Das rechtliche Konzept der Familienbesteuerung [1 ed.] 9783428480043, 9783428080045

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Das rechtliche Konzept der Familienbesteuerung [1 ed.]
 9783428480043, 9783428080045

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Schriften zum Steuerrecht

Band 47

Das rechtliche Konzept der Familienbesteuerung Von

Wolfgang Lingemann

Duncker & Humblot · Berlin

WOLFGANG LINGEMANN

Das rechtliche Konzept der Familienbesteuerung

Schriften zum Steuerrecht Herausgegeben von Prof. Dr. Joachim Lang und Prof. Dr. Jens Peter Meincke

Band 47

Das rechtliche Konzept der Familienbesteuerung Von Wolfgang Lingemann

DUßcker & Humblot . Berliß

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lingemann, Wolfgang: Das rechtliche Konzept der Familienbesteuerung / von Wolfgang Lingemann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Schriften zum Steuerrecht; Bd. 47) Zug!.: Köln, Univ., Diss., 1992/93 ISBN 3-428-08004-1 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0235 ISBN 3-428-08004-1

Vorwort Das Thema einer gerechten Besteuerung der Familie scheint noch nicht ausgeschrieben zu sein. Die Politik wendet sich fragend den Steuerwissenschaften zu. Sie erhält jedoch aus der interdisziplinären Diskussion widersprüchliche Ratschläge. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Familienbesteuerung und zum Grundfreibetrag entwirft ebenso nicht in jeder Hinsicht eine klare konzeptionelle Linie. Die vorliegende Arbeit versucht zum einen zu einer klaren, den Wertsetzungen des Grundgesetzes folgenden Lösung zu fmden, zum anderen interdisziplinäre Standpunkte zu beleuchten und die Besteuerung der Familien im Ausland mitzuberücksichtigen. Es war dem Verfasser ein besonderes Anliegen, zwischen der Besteuerung unverheirateter Paare und derjenigen von Ehegatten gedanklich zu vermitteln. Die Arbeit ist im Wintersemester 1992/93 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen worden. Sie wurde angeregt und betreut von Herrn Prof. Dr. Joachim Lang, der mir die Augen für die verschiedensten Aspekte des Themas geöffnet hat. Ihm danke ich nachdrücklich rUr die Gewährung des Freiraumes für diese Schrift. Herrn Prof. Dr. Klaus Tipke, der freundlicherweise die Aufgabe der Zweitbegutachtung übernahm, bin ich dankbar verbunden. Es ist mir eine besondere Ehre, daß die Herren Professoren Dr. Joachim Lang und Dr. Jens Peter Meincke als Herausgeber der "Schriften zum Steuerrecht" sich entschlossen haben, die Arbeit in diese Schriftenreihe aufzunehmen. Mein Dank gilt schließlich auch meinen Eltern, die mich während der Promotion fortwährend unterstützt und ermutigt haben. Ihnen und meinem Freund Joachim Schabacker ist diese Arbeit gewidmet. Das Manuskript wurde Ende Juli des Jahres 1992 abgeschlossen. Der Grundfreibetragsbeschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 25.9.1992 und die daraufhin getroffene Übergangsregelung des Bundesministeriums der Finanzen konnten noch nachträglich eingearbeitet werden. Ferner ist eine englische Übersetzung der Ergebnisse der Arbeit angefügt worden. Köln, im April 1993

Wolfgang Lingemann

Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel Grundlegung

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

19

19

B. Das Recht als Wertordnung .............................. 22 I.

Die Wertgebundenheit des Rechts ....................... 22 1. Werterfahrung .................................. 22 2. Die Frage nach der Herkunft von Wertvorstellungen ........ 23 3. Der Konsens als Grundlage einer gültigen Wertordnung . . . . .. 24 4. Rechtsstaatliche Verfassungen und völkerrechtliche Verträge als klassische Ausdrucksfonnen gesamtgesellschaftlicher Einigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 25

H. Die Eigenart des Steuerrechts: Zwischen öffentlichem Eingriffsverwaltungsrecht, interventionistischem Wirtschafts- und Sozialrecht und ökonomischem Wirkungsfaktor .................. 29

c. Die Einheit der Rechtsordnung und das gemeinsame Fundament der

Steuerwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 30

I.

Fünf Kriterien, die ein Steuersystem nach weitverbreiteter ökonomischer Auffassung erfüllen sollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 34

H. Berührungspunkte zwischen neutraler Besteuerung und Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfahigkeit ......... 37

8

Inhaltsverzeichnis III. Unvereinbarkeit der Forderung nach Wertfreiheit mit der Steuerrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

38

D. Die Umsetzung von Gerechtigkeitsentscheidungen anhand des grundgesetzlichen Wertesystems und des Systems steuerrechtlicher Sachgesetzlichkeiten ........................................ 40

2. Kapitel

Der Gnmdrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

42

A. Der Schutz der Familie nach Art.6 Abs.l GG .................. 42 I.

Verbindlicher verfassungsrechtlicher Schutz einer autonomen Familie ......................................... 42

11. Ehe und Familie als Grundrechtsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 44 1. Einbeziehung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft in den Schutzbereich der Ehe? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 44 a) Gleichstellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit der Ehe, wo es um die Messung von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit im weitesten Sinne geht. . . . . . . . . . . . . .. 47 b) Mangelnde Tragfähigkeit spezifischer stabilisierender Elemente der Ehe ................................ 50 c) Fazit: Weitestgehende Angleichung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft im Hinblick auf den Schutzbereich des Art.6 Abs.l GG; Gleichbehandlung wirtschaftlich gleicher Sachverhalte ................................. 50 2. Weiter Familienbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 52 3. Gleichordnung von Ehe und Familie oder Vorrang der Familie? III. Renaissance der Familie in Europa mittels des Familienschutzes im Steuerrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

54 56

9

Inhaltsverzeichnis

IV. Besonderer staatlicher Schutz: Förderungsgebot und Benachteiligungsverbot, Art.6 Abs.1 GG und Art.6 Abs.1 in Verbindung mit Art.3 Abs.1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 60 I. Die Bedeutung und die Instrumente der Familienförderung . . .. 60 2. Die Unterscheidung FiskalzwecknonnenlSozialzwecknonnen als sachgerechte Abgrenzungsfonnel .. . . . . . . .. . . . . . . . .. 61 3. Der Inhalt des Benachteiligungsverbots ................. 62

B. Der Schutz der Familie aufgrund von Art.3 Abs.1 GG ............ 63 I.

Die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungstahigkeit als Vergleichsmaßstab im Rahmen der Prüfung des Gleichheitssatzes ............................................ 63

11. Die existenznotwendigen Ausgaben und die Unterhaltspflichten als Bestandteile der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungstahigkeit .................................... 65 III. Zur Bedeutung des Gleichheitspostulats bei Sozialzwecknonnen . .. 66

C. Die realitätsgerechte Berücksichtigung des Existenzminimums sowohl für Eltern als auch für Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 68 I.

Familienschutz aus der Würde des Menschen, Art. I Abs.1 GG ... 69 I. Art.1 GG als Fundament aller Wertsetzung

.............. 69

2. Art.1 Abs.1 GG als sedes materiae des allgemeinen Subsidiaritätsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 72 11. Besteuerungsrestriktionen aufgrund des Eigentumsschutzes, Art.l4 GG ....................................... 76 III. Hilfsweiser Schutz aufgrund der allgemeinen Handlungsfreiheit, Art.2 Abs.1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

80

IV. Rechtfertigung aus dem Sozialstaatsprinzip, Art.20 Abs.l, 28 Abs.1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 81

10

Inhaltsverzeichnis 3. Kapitel

Die Verwirklichung des Benachteiligungsverbots der Ehe und der Familie

83

A. Die realitätsgerechte Berücksichtigung eines Existenzminimwns bei

der Einkommensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 83

I.

Uneinigkeit, welche Normen existenznotwendigen Lebensbedarf freistellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 83

H. Bedenken gegenüber der vom Bundesfmanzhof vertretenen und durch das Bundesverfassungsgericht fortgeführten "Verbleibenstheorie" ......................................... 86 III. Zwischenergebnis .................................. 87 IV. Blick auf die geschichtliche Entwicklung der steuerlichen Berücksichtigung des "Existenzminimwns" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 88 1. Zeugnisse über das Existenzminimwn im Altertwn .........

88

2. Freistellung existenznotwendigen Lebensbedarfs im Mittelalter . 91 3. Das Existenzminimwn in den Gesetzen der Neuzeit ........ 92 V. Die gegenwärtigen internationalen Existenzminimwnnormen

100

1. Die Weiterentwicklung des deutschen Grundfreibetrages

100

2. Das steuerliche Existenzminimwn der EG-Mitgliedstaaten und ausgewählter anderer Länder ........................ 102 VI. Quantiflzierung des existenznotwendigen Lebensbedarfs ..... . . . 105 1. Überholte und ungeeignete Versuche ................... 105

2. Orientierungsmaßstäbe der Bemessung steuerrechtlicher Existenzminimwnnormen: Sozialhilferecht oder Zivilrecht (Unterhaltsrecht) oder Pfändungsfreigrenzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 a) Anknüpfimg des belastenden Steuereingriffs an die vom Individualisierungsgrundsatz beherrschte Sozialhilfegewährung? ...................................... 110

Inhaltsverzeichnis

11

b) Bedarfsbemessungssystem und Parlamentsvorbehalt

112

c) Berechnung des sozialhilferechtlichen Existenzminimwns

112

(l) Der Inhalt des "Statistik" -Bedarfsbemessungssystems

115

(2) Existenzminimwn einer vierköpfigen Familie nach der Sozialhilfe und den Ausgabenberechnungen des Statistischen Bundesamts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 (3) Berechnung der Beträge für EinzelpersonenlEhegatten .. 120 (4) Übersichten zu den Ergebnissen der Berechnungen .... 122 d) Das Familienexistenzminimwn nach unterhaltsrechtlichen Größen ..................................... 123 (l) Unterhaltsrechtlicher Selbstbehalt von Ehegatten . . . . . . 124

(2) Regelbedarf des Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 e) Der Vergleich mit den Pfändungsfreigrenzen der Zivilprozeßordnung .................................. 128 f) Gegenüberstellung des sozialhilferechtlichen, des unterhaltsrechtlichen und des zwangsvollstreckungsrechtlichen Familienexistenzminimwns ........................ 129

3. Abzüge von der Steuerbemessungsgrundlage oder von der Steuerschuld oder Gewährung von BOrgergeid (negative Steuer)? ......................................... 131 a) Abzug von der Steuerbemessungsgrundlage oder von der Steuerschuld? ................................. 131 (l) Gerechtigkeitsfunktion der Bemessungsgrundlage versus Tarifmodifikationsdenken ................... 133

(2) Konswnorientiertes Steuersystem versus Kapitaleinkommensteuersystemdenken .................... 139 b) Die Wirkung des Grundfreibetrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 c) Der Einwand, Abzüge von der Bemessungsgrundlage begünstigten zu große Einkommensteile ................ 146

Inhaltsverzeichnis

12

d) Der Vorschlag eines BÜfgergeldes (negative Einkommensteuer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 e) (Grund)Freibeträge für das Familienexistenzminimum ..... 150 f) Zusammentreffen mehrerer Existenzminimumnormen, Kumulationsabbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

4. Die Haushaltsersparnis der nichtehelichen Lebensgemeinschaft . 153

B. Die realitätsgerechte Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen .. 155 I.

Regelungen hinsichtlich der Einkommensteuerbemessungsgrundlage 156 1. Die Berücksichtigung des Transfers steuerlicher Leistungsfähigkeit durch Familienrealsplitting .................... 156 a) Verringerte steuerliche Leistungsfahigkeit des Unterhaltsverpflichteten; Steuerpflicht der Unterhaltsbezüge ........ 156 b) Abzugsverbot durch § 12 Nrn.l, S.l; 2 EStG? .......... 163 2. Zur Beurteilung der Ehegattenbesteuerung ............... 166 a) Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft; hälftige Zurechnung

170

b) Ausgestaltung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums hinsichtlich der traditionell diskutierten Kritikpunkte ...... 171 c) Neue Gestaltungsimpulse für den Steuergesetzgeber angesichts des gesetzlichen Güterstandes der ehemaligen DDR: tarifliches Ehegattensplitting bei Errungenschaftsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 3. Vorschlag zur Besteuerung von Unterhaltsgemeinschaften: Realsplitting bei Zugewinngemeinschaft und bei gefestigter nichtehelicher Lebensgemeinschaft .................... 177 4. Steuerverfahrensrechtliche Anerkennung von nichtehelichen Lebensgemeinschaften; Kritik des Osterreichischen Entwurfs eines Familienmaßnahmengesetzes .................... 180 11. Die Gestaltung des Einkommensteuertarifs ................. 183

Inhaltsverzeichnis 1. Obere Proportionalzone; Progressionszone

13 184

2. Abschaffung der unteren Proportionalzone zugunsten einer über das Existenzminimum hinausreichenden Verschonungszone ......................................... 185 3. Reformvorschläge mit tariflichem Familiendivisorensplitting . . . 187 a) Das französische Beispiel ........................ 187 b) Stellungnahme gegen das Divisorensplitting ............ 190 III. Einzelne Regelungen des Einkommensteuerrechts zur Berücksichtigung fremden Lebensbedarfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 1. Der Ehegattenunterhalt ............................ 191 a) Der allgemeine Abzug von Unterhaltsaufwendungen nach § 33a Abs.1 EStG ............................. 191 b) Gemeinschaftlicher regelmäßiger Lebensbedarf bei nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 c) Der speziellere Geschiedenen-/Getrenntlebendenunterhalt, § 10 Abs.1 Nr.1 EStG ........................... 193 d) Vorsorgeaufwendungen für Versicherungen, die auch den anderen Ehegatten begünstigen im Rahmen der Höchstbeträge ....................................... 193 e) Der Abzug von Aufwendungen für die Ausbi1dunglWeiterbildung des Ehegatten, § 10 Abs.l Nr.7 EStG .......... 194 2. Der Kindesunterhalt .............................. 194 a) Der Kinderfreibetrag, § 32 Abs.6 EStG ............... 194 b) Der Haushaltsfreibetrag, § 32 Abs.7 EStG .............. 197 c) Der Schulgeldabzug, § 10 Abs.1 Nr.9 EStG .... . . . . . . . . 198 d) Der Unterhalts freibetrag für Kinder unter den Voraussetzungen des § 33a Abs.l EStG ..................... 198 e) Der Ausbildungsfreibetrag, § 33a Abs.2 EStG

.......... 199

14

Inhaltsverzeichnis f) Außergewöhnliche Belastungen wegen Krankheit Wld Kör-

perbehindefWlg, §§ 33a Abs.3; 33b Abs.5, 6 EStG ....... 199

g) Der Abzug von KinderbetreuWlgskosten, § 33c Abs.l, 5 EStG 199 h) Die SenkWlg der zurnutbaren Belastung, § 33 Abs.3 EStG .. 201 i) Kindbedingte Korrekturen der BemessWlgsgfWldlage für die Annexsteuern (§ 51 a EStG) Wld der Einkommensgrenzen in FördefWlgsgesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

4. Kapitel Die Verwirklichung des Förderungsgebots von Ehe und Familie

202

A. Vorausgehende familienbezogene SteuerbefreiWlgen, § 3 EStG ... . .. 204

B. Das Instrument des Kindergeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 I.

Kindergeld als Instrument der Einkommensteuer ............. 207

11. Die Vorschläge der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands: ErhöhWlg des Kindergeldes; Abschaffung des Kinderfreibetrages .... 209 1. Das verfehlte "Ausscheren" aus der Gesamtheit der Defmitionen einer sachgerechten, wertenden EinkommensteuerbemessWlgsgfWldlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

2. Die teure DegradiefWlg des Kindergeldes zu einem Appendix zwingender steuerlicher Entlastung Wld des Tarifverlaufs ..... 213 3. Mangelnde Transparenz der KindergeldlösWlg ............ 215 4. Verwerfimgen zwischen bedUrftigkeitsunabhängigem Kindergeld Wld bedUrftigkeitsabhängigem Kindergeldbetrag der Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 III. Mängel der neuen Vorschriften des SteuerändefWlgsgesetzes 1992 hinsichtlich des Kinderlastenausgleichs .................... 216

Inhaltsverzeichnis

15

IV. Revitalisierung der Familienausgleichskassen? . . . . . . . . . . . . . . . 217

C. Förderungsleistungen in der Einkommensteuerbemessungsgrundlage ... 220 I.

Sonderausgabenabzug der Aufwendungen für ein hauswirtschaftliches Beschäftigungsverhältnis, § 10 Abs.l Nr.8 EStG .......... 220

11. Wohnungsbauförderung nach § 10e EStG als Voraussetzung für § 34f EStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 III. Quasi-Sonderausgabenabzug wegen an Angehörige unentgeltlich überlassener Wohnungen gemäß § lOh EStG (StÄndG 1992) . . . . . 221

D. Förderung durch Abzüge von der Steuerschuld ................. 222

"Baukindergeld" nach § 34f EStG ............................. 222

Zusammenfassung der Ergebnisse

223

Summary of the Main Scientific Results

228

Anhang A. Grundsätze der Familienbesteuerung im internationalen Vergleich

.... 233

B. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

C. Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 D. Verzeichnis der Gerichtsentscheidungen ...................... 263 E. Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

Abkürzungs- und Gesetzesverzeichnis AFG

Arbeitsförderungsgesetz

AG

Die Aktiengesellschaft

AK-GG

Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Reihe Alternativkommentare, Gesamtherausgeber Rudolf Wassermann

Anh

Anhang

AO

Abgabenordnung (AO 1977) vom 16.3.1976, BGBl. I, S.613, ber. BGBl. I 1977, S.269.

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

B

Betriebs-Berater (Zeitschrift)

bfr

Belgische Francs

BHO

Bundeshaushaltsordnung vom 19.8.1969, BGBI. I, S.1284.

BKGG

Bundeskindergeldgesetz in der Fassung der Neubekanntmachung vom 30.1.1990, BGBI. I, S.149.

CGI

Code General des Impöts (& Livre des Procedures Fiscales), Paris 1991.

DB

Der Betrieb (Zeitschrift)

DÖV

Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift)

Dr

Griechische Drachmen

DStR

Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift)

DStZ

Deutsche Steuer-Zeitung (Zeitschrift)

DtZ

Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EuGRZ

Europäische Grundrechtszeitschrift

FA

Finanzarchiv, Neue Folge (Zeitschrift)

FamRZ

Zeitschrift für das gesamte Familienrecht

Abkürzungs- und Gesetzesverzeichnis

17

FF (Fr.)

Französische Francs

FR

Finanz-Rundschau (Zeitschrift)

FS

Festschrift

FuR

Familie und Recht (Zeitschrift)

GV NW

Gesetz- und Verordnungsblatt Nordrhein-Westfalen

hfl

Holländische Gulden

HGrG

Gesetz über die Grundsätze des Haushaltsrechts des Bundes und der Länder, Haushaltsgrundsätzegesetz, vom 19.8.1969, BGBI. I, S.3656.

i.V.

in Verbindung

IWB

Internationale Wirtschaftsbriefe für Internationales Steuer- und Wirtschaftsrecht (Zeitschrift)

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts

JR

Juristische Rundschau (Zeitschrift)

JuS

Juristische Schulung (Zeitschrift)

JZ

Juristen Zeitung (Zeitschrift)

L

Italienische Lire

lfd.

laufende

LIR

Loi du 4.12.1967 concernant l'impöt sur le revenu

LIRPF

Ley deI impuesto sobre la Renta de las Personas Fisicas

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

NDV

Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (Zeitschrift)

NJW

Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)"

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

ÖStZ

Österreichische Steuer-Zeitung (Zeitschrift)

pts

Spanische Peseten

RegelbedarfVO

Regelunterhaltverordnung vom 27. Juni 1970, BGBI. I, S.lOIO.

RegelsatzVO

Verordnung zur Durchführung des § 22 Bundessozialhilfegeset-

2 Lingemann

18

Abkürzungs- und Gesetzesverzeichnis zes (Regelsatzverordnung) vom 20.7.1962 (BGBI. I, S.515) in der Fassung der Verordnung vom 21.3.1990, BGBI. I, S.562.

RIW

Recht der internationalen Wirtschaft (Zeitschrift)

S

Österreichische Schilling

sm 3

Sonderforschungsbereich 3 "Mikroanalytische Grundlagen der Gesellschaftspolitik" der J.W. Goethe-Universität Frankfurt und der Universität Mannheim

SGB I

Sozialgesetzbuch I

sog.

sogenannt

Stbg

Die Steuerberatung (Zeitschrift)

StuW

Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift)

StVj

Steuerliche Vierteljahresschrift (Zeitschrift)

VVDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer

VwBI. NW

Nordrheinwestfälische Verwaltungsblätter

VwVfG

Verwaltungsverfahrensgesetz vom 25.5.1976, BGBI. I, S.1253.

VwVG

Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz vom 27.4.1953, BGBI. I, S.157.

VwVGNW

Verwaltungsvollstreckungsgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.5.1980, GV NW, S.51O.

Wet IB

Wet op de inkomstenbelasting 1964

Wet SW

Successiewet

Wet VB

Wet op de vermogensbelasting 1964

WohngeldG

Wohngeldgesetz in der Neufassung vom 4.7.1991, BGBI. I, S.1433.

Z

Ziffer

ZfbF

Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung

ZfF

Zeitschrift für das Fürsorgewesen

ZGB

Zivilgesetzbuch der Deutschen Demokatischen Republik

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

1. Kapitel

Grundlegung A. Einleitung Das Ziel dieser Arbeit ist es, die gerechte Besteuerung der Familie im Kontext eines Steuersystems zu entfalten, das hauptsächlich die Einkommensteuer auf ein Konzept eines verwendungsorientierten Einkommensbegriffes stützt: Neuen Auftrieb erhielt die Diskussion um die Grundfesten der Einkommensbesteuerung der Familie durch die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vorn Sommer 1990 zur realitätsgerechten Berücksichtigung des Existenzminimums von Kindern im Steuerrecht.! Seitdem ist von steuerjuristischer Seite die Gerechtigkeitsfunktion der Einkommensteuerbemessungsgrundlage im Gegensatz zu Steuerabzugsbeträgen und Tariflösungen immer deutlicher eingefordert worden. Die Begründung der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts öffnet den Weg zu einern konsequent von der Verwendungsseite her betrachteten Begriff des disponiblen Einkommens als Bemessungsgrundlage des Steuereingriffs, der von immer mehr Ökonomen bestätigt, aber auch von einer Minderheit kritisiert worden ist. 2 Es soll versucht werden, auch den kritischen ökonomischen Standpunkt näher zu beleuchten. Die Ansicht dieser Minderheit ignoriert hartnäckig, daß zumindest das subjektive Familiennettoprinzip die Schwelle zu einer rechtlichen Institution gegenwärtig überschreitet. Stattdessen wird der überkommene kapitalorientierte Markteinkommensbegriff favorisiert, der keine persönlichen Abzüge von der Steuerbemessungsgrundlage vorsieht

BVerfGE 82, 60; 82, 198. P. Bareis, DStR 1991, ll64 ff. Wld 1399 ff. Wld 1434 ff.; FR 1991,405; ferner zur BehandlWlg von Privatausgaben StuW 1991,38.

20

I. Kapitel: Grundlegung

und deshalb in krassem Widerspruch zu den rechtlichen Wertungen steht, die Im die Einkommensteuer Verbindlichkeit erlangen. In der öffentlichen Diskussion steht mittlerweile nahezu das gesamte Konglomerat der persönlichen Abzüge bei der Einkommensteuer. Dies ist ein Zeichen des sich in Deutschland immer mehr verfestigenden subjektiven Nettoprinzips. Auf dieser Basis soll in dieser Arbeit auch der Vergleich mit den wesentlichen Eigenschaften der Familienbesteuerung anderer europäischer Länder geführt werden. Vor allem der zukünftige EGPartner Österreich vollzieht gegenwärtig offenbar ebenso eine Reform des Einkommensteuerrechts im Sinne einer Neugestaltung der Einkommensteuerbemessungsgrundlage, um die Familie vor Benachteiligung zu schützen. Daß nur die Renaissance klarer, strukturierter Regeln für Steuerrecht und Sozialrecht zu einer akzeptablen Lösung führen kann, wird verdeutlicht werden. Mit dem in dieser Arbeit vorgeschlagenen Konzept des Familienrealsplittings einschließlich einer Einschränkung des gegenwärtigen tariflichen Ehegattensplittings zugunsten eines Ehegattenrealsplittings soll zugleich ein Prototyp einer gesamteuropäischen Lösung angeregt werden. Daß das Steuerrecht nicht positivistisch als Experimentierfeld des Gesetzgebers verstanden werden darf, wie es die Auffassung der Mehrzahl deutscher Steuerjuristen ist, sondern als nach sachgerechten Regeln zu ordnendes System im Schnittpunkt der verschiedenen anderen Rechtsgebiete steht, wird hier nachdrücklich unterstützt. Zwar ist die Besteuerung der Familie bereits Gegenstand einiger weiterer wissenschaftlicher Arbeiten gewesen; indessen scheint die Besteuerung der Familie gerade unter den neuen Gesichtspunkten rechtlicher Verfestigung, der Gegenkontrolle durch ökonomische Steuertheorie und der Schaffung eines für ein gemeinsames Europa vorbildlichen Reformansatzes von aktueller Brisanz. Die 1986 von Elanie Heldmann3 veröffentlichte Dissertation behandelt das Problem des Familienlastenausgleichs vorwiegend aus gesellschaftspolitischer Anschauung und präferiert ein zusammengefaßtes Transfersystem für den Kinderlastenausgleich. Die steuerrechtliche Seite wird nur am

Kinderlastenausgleich in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am MainlNew York 1986.

A. Einleitung

21

Rande behandelt4 ; der inzwischen lebhaft diskutierte Komplex der Ehegattenbesteuerung wird hingegen dort nicht zum Untersuchungsgegenstand gewählt. Starke Unterstützung erfahrt die volkswirtschaftliche Analyse ferner durch die Schrift von Franz-Ulrich WillekelRalph Onken 5 zu 30 Jahren monetärer Familienpolitik mit dem Vorschlag der Einführung von Kindergrundfreibeträgen und variablem Kindergeld. Ebenso haben die wissenschaftlichen Untersuchungen von Juristen das Thema noch nicht vollends ausgeschöpft. Die 1982 durch Hans-Joachirn Czub6 angestellte Gestaltungsüberlegung zur Abstimmung von Steuerrecht und Sozialhilfe kommt zu dem von der hier betonten Geltung des Subsidiaritätsgrundsatzes stark abweichenden Ergebnis, daß der Staat dem Bürger zunächst etwas nehmen darf, was er mit der anderen Hand verpflichtet ist, ihm wieder auszuteilen. 7 Gerhard Vorwold8 vertritt in seiner durch das amerikanische Recht inspirierten Abhandlung das dort praktizierte Auslaufenlassen von Steuerfreibeträgen für unvermeidbare Privataufwendungen und spricht sich damit letztlich auch entgegen den richtungweisenden Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts für einen Verstoß gegen das Prinzip horizontaler Steuergerechtigkeit aus, den er mit Überlegungen vertikaler Steuergerechtigkeit zu rechtfertigen versucht. 9

S.384.

Vgl. E. Heldmann, Kinderlastenausgleich in der Bundesrepublik Deutschland,

Allgemeiner Familienlastenausgleich in der Bundesrepublik Deutschland, FrankfurtlNew York 1990. VerfassungsrechtIiche Gewährleistungen bei der Auslegung steuerlicher Lasten, Berlin 1982. H.-J. Czub, VerfassungsrechtIiche Gewährleistungen bei der Auslegung steuerlicher Lasten, Berlin 1982.

Die Ehe- und Familienbesteuerung im Licht der US-amerikanischen Veränderungen, Diss. 1990. Dies kann auch nicht durch die Feststellung verschleiert werden, es handle sich bei dem Vorschlag einer tariflichen Mehrbelastung der Besserverdienenden um eine Korrektur "nur" auf tariflicher Ebene bei im übrigen zutreffender Ausgestaltung der Bemessungsgrundlage (vgl. auch G. Vorwold, StuW 1992,264). Hiergegen ist zu sagen: "Es ist ... nicht zulässig, die Negation leistungsflihigkeitsmindernder Umstände in der Bemessungsgrundlage in eine vertikale Belastungsentscheidung des Gesetzgebers umzudeuten .... Daher sind auch Eltern höherer und höchster Markteinkommen auf eine niedrigere Einkommensstufe zu stellen als kinderlose Steuerpflichtige gleich hoher Markteinkommen", J. Lang, StuW 1990,331,347. Auf eine unzulässige Korrektur der Bemessungsgrundlage Höherverdienender über den Umweg der Tarifentscheidung läuft der Vorschlag G. VorwohJs aber hinaus.

22

I. Kapitel: Grundlegung

Schließlich behandelt auch die 1991 von Martin ModereggeriO vorgelegte Dissertation die Besteuerung der Familie überwiegend unter dem verfassungsrechtlichen Standpunkt, nicht so sehr aber im Lichte international von immer mehr Ökonomen vertretener Eigenschaften der Steuerbemessungsgrundlage. Seit dem Zeitpunkt der Fertigstellung jener Arbeit sind weiterreichende Vorschläge zur Reform des Ehegüterrechts und der Ehgattenbesteuerung im Zuge der Vereinigung beider deutscher Staaten unterbreitet worden. Die voranschreitende europäische Einigung legt zudem einen Blick auf aktuelle Entwicklungstendenzen der Nachbarländer und eine Abschätzung von Koordinationschancen nahe. Zu Beginn dieser Untersuchung ist es notwendig, den Gegensatz zwischen ökonomisch wertfreiem, aber wirkungsorientiertem idealem Steuersystem und dem wertbezogenen, insofern weniger freien juristischen Ansatz herauszuarbeiten, um die Besteuerung der Familie im deutschen Steuerrecht an beiden Fixpunkten ausrichten zu können. Ebenso lassen sich jedoch Gemeinsamkeiten der juristischen und der ökonomischen Beurteilung des Steuerrechts aufzeigen.

B. Das Recht als Wertordnung I. Die Wertgebundenheit des Rechts 1. Werterfahnmg

Das ständige Vergleichen verschiedener Verhaltensweisen miteinander und die hierauf folgende Entscheidung für eine bestimmte Variante kann als Vorgang des Bewertens verstanden werden, also der Einordnung, welcher Variante gegenüber der anderen der Vorrang gebühren soll. Mit der Bewertung von Entscheidungsalternativen wird zugleich die vorgezogene Alternative hervorgehoben, die verworfene Alternative zurückgesetzt. Ergehen nun mehrere solcher Entscheidungen in eine einheitliche oder ähnliche Richtung, kristallisiert sich ein gewisses Handlungsleitbild heraus, das ein Ziel darstellt, das der Entscheidende anerkennt. Dieses Ziel, diese Vorstellung, diese Idee oder dieser Gesichtspunkt dient fortan zur Orien10 Der verfassungsrechtliche Familienschutz und das System des Einkommensteuerrechts, Baden-Baden 1991.

B. Das Recht als Wertordnung

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tierung des Menschen in der Welt. Die Übereinstimmung von solchen Bewertungen ist eine Gemeinsamkeit, die zur Regel im weitesten Sinne erstarkt, als Sittlichkeitsregel im Rahmen der Moral bleiben, jedoch ebenso als Verhaltensregel ihre Befolgung im äußeren Verhalten verlangen kann. 11 Sublimieren sich schließlich Verhaltensregeln zu greifbaren, der Allgemeinheit zugänglichen und anerkannten materiellen Rechtsnormen, spricht man von Gesetzen in einem weiteren Sinne. Den Normen liegt aber nicht nur die äußere Erfahrung zugrunde, daß sich eine Mehrzahl von anderen Menschen als der Entscheidungsträger nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit verhält, sondern es tritt das selbst empfundene Gefühl da:ftir hinzu, welche Auswirkung eine bessere oder schlechtere Alternative haben könnte. 12 Gleichwohl lösen sich bestimmte Werte von einer konkreten Erfahrung ab, sie werden allein in ihrem Wesen erfaßbar und bedürfen keiner aktuellen Anschauung: Etwa die Würde des Menschen, soziale Gerechtigkeit, innerer Friede oder die Geschlossenheit und Widerspruchsfreiheit eines Besteuerungssystems können dem Betrachter deutlich vor Augen sein, ohne daß er eine präzise Erfahrung damit verbindet. 2. Die Frage nach der Herkunft von WertvorsteUungen

Woraus aber schöpfen letztlich die Vorstellungen, aufgrund derer wir bewerten? Verschiedene Ansätze sind hier denkbar, insbesondere ein naturwissenschaftlicher, ein kulturgeschichtlicher und ein philosophischer. \3 Man könnte die Werte skala als Spiegelbild von Vorteilen gewisser Gruppen auffassen, die sich in einer bestimmten Weise verhalten und sich deshalb im Überlebenskampf durchgesetzt haben. Diese Werte greifen für die vielschichtigen und gegenläufigen altruistischen Wertschätzungen, die wir als den Schutz des Schwachen bezeichnen, hingegen zu kurz und können allenfalls mit einer erheblichen kulturellen und institutionellen

11 Anderer Ansicht hingegen die Kritiker einer Wertbegründung des Rechts: Sie meinen, nicht der Wert sei Formkraft des Rechts, sondern das Recht bestimme von seinen Erfordernissen und Aufgaben her die Relevanz der Werte, E.-W. Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, ARSP Beiheft 37 (1990), 33, 42. Woher rührt dann aber das Recht? 12 R. Zippelius, Rechtsphilosophie, S.130; E.-W. Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, ARSP Beiheft 37 (1990), 33, 37. Il R. Zippelius, Rechtsphilosophie, S.132 ff.

24

I. Kapitel: Grundlegung

Überformung akzeptiert werden. Im Anschluß stellt sich dann die weitere Frage nach dem Ursprung wiederum dieser modifizierenden Verhaltensordnung, die dem Antrieb der Durchsetzung der eigenen Art eine moralische Begrenzung entgegensetzen. Ein biologisch naturwissenschaftliches Modell kann somit die Wertordnung nicht vollständig erklären. Die Wertvorstellungen lassen sich auch nicht allein als Ergebnis kulturgeschichtlicher Traditionen benennen, auch wenn deren Einfluß bedeutsam ist. Der Mensch wächst in Regeln und Wertvorstellungen hinein wie in seine Muttersprache; er erhält darüber hinaus durch seine Erziehung konkrete Unterweisung und verinnerlicht sie. Weder der Ursprung dieser Überlieferungen noch der Grund ihrer ständigen Veränderung sind damit geklärt. Den meisten Änderungen liegt das Streben nach mehr "Gerechtigkeit" zugrunde, und außerdem die Unzufriedenheit mit der nicht vollkommenen Verwirklichung von Grundsätzen. Die "Funktionsfähigkeit" einer Vorstellung, deren größtmögliche Umsetzung mit minimalem Aufwand, eine Art "Effizienz", bildet einen weiteren wichtigen Handlungsstrang. Woher diese Prinzipien aber stammen, bleibt offen. Schließlich hilft es nicht sehr viel weiter, sich ein über der jeweiligen menschlichen Erkenntnisfähigkeit liegendes "Reich der Werte" vorzustellen, an dem sich auszurichten nicht möglich ist, da sein wahrer Inhalt sich der Werteinsicht des Menschen verschließt. 14 Vielmehr ist es naheliegender anzunehmen, daß Werte sich nur im moralischen Bewußtsein der Menschen befmden, auch wenn sie unabhängig von den seinsmäßigen Gegebenheiten gelten. 15 3. Der Konsens als Grundlage einer gültigen Wertordnung

Die Gesamtheit von Werten, die sich zu einer oder mehreren Ordnungen zusammenfugt, erlangt ihre Geltung in der Gemeinschaft, wenn sie publik wird und gegenseitige Anerkennung erfahrt. Die Subjektivität von Gerechtigkeitsvorstellungen wird so überwunden. Entweder sie werden verworfen oder sie werden allgemeingültig, indem immer mehr natürliche

14 So auch eh. Starck, Zur Notwendigkeit einer Wertbegrilndung des Rechts, ARSP Beiheft 37 (1990), 47, 54 unter 2. 15 E.-W. Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegrilndung des Rechts, ARSP Beiheft 37 (1990), 33, 35.

