnahmslosigkeit und jener gelassenen Kühle, in welcher der Mensch Distanz übt, um sich nicht zu verlieren; wie es auch bei Böhme

deutlich zum Ausdruck kommt: der Gelassene „muß alles Eigentum dieser

Welt verlassen; nicht daß er es nicht besäße oder besitzen dürfte, allein sein

Herz muß das verlassen und seinen Willen nicht darein führen und für eigen

achten . . ." Die Selbheit, Egozentrik wird verglichen dem „finsteren, harten, ver­ schlossenen Centrum", dieses Zentrum gilt es im geistlichen Tode zu sprengen.

In dem Augenblick, wo es gesprengt wird, fährt der göttliche Funke hinein

und entzündet das Licht in der Tiefe; ähnlich als wenn Feuer an einen schwarzen Docht gehalten wird und ihn durchglüht. Der Mensch, der sich in den Tod, in das Nichts gibt, ist damit frei von den Dualen der Selbheit;

die große Flut des Nichts nimmt ihn auf und löscht alle Brände des Eigen-

ii 7 willens, des Begehrens, das Heer der Wünsche . . . Wenn so die Ichheit untergeht, dann soll der Mensch sich freuen und soll nie wieder zurückbegehren in das bunte Land der Sinne und der törichten Träume, er soll nie wieder seine Sinnlichkeit ins „Etwas" einführen: „daß du dich aber eher ließest töten, als daß du wieder in dein Etwas eingingest . . . und ob du in die Hölle führest, so zerbräche die Hölle um deinetwillen". Dieses Nichts, in das der gelassene, den Ich-Bann zerbrechende Mensch fällt, ist keineswegs vernichtende Tiefe, in dem die Existenz als solche aus­ gelöscht wird; der fallende Mensch wird wunderbar aufgefangen von Gottes Erbarmen. Da er sich an sich selbst halten wollte, verlor er sich an die Dinge, an den Tod; da er auf sich selbst verzichtet, gleitet er eine Seinsschicht tiefer ins Ewige. Dies ist die wesentliche Erfahrung der Versenkung. In der Ver­ senkung fällt der Mensch in die Liebe, die größer ist als er selbst. Wo das Ich endet, beginnt die Liebe. Das heißt aber, daß die Liebe erst an der Grenze des Menschen anhebt: im Göttlichen. „Ists, daß du sie (die Liebe) willst fassen, so flieht sie vor dir; so du dich ihr aber ganz und gar ergibst: so bist du dir nach deinem Willen tot, und sie wird alsdann das Leben deiner Natur." Die Liebe, heißt es ein andermal, „besitzet den Himmel. . ., aber die Ichheit besitzt sich selber. Gleich wie der Himmel die Wvlt beherrscht und die Ewigkeit die Zeit, also auch herrschet die Liebe über das natürliche Leben". Gelassenheit, Versenkung: sie sind der durchsichtige Schwebezustand, in dem der magische Ichkreis gesprengt und der Mensch von einem anderen Leben ergriffen wird, das nicht er selbst besitzt, sondern mit dem er begnadet werden muß. Gegen jenen verwaschenen Begriff der Mystik, wo der Mensch in ekstatischen Augenblicken das ewige Leben in der Tiefe des Selbst entdeckt, ist die Böhmesche Erkenntnis also sehr offensichtlich abzugrenzen; was vom Selbst erlöst, kann auf keinen Fall im Abgrunde des Selbst liegen. Vielmehr: Gott ist es, der das Ich zertrümmert; der Mensch muß sich nur bereiten in Demut, Gehorsam und darin, daß er dem eigenen Willen sowie der eigenen Vernunft den Abschied gibt. „Darum", sagt Böhme, „soll der Mensch nicht sicher sein, und auch nicht sein selbst, sondern sich immer in Gottes Erbarmen ergeben." Es handelt sich also im Eigentode des Menschen nicht um eine Handlung des Menschen an sich selbst — an seinem Selbst —, sondern um eine Handlung Gottes am Menschen. Jede eigene Initiative, auch die religiöse, würde den Menschen ja zwangsläufig wieder von Gott entfernen, weil sie die Selbheit aktiviert. Der Starke, sagt Böhme einmal, „starret in seinem Willen", das heißt, er ist geballte Selbheit; die Stärke ist aber unfähig, sich zu über­ winden — das wäre ein Spiel der Ichheit mit sich selbst —, sondern sie muß von außen überwunden werden. Darum ist Gott nicht in den Starken

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mächtig, sondern in den Schwachen. An den Schwachen bewährt sich, daß es „keinem Menschen möglich ist zu nehmen, es werde ihm denn aus Gottes Gnaden in seiner Liebe gegeben". Und ferner: „die da im Willen Gottes sind, die haben recht den Schlüssel zum Himmel und Hölle". &

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In das Vakuum, das durch die Vernichtung des Selbst entsteht, strömt Gott, strömt der Geist. Eine Veränderung des Seins hebt an, freilich eine Veränderung durchaus gnadenhaften Charakters. Diese Verwandlung, Er­ leuchtung, Transsiguration des Seins heißt im eigentlichen Sinne die Wiedergeburt. Auf die Gegenwärtigkeit Gottes, auf feine Einwohnung gründet sich d ie Erfahrnis der Wiedergeburt. So wie eine Pflanze, sagt Böhme, die Kraft der Sonne in sich saugt und daraus wächst, so muß die Seele sich von der göttlichen Sonne durchströmen lassen, in ihr wachsen, reifen. Oder in einem anderen biblischen Bilde: das Verhältnis des Gläubigen zu Gott ist das Verhältnis der Rebe zum Weinstock. Der Weinstock nährt die Rebe, führt ihr Saft, Sonne zu, die Rebe kann nur gedeihen in dieser unablässigen Beziehung zum Stock, der sie trägt; ähnlich der Gläubige: die Verwandlung des Gläubigen, die Durchläuterung, Reinigung seines Seins geschieht nur in der währenden Lebensgemeinschaft mit Gott. Immer wieder umkreist Böhme das Geheimnis des gestorbenen und neugeschaffenen Seins in Bildern: der Mensch gleicht dem dunklen Eisen, das von der göttlichen Flamme erfaßt und durchglüht wird; der Teufel vermag dieses Eisen nun nicht mehr mit seinen Fäusten zu packen, er meidet die gottglühende Seele. — Oder: die Seele gleicht dem Zunder, in welchen der transzendente Funke fällt; und so steht nun das „Centrum der Lebensgestaltnis" auf einmal in lichter Flamme, ergreift die gesamte Existenz und läßt sie lichterloh brennen im himmlischen Glanz. Eine unsagbare Seligkeit bemächtigt sich der Kreatur: ihre Seele wird zum Saitenspiel, durch welches der Geist streicht; das ganze Sein vibriert von Freude, Musik, transzendenten Klängen. Dazu kommt eine Harmonie, wie sie nie vorher erfahren wurde: die Harmonie des Ewigen, während die Selbheit im Zeichen der Disharmonie, der Zerfpaltenheit stand. — Oder: wie der Ouell aus seinem Ursprung immer von neuem empfängt, wie es immer wieder in ihn einströmt aus dem geheimnisvollen Schoß der Erde, fo soll der Gläubige immer den Ursprung des göttlichen Quells suchen, soll ohne Unterlaß „aus Gottes Brünnlein schöpfen und trinken". Ewig hört die ewigen Wasser rauschen, wer zum Ursprung zurückfand, sich ihm aufschloß, auch der Fluß lebt ja nicht aus dem Eigenen, aus der Selbheit, sondern aus der Unversiegbarkeit seiner Quellen.