B. Das Recht als Wertordnung

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Personen sie bestätigen. 16 Zu den wichtigsten konsensrahigen Gedanken zählen die, daß jeder eine möglichst große Freiheit der Persönlichkeit und der Selbstbestimmung erhalten sollte im Rahmen der Grenzen, die ebendiese Freiheiten anderer Personen abstecken. Daß anderen Personen nicht geringere oder weitergehende Rechte eingeräumt werden, enthält also neben dem Freiheitspostulat zugleich das der Gleichheit. Diese für sich gesehen von nahezu allen Gemeinschaften einhellig bekräftigten Ziele bedürfen nun der Konkretisierung; hier entstehen Zielkonflikte und wohl auch in den einzelnen Anlagen der Menschen vorbestimmte divergierende Vorzugstendenzen. Im Detail bleiben schließlich unterschiedliche Entscheidungen und Ansichten unversöhnt. 4. Rechtsstaatliche Verfassungen und völkerrechtliche Verträge als klassische Ausdrucksformen gesamtgeseUschaftlicher Einigung

Wenn es richtig ist, in Entscheidungen oder Programmen dann einen Wert zu erblicken, wenn andere in freier Entscheidung sich ebenfalls zu ihnen bekennen, dann kommt den Verfassungen der Länder und der Völkergemeinschaft 17 eine große Bedeutung für die Inhalte von Werten und Wertungen zu. Die rechtsstaatlichen Verfassungen sind von filigranen Widersprüchen frei und unterliegen nicht den Strömungen der Tagespolitik. Sie bestimmen die übergreifende Linie, der sich Einzelfall- und Spezialregelungen in hierarchischer Form unterordnen. Sie unterliegen allein der Disposition qualifizierter Mehrheiten oder sind gar indisponibel. Zugleich sind sie Garanten für die Einheitlichkeit der teleologischen Auslegung positiven Rechts und darüber hinaus zweckbestimmend für die Ausfüllung

16 Anderer Ansicht E.-W. Böckenförde, Zur Kritik der WertbegIÜ11dllllg des Rechts, ARSP Beiheft 37,33,35, der auch diese Wertanerkennllllß noch für subjektiv hält. Es ist meines Erachtens aber sinnvoller, innerhalb der auf individueller Wertschätzllllg beruhenden Subjektivität nach einer Schwelle zu suchen, ab der einer WertIlllg Objektivität zuzumessen ist. Wie ist es z.B. mit der Allgemeinen Menschenrechtserklänmg vom 10.12.1948 Illld dem Internationalen Pakt über bürgerliche Illld politische Rechte vom 19.12.1966 Illld den Aufgaben des UNO Sicherheitsrates zur Friedenssichefllllg? Sind diese nicht verobjektiviert, weil sie nahezu einhellige Zustimmllllg fmden? 17 R. Alexy, Theorie der GfIllldrechte, S.157; eh. Starck, Zur Notwendigkeit einer WertbegIÜ11dllllg des Rechts, ARSP Beiheft 37 (1990), 47, 52.

26

I. Kapitel: Grundlegung

von Regelungslücken. 18 Zweifellos lebt das Rechtsgeitige zwar im Detail pluralistisch, insgesamt jedoch wegen des Über- und Unterordnungsverhältnisses hierarchisch. 19 Der Anspruch des Vorranges der Wertsetzung der Verfassung rührt aus der weitgehenden Anerkennung der Grundentscheidungen und dem demokratischen Majoritätsprinzip im Konfliktfalle, d.h. dem Obsiegen der Mehrheit über die Minderheit. Die Rechtsordnung allgemein ist auch Wertordnung. 20 R. Alexy21 umschreibt die Fundamentalität der Verfassung neben dem hier hervorgehobenen Aspekt inhaltlicher Fundamentalität außerdem mit den weiteren Elementen der formalen Fundamentalität, nach der die von der Verfassung vorgegebene Prozedur für die Entscheidungsfmdung, etwa die durch eine bestimmte Zusammensetzung des jeweiligen Entscheidungsgremiums, auch letztlich Einfluß auf den Inhalt der Entscheidung entfaltet. Ein solcher Einfluß der prozeduralen Entscheidungsfmdung ist bisher kaum beachtet worden22 ; er läßt sich aber auch flir die Entwicklungstendenz der Familienbesteuerung anhand der Besetzung der Senate des Bundesverfassungsgerichts ablesen. Nun wird zu Recht die These bezweifelt, alles was eine große Zahl von frei Entscheidenden als Recht anerkenne, sei auch wirklich gerecht und fmde sich in dementsprechenden Gesetzen wieder. Zu unterscheiden sind in der Tat "Recht und Gesetz" (Art.20 Abs.3 GG). Der demokratische Willensbildungsprozeß, insbesondere der bei der Schaffung von Steuergesetzen, fmdet zum einen nicht selten zu der Lösung, die einer Interessengruppe itir sich, dem Politiker für den Fortgang seiner Karriere günstig er-

18 Ebenso eh. Starck, Zur Notwendigkeit einer Wertbegrtlndung des Rechts, ARSP Beiheft 37 (1990), 47, 57 f. 19 E.-W. Bäckenfärde, Zur Kritik der Wertbegrtlndung des Rechts, ARSP Beiheft 37 (1990), 33, 38.

20 E.-W. Bäckenfärde, Zur Kritik der Wertbegrtlndung des Rechts, ARSP Beiheft 37 (1990), 33. 21

Theorie der Grundrechte, S.473 ff.

Es spielt natürlich eine mitentscheidende Rolle, etwa wenn für die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit von Regelungen des Familiensteuer- und Sozialrechts das Bundesverfassungsgericht und nicht eine andere Institution zuständig war, dessen Senate aus Mitgliedern bestehen, auf die wiederum familienpolitische Fachverbände Einfluß nehmen. So ließ sich ein erheblicher Einfluß solcher Institutionen auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Familienexistenzminimum vermuten, Vorbemerkung des Herausgebers, StuW 1992, 195. 22

B. Das Recht als Wertordnung

27

scheint. 23 Zum anderen bilden das Fiskalinteresse und der Bestandsschutz von Althergebrachtem oft starke Hindernisse, die sich der Geltung materieller Gleichheit und Gerechtigkeit entgegenstemmen. 24 Gleichwohl bieten Wertesystem und Rechtssystem überlappend einen Kernbestand an gültigen Orientierungsmaßstäben. Namentlich der Verfassung mit ihren rechtsgebietübergreifenden Grundaussagen kommt lür den Rechtsanwender bei der Gesetzesauslegung die Bedeutung zu, eine Einheitlichkeit der Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung zu schaffen, die ohne das hierarchische Normensystem nicht möglich wäre. In diesem Sinne fordert das Bundesverfassungsgericht, Spannungsverhältnisse verschiedener Rechtsgüter im Einklang mit der grundgesetzlichen Wertordnung zu lösen. 25 In der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird eine demgegenüber inhaltlich differenziertere Sicht mit "Elementen objektiver Ordnung" vertreten. 26 Dies ändert im Grunde wenig; es kommt hierin wohl nur die Zurückhaltung vor dem Absolutheitsanspruch zum Ausdruck und das Eingeständnis von widerstreitenden Wertungen in der Verfassung. Die Wertordnung des Grundgesetzes beeinflußt nicht nur das öffentliche Recht, sondern auch das Privatrecht in Form der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte über die Generalklauseln und deren Ausstrahlungswirkung bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe?7 Kritisch ist demgegenüber eingewendet worden, das Abstellen auf Wertun gen bei der Entscheidungsfmdung entbehre einer tatsächlichen Nach-

13

K. Tipke, StuW 1976,293,295 tT.; ders., StuW 1990,308,310 f.

24 Beispiel für eine nur zentimeterweise Korrektur ist § 54 E&tG, der sich nur auf die Änderung der Kinderfreibeträge 1983-1985 in den noch nicht bestandskräftigen Fällen einläßt und sich wo die Schneisen und Einbuchtungen windet, die das Bundesverfassungsgericht mit seinen Beschlüssen geschlagen hat, BVerfGE 82, 60; 82, 198. 25 BVerfGE 28, 243, 261 (Kriegsdienstverweigerung - Sicherheit des Staates); 30, 1, 19 (Geheimnisschutz - Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung); 30, 173, 193 (Kunstfreiheit - Persönlichkeitsschutz, Menschenwürde); 34, 269, 287 (Zivilrechtsfortbildung zugunsten des Persönlichkeitsrechts).

26 BVerfGE 62, 323, 329; 76,1,49; 77, 170,214; 80,81,92 tT.; 81,242,256; 84, 192, 194 f. 27 Seit BVerfGE 7, 198,205; zuletzt BVerfGE 84, 192, 194 f. Der Kritiker einer Wertbegründung des Rechts fmdet dagegen, daß aus den Grundrechten als Werten im Sinne subjektiver Abwehrrechte noch lange nicht deren Geltung als objektive Wertordnung für das gesamte Recht folge, E.-W. Bäckenfärde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, ARSP Beiheft 37 (1990), 33, 45.

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I. Kapitel: Grundlegung

prüfbarkeit, gewissennaßen einer wissenschaftlich zwingenden Deduzierund Beweisbarkeit. Auch fehle es an einer konkreten Meßbarkeit, der Quantifizierung, wieviel Raum der Wertung im Einzelfall gegeben werden muß. Es gibt Ökonomen, sowohl Finanzwissenschaftler als auch Vertreter der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, die es daher ablehnen, das Steuersystem nach Werten zu gestalten. 28 Zunächst übersieht diese Ansicht den in den Werturteilen doch steckenden Tatsachengehalt, über den und aufgrund dessen geurteilt wird. Allerdings kann wohl aus der faktischen Unsicherheit in der Erkenntnis des Rechts und der Unzulänglichkeit der Erfahrungen noch nicht hergeleitet werden, die Bedeutung von Werten sei schlicht zu vemachlässigen. 29 Bei genauer Betrachtung wird zudem deutlich, daß sich diese Kritik zu Recht gegen solche Werturteile richtet, die (noch) nicht hinreichende allgemeine Anerkennung erfahren haben und schon nach Ansicht ihrer Befürworter zum zwingenden Gesetz erhoben werden wollen. Solche Regeln und Aussagen, um die noch gerungen werden muß, sind in der Rechtsordnung noch nicht zu gefestigten Institutio-

28 F.K. Mann, Zur Frage der steuerlichen Lastenverteilung, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 124. Bd., 1926, S.30, 34: "Dies Glatteis von Subjektivitäten [= die Gerechtigkeit] ist als Baugrund wissenschaftlicher Lehrsysteme ungeeignet. Gerade diejenigen, die für absolute Maßstäbe des Lebens einstehen, müssen darüber wachen, daß die Gerechtigkeit nicht zur feilen Dirne beliebiger InteressenWÜDsche erniedrigt wird. "; ders., Die Gerechtigkeit in der Besteuerung, in: Festgabe für Georg v. Schanz, Separatabdruck, S.112, 140: "Die ethisierende Steuertheorie läßt die ihr aufgegebenen Hauptfragen ungelöst; sie räumt den Kampfplatz der Praxis, die teils nach Tradition, teils nach Routine, teils nach Machtspruch und Willkür entscheiden wird; sie kann höchstens - im Munde des Demagogen - eine 'dekorative Rolle' spielen." Ausdrücklich G. Wöhe, Die Aufgaben der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre und das Postulat der Wertfreiheit, in: FS für P. Scherpfzur Vollendung des 80. Lebensjahres, S.5, 9 f1; ders., Betriebswirtschaftliche Steuerlehre I/I, S.47 ff.; R.-A. Posner, Recht und Ökonomie: Eine Einführung, in: H.-D. AssmannlCh. KirchnerlE. Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, S.93, 100. In jüngerer Zeit die sehr beachtliche Umfrage des Kölner Betriebswirtschaftlers Gerd Rose, der Ende 1984 von den Mitgliedern des Arbeitskreises der Universitätsprofessoren der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre (damals 40 nicht emeritierte Mitglieder) die Antwort erhielt, die Betriebswirtschaftslehre sei nach ihrem Wissenschaftsauftrag nicht umfassend berechtigt und in der Lage, unmittelbare Aussagen zur Steuergerechtigkeit zu machen; sie beschäftige sich mit Zweckmäßigkeits- und nicht mit Gerechtigkeits/ragen. Eine große Anzahl der Befragten meinte, daß es Steuergerechtigkeit gar nicht gäbe, weil Steuerrechtsnormen aus politischen Entscheidungen, also im Mehrheitskonsens, entstehen und infolgedessen auf nicht rational überprütbaren Werturteilen beruhten, StuW 1985, 330, 332.

29 So jedenfalls schon z.B. der Finanzwissenschaftler H. Peter, Welfare Economies, Ethik und doch Wissenschaft, in: FA Bd.12 (1950/51), 6, 20.

B. Das Recht als Wertordnung

29

nen herangereift; sie sind keine Rechtsinstitute 30, sondern werden in ihrer Geltung in Frage gestellt. Es ist eine Eigenschaft des noch jungen Steuerrechts, besonders umkämpfte Felder zu besitzen oder solche, auf denen gewonnen geglaubte Felder in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wieder unsicherer werden, weil sich das Gericht in fiskalischer Verantwortung zur Zurückhaltung gezwungen sieht. 31

11. Die Eigenart des Steuerrechts: Zwischen öffentlichem Eingriffsverwaltungsrecht, interventionistischem Wirtschaftsund Sozialrecht und ökonomischem Wirkungsfaktor Das Steuerrecht stellt sich dem Betrachter als ein äußerst vielseitiges Rechtsgebiet dar, dessen oberste Richtschnur zwar die mit Mitteln des Eingriffsverwaltungsrechts geführte Leistungspflicht bildet, die von der Verfassung im Zaume gehalten werden soll. Eingestreut sind jedoch außerdem die Bruchstücke anderer Teilrechtsordnungen, des Ordnungsrechts, der Wirtschaftslenkung und des Sozialrechts. Gegenstand tatbestandlicher Anknüpfung bilden zuweilen Begriffe anderer Rechtsgebiete, namentlich des Zivilrechts. Den Steuerjuristen nicht immer bewußt steht das Steuerrecht darüber hinaus im Brennpunkt der Wirtschaftswissenschaften, die sich mit Fragen des Verhaltens von Wirtschaftssubjekten befassen, lür die die Auswirkungen steuerlicher Regelungen von hoher Bedeutung sind. 32 Diese genannten Bereiche bringen in die steuerrechtlichen Regelungen jeweils die ihnen eigenen Prinzipien und Leitlinien ein: Das Ordnungsrecht bestimmt, daß der Störer zu belasten ist. Das Sozialrecht gebietet die Grundsätze individualisierter Hilfe und des Nachranges öffentlicher gegenüber privater Fürsorge. Die Wirtschaftswissenschaften haben einen

30 Zur Rolle der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Institutionenbildung J. Lang, StuW 1990, 331, 335 ff.

31 So z.B. nach den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts zum Kindergeld und zum Kinderfreibetrag vom Sommer 1990, BVerfGE 82, 60; 82, 198, die durch die Art der Begründung und die Rechtsfolgenbestimmung der Grundfreibetragsentscheidung (vom 25.9.1992, NJW 1992,3153) wieder relativiert scheinen. 32 In diesem Sinne formulierte F. W. Wagner, Der gesellschaftliche Nutzen einer betriebswirtschaftlichen Steuervermeidungslehre, FA Bd.44 (1986), 32, 33, die Ziele der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre.

30

1. Kapitel: Grundlegung

kompletten Katalog von Grundsätzen entwickelt, wie ein Steuersystem beschaffen sein müßte.

c. Die Einheit der Rechtsordnung und das gemeinsame Fundament der Steuerwissenschaften

Ähnlich wie mit den unterschiedlichen Auffassungen über den Einsatz des Gedankens von der "Einheit der Rechtsordnung" ist es auch mit dem Verhältnis von Rechtsordnung und wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnis und Direktive: Die Behauptung, das Steuerrecht müsse sich im Sinne einer zivilrechtlichen Begriffsbestimmung an die Vorgaben des Zivilrechts halten, fUhrt nicht zur wirklichen "Einheit" der Rechtsanwendung, sondern zu einem Primat von Lösungsansätzen, die im Zivilrecht zwar vorgegeben, im Steuerrecht unter dessen eigener Teleologie aber nicht mehr begründbar sind. Das Denken in zivilrechtlichen Figuren im Steuerrecht schafft zunächst vordergründig Rechtssicherheit, weil die meisten Rechtsanwender und Betroffenen meinen, die steuerlichen Folgen ihres Handeins dann besser planen zu können. Ferner sehen sie den W~rtlaut des Gesetzes, an den das Steuerrecht gebunden ist, mit zivilrechtlich belegten Inhalten besetzt, wenn das Gesetz einen zivilrechtlichen Begriff wählt. Es solle Zurückhaltung walten gegenüber der Argumentation aus dem Steuersystem heraus und gegenüber Zweckdenken. Es bestehe sonst die Gefahr, daß entgegen dem Normaufbau vom gesetzlichen Tatbestand, der die Rechtsfolge anordnet, umgekehrt von der Rechtsfolgenseite auf die Bedeutung des Tatbestandes geschlossen würde. 33 Dieser Ansicht ist so lange zuzustimmen, wie die "Vermutung für den zivilrechtlich vorgeprägten Begriffsinhalt" nicht die Gefahr sachlich ungerechtfertigter Ungleichbehandlung in sich birgt.34 Die "Einheit der Rechtsordnung" meint nach

33

J.P. Meincke, StuW 1992, 188, 190.

34 R. EIsehen, StuW 1988, 1, 9; jüngeres instruktives Beispiel ist der am Zivilrecht orientierte Beschluß des Großen Senats zur doppelstöckigen Personengesellschaft, der die Abschinnwirkung einer zwischengeschaIteten gewerblich tätigen PersonengeseIlschaft gegen die Anwendung des § 15 Abs.1 S.l Nr.2 EStG wegen der zivi/rechtlichen Verselbständigung der Personengesellschaft bestätigen wollte. Der Gesetzgeber bemühte sich, im Steueränderungsgesetz 1992 einen neuen Wortlaut des § 15 Abs.l S.I Nr.2 EStG zu fmden, der wirtschaftlich gleiche Tatbestände mehrstöckiger Gesellschaftsverhältnisse auch gleich behandeln sollte, verstrickte sich aber in zu konkrete Rechtsbegriffiichkeit und verfehlte deshalb z.B. die atypisch stille Unterbeteiligung, vgl. R. Seer, StuW 1992, 35,44 f.

c.

Einheit der Rechtsordnung u. Fundament der Steuerwissenschaften 31

richtigem Verständnis aber nicht Vorherrschaft desjenigen Rechtsgebiets, dessen Begriffiichkeit in das Steuerrecht entlehnt wird, sondern die Ein-

heitlichkeit der Rechtsfindung im Einklang mit gleichen Aujgabenstellungen und Zwecksetzungen verschiedener Rechtsgebiete, also innere Widerspruchsjreiheit der Rechtsordnung, wie sie z.B. in einer Abstimmung von steuer- und sozialhilferechtlichem Existenzminimum für die gesamte Familie bestehen könnte. 3s Ist sie verwirklicht, tritt auch der Staat dem Bürger als einheitliches Gebilde gegenüber. Die Einheit des Staates beruht dabei nicht auf der Auslöschung, sondern auf dem Aushalten und Versöhnen von Widersprüchen. 36 Ebenso will die Auffassung, wirtschaftliche Tatbestände des Steuerrechts seien nicht nur nach ökonomischen Erkenntnissen auszurichten, sondern auch als Spiegel bereits gefundener Sachgesetzlichkeiten und Verfassungswertungen zu betrachten, nicht autoritär den Wissenschaftlern Denk-Vorschriften machen, die sich mit den Auswirkungen von Steuersysternen beschäftigen. Vergleicht man nämlich die ökonomischen Postulate an ein ideales Steuersystem 37, so lassen sich zum einen deutliche Parallelen zu den Anforderungen aufzeigen, die der Steuerjurist ebenfalls aufstellen würde. Zum anderen kann auch so manche Erkenntnis der Finanzwissenschaft und der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre weiterhelfen, z.B. das Gleichheitspostulat und das der Neutralität des Steuersystems mit Inhalt zu füllen. 38 So lernt der Jurist, unter einem gerechten Steuersystem

35 Anderer AnsichtA. Schmidt-Liebig, BB 1992, 107, 115: Er spricht von einem "Grundsatz der Relativität der Rechtsgebiete", über dem die Vorgaben der Verfassung schweben. - Wie kann aber die Verfassung für verschiedene Rechtsgebiete verbindlich sein und zugleich ein Widerspruch dieser Rechtsgebiete bestehen bleiben, wenn beide Regelungen verfassungsgemäß sein sollen? 36 G. Robbers, Zur Verteidigung einer Wertorientierung in der Rechtsdogmatik, ARSP Beiheft 37 (1990), 162, 171. 37 Grundlegend, wenn auch nicht als erster, A. Wagner, Finanzwissenschaft, (Vierte Hauptabtheilung) Zweiter Theil: Theorie der Besteuerung, Gebührenlehre und allgemeine Steuerlehre, S.304 tT.; F. Neumark, Grundsätze der Besteuerung in Vergangenheit und Gegenwart, 2. Auflage, S.38 tT.; ders., Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, S.47 tT.

38 Die Forderung nach Entscheidungsneutralität als Bestandteil einer gerechten Besteuerung gewinnt inzwischen immer mehr an Boden, insbesondere die der Rechtsformneutralität der Unternehmensbesteuerung, hierzu A. Graß, Unternehmensformneutrale Besteuerung, Berlin 1992. Neutralität bei langfristigen betrieblichen Investitionsentscheidungen dagegen wird noch als ungelöstes Gerechtigkeitsproblem gesehen, K.D. Haase, BB 1990, 112, 113.

32

I. Kapitel: Grundlegung

das zu verstehen, was ihm international anerkannte ökonomische Konzepte als übernationaler Konsens vorschlagen. 39 Ökonomische Größen erlangen deshalb "Vorbildcharakter" für steuerrechtswissenschaftliche Besteuerungsnormen. 40 Freilich unterzieht die Steuerrechtswissenschaft diese Vorschläge einer Prüfung, inwieweit sie der verfassungsrechtlichen Wertordnung und den einfachrechtlich auffmdbaren Regeln entsprechen. Dieser Aufgabe kann und darf sich die Rechtswissenschaft nicht entziehen, da so manches Modell, z.B. das Coase-Theorem, das behauptet, unter vollständigem Wettbewerb, vollständiger Information der privaten Wirtschaftseinheiten, eindeutiger Primärverteilung der Güterordnung und Fehlen von Transaktionskosten würde ökonomische Rationalität von selbst durch das Wirtschaftsgeschehen eintreten4 \ von völlig theoretischen Annahmen ausgeht, die zum Teil auch mit den Freiheits- und Sozialgrundrechten in Konflikt geraten können, wenn vom zwangsläufig ökonomischen Handeln der Individuen ausgegangen wird. 42 In diesem Sirme ist auch die Frage nach der immer wieder geforderten Effizienz als Regelungsziel von praktiziertem und zu gestaltendem Recht als optimaler Allokation der verfügbaren knappen Ressourcen nicht durch schroffe Ablehnung zu beantworten, sondern differenziert: Die wichtigsten Einwände gegen Effizienz als Rechtsprinzip43 sind von unterschiedlichem Gewicht. Das erste Gegenargument, die Einbringung des Effizienzgedankens sei unzulässig, weil sie die Eigenständigkeit der Rechtswissenschaft mißachte, muß angesichts der immer weitergehenden Übergriffe des Rechts in die Wirtschaft als überholt betrachtet werden. Der zweite Einwand betrifft die Brauchbarkeit der Effizienz im Einzelfall. Auch wenn aber der allgemeine Satz, eine Transaktion oder Maßnahme solle einem Beteiligten Vorteile bringen, ohne einen anderen zu benachteiligen, an der

39 So z.B. der Ansatz des konswnorientierten Steuersystems, wie er in der Zusammenschau des Tagungsbandes des Heide1berger Konswnsteuerkongresses zwn Ausdruck kommt, herausgegeben von M. Rose.

40 F. W. Wagner, Der gesellschaftliche Nutzen einer betriebswirtschaftlichen Steuervermeidungslehre, FA Bd.44 (1986), 32,49. 41 R.H. Coase, Das Problem der sozialen Kosten, in: H.-D. Assmann/Ch. KirchnerfE. Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, S.146, 164 f.

42 K.-H. Fezer, JZ 1986, 817,820,824. Darüber hinaus sind Modelle, wie z.B. das der Pareto-EfflZienz, noch sehr unscharf, G. Kirchgässner, JZ 1991, 104, 109. 43

So der gleichlautende Beitrag von F. Kühler, in: FS für E. Steindorff, S.687.

c. Einheit der Rechtsordnung u. Fundament der Steuerwissenschaften 33 Tatsache nicht vorbeiführt, daß rechtliche Konfliktlösung im Einzelfall in der Regel nicht ohne die Zufügung von Nachteilen zu bewerkstelligen ist, kann doch wenigstens bei der Erfassung des hochentwickelten Geschäfts- und Massenverkehrs auf solche Regeln zurückgegriffen werden. 44 So ist denn die Verwendung rechtsökonomischer Argumente spätestens dann anerkannt, wenn die herkömmliche Dogmatik und das Denken in traditionellen Rechtsfiguren für die wirtschaftlichen Sachverhalte unangemessen geworden ist oder die Schwierigkeit in der Tatsachenfeststellung liegt.4s Ferner ist die Behauptung, eine am Maßstab der Effizienz orientierte Rechtsordnung verfehle die materialen Gebote der Billigkeit, der Fairneß und der sozialen Gerechtigkeit zwar ernstzunehmen; daß aber die unumgängliche Abwägung von Effizienz und Gerechtigkeit im Einzelfall zu unbefriedigenden Ergebnissen führe, ist hingegen nicht gesagt. Man muß differenzieren: "Eigeninteresse" des ökonomisch Handelnden ist nicht mit Selbstsucht zu verwechseln, sondern kann sich auch auf Glück und Leid anderer beziehen. 46 Schließlich ist der Hinweis genauer zu betrachten, das Menschenbild des Nutzenmaximierers sei mit dem rechtlichen Menschenbild unvereinbar. Es handelt sich um eine Extremposition. Sie ist überall dort zu weitgehend, wo es nicht um die Verletzung von Menschenwürde und individueller Autonomie geht47, und bei der Bewältigung von massenhaft auftretenden Sozialkonflikten, die nicht unbedingt zu solch fundamentaler Rechtsbetroffenheit führen. Mithin ist der ökonomische Effizienzgedanke auf weiten Feldern der Folgenanalyse des Rechts nicht nur zulässig; er stellt zugleich ein Instrument sichererer rechtlicher Wertung dar. Umgekehrt ist aber auf die Schwierigkeit hinzuweisen, Effizienz von rechtlich erzwungenen Lösungen zu untersuchen, weil Effizienzüberlegungen grundsätzlich von Verhältnissen ausgehen, unter denen sich Individuen nach freier Wertschätzung entscheiden können. 48

44

F. Kühler, in: FS für E. Steindorff, S.687, 695.

4S

R. Ale:cy, Theorie der juristischen Argumentation, S.287.

R.A. Posner, Recht und Ökonomie: Eine Einführung, in: H.-D. AssmannlCh. KirclmerlE. Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, S.93, 94. 47 F. Kühler, in: FS für E. Steindorff, S.687, 701 f. 48 R.A. Posner, Recht und Ökonomie: Eine Einfllhrung, in: H.-D. AssmannlCh. KirchnerlE. Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, S.93, 100 f. 46

3 Lingemann

I. Kapitel: Grundlegung

34

I. Fünf Kriterien, die ein Steuersystem nach weitverbreiteter ökonomischer Auffassung erfüllen sollte Für ein optimales Steuersystem sollen folgende Kriterien nach wirtschaftswissenschaftlicher Ansicht gelten: Effizienz, minimaler Erhebungsaufwand, Flexibilität, Transparenz und Steuergerechtigkeit. Diese Ziele können ebenso mit dem rechtlichen Wertesystem begründet werden. Die Forderung wirtschaftlicher Effizienz des Steuersystems49 stützt sich letztlich auf die rechtlichen Forderungen nach größtmöglicher Freiheit des Steuersubjekts, das Übermaßverbot und auf das Gebot der Gleichbehandlung wirtschaftlich vergleichbarer Sachverhalte durch den Steuere ingriff: Müssen nicht verschiedene Formen von Investitiontm, die im geltenden Steuerrecht völlig unterschiedlich behandelt werden, einerseits die für die Schaffung von Wohnraum, andererseits die zugunsten von Arbeitsplätzen in der Industrie 50 und im Dienstleistungsbereich oder die privaten Ersparnisformen, in ähnlicher Weise entlastet werden? Das ökonomische Postulat, den Erhebungsaufivand von Steuern zu minimieren51 , deckt sich weitgehend mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der Sparsamkeif2 und in bezug auf die Inpflichtnahme Privater, z.B. der Arbeitgeber, mit dem Übermaßverbot. Mit Flexibilitöf3 wird die Möglichkeit des Steuersystems umschrieben, auf Veränderungen der wirtschaftlichen Lage schnell reagieren zu können. Die Rechtsordnung stellt die hierzu erforderlichen Instrumente bereit. Die Anpassung kann über einen Mechanismus geschehen, der die Änderung des Tarifs (oder auch der Bemessungsgrundlage) auf kürzerem Wege als

49 J.E. Stiglitz/B. Schön/eider, Finanzwissenschaft, 2. Auflage, S.408 f.; N. Andel, Finanzwissenschaft, 2. Auflage, S.272 ff.

so

J.E. Stiglitz/B. Schön/eider, Finanzwissenschaft, 2. Auflage, S.408.

SI

J.E. Stiglitz/B. Schön/eider, Finanzwissenschaft, 2. Auflage, S.4l2.

S} Der Grundsatz der Sparsamkeit öffentlichen Wirtschaftens entspringt der Treuhandfunktion, aufgrund der die Staatsverwaltung das Aufkommen der Abgaben der Bürger verwaltet, K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.II, S.4SI. Er wird in der AufgabensteIlung des Bundesrechnungshofes, Art. I 14 Abs.2 S.I GG angesprochen, darüber hinaus in den §§ 6 Abs.1 HGrG; 34 Abs.2 S.I BHO.

S3 F. Neumark, Grundsätze der Besteuerung in Vergangenheit und Gegenwart, 2. Auflage, S.42.

c.

Einheit der Rechtsordnung u. Fundament der Steuerwissenschaften 35

dem der parlamentarischen Gesetzgebung ermöglicht, etwa dem der Anpassung durch Rechtsverordnung, wie es rur Länder mit deutlicher Inflation am dringendsten ist. Ferner wird von Wirtschaftswissenschaftlern das Ziel ins Auge gefaßt, daß die Besteuerung rur den Bürger einsichtig sein sollte und er die Auswirkungen seines Handelns durchschauen kann, insbesondere der Steuerträger erkennbar ist.~4 Auch dieser Grundsatz der Steuertransparenz ist der Steuerrechtsordnung nicht fremd: Einerseits gilt das Klarheits- und Durchschaubarkeitsgebot schon allein wegen der Rechtsstaatlichkeit der Besteuerung. Andererseits gibt es eine im Vordringen begriffene Ansicht, daß mit einfacheren, klareren Normen zugleich mehr Steuergleichheit erreicht werden könnte. ~~ Zugleich ist damit dem in der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre geforderten Hauptanliegen der Planbarkeit von Steuerwirkungen aus betrieblichen Dispositionen~6 gedient. Schließlich besteht unter Ökonomen die Forderung, das Steuersystem müsse gerecht sein.~7 Auch die Wirtschaftswissenschaften unterscheiden beim Kriterium der Steuergerechtigkeit die horizontale und die vertikale Steuergerechtigkeit in bezug auf steuerliche Leistungsfähigkeit: Bei der Frage nach horizontaler Steuergerechtigkeit geht es darum, im Steuerrecht an wirtschaftlich gleiche Sachverhalte die gleichen steuerlichen Belastungsfolgen zu knüpfen und in bezug auf den Vergleichsmaßstab verschiedene Sachverhalte unterschiedlich zu behandeln. Für die Einkommensteuer ist die Maß größe rur steuerliche Leistungsfähigkeit das zu

54 J.E. StiglitzlB. Schön/eIder, Finanzwissenschaft, 2. Auflage, S.416. Ein nicht unbeachtlicher Aspekt ist dabei auch die effektive Steuerersparnis von SteuervergÜDstigungen, die z.B. bei der Sonderabschreibung oftmals überschätzt wird, F. W. Wagner, Der gesellschaftliche Nutzen einer betriebswirtschaftlichen Steuervermeidungslehre, FA Bd.44 (1986), 30,40; ders., DB 1991, 1,4.

55 Zeugnisse sind insbesondere die zur Vereinfachung des Einkommensteuerrechts vorgelegten Entwürfe von J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, Köln 1985; H. Gaddum, Steuerreform: Einfach und gerecht!, Stuttgart 1986. Ferner: K. Vogel, StuW 1980,206,208 f.; H. Söhn, ZRP 1988, 344, 345 f.; E. Meister, DStZ 1991,673,674. 56 G. Rose, StuW 1985,330,335; G. MiessI, BB 1991,2130,2133; die Planung von Steuerwirkungen beschreibt ausführlich z.B. Th. Rödder, Gesmltungssuche im Ertrag steuerrecht, S.4 ff., mit Hilfe der Unterscheidung nach Steuereinplanung und Steuergestaltung. 57

J.E. StiglitzlB. Schön/eIder, Finanzwissenschaft, 2. Auflage, S.417.

36

I. Kapitel: Grundlegung

versteuernde Einkommen der natürlichen Person. Für die Besteuerung der Familie sind vor allem die persönlichen Abzüge in der Steuerbemessungsgrundlage von Bedeutung, um deren Berechtigung und Höhe gestritten wird. Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer sollte so genau wie möglich die Umstände der Erwirtschaftung von Einkünften und die Faktoren berücksichtigen, die zur unausweichlichen Minderung des Einkommens führen. Was hierbei Bedeutung haben soll und was nicht, ist Gegenstand kontroverser Überlegungen. 58 Die Auseinandersetzung betrifft im Detail namentlich die Frage, ob nun das Markteinkommen die richtige Bezugsgröße ist, oder der Konsum oder das Markteinkommen, verringert um alle diejenigen Aufwendungen der Privatsphäre, die rUr den Steuerpflichtigen zwangsläufig sind (insbesondere wegen einer gesetzlichen Verpflichtung wie beim Familienunterhalt), und ob alles investierte Einkommen einem niedrigeren proportionalen Steuersatz unterworfen werden sollte, weil dieses Einkommen zu volkswirtschaftlich sinnvollem und ressourcensparendem Zweck verwendet worden ist. Das Prinzip vertikaler Steuergerechtigkeit hingegen besagt, daß Individuen, die in der Lage sind, höhere Steuern zahlen zu können, dies auch tun sollen. Von den drei Maßstäben, an die die Skala der Besteuerung angelegt werden soll - steuerliche Leistungsfähigkeit, Leben im Wohlstand und dem Maß, in dem dem Steuerpflichtigen Vorteile durch den Staat zuwachsen 59 -, sprechen Steuerjuristen ebenso wie Ökonomen, wenn sie die Maßstäbe benennen sollen, nach denen sich die Besteuerung richtet. Hier spätestens sind Entscheidungen nach ethischen Maßstäben60 bzw. "politische" Entscheidungen zu fällen.

SI So ist streitig, ob das Markteinkommen ohne weitere Abzüge die "richtige" Bemessungsgrundlage ist, oder ob auch Elemente, die das subjektive Nettoprinzip ausmachen, in der Bemessungsgrundlage ihren Platz haben sollen. S9

J.E. Stiglitz/B. Schön/eider, Finanzwissenschaft, 2. Auflage, SA19.

H. Peler, Das Problem der Gerechtigkeit und die Theorie der Steuerverteilung, FA Bd.2 (1934), 41, 51, der schon verdeutlichen wollte, daß die Be\astungsentscheidung sich nicht allein auf fmanzwirtschaftliche Verteilungsprinzipien zurückführen lasse. 60

C. Einheit der Rechtsordnung u. Fundament der Steuerwissenschaften 37

11. Berührungspunkte zwischen neutraler Besteuerung und Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Indem die deutschsprachige Finanzwissenschaft sich mit der Frage einer Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und deren Kriterien beschäftigte, konzentrierte sie sich vermutlich intuitiv auf die Neutralität der Besteuerung als Baustein einer marktwirtschaftlichen Ordnung. 61 Inzwischen scheint sie zur Auswahl des Konsums als richtigem Ansatzpunkt gefunden zu haben. 62 Sie begreift nicht allein das Markteinkommen als richtige Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, sondern benennt den Konsum als Zielgröße menschlichen Wirtschaftens. Damit ist die gedankliche Verbindung zu einem konsumbasierten Einkommensbegriff gewonnen, der nur dasjenige Markteinkommen belasten will, das dem Steuerpflichtigen für sich zur freien Verfogung steht. 63 Ein insoweit formuliertes subjektives Nettoprinzip ist eine Ausformung des konsum basierten Einkommensbegriffs, der schon im § 19 des preußischen Einkommensteuergesetzes von 1891 seinen Niederschlag fand, wenn es "besondere, die Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen wesentlich beeinträchtigende wirthschaftliche Verhältnisse" berücksichtigte und hierzu "außergewöhnliche Belastungen durch Unterhalt und Erziehung der Kinder, Verpflichtung zum Unterhalt mittelloser Angehöriger, andauernde Krankheit, Verschuldung und besondere Unglücksfälle"64 aufzählte. In der Besteuerung des Konsums als ökonomische Zielgröße sieht beispielsweise F. W. Wagner6S den Schlüssel eines neutralen Steuersystems, das sowohl vom ökonomischen als auch vom juristischen Standpunkt akzeptiert werden kann.

61

F.W. Wagner, StuW 1992,2,4.

62

F.W. Wagner, StuW 1992,2,5.

63 P.B. SpahnlH.P. Gal/erlH. KaiserlTh. Kassel/a/J. Merz, Milcrosimulation in der Steuerpolitik, S.241 f.; 242 Fn.68.

64 Einkommensteuergesetz vom 24. Juni 1891, Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 1891, Nr. 19 (Nr.9463), S.184, zitiert nach D. PohmerlG. Jurke, Zur Geschichte und Bedeutung des Leistungsfähigkeitsprinzips, FA Bd.42 (1984), 445, 458. 65

StuW 1992,2, 5.

38

I. Kapitel: Grundlegung

III. Unvereinbarkeit der Forderung nach Wertfreiheit mit der Steuerrechtsordnung Die abweichenden Standpunkte einiger Ökonomen bestehen zum einen in der Nichtanerkennung eines auf die Familie und ihren rechtlichen und tatsächlichen Leistungsfähigkeitstransfer zugeschnittenen Steuerrechts, indem diese Verhältnisse für den Steuerbelastungseingriff für schlicht irrelevant erklärt und dagegen der Tarifgestaltung zugeordnet werden. Zum anderen argumentieren Ökonomen oft mit Hilfe der steuerlichen Auswirkungen einer Regelung und der Steuerbelastungsplanung, bevor sie sich mit Fragen der Umsetzung von Gerechtigkeitspostulaten im Steuertatbestand beschäftigen. 66 Wenn jedoch der Grundaufbau von Steuergesetzen beachtet wird, daß man einen Steuertatbestand annimmt67 , auf den als Rechtsfolge die Tarifentscheidung durch den Gesetzgeber folgt68, und man nicht beides miteinander vermischt, indem nur nach dem Endbetrag der Steuerschuld gefragt wird, ist es nicht möglich, vom Steuerrecht zu verlangen,

sich im Steuertatbestand der Wertungen zu enthalten, die die Rechtsordnung auch filr das Steuerrecht vorgibt. 69

Der hier diskutierte Gegenstandpunkt von Ökonomen erinnert etwas an die Auffassung des empirischen Rechtspositivismus, wie man ihn bei Max Weber70 antrifft, und des norm logischen Rechtspositivismus, der sich

66 Vg!. den schon oben zitierten Beitrag von G. Rose, StuW 1985, 330, 334, mit der Feststellung, aus betriebswirtschaftlicher Sicht interessierten aber naturgemäß weniger die einzelnen Steuerarten und schon gar nicht rein personenbezogene Gegebenheiten des Steuersystems. - D. Schneider, StuW 1984,356, 363, behandelt in diesem Sinne in seinem Berechnungsbeispiel die Einkommensverhältnisse verschieden leistungsfähiger gleicher Familienstände nach Steuern und die sich daraus ergebenden Umverteilungswirkungen. 67

Als Sitz der Differentiation auf der Ebene horizontaler Steuergerechtigkeit.

68

Als Entscheidung zur Erzeugung vertikaler Steuergerechtigkeit.

69 Dies wird z.B. vonF. Neumark, Grundsätze der Besteuerung in Vergangenheit und Gegenwart, 2. Auflage, S.44, ausgesprochen: "Dennoch wäre es staatswirtschaftlich und allgemein politisch ein verhängnisvoller Irrtum zu glauben, man könne auf die Dauer Steuerpolitik erfolgreich ohne Rücksicht auf die herrschenden Anschauungen darüber betreiben, was die Masse der Bevölkerung als "gerecht" ansieht."

70 Z.B. Der Sinn der "Wertfreiheit" der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, S.489 ff.

C. Einheit der Rechtsordnung u. Fundament der Steuerwissenschaften 39

durch Hans Kelsen 71 äußert. Diese bestreiten, daß "Wissenschaft vom Recht" etwas bei der Suche nach den Werten selbst helfen könne. 72 Diese konsequente Zurückführung des Normensystems auf sich selbst und auf die Geltung einer Grundnorm, deren Inhalt - wie Positivisten meinen - beliebig sein könnte, überzeugt kaum. Daß hingegen die Rechtswissenschaft mit ihrer Dogmatik auch wertende Aussagen treffen kann und Steuergerechtigkeit keine aus dem System des positiven Rechts heraus unergründliche Größe ist, verdeutlicht sich anhand der Tatsache, daß insbesondere den Verfassungsnormen vom Text getrennte Wertungen voraus/iegen. Neben den von Ökonomen genauestens beachteten Steuerwirkungen hat somit die Steuerrechtswissenschaft sich auch mit der Frage der Umsetzung von Steuergerechtigkeit zu beschäftigen. Anders als 'der Blick auf betriebsbezogene Gegebenheiten73 bestimmt der personale Charakter von Steuern den Blickwinkel der Steuerrechtswissenschaft. Einkommensteuer, Erbschaft- und Schenkungsteuer und Vermögensteuer sind Personensteu-

71 So fonnuliert er in seiner "Reinen Rechtslehre", S.l: "Die Reine Rechtslehre ist eine Theorie des positiven Rechts. Des positiven Rechts schlechthin, nicht einer speziellen Rechtsordnung. Sie ist allgemeine Rechtslehre, nicht Interpretation besonderer nationaler oder internationaler Rechtsnonnen. Als Theorie will sie ausschließlich und allein ihren Gegenstand erkennen. Sie versucht, die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll. Sie ist Rechtswissenschaft, nicht aber Rechtspolitik. " "Sie leugnet insbesondere, daß es Aufgabe der Rechtswissenschaft sein kann, irgend etwas zu rechtfertigen. Rechtfertigung bedeutet Wertung; und Wertungen - stets subjektiven Charakters - sind Sache der Ethik und Politik, nicht aber der objektiven Erkenntnis. Nur ihr hat auch die Rechtswissenschaft zu dienen." (S.128). 72 M. Weber, Der Sinn der "Wertfreiheit" der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, S.489, 502: "Dagegen bestreite ich sehr nachdrücklich: daß eine "realistische" Wissenschaft vom Ethischen, d.h. die Aufzeigung der faktischen Einflüsse, welche jeweilig in einer Gruppe von Menschen vorwiegenden ethischen Ueberzeugungen durch deren sonstige Lebensbedingungen erfahren und umgekehrt wieder auf diese geübt haben, ihrerseits eine "Ethik" ergebe, welche jemals über das Geltensollende etwas aussagen könne. So wenig wie eine "realistische" Darstellung der astronomischen Vorstellungen etwa der Chinesen, - welche also aufzeigt, aus welchen praktischen Motiven und wie sie Astronomie betrieben, zu welchen Ergebnissen und warum sie zu diesen kamen - jemals die Richtigkeit dieser chinesischen Astronomie zu erweisen zum Ziele haben könne." "Zu den von keiner Ethik eindeutig entscheidbaren Fragen gehören die Konsequenzen des Postulats der "Gerechtigkeit"." (S.505). 73

G. Rose, StuW 1985,330,334.

40

1. Kapitel: Grundlegung

ern. Sie unterliegen deshalb auch primär personenbezogenen Rechtsgedanken. Darüber hinaus sind die Wirkungen der Verbrauchsteuern, namentlich der Umsatzsteuer als die bedeutsamste, mit in die Überlegungen einzubeziehen. 74 In der wertungsbezogenen Denkweise ist der Jurist, verglichen mit weltoffenen Ordnungsentwürfen der Finanzwissenschaft, relativ unfrei.

D. Die Umsetzung von Gerechtigkeitsentscheidungen anhand des grundgesetzlichen Wertesystems und des Systems steuerrechtlicher Sachgesetzlichkeiten Ein Problem der hier vertretenen umfassenderen Einbeziehung von Wertungen und Gesetzmäßigkeiten ist die Isolierung der steuerlichen Lastenverteilungsgerechtigkeit aus der Gesamtheit distributiver Gerechtigkeit des Staates. 7S Nach welchen Kriterien entscheidet sich, inwieweit steuerliche Gerechtigkeit aus dem gesamtwirtschaftlichen Verteilungsergebnis herausgelöst werden darf? Dies wird deutlich bei den Fragen nach den Verhältnissen direkter Transfers zu steuerlichen Entlastungsnormen, beispielsweise der Sozialhilfe zur steuerlichen Freistellung des Existenzminimums und des Verhältnisses des Kindergeldes zum Kinderfreibetrag: Können die Steuerersparnis durch den Kinderfreibetrag und das Kindergeld ohne weiteres zusammengerechnet werden? Hier helfen allein die inhaltlichen Kriterien von Sinn und Zweck. Absichten und Zielen der einzelnen Gesetze weiter, nicht jedoch die Ab-

schätzung allein ihrer Auswirkungen. Sie bilden die Legitimation für die konkrete Bemessung oder liefern zugleich die Basis von Reformvorschlägen zur sachgerechten Ausgestaltung. Aus ihnen schöpft der Rechtsanwender und Rechtsgestalter die Impulse zur objektiv-teleologischen Inter-

74 Insbesondere ist daran zu erinnern, daß die Freistellung des existenznotwendigen Lebensbedarfs von der indirekten Umsatzbesteuerung noch keineswegs beachtet wird. Der Verbraucher als Steuerträger hat das Recht, seinen existenznotwendigen Lebensbedarf umsatzsteuerfrei zu bestreiten. Dies kann durch geeisnete Erstattung bei den direkten Steuern besser bewerkstelligt werden, so der Vorschlag von J. Lang, StuW 1990, 107, 126, als durch schwer abgrenzbare Befreiungskataloge für bestimmte Umsätze, von denen vermutet wird, sie würden zur Existenzsicherung getätigt, hierzu ausführlich K. Tipke, StuW 1992, 103, 144 ff. 75

R. EIsehen, StuW 1988, 1, 10 fI.

D. Die Umsetzung von Gerechtigkeitsentscheidungen

41

pretation76, der nach richtiger Auffassung der Vorrang vor anderen Interpretationsansätzen gebührt. 77 Für die Besteuerung der Familie sind daher vor allem die verfassungsrechtlichen Vorgaben maßgeblich 78, da alles positive Recht seinen Richtpunkt in der Verfassung hat. 79 Darüber hinaus sind die Sachgesetzlichkeiten der Steuergesetze aufzuspüren und ist die Konzeption in dieser Richtung zunächst fortzuschreiben: Wenn es nämlich eine Bedeutung des Familienschutzes, der Gleichbehandlung und der Würde als Element objektiver Wertentscheidung im Steuerrecht gibt, stellt sich die Frage, wie denn diese Werte konkret umzusetzen sind, da sie auf der Stufe höchster Abstraktion, also unabhängig vom konkreten Anspruchsteller, vom Staat als alleinigem Verpflichteten und offen IUr verschiedene Inhalte 80, noch wenig Antwort auf die Frage nach dem Inhalt des Einflusses geben. Indessen verwirklicht sich aktuelle Werteinschätzung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und anderer Gerichte sowie die Beiträge der Wissenschaft, als auch durch den Gesetzgeber und das Handeln der Exekutive.

76

K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, S.333 ff.

Sie liegt auch der immer wieder im Steuerrecht entscheidenden Frage nach dem "wirtschaftlichen Gehalt" des Sachverhalts zugrunde, W.R. Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, S.160; F.w. Wagner, Der gesellschaftliche Nutzen einer betriebswirtschaftlichen Steuervenneidungslehre, FA Bd.44 (1986), 30,49. 77

78 So bildet die verfassungskonfonne Auslegung das zweite wichtige juristische methodologische Standbein, K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, S.339 ff.; 344; unter verfassungsrechtlichem Aspekt bildet die Dissertation von M. Moderegger, Der verfassungsrechtliche Familienschutz und das System der Einkommensteuer, Baden-Baden 1991, bereits einen wesentlichen Beitrag zur Fortbildung der Familienbesteuerung. 79 G. Robbers, Zur Verteidigung einer Wertorientierung in der Rechtsdogmatik, ARSP Sonderheft 37 (1990), 162, 163. 80 Ich folge hier den drei Abstraktionsschritten, die R. Alexy, Theorie der Grundrechte, S.477 ff., vornimmt, um den Charakter der Grundrechte als objektive Wertordnung zu beschreiben.

2. Kapitel

Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht A. Der Schutz der Familie nach Art.6 Abs.l GG Da bereits andere Arbeiten sich ausführlich mit dem allgemeinen grundrechtsdogmatischen Schutz der Familie beschäftigt haben, soll hier versucht werden, diese Grundlagen auf das Nötigste zu beschränken. Es fragt sich zum ersten, wie der Familienschutz in das Steuerrecht umzusetzen und einzelne Regelungen auszugestalten sein könnten. Zum zweiten soll der Schwerpunkt der Erörterungen auf die ungeklärten und umstrittenen Aspekte gelegt werden, insbesondere die Einbeziehung Unverheirateter in die Jamilienbezogenen Regelungen des Steuerrechts. Der Staat hat seine Beziehungen zur Familie im öffentlichen Recht mit Rücksicht auf die vorgefundene zivilrechtliche Ordnung gestaltet, diese so wiederum mitkonstituiert l und die Familie auf eine höhere, verfassungsrechtliche Ebene erhoben. Der Inhalt des Art.6 Abs.l GG begründet für das Steuerrecht ein staatliches Diskriminierungsverbot und ein Förderungsgebor gegenüber der Familie.

I. Verbindlicher verfassungsrechtlicher Schutz einer autonomen Familie Art.6 Abs.l GG stellt die Ehe und die Familie "unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung". Dieses Familiengrundrecht umfaßt insgesamt ein ganzes Bündel von Regelungen zur Abgrenzung der öffentlichen Sphäre gegenüber der privaten Lebensgemeinschaft und Verwandtschaft und könnte daher Gefahr laufen, mehr als unverbindlicher Programmsatz denn als effektives Grundrecht interpretiert zu werden. Art.6 GG will jedoch unmittelbar anwendbarer Rechtssatz sein, und damit mehr B. Pieroth/B. Schlink, Gnmdrechte, Staatsrecht H, 7. Auflage, S.168 Rn. 719.

So bereits BVerfGE 6, 55, 76.

A. Der Schutz der Familie nach Art.6 Abs.l GG

43

als nur objektiv geltendes Verfassungsrecht oder bloßer Programmsatz ohne subjektive Rechte, etwa wie es sein Vorläufer in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 gewesen war. 3 Dies scheint heute überwiegend anerkannt zu sein. Der gesamte Text des Art.6 GG enthält für das Steuerrecht zunächst einen Hinweis auf die EigensUindigkeit der Familie und auf den Subsidiaritätsgrundsatz: Die ersten drei Absätze des Art.6 GG haben vor allem die klassischen Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat im Blick, das eheliche und familiäre Zusammenleben von staatlichen Eingriffen frei zu gestalten. 4 Zugleich stellen sie den Vorrang der privaten Sorge beziehungen vor denen der staatlichen Gemeinschaft insbesondere bei der Pflege und Erziehung der Kinder heraus. Art.6 Abs.l und Abs.4 GG enthalten aber auch Leistungsrechte. Sie betreffen den Schutz und die Förderung von Ehe und Familie, begründen ein subjektiv öffintliches Recht der Mütter auf Schutz und Fürsorge. Schließlich formuliert Art.6 Abs.l GG eine Institutsgarantie für Ehe und Familie, die als äußerste Grenze der Gestaltung durch den Gesetzgeber angesehen wird. Daß die Gesetzgebung die Ehe und Familie als rechtliches Institut berühren könnte, ist aber sehr wenig wahrscheinlich und daher wird jene Funktion des Art.6 GG kaum praktisch werden. 5 Die Institutsgarantie ist deshalb auch mehr ein historisches Relikt als "Iaw in action". Von Staats wegen droht dem Institut der Ehe momentan kaum Gefahr; es stößt viel-

G. Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reiches vom 11. August 1919,3. und 4. Auflage, Art. 119, Anm.2 und 2. Hauptteil am Ende, S.303; D. Schwab, Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie, in: FS für F.W. Bosch, S.893, 895 ff.; rh. Maunz, in: MaunzlDürig, Kommentar zum Gundgesetz, Art.6 Rn.6. In der Weimarer Reichsverfassung war es ein Hauptanliegen der Formulierung eines Familiengrundrechts, ein Gegengewicht für das sozialistische Programm zu schaffen, das den religiösen Gedanken der Ehe ignorierte und das Modell sozialistischer Gemeinschaftserziehung verfolgte. Mit der ausdrilcklichen Festschreibung der Gleichberechtigung der Frau verbeugte sich der Verfassungstext jedoch vor sozialistischen Forderungen. Im übrigen sollte der Vorrang der privaten Ehe und Kindererziehung vor staatlicher Bevormundung zum Ausdruck kommen, J. V. Bredt, Der Geist der Deutschen Reichsverfassung, S.298 ff. Ein weiterer, aber nicht konservierender, sondern in die Zukunft weisender Bestandteil des Familiengrundrechts der Weimarer Reichsverfassung war der Schutz der Mutterschaft, der vor allem die unehelichen Mütter betraf, D. Schwab, Zur Geschichte des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie, in: FS für FW. Bosch, S.893, 904 f. E. Scheffler, Ehe und Familie, in: K.A. BettermannlH.C. NipperdeylU. Scheuner, Die Grundrechte, Vierter Bd., I. Halbband, 245, 250.

44

2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

mehr bei einer größeren Zahl von jüngeren Paaren6 auf stillschweigende faktische Ablehnung. Diese Gruppe und ihre Anhänger treten in der öffentlichen Diskussion mit der Ansicht auf, der Ehebegriff sei nicht streng umrissen, sondern auch alternativen Zusammenlebensfonnen angemessen. Provokant fonnuliert ist daran zu denken, den Begriff der "Ehe" in Art.6 Abs.l GG als pars pro toto etwa ltir dauerhafte, verantwortungsvolle und von der Gesellschaft akzeptierte Zusammenlebensfonnen zu verstehen und seine Einschränkung den jeweiligen Spezialrechtsgebieten zu überlassen. Wäre also die nichteheliche Lebensgemeinschaft vom Ehebegriff des Grundgesetzes umfaßt, könnte sie zunächst damit auch allen steuergesetzlichen Regelungen unterliegen, die der Ehe zugutekommen z.B. dem Ehegattensplitting in seinen steuerentlastenden Fällen, es sei denn, es wäre eine Einschränkung geboten, die auf spezifisch steuerrechtlichen Gründen beruhte.

11. Ehe und Familie als Grundrechtsträger 1. Einbeziehung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft in den Schutzbereich der Ehe?

Spricht Art.6 GG ausdrücklich von den Eheleuten als Trägem des Grundrechts, ist damit das Problem aufgeworfen, wie nichteheliche oder eheähnliche Verbindungen im Verhältnis zur Ehe einzustufen sind. Die verfassungsrechtliche Ausgangslage ist schnell in ihrer Strenge skizziert. Als allein sozialer Tatbestand des dauernden, grundsätzlich lebenslänglichen Zusammenlebens von Mann und Frau umfaßte die Ehe auch die meisten genannten weiteren Lebensfonnen ohne Eheschluß. Als rechtlicher Tatbestand hingegen soll sie nach vom Verfassungsgeber 7 und ausdrücklich auch vom Bundesverfassungsgericht geäußerter Ansicht außereheliche Gemeinschaften nicht mit einbeziehen, sondern nur die Ehe als verweltlichtes, bürgerlich-rechtliches Gebilde, das in der rechtlich vorge-

1988 hatte sich die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften (gut 800.000) seit 1972 vervierfacht. Damit waren immerhin 5% aller Paare 1988 nicht verheiratet, E. Rölder, Haushalte und Familien, Ein Überblick über die amtliche Berichterstattung, in: H. Rapin (Hrsg.), Der private Haushalt im Spiegel sozialempirischer Erhebungen, S.1l7, 124. W. Matz, in: Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR Bd.1 (1951), 93 f.

A. Der Schutz der Familie nach Art.6 Abs.l GG

45

schriebenen Form geschlossen wird. 8 Die breite Anerkennung der heterosexuellen nichtehelichen Lebensgemeinschaft in der Gegenwart ist jedoch ein Faktum, dessen Auswirkungen die Rechtsordnung nicht unberührt lassen kann und auch die Verfassungswirklichkeit prägt; umgekehrt, aber in die gleiche Richtung tendierend, hat sich die Ehe von der kaum auflösbaren, durch das Zivilrecht reglementierten persönlichen Pflichtenbeziehung zu einer auf wirtschaftlichen Ansprüchen stark ausgebauten Partnerschaff entwickelt, die faktisch über den kurzen prozeduralen Weg der Zerrüttung zur freien Lösbarkeit strebt. 1O Dies hatte der Verfassungsgeber zwar nicht vorhergesehen, so daß faktisch die nichteheliche Lebensgemeinschaft außerhalb der Verfassungsrechtsordnung steht und sich kein direkter, sondern mangels einer Grundgesetzänderung ein indirekter Verfassungswandel vollzieht. 11 Will man nicht das Ergebnis schlicht als Datum hinnehmen, daß sich der verfassungsrechtliche Eheschutz in keiner Weise auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft ausdehnen läßt 12, stellt sich sodann die Frage nach dem Ausweg aus diesen scheinbaren verfassungsrechtIichen Fesseln, die den Eheschutz auf diesen eng gefaßten Personenkreis beschränken. Möglicherweise bietet die im neueren Schrifttum aufgebrachte "offene Verfassungsinterpretation" auch für den nach traditioneller Auffassung formal so durch die Institutsgarantie fest geschlossen wirkenBVerfGE 31, 58,82 f; 53,224,245. R. Herzog, Schutz von Ehe und Familie durch die Verfassung, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1988, S.15, 18: "Heute hat dieser Begriff [der der Ehe] oft wenig mehr zum Gegenstand als Überweisungen von zwei Gehaltskonten auf ein Haushaltskonto, abwechselndes Kochen und das gemeinsame Anwerfen der Wasch- und der Spülmaschine. " 10

K.H. Friauj, NJW 1986, 2595, 2598.

11

W. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S.192 ff.

12 So aber noch die ganz überwiegende Ansicht in Rechtsprechung und Literatur: BVerfGE 9,20,34 f; 31,58,82 f; 36,146,165; H. Lecheier, in: J. IsenseelP. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, S.211, 217 Rn.13, der Verfassungsinterpretation allein anhand gesellschaftlicher Entwicklung ohne das Element der Wandlung der einfachen Rechtsordnung verwirft. Nicht gefolgt werden kann allerdings seiner Andeutung, der Schutzbereich der "Ehe" sei ein Teil des "Wirkungsbereichs der Verfassung, [der] dem Staatsvolk Handlungsmaximen und Lebensformen der Väter vor Augen [halte], damit es sich ... daran reibe"; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.III/l, S.825; Th. Maunz, in: Th. Maunz/G. DüriglR. HerzogIR. Scholz, Kommentar zum GG, Art.6 Rdnr.l5a; B. Pieroth, in: H.D. JarassIB. Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 2. Auflage, Art.6 Rn.2; E.M. v.Münch, Rdnr.3a zu Art.6, in: I. v.Münch, GGK, Bd.l, 3. Auflage; I. Richter, in: AKGG, 2. Auflage, Art.6 Rz.36a.

46

2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

den Ehebegriff des Art.6 Abs.l GG 13 eine wirklichkeitsnähere Interpretationsweise. Ob sie gegenwärtig schon zu dem Ergebnis führen kann, Ehe und nichteheliche Lebensgemeinschaft seien vom Ehebegriff gleichermaßen umfaßt, bleibt zu prüfen. Es kann zwar kein Zweifel bestehen, daß hier nicht einer "kalten" Verfassungsänderung allein durch abweichende Lebensformen in beachtlicher Zahl und eine breite Anerkennung in der Bevölkerung das Wort geredet wird. Indessen scheint es richtig, bei der inhaltlichen Bestimmung von Verfassungsbegriffen, wie dem der "Ehe", nach deren tatsächlicher integrativen Kraft zu fragen, und auch zu berücksichtigen, daß ein großer Teil verfassungsrechtlicher Begriffe auf die einfache Rechtsordnung und damit auf den Inhalt und die Wertschätzung des einfachen Rechts bezugnimmt. 14 Daran ist angesichts der historischen Entwicklung des Familiengrundrechts, das die zur Zeit geltende Struktur familiärer Verhältnisse vorgefunden und in seinen Regelungsbereich einbezogen hat, zu erinnern. Folglich bestimmt der einfache Gesetzgeber (und die das Gesetz anwendende und fortbildende Rechtsprechung) mit über den aktuellen Inhalt des grundrechtlichen Ehebegriffs. Dies scheint um so wichtiger, je mehr die aktuellen Lebensformen im tatsächlichen und einfachrechtlichen Wandel sind und je schwieriger eine Verfassungsänderung durchzusetzen ist. Für die nichteheliche Lebensgemeinschaft und den Eheschutz bedeutet dies, daß es wohl nicht genügt, den Anwendungsbereich des besonderen Schutzes mit Hilfe der herkömmlichen juristischen Wortsinnauslegung methodisch korrekt, aber anscheinend schon von vorneherein zu verschließen lS und die nichteheliche Lebensgemeinschaft l6 dem Schutzbereich des Art.2 GG zuzuweisen. Vielmehr könnte die Rechtsänderung im Sinne einer Ausdehnung des Schutzbereichs des Art.6 Abs.l GG auf bestimmte

13 K.H. Friauj, NJW 1986, 2595, 2600 ("Versteinerung"); R. Zippelius, DÖV 1986,805,808 ("Schranke der Grundgesetzänderung", Art.79 Abs.1 GG). 14 Hierzu vor allem W. Leisner, Von der VerfassWlgsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der VerfassWlg, S.26 ff. IS

So aber z.B. R. Zippelius, DÖV 1986, 805, 808.

16 Zwn Hilflosigkeitszeugnis, häufig mit dem Wort "Phänomen" gepaart, das dieser juristische Begriff abgibt, W. Zeidler, Ehe Wld Familie, in: Handbuch des VerfassWlgsrechts, S.576 f. insbesondere Fn.93; so formulierte aber auch noch der l. Beschluß des 57. Deutschen Juristentages 1988, der von einer "erheblichen VerbreitWlg des sozialen Phänomens" spricht, VerhandlWlgen, Bd.II, I 233.

A. Der Schutz der Familie nach Art.6 Abs.l GG

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nichteheliche Lebensgemeinschaften auch auf dem Umweg einfachgesetzlicher Rechtsänderungen stattfmden, sofern sich diese Rechtsänderungen hinreichend konkretisieren lassen und man die mittelbare Verfassungsinterpretation zuläßt. Hierzu sind alle gesetzlichen Vorschriften und der aktuelle Stand von Rechtsprechung und Literatur mit einzubeziehen. Bei näherem Hinsehen ist erkennbar, daß zum einen der spezifische verfassungsrechtliche Inhalt der jetzigen "Ehe" als Ansatzpunkt für "besonderen Schutz" kaum noch markant auszumachen ist und der Gesetzgeber selbst sowie die Rechtsprechung diesen Zustand mitgetragen haben, zum anderen bestimmte außereheliche Lebensformen in ihrer rechtlichen Einbettung den klassischen Aufgabenbereich, der traditionell der Ehe zugeschrieben worden ist, zum Teil übernommen haben (z.B. Kindererziehung 17). a) Gleichstellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit der Ehe, wo es um die Messung von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeitim weitesten Sinne geht

Gegenstand von Gleichstellungsüberlegungen ist seit Mitte der achtziger Jahre nahezu die gesamte Rechtsordnung geworden. Man hat die Regelung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft zum Thema des Juristentages 1988 gewählt und ausführlich untersucht, inwiefern sie der traditionellen Ehe im konkreten Wertungszusammenhang im Einzelfall entspricht. Gesetzliche Vorschriften sind allerdings in den seltensten Fällen schon dem Wortlaut nach auf die geänderten Verhältnisse abgestimmt; als Vorreiter sind die Normen zu nennen, bei denen positive öffentliche Transfers um den privaten faktischen Leistungsfluß und Vermögensbestand des

17 Hierauf aber stellt das Hennann Hesse Zitat, das zur Argumentation aufgegriffen wurde, allein ab: "... da das Zusammenleben von Liebenden nicht sie allein angeht und dessen Fehler und Sünden nicht von ihnen allein gebüßt werden müssen, sondern Kinder kommen, die unter Umständen einen besseren Schutz brauchen als das Gewissen der Erzeuger, sehe ich ein, daß es besser sei, das Schließen oder Wiedertrennen von Ehen nicht einzig der Laune der Liebespaare zu überlassen.", zitiert nach M. Wingen, FamRZ 1981, 331, 337. Das Bundesverfassungsgericht hat neuerdings den Gesetzgeber verpflichtet, dem nichtehelichen Vater die Möglichkeit eines gemeinsamen Sorgerechts für das Kind zu verschaffen, wenn es in intakter nichtehelicher Lebensgemeinschaft aufwächst, BVerfGE 84, 168, 186 f.; hiergegen mit erheblichem Engagement der den Standpunkt der älteren Generation verteidigende F. W. Basch, FamRZ 1991, 1121 ff.

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2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

Partners auch innerhalb nichtehelicher Lebensgemeinschaften gekürzt werden, so z.B. in § 122 S.l BSHG und im dieser Regelung entsprechenden § 137 Abs.2a AFG. 18 Für die Regelsatzabstufung der Sozialhilfe sowie die Wohngeldbemessung (§ 7 Abs.3 WohnGG) hat es - wirtschaftlich gesehen zutreffend - keine Bedeutung, ob weitere Haushaltsangehörige mit dem Leistungsempflinger verheiratet sind oder nicht. 19 Andererseits stehen Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft bedingt durch die Regelungstechnik des Gesetzes in viellaltiger Hinsicht keine oder verringerte Leistungen zu, da die bestehenden Normen an den Familienstand anknüpfen. 20 Es besteht aber Einigkeit, daß zwischen belastender Anrechnung von Unterhaltsleistungen des Partners einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft und steuerlicher und zwangsvollstreckungsrechtlicher21 Nichtberücksichtigung von Unterhaltsleistungen (vom Ausnahmefall abgesehen 22) ein Wertungswiderspruch besteht, den es aufzulösen gilt. 23 Die strafrechtliche Dogmatisierung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft steht offenbar noch bevor. Heinrich Konrad24 prüft die Analogie des strafrechtlichen Angehörigenprivilegs und fordert eine Tatbestandserweiterung durch den Gesetzgeber25 , argumentiert jedoch dort, wo sich keine strafrechtlichen Rechtskreiserweiterungen ergeben, sondern Verschärfungen aufgrund gegenseitiger Pflichten, mit der von Art. 103 GG ge-

I8 B. v.Mayde/l, Die nichteheliche Lebensgemeinschaft im geltenden Sozialrecht, in: Verhandlungen des Siebenundfünfzigsten Deutschen Juristentages, Bd.II, I 69, 178 ff.

19

W. Sche/lhorn/H. Jirasek/P. Seipp, BSHG, § 2 RegelsatzVO, Rdnr.5.

20 Dies kann hier nur erwähnt, aber nicht ausgeführt werden, dazu im einzelnen B. v.Mayde/l, Die nichteheliche Lebensgemeinschaft im geltenden Sozialrecht, in: Verhandlungen des Siebenundfünfzigsten Deutschen Juristentages, Bd.II, 169, 174 f; W. Zeidler, Ehe und Familie, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S.555, 574 f 21 J. Münder, in: Lehr- und Praxiskommentar - BSHG § 122 Rz.4, weist hierauf zutreffend hin. 22 BFHlNV 1991, 814, hat eine sittliche Zwangsläufigkeit von Unterhaltsleistungen im Sinne der §§ 33 Abs.2, 33a Abs.l EStG bei gemeinschaftsbedingter Bedürftigkeit des Empfängers angenommen wegen Betreuung eines gemeinsamen Kindes.