II9 In der Wiedergeburt wird die kristallene Präsenz der Ewigkeit von Augenblick zu Augenblick erfahren: „denket anders nicht, als daß ihr alle Zeit und Stunden vor dem klaren Angesicht Gottes stehet". Vielleicht ist dies das Letzte, das nicht mehr Beschreibliche, daß die gesamte Welt hinfort in den Angeln des transzendenten Augenblicks hängt, Vergangenheit und Zukunft schmelzen ein, es ist alles brennende Gegenwart. Und die gesamte Theologie Böhmes, soweit er eine Theologie hat, will bis zu diesem Punkt führen, wo der Mensch dem Ungeheuren begegnet, wo er es, sich selbst sterbend, ergreift, wo das gesamte Sein in die Schwebe gerät und alle Schatten in ihm, unter dem Einsiuß des spirituellen Sturmes, gelöscht werden. Gegenwärtigkeit Gottes, Wirklichkeit Gottes, und dies alles nicht theoretisch, theoretisierend, sondern das Ich überwältigend, als verzehrendes Feuer die ganze Existenz sengend, läuternd, verklärend; das ist Böhmes Ziel. Oie Seele spricht dann von Gott als von ihrem Eigensten, sie lebt im Medium göttlicher Wunder; und schließlich: sie kommt zur Selbsterkenntnis. Nicht mehr steht das Auge des Menschen sich selbst im Wege, sondern in der Wieder­ geburt gewinnt er das objektive Verhältnis zu sich selbst — letzte Sehnsucht aller Erkenntnistheoretiker und -theorien! —, die Seele „wird in Gottes Licht sehend, daß sie sich selber sehen kann". In der Wiedergeburt wird zu­ gleich ein neues sachliches Verhältnis des Menschen zu sich selbst geschaffen. Das Sein wird ergriffen und umgeschmolzen; aus dem transsigurierten Sein wachsen die neue Tat und ein schlechthin neues Verständnis des mensch­ lichen Handelns. Alles aus der Ichheit, der Egozentrik steigende Handeln ist in einem Zirkel befangen; es zerbricht an keiner Stelle die Grenze der Mißdeutungen, der Vorläusigkeit und des Todes. Die Tat dagegen, die dem verwandelten Sein zugehörig ist, trägt den Atem der Ewigkeit. Das Geheimnis des wirkenden Gebetes ist dies, daß der Mensch sich in Gottes Willen einergibt, daß er in dem Gebet nicht als Selbheit spricht und will, sondern daß Gott durch ihn hindurch spricht und will. „Gleichwie das Holz am Baume mit der Baumeskraft wirket, also auch soll er (der Mensch, der Beter) begehren alleine mit Gottes Kraft und Willen zu wirken." Alles menschliche nur-menschliche Tun ist „Figur oder Hülse" ewiger Tat; mag es auch den Anschein der Ewigkeit erwecken, diese Ewigkeit ist im Grunde nur ein übersteigertes Menschliches, also Fiktion. Dagegen: „Was der Mensch im Glauben anfähet und tut, das tut er im Geiste Gottes, welcher im Werk mit ihm wirket; das ist Gott angenehm, denn er hats selber ge­ macht und seine Kraft ist darinnen, es ist heilig." Wieder kommt der mediale, der werkzeughafte Charakter des menschlichen Tuns zum Ausdruck: nur die mediale Tat ist heilig, nut dort ist der Mensch ewig schöpferisch, wo er von dem bezwungen wird, das größer ist als er selbst. —

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Dort, wo Menschen dieser Art von Gott erfaßt, von Gott umgeformt werden, entsteht eine neue, spirituelle Form der Gemeinschaft: „Wir haben nur alle einen einigen Orden, der ist, daß wir dem Herrn aller Wesen stille halten und unseren Willen ihm ergeben und lassen seinen Geist in uns wirken, spielen, und machen was er will, und was er in uns wirket und offen­ baret, das geben wir ihm wieder dar als seine Frucht." Die Harmonie, die den Einzelnen ergreift — wir hörten davon — greift über auf die Ge­ meinschaft, auf den „Orden". Eine neue Form der Zusammengehörigkeit, des Zusammenlebens leuchtet überirdisch auf in dieser zerrissenen Welt, immer wieder gebraucht Böhme das Bild: so wie Pflanzen, Blumen, Büsche aus demselben Acker wachsen, wie sie alle aus derselben Erdkrume genährt werden, ohne sich zu befehden, so auch die „neuen Menschen": sie stehen alle in Gottes Acker, jeder zufrieden mit seinem Schicksal, jeder in bestimmter Funktion und Sendung. Das Regulativ dieser Gemeinschaft, die sich schattenhaft, fast unwirklich zwischen den sonstigen Gemeinschafts­ formen heraushebt, ist nicht Gewalt, sondern Liebe. „Entziehet eure Liebe niemandem, denn euer Gott, in dem ihr lebet, entzeucht sie niemandem, der ihn nur suchet und begehret." Wie der Baum alle seine Äste trägt und nährt, so sollen wir, die wir baumgleich im Grunde der göttlichen Liebe wurzeln, die Menschen unserer Nähe mittragen, unsere Kräfte, die wir empfingen, auf sie übergreifen lassen. Wir sollen ferner, Polemik gegen das Mönchtum, gegen falsche Aszese, uns nicht in Löchern, Klausen, Winkeln verkriechen, sondern des Wortes Christi eingedenk sein: Lasset euer Licht leuchten. . . In dieser spirituellen Gemeinschaft endlich wird die Sprachenverwirrung aufgehoben, wie sie sich im Mythos von Babel andeutet; bis jetzt sprach jeder seine eigene Sprache, unübersteigbar lag das Nichtverstehen zwischen Mensch und Mensch. Unser monadenhaftes Schicksal, das uns in der Selbheit allein auf das Ich reduzierte, das uns in der Sprache der Selbheit vereinsamen ließ, dieses Schicksal wird auf einmal zerbrochen. In der Welt der Myriaden Dialekte klingt ein neuer Don auf, ein Ton, den Mehrere, den Viele verstehen, ein von der Liebe angeschlagener Ton, und nun geschieht das Unfaßliche: „Wir reden alle nur eine Sprache!"

Die beiden Grenzmarken im Kampf um den Menschen und um die Wieder­ herstellung seines ewigen Bildes sind Adam und Christus. In einem un­ geheuren Bogen schwingt sich die ganze Menschheitsgeschichte von Adam zu Christus. In Adam ward die menschliche Seele verfinstert, die göttliche Ebenbildlichkeit ausgelöscht; wir Menschen teilen, auf Grund unserer

metaphysischen Schicksalsgemeinschaft, alle das adamitische Los. Was hier geschieht, läßt sich in geläusigen Kategorien nicht ausdrücken, auch nicht im Begriff der Vererbung. Zweifellos vererbt sich die Sünde nicht gleich einem biologischen Faktor, sondern was sich, wenn man diesen Begriff überhaupt beibehalten will, vererbt, ist die Struktur menschlicher Existenz, welche von uns zuvor durch Daten wie Ichheit, Selbheit, Egozentrik um­ schrieben wurde. Versinsterte sich in Adam das göttliche Bild, ein Schicksal, das alle Menschen mit ihm teilen, so trat in Christus das göttliche Bild in makelloser Reinheit wieder in die Geschichte ein. Die Hinwendung zum adamitischen Bilde machte die Menschen selbst gleichsam „adamitisch"; die Hinwendung zum Bilde Christi verchristlichte den Menschen, schenkte die Möglichkeit der Wiedergeburt. So bringt Christus das wieder in den menschlichen Lebensraum zurück, was durch Adam verlorenging, das göttliche Bild. Es besteht also eine Antitypik Adam-Christus, welche die gesamte meta­ physische Geschichte der Menschheit durchzieht. Adam und Christus sind die großen Antipoden, und zwischen ihnen entscheidet sich das religiöse Schicksal des Menschen. Die Positivität des religiösen Schicksals steht also ganz allgemein darin, in welchem Maße es gelingt, dem Ich abzusagen und die Ebenbildlichkeit rein herauszuarbeiten. Zwischen Gott und dem Ich liegt die unendliche Skala der religiösen Möglichkeiten, und jede dieser Mög­ lichkeiten ist bestimmt durch die Annäherung an das Adam-Bild oder an das Christus-Bild. Adam ist die mythische Einkörperung des Ich und sein „Fall" spiegelt — ins Mythische projiziert — die Folgen wider, welche Jchverhaftung, Egozentrik für das religiöse Menschenschicksal haben. Die Frage der Erlösung und die Rolle, welche Christus in der Erlösung spielt, lassen verschiedene Deutungsmöglichkeiten zu. Selbst im Neuen Testamente hat die Erlösung mehrere Aspekte, die nicht etwa ausschließend nebeneinander stehen, sondern die sich ergänzen, — gleichwie bei einer Plastik, die auch verschiedene Aspekte zuläßt. Es ist charakteristisch, daß jener Aspekt der Erlösung, den wir theologisch als Rechtfertigung bezeichnen, bei Böhme völlig zurücktritt. Schon früher deutete ich an: unter diesem Aspekt wird die Erlösung leicht zu einem juristischen Akt, zu einer kosmischen Schuldumschreibung, — eine Vorstellung, mit der sich Böhme nie befreundet hat. Auch jetzt tritt diese Tendenz Böhmes wieder deutlich heraus, sein Ziel ist, kurz gesagt, dies, daß er die ganzen gott-menschlichen Vorgänge in Seins-Kategorien zu erfassen versucht. Böhme vertritt eine Theologie des Seins, eine Theologie, in der alle Fragen in wenige Grundfragen einmünden nach dem Sein Gottes und der Welt, nach Leben und Tod und dem Rätsel der menschlichen Existenz. Die ganze Problematik der Adam-Christus-

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Polarität ist ja eine Seinsproblematik: in Adam verblaßt das menschliche Sein mit seiner ursprünglich göttlichen Leuchtkraft, in Christus wird dies Sein restituiert. „Es lag Gott nicht allein an einem Opfer", heißt es, „da­ durch sein Zorn gestillet würde, daß er sein Herz ließ Mensch werden und seinen Sohn ließ kreuzigen, daß sein Wille also versöhnet würde. Nein, es lag ihm an seinem Wesen, das in Adam war in Tod geschlossen worden; das sollte sein Sohn wieder lebendig machen." Die Tatsache des erneuerten, verklärten Lebens, die Tatsache der Wiedergeburt also, ist die Mitte des gesamten Erlösungsvorganges: „denn gleich wie wir mit Adams Seele alle aus dem Leben Gottes ausgegangen und die falsche Sucht aus der Seele unserer Eltern (als aus Einem Brunnen alle erzeuget) geerbet haben, also hat uns das Leben Gottes in Christo wieder neugeboren, daß wir im Leben Christi können wieder ins Leben Gottes eingehen". Die Einzig­ artigkeit Christi besteht nach Böhme darin, daß er beide Bilder trug, das adamitische und das göttliche; in ihm überwand das göttliche Bild, das im Zeichen des Geistes steht, das irdische. Damit begann die Möglichkeit einer neuen Existenz, einer Existenz, die wieder Züge der paradiesischen trug, und aus der die adamitischen Schatten getilgt wurden. Inmitten der todgezeichneten Wirklichkeit wurde damit die Möglichkeit einer anderen, entgegengesetzten Seinsweise verwirklicht. Hinfort gibt es zwei Seinsweisen, die natürliche und die christliche. Genau so, wie die Menschen bisher am Sein Adams partizipierten, können sie in Zukunft am Sein Christi teilhaben, das heißt, wiedergeboren werden. Die Offenbarung der neuen Seinsform in Christus ist also nicht historisch beschränkt, ein­ geengt, sondern in diese Seinform kann der Mensch einbezogen werden. Dort, wo die seinsmäßige Verbindung mit Christus erfolgt, wird neues Leben verwirklicht und Verklärung des Seins angebahnt. Es erfolgt also eine Art mystischer Kommunikation mit dem Sein Christi, darin bestehend, daß man geistig am Tode wie am Leben Christi beteiligt wird. Damit tritt ein Gedankenkomplex in den Vordergrund, der sich bei Paulus sindet, häusig bezeichnet als Christusmystik. Grade in dieser Christusmystik handelt es sich nicht um eine begriffliche, sondern um eine existentielle Aneignung der Erlösung, der Mensch wird real in die Kräfte Christi einbezogen und in dieser Einbeziehung gleichsam umgeschmolzen. Das Drängen Böhmes auf eine Theologie des Seins, eine Theologie der Verwirklichung, hier wird es anschaulich! In der Hingabe an Christus, an das Sein Christi, erfolgt die Verwand­ lung der Existenz, die Transsiguration in das Bild Christi. Der Mensch wird Christus „gleichförmig". Diese Gleichförmigkeit muß sich im Mit­ sterben mit Christus bewähren, um dann durch das Leben gekrönt zu werden:

„Christus ist darum Mensch geworden, daß er uns helfen will, daß wir wieder zum Bildnis Gottes kommen sollen . .." So muß also der Christ zunächst in den Tod Christi gezogen werden, eingetaucht werden. „Nun habe ich keine andere Straße zu dir als dein Leiden und Sterben: weil du unseren Tod durch deine Menschheit zum Leben gemacht und die Ketten des Todes zersprenget, so versenke ich meiner Seele Begierde in deinen Tod, in die aufgebrochenen Pforten deines Todes." Und an anderer Stelle: „Der Tod Christi mache aus mir, was er will. Soll ich je im Tod fein, so will ich in feinem Tode sein und in keinem andern. Weil aber sein Tod ist ein ewig Leben worden, so werde ich in ihm wohl bleiben." Das Kreuz ist darum das große Symbol des Mitleidens, Mitsterbens mit Christus, das Kreuz ist die Pforte zur Wiedergeburt. „Das Kreuz treibt uns zur Andacht, daß wir stets unseren verderbten Menschen kreuzigen und uns stets in die Liebe Gottes in Christo ergeben; auf daß der neue Mensch in uns aufgehe, wachse und in Gott lebe." So erfolgt in Christus, mit Christus die große Umwertung des Seins: „Denn darum kam Christus in unser äußerlich und innerlich Mysterium, daß er unser zeitlich Mysterium in die Ewigkeit ein­ führte, daß er den Menschen wieder in und mit sich umwendete, in die Ge­ stalt, die Adam in der Schöpfung war, da er nichts wußte, was Gut und Böse war." Die geistige Kommunikation mit Christus, die durch alle Stadien des Sterbens hindurchführt, führt endlich doch zum Sieg, zur Wieder­ herstellung des menschlichen Seins, zu seiner Durchlichtung mit dem gött­ lichen Bilde. e

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Ich habe schon darauf hingewiesen, daß die Erlösung, will sagen die Erfahrung des neuen Lebens nicht in Begriffen steht, sondern in der Realität. Elementar ist bei Böhme dies Drängen auf Gegenwärtigkeit, auf Reali­ sation. Sein kirchlicher Kontrahent, Gregor Richter, wirft ihm vor, er lehre die „Verzückungen", indes Christus die Gebote lehre. In dieser Polari­ tät von Verzückung, das ist nicht Ekstase — Böhme war keinesfalls Ek­ statiker —, sondern seinsmäßige Ergriffenheit und „Gebot" wird die Wand­ lung des Christlichen, die mit Böhme eintritt, deutlich. Der Wiedergeborene ist entzückt, verzückt, ist in der Totalität seiner Existenz vom neuen Leben ergriffen. Man darf die Wiedergeburt nicht in der dürren Wüste des Be­ griffs und der theologischen Formel suchen, sondern allein auf der Ebene des Seins. Wiedergeburt ist nicht Wissen, sondern Erfahrung. Damit wird die religiöse Erfahrung jeder Begrifflichkeit entrückt und als existentieller Vorgang gekennzeichnet. Es genügt nicht, daß ich theoretisch weiß, unter welchen Umständen Erlösung zustande kommt und was Erlösung ist; auf dem Wege des Wissens