23 S. de WittlJ.-F. Huffmann, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, 2. Auflage, S.135 Rn.254. 24

1986. 25

Probleme der eheähnlichen Gemeinschaft im Strafrecht, Frankfurt am Main H. Konrad, Probleme der eheähnlichen Gemeinschaft im Strafrecht, S.72 f

A. Der Schutz der Familie nach Art.6 Abs.l GG

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botenen Zurückhaltung. Insgesamt dürften sich aber hier noch viele weitere Fragen ergeben?6 Schließlich sind auch im Zivilrecht umfangreiche Gleichstellungsüberlegungen angestellt worden und zu dem Ergebnis gekommen, daß bei allein wirtschaftlicher Betrachtungsweise eine größe Anzahl von Vorschriften, die bislang nur die Familienangehörigkeit zum Inhalt haben, auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft wenigstens analog anzuwenden sind. Hierzu zählen insbesondere die Nachfolge und Einbeziehung des nichtehelichen Lebenspartners in Mietverhältnisse 27 (§§ 569a; 549 BGB), in dingliche Wohnrechte (§ 1093 Abs.2 BGB), in Unterhaltsansprüche gegen den Erben auf den Dreißigsten (§ 1969 Abs.l BGB), den Widerruf der Schenkung wegen Verfehlung gegenüber dem Angehörigen des Sc henkers (§ 530 BGB)?8 Darüber hinaus lassen sich wegen der wirtschaftlichen Betrachtungsweise auch die Eigentumsvermutungen zugunsten des Gläubigers der §§ 739 ZPO in Verbindung mit § 1362 BGB ausdehnen, die Vertretungsfunktion bei § 885 ZPO, die Gläubigerschutzvorschriften der §§ 31 Nr.2; 32 Nr.2 KO; § 3 Abs.l Nr.2 AnfG und die Zeugnisverweigerungsrechte des § 383 ZPO sowie die Vertretungsregel der Ehegatten bei Geschäften zur angemessenen Deckung des Lebensbedarfs gemäß § 1357 BGB und der Schutzbereich der Verträge mit Schutzwirkung zugunsten Dritter erweitern. 29

26 Bemerkenswert ist die Feststellung, daß einer der Standard-Kommentare zum Strafgesetzbuch von A. Schönke/H. Schröder, Strafgesetzbuch, 24. Auflage, als Hinweis auf diesen umfangreichen Problemkreis das Stichwort "Nichteheliche Lebensgemeinschaft" im Stichwortverzeichnis nicht enthält.

27 Jüngst hat das OLG Hamm, FamRZ 1992,308, dem Vermieter zugemutet, die Aufnahme des nichtehelichen Lebenspartners in die Mietwohnung zu erlauben im Sinne von § 549 Abs.2 S.l BGB; so auch schon M. Lieb, Gutachten A ftlr den 57. Deutschen Juristentag, A 114, These Nr.4; das Bundesverfassungsgericht hat ein Eintrittsrecht des überlebenden Lebensgefährten in den Mietvertrag analog § 569a Abs.2 BGB bestätigt, BVerfGE 82, 6; die Entscheidung zum Namensrecht (BVerfG NJW 1991, 1602) läßt nunmehr aufgrund des Kindesnamens keine Schlüsse mehr darauf zu, ob es sich um ein nichteheliches Kind handelt.

28 J. Knoche, Die Partner einer ehelichen Lebensgemeinschaft als "Familienangehörige"?: Das privatrechtliche Außenverhältnis, S.239. 29 J. Knoche, Die Partner einer ehelichen Lebensgemeinschaft als "Familienangehörige"?: Das privatrechtliche Außenverhältnis, S.239.

4 Lingemann

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2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

b) Mangelnde Tragfähigkeit spezifischer stabilisierender Elemente der Ehe

Die früheren Eigenschaften der Ehebeziehung scheinen sich gewandelt zu haben. Die Ehe ist gar nicht mehr so sehr auf Dauer angelegt, wie die stark angestiegenen Scheidungsraten beweisen. Viele Ehen münden auch keineswegs mehr in die Pflege der nächsten Generation, sondern bleiben kinderlos. Die höhere Mobilität der Partner, insbesondere die wirtschaftlich und im Bewußtsein unabhängigere Stellung der Frau, erfaßt auch die ehelichen Zweierbeziehungen. Damit ist die Ehe wohl kein Garant mehr für den Schutz des Schwächeren; im Zweifel versucht der "Schwächere", sich aus seiner ungeliebten Position zu befreien, was ihm das bürgerliche Recht durch die Scheidung ermöglicht. Die stabilisierenden Elemente der Ehe sind unter Umständen denen einer "gesunden" nichtehelichen Lebensgemeinschaft ähnlich geworden30, auch wegen des Verlustes an religiöser Anerkennung der geheiligten Ehe. c) Fazit: Weitestgehende Angleichung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft im Hinblick auf den Schutzbereich des Art. 6 Abs.l GG; Gleichbehandlung wirtschaftlich gleicher Sachverhalte

Bei Abschätzung der momentan erkennbaren Elemente in der Rechtsordnung, mit denen sie von der nichtehelichen Lebensgemeinschaft Kenntnis nimmt, sie einplant, berücksichtigt oder diskriininiert, ist allerdings die Lebensform durch das einfache Recht noch nicht so akzeptiert worden, daß von einern schon vollzogenen "indirekten Verfassungswandel" zu sprechen wäre. Die nichteheliche Lebensgemeinschaft ist auch nach dem untersuchten einfachrechtlichen Stand noch keine "Rechtsinstitution", auf die der verfassungsrechtliche Begriff der "Ehe" mit seinem harten Gewährleistungsgehalt, insbesondere dem materialen Benachteiligungsverbot, schon zuträfe. Indessen spricht vieles dalür, die nichteheliche Lebensgemeinschaft im Schutzbereich des allgemeinen Gleichheitssatzes verstärkt zu thematisieren. Für das Steuerrecht kann bei Fiskalzwecknormen eine Bevorzugung der Ehe vor der nichtehelichen Lebensgemeinschaft nicht mehr uneinge-

30

Vehement anderer Ansicht F.W. Hasch, FamRZ 1991, 1121, 1127.

A. Der Schutz der Familie nach Art.6 Abs.l GG

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schränkt vertreten werden. Es besteht jedenfalls kein verfassungsrechtliches Konkurrenzschutzgebot dahingehend, nichteheliche Lebensgemeinschaften gegenüber der Ehe benachteiligen zu sollen. 31 Vielmehr ist nach einer Lösung zu suchen, wie eine dem realen Unterhaltstransftr und der Haushaltsersparnis entsprechende Besteuerung sowohl der Eheleute als auch der verfestigten nichtehelichen Lebensgemeinschaft zu realisieren ist. Zu einem solchen Modell wird im Rahmen dieser Arbeit ein Vorschlag unterbreitet. Hiermit wird über die ethischen und kulturellen Werte der Institution der Ehe kein abwertendes Urteil gesprochen; es geht allein darum, auch in der Steuerrechtsordnung von einer weiteren Lebensform unserer Zeit Notiz zu nehmen und jeglichen moralischen Zeigefmger bei der Diskussion um ein gerechteres Steuersystem zu kappen. 32 Im übrigen hat die aktuelle Familiensoziologie auf eine ihrer interessantesten Fragen folgende Antwort gegeben: Wie entwickeln sich nichteheliche Partnerschaften über einen längeren Zeitraum? Die Überlebenskurve nichtehelicher Partnerschaften zeigt, daß drei Jahre nach ihrer Gründung nur noch 40 % der Partnerschaften in dieser Form weiterbestehen. Häufigster Grund./Ur die Beendigung der nichtehelichen Partnerschaften ist dabei nicht die Trennung der Paare, sondern der Übergang in eine formale Ehe durch die Eheschließung. 33 Dies ist ein Hinweis auf eine vergleichsweise starke Bindung der Partner, wie sie in manchen Teilen der neueren Literatur nicht vermutet wird. 34

31 Denn es ist unmöglich, die nichteheliche Lebensgemeinschaft in Einzelfällen richtigerweise gleichzustellen und zugleich die partielle Gleichstellung wegen eines Meistbegilnstigungsgebotes der Ehe wieder zurückzunehmen, M. Wingen, Nichteheliche Lebensgemeinschaften: Formen - Motive - Folgen, S.100. 32 Damit sollen auch nicht die "Gewohnheitstiere der Geschichte, für die jeder Wandel unerträglich ist", mehr als nur eben erforderlich "psychisch beunruhigt werden" oder "der Untergang einer sozialen Institution" gepredigt werden, vgl. R. König, Die Neophilie im Konflikt mit monogamen Leitbildern in der modemen Gesellschaft Ende der Monogamie?, in: Die Institution der Ehe, S.105.

33 Etwa 56 % der nichtehelichen Lebensgemeinschaften sind damit sog. Ehen auf Probe, G. Wagner, Das Sozio-ökonomische Panel- Ein Instrument zur Dauerbeobachtung privater Haushalte, in: H. Rapin (Hrsg.), Der private Haushalt im Spiegel sozialempirischer Erhebungen, S.93, 103. 34 G. Wagner, Das Sozio-ökonomische Panel- Ein Instrument zur Dauerbeobachtung privater Haushalte, in: H. Rapin (Hrsg.), Der private Haushalt im Spiegel sozialempirischer Erhebungen, S.93, 102.

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2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

2. Weiter Familienbegrifl'

Anders als beim Institut der Ehe werden die Abgrenzungen f"ür die Familie nicht so stark problematisiert und der Familienbegriff von vorneherein offener gesehen. 3s Der gesellschaftliche Wandel hat die Familien nicht annähernd so erodiert wie die Ehe. Allerdings hat auch hier die tatsächliche Entwicklung im Trend von der Mehrgenerationenfamilie mit Großeltern und Enkeln zur Zweigenerationen-Kleinfamilie und zur Individualisierung Einzug gehalten. Zum Teil mit der Überlegung, die sich aus den speziell auf das Erziehungsverhältnis zugeschnittenen Absätzen 2 und 3 des Art.6 GG gründet, werden die Großeltern überwiegend nicht in den Familienschutz des Art.6 Abs.l mit einbezogen. 36 Zur "Familie" im Sinne des Art.6 Abs.l GG werden nach nahezu einhelliger Auffassung alle diejenigen Verbindungen von Eltern und Kindern gezählt, die von der Rechtsordnung irgendwie anerkannt werden. Insbesondere nichteheliche oder an Kindes Statt angenommene Kinder gehören zu einer Familie. Auf den momentanen Aufenthalt im Familienverband kommt es ebensowenig an wie auf die Minderjährigkeit. Wegen Todes oder Trennung unvollständige Familien gehören ebenso zum Familienbegriff des Grundgesetzes dazu. 37 Genau betrachtef8 geht es bei den unvollständigen Familien auch nicht um die Frage einer Ausgrenzung aus dem Familienbegriff; vielmehr verdienen diese Gruppen wohl einen noch weitergehenden Schutz als die auf

35 E. Sche.ff1er, Ehe lUld Familie, in: KA BettennannlH.C. Nipperdey/U. Scheuner, Die GflUldrechte, Vierter Bd., l. Halbband, 245, 251; P. Häberle, VerfasslUlgsschutz der Familie - Familienpolitik im VerfasslUlgsstaat, S.26 f.; E.M. v.Münch, Rdnr.4 zu Art.6, in: I. v.Münch, GGK, Bd.l, 3. Auflage; I. Richter, in: AK-GG,2. Auflage, Art.6 Rz.12 ff. 36 z. B. E. Sche.ff1er, Ehe lUld Familie, in: K.A. BettennannlH.C. Nipperdey/U. SchelUler, Die GflUldrechte, Vierter Bd., l. Halbband, S.245, 252; H. Lecheier, in: 1. lsenseelP. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd.VI, S.211, 232 f.

37 Erinnert sei nur an das "Halbfamilienurteil" des BundesverfasslUlgsgerichts, BVerfGE 61, 319, und den "Alleinerziehenden-Beschluß", BVerfGE 68,143,152. Anderer Ansicht mit streng dogmatischer Ableitung des Familienbegriffs aus dem der vollständigen Ehe H. Lecheier, in: 1. IsenseeIP. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd.VI, S.211, 232 f. 38 Dies hat Viola Schmid in ihrer Dissertation "Die Familie in Art.6 des GflUldgesetzes" auf flUld 450 Seiten getan.

A. Der Schutz der Familie nach Art.6 Abs.l GG

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intakter Ehe mit Kindern gegründete Familie 39, wenn auch das Grundgesetz hierin nicht mehr ausdrücklich unterscheidet. So ist der Begriff wohl nur im funktionalen Kontext mit jeweiliger Begründung dermierbar. Für die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit Kind ergibt sich nach noch überwiegender Meinung das Resultat, daß die Ein-Eltern-Familie, bestehend aus Mutter und nichtehelichem Kind, als Familie zu schützen ist und ebenso die aus Vater und nichtehelichem Kind. 40 Noch 1984 konstatierte Wolfgang Zeidler41 eine skurrile Situation von zwei (Halb)Familien im Rechtssinne, die durch das Kind als "Scharnier" zusammengehalten werden, insbesondere auch angesichts der Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht sich 1981 nicht dazu durchringen konnte, dem Gesetzgeber des § 1705 BGB ein gemeinsames Sorgerecht der Eltern des nichtehelichen Kindes abzufordern. 42 Nunmehr ist die von Wolfgang Zeidler vorhergesagte Herausforderung an die Innovationsfahigkeit zugunsten der Gleichberechtigung des nichtehelichen Vaters auch insoweit manifest geworden, daß das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber aufgegeben hat, das Sorgerecht den Bedürfnissen einer konfliktfreien, Verantwortung erstrebenden nichtehelichen Lebensgemeinschaft anzupassen. 43 Eben diese unbefriedigende Partialisierung des Familienschutzes gegenüber der nichtehelichen Lebensgemeinschaft auf zwei Halbfamilien mit gemeinsamem Kind als "Scharnier" exerziert der neue Entwurf eines Österreichischen Einkommensteuergesetzes vor, wenn er nur die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit mindestens einem Kind begünstigt.44 Andererseits vollzieht er durch die vollständige Gleichstellung dieser Partnerschaften mit der Ehe die hier für deutsche Verhältnisse vermißte Anerkennung der nichtehelichen Partner mit einem Kind als eine Familie. Im Steuerrecht kann es zunächst - wie bereits gesehen - nur um die zutreffende Messung und Berücksichtigung des Unterhaltstransfers zwischen

39

40 41

V. Schmid, Die Familie in Art.6 des Grundgesetzes, S.451.

BVerfGE 45, 104, 123; 56, 363, 382. Ehe und Familie, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S.555, 584 f.

42

BVerfGE 56, 363.

43

BVerfGE 84, 168, 181.

44 ÖStZ 1992, 137 fT. Hierzu im einzelnen bei den Reformvorschlägen zur Ehegattenbesteuerung und der Besteuerung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft.

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2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

Eltern und Kindern gehen. Aus dem Familienschutzgebot des Art.6 GG ergibt sich deshalb auch kein Benachteiligungsgebot Zu Lasten der Eltern nichtehelicher Kinder!4s Insofern wird der Familienschutz des Art.6 GG auch gegenüber "nichtehelichen Familien" praktisch.

3. Gleichordnung von Ehe und Familie oder Vorrang der Familie? In einigen Stellungnahmen zum Inhalt des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie kommt die Tendenz zum Ausdruck, im Konfliktfall, d.h. wenn es um die Verteilung von Erleichterungen zugunsten der EhelDoppelverdienerehe oder zugunsten der Familie geht, den Vorrang der Familie mit Kindern zu befurworten. 46 Hintergrund dieser Überlegungen ist die besorgniserregende Entwicklung der Bevölkerungspyramide, die den sozial- und rentenversicherungsrechtlichen Generationenvertrag in absehbarer Zeit als kaum noch tragbare Belastung der dann abgabepflichtigen Erwerbstätigen erscheinen läßt. Dies sei mit auf ein Ungleichgewicht in der Förderung der Ehen gegenüber den Familien mit Kindern zurückzufuhren. 41 Letztlich habe die Familie mit ihrer gesellschaftlichen Reproduktionsfunktion die von der Verfassung bevorzugte Stellung gegenüber der Ehe, die kinderlos bleibe. Richtig hieran ist, daß die Reproduktionsfunktion der Familie sowohl einer der wichtigsten (Hinter)Gründe für den bevölkerungspolitischen Impetus bei Erlaß des Grund-

45 So aber V. Schmid, Die Familie in Art.6 des Grundgesetzes, S.394. Für sie verdient allein der Schutz der ehelichen Familie den Vorzug, weil die eheliche Familie die Vennutung für sich habe, daß ein intaktes Zusammenleben in Wirklichkeit besteht. Die nichteheliche Lebensgemeinschaft könne aber von ihrem Selbstverständnis nur neben die Familie treten. Viola Schmidt befürchtet bei einer Gleichstellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kindern mit der Familie eine unzulässige Reflexwirkung auf eheliche Familien, indem erforscht werden müsse, ob die Ehen mit Kindern zuverlässige Beziehungen zu den Kindern pflegen. Dies spielt m.E. für die BessersteIlung der "zwei durch das Kind miteinander verklammerten Halbfamilien" deshalb keine Rolle, weil das Konkurrenzschutzprinzip zugunsten der ehelichen Familie jedenfalls für das Steuerrecht nicht zu halten ist. Deshalb müssen die "Mauern des Schutzes für alle anderen [gemeint sind die ehelichen Familien]" auch keineswegs eingerissen werden, vgl. V. Schmid, Die Familie in Art.6 des Grundgesetzes, S.394. 46 G. Roelleke, "Doppel-Verdiener-Ehen", in: FS für W. Zeidler, Bd.l, S.830; W. Zeidler, Ehe und Familie, in: Handbuch des Staatsrechts, S.555, 607; R. Herzog,

Schutz von Ehe und Familie durch die Verfassung, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1988, S.15, 24; M. Moderegger, Der verfassungsrechtliche Schutz von Ehe und Familie und das System der Einkommensteuer, S.40. 47

W. Zeidler, Ehe und Familie, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S.555, 607.

A. Der Schutz der Familie nach Art.6 Abs.l GG

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gesetzes gewesen ist als auch heute aktualisiert werden kann. Allein - die Bevorzugung der Familie gegenüber der Ehe ist zu früheren Zeiten, als die Ehe die selbstverständliche Vorstufe zur Familie mit Kindern war48, jedenfalls im Verfassungstext nicht erkennbar. Zur Situation, die Ehe gegen die Familie lausspielen"49 zu müssen, kam es praktisch nicht. Anders heute: Ehe und Familie werden in einer unmittelbaren Konkurrenzsituation gesehen, und hierbei seien wegen der knappen fmanziellen Mittel des Staates Prioritäten für die Familie und gegen die Ehe zu setzen. so Bei aller Einsicht in die Bedeutung dieser Fragestellung scheint diese Antwort deswegen dogmatisch, logisch und rechtlich noch nicht recht überzeugend. Weshalb ergibt sich für das Steuerrecht die Notwendigkeit, beispielsweise das Ehegattensplitting zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung von Unterhaltslasten einzuschränken? Wohl kaum aus der Tatsache, daß der Abbau des Splittings viel an Finanzvolumen einsparen könnte; dies liefe auf eine Überlegung hinaus, die schlechte Haushaltslage rechtfertigte eine mangels erkennbarer rechtlich erheblicher sachlicher Gründe für eine Differenzierung "verfassungsunschöne" oder gar verfassungswidrige Besteuerung. Dies entspricht jedoch nicht der herrschenden Auffassung. SI Vielmehr ist zunächst ausschlaggebend, ob die Regeln der Besteuerung den jeweiligen rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen auch entsprechen und somit sachgerecht sind. Deshalb ist der Auffassung vom Vorrang des Familienschutzes gegenüber dem Eheschutz nicht zu folgen, sondern festzustellen, daß es von Verfassungs wegen bei der grundsätzlich gleichen Dignität von Ehe und Familie bleibt. Ohnehin ist es schwer genug, diese Forderung nach einer Gewichtung des Ehe-lFamilienschutzes mit Vergleichen über die Haushaltseinnahmenseite zu untersuchen; mindestens ebenso einleuchtend wäre es zu vergleichen, wieviel an "Steuerersparnis" denn dem einzelnen Empfanger zugewendet oder vorenthalten wird.

48 Z.B. A. Frhr. v.Campenhausen, Verfassungsgarantie und sozialer Wandel Das Beispiel von Ehe und Familie, in: VVDStRL 45 (1987), S.7, 21. 49 R. Herzog, Schutz von Ehe und Familie durch die Verf1l!$sung, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1988, S.15, 24.

so

596 f. SI

w.

Zeidler, Ehe und Familie, in: Handbuch des Verfassungsrechts, S.555,

BVerfGE 6, 55, 80; 27, 220, 228; 82, 60, 89.

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2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

III. Renaissance der Familie in Europa mittels des Familienschutzes im Steuerrecht? Die Renaissance der Familie mit Hilfe des Steuerrechts allein einzuleiten, griffe zu kurz. Zu sehr bestimmen Arbeitsrecht, Sozialrecht und die Lebensbedingungen der Region die Situation der Haushalte. Nicht allein daß die alten Länder der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland und der andere Teil Deutschlands zusammenwachsen werden, dem bisher eine freie Politik und Marktwirtschaft nahezu verschlossen war; mit der Herstellung des Europäischen Gemeinsamen Marktes zum Ende 199252 kommt auf die Systeme der Besteuerung, einschließlich der direkten Steuern, ein unmittelbarer Wettstreit zu. Neben den Auswirkungen der nationalen Steuersysteme an den Binnengrenzen53 und übrigens auch der sozialen Rechte im weitesten Sinne 54 stellt sich aber angesichts der in den meisten europäischen Verfassungen verankerten Schutzregeln für die Familie 55 ebenfalls das Problem unterschiedlicher Besteuerungsregeln im Bin$2 Vertrag zur Grilndung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. März 1957, BGBl.II S.766; Art.2: "Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung des Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern, die in dieser Gemeinschaft zusammengeschlossen sind."; Art.8a Abs.2 EWG-Vertrag: "Der Binnenmarkt umfaßt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist."

$3 Vgl. nur den Fragenkomplex um die nunmehr fragwtlrdigen Regeln der beschränkten Einkommensteuerpflicht bei der Wohnsitzverlegung von Gemeinschaftsbürgern sowie der Grenzgängerbesteuerung, hierzu das EuGH-Urteil (Biehl) DStR 1991, 454, die Vorlage des FG Köln an den EuGH, EFG 1991,406, und insb. Th. Müller, StuW 1992, 157.

54 Vgl. nur die Ermächtigungsgrundlagen der Art.48-51 EWG-Vertrag, von denen bereits im Hinblick auf die Verwirklichung der Freizügigkeit ab 1958 im Verordnungswege Gebrauch gemacht worden ist, B. Schulte, Europäisches und nationales Sozialrecht, in: Claus Reis/Manfred Wienand, Zur sozialen Dimension des EG-Binnenmarktes, S.49, 75 fT.; letztlich besteht allerdings im Hinblick auf Koordinierung und Harmonisierung des Sozialrechts noch ein Rückstand. $$ Man muß sich freilich hüten, das deutsche Grundrechtsverständnis von der relativ starken Verbindlichkeit der Grundrechte ohne weiteres auf diese Länder zu übertragen. Am 1. Juli 1987 hatten außer der Bundesrepublik Deutschland die EG-Staaten Frankreich (Präambel der Verfassung der französischen Republik vom 27.10.1946 i.V.m. der Präambel der Verfassung der Republik Frankreich vom 4.10.1958), Griechenland (Art.21 Abs.l,2), Irland (Art.41), Italien (Art.29-31), Luxemburg (Art.ll

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nenland. Das jeweilige nationale Steuerrecht und das nationale Sozialrecht sind stärker oder schwächer miteinander verzahnt. Dabei wird der Begriff der "steuerlichen Vergünstigung" als Einfallstor IUr eine weite Auslegung auch auf Normen ohne Vergünstigungscharakter benutzt und mit Hilfe des Freizügigkeitsgebots für Arbeitnehmer (Art.48 Abs.2 EWG-Vertrag) ein Kontrollinstrument sowohl direkter wie auch indirekter Diskriminierung entwickelt. 56 Dies hat sich nicht zuletzt wegen der Haltung der EGKommission und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ergeben, die Art.7 Abs.2 der Verordnung (EWG) Nr.1612/68 57 zum Ausgangspunkt nehmen, wonach Arbeitnehmer im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen genießen wie die inländischen Arbeitnehmer. 58 Wenn auch eine umfassende Reform der Besteuerung der Familie in den EG-Mitgliedstaaten weder bevorsteht, noch gegenwärtig als uneingeschränktes Gebot aufzustellen sein kann, sind doch die Bemühungen, gemeinsame Ziele in bezug auf den Familienschutz, die Gleichheit und soziale Grundrechte zu formulieren und diese dann auch verbindlich werden zu lassen, bereits sehr beachtlich. 59 Wenn im Gemeinsamen Markt auf Abs.3), Portugal (Art.26 Abs.1 ,2; Art.36, 76-70) Wld Spanien (Art.39), eine ausdrückliche BestimmWlg des Familienschutzes in der Verfassung. S6

Th. Müller, StuW 1992, 157, 161;M. HiIj7B. Willms, JuS 1992,368,371.

Abgedruckt bei C. Reis/M. Wienand, Zur sozialen Dimension des EG-Binnenmarktes, S.185 ff. S7

SB Dies birgt wegen dem nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs neben dem freien Zugang zum Arbeitsmarkt außerdem befÜIWorteten freien Zugang zum Sozialleistungssystem eines anderen Mitgliedstaates ungeahnte Zuwanderungsanreize der Mitgliedstaaten hoher Wirtschaftskraft in sich, eh. Steiniger, NJW 1992, 1860, 1861 f. Entsprechendes müßte dann wohl auch z.B. für die Ehegattenbesteuerung der Bundesrepublik Deutschland gelten, die - entgegen der in dieser Arbeit vertretenen Ansicht - als "VergUnstigWlg" angesehen wird und viele weitere steuerlichen Förderungsregelungen.

S9 SO formuliert die EntschließWlg und Erklärung des Europäischen Parlaments über Grundrechte und Grundfreiheiten vom 12.4.1989 (abgedruckt in NVwZ 1991, 759): Art.3. Rechtsgleichheit. (I) Innerhalb des Geltungsbereichs des Gemeinschaftsrechts sind alle Menschen vor dem Recht gleich. (2) (3) (4) Die Gleichheit von Männem und Frauen vor dem Gesetz, insbesondere im Berufsleben, im BildWlgswesen, in der Familie, im Bereich des sozialen Schutzes und im Ausbildungswesen, ist zu gewährleisten.

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2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

Dauer binnenmarktähnliche Verhältnisse hergestellt und die Wirtschaftsund Währungsunion konkret werden sollen, führt indes kein Weg an einer allmählichen Angleichung der Verhältnisse über Art.IOO EWG-Vertrag vorbei. 60 Wie können aber solche Harmonisierungsbestrebungen überhaupt Aussicht auf Erfolg versprechen, wenn die direkten Steuern als unmittelbar greifende Lenkungsmittel der mitgliedstaatlichen Haushalts-, Konjunktur- und Sozialpolitik eingesetzt werden? Sind nicht diese Systeme viel zu tief in traditionellen Anschauungen verwurzelt? Für das Sozialrecht und das Steuerrecht wird deshalb bescheidener zwar von einer Wirtschafts-, nicht aber von einer Sozialgemeinschaft gesprochen61 , deren Problematik doch darin besteht, daß es jeweils um die Finanzierung von Leistungen geht, die nicht im Kapitaldeckungsverfahren aufgebracht werden. Hier kann noch nicht harmonisiert, sondern nur koordinierf2 werden. Es wäre wohl unrealistisch, von einem Bundesstaat Europa zu träumen; das Augenmaß verweist darauf, einen Staatenbund anzustreben. Die Chance aber, in einern geeinten Europa einen Schritt weiter zu einer Harmonisierung des Familienschutzes zu kommen, besteht darin, zunächst die inländischen Strukturen des auf verfassungsrechtlicher Ebene recht abstrakt angesiedelten Familiengrundrechts möglichst genau zu analysieren, um den dahinterstehenden Wert zu sondieren. Sodann gilt es herauszuarbeiten, inwiefern Steuer- und Sozialrecht die Direktiven der Grundwertung bereits ausgef"tihrt haben. Hierzu sind vor allem klare, möglichst einfache Regeln aufzuzeigen und einern Konsens zuzuführen. Rückstände müssen benannt, Systeminkonsequenzen beseitigt werden. Eine wesentliche Prämisse ist es, steuerliche Belastungsnormen von inter-

Art.7. Schutz der Familie. Die Familie genießt rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutz. Art.lS. Sozialer Schutz. (1) ... (2) Arbeitnehmer, Selbständige und ihre Familienangehörigen haben das Recht auf soziale Sicherheit oder eine gleichwertige Regelung. 60 Dies ist auch die Ansicht des Europäischen Parlaments, zitiert nach A. Bleckmann, Europarecht, 5. Auflage, S.728 Rn. 1844; Th. Oppermann, Europarecht, S.407 Rn. lOS!.

61 H.P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S.933; M. HiIjlB. Willms, JuS 1992,368. 62

M. HiIflB. Willms, JuS 1992, 368, 369 f.

A. Der Schutz der Familie nach Art.6 Abs.l GG

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ventionistischen Lenkungsnormen und Sozialrechtsnormen zu trennen. Dies stößt je nach Regelungsform familienbezogener Entlastung in den nationalen Steuerrechtsordnungen auf unterschiedlich große Schwierigkeiten. Anderenfalls können aber Sozialpolitik und von der Verfassung gebotene Steuergleichheit nicht zuverlässig voneinander getrennt werden. Ein Reformansatz wäre dann nicht rational zu begründen. Bevor dies im einzelnen untersucht werden kann, sind einige Bemerkungen zum Inhalt der verfassungsrechtlichen Rechtsfolge "besonderer Schutz" unumgänglich. Wenn es gelänge, im Rahmen dieser Arbeit Teile eines allgemeinen, klaren und auch auf europtiischer Ebene konsensftihigen Modells der Besteuerung der Familie zu entwerfen, wäre damit wenigstens ein Schritt zu einer Wiedergeburt der Familie unternommen, wenn auch damit keine vollständige Renaissance der Familie beschworen werden kann. 63 Immerhin bietet sich die Chance, den Entwicklungsprozeß der Europäischen Gemeinschaften auf dem Gebiet der Sozialpolitik mit zu beeinflussen: Zwar sind in dem Vertrag zur Gründung einer europäischen Union, den der Europäische Rat am 9. und 10. Dezember 1991 in Maastricht beschlossen hat, und der am 7.2.1992 von den Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde, wegen des Widerstandes Großbritanniens noch keine sozialpolitischen Vereinbarungen getroffen worden. Die übrigen elf Mitgliedstaaten haben sich jedoch in einem Zusatzprotokoll und -abkommen auf eine Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, einen angemessenen sozialen Schutz und den sozialen Dialog geeinigt.64 Da viele steuerliche Regelungen, insbesondere auch solche, die Fiskalzwecknormen sind, im Rahmen einer großzügigen Auslegung des Begriffes der sozialpolitischen "Vergünstigung" von diesem europäischen Programm mitumfaßt werden, steht die Koordination auch der Familienbesteuerung auf europäischer Ebene jedenfalls mittelfristig wohl bevor. Festzuhalten ist, daß die deutschen familienbezogenen Vorschriften in dieser Arbeit ausführlich zu analysieren und auf Sachgesetzlichkeiten 61 Anders allerdings H. Konrad, Probleme der eheähnlichen Gemeinschaft im Strafrecht, S.30 Fn.9, der das Absterben des Phänomens der nichtehelichen Lebensgemeinschaft 1986 angesichts der großzügigen Steuervergtlnstigungen für die Ehe und Familie, die für das Jahr 1986 und 1988 angekündigt waren, nicht ausschließen wollte. Er hat sich darin wohl geirrt. 64

SI. U. Piper, Der Maastrichter Vertrag, EG-Forum (IWB), Beilage 2/1992, 12.

60

2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

namentlich die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und das allgemeine Familienschutzgebot - zu beziehen sein werden, um zur Systematisierung einer länderübergreifenden Regelung in Zukunft beizutragen.

IV. Besonderer staatlicher Schutz: Förderungsgebot und Benachteiligungsverbot, Art.6 Abs.1 GG und Art.6 Abs.1 in Verbindung mit Art.3 Abs.1 GG Bemüht man sich, die Leitgedanken des besonderen Schutzes des deutschen Grundrechts herauszuschälen, ist schnell einzusehen, daß mit der Bezeichnung als "wertentscheidende Grundsatznorm " noch nicht allzu viel gewonnen ist. Auffällig ist die mehrfache Funktion des Familienschutzgrundrechts in Form einer Gleichheitskomponente und einer Sozialstaatskomponente. Der Wortlaut des Art.6 Abs.l GG legt primär die Vermutung nahe, es gehe wegen des "besonderen" Schutzes eher um eine bevorzugende Förderung als um den Ausgleich von Nachteilen. Daher ist ein sicherer Bestandteil das Gebot der Förderung von Ehe und Familie. Auf der anderen Seite ist das im Zusammenhang mit dem Gleichheitssatz stehende Verbot, die Ehe und Familie zu benachteiligen, zu sehen, das sich an Art.6 Abs.l GG und Art.3 Abs.l GG befestigen läßt. Die zentralen Forderungen, daß ein realitätsgerechtes Existenzminimum nicht nur dem Steuerpflichtigen zu belassen ist, sondern dem Familienstand entsprechend, allen Familienmitgliedern, sowie die Folgerungen aus dem verfassungsrechtlich ableitbaren Subsidiaritätsprinzip für die Abstimmung von Steuereingriff und Sozialleistung werden in diesen Kontext gestellt. Sodann dürfen Familien aus ihren wechselseitigen Unterhaltspflichten keine Nachteile entstehen. Diese Grundgedanken gelten für die meisten europäischen Rechtssysteme, und ein konsequenter Aufbau des Steuer- und Sozialrechts aufgrund strikter Befolgung sachgerechter Regeln erscheint möglich. 1. Die Bedeutung und die Instrumente der Familientörderung

Nur wenige der Normen, die unmittelbar zur Besserstellung der Ehe und Familie erlassen sind, fmden sich im Steuerrecht. Mangels gleichheitsgrundrechtlicher Erforderlichkeit stehen sie unter dem Vorbehalt der

A. Der Schutz der Familie nach Art.6 Abs.l GG

61

fiskalischen Realisierbarkeit und unterliegen dem Grunde nach und in der Ausgestaltung gesetzgeberischem Gestaltungsermessen. Sie werden im Rahmen dieser Arbeit untersucht, sind aber eigentlich - abgesehen von der zugegebenermaßen fundamentalen Entscheidung über den Steuertarif eher Fremdkörper im Steuerrecht. Wo andere Rechtsgebiete, insbesondere das Sozialrecht, an die Einkommensteuerbemessungsgrundlage anknüpfen, verfalschen andere Subventionsnormen, etwa konjunktur- oder wirtschaftspolitisch motivierte Regelungen zur erhöhten Absetzung rm Abnutzung, die erstrebte zutreffende Messung von Bedürftigkeit. 6s 2. Die Unterscheidung FiskalzwecknormenlSozialzwecknormen als sachgerechte Abgrenzungsformel

Die ebenso in Amerika eingerührte 66 und in Deutschland weiter präzisierte Einteilung der Steuerrechtsnormen in solche, die primär dem Fiskalzweck dienen, und solche, die eher Lenkungszwecke verfolgen, hat in bezug auf die Familie insofern Bedeutung, als sie ein Ordnungskriterium bildet, nach dem der strikte Einsatz des Benachteiligungsverbots und des Gleichheitssatzes zu zwingenden Schlußfolgerungen verhilft. Richtig ist zwar, daß Fiskalzwecknormen mit ihrer Belastungswirkung auch gleichzeitig wirtschaftliche oder soziale Auswirkungen haben (Gestaltungswirkung) und außerfiskalische Normen nur primär eine Gestaltungswirkung verfolgen und in den meisten Fällen außerdem eine Belastungswirkung haben. 67 Gleichwohl ist diese Unterscheidung sinnvoll und sachgerecht68, auch wenn im Einzelfall eine Bestimmung des Zweckes nicht zweifelsfrei erscheint69, sofern man die Sachgesetzlichkeiten und Grundprinzipien des Steuergesetzes heranzieht, in dessen Kontext die fragliche Regelung steht.

65 H.G. Ruppe, in: C. HemnanniG. Heuer/A. Raupach, Einf EStG, Anm.57; J. Lang, StuW 1990,331,345. 66

H.J. Au/I, StuW 1974,335; SI.S. Surrey, StuW 1981,359.

67

D. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernonnen,

68

H.G. Ruppe, in: C. HemnanniG. HeuerlA. Raupach, Einf EStG, Anm.56.

S.68 ff.

Der Schlußfolgerung D. Bodenheims, Der Zweck der Steuer, S.31l ff., es gelte ein fonneller, von jeder inhaltlichen Aufgabenbeschreibung freier Steuerbegriff, ist nicht zu folgen. 69

62

2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

Klaus VogeCO hat IUr die Zweifelsfälle überzeugend eine Einteilung nach einem "ultima ratio" - Prinzip entwickelt, wonach nur solche Regelungen Sozialzwecknormen sind, die unter gar keinen Umständen mehr als solche der Einnahmenerzielung gelten können. 71 3. Der Inhalt des Benachteiligungsverbots

Der bisher wichtigste Grundsatz, mit dem auch der Steuerrechtsordnung den Schutz der Ehe und Familie abgefordert worden ist, ist das Verbot, Ehe und Familie zu benachteiligen. Eigentlich liegt dies der Familienförderung logisch voraus; gleichwohl steht der Nachteilsausgleich im Vordergrund von Gesetzgebung und Rechtsanwendung. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat das Benachteiligungsverbot des Art.6 Abs.l GG im Zusammenhang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz eingesetzt72 , und folglich zäumt sich der Schutz der Familie aufgrund des Benachteiligungsverbots mit Hilfe des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art.3 Abs.l GG auch hier auf. Die Frage, wann eine steuerliche Benachteiligung der Familie vorliegt, wird hier sogleich unter dem Aspekt des Art.3 Abs.l GG näher beleuchtet.

70

StuW 1977, 97 ff.

7\

K. Vogel, StuW 1977,97, 107.

12

Zuletzt BVerfGE 82, 60, 78; 82, 198,206.

B. Der Schutz der Familie nach Art.3 Abs.l GG

63

B. Der Schutz der Familie aufgrund von Art.3 Abs.l GG I. Die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit als Vergleichsma8stab im Rahmen der Prüfung des Gleichheitssatzes Bundesverfassungsgericht und Lehre setzen bei der Prüfung von Steuerrechtsnormen vor allem den Gleichheitssatz des Art.3 Abs.l GG ein. 73 Gemäß Art.l Abs.3 GG ist die Gleichbehandlung auch durch das Gesetz selbst geboten, nicht nur durch Akte der Rechtsprechung und der vollziehenden Gewalt. Da sich die Relation, wann Sachverhalte vom Steuerrecht gleich, wann sie ungleich zu behandeln sind, nicht aus Art.3 Abs.l GG selbst ergibt, hat das vorwiegend zur Erfassung wirtschaftlicher Gegebenheiten als Voraussetzung für die Lastenverteilung konzipierte Steuerrecht die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen zum Maßstab gewählt. Dementsprechend hat es auch keinen Sinn, irgendwelche sachlichen Gründe f"Ur eine Ungleichbehandlung im Steuerrecht genügen zu lassen, um eine gleichheitswidrige Willkür des Gesetzgebers bei der Ungleichbehandlung zu vemeinen. 74 Nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip sind steuerliche Belastungen entsprechend der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu verteilen und soziale Entlastungen (Zuwendungen) entsprechend fehlender wirtschaftlicher Leistungsf"ähigkeit zu gewähren. 7s Zum Teil wird das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit als direkter Inhalt des Gleichheitssatzes begriffen und ihm so unmittelbarer Verfassungsrang zugesprochen76, auch wenn man daran angesichts des Wortlauts des Art.3 73 So wird der Gleichheitssatz vom Bundesverfassungsgericht nicht nur am häufigsten zitiert, er hat auch die größte Bedeutung erlangt, G.F. Schuppert, Verfasungsrechtliche PrüfungsmBstäbe bei der verfasungsgerichtlichen Überprüfung von Steuergesetzen, in: FS für W. Zeidler, S.691, 709 f

74 K. Tipke, Zur Methode der Anwendung des Gleichheitssatzes unter besonderer Berücksichtigung des Steuerrechts, in: FS für G. Stoll, S.229, 238. 75

D. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S.155.

So die Rechtsprechung des Bundesverfassungerichts, BVerfGE 13,331,338; 43, 108,120; 66,214,222 f; 74, 182, 199 f; 81,228; Zustimmung auch in der Literatur durch K. Tipke, StuW 1988,262,269 f; H. Söhn, FA Bd.46 (1988), 154 tT; H. Jehner, DStR 1990,6 tT. 76

64

2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

Abs.l GG kaum denken mag und dahinter der Verdacht ideologischer Zielsetzung vermutet worden ist. 77 Mißt man dem Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen LeistungsIahigkeit keinen direkten Verfassungsrang bei, so ist es aber jedenfalls noch als Bestandteil des Postulats der Systemgerechtigkeit der Besteuerung im Gleichheitssatz zu verorten. 78 Demnach steht es dem Gesetzgeber zunächst frei, die Besteuerung nach einem Grundprinzip auszurichten; durch Art.3 GG wird der Gesetzgeber sodann aber zur Folgerichtigkeit verpflichtet. Dieser Gedanke gilt in der früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 79, in abgeschwächter Form aber auch noch heute. So indiziert nicht jede Systemwidrigkeit gleich auch einen Verfassungsverstoß80, wohl aber die Abweichung von der durch den Gesetzgeber selbst begründeten Sachgesetzlichkeit. Der Gesetzgeber unterliegt damit einer Argumentations/ast zu begründen, weshalb er sich von dem ursprünglich gewählten Ordnungs gesichtspunkt abwendet. Dieses Verständnis öffnet zugleich den Weg, Vernünftigkeitskriterien und Wertungen, die sich als unrichtig, nicht sachgerecht oder unpraktikabel 81 erwiesen haben, durch neue Ansätze zu verändern. So scheint es beispielsweise nicht ausgeschlossen, daß der Gesetzgeber das Ehegattensplitting im Steuerrecht als nur eine der in Betracht kommenden, an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der intakten Durchschnittsehe orinentierte Besteuerungsformen82 in seinem Anwendungsbe-

77 Diesen Vorwurf erhebt z.B. H. W. Kruse, Steuerspezifische Gründe und Grenzen der Gesetzesbindung, DStJG 5 (1982), 71, 81; ders., StuW 1990,322,323. 78 D. Birk, Das Leistungsflihigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, S.59 fT.; 158 fT.; Ch. Starck, in: H. v.MangoldtlFrdr. Klein/eh. Starck, Art.3 GG Rn.33 ff; P. Kirchhof, StuW 1984,297, 301 f; J. Lang, StuW 1985, 10, 13 f; G. Robbers, DÖV 1988,749,755 f; F. Schoch, DVBI. 1988,863,878 f; übereinstimmend für Juristen auch die Beschlüsse des 57. Deutschen Juristentages, Abteilung V, 11. Nr.2 und 3, Sitzungsbericht N, N 211, (= NJW 1988,3005); c.-W. Canaris, System denken und SystembegrifT in der Jurisprudenz entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, S.l6 fT.; Ch. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, S.89; J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, S.128 f

79

BVerfGE 13, 331, 340.

80

BVerfGE 61, 138, 148; 75, 382, 395 f; 76, 130, 139 f.

81 Vgl. insbesondere die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Zinsbesteuerung, wonach zum Gleichheitsprinzip notwendig die Ergänzung durch das Verifikationsprinzip hinzutrete, BVerfG BStBl. 11 1991,654. 12

BVerfGE 61, 319, 345 f

B. Der Schutz der Familie nach Art.3 Abs.l GG

65

reich einschränkt und andere, sachgerechte Besteuerungsformen flankierend hinzuIugt. Es bereitet angesichts des Blanketts, das sich selbst wiederum mit der Messung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit auftut, Schwierigkeiten zu bestimmen, woran sich wirtschaftliche, steuerliche Leistungsfähigkeit und fehlende steuerliche Leistungsfähigkeit ablesen läßt. Erkennt man wenigstens für die Einkommensteuer an, daß der Gesetzgeber auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Bezug nimmt, fragt sich, welche Regelungen oder Unterlassungen nur schlicht systemwidrig sind und welche einen Verstoß gegen die genannte vom Gesetzgeber selbst gewählte Sachgesetzlichkeit darstellen sollen. Hier sind nicht allein Steuerjuristen prädestiniert; es sind hierzu Einsichten nötig, die über die Beschreibung des vorgefundenen Geseztesmaterials hinausgehen. Der Spezialist, der sein Subsystem hervorragend beherrscht, bedarf aber der Unterstützung des Gesamtkonzept-Denkers. Maßgebliche Leistungen auf diesem Gebiet verdankt die Steuerrechtswissenschaft der Finanzwissenschaft83 , deren Bestätigung nicht zuletzt für die Festigung von rechtlichen Institutionen wie dem subjektiven Nettoprinzip verstärkt an Bedeutung zu gewinnen scheint.

11. Die existenznotwendigen Ausgaben und die Unterhalts pflichten als Bestandteile der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Wenn in dieser Arbeit die Besteuerung der Familie untersucht und Vorschläge zu einer Neugestaltung unterbreitet werden sollen, dann stechen insbesondere die Fragenkomplexe hervor, wie der Gesetzgeber die existenznotwendigen privaten Ausgaben des Steuerpflichtigen und seiner Familienmitglieder behandelt und behandeln sollte - im Vergleich mit demjenigen Steuerpflichtigen, den solche Ausgaben nicht trefftn und im Vergleich zu demjenigen, dem die Mittel ganz oder teilweise vom Staat gewährt werden müssen. Aus der steuerfreien Sozialhilfegewährung in tatsächlich ausreichender Höhe als Garantie des sozial-kulturellen Existenzminimums folgt für das Einkommensteuerrecht, daß auch der Einkommensteuergesetzgeber die Schwelle zum theoretisch frei verfügbaren Ein-

83 Stellvertretend K. Tipke, Zur Methode der Anwendung des Gleichheitssatzes unter besonderer Berücksichtigung des Steuerrechts, in: FS für G. Stoll, S.229, 237.

5 Lingemann

66

2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

kommen nicht tiefer ansetzen darf. Aus dem Gebot der Gleichbehandlung von Familien mit gesetzlichen Unterhaltspflichten nach dem Zivilrecht gegenüber nicht gesetzlich oder tatsächlich zwangsläufig zum Unterhalt Verpflichteten ergibt sich, daß diese erzwungenen Einkommensverwendungen nicht ignoriert, sondern in voller Höhe der gesetzlichen oder tatsächlichen Verpflichtung berücksichtigt werden (subjektives Familiennettoprinzip). Diese Überlegungen gewährleisten horizontale Steuergleichheit. Auf unterschiedlich hohen Leistungsfahigkeitsstufen erfordert das Gebot der Gleichbehandlung ferner, daß nicht aus sozialpolitischen Gründen oder solchen der Umverteilung von der einmal getroffenen Entlastungsentscheidung rur niedrigere Einkommensstufen wieder abgewichen wird (Gebot vertikaler Steuergleichheit).84 Somit nehmen die Vorgaben des Gleichheitssatzes des Art.3 Abs.l GG unmittelbar Einfluß auf die Defmition der Steuerbemessungsgrundlage der Einkommensteuer und schreiben vor, die genannten Leistungsfahigkeitstransfers bei dem Belasteten als Elemente negativer steuerlicher Leistungsfähigkeit in Rechnung zu stellen, so daß sie nicht zum Anknüpfungspunkt steuerlicher Belastungsentscheidung gewählt werden.

111. Zur Bedeutung des Gleichheitspostulats bei Sozialzwecknormen Die strikte Trennung zwischen Fiskalzwecknormen, die sich unmittelbar über das Leistungsfahigkeitsprinzip am Gleichheitssatz messen lassen, und Sozialzwecknormen, ermöglicht es auch, gezielte Durchbrechungen des Gleichheitssatzes aus möglicherweise verfassungsrechtlich gestützten Gründen zu rechtfertigen. Genauer gesagt unterliegt bei der Fiskalzwecknorm die Belastungswirkung dem Gleichheitssatz, bei der interventionistischen Lenkungsnorm geht es zunächst um die allgemein durch die Lenkungszwecke vorgezeichneten Fragen, insbesondere wirtschafts- oder sozialpolitische Ziele. Aber auch hier entfaltet der Gleichheitssatz in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Kontrollwirkung,

84 Hierüber setzt sich die Lösung hinweg, die G. Vorwold, Die Ehe- und Familienbesteuerung im Licht der US-amerikanischen Veränderungen, Diss. Münster 1991, in seiner Dissertation vorschlägt, wenn er das amerikanische "fading out" (tarifliches Auslaufenlassen) für persönliche Abzüge bevorzugt.

B. Der Schutz der Familie nach Art.3 Abs.l GG

67

weil die bewußte Durchbrechung des Grundsatzes gleichmttßiger Steuerbelastung nicht schlechterdings wegen der Existenz der interventionistischen Ziele gerechtfertigt ist, sondern nur, wenn die Dijforenzierung und ihre Wirkung als solche durch den Grundsatz der Verhtiltnismttßigkeit gedeckt istJ8s Dies bedeutet zunächst, daß nur von der objektiven Zwecksetzung der Sozialzwecknorm gedeckte Wirkungen überhaupt zur Rechtfertigung herangezogen werden dürfen, nicht aber bei Gelegenheit erzielte Nebenfolgen. 86 Nach dem Inhalt des Grundsatzes der Verhältnism"äßigkeit muß die Norm ferner geeignet sein, ihr Interventionsziel zu erreichen. Hier treten in der Regel kaum Probleme auf. Brisant wird die Erforderlichkeit der Differenzierung zur Rechtfertigung einer steuerrechtlichen Subventionsregelung indessen87 , wenn mittels der Förderungstechnik eines Abzuges von der Steuerbemessungsgrundlage ein nicht am Bedarf ausgerichteter Progressionseffekt eintritt. 88 Steuertransferleistungen, die fehlbemessen oder überhöht sind, bilden aber nicht die geringstrnögliche Abweichung vorn Grundsatz der Steuerverteilungsgerechtigkeit, stellen nicht das "mildeste Mittel" zur Zweckerreichung dar. In dieser Hinsicht erweisen sich tarifprogressionsabhängige Regelungen - anders als die gezielte, tarifabhängige Zurücknahme von Fiskalzwecknormen - als gleichheitssatzrechtlich anstößig, Steuerschuldabzüge als eher vertretbar. Schließlich wird in einer letzten Stufe abzuwägen sein, ob der Durchbrechung des Gleichbehandlungsgrundsatzes materiell der Vorrang einzuräumen ist. Hier kommt den Wertungen des Sozialstaatsprinzips und dem Grundrecht des Ehe- und Familienschutzes hohe Bedeutung zu; die wesentlichen Impulse hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zwar nach hier vertretener Ansicht nicht auf dem Gebiet der Sozialzwecknormen, sondern auf dem der Fiskalzwecknormen geleistet. An Gewicht und Ausstrahlung des verfassungsrechtlichen Förderungsgebots besteht indessen kein Zweifel.

85 D. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuemonnen, S.240 ff., führt eine solche Prüfung im einzelnen vor; R. Maaß, NVwZ 1988, 14, 16,21; G. Robbers, DÖV 1988, 749, 751; H. Frieges, DStZ 1989,34, 35.

86

S.240.

Vgl. D. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuemonnen,

87 R. Wendt, NVwZ 1988,778,785, konstatiert ausdrücklich einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz (anband des Beispiels von § 10 Abs.l Nr.4 KStG). 88

K. Tipke, FR 1989, 186, 191.

68

2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

c. Die realitätsgerechte Berücksichtigung des Existenzminimums sowohl für Eltern als auch für Kinder

Neben den auf den ersten Blick familienspezifischeren Folgerungen aus den Grundrechten der Art.6 und Art.3 GG ist außerdem die realitätsgerechte Freistellung des Existenzminimums für das Steuerrecht spätestens seit dem Kindergeldbeschluß des Bundesverfassungsgerichts89 von großer Bedeutung: Ist es nämlich richtig, nur das über ein realitätsgerechtes Kinder-Existenzminimum hinausgehende Einkommen als fllr die Steuerzahlung disponibel anzusehen, liegt es auf der Hand, dies ebenso fllr alle Steuerpflichtigen selbst anzunehmen. Bedenken gegen diese Forderung sind zunächst nicht ersichtlich. 9O Allerdings sind lange Zeit entsprechende Abzugsbeträge wohl kaum aufgrund einer Abschätzung des tatsächlichen Lebensbedarfs, sondern vorrangig nach dem bemessen worden, was angesichts der augenblicklichen Haushaltslage als bezahlbar gelten konnte. 91

89

BVerfGE 82, 60, 85, 87 f sowie BVerfGE 82, 198,207.

90 Folgende älteren Einwände gegen die BeIilcksichtigung eines Existenzminimums brauchen heute nicht mehr ernsthaft besprochen, sondern lediglich erwähnt zu werden: Aus praktisch-fmanzpo1itischer Perspektive befürchtete man im 19. Jahrhundert, ein gerechtes Existenzminimum sei der Höhe nach unbestimmbar und willkürlich. Es bestehe die Gefahr, ein sozial-kulturelles und nach Familienstand differenziertes Existenzminimum führe zu der fiskalisch untragbaren Konsequenz, daß die Masse der Pflichtigen steuerfrei lebe und ein kleiner wohlhabender Rest den staatlichen Finanzbedarf nicht aufbringen könne (Darstellungen bei G. v. Schanz, Existenzminimum und seine Steuerfreiheit, in: Handwörterbuch der 8taatswissenschaften, Bd.III, 4. Auflage, 8.911 f, und F. Neumark, Theorie und Praxis der modernen Einkommensbesteuerung, 8.62). Die erste Befürchtung ist seit der Entwicklung eines Unterhalts- und 80zial(hilfe)rechts und den hierauf beruhenden Konkretisierungen überwunden und die zweite eine Frage der Ausbalancierung des Tarifs bei weit gestiegenem Wohlstand.

91 80 schon F. Neumark, Theorie und Praxis der modernen Einkommensbesteuerung, 8.64: "Im Grunde handelt es sich gar nicht so sehr darum, nun tatsächlich das eigentliche "Existenzminimum" von der Einkommensteuer zu befreien ... , als vielmehr um die bescheidenere Absicht, den Ärmsten einen gewissen Schutz zu gewähren und sie vor den schlimmsten Auswirkungen der Regression zu bewahren, die der indirekten Besteuerung eignet. Letztlich entscheidet daher über die wirkliche Größe des Freibetrages (genau wie über absolutes und relatives Maß der 8ozia1ausgaben) immer die Budgetlage einerseits, die 8tärke der Repräsentation sozialer Ideologien andererseits. "; und später z.B. BFH BStBl. 1990, 969, 972 li. Sp. unten.

c.

Realitätsgerechtes Eltern- und Kinderexistenzminimum

69

Allerdings wird diese Überlegung nicht immer zuge.geben92, sondern gerade je nach Argumentationsziel die "Realitätsgerechtigkeit" entweder behauptef3 oder bestritten. Die der Messung der Realitätsnähe von Steuererleichterungen wegen existenznotwendiger Ausgaben vorgelagerte Frage, weshalb denn die Berücksichtigung des Familienexistenzminimums realitätsgerecht sein sollte, scheint von besonderer Bedeutung Ilir die weiteren Überlegungen, zumal es selbst in den Reihen der Finanzrichterschaft Stimmen gibt, die einen dahingehenden Reformbedarf mit dem Hinweis auf die Ungenauigkeit der Erfassung und dazu korrespondierend die Ungenauigkeit der Freistellung von Einkünften bestreiten und stattdessen den Billigkeitserlaß im Erhebungsverfahren nach § 227 AO als "Reparaturwerkzeug" ins Spiel bringen wollen. 94

I. Familienschutz aus der Würde des Menschen, Art.1 Abs.1 GG I. Art.1 GG als Fundament aDer Wertsetzung

Mit der Aussage "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlicher Gewalt" stellt das Bonner Grundgesetz ähnlich wie andere Verfassungen dem Orundrechtskatalog eine objektive Wertschätzung der besonderen persönlichen Qualität des Menschen voran. Jeder Mensch ist Mensch kraft seines Geistes, der ihn von der unpersönlichen Natur abhebt und aus eigener Entscheidung ihn dazu befähigt, seiner selbst bewußt zu werden, sich selbst zu bestim92 Immerhin soll nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine angespannte Haushaltslage kein Argument gegen eine von der Verfassung gebotene, für den Staat kostspieligere Besteuerungsform sein, BVerfGE 82,60, 89 unter c) aa); so auch schon BVerfGE 6, 55, 80; ähnlich BVerfGE 27, 220, 228 für direkte Sozialtransfers. 93

308.

So geschehen in BFH BStBl. 1990,969; BFHlNV 1990,774; BFHlNV 1991,

94 A. Schmidt-Liebig, BB 1992, 107, 114: "[Der] Einkommensbegriff des Gesetzes ist - fernab wissenschaftlicher Theorien und Beglilndungsversuche - historisch und politisch gewachsen. Ein systematischer Zwang zur entlastenden Berucksichtigung eines - wie auch immer verstandenen - Existenzminimums läßt sich aus ihm nicht herleiten. Der Einkommensbegriff verfügt im Gegenteil insofern über ein gewisses inneres Gleichgewicht, als er weder alle die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit beglilndenden Tatbestände noch alle die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einschränkenden Vorgänge berucksichtigt."

70

2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

men und sich und die Umwelt zu gestalten. 9S Auch Art.I Abs.I GG begründet seiner Formulierung und seiner großen Bedeutung nach unmittelbar subjektive öffentliche Rechte des Individuums gegenüber dem Staaf6 wie die anderen Grundrechte. Er wird durch die weiteren Freiheitsrechte präzisiert. Ob nun der Eigenwert des Individuums an sich entscheidend isf7 , oder dessen Fähigkeit, sich in Freiheit selbst zu bestimmen98 : beides verdient als zentraler Inhalt der Menschenwürde festgehalten zu werden. Angesichts des ausdrücklichen Schutzauftrages an den Staat bestehen darüber hinaus wenig Zweifel, daß die materielle Sicherung des Existenzminimums als subjektives Recht unmittelbar aus Art.I Abs.l S.2 GG folgf9 und deshalb auch der Steuereingriff unterhalb der Schwelle des Existenzminimums unzulässig ist. 1OO Dort nämlich, wo die Persönlichkeit des Menschen angegriffen wird, ohne daß in der Verfassung eine weitere Konkretisierung stattgefunden hätte, wie insbesondere beim sozialrechtlichen Subsidiaritätsgrundsatz, ist Art.I Abs.I GG allein anzuwenden. \01 Ob sich aus Art.I Abs.I GG ein spezifischer Familienschutz herleitet, ist fraglich. Natürlich steht die Vorstellung vom Menschen als einem gei-

95 G. Dürig, in: Th. MaWIZIG. Dürig/R. HerzogIR. Scholz, Kommentar zum GG, Art.1 Rdnr.18; ders., AöR Bd.81 (1956), 117, 125. 96 H.e. Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: F.L. NeumannlH.C. NipperdeylU. Scheuner, Die Grundrechte, Zweiter Bd., I, 13 f und K. Löw, DÖV 1958, 516, 518, ist hierin zu folgen; a.A. G. Dürig, AöR Bd.81 (1956), 117, 118 f 97 H.e. Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: F.L. NeumannlH.C. NipperdeylU. Scheuner, Die Grundrechte, Zweiter Bd., I; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.III/I, S.6.

9B

N. Luhmann, Grundrechte als Institution, S.53 ff.

99

G. Dürig, AöR Bd.81 (1956), 117, 131 f, in Verbindung mit dem Sozial staats-

prinzip.

100 G. Dürig, AöR Bd.81 (1956), 117, 132 und 141 f: "Unzweifelhaft hat jedoch der Einzelne ein durch die folgenden Freiheitsrechte aktualisiertes und durch Art. I I mit 19 11 unantastbar und unabdingbar ausgestaltetes Elementarrecht auf Belassen des Bestandes an ftIr ein menschenwürdiges Leben nötigen Außenweltgütern.... Geschützt sind jene Konsumtions- und Produktionsgüter der Außenwelt, deren der Mensch für seine vol/menschliche Existenz bedarf, also nicht nur die zur Erhaltung des körperlichen Daseins nötigen Güter, sondern auch jene, ohne die ein kulturell-sittliches und religiöses Ausleben der Menschennatur unmöglich ist." 101 H.e. Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: F.L. NeumannlH.C. NipperdeylU. Scheuner, Die Grundrechte, Zweiter Bd., I, 15; ähnlich G. Dürig, AöR Bd.81 (1956), 117, 130; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, S.322 ff., hebt gerade diese allgemeine Funktion des Art. I Abs.1 GG hervor.

c. Realitätsgerechtes Eltern- und Kinderexistenzminimum

71

stig - sittlichen Wesen im Raum, das darauf angelegt ist, sich selbst zu bestimmen und sich auch im Pflichtenkreis des gemeinschaftsbedingten und gemeinschaftsbezogenen Individuums zu entfalten. 102 Hiermit ist aber zuvörderst die Beziehung des Einzelnen zu den nicht mit ihm in der Familie zusammengehörigen Personen gemeint, die von den Freiheiten dieser anderen Menschen gefordert werden und die der Gesetzgeber zur Förderung des sozialen Zusammenlebens als Grenzen des allgemein Zumutbaren zieht. 103 Adalbert Podlech 104 sieht im Schutz der physischen Existenz des Menschen außerdem dessen familiäre Beziehungen miturnfaßt. Er ist mit dieser weiten Einschätzung offenbar weitgehend allein geblieben, zumal nicht recht erkennbar ist, inwiefern diese von Art.1 Abs.1 GG als Bestandteil der Menschenwürde miteinbegrifTene Familiensphäre über den spezifischen Schutz des Art.6 GG hinausgeht. Konkret Im die Einkommensteuer rekurriert die überwiegende Zahl der Begründungen lür den Abzug eines realitätsgerechten Existenzminimums VOn der Steuerbemessungsgrundlage auf die in Art. I Abs.1 GG garantierte Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Zur Würde des Menschen gehöre es, über den ungeschmälerten Bestand an den lür ein menschenwürdiges Leben nötigen Außenweltgütern verfügen zu können. lOS Andernfalls werde er gezwungen, ökonomisch unter Lebensbedingungen zu vegetieren, die ihn zum Objekt erniedrigen. Die Würde des Menschen enthalte die Fähigkeit, sich in freier Entscheidung über die unpersönliche Umwelt zu erheben. 106 Aus dieser Formulierung wird wiederum die enge Verknüpfung der Garantie der Menschenwürde mit den übrigen Freiheitsrechten des Grundgesetzes deutlich. Es ist die ökonomische Vollexistenz, die die Freiheit zur Daseinsentfaltung erst ermöglicht. 107 Diese Vollexistenz darf

102 103

BVerfGE 45, 187, 227. BVerfGE 4, 7, 16.

104 AK-GG, 2. Auflage, Art. I Rz.l8, 23; nur beiläufig erwähnt H.e. Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: F.L. Neumann/H.C. NipperdeylU. Scheuner, Die Grundrechte, Zweiter Bd., 1,27, die Familienbeziehungen, die der Staat zu achten habe. lOS G. Dürig, in: Th. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art.1 Abs.1 Rn.44. 106 G. Dürig, in: Th. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art.l Abs.1 Rn.43. 107 R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 8.323 f.; 458.

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2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

nach einhelliger juristischer Auffassung l08 nicht durch den Steuereingriff des Staates berührt werden. 2. Art.l Abs.l GG als sedes materiae des aUgemeinen Subsidiaritätsgnmdsatzes

Für den Familienschutz im Steuerecht lassen sich daher außer dem Bekenntnis zu einem auch materiell selbstbestimmten menschlichen Leben in Verbindung zu den übrigen Freiheitsrechten und dem Gleichheitssatz wohl keine besonderen Schutzpflichten aus dem Art.l Abs.l GG entnehmen. Seine wichtigste Funktion entfaltet Art.l Abs.l GG jedoch für die Bestimmung des Rangverhältnisses zwischen eigenbestimmter und von der sozialen Gemeinschaft vorgeprägter Existenzsicherung, das mit dem Grundsatz der Subsidiarität 09 staatlichen Handeins beschrieben wird. Die Nachrangigkeit staatlichen Handelns bezieht sich nun sowohl auf das Zusammenspiel des steuerlichen Mittelentzuges mit den sozial(hilfe)rechtlichen direkten Transfers als auch auf das des Steuereingriffs mit den zivilrechtlichen Unterhaltsverpflichtungen. Betrachtet man zum ersten aus der Sicht des Bürgers die verschiedenen öffentlichen Haushalte, denen Leistungen zu- oder abfließen, entgegen dem Grundsatz der Haushaltstrennung (Art. I 09 Abs.l GG, Ausfluß des bundesstaatlichen Dezentralisati-

108 Z.B. W. Traxel, Die Freibeträge des Einkommensteuergesetzes, S.48; H. Söhn, FA Bd.46 (1988), 154, 162 f.; H.-J. Pezzer, StuW 1989,219,223; J. Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, S.69 f.; ders., StuW 1990,331,338; M. Lehner, DStR 1990,760,761; F. Dötseh, FR 1991,315,316, aber auch der kritischen Ökonomen P. Bareis, FR 1991,405, 406; implizit auch R. EIsehen, StuW 1991,99,113, der jedoch gegen die Freibetragslösung und für eine Transfer- bzw. Freigrenzenregelung plädiert. Ebenso wie die juristische Ansicht ferner die Ökonomen D. Dziadkowski, BB 1991, 805,814; L. Schemmel, Kinderfreibetrag und Grundgesetz, S.l5 f.; ders., DStZ 1991,481,482. 109 Das Subsidiaritätsprinzip verdankt seine Ausprägung injÜllgerer Zeit dem am 21. August 1991 verstorbenen Nestor der katholischen Soziallehre Oswald von NellBreuning. Danach hat die "kleinere Einheit Vorrang von der nächst größeren Einheit", ist die private Initiative höher einzuschätzen als die staatliche Initiative und hat der Staat nur bei Gefahren für das Gemeinwohl "Hilfe zur Selbsthilfe" zu leisten. Der an der philosophisch-theologischen Hochschule St. Georgen Ethik, Moraltheologie und christliche Gesellschaftslehre lehrende O. v.Nell-Breuning erteilte der Vorstellung der Nachkriegszeit vom für alles zuständigen Versorgungsstaat eine Absage, vgl. HANDELSBLATT vom 23./24.8.1991, Nr.162, S.4.

c.

Realitätsgerechtes Eltern- und Kinderexistenzminimum

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onsprinzips) als "zu einem Lager" gehörig 110, so wird in allen Fällen, in denen sozialrechtliche Bedürftigkeit bei gleichzeitig schon einsetzender Steuerbelastung vorliegt, der Transfergeber unzweckmäßigerweise verpflichtet, das in den Steuertopf geflossene Geld aus dem Steuereingriff über den sozial(hilfe)rechtlichen Transfer zurückzugewähren. 111 Dies bedeutet nicht nur eine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips der direkten Transferrechtsordnung ll2, sondern gleichzeitig verfehlt der Steuereingriff

110 Die Einheit des Wähnmgs- und Zollsystems, Einheitlichkeit der großen Staatssteuern, Steuerverbund und Finanzausgleich sowie gesamtwirtschaftliche, für alle öffentlichen Verbände gemeinsam verpflichtende Stabilitäts- und Wachstumsziele rechtfertigen es, die Finanzen aller öffentlichen Gebietskörperschaften als staatswirtschaftliche Einheit zu betrachten, H. Fischer-Menshausen, in: 1. v. Münch, GrundgesetzKommentar, Art. 109, Bd.3, 2. Auflage, Rn.2.

111 Käme nicht die Sozialleistung als Wohltat nach dem Mittelentzug, könnte von einem verbotenen "venire contra factum proprium" gesprochen werden, das in dem zuerst vorgenommenen Mittelentzug und der anschließenden Zahlungsverpflichtung durch den Sozialtransfer liegt. In sich widersprüchlich ist jedoch ein solcher Vorgang in jedem Fall. 112 Dieser Grundsatz wird nicht nur in den Leistungsgesetzen (z.B. §§ 3 Abs.3 [Bildungs- und Arbeitsförderung]; 9 Abs.l [Sozialhilfe] SGB I; 2 Abs.l [Vorrang der Selbsthilfe], 11 Abs.l [Vorrang eigenen Einkommens und Vermögens], 18 Abs.l, 25 Abs.l [Pflicht zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft] BSHG, 1 Abs.l Nr.3 UnterhaltssicherungsG; 134 Abs.l, 138 [Bedürftigkeitsprüfung] AFG; 1 BAföG) formuliert, sondern auch als Ausfluß der Garantie eines eigenständigen, selbstbestimmten, menschenwürdigen Daseins verstanden. J. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S.313 ff., arbeitet das Subsidiaritätsprinzip als ein Rechtsprinzip heraus, dessen Konkretisierungen auf der Ebene der Grundrechte liegen und als ermessensleitende Weisungen an die Legislative und die Exekutive gerichtet sind. Befragungen von Betroffenen selbst, deren Wohlstand sich ungefähr auf dem Niveau des Sozialhilfeempfängers befmdet, würden bei Optionen zwischen entsprechend ergiebiger eigener Arbeit oder direkter Transferleistung gleicher Höhe vermutlich kaum ähnliche Einschätzungen ergeben. Folglich begegnet es zumindest Zweifeln, ob der Zustand, nur oder zum Teil aus vom Staat zugeteilten Mitteln zu leben, gerade die Freiheit des Menschen ernsthaft beeinträchtigt. Hier ist vielmehr zwischen der Würde des Menschen und der (fehlenden) Würdigkeit seines Lebensunterhalts als Kostgänger der Allgemeinheit zu unterscheiden. Ähnliche Bedenken hat auchH. Zacher, VVDStRL Heft 39, Diskussionsbeitrag, S.387 f., der einen Bewußtseinswandel der Generationen für nicht ausgeschlossen hält. Dieser Verdacht hat sich 1986 bei einer von M. Kaase/G. MaaglE. RollerlB. Westle im Rahmen des Projekts A-7 "Politisierung und Depolitisierung von Wohlfahrtsansprüchen" des Sonderforschungsbereichs 3 der Universitäten Fankfurt und Mannheim durchgeführten Befragung von Wahlberechtigten erhärtet: Es wurde festgestellt, daß drei Fünftel mit der wohlfahrtsbezogenen Staatstätigkeit zufrieden waren, rund ein Fünftel nach höheren Sozialleistungen verlangte und lediglich maximal ein Fünftel für eine klassisch-liberale Zurückhaltung des Staates plädierte. Eine Mobilisierung mittlerer Massen gegen den Wohlfahrtsstaatstand danach 1986 nicht bevor, M. Kaase/G. MaagiE. Roller/B. Westle, Zur Rolle des Staates in hochentwickelten westlichen Demokratien, S.24 f.