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wird das Sein keinesfalls verändert. „Denn das Wissen allein ist kein Glaube, sondern der Hunger und Durst nach dem, das ich begehre, daß ichs mir einbilde und mit der Einbildung eigentümlich fasse und nehme, das ist Glaube." Eine außerordentlich treffende Erklärung: Glaube gleich Einbildung. Freilich Einbildung nicht in dem Sinne, wie wir es verstehen: Phantasie, Traum, Irrealität; sondern Einbildung unmittelbar verstanden als ein Ein-Bilden; in der Einbildung wird der Mensch eines neuen Bildes, einer neuen Prägung teilhaftig, die hinfort fein gesamtes Sein bestimmt. In der Einbildung wird dem Menschen eben jenes zweite göttliche Bildnis eingeprägt, das er — sein ursprüngliches Siegel — in Adam verlor; in der Ein-bildung des Glaubens wird die Restauration des Gottesbildes im Menschen vollzogen. Die neue Existenz wird nicht durch Dispute, das theologisch-christliche Erbübel, verwirklicht, sondern durch Preisgabe des Wesens; der Mensch muß sich selbst dem llmwandlungsprozeß mit allen Kräften zur Verfügung stellen. Die Wendung zum Disput, zu Formeln, ist im Grunde doch nur Flucht: Flucht in die Buchstabenlandschaft vor den Wehen, aus denen im Menschen das Gottesbild geboren wird. So mahnt Böhme: „Nicht lange disputieren, nur Ernst: denn der Himmel muß zerspringen und die Hölle erzittern, und es geschieht auch." Die Wiedergeburt des göttlichen Bildes im Menschen ist ein so elementares Ereignis, daß der ganze Kosmos in Mitleidenschaft gezogen wird, wie es ja auch, infolge der mikrokosmischen Struktur des Menschen, nicht anders sein kann. Der Kampf Jakobs mit dem Engel ist das Zeichen, in dem man das Ringen des Menschen um seine Erneuerung anschauen kann: „Du mußt alle Sinnen mit Vernunft und alles, was dir in den Weg kommt, darein fetzen, daß du nicht wollest von ihm (Gott) lassen, er segne dich denn, wie Jakob die ganze Nacht also mit Gott rang: wann gleich dein Gewissen sagt lauter Nein, Gott will deiner nicht, so sprich, so will ich aber seiner, ich lasse von dir nicht ab, man trage mich denn ins Grab . . ." Von hier aus ergibt sich die große Krise der Theologie und der Kirche. Theologie und Kirche zitieren zwar dauernd Gott, aber gerade darum stehen sie in Gefahr, es nicht mit der eigentlichen göttlichen Wirklichkeit zu tun zu haben, sondern über diese Wirklichkeit zu reden. Wenn man über Gott redet, so objektiviert man ihn, in der Objektivierung verschwindet das gött­ liche Sein, und was bleibt, ist eine Handvoll überkommener Formeln und Vorstellungen. Nicht das ist wesentlich: über eine Realität zu diskutieren, sondern in dieser Realität zu stehen, von ihren Kräften gespeist zu werden. Theologie und Kirche laufen Gefahr, nur darüber zu stehen, nur über­ lieferungsmäßig von jenen Daten einer anderen Welt zu wissen, anstatt sie

zu erleben. Denn nicht darauf kommt es an, von Gott zu wissen, sondern ihn zu erleben: zu erleben, wie die Ewigkeit in die Zeit einbricht, sie ein­ schmelzend und verwandelnd; nicht darauf kommt es an, über den erlösten Menschen objektivierende Aussagen zu machen, sondern selbst erlöster Mensch zu sein. „Es ist nicht genug, daß du alle Bücher auswendig lernst: und wenn du Jahr und Tag stündest und läsest alle Schriften, und könntest gleich die Bibel auswendig, so bist du damit nichts besser vor Gott als ein Sauhirte, der diese Zeit die Säue gehütet hat; oder ein armer Gefangener in der Finsternis, der das Tageslicht dieser Zeit nicht gesehen hat." Also: es bedarf, um Gott zu finden, keiner Bildung und keiner theologischen Praxis, sondern allein der existentiellen Bereitschaft, sich für das Ewige zu öffnen. Das religiöse Erlebnis steht nicht in irgendeiner „Kunst", will sagen, in irgendeiner Technik, sondern allein im Radikalismus der Hingabe. Mit Vorliebe gebraucht daher Böhme die Vergleichung des Akademikers mit dem Hirten: der Akademiker ist Gott keinesfalls näher als der Hirte, im Gegenteil: sein Wissen, seine theoretische Beherrschung Gottes bilden vielleicht ein grundlegendes Hindernis, Gott zu erfahren; der Hirte dagegen in der Einfachheit seiner Natur, der Unkompliziertheit seiner Hingabe, mag Gott viel näher stehen. Das Hören einer Predigt bedeutet noch nicht die Umwendung des Men­ schen. Das Hören einer Predigt kann ein außerordentlich unverbindliches Vergnügen sein, religiös gesehen: „und wenn ich allein mein Lebelang säße und hörete Predigt, und hörete immer vom Himmelreich und von der neuen Wiedergeburt predigen, singen und klingen, und ließe es also dabei bleiben, so wäre ich doch einmal als das andere. Wenn man einen Stein ins Wasser wirft und wieder herauszeucht, so ists einmal ein harter Stein als das ander und er behält feine Gestalt: wenn man ihn aber ins Feuer wirft, so kriegt er eine andere Qual in sich selber. Also auch du Mensch, wann du gleich in die Kirche läufst und willst auch als ein Diener Christi gesehen sein, das ist nicht genug; so du es dabei lässest bleiben, so bist du einmal als das ander". Woher rührt diese Wirkungslosigkeit der Predigt, die Unverbindlichkeit des „Wortes Gottes"? Sie rührt daher, daß das Hören meist ein sehr äußerlicher Vorgang ist, ein Vorgang, welcher das Leben nicht irgendwie tiefer berührt. Man hört Gottes Wort, wie man auch sonst Worte hört, aber es erfolgt keineswegs das, was wir als Wieder­ geburt bezeichnen. Gewiß kann auch das Hören des Wortes Gottes zur echten Gottesbegegnung verhelfen, aber wie selten ist das. Häusiger dagegen ist es charakteristisch für das Wort Gottes, daß es die Realität unseres Lebens eben nicht trifft, sondern als objektivierende Reflexion erscheint; man verfehlt die Wirklichkeit Gottes, indem man sie meint.

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Noch ein anderes kommt hinzu: nur der Mensch kann Mittler sein zum neuen Leben, der zuvor diesen Weg eigens gegangen ist. Theoretische Kennt­ nis dieses Weges, sogenannte Lehre, hilft nicht weiter. Da in einem so weitschichtigen Gebilde, wie die Kirche es darstellt, viele Verkünder nur theoretisch-lehrmäßig das neue Leben besitzen — nur die Formeln, nicht die Realitäten —, muß ihre Verkündigung notgedrungen unfruchtbar sein. Darum besitzen sie auch keine Gewalt in Gott, sondern diese Gewalt ist Fiktion — oder Vergewaltigung. „Kein Mensch hat eine Gewalt in Gott, er sei denn in Gottes Willen, in Gottes Liebe in Christo . . ." Aber auch dort, wo der Mensch objektiver Zeuge der neuen Existenz ist, wo er tatsäch­ lich etwas erfahren hat, auch dort vermag er dem anderen nicht mehr zu geben als Hinweise. Er kann dem anderen niemals den religiösen Weg abnehmen, den Weg der Um-bildung, Ein-bildung. Hier sindet Böhme selbst seine Grenze, und er gesteht sie ein; man kann nicht für andere Menschen stellvertretend den geistlichen Weg gehen, den Weg des Sterbens und der neuen Geburt: „blnser Schreiben langet nicht dahin, daß wir wollen die Gottheit in der ewigen Natur ausgründen: nein, das kann nicht sein, son­ dern daß wir wollen dem Blinden den Weg weisen, welchen er selber gehen muß: wir können nicht mit seinen Füßen gehen, aber als ein Christ wollen wir ihn gerne leiten und ihm mitteilen, was wir haben, nicht uns zum Ruhme, sondern helfen pflanzen den großen Leib in Christo, mit seinen Gliedern ..." Ist der wiedergeborene Mensch in einem Maße spiritualisiert, daß die Schlacken des alten Lebens verschwinden, also ein vollkommenes Stück Leben in Erscheinung tritt? Haben wir es beim Wiedergeborenen unmittel­ bar mit der paradiesischen Seinsweise zu tun? Auch hier bleibt Böhme in den durch die Überlieferung gesteckten Grenzen. So spontan er das Ungeheure betont, das in der Wiedergeburt Wirklichkeit wird, er verhehlt keinen Augen­ blick, daß auch der Wiedergeborene Mensch geblieben ist. In immer neuen Bildern, Vergleichen bestätigt er, daß der „religiöse" Mensch nicht aus seiner Existenz springen, nicht die Hüllen des Menschseins völlig abstreifen kann; auch wenn in ihm das Neue aufleuchtet, es ist doch umschlossen vom Alten. Es geht dem neuen Menschen wie dem gekrönten König, die Krone wird verwahrt, nur hin und wieder darf sie getragen werden; ähnlich leuchtet auch über der frommen Seele zuweilen der Schein einer anderen Welt auf, freilich unfaßbar, immer wieder verdunkelnd . . . Die neue Existenz bleibt umschlossen von der alten, so wie das Gold vom Steine umschlossen bleibt; das Gold vermag den restlichen Stein nicht zu vergolden, zu verwandeln, Stein bleibt Stein, und so kann auch der ganze Mensch nicht in die Verwand-