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2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

auch in dieser Höhe sein Ziel der Einnahmenbeschaffung, ja er ist zur Einnahmenbeschaffung gar nicht geeignet. Müßten also die öffentlichen Haushalte in ihrem Bestand nicht als getrennt betrachtet werden und wäre eine Saldierung zwischen ihnen zulässig, verstieße ein Steuereingriff bei dem Betroffenen mit zu versteuerndem Einkommen unterhalb des Existenzminimums bereits gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zum zweiten verbietet es sich, die Sozialhilfe als Kompensation für eine steuerliche Belastung des Existenzminimums einzusetzen, ebenso aus deren Zweitrangigkeit gegenüber den zivilrechtlichen Unterhaltspflichten. 113 Danach werden also zunächst die zum Unterhalt verpflichteten Verwandten belastet, bevor die staatliche Hilfe einsetzt. Ob es zu einer Haftung der Angehörigen nir die auf dem Existenzminimum lastenden Steuerschulden kommt, hängt aber möglicherweise sogar vom Zufall ab, der mit den Grundsätzen gerechter Steuerlastverteilung kaum etwas zu tun hat. Eine solche "Sippenhaft" ohne sachlich rechfertigende Gründe birgt aber sowohl einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz in sich als auch eine Kollision mit Art.6 Abs.l GG, der eine besondere Belastung in Anknüpfung an die Familie nicht zuläßt. Eine mehr am Ergebnis orientierte, abweichende Ansicht wendet demgegenüber ein, es sei aus "allgemeinpolitischen Gründen" ungeschickt,

Hierzu treten dann außerdem die Probleme der Schattenwirtschaft und Scheinarbeitslosigkeit in Deutschland sowie der Trend, sich mit Hilfe von mehrfachen Geringfügigkeitsbeschäftigungen etwas dazuzuverdienen. Mittels falscher Angaben zur Person wurde bislang ein solches Vorgehen vertuscht. Auch der seit dem 1.7.1991 gesetzlich vorgeschriebene Sozialversicherungsausweis kann hier nicht sofortige Abhilfe schaffen; er soll nämlich erst 1995 für alle abhängig Beschäftigten verfügbar sein, R. Leuthner, Auch Hundertjährige, Tote und Säuglinge tauchen in der Geringverdienerstatistik auf, HANDELSBLATT vom 23./24.8.1991, Nr.162, S.4. 113 H.-J. Czub, Verfassungsrechtliche Gewährleistungen bei der Auferlegung steuerlicher Lasten, S.140 f. - J. Münder, NJW 1990, 2031, weist jedoch auch auf Fälle hin, in denen der Rückgriff auf zivilrechtlich Unterhaltsverpflichtete für den in Vorleistung getretenen Träger der Sozialhilfe aus rechtlichen Gründen nicht durchgreift und somit nicht praktisch wird. Der Nachrang öffentlicher Sozialleistungen gegenüber zivilrechtlicher Unterhaltspflicht gerät aber zunehmend in Distanz zur gesellschaftlichen Wirklichkeit: B. Schulte, NJW 1989, 1241, 1246, plädiert für die Abschaffung des Vorranges zivilrechtlicher Unterhaltspflichten Verwandter ersten Grades gegenüber ihren Eltern wegen der hieraus resultierenden Doppelbelastung der Kinder durch Beiträge zum allgemeinen Alterssicherungssystem und durch konkrete Unterhaltsverpflichtungen gegenüber den Eltern. Der Direktor des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, F. Ruland, Deutsche Renten Versicherung, 1991,365,377, nennt es "Vergesellschaftung der Altenversorgung" , die den Ausgleich zwischen der Kinderund Elterngeneration heute auf die sozialen Alterssicherungssysteme verlagere.

c. Realitätsgerechtes Eltern- und Kinderexistenzminimum

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einen nicht geringen Teil der Bevölkerung über eine realitätsgerechte Freistellung des Existenzminimums im Ergebnis von jeglicher Besteuerung freizustellen. Vielmehr sei anzustreben bzw. aufrechtzuerhalten, daß ein möglichst großer Teil der Bürger Steuerzahler blieben, damit diese starke Gruppe einer Steuererhöhungspolitik entgegenzuwirken bestrebt sei, die sonst auf Kosten anderer umgesetzt werde, die Steuern zu zahlen haben. 114 Zuzugeben ist, daß es aus steuerpsychologischen Gründen vorteilhaft wäre, jedem Staatsbürger bewußt werden zu lassen, daß er in einem aus Beiträgen des Volkes bestehenden Gemeinwesen lebt. Auch der Hinweis auf die Disziplinierungsfunktion gegenüber Steuererhöhungsplänen ist beachtlich. Hingegen hilft die psychologisch/strategische Überlegung über die rechtlich verbindlichen Aussagen des Subsidiaritätsgrundsatzes wohl nicht hinweg. Streng genommen müßte die Gegenansicht vorschlagen, möglichst viele Bürger, auch Sozialhilfeempfänger, zur Beitragsleistung in Form von Steuer und Abgaben zur Geldleistung zu verpflichten, um in ihnen ein Veranwortungsgeftihl zu wecken. Danach müßte denselben Verpflichteten aber dieser Betrag aus sozialrechtlichen Gründen erstattet werden. 1I5 Wenn die realitätsgerechte Freistellung des Existenzminimums zur Steuerfreiheit großer Bevölkerungsteile fUhrt, ist dies eine Folge des allgemeinen Wohlstandsniveaus und der Festlegung des Umfanges des sozio-kulturellen Existenzminimums. Aus einer formalen betriebswirtschaftlichen Sicht, die in die Wettbewerbssituation der Unternehmen ebenso die natürlichen Personen mit ihren privaten Haushalten einbezieht, werden durch die Einrichtung des Existenzminimums natürlicher Personen Wettbewerbsverzerrungen zugunsten der natürlichen Person oder Personenmehrheit befürchtet. 116 Hier bricht sich das Bekenntnis zum von "persönlichen Abzügen unverfälschten" Markteinkommensbegriff erneut Bahn. Gewiß haften an den Unternehmungen, deren Träger juristische Personen sind, keine persönlichen Eigenschaften wie eine Menschenwürde, körperliche Handicaps etc. Je-

114

J.P. Meincke, DB 1988, 1869, 1870.

Zu diesem Ergebnis kommt auch A. Schmidt-Liebig, BB 1992, 107, 112. Er will alle Fälle, in denen Steuerpflichtige so hoch besteuert werden, daß sie den existenznotwendigen Lebensbedarf angreifen müssen, mit einem Billigkeitserlaß im Erhebungsverfahren gemäß § 227 AO "sanieren". 115

116 R. EIsehen, Institutionale oder personale Besteuerung von Unternehmungsgewinnen, S.377; und ders., StuW 1991, 99, 114.

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2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

doch verläßt die Forderung, alle hieraus folgenden Minderungen steuerlicher Leistungsfahigkeit bei der Steuerbemessungsgrundlage nicht mitzuerfassen und stattdessen direkte Transfers zu gewähren, die seit langem anerkannte DeImitionsebene der Einkommensteuerbemessungsgrundlage und verdrängt die unmittelbar für das Steuerrecht geltenden rechtlichen Vorgaben der Subsidiarität. Sie vernachlässigt auch, daß zwischen sozialpolitischen Maßnahmen außerhalb des Steuerrechts und systemkonsequentem Fortdenken des Einkommensbegriffs unterschieden werden muß.

11. Besteuerungsrestriktionen aufgrund des Eigentumsschutzes, Art.14 GG Einen anderen Ansatz, sich dem Postulat einer an der Wirklichkeit orientierten Berücksichtigung existenznotwendiger Ausgaben zu nähern, bietet der Eigentumsschutz des Art.14 Abs.l GG, wenn namentlich die Gedanken der Berichterstatter der Staatsrechtslehrertagung 1980 117 verfolgt werden. Entgegen der herkömmlichen Auffassung, der Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts erstrecke sich abgesehen von Fällen der Erdrosselungssteuer 118 nicht auf allgemeine Belastungsentscheidungen bei der Ertragsbesteuerung, sondern nur auf einzelne konkrete vermögenswerte subjektive Rechte oder Rechtspositionen, ist nämlich daran zu denken, eine Betroffenheit des Eigentumsgrundrechts nicht in der Wegnahme eines konkreten Geldbetrages und der darin liegenden Schmälerung des Gesamtvermögens, sondern in der unangemessenen Einschränkung des Rechts zu privatnützigem Erwerben, Haben, Nutzen, Verbrauchen, Verwalten und Veräußern zu sehen. 119 Hieraus folgt unm-ittelbar, daß ein Steuerzugriff auch eigentumsrechtlich bedeutsam ist, der den Steuerpflichtigen aus rein tatsächlichen Gründen zwingt, keinerlei eigennützig verwendbare Güter erwerben zu können oder sogar eventuell vorhandene Gegenstände zur schlichten Existenzsicherung zu versilbern. Aber auch in

117

P. KirchhofWld H.H. v. Arnim, VVDStRL Heft 39, S.213 ff. Wld S.286 ff.

118 Die Beispiele hierzu sind spärlich: auf kommWlaler Ebene die inzwischen geschaffene Spielautomatenabgabe, hierzu eine ErdrosselWlgswirkWlg bestreitend BVerwG, NVwZ 1989, 1176, Wld die in der Diskussion stehende Steuer auf KampfhWlde, dazu H. Mohl/J. Backes, KStZ 1991, 66, sind jedenfalls nicht allgemein anerkannt. 1\9 P. Kirchhof, VVDStRL Heft 39, S.213, 233.

c.

Realitätsgerechtes Eltem- und Kinderexistenzminimum

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bezug auf das (Markt-)Einkommen als solches entfalte der Eigentumsschutz nach dieser Auffassung eine Wirkung. Einkommen sei der Erfolg einer bestimmten Art privatinitiativer Leistungsentfaltung und ein Gewinn an ökonomischer Freiheie 20, die als individuelles Freiheitsrecht auch von Art.14 GG gewährleistet werde. Deshalb greift der mögliche Einwand etwas zu kurz, das Eigentumsgrundrecht schinne nur bereits Erworbenes ab und nicht Hinzuerworbenes (gemeint ist Einkommen).121 Andere Befürworter eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art.14 GG wollen diesen zwar ausdrücklich nicht auf das Vermögen "als solches" ausgedehnt wissen, argumentieren dann aber - alle Präliminarien einmal abgeschichtet mit "der Gesamtheit aller geldwerten einzelnen Rechtspositionen"122, die ihre Schutzwürdigkeit aus der Zusammenfassung der einzelnen rechtlich durch Art. 14 GG geschützten Güter beziehe. Bei allen Schwierigkeiten mit der weiteren Präzisierung dieses Ansatzes bei der Frage, welche entschädigungslose Maßnahme der öffentlichen Hand denn dann kein Eingriff in den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts sein soll, ist dieser Auffassung zuzugeben, daß sich das Eigentum als sedes materiae für die Abgabenverpflichtung grundsätzlich nachempfmden läßt. Dies f"tihrt denn auch - wie bei Rudolf Wendt deutlich wird zu der Setzung, daß Art. 14 GG vor der Abgabenerhebung schütze, obwohl "keine Rechtsposition beschränkt" wird. 123 Allerdings wird der Erfolg einer so begründeten Mobilisierung des Art. 14 GG gegen die Steuerbelastungsentscheidung von seinen Beftirwortern dahingehend relativiert, daß indirekt korrespondierend zur Auswei-

120 HH v. Arnim, VVDStRL Heft 39, S.286, 304 ff., unter Berufung auf Aussagen des Mitbestimmungsurteils des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 50,290,344 f. So auch z.B. E. Denninger, AG 1978, 70, 73; R. Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, S.39. 121 Für den Schutz der Chance, Eigentum zu erwerben H-J. Czub, Verfassungsrechtliche Gewährleistungen bei der Auferlegung steuerlicher Lasten, S.99. H Söhn, FA Bd.46 (1988), 154, 165, ist gleicher Ansicht und betont, die Einkonunensteuer belaste stets konkrete (Nutzungs-)Rechte, die "Eigentum" im Sinne von Art. 14 Abs.l GG sind. 122

S.38 f.

So z.B. E. Denninger, AG 1970, 72; R. Wendt, Eigentum und Gesetzgebung,

123 R. Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, S.317. Diese Aussage drängt aber den Verdacht des Widerspruchs zu der vorherigen Argumentation auf, die Steuerbelastung sei eine Beschränkung der Gesamtheit von vermögenswerten Rechtspositionen.

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2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

tung des Schutzbereichs eine Verringerung der Schutzintensität einzuräumen sei. Damit werde die Grenze der noch zulässigen Sozialbindung des Eigentums zur unzulässigen Eigentumsverletzung im Interesse der SichersteIlung eines Grundaufkommens an Steuermitteln hinausgeschoben. 124 In der Literatur wird daher kritisiert, das Eigentumsgrundrecht des Art.14 GG sei von seiner Formulierung her nicht auf die Verschlechterung der Vermögenslage wegen der Steuerbelastung zugeschnitten; in Anspielung auf Art. 14 Abs.3 GG, wonach Enteignung nur gegen Entschädigung zulässig ist, heißt es, "Besteuerung gegen Entschädigung sei Nonsens". 125 Dies trifft offensichtlich f"ür die Fälle zu, in denen Steuerpflichtige mit weit höherem Einkommen als dem zum Leben Nötigsten aufgrund des Eigentumsschutzes vor einer bestimmten Steuererhöhung geschützt werden sollen. Dann bietet Art.14 GG so, wie er durch Rechtsprechung und Literatur bislang entfaltet worden ist, keine griffige Struktur zur Bestim mung des "Wieviel" des noch Zulässigen. Hingegen anders ist es, wenn der Steuerpflichtige in eine Notlage gerät, die ihn zur Vermögenssubstanzverringerung 126 zwingt oder eine Vermögensmehrung dauerhaft ausschließt. Folglich mag der Gedanke des Eigentumsschutzes inhaltlich zur Begründung der Realitätsgerechtigkeit einer Berücksichtigung des Existenzminimums im Einkommensteuerrecht zwar einzusetzen sein l27 ; hierdurch wird aber an Effektuierung grundrechtlich abgesicherter Schutzrechte des Betroffenen im Vergleich zu den bereits aus der Gesamtheit der Freiheitsrechte ableitbaren Vorgaben nur wenig gewonnen. 128 Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat in seinem Beschluß vom 25.9.1992 zur Höhe des Grundfreibetrages als Existenzmini-

124

H.H. v. Arnim, VVDStRL Heft 39, S.309 Fn. 90.

125

K. Tipke/J. Lang, Steuerrecht, 13. Auflage, S.57.

126 Hierunter müßte wohl eine erhebliche Minderung gegenüber dem status quo ante im Vermögensbestand verstanden werden und dem Steuerpflichtigen das sozial kulturelle Existenzminimum nicht oder nur knapp zur Verfügung stehen, ähnlich BVerfGE 14,221,241. . 127 In diesem Sinne auch R. Mußgnug, JZ 1991, 993, 995 f.; M. Lehner, DStR 1990, 760, 762, hält sogar die Eigentumsgarantie für das einzige zugkräftige Argument gegen ein nicht realitätsgerechtes Existenzminimum Höherverdienender, denen nach Steuern noch das zum Leben Notwendige verbleibt. 128 R. Mußgnug, JZ 1991, 993, 999: Konfiskatorische Steuern seien nach allem ein Thema von mehr theoretischer als praktischer Bedeutung.

C. Realitätsgerechtes Eltem- und Kinderexistenzminimum

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mumregelung dessen Verfassungswidrigkeit mit dem Verbot der erdrosselnden Wirkung des Steuergesetzes nach den Art.14 Abs.l, 12 Abs.l, 2 Abs.l GG begründet. 129 Indem das Gericht im Unterschied zu dem Beschluß des Ersten Senats zum Kindergeld vom 29.5.1990 die steuerliche Verschonung des Existenzminimums nicht mehr umfassend aus der Menschenwürde eines jeden Steuerpflichtigen in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip schöpft130, sondern aus dem Verbot der Erdrosselungswirkung der Einkommensteuer, hat es nur eine Minimalanforderung errichtet: Es geht nur um das Verbleiben eines zum Leben ausreichenden Geldbetrages des Geringverdieners aus seinen Erwerbsbezügen nach dem Abzug der Einkommensteuer. Wenn nämlich - wie es nach dem Grundfreibetragsbeschluß den Anschein hat - durch die Existenzminimumregelung des Einkommensteuerrechts nur zu gewährleisten ist, daß dem Steuerpflichtigen "ein Kernbestand des Erfolges eigener Betätigung im wirtschaftlichen Bereich in Gestalt der grundsätzlichen Privatnützigkeit des Erworbenen und der grundsätzlichen Verfügungsbefugnis über die geschaffenen vermögenswerten Rechtspositionen erhalten bleiben" muß 131 , fragt sich, ob f"Ur denjenigen, der aufgrund seines höheren verfügbaren Einkommens nicht in der Gefahr steht, den Kernbestand seines wirtschaftlichen Erfolges zu verlieren, überhaupt eine Regelung zur Freistellung seines Existenzminimums vorgesehen sein muß, (was das Gericht im Ergebnis auch verneint). Ferner leuchtet nicht ein, wie sich dies mit dem Standpunkt verträgt, es folge aus Art.1 Abs.l in Verbindung mit Art.20 Abs.3 GG, daß nur das über das Existenzminimum der Familie hinausgehende Einkommen der Besteuerung unterworfen werden dürfe. 132 Steht nach dieser neuen Rechtsprechung damit nicht unausgesprochen fest, daß der Höherverdiener keiner oder nur einer unzureichenden Berücksichtigung seiner existenznotwendigen Aufwendungen als Spiegel seiner Menschenwürde bedarf? Wird hier nicht entgegen dem Grundsatz verfahren, horizontale Steuergerechtigkeitsdefizite dürften nicht mit Überlegungen vertikaler Steuergerechtigkeit ausgeglichen werden?133 Wäre es nicht nach dieser

129

BVertG NJW 1992,3153.

130

BVerfGE 82, 60, 85.

131

BVertG NJW 1992,3153.

132

BVerfGE 82, 60, 85.

133

BVerfGE 82, 60, 90.

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2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

neuen Auffassung angemessen, demjenigen, der trotz seiner Kindesunterhaltspflicht sein Existenzminimum nicht anzugreifen braucht und dem Kind bei weitem mehr als den existenznotwendigen Unterhalt gewährt, außerdem den Existenzminimumbetrag für das Kind zu kürzen, also den Kinderfreibetrag? Steht nicht hinter dem Grundfreibetragsbeschluß die Aussage, das (Kinder-)Existenzminimum des Höherverdieners sei von anderer Qualität als das des Wenigverdieners? Die Widersprüchlichkeit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mag ihren Grund allein in der hohen Last seiner haushaltsmäßigen Verantwortung haben.

III. Hilfsweiser Schutz aufgrund der allgemeinen Handlungsfreiheit, Art.2 Abs.l GG Ähnlich wie bei den spezielleren Freiheitsgrundrechten verhält es sich mit dem Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit aufgrund des Art.2 Abs.l GG. 134 Der Steuerpflichtige, dem durch den Steuereingriff etwas genommen wird, das er zur Lebensführung aber benötigt, ist seiner wirtschaftlichen Freiheit beraubt. Art.2 Abs.l GG kommt damit hilfsweise nach den spezielleren Freiheitsrechten selbst zum Tragen. Das Bundesverfassungsgericht sprach in seiner "Spielraum"-Formel 135 dem objektivrechtlichen Gehalt des allgemeinen Freiheitsgrundrechts für das Steuerrecht zwar grundsätzlich wenig Schärfe zu. Läßt sich auch für die Mehrzahl der Fälle dem Grundrecht auf Handlungsfreiheit keine Skala der Besteuerungsrestriktionen entnehmen, greift sein Schutz jedenfalls ein und gegenüber der Schrankentrias des Art.2 Abs.l GG durch, wenn der Bürger wirtschaftlich gesehen gefesselt ist, weil ihm noch nicht einmal das Minimum für seine sozio-kulturelle Entfaltung durch den Steuere in griff belassen wird.

134 Seit dem Elfes-Urteil des BWldesverfassWlgsgerichts, BVerfGE 6, 32 ff., ist dieses GTWldrecht allgemein anerkannt. 135 BVerfGE 4, 7, 15, bestimmte die von Art.2 Abs.l GG gezogene Grenze als ein "Mindestmaß menschlicher HandlWlgsfreiheit, ohne das der Mensch seine Wesensanlage als geistig-sittliche Person überhaupt nicht entfalten kann"; BVerfGE 4, 7, 16; 12, 341, 347 f., für die Wlternehmerische HandlWlgsfreiheit.

C. Realitätsgerechtes Eltern- und Kinderexistenzminimum

81

IV. Rechtfertigung aus dem Sozialstaatsprinzip, Art.20 Abs.l, 28 Abs.l GG Ein letzter Grund, weshalb der Gesetzgeber die f"Ur die Lebenslührung des Menschen unmittelbar notwendigen Ausgaben in angemessener Höhe steuerlich entlasten sollte, fmdet sich in dem in den Art.20 Abs.l, 28 Abs.l S.l des Grundgesetzes formulierten Sozialstaatsprinzip. Wenn auch dem Typus-Begriff des Sozialstaates noch wenig Präzision innewohne 36 , ist jedenfalls gesichert, daß das Sozialstaatsprinzip an den Gesetzgeber appelliert, die gesellschaftliche Ordnung so zu gestalten, daß niemand ernsthafte materielle Not leidet. Dies fmdet in den folgenden Elementen der staatlichen Fürsorge seine Ausprägung: der Erforderlichkeit einer Leistungsverwaltung, dem Angebot einer Daseinsvorsorge sowie den hierfür zugelassenen Instrumenten der Maßnahme gesetze, der Planung und der Subventionen. Darüber hinaus wendet sich das zur Dynamik strebende Verständnis vom Sozialstaat hin zu den weiterreichenden Zielen der Herstellung sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit. Soziale Gerechtigkeit herrscht dann, wenn die existentielle, wirtschaftliche und kulturelle Lebens- und Leistungsf"ähigkeit der Bevölkerung auf einem nicht nur minimalen, sondern angemessenen Niveau gewährleistet ist. 137 Geht somit das Sozialstaatsgebot dahin, den elementaren Lebensbedürfnissen des Menschen in einem Maß Rechnung zu tragen, das über das zum Lebensunterhalt Unerläßliche noch hinausreicht, spricht erst recht viel dafür, von den Eingriffen aufgrund des Steuergesetzes zumindest das zum Lebensunterhalt Unerläßliche freizustellen 138, wenn nicht gar das oben genannte Existenzminimum auf angemessenem höherem Standard. Einige fordern für das Steuerrecht in diesem Zusammenhang sogar eine noch weitergehende steuerliche Berücksichtigung existenznotwendiger Aufwendungen 139, je\36 BVerfGE 10, 370 f.; 17, 23; K. Rode, JR 1968, 401, 403; O. Bachof, VVDStRL Heft 12, S.37, 39 f. 137

K. Stern, Staatsrecht, Bd.I, 2. Auflage, § 21 II 4, S.911.

\38 E. Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: E. Benda/W. MaihoferlH.J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, S.477, 526. 139 Unterste\1t, man nimmt das sozialhilferechtliche Existenzminimum als unteren Richtwert. So P. Kirchhof, Gutachten F zum 57. Deutschen Juristentag, München 1988, F 51, wegen der "Anerkennung der Individualleistung als Grundlage des Erwerbens und damit der Einkommensverteilung"; 57. Deutscher Juristentag Mainz 1988, Sitzungsbericht N 1988, Beschluß VII.l., N 215: "um der Grundrechte willen". Eine

6 Lingemann

82

2. Kapitel: Der Grundrechtsschutz der Familie im Steuerrecht

doch letztlich mit einer auf der Gesamtheit der Freiheitsgrundrechte fußenden Rechtfertigung, die keine Ableitung aus dem Sozialstaatsgrundsatz darstellt.

Steuerverschonung ist aber auch aus anderen Gründen der realen Tarifbelastung in der Einkommenszone knapp oberhalb des Existenzminimwns in Form des derzeit geltenden Grundfreibetrages erforderlich, hierauf weisen J. Lang, StuW 1990, 331, 348, aber auch P. Bareis, FR )991,405,411, hin. Zu diesen Effekten, die sich aus dem Verlauf des Einkommensteuertarifs in der Eingangszone ergeben, unten S.185.

3. Kapitel

Die Verwirklichung des Benachteiligungsverbots der Ehe und der Familie A. Die realitätsgerechte Berücksichtigung eines Existenzminimums bei der Einkommensteuer I. Uneinigkeit, welche Normen existenznotwendigen Lebensbedarf freistellen Im Schrifttum wird bisweilen die Ansicht vertreten, man könne die Berücksichtigung des Existenzminimums bei der Einkommensteuer nicht auf eine einzige Größe konzentrieren. R. Stephan 1 weist darauf hin, daß sich verläßliche Aussagen darüber, ob die jeweils bestehende Höhe des Grundfreibetrages in § 32a Abs.l Nr.l EStG als Freistellung des Existenzminimums der Realität entspricht, nicht treffen ließen? Es herrsche eine unübersichtliche Vielfalt von anderen Regelungen des Einkommensteuergesetzes, die, einkünfte spezifisch oder von Spezialsachverhalten abhängig, ebenso Teile des existenznotwendigen Lebensbedarfs steuerlich berücksichtigen. Dies hat auch den Bundesrmanzhof in einer jüngeren Entscheidung dazu bewogen, die Grundfreibeträge 1986 - 1988 der Höhe nach für verfassungsgemäß zu halten. Zudem habe der Gesetzgeber anstelle einer weiteren Erhöhung des Grundfreibetrages für Steuerentlastungen im Wege der Tarifprogressionsabsenkung gesorgt.) Die Aufzählung weiterer, syste-

In E. LittmannlH. BitzlJ.-P. Meincke, EStG, § 32a Rn.II. Gleicher Ansicht ist A. Schmidt-Liebig, BB 1992, 107, 112. BFH BStBl. 1990, 969, 972. Inzwischen hat derselbe III. Senat des Bundesfinanzhofs jedenfalls in einem Fall ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines auf dem Gnmdfreibetrag 1988 in Höhe von 4.752 DM (§ 32a Abs.1 Satz 2 Nr.1 EStG 1988) beruhenden Steuerbescheides gehabt, der bei einem zu versteuernden Einkommen von 8.717 DM eine Steuer von 867 DM nach der Grundtabelle festsetzte, BStBl. 1991,876. Er hat diese Zweifel in einem ähnlichen Fall bestätigt, BFHlNV 1992,246.

84

3. Kapitel: Verwirklichung des Benachteiligungsverbots

matisch vollkommen verschiedener gesetzlicher Erleichterungen zur Freistellung des Existenzminimums durch den Bundesfmanzhof fUhrt zu ganz verschiedenen Normen des Einkommensteuergesetzes: vom Freibetrag für Land- und Forstwirte gemäß § 13 Abs.3 EStG, dem ArbeitnehmerPauschbetrag in § 9a Abs.l Nr.l EStG bis zu den Sonderausgaben (§§ 10 bis lOc EStG) und bestimmten außergewöhnlichen Belastungen nach den §§ 33, 33a Abs.3, 33b und 33c EStG. Ebenfalls heranzuziehen seien die Steuerfreiheit privater Veräußerungsgewinne und die Steuerbefreiung für eine Vielzahl von Transferleistungen nach den §§ 3 bis 3b EStG. Daher bestehe keine Pflicht des Steuergesetzgebers, von Verfassungs wegen die Kosten der Unterkunft des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen. Die Steuerfreiheit der Einnahmen aufgrund der wohnungsbezogenen Förderungsgesetze (Wohngeldgesetz; Wohnungsbauprämiengesetz) gemäß den §§ 3 Nr.58 EStG, 6 WoPG sowie die Steuerermäßigungen in §§ 7b, lOe EStG seien auch zur Abgeltung von Wohnungskosten bestimmt. Es fehle eine steuerrechtliche Erfassung von sozialrechtlichen Transferleistungen, um die Angleichung der Existenzminima überhaupt zu ermöglichen. 4 Mit einer Gesamtschau sämtlicher irgendwie einschlägiger (oder nicht einschlägiger) Tatbestände, deren Maßgrößen und Auswirkungen nicht klargestellt werden, läßt sich wenig Klarheit erzeugen und sodann manches Ergebnis rechtfertigen. Im Hinblick auf die §§ 7b, 10e EStG ist zu fragen, inwiefern diese durch den Bundesfmanzhof genannten Vorschriften zur Entlastung der Mieter und nicht nur der Eigentümer von Wohnraum beitragen können. Einzig die Begünstigung des im Objekt selbst wohnenden Eigentümers durch diese Vorschriften ist nachvollziehbar, nicht hingegen die aller Steuerpflichtigen, wie es jedoch für eine allgemeine Existenzminimumnorm zu fordern ist. Der Bundesfmanzhof konnte in der genannten Entscheidung den Strohhalm ergreifen, den die konzeptions lose Struktur des Gesetzes von verschiedenen Zwecksetzungen, Regelungstechniken und historisch gewachsenen Verwerfungen über den Abgrund der eindeutig meßbaren Verfassungswidrigkeit der Freistellung existenznotwendiger Aufwendungen im Steuerrecht legt. Daher ist nicht nur, wie es bereits geschieht, das Augenmerk auf die sozialrechtliche Abstimmung der Kinder- und Grundfreibeträge zu richten, sondern im Grunde eine Reform der gesamten persönliÄhnlich argwnentiert J. Martens, StVj 1989, 199,208 f.

A. Realitätsgerechtes Existenzminimum bei der Einkommensteuer

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chen Abzüge erforderlich. 5 Daß die Überlegungen des Bundesfmanzhofs zur Abschätzung der Höhe des Existenzminimums an Unschärfe leiden 6, wurde in der Literatur zu Recht beanstandet. Das Gericht berücksichtigte auch nicht erkennbar, daß den zusätzlichen Abzügen von der Steuerbemessungsgrundlage im Vergleich zum Sozialrecht wiederum Sonderbedarfsleistungen nach § 21 BSHG oder Hilfen in besonderen Lebenslagen nach den §§ 27 ff. BSHG gegenüberstehen, die über den Sozialhilferegelsatz hinausgehen und die neben den konkreten Leistungen für die Unterkunft gewährt werden. 7 Auf diese Weise geführte Vergleiche zwischen Sozialhilferecht und steuerrechtlichen Regelungen sind unvollständig. Auch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgericht hat in seinem Grundfreibetragsbeschluß anerkannt, daß es auf die Realitätsgerechtigkeit des allen Steuerpflichtigen zustehenden Grundfreibetrages im Vergleich zu den Gesamtleistungen der Sozialhilfe ankommt. 8 Es Itihrt deshalb kein Weg daran vorbei, das Bündel von Transfers im Detail zu untersuchen. In welcher Höhe ein Existenzminimum mit den bereits für das Sozialrecht und das Unterhaltsrecht getroffenen Vorgaben des Gesetzgebers für das Steuerrecht anzustreben ist, soll unten geklärt werden.

So z.B. D. Birk, StuW 1989,212,217; die Aufstellung bei G. FelixlK. Carstens, Stbg 1990,438, spiegelt dasselbe wider, H. Söhn, StuW 1990,356,362, zu den Beschränkungen der Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen. 1. Lang, Reformentwurfzu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, S.99, § 30 EStG-E, faßt deshalb die Lebensbedarfabzüge in seinem Vorschlag zur Reform der Bemessungsgrundlage zusammen und unterwirft im Gegenzug die öffentlich-rechtlichen Unterhalts- und Versorgungsleistungen der Steuerpflicht, §§ 4 Abs.1 Nr.3, 29 Nr.2 EStG-E. M. Lehner, DStR 1990,760,761; D. Dziadkowski, FR 1991,281,284.

Vgl. die ausftlhrliche Kritik des IX. Senats des Niedersächsischen FG in seinem Vorlagebeschluß zu den Grundfreibeträgen 1986 und 1988, EFG 1991,260 = BB 1991,258. BVerfG NJW 1992,3153,3154 f.

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3. Kapitel: Verwirklichung des Benachteiligungsverbots

11. Bedenken gegenüber der vom Bundesfinanzhof vertretenen und durch das Bundesverfassungsgericht fortgeführten "Verbleibenstheorie " Die Rechtsprechung des Bundesfmanzhofs bezog hinsichtlich der realitätsgerechten Höhe des Grundfreibetrages als Freistellungsregelung für das Existenzminimum inzwischen den Standpunkt, der Grundfreibetrag sei grundsätzlich verfassungsgemäß bis auf die Fälle, in denen dem Steuerpflichtigen nach Abzug der auf seinem zu versteuernden Einkommen lastenden Steuern nicht mehr Geldmittel verblieben, als das sozialhilferechtlich garantierte Iahresexistenzminimum (sog. Verbleibenstheorie).9 Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluß zum Grundfreibetrag vom 25.9.1992 10 im Ergebnis wie der Bundesfmanzhof entschieden. 11 Wie verträgt sich aber dieser Gedanke damit, daß in der soeben kritisierten Entscheidung des Bundesfmanzhofs l2 , in der er die Höhe des Grundfreibetrages bestätigte, argumentiert wurde, das zu versteuernde Einkommen des Steuerpflichtigen hätte über seine wahre steuerliche Leistungsfähigkeit (wegen der Nichterfassung so vieler Vermögensmehrungen außerhalb der bestehenden Einkunftsarten) nichts genaues zu sagen? Hätte dann nicht das zu versteuernde Einkommen abzüglich der darauf zu entrichtenden tariflichen Einkommensteuer ebensowenig Bedeutung? Gleichwohl fühlte sich der Bundesfmanzhof mit Hilfe des "verbleibenden Einkommens" als Größe, die doch in Abhängigkeit vom in den Augen des Gerichts belanglosen zu versteuernden Einkommen steht, unsicher über die Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages! Ferner ist zu fragen, welche Steuern denn in der Rechnung des Gerichts als Abzugsposten fungieren sollen, nur die Einkommensteuer oder auch andere (ebenso zwangsläufige)? In dem beschriebenen Ansatz der höchstrichterlichen Rechtsprechung liegt letztlich schon der Keim des sich durchsetzenden Strebens der Rechtsordnung nach Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit. Sie könnte in Zukunft zugleich Schutz vor den Ungereimtheiten in

BFHlNV 1992,246; BFH BStBl. 1992, 91. 10

NJW 1992, 3153.

11

Zur Kritik siehe schon oben S.79.

12

BFH BStBl. 1990, 969.