lung gezogen werden, sondern in der Wiedergeburt bahnt sich eine Ent­ wicklung an, die in der Zeit nicht mehr zum Abschluß kommt. Würde der Mensch ganz in das göttliche Wesen eingehen, von Gott absorbiert ohne Rest, so müßte er in „klare Gottheit" verwandelt werden, und nicht nur er, sondern alles Sein, das an ihm partizipiert. So wendet sich Böhme denn mit Recht gegen die schwärmerischen Pro­ pheten der Vollkommenheit, Esaias Stiefel und Ezechiel Meth. „So wir sollten mit diesem äußeren, sichtbaren, begreiflichen Fleische ganz vollkom­ men sein, so müßte der äußere Mensch das Paradies wieder angezogen haben, so wäre der äußere Mensch unsterblich und unzerbrechlich, und könnte durch Erde und Steine gehen . . ."; kurz und gut, es ist die Situation des Paradieses und des jüngsten Tages, die hier, in völliger Verstiegenheit, in die Irdischkeit projiziert wird. Vielmehr: auch der wiedergeborene, der heilige Mensch ist an seine Menschlichkeit nach wie vor gebunden und damit an alle die Schranken, welche sie impliziert; „es sei ein Mensch so heilig als er wolle, so ist doch der Geist der äußeren Welt seines äußeren Fleisches Geist, Leben und Führer". Niemals, solange der Mensch lebt, wird sein Fleisch — Fleisch als Inbegriff des Eigenwillens, der Egozentrik verstan­ den — von Gott verschlungen werden. Sondern immer wieder stellt sich das Fleisch gegen den Geist, das Ich gegen Gott; zwar glüht und schwelt der Geist unter der Oberfläche des wiedergeborenen Lebens, aber erst mit dem äußeren Abbruch der Existenz: im Tode, tritt er rein zutage. Ab und zu, sagt Böhme, schaut der Mensch die Gottheit wie einen Blitz, aber sofort schließt sich wieder der dumpfe Vorhang der Sinne vor seinem Auge, der Schleier des Fleisches, der das wahre Sehen, die wahre Erkenntnis hindert. Warum? Es gilt auch vom Wiedergeborenen, er „kann das Himmel­ reich nicht erben, sondern er ist nur ein Same, der in die Erde gesät wird, daraus wird wieder ein unbegreiflicher Leib wachsen, wie der erste vor dem Fall war". Aber was sich da geheimnisvoll unter der Decke des Lebens zusammenzieht und kristallisiert, es wird, solange der Mensch im Fleische lebt, nie ausreifen, nie endgültig enthüllt werden. Der adamitische Mensch war reines Negativum, und die Schatten dieser Negativität werden nie­ mals ganz gelöscht; sie bestimmen, aufs Ganze gesehen, auch noch das religiöse Dasein, das nur hin und wieder schmerzhafte Versuche macht, sich der egozentrischen Hüllen zu entledigen. Man sieht, es fehlt jeglicher Illusionismus bezüglich des religiösen Men­ schen, der religiösen Existenz. Der Mensch, der mit Gott in Berührung tritt, wird keineswegs selbst zum Gott; er sieht hinfort wohl den Weg, der ins Freie führt, und das rückt sein Dasein in eine neue Beleuchtung, aber er wird zu Lebzeiten noch nicht in die Freiheit eingehen. Wo der Mensch eine

126 Vollkommenheit in diesem Leben postuliert, ist er entweder in einer grotesken Selbsttäuschung befangen oder er lästert Gott, den zu inkorporieren er sich anmaßt. Wenn darum Stiefel, Prophet der Vollendung im Hier und Jetzt, „von sich selber saget: Ich, das lebendige Wort Gottes in diesem meinem heiligen Fleisch und Beine, sage dies oder tue dies: so wird der teure Name Gottes gemißbraucht". Christliche Forderung bleibt vielmehr die Demut: „die Kreatur soll sich vor Gott demütigen und mitnichten sagen, sie sei Gott selber, sondern ein geschaffen Werk und Bild in seiner Gleichheit, mit dem Gott tue, was er wolle". Die Demut verbietet auch jede aggressive Reflexion auf das in der Wieder­ geburt Geschehene: so daß man dies Ereignis gleichsam reflektierend binden könnte. Wie oft geschieht es, daß sich die Vernunft am Gotteserlebnis berauscht, dieses Erlebnis mit ihren eigenen Ekstasen mischt und so schließlich nur noch mit sich selbst statt mit Gott zu tun hat. In der Selbstbewußtheit schwindet das Gotteserlebnis, es handelt sich nur noch um einen fingierten Gott, „so daß die eigene Vernunft (welche doch nur ein Spiegelglast der ewigen ist) meinet, sie sei mehr, sie tue was sie wolle, so tue es Gottes Willen in ihr, sie sei eine Prophetin, und ist doch nur in ihr selber und gehet in ihrer eigen Begierde . . ." Hier leuchtet noch ein­ mal die fundamentale Gefahr auf, welche jedes Gotteserlebnis zu ent­ werten droht: daß es sich gar nicht um Gott handelt, sondern um eine Er­ fahrung der ekstatischen Vernunft, also letzten Endes um ein potenziertes Ich-Erlebnis. Da helfen nur Demut, Bescheidenheit, sublime Zartheit, wenn der Mensch den Kreis der Wiedergeburt betritt, und wenn er die innere Nötigung verspürt, vom Unsagbaren Zeugnis abzulegen . . .

So erhebt sich, zum Schluß, die Frage nach dem Ewigen Menschen. Adam, freilich der Adam vor dem Fall, war ewiger Mensch, Mensch im Zeichen des paradiesischen Seins. In Christus leuchtet dann zum andern Mal der Gedanke des ewigen Menschen auf, sofern er das metaphysische Gegen­ spiel, der göttliche Antipode Adams ist. Aber wie steht es mit dem Men­ schen? Vermag unter uns der Mensch in seiner Idee, in seiner paradiesischen Urform noch rein in Erscheinung zu treten? Was in der Wiedergeburt geprägt wird: ist das der ewige Mensch? Zweifellos nicht; auch die religiöse, die wiedergeborene Existenz steht doch dauernd im Zeichen der adamitischen Zerstörung des menschlichen Urbildes. Ein Kristall zerspringt; auch wenn man ihn wieder zusammensetzt, die Sprünge bleiben. Ähnlich ist es mit dem Menschen; er mag wieder­ geboren werden, aber er wird doch nie das in Adam zersprungene Urbild

rein wiederherstellen. So ist also der wiedergeborene Mensch nur Schatten, nur Abriß und Verheißung des ewigen Menschen. In der Wiedergeburt zeichnet sich, unsäglich fein, der ewige Mensch innerhalb der vergänglichen Form ab, ohne jedoch realisiert werden zu können. Der ewige Mensch kann also im Grunde nur durch die Aufhebung alles Seins hindurch verwirklicht werden, und das heißt: er ist eine Angelegenheit des Paradieses. Das Para­ dies ist für uns mythische Chiffre jenes Lebensbereiches, der endet, wo die Zeit beginnt, und beginnt, wo die Zeit endet. Wir bezeichnen diesen Lebens­ bereich als apokalyptisch, als apokalyptische Erwartung. Er ist uns ver­ schlossen seit dem „Fall" des Menschen; er ist wieder verhießen am Ende der Zeiten; er beginnt durchscheinend zu werden in der Wiedergeburt. Wir tun mit Böhme einen Blick in diese transzendente Zone, wo die Wiedergeburt rein heraustritt. Nur in Andeutungen, in Vergleichen läßt sich von dem sprechen, was hier geschieht. Die ganze Welt wird dermaleinst mit hineingenommen werden in die Wiedergeburt; nicht nur der Mensch wird in „geistlichem Fleische und Blute" wiederkommen, sondern auch die Erde verwandelt sich, indem sie „kristallinisch" wird, transparent, allent­ halben durchbrochen vom göttlichen Wesen. „Wenn die sichtbare Welt vergehet, so vergehet alles das mit, was äußerlich gewesen ist, das aus ihr ist Herkommen. Von der Welt bleibet nur die himmlische, kristallinische Art und Form: also auch vom Menschen bleibet nur die geistliche Erde; denn der Mensch wird der geistlichen Welt, welche jetzo noch verborgen ist, ganz gleich sein." Wir erinnern uns, was früher ausgeführt wurde: daß die ganze Schöpfung von einer polaren Spannung durchzogen ist, einer Ambivalenz religiösen Charakters; hier, im Zerbrechen aller irdischen Formen, tritt dann die positive Seite dieser Polarität heraus, das reine Positivum abzüglich seines negativen Widerspiels, das ihm sonst gleich einem Schatten anhängt. So wie es etwa im Bilde vom apokalyptisch gläsernen Meer angedeutet ist. In einem mystischen Dialog von Schüler und Meister wird dieselbe Frage angeschnitten. Der Jünger fragt, was bleibt, wenn alles vergeht, was man hier sieht. Darauf der Meister: „Es höret nur das materialische Wesen auf, als die vier Elemente, die Sonne, Mond und Sterne. Alsdann wird die innere geistliche Welt ganz sichtbar und offenbar..." Der latente geistliche Kern springt also aus den irdischen Hüllen und Schalen, die geist­ liche Welt in ihrer llnvermischtheit, ihrer Makellosigkeit öffnet sich, — für uns zunächst ein unvorstellbarer Gedanke. Aber welcher Glaube steht hinter dieser Vorstellung: in allem Irdischen ein Sinn, eine Idee verborgen, jeg­ licher Leib nur Hülle um einen geistlichen Leib, und wenn dann die apokalyp­ tische Posaune ertönt, tritt das Innen nach außen, und das Außen wird, wie Schnee von der Sonne, fortgeschmolzen . . . 9 Baden: Relig. Problem

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Dann, aber auch nur dann, werden wir den ewigen Menschen erblicken, wie er ist. Dieser ewige Mensch ist der wiederhergestellte Adam des Para­ dieses, und seine markanteste Bestimmung die Zwiegeschlechtigkeit, der androgyne Charakter. Gerade um diese Zwiegeschlechtigkeit des ewigen Menschen kreist das Denken Böhmes immer aufs neue. War nicht auch der Adam des Paradieses ursprünglich androgyn, Mann und Weib in einem? Die Forschung bestätigt es, denn die Stelle i. Mose i, 27 hieß ursprünglich so: „Und es schuf Gott den Menschen nach seinem Bilde . . . nach dem Bilde Gottes schuf er ihn männlich und weiblich" (Alfred Jeremias). Nach Böhme war die Schaffung des Weibes ursprünglich gar nicht vorgesehen, sie ist sekundär. „Hätte Adam nicht nach der Irdischkeit imaginieret, so wäre Eva nicht aus ihm gemacht worden, sondern er hätte wohl können selber auf magische Art gebären ... er war Mann und Weib vor seiner Eva, eine reine züchtige Jungfrau Gottes." Und ein andermal heißt es ent­ sprechend vom paradiesischen Menschen: „er war ein Mann und auch ein Weib ... er konnte jungfräulich gebären aus seinem Willen, aus seinen Essentien, ohne Wehe und ohne Zerreißung, einen solchen Menschen, wie er war . . ." Böhme weist darauf hin: warum schämt sich Eva ihrer Ge­ schlechtlichkeit, als sie sie gewahrt? Zweifellos deshalb, weil die Geschlecht­ lichkeit mit dem paradiesischen Sein ursprünglich nichts zu tun hat, sondern schon eine Differenzierung, eine Spaltung darstellt. Wie sich alles Sein in der Spaltung mit sich selbst veruneint, so veruneint sich auch der ewige Mensch mit sich selbst in der geschlechtlichen Spaltung. Der ursprüngllche, ganzheitliche, ewige Mensch ist nicht gezeugt und wird nicht zeugen; daß er es tut, zeigt an, daß er sich anschickt, das Paradies zu verlassen. Also auch die Polarität des Männlichen und des Weiblichen, so fruchtbar und schöpferisch sie in jeder Beziehung ist, ist doch bereits ein Zeichen des verdunkelten, gebrochenen Seins. Zweifellos birgt die Geschlechtlichkeit negative, ja dämonische Züge: sie zerstört Menschen durch einander, sie bringt die Selbheit zur letzten, äußersten Entzündung. Der Mensch, der sich im Zeichen der Selbheit in die geschlechtliche Liebe hineinbegibt, wird zer­ stören und zerstört werden, wird nichts ernten als Zerrissenheit. Aber die Liebe besitzt auch noch eine andere, zweite Seite: in ihr können sich zwei Menschen derart ineinanderfügen, daß die androgyne Ganzheit wieder her­ gestellt wird. In der Seligkeit des völligen Sichverstehens, völligen Sichergänzens wird etwas geahnt von der Ganzheit des paradiesischen Menschen. So hat die Geschlechtlichkeit, hat der Eros in den Augenblicken reinster Entfaltung die Funktion, das wieder zusammenzufügen, was er zerrifsen hat: Mann und Weib. Durch den Eros werden Mann und Weib als einzelne vernichtet, und in der billigen Redensart, ohne einander nicht leben zu können.

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scheint völlig verschüttet noch durch die Sehnsucht nach dem paradiesischen Menschen. Freilich steht die geschlechtliche Einstellung des Menschen meist so ausschließlich im Zeichen der Selbheit, soll heißen des Genusses, daß jene Ganzheitsfunktion des Eros nicht mehr geahnt, geschweige denn verwirklicht wird. Es gibt Heilige, Asketen, Religionsstifter, die man sich unmöglich im Kreife einer Familie vorstellen kann. Warum? weil in ihnen, soweit das auf Erden möglich ist, die Idee des ewigen Menschen transparent wurde, also des Menschen androgyner Struktur. Darum sind auch die Engel ge­ schlechtslos (auf Bildern sind sie bald männlich, bald weiblich dargestellt, bald tragen sie so deutlich androgyne Züge, daß sich ihr Geschlecht nicht mehr identisizieren läßt); ebenso erweckt die Gestalt Christi bei uns den Eindruck der Ungeschlechtlichkeit, und dies mit gutem Grunde. Christus, der wieder­ gekehrte Adam, welcher der Menschheit das verlorengegangene Bild des ewigen Menschen schenkt, kann nicht der geschlechtlichen Spaltung unter­ worfen sein; der ewige Mensch steht jenseits aller Differenzierung. Dem entspricht es endlich, wenn Christus sagt, im Gottesreich werde man nicht mehr ehelichen. So erfüllt sich Balzacs Traum vom magischen, geschlechts­ losen Menschen: im Reiche der paradiesischen Urbildlichkeit, der erfüllten Widergeburt, ist das Geschlecht als solches aufgehoben!