A. Realitätsgerechtes Existenzminimum bei der Einkommensteuer

87

der GedankeniUhrung der offenbar langsam einschwenkenden höchstrichterlichen Rechtsprechung bieten. Ferner hat ein realitäts gerecht zu niedriger Grundfreibetrag als Existenzminimumregelung nicht allein den Effekt einer Tarifverschärfung lür alle Steuerpflichtigen. 13 Unterstellt man nämlich, der Grundfreibetrag bliebe in seiner Höhe nicht unerheblich hinter dem wirklichen sozio-kulturellen Existenzminimum des Steuerpflichtigen zurück, unterlägen die zu versteuernden Einkommen kurz oberhalb des Grundfreibetrages unmittelbar der Steuerpflicht, weshalb Im sie auch eine konkrete Steuerschuld entstünde. Diese auf niedrige Einkommen zu entrichtende Steuer würde aber einen im Vergleich zu Höherverdienenden erheblich höheren Anteil an Steuern gegenüber dem disponiblen Einkommen oberhalb des Grundfreibetrages bedeuten, wodurch ein gleichheitssatzwidriger Degressionseffikt zu Lasten der geringverdienenden gegenüber den häherverdienenden Steuerpflichtigen entstünde. 14 Diese kritische Zone reicht ungef'ähr bis zu einem zu versteuernden Einkommen von 30.000 DM. 1S Mithin übersehen die Anhänger der "Verbleibenstheorie" den in einem nicht realitätsgerecht oder höher angesetzten Grundfreibetrag verborgenen Verstoß gegen die vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung Im einen grundsätzlich proportionalen und progressiven Einkommensteuertarif. Daher steht jene Ansicht im Widerspruch zum Gebot vertikaler Steuerbelastungsgleichheit.

III. Zwischenergebnis Nach den Prämissen der Menschenwürde und der mit ihr untrennbar verbundenen Freiheitsgrundrechte ist es Im das Steuerrecht unumgänglich, die für eine menschenwürdige Existenz nötigen Aufwendungen jedes Steuerpflichtigen mindestens realiUitsgerecht in Rechnung zu stellen.

13 K. Tipke, FR 1990,349. Dieser Ansicht haben sich auch nicht wenige Vertreter der Literatur angeschlossen, so z.B. F. Dötsch, FR 1991,315; A. Schmidt-Liebig, BB 1992, 107, 110; L. SchmidtlP. Glanegger, EStG § 32a Anm 1. d).

14

J. Lang, StuW 1990, 331, 346.

IS

R. Jüptner, StRK - Anm zu § 32a EStG 1975 R.5.

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3. Kapitel: Verwirklichung des Benachteiligungsverbots

IV. Blick auf die geschichtliche Entwicklung der steuerlichen Berücksichtigung des "Existenzminimums" Die Anerkennung eines Prinzips im Steuerrecht, daß die Regelungen der Besteuerung den existenziell notwendigen Lebensbedarf freizustellen haben, hat zahlreiche weit zUTÜckreichende Wurzeln und läßt sich auf der ganzen Welt zurückverfolgen. Bewußt ist im Blick auf die Geschichte von Anfang her nicht von "der Einkommensteuer" die Rede, weil von einer Einkommensteuer im heutigen Sinne selbst z.B. IUr England zur Zeit der Kreuzzüge und der Kriege mit Frankreich noch nicht zu sprechen ist. Vielmehr hat sich aus Kopf- und Klassensteuern oder Vermögensteuern als ältere Personalsteuern und der späteren Einbeziehung der LeistungsIahigkeit, die im mobilen Kapital und in der Arbeitskraft liegt, der Einkommensteuergedanke erst entwickelt. 16 Wenn auch an dieser Stelle nur ohne Anspruch auf Vollständigkeit von den Vorläufern eines "Existenzminimums" berichtet werden kann, so ist doch ein Konsens der Steuerordnungen hinsichtlich dieses Grundgedankens deutlich zu beobachten. 1. Zeugnisse über das Existenzminimum im Altertum

In den Darstellungen über die Anlange der öffentlichen Finanzwirtschaft fmdet sich übereinstimmend der Hinweis auf die griechischen Regelungen zur Freistellung eines Existenzminimums zur Zeit Solons 17 , für die Charles Baron de Montesquieu 18 schon eine Begründung aus der Würde des Menschen ("grandeur") und aus dem Umverteilungspostulat ge-

16 J. Popitz, Einkommensteuer, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd.III, 4. Auflage, S.400, 437. J. Popitz weiß 1926 aber immerhin schon von 124 Einkommensteuergesetzen in der Welt zu berichten, auf deren Auswertung sein umfangreicher Artikel beruht, ders., a.a.O., S.439. 17 Salon wurde etwa 640 v. Chr. in Athen geboren und starb dort 561 v. Chr. Er war ein bedeutender Gesetzgeber, der unter anderem die Bürgerschaft aufgrund derer jährlicher Ernteerträge in 4 (Steuer-) Klassen einteilte: die Pentakosiomedimnoi (Fünfhundertscheffler), Hippeis (Ritter) mit mindestens 300, Zeugiten mit mindestens 200 Scheffeln Getreide und Theten (Lohnarbeiter). 18 (Euvres completes, Esprit des Lais, t. II, Paris 1820, p. 11, zitiert nachF. Neumark, Theorie und Praxis der modernen Einkommensbesteuerung; S.61 Fn.2; "necessaire physique", Esprit des Lais, Nouvelle Edition, 1758, Bd.2, S.50, zitiert nach H.-J. Pezzer, StuW 1989,219,223 Fn.59.

A. Realitätsgerechtes Existenzminimum bei der Einkommensteuer

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funden haben wollte. Natürlich stehen solche Grundsätze in der griechischen Antike in anderem Zusammenhang als heute und bedürfen einer kurzen Erklärung. Es entsprach griechischem Staatsverständnis, daß zunächst die Staatseinnahmen als Eigentum der Bürger zur gesamten Hand verstanden, teils sogar wieder an diese ausgeschüttet wurden und es völlig ungewohnt war, VOn den Bürgern direkte Steuern zu erheben. Vielmehr waren indirekte Steuern und Dienstleistungspflichten (sog. Leiturgia) die Regel, direkte Steuern grundsätzlich in Zeiten keines außergewöhnlichen Finanzbedarfs hingegen eine Zumutung, die nur den Fremden und ansässigen Nicht-Bürgern abverlangt wurde. 19 Zur Abwendung von Notlagen sind jedoch in den Städten nach Einführung der Geldwirtschaft und des Münzwesens im 6. Jhd. v. Chr. außerordentliche direkte Steuern vom Vermögen erhoben worden (diese sind die von Montesquieu angesprochenen Eisphora, denen durch Freibeträge und die Einschätzung des Vermögens sogar eine progressive Belastung nachgesagt wird). Die solonische 4-Klasseneinteilung stellte dabei mehr als ein Drittel der Bevölkerung von dieser Steuer frei, nämlich die vierte Klasse 20 der Lohnarbeiter. Außerdem unterlagen die Sklaven keinen derartigen Steuern. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, daß nach dem Übergang legislativer Gewalt an die Volksversammlung gegen Ende des 5. Jhds. v. Chr. eine Art antiker Wohlfahrtsstaat bestand, der den Unterhalt des beschäftigungslosen Bürgers durch direkte Transferleistung (Dioboli) in Geld zu gewähren hatte. 21 Ähnliche Verhältnisse werden aus der republikanischen Zeit Roms während der drei Jahrhunderte vor Christi Geburt berichtet. Zwar gibt es aus der früheren patrizialen Epoche Roms nur wenig verläßliche Aufzeichnungen 22 , und es kann hier deshalb auf diesen Zeitraum nicht Bezug genommen werden. Hingegen in der genannten späteren Zeit finden sich die überwiegenden persönlichen Dienstleistungspflichten nach Vermögensklassen sowie die nur im Notfall erhobene direkte Vermögensabgabe

19 K. Häuser, Abriß der geschichtlichen Entwicklung der öffentlichen Finanzwirtschaft, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd.l, 3. Auflage 1977, S.3, 9.

20

F. Neumark, Theorie und Praxis der modemen Einkommensbesteuerung, S.61.

21 K. Häuser, Abriß der geschichtlichen Entwicklung der öffentlichen Finanzwirtschaft, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd.l, 3. Auflage, S.3, 11. 22 K. Häuser, Abriß der geschichtlichen Entwicklung der öffentlichen Finanzwirtschaft, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd.l, 3. Auflage, S.15.

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3. Kapitel: Verwirklichung des Benachteiligungsverbots

(tributum), die an die griechische Eisphora erinnert. Sie wurde nachweislich 293 v. Chr. im 3. Samniterkrieg, 168 v. Chr. gegen Ende des 3. Makedonischen Krieges und später unvollständig im Krieg um Cäsars Nachfolge 43/42 v. Chr. eher als eine Art Beitrag mit Aussicht auf Kompensation durch zu erwartende Kriegsbeute erhoben?3 Den größten Teil der Staatseinnahmen, die meist für den Kriegersold (stipendium), dann auch f"Ur das Reiterheer und die Flotte ausgegeben wurden, beschaffte sich das wachsende römische Imperium aus den Provinzen in Form von Geldern, Rohstoffen, Lebensmitteln und Schätzen aller Art. 24 Der Wechsel vom die Provinzen ausbeutenden "Raubstaat"25 zum finanzwirtschaftlich geordneteren Verwaltungs- und Steuerstaat wurde mit dem vom Kaiser Gaius Octavianus Augustus vorangetriebenen Reformwerk eingeleitet und verlieh dem römischen Reich für zwei Jahrhunderte (etwa ab 27 v. Chr.) innere und äußere Beständigkeit, die auch auf einer bis dahin nicht gekannten einheitlichen und gleichmäßigeren Steuererhebung beruhte. 26 Eine erhebliche Verbesserung der Versorgung Roms mit Getreide und die Ausbildung eines Wohlfahrtsversorgungssystems für ein Fünftel der auf eine Million geschätzten Bevölkerung aus öffentlichen Mitteln sind neben dem Aufblühen auch der Städte in den Provinzen bedeutende Zeichen der außerordentlichen Steigerung des Haushaltsvolumens. Entsprechend den erwähnten griechischen 'Transfers' ist von einer kostspieligen Wohlfahrtspolitik Roms durch öffentliche Speisungen, Wein- und Öllieferungen und deren zeitweise Ablösung durch ein Geldäquivalent zu sprechen, wohl auch zur Befriedung der Massen zu Lasten der kaiserlichen Kasse. 27

23 Weitere Einzelheiten schildert B. Laum, Entstehung der öffentlichen Finanzwirtschaft. (Altertum und Mittelalter), in: Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd.I, 1926, S.185, 203. 24 K. Häuser, Abriß der geschichtlichen Entwicklung der öffentlichen Finanzwirtschaft, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd.I, 3. Auflage, S.18. 25 F. Lütge, Finanzgeschichte, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd.III, 1961, S.580, 583.

26 Erinnert sei an "das Gebot, das von dem Kaiser Augustus ausging, wonach alle Welt geschätzet würde", Lukas 2, I.

27 K. Häuser, Abriß der geschichtlichen Entwicklung der öffentlichen Finanzwirtschaft, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd.I, 3. Auflage, S.23.

A. Realitätsgerechtes Existenzminimum bei der Einkommensteuer

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Aufschlußreich könnten ebenso die Rezeption des weströmischen Finanzwesens und dessen Weiterentwicklung durch das byzantinische Reich sein, wenn die Einzelheiten nicht von den Berichterstattern mit dem Hinweis ausgespart würden, die europäischen Verbindungen zu Byzanz seien schon im Mittelalter zu spärlich gewesen und die Einflüsse auf Mitteleuropa nicht spürbar. 28 So fmdet sich soweit ersichtlich nur der Hinweis F. Neumarks 29 auf das Existenzminimum bei den scheriatrechtlich begründeten Vorläufern der türkischen Viehsteuer?O 2. FreisteUung existenznotwendigen Lebensbedarfs im Mittelalter

Von einer etwas anderen Form eines Existenzminimums in der Karolingerzeit berichtet Alfons Dopsch. 3 \ Damals bezeichnete die sog. Hufe oder ein Vielfaches von ihr den Inbegriff dessen an geschenktem Land, was zum Unterhalt einer Familie notwendig war. An den Besitz einer oder mehrerer Hufen war die Kriegsdienstleistungspflicht geknüpft. Somit bezeichnete dieses Maß auch die Grenze, unter der die Freiheit von dieser Belastung begann. Im übrigen waren direkte Geldsteuern des Reiches im Mittelalter die Ausnahme. 32 Steuern des deutschen Königtums, die Heinrich IV., Heinrich V. und Otto IV. einzuf"Uhren versucht hatten, setzten sich gegenüber den zwischengeschalteten Fürsten, denen das Steuerwesen oblag, nicht durch. 33 Königliche direkte Steuern gab es dagegen vorwiegend in den

28 K. Häuser, Abriß der geschichtlichen Entwicklung der öffentlichen Finanzwirtschaft, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd.I, 3. Auflage, S.25. 29 Theorie und Praxis der modemen Einkommensbesteuerung, S.61. Fritz Neumark war während seiner Exilzeit von 1933 - 1951 ordentlicher Professor in Istambul. 30 Von ihr soll Seref Nur; /lianen: Türkiye vergi sisteminde hayvanlar vergisi (Die Viehsteuer im Rahmen des türkischen Steuersystems), Ankara 1943, p. 23 ff., berichtet haben. 3\ Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit vornehmlich in Deutschland, Bd.I, S.308; Bd.II, S.18. 32 F. Lütge, Finanzgeschichte, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd.III 1961, S.580, 583. In bezug auf die Einkommensteuer Großbritanniens stellt dies E.R.A. Seligman, The Income Tax, S.41 ff, fest. II Th. Mayer, Geschichte der Finanzwirtschaft und Finanzwissenschaft vom Spätmittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd.I, 1927, S.21O, 213.

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3. Kapitel: Verwirklichung des Benachteiligungsverbots

Städten und anderen reichsunmittelbaren Gebieten. Mit der stärkeren Ausbildung der landesfÜfstlichen Flächenstaaten im 13. Jahrhundert verlor die Reichsgewalt an Bedeutung. Das Schwergewicht des Finanz- und Steuerwesens verlagerte sich auf die Territorialstaaten und auf die Städte. 34 Hingegen kannten die einzelnen Fürstentümer seit dem 12. Jahrhundert eine allgemeine direkte ordentliche (Real-) Steuer, die Bede (petitio, Bittsteuer), die nach Gebäuden, Höfen, Morgen, Hufen etc. veranlagt wurde. Ferner erwähnt Georg von Schanz3s Regelungen zur Steuerfreiheit des Existenzminimums in Genua und Venedig. 36 3. Das Existenzminimum in den Gesetzen der Neuzeit

Haben auch direkte Steuern auf die Gesamtheit der Geldeinkünfte in der früheren Geschichte der Finanzwissenschaft nur eine bescheidene Rolle gespielf7, setzen die Zeugnisse über die bedeutsameren Ahnen der modernen Einkommensteuer spätestens mit den Darstellungen insbesondere der großbritannischen und der preußischen Gesetze vom Ende des 18. Jahrhunderts ab ein. Seit dieser Zeit läßt sich die Schwankungsbreite des Existenzminimums genauer skizzieren. Die Entwicklung Englands ist durch eine relativ frühe Ausbildung direkter Steuern im Vergleich etwa zu Deutschland und Frankreich gekennzeichnees War auch bei den ersten englischen Einkommensteuergesetzen

]4 F. Lütge, Finanzgeschichte, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd.II1 1961, S.580, 586.

]5 Existenzminimum und seine Steuerfreiheit, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd.II1, 4. Aufl. 1926, S.911, 914. ]6 H. Sieveking, Genueser Finanzwesen vom 12. bis 14. Jahrhundert, S.127 ff., auf den G. von Schanz hinweist, schildert das seit dem Ende des 13. Jahrhunderts in Venedig und Genua gültige Bündel von direkten Steuern, von denen ein Drittel als Kopf-, die übrigen als Vermögensteuern erhoben wurden. Auf ein Vermögen von 300 € war in Venedig keine Steuer zu zahlen, in Genua wurden bestimmte niedrige Steuerstufen nicht erhoben, sondern den höheren Steuerstufen zugeschlagen. Väter von Großfamilien mit 12 Kindern genossen Steuerfreiheit für eine Stadt- und eine Landwohnung, dazu H. Sieveking, Genueser Finanzwesen vom 12. bis 14. Jahrhundert, S.132.

]7 B. Groß/eid, Die Einkommensteuer, Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, 504/505, S.8. ]a F. Lütge, Finanzgeschichte, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd.II1 1961, S.580, 589.

A. Realitätsgerechtes Existenzminimum bei der Einkommensteuer

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an eine umfassende tatsächliche Erfassung verschiedener Einkommensquellen noch nicht zu denken, weil niemand der umfangreichen Bekenntnispflicht nachkam 39 und somit faktisch weit größere Einkommensbeträge steuerfrei waren, enthielt bereits der erste Versuch Premierminister William Pitts nach dem mißglückten "TripIe Assessment" Ansätze dahingehend, möglichst viele Ertragsquellen zu erfassen, sowie ein steuerfreies Existenzminimum von 60 f, und spezifische Kinderabzüge zu berücksichtigen. 40 Bis zu einem Einkommen von 200 f, stieg der Stufentarif von einem Hundertzwanzigstel bis zu einem Zehntel des Einkommens an. 41 Die wenig später bei Wiederausbruch des Krieges 1803 durch Schatzkanzler Addington, W. Pitt's Nachfolger, wiedereingeltihrte "Ertragsteuer mit Einkommensteuermomenten"42 verringerte die Kinderabzüge ein wenig 43 und führte als wichtige Neuerung den Quellenabzug innerhalb eines Sehe dulensystems (Schedula = Abteilungen) ein. 44 Dies war im Hinblick auf die Berücksichtigung persönlicher Verhältnisse gegenüber vorher kein Fortschritt, denn es wurde nicht das (Gesamt-)Einkommen des Empf"angers ermittelt, sondern vielmehr nur einzelne Erträge, bevor sie zu Einkommen des persönlichen Empf"ängers wurden ohne Rücksicht auf unterschiedliche Leistungsf"ahigkeit wechselnder Einkommensgrößen. 4s Nach einer Phase alleiniger Aufwandsbesteuerung von 1816-1842 überzeugte der neue Pre-

39

S.3.

H. Arendt, EntwicklWlg Wld innerer Aufbau der englischen Einkommensteuer,

40 F. Harzendorf, Die Einkommensteuer in England, S.23 ff.; H. Teschemacher, Die Einkommensteuer, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd.II, 1927, S.65, 110; dies war das Gesetz vom 9. Januar 1799 mit degressiv abfal1enden Kinderabzügen, näheres bei E.R.A. Seligman, The Income Tax, S.78 f.

41 Eine genaue zeitliche Übersicht der Steuersätze der kleinen Einkommen fmdet sich bei A. Wagner, Finanzwissenschaft, III. Bd., Speziel1e Steuerlehre, bearbeitet Wld fortgeführt von H. Deite, 2. Buch, Die britische BesteueTWlg im 19. JahrhWldert Wld bis zur Gegenwart, 2. Auflage, S.26 f.

42 So wörtlich W. Vocke, Geschichte der Steuern des britischen Reichs, S.530 f. in der Fußnote *); die Steuer war auf zwei Gesetze verteilt, das erste betraf die Einkünfte aus Immobiliarbesitz Wld PachtWlgen Wld öffentlichen Anstel1Wlgen Wld das zweite die aus Geldkapital Wld Gewerben im weiteren Sinne, so W. Vocke, a.a.O., S.528. 43

W. Vocke, Geschichte der BesteueTWlg des britischen Reichs, S.529.

44

E.R.A. Seligman, The Income Tax, S.90.

45 H. Teschemacher, Die Einkommensteuer, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd.II, 1927, S.1l3 f.

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3. Kapitel: Verwirklichung des Benachteiligungsverbots

mienninister Robert Peel in einer erfolgreichen und berühmten Rede am 11. März 1842 das Parlament von seinem Entwurf einer Einkommensteuer, der jedoch die Errungenschaften der geringf"ugigen Besserstellung des Arbeitseinkommens, die Kinderabzüge und Lebensversicherungsabzüge aus Gründen der Verwaltungseffizienz und wegen Hinterziehungsmöglichkeiten wieder abschaffte. 46 Wegen des mehrdimensionalen Instrumentariums zur Berücksichtigung des Existenzminimums und des Familienstandes lohnt ferner ein Blick auf die Geschichte der französischen Einkommensteuer. Das Misch-System von Steuerabzügen und Steuerennäßigungen des "impöt general sur le revenue" vom 15.7.1914, des ersten bedeutenden Einkommensteuergesetzes Frankreichs, und der im Aufbau des Steuersystems unter ihm liegenden Ertragsteuern47 führte in Verbindung mit einem stark progressiven Teilmengenstaffeltarif zu großen Schwankungen in der Steuerbelastung. 48 Auf Einzelheiten der komplizierten Berechnung wird an dieser Stelle verzichtet. 49 Zunächst wurde innerhalb der einzelnen Schedulen wegen des Existenzminimums des Haushaltsvorstandes die Bemessungsgrundlage gekürzt. Bei der Lohnsteuer standen dem Haushaltsvorstand nach dem Gesetz vom 30.3.1923 6.500 Fr., dem Ehegatten und jedem minderjährigen Kind je 3.000 Fr. sowie anderen unterhaltenen Personen 2.000 Fr. als Freigrenzen zu. so Hinzu kam eine nur hälftige Einbeziehung des Einkommens in der ersten Tarifteilmenge. Diese steuerfreien Einkommensteile waren so bedeutend, daß die verheirateten Arbeiter aus der Einkommen-

46

S.5.

H. Arendt, EntwicldWlg Wld innerer Aufbau der englischen Einkommensteuer,

47 Diese Ertragsteuern zerfielen in zwei Gruppen: Die erste Gruppe bildeten die Gebäudesteuer, die Grwtdsteuer Wld die Kapitalrentensteuer als reine Ertragsteuern mit festem Steuersatz fast ohne weitere Abzüge. Zur zweiten Gruppe gehören die der Einkommensteuer ähnlicheren Schedulensteuern auf das gewerbliche Einkommen, auf den Betrieb der Landwirtschaft, die Lohnsteuer, die Steuer auf die freien Berufe Wld die Steuer auf gewisse Kapitalerträge. Eine ZusarnrnenrechnWlg des Gesamteinkommens folgte dann im Rahmen des "impöt general" bei der AnwendWlg der Regeln über den Hausstand des Steuerpflichtigen. 48 J. Popitz, Einkommensteuer, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd.III, 4. Auflage, S.400, 478 fl, insbesondere S.483. 49

Sie werden aber bei J. Popitz, a.a.O., S.400, 479 ff. im einzelnen dargestellt.

so

F. Scholz, Grwtdriß des französischen Steuerrechts, S.14 f.

A. Realitätsgerechtes Existenzminimum bei der Einkommensteuer

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steuer ganz herausfielen. 51 Darüber hinaus wurde auch bei den anderen Schedulen die zu zahlende Steuer nach dem Familienstand für jede unterhaltene Person um 7,5 % (bei Gesamteinkommen von über 10.000 Fr. nur 5 %), von der vierten an um 15 % (10 %), jedoch nicht über 300 Fr. pro Person ermäßigt.52 Johannes Popitz berechnet an dem Beispiel eines verheirateten Bankangestellten mit Ehefrau und 2 Kindern mit einem Gesamteinkommen von 20.000 Fr. eine reale Steuerbelastung im Jahre 1914 von nur 0,6 %, obwohl der absolute Spitzensteuersatz beachtliche 60 % erreicht hatte. 53 An diesem zwischen Sonderregeln der Lohnsteuer und denen der anderen Schedulen kumulierenden Begünstigungen ist besonders der Vorwurf der Irrationalität und Willkür angebrachf 4 , die sich auch in der Kompliziertheit der Steuerberechnung fortsetzen.

Für die Freilegung der Wurzeln der modernen Einkommensbesteuerung soll dieser kurze Streifzug vom weiteren schwankenden Schicksal der Berücksichtigung eines existenznotwendigen Bedarfs in Großbritannien 55 und Frankreich zu der Entwicklung in Deutschland führen. Sie zu betrachten, erleichtern die Darstellungen von Johannes Popitz 56, Rolf Grabower 57 und Georg von Schanz'.58 "Versteht man ... unter Einkommen die Gesamtheit aller derselben Person zufließenden Reinerträge der einzelnen Quellen, SI J. Popitz, Einkommensteuer, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd.III, 4. Auflage, S.400, 481. S2

F. Scholz, Grundriß des französischen Steuerrechts, S.6 f.

53 J. Popitz, Einkommensteuer, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd.III, 4. Auflage, S.400, 482 f. 54 Dieser Ansicht ist auch W. Albers, Die Einkommensbesteuerung in Frankreich seit dem ersten Weltkrieg, S.245, in bezug auf die Regelungen bis 1949. Er gibt in den Übersichten des genannten Buches eine genaue Zusammenstellung der französischen Regelungen von 1917 - 1955. 55 Nur noch am Rande sei vermerkt, daß im Jahre 1876 die Steuerfreigrenze auf 150 f., 1894 auf 160 f. erhöht und Kinderabzüge von Lloyd George 1906 wieder eingeführt wurden, so H. Arendt, Entwicklung und innerer Aufbau der englischen Einkommensteuer, S.7 ff. S6

439 ff. 57

Einkommensteuer, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd.III, S.400, Preußens Steuern vor und nach den Befreiungskriegen, Berlin 1932.

Existenzminimum und seine Steuerfreiheit, in: Handwörterbuch der Staatswissensehaften, Bd.III, 4. Auflage, S.911 ff. 58

96

3. Kapitel: Verwirklichung des Benachteiligungsverbots

vermindert um die vom Gesetze zugelassenen nicht bereits wegen ihres wirtschaftlichen Zusammenhangs mit einer einzelnen Quelle an deren Ertrag gekürzten Ausgaben, ... so wird man das Reglement von 1808 als eine echte Einkommensteuer anzusehen haben".s9 Dieses Reglement, das im Bewußtsein der Schwierigkeiten mit der Pittschen Einkommensteuer entworfen war und dem ein nachteiliger wirtschaftlicher Einfluß durch den Freiherrn vom Stein zugemessen wurde, enthielt eine Steuerfreiheitsstufe von 100 Rtlrn. bei stark progressivem Tarifstaffelsystem. 60 Die weitere Entwicklung der preußischen Gesetze von dem des 30.5.1820, über das Gesetz vom 1.5.1851 über die "Klassen- und klassifizierte Einkommensteuer" bis zum Gesetz vom 23.3.1883 ist durch die allmähliche EinlUhrung und den schrittweisen Ausbau von Einkommensklassen und einer Erhöhung der Freigrenze für das Existenzminimum auf 900 M. gekennzeichnet. 61 Allerdings wurde in den Provinzen und Gemeinden mitunter das Existenzminimum nicht steuerfrei gelassen, sondern auf untergesetzlicher Ebene gleichwohl mit niedrigen Steuersätzen versehen. 62 Die einzelnen Bundesstaaten hatten ähnliche Steuergesetze. 63 Die Regelungen des bayerischen Gesetzes vom 4.6.1848 enthielten großzügige Steuerbefreiungen für unverheiratete Personen mit Einkommen unter 250 fl, für Familien mit mehr als 3 unterhaltenen Kindern bis zu einem Einkommen von 500 fl mit der Folge, daß ganze ländliche Gemeinden steuerfrei waren, wenn auch diese Regelung außerdem sehr zur Steuerhinterziehung genutzt wurde. 64 Dieser Versuch einer Einkommensteuer festigte sich erst mit dem Reformgesetz vom 14.8.1910, das natürlichen Personen ein Existenzminimum von 600 M. gewährte, nichtphysischen Personen eines in

59

R. Grabower, Preußens Steuern vor und nach den Befreiungskriegen, S.197.

60

R. Grabower, Preußens Steuern vor und nach den Befreiungskriegen, S.198.

J. Popitz, Einkommensteuer, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd.lII, S.400, 440; näheres zur Entwicklung von Einkommensklassensteuern bei R. 61

Grabower, Preußens direkte Steuern vor und nach den Befreiungskriegen, S.502 ff.

62 So geschehen im "Reglement das Kriegsschuldenwesen der Provinz Ostpreußen und Litauen und der Stadt Königsberg betretTend vom 23. Februar 1808", zitiert nach R. Grabower, Preußens Steuern vor und nach den Befreiungskriegen, S.215 und 226. 63 Eine genaue Aufstellung über Gesetze, Aufkommen, Tarifstruktur und Existenzminima für 1926 fmdet sich beiJ. Popitz, Einkommensteuer, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd.III, S.400, 443 tT.

~

G. v. Schanz, FA Bd.17 (1900), S.551, 585.

A. Realitätsgerechtes Existenzminimum bei der Einkommensteuer

97

Höhe von 200 M. 65 Zum Vergleich betrug das Existenzminimum in Sachsen 400 M., in Württemberg und Hessen 500 M. Das badische Einkommensteuergesetz vom 20.6.1884, geändert durch Gesetz vom 27.5.1910, enthielt einen Betrag von 900 M., ebenso das Hamburgische Gesetz von 1903/09. Das steuerfreie Existenzminimum betrug allgemein in den übrigen deutschen Staaten zwischen 300 und 1.000 M., wobei es sich in der Regel um eine Steuerfreigrenze und nicht um einen Steuerfreibetrag handelte. Je nach Kinderzahl und Gesamteinkommen gab es eine größere oder kleinere Herabstufung in der Tarifstufenleiter, Preußen folgte mit dem Gesetz vom 24.6.1891 66 den Städten Hamburg und Lübeck und ging weiteren Staaten voran. Einer Technik des flexiblen Steuerfreibetrages von 1500 M. für jeden Steuerpflichtigen bediente sich das deutsche Reichseinkommensteuergesetz vom 29.3.1920. 61 Es löste die Landeseinkommensteuern ab. Weitere Abzüge von 500 M. pro mitveranlagter haushaltsangehöriger Person kamen hinzu, verbunden mit einem Zuschlag bei besonders niedrigem Gesamteinkommen von unter 10.000 M., § 20 Abs.2 - 5. Für Steuerpflichtige, die nicht zum Haushalt des Steuerpflichtigen gehörten, konnte derselbe Betrag abgezogen werden, solange ihr eigenes Einkommen die Höhe des Abzugsbetrages nicht erreichte. Allerdings unterlag - wie bereits erwähnt - die endgültige Bestimmung der Höhe des steuerfreien Existenzminimums nach dem Gesetz vom 30.3.192068 der lokalen Besteuerungsgewalt der Gemeinden. Jedenfalls war dies der Plan des Gesetzgebers. Anstatt damit den Ausgleich örtlicher Kaufkraftunterschiede des Geldes herbeizuführen, begannen die durch das Reich in Anspruch genommenen Gemeinden, das vom Reichsgesetz frei-

6S J. Popitz, Einkommensteuer, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd.III, S.400, 443. 66 (GS. S.175), abgedruckt inB.A. GrotesendlC. Cretschmar, Preussisch=deutsche Gesetz=Sammlung 1806 - 1904, Bd.II, S.479; hier insbesondere § 18: Steuerabzug von 50 M. pro Familienmitglied unter 14 Jahre, sofern das Gesamteinkommen nicht 3.000 M. überschritt. Vom 2. Kind ab wurde im Tarif herabgestuft bis zu maximal 3 Stufen, vgl. § 19. 67

Reichsgesetzblatt 1920, Nr.57, S.359, § 20 Abs.l.

68

"Landessteuergesetz" , Reichsgesetzblatt 1920, Nr.60, S.402, insbesondere §§ I,

7-9.

7 Lingemann

98

3. Kapitel: Verwirklichung des Benachteiligungsverbots

gelassene Existenzminimum so weit wie möglich einzuschränken. 69 Kurze Zeit später wurde dieses Besteuerungsrecht der Gemeinden durch die EinIührung eines allgemeinen Abzugsbetrages von der Steuerschuld mit der Gesetzesnovelle vom 24.3.1921 wieder abgeschafft und ist somit kaum praktisch geworden. 70 Die nun nach Anwendung des Tarifs eingeführte Steuerermäßigung betrug für den Steuerpflichtigen und jeden Haushaltsangehörigen 120 M. bis zu einem Gesamteinkommen von 60.000 DM, 60 M. bei Einkommen zwischen 60.000 und 100.000 M. Die Steuerermäßigungen betreffend die zusammenveranlagten haushaltsangehörigen minderjährigen Kinder übertrafen diese Beträge sogar noch: 180 M. konnten abgezogen werden, solange das Gesamteinkommen 24.000 M. nicht überstieg. 7 ) Georg von Schanz bewertet diese Abzüge allerdings u.a. auch wegen fortschreitender Inflation (insbesondere 1921-1923) als zu gering. Von einer Freibetragslösung machte der Gesetzentwurf vom 23.4.1925 Gebrauch. Betrug das Gesamteinkommen weniger als 900 M., unterblieb die Steuerfestsetzung. Sodann betrug der Freibetrag IUr das Existenzminimum 600 M. IUr Gesamteinkommen unter 12.000 M. Die Steuernotverordnung vom 19.12.1923 bediente sich schließlich zum Ausgleich geminderter steuerlicher LeistungsIähigkeit der Familie einer Steuertarifsenkung. Der Steuersatz von 10 % in der ersten Einkommenstufe bis zu 8.000 RM verringerte sich pro weiterem Kopf neben dem Steuerpflichtigen um je 1 %. Der in dieser progressiv ansteigenden Steuererleichterung liegende Effekt wurde von Georg von Schanz dem bei größeren Einkommen auch höher liegenden Unterhaltsaufwand zugeschrieben. Der Abzug von der Steuerbemessungsgrundlage der Lohnsteuerpflichtigen lag mit 720 RM etwas höher. In ihm war neben dem Existenzminimum außerdem ein Werbungskostenpauschbetrag enthalten. Im übrigen galten die bereits erwähnten familienbedingten Steuersatzermäßigungen mit einer Verdoppelung des Kin69 G. v. Schanz, Existenzminimum und seine Steuerfreiheit, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd.III, 4. Auflage, S.911, 915.

70 "Gesetz zur Änderung des Einkommensteuergesetzes vom 29. März 1920", Reichsgesetzblatt 1921, Nr.34, S.313. G. v. Schanz, Existenzminimum und seine Steuerfreiheit, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd.III, 4. Auflage, S.911, 915; J. Popitz, Einkommensteuer, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd.III, 4. Auflage, S.400, 446. 71 § 26 des Einkommensteueränderungsgesetzes, Reichsgesetzblatt 1921, Nr.34, S.316; hierzu J. Popitz, a.a.O., S.447.

A. Realitätsgerechtes Existenzminimum bei der Einkommensteuer

99

derabzugs vom 3. Kind ab. Das Einkommensteuergesetz vom 10.08.1925 kehrte unter Beibehaltung des Freibetrages für den Haushaltsvorstand zu einem System von Abzügen von der Steuerbemessungsgrundlage zuruck 72, und zwar für den Ehegatten und das erste Kind 100 RM, für das zweite Kind 180 RM, das dritte Kind 360 und für jedes weitere Kind je 450 RM. Die Steuerpflichtigen mit Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit hatten im Vergleich hierzu höhere Abzüge. 73 Das Einkommensteuergesetz vom 16.10.193474 ging nicht von den steuerlichen Verhältnissen des unverheirateten Steuerpflichtigen aus, sondern von zusammen zu veranlagenden Ehegatten. 7s Das Existenzminimum wurde durch einen steuerfreien Einkommensteil von 720 RM bei Kinderlosen, 840 RM bei Steuerpflichtigen mit Kinderermäßigung berücksichtigt, der nach Familienstand gestaffelt war und von einer Einkommensgrenze von 3.000 RM bzw. 6.000 RM ab auf Null abfiel. Ein Steuervorteil der zusammenveranlagten Eheleute ergab sich dadurch, daß die Steuer der Ledigen mit einem Zuschlag versehen war, der die Steuerschuld auf 160 % gegenüber den Verheirateten erhöhte. Diese bevölkerungspolitische Maßnahme wurde dann im EStG 1939 noch weiter auf 180 % ausgebaut und durch eine Steuererhöhung für kinderlos Verheiratete auf 140 % ergänzt. 76 Ledige wiederum als Grund/all behandelte das Kontrollratsgesetz Nr.12 von 1945 77, das bei den Einkünften aus Löhnen, Gehältern und freien Berufen ein Existenzminimum von 10 % des Einkommens, höchstens aber 1.000 RM gewährte, sowie Freibeträge von 600 RM für den Ehegatten und dann je Kind um 400 RM erhöhte Kinderfreibeträge, beginnend bei 1.000 RM für das erste Kind. Zusätzlich ermäßigte sich auch der Teilmengenstaffeltarif. Verheiratete wurden ungünstiger behandelt als Ledige.