X. Rückschau Eine religiös bewegte Zeit drängt immer auf Verwirklichung, Ver­ gegenwärtigung, und die Gefahr einer überkommenen Religion wie des Christentums liegt darin, daß es sich dieser Vergegenwärtigung versagt. Hier ist das religiöse Suchen, das religiöse Fühlen gleichsam vergittert, das einst Lebendige hat sich niedergeschlagen in einer Summe toter Riten, toter Formeln und Probleme. So droht denn dem Christentum die eigent­ liche Gefahr aus dieser Diskrepanz zur Wirklichkeit: aus der Tatsache, daß das Leben des heutigen Menschen in einer anderen Dimension spielt als das Leben derer, die mit Ernst noch Christen sein wollen. Man würde dies noch hingehen lassen, ohne sich zu erregen. Aber die Erregung hebt an, wenn etwas, das augenscheinlich erschöpft, erkaltet, unergiebig ist, Ansprüche auf das Ganze stellt, ja stellen muß. Denn die Kirche, die nur einen kleinen Aus­ schnitt der Gesamtwirklichkeit unseres Daseins bestimmt, hat einen Auftrag für die Gesamtheit, an die Gesamtheit, und sie muß diesen Auftrag ausrichten, auch dann, wenn sie im Grunde an seiner Realisation zweifelt. Aber dieser An­ spruch einer Größe, die für die Mehrzahl tot ist, auf das Ganze, dieser An­ spruch, sage ich, ist es, welcher den Haß gebiert. Denn die Herrschaft einer toten Form über das Leben führt zur Vergewaltigung und zeugt Haß. Die Emanzipation von einem Christentum, das man als überholt und die Existenz nicht mehr berührend empfand, bedeutet zugleich eine Emanzi­ pation der Gläubigkeit von strengen, gebundenen Formen. Eine starke und in ihrem Umfange gar nicht zu ermessende Gläubigkeit ward ent­ bunden, ward frei gemacht — wozu? Mir scheint, daß mit dieser christlich emanzipierten Gläubigkeit, die sehr ungeformt, sehr labil und ungewiß im einzelnen zwischen den verschiedenen „Religionsgemeinschaften" steht, das eigentliche religiöse Problem unserer Zeit bezeichnet ist, und vielleicht nicht nur unserer Zeit. . . Wo liegen heute Bindungsmöglichkeiten für echte religiöse Substanz? Bei der Kirche, die man doch gerade verließ, weil sie nicht zu binden vermochte? Oder bei einem sogenannten deutschen Glauben, der in allen Farben schillert und keinerlei Aussicht eröffnet auf eine kultische Konkretion? Oder soll man sich begnügen auf der Schwelle zwischen Nicht­ mehr und Nochnicht, in der Erwartung, daß die Zeit kommt, wo neue religiöse Formen sich aus dem Dunkel herausheben, ein neuer Kult erblüht? Soll man also für eine oder zwei Generationen die Entscheidungslosigkeit und das tapfere Ausharren in ihr zur religiösen Maxime machen?

Dieses sind die drei Auswege, welche die religiöse Krise unserer Zeit offen läßt. — Die kultischen und sonstigen Konstruktionen des Deutsch­ glaubens, soweit sie vorliegen, haben starke Ernüchterung ausgelöst. Trotz pathetischer Anfänge ist deutlich geworden, daß eine religiöse Erneuerung von hier nicht zu erhoffen ist, es fehlt an ursprünglicher religiöser Substanz, an Spiritualität und an Verantwortung. Darüber ist unter Einsichtigen, auch dort, wo man dem Christentum den Abschied gibt, kein Zweifel. Der Deutschglaube ist im wesentlichen eine Gegensatzbildung zum Christentum, der mit seinem Gegensatz steht und fällt, das Christentum also innerlich nicht überwunden hat. — Man wird sagen, es bleibe dann die faktische Un­ entschiedenheit im Religiösen zur Zeit die einzige Lösung, freilich eine Un­ entschiedenheit, die den Glauben nicht neutralisiert, sondern die lebt von der Hoffnung auf einen kommenden Glauben, der sich irgendwann am geschicht­ lichen Horizont abzeichnen wird. Kein Zweifel, daß die Unentschiedenheit im Religiösen dominiert: man verlor das Alte, und ist aufgebrochen das Neue zu suchen, das jedoch überall nur geahnt, nirgends verwirklicht wird. So fruchtbar die Situation des Überganges eine Zeitlang sein mag, — gerade Epochen des Überganges, der Unentschiedenheit entbinden oft starke schöpfe­ rische Kräfte —, so darf doch nicht vergessen werden, daß die Fixierung des Überganges als Zustand außerordentliche Gefahren birgt. Wir haben die religiöse Übergangssituation in Deutschland nicht erst seit fünf oder zehn, sondern seit mindestens fünfzig Jahren; der Unterschied besteht nur darin, daß uns der Übergang heute stärker bewußt wird als den Generationen

zuvor. Kanonisiert man den religiösen Zwischenzustand, wie das zuweilen versucht und vertreten wird, so vermag wohl eine Minderzahl starker Per­ sönlichkeiten in dieser Schwebe zu leben und sie geistig auszuwerten, das Gros dagegen wird religiös indifferent. In dem Maße, als die Volkskirche zur Fiktion wurde, geriet das Volk religiös in die Schwebe, und es stellte sich heraus, daß keine der religiösen Ersatzbildungen imstande war, die Masse wieder religiös zu beheimaten. Man mag das bedauern; es ist jedenfalls Tatsache. In der Bindungslosigkeit verliert jede Gläubigkeit, auf die Dauer gesehen, den Schwung und das schöpferische Feuer; Bindungslosigkeit, als Zustand, vindiziert den Zerfall. Man kann nicht nur von der Hoffnung leben auf neue religiöse Möglichkeiten, eine neue Gläubigkeit; wer garantiert, wann sie kommt und daß sie überhaupt kommt? So lähmt ein Zwischen­ zustand, in dem sich nichts wirklich Neues kristallisiert; die Zone des Glaubens wird immer mehr verschüttet und endlich ganz verschlossen. Nicht daß man am kirchlichen Gott verzweifelt, ist zunächst das Gefährliche, — man kann es verstehen; aber daß dort, wo man den erstarrten kirchlichen Gott verließ, kein neues, legitimes Gottesbild entdeckt ward, gibt zu denken. Ein paar

134 Dutzend religiöser Gruppen und Grüppchen beeilen sich, das religiöse Erbe anzutreten; aber sie steuern der religiösen Anarchie nicht, sondern beschleu­ nigen sie nur. Die Lage, in der sich die Kirche nicht nur heute, sondern seit geraumer Zeit befindet, bedeutet ein Gericht über sie. Der Protest gegen die Kirche ist der Protest ihrer Kinder, die sich von ihr nicht verstanden, nicht mehr lebendig berührt wußten. Es ist der Protest des Lebens gegen die erstarrte Form der Wahrheit. Aber wohin führt dieser Protest? Er führt entweder in das nebulöse Gelände des Deutschglaubens, oder in die Schwebe, wo man unter Religion den zeitweiligen Verzicht auf jede religiöse Form versteht. Mit einem Wort: was man erreicht ist noch unbefriedigender als das, was man verläßt. Aufs Ganze gesehen, wirkt sich die Ablehnung des Christentums immer stärker in einer völligen Verneinung metaphysischer Formen, trans­ zendenter Problematik aus; das Leben wird, angeblich vom übernatür­ lichen Ballast befreit, sich selbst zurückgegeben und präsentiert sich als leere, in sich schwingende Endlichkeit. Die Flucht des Lebens vor metaphysischer Form, metaphysischer Bindung zeugt den Säkularismuö, und dahinter zeichnet sich, schattenhaft zunächst, ein völlig areligiöses Weltgefühl ab. Was muß geschehen? Es muß eine voraussetzungslose, durch keinerlei weltanschauliche Anleihen belastete Besinnung einsetzen auf die religiösen Urdaten: Mensch und Gott, Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit. Diese Besinnung beginnt mit einer Analyse dessen, was in seiner ganzen Rätsel­ haftigkeit und Widersprüchlichkeit das Wirkliche heißt. Was ist Wirklich­ keit? Die konsequente und sachliche Beantwortung dieser Frage wird schließ­ lich dahin führen, daß aus der Wirklichkeit nicht ein letzter tragender Sinn entnommen werden kann, sondern daß es hier nur ein Widereinander von Standpunkten und „Meinungen" gibt. Der Sinn der Wirklichkeit liegt außer­ halb, umhüllt und verschlossen; sein Aufleuchten im Hiesigen nennen wir Offenbarung. Die gesamte Wirklichkeit zielt ab auf Offenbarung, ist auf

Offenbarung angewiesen: das heißt, auf die Enthüllung des transzendenten Sinnes. Damit aber stehen wir inmitten des Christentums. Unsere Lage ist also die: wir bedürfen eines neuen und schöpferischen Ansatzes in der Kirche, eines Ansatzes, der das Alte nicht verwirft, sondern der es entkrustet, der es reduziert auf die dahinter stehenden Wirklichkeiten. In den christlichen Formeln, in den Worten christlicher „Verkündigung" schlummern die Vorgänge, um die es geht; wir müssen die Worte und Be­ griffe der Kirchensprache wieder aufmeißeln, um diese Vorgänge bloß­ zulegen. Es ist der einzige Weg, um die ewige Aktualität der evangelischen Wahrheit wieder ins Bewußtsein der Zeit zu heben. Denn die Wahrheit des Evangeliums, die Wahrheit der Gestalt Christi sind ewig; aber wenn diese