72

§ 52 EStG 1925, Reichsgesetzblatt I, Nr.39, S.189, 199 f.

§ 70 Abs.l, 2 EStG 1925: 600 RM + 180 RM (Existenzminimwn und Werbungskostenpauschbetrag), 180 RM Sonderleistungspauschbetrag, ferner für jeden weiteren Kopf der Familie einen Abzug von 10 % des Arbeitslohnes, der die genannten Freibeträge übersteigt, mindestens jedoch 120 RM für den Ehegatten, für das erste Kind 120 RM, für das zweite 240 RM, das dritte 480 RM und für jedes weitere Kind 600 RM. 73

74

Reichsgesetzblatt I 1934, 1005.

75

BlümichlStäuber, § 32 EStG Rz.9.

76

BlümichlStäuber, § 32 EStG Rz.9.

77

Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland vom 28.02.1946, Nr.4, S.60, 68 f.

100

3. Kapitel: Verwirklichung des Benachteiligungsverbots

Dies führte schließlich zu dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 27.1.195778, das die Zusammenveranlagungsvorschrift des § 26 EStG für nichtig erklärte. Die weitere Entwicklung des Grundfreibetrages vom StÄndG 1958 bis heute besteht in der Erhöhung dieses Freibetrages von 1.680 DM für die Jahre 1958 bis 1974, auf 3.000 DM für die Jahre 1975 bis 1978, auf 3.690 DM für die Jahre 1979 bis 1980 (ergänzt durch den von der Bemessungsgrundlage abzuziehenden allgemeinen Tariffreibetrag von 510 DM), auf 4.212 DM für die Jahre 1981 bis 1985, auf 4.536 DM für die Jahre 1986 bis 1987, auf 4.752 DM für die Jahre 1988 bis 1989 und auf 5.616 DM für 1990/91. 79 Die so weit skizzierte geschichtliche Entwicklung der steuerlichen Berücksichtigung des existenznotwendigen Lebensbedarfs hat ein äußerst vielseitiges Bild von Regelungstechniken ergeben. Dieser Befund gilt auch für den Umfang der Freistellung. Eine feste Gesetzmäßigkeit hiernach zu behaupten, wäre wohl kaum möglich, auch wenn es interessant wäre zu sehen, ob der Gedanke der Abstimmung von Steuer- und Sozialrecht in anderen Ländern schon weiter gediehen ist als in der Bundesrepublik Deutschland80; ebenso kann aber das Prinzip eines Existenzminimums im Steuerrecht als solches nicht in Frage stehen. In diesem Bewußtsein haben sich die Steuerwissenschaften mit dem Problem der Quantifizierung des Existenzminimums bereits früh beschäftigt und versucht, eine stringente Regel für dessen Bemessung zu fmden.

v. Die gegenwärtigen internationalen Existenzminimumnormen

1. Die Weiterentwicklung des deutschen Grundfreibetrages

Zunächst dachte die Bundesregierung - anders als in bezug auf den Kinderfreibetrag - nur sehr zögernd daran, den Grundfreibetrag weiter auf

7.

1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55.

79 Eine Übersicht über die Entwicklung des Grundfreibetrages seit 1958 gibt D. Dziadkowski, BB 1991,805,809. 80 Hierzu das Balkendiagramm zum Existenzminimum in den europäischen und anderen ausgewählten Ländern, S.103.

A. Realitätsgerechtes Existenzminimum bei der Einkommensteuer 101

eine realitätsgerechte Höhe zu bringen. 81 Sie berief sich gegenüber diesem Anliegen auf das bereits erwähnte Urteil des Bundesfmanzhofs82, wonach die Grundfreibeträge 1986 bis 1988 verfassungsgemäß seien. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Grundfreibetragsbeschluß83 ebenso die genannten Grundfreibeträge verworfen. Nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit der Grundfreibeträge hat das Bundesfmanzministerium durch Verwaltungserlaß als Übergangsregelung eine Tarifkorrektur rur "Erwerbs"einkommen zwischen Null und 15.012/22.787 DM eingeführt. 84 In dieser Übergangsregelung wird rur alle Erwerbseinkommen bis einschließlich 12.041/19.115 DM die Einkommensteuerschuld auf Null korrigiert, für darüberliegende Einkommen bis zu den zuerst genannten Einkommensgrenzen die Steuerbelastung an den ursprünglichen Tarifverlauf herangefUhrt. Nach Zeitungsmeldungen soll diese Übergangsregelung dann vom Gesetzgeber übernommen werden, wenn die Anweisungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Grundfreibetragsbeschluß umgesetzt werden. 8s Allerdings sind gegen diese Übergangsregelung dieselben Einwände wie gegen den Grundfreibetragsbeschluß des Bundesverfassungsgerichts dahingehend zu erheben, daß sie nur diejenigen von einer Besteuerung des Existenzminimums freistellt, die dieses anderenfalls durch die Einkommensteuerzahlung auch tatsächlich angreifen müßten. 86 Für alle übrigen Steuerpflichtigen bleibt es bei einer gegenüber der Übergangslösung geringeren Freistellung des existenznotwendigen Lebensbedarfs. Sie werden insofern diskriminiert. Der vom Bundesverfassungsgericht neu geschaffene und von der Übergangsregelung übernommene Begriff des "Er_

81 So jedenfalls die noch abwehrende Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf die entsprechende Frage der Abgeordneten Ingrid Matthäus-Maier, BMF-Finanznachrichten, Nr.58/9I, vom 25.9.1991, S.3, sowie der SPIEGEL-Bericht in der Ausgabe Nr.1411992, vom 30.3.1992, S.33 ff. 82

BFH BStBl. 1990, 969, 972.

83

NJW 1992,3153.

84

BMF BStBl. I 1992, 736; BStBl. I 1993, 14.

Dies sieht der Entwurf eines Steuerbereinigungsgesetzes 1993 vor, HANDELSBLATT vom 22.2.1993, Nr.36, S.4; vom 17.3.1993, Nr.53, S.4. 8S

86

Vgl. schon S.79 und S.86.

102

3. Kapitel: Verwirklichung des Benachteiligungsverbots

werbseinkommens" mit' der Hinzurechnung von Verlustabzugsbeträgen, Abzugsbeträgen der Wohnungsbauforderung und insbesondere der durch den hohen Sparerfreibetrag steuerfreien Einnahmen aus Kapitalvermögen und weiterer Beträge 87 erzeugt für den Steuerpflichtigen im Lohnsteuerabzugsverfahren nicht nur aufwendige obligatorische Einkommensteuerveranlagungsverfahren, sondern verwirrende und schmerzliche Einkommensteuernachforderungen. Mit der HeranfUhrung der Steuerbelastung im Übergangsbereich zum ursprünglichen Einkommensteuertarif werden die dann beginnenden disponiblen Einkommen zum Teil mit bis zu 60% überproportional hoch im Verhältnis zu denen im weiteren Tarifverlauf belastet. Dies widerspricht der Tarifanforderung, daß möglichst keine Progressionssprünge stattfmden sollten, die die vertikale Steuergleichheit im Verhältnis geringerer zu höheren Einkommen außer acht lassen. 88 Der Ansatz, bei nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten die Haushaltsersparnis in Abzug zu bringen, soll nach den weiteren Plänen des Gesetzgebers zurückgenommen werden, indem das Ehegattenexistenzminimum stufenweise für 1994 auf 2l.000 DM und für 1995 auf 23.000 DM erhöht wird. Dies läßt sich nur damit erklären, daß dem Bundesministerium der Finanzen bislang noch keine Lösung vorschwebt, die Haushaltsersparnis auch bei anderen Lebensgemeinschaften zu berücksichtigen. Der haushaltsmäßige Spielraum zu einer konsistenten Freistellung des Existenzminimums ist gegenüber der Situation der Steuerreform 1990 denkbar gering. 2. Das steuerliche Existenzminimum der EG-Mitgliedstaaten und ausgewählter anderer Länder

Auch ein Blick auf die gegenwärtige Regelung des Existenzminimums in den Steuerrechtsordnungen der Welt ergibt, daß die Regelungstechniken und absoluten Höhen recht unterschiedlich sind und die Bundesrepublik Deutschland - jedenfalls nach noch bestehender gesetzlicher Regelung - bei weitem kein Vorreiter der Freistellung des Existenzminimums ist. Die nun folgende Übersichtsgraf'tk beruht auf der Zusammenstellung des Bundesfmanzministeriums, abgedruckt in BMF-Informationsdienst zur

17 Vgl. den Katalog für das Einkommensteuervorauszahlungsverfahren, BMF BStBl. I 1993, 14. 88

So auch explizit das Bundesverfassungsgericht, NJW 1992,3153, unter 2.

A. Realitätsgerechtes Existenzminimum bei der Einkommensteuer 103

Finanzpolitik des Auslands vorn 23.9.1991 89, und bezieht sich auf den Alleinstehenden. Natürlich ist dieser Vergleich für sich allein in seiner Aussagekraft deshalb beschränkt, weil selbst die angegebenen Beträge in Deutscher Mark nicht ohne weiteres an den deutschen Verhältnissen zu messen sind. Jedes Land hat seine eigene Kaufkraft und seine eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse. Ungenauigkeiten ergeben sich weiter aus der unterschiedlichen Behandlung von Sonderausgaben und weiteren Aufwendungen der persönlichen Lebenssphäre, die steuerlich berücksichtigt werden. Ein Vergleich der Übersichten 1991 und 198990 ergibt jedoch erstaunlicherweise, daß in den Niederlanden der Freibetrag sich um 2.449 DM verringert hat, während insgesamt der Durchschnitt der Erhöhungen entsprechender Beträge immerhin 797,14 DM beträgt. In Japan, Kanada und den USA auf Bundesebene hat die Geldentwertung mangels Aufstockung zu einer Verringerung des Existenzminimums um bis zu 490 DM (allerdings noch nicht über den Tarif umgerechnet) geführt. Ein Abzug von der Steuerschuld besteht nur in fünf von 22 untersuchten Systemen, eine Nullzone im Tarif immerhin in sechs, ein Abzug von der Steuerbemessungsgrundlage in acht Ländern. Den höchsten nominellen Betrag an Freistellung, hier als Nullzone im Tarif, hat Spanien91 , gefolgt vorn Staat New York (mit einern hohen Werbungskosten- und Sonderausgabenpauschbetrag) und der Schweiz auf Bundesebene. Es folgt nun eine Übersichtstabelle zum Vergleich der Existenzminimumregelungen der EG-Mitgliedstaaten und anderer ausgewählter Länder, erstellt nach den Angaben des Bundesfmanzministeriums:

Az.: IA 7 - Vw 9035 - 9/91, S.6. BMF Infonnationsdienst zur Finanzpolitik des Auslands vom 17.10.1989, Nr.l/1989, Az. I A 2 - Vw 9035 - 8/89. 91 Allerdings bezogen auf den Veranlagungszeitraum 1991. Ab 1992 gilt hingegen ein im Zusammenhang mit der Einfühnmg der getrennten Veranlagung von Ehegatten geändertes, niedrigeres Existenzminimum von nur 400.000 Pts für Einzelpersonen, Ley 18/1991, de 6 de junio 1991, Boletin Oficial des Estado NO.136 vom 7.6.1991, S.18665. 89 90

104

3. Kapitel: Verwirklichung des Benachteiligungsverbots

Belgien Dinemarlc

BRD Fronkreich Griechenland Großbrilorulien Irland

Italien Luxemburg Niederlande Portugal

Spanien Japan

Kanada ÖStt:neich Schweiz

USA

FreisteUungstechniken IBFreibetng CNuIIzone CJSteuerbetngsennißigung

(Graf'Ik: Wolfgang Lingemann)

A. Realitätsgerechtes Existenzminimum bei der Einkommensteuer 105

VI. Quantifizierung des existenznotwendigen Lebensbedarfs 1. Überholte und ungeeignete Versuche

1925 wollte der Ökonom Ernst Günther92 das Existenzminimum nicht nach dem Bedarf des einzelnen Steuerpflichtigen, sondern mit Hilfe des Gesamtbedarfs des Reiches und der Einkommensverteilungsstatistik berechnen. Hierbei setzte er - indem er sich quasi einen Gesamtkörper mit einem Einkommen in Höhe des Volkseinkommens vorstellte mit einem Grundbedarf L."l Höhe des Steuerbedarfs - das steuerfreie Existenzminimum mit Hilfe des Steuerbedarfs an. Nach seiner Methode sollte bei einem feststehenden Teilmengenstaffeltarif und anhand der Einkommensverteilung von den niedrigsten Einkommen aufsteigend das Steueraufkommen so lange addiert werden, bis das Steueraufkommen genau dem Gesamtsteuerbedarf entsprach. Die dann erreichte Einkommensstufe sollte dann die Grenze des steuerfreien Existenzminimums der steuerpflichtigen Bürger bilden. Diese Art der Bestimmung sei praktisch, objektiv und willkürfrei, weil an dem öffentlichen Gesamtbedarf orientie~3, eine wohl kaum nachzuvollziehende These. E. Günther bestimmt damit also aus einer zur heutigen Sicht genau umgekehrten Weise den Staatsfmanzbedarf zur obersten Maxime der Besteuerung und erklärt damit aus heutiger Sicht den Schutz der Menschenwürde und das Bezogensein allen staatlichen Handelns auf sie für nachrangig. Eine solche Betrachtung stellte aber die jetzigen Wertungen des Grundgesetzes auf den Kopf. Sie hat soweit ersichtlich und verständlicherweise keine Anhänger für sich gefunden. Vielmehr arbeiten seit Anfang der 80er Jahre sowohl die Wirtschaftsund Sozialwissenschaft als auch die Rechtswissenschaft an einem Konzept zur Bestimmung des für die Steuerzahlung nicht disponiblen Einkommens: der Harmonisierung sozialrechtlicher Wertsetzungen mit den Elementen der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer. Hier kommt vor 92

Existenzminimum und Steuermaximum, S.14 ff.

93 E. Günther, Existenzminimum und Steuermaximum, S.18; G. v. Schanz, Existenzminimum und seine Steuerfreiheit, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd.III, 4. Auflage, S.911, 914 li. Sp. Fn. I, hat hierzu die Abhängigkeit des von E. Günther vorgestellten Steuersystems vom Volkseinkommen bemängelt, das man aber erst nach bereits vollständig durchgeführter Veranlagung kenne. Im übrigen sei der Vorschlag "interessant".

106

3. Kapitel: Verwirklichung des Benachteiligungsverbots

allem den Vorgaben des Sozialhilferechts, aber auch anderer Rechtsgebiete Bedeutung zu. 2. Orientienmgsmaßstäbe der Bemessung steuerrechtlicher Existenzminimumnormen: Sozialhilferecht oder Zivilrecht (Unterhalts recht) oder Pf"andungsfreigrenzen?

Nicht nur das Steuerrecht, sondern auch einige andere Rechtsgebiete kommen ohne die Quantifizierung des existenznotwendigen Lebensbedarfs als Eingriffsgrenze bzw. Mindestzuteilungsniveau nicht aus. Das zivilrechtliche gesetzliche Unterhaltsrecht hat Inhalt und Höhe des Verwandtenunterhalts (§§ 1601 bis 16150 BGB), des Familienunterhalts (§§ 1360 bis 1360b BGB) sowie den Unterhalt getrennt lebender Eheleute (§ 1361 BGB) und denjenigen geschiedener Eheleute (§§ 1570 ff. BGB) zum Gegenstand. 94 Dabei geht es um die Ausf"lillung unbestimmter Rechtsbegriffe, vornehmlich um die gleichmäßige, rechtssichere Bestimmung des "angemessenen Unterhalts" durch die ordentlichen Gerichte. 9s Das Sozialhilferecht als Konkretisierung insbesondere des grundgesetzlichen Sozialstaatsauftrags (und der Art. 1, 2, 19 GG) soll durch Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 11 bis 26 BSHG) und Hilfe in besonderen Lebenslagen (§§ 27 bis 75 BSHG) die bei allen Menschen vorhandenen Grundbedürfnisse im Wege der Hilfe zur Selbsthilfe sicherstellen und besondere Bedarfssituationen befriedigen. 96 Daher ist auch die Sozialhilfe zunächst auf die Bestimmung dieses Bedarfs angewiesen. Ferner bieten die Schuldnerschutzregeln der Zivilprozeßordnung über die Unpfändbarkeit bestimmter Sachen (§ 811) und namentlich die Regeln über den Pfändungsschutz von Arbeitseinkommen mit ihren Mindestbeträgen (§§ 850 ff.) einen wichtigen Anhaltspunkt für die Quantifizierung des notwendigen Lebensbedarfs. Diese Regeln erhalten über die zahlreichen verwaltungsvollstreckungsrechtlichen Verweisungen ebenso für die Freigrenzenbestimmung des öffentlich-rechtlichen Zwangsvollstreckungsrechts

MÜ11ChKonun - W. Köhler Vor § 1601 RdNr.13. 9S Ph. Wend/lS. Staudigl, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, 2. Auflage, S.2. 94

96 B. SchultelP. Trenk-Hinterberger, Sozialhilfe, 2. Auflage, S.I04 ff.;A.-U. Birk, in: Lehr- und Praxiskonunentar - BSHG § 1 Rz.2.

A. Realitätsgerechtes Existenzminimum bei der Einkommensteuer 107

Bedeutung (z.B. § 5 Abs.l VwVG i. V. mit § 319 AO; § 48 Abs.l VwVG NW; § 319 AO; § 150 FGO i. V. mit § 319 AO). Zu der Frage, welches der angesprochenen Bedarfsbemessungssysteme f"ür das Steuerrecht übernommen werden sollte, hat das Bundesverfassungsgericht in seinen neuesten Beschlüssen zum Kindergeld und Kinderfreibetrag Stellung bezogen. In Übereinstimmung mit der verbreiteten Auffassung in der Literatur97 hat es erklärt: "Entscheidende Bedeutung Itir die Bemessung des Existenzminimums, um das es hier geht, kommt den Leistungen der Sozialhilfe zu, die gerade dieses Existenzminimum gewährleisten.sollen und die verbrauchsbezogen ermittelt und regelmäßig den steigenden Lebenshaltungskosten angepaßt werden ... ,,98 Es ist aber jedenfalls nicht selbstverständlich, daß allein der Rückgriff auf den sozialhilferechtlichen Maßstab geboten isf9, wenn es - wie das Bundesverfassungsgericht betone oo - nicht mehr nur auf einen Minimalbetrag in Form allein der Sozialhilferegelsätze ankommt, sondern auf die Gesamtleistungen der Sozialhilfe. 101 Daher ist ebenso die Ausgestaltung des Existenzminimums der Familie nach weiteren Rechtsgebieten, insbesondere nach Gesichtspunkten der durchschnittlichen zivilrechtlichen Regelunterhaltssätze bzw. der entsprechenden Größen des Erwachsenen-

97 D. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernonnen, S.137; P. Kirchhof, StuW 1985, 319, 326; J. Lang, Refonnentwurf ZU Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes, S.69 ff.; M. Moderegger, Der verfassungsrechtliche Familienschutz und das System des Einkommensteuerrechts, S.176 f. 98

BVerfGE 82, 60, 94.

99

Hierzu der Hinweis von V. Mittmann, DStZ 1991, 163.

100

BVerfGE 82, 60, 94.

Es sind aber auch noch andere, praxisbezogene Orientierungsmaßstäbe denkbar, auf die hier wegen ihrer noch geringen Verbreitung nicht eingegangen wird. Sie eröffnen auch keine wesentlich abweichenden Ergebnisse. Z.B. defmieren F. -U. Willeke/R. Onken, Allgemeiner Familienlastenausgleich in der Bundesrepublik Deutschland, S.339 ff.; 419, die angenommenen sozio-kulturellen Mindestkinderkosten mit Hilfe der von den Jugendämtern in Baden-Württemberg gewährten Grundbedarfssätze für die Aufnahme von Kindern in Pflegefamilien. 101

108

3. Kapitel: Verwirklichung des Benachteiligungsverbots

unterhalts in die Analyse miteinzubeziehen, wie es hinsichtlich der Bemessung des Kinderfreibetrages vorgebracht worden ist. 102 Jedoch spricht einiges darür, gleichwohl das steuerrechtliche Existenzminimum nicht am Unterhaltsrecht zu befestigen. Im wesentlichen spricht das Bundesverfassungsgericht selbst zur Rechtfertigung seiner Auswahl den von Art.3 Abs.l und Art.6 Abs.l GG belassenen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers an, nur das sozio-kulturelle Minimum in Form der Vorgaben der Sozialhilfe, und nicht auch den vielfach darüber liegenden sozialen Status der Familie nach den Umständen des Einzelfalles zu berücksichtigen, wie es bei einer Abbildung der unterhaltsrechtlich vorgeschriebenen Lebensstellung des Unterhaltspflichtigen (z.B. § 1610 BGB) auf das Steuerrecht geschähe. 103 (Gleichwohl wird sich im Ergebnis die Abzugsrähigkeit der vollen gesetzlichen Unterhaltsverpflichtung wegen deren Zwangsläufigkeit aus dem subjektiven Nettoprinzip begründen lassen.) Im übrigen spricht für den Vorrang sozialhilferechtlicher Wertungen außerdem, daß es gerade in der Zwecksetzung des Sozialhilfe rechts liegt, Art und Ausmaß des Existenzminimums zu bestimmen. 104 Im Gegensatz hierzu ist es nicht die Aufgabe des Unterhaltsrechts, den mindestens gebotenen Lebensbedarf der natürlichen Person zu bestimmen, sondern dort geht es schlicht um die Regelung von Leistungsverpflichtungen beim Ausgleich entgegengesetzter Interessen von Privatpersonen. Das Sozialhilferecht bietet ferner von seiner gedachten funktionalen Konzeption her Vorteile: Es ist von seinem Denkansatz her nicht retrospektiv, sondern mindestens gegenwartsorientiert (das Bundesverfassungsgericht beschreibt dies mit Iverbrauchsbezogen"l05), wenn nicht sogar auf

103

V. Mittmann, DStZ 1991, 163, 164. BVerfGE 82, 60, 91.

104

FG Münster, EFG 1991,253,254.

102

lOS Dazu dient nicht zuletzt das nach modernen ökonomischen Methoden erstellte neue Bedarfsmengenschema (früher Warenkorb), nach dem neuerdings der Sozialhilferegelsatz auf dem Statistikwege ermittelt wird, dazu im einzelnen unten. Es hat Ähnlichkeit mit den Befragungen, auf denen sich empirische Forschung des Verhaltens privater Haushalte bewegt. Das Unterhaltsrecht vermag demgegenüber nur die juristische Praxis der Leitlinien einzelner Oberlandesgerichte als Maßstäbe einzubringen, die mit den mikroanalytischen Methoden und Erkenntnissen sozialempirischer Forschung wie z.B. der des Sonderforschungsbereichs 3 der Universitäten Frankfurt und Mannheim oder der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS 1983) des Statistischen Bundesamtes nicht vergleichbar ist. Der Sonderforschungsbereich 3 "Mikroanalytische

A. Realitätsgerechtes Existenzminimum bei der Einkommensteuer 109

die Zukunft gerichtet. Die Bestimmung der Unterhaltsverpflichtung anhand der zivilgerichtlichen Unterhaltstabellen beruht auf dem Gedanken der Haftung des Familienverbandes lür bedürftige Angehörige; sie richtet sich in Art und Umfang nach dem, was in intakten Familien Im Familienmitglieder aufgewendet wird. 106 Die Sozialhilfe ist dagegen Ausdruck des sozialen Gestaltungswillens des Staates, Erfüllung der Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes und der Garantie der Menschenwürde. IO? Sie ist damit dem Fortschritt verhaftet und hat den Schritt nach vorwärts auch (und oft gerade) dann zu tun, wenn er sich in der gesamtgesellschaftlichen Auffassung noch nicht vollzogen hat lO8 und deshalb auch noch nicht Bestandteil der zivilgerichtlichen Praxis bei der Unterhaltsbemessung sein kann. Beispielsweise ist in der Altenversorgung ein Wandel von der Inanspruchnahme der Kinder für den Unterhalt der Eltern zu einer Vergesellschaftung dieser Aufgabe festzustellen lO9 , die den Ruf nach Abschaffung des Vorranges der zivilrechtlichen Unterhaltspflicht llO gegenüber dem Aszendenten vor der Sozialhilfe stützen könnte. Hier übermannt schließlich der Gebrauch der Mittel der öffentlichen Sozialhilfe und die daraus entstehende Wertung des Vorrangs der Sozialhilfe bei der Altenversorgung die zivilrechtliehe Unterhaltsbeziehung.

Grundlagen der Gesellschaftspolitik" bedient sich bei der Wirkungsanalyse von gesellschaftspolitischen Maßnahmen makroäkonomischer Modelle, Gruppensimulationsmodellen, bei denen Haushaltsgruppen die Basiseinheit darstellen, und Mikrosimulationsmodellen, die auf individuelle Entscheidungseinheiten zurückgreifen. Einen Überblick hierzu gibt R. Hauser, Der Sonderforschungsbereich 3 "Mikroanalytische Grundlagen der Gesellschaftspolitik" in: H. Rapin, Der private Haushalt im Spiegel sozialempirischer Erhebungen, S.69, 72. 106 Die Zivilgerichte mit ihren Unterhaltstabellen bedienen sich aber hier einer eigenen Art Rechtssetzung. Trotz aller gegenteiligen Beteuerung, nur Orientierungshilfen zu bieten (z.B. BGH FamRZ 1984, 374 fI.), beansprucht der Tabellenunterhalt nach seiner Zielsetzung allgemeine (oder doch weitestgehende) Verbindlichkeit. Zivilrichter betrachten dieses Feld sogar als dem Gesetzgeber abgetrotzte Domäne richterlicher Absprache der Gesetzesanwendung, W. Köhler, Geschichte der Düsseldorfer Tabelle (Entstehung, Entwicklung und Rechtsnatur eines Richterwerks), in: FS für K. Rebmann, S.569, 588 ff.

107

A. Knopp/G. Fichtner, BSHG, Einleitung S.4.

108

W. Schellhorn, FuR 1990,20,21.

109

F. Ruland, Deutsche Renten Versicherung, 1991,365, 377.

1\0

Vgl. schon oben Fußnote 1l3.

110

3. Kapitel: Verwirklichung des Benachteiligungsverbots

Die Orientierung des steuerlichen am sozialhilferechtlichen Existenzminimum hat darüber hinaus den Vorteil der zuletzt jährlichen, im Verordnungswege durchgerührten Anpassung der Regelsätze und damit einer häufigeren Angleichung an die Lebenshaltungskosten. Dies ist bei einer Änderung der Tarifvorschriften des Einkommensteuergesetzes, in denen bis jetzt der Grundfreibetrag noch unglücklich plaziert ist, im Wege des schwerfälligen Gesetzgebungsverfahrens kaum möglich. lll Demgegenüber werden selbst die OLG - Unterhaltstabellen und -richtlinien nicht so häufig der Entwicklung der Lebenshaltungskosten angepaßt. ll2 Somit wird bei der sich anschließenden Bestimmung des Existenzminimums besonderes Augenmerk auf den Vorgaben des Sozialhilferechts liegen; es soll zum Vergleich aber auch das zivilrechtliche Unterhaltsrecht nicht vernachlässigt werden und zuletzt ein Blick auf die Entwicklung der Prändungsschutzregelungen der Zivilprozeßordnung geworfen werden. a) Anknüpfung des belastenden Steuereingriffs an die vom Individualisierungsgrundsatz beherrschte Sozialhil.fogewährung?

Gleichwohl ist das Rekurrieren des Steuerrechts als Massenfallrecht mit seiner Notwendigkeit zur Pauschalierung auf das Sozialhilfe recht und dessen Bemessungsvorgaben nicht ohne Schwierigkeiten. So scheint es mit dem im Sozialhilferecht geltenden Grundsatz der Indiviualisierung der Hilfegestaltung JJ3 notwendig in Konflikt zu geraten, wenn es um die evtl. um einige wenige Modifikationen im Einzelfall angepaßte - einheitliche Bestimmung eines Abzugsbetrages f'tir das Steuerrecht geht. Müßte doch das in § 4 Abs.2 BSHG eingeräumte pflichtgemäße Ermessen des

111 Vgl. dazu auch den Vorschlag von J. Lang, Reformentwurf zu Gnmdvorschriften des Einkommensteuergesetzes, S.72 f, die hierfür vorgesehenen Grundbedarfpauschalen und Mehrbedarfpauschalen nicht durch Gesetz, sondern durch Rechtsverordnung festzulegen.

III Die letzte Anpassung der Regelbedarfsverordnung (zmn l.7.l992 durch VO vom 19.3.1992, BGBI. I, S.535) für die westlichen Bundesländer und ihr folgend der Düsseldorfer Tabelle kam mit Verspätung, weil die Lebenshaltungskosten und die Einkommen mn mehr als 10 % seit der letzten Änderung (l.1.1989) gestiegen waren und der in Art.l der Verordnung gewährte Erhöhungsspielramn ausgeschöpft war, so E. KalthoenerlH. Büttner, NJW 1991,2678. 113

S.375.

B. SchultelP. Trenk-Hinterberger, Sozialhilfe, S.114; H. B1ey, Sozialhilfe,

A. Realitätsgerechtes Existenzminimum bei der Einkommensteuer 111

Sozialhilfeträgers ein Oszillieren der Höhe der sozialhilferechtlichen Leistung zur Folge haben, an der ein dem Sachgerechtigkeits- und Gleichheitsgebot verpflichtetes Steuerrecht wohl kaum dürfte Maß nehmen können. Dieser Ermessensspielraum ist allerdings viel enger, als auf den ersten Blick anzunehmen, weil durch die vorgeschriebene genaue Bedarfsfeststellung auf der Tatbestandsebene die Leistung, die auf der Rechtsfolgenseite erbracht werden kann oder soll, bereits sehr genau konkretisiert wird. l14 Erst recht ist der Spielraum zu vernachlässigen, wenn es um die Hilfe zum Lebensunterhalt in Geld geht, wo es nur um den Vergleich des EinkommmensNermögens mit den Regelsätzen der Sozialhilfe nach § 22 BSHG geht. Hier wird die Bedarfsfeststellung pauschaliert im Wege der Verordnung bereits getroffen 115, so wie das Steuerrecht Pauschalierungen enthält und aus Praktikabilitätsgründen enthalten muß.

114 WeM nämlich beispielsweise klar ist, daß der Krankenhilfeempfllnger an einer Suchtkrankheit leidet, deren Gründe in seinem sozialen Umfeld und seiner Lebenssituation liegen und die sich nur schwer beeinflussen lassen, gibt es über das "Wie", hier also Übernahme der Kosten stationärer Therapie als erforderliche Hilfe kaum einen Ermessenspielraum, so Lehr- und Praxiskommentar - BSHG § 4 Rz.6 ff; 22. 11S

Lehr- und Praxiskommentar BSHG § 4 Rz.22.

112

3. Kapitel: Verwirklichung des Benachteiligungsverbots

b) Bedarfsbemessungssystem und Parlamentsvorbehalt

Gegen die Festsetzung des Sozialhilferegelsatzes als einer für das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum doch nicht unwesentlichen Entscheidung durch ein Bedarfsbemessungssystem, das letztlich nicht auf Parlamentsentscheidung beruht, sondern aus den Vorschlägen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 116 und Beschlüssen der Ministerkonferenz der Länder hervorgegangen ist, werden zwar starke verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf die Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anzubringen sein. Andererseits spricht jedoch die nur von Experten durchschaubare Kompliziertheit der zu regelnden Details, verbunden mit der Notwendigkeit schneller Regelung, Iür diese Form eines antizipierten Sachverständigengutachtens 1l7, das sich im Augenblick der Rezeption durch die Behörde und den Festsetzungsakt in eine norm interpretierende Verwaltungsvorschrift mit widerleglicher Richtigkeitsvermutung umwandelt, Iür die Annahme, daß eine Festlegung der Regelsätze unmittelbar durch den Landes- oder Bundesgesetzgeber unzweckmäßig, Iür die betroffenen LeistungsempIänger noch geIährlicher und somit nicht zwingend geboten ist. 118 c) Berechnung des sozialhilfe rechtlichen Existenzminimums

Das Bundesverfassungsgericht hat bei seiner Prüfung der Höhe des Kindergeldes und des Kinderfreibetrages auf landesbedingte und altersbedingte Differenzen der Beträge hingewiesen und einen Durchschnittssatz

116 Dieser 1880 als Deutscher Verein für Annenpflege und Wohltätigkeit gegründete bürgerlichrechtliche Verein besteht nach Angaben von B. Schulte/Po TrenkHinterberger, Sozialhilfe, 2. Auflage, S.86, aus rund 1500 Institutionen und ca. 1200 Einzelpersonen (Bund, Länder, Städte, Landkreise, Gemeinden; Spitzenverbände, Untergliederungen und Einrichtungen von Trägem der freien Wohlfahrtspflege, Sozialleistungsträger). In seinen Fachgremien sind Vertreter von Praxis, Ausbildung und Wissenschaft mit hohem Sachverstand und politischem Einfluß, die diesem Verein die Rolle des wohl einflußreichsten Lobbyisten auf dem Gebiet der Sozialhilfe verleihen und ihn sowohl die Praxis der Sozialleistungsträger als auch die Entscheidungen des Gesetzgebers mitbestimmen lassen. 117 G. Stahlmann, in: Lehr- und Praxiskommentar - BSHG § 22 mit VO Rz.59.

118 G. Stahlmann, in: Lehr- und Praxiskommentar - BSHG § 22 mit VO Rz.12; anderer Ansicht B. Schulte, NVwZ 1990, 1146, 1149, der für eine gesetzliche Regelung plädiert und die Bedeutung der Rege1sätze als wichtigstes Teile1ement der sozialen Grundsicherung unterstreicht.

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der Sozialhilferegelsätze und einen Zuschlag für durchschnittlich gewährte Sonderleistungen für angemessen gehalten. 119 Ausgehend von dem Erfordernis, die im Bundesgebiet, vornehmlich durch die noch in ihren Lebenshaltungskosten bescheideneren fünf neuen Bundesländer stark unterschiedlichen Sozialhilferegelsätze heranziehen zu müssen, ist ein Durchschnittssatz aus den Sozialhilferegelsätzen inzwischen problematisch geworden. Dies erforderte eigentlich individuelle Zu- und Abschläge je nach Wohnort und Niveau der Lebenshaltungskosten des Steuerpflichtigen und läßt eine Festlegung damit auch des steuerlichen Existenzminimums mit Hilfe von Rechtsverordnungen noch dringlicher erscheinen. Am geeignetsten wären Landesverordnungen, die auch ein örtlich unterschiedliches Lebenshaltungsniveau beachten könnten.

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119 BVerfGE 82,60,94. Die Regelsätze nach § 22 BSHG zum 1. Juli 19911auten in DM (FuR 1991 , 243 , für Nordrhein Westfalen zum 171992, GVBl. 1992,235):

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