135 Wahrheit begrifflich verhärtet, wenn ihr das Leben entweicht, läuft sie Gefahr, zur Parodie auf sich selbst zu werden. Schöpferische Entkrustung der Überlieferung, Destruktion der schulmäßig verhärteten Formeln und Begriffe, welche nicht mehr verstanden werden: das ist die Aufgabe einer Generation, welche inmitten der Krise die geistige Bedeutung des Evan­ geliums und des Christentums wieder zu begreifen beginnt. Diese Lage des Christentums ist es, welche die eigentümliche Aktualität Jakob Böhmes bedingt. Böhmes Bedeutung ruht darin, daß er nicht in überkommenen Schemata und Problemstellungen denkt, sondern daß er sich unmittelbar der Wirklichkeit mit ihren Rätseln konfrontiert. Aus dieser Konfrontation wächst ein Denken, das wahrhaft wirklichkeitsgesättigt ist, und das doch unmittelbar auf die zentralen christlichen Wahrheiten rück­ führt. Daß die christliche Wahrheit die Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Sein berge, wird erst wirklich deutlich, wenn man völlig voraus­ setzungslos und kompromißlos denkt. Darum ist die christliche Wahrheit in unserer Zeit weniger dort überzeugend, wo man sich auf die Vergangenheit beruft oder wo man durch die Monotonie des Anspruchs die Gemüter ver­ wirrt, sondern dort, wo man einsieht: sie ist die schlechthin gültige Antwort auf die den Menschen bewegende Lebensfrage. Wir sehen in den verschiedenen Kapiteln unserer Ausführung, wie der ganze Wirklichkeitsbereich durch­ fragt, durchforscht wird, ohne daß sich Böhme hinter tradierte Formen und Formeln flüchtet; wie sehen zugleich, wie die Ergebnisse, die dabei ge­ wonnen werden, in die christliche Auffassung einmünden. Es gibt einen Radikalismus des Fragens, der bei keiner vorletzten Größe Haltmacht und unmittelbar auf die christliche Lösung stößt — Böhme zeigt es überzeugend. Schließlich repräsentiert Böhme die Verbindung von deutschem Geist und christlichem Geist. Der deutsche Geist entzündet sich am christlichen Problem zur letzten Tiefe; das christliche Problem wird durch den deutschen Geist in souveräner Weise aufgelockert und vergegenwärtigt. Es ist gut, sich an einer Gestalt wie Böhme zu veranschaulichen, daß Deutschtum und Christentum keine exklusiven Größen sind, sondern daß sie sich in diesem Falle verbinden, um eine wahrhaft schöpferische Persönlichkeit zu legitimieren. Böhme zeigt die Aktualität des Evangeliums für das Leben, die nicht ge­ schichtlich ist, nicht überholt ist, sondern die von Bedeutung ist für das geistige und religiöse Schicksal der Nation.

Die Schriften

Böhmes

Morgenröte im Aufgang („Aurora") Beschreibung der drei Prinzipien Göttliches Wesens (de tribus principiis) 1619/20 Von dem dreifachen Leben des Menschen (de triplici vita hominis) Vierzig Fragen von der Seelen (Psychologia vera) Von der Menschwerdung Jesu Christi (De incamatione verbi) 1620 Von sechs theosophischen Punkten (Sex puncta theosophica) Sechs mystische Punkte (Sex puncta mystica) Von dem irdischen und himmlischen Mysterium (Mysterum pansophicum) Unterricht von den letzten Zeiten (Informatorium novissimorum I, II) Von göttlicher Beschaulichkeit (Theoscopia) 1621 Trostschrift von vier Komplexionen (de quatuor Complexionibus) Schutzfchriften wider Balthasar Tilken, I, II (Libri Apologetici) Bedenken über Esaia Stiefels Büchlein (Antistiefelius, I) 1622 Dom Irrtum der Sekten Esaiä Stiefels und Ezechiel Meths (Anti­ stiefelius, II) Von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen (De signatura rerum) Von wahrer Buße (De poenitentia vera) Von der neuen Wiedergeburt (De regeneratione) Von der wahren Gelassenheit (De aequanimitate) Vom übersinnlichen Leben (De vita mentali) 1623 Von der Gnadenwahl (De electione gratiae) Von Christi Testamenten (De testamentis Christi) Erklärung über das erste Buch Mosis (Mysterium magnum) 1624 Tafeln von den drei Prinzipien (Tabulae principiorum) Gespräch einer erleuchteten und unerleuchteten Seele (Colloqium viatorum) Vom heiligen Gebet (Suspiria viatorum) Schutzrede wider Gregorius Richter (Apologia contra Gregorium Richter) 177 theosophische Fragen (quaestiones theosophicae) Erklärung der vornehmsten Punkte (Clavis) 1618/24 Theosophische Sendbriefe (Epistolae theosophicae)

1612 1618/19

Oie gängigste und handlichste Ausgabe von Jakob Böhmes gesammelten Werken ist noch immer die von K. W. Schiebler 1831/1847 in 7 Bänden bei Johann Ambrosius Barth in Leipzig herausgegebene. Ein unveränderter Wieder­ abdruck dieser ersten Auflage ist 1922 im gleichen Verlage erfchienen. Druck: Oietsch & Brückner GmbH., Weimar

Theologische Blatter In Verbindung mit G. Bornkamm - Bethel / H. v. Campenhausen - Greifswald G. v. Rad - Jena / H. Thielicke - Heidelberg W. Trillhaas - Erlangen herausgegeben von

Professor D. Hermann Strathmann, Erlangen 18. Jahrgang. 1939. 12 Nummern. Bezugspreis halbjährlich RM 5.—, für Studenten RM 4.—. Bei direktem Bezug zuzüglich 30 Pfg. Porto Unabhängig von kirchenpolitischen und wissenschaftlichen Richtungen aber geleitet vom Bewußtsein der kirchlichen Verpflichtung, die aller theologischen Arbeit erst ihren Sinn gibt, stellen die ThBl das zu­ sammenfassende Organ der deutschen wissenschaftlichen Theologie dar, in dem die Fragen von allgemeiner Bedeutung, zu denen auch die spezialistische Arbeit immer wieder hinleitet, einer Klärung ent­ gegengeführt werden. Wer sich über den Fortgang der theologischen Arbeit und ihre Bedeutung für das kirchliche Handeln unterrichten will, wem die strenge Erforschung der Wahrheit theologische und kirchliche Pflicht ist, der wird die ThBl nicht entbehren können» Die Zeitschrift bei diesem Ziel durch die Tat zu unterstützen, sollte eine Gemeinschaftsaufgabe aller derer sein, die wissen, was die Pflege wissenschaftlicher Theologie heute bedeutet.

Theologische Literaturzeitung Monatsschrift für das gesamte Gebiet der Theologie und Religionswissenschaft Begründet von Emil Schürer und Adolf von Harnack Unter Mitwirkung von Professor Dr. Gustav Mensching, Bonn

herausgegeben von Dozent Lic. H.-G. Opitz, Berlin Mit Bibliographischem Beiblatt, bearbeitet von Bibliotheksrat Lic. Dr. phil. Reich, Bonn, und Bibliotheksrat Lic. E. Steinborn, Berlin 64. Jahrgang. 1939. 12 Nummern. Bezugspreis halbjährlich RM 22.50 Die Aufgabe der ThLZ ist schnellste und zuverlässige Berichterstattung über alle wichtigen Veröffentlichungen auf dem Gebiete der Theo­ logie und ihren Randgebieten unter besonderer Berücksichtigung der Religionswissenschaft. In völliger Unabhängigkeit von wissenschaft­ lichen oder kirchlichen Richtungen erfüllt die ThLZ diese Aufgabe durch Aufsätze, in denen Neuerscheinungen von grundlegender Wich­ tigkeit behandelt werden; wissenschaftlich-kritische Besprechungen von Neuerscheinungen; Sammelreferate und kurze Nachrichten aus der wissenschaftlichen Forschung und dem akademischen Leben. Das Beiblatt stellt ein jedem wissenschaftlich arbeitenden Theologen un­ entbehrliches Nachschlagewerk dauernden Wertes dar. Probenummern beider Zeitschriften kostenfrei

J. C. HINRICHS VERLAG IN LEIPZIG C 